An der Heidelberger Akademie der Wissenschaften entsteht der erste umfassende historische und kritische Kommentar zum We
130 36 9MB
German Pages 1121 [1122] Year 2025
Table of contents :
Inhalt
Vorwort zu NK 2/1
Hinweise zur Benutzung
Siglenverzeichnis
Editorische Zeichen
1. Teilband
Menschliches, Allzumenschliches I
I Überblickskommentar
II Stellenkommentar
Der Titel
An Stelle einer Vorrede
Vorrede
Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen
Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen
Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben
Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller
Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Cultur
2. Teilband
Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr
Siebentes Hauptstück. Weib und Kind
Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat
Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein
Unter Freunden. Ein Nachspiel
Literaturverzeichnis
Sach- und Begriffsregister
Personenregister
Nietzsche-Kommentar Band 2/1.1
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken
Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Band 2/1.1
Andreas Urs Sommer
Kommentar zu Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I
DE GRUYTER
Dieser Band wurde im Rahmen der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern im Akademienprogramm mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Baden-Württemberg erarbeitet.
ISBN 978-3-11-029281-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-029295-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038888-6 Library of Congress Control Number: 2024944662 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Genthiner Straße 13, 10785 Berlin Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH www.degruyter.com Fragen zur allgemeinen Produktsicherheit: [email protected]
Inhalt 1. Teilband Vorwort zu NK 2/1 VII XI Hinweise zur Benutzung XIII Siglenverzeichnis XVII Editorische Zeichen
Menschliches, Allzumenschliches I I
II
Überblickskommentar 3 1 Textentstehung, Druckgeschichte und N.s werkspezifische Äußerungen 3 2 Quellen 12 3 Konzeption, Struktur und Inhalt 14 4 Zur Wirkungsgeschichte, verfasst von Gabriel Valladão Silva
20
Stellenkommentar 39 Der Titel 39 An Stelle einer Vorrede 43 Vorrede 46 Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen. 60 Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen. 228 Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben. 384 Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller. 448 Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Cultur. 547
2. Teilband Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr. 677 Siebentes Hauptstück. Weib und Kind. 748 Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat. 805 Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein. 867 Unter Freunden. Ein Nachspiel. 980 Literaturverzeichnis 985 Druckmanuskript im Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar 985 Quellen und zeitgenössische Literatur 985 Benutzte Nietzsche-Ausgaben und -Übersetzungen 1008 Forschungsliteratur, Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, Hilfsmittel und allgemeine Literatur 1010 Sach- und Begriffsregister Personenregister
1089
1067
Vorwort zu NK 2/1 Mit den Kommentarbänden zu den drei Teilen von Menschliches, Allzumenschliches wird das Vorhaben der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, einen ersten umfassenden Historischen und kritischen Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken zu erarbeiten, abgeschlossen sein. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten hat ein interdisziplinär zusammengesetztes Forschungsteam an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sämtliche von Nietzsche publizierten oder zur Publikation vorbereiteten Schriften in einer Klammerbewegung sowohl vom Frühwerk als auch vom Spätwerk her einer umfassenden Kommentierung unterzogen, um so den Nietzsche-Lesenden möglichst viele Türen, gelegentlich auch Schleichwege zu den Texten zu eröffnen. Oft bestand die Kommentararbeit, wie Jorge Luis Cerna Solis treffend bemerkt hat, nicht darin, wie in der traditionellen Hermeneutik einen verborgenen Sinn hinter dem Text ausfindig zu machen, sondern verborgene Texte hinter dem Text. Dabei war diese Arbeit aber nicht hauptsächlich darauf fokussiert, ‚Quellen‘ aufzuspüren, um mit triumphierender Geste nachzuweisen, dass Nietzsche keineswegs ein Originalgenie war, das alles aus sich selbst heraus geschaffen hat, sondern in zeitgenössische Diskussionszusammenhänge eingewoben war. Vielmehr sollte erschlossen werden, wie N.s Texte entstehen, gerade auch aus anderen Texten, wie sich bei N. unter welchen Denkund Schreibumständen Gedanken und Texte transformieren und wie sie in neue Aggregatzustände übergehen. Diese kommentierenden Rekonstruktionen sind zugleich Kompositionen, die vom Temperament und Vermögen der jeweiligen Kommentatorin, des jeweiligen Kommentators abhängig sind. Jeder Band des Nietzsche-Kommentars trägt so die unverwechselbare Handschrift der- oder desjenigen, die oder der dafür verantwortlich zeichnet. Und jeder Band des NietzscheKommentars lädt seine Nutzerinnen und Nutzer dazu ein, sich ihren eigenen Reim zu machen und aus dem präsentierten Material die eigene Deutung zu entwickeln. Menschliches, Allzumenschliches von 1878 (MA I) mit seinen beiden Anhängen Vermischte Meinungen und Sprüche von 1879 (MA II VM) und Der Wanderer und sein Schatten von 1880 (MA II WS) ist ein Buch mehrerer Umbrüche. Nietzsche stand am Ende seiner Zeit als Professor in Basel und damit einer bürgerlich geordneten Existenz. Das Werk markiert eine dezidierte Abkehr von Nietzsches frühen Versuchen, in Anbindung an Schopenhauer und Wagner die Jetztzeitkultur umzupflügen, um sich stattdessen unter Rückgriff auf den Widmungsträger Voltaire in die Tradition der französischen Aufklärung einzuschreiben. Nietzsche schlägt einen neuen Ton an, indem er eine Form des Schreibens erprobt, die für ihn fortan stilbildend sein wird: die gemeinhin ‚aphoristisch‘ genannte Form. Das Werk ist nicht mehr als Abhandlung gestaltet, sondern als eine Sammlung von https://doi.org/10.1515/9783110292954-203
VIII
Vorwort zu NK 2/1
teilweise thematisch gruppierten Kurztexten. Neues Denken erfordert ein neues Schreiben. Der vorliegende Band verzeichnet zwar nicht immer alle der überaus zahlreichen Textvarianten, die sich im Abgleich von Nachlass-Notaten, ‚Reinschriften‘, Druckmanuskript und Druckversion ergeben, geht aber bei der philologischen Erschließung erheblich über das in KGW IV 4 Gebotene hinaus. Diese im Vergleich zu manchen früheren Kommentarbänden viel breitere philologische Basis konnte nur erschlossen werden dank der Zusammenarbeit mit Paolo D’Iorio und mit dem von ihm geleiteten Institut des textes et manuscrits modernes (CRNS, Paris). In der von Paolo D’Iorio verantworteten Digitalen Faksimile-Gesamtausgabe (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/) sind seit jüngster Zeit (fast) sämtliche Notizbücher, Hefte, losen Blätter und Manuskripte von Nietzsches Hand (sowie das von ihm Diktierte) aus den Archivbeständen der Klassik Stiftung Weimar frei im Internet und damit für die Forschung zugänglich. Um den direkten Zugriff auf die Faksimiles zu ermöglichen, sind im Kommentar abweichend von der früheren Praxis jeweils auch die Internet-Links angegeben; alle Links wurden letztmalig am 9. Juli 2024 abgerufen und überprüft. Ende 2022 lief das Unternehmen Nietzsche-Kommentar als Projekt der Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Rahmen des Akademienprogramms der Union der Wissenschaftlichen Akademien regulär aus. Für die ersten vier Monate 2023 ermöglichte die Heidelberger Akademie eine Übergangsfinanzierung, an die sich eine Förderung durch die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur von Jan Philipp Reemtsma anschloss. Angesiedelt waren die mit diesen Mitteln finanzierten hauptamtlichen Kommentatorenstellen am NietzscheForschungszentrum der Universität Freiburg. Die Arbeit am vorliegenden Kommentarband war verbunden mit einer Teilprojektleitung im Sonderforschungsbereich 948 Helden – Heroisierungen – Heroismen an der Universität Freiburg. Aus der Tätigkeit am Sonderforschungsbereich konnten vielfach Querinspirationen für den Kommentar genutzt werden. Das gilt auch für die 28. Nietzsche-Werkstatt-Schulpforta im Auftrag der Nietzsche-Gesellschaft e. V., die vom 8. bis 11. September 2020 Menschliches, Allzumenschliches gewidmet war, ebenso wie für viele Sitzungen des wöchentlichen Nietzsche-Kolloquiums am Freiburger Nietzsche-Forschungsszentrum. Auch zwei jeweils zweisemestrige Interpretationskurse zu diesem Werk in den akademischen Jahren 2019/ 2020 und 2021/22 am Philosophischen Seminar der Universität Freiburg haben nicht nur der Thesenprofilierung gedient, sondern auch eine Reihe sehr respektabler Hausarbeiten hervorgebracht (vgl. z. B. Bauer 2021). Die kritisch begleitende Kommission der Heidelberger Akademie hat für den vorliegenden Band wichtige Impulse gegeben. Gerd Theißen (Heidelberg) und Volker Gerhardt (Berlin) sowie Otfried Höffe (Tübingen) und Vivetta Vivarelli
Vorwort zu NK 2/1
IX
(Florenz) haben sich mit großem Engagement um den vorliegenden Kommentar verdient gemacht. Einmal mehr war auf die Geschäftsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Verlass, namentlich auf die Wissenschaftliche Koordinatorin Dieta Svoboda-Baas und auf den Geschäftsführer Schallum Werner. Innerhalb der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar funktionierte die Kooperation wie gewohnt vorzüglich: Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann haben Wesentliches zum Gelingen des vorliegenden Bandes beigetragen. Als Forschungsassistenten, Tutoren oder Praktikanten waren Paul Busch, Leon Hartmann, Jakob Leonhard Lutz, Víctor Muriel Martín, Adrian Pollak, Joshua Stahl und Gabriel Valladão Silva tätig; ihnen oblagen in unterschiedlichen Bearbeitungsphasen die schwierigen Überprüfungs-, Lektorats- und Korrektoratsaufgaben, die sie bravourös gemeistert haben. Herr Muriel Martín hat das Sach- und Begriffsregister, Herr Busch das Personenregister vorbereitet. Den Abschnitt 4 des Überblickskommentars „Zur Wirkungsgeschichte“ hat weitgehend Gabriel Valladão Silva verfasst. Für einzelne Hinweise und Hilfestellungen bin ich Rossella Attolini (Freiburg i. Br.), Rainer A. Bast (Düsseldorf ), Ken Gemes (London), Ralph Häfner (Freiburg i. Br.), Roland Kaschube (Köln), Anne Merker (Straßburg), Beat Röllin (Basel), Paul Stephan (Leipzig), Tom Stern (London), Milan Wenner (Freiburg i. Br.), Luise Wilkens (Flensburg), Markus Winkler (Genf ) und Yiping Xia (Freiburg i. Br.) sehr verbunden. Eng war wieder die Verbindung mit dem von Ralf Eichberg und Catarina Caetano da Rosa geleiteten Nietzsche-Dokumentationszentrum (Naumburg). Dank Matthias Bormuths liebenswürdiger Gastfreundschaft konnte ich in der Karl-Jaspers-Bibliothek an der Universität Oldenburg Karl Jaspers’ Handexemplare von MA I eingehend konsultieren (Nietzsche 1906 und Nietzsche 1923). Allen Genannten und einigen Ungenannten danke ich sehr – ebenso wie dem Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, das die Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar von Beginn an unterstützt hat. Andreas Urs Sommer
Freiburg im Breisgau, im Juli 2024
Hinweise zur Benutzung Der Aufbau des Kommentars zu jeder einzelnen Schrift ist gleich: Ein Überblickskommentar klärt grundlegende Fragen zur Entstehung, zu den Quellen, zur Konzeption und Struktur des jeweiligen Werkes und zu seiner Wirkungsgeschichte. Der Einzelstellenkommentar ist lemmatisiert und beginnt mit der Seiten- und Zeilenangabe der jeweils zu kommentierenden Stelle nach dem entsprechenden Band der Kritischen Studienausgabe (KSA), darauf folgen das Text-Zitat in Kursivschrift und dann der Kommentar. Die KSA-Bandnummer entspricht der Bandnummer des Kommentars. Nietzsches Name wird mit N. abgekürzt. Querverweise auf Lemmata innerhalb eines Werk-Kommentars werden mit dem Kürzel NK (für Nietzsche-Kommentar) ohne Bandangabe mit Seiten- und Zeilenangaben nach dem jeweiligen KSA-Band angezeigt (z. B. innerhalb des Kommentars zu MA I: NK 52, 15–19). Den Querverweisen auf Lemmata in anderen Kommentaren ist die jeweilige Bandnummer der KSA beigefügt, dann folgen wie bei den Verweisen innerhalb eines Kommentars die KSA-Seiten- und Zeilenangaben (z. B.: NK KSA 6, 339, 9–21). Wird hingegen auf eine Textpassage statt auf ein einzelnes Lemma in einem anderen Kommentarband verwiesen, werden die Band- und Teilbandnummer sowie – mit „S.“ verdeutlicht – die Seitenzahlen innerhalb dieses Bandes angegeben (z. B. NK 6/1, S. 275–280). N.s Werke werden ebenso wie andere häufig zitierte Quellen nach dem jedem Band beigegebenen Siglenverzeichnis gekennzeichnet. Notate aus dem Nachlass sind mit der in KGW/KSA fixierten Nummer versehen, nach dem Schema: NL Jahr, KSA-Band, Fragmentnummer, KSA-Seitenzahl, ggf. KSA-Zeilenzahl (z. B.: NL 1888, KSA 13, 22[28], 597, 5–8). Bei Zitaten aus KGW IX wird eine linearisierte Transkription erstellt; der Nachweis erfolgt nach Band, Heftsignatur, Seite, ggf. Zeile. Briefe werden zitiert: X. an Y., Datum, KSB- und KGB-Band, Briefnummer (mit Nr.), Seitenzahl (mit S.), ggf. Zeilenzahl (z. B.: N. an Franziska Nietzsche, 22. 08. 1888, KSB 8/KGB III 5, Nr. 1093, S. 395, Z. 4). Um trotz der Zahlenhäufung klare Zuordnungen zu ermöglichen, werden bei den Briefen die Abkürzungen „Nr.“, „S.“ und „Z.“ beibehalten. Soweit Forschungsliteratur und Quellen aus Platzgründen nur abgekürzt (Autornachname Erscheinungsjahr, Seite) zitiert werden, ist im Literaturverzeichnis am Ende jedes Teilbandes der jeweilige Titel leicht zu identifizieren. Jeder Teilband enthält überdies ein Namen- und Sachregister.
https://doi.org/10.1515/9783110292954-204
Siglenverzeichnis AA AC BAW
BN BNO CBT
CV DD DFGA
DW EH eKGWB
FGrHist
Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum [1888], in: KSA 6, S. 165–254. Nietzsche, Friedrich: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe: Werke, 5 Bde. [Jugendschriften 1854–1869], München 1933–1940. [Oehler, Max]: Nietzsches Bibliothek = Vierzehnte Jahresgabe der Freunde des Nietzsche-Archivs, Weimar 1942. Nietzsche, Friedrich: Briefwechsel mit Franz Overbeck, hg. von Richard Oehler und Carl Albrecht Bernoulli, Leipzig 1916. Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik zusammengestellt von Raymond J. Benders und Stephan Oettermann unter Mitarbeit von Hauke Reich und Sibylle Spiegel, München/Wien 2000. Nietzsche, Friedrich: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, in: KSA 1, S. 753–792. Nietzsche, Friedrich: Dionysos-Dithyramben [1888], in: KSA 6, S. 375–411. Nietzsche, Friedrich: Digitale Faksimile Gesamtausgabe nach den Originalmanuskripten und Originaldrucken der Bestände der Klassik Stiftung Weimar, hg. von Paolo D’Iorio, unter http://www. nietzschesource.org/facsimiles/DFGA (letzter Abruf 30. 07. 2024). Hier sind die im Text erwähnten und zitierten Handschriften verfügbar. Die einzelnen Adressen werden gebildet, indem die entsprechenden Siglen für die Hefte bzw. Mappen sowie die Seitenzahlen mit Bindestrichen hinzugefügt werden (z. B. findet sich das digitale Faksimile der Manuskriptseite D 11a, 2 unter: http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,2). Nietzsche, Friedrich: Die dionysische Weltanschauung, in: KSA 1, S. 551–577. Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1888], in: KSA 6, S. 255–374. Nietzsche, Friedrich: Digitale Kritische Gesamtausgabe. Werke und Briefe. Digital Critical Edition of the Complete Works and Letters, Based on the Critical Text by G. Colli and M. Montinari, hg. Paolo D’Iorio, 2009–, http://www.nietzschesource.org/#eKGWB. Die Fragmente der griechischen Historiker, begründet von Felix Jacoby, Berlin/Leiden 1923 ff.
https://doi.org/10.1515/9783110292954-205
XIV
Siglenverzeichnis
FW GD GM GMD GoA GoAK GSA GT GTG GWC HAAB HkP IM JGB KGB KGW KGW IX
Kr I–IV
KSA
Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“) [1882/87], in: KSA 3, S. 343–651. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt [1888], in: KSA 6, S. 55–161. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887], in: KSA 5, S. 245–412. Nietzsche, Friedrich: Das griechische Musikdrama, in: KSA 1, S. 515– 532. Nietzsche’s Werke, Leipzig 1894–1911 u. ö. [Großoktav-Ausgabe]. Nietzsche’s Werke [Großoktav-Ausgabe, soweit von Fritz Koegel ediert], Leipzig 1894–1897. Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872], in: KSA 1, S. 9–156. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt des tragischen Gedankens, in: KSA 1, S. 579–599. Nietzsche, Friedrich: Gesetz wider das Christenthum [1888], in: KSA 6, S. 254 [angehängt an AC]. Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar. Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Ein Vortrag [1869], in: KGW II 1, S. 247–269. Nietzsche, Friedrich: Idyllen aus Messina [1882], in: KSA 3, S. 333–342. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], in: KSA 5, S. 9–243. Nietzsche, Friedrich: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1975 ff. Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff. Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Neunte Abteilung. Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription, hg. von Marie-Luise Haase, Michael Kohlenbach und Martin Stingelin, Berlin/New York 2001 ff. Krummel, Richard Frank: Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867–1945, 4 Bde., Berlin/New York 1998–2006. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 3. Auflage, München/Berlin/New York 1999.
Siglenverzeichnis
KSA 14 KSB
MA I–II M MD Mp … NH NJ NK
NL NLex NLex2 NPB
NW NWB
PHG SA I–IV
XV
Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino: Friedrich Nietzsche. Kommentar zu den Bänden 1–13 [der KSA]. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Auflage, München/Berlin/New York 2003. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister [1878/86] = KSA 2. Nietzsche, Friedrich: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile [1881], in: KSA 3, S. 9–331. Nietzsche, Friedrich: Mahnruf an die Deutschen, in: KSA 1, S. 891– 897. Mappensignaturen in N.s Nachlass (Goethe-Schiller-Archiv, Weimar). Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000. Nietzsche, Friedrich: Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift „Im neuen Reich“, in: KSA 1, S. 793–797. Der vorliegende Nietzsche-Kommentar. Querverweise innerhalb eines Werk-Kommentars werden mit dem Kürzel NK ohne Bandangabe angezeigt. Den Querverweisen auf andere Kommentare ist die jeweilige Bandnummer der KSA beigefügt, dann folgen wie bei den Verweisen innerhalb eines Kommentars die KSA-Seiten- und Zeilenangaben. Nietzsche, Friedrich: Nachlass, zitiert nach KSA oder KGW. Niemeyer, Christian (Hg.): Nietzsche-Lexikon, Darmstadt 2009. Niemeyer, Christian (Hg.): Nietzsche-Lexikon, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Darmstadt 2011. Campioni, Giuliano/D’Iorio, Paolo/Fornari, Maria Cristina/ Fronterotta, Francesco/Orsucci, Andrea (Hg.), unter Mitarbeit von Müller-Buck, Renate: Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin/ New York 2003. Nietzsche, Friedrich: Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen [1888], in: KSA 6, S. 413–445. Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter Leitung von Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens (Hg.): NietzscheWörterbuch, Berlin/New York 2004 ff. Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen [1873], in: KSA 1, S. 799–872. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden und 1 Indexband, hg. von Karl Schlechta, München 1954–1965 u. ö. [zitiert nach der Ausgabe München 1999, Indexband: München 1984].
XVI
Siglenverzeichnis
SGT ST TA UB I DS
UB II HL
UB III SE UB IV WB ÜK VM W… WA WL WNB
WS WzM1 WzM2 Za ZB
Nietzsche, Friedrich: Sokrates und die griechische Tragoedie, in: KSA 1, S. 601–640. Nietzsche, Friedrich: Socrates und die Tragoedie, in: KSA 1, S. 533– 549. Nietzsches Werke. Taschen-Ausgabe, 11 Bde., Leipzig o. J. [1906–1912 u. ö.]. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller [1873], in: KSA 1, S. 157–242. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874], in: KSA 1, S. 243–334. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher [1874], in: KSA 1, S. 335–427. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth [1876], in: KSA 1, S. 429–510. Überblickskommentar innerhalb von NK (danach Werksigle, ggf. Abschnitt). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche [1879], in: MA II. Heftsignaturen in N.s Nachlass (Goethe-Schiller-Archiv, Weimar). Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: KSA 6, S. 9–53. Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873], in: KSA 1, S. 873–890. Weimarer Nietzsche-Bibliographie, hg. von der Stiftung Weimarer Klassik, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, bearbeitet von Susanne Jung/Frank Simon-Ritz/Clemens Wahle/Erdmann von WilamowitzMoellendorff/Wolfram Wojtecki, 5 Bde., Stuttgart/Weimar 2000–2002, fortgeführt digital unter https://opac.lbs-weimar.gbv.de/DB=4.4/. Nietzsche, Friedrich: Der Wanderer und sein Schatten [1880], in: MA II. Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Erste Fassung = GoA 15, Leipzig1901 [zitiert mit Abschnittnummer]. Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Zweite Fassung [1906] = GoA 15 und 16, Leipzig 1911 [zitiert mit Abschnittnummer]. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883/85] = KSA 4. Nietzsche, Friedrich: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge [1872], in: KSA 1, S. 641–752.
Editorische Zeichen [.], [..], […] [xyz] 〈xyz〉 ˹xyz˺ ⎣xyz⎦ xyz / // /Zahl/ ––– [– – –] [+ + +]
Auslassung durch den Kommentator Hinzufügung durch den Kommentator Hinzufügung der Herausgeber im zitierten Text Einfügung N.s oberhalb der Zeile Einfügung N.s unterhalb der Zeile von N. durchgestrichener Text Vers-, Zeilenwechsel in einem Zitat Strophenwechsel in einem zitierten Gedicht Seitenwechsel in einem Zitat Bei Zitaten aus Manuskripten: Text bricht ab Bei Zitaten aus Manuskripten: unlesbare Worte Bei Zitaten aus Manuskripten: Lücke im Text
https://doi.org/10.1515/9783110292954-206
Menschliches, Allzumenschliches I
I Überblickskommentar 1 Textentstehung, Druckgeschichte und N.s werkspezifische Äußerungen So pflichtbewusst N. sein Lehramt an der Universität und am Pädagogium in Basel auch versah, so sehr haben ihn diese Pflichten doch auch belastet. Er versuchte nicht wirklich, den akademischen Rahmen und die sichere Stellung als Basis für eine stille Gelehrtentätigkeit zu nutzen. Vielmehr hatte er die wissenschaftliche Arbeit im Bereich seines eigentlichen Berufsfeldes, der Philologie, Mitte der 1870er Jahre weitgehend eingestellt. Stattdessen war er nach der Geburt der Tragödie (GT, 1872) mit den Unzeitgemässen Betrachtungen (UB I–IV, 1873–1876) zum kulturkritischen Zeitdiagnostiker geworden, der sich dezidiert als Philosoph verstand. Dabei kamen dieser schriftstellerischen Aktivität ebenso wie seinen professoralen Aufgaben immer wieder heftige Krankheitsschübe in die Quere, die ihn zu längeren Ruhephasen zwangen. So zeugt etwa die Krankenakte, die sein Augenarzt Heinrich Schieß angelegt hat, von anhaltenden Leidensbürden, beispielsweise am 30. 08. 1876: „Klagt wieder über sehr heftige Schmerzen im Kopf, die sich bis zum Brechen steigern; nur bei völliger Ruhe gehts gut; R[echts] klagt er sehr über das Verzerrtsehen, Krummsehen“ (zitiert nach Volz 1990, 337). Im Frühsommer war es N. noch besser ergangen, dennoch hatte er die Anregung von Malwida von Meysenbug gerne aufgenommen, zusammen mit ihr und seinem an Tuberkulose leidenden Studenten Albert Brenner ein Jahr in Italien zu verbringen. Und tatsächlich wurde N. vom Basler Erziehungskollegium von Oktober 1876 bis Oktober 1877 ein Jahr Urlaub gewährt. Pünktlich im Vorfeld der ersten Bayreuther Festspiele erschien im Juli 1876 auch die Vierte unzeitgemässe Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth. Freilich kontrastierte die Erfahrung, die N. dann während des Sommers als Festspielbesucher in Bayreuth machte, sehr mit den idealisierenden Weichzeichnungen des Wagnerschen Vorhabens, wie man sie in GT und auch noch, wenngleich teilweise abgeschwächt, in UB IV WB findet. Diese Erfahrung beeinträchtigte N.s Gesundheit derart, dass er sich eine Weile in den Bayerischen Wald absetzte, bevor er sich wieder unter die Gäste auf dem Grünen Hügel mischte. Die Monate von Oktober 1876 bis Mai 1877 boten dann eine intensive Denkund Arbeitsgemeinschaft in Sorrent nahe Neapel mit Meysenbug, Brenner und vor allem mit dem fünf Jahre jüngeren Philosophen Paul Rée. Dieser hatte schon 1875 seine anonym publizierte Erstlingsschrift Psychologische Beobachtungen zugeeignet „Herrn Professor Friedrich Nietzsche, dem besten Freunde dieser Schrift, dem Quellwassererzeuger seines fernern Schaffens dankbarst / der Verfasser“ (NPB 491). Schon früh hatte N. mit dem Gedanken gespielt, mit „wenig Gesinhttps://doi.org/10.1515/9783110292954-001
4
Menschliches, Allzumenschliches I
nungsgenossen“ eine neue Art „Kloster zu gründen“ (N. an Erwin Rohde, 15. 12. 1870, KSB 3/KGB II 1, Nr. 113, S. 166, Z. 44 u. 60 f.; vgl. ausführlich NK KSA 3, 379, 9– 11). Das Zusammenleben in Sorrent sollte, so N. in seinem Brief an Reinhart von Seydlitz vom 24. 09. 1876, „eine Art Kloster für freiere Geister“ werden (KSB 5/ KGB II 5, Nr. 554, S. 188, Z. 23 f.). In der Sorrentiner Zeit, als N.s Arbeit an Menschliches, Allzumenschliches (I) (MA I) voranschritt, vollendete Rée sein Buch Der Ursprung der moralischen Empfindungen. Darin schlug Rée eine evolutionsgeschichtliche Analyse menschlicher Werturteile vor, hinter denen die Frage von Stammesdienlichkeit und Stammesschädlichkeit stehe (zu Rées Bedeutung für MA I z. B. Ruckenbauer 2002, 52–83, Small 2005, 27–38 u. Itaparica 2013, zur Sorrenter Zeit umfassend D’Iorio 2020). Gesundheitlich blieb N. freilich angeschlagen, so dass er im Mai 1877 zuerst zur Kur nach Bad Ragaz fuhr, um danach für die Sommermonate Rosenlauibad im Berner Oberland als Rückzugsort zu wählen. Auch dort entstanden umfangreiche Teile von MA I. Obwohl N. zwischenzeitlich mit einer reichen Heirat und einer unbesorgten Privatgelehrtenexistenz geliebäugelt hatte, kehrte er im Frühherbst nach Basel zurück, um dort seine Arbeit als Professor an der Universität wieder aufzunehmen, während er vom Unterricht am Pädagogium auf seinen Antrag hin weiter beurlaubt blieb (vgl. Gutzwiller 1951). Seine Schwester Elisabeth, die nun wieder mit ihm zusammenwohnte, machte sich dennoch Sorgen. Ida Overbeck, die Gattin des Freundes Franz Overbeck, notierte rückblickend: „Im Herbst 1877 entsetzte sie mich durch die umständliche Entwerfung der Gründe, die ihren Bruder wahrscheinlich ins Irrenhaus brächten“ (Podach 1937, 240). N.s Frankfurter Arzt Otto Eiser verordnete nach eingehender Untersuchung therapeutisch jedenfalls: „A b s o l u t e s V e r m e i d e n d e s L e s e n s u n d S c h r e i b e n s a u f m e h r e r e J a h r e hin“ (Eiser an N., 6. 10. 1877, KGB II 6/2, Nr. 988, S. 715, Z. 55 f.). Dieser ärztlichen Vorgabe ist N. freilich nicht gefolgt, auch wenn er manche Schreibprozesse durch Diktieren etwa des Druckmanuskripts von MA I auslagerte. Einigermaßen überstand N. jedenfalls das Wintersemester, in dem MA I dann finalisiert wurde. Seine Vorlesung beschäftigte sich mit den „Religiösen Alterthümern der Griechen“, und im Seminar wurden Aischylos’ Choephoren behandelt. Im März 1878 war ein Erholungsurlaub in Baden-Baden angesagt – und über einen Naumburger Schlenker – dort in mütterlicher Pflege – ging es im April wieder zurück nach Basel, wo Anfang Mai die ersten Exemplare des neuen Buches eintreffen sollten (N. mahnte seinen Verleger am 06. 05. 1878, er habe noch kein Exemplar erhalten, während offensichtlich Cosima Wagner schon am 25. 04. 1878 damit versorgt war, siehe Janz 1978, 1, 810). Zeitgleich wurde Brenner hospitalisiert; er starb unter großen Qualen am 17. 05. 1878. So neu und überraschend Menschliches, Allzumenschliches auf seine ersten Lesenden im Erscheinungsjahr 1878 gewirkt haben musste, falls diese bereits frü-
Überblickskommentar
5
here Schriften des Autors kannten, so langsam und verhalten hatte sich dieses Neue doch in den vorangegangenen Jahren in N.s Denkwerkstatt abgezeichnet. Die in Frage kommenden Jahre sind durch die Nachlassüberlieferung besonders umfangreich abgedeckt, so dass sich die Entstehung des Werkes rekonstruieren lässt (siehe KGW IV 4, 102–105 u. CBT 428; sehr ausführlich, aber mit Vorsicht zu genießen ist Gast 1894, dazu Wilamowitz-Moellendorff 2006, Eichberg 2009 u. Eichberg 2010). Allerdings konkurrieren da zwei unterschiedliche Entstehungsgeschichten, nämlich auf der einen Seite der handschriftliche Befund, wonach die ältesten Textzeugen mindestens bis ins Jahr 1875 zurückreichen, und auf der anderen Seite die Verlautbarungen von N. und (abweichend davon) Heinrich Köselitz alias Peter Gast zur Werkgenese (siehe Schaberg 2002, 83–90). Die eine Geschichte lässt sich nach KGW IV 4, 102–105 so rekapitulieren: Erste Texte, die später in das gedruckte Werk Eingang finden sollten, notierte N. bereits 1875 und 1876, und zwar in Kontexten, die durchaus auch noch Material zu UB IV WB enthalten (vgl. den Notizkalender N II 1). Im Juni 1876 war UB IV WB fertig geworden und konnte in Druck gehen; eine Reihe weiterer Texte im Heft U II 5 waren nun teilweise als Ausarbeitungen nach den früheren Notizen frei verfügbar und konnten einem neuen Werkplan zugeordnet werden, der unter dem Titel Die Pflugschar firmierte (vgl. U II 5, 207–205 u. 201–115). „Es ist anzunehmen, daß N sowohl N II 1 als auch U II 5 bei sich in Bayreuth und Klingenbrunn hatte“ (KGW IV 4, 102), als er Ende Juli und im August 1876 bei den ersten Bayreuther Festspielen weilte und für einige Tage dem Festspielzirkus in den Bayerischen Wald nach Klingenbrunn entfloh. Diese Materialien bildeten die Grundlage einer Fassung, die Heinrich Köselitz nach N.s Aufzeichnungen oder Diktaten im September 1876 anfertigte. Dieses Manuskript M I 1 hat schon ganz den von den Unzeitgemässen Betrachtungen abweichenden Aphorismenbuchcharakter und erweckt bereits den Anschein, ein eigenständiges Werk zu sein, eben Die Pflugschar (zum Titel siehe Large 2014). Freilich hat N. ein solches Buch nie veröffentlicht; vielmehr dachte und schrieb er, von seiner Basler Professur beurlaubt, im Herbst und Winter 1876 weiter, als er sich in Bex und Sorrent aufhielt (UB II 5, 114–21, wiederum von hinten nach vorne beschrieben, sowie weitere Passagen in N II 1). Das Vorhaben war nun, eine fünfte, dem „Freigeist“ gewidmete Unzeitgemässe Betrachtung zu verfassen. Aber auch die Pflugschar blieb an der Tagesordnung; in Sorrent diktierte er 1876/77 seinem Adlatus Albert Brenner anhand der Köselitz-Version und der weiteren Notate eine neue Fassung (Mp XIV 1, 256–346). Der spätere Titel Menschliches (und) Allzumenschliches taucht übrigens schon in Notaten des Sommers 1876 auf (z. B. NL 1876, KSA 8, 17[72], 308 u. NL 1876, KSA 8, 18[13], 317). Auf einer Postkarte an seinen Verleger Ernst Schmeitzner vom 02. 02. 1877, der sich nach dem Fortgang des Werkes erkundigt hatte, begrub N. die Idee, eine weitere Unzeitgemässe Betrachtung fertigzustellen,
6
Menschliches, Allzumenschliches I
zwar im Fragemodus, aber dennoch endgültig: „Wollen wir nicht die Unzeit〈gemässen〉 Betr〈achtungen〉 als a b g e s c h l o s s e n betrachten?“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 593, S. 219, Z. 9–11) Obwohl die Freigeist-Thematik im neuen Buch erhalten bleibt, war die alte, wagnerianische Form der kulturkritischen Unzeitgemässen Betrachtung N.s Denkentwicklung augenscheinlich nicht mehr angemessen (vgl. D’Iorio 2020, 70 f.); er suchte nach einer neuen philosophischen Ausdrucksweise, zumal sich die Unzeitgemässen Betrachtungen nur schlecht verkauften (Schaberg 2002, 84). Mp XIV 1 enthält noch andere Aufzeichnungen, die teilweise auf den Notizbüchern N II 3 (aus der letzten Sorrentiner Phase) und N II 2 (Mai bis August 1877) basieren. In der Mappe finden sich überdies zum einen Seiten, die das in Entstehung befindliche Werk gliedern (von N.s Hand), und zum anderen weitere in MA I eingehende Texte (von Köselitz’ Hand). Diese Notate sind von Ende 1877 bis Januar 1878 entstanden, als N. und Köselitz gemeinsam am Druckmanuskript arbeiteten, wobei N. mit immer neuen Anordnungen des Materials experimentierte, die in verschiedenen Nummerierungen und Bezeichnungen der einzelnen Textabschnitte dokumentiert sind. Am 03. 12. 1877 bot N. das Manuskript seinem Verleger Ernst Schmeitzner als sein „Hauptbuch“ an (KSB 5/KGB II 5, Nr. 673, S. 292, Z. 5) und formulierte eine ganze Reihe von Bedingungen, die Titel, Ausstattung, Papier, Schrifttypen und Publikationsdatum betrafen. Bemerkenswert ist im Hinblick auf den Durcharbeitungsstand N.s Bemerkung gegenüber seinem Verleger: „Über den Umfang des Buches kann ich durchaus nichts Bestimmtes angeben; nehmen Sie immerhin an, dass es die Zahl von 300 Seiten überschreiten möchte“ (ebd., S. 294, Z. 57–59). Am Ende waren es dann 377 Druckseiten. Derweilen entstand, größtenteils von Köselitz’ Hand, das Druckmanuskript D 11, das N. bis zum 10. 01. 1878 durchsah und emendierte. Korrektur las neben N. und Köselitz auch Paul Widemann (vgl. seinen Brief an N. vom 12. 04. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1053, S. 831 f.; die Korrekturbogen sind unter der Signatur C 4601 in Weimar erhalten. Im Stellenkommentar werden die semantisch signifikanten Änderungen aus den Korrekturbogen dokumentiert, jedoch keine einfachen orthographischen und grammatischen Korrekturen). Korrekturen von N.s Hand scheinen mit Bleistift ausgeführt worden zu sein, während von anderer Hand (Köselitz? Widemann?) Druckfehler vonehmlich mit brauner Tinte korrigiert worden sind. Dabei fällt auf, dass N. in unterschiedlicher Intensität eigenhändige Bleistiftkorrekturen angebracht hat, während trotz der mit Tinte von anderer Hand vorgenommenen Druckfehlerkorrekturen zahlreiche Fehler unkorrigiert blieben, die dann jedoch in der Erstausgabe getilgt sind. Daraus folgt, dass noch andere Korrekturbogen oder Umbruchfahnen vorhanden gewesen sein müssen. Ebenfalls ins Auge springt, dass eine ganze Reihe der von N. angeordneten Korrekturen nicht ausgeführt worden ist. Bis Ende April oder Anfang Mai wurde gedruckt, so dass das Werk schließlich unter dem Titel Menschliches, Allzu-
Überblickskommentar
7
menschliches. Ein Buch für freie Geister. Dem Andenken Voltaire’s geweiht zur Gedächtniss-Feier seines Todestags, des 30. Mai 1778 rechtzeitig zum Geburtstag des Widmungsträgers bei Ernst Schmeitzner in Chemnitz erscheinen konnte. (Eine Konkordanz von Druckmanuskript und Notaten, eingeteilt nach den „Hauptstücken“ von MA I, findet sich in Parkhurst 2021, 229–233). Die andere Geschichte der Entstehung von MA I ist die der Selbstzeugnisse N.s, flankiert von Fremdzeugnissen aus seiner unmittelbaren Umgebung. Da wird das Zufällige teleologisch zugerichtet, so dass die konkreten und ziemlich tief in N.s Denkvergangenheit zurückreichenden Entstehungsumstände zum Verschwinden gebracht werden. Das geschieht bereits in einer Vorbemerkung N.s zur Erstausgabe 1878: „Dieses monologische Buch, welches in Sorrent während eines Winteraufenthaltes (1876 auf 1877) entstand, würde jetzt der Oeffentlichkeit nicht übergeben werden, wenn nicht die Nähe des 30. Mai 1878 den Wunsch allzu lebhaft erregt hätte, einem der grössten Befreier des Geistes zur rechten Stunde eine persönliche Huldigung darzubringen.“ (KSA 2, 10, 1–6) Dieser „Befreier“ ist natürlich Voltaire, der N. offenbar auch davon befreite, zu erwähnen, dass wichtige Teile des gerade dem Publikum unterbreiteten Buches längst vor dem Sorrentaufenthalt vorgelegen hatten. In der Titelauflage des Werkes von 1886 unterbleibt der zitierte Hinweis auf Sorrent ganz, obwohl die nun hinzugefügte, längere „Vorrede“ die Gelegenheit geboten hätte, etwas eingehender und konkreter auf die Entstehungsumstände einzugehen. Einer solchen historisch-autogenealogischen Konkretion verweigert sich die „Vorrede“. Ganz anders dann zwei Jahre später in einer alternativen Version, nämlich in der Retraktation des Werkes in Ecce homo (EH) 1888. Dort wird es nicht nur als „Denkmal einer Krisis“ ausgeflaggt (EH MA 1, KSA 6, 322, 4 f.), sondern seine Entstehung auch präzise lokalisiert und datiert: „Die Anfänge dieses Buchs gehören mitten in die Wochen der ersten Bayreuther Festspiele hinein; eine tiefe Fremdheit gegen Alles, was mich dort umgab, ist eine seiner Voraussetzungen“ (EH MA 2, KSA 6, 323, 15–17). Nach einer Breitseite gegen Wagner und die Wagnerianer wird N. konkreter: „In einem tief in Wäldern verborgnen Ort des Böhmerwalds, Klingenbrunn, trug ich meine Melancholie und Deutschen-Verachtung wie eine Krankheit mit mir herum – und schrieb von Zeit zu Zeit, unter dem Gesammttitel ‚die Pflugschar‘, einen Satz in mein Taschenbuch, lauter h a r t e Psychologica, die sich vielleicht in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ noch wiederfinden lassen.“ (Ebd., 324, 19–25) Genau gelesen, besteht freilich kein direkter Widerspruch zur Vorbemerkung in der Erstausgabe von MA I, nur eine starke Umakzentuierung: Der Bericht in EH stellt die Werkgenese in den Großzusammenhang der geradezu als welthistorische Wegmarke verstandenen Absetzung N.s von Wagner – aber es sind ausdrücklich die ‚Anfänge‘ des Buches, die im Dunstkreis und dennoch fern von Bayreuth entstanden sein sollen, nicht das Buch in seiner Gesamtheit, was auch
8
Menschliches, Allzumenschliches I
der zurückhaltende Hinweis anzeigt, dass sich die damals entstandenen Texte „vielleicht“ in MA I wiederfinden ließen. EH MA schließt also nicht aus, dass MA zur Hauptsache in Sorrent entstanden ist, erwähnt dies jedoch mit keinem Wort – ebensowenig wie die dortige Lebens- und Denkgemeinschaft mit Meysenbug, Rée und Brenner. Schaberg 2002, 83 hält die EH-Version für „zu ausgefallen, um glaubwürdig zu sein“, und erinnert daran, dass Heinrich Köselitz zufolge „mehr als ein Viertel des Buches inklusive der zentralen Philosophie für ‚freie Geister‘ ihm im Mai, Juni und Juli 1876 diktiert wurde“. So ganz deckt sich diese Behauptung von Köselitz nicht mit dem Manuskriptbefund, der eher eine etwas spätere Diktatzeit nahelegt. Deutlich ist auch Köselitz’ apologetisches Interesse, das in zwei Richtungen zielt: Zum einen soll N.s eigene Suggestion in EH MA relativiert werden, das Werk sei in erster Linie eine Reaktion auf Wagner und dessen Hinwendung zum christlichen Obskurantismus. Zum anderen will Köselitz gegen Lou Andreas-Salomé (vgl. unten den Abschnitt zur Wirkungsgeschichte) den Verdacht zerstreuen, MA I sei ganz und gar von Paul Rée abhängig und eigentlich ein unselbständiges Buch. Richtig an Köselitz’ Darstellung ist aber zweifellos, dass viele schließlich im Drucktext verwerteten Aufzeichnungen bereits vor Bayreuth und vor Sorrent Gestalt angenommen hatten. Immerhin scheint N. noch erwogen zu haben, auch aus Rücksicht auf Wagner das Buch unter dem fiktiven Pseudonym Bernhard Cron zu veröffentlichen (vgl. Schaberg 2002, 86–88 u. Small 2005, 29 f. sowie unten den Abschnitt zur Wirkungsgeschichte). Jedenfalls war es ihm sehr wichtig, dass im Vorfeld der Publikation nichts davon an die Öffentlichkeit dringen sollte: „Ich bitte um Verschwiegenheit, aus allerlei persönlichen Gründen, und möchte auch, dass der Drucker um dieselbe ersucht würde. Wenn Sie es, eventuell, vorziehen, könnten Sie demselben meinen Namen bis zum Druck des Titelblattes verschweigen. Doch fürchte ich, es möchte diess seine Neugierde reizen und meine Absicht dadurch erst recht vereitelt werden.“ (N. an Schmeitzner, 03. 12. 1877, KSB 5/KGB II 5, Nr. 673, S. 294, Z. 48– 54) Ob da nur die Angst im Hintergrund stand, Wagner zu düpieren, steht dahin; N.s Schwester Elisabeth behauptet rückblickend jedenfalls, N. habe, als aus dem Pseudonym nichts wurde, „nochmals das ganze Manuskript“ geprüft und „alles“ entfernt, „wovon er annahm, daß es Wagner auf sich beziehen und ihn verletzen könnte“ (Förster-Nietzsche 1915, 276). Freilich kontrastiert dieses angebliche Bemühen N.s, mit dem neuen Werk möglichst unter Wagners Wahrnehmungsschwelle zu segeln, mit einem bemerkenswert kessen und bemerkenswert anbiedernden Gedicht, das N. augenscheinlich als Widmung dem für die Wagners bestimmten Exemplar von MA I beigeben wollte. Es lautet: „Dem Meister und der Meisterin / Entbietet Gruss mit frohem Sinn, / Beglückt ob einem neuen Kind, / Von Basel Friedrich Freigesinnt. / Er wünscht dass sie mit
Überblickskommentar
9
Herzbewegen / Auf’s Kind die Hände prüfend legen / Und schauen ob es Vater’s Art / – Wer weiss? selbst mit ’nem Schnurrenbart – / Und ob es wird, auf Zween und Vieren / Sich tummeln in den Weltrevieren. / In Bergen wollt’ zum Licht es schlüpfen / Gleich neugebornen Zicklein hüpfen / So gleich zu suchen eignen Gang / Und eigne Freude Gunst und Rang / Oder vielleicht Einsiedlers Klaus / Und Waldgethier sich wählet aus? / Was ihm auf seinem Erdenwallen / Beschieden sei: es will gefallen / Nicht Vielen: Fünfzehn an der Zahl / Den Andern werd’ es Kreuz und Qual, / Dass nur, zur Abwehr ärgster Tücke / Des Meisters Treuaug segnend blicke! / Dass nur den Weg zur ersten Reise / Der Meisterin kluge Gunst ihm weise!“ (NL 1877, KSA 8, 22[92], 394, 15–395, 15) KGW IV 4, 437 verzeichnet dazu noch Varianten aus N II 2, 95–98, ebenso Förster-Nietzsche 1895–1904, 2/1, 294, die dazu notiert: „es ist möglich, daß mein Bruder vor der Absendung noch einige Änderungen vorgenommen hat.“ „Die einzige Antwort aus Bayreuth war eisiges Schweigen.“ Paul Stephan hat nachgeforscht, ob sich das von N. nach Bayreuth übersandte MA I-Exemplar in Wagners Bibliothek erhalten hat. Das ist bedauerlicherweise nicht der Fall (schriftliche Auskunft von Kristina Unger, Richard Wagner Museum mit Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth, an Paul Stephan, 31. 10. 2019: „Anhand der Tagebücher Cosima Wagners ist nachgewiesen, daß Richard Wagner das Exemplar erhalten hat. Da es jedoch im ältesten erhaltenen, handschriftlichen Katalog der sogenannten Wahnfried-Bibliothek aus dem Jahre 1888 nicht aufgeführt ist, muß davon ausgegangen werden, daß Wagner das Buch nicht in seine Bibliothek aufgenommen hat.“). Der endgültige Widmungswortlaut lässt sich also derzeit nicht eruieren – nicht einmal, ob N. das Gedicht tatsächlich abgeschickt hat. In den diversen Zeugnissen aus dem Wagner-Umfeld zu MA I ist davon jedenfalls nie die Rede (vgl. unten den Abschnitt zur Wirkungsgeschichte; zur Interpretation des Gedichts Stephan 2020b, 105–107). Auch für einen anderen potentiellen Widmungsträger findet sich im Nachlass eine Vorlage – und auch hier wissen wir nicht, ob eine solche Widmung dem übersandten Exemplar handschriftlich beigegeben oder ob ursprünglich sogar daran gedacht worden war, die Dedikation zu drucken: „Jacob Burckhardt. / Seit dies Buch mir erwuchs hält Sehnsucht mich und Beschämung / Bis solch Gewächs dir einst hundertfach reicher erblüht. / Jetzt schon kost’ ich des Glücks, dass ich dem Grösseren nachgeh’, / Wenn er des goldnen Ertrags eigner Pflanzung sich freut.“ (NL 1877, KSA 8, 22[81], 393, 5–11) Jakob Burckhardt sollte also Widmungsträger werden – ob er es wurde, ist offen. Jedenfalls hat N. die Verse ohne Personennennung in NL 1877, KSA 8, 24[10], 480 recycelt (siehe Stegmaier 2012, 629 f.) und nachher ein anderes Buch, nämlich MA II VM, an einen anderen Adressaten, nämlich Franz Overbeck, damit versehen (vgl. Overbeck/Köselitz 1998, 483 u. Bernoulli 1908, 1, 276). Beide, Burckhardt und Overbeck, wären würdige Widmungsträger gewesen – beide auf Augenhöhe,
10
Menschliches, Allzumenschliches I
beide freigeistig geneigt (Posani Löwenstein 2021, 34 nimmt an, die Idee vom ‚guten Europäer‘ und ‚freien Geist‘ sei wesentlich von Burckhardt inspiriert, weshalb er auch als Widmungsträger erwogen worden sei). Viel prosaischer gestaltete sich dann der tatsächliche Versand von Freiexemplaren, den N. ganz seinem Verleger Schmeitzner überließ. Mitte April 1878 sandte er ihm eine lange Liste mit Namen, die damit bedacht werden sollten, nämlich in N.s Reihenfolge: Heinrich Köselitz, Paul Widemann, Erwin Rohde, Paul Rée, Carl von Gersdorff, Reinhart von Seydlitz, Malwida von Meysenbug, Siegfried Lipiner, Heinrich Romundt, Mathilde Maier, Marie Baumgartner, Emmerich Dumont [sic! Gemeint ist Emerich du Mont], Carl Fuchs, Karl Hillebrand, George Croom Robertson, die Universitätsbibliothek Basel, Otto Eiser, Max Heinze, Paul Deussen, Hans von Bülow, Richard Wagner, Cosima Wagner, Jacob Burckhardt, Franz Overbeck, Rudolf Massini, Heinrich Schiess-Gemuseus, (Johann) Georg FürstenbergerVischer, Louise Rothpletz, Gabriel Monod und schließlich die Schwester Elisabeth. Demnach sollten also auch Burckhardt sowie Cosima und Richard Wagner (jeder ein Exemplar) direkt vom Verlag mit einem Band versorgt werden – und N. hätte die Widmung(en) jeweils separat schicken müssen. Das hat er nach jetzigem Wissensstand nur in einem einzigen Fall getan, nämlich bei Paul Rée am 24. 04. 1878: „Liebster Freund, stundenlang gehe ich mit Ihnen im Geiste lustwandeln; wir beiden flugmüden Vögelchen wissen nichts besseres zu thun als auf Einem Baumzweige mit einander zu zwitschern. So scheint es mir. Alle Sonne, die ich genieße, mag auch Ihnen wohl und willkommen sein – und nun machen Sie mit dem übersandten Büchelchen, was Sie wollen. Ihnen gehörts, – den A n d e r n wird’s g e s c h e n k t.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 717, S. 324, Z. 3–9) Wie die von Schmeitzner verschickten Freiexemplare ausgesehen haben, lässt sich beispielsweise an dem jüngst im Handel aufgetauchten Exemplar von Georg Fürstenberger-Vischer erheben. Auf dem Schmutztitel des Broschurbands steht oben rechts: „Herrn Georg Fürstenberger-Vischer / vom Verfasser!“ (https://www.kollerauktionen.ch/en/32393 5-0006-1184-Nietzsche_-F.-Menschliches_-Al-1184_445820.html?RecPos=45). Der Autopsie-Befund ist eindeutig: Die Widmung stammt nicht von N.s Hand, sondern wurde vermutlich entweder bei Schmeitzner vorgenommen oder aber der neue Eigentümer hat notiert, wo er den Band herhatte. Nicht nur bei den Freiexemplaren hat in N.s Buchproduktion Nüchternheit Einzug gehalten, sondern auch schon bei der Gestaltung des Titelblattes: Während noch das Titelblatt von UB IV WB wie die vorangegangenen Werke den Verfasser mit Doktortitel versieht und als „ordentl. Professor der Classischen Philologie an der Universität Basel“ ausweist (siehe das Faskimile z. B. in Schaberg 2002, 77), steht bei MA I dort nur der Name „Friedrich Nietzsche“, allerdings in größerer Type als die darüber stehende Voltaire-Zueignung. Offenkundig sollen nicht mehr akademische Federn das Werk schmücken, sondern dieses muss für sich stehen.
Überblickskommentar
11
Dafür hat sich Ernst Schmeitzner im Vergleich zu UB IV WB gewaltig internationalisiert: Statt „Schloss-Chemnitz“ und sehr klein darunter „London“ sind jetzt nach „Chemnitz“ (ohne Schloss) nicht weniger als fünf weitere Firmen in Paris, St. Petersburg, Turin, New York und London genannt (Faksimile in Schaberg 2002, 91). Freilich ist Schmeitzner nicht in kurzer Zeit zum Großverleger geworden. Man darf bezweifeln, dass in den angeführten Orten N.s Buch leicht erhältlich gewesen wäre. Immerhin ließ Schmeitzner 1000 Exemplare drucken, zu einem Ladenpreis von 10 Reichsmark für einen broschierten Band und von 11,50 Reichsmark für einen gebundenen Band. N. hatte sich ein Honorar von 10 Talern, also 30 Reichsmark pro Bogen ausbedungen. Die 377 Druckseiten entsprachen 23,3 Bogen, so dass N. Anspruch auf knapp 700 Reichsmark anmelden konnte. Doch die Hoffnungen trogen: Binnen eines Jahres wurden gerade einmal 120 Exemplare des Werkes abgesetzt (alle Angaben nach Schaberg 2002, 90–95). Es half auch nicht, was Schmeitzner N. am 11. 02. 1879 melden konnte: „Durch Ihren Buchhändler werden Sie wohl auch erfahren haben, daß ‚Menschliches‘ in Rußland verboten worden ist; Seite 127 Zeile 19–26 ist die Ursache davon! [= MA I 141, KSA 2, 136, 27–34] Nun ja, was ist bei einem russischen Censurbeamten, der vielleicht gar nicht einmal Deutsch versteht, nicht alles möglich! Ich könnte aber die Russen für dieses Verbot umarmen; denn das ist mir doch zehnmal mehr werth als zehn Rezensionen. – Jetzt übersieht niemand mehr das Buch“ (KGB II 6/2, Nr. 1148, S. 1031, Z. 34– 41). Nun, man hat es weiterhin übersehen: 1886 waren noch 551 Restexemplare übrig, die an E. W. Fritzsch verkauft wurden (Schaberg 2002, 281). Daraus produzierte dieser dann die angebliche „Neue Ausgabe“, die am 31. Oktober 1886 ausgeliefert wurde (ebd., 291). Es handelt sich aber nicht um eine echte Neuauflage – obwohl N. 1885 noch einmal an MA gearbeitet und einige Passagen überarbeitet hat, wie das Handexemplar C 4402 dokumentiert (das weitere Handexemplar C 4412 zeugt von Überarbeitungen aus dem Januar 1888): Doch der Text blieb unverändert. Man hatte einfach alle alten Titelblätter und das „An Stelle einer Vorrede“ weggerissen, um dann das neue Titelblatt, die neue „Vorrede“ sowie das „Unter Freunden. Ein Nachspiel“ mit dem alten Buchblock zu verkleben und den Anschein einer Neuerscheinung zu erwecken. N. hoffte, MA I nun gemeinsam mit den Titelauflagen seiner anderen Bücher abermals in die öffentliche Debatte einspeisen zu können. Während die Ausgabe von 1878 noch keinen Hinweis auf eine spätere Fortsetzung gibt, sondern einfach nur Menschliches, Allzumenschliches heißt, ist das Werk in der Ausgabe von 1886 ausdrücklich ein „Erster Band“. Als „Zweiter Band“ werden jetzt die Vermischten Meinungen und Sprüche von 1879 und Der Wanderer und sein Schatten von 1880 zusammengefasst.
12
Menschliches, Allzumenschliches I
2 Quellen Mit Menschliches, Allzumenschliches I bringt N. seine eklektische Lektüreselektions- und Lektüreverwertungspraxis (vgl. Sommer 2019b) auch in der Gestaltung eines Werkes voll zur Geltung. Schon Die Geburt der Tragödie hatte sich aus dem engen fachwissenschaftlichen Korsett der Altphilologie befreit und mit Schopenhauer sowie Wagner fachfremde Autoritäten ins Treffen geführt. Diese Tendenz verstärkt sich mit den Unzeitgemässen Betrachtungen, die thematisch nicht mehr im Rahmen von N.s altertumswissenschaftlicher Profession liegen. Dennoch bleiben sie monographisch auf den jeweils im Titel genannten Gegenstand fixiert, so dass der Einzugsbereich ihrer Quellen, ungeachtet bildungsbürgerlicher Einsprengsel besonders aus der Belletristik, überschaubar bleibt – wenngleich N. auch hier bereits die Praxis übte, vermeintlich nicht mit dem jeweiligen Gegenstand direkt zusammenhängende Texte zwecks Schräglichterhellung beizuziehen – beispielsweise Ralph Waldo Emerson in UB III SE, die ja Schopenhauer gelten sollte. In MA I wird nicht nur der Gegenstandsbereich entgrenzt – hier macht der Philosoph prinzipiell alles zu seinem Gegenstand; Philosophie demonstriert ihren Weltdeutungsanspruch –, sondern auch das Quellenrepertoire. Dabei verhält es sich allerdings nicht so, dass N. systematisch die ‚Fachliteratur‘ zu jedem der Gegenstände, die laut „Hauptstück“-Zwischentiteln behandelt werden, auswerten würde, bevor er sich eine Meinung bildet. Vielmehr antwortet N. situativ auf ganz heterogene Leseeindrücke, die ihm im beruflichen Kontext als Basler Professor, bei privaten oder gemeinsamen Lektüren – wie in Sorrent – unterkamen. In MA I führt N. seine Lektüreselektions- und Lektüreverwertungspraxis auf einen ersten Gipfel: Diese Praxis schert sich ebenso wenig um Fächergrenzen, wie um den Unterschied von schöngeistiger und wissenschaftlicher Literatur. Philosophische Fachliteratur im strengen Sinn spielt in diesem Lesekosmos überdies eine untergeordnete Rolle. Die Auseinandersetzungen mit antagonistischen Positionen werden großteils implizit geführt, so dass Lesende, denen der zeitgenössische Diskussionskontext fehlt, über keinen angemessenen Verständnisrahmen verfügen. Deshalb versucht der Kommentar, diese Diskussionskontexte soweit möglich zu rekonstruieren. N. ist ein Denker, der auf Zuruf reagiert, nämlich auf den Zuruf der Bücher, die ihm zufällig untergekommen sind oder denen er sich mit Bedacht zugewandt hat. Dabei verfährt er in der Rezeption hochselektiv: Er will nicht dem jeweiligen Buch umfassend gerecht werden, sondern er schaut, was er in seine Gedankenund Schreibwelt einpassen kann. Neben altertumswissenschaftlicher und historischer Fachliteratur (z. B. Lecky 1873) nahm N. Mitte der 1870er Jahre auch philosophische Literatur jenseits von Arthur Schopenhauer, Friedrich Albert Lange und Eduard von Hartmann durchaus zur Kenntnis: Prominent die Werke von Eugen Dühring, etwa 1875 dessen
Überblickskommentar
13
Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung (Dühring 1875a; vgl. auch KGW IV 4, 386 f.), oder 1877 Die Elemente der Metaphysik seines Schulfreundes Paul Deussen (Deussen 1877), die N. dann in MA I 57 ausbeutet. Besonders gut dokumentiert sind die gemeinsamen Lektüren für die Zeit in Sorrent, auch weil die daran Beteiligten gegenüber Dritten auskunftsfreudig sind. KGW IV 4, 27 nennt „Voltaire, Diderot, Burckhardt, Ranke, Thukydides, Herodot, Lope de Vega, Calderon, Cervantes, Moreto, Michelet, Daudet, Ruffini, Turgeniew, Charles de Rémusat, Renan, Neues Testament, A. Herzen, Mainländer“, zudem als eigenständige Lektüre Afrikan Spir (vgl. auch Brobjer 2008b, 59 u. 71). Man wird insbesondere Platon ergänzen wollen. Im Falle von Jacob Burckhardt handelte es sich um eine von Louis Kelterborn angefertigte, N. gewidmete Nachschrift der Vorlesung zur griechischen Kulturgeschichte (Burckhardt 1875): „Wir hatten eine reiche und vorzügliche Auswahl von Büchern mit, aber das Schönste unter dem Mannigfaltigen war ein Manuskript, nach den Vorlesungen von Jakob Burckhardt über griechische Kultur, in Basel an der Universität gehalten, von einem Schüler Nietzsches geschrieben und diesem auf die Reise mitgegeben. Nietzsche gab dazu mündliche Kommentare, und gewiss hat nie eine herrlichere und vollkommenere Darlegung dieser schönsten Kulturepoche der Menschheit stattgefunden, als hier schriftlich und mündlich, durch diese beiden größten Kenner des griechischen Altertums. Meine Vorliebe für jene herrliche Blütezeit des menschlichen Geistes steigerte sich dadurch zu höchster Begeisterung“ (Meysenbug 1927, 2, 239; vgl. D’Iorio 2020, 44; zu Meysenbug allgemein Radkau 2022). Salerno 2021, 53–64 legt in ihrem Überblick über die Sorrentiner Lektüren einen Schwerpunkt auf Giovanni Ruffinis Lorenzo Benoni (Ruffini 1854) und Alexandre Herzens Physiologie de la volonté (Herzen 1874; vgl. Murray 2024). Bei den im Vor- und Umfeld betriebenen (Allein-)Lektüren N.s bleibt Ralph Waldo Emerson präsent, dessen Essays N. schon seit Jugendtagen kannte (vgl. umfassend Zavatta 2019; zu N.s Handexemplar von Emersons Versuchen Freregger 2021). Jetzt lockerten sie in ihrer scheinbar nonchalanten Unbekümmertheit N.s Hand für neue Formen des Schreibens. Vorbilder aphoristischer Verknappung standen N. in der Vorsokratik zu Gebote, namentlich bei Heraklit (ohnehin ist der Rückgriff auf die Vorsokratiker, mit denen sich N. schon als Student und junger Professor beschäftigt hatte, für die zweite Hälfte der 1870er Jahre charakteristisch, vgl. D’Iorio 2004), in der frühneuzeitlichen Moralistik, namentlich bei François de La Rochefoucauld (vgl. Faber 1986, Zimmer 2016, Zimmer 2020 u. Winkler 2021a) und bei Baltasar Gracián, sowie bei Georg Christoph Lichtenberg (nach Sommer 2019f, 33). Köselitz las N. 1877/78 Georg Brandes’ Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts (Brandes 1873) vor, die sein kritisches Romantik-Bild mitbestimmten (vgl. NK 138, 28–33), während bei Franz und Ida
14
Menschliches, Allzumenschliches I
Overbeck gemeinsam Charles Augustin Sainte-Beuves Causeries du Lundi gelesen und übersetzt wurden (vgl. Sainte-Beuve 2014), die N.s Kenntnisse der französischen Literatur erweiterten (eine Umgangshermeneutik für sekundäre Lektüren von N.s primären Lektüren entwirft Rottmann 2020). MA I hat stark responsiven Charakter, nicht nur auf Lektüren, sondern auch auf Zeitumstände, siehe Janz 1978, 1, 811 f. Dabei könnte auch das Nahumfeld eine intellektuell stimulierende Rolle gespielt haben, und zwar jenseits der engen Freunde wie Rée, Köselitz, Overbeck etc. So ist beispielsweise überliefert, dass N. im Herbst 1877 die Vorlesung seines philosophischen Kollegen an der Universität Basel, Karl Steffensen, besucht hat. Der spätere Schriftsteller Edgar Steiger, der damals in Basel studiert hatte, berichtete rückblickend 1915: „Es war Ende Oktober 1877, als ich ihn [sc. N.] zum erstenmal sah. Wir saßen beide auf einer Bank und lauschten der begeisterten Rede eines Philosophen [sc. Steffensen], der in einemfort mit den Worten ‚Gott‘, ‚Seele‘ und ‚Unsterblichkeit‘ um sich warf und dazu die weiße Prophetenmähne schüttelte“ (Kr I, 66). Steiger insinuiert, „im Philosophiekolleg des alten Steffensen blitzte durch das Hirn des Dionysosjüngers zum erstenmal, wie eine plötzliche Erleuchtung“ die Idee der Ewigen Wiederkunft des Gleichen, als Steffensen Origenes’ Lehre von der Apokatastasis vorstellte (Kr II, 598). Wie viel von Steffensen sich N. tatsächlich angeeignet hat, lässt sich erst dann eruieren, wenn man die unveröffentlichte Vorlesung aus dem Nachlass zugänglich macht (was Martin Pernet zu tun beabsichtigt). Für einige der aus der Entstehungszeit von MA I belegten Lektüren sind bislang keine Spuren in diesem Werk nachweisbar. Andere Lektüren wiederum sind nicht duch die bekannten Quellen abgesichert, sondern allein durch die Textbefunde im Werk selbst nahegelegt, so beispielweise die Nachrichten über Leben und Schriften des Herrn Geheimraths Dr. Karl Ernst von Baer (Baer 1865; vgl. NK ÜK MA I 265 u. NK ÜK MA I 266). Aufschlussreich ist in jedem Fall, wie N. das vorgefundene Material umgestaltet und in eigene Denkzusammenhänge einpasst.
3 Konzeption, Struktur und Inhalt Menschliches, Allzumenschliches ist anders – jedenfalls grundlegend anders als N.s frühere Werke. Zwar kann eine philologisch aufmerksame, genealogisch verfahrende Analyse zeigen, dass vieles, was sich in MA I sedimentierte, in N.s Nachlasswerkstatt seit Jahren angelegt und vorbereitet war (vgl. D’Iorio 2004, dazu Pfeuffer 2012, 438). Aber die Form, in der es vorgetragen wird, unterscheidet sich doch grundlegend von dem bei N. Vorangegangenen. Es ist ein Werk, das in äußerster Verknappung irgendwie alles oder doch zu allem etwas sagen will (hier und im Folgenden partiell rekapituliert nach Sommer 2019f, 23–39). Obwohl MA I–II als
Überblickskommentar
15
erstem Zeugnis einer neuen Schreib- und Denkungsart eine Schlüsselposition in N.s Œuvre zukommt, hat das Werk verglichen mit N.s anderen Schriften wenig Aufmerksamkeit gefunden. Das hat wesentlich damit zu tun, dass das Werk sich nur schwer auf übersichtlich darstellbare ‚Hauptgedanken‘ reduzieren lässt wie GT und UB I–IV, aber auch die nachfolgenden, gewöhnlich gleichfalls als ‚aphoristisch‘ apostrophierten Werke wie Die fröhliche Wissenschaft oder Jenseits von Gut und Böse. Dort machte N. seinen (posthumen) Lesenden den Gefallen, mit berühmt gewordenen Fügungen wie ‚Wille zur Macht‘, ‚Ewige Wiederkunft des Gleichen‘ oder ‚Übermensch‘ die Aufmerksamkeit zu fesseln. Dies gelang ihm in MA I–II noch nicht. Die neue Schreib- und Denkungsart zeigt sich zunächst in der Mikrostruktur des Werkes. Man hat sich angewöhnt, von MA I als N.s erstem ‚Aphorismenbuch‘ zu sprechen. So berichtet Reinhart von Seydlitz, der sich 1877 zeitweise der Sorrentiner Denkgemeinschaft angeschlossen hatte: „In Sorrent lasen wir uns gegenseitig Aphorismen vor, die wir um die Wette aufzeichneten: manche von den seinen stehen in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘. – ‚Fünf Gedanken sollte man doch jeden Tag haben können,‘ sagte er [sc. N.] einmal; er pflegte zu dem ‚Tage‘ hierbei auch die Nacht zu rechnen, und hatte eine Schiefertafel neben seinem Bett, auf welcher er im Finstern notirte, was die Schlaflosigkeit gezeitigt hatte.“ (Gilman 1987, 338) „Aphorismen“ scheint für die 638 durchnummerierten, kurzen und längeren Texte, aus denen MA I besteht, ein passendes Etikett zu sein. N. selbst freilich hegt Etikettenzweifel und fürchtet Etikettenschwindel: „Es sind Aphorismen! Sind es Aphorismen? – mögen die welche mir daraus einen Vorwurf machen, ein wenig nachdenken und dann sich vor sich selber entschuldigen – ich brauche kein Wort für mich“ (NL 1880, 7[192], KSA 9, 356, 16–19; vgl. z. B. Hödl 2007, 152, der von MA I als einem als „zu Unrecht als Aphorismenbuch bezeichneten Werk[..]“ spricht. Allgemein zum Formproblem vgl. z. B. Häntzschel-Schlotke 1967, Borsche 1992, Born 2012 u. Fürnkäs 2012). Sieht man genauer hin, fächern sich hinter dem Etikett ‚Aphorismen‘ bereits in MA I eine Vielzahl verschiedener Formen auf: Selbstgespräche gibt es ebenso wie kurze Dialoge, sprichwörtlich pointierte Epigramme ebenso wie Experimentanleitungen, Merksätze ebenso wie Miniaturerzählungen, Prosagedichte ebenso wie Parabeln, Sentenzen ebenso wie Schlussfolgerungsketten (zu diesen „Sentenzen“ und „Gedankenketten“ siehe auch NL 1876/77, KSA 8, 20[3], 361, 17–25, zitiert in NK ÜK MA I 35). „So gesehen, kann auch Menschliches, Allzumenschliches nicht ohne weiteres als Aphorismen-Sammlung bezeichnet werden. In diesem Buch sind Nietzsches keineswegs immer verborgene, sondern oft sichtbare, d. h. ausformulierte ‚Gedanken-Ketten‘ sogar wesentlich zahlreicher als die Sentenzen, ähnlich wie bei La Bruyère und Chamfort. Von beiden hat Nietzsche möglicherweise auch die Anordnung der durchnummerierten Reflexionen und Sentenzen in Kapi-
16
Menschliches, Allzumenschliches I
teln übernommen, deren Überschriften die jeweils vorherrschende Thematik benennen.“ (Winkler 2021a, 248. Diese Überschriften fehlen übrigens häufig in den ‚Reinschriften‘ in Mp XIV 1 und kommen erst im Druckmanuskript D 11 hinzu. Zum Thema, was denn bei N. Aphorismen sind, siehe z. B. Westerdale 2013, Strobel 1998 u. v. a. NK 3/2.1, S. 24–37.) Aufschlussreich ist auch, was N.s Freund Franz Overbeck zum Aphorismus und dem ihm innewohnenden Mangel „sorgfältiger Begründung“ notiert (Overbeck 1995, 4, 18 f.). Auf der Rückseite des Titelblatts zur Erstausgabe von Der Wanderer und sein Schatten lässt N. folgende Erläuterung platzieren: „Zweiter und letzter Nachtrag zu der früher erschienenen Gedankensammlung ›Menschliches, Allzumenschliches.‹“ (Nietzsche 1880, [II]) Ist das Werk also als eine Sammlung von „Gedanken“ zu verstehen – womit sich der Verfasser selbst von der Nötigung dispensiert, eine literarische Gattungsbezeichnung für seine Texte zu benutzen? Gleichzeitig wird mit der Formel „Gedanken“ eine Zuordnung zum Bereich der Wissenschaft oder der Literatur und damit der Kunst vermieden. Zwar kann man mit Enrico Müller 2020, 57 festzustellen geneigt sein: „Das tragische Pathos und der kunstphilosophische Appell an die Erneuerung der Kultur werden zugunsten eines nüchternen, dabei pointierten wissenschaftlichen Sprachstils aufgegeben.“ Tatsächlich wendet sich MA I auch auf der inhaltlichen Ebene gegen die von N. einst selbst betriebene Kunstvergötzung und tritt emphatisch für die ‚Wissenschaft‘ ein. Jedoch tut er dies in einer Form, die ihrerseits künstlerisch sehr ambitioniert ist. Zugespitzt formuliert: Mit der Verabschiedung von Kunst als letztem Sinngebungsrahmen wurde N. selbst philosophischer Künstler. Erst dem sogenannten aphoristischen Schreiben verdankt N.s Philosophieren seine große literarische Form. „Interpreten haben oft darüber nachgedacht, weshalb die aphoristische Form für Nietzsche so attraktiv werden konnte, und zwar just in einer Schaffensphase, als er sich bereitwillig den Wissenschaften zuwandte und seine Kunstfrömmigkeit aufgab. Dem gängigen Ideal wissenschaftlicher Prosa, die nichts bei Andeutungen belässt und alles erschöpfend erklärt, scheint diese Art des Schreibens prinzipiell entgegengesetzt zu sein. Entsprechend leicht verfielen die Interpreten auf biographische Erklärungsversuche: Nietzsche habe wegen seiner fast unausgesetzten Krankheitsphasen nicht mehr die Kraft, den langen Atem gehabt, um längere Texte mit Abhandlungscharakter zu fabrizieren, so dass er versucht habe, aus der Not eine Tugend zu machen. Jedoch ist dieser Erklärungsansatz selbst kurzatmig, weil er verkennt, dass Nietzsche sich bewusst allen Verlockungen zum Systembau verweigerte, da philosophische und wissenschaftliche Systeme mit ihrem Totalitätsanspruch die Fülle der Wirklichkeit notwendig vereinseitigen und verzeichnen. Die Texte, die Nietzsche ‚seine Aphorismen‘ nannte, üben sich zwar in größtmöglicher intellektueller und emotionaler Verdichtung, aber überraschende Wendungen und dialogische Einschlüsse reißen immer wieder scheinbar apodik-
Überblickskommentar
17
tisch abgeschlossene Horizonte auf. Sie entlassen die Leser ins Offene, Unbegangene, wo sie ihren eigenen Weg finden müssen. Damit gehorchen Nietzsches Aphorismen dem Postulat intellektueller Rechtschaffenheit und Redlichkeit, an dem er trotz aller eigenen Einwände zeitlebens festhielt.“ (Sommer 2019f, 33 f.) Mit Wolf 2002, 224 kann man hinzufügen: „Vertieft wird das literarische Verfahren durch ein skeptisches Lehensexperiment, das den Wechsel von Meinungen und Perspektiven erforderlich macht.“ So sehr MA I auch Aufbruchstimmung verbreitet – den Anschein von Klarheit, Zugewandtheit, Weltlichkeit –, so sehr vermeidet diese „Gedankensammlung“ doch noch Extremismen und tilgt auch sorgfältig politische Provokation. Schön zu sehen ist das etwa beim neuen Ende von MA I 439, das die antiegalitäre Aussage bricht, vgl. NK 287, 10–12. N. scheint als Aufklärer reüssieren zu wollen, nicht als Extremist, nicht als Brandstifter, nicht als Terrorist. In MA I bewegt er sich noch im Modus des Versuchens und geht formal noch nicht wirklich weit. Das gewaltige Spektrum der Ausdrucksformen beispielsweise von Jenseits von Gut und Böse (JGB) oder Götzen-Dämmerung (GD) ist noch nicht erreicht. Das zeigt sich etwa darin, dass die später so typische, überraschende Schlusswendung, die alles bis dahin im jeweiligen ‚Aphorismus‘ Gesagte wiederruft, in MA I noch weitgehend fehlt. Die Figuren der Selbstaufhebung, Verschlungenheit und Verschlagenheit sind noch nicht ausgeprägt. Der Glaube an Aufklärung, a(nti)metaphysische Philosophie und „wirklich befreiende philosophische Wissenschaft“ (MA I 27, KSA 2, 48, 26) scheint ungebrochen und wird mit Verve verkündet. Stellenweise gibt sich die Sprechinstanz so traumwandlerisch sicher in ihrem szientistischen Ideologiegebäude, dass man sich beinahe in jene von David Friedrich Strauß zelebrierte Wissenschaftsgläubigkeit zurückversetzt wähnt, die N. in UB I DS so unbarmherzig zerpflückt hat. Dennoch lässt sich MA I kontrastierend dazu auch als ein Werk beschreiben, in dem N.s Denken selbstreflexiv wird: Philosophie wird aufgeführt wie ein Drama und der Aufführende beobachtet sich und die Aufführung. Die ‚aphoristische‘ Form begünstigt eine Philosophie der Facettierung, die lineare Ordnungen des Denkens hintertreibt. Die in MA I gesammelten „Gedanken“ verzichten auf letzte Festlegungen. Anstelle einer Philosophie der Antworten, wie sie N. bis dahin mit Schopenhauers und Wagners Schützenhilfe zu praktizieren versucht hatte, tritt jetzt ein Philosophieren in Fragen. „Lesern meiner früheren Schriften will ich ausdrücklich erklären, daß ich die metaphysisch-künstlerischen Ansichten, welche jene im Wesentlichen beherrschen, aufgegeben habe: sie sind angenehm, aber unhaltbar. Wer sich frühzeitig erlaubt öffentlich zu sprechen, ist gewöhnlich gezwungen, sich bald darauf öffentlich zu widersprechen.“ (NL 1876/77, KSA 8, 23[159], 463, 1–6) Die aphoristische Fragmentierung erlaubt es den Lesenden, überall anzudocken, überall sich anzuhaften, überall dazwischenzutreten, denn MA I suggeriert als „Gedankensammlung“ den Abschied von der Linearität des Denkens. Der Kombinatorik sind keine Grenzen gesetzt.
18
Menschliches, Allzumenschliches I
Das alles bedeutet freilich nicht, dass MA I keine Makrostruktur aufwiese und das Buch nur ein wildes Meer ungeordneter Gedanken wäre. Obwohl La Rochefoucauld im „Avis au lecteur“ der zweiten Ausgabe seiner Réflexions ou sentences et maximes morales von 1666 den Lesern mitteilt, er habe Reflexionen zum selben Gegenstand jeweils nicht am selben Ort platziert, „de crainte d’ennuyer le lecteur“ (La Rochefoucauld o. J., 103), und also dem ästhetischen Prinzip varietas delectat huldigt, das für aphoristische Werke häufig normativ geworden ist, und obwohl N. diesen Gedanken in MA I 637 dahingehend fruchtbar macht, dass freie Geister des „beständigen Wechsel[s]“ (362, 7) bedürften, um nicht im Überzeugungskorsett, in der „Trägheit des Geistes“ (362, 4) zu erstarren, gruppiert die schließlich zum Druck beförderte Fassung von MA I das angesammelte Textmaterial nach thematischen Gesichtspunkten. Unberücksichtigt blieb beim Gesamtarrangement der ursprüngliche Entstehungskontext der Einzeltexte. In die jeweiligen thematisch betitelten Hauptstücke wurden Materialien aus ganz unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen eingespeist. Dabei zeugen der Nachlass und die dort mit verschiedenen Buchstaben und Zeichen erfolgte Rubrizierung der einzelnen Texte davon, dass diese ursprünglich keineswegs geschrieben worden sind, um in einem bestimmten Kapitel publiziert zu werden. Im Laufe der mehrjährigen Werkentstehung experimentierte N. mit verschiedenen Gliederungsoptionen. Die finale sieht für die 638 Stücke der „Gedankensammlung“ neun „Hauptstücke“ vor, nämlich „1. Von den ersten und den letzten Dingen“, „2. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen“, „3. Das religiöse Leben“, „4. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller“, „5. Anzeichen höherer und niederer Cultur“, „6. Der Mensch im Verkehr“, „7. Weib und Kind“, „8. Ein Blick auf den Staat“ und „9. Der Mensch mit sich allein“. Diese Makrostruktur bildet einen übergreifenden Gedankengang ab: In der ersten Hälfte – bis zu und mit dem Vierten Hauptstück – ist MA I aufs Abräumen ausgerichtet: Die Überzeugungen der traditionellen Metaphysik fallen im Ersten Hauptstück, die unverbrüchlichen moralischen Werte im Zweiten, die religiösen Gewissheiten im Dritten und schließlich wirft das Vierte Hauptstück den Glauben an eine welterschließende und sinnstiftende Kraft der Kunst über Bord. Genau in der Mitte des Werkes werden das Gegenwärtige und das Künftige gegeneinander ausgespielt – die Gegenwartsdiagnose wird mit Zukunftsprognostik kontrastiert, die etwas Höheres in Aussicht stellt. Sodann bieten die Hauptstücke 5 bis 9 Bausteine zu einer sozialen Anthropologie mit (insbesondere im Achten Hauptstück) auch politischen Ausflügen als einen Neubau, der nach dem Abräumen der bisherigen, leider trügerischen Gewissheiten in hellem Glanz erstrahlen könnte. Wenn N. in einem Gliederungsentwurf für „Die Pflugschar“ – mit noch sieben Hauptstücken, beginnend mit den „Freie[n] und gebundene[n] Geister[n]“ und endend mit der „Schule der Erzieher“ – das damals geplante Werk „Eine
Überblickskommentar
19
Anleitung zur geistigen Befreiung“ nennt (NL 1876, KSA 8, 17[105], 313, 16–24), ist damit die emanzipatorische Dimension auch des später dann tatsächlich realisierten Werkes benannt. Aber eine „Anleitung“ in einem strengen Sinn ist das „Buch für freie Geister“ nicht mehr: Beim Auf- und Abräumen hilft es, beim Sich-Freimachen; und es gibt Hinweise, wie man sich und die Zukunft der Menschheit gestalten könnte. Aber mit dieser (mitunter bedrückenden) Freiheit sich befreiender Geister verflüchtigt sich auch die traditionell übliche hierarchische Ordnung philosophischer Texte, die ihren Lesenden einen Denkweg zu hohen und höchsten Einsichten öffnen. MA I kennt eine solche Hierarchisierung, eine solche anagogische Lesergängelung nicht mehr. Entsprechend fehlen in diesem Buch die von vornherein ausgezeichneten Orte – jene Textstellen, die nach deutlicher Markierung seitens des Autors das Wesentliche und Wichtige enthalten. Innerhalb der Hauptstücke stehen zwar nicht immer ‚Aphorismen‘ unverbunden nebeneinander – gelegentlich werden über mehrere Teiltexte hinweg ‚Aphorismenketten‘ gebildet –, jedoch wird auch kein jeweils das gesamte Hauptstück umgreifender Gedankenentwicklungsgang entworfen. Damit fehlen in MA I Teile, deren herausgehobene Wichtigkeit für alle, weil so vom Autor ausgewiesen, unmittelbar evident wäre. Darüber zu entscheiden, was wichtig und relevant ist, obliegt den Lesenden. Aber sie entscheiden dies, womöglich als ‚freie Geister‘, auf eigene Rechnung und Verantwortung. Keine lineare Argumentation, nichts mehr per se Herausgestelltes, als wichtig Ausgeflaggtes kommt ihnen zu Hilfe. Die Erscheinungsform der „Gedankensammlung“, in der sich MA I präsentiert, erscheint als radikale Demokratisierung des Denkens, als erst noch im Rezeptionsakt zu ordnende Vielfalt der Stimmen. Vergegenwärtigt man sich das Bausteinprinzip von MA I – N. notiert über Jahre kürzere Texte und fügt sie dann schließlich unter den „Hauptstücken“ zusammen (in JGB wird N. die Hauptstücke-Struktur von MA I auch inhaltlich adaptieren, vgl. NK 5/1, S. 21 u. Grätz 2024b, XVIII) –, könnte man versucht sein, die Makrostruktur von MA I als architektonisch zu beschreiben. Allerdings besteht Architektur bekanntlich nicht nur darin, Bausteine hin und her zu schieben. Auch das Abladen von Bausteinen auf neun Baustellen, die unter Großtiteln stehen, ist wohl noch kein Ausweis von Architektur. Man könnte daher geneigt sein, die Makrostruktur von MA I stattdessen als organisch zu rubrizieren: Vieles wächst zufällig, manches überbordend – und wird dann von der gestaltenden Hand in der Schlussredaktion beschnitten. Aber vielleicht führt die Alternative des Architektonischen und des Organischen ganz in die Irre. Beispielsweise könnte auch die Transplantationsmedizin das in MA I geübte Verfahren metaphorisch verdichten: Zellen und Organe werden aus dem Ursprungszusammenhang entnommen und an anderer Stelle je nach Zellen- und Organbedarf wieder eingepflanzt. Die lebenstherapeutische Intention von MA I liegt auf der Hand. Man darf freilich bezweifeln, dass das in NL 1876/77, KSA 8, 23[157], 462, 22–27 formulierte
20
Menschliches, Allzumenschliches I
Entlastungsversprechen erfüllt worden ist: „Das Leben wird leicht und angenehm durch eine rücksichtslose Befreiung des Geistes, welche versuchsweise einmal an allen den Vorstellungen rüttelt, welche das Leben so belastet, so unerträglich machen: so daß man, um die Freude dieser Entlastung zu haben, das einfachste Leben vorzieht, welches uns diese Freude ermöglicht.“ Freilich kann all das den gelegentlich geteilten Lektüreeindruck nicht verdecken, MA sei – zumal mit den beiden Appendizes Vermischte Meinungen und Sprüche (MA II VM) und Der Wanderer und sein Schatten (MA II WS), die N. 1879 und 1880 dem Werk noch zugeschlagen hat – recht langatmig, ja geradezu ermüdend lang geraten. N. zögerte offensichtlich, es aus der Hand zu geben, als ob er vom Verlangen bestimmt gewesen sei, darin schlechterdings alles unterbringen zu müssen, was er noch sagen zu müssen glaubte – womöglich aus Angst, es würde sein letztes Werk bleiben? Dennoch hat das Werk zweifellos den in MA I 618 formulierten Anspruch eingelöst, wonach Philosophie nicht eine Sicht privilegieren soll, sondern die Sichtenvielfalt kultivieren. Das Einheitsstreben von GT ist in MA I einem Vielheitsstreben gewichen.
4 Zur Wirkungsgeschichte, verfasst von Gabriel Valladão Silva Schon seit der Zeit seiner Veröffentlichung gilt MA I als das Buch, welches den vielleicht größten Einschnitt in N.s Leben und Werk markiert. Es erschien in der Zeit von N.s Abkehr vom professoralen Leben in Basel, seiner endgültigen Distanzierung von den frühen Vorbildern (vor allem von Schopenhauer und Wagner) und von den mit ihnen verbundenen philosophischen Ansichten. Für N. schien es gerade recht zu kommen, um neue Wege einzuschlagen, sowohl im Denken als auch im persönlichen Leben. MA I markiert für viele von N.s Lesern den Anfang der sogenannten ‚mittleren Phase‘ seines Schaffens, einer Phase der Distanzierung von den Idealen, die ihn in seinen frühen Werken geleitet hatten, und der allmählichen Hinwendung zur eigenständigen Philosophie seiner späteren Jahre, welche zum ersten Mal in Za und im Fünften Buch von FW zum Ausdruck käme. Aus N.s Briefwechsel im Winter 1877/78 geht jedoch hervor, dass er wenigstens bis zur Veröffentlichung von MA I keineswegs die Absicht hatte, die Ansichten seiner früheren Schriften zu verwerfen, noch auch seine damaligen Freunde und Bewunderer durch das neue Werk zu entfremden. In einem kuriosen Briefentwurf an Richard und Cosima Wagner von Anfang 1878 nennt N. das entstehende Werk „mein Geheimniß“ und scheint noch dazu entschlossen zu sein, es unter einem Pseudonym erscheinen zu lassen, „einmal weil ich die Wirkung meiner
Überblickskommentar
21
früheren Schriften nicht stören möchte, sodann weil die öffentl〈iche〉 und private Beschmutzung der Würde meiner Person damit verhindert werden soll […] endlich und namentlich, weil ich eine s a c h l i c h e D i s k u s s i o n möglich machen wollte, an der auch meine so intelligenten Freunde aller Art theilnehmen können, ohne daß ein Zartgefühl ihnen wie bisher dabei im Wege stand.“ Zudem betont N. hier den persönlichen Charakter seines neuen Werks und stilisiert sich zum einstweilen noch vereinsamten Vorläufer einer möglichen zukünftigen Bewegung, die er trotzdem auch als „Collektivum“ gedacht zu haben meint (KSB 5/ KGB II 5, Nr. 676, S. 298, Z. 3, u. 13–S. 299, Z. 21 u. 32). Den Plan, MA I unter einem Pseudonym erscheinen zu lassen, hat N. offenbar nur für sehr kurze Zeit erwogen (obwohl laut der Schwester sogar schon eine „fable convenue über den neuen Autor Herrn Bernhard Cron erfunden“ worden war; Förster-Nietzsche 1895–1904, 2/1, 290). Schon gegen Ende Januar 1878 bat der Verleger Ernst Schmeitzner N., die „Pseudonymität“ als „sehr kostspielige[s] […] Risiko“ aufzugeben (KGB II 6/2, Nr. 1031, S. 796, Z. 12–S. 797, Z. 16). In seiner Antwort vom 28. Januar kam N. der Anforderung Schmeitzners ohne Widerspruch nach (KSB 5/KGB II 5, Nr. 679, S. 301, Z. 6–9), bat den Verleger jedoch wiederholt, bis zur Veröffentlichung nichts über das neue Buch zu verraten (ebd. sowie Brief vom 03. 12. 1877, KSB 5/KGB II 5, Nr. 673, S. 294, Z. 48–50 u. Brief vom 15. 03. 1878, KSB 5/KGB II 5, Nr. 695, S. 309, Z. 2–7). Schmeitzner zeigte sich damit einverstanden und beteuerte N. ebenfalls wiederholt, er würde das Schweigen einhalten (Brief vom 05. 12. 1877, KGB II 6/2, Nr. 1014, S. 771, Z. 19–27 u. Brief vom 16. 03. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1046, S. 817, Z. 49). Am 19. April 1878 schrieb N. ein paar Zeilen an den Verleger, scheinbar darüber empört, dass dieser nun doch eine Anzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel hatte erscheinen lassen (KSB 5/KGB II 5, Nr. 713, S. 322, Z. 8–10 u. Schmeitzner 1878). Schmeitzner entschuldigte sich wegen der Anzeige – diese sei aus Zufall und nicht absichtlich frühzeitig erschienen (Brief vom 20. 04. 1878, KGB II 6/2, S. 835, Z. 9–12). Dieses Versehen schien jedoch keine großen Folgen nach sich zu ziehen und N. war nicht übermäßig gekränkt (N. an Schmeitzner, 23. 04. 1878, KSB 5/ KGB II 5, Nr. 716, S. 323). Trotz dieser verfrühten Anzeige im Börsenblatt war N.s Plan, MA I bis zur Veröffentlichung geheim zu halten, allem Anschein nach doch ziemlich erfolgreich. In ihren Dankesbriefen zeigten sich die Empfänger der Freiexemplare ohne Ausnahme überrascht. Es wusste offenbar kaum jemand, dass N. überhaupt an einem neuen Werk arbeitete. Allerdings war diese Überraschung von unterschiedlichen Emotionen begleitet. Reinhart von Seydlitz und Malwida von Meysenbug, die in der Sorrentiner Zeit der Entstehung wichtiger Teile von MA I beigewohnt hatten, zeigten sich entzückt (Seydlitz an N., 27. 04. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1060, S. 841 f. u. Meysenbug an N., 30. 04. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1063, S. 846 f.).
22
Menschliches, Allzumenschliches I
Positive Rückmeldungen erhielt N. auch von Otto Eiser (Brief vom 30. 04. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1062, S. 844 f.), von Louis Kelterborn (Brief vom 18.–20. 05. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1070, S. 856–860) und von Gabriel Monod (Brief vom 22. 05. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1072, S. 862 f.). Kelterborn berichtet später auch von einer „begeisterte[n] Aufnahme“ von MA I bei „manche[n] hervorragende[n] Gelehrte[n], Künstler[n], Musiker[n] in verschiedenen Schweizer Städten“, „von denen der Verfasser vielleicht nie etwas erfuhr“ und erwähnt namentlich „den Maler Carl Brunner, damals [1880] in Basel wohnhaft, welcher sein Atelier mit einer ganzen Reihe von Aphorismen aus ‚M. A.‘ geschmückt hatte“ (KGW IV 4, 60). Gemeint ist wohl Carl oder Karl Brünner (1847–1918), der seit 1874 in Basel tätig war. Der treue Freund Köselitz schwärmt über MA I in höchsten Tönen (Brief vom 26. 05. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1075, S. 871–875). Neben Köselitz’ wird aber die begeistertste Antwort auf die unerwartete Zusendung von MA I wohl diejenige Paul Rées gewesen sein. In seinem Dankesbrief vom 10. Mai 1878 preist er MA I als das „Buch der Bücher“ (KGB II 6/2, Nr. 1066, S. 853, Z. 7 f.) – und behauptet, darin auch sich selbst – und nicht nur sich selbst – „in vergrößertem Maßstabe“ wiederzuerkennen (ebd., Z. 15). N. sei nämlich, so Rée, „nicht Ein Mensch, sondern ein Konglomerat von Menschen: während jeder Ihrer so verschieden angelegten Freunde sich quält, das Talent – das eine, welches er gerade hat – aufzustutzen und ihm Ansehen zu geben, und hierzu seine ganze Kraft gebraucht, haben Sie alle diese verschiedenen Talente theils besser, theils ebenso gut, wie jeder einzelne von den andern“ (ebd., Z. 17–23). Wie Seydlitz und Meysenbug fühlte sich auch Rée durch MA I in die Sorrentiner Erlebniswelt zurückversetzt (ebd., Z. 8–14). Einige Wochen später erhielt N. noch einen weiteren Brief Rées, in dem das Lob des neuen Buchs fortgesetzt wird: MA I sei eines der seltenen Bücher, „die eine wohlthuende Nachwirkung, jene behagliche, kontemplative Stimmung (entsprechend der Stimmung des Körpers, wenn er durch ein Glas feurigen Weins angenehm erregt ist) wirklich hervorrufen“, vielleicht nur mit Eckermanns Gesprächen mit Goethe vergleichbar (Brief vom Juni 1878, KGB II 6/2, Nr. 1079, S. 878, Z. 12–18). Neben Rée sei laut N. die einzige andere für ihn bedeutsame positive Reaktion auf MA I von Jacob Burckhardt gekommen. N. zeigte sich darüber sehr erfreut und erzählte wiederholt seinen Freunden, Burckhardt habe sein Werk „‚das souveräne Buch‘ genannt“ (N. an Köselitz, 31. 05. 1878, KSB 5/KGB II 5, Nr. 723, S. 329, Z. 9), welches „‚Vermehrung der Unabhängigkeit in der Welt‘“ zuwege gebracht hätte (ebd., Z. 31 f.; vgl. N. an Rée, 12. 05. 1878, KSB 5/KGB II 5, Nr. 720, S. 325, Z. 4, Anm.). Burckhardt selbst machte noch Ende 1878 Friedrich von Preen auf N.s mit MA I vollzogene „halbe Wendung zum Optimismus“ aufmerksam und pries N. als einen „außerordentliche[n] Mensch[en]“, der „zu gar Allem […] einen eigenthümlichen, selbsterworbenen Gesichtspunct“ habe (Burckhardt 1966, S. 293;
Überblickskommentar
23
zu Burckhardts „emphatische[r] Reaktion“ auf MA I siehe auch Enrico Müller 2021a, 154, ferner Salin 1938, 132 ff. u. Janz 1978, 1, 815 f.). Hans von Bülow, welcher ebenfalls ein Freiexemplar bekam, und dessen Stimme Carl Fuchs aus MA I sprechen zu hören meinte (Fuchs an N., dritte Maiwoche 1878, KGB II 6/2, Nr. 1074, S. 866, Z. 68 f.), äußerte sich Jessie Laussot gegenüber folgendermaßen: „A propos, das Buch von Nietzsche ist doch gut, stellenweise sogar sehr gut“ (Bülow an Laussot, 22. 05. 1878, zitiert nach nach Kr I, 70). Eine eher kuriose Werbeaktion hatte derweil der Verleger Schmeitzner unternommen, der Köselitz am 06. 08. 1878 wissen ließ: „Es wird Sie interessiren, daß ich Nietzsche, Menschliches an Bismarck nach Kissingen geschickt habe. Heute früh traf ein anständiges Dankschreiben von ihm ein, mit der Bemerkung, daß sich aber deutscher Text in lateinischen Lettern gerade so schwer lese, als wie französischer Text in deutschen Lettern …“ (KSA 15, 91). N. seinerseits meldete Schmeitzner am selben Tag: „Nun, geehrtester Herr Verleger, da haben Sie ja die große Handschrift des großen Mannes. Trotz dem daß er so artig dankt, glaube ich, im Vertrauen gesagt, er wirft, wenn er wirklich im Buche liest, es an die Wand. Dies gilt aber dann m i r, nicht Ihnen.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 742, S. 345, Z. 2–6) Die meisten frühen Leser von MA I waren jedoch verwirrt. Marie Baumgartner, die kurz zuvor N.s UB IV ins Französische übersetzt hatte, berichtete in ihrem Dankesbrief, sie habe „vor Bewunderung und Schrecken abwechselnd gezittert“ (Brief vom 28. 04. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1061, S. 843, Z. 20 f.). Carl Fuchs behauptete, das „bedeutungsvolle[.]“ Buch habe eine „Krisis“ in ihm ausgelöst (Brief aus der dritten Maiwoche 1878, KGB II 6/2, Nr. 1074, S. 864 f., Z. 18–S. 865, Z. 22). Adolf (von) Harnack nahm in seinem Brief an Franz Overbeck vom 13. 06. 1878 daran Anstoß, wie N. in MA I mit Religion und Christentum umgesprungen war (ediert in Gabathuler/Staehelin 1962, 126 f., siehe Pellarin 2022, 147, Fn. 473). Viele waren geradezu betrübt von dem, was sie in N.s neuem Werk fanden. In seinen Antworten an die Freunde betonte N. oft, wie wenige es gewesen seien, die MA I zu schätzen gewusst hätten. An Overbeck schrieb er Anfang September: „Es geht Vieles i n mir um. Das von Außen Kommende habe ich fast nur abzuwehren. Abscheuliche Briefe“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 752, S. 351, Z. 8 f.). Auch Overbeck selbst zeigte sich allerdings von N.s neuem Werk „befremdet“ (Janz 1978, 1, 819). Janz erwägt, dass dies auch daher rühren könnte, dass Ida Overbeck – wie übrigens auch Malwida von Meysenbug – mit dem, was N. über ‚das Weib‘ schrieb, unzufrieden war. Meysenbug selbst, die in ihrem Dankbrief MA I „eine so schöne Frucht“ der Sorrentiner Zeit genannt hatte (Brief vom 30. 04. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1063 S. 846, Z. 9), schrieb an Heinrich von Stein, dass alle „nächsten Freunde“ N.s vom neuen Buch „empört“ wären, und dass ihr selbst auch der „leichtfertige[.] Ton“ missfalle, „mit dem es sich auf einem Gebiet bewegt, auf welchem N. nie einheimisch war und wo er daher inkompetent und oberflächlich ist“ (Meysenbug an Stein, 11. 09. 1878,
24
Menschliches, Allzumenschliches I
zitiert nach Reich 2013, 539). Auch andere wie Heinrich Romundt oder der alte Freund und Philologe Erwin Rohde äußerten ihre Bedenken. (Rohdes Doktorvater in Kiel, Otto Ribbeck, erhielt ebenfalls ein Exemplar und schrieb dazu an Heinrich Gelzer am 06. 06. 1878: „Welche Abgründe unnatürlicher, sich selbst überschlagender, alles Ideale vernichtender Grübelei in diesem widerwärtigen neuesten Buch von Nietzsche! Er ist unheilbar krank“ – zitiert nach Kr I, 72.) Romundt schien der angeblich schrankenlose Ikonoklasmus von N.s „Chemie der Begriffe“ ungerechtfertigt zu sein (Romundt an N., 03. 05. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1064, S. 847–850). Rohde war ernsthaft besorgt um den Freund. An Overbeck schrieb er, dass MA I auch für ihn „Gegenstand […] des schmerzlichen Erstaunens“ war (nach Reich 2013, 538). Am selben Tag sandte er an N. die möglicherweise bitterste unter den erhaltenen Antworten auf die Zusendung von MA I (16. 06. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1082, S. 895–898). Er sei vom neuen „Nietzschianum“ schmerzlich überrascht (ebd., S. 895, Z. 13–S. 896, Z. 18). Rohde kritisiert hier die angeblich von Rée vermittelte sensualistische Grundhaltung von MA I (ebd., S. 896, Z. 38–46), tadelt die Betrachtung des Menschen als rein egoistisches Wesen als „weder besonders scharfsinnig noch irgendwie überzeugend“ (ebd., S. 896, Z. 46–S. 897, Z. 64), sträubt sich gegen die im Buch verteidigten Ansichten über Kunst und Religion (ebd., S. 897, Z. 73–S. 898, Z. 88) und bezweifelt den kulturellen Wert und gar die Möglichkeit einer Verallgemeinerung der „Weisheit“ in der Gesellschaft (ebd., S. 898, Z. 88– 97). Er tröstet sich mit dem Gedanken, dies sei bloß eine weitere Station auf dem Denkweg N.s, der ihn doch irgendwann wieder zu sich selbst führen werde (ebd. S. 897, Z. 69–73). Der schlimmste Vorwurf bezieht sich jedoch auf die auch von Rée und Seydlitz vermerkte Angleichung an die Gedanken seiner Freunde – und insbesondere Paul Rées selbst: „Kann man denn s o seine Seele ausziehen und eine andre dafür annehmen? Statt Nietzsche nun plötzlich Rée werden?“ (ebd., S. 896, Z. 18–20) N. war von der Reaktion seiner Freunde bestürzt, entschloss sich aber offensichtlich dazu, das von außen kommende Unverständnis stoisch zu dulden. In seiner Antwort an Rohde gesteht N., dass es „f r e u n d s c h a f t s g e f ä h r l i c h“ gewesen sein könnte, seine Freunde unversehens in die „Wellen“ seiner neuen Gedanken hineingestoßen zu haben (Brief kurz nach dem 16. 06. 1878, KSB 5/ KGB II 5, Nr. 727, S. 332 f., Z. 5–11). Hier verteidigt er sich auch gegen den Vorwurf, die eigene Seele gegen diejenige Rées ausgetauscht zu haben: „[S]uche nur immer m i c h in meinem Buche und nicht Freund Rée. […] [A]uf die Conception meiner ‚Philosophia in nuce‘ hat er n i c h t d e n a l l e r g e r i n g s t e n Einfluss gehabt: diese war f e r t i g und zu einem guten Theile dem Papier anvertraut als ich im Herbste 1876 seine nähere Bekanntschaft machte“ (ebd., S. 333, Z. 25–31). Allerdings war Rohde nicht der einzige Freund N.s., der die Annäherung an Rée mit Betrübnis beobachtete. Malwida von Meysenbug und Reinhart von Seydlitz äu-
Überblickskommentar
25
ßerten einen ähnlichen Wunsch, N. ‚zu sich zurückkehren‘ zu sehen (vgl. Meysenbug an N., Mitte Juni 1878, KGB II 6/2, Nr. 1083, S. 899 f., Z. 24–35 u. Seydlitz an N., 19. 06. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1084, S. 900 f., Z. 10–20). An Rée selbst schrieb N.: „A l l e meine Freunde sind jetzt einmüthig, daß mein Buch v o n I h n e n geschrieben sei und herstamme: weshalb ich zu dieser neuen Autorschaft gratulire […]. Es lebe der Réealismus und mein guter Freund!“ (Brief vom 10. 08. 1878, KSB 5/KGB II 5, Nr. 743, S. 346, Z. 10–15) Laut Janz 1978, 1, 819 f. sei diese angebliche Bekehrung zum ‚Réealismus‘ „eigentlich der bei allen Freunden und auch späterhin durchgehende Haupteinwand gegen das neue Buch“ gewesen (vgl. auch Hollingdale 1990, 6, Small 2005, 31–33, Young 2010, 273 f. u. Abbey 2020, 5). Wie N.s Freunde bemerkten nun auch die Wagners die Fähigkeit N.s, sich die Gedanken anderer anzueignen. Anders aber als jene meinten diese, N. habe eigentlich nie eine eigene ‚Seele‘ gehabt, sondern bloß die Wagnersche Haut gegen diejenige Rées ausgetauscht. Überhaupt war die in Bayreuth erfolgende Reaktion auf MA I alles andere als die sachliche Auseinandersetzung, auf die N. gehofft hatte. Knapp einen Monat nach Erhalt seines Freiexemplars äußerte Richard Wagner Overbeck gegenüber, er habe „sehr auffällige Veränderung[en]“ bei N. wahrgenommen: „[W]er ihn jedoch schon vor Jahren etwas aufmerksam in seinen psychischen Krämpfen beobachtete, durfte sich fast nur sagen, daß eine längst befürchtete Katastrophe nicht ganz unerwartet bei ihm eingetreten ist“. Er habe also das Buch, das in seinen Augen die Folge jener ‚psychischen Krämpfe‘ bildete, „nachdem ich es beim Aufschneiden durchblättert“, nicht gelesen, um die Freundschaft mit N. zu bewahren, wofür er auf die zukünftige Dankbarkeit des letzteren hoffe (Wagner an Franz Overbeck, 24. 05. 1878, zitiert nach Janz 1978, 1, 824). Auch Cosima Wagner äußerte sich in ähnlichem Sinne N.s Schwester gegenüber (KGW IV 4, 61–65): MA I habe sie „mit Kummer erfüllt“. Wie ihr Gatte fand sie eine „physiologische Erklärung“ für das anstößige Werk: „[I]ch weiß, er war krank, als er alle diese, geistig so sehr unbedeutenden, moralisch so sehr bedauernswerten Sätze niederschrieb […]; wollte der Himmel, er hätte nur so viel Gesundheit gehabt, um dieses traurige Zeugniß seiner Krankheit nicht herauszugeben!“ Man schien also in Bayreuth eine gemeinsame ideologische Linie verfolgen zu wollen: Der vielleicht einst aufrichtige Kummer um die Gesundheit des jungen Freundes wurde von den Wagners zunächst als Rechtfertigung für N.s Schweigen über den Parsifal verwendet (Janz 1978, 1, 823 f.), dann jedoch auch, um sich den Inhalt von MA I zu erklären und als Erzeugnis eines Geisteskranken abzutun. Dennoch vermochte der ‚Meister‘ nicht, sich an seinen Entschluss zu halten, N.s Buch nicht zu lesen. Schon am 29. April begann er mit der Lektüre und Ende Juni war er durch. Es wurde bei den Wagners noch ein ganzes Jahr lang über N. (und MA I) gesprochen (Janz 1978, 1, 825 f.). Noch im Mai 1879 machte Wagner eine Anspielung auf den Aphorismus 237 im Aufsatz Wollen wir hoffen? (Wagner
26
Menschliches, Allzumenschliches I
1879, 129 f.). Laut Schmeitzner wurde das Buch auch in Wagners Bayreuther Umkreis gelesen (Schmeitzner an N., 09. 05. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1065, S. 851, Z. 43 f. u. Schmeitzner an N., 16. 01. 1879, KGB II 6/2, Nr. 1143, S. 1021, Z. 15 f.). Am 28. 08. 1878 schrieb Karl Klindworth an Hans von Bülow, N. sei „infolge ‚Menschliches‘“ im Kreise Wagners „‚Abtrünniger‘“ geworden (Kr I, 74). Seydlitz berichtete nach einem Besuch im Herbst, einen „unleidlichen Lärm“ über MA I in Bayreuth vorgefunden zu haben (Seydlitz an N., 15. 10. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1120, S. 986, Z. 27). Ein wichtiger Grund für den Aufruhr in Bayreuth war zunächst ein Werbeblatt, das Schmeitzner, der damals noch Verleger der Bayreuther Blätter war, in das Aprilheft dieser wagnerianischen Publikation lose einlegen ließ (https://babel. hathitrust.org/cgi/pt?id=mdp.39015023339768&view=1up&seq=405 und https://babel. hathitrust.org/cgi/pt?id=mdp.39015023339768&view=1up&seq=406). Das Blatt mit der Überschrift „Soeben Erschienen! / Ein neues Werk von Friedrich Nietzsche“ enthielt nebst einer Nachricht des Verlegers („Dieses neue Werk von Friedrich Nietzsche ist durch jede Buchhandlung des In- und Auslandes, sowie gegen Einsendung des Betrags von der Verlagshandlung zu beziehen“) den Text der Abschnitte 379, 406, 453, 553 und 568 ohne Zahl- oder Seitenangaben und mit geringfügigen Abweichungen (im Abschnitt 379 fehlt das Wort „innere“; im Abschnitt 453 steht „feindselig“ statt „feindlich“ und es fehlt ein Komma nach „Katholisierung Frankreichs“). Die Behauptung, diese Anzeige sei wie die andere im Börsenblatt gegen N.s Willen erschienen (vgl. z. B. Parkhurst 2020, 230 f.), lässt sich nicht begründen. N. hatte die Anzeige in beiden Publikationen nach Versand der Freiexemplare autorisiert (N. an Schmeitzner, 15. 03. 1878, KSB 5/KGB II 5, Nr. 695, S. 309, Z. 3–7) und diese wurden vermutlich schon am 23. April 1878 ausgesendet (Schmeitzner an N., 20. 04. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1056, S. 835, Z. 12–20). Also ist die Anzeige, die das Datum des 30. 04. 1878 trägt, ungefähr gleichzeitig mit dem Erhalt der Freiexemplare und somit N.s Anweisungen entsprechend erschienen. Anders als im Fall des Börsenblatts beklagte sich N. an keiner Stelle über sie. Schmeitzner hatte offensichtlich darauf spekuliert, dass mit dieser Anzeige Wagner aus der Reserve gelockt und ein Skandal provoziert werden könnte (Schmeitzner an N., 30. 05. 1878, KGB II 6/2, Nr. 1078, S. 877, Z. 17–20; vgl. Holub 2016, 90; laut Alois Höfler hat der Verleger den Mitgliedern des neubegründeten Patronatsvereins der Bayreuther Festspiele MA I als Fortsetzung von UB empfohlen, vgl. Kr I, 75). Und tatsächlich konnte Wagner sich nicht zurückhalten. Im August-Heft der Bayreuther Blätter veröffentlichte er den dritten Teil eines Aufsatzes mit dem Titel „Publikum und Popularität“, in dem er sich dem Problem des „akademische[n] Publikum[s]“ widmete. Nach einer Darstellung der durch den Staat geförderten Gelehrtenfabrik und einer Geißelung der Philologie als nahezu steriles Fach geht Wagner zu einer Kritik der Philologen und Philosophen über, die sich der „Chemie“ und der „Physik im Allgemeinen“ bedienten, um Fortschrit-
Überblickskommentar
27
te „auf dem Gebiete der Kritik alles Menschlichen und Unmenschlichen“ zu machen (Wagner 1878, 216). Durch diese Anleihen bei den Naturwissenschaften fühlten sich jene nämlich „zu einer ganz besonderen Skepsis“ berechtigt, „welche es ihnen ermöglicht, sich von den bisher üblichen Ansichten abwendend, dann in einer gewissen Verwirrung wieder zu ihnen zurückkehrend, in einem steten Umsichherumdrehen sich zu erhalten, welches ihnen dann ihren gebührenden Antheil am ewigen Fortschritte im Allgemeinen zu versichern scheint“ (ebd.). Diese von der Naturwissenschaft geleitete „Methode“ nennt Wagner die „‚historische Schule‘“, deren Vorgehen darin bestehen soll, „sich […] der archivarischen Künste nur unter der Leitung der Chemie, oder der Physik im Allgemeinen“ zu bedienen (ebd., 217). Sie sei durch „Missverständnisse“ und „durch viele Oberflächlichkeit des Urtheiles bei der allzuhastigen Anwendung der dort gewonnenen Einsichten auf das philosophische Gebiet“ von Darwin abgeleitet (ebd.). Die erste Folge hiervon sei, dass „jede Annahme einer Nöthigung zu einer metaphysischen Erklärungsweise für die, der rein physikalischen Erkenntniss etwa unverständlich bleibenden, Erscheinungen des gesammten Weltdaseins durchaus“ verworfen wird, „und zwar mit recht derbem Hohne“ (ebd.). Besonders gravierend sei bei dieser deterministischen Weltansicht der Verlust der Begriffe der „Spontaneität“ sowie des „Genie[s]“ und die despotische Herrschaft des „rein erkennende[n] Subjekt[s]“ (ebd., 216–218). Weder N. noch MA I werden explizit genannt (laut Cosima Wagner absichtlich, vgl. Kr I, 74). Anfang September schrieb N. an Overbeck: „W〈agner〉’s bitterböse unglückliche Polemik gegen mich im Augustheft der Bayr〈euther〉 Bl〈ätter〉 habe ich nun auch gelesen: es that mir wehe, aber n i c h t a n d e r S t e l l e, wo W. wollte“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 752, S. 351, Z. 9–12). Will sagen: Es habe ihm wegen der Freundschaft leidgetan, habe ihn aber in seiner Philosophie nicht erschüttert. Dem Verleger gegenüber behauptete er, Wagners öffentlicher Angriff sei ihm „sehr erwünscht“: „ich hasse alle Dunkelei und Munkelei der Gegnerschaft; andererseits wünsche ich um Alles nicht mit den Tendenzen der B〈ayreuther〉 Bl〈ätter〉 verwechselt zu werden“ (N. an Schmeitzner, 25. 08. 1878, KSB 5/KGB II 5, Nr. 745, S. 347, Z. 6–10). Kurz darauf bat N. Schmeitzner, die monatliche Zusendung der Bayreuther Blätter einzustellen. Er wolle sein Bild von Wagners „Größe“ durch „Monatsdosen Wagner’schen Ärger-Geifer’s“ nicht entstellen: „da muß ich mir sein Allzumenschliches etwas vom Leibe halten“ (Brief vom 10. 09. 1878, KSB 5/ KGB II 5, Nr. 754, S. 352, Z. 4–11). Laut Cosima habe Wagner auf die Nachricht davon mit einem „Das freut mich“ reagiert (Janz 1978, 1, 828). Die Distanzierung von Wagner und vom Bayreuther Kreis einerseits, von der Metaphysik und insbesondere von Schopenhauer andererseits, die in MA I dezidiert zum Vorschein kommt, hat bestimmt dazu beigetragen, N., der schon mit GT und UB seinen Ruf als Philologe kompromittiert hatte, nun auch von einem
28
Menschliches, Allzumenschliches I
nicht unbeträchtlichen Teil des Publikums zu entfremden, das er durch diese Schriften gewonnen hatte (vgl. Heit 2020b, 21). Das Werk war ein buchhändlerischer Misserfolg und trug zu N.s Vereinsamung bei (vgl. Schacht 1996, xii). In einer beim Erscheinen von WS verfassten – im Übrigen positiven – Rezension von MA bemerkt der Schriftsteller und Journalist Hans Herrig, dass N. mit diesem Werk „in eine[.] schlimme[.] Lage“ geraten sei. „Sein Publicum,“ schreibt er, „rekrutirte sich bisher durchaus aus den Anhängern Wagners. Nun gibt es zwar überall, wo Kunst und Philosophie Parteien bilden, Leute, die nichts von der Sache verstehen und am lautesten schreien. Das unter diesen Mancher auch jetzt noch im guten Glauben Nietzsches Bücher kauft, im Wahn, daran Homilien im Sinne Schopenhauers und Wagners zu besitzen, bin ich um so mehr überzeugt, als ich selbst Exemplare kennen gelernt habe. / Allein Solcher sind doch immer nur Wenige. Die Einen vergessen ihn, die Anderen lernen ihn nicht kennen.“ (Zitiert nach Reich 2013, 554) Das Einzige, was hier vom früheren N. geblieben sei, ist „die alte Neigung zum Superlativischen“ (ebd., 552; vgl. Herrig an N., 22. 04. 1879, KGB II 6/2, Nr. 1187, S. 1101, Z. 40–46). N. versuchte sich mit der recht negativen Rezeption seines neuen ‚Hauptbuchs‘ zu arrangieren. In Briefen tröstete er sich damit, dass sein Buch in einer düsteren Zeit erschienen sei, und dass vielleicht erst eine fernere Zukunft es gutheißen würde. Für ihn war die Tatsache, dass von allen seinen Bekannten nur Rée, Burckhardt und Köselitz etwas mit dem Buch anfangen konnten, ein Hinweis darauf, „wie die Menschen beschaffen sein müßten, wenn mein Buch eine schnelle Wirkung thun sollte. Aber das w i r d und k a n n es nicht, so leid es mir des trefflichen Schmeitzner wegen thut“ (N. an Köselitz, 31. 05. 1878, KSB 5/KGB II 5, Nr. 723, S. 329, Z. 10–13). Die Überzeugung, nun selber Philosoph geworden zu sein, erlaubte es ihm, guter Dinge zu bleiben, selbst gegenüber dem Unverständnis seiner Umgebung. Dies kommt wiederholt in seinen Briefen zum Ausdruck, z. B. in demjenigen an Carl Fuchs Ende Juni 1878: „jetzt wage ich es, der Weisheit selber nachzugehen und selber Philosoph zu s e i n“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 729, S. 335, Z. 11 f.). N. versuchte also, die Vereinsamung, die er durch die Reaktionen auf MA I zu spüren bekam, als Zeichen einer schwer errungenen Autonomie des Geistes zu deuten. Die einzige Rezension von MA I, die noch im Jahre seiner Veröffentlichung erschienen ist, war eine kurze anonyme Anzeige im Literarischen Centralblatt vom 19. Oktober 1878 (wiedergegeben in Reich 2013, 541 f.). Hier werden zwei Aspekte des Werks hervorgehoben, die prägend werden sollten für die frühe Rezeption von MA I: zunächst, dass N. mit diesem Werk endgültig aus seiner Abhängigkeit von Schopenhauer und Wagner herausgewachsen sei und stattdessen die Nähe der Enzyklopädisten und der französischen Kunst des 18. Jahrhunderts suche, zu denen er die Errungenschaften der modernen Naturwissenschaften hinzu-
Überblickskommentar
29
füge, insbesondere Darwins und anderer moderner englischer Denker; sodann, dass N.s neues Denken, um wirksam zu werden, einer kohärenteren und systematischeren Darstellung bedürfe. Der von den Wagners verabscheute Karl Hillebrand, der schon UB I–III rezensiert hatte und ein Freiexemplar von MA I zugesandt bekam, zeigte sich zufrieden mit der neuen geistigen Richtung, die N. mit diesem Werk eingeschlagen hatte. In einem Aufsatz zu N. und Hillebrand bemerkt Mazzino Montinari, wie sich N. im Laufe der geistigen Verwandlung, die er seit dem Sommer 1876 durchmachte, einer „konservativ aufklärerischen, historischen Geisteshaltung“ annäherte, „die in vieler Hinsicht derjenigen Hillebrands ähnelte“ (Montinari 2014). Und tatsächlich fiel Hillebrands Urteil über MA I noch günstiger aus als einige Jahre zuvor dasjenige über UB. In einer kurzen Besprechung in einem 1879 erschienenen Aufsatz über „Halbbildung und Gymnasialreform“ nennt er N. einen „Werdende[n], dessen Ansichten sich noch nicht ganz geklärt haben“, der jedoch „der praktischen Wahrheit, wie sie als zu bewältigende Aufgabe uns vorliegt, sehr nahe gekommen“ sei. Eine zusammenhängende Analyse der Ursachen der „herrschende[n] Hypochondrie Deutschlands“ sowie einen Behandlungsplan gegen diese Krankheit ließe MA I allerdings zu wünschen übrig (Hillebrand 1879, zitiert nach Reich 2013, 543). In einem Brief an N.s Verleger Ernst Schmeitzner vom 15. Juli 1879 behauptet Hillebrand, dass N.s Schriften „in zehn, fünfzehn Jahren […] eine gewaltige Nachfrage finden“ würden (wiedergegeben in KSA 15, 107). In der Neuen Zürcher Zeitung vom 16. August 1879 erschien, als fünfter Teil einer Reihe von „Nachklängen zur hundertjährigen Gedenkfeier von Voltaire und Rousseau“, eine Rezension des Philologen Jakob Hunziker, in der N. als Nachfolger Voltaires im 19. Jahrhundert gefeiert wird (Hunziker 1879). Laut Hunziker verwerfe N. wie Voltaire die Metaphysik und ersetze den mit ihr einhergehenden Idealismus durch einen skeptischen Pessimismus. Auch will Hunziker die Neigung N.s zu einem formalen Klassizismus in der Kunst bemerken. Ebenfalls 1879 erschien eine Polemik gegen N. und Rée in Georg Heinrich Graues Darwinismus und Sittlichkeit (abgedruckt in: Reich 2013, 546–550), die den angeblich utilitaristischen Grundgedanken ihrer Werke tadelt. Eine 1882 publizierte Studie Rudolf Lehmanns über N.s Werk von GT bis MA I (abgedruckt in: Reich 2013, 772–792) konstatiert die „völlige und tiefe Umwälzung in den Anschauungen“ des Autors im Übergang zu MA, das viel Zustimmung findet als „nach Inhalt und Form das bedeutendste Werk seines Verfassers“, womit er „das Anrecht auf einen bleibenden Platz in der deutschen Literatur erworben“ habe (ebd., 784). Lehmann preist die Einheit der Form dieses neuen Werks, vor allem, da es „kein[.] systematische[s]“ sei, sondern – zum ersten Mal bei einem deutschen Autor – in der Gestalt des Aphorismus und des Essays komponiert (ebd.,
30
Menschliches, Allzumenschliches I
785). Er schätzt die Stimmung von MA I im Kontrast zu den früheren Schriften als die einer „edle[n] Resignation“ des ernsten Mannesalters und seine Grundhaltung als positivistisch, insofern es Fragen der Metaphysik und Ethik auf eine entwicklungstheoretisch orientierte „empirische Psychologie“ und „Sociologie“ zurückführe, die die „ethischen wie die intellektuellen Eigenthümlichkeiten des Menschen […] als geworden und allmälig entwickelt“ betrachteten (ebd., 786– 789). Aus diesem Standpunkt folge eine Relativierung der Moral und eine Verlagerung der Sittenlehre „in das Gebiet des Intellectuellen“ (ebd., 789): Die Moral solle nun der Weisheit weichen. Ähnliches ergebe sich für die Kunst, die für den früheren N. beinahe gleichbedeutend mit Kultur war: Auch diese sei nun bloß eine Vorstufe der Wissenschaft (ebd., 789 f.). In MA I sei N. „zeitgemäss geworden“, jedoch „nicht so, dass er in allen wesentlichen Punkten mit seiner Zeit übereinstimmte, wohl aber in dem Sinne, dass er ihr Wollen und Streben zu verstehen und zu würdigen weiss“ (ebd., 790). 1885 erhielt N. einen Brief des Botanikers Frederik Willem van Eeden, der MA I lobte (20. 02. 1885, KGB III 4, Nr. 269, S. 8 f.): „Seit dem Tode Schopenhauer’s hat kein Schriftsteller die höchsten philosophischen Probleme so klar und geistvoll durchdacht wie Sie“ (Z. 9–10). Van Eeden schätzte N. als Nachfolger Georg Christoph Lichtenbergs und war dankbar, dass N. ihm „am Vorabend einer grossen Revolution in der Gedankenwelt […] einen klaren Blick in die neue Zukunft“ geöffnet habe (ebd., Z. 13–17). In einem Brief an Franz Overbeck vom 07. 05. 1885 kommentierte N. Van Eedens Brief wie folgt: „Der übersandte Brief aus Holland, von einem alten Herrn van Eeden, Direktor des Colonialmuseums in Haarlem, war einer jener ‚Huldigungsbriefe‘, bei denen ich immer mich frage: ob diese selbe Gattung von Menschen, wenn sie mit Einem Male erführen, w a s ich langsam, langsam vorbereite, mich nicht wie den Tod hassen würden. – Mir ist auch diese Art von Freunden seit langem vergällt“ (KSB 7/KGB III 3, Nr. 599, S. 45, Z. 10– 16). In Lou Andreas-Salomés Werk über N. von 1894, auf das die Einteilung von N.s Werk und Leben in drei Phasen üblicherweise zurückgeführt wird, gilt MA I als das Werk, in dem sich die Loslösung von Wagner und Schopenhauer niederschlägt zugunsten einer von Rée beeinflussten, noch vorläufigen und unselbstständigen, positivistisch geprägten und historisch orientierten „Vordergrundsphilosophie“ (Andreas-Salomé 1894, 96–98, 102 f.). Dasselbe Urteil ist beinahe wörtlich schon in Georg Brandes’ unveröffentlichten Notizen aus dem Jahre 1893 zu finden, welche großenteils in die Nachschrift zur 2. Ausgabe von Menschen und Werke (1895) eingearbeitet wurden. Hier wird es „das erste Werk seiner positivistischen Periode“ genannt, dessen „eigentliche selbständige Tat“ die Loslösung von der metaphysischen Grundhaltung Schopenhauers und Wagners sei. Der Einfluss Rées – auch was die aphoristische Form
Überblickskommentar
31
betrifft – wird hier ebenfalls betont, obwohl Brandes bemerkt, dass das, was Rée rein theoretisch entwickelt, bei N. zu einem begeisterten Verkünden einer praktischen Lebenslehre werde. In seinem Vorwort zur echten zweiten Auflage von MA bemühte sich Köselitz vor allem darum, auf N.s Originalität und Einheit des Geistes zu insistieren. Gegen den Verdacht Eduard Kulkes, N. sei durch Voltaire von Wagner ‚befreit‘ worden (Kulke 1890, 27–35; Köselitz nennt ihn „Kunkel“ und meint, ihn nur durch eine Besprechung Arthur Seidls zu kennen), beteuert Köselitz, Voltaire sei N. damals kaum bekannt gewesen und habe ihm nur als „Abzeichen“ gedient, gelte der französische Freigeist doch als „das Entsetzen aller Romantiker und Mystiker“ (Gast 1894, VII f.). Gegen einen Aufsatz Andreas-Salomés über N. in der Vossischen Zeitung (Andreas-Salomé 1891) bestreitet Köselitz auch den Einfluss Rées auf N. (Gast 1894, IX f.). Ihm zufolge seien N.s Erkrankung und die damit einhergehende Belastung die eigentlichen Gründe für den in MA I sichtbar gewordenen Wandel (ebd., XI). N. sei auch niemals „Positivist“ gewesen, obwohl er den Positivismus gut kannte (ebd., XII): Auch der diesem Positivismus innewohnende erkenntnistheoretische Empirismus sei aus der erkenntniskritischen Haltung, die N. schon in MA verteidigt habe, unhaltbar (ebd., XIII f.). Dennoch lobt Köselitz Rées Werk Über den Ursprung der moralischen Empfindungen als die „schönste ElementarEinleitung zum II. Abschnitt“ von MA I: „Es ist ein Buch, zu dem wir Deutschen uns gratulieren können“, möglicherweise das erste deutsche Buch, „das endlich einmal o h n e erbauliche Hinterabsichten an die Moralanalytik geht“ (ebd., XVIII). Rée habe nämlich die „niedere[.] Moralwelt“ erforscht, gegen die der Freigeist „sich a b h e b t“ (ebd., XIX): „Für Rée ist mit der Utilität Alles abgewerthet, auch die Affekte: – für Nietzsche dagegen ist die Utilitätsmoral nur eine Enclave in dem grossen Kreis der Moral“ (ebd., XXV). Köselitz meint eine Kontinuität in allen Perioden von N.s Denken zu erkennen, nämlich das aus einem inneren ‚HerrenInstinkt‘ anhaltende Interesse für die ‚Ausnahme-Menschen‘, die in der kühleren mittleren Phase die Gestalt des Freien Geistes annehmen: Mit MA I beginne N. „seinen Lauf gleichsam von vorn, in einer andern Rennbahn, aber als Mensch der nämlichen Instinkte wie früher“ (ebd., XXXVIII). Auch Elisabeth Förster-Nietzsche bestritt in ihrer Biographie des Bruders einige der von Andreas-Salomé und Brandes aufgestellten Ansichten, vor allem den angeblichen Einfluss Rées auf N.s Gedankenentwicklung (Förster-Nietzsche 1895– 1904, 2/1, 271 u. 306 f.). Die Schwester war auch die erste, die das in späteren Jahren von N. selbst verbreitete und noch heute gelegentlich begegnende Bild seines Bruchs mit Wagner als bewusst gewollte Wirkung der Veröffentlichung von MA I infrage stellte (vgl. z. B. Niemeyer 2019, 39). Obwohl N. damals Wagner und Schopenhauer auf intellektueller Ebene schon längst überwunden gehabt hätte, sei der persönliche Bruch mit Wagner ihr zufolge nicht von N. veranlasst;
32
Menschliches, Allzumenschliches I
er habe sich im Gegenteil vielfach darum bemüht, ihn zu vermeiden. Diese Rücksicht habe dazu geführt, dass manche Aphorismen abgemildert und ins Unpersönliche gewendet worden seien (Förster-Nietzsche 1895–1904, 2/1, 280, 289 f., 307). Sie weist ebenfalls das „Gerücht“ zurück, wonach sie den gemeinsamen Haushalt mit dem Bruder wegen des Bruchs mit den Wagners und N.s Urteilen über die Frauen aufgelöst haben soll. Eigentlich habe sie nichts einzuwenden gehabt gegen das, was in MA I über ‚das Weib‘ erzählt wird, da sie (und angeblich auch N.) sich selbst nicht als ‚Weib‘ betrachtete – sie fühlte sich damals vielmehr in ihren religiösen Gefühlen verletzt: „in der neuen Philosophie meines Bruders war für das Christenthum überhaupt kein Platz mehr“ (ebd., 303–305). Havelock Ellis bemerkt in einem Kapitel über N. in seinem 1898 erstmals erschienenen Werk Affirmations, dass „[t]he work he produced between 1877 and 1882 seems to me to represent the maturity of his genius“ (Ellis 1926, 35). Und weiter: „It is sometimes said that Nietzsche’s mastery of his thought and style was increasing up to the last. This I can scarcely admit, even as regards style“ (ebd., 38). Hingegen scheint MA I bis in die 1960er Jahre unter deutschen Literaten wenig Aufmerksamkeit bekommen zu haben, wie das fast gänzliche Schweigen darüber in der Textsammlung Nietzsche und die deutsche Literatur (Hillebrand 1978) bezeugt. Eine Ausnahme bildet hier der 1902 erschienene Aufsatz des Schriftstellers Otto Flake über Nietzsches zweite Periode, dessen Ziel es ist, die damals schon verbreitete Ansicht, die mit MA I beginnende Phase von N.s Schaffen sei lediglich eine „Uebergangsperiode“ und eine „Vordergrundsphilosophie“ eines oberflächlich gedeuteten „‚Positivismus‘“, zu widerlegen (Flake 1902, 281). Dagegen behauptet Flake, N. werde erst hier „[s]elbständiger u n d w i s s e n s c h a f t l i c h e r Denker“ (ebd.). Ihm zufolge habe man „bisher den Wert von ‚Menschliches-Allzumenschliches‘ nicht erkannt, den Wert nämlich für die Weiterführung der Philosophie, damit die wissenschaftliche Bedeutung Nietzsches“ (ebd.). Der „Fundamentalsatz“ der zweiten Periode sei laut Flake: „nicht historisch das Existierende, auch die Moral, betrachten, ist u n m e n s c h l i c h“ (ebd.). Es sei die Geschichte, die „den p h i l o s o p h i s c h e n Begriff des Menschlichen“ liefert (ebd.). Dadurch habe N. „die darwinistische, naturwissenschaftliche Betrachtungsweise in die Philosophie“ eingeführt, indem er forderte, die Metaphysik beiseite zu lassen und stattdessen „die innere Natur des Menschen“ „wissenschaftlich, d. h. ruhig“, zu erforschen (ebd.). Schon mit GT habe sich N. „in e i n e Reihe mit den höchsten Exemplaren“ des „klassisch-romantischen Humanitätsideals“ gestellt; UB I–IV, „eine Mischung von Metaphysik und Positivismus, Altem und Neuem“, markieren die eigentliche „Uebergangsperiode“; ab 1876 sei N. jedoch schon „originaler Philosoph“ (ebd.): „Es spricht aus M.-A. jenes unendlich intime und feine Tönen, das nur eine schöpferische Philosophie hervorbringen kann“ (ebd.,
Überblickskommentar
33
282). „Die dritte Periode“ sei ein „Korrektiv“ der verkehrten Stellung zur Kunst (nach der „ohne metaphysischen G l a u b e n […] der Kunst die Lebensader unterbunden“ sei), eine „konsequente Weiterführung“ von N.s Stellung zum Staat, die laut Flake jedoch das eigentlich Inkonsequente der zweiten Periode ausmache, in ihrer Tendenz zu einem „Aristokratieanarchismus des Individuums“ (ebd., 281 u. 283 f.). Da habe N. „das Ziel einer Menschtumsphilosophie aus den Augen verloren“ und die in MA vorhandenen systematischen Ansätze aufgegeben (ebd., 284): „Wäre Nietzsche weniger subjektiv gewesen, so hätte sich eine neue Wirklichkeits-, oder Menschlichkeitsphilosophie ergeben. Aber immerhin, der Anfang zu einer solchen, d i e n u n h e r a u s z u a r b e i t e n ist, ist gegeben.“ (Ebd., 281) Deswegen ist es laut Flake wichtig, „in wissenschaftlichen Kreisen […] den Nietzsche gerade der zweiten Periode als möglichen Ausgangspunkt der Weiterentwicklung der Philosophie aufzufassen“ (ebd., 284). Flake bezieht die Gegenposition zu Oskar Karlowa, der unter dem Titel Nietzschestudien ein Gymnasialprogramm fast ausschließlich MA I–II widmet, aber daran wenig Erfreuliches findet (Karlowa 1906). 1922 erschien der vierte Band von Charles Andlers Nietzsche, sa vie et sa pensée, in dem der „transformisme intellectualiste“ der „philosophie de sa période française“ beschrieben wird (vgl. Denat 2017, 11). Für Andler charakterisiert N.s Denken der Periode zwischen 1876 und 1882, in dem „pour la première fois, s’affirme son originalité pleine et pure“ (Andler 1922, 9), ein naturalistischer Intellektualismus, in dem die Erkenntnis zugleich als die große Wunde, die das Leben sich selbst zufügt, und als das Heilmittel gegen diese Tragik der menschlichen Existenz erscheint. Hätte die intellektualistische Philosophie dieser Periode sich vollständig entwickeln können, wäre sie laut Andler vielleicht „un événement européen plus grand encore que son Renouvellement de toutes les valeurs“ gewesen. Nichtdestotrotz sei sie „de tous ses [N.s] systèmes le plus négligé“ (ebd., 15). Dies würde auch weiterhin der Fall in der französischen N.-Rezeption bleiben (vgl. hierzu Ansell-Pearson 2018b, 3). Auch Theodor Lessing bemerkt in seinem 1925 erschienenen Aufsatz über N., dass die Zeit der Veröffentlichung von MA I eine Zeit des Umbruchs war. Er vergleicht den 33-jährigen Philosophen mit einem „Knaben aus edlem Hause“, der „eines Tages hinaustritt und nun alles Angelernte abstreifend, die millionenfältigen […] Reize des Lebens erfährt“ (Lessing 1985, 33 f.). Dabei sei 1878 mit der Loslösung „aus Fachwissenschaft und Arbeitspflicht“ und „aus dem Banne Wagners“ „das entscheidende Jahr“. Danach habe N. „gewiß keine fünf gelehrten Werke mehr gelesen“ (ebd., 35 f.). Die Form seiner Gedanken werde „europäisch in der Schule der französischen Aphoristiker“ und auch der Gehalt derselben werde aus England, aus der Schule Mills und Humes importiert (ebd., 38). Auf dieser Basis bilde N. einen neuen genetischen „Psychologismus“ aus, einen auf Religion, Moral und Logik angewandten „Fanatismus des ‚Woher?‘“, eine „kausale, geneti-
34
Menschliches, Allzumenschliches I
sche Methode“ mit „herabwürdigende[m] Unterton“, deren „Kerngedanke“ folgender sei: „Alles Leben ist Wachstum“ (ebd., 41–44). Im Deutschland der 1930er Jahre ist das Interesse für MA I sowohl unter Anhängern als auch unter Gegnern des Nationalsozialismus eher gering. Laut Kaufmann verwarf Alfred Baeumler N.s Werke der ‚mittleren Phase‘ als Produkte seines Bruchs mit Wagner (Kaufmann 1974, 40 f.). Karl Löwith und Karl Jaspers übernahmen das dreiteilige Schema für N.s Schaffen und deuteten es dialektisch. Wie für die früheren Interpreten ist MA für Löwith 1935 das „Denkmal einer ersten Krisis“, lediglich „das Dokument eines Abschieds“, jedoch gerade deswegen nicht so sehr positivistisch als vielmehr nihilistisch (Löwith 1987, 130 f.). Nur die dritte und letzte Periode enthalte „Nietzsches eigentliche Philosophie“ (ebd., 125). Auch Jaspers nennt 1936 die mittlere Phase N.s „die Zeit seiner ‚Loslösungen‘ und ‚Überwindungen‘“, die nur eines unangetastet lassen: eine „uneingeschränkte […] Wahrhaftigkeit“. Sie sei ein notwendiger Moment in der Dialektik, die aus dem „G l a u b e n d e r J u g e n d“ zum „n e u e n G l a u b e n“ der letzten Periode führe (Jaspers 2020, 40 f.). Heidegger (1996, 18) bemüht sich nicht einmal darum, N.s Entwicklung bis zu seiner ‚eigentlichen‘ Philosophie – die für ihn lediglich in den Schriften der Jahre 1881 bis 1889 zu finden sei – zu schildern. Eine Ausnahme in dieser Zeitperiode bildete Josef Hofmiller. Er behauptete in seinem 1931 erschienenen kritischen Essay über N., die drei Werke von N.s mittlerer Phase würden das eigentlich Bleibende von seinen Schriften sein. Nachdem Hofmiller N.s Spätwerk mit dem Verdacht, es sei das Produkt eines Geisteskranken, verworfen hat, endet der Aufsatz folgendermaßen: „Was bleibt dann von Nietzsche? Es bleibt genug. Es bleibt mehr und Wertvolleres als ein System, das nie eines war. / Es bleibt der Kritiker und Diagnostiker der Zeit. Es bleibt, nicht im deutschen Wortgebrauch, sondern im französischen, der Moralist: der Miniaturist und Außenseiter der Philosophie, der Aphoristiker. Bleiben werden am längsten die drei mittleren Werke: ‚Menschliches, Allzumenschliches‘, ‚Morgenröte‘, ‚Die fröhliche Wissenschaft‘. […] Bleiben werden Einzelheiten: Beobachtungen, Einfälle, Gedanken, Stimmungen, Maximen und Reflexionen, insoweit und weil sie unabhängig sind von seinem vermeintlichen System. Bleiben wird der Künstler, bleiben der Dichter“ (Hofmiller 1931, 131). 1948 lieferte Helmut Schoeck eine ausführliche „kritische Darstellung der Aphorismen-Welt der mittleren Schaffenszeit als Versuch einer Neuorientierung des Gesamtbildes“ von N. Dem Autor zufolge ist dies die erste „Auslegung Nietzsches, die ihre Grundstellung konsequent in der mittleren Schaffensperiode des Denkers nimmt“ (Schoeck 1948, III). Laut Schoeck ist MA ein privilegierter Ausgangspunkt für eine Gesamtbewertung N.s: zunächst, weil die kritischen Ansätze und Begriffe hier ihre erste konkrete Anwendung finden; zudem, weil der Verdacht einer Geisteskrankheit hier vollkommen ausgeschlossen sei; zuletzt, weil
Überblickskommentar
35
sich hier N. am leichtesten von den damaligen ideologischen Streitereien um sein Denken lösen lasse. Im Rückblick auf N.s Gesamtwerk im Nachwort zur Ausgabe seiner Werke lässt Karl Schlechta GT und UB beiseite und beginnt erst mit MA. Nach diesem Buch meint Schlechta eine „merkwürdige Monotonie in der Gesamtaussage“ sämtlicher Werke N.s zu erkennen (Schlechta in: Nietzsche 1972 [erstmals 1956], 5, 1435). In seiner 1958 erschienenen Rezension von Schlechtas Ausgabe weist Karl Löwith das Ansinnen zurück, „das ‚eigentlich philosophische Werk‘ mit Menschliches, Allzumenschliches beginnen zu lassen. Seine [sc. Schlechtas] Rechtfertigung dieser Verkürzung ist nicht überzeugend; denn ebensogut wie für Menschliches, Allzumenschliches ließe sich mit Zitaten aus Nietzsches Selbstbeurteilung zeigen, daß ihm die Geburt der Tragödie den ursprünglichen ‚Boden‘ bedeutet hat, aus dem auch sein späteres Wollen und Können wuchs“ (Löwith 1987, 512). Walter Kaufmann zufolge ist N.s ‚mittlere Phase‘ ab MA I die der „Discovery of the Will to Power“ (Kaufmann 1974, Kap. 6). Die Werke dieser Zeit markieren laut Kaufmann den Übergang von der Dualität der frühen Schriften (GT) zu einem einheitlichen Prinzip, eben dem ‚Willen zur Macht‘ (ebd., 178). Dementsprechend ist er in seiner Analyse derselben fast ausschließlich daran interessiert, die Keime des Willen-zur-Macht-Gedankens aus ihnen herauszulesen. Kaufmann bemerkt die Änderung im Stil, die mit Aufnahme der aphoristischen Form geschieht (ebd., 91 f.), sowie den auf die psychologische Beobachtung gerichteten Fokus (ebd., 181). Trotz seiner Verteidigung eines aufklärerischen N.s zeigte er wenig Interesse für N.s ‚mittlere Periode‘ und verfasste keine Neuübersetzung von MA (1908 war eine englische Übersetzung der ersten drei Hauptstücke von MA I von Alexander Harvey erschienen; 1909 übersetzte Helen Zimmern MA I für eine englische Gesamtausgabe von N.s Werken). Diese wird erst in den 1980er Jahren von Marion Faber (Nietzsche 1984) und R. J. Hollingdale (Nietzsche 1986) unternommen. Laut Schacht 1996, xiii f. ist das Desinteresse Kaufmanns ein wichtiger Grund dafür gewesen, dass MA bis zu diesem Punkt wenig in der englischsprachigen Welt rezipiert wurde. Abbey 2012, xi f. bemerkt, wie wichtige Studien zu N. bis in die 1990er Jahre die „middle works“ gar nicht berücksichtigen. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist z. B. Artur C. Dantos Werk Nietzsche as Philosopher (1965), welches MA kein einziges Mal zitiert. Erst die erweiterte Ausgabe von 2005 enthält als „aftertext“ einen Aufsatz mit dem Titel „Beginning to be Nietzsche: On Human, All Too human“, welcher ursprünglich als Einleitung zur Neuausgabe von Marion Fabers Übersetzung von MA verfasst wurde (Danto 1996). Ähnlich wie Kaufmann behauptet Danto hier, dass die eigentliche Größe und Tiefe mancher Stellen von MA erst rückblickend von N.s späterem Werk her erkannt werden könne – eine Größe und Tiefe, deren sich sogar N. selbst beim Verfassen des Werks wahrscheinlich nicht völlig bewusst gewesen sei.
36
Menschliches, Allzumenschliches I
Für Eugen Fink ist MA das Werk, welches N.s „zweite Periode“ am besten repräsentiert. Letztere setze „abrupt ein“ und mache den Eindruck einer „radikale[n] Umkehrung“: „Es hat den Anschein, daß Nietzsche jetzt auf einmal alles verleugnet, was er zuvor aufgestellt hat“ (Fink 1986 [1960], 42). N.s Denken werde hier zu einer wissenschaftlich gesinnten kritischen „Anthropologie“, zu einer „entlarvende[n] Psychologie“, wobei „wissenschaftlich“ nicht im Sinne der positiven Wissenschaft verstanden werden solle, sondern im Sinne einer analytischen und historischen „Kritik“. Gegründet sei dieser auf einen neuem Lebensbegriff, der nicht mehr metaphysisch oder mystisch imprägniert sei, sondern das biologische Leben des Menschen meine (ebd., 44–46 u. 49). Aus dieser neuen Perspektive gelte auch der Künstler als Gegenstand psychologischer Entlarvung und somit als dem Gelehrten unterlegen (ebd., 48 f.). Laut Fink darf dieser Wandel jedoch nicht bloß als Folge von N.s Biographie interpretiert werden, sondern als eine innere Bewegung seines Denkens (ebd., 42 f.). Die zweite Phase von N.s Denken sei möglicherweise am schwierigsten zu deuten: „sie ist nicht bloß eine Umkehrung der ersten, sondern schon die Zukehr zur dritten“: „[H]inter der aufklärerischen Negation“ (die für Fink „eine vordergründige Sache“ ist, eine sophistische Haltung, die „mit seiner Philosophie im Grunde nichts zu tun hat“) „steigt langsam das JaSagen von Nietzsches eigentlicher Philosophie auf. Die zweite Phase ist wesentlich Übergang“. Diese Bewegung erhält nach Fink vorzugsweise in MA ihren Niederschlag (ebd., 46 f., 51). Die Kontinuität zeige sich darin, dass trotz der Umkehrung der Perspektive der Gegenstand von N.s Denken derselbe bleibe: die Phänomene der menschlichen Größe (ebd., 48 f.). Im Nachwort zu MA I (KSA 2, 707–711) betont Giorgio Colli „[d]ie aphoristische oder jedenfalls fragmentarische Form“ dieses Werks als das „Novum“, das es „eindeutig von den vorhergegangenen abhebt“ (ebd., 707). Inhaltlich sei dagegen „der auffallendste Gegensatz“ zwischen MA und den früheren Werken „die Stellung von Wissenschaft und Kunst“, wobei jedoch die Auffassung der Wissenschaft in MA keineswegs positivistisch sei, sondern vielmehr eine „Kritik des logischen und deduktiven Denkens“ in sich einschließe (ebd., 707 f.). Colli lehnt die Annahme ab, die Abkühlung der Freundschaft mit Wagner wäre der Grund dieses Wandels (ebd., 707). Allein die methodischen Neuerungen in diesem Werk sollten genügen, um N. „einen Platz in der Geschichte der Philosophie zu sichern“ (ebd., 710). Dennoch bemerkt er, dass es sich bei MA I lediglich um „eine Station in Nietzsches Denken“ handele, die aber nichtsdestotrotz in den folgenden Werken weiter präsent bleiben werde (ebd., 710 f.). Sie repräsentiere die Loslösung N.s sowohl von der Beschränktheit und Starrheit der philologischen Forschung als auch von dem durch den Wagnerianismus repräsentierten leidenschaftlichen Fanatismus der Gegenwart – beide Aspekte würden jedoch in N.s späteren Werken in reiferer, unabhängigerer Form zurückkehren (ebd., 711).
Überblickskommentar
37
Eine entschiedene Aufwertung der Werke der ‚mittleren Phase‘ vollzieht Mazzino Montinari. Für ihn ist „‚Menschliches‘ […] das Buch, das ich fast vollständig gutheißen könnte“ (Montinari an Delio Cantimori, 22. 08. 1963, zitiert nach Campioni 2007, 58). 1972 erscheint eine Studie Peter Hellers über das erste Hauptstück von MA I als der erste Band der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung (Heller 1972b). Auszüge dieser Arbeit, jeweils über den ersten und den dreiundzwanzigsten Aphorismus jenes Hauptstücks, werden auch in der ersten Nummer der Nietzschestudien (Heller 1972a) und in German Life & Letters (Heller 1973/74) veröffentlicht. Noch heute gilt MA I meistens als der Meilenstein, der auf verschiedenen Ebenen den einschneidendsten Bruch in N.s Werk markiert (Enrico Müller 2020, 57): im Stil (Perkins 1977, Schweppe 1983, Hill 2007, 37, Brobjer 2008b, 41 u. 64, Cohen 2010, Kap. 6, Franco 2011, 13, Born 2012 und Abbey 2020, 3–6); in der Abkehr vom ‚Idealismus‘ und von der Metaphysik und in der Zuwendung zur ‚Aufklärung‘ bzw. zum ‚Positivismus‘ (Volkmann-Schluck 1981, Kremer-Marietti 1997, Cohen 1999, Hussain 2004, Kessler 2004, Meyer 2004a, Franco 2011, Mendonça 2012, Cohen 2014, Barros 2017, Denat/Wotling 2017, Navratil 2017 und Abbey 2020, 6– 12); in der Einschätzung des Verhältnisses zwischen Kunst und Wissenschaft (Roch 1991, Heckman 1993, Martelaere 1994, Cuevas Salazar 1989, Barbera 2004, Niemeyer 2006 und Barros 2007); in der Neueinschätzung der Musik (Dufour 1999, Burnett 2010 und Schütte 2012); in der Inaugurierung des historischen bzw. genealogischen Verfahrens in seiner Philosophie (Hayman 1980, 199, Weiss 1989, Morrisson 2003, Sánchez Méca 2004 und Young 2010, 249). Es werden auch andere Themen behandelt wie das Bild der ‚Frau‘ bzw. des ‚Weibs‘ (Marton 2017, Beetz 2020 und Bauer 2021) und die Freundschaft (Ponton 2015 und Verkerk 2017). Die Figur des ‚freien Geistes‘ ist ebenfalls Gegenstand zahlreicher Studien (Cantoni 1953, Campioni 1976, Heller 1988, Vivarelli 1994a, Vivarelli 1998, Vivarelli 1999, Mullin 2000, Pestalozzi 2001, Reginster 2003, Tongeren 2004, Daigle 2015, Ricard 2017, Meyer 2019 und Vivarelli 2019a). Seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts werden die Werke der ‚mittleren Phase‘ Gegenstand detaillierterer Untersuchungen vor allem im englischen Sprachraum (Pfeuffer 2012 wirft manchen dieser Autoren vor, die Vorgeschichte der Rezeption der Werke der ‚mittleren Periode‘ zu verkennen), beginnend mit Ruth Abbey, die im Jahr 2000 eine Studie über Nietzsche’s Middle Period veröffentlichte. Hier verteidigt sie den N. von MA I–II, M und FW als einen offener denkenden Psychologen, der seine Einsichten in die Vorgänge der menschlichen Seele noch nicht unter weitere Ansichten über die Beschaffenheit der Seele, der Gesellschaft oder der Geschichte subsumiere. Auch präsentiere sich N. hier noch nicht überwiegend als Kritiker der westlichen philosophischen Tradition, sondern zugleich als Erbe derselben – vor allem der Aufklärung. Es seien auch die Werke,
38
Menschliches, Allzumenschliches I
in denen N.s genealogische Ansichten anfangen, sich zu entwickeln. Abbey zufolge sind die Werke der ‚mittleren Periode‘ von den Lesern meist vernachlässigt worden, obwohl MA noch mehr Aufmerksamkeit erhalte als M (Abbey 2000, xi f.). Grund dafür sei vermutlich der vorsichtigere und moderatere und somit auch weniger radikale und innovative Ton dieser Werke im Vergleich zu den späteren Schriften (ebd., xvii f.). Jedoch tritt auch in Abbeys Studie sowie in anderen jüngeren Werken über die ‚mittlere Periode‘ N.s MA in der Regel nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Stattdessen werden die Werke von MA I bis FW meist entweder einheitlich als undifferenziertes Korpus behandelt (z. B. in Michael Ures Werk über Selbstkultivierung in den „Middle Works“ von 2008, siehe auch Ure 2009), oder auch als eine Entwicklung, die in FW bzw. im Übergang zu N.s ‚letzter Periode‘ kulminiert (z. B. in Isabelle Wienands Arbeit über die Bedeutungen des Todes Gottes von MA bis Za von 2006 oder in Paul Francos Werk über Nietzsche’s Enlightenment von 2011). Ausnahmen hierbei bilden der facettenreiche, 2004 von Paolo D’Iorio und Olivier Ponton herausgegebene Sammelband über die Entstehung von MA sowie die Werke D’Iorios (2018) und Jonathan R. Cohens (2010) zum selben Thema (Cohens Buch geht auf eine Dissertation von 1991 zurück). Keith Ansell-Pearson setzt in seinem 2018 erschienenen Buch über N.s mittlere Schriften einen thematischen Akzent, indem er der (versuchten) Neuerfindung von Philosophie in diesen Schriften nachgeht. In MA I interessieren ihn vor allem der neue Typus des Philosophen (Ansell-Pearson 2018b, 17–45) und die Abgrenzung von Aufklärung versus Fanatismus (ebd., 47–61). Der 2020 von Eike Brock und Jutta Georg herausgegebene Band in der von Otfried Höffe verantworteten Reihe Klassiker Auslegen versammelt eine Reihe sehr instruktiver Kapitel über die einzelnen Hauptstücke von MA I sowie zu MA II VM und MA II WS. Gelegentlich aber blitzt auch im allgemeinen kulturellen Leben eine unverhoffte Präferenz für das Werk auf, etwa wenn sich die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja (* 1970) in einer Feuilleton-Miniatur über Basel fragt, ob sie diese Stadt liebe, weil einst N. in ihr gelebt und er dort MA I geschrieben habe (Petrowskaja 2023).
II Stellenkommentar Der Titel 9, 1 f. Menschliches, / Allzumenschliches.] Titel wie „Die Pflugschar“ hat N. für das entstehende Werk in Erwägung gezogen. „Menschliches und Allzumenschliches“ taucht als Formel dann erstmals in NL 1876, KSA 8, 17[72], 308, 15–19 auf, dort aber nicht zwingend schon als Buchtitelentwurf, sondern wohl eher als Kapitelüberschrift, lauten doch die nachfolgenden Zeilen: „Wege zur Befreiung des Geistes. / Die Erleichterung des Lebens. / Weib und Kind. / Staat und Gesellschaft.“ In einer anderen, ähnlichen Überschriftenliste steht „Menschliches und Allzumenschliches“ ganz am Ende (NL 1876, KSA 8, 17[104], 313, 15). Zum echten Titel, entsprechend unterstrichen, ist „M e n s c h l i c h e s u n d A l l z u m e n s c h l i c h e s“ dann in NL 1876, KSA 8, 18[13], 317, 19 geworden, offenbar um entsprechende Abschnitte zu rubrizieren. So heißt es in NL 1876, KSA 8, 18[49], 328, 1 f.: „Fortsetzung von / M e n s c h l i c h e s u n d A l l z u m e n s c h l i c h e s“ – und es folgt ein mit „154“ nummerierter Abschnitt. Buchtitelentwurfscharakter hat eindeutig NL 1876, KSA 8, 19[118], 359, 5 f.: „Menschliches und Allzumenschliches. / Gesellige Sprüche.“ Schließlich zählt NL 1876/77, KSA 8, 21[82], 378, 6–11 Titel von Büchern auf, die N. offensichtlich zu verfassen erwog: „I Zur Geschichte der Cultur. / II Menschliches, Allzumenschliches. / III Sentenzen-Buch. IV Entstehung der griechischen Litteratur. / V Schriftsteller und Buch. / VI Philologica.“ In dieser Version wird dann auch das „und“ zwischen dem „Menschlichen“ und dem „Allzumenschlichen“ durch ein Komma ersetzt. Das substantivierte Kompositum „Allzumenschliches“ gab es übrigens durchaus, wenngleich selten, vor N. So sagt N.s Basler Professorenkollege, der Kirchenhistoriker Karl Rudolf Hagenbach, in seinen reformationsgeschichtlichen Vorlesungen über die Renaissance-Päpste: „sie wußten es wohl, daß gar nichts Göttliches, sondern nur Allzumenschliches sie treibe“ (Hagenbach 1851, 88). Im Horizont der Titelwahl steht Platons Beobachtung, dass das Menschliche keines großen Ernstes würdig sei (Nomoi 803a–c und Politeia 604c). N. nimmt das in den Vorarbeiten und im schließlichen Drucktext von MA I 628, KSA 2, 354 auf, wo das „Menschliche“ im Laufe der Textgenese an die Stelle des „Sterblichen“ tritt: „Alles Menschliche insgesamt ist keines grossen Ernstes werth“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,64), vgl. ausführlich NK ÜK MA I 628 u. D’Iorio 2020. Im Unterschied aber zu Platon hält MA I kein Göttliches mehr bereit, das den Unernst des Menschlichen ernsthaft aufwiegen könnte. Schon mit der Titelwahl und erst recht mit dem Werkinhalt wird alles, was transzendent, übersinnlich, genannt zu werden pflegt: Religion, Metaphysik, auch die Kunst, auf das Menschliche, menschliches Maß und menschliches Bedürfnis zurückgeholt. https://doi.org/10.1515/9783110292954-002
40
Menschliches, Allzumenschliches I
Andererseits schwingt im zweiten Titelteil „Allzumenschliches“ eine gehörige Portion Verachtung für dieses bloß Menschliche mit, die die alte negative Anthropologie wieder aufleben lässt, die N. von Schopenhauer (und Platon) her gelegentlich überfallen zu haben scheint. Allzu menschlich ist es, sich Illusionen hinzugeben, die MA I unerbittlich austreiben will. Schon mit dem Titel und dem Verachtungsakzent auf dem „Allzumenschlichen“ wird angezeigt, dass anstelle des obsoleten Gottesglaubens mit keinem idealistischen Menschheitsglauben zu rechnen ist, wie ihn etwa Ludwig Feuerbach propagiert hatte. „Wie? A l l e s nur – menschlichallzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit“ (MA I Vorrede 1, KSA 2, 13, 10–17; zur Menschenverachtung, die N. bei sich selbst findet, und zu ihrer Titelrelevanz siehe auch NK KSA 3, 346, 7–18). Während N. hier adjektivisch mit „menschlich-allzumenschlich“ operiert, ist der Titel, wie D’Iorio 2020, 152 f. mit Charles Andler gegen falsche, weil adjektivische Übersetzungen wie Humain, trop humain bemerkt, vielmehr substantivisch: „Wir fügen noch hinzu, dass man, um den Titel philosophisch zu lesen, noch einen weiteren Schritt zurück machen und ihn auf griechisch lesen muss, als einen Verweis und eine Antwort auf (τῶν ἀνθρωπίνων) Platons menschliche Dinge, die keines grossen Ernstes Wert sind. Auf französisch sollte man also Choses humaines, bien trop humaines übersetzen“ (ebd., 153; zum Titel auch ausführlich Ponton 2006). Im Allzumenschlichen muss das Verachtungsmoment übrigens nicht dominieren. Vielmehr könnte es anderen Menschen gegenüber gerade geneigt machen, wie das UB III SE 3 gegenüber Schopenhauer anmerkt: „Ja man möchte sagen: das was an seinem Wesen unvollkommen und allzu menschlich war, führt uns gerade im menschlichsten Sinne in seine Nähe“ (KSA 1, 359, 14–16). 9, 3 Ein Buch für freie Geister.] Der Untertitel des Buches erscheint erst in N.s Brief an den Verleger Schmeitzner vom 03. 12. 1877, in dem er diesem das Buch anbietet, mit Titel und Untertitel (KSB 5/KGB II 5, Nr. 673, S. 293, Z. 12–15). Auch sonst kommt die Pluralform „freie Geister“ im Nachlassumfeld von MA I nicht vor. Ohnehin könnte man zu argumentieren geneigt sein, das Buch sei nicht an bereits freie Geister adressiert, sondern an solche, die sich erst befreien wollen und sollen. Immerhin hat N. seiner Reisebekanntschaft Isabelle von der Pahlen, spätere von Ungern-Sternberg, im Nachtzug von Genf nach Genua am 20. 10. 1876 gefragt, ob sie nicht „auch ein Freigeist“ sei, wogegen sie sich verwahrte und stattdessen ihrem Wunsch Ausdruck gab, „ein ‚freier Geist‘ zu sein“, was sich N. fleißig notiert habe (Ungern-Sternberg o. J. [1902], 28, vollständig zitiert in NK 193,
Stellenkommentar MA I Der Titel–Die Widmung, KSA 2, S. 9
41
18). Ungern-Sternberg führt weiter aus, dass sie später angesichts des Titelblattes von MA I daran erinnert worden sei: „So fasste ich diesen zweiten Titel als eine Zueignung, an der auch ich Theil hatte, und genoss das Werk selbst als den grossartigen, eine ganze Welt umfassenden Commentar zu unserem einzigartigen Zwiegespräch in jener lauen italienischen Nacht.“ (Ebd., 28) D’Iorio 2020, 16 merkt dazu an, vermutlich habe Ungern-Sternberg „die Bedeutung jener nächtlichen Konversation im Zug von Genf nach Genua im Hinblick auf die Entstehung von Menschliches, Allzumenschliches ein wenig übertrieben. […] Tatsächlich ist die Idee eines Buches über den Freigeist lange vor dieser Begegnung entstanden. Schon 1870 lautete einer der ersten Titel des Buches, das später Die Geburt der Tragödie heißen sollte, Die Tragödie und die Freigeister.“ Diese Beobachtung ist sicher richtig, jedoch kam es Ungern-Sternberg gerade auf den Unterschied von „Freigeist“ und „freiem Geist“ an. Der ist im Buchtitel von 1870 eben noch nicht eingetragen. Im Notizbuch N II 1 hat N. 1876 intensiv über die geistige Befreiung nachgedacht, siehe NL 1876, KSA 8, 16[4]–16[55], 287–295 u. D’Iorio 2020, 16 f. Freilich hat N. die subtile Unterscheidung von „Freigeist“ und „freiem Geist“ nicht durchweg eingehalten. So steht auf dem Rückumschlag zur Erstausgabe der Fröhlichen Wissenschaft (FW) 1882 der von N. verfasste Klappentext: „Mit diesem Buche [sc. FW] kommt eine Reihe von Schriften Friedrich Nietzsche’s zum Abschluss, deren gemeinsames Ziel ist, ein neues Bild und Ideal des Freigeistes aufzustellen. In diese Reihe gehören: Menschliches, Allzumenschliches. Mit Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche. / Der Wanderer und sein Schatten. / Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. / Die fröhliche Wissenschaft.“ (Nietzsche 1882, [U4]; vgl. Schaberg 2002, 121 u. N.s Brief an Lou von Salomé vom 03. 07. 1882, KSB 6/KGB III 1, Nr. 256, S. 217, Z. 8–21, zur Begriffsgeschichte ausführlich NK 3/2.1, S. 48 f.)
Die Widmung Nietzsche 1878, [I] Dem Andenken Voltaire’s / geweiht / zur Gedächtniss-Feier seines Todestages, / des 30. Mai 1778.] Diese Widmung oder Weiheinschrift ist in der Erstauflage eigentlich ein integraler Bestandteil des Buchtitels. Erst nach ihr folgt der Autorname (ohne akademische Titel, die bei N.s vorangegangenen Werken nicht fehlten). Die „Neue Ausgabe“ (recte: Titelausgabe) von 1886 hat das Titelblatt von 1878 entfernt und durch ein neues ersetzt, das das Werk nicht nur erstmals als „Erste[n] Band“ ausweist, sondern auch die Voltaire-Widmung ersatzlos streicht (Nietzsche 1886a, [I]). Das muss nicht mit einer vermeintlich später erfolgten Distanzierung vom Zentralgestirn der französischen Aufklärung zusammenhängen, sondern eher damit, dass der Aktualitätsbezug, nämlich Voltaires 100. Todestag, eben 1886 nicht mehr gegeben war und N. die Neuausgabe ja dezidiert in
42
Menschliches, Allzumenschliches I
den zeitgenössischen Diskurskontext einspeisen wollte. Dass eine Voltaire-Distanzierung bei N. in den späteren 1880er Jahren nicht stattfand, sondern allenfalls eine Voltaire-Stilisierung, belegt auch die Prominenz, die die Widmung in der Retraktation von EH MA 1 erhält: „Eine gewisse Geistigkeit v o r n e h m e n Geschmacks scheint sich [sc. in MA I] beständig gegen eine leidenschaftlichere Strömung auf dem Grunde obenauf zu halten. In diesem Zusammenhang hat es Sinn, dass es eigentlich die hundertjährige Todesfeier V o l t a i r e ’ s ist, womit sich die Herausgabe des Buchs schon für das Jahr 1878 gleichsam entschuldigt. Denn Voltaire ist, im Gegensatz zu allem, was nach ihm schrieb, vor allem ein grandseigneur des Geistes: genau das, was ich auch bin. – Der Name Voltaire auf einer Schrift von mir – das war wirklich ein Fortschritt – z u m i r …“ (KSA 6, 322, 15– 24; vgl. ausführlich NK 6/2, S. 511 f.) Es musste N. auch deswegen als „Fortschritt“ erschienen sein, weil er damit seinen Dissens zu Wagner öffentlich markieren konnte, der Voltaire als „Abgott aller ‚freien Geister‘“ (Wagner 1878, 220) verabscheute. 1886, drei Jahre nach Wagners Tod, war dieses Dissensmarkierungsbedürfnis nur noch schwach ausgeprägt. 1886 wollte N. alleine stehen, zumindest auf dem Titelblatt, und bedurfte der stützenden und schützenden Autorität des in allen literarischen Genera rastlos tätigen, Metaphysik und Christentum zunichte machenden Aufklärers nicht mehr. Georg Brandes, der Ecce homo noch nicht kannte, vermerkte 1890 in seinem Aufsatz Aristokratischer Radicalismus: „Der strebende Geist formt sich die Helfer zurecht, deren er bedarf. So widmete er später sein Buch: ‚Menschliches, Allzumenschliches‘, das zum hundertjährigen Gedächtnisstage Voltaire’s herausgegeben wurde, den ‚freien Geistern‘ unter seinen Zeitgenossen; er träumte sich die Bundesgenossen zu, die er im Leben noch nicht getroffen hatte.“ (Brandes 1890, 67 = Brandes 2021, 395) Sieg 2019, 187 und Wenner 2020, 142 stellen demgegenüber heraus, wie Elisabeth Förster-Nietzsche versucht habe, Voltaire als Widmungsträger zu bagatellisieren (siehe FörsterNietzsche 1895–1904, 2/1, 291). Schon der Gymnasiast N. hatte Voltaire-Lektüren getrieben (vgl. Brobjer 2009), die dann in Sorrent fortgesetzt wurden (vgl. Salerno 2021, 50 f.), mit der Sainte-Beuve-Beschäftigung weiter akzentuiert wurden (vgl. Sainte-Beuve 2014) und auch Anfang der 1880er Jahre noch ihren Widerhall fanden (z. B. in FW 101, vgl. NK 3/2.1, S. 704). Am 100. Todestag Voltaires erhielt N. dessen Büste aus Paris von einer unbekannten Absenderin zugeschickt (vgl. N. an Köselitz, 31. 05. 1878, KSB 5/KGB II 5, Nr. 723, S. 328 f., Z. 3–6), vielleicht aus dem „Monod-Meysenbugschen Kreise“ (Janz 1978, 1, 816) oder (wahrscheinlicher) von Louise Ott (vgl. Schaberg 2002, 93). Zu Voltaire in MA I siehe NK 182, 1–6, NK 285, 10–12 u. NK 299, 26–30 sowie Kloss 2003, 157–160, Marton 2014, 67–72 u. Marton 2021, 42–44, allgemein zu N. und Voltaire Niemeyer 2019, 174–186 und v. a. Métayer 2011. Dass N. die Voltaire-Widmung ebenso wie das Descartes-Zitat (vgl. NK 11, 2– 22) in der Titelauflage von 1886 weggelassen hat, führt Dellinger 2017, 101 f. auf
Stellenkommentar MA I Die Widmung–An Stelle einer Vorrede, KSA 2, S. 9–11
43
die Absicht einer kritisch-ironischen Neuperspektivierung des eigenen Werkes zurück. 10, 1–6 Dieses monologische Buch, welches in Sorrent während eines Winteraufenthaltes (1876 auf 1877) entstand, würde jetzt der Oeffentlichkeit nicht übergeben werden, wenn nicht die Nähe des 30. Mai 1878 den Wunsch allzu lebhaft erregt hätte, einem der grössten Befreier des Geistes zur rechten Stunde eine persönliche Huldigung darzubringen.] Diese Vorbemerkung, in kleiner Schrift auf der Titelblattrückseite, findet sich nur in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, II), aber nicht in der Titelauflage von 1886, vgl. NK 11, 2–22. Zum Inhalt siehe Abschnitt 1 des Überblickskommentars, zum Motiv des Monologischen ausführlich NK KSA 3, 616, 15–17.
An Stelle einer Vorrede 11, 1–22 „– eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen sich die Menschen in diesem Leben überlassen und machte den Versuch, die beste von ihnen auszuwählen. Aber es thut nicht noth, hier zu erzählen, auf was für Gedanken ich dabei kam: genug, dass für meinen Theil mir Nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen. Denn die Früchte, welche ich auf diesem Wege schon gekostet hatte, waren der Art, dass nach meinem Urtheile in diesem Leben nichts Angenehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden kann; zudem liess mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu Hülfe nahm, etwas Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und durchaus nicht allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr Nichts mehr anthun konnten.“ / Aus dem Lateinischen des C a r t e s i u s.] Dieses Zitat „An Stelle einer Vorrede“ erscheint nur in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, III), während es in der Titelauflage von 1886 ebenso wie die Vorbemerkung 10, 1–6 (Nietzsche 1878, II) und die Voltaire-Widmung auf dem Titelblatt entfernt wird. Da das Inhaltsverzeichnis in der Erstauflage erst auf „An Stelle einer Vorrede“ folgte, aber neugestaltet werden musste, entfielen (vielleicht mehr oder wenig unabsichtlich) auch die vorangehenden Paratexte 10, 1–6 und 11, 1–22, so dass beim Neuaufbinden der alten Buchblöcke dann nur ein neues Titelblatt, die neue Vorrede und das neue Inhaltsverzeichnis angefertigt werden mussten (Nietzsche 1886a, I–XVII). Das Zitat selbst stammt entgegen der Behauptung in KGW IV 4, 161 nicht aus René Descartes’ Meditationes de prima philosophia, sondern, wie Rethy 1976, 290–292 nachgewiesen hat, aus der lateinischen Übersetzung von Descartes’ Discours de la méthode,
44
Menschliches, Allzumenschliches I
den Etienne de Courcelles mit der Billigung des Autors unter dem Titel Dissertatio de methodo recte utendi et veritatem in scientiis investigandi im Jahr 1644 veröffentlicht hat. Die französische Originalversion der Stelle lautet: „ie m’avisay de faire un reveuë sur les diverses occupations qu’ont les hommes en cete vie, pour tascher a faire chois de la meilleure; et sans que ie vueille rien dire de celles des autres, ie pensay que ie ne pouvois mieux que de continuër en celle la mesme ou ie me trouvois, c’est a dire, que d’employer toute ma vie a cultiver ma raison, & m’avancer, autant que ie pourrois, en la connoissance de la verité, suivant la Methode que ie m’estois prescrite. I’avois esprouvé de si extremes contentmens, depuis que i’avois commencé de me servir de cete Methode, que ie ne croyois pas qu’on pust recevoir de plus doux, ny de plus innocens, en cete vie; et descouvrant tous les iours par son moyen quelques veritez, qui me sembloient assez importantes, & communement ignorées des autres hommes, la satisfaction que i’en avois remplissoit tellement mon esprit que tout le reste ne me touchoit point.“ (Descartes 1902, 6, 27) Während die französische Fassung von den „extremes contentmens“, den „äußersten Befriedigungen“, spricht, die die geistigte Betätigung mit sich bringt, benutzt die lateinische Version die Metapher der „fructus“, der „Früchte“. Und genau die kehren in der Übersetzung wieder, so dass man Rethy 1976, 291 f. zustimmen kann, dass N.s Behauptung, der Text sei „[a]us dem Lateinischen“ (11, 22) übersetzt, vermutlich keine Koketterie ist, zumal N., wie Rethy anmerkt, damals vermutlich besser Latein konnte als Französisch. Freilich fragt sich, wie N. an Etienne de Courcelles’ lateinische Version gelangt ist, die seit dem 17. Jahrhundert bis zur Standardedition von Charles Adam und Paul Tannery zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum mehr aufgelegt worden ist. In N.s Bibliothek findet sich kein einziges Buch von Descartes und es gibt keine Hinweise darauf, wann und wo er sich einen entsprechenden Band ausgeliehen haben könnte. Es ist durchaus möglich, dass N. die Stelle wie andere Descartes-Passagen auch (vgl. Loukidelis 2005) aus zweiter Hand untergekommen ist; sie findet sich freilich weder in Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie (Ueberweg 1866b), der N. an anderer Stelle eine Information zu Descartes entnimmt (NL 1873, KSA 7,26[1], 572, 15 f.), noch in der für N. relevanten, von Kuno Fischer verfassten Geschichte der neuern Philosophie (Fischer 1865). In der lateinischen Version lautet die Stelle: „diversas occupationes quibus in hac vitâ homines vacant, aliquandiu expendi, atque ex iis optimam eligere conatus sum. Sed non opus est ut quid de aliis mihi visum sit hîc referam; dicam tantùm nihil me invenisse, quod pro me ipso melius videretur, quàm si in eodem instituto in quo tunc eram perseverarem; hoc est, quàm si totum vitae tempus in ratione meâ excolendâ, atque in veritate juxta Methodum quam mihi praescripseram investigandâ consumerem. Tales quippe fructus hujus Methodi jam degustaram, ut nec suaviores ullos nec magis innocuos in hac vitâ decerpi posse arbitrarer; cùmque
Stellenkommentar MA I An Stelle einer Vorrede–Inhalt, KSA 2, S. 11
45
illius ope quotidiè aliquid detegerem, quod & vulgo ignotum & alicujus momenti existimabam, tantâ delectatione animus meus implebatur, ut nullis aliis rebus affici posset.“ (Descartes 1902, 6, 555) Nicht ganz auszuschließen ist schließlich die Möglichkeit, dass N. die Übersetzung nicht selbst angefertigt hat, sondern sie selbst einer bisher nicht nachweisbaren Quelle entnommen hat. Campioni 2009a, 38 stellt die Provokationskraft des Descartes-Zitates am Beginn von MA I heraus, das zwei zentrale Motive des Werkes namhaft mache, nämlich „die Methode und die Leidenschaft der Erkenntnis. Die Methode ist das Gegenteil der unmittelbaren Intuitionen des metaphysischen Genies, die diesem qua Inspiration in den Schoß fallen. Der Mystifikation des Unmittelbaren stellt Nietzsche die Methode gegenüber, die Notwendigkeit eines geordneten Wegs, der in Stufen zur Erkenntnis führt“. Den von Descartes in der Übersetzung mit dem Begriff der „Freudigkeit“ belegten Lustaspekt der Erkenntnis sieht Campioni 2009a, 45 freilich in MA noch nicht so recht verwirklicht: „Doch ist die Lust am Erkennen für den deutschen Philosophen mehr ein Desiderat als eine Realität. Vorherrschend sind in Menschliches, Allzumenschliches das ‚Eis‘ und die ‚Ernüchterung‘ einer antiromantischen Therapie, die jeden Enthusiasmus und romantischen Rausch zu bremsen sucht.“ (Vgl. Campioni 2001b, 57 u. Wienand 2015, 59) Rethy 1976, 293 betont wiederum, dass die fragliche Passage aus Descartes’ Discours in den Kontext der Überlegung zu einer „morale par provision“, einer „provisorischen Moral“, gehört, die so lange vorhalten soll, bis auch auf diesem Feld gesichertes Wissen gewonnen werden könne. In MA I 34, KSA 2, 54, 20–55, 21 ertönt ein Echo der vom Descartes-Motto beschworenen Erkenntnisfreude, vgl. NK ÜK MA I 34, siehe auch Ricard 2017 und zur Deutung des Mottos Meyer 2019, 87 f. Durs Grünbein notiert dazu: „Und Nietzsche erkannte sich, bevor er seine Briefe mit Dionysos oder Der Gekreuzigte unterzeichnete, in René Descartes wieder, dem ersten Icherzähler der Philosophie. In seiner ersten großen Aphorismensammlung, in der vom Traumdenken die Rede ist, lässt er ihn für sich sprechen – ‚An Stelle einer Vorrede‘.“ (Grünbein 2023, 115) Auf die Paratexte und das sonst gerne überlesene Descartes-Motto hat Paul Rée in seinem Brief an N. um den 10. 05. 1878 reagiert, in dem er sich für die Zusendung von MA I bedankt: „Auch die Staffage – Titel, Format, Druck, Voltaire, Zahlen finde ich höchst glücklich, – nicht die Worte Des Cartes zu vergessen.“ (KGB II 6/2, Nr. 1066, S. 853, Z. 26–28)
Inhalt Nietzsche 1878, V u. Nietzsche 1886a, XVII: Inhalt.] In der Erstausgabe von 1878 wird auf der nächsten freien Recto-Seite nach dem Descartes-Motto und in der Titelauflage von 1886 nach der neuen Vorrede ein Inhaltsverzeichnis abgedruckt, das in KGW IV/2 und KSA 2 fehlt. Es erscheinen darauf die Titel der Hauptstücke
46
Menschliches, Allzumenschliches I
mit der jeweiligen Seitenangabe, aber die Zählung und Benennung als „Hauptstück“ entfallen. Nietzsche 1886a, XVII fügt mit größerem Zeilendurchschuss unten, ebenfalls mit Seitenangabe, noch hinzu: „U n t e r F r e u n d e n. Ein Nachspiel“.
Vorrede Die für die Titelausgabe von 1886 nachgeschobene Vorrede zu MA I gibt keinen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Werkes, seinen Inhalt oder seine philosophischen Hauptprobleme. Vielmehr verortet sie es im Denkentwicklungsgang des sprechenden ‚Ichs‘, das sich 1886 zwar noch mit dem ‚Ich‘ von 1878 identisch wähnt, aber doch seither eine erhebliche Denkbewegung durchlaufen zu haben, geistig Herr geworden zu sein beansprucht. Es fällt auf, dass der Leser, der 1886 die Titelauflage erwarb, zwar dem schlichten Titel „Vorrede“ nicht unmittelbar entnehmen konnte, dass dieser in acht nummerierte Abschnitte unterteilte Text erst jetzt hinzugenommen war, sehr wohl aber der Datierung am Ende von MA I Vorrede 8: „N i z z a, im Frühling 1886“ (22, 29), sowie der Angabe auf dem Titelblatt selbst: „Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede“ (Nietzsche 1886a, [I]). Das Druckmanuskript D 11a hat N. selbst geschrieben, es umfasst neben der „Vorrede“ auch das lyrische „Nachspiel“ für die Neuausgabe: „Unter Freunden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a). Die MA I Vorrede gehört zusammen mit denjenigen für die Neuausgaben von GT (Versuch einer Selbstkritik), M, MA II und FW zu einem umgreifenden Versuch N.s, den eigenen Denkweg wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Genesung zu explizieren. „Diese 5 Vorreden sind vielleicht meine beste Prosa, die ich bisher geschrieben habe“, meint N. gegenüber Overbeck am 14. 11. 1886 (KSB 7/KGB III 3, Nr. 775, S. 282, Z. 27 f.). Schon vorab, im Brief an seinen Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch vom 07. 08. 1886, hat sich N. ausführlich zu den Texten erklärt: „Sie werden bemerken, daß Menschl〈iches〉 Allzum〈enschliches〉 die Morgenröthe, die fröhliche Wissenschaft einer Vorrede e r m a n g e l n: es hatte gute Gründe, daß ich damals als diese Werke entstanden, mir ein Stillschweigen auferlegte – ich stand noch zu nahe, noch zu sehr ‚drin‘ und wußte kaum, was mit mir geschehn war. Jetzt, wo ich selber am besten und genauesten sagen kann, was das Eigene und Unvergleichliche an diesen Werken ist und inwiefern sie eine für Deutschland neue Litteratur inauguriren (das Vorspiel einer moralistischen Selbst-Erziehung und Cultur, die bisher den Deutschen gefehlt hat) würde ich mich zu solchen z u r ü c k b l i c k e n d e n und nachträglichen Vorreden gerne entschließen. Meine Schriften stellen eine f o r t l a u f e n d e E n t w i c k l u n g dar, welche nicht nur mein persönliches Erlebniß und Schicksal sein wird: – ich bin nur der Erste, eine heraufkommende Generation wird das, was ich erlebt habe, von sich aus verstehn und eine feine Zunge für meine Bücher haben. Die Vorreden könnten das
Stellenkommentar MA I Inhalt–Vorrede, KSA 2, S. 11
47
N o t h w e n d i g e im Gange einer solchen Entwicklung deutlich machen: woraus sich nebenbei der Nutzen ergeben würde, daß, wer einmal auf e i n e meiner Schriften angebissen hat, es mit a l l e n aufnehmen muß.“ (KSB 7/KGB III 3, Nr. 730, S. 225, Z. 40–60; vgl. dazu Giacoia Junior 2019, 92 f.) Entsprechend hohe Aufmerksamkeit haben die Vorreden als Ensemble in der Forschung gefunden, siehe z. B. Scheier 1990, Groddeck 1997, 190, Conway 1999, Allison 2008, Burnett 2008, Tongeren 2012, 7, Fn. 13, Santana 2013, Béland 2014, Görner 2017, 50–65, Schulte 2023, 91– 159, Clancett 2023, 232, Quérini 2023b und die weiterführende Literatur in NK 3/ 2.1, S. 96. In der Forschung haben die äußere, auch typographische Machart (Simson 1995) und die paratextuelle Leserlenkung (Pichler 2012) in MA I Vorrede Aufsehen erregt; Georg 2020 legt den Akzent auf das Tragische. Ein großes Thema ist der Komplex des Perspektivischen (vgl. Dellinger 2015 u. Hilgers 2018) ebenso wie die hier virulente Idee eines existenziell durch und durch gefährlichen Denkens (Schulte 2023, 93–112). Lutz/Stahl 2024 kontrastieren die jüngeren, stark textistischen Forschungsansätze (Pichler 2012 u. Dellinger 2015) mit den doch ebenfalls schon sehr differenzierten Urteilen zu den Vorreden in der frühen N.-Literatur (vgl. schon Andreas-Salomé 1894, 259). MA I Vorrede schildert die Werkphase, in die MA I hineingehöre, als eine der Unvollkommenheit, nach der „g r o s s e n L o s l ö s u n g“ (MA I Vorrede 3, KSA 2, 15, 29 f.), in der der freie Geist noch keine Reife erreicht habe und mit sich selbst im Konflikt liege. Entsprechend bietet die Vorrede eine teleologische Sichtweise von N.s Gesamtwerk an, die das Eigenrecht von MA I stark relativiert oder doch nur als Stufe gelten lässt – was wiederum die Lesenden dazu anstacheln kann, das Eigenrecht, die individuelle Vollendung von MA I gegen N.s retrospektive Nivellierung zu verteidigen und etwa auch deutlich zu machen, dass prominente Themen der Vorrede – etwa das der „Rangordnung“ als „Aufgabe“, das in MA I Vorrede 6 und 7 verhandelt wird – in MA I selbst bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Das selbsttherapeutische Moment, das N. in MA I Vorrede dem Werk zuschreibt, erblickt er auch schon einige Jahre früher im gesamten Schriftenensemble MA I–II, M und FW, das er Mitte Juli 1882 im Brief an Erwin Rohde als seine „selbstgebraute Arzenei gegen den Lebens-Überdruß“ bezeichnet: „Es ist ein Bild von mir darin“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 267, S. 226, Z. 17 f. u. S. 227, Z. 38 f.). Zur „Vorrede“ gibt es in W I 8 eine Reihe von Vorarbeiten. So lautet ein Entwurf in W I 8, 269: „An meine Freunde. / Vorrede. Dieses ˹einleitende˺ Buch, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewußt hat und irgend eine Kunst verstehen muß, durch die auch spröde und widerspänstige Ohren ˹Geister˺ verführt werden: gerade dieses Buch ist meinen näheren Freunden am unverständlichsten geblieben: – es war ihnen, als es erschien, ein Schrecken und ein Fragezeichen und legte eine lange Entfremdung zwischen sie und mich. In der That, der Zustand, aus dem es entsprang, hatte
48
Menschliches, Allzumenschliches I
genug des Räthselhaften und Widersprechenden ˹genug in sich˺ an sich: ich war damals zugleich sehr glücklich und ⎣zugleich⎦ sehr leidend ˹an einem neuen Anfange u beinahe auch am letzten Ende˺– Dank eines großen Sieges ˹stolz-bewußt˺, den ich ˹eben˺ über mich selbst davongetragen hatte, einem ˹aber eines˺ jener gefährlichen Siege, an denen man zu Grunde zu gehn pflegt. Eines Tages – es war im Sommer 1876 – kam mir eine plötzliche Verachtung und Einsicht ˹in mich˺: und von da an gieng ˹trat˺ ich unbarmherzig ˹schritt ich über˺ über all die schönen Wünschbarkeiten ˹u Träume˺ hinweg, an die meine Jugend ihr Herz verschenkt hatte ˹wie sie bis dahin die Jugend liebt geliebt hatte und gieng meines Wegs weiter, eines Wegs der˺ ‚Erkenntniß ˹um jeden Preis‘˺: und das ˹that ich und that dies˺ mit einer Härte ⎣mit einer Ungeduld der Neugierde und auch mit einem Übermuthe⎦, welche ˹daß es˺ mir auf Jahre hinaus die Gesundheit zerstörte verdarb.“ (KGW IX 5, W I 8, 269, 2–32) KGW IV 4, 161 teilt aus „W I 8, 269“ eine „Vorstufe“ mit, die sich bislang weder an dieser Stelle noch an anderer im Heft W I 8 oder sonstwo im späten Nachlass dingfest machen lässt (vgl. aber abweichend KGW IX 12, Mp XVI, 49r): „Vorrede. Dieses einleitende Buch, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewußt hat und irgend eine Kunst verstehen muß, durch die auch spröde und widerspänstige Geister verführt werden ist gerade in Deutschland am nachlässigsten gelesen worden. Daran ist nichts zu verwundern: es verlangt einen Überfluß von Zeit, von Helligkeit des Himmels und Herzens, von otium im verwegensten Sinn – lauter gute Dinge, welche gerade nicht leicht von den jetzigen Deutschen zu verlangen und zu erlangen sind. Sie haben zu thun.: gerade in Deutschland war dies Buch bisher am nachlässigsten gelesen und gehört: woran liegt das? ‚Es verlangt zu viel – hat man mir geantwortet – es verlangt feine und verwöhnte Ohren einen Überfluß von Zeit, von Helligkeit des Himmels und Herzens, von otium im verwegensten Sinn – lauter gute Dinge, welche billigerweise von den jetzigen Deutschen nicht zu verlangen und zu erlangen sind. Sie haben zu thun: was schiert es sie, daß wir zu denken haben? wir Deutschen von heute nicht haben und also auch nicht geben können.‘ – Ist es erlaubt, heute, wo ich es, nach zehn Jahren, zum zweiten Male auf die Wanderung schicke – – – Dies heißt vernünftig antworten: und zum Danke dafür – – –“ (KGW IV 4, 161). In der Handschrift sicher belegt ist demgegenüber W I 8, 120: „So will ich denn was ich ˹heute˺ zu sagen habe, ˹heute ausschließlich˺ ˹Unter uns gesagt: jene Antwort war eine große Dummheit: das darf ich euch jenen guten Europäern ins Ohr sagen, denen dieses Buch von Anfang an geweiht war u. die Deutschen, nämlich die guten Deutschen ˹ausdrücklich˺ außer Acht lassen, als sie haben Besseres ˹Nothwendigeres˺ zu thun als mir zuzuhören, es ˹daran˺ ist kein Zweifel! Was liegt daran zu verrathen, daß dies Buch schwer verständlich ist – daß es
Stellenkommentar MA I Vorrede, KSA 2, S. 11
49
˹zur Verwechslung reizt u. kurz – ˺ irreführt, daß es einer Vorrede u. Warnungstafel bedarf.“ (KGW IX 5, W I 8, 120, 1–10) Weiter unten steht: „Unter uns ˹Freilich: euch in die Ohren gesagt, ihr freien Geister u. guten Europäer, denen dies Buch von Anfang an geweiht war˺ gesagt: jene ˹artige deutsche˺ Antwort war eine große Dummheit ˹eine Dummheit Mißverständniß˺ das darf ich euch schon in die Ohren sagen, ˹vorausgesetzt, daß ihrs nicht schon wißt˺, ihr freien Gei guten Europäer u freien Geister, denen dies Buch von Anfang an geweiht war. Es scheint, daß dies Buch schwer verständlich ist? daß es zur Verwechslung reizt u. verführt? daß es einer Vorrede und Warnungstafel bedarf? es bedarf ganz anderer Dinge u Voraussetzungen als jener gute Deutsche Es ist ganz u. gar nicht ein Buch für glückliche Müßiggänger, wie ˹welchen˺ es jener brave Deutsche, zu überantworten geneigt war: vielmehr wie ˹eben gerade˺ das Gegenstück davon.“ (KGW IX 5, W I 8, 120, 15–30) W I 246 unternimmt einen neuen Anlauf: „So muß es einem Jeden ergehen, in dem eine Aufgabe leibhaft wird u ‚zur Welt kommt‘: die ˹heimliche Noth u.˺ Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird über allen seinen einzelnen Schicksalen walten ˹wie eine lange Schwangerschaft˺, lange bevor er sie ˹selber˺ ins Auge gefaßt ˹hat˺ u. ihren ˹festen˺ Namen weiß. Gesetzt, daß es das Problem der Rangordnung ist ˹von dem ich sagen darf, daß es mein Problem ist˺: jetzt, in der Mitte dem Mittag des ˹meines˺ Lebens sehe ich, was für Vorbereitungen ˹(u selbst für Maskeraden)˺ das Problem nöthig hatte, ehe es vor mir aufsteigen durfte: ˹u wie˺ ich ˹erst˺ die vielfachsten u. widersprechendsten Glücks- u. Nothstände der ˹an˺ Seele ˹u Leib˺ und die Abenteuer vieler Seelen erfahren mußte, nichts verlierend an gleichs ˹als˺ ein Abenteurer u. Weltumsegler der Seele – überallhin dringend, ohne Furcht, fast ohne Liebe, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend u auf den Grund prüfend, alles vom Zufälligen u. Persönlichen ˹Augenblicklichen ins Ewige˺ reinigend u durch˹aus˺siebend als der Mensch der Verwandlung – ˹bis ich mir endlich sagen durfte: hier˺ [ist mein] ˹ein neues˺ Problem! Ich sehe die Leiter! – ˹und˺ ich ˹selber ich˺ saß auf jeder ˹ihrer˺ Sprossen!“ (KGW IX 5, W I 8, 246, 2–20) In W I 119 heißt es schließlich, mehrfach durchgestrichen: „Zur Vorrede. Ich glaube nicht, daß jemals Jemand mit einem so tiefen Verdacht in die Welt gesehen hat wie ich: u wer etwas von den unbeschreiblichen Ängsten der Vereinsamung kennt, welche jede unbedingte Originalität Verschiedenheit des Blickes mit sich ˹auf die mit ihr Behafteten˺ bringt, wird verstehen, wie ich ˹oft˺ zur Erholung ˹von mir, gleichsam˺ u. zeitweiligen Selbst Selbst-Vergessen irgendwo unterzu[tre]ten suchte – daß ich Verwandtschaft und Gleichheit der Wünsche mir zurecht dichtete. Man wirft mir vor, daß ich mich über Schopenhauer sowohl wie über Richard Wagner getäuscht habe und sie nach meinen Bedürfnissen zurecht gedichtet habe. Dies ist wahr: und was wißt ihr denn, wie sehr ich dies mir zum Vorwurf
50
Menschliches, Allzumenschliches I
gemacht habe] oft zur Erholung von mir, gleichsam 〈zum〉 zeitweiligen SelbstVergessen irgendwohinein unterzu 〈tre〉ten suchte ˹in irgend eine Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit in Auge u Begierde˺ – daß ich – Verwandtschaft u. Gleichheit der Wünsche mir ˹sie mir erzwang u˺zurecht dichtete ⎣ nur um nicht dergestalt allein u. einzeln zu sein⎦. Man ˹Es ist kein Zweifel˺ wirft mir vor, daß ich ˹in jüngeren Jahren˺ mich über Sch.[openhauer] sowohl wie über R.[ichard] W.[agner] ⎣willkürlich⎦getäuscht habe u. sie nach meinen Bedürfnissen zurechtgedichtet˹gemacht˺ habe. Dies ist wahr ˹und in einem viel schlimmeren u. höheren Sinne als Jemand begreifen könnte:˺: u. ˹aber˺ was wißt ihr denn ˹davon˺, wie sehr ich dies mir zum Vorwurf gemacht habe? ˹welche Klugheit der SelbstErhaltung eben in diesen Selbst-Täuschungen lag?˺ Und werie kann mir vorwerfen, daß ich nicht verstanden hötte, zur rechten Zeit mich zu enttäuschen ˹ich keine Stunde länger˺ den Schleier über meinen Augen duldete, [als] ˹sobald˺ ichs wieder aushielt, klar zu sehen, – mich zu sehen?“ (KGW IX 5, W I 8, 119, 14–32) Das Motiv der Erholung von sich selbst klingt bei N. lange vor den Entwürfen zur Vorrede der Neuausgabe von MA I an, siehe z. B. N. an Overbeck, 22. 09. 1879, KSB 5/KGB II 5, Nr. 884, S. 445, Z. 8–10. Als Vorredenentwurf trat zunächst auch NL 1885, KSA 11, 40[59], 657–660 = KGW IX 4, W I 7, 38–41 auf, dort ist das Motiv der „Angelhaken“ (KGW IX 4, W I 7, 40, 32), als die N. seine Werke verstanden wissen will, dominant (vgl. NK 17, 28– 31 sowie NK ÜK MA I 359, ferner Jaspers 2020, 502, Anm. 53). NL 1885, KSA 11, 41[9], 683–686 = KGW IX 4, W I 5, 10–12 stellt einen weiteren Vorreden-Entwurf dar, übrigens ebenfalls unter „Angelhaken“-Rückgriff (KGW IX 4, W I 5, 11, 11).
1. MA I Vorrede 1 beginnt mit einer rezeptionsgeschichtlichen Beobachtung: Das sprechende ‚Ich‘ berichtet davon, Leser hätten oft „etwas Gemeinsames“ (13, 3) in all seinen Schriften von GT bis JGB gefunden, nämlich Fallen für „unvorsichtige Vögel“ (13, 7) und den steten Aufruf, herkömmliche Wertungsweisen zu verabschieden. Als „Schule des Verdachts“ (13, 15 f.) und „des Muthes“ (13, 17) seien diese Bücher wahrgenommen worden. Die völlige „V e r s c h i e d e n h e i t d e s B l i c k s“ (13, 24) habe dieses ‚Ich‘ ausgezeichnet, das zur „Erholung“ (14, 2) sich in andere Perspektiven hineingesehen und hineingelebt, ja wie die Dichter erfunden habe, was es nicht vorfand. Es habe sich da „Verwandtschaft und Gleichheit“ (14, 12), ja „Freundschaft“ (14, 13) zusammengereimt. Man könne ihm etwa die Blindheit vor „Schopenhauer’s blindem Willen zur Moral“ (14, 19 f.) zum Vorwurf machen oder die vor „Wagner’s unheilbare[r] Romantik“ (14, 22), oder die vor der Griechen- und die Deutschen-Begeisterung. „Genug, ich lebe noch“ (14, 32) – und
Stellenkommentar MA I Vorrede 1, KSA 2, S. 11–13
51
das Leben wolle „Täuschung“ (14, 33), lebe von ihr – „… aber nicht wahr? da beginne ich bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller“ (14, 34–15, 2). In MA I Vorrede 1 beglaubigt die Sprechinstanz also performativ, was das Charakteristikum ihres Schreibens überhaupt sei: gewohnte Wertschätzungen umzukehren, fraglos Gültiges für ungültig zu erklären. Zur „List der Selbst-Erhaltung“ durch „Selbst-Betrug“ in MA I Vorrede 1 siehe Stegmaier 2021b, 21, Fn. 42, zu MA I Vorrede 1 insgesamt Meléndez 2011b u. Tongeren 2012, 11. 13, 2–10 Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der „Geburt der Tragödie“ an bis zum letzthin veröffentlichten „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“: sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten.] Ob man das N. gegenüber tatsächlich „oft“ gesagt hat, steht dahin – derjenige, der es gesagt hat, war Gottfried Keller, nämlich in seinem Brief an N. vom 20. 09. 1882: „Die fröhliche Wissenschaft habe ich einmal durchgangen und bin jetzt daran, mit gesammelter Aufmerksamkeit das Buch zu lesen, befinde mich aber zur Stunde noch im Zustand einer alten Drossel, die im Walde von allen Zweigen die Schlingen herunterhängen sieht, in welche sie den Hals stecken soll. Doch wächst die Sympathie und ich hoffe, der Idee des Werkes so nahe zu treten, als mein leichtfertiges Novellistengewerbe es erlaubt.“ (KGB III 2, Nr. 146, S. 291, Z. 10–18; vgl. dazu Groddeck/Morgenthaler 1994, 118) Die Vogelfängermetaphorik kehrt dann auch in JGB 230 wieder, vgl. NK KSA 5, 169, 13–17, 2 sowie Guerreschi 2023, 132 u. 136 f. 13, 15–17 Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit.] Im Druckmanuskript D 11a, 1 wird umgekehrt gereiht und die Tugenden variieren: „Man hat meine Schriften eine Schule der Verachtung genannt, noch mehr des Verdachts, glücklicherweise auch des Muthes, ja des Muthwillens“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11a,1). Tatsächlich lässt sich in den veröffentlichten Stellungnahmen zu N.s Werken, den zeitgenössischen Rezensionen und Kritiken, soweit sie bei Reich 2013 dokumentiert sind, weder die „Schule der Verachtung“ noch die des „Verdachts“ nachweisen; „Verachtung“ und „Verdacht“ oder „Muthwillen“ sind keine Schlagworte, mit denen damalige Kritiker seine Schriften zu etikettieren pflegen („Verwegenheit“ kommt immerhin in einer Besprechung von GT vor, siehe Reich 2014, 156). N.s „Schule des Verdachts“ hat dank Michel Foucault und insbesondere dank Paul Ricœurs „Hermeneutik des Verdachts“ (die N. neben
52
Menschliches, Allzumenschliches I
Marx und Freud zu den „Meistern des Verdachts“ rechnet) einige Popularität erlangt, vgl. z. B. Angehrn 2009, 320–330 u. Schwab 2015, 237 f. Im Unterschied zur Fokussierung (oder Einengung) der Verdachtshermeneutik Ricœurschen Zuschnitts auf verstellte Sinngegebenheiten und verstellte Selbste haben sich nach MA I Vorrede 1 der „Verdacht“ und die „Verachtung“ in N.s Schriften in der Spiegelung ihrer (imaginierten) Rezipienten entgrenzt und universalisiert: Schlechterdings alles kann Gegenstand des Verdachts und der Verachtung geworden sein oder noch werden. 13, 20 Anwalt des Teufels] Als „Anwalt des Teufels“ oder advocatus diaboli wird in Selig- oder Heiligsprechungsverfahren gemeinhin derjenige bezeichnet, der die Argumente gegen die Beatifikation oder Kanonisation vorbringt. N. hat sich den Titel andernorts zu eigen gemacht: „Ich bin der advocatus diaboli und der Ankläger Gottes“ (NL 1882, KSA 10, 1[65], 27, 1). NL 1882/83, KSA 10, 5[1] 264, 218, 18–20 argumentiert: „Und wenn du das Dasein rechtfertigen willst, so mußt du nicht nur des Teufels Anwalt, sondern auch Gottes Anwalt vor dem Teufel sein.“ (Vgl. NL 1882/83, KSA 10, 4[199], 167, 8–10). 13, 21 Feind und Vorforderer Gottes] Die Wendung „Feind Gottes“ ist bereits biblisch (Jakobus 4, 4) und wird von N. gelegentlich bemüht, siehe z. B. NK KSA 6, 179, 17. Jacob Burckhardt erzählt in seiner Cultur der Renaissance in Italien von den „entsetzlichen Gestalten“ einiger Condottieri, zu denen Werner von Urslingen gehörte, „dessen silbernes Brustschild die Inschrift trug: /363/ Feind Gottes, des Mitleids und der Barmherzigkeit“ (Burckhardt 1869b, 362 f.). „Vorforderer“ nimmt Grimm 1854–1971, 26, 1043 im Lemma „vorfordern“ als „ableitung“ von diesem Verb: „vorforderer, m., fast wie herausforderer“ und nennt als Beleg nur MA I Vorrede 1. 13, 23 den Frösten und Aengsten] Im Druckmanuskript D 11a, 1 korrigiert aus: „den unbeschreiblichen Ängsten“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,1). 14, 5 Dummheit] Im Druckmanuskript D 11a, 3 korrigiert aus: „Narrheit“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,3). 14, 15 f. an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat] Im Druckmanuskript D 11a, 3 korrigiert aus: „kurz – Freundschaft. Man hat mir, nicht ohne Anschein, mancherlei Falschmünzerei vorgerückt, zum Beispiel daß ich mich in jüngeren Jahren über Schopenhauer willkürlich und halb-wissentlich getäuscht hätte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,3). Danach folgt im Druckmanuskript eine längere, ebenfalls intensiv korrigierte und schließlich ganz gestrichene Passage, die durch die gedruckte Version auf der linken Seite D 11a, 2 ersetzt wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,2).
Stellenkommentar MA I Vorrede 1–2, KSA 2, S. 13–15
53
14, 24 die Deutschen und ihre Zukunft] Im Druckmanuskript D 11a, 2 steht: „die Deutschen und ihre Musik“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,2); „Musik“ ist mit blauem Farbstift zur Korrektur unterstrichen. 14, 30 wie viel Falschheit mir noch n o t h t h u t] Im Druckmanuskript D 11a, 2 steht: „wie viel Falschheit ˹mir˺ noch noth that“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11a,2); „noth that“ ist mit blauem Farbstift zur Korrektur unterstrichen. 14, 31 f. gestatten darf] Im Druckmanuskript D 11a, 2 steht: „gestatten durfte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,2); „durfte“ ist mit blauem Farbstift zur Korrektur unterstrichen.
2. MA I Vorrede 2 reiht nun auch jene zentralen Gestalten, die der Untertitel von MA I sowohl in der Erstausgabe von 1878 als auch der „Neuen Ausgabe“ von 1886 schon prominent aufruft, nämlich die „freien Geister“ unter die Erfindungen ein, der sich das vereinsamte Sprecher-Ich nach MA I Vorrede 1 bedient habe, um sich nicht gar so verschiedenartig und singulär zu fühlen. Diese „freien Geister“ gebe es nämlich noch gar nicht, und es habe sie auch noch nicht gegeben. Hingegen „k ö n n t e“ (15, 16) es sie in Zukunft geben. Das ‚Ich‘ sieht „sie bereits k o m m e n“ (15, 21) und „vielleicht“ (15, 22) könne es „ihr Kommen“ „beschleunigen“ (15, 22 f.), wenn es beschriebe, „auf welchen Wegen“ (15, 24) es sie kommen sehe. In seiner Freigeisterei-Heilserwartung kündigt das Sprecher-Ich die „freien Geister“ an, wie Johannes der Täufer den Messias angekündigt haben soll (zum angeblichen Messianismus N.s Schmidt-Biggemann 2021, 271–291, der allerdings die Gebrochenheit aller scheinbar messianischen Ambitionen N.s unberücksichtigt lässt). Dabei wird völlig ausgeblendet, dass der historische N. 1876/77 in Sorrent unter freien Geistern gelebt hat, um so die Einsamkeitsgespreiztheit noch wirkungsvoller in Szene zu setzen. Vgl. zu MA I Vorrede 2 auch Meléndez 2015. 15, 6–8 dieses schwermüthig-muthige Buch mit dem Titel „Menschliches, Allzumenschliches“] Ob N. hier die Stimmungslage von MA I in der Retrospektive korrekt einfängt, steht dahin: Neben Passagen, die melancholisch etwa das Ende der Kunst als Weltgestaltungsmacht beklagen, bleibt vielen Lesern eher der übermütige und kecke Ton in Erinnerung – eine vielleicht auch etwas gezwungen wirkende Fröhlichkeit. 15, 11 Acedia] Es ist die einzige Stelle in N.s publizierten Werken, die die Untugend der ἀκηδία oder acedia, die als Trägheit oder Überdruss insbesondere den Christen ein Dorn im Auge war, ausdrücklich und mit ihrem Fachausdruck be-
54
Menschliches, Allzumenschliches I
nennt. Eine einzige weitere Stelle gibt es im Nachlass von 1885: „Acedia bei mir – umgekehrt wie bei den Mönchen. Ich ärgere mich über das übergroße Mitleiden bei mir: ich freue mich, wenn mein ego wach u. guter Dinge ist.“ (KGW IX 1, N VII 1, 171, 2–8) Campioni 1992, 401 hat nachgewiesen, dass N. hier auf eine Passage in Lefebvre Saint-Ogans Essai sur l’influence française Bezug nimmt (SaintOgan 1885, 18 f.). Vgl. NK 362, 5. 15, 18 Gesellen haben wird] Im Druckmanuskript D 11a, 5 ist „wird“ unterstrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,5).
3. MA I Vorrede 3 macht mit der Ankündigung von MA I Vorrede 2 ernst und stellt als Bedingung für die Freigeisterei eine „g r o s s e [ . ] L o s l ö s u n g“ (15, 29 f.) in den Denk- und Möglichkeitsraum der Leserschaft. Davor aber müsse der künftige freie Geist ein höchst disziplinierter, „gebundener Geist“ (16, 1) gewesen sein, der sich durch Pflichtgefühl, „Ehrfurcht“ (16, 4) und „Dankbarkeit“ (16, 6) an sein Herkommen, seine Um- und Mitwelt gebunden hatte. Die Loslösung trete dann unerwartet, „plötzlich“ (16, 11), ruckartig ein und entfremde radikal von allem bisher Gewohnten und Geliebten. Entsprechend leidensträchtig vollziehe sie sich, wie eine „Krankheit“ (16, 33) mit gewaltigem (Selbst)Zerstörungspotential. Der „Losgelöste“ (17, 3) verwildere und schweife wie ein Raubtier durch die „Wüste“ (17, 15), sinne auf Umwertung aller Werte und frage sich, ob er nicht auch ein „Betrüger“ (17, 20) sein müsse. „Einsamkeit“ (17, 22) sei sein Schicksal. In MA I Vorrede 3 geraten die Zeitebenen durcheinander: Spricht der Text jetzt über einen künftigen freien Geist oder über einen, den es in der Vergangenheit schon gegeben hat, oder in der Gegenwart gibt? Beim kairotischen Ereignis der Loslösung, einer Art der säkularen Bekehrung, das wie bei Jesus in der Wüste stattfindet, scheinen Zeitebenen auch keine Rolle mehr zu spielen. Zum befreiten Geist siehe NK KSA 3, 537, 30, zum Gegenstand der Loslösung NK KSA 3, 346, 17 f., zu MA I Vorrede 3 auch Meléndez 2004, Stegmaier 2012, 196 f. u. Dellinger 2023, 275 f., zur „Loslösung“ als Akt der Muße Gerhardt 2017, 231 f. 15, 30–16, 2 und dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an seine Ecke und Säule gefesselt schien] Nach dem Bericht bei Hesiod: Theogonie 522 war Prometheus von Zeus zur Strafe an eine Säule gefesselt worden. 16, 10–12 Die grosse Loslösung kommt für solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen] Die Erdbebenmetapher – siehe Matthäus 27, 51 – bemüht Richard
Stellenkommentar MA I Vorrede 2–4, KSA 2, S. 15–17
55
Wagner ebenfalls an prominenter Stelle am Ende von Oper und Drama, wo er seine eigenen Erlösungsambitionen formuliert: „Nicht eher gewinnen wir Glauben und Muth, als bis wir im Hinhorchen auf den Herzschlag der Geschichte / 282/ jene ewig lebendige Quellader rieseln hören, die, verborgen unter dem Schutte der historischen Civilisation, in ursprünglichster Frische unversiegbar dahinfließt. Wer fühlte jetzt nicht die furchtbar bleiche Schwüle in den Lüften, die den Ausbruch eines Erdbebens vorausverkündigt? Die wir das Rieseln jener Quellader hören, sollen wir uns vor dem Erdbeben fürchten? Wahrlich nicht! Denn wir wissen, es wird nur den Schutt auseinanderreißen, und dem Quelle [sic] das Strombett bereiten, in dem wir seine lebendigen Wellen auch fließen s e h e n werden.“ (Wagner 1871–1873, 4, 281 f. Hinweis von Giuliano Campioni.) 16, 24 Vereisung] Vgl. NK KSA 3, 346, 8 f. 17, 1 dieser Wille zum f r e i e n Willen] Hier wird scheinbar ein Gegensatz zum Determinismus und zur völligen Unverantwortlichkeit aufgemacht, auf die im eigentlichen Text von MA I wiederholt abgehoben wird. Offensichtlich ist aber auch der freie Wille im Jahr 1886 nichts Gegebenes, sondern etwas Aufgegebenes. Vgl. z. B. Katsafanas 2016, 221. 17, 9 w e n n man sie] Im Druckmanuskript D 11a, 7 ist das „wenn“ nicht hervorgehoben (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,7). 17, 16 a l l e Werthe] Im Druckmanuskript D 11a, 9 ist das „alle“ nicht hervorgehoben und wurde erst nachträglich zur Korrektur mit blauem Farbstift unterstrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,9). 17, 24 jene furchtbare Göttin und mater saeva cupidinum] Von N. im Druckmanuskript D 11a, 9 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11a,9). Die lateinische Phrase bedeutet übersetzt: „wilde Mutter der Begierden“. Es ist der erste Vers von Quintus Horatius Flaccus: Carmina I 19, 1. Die dortige mater saeva cupidinum ist die Göttin Venus (vgl. auch Carmina IV 1, 5).
4. MA I Vorrede 4 fährt mit der Entwicklungsgeschichte des freien Geistes fort und stellt in Aussicht, dass nach Jahren der Wüsteneinsamkeit, des Schweifens und des Mit-sich-selbst-uneins-Seins ein Zustand der Reife und der Fülle, der „g r o s s e n Gesundheit“ (18, 8) und des gewaltigen geistigen Reichtums eintreten werde. Daraus ergebe sich dann „das gefährliche Vorrecht“ (18, 9) des nun entgegen MA I Vorrede 2 sehr wohl als existierend herausgestellten „freien Geiste[s]“ (18, 9), „a u f d e n V e r s u c h hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen“ (18,
56
Menschliches, Allzumenschliches I
9–11). Davor jedoch hätten wohl „lange Jahre der Genesung“ (18, 12) gelegen, in denen immerhin auch schon ein Gesundungswille stark gewesen sei und damals habe – ganz offensichtlich ist die Zeit gemeint, in der MA I entstanden ist – das „kühle Wort“ „‚freier Geist‘“ (18, 21 f.) schon wärmend gewirkt – als ein Ideal, eine regulative Fiktion. Zum Leitmotiv von Krankheit und Genesung in MA I Vorrede siehe NK KSA 3, 345, 12–15 (dort auch viel Hintergrundinformation zum Gesundheitskomplex bei N.), Faustino 2017a und Faustino 2017b sowie Silenzi 2020, 11–15, die betont, wie sehr der hier in Anschlag gebrachte Gesundheitsbegriff dynamisch sei. Auch in einem Entwurf zur MA I Vorrede wird der „Wille zur Gesundheit“ herausgestellt, siehe KGW IX 4, W I 7, 17, 33–50 u. 19, 2–6 u. 18, 2–16 u. 19, 24–36, zitiert in NK ÜK MA I 34. Villamil Lozano 2021 untersucht das Thema der Gesundheit in MA I insgesamt, unter Ausklammerung der späteren Vorrede, Sales da Ponte 2017 ebenso, sie wiederum einschließend. Zur Literaturübersicht über N. und Medizin siehe auch Heinrich 2022, zu N. in psychiatrischer Betrachtung Bormuth 2021. Das Motiv „a u f d e n V e r s u c h hin“ zu leben, ist bei Schulte 2023, 93–112 der Ausgangspunkt für die Gesamtdeutung von MA I Vorrede (vgl. auch Tongeren 2012, 14). 17, 28–31 noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntniss] Die Krankheit, die hier als Erkenntnismittel nutzbar gemacht werden soll – kann man dank ihr die Abgründigkeit des Daseins besonders gut ausloten? – scheint in MA I Vorrede 4 sehr konkret physiologisch gemeint zu sein. Zum Motiv der Angelhaken siehe NK ÜK MA I Vorrede u. NK ÜK MA I 359. 18, 8 das Zeichen der g r o s s e n Gesundheit] Vgl. ausführlich NK 3/2.2, S. 1584–1586 u. NK 5/2, S. 394. 18, 27–31 – und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nunmehr lauter Dinge an – und wie viele Dinge! – welche ihn nicht mehr b e k ü m m e r n …] N. spielt mit der Ambiguität des Verbs: Das erste „bekümmern“ wird im Sinn von „sich scheren“ verwendet, das zweite im Sinn von „ihm Sorgen bereiten“.
5. MA I Vorrede 5 beschreibt den Genesungsprozess mit den Stilmitteln der Idylle, nachdem MA I Vorrede 3 die Nöte der Vereinsamung drastisch ausgemalt hatte. Jetzt ist „Glück“ (19, 17 u. 21) die bestimmende Losung. 19, 2–6 Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast misstrauisch. Es wird wieder
Stellenkommentar MA I Vorrede 4–6, KSA 2, S. 17–20
57
wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn weg.] Zur Tauwindmetaphorik in den Vorreden von 1886/87 und im Kontext ausführlich NK KSA 3, 345, 8. 19, 21 Sonnenflecke] Vgl. NK KSA 6, 58, 5–7. 19, 24 Eidechsen] Zum Eidechsen-Motiv bei N. vgl. NK KSA 6, 329, 24–330, 3, ferner NK KSA 5, 228, 22–24. 19, 27 den Krebsschaden] Im Druckmanuskript D 11a, 13 steht: „die Krankheit“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,13); „die Krankheit“ ist mit blauem Farbstift zur Korrektur unterstrichen. 19, 28 Lügenbolde] Das im 19. Jahrhundert recht geläufige Wort für notorische Lügner kommt bei N. sonst nur noch in Za II Von der unbefleckten Erkenntniss vor, vgl. NK KSA 4, 158, 3 f. 19, 33 verordnen.] Im Druckmanuskript D 11a, 13 folgt nach „verordnen.“ ein Gedankenstrich (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,13).
6. In MA I Vorrede 6 gelangt der sich entpuppende freie Geist nun zur Selbsterkenntnis; „das Räthsel jener grossen Loslösung“ (20, 3 f.) beginne sich zu entschleiern. Er fragt und vernimmt auch eine Antwort: „‚Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen‘“ (20, 11–17). Wer hier spricht, wird zwar nicht recht klar – das eigene künftige Ich? –, aber die Antwortrede auf die Frage nach dem Warum des eigenen Abseitsstehens geht weiter: „‚du solltest das Problem der R a n g o r d n u n g mit Augen sehn und wie Macht und Recht und Umfänglichkeit der Perspektive mit einander in die Höhe wachsen‘“ (20, 32–21, 1). Während MA I Vorrede 6 es offen lässt, wer hier zu wem spricht, stellt MA I Vorrede 7 es dann explizit heraus: Der freie Geist steht sich selbst Rede und Antwort. Zur Interpretation von MA I Vorrede 6 siehe auch Stern 2020, 54 u. Enrico Müller 2021b, 340, zum (Nicht-)Perspektivismus in MA I Vorrede 6 (neben NK KSA 5, 364, 31–365, 1 u. NK KSA 5, 231, 23–25) Dellinger 2015, kritisch dazu Knoll 2021b, 263, Fn. 3.
58
Menschliches, Allzumenschliches I
20, 12 Früher waren sie deine Herren] Im Druckmanuskript D 11a, 13 stattdessen: „Früher waren sie deine Herrn“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,13).
7. War in MA I Vorrede 6 noch nicht recht deutlich, wer wem Rede und Antwort steht, stellt MA I Vorrede 7 eingangs heraus, dass der freie Geist sich hier selbst die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Loslösungsrätsels gegeben habe, und zwar, „indem er seinen Fall verallgemeinert“ (21, 6 f.) Und er setzt, wiederum in direkter Rede, seine Antwort fort, die für alle gelte, in denen eine „A u f g a b e“ (21, 9) sich manifestiere, mit der man lange schwanger gegangen sei. „Gesetzt“ (21, 16) nun, man dürfe „d a s P r o b l e m d e r R a n g o r d n u n g“ (21, 16 f.) als das Problem ansehen, das das „wir“ umtreibe, die sich wiederum als „freie[.] Geister“ (21, 18) vor die Augen der Leserschaft stellen – jetzt plötzlich wieder mit kollektivem Selbstbewusstsein, nachdem sie MA I Vorrede 2 noch als vereinsamungsbedingte Fiktion ausgewiesen hatte –, dann seien all die Umwege hin zu dieser Erkenntnis nur vorbereitend, einstimmend gewesen. Zum Rangordnungsproblem in MA I Vorrede 7 siehe auch Stegmaier 2021b, 7. Die Sprossen- und Leitermetaphorik von MA I 20 wird hier aufgenommen. 21, 17 f. u n s e r Problem] Im Druckmanuskript D 11a, 17 ursprünglich keine Hervorhebung; „unser“ wurde nachträglich mit blauem Farbstift zur Korrektur unterstrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,17). 21, 18 f. in dem Mittage unsres Lebens] Mit den drei Versen „Nel mezzo del cammin di nostra vita / mi ritrovai per una selva oscura, / ché la diritta via era smarrita“ beginnt der erste Gesang von Dante Alighieris Divina Commedia, in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel: „Als ich die Bahn des Lebens halb vollendet, / Fand ich in einem dunklen Walde mich, / Weil ich vom graden Weg mich abgewendet.“ Der Mittag des Lebensweges ist seither ein geflügeltes Wort, das N. auch in MA I 234, KSA 2, 195, 18 und andernorts aufnimmt, vgl. z. B. NK 3/ 2.2, S. 1194. Den ausdrücklichen Dante-Bezug stellt er in seinem Brief an Köselitz vom 11. 09. 1879 her: „Ich bin am Ende des 35sten Lebensjahres; die ‚Mitte des Lebens‘, sagte man anderthalb Jahrtausende lang von dieser Zeit; Dante hatte da seine Vision und spricht in den ersten Worten seines Gedichts davon. Nun bin ich in der Mitte des Lebens so ‚vom Tod umgeben‘, daß er mich stündlich fassen kann; bei der Art meines Leidens muß ich an einen p l ö t z l i c h e n Tod, durch Krämpfe, denken (obwohl ich einen langsamen klarsinnigen, bei dem man noch mit seinen Freunden reden kann, hundertmal vorziehen würde, selbst wenn er schmerzhafter wäre) Insofern fühle ich mich jetzt dem ältesten Manne gleich;
Stellenkommentar MA I Vorrede 6–8, KSA 2, S. 20–22
59
aber auch darin, daß ich mein Lebenswerk g e t h a n h a b e.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 880, S. 441, Z. 7–17) 21, 19 verstehn wir es erst] Im Druckmanuskript D 11a, 17 korrigiert aus: „verstehen wir es besser als bisher“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11a,17).
8. MA I Vorrede 8 überlässt es dem psychologisch gewieften, zeichendeutenden Leser, zu beurteilen, „an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung das vorliegende Buch gehört“ (22, 5 f.). Aber um die psychologischen Fertigkeiten sei es heute schlecht bestellt, zumal in Deutschland. Dieses „d e u t s c h e Buch“ (22, 12) habe überall seine Leser gefunden, nur nicht in Deutschland. Die Deutschen hätten gesagt, es sei ihnen zu schwer; sie seien seinen Feinheiten nicht gewachsen. Da könne der Philosoph nur schweigen. Eine Vorarbeit zu MA I Vorrede 8 findet sich in KGW IX 12, Mp XVI, 49r. Dass MA I Vorrede 8 den Lesern v. a. Muße abverlangt, erörtert Krause 2021, 263. 22, 9 Es fehlt nicht an Gründen] Im Druckmanuskript D 11a, 18 steht: „Es giebt Gründe“, mit blauem Farbstift zur Korrektur unterstrichen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11a,17). 22, 12–19 Dies d e u t s c h e Buch, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewusst hat – es ist ungefähr zehn Jahr unterwegs – und sich auf irgend welche Musik und Flötenkunst verstehn muss, durch die auch spröde Ausländer-Ohren zum Horchen verführt werden, – gerade in Deutschland ist dies Buch am nachlässigsten gelesen, am schlechtesten g e h ö r t worden: woran liegt das?] Dass die Erstausgabe von MA I im Ausland weitherum gelesen worden wäre, lässt sich durch die rezeptionsgeschichtlichen Zeugnisse, die Reich 2013, 536–566 zusammenträgt, nicht erhärten. Die Suggestion einer breiten internationalen Wahrnehmung dient wohl eher dazu, die Deutschen zur Lektüre anzustacheln. 22, 25–28 Nach einer so artigen Antwort räth mir meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr weiter zu fragen; zumal man in gewissen Fällen, wie das Sprüchwort andeutet, nur dadurch Philosoph b l e i b t, dass man – schweigt.] „Si tacuisses, philosophus mansisses“ („Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben“) lautet ein lateinisches Sprichwort, das auf Boethius: De consolatione philosophiae II 7, 20–21 zurückgeht, wo ein falscher Philosoph fragt: „‚Iam tandem, inquit, intellegis me esse philosophum?‘ Tum ille nimium mordaciter: ‚Intellexeram, inquit, si tacuisses‘“ („‚Siehst du‘, sprach dieser, ‚endlich ein, dass ich ein Philosoph bin?‘
60
Menschliches, Allzumenschliches I
Darauf jener schneidend: ‚Ich hätte es eingesehen‘, sprach er, ‚wenn du geschwiegen hättest‘“). Vgl. auch NK KSA 6, 18, 4–9 („Si tacuisses, Cosima mansisses“) und Johann Schrader in der von N. gelesenen Anthologie Altdeutscher Witz und Verstand: „Reden kommt von Natur, Schweigen vom Verstande.“ (Altdeutscher Witz 1877, 124) Das Schlussgedicht von MA I, „Unter Freunden“, das ja ebenfalls erst der Neuausgabe von 1886 beigegeben wurde, beginnt mit dem Vers: „Schön ist’s, mit einander schweigen“ (365, 2) und nimmt damit den Schluss der Vorrede unmittelbar auf. Das Schweigen bildet eine Klammer, die den alten Text von MA I in der Titelauflage von 1886 einrahmt. 22, 29 N i z z a, im Frühling 1886.] Im Druckmanuskript D 11a, 19 ist „Nizza“ in lateinischer, nicht wie der Text sonst in deutscher Kurrentschrift geschrieben. Zur Hervorhebung unterstrichen ist der Ort aber nicht (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11a,19). N. war zum ersten Mal am 2. 12. 1883 in Nizza eingetroffen und blieb die Wintermonate dort. Auch vom 11. 11. 1885 bis zum 30. 04. 1886 machte er hier wieder Station (zu den Details Pfeiffer 1998).
Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen. Von den „ersten Dingen“ pflegt die erste Philosophie, die man Metaphysik nennt, zu handeln, während die „letzten Dinge“ traditionell der Eschatologie zugehören – der religiösen Lehre von dem, was dem Menschen und der Welt künftig bevorsteht. Mit dem Titel inszeniert das Erste Hauptstück nicht nur eine Spannung zwischen Philosophie und Theologie, sondern weckt bei den Lesenden auch metaphysische und eschatologische Erwartungen, die es dann enttäuscht und genüsslich widerlegt. So bietet es einen Durchgang durch die Schmerzlichkeiten des Daseins, seine Unerträglichkeit, läuft aber aus in eine Vision philosophischer Heiterkeit jenseits aller (Mit-)Leidensempfindung. Viele der hier versammelten Aphorismen wirken stark thetisch; es fehlt oft der sonst bei N. (später) begegnende Gestus der Zurücknahme, der Einklammerung, der Horizontöffnung durch Verrätselung und Umwegigkeit. Eine Art der kritischen Zusammenfassung des Ersten Hauptstücks liefert NL 1882/83, KSA 10, 6[1], 231–233, siehe Heller 1972b, 485–488 u. Brusotti 1997, 498 f. Zur Interpretation des Hauptstücks siehe neben Heller 1972b z. B. Glatzeder 2000 u. Meyer 2019, 90–98.
1. Der prominente Eröffnungsabsatz von MA I schlägt einen anderen Ton an, als es die Lesenden von GT und UB I–IV gewohnt gewesen sein dürften. Die Form der
Stellenkommentar MA I Vorrede 8–Erstes Hauptstück 1, KSA 2, S. 22–23
61
aussparenden, anspielungsreichen Zuspitzung, die für N.s sogenanntes ‚aphoristisches Werk‘ kennzeichnend ist, ist hier bereits vollständig entwickelt. MA I 1 setzt die „philosophischen Probleme“ (23, 6) als erstes Subjekt des in MA I insgesamt neu aufgestellten philosophischen Denkens: Diese Probleme nähmen heute wieder dieselbe Frageform an wie vor zwei Jahrtausenden, wie nämlich etwas aus seinem Gegensatz entstehen könne. Die bisher herrschende „metaphysische Philosophie“ (23, 12) habe demgegenüber ein solches Entstehen geleugnet und „für die höher gewertheten Dinge“ (23, 14 f.) eine wundersame Abkunft direkt aus dem „‚Ding[..] an sich‘“ (23, 16) behauptet. Nun – in der Gegenwart des Sprechers – tritt unter dem Namen der „historische[n] Philosophie“ (23, 17), pointiert der „metaphysischen“ entgegengesetzt, eine neue Art zu denken auf, die ihrerseits trotz der Eingangsexposition nicht zu den antiken – vor allem vorsokratischen – Problemlösungsstrategien zurückkehrt. Im Bunde mit der „Naturwissenschaft“ (23, 18) leugnet sie die Existenz echter Gegensätze, die anzunehmen sich bloß übertriebenen Vorurteilen verdanke. So gebe es weder ganz „unegoistisches Handeln“ noch „völlig interesseloses Anschauen“ (23, 25 f.); dies seien bloße „Sublimirungen“ (23, 26). Ein Gedankenstrich (24, 1) markiert eine Zäsur und gliedert MA I 1 in zwei Teile. Nun ergreift erstmals ein ‚Wir‘ das Wort, das sich nicht direkt zur davor genannten „historischen Philosophie“ bekennt, sondern vielmehr das Bedürfnis einer „C h e m i e der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen“ (24, 4 f.) artikuliert. Deren Aufgabe ist nicht die Synthese, sondern die Analyse, nämlich die „niedrigen, ja verachteten Stoffe[.]“ (24, 9) aufzuspüren, aus denen das vermeintlich Erhabene jener „Vorstellungen und Empfindungen“ zusammengesetzt sein könnte. MA I 1 klingt dann skeptisch aus mit der Frage, ob denn wohl „Viele“ (24, 10) bereit seien, dem ‚Wir‘ auf diesem Weg zu folgen, wo doch „[d]ie Menschheit“ (24, 11) bestrebt sei, nicht nach „Herkunft und Anfänge[n]“ (24, 11 f.) zu fragen. Allerdings liegt es auf der Hand, dass MA I 1 für das gesamte Werk eine programmatische Vorgabe formuliert, nämlich kritisch eine solche Auflösung des vermeintlich unbedingt Geltenden, all des für wahr, gut, schön und heilig Gehaltenen in seine Einzelteile zu betreiben. Einen synthetischen Ausblick, die Einzelteile wieder zu einem neuen Wahren, Guten und Schönen zusammenzufügen, versagt sich das ‚Wir‘ hingegen. In der Mappe Mp XIV 1, 129 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,129) befindet sich eine ‚Reinschrift‘ von MA I 1. Im Notizbuch N II 2, 143 heißt es: „Uns fehlt bis jetzt die Chemie der moralischen aesthetischen religiösen Welt. Auch hier werden die kostbarsten Dinge aus niedrigen verachteten Dingen gemacht. – Wie kann Vernünftiges aus Vernunftlosem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern entstehen – das Problem der Entstehung aus Gegensätzen. Genau: es ist kein Gegensatz, sondern nur ein Sublimiren (etwas gew〈öhnlich〉 subtra-
62
Menschliches, Allzumenschliches I
hirt)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,143). In dieser Aufzeichnung sind die Überlegungen aus dem zweiten und aus dem ersten Teil von MA I 1 noch in eins gefügt (vgl. dazu Heller 1972b, 24). KGW IV 4, 164 f. teilt überdies zu MA I 1 folgende „Umarbeitung vom Januar 1888“, ohne freilich den genauen Fundort zu verraten: „Chemie der Begriffe und Werthgefühle. – Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Selbstsucht, Wahrheit aus Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie einfach die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen eigenen Ursprung annahm, unmittelbar aus dem An-sich der Dinge heraus. Eine umgekehrte Philosophie dagegen, die allerjüngste und radikalste, die es bisher gegeben hat, die eine eigentliche Philosophie des Werdens, welche an ein ‚An-sich‘ überhaupt nicht glaubt und folglich ebensowohl dem Begriffe ‚Sein‘ als dem Begriffe ‚Erscheinung‘ das Bürgerrecht verweigert: eine solche antimetaphysische Philosophie hat mir in einzelnen Fällen wahrscheinlich gemacht (– und vermuthlich wird dies in allen ihr Ergebniß sein), daß jene Fragestellung falsch ist, daß es jene Gegensätze gar nicht giebt, von denen die bisherige Philosophie, verführt durch die Volks-Metaphysik der Sprache an welche die bisherige Philosophie geglaubt hat, verführt durch die Sprache und die in ihr gebietende Nützlichkeit gröber Fälschungen der Vergröberungen und Vereinfachungen, kurz, daß man vorerst eine Chemie der Grundbegriffe nöthig hat, diese als geworden und noch werdend vorausgesetzt. Um mit solchen groben und bäurischen Begriffen, wie ‚unegoistische Handlung‘, wie ‚interesselose Anschauung‘, wie ‚reine Vernunft‘ wie] und viereckigen Gegenüberstellungen wie ‚egoistisch‘ und ‚unegoistisch‘, Begierde und Geistigkeit, ‚lebendig‘ und ‚todt‘, ‚Wahrheit‘ und ‚Irrthum‘, ein für alle Mal fertig zu werden, bedarf es einer mikroskopischen Psychologie ebensosehr als einer Geübtheit in aller Art historischer Perspektiven-Optik, wie eine solche bisher noch nicht da war und nicht einmal erlaubt war. Philosophie, so wie ich sie will und verstehe, hatte bisher das Gewissen gegen sich: die moralischen, religiösen und ästhetischen Imperative sagten Nein zu einer Methodik der Forschung, welche hier verlangt wird. Man muss sich vorerst von diesen Imperativen gelöst haben: man muss, wider sein Gewissen, sein Gewissen selbst secirt haben… Die Historie der Begriffe und der BegriffsVerwandlung unter der Tyrannei der Werthgefühle – versteht ihr das? Wer hat Lust und Muth genug, solchen Untersuchungen zu folgen? Es gehört vielleicht zur Jetzt, wo es vielleicht zur Höhe der erreichten Vermenschlichung selbst gehört, daß der Mensch einen Widerstand fühlt gegen die Geschichte seiner Anfänge daß
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 1, KSA 2, S. 23
63
er kein Auge haben will gegen alle Art pudenda origo: muß man nicht beinahe unmenschlich sein, um gerade in der umgekehrten Richtung Augen haben sehen, suchen, entdecken zu wollen? –“ Diese Version scheint zu der „völligen Umarbeitung der Aphorismen 1–3 von MA aus dem Januar 1888“ zu gehören, „die uns auf losen Blättern überliefert ist“ und zu den „Änderungen in He2“ (KSA 14, 116), also dem Handexemplar HAAB: C 4412[1], in Zusammenhang steht. In der Neufassung wird nicht nur die „historische Philosophie“ durch eine „umgekehrte“ und explizit „antimetaphysische“ ersetzt. Nun tritt ein ‚Ich‘ in Erscheinung, das eine „Philosophie des Werdens“ sich zu eigen macht, in die wiederum wesentliche Motive aus N.s Spätwerk einfließen (vgl. zu dieser MA I 1-Umarbeitung Montinaris Brief an Delio Cantimori vom 19. 08. 1963 in Campioni 2007, 67) – zunächst die Sprachkritik, die das metaphysische Reden als Verführung durch sprachliche Konventionen entlarvt (vgl. z. B. NK KSA 6, 78, 11–13), sodann die „Psychologie“ und die „Perspektiven-Optik“, schließlich das „Gewissen“, das sich gegen sich selbst wendet. Die Version liest sich mit ihrer kaskadischen Reihung rhetorischer Fragen kämpferischer als MA I 1, als ob sie die moralgenealogische Analyse schon auf eine Umwertung aller Werte hin zurüsten wolle. MA I 1 wird für die Projekte von 1888 in Dienst genommen (die Wendung „pudenda origo“, „schämenswerter Ursprung“, taucht in M 42 und M 102 auf, siehe NK 3/1, S. 182). In einem NachlassNotat ebenfalls von 1888 wird herausgestellt, dass es in der „Chemie“ „nichts Unveränderliches“ gebe (KGW IX 8, W II 5, 20, 44; vgl. NK KSA 6, 161, 3 f.). Das macht sie geschichtsanalog. MA I 1 ließe sich auch als Selbstexplikation von N.s eigenem Denkweg deuten. Das frühere Werk – GT insbesondere –, von dem sich MA I so deutlich abgrenzt, wäre dann ebenso wie die gesamte philosophische Tradition nicht das Gegenteil, sondern die Vorform des jetzt in MA I Präsentierten, trotz des von N. in seinen Selbstdarstellungen wiederholt bemühten Topos des Neuanfangs. Heller 1972b, 4– 25 sieht in MA I 1 spätere Tendenzen von N.s Philosophie wie „Perspektivismus“ und „Umwertung“ in seiner sehr breit aufgestellten Interpretation bereits grundgelegt; JGB 2 hält Heller 1972b, 4, Fn. 1 für eine „radikalere Verarbeitung“ von MA I 1. Heller 1972a, 214 findet MA I 1 von einer „Struktur antithetischer Umkehr“ bestimmt, wobei es, wie man einwenden wird, nach MA I 1 ja keine absoluten Gegensätze mehr gibt, keine Dinge, die einander prinzipiell entgegenstehen, wenn sie aus dem Gegenteil entstehen können. Die Struktur der Argumentation ist in MA I 1 zwar antithetisch – bislang Metaphysik, jetzt Naturwissenschaft –, aber gezeigt werden soll, dass die Wirklichkeit, in der wir uns bewegen, es gerade nicht ist. Zu MA I 1 auch Claesges 1999, 84–86, Mendonça 2012, 4–6, Emden 2014a, 69, Denat 2022, 86 u. ö., zur möglichen Selbstüberwindung „historischer Philosophie“ aus MA I 1 in M Enrico Müller 2022a, 156. 23, 5 C h e m i e d e r B e g r i f f e u n d E m p f i n d u n g e n.] Die Titelzeile von MA I 1 stellt eine Verbindung heraus, die erst der zweite Teil des Textes in 24, 1–10 the-
64
Menschliches, Allzumenschliches I
matisiert, nämlich das Geboten-Sein einer „C h e m i e der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen“ (24, 4 f.), wobei „C h e m i e“ hier synonym ist für ein analytisches, ein zergliederndes, zersetzendes Verfahren, das den Untersuchungsgegenstand in seine Einzelteile zerlegt. Dabei ist N. die wissenschaftliche Disziplin beileibe nicht fremd; in seinem Brief an Erwin Rohde vom 16. 01. 1869 berichtet er von dem durch die Basler Berufung vereitelten Plan, ihn zu einem gemeinsamen Chemiestudium überreden zu wollen (KSB 2/KGB I 2, Nr. 608, S. 359 f., Z. 65–69). In seiner Bibliothek haben sich auch einschlägige Werke erhalten (zu N.s naturwissenschaftlichen Lektüren im Überblick Brobjer 2004), darunter das 1875 erschienene, zweibändige Buch der Natur, die Lehren der Physik, Astronomie, Chemie, Mineralogie, Geologie, Botanik, Zoologie und Physiologie umfassend von Friedrich Schoedler (die Lesespuren N.s finden sich nicht im der Chemie gewidmeten Teil: Schoedler 1875, 1, 311–514), aber auch chemische Lehrbücher im engeren Sinn, so Josiah Parson Cookes Die Chemie der Gegenwart, ebenfalls von 1875, und Henry Enfield Roscoes Chemie von 1878. Bei Schoedler gilt Chemie als „die Wissenschaft derjenigen Erscheinungen, bei welchen eine w e s e n t l i c h e Ve r ä n d e r u n g der Gegenstände stattfindet, an denen die Erscheinungen wahrgenommen werden, oder die zur Hervorbringung derselben dienen“ (Schoedler 1875, 1, 312). Während Roscoe auf eine allgemeine Eingangsdefinition verzichtet und gleich zu Experimenten anleitet, hat es die Chemie für Cooke „einzig und allein mit den Beziehungen verschiedener Substanzen zueinander zu thun“ (Cooke 1875, 6): „Die Materie besteht aus getrennten Theilchen“ (ebd., 7). Heller 1972b, 4 will in MA I 1 „Chemie […] im Wortsinn als Lehre von den Verwandlungen“ verstanden wissen. Zu N. und Chemie vgl. auch NWB 1, 469– 483 mit differenzierten Belegen, ferner Mittasch 1944 und Large 2004a, zu einer chemiehistorischen Lektüre N.s Campioni 2008a. Dass N. die „Chemie“ das erste Wort jenes Werkes sein lässt, mit dem er eine neue Phase seines Philosophierens initiiert, lässt sich auch als Reverenz gegenüber Paul Rée lesen: „Es war eben ein typisches Merkmal der Persönlichkeit Paul Rées, alle Fakten des Lebens und des Universums aus den chemischen Verbindungen der Atome zu erklären.“ (D’Iorio 2020, 74) Als Beleg führt D’Iorio eine Stelle aus den Erinnerungen von Malwida von Meysenbug an die gemeinsame Zeit in Sorrent an, wo „wir mit Dr. Rée, einem entschiedenen Positivisten, fortwährend Diskussionen über die philosophischen Probleme hatten, so dass das Wort: chemische Combination zuletzt sogar ein Scherzwort zwischen uns wurde.“ (Meysenbug 1903, 86) Allerdings ist nicht zu übersehen, dass der Chemie-Rekurs in MA I 1 auch die exakte Kontrafaktur zu einem Passus in UB III SE 3 darstellt. Dort wurde Schopenhauer für „seine Grösse“ gerühmt, „dass er dem Bilde des Lebens als einem Ganzen sich gegenüberstellte, um es als Ganzes zu deuten; während die scharfsinnigsten Köpfe nicht von dem Irrthum zu befreien sind, dass man dieser
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 1, KSA 2, S. 23
65
Deutung näher komme, wenn man die Farben, womit, den Stoff, worauf dieses Bild gemalt ist, peinlich untersuche; vielleicht mit dem Ergebniss, es sei eine ganz intrikat gesponnene Leinewand und Farben darauf, die chemisch unergründlich seien.“ (KSA 1, 356, 17–24) Das in MA I 1 initiierte, für ganz MA wegweisende neue philosophische Programm (vgl. Villamil Lozano 2021, 192–194, Gasser 1997, 407 u. Heller 1972a) stemmt sich diesem Anspruch auf die divinatorisch-metaphysische Erkenntnis des großen Ganzen gerade entgegen; jetzt wird explizit die Losung ausgegeben, sich beharrlich an die Analyse der „herrlichsten Farben“ (24, 9) zu halten, die womöglich aus ganz minderwertigem Material zusammengesetzt sind. Das „chemisch unergründlich“ aus UB III SE 3 lässt MA I 1 nicht gelten (übrigens hat sich bereits in UB III SE 6, KSA 1, 399, 18–28 eine Blickverschiebung angekündigt). Wenn MA I 1 eine chemische Analyse von Empfindungen und Vorstellungen auf dem Gebiet der Moral, der Religion und der Ästhetik in Aussicht stellt, soll damit die Suggestion zerstört werden, es handle sich bei diesen Empfindungen und Vorstellungen um elementare Erscheinungen, die den Menschen in unmittelbarer Wucht erfassen und weiterer Zergliederung nicht zugänglich sind. Chemie als Analysekunst ist hier nicht bloß eine Metapher, sondern eine Methode, die sich mit der Historie elegant verbinden lässt: Beide haben es damit zu tun, das scheinbar felsenfest Gefügte aufzubrechen – die Chemie in die einzelnen Bestandteile, die Historie in die Faktoren des Herkommens und Gewordenseins. Freilich ist die in MA I 1 suggerierte, elegante Liaison der Historie und der Chemie vor allem eine rhetorische Suggestion, wird doch nirgends erläutert, wie sich beides in der konkreten Arbeit unter einen Hut bringen ließe. MA I 1 stellt mit den zwei natur- und geisteswissenschaftlichen Kardinaldisziplinen jedenfalls die Wissenschaftsaffinität des nun neu in Aussicht genommenen Philosophierens sehr entschieden in den Vordergrund und erneuert zugleich bei aller Kritik an „metaphysische[r] Philosophie“ (23, 12) den hegemonialen Anspruch der Philosophie, sich der Einzeldisziplinen zu ihren allerdings nicht weiter erläuterten Zwecken nach Gutdünken bedienen zu dürfen. Die Schlussfolgerung von Wiebrecht Ries und Karl-Friedrich Kiesow, die Chemie-„Metapher“ in MA I 1 zeige N. „als einen Denker, der den Kritizismus unter dem Einfluß F. A. Langes (Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart [1866]) materialistisch, ja sogar sensualistisch zu unterlaufen, dadurch aber auch neu zu begründen versucht“ (NH, 94 f.), geht an der Problemstellung von MA I 1 vorbei, der es auf keine neuen „-ismen“ abgesehen hat. 23, 6–12 Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem
66
Menschliches, Allzumenschliches I
Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern?] Wo genau vor 2000 Jahren eine solche „Frage“ formuliert worden ist, verrät der Text freilich nicht. Genau betrachtet wird in MA I 1 auch nicht behauptet, dass die Frage wiederkehre, sondern nur die „Form der Frage“. Man wird geneigt sein, bei der Frage nach der Entstehung der Dinge allgemein an die vorsokratische Philosophie zu denken, mit der sich N. insbesondere in seiner Basler Professorenzeit intensiv auseinandergesetzt hat, und hinzufügen, dass insbesondere Heraklit als Philosoph des Werdens und der Gegensätze hier von N. gemeint sei (vgl. z. B. Heller 1972b, 7 u. 18–21, Meyer 2004b, 210 f., Glatzeder 2000, 33–35 u. Rayman 2023, 64). Wenn Heraklit alles aus dem Feuer entstehen lässt, wie N. in PHG 6 ausführt, „so kann, bei allen Möglichkeiten seiner Umwandlung, es doch nichts geben, was sein absoluter Gegensatz wäre; er wird also das, was man das Kalte nennt, nur als Grad des Warmen gedeutet haben“ (KSA 1, 829, 12–15). In PHG ist aber der GegensatzDenker par excellence Heraklits Antipode Parmenides, der auch von Anaximander ausgegangen sei, um aber zu ganz anderen Schlüssen zu gelangen: „Seine Methode hierbei war folgende: er nahm ein paar Gegensätze, zum Beispiel leicht und schwer, dünn und dicht, thätig und leidend und hielt sie an jenen vorbildlichen Gegensatz von Licht und Dunkel: was dem Lichten entsprach, war die positive, was dem Dunklen die negative Eigenschaft. […] Ebenso bezeichnete er die Erde, im Gegensatz zum Feuer, das Kalte im Gegensatz zum Warmen, das Dichte im Gegensatz zum Dünnen, das Weibliche im Gegensatz zum Männlichen, das Leidende im Gegensatz zum Thätigen, nur als Negationen: so daß vor seinem Blicke sich unsre empirische Welt in zwei getrennte Sphären schied“ (PHG 9, KSA 1, 837, 29–838, 14), nämlich in die des Seienden und des Nichtseienden. Aus ihrem Wechselspiel erkläre Parmenides das Werden. Nun stellt zwar Aristoteles im 1. Buch seiner Metaphysik die vorsokratische Philosophie insgesamt so dar, als sei sie nur mit der Suche nach einer ἀρχή, einem ersten Prinzip, aus dem alles hervorgegangen ist, beschäftigt gewesen (Metaphysik I 3–5, 983a23–987a28); der eigentliche locus classicus für die antike Auffassung des Werdens aus den Gegensätzen findet sich jedoch in Platons Phaidon, der in der in N.s Bibliothek überlieferten deutschen Übersetzung von Ludwig Georgi lautet: „Betrachte denn“, antwortet Sokrates auf Kebes, „ob nicht alles auf folgende Art entstehe, – nämlich nicht anderswoher als aus dem Entgegengesetzten das Entgegengesetzte, was eben in einem Verhältniß dieser Art steht, wie z. B. das Schöner sicher dem Häßlichen entgegengesetzt ist, und Gerechtes Ungerechtem, und dieses sich ja bei tausend anderen Dingen so verhält. Dieses also wollen wir erwägen, ob wirklich Das, was irgend in einem Verhältnisse der Entgegensetzung steht, nothwendigerweise nirgend anderswoher werde, als aus dem ihm Entgegengesetzten? Zum Beispiel, wenn Etwas größer wird, ist es doch wohl eine Nothwendigkeit, daß es aus einem zuvor Kleineren nachher ein Größeres werde?“
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 1, KSA 2, S. 23
67
(Platon 1853–1874, I/4, 447) Das wird dann noch am Schwächeren und Stärkeren, am Schlechteren und Besseren sowie am Ungerechterem und Gerechterem nachgewiesen. „Zur Genüge nun, sagte er, hat sich uns hieraus ergeben, da alle Dinge auf diese Art werden, nämlich aus entgegengesetzten die entgegengesetzten“ (ebd., 448; Phaidon 70d–71a: „μὴ τοίνυν κατ᾽ ἀνθρώπων, ἦ δ᾽ ὅς, σκόπει μόνον τοῦτο, εἰ βούλει ῥᾷον μαθεῖν, ἀλλὰ καὶ κατὰ ζῴων πάντων καὶ φυτῶν, καὶ συλλήβδην ὅσαπερ ἔχει γένεσιν περὶ πάντων ἴδωμεν ἆρ᾽ οὑτωσὶ γίγνεται πάντα, οὐκ ἄλλοθεν ἢ ἐκ τῶν ἐναντίων τὰ ἐναντία, ὅσοις τυγχάνει ὂν τοιοῦτόν τι, οἷον τὸ καλὸν τῷ αἰσχρῷ ἐναντίον που καὶ δίκαιον ἀδίκῳ, καὶ ἄλλα δὴ μυρία οὕτως ἔχει. τοῦτο οὖν σκεψώμεθα, ἆρα ἀναγκαῖον ὅσοις ἔστι τι ἐναντίον, μηδαμόθεν ἄλλοθεν αὐτὸ γίγνεσθαι ἢ ἐκ τοῦ αὐτῷ ἐναντίου. οἷον ὅταν μεῖζόν τι γίγνηται, ἀνάγκη που ἐξ ἐλάττονος ὄντος πρότερον ἔπειτα μεῖζον γίγνεσθαι; ναί. οὐκοῦν κἂν ἔλαττον γίγνηται, ἐκ μείζονος ὄντος πρότερον ὕστερον ἔλαττον γενήσεται; ἔστιν οὕτω, ἔφη. καὶ μὴν ἐξ ἰσχυροτέρου γε τὸ ἀσθενέστερον καὶ ἐκ βραδυτέρου τὸ θᾶττον; πάνυ γε. τί δέ; ἄν τι χεῖρον γίγνηται, οὐκ ἐξ ἀμείνονος, καὶ ἂν δικαιότερον, ἐξ ἀδικωτέρου; πῶς γὰρ οὔ; ἱκανῶς οὖν, ἔφη, ἔχομεν τοῦτο, ὅτι πάντα οὕτω γίγνεται, ἐξ ἐναντίων τὰ ἐναντία πράγματα“). Von den Gegensätzen, die MA I 1 anführt, wird zumindest einer im Phaidon für den Nachweis der Seelenunsterblichkeit gebraucht: „Aus dem Todten also, o Kebes, entsteht das Lebende und die Lebenden“ (Platon 1853–1874, I/4, 449; Phaidon 71d: „ἐκ τῶν τεθνεώτων ἄρα, ὦ Κέβης, τὰ ζῶντά τε καὶ οἱ ζῶντες γίγνονται“). Die anderen genannten Entstehungsgegensätze „Vernünftiges aus Vernunftlosem“, „Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern“ haben demgegenüber einen ausgesprochen modernen Klang und dürften am prominenten Buchanfang von den meisten Vertretern des damaligen akademisch-philosophischen Establishments als Provokation empfunden worden sein. Denn kein Kantianer und auch kaum ein Hegelianer hätte zugestanden, dass Vernünftiges aus Vernunftlosem entstanden sei – allenfalls ein Anhänger der darwinistischen Evolutionstheorie würde sich dazu bereitgefunden haben. Kein Vertreter einer altruistischen Ethik – egal, ob deontologisch-kantianisch oder willensasketisch-schopenhauerianisch inspiriert – hätte deren Herkunft aus dem Egoismus zugestanden. Kein kantianisierender Ästhetiker, dem die Interesselosigkeit des Schönheitsurteils im Geiste der Kritik der Urteilskraft heilig war, hätte sie von Begehren und HabenWollen beschmutzt sehen wollen. Nur dem Gedanken, dass Wahrheit aus Irrtümern entstanden sein könnte, hätten die Vertreter des akademisch-philosophischen Establishments vielleicht etwas abgewinnen können: Aus dem Erkennen des Irrtums entstehe die Einsicht in die Wahrheit. Dass hingegen die Logik aus der Unlogik entstanden sei – was FW 111 erneut ausführlich zur Sprache bringen wird (vgl. NK KSA 3, 471, 21–23) – hätte kaum die Billigung jener Logiker gefun-
68
Menschliches, Allzumenschliches I
den, die Logik als „Wissenschaft von den Gesetzen u. Formen des richtigen Denkens“ (Pierer 1875–1879, 12, 307) verstanden. Allerdings behauptet der Beginn von MA I 1 auch all das gar nicht explizit, was die Fragen suggerieren, dass also beispielsweise Logik aus Unlogik oder Altruismus aus Egoismus entstanden sei, sondern stellt sie nur als Anknüpfung an uralte Fragen in den Raum. Der Effekt dieses Verzichts auf propositionale Festlegungen ist zunächst eine Verunsicherung. Was will der Sprecher überhaupt? Neutral beschreiben, dass sich die Philosophie heute wieder auf alte Fragen bezieht? Fordern, dass sie es tun solle? Und wenn sie es tut, welche Antworten soll sie dann geben, neue oder alte? Zu 23, 6–12 siehe auch Jaspers 2020, 342 f. 23, 11 Egoismus] Im Handexemplar C 4412[1] (Nietzsche 1886a, 3) von N. mit Bleistift korrigiert in: „Selbstsucht“. 23, 12–16 Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des „Dinges an sich“ heraus.] In GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 1 wird die Verweigerung „der“ Philosophie, ihre Gegenstände zu historisieren, polemisch angegangen und als „Ägypticismus“ gebrandmarkt, siehe NK KSA 6, 74, 4 f. In MA I 1 wird die Philosophie, die eine Herkunft des Einen aus dem Anderen leugnet – nicht bloß, dass etwas aus seinem Gegensatz entstanden sei! – als „metaphysisch“ bestimmt, wobei als zusätzliche Bedingung angeführt wird, dass diese metaphysische Philosophie einem „Ding an sich“ die Fähigkeit zuschreibt, die als höherwertig geltenden Dinge hervorzubringen. Bei Kant, auf den die Begrifflichkeit vom „Ding an sich“ zurückgeht, hat dessen Verhältnis zur „Erscheinung“ freilich nicht den Charakter einer Hervorbringung: „Spekulative[.] Erkenntnis der Vernunft“ sei auf „Gegenstände der Erfahrung“, auf Erscheinungen beschränkt, jedoch müsse man annehmen, „daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Ding an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft B XXVI f.). Als „ein Etwas = x, wovon wir gar nichts wissen, noch überhaupt (nach der jetzigen Einrichtung unseres Verstandes) wissen können“ (ebd., A 250), könnte es für den strengen Kantianer als „Wunder-Ursprung“ der sinnlichen Dinge nicht in Betracht kommen, denn wäre es Ursprung, wüssten wir von x etwas sehr Wesentliches (wundersam indes mutet dieses x für den NichtTranszendentalphilosophen schon an). In der produktiven Aneignung Kants gewann das „Ding an sich“ weitreichende Lizenzen, die es an die Spitze einer Herkunftskette zu setzen erlaubten, etwa bei Arthur Schopenhauer, der Julius Frauenstädt in einem Brief vom 06. 08. 1852 (abgedruckt in der Einleitung zu der von N.
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 1, KSA 2, S. 23
69
benutzten Ausgabe) mitteilte: „Der Wille ist Ding an sich bloß in Bezug auf die Erscheinung; er ist das was diese ist, unabhängig von unserer Wahrnehmung und Vorstellung; das eben heißt an sich; daher ist er das Erscheinende in jeder Erscheinung; der Kern jedes Wesens. Als solches ist der Wille, Wille zum Leben.“ (Schopenhauer 1873–1874, 1/1, LXXX; zum Ding an sich bei N. vgl. NK KSA 5, 16, 12 f., NK KSA 5, 29, 24–28, KSA 5, 280, 4 und NK KSA 6, 130, 1–3 sowie Riccardi 2009 u. 2010.) Heller 1972a, 213 identifiziert Schopenhauers Lehre als Hauptgegenstand von N.s Polemik in MA I 1, „wie überhaupt das Erste Hauptstück der Auseinandersetzung mit Schopenhauers Metaphysik dient“, zumal Schopenhauer historisches Philosophieren strikt ablehnte, denn für ihn ist das Ding an sich, eben der Wille, bei allem oberflächlich-erscheinungshaften Wandel des Weltgeschehens das beständige, von aller Geschichtlichkeit unberührbare Wesen der Welt. Wenn MA I 1 demgegenüber vom „Wunder-Ursprung“ spricht, wird diese Art der Metaphysik als parareligiös, als theologisch diskreditiert. Dass die „metaphysische Philosophie“ seit Parmenides und Platon unentwegt elaborierte Versuche unternommen hat, ihre Prinzipien zu begründen, wird in MA I 1 mit keinem Wort gewürdigt. Anfang August 1877 bedankte sich N. bei seinem alten Schulfreund Paul Deussen für die Zusendung eines Buches, das besonders geeignet sei für solche Leser, die Schopenhauer kennenlernen wollten. „Ich, ganz persönlich, beklage e i n s sehr: dass ich nicht eine Reihe Jahre f r ü h e r ein solches Buch, wie das Deine, empfangen habe! Um wie viel d a n k b a r e r wäre ich Dir da gewesen! So aber, wie nun die menschl〈ichen〉 Gedanken ihren Gang gehen, dient mir seltsamerweise Dein Buch als eine glückliche A n s a m m l u n g a l l e s d e s s e n , w a s i c h n i c h t m e h r f ü r w a h r halte. Das ist traurig! […] Schon als ich meine kleine Schrift über Sch〈openhauer〉 schrieb, hielt ich von allen dogmatischen Puncten fast nichts mehr fest; glaube aber jetzt noch wie damals, dass es einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hindurch zu gehen und ihn als Erzieher zu benutzen. Nur glaube ich n i c h t m e h r, dass er z u r Schopenhauerschen Philosophie e r z i e h e n s o l l.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 642, S. 264, Z. 25–S. 265, Z. 39) Das fragliche Buch sind Deussens Die Elemente der Metaphysik. Darin wird, wie in MA I 1, die „Metaphysik“ seit den alten Indern und den alten Griechen als eine Einheit betrachtet: „Die Natur der Dinge, wie sie, unermesslich um uns her, unergründlich in unserm eigenen Innern, vor dem forschenden Blick sich ausbreitet, ist eine und mit sich einstimmig. Darum kann auch die Wahrheit, als die Abspiegelung des Seienden in der menschlichen Vernunft, für Alle nur eine sein […]. Gelingt es daher nur erst, den Standpunkt zu gewinnen, von welchem aus die Natur des Seienden sich ganz und ohne Rest in Verständniss auflöst, so ist zu erwarten, dass von ihm aus gesehen auch alle Offenbarungen der Vergangenheit sich innerlich zusammenschliessen und versöhnen werden. / Diesen Standpunkt der Versöhnung aller Gegensätze hat, wie wir glauben, die Menschheit der
70
Menschliches, Allzumenschliches I
Hauptsache nach erreicht in dem von Kant begründeten, von Schopenhauer zu Ende gedachten Idealismus: sofern, derselbe sich bewährt durch die dreifache Uebereinstimmung, die wir, je tiefer wir uns in ihn einleben, um so mehr an ihm gewahren, Uebereinstimmung mit sich selbst, Uebereinstimmung mit der Natur, Uebereinstimmung mit den Gedanken der Weisesten aller Zeiten“ (Deussen 1877, III). Entsprechend scheut sich Deussen nicht, „auf dem Wege des sichersten Beweises, zu einer Weltanschauung fortzugehen, in welcher alle wesentlichen Heilswahrheiten der Religion aus der Analysis der Erfahrung selbst gewonnen werden, und die man daher mit der Zeit als das, was sie ist: als ein regenerirtes, geläutertes und auf unanfechtbarer wissenschaftlicher Grundlage aufgebautes Christenthum anerkennen wird“ (ebd., IV). Die „m e t a p h y s i s c h e B e t r a c h t u n g s w e i s e“ halte Erfahrungswissen für „Nichts weiter“ als für „eine Reihe von Vorstellungen in unserm Kopfe. Demgemäss war von je her ihre Grundfrage, was die Dinge an sich ([…]), d. h. abgesehen von der Form, die sie in unserer Erkenntniss annehmen, sein mögen? Um es zu ermitteln, analysirt sie fürs Erste die unsern Intellekt füllende Erfahrung und entscheidet, welcher Theil von ihr a p r i o r i, d. h. vor aller äussern und innern Wahrnehmung, uns einwohnt und somit zu den angebornen Funktionen unseres Intellektes selber gehört, und welchen Theil von ihr wir erst a p o s t e r i o r i, d. h. vermittelst der äussern und innern Wahrnehmung, uns aneignen und demnach als zum Wesen der Dinge an sich gehörend zu betrachten haben. Die auf diesem Wege gewonnenen Aufschlüsse nebst ihrer Anwendung auf die Natur, die Kunst und das Handeln der Menschen bilden zusammen ein System der Metaphysik, welches dem System der Physik ergänzend zur Seite tritt und die letzten uns erreichbaren Aufschlüsse über die Natur unser selbst und der Welt enthält.“ (Ebd., 4) Dabei ist Deussen weit davon entfernt, dieses für epochen- und kulturenüberschreitend gehaltene „System der Metaphysik“ seinerseits zu historisieren, sondern versucht vielmehr seine unbedingte Wahrheit zu erweisen. Wie Deussen stellt auch MA I 1 die Metaphysik als kompakte Einheit dar, die die Dinge an sich zu ergründen behauptet und von der Nicht-Realität der Gegensätze überzeugt ist („Für uns freilich sind Einheit und Vielheit Gegensätze; für das Ding an sich kommen beide, und mithin auch ihre Gegensätzlichkeit, in Wegfall“ – Deussen 1877, 84; vgl. ebd., 140). Allerdings unterliegen die Anhänger einer solchen metaphysischen „Weltanschauung“ (ebd., IV) aus der von MA I 1 vorgeschlagenen Sicht einer radikalen Selbsttäuschung. Während Deussen die „Physik“ – worunter die ganzen empirischen Naturwissenschaften gefasst werden – als eine von der „Metaphysik“ prinzipiell unterschiedene Sphäre behandelt, ruft N. sie in MA I 1 zu Hilfe, um mit einer neuen „historischen Philosophie“ der Metaphysik die Grundlage zu entziehen. N. zögert übrigens nicht, Deussen 1877 andernorts in MA I zu plagiieren, vgl. NK 76, 13–16. 23, 13–17 die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 1, KSA 2, S. 23
71
und Wesen des „Dinges an sich“ heraus. Die historische Philosophie] Im Handexemplar C 4412[1] (Nietzsche 1886a, 3) von N. mit Bleistift korrigiert in: „einfach die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen eigenen Ursprung annahm, unmittelbar aus dem An-sich der Dinge heraus. Die Philosophie des Werdens“. 23, 16–23 Die historische Philosophie dagegen, welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die allerjüngste aller philosophischen Methoden, ermittelte in einzelnen Fällen (und vermuthlich wird diess in allen ihr Ergebniss sein), dass es keine Gegensätze sind, ausser in der gewohnten Übertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung und dass ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegt] Die Fügung „historische Philosophie“ kommt bei N. nur an dieser Stelle vor – immerhin kehrt sie verbalsubstantiviert als „h i s t o r i s c h e [ s ] P h i l o s o p h i r e n“ (25, 13 f.) in MA I 2 wieder; auch die in NK ÜK MA I 1 mitgeteilte Überarbeitung von Anfang 1888 ersetzt das „historisch“ vor „Philosophie“ durch „umgekehrt“ und „antimetaphysisch“. In 23, 16–23 gilt diese „historische Philosophie“ zwar als „allerjüngste“ Methode, aber nicht als eine, die N. erst erfunden und hier neu eingeführt zu haben beansprucht. Denn ausdrücklich habe diese in Einzelfällen schon nachgewiesen, dass es keine Gegensätze gebe – ein Nachweis, den N. bis dahin selbst geleistet zu haben noch nicht beanspruchen konnte. Die Wendung „historische Philosophie“ ist im 19. Jahrhundert durchaus geläufig, allerdings für unterschiedliche Dinge: zunächst für eine Philosophie, die in frühere Epochen gehört und dadurch selbst historisch geworden ist, sodann für die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie sowie für Erscheinungsformen der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie von Iselin und Herder bis Hegel und Schelling (dazu allgemein Sommer 2006b), schließlich für ein allgemeines Nachdenken über Geschichte und Geschichtliches. Diesen letzten Sinn intendiert beispielsweise Walter Bagehot in seinem N. wohlbekannten Buch Der Ursprung der Nationen (vgl. Salanskis 2022), wenn er über die „historische Philosophie“ bei Shelley spricht (Bagehot 1874, 181). Die eigentliche Kontrastfolie, an der sich der Gebrauch der Wendungen „historische Philosophie“ und „historisches Philosophiren“ in den ersten beiden Abschnitten von MA I abarbeitet, ist aber eine berühmte Stelle in Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung, in der beide in denunziatorischer Absicht angeführt werden: „wir sind der Meinung, daß Jeder noch himmelweit von einer philosophischen Erkenntniß der Welt entfernt ist, der vermeint, das Wesen derselben irgendwie, und sei es noch so fein bemäntelt, h i s t o r i s c h fassen zu können: welches aber der Fall ist, sobald in seiner Ansicht des Wesens an sich der Welt irgend ein W e r d e n, oder Gewordenseyn, oder Werdenwerden sich vorfindet, irgend ein Früher oder Später die mindeste Bedeutung hat und folglich, deutlich oder versteckt, ein Anfangs- und ein Endpunkt der Welt, nebst dem Wege
72
Menschliches, Allzumenschliches I
zwischen beiden gesucht und gefunden wird und das philosophirende Individuum wohl noch gar seine eigene Stelle auf diesem Wege erkennt. Solches h i s t o r i s c h e s P h i l o s o p h i r e n liefert in den meisten Fällen eine Kosmogonie, die viele Varietäten zuläßt, sonst aber auch ein Emanationssystem, Abfallslehre, oder endlich, wenn, aus Verzweiflung über fruchtlose Versuche auf jenen Wegen, auf den letzten Weg getrieben, umgekehrt eine Lehre vom steten Werden, Entsprießen, Entstehen, Hervortreten ans Licht aus dem Dunkeln, dem finstern Grund, Urgrund, Ungrund und was dergleichen Gefasels mehr ist, welches man übrigens am kürzesten abfertigt durch die Bemerkung, daß eine ganze Ewigkeit, d. h. eine unendliche Zeit, bis zum jetzigen Augenblick bereits abgelaufen ist, weshalb Alles, was da werden kann und soll, schon geworden seyn muß. Denn alle solche historische Philosophie, sie mag auch noch so vornehm thun, nimmt, als wäre Kant nie dagewesen, d i e Z e i t für eine Bestimmung der Dinge an sich, und bleibt daher bei dem stehen, was Kant die Erscheinung, im Gegensatz des Dinges an sich, und Platon das Werdende, nie Seyende, im Gegensatz des Seyenden, nie Werdenden nennt, oder endlich was bei den Indern das Gewebe der Maja heißt: es ist eben die dem Satz vom Grunde anheimgegebene Erkenntniß, mit der man nie zum innern Wesen der Dinge gelangt, sondern nur Erscheinungen ins Unendliche verfolgt, sich ohne Ende und Ziel bewegt, dem Eichhörnchen im Rade zu vergleichen, bis man etwan endlich ermüdet, oben oder unten, bei irgend einem beliebigen Punkte stille /323/ steht und nun für denselben auch von Andern Respekt ertrotzen will.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 322 f.) Die „historische Philosophie“, die MA I 1 dagegen ins Treffen führt, gibt sich mit keinen Spekulationen zum Weltprozess als ganzem ab, aber beharrt auf dem Werden und Geworden-Sein aller Dinge, mit denen Menschen es zu tun haben. Diese neue „historische Philosophie“ bestreitet die von Schopenhauer hochgehaltene Erkenntnis irgendeines zeitentbundenen Dings an sich und nobilitiert sich selbst – im ausdrücklichen Verbund mit der „Naturwissenschaft“, die es ebenfalls mit der von Schopenhauer verachteten Erscheinungswelt zu tun hat – zur einzig intellektuell noch redlichen und möglichen Philosophie. N. nimmt Schopenhauers Begriff auf und prägt ihn positiv um. Diese dezidierte Frontstellung gegen Schopenhauer hilft auch zu erklären, weshalb N. in der Überarbeitung von 1888 (vgl. NK 23, 13–17) und an anderer Stelle auf die einprägsame Formel „historische Philosophie“ verzichtet: In seiner späteren Gedankenentwicklung tritt das Bedürfnis, sich von Schopenhauer abzugrenzen, stark zurück. Dennoch spielt die Formel eine zentrale Rolle im Überblick „Friedrich Nietzsche’s Schriften“, den Heinrich Köselitz im Ersten Verlagsbericht der Verlagsbuchhandlung von Ernst Schmeitzner in Chemnitz gibt, der als Separatbroschüre und als Anhang von Verlagspublikationen, so zur Erstausgabe von Der Wanderer und sein Schatten, beigegeben ist, auch wenn dieses Unterfangen N.s scharfen Protest
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 1, KSA 2, S. 23
73
provozierte, wie seiner Postkarte an Schmeitzner vom 14. März 1879 zu entnehmen ist (KSB 5/KGB II 5, Nr. 819, S. 395, Z. 6–15). Offenbar ohne N.s Wissen (Eichberg 2009, 37) unterrichtet Köselitz die Leser in diesem Bericht zu MA I und MA II VM: „Beide Bände zusammen bilden ein Ganzes. Der Gesichtskreis der unzeitgemässen Betrachtungen, der nur die Frage der d e u t s c h e n Kultur betraf, hat sich hier zum Ueberblick über die Kultur des gesammten Menschengeschlechts erweitert. Ausser in der früheren Art seines Auftretens zeigt sich Nietzsche noch als wissenschaftlicher Erörterer der /VIII/ Grundfragen der Philosophie, als Moralist und Politiker. Als Ersterer dringt er – gegenüber der metaphysischen Philosophie, die das Metaphysische selber durch ihre modernsten Vertreter zum Spott der Wissenschaft werden lässt – auf das h i s t o r i s c h e P h i l o s o p h i r e n, welches die Welt, wie es einzig möglich ist, aus ihrem W e r d e n, nicht aber aus ihrem dem Erkennen unzugänglichen Sein erklärt. Als Moralist kommt Nietzsche an der Hand der historischen Betrachtungsart zu den folgenreichsten Aufschlüssen; u. A. muss hiernach die Begründung der Moral aus der Metaphysik, wie sie Schopenhauer liefert, für unhaltbar befunden werden, insofern nämlich der historischen Philosophie eine natürliche Entstehungsgeschichte der Moral bereits gelungen ist: in dem später angeführten Werke Paul Rée’s: ‚Der Ursprung der moralischen Empfindungen‘, als dessen Erweiterer und Fortsetzer Nietzsche sich hier bekundet.“ (Nietzsche 1880, VII f.) Damit ist auch ein Denker benannt, der tatsächlich schon ein Anwendungsbeispiel für das „historische Philosophiren“ geliefert hat, nämlich Paul Rée. Er spricht zwar in seinem Ursprung der moralischen Empfindungen nicht von „historischer Philosophie“, praktiziert sie aber im Sinne von MA I 1, indem er moralgeschichtlich die vermeintlichen Gegensätze aufhebt (vgl. NK 23, 24–26). Kabermann 1977, 92 f. verteidigt N.s „historische Philosophie“, die er in MA I 1–34 in ihren „Grundzügen“ entwickelt findet, gegen Heideggers Unverständnis und benutzt die Formel, um N.s Gesamtprojekt zu charakterisieren (vgl. NK 45, 13–19). Julius Bahnsen wendet sich, ohne N. namentlich zu nennen, gegen das „historische Philosophiren“, weil es den moralischen Heroismus untergrabe, auf dem der Pessismismus gründe und damit Schopenhauer verrate (Beiser 2016, 284). 23, 24–26 nach ihrer Erklärung giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen] Gegen die Annahme, dass es ein ursprünglich unegoistisches Handeln gebe, polemisiert N. in späteren Werken oft, siehe z. B. NK KSA 5, 155, 13–15, NK KSA 5, 252, 4–9, NK KSA 6, 305, 14–18 u. NK KSA 6, 305, 23 f. Während Schopenhauer drei „G r u n d - T r i e b f e d e r n der menschlichen Handlungen“ kennt: den „Egoismus; der das eigene Wohl will“, die „Bosheit; die das fremde Wehe will“ und schließlich das „Mitleid; welches das fremde Wohl will“ (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 210; vgl. NK KSA 6, 173, 20–22 u.
74
Menschliches, Allzumenschliches I
Deussen 1877, 147, zitiert in NK 95, 32–96, 2), aber nie vom „Unegoistischen“ spricht, weist Paul Rée Schopenhauers Erklärungsansatz zurück: „Diese Auffassung, die Darwins einfacherer Erklärung weichen muss, kann uns bemerklich machen, wie misslich es ist, das Unegoistische an und für sich, ohne Rücksicht auf dessen Entstehungsgeschichte, zum Gegenstande seiner Spekulation zu machen. Ja, das Wesen einer jeden Empfindung ist gerade nur in soweit klar, in soweit die Geschichte ihrer Entstehung klar ist.“ (Rée 1877, 7 = Rée 2004, 131) Mit Charles Darwin und Alfred Brehm nimmt Rée einen „sociale[n] Instinct“ an, dem der Mensch die Ausbildung unegoistischer Handlungsweisen verdanke. „Als der Mensch sich aus dem Affen entwickelte, hatte er demnach schon den Trieb, auch für andere Menschen (zunächst derselben Gemeinschaft) zu sorgen. Wer einen solchen Trieb hat, wird Freude darüber fühlen, dass andere glücklich sind (unegoistische Mitfreude) und Schmerz darüber, dass sie unglücklich sind (unegoistisches Mitleid).“ (Rée 1877, 8 = Rée 2004, 131) N. verdankt also Rée das eine von ihm gegebene Beispiel für „historische Philosophie“, auch wenn er selbst sich etwa in MA I 107 anschickt, die Entstehung der Moral bereits viel radikaler zu denken. Das „interesselose Anschauen“ bezieht sich zunächst auf Kants Ästhetik, der in der Kritik der Urtheilskraft ästhetische Urteile auf „Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse“ gründen wollte (AA V, 211). Als Formel taucht „interesseloses Anschauen“ oder „interesselose Anschauung“ jedoch weder bei Kant noch bei Schopenhauer auf (immerhin spricht Bahnsen 1867, 1, 353 in Bezug auf Schopenhauer vom „interesselosen Anschauen“). N. hatte das „interesselose Anschauen“ bereits in NL 1871, KSA 7, 12[1], 364, 6 sowie in GT 5 (vgl. NK KSA 1, 42, 32–43, 6) aufgerufen, wobei dort Richard Wagners Beethoven den Bezugstext geliefert hatte (Wagner 1870, 13, zitiert in NK KSA 5, 52, 2–14). In der idealistischen Traditionslinie von Kant über Schopenhauer bis Wagner machte man sich freilich keine Gedanken über das Geworden-Sein der Interesselosigkeit des ästhetischen Urteils (vgl. dazu auch NK KSA 5, 347, 5–11). Wieder ist es Rée, der im Ursprung der moralischen Empfindungen die für MA I 1 relevanten Stichworte liefert: „In der Entwickelung der Menschheit ist das interesselose Erkennen des Wahren und Schönen etwas sehr Spätes. Das Erste ist der Nutzen, das Wohlbefinden, wozu, wie gezeigt, auch die Moralität beiträgt. […] Erwägen wir nun aber, dass der unegoistische Mensch, da er ursprünglich eben nur seiner Nützlichkeit wegen gelobt ist, nicht mehr zu schätzen ist, als die Thiere welche einen starken socialen Instinct haben (z. B. Bienen, Ameisen), während das interesselose Erkennen nicht nur den Thieren nicht zukommt, sondern vielmehr auf einer starken Entwickelung gerade desjenigen Organs beruht, durch welches wir am meisten uns von den Thieren unterscheiden, nämlich des Intellects, so ergiebt sich, dass das Erkennen des Wahren und Schönen höher steht als das gute Handeln, ja, dass /142/ es
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 1, KSA 2, S. 23
75
das Höchste ist, wozu die Menschen gelangen können und daher ohne Rücksicht auf Nutzen oder Schaden betrieben werden darf.“ (Rée 1877, 141 f. = Rée 2004, 210) 23, 26 f. es sind beides nur Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint] Unter dem Eindruck der Prominenz, den der Begriff der Sublimierung in Sigmund Freuds Psychoanalyse und Kulturtheorie erhalten sollte – „[d]ie Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutende Rolle im Kulturleben spielen“ (Freud 1930, 59) –, könnte man versucht sein, dem Sublimierungsbegriff von MA I 1 eine weite kulturpsychologische Intention einzuräumen. Freilich ist Sublimierung hier – Rée gebraucht den Begriff übrigens nicht – ganz nahe an der Verwendung in der Chemie, die MA I 1 ja als Leitdisziplin aufruft. Zwar spielt er bei Schoedler 1875, Cooke 1875 oder Roscoe 1878 keine oder wenigstens keine wichtige Rolle, aber er dürfte N. schon lange geläufig gewesen sein. Friedrich Erdmann Petris Handbuch der Fremdwörter in N.s Bibliothek definiert: „Sublimat, n. (in der Scheidekunst): Emporgetriebenes, Hinaufgeläutertes; ätzendes salzsaueres Quecksilber, eins der stärksten Gifte; Sublimation, f., die Emportreibung, Verflüchtigung, Hinaufläuterung; […] sublimiren, emportreiben, hinaufläutern, überflüchtigen; sublimirt, emporgetrieben, verflüchtigt“ (Petri 1861, 747). Das zeitgenössische Lexikonwissen besagt: „Sublimation (lat.), Operation, welche zum Zweck hat, starre, flüchtige Körper von nicht flüchtigen zu trennen. Von der Destillation (s. d.) unterscheidet sich die S. nur dadurch, daß ihr Produkt, das Sublimat, starr und nicht flüssig ist. Die zur S. dienenden Apparate bestehen aus einem Teil, in welchem der zu sublimierende Körper erhitzt wird, und einem andern, geräumigern, in welchem sich die Dämpfe verdichten.“ (Meyer 1885–1892, 15, 413) Das „Grundelement“, das sich im Prozess der Sublimierung verflüchtigt hat, wäre eben das, woraus sich das „unegoistische Handeln“ oder das „interesselose Anschauen“ herausgeformt hat – was das war, verrät MA I 1 im Unterschied zu Rée allerdings nicht. Vgl. zum Sublimationsbegriff in MA I 1 auch Vinzens 1999, 35–39, Almeida 2008, bes. 267, Goebel 2009, bes. 83 f., Phillips 2015, bes. 364, Anm. 25, zum „Grundelement“ im Verhältnis zu den „ersten Dingen“ Marsden 2019, 123. 23, 27–24, 14 fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist. – Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine C h e m i e der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen, ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben
76
Menschliches, Allzumenschliches I
aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind? Werden Viele Lust haben, solchen Untersuchungen zu folgen? Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinn zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren?] Im Druckmanuskript stand ursprünglich: „nur für die feinste Beobachtung noch als vorhanden sich erweist. Alles, was wir brauchen, ist eine Chemie der religiösen moralischen ästhetischen Vorstellungen: mit der Einsicht, dass auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen Stoffen gewonnen werden“ (KSA 14, 120). Zum ChemieBegriff in MA I 1 siehe NK 23, 5. 24, 11–14 Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinn zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren? –] NL 1878, KSA 8, 32[14], 562, 4 f. fragt, das Ende von MA I 1 aufgreifend: „‚Muß man nicht entmenscht sein?‘ Wer hat die Ironie verstanden?“ (Worin die „Ironie“ bestanden haben könnte, erörtert Heller 1972b, 23 f.) In NL 1876/77, KSA 8, 23[150], 458, 14 f. wird festgestellt: „je mehr wir die Natur entmenschlichen, um so leerer bedeutungsloser wird sie für uns“. Dass diese Entmenschlichung der Natur in der Konsequenz der neuzeitlichen (natur)wissenschaftlich-philosophischen Entwicklung liegt, während früher der Mensch sich in die Natur hineinprojiziert habe, ist ein auch in den 1880er Jahren bei N. präsenter Gedanke. NL 1880, KSA 9, 2[45], 41, 5 f. fragt: „Wie ist der entmenschte Mensch zu denken wenn der Mensch das entthierte Thier ist?“ (Zum Thema Sommer 2015g). Stellt man „die Fragen über Herkunft und Anfänge“, wird doch nach den „ersten Dingen“ gefragt, wie es der Titel des Ersten Hauptstücks anzeigt. Die metaphysische Philosophie habe das bisher nur vordergründig getan, die ersten Dinge zu erschließen behauptet, aber doch in Wahrheit das Herkommen, das Werden nur verschleiert. Schließlich fällt auf, dass MA I 1 in der zweiten Zeile fast mit einem „fast“ beginnt (23, 6) und fast mit einem „fast“ endet (24, 12). Das „fast“ dient als Einschränkungsmarker und unterbindet eine apodiktische Lesart des Textes: Skeptische Zurückhaltung wird also auch in der literarischen Gestaltung Programm (vgl. Sommer 2018a).
2. MA I 2 liefert einen konkreten Anwendungsfall für die in MA I 1 geforderte „historische Philosophie“ (23, 17): Im Unterschied zu dieser seien „[a]lle Philosophen“ (24, 16 f.) bisher davon ausgegangen, dass es ausreiche, den gegenwärtigen Menschen – sich selbst – zu analysieren, um herauszufinden, was der Mensch an sich sei. Dabei hätten sie völlig außer Betracht gelassen, dass sie damit im besten Fall
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 1–2, KSA 2, S. 23–24
77
die letzten vier Jahrtausende im Blick gehabt, jedoch „alles W e s e n t l i c h e der menschlichen Entwickelung“, das „in Urzeiten vor sich gegangen“ (25, 1 f.) sei, vergessen haben. Man habe etwa die „‚Instincte‘ am gegenwärtigen Menschen“ (25, 5) herausgegriffen und behauptet, sie gehörten „zu den unveränderlichen Thatsachen des Menschen“ (25, 6). Die Philosophie, soweit sie sich nicht historisch geläutert hat, postuliere also einen „e w i g e n“ (25, 10) Menschen, den es aber ebenso wenig gebe wie „e w i g e [ . ] T h a t s a c h e n“ oder „absolute Wahrheiten“ (25, 12 f.). Allerdings behauptet MA I 2 nur, dass diese nicht existieren, beweist es aber nicht, denn aus dem evolutionären Geworden-Sein von Menschen (und anderen Lebewesen) folgt nicht zwingend, dass es nicht andere ewige Tatsachen oder absolute Wahrheiten geben kann, beispielsweise in der Physik oder in der Mathematik. Die Konsequenzen der radikalen Historisierung, die das Ende des Abschnitts dann zusammen mit einer neuen Praxis skeptischer Urteilsenthaltung empfiehlt – „[d]emnach ist das h i s t o r i s c h e P h i l o s o p h i r e n von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung“ (25, 13–15) –, haben eher den Charakter eines rhetorisch inszenierten methodischen Postulats als einer Denknotwendigkeit. Vorsichtiger verfuhr ein den Gedankengang vorbereitendes Nachlassnotat: „Alle die, welche Maximen machen, verfallen leicht in den Fehler, vom Menschen etwas Allgemeines auszusagen, was von Zeiten oder Classen der Gesellschaft gilt; aber dasselbe haben alle Philosophen gethan, welche über die Menschen geschrieben haben – erst die Historie in Verbindung mit der Thiergeschichte läßt erkennen, wie groß der Mangel an Besonnenheit war. So verweist Schopenhauer, um zu zeigen, daß das Leben der Menschen einen moralischen metaphysischen Zweck habe, darauf, daß am Ende des Lebens man sich um seine moralischen Qualitäten bewußt werde – als ob ein solches Gefühl, wenn es j e t z t wirklich allgemein existirte, irgend etwas anderes beweisen könnte als daß durch bestimmte Meinungen und Glaubenssätze die Menschen sich gewöhnt haben, in der Nähe des Todes an ihre Sünden zu denken: das heißt: eine solche Thatsache, wie sie Schopenhauer hinstellt, beweist, daß gewisse metaphysische Vorstellungen existiren und existirt haben, nicht aber daß sie wahr sind. Nun kommt dazu, daß es eine zeitlich sehr begrenzte Thatsache ist und daß z. B. im Alterthum man sehr oft, ohne an Sünden zu denken, starb. Und wenn es eine ganz allgemein, für alle Perioden der Menschheit und für jeden Menschen geltende Beobachtung wäre, es ist kein Beweis für die Wahrheit des von Schopenhauer behaupteten Satzes damit gegeben.“ (NL 1876/77, KSA 8, 23[19], 410, 4–26) Hier ist mit Schopenhauer ein sehr konkreter Gegenspieler genannt, auch wenn die Ausdehnung auf „alle Philosophen“ ebenfalls erfolgt. Expliziter wird hier mit der „Thiergeschichte“ auch der Bezug zur Darwinschen Evolutionstheorie herausgestellt, mit der sich historisches Philosophieren zu wappnen habe. N. waren, wie Nasser 2017, 122 im
78
Menschliches, Allzumenschliches I
Blick auf MA I 2 betont, Autoren wie John Lubbock (seine Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes von 1875 hat sich in N.s Bibliothek erhalten, vgl. schon Thatcher 1983, 307 zu Lubbock und MA I 2) oder Edward Burnett Tylor sehr geläufig (seine Die Anfänge der Cultur von 1873 hat sich N. 1875 aus der Basler Universitätsbibliothek entliehen, vgl. Crescenzi 1994, 432. Heinrich Romundt war ihm schon 1874 zuvorgekommen, siehe Treiber 1994, 6); sie haben die Ur- und Frühgeschichte sowie die Ethnologie und Anthropologie darwinistisch ausbuchstabiert. Vor diesem Hintergrund kann Katsafanas 2016, 214 argumentieren, MA I 2 verstehe die menschliche Natur als „flüssig“ („fluid“), veränderbar. Mit dem „historischen Philosophieren“ knüpft N. aber nicht nur an den zivilisationsgeschichtlichen Darwinismus sowie an Jacob Burckhardt und Franz Overbeck (vgl. NK 25, 9–15), sondern auch an seine eigene Biographie als dezidiert historisch arbeitender Philologe in der Schule Friedrich Ritschls an. Zu dessen Tod schrieb er seiner Witwe Sophie Ritschl im Januar 1877: „Ich bin glücklich […] mir vorstellen zu dürfen, dass er [sc. Ritschl], auch wo er mir nicht Recht geben konnte, mich doch vertrauensvoll gewähren liess. Ich glaubte, dass er den Tag noch erleben würde, da ich ihm öffentlich den Dank und die Ehre geben könnte, so wie es längst mein Herz wünschte, und in einer Art, dass auch er vielleicht sich daran hätte freuen können.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 585, S. 213, Z. 13–21) D’Iorio 2020, 58 merkt dazu an, dass wir zwar nicht wüssten, wie N. „dem großen Lehrer seines philologischen und historischen Wissens öffentlich Dank und Ehre zu zollen“ gedacht habe – es unterblieb –, aber im Blick auf MA I 1 und MA I 2 und die dortige Polemik gegen philosophische Geschichtsvergessenheit könnten wir doch „davon ausgehen, dass der Lehrer nicht unzufrieden gewesen wäre mit seinem Schüler“. Vgl. auch Benne 2005, 33. In der Mappe Mp XIV 1, 93 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,93) befindet sich eine ‚Reinschrift‘ von MA I 2. Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 4 f.) hat N. – wohl 1885 – den Text von MA I 2 mit Bleistiftkorrekturen vollständig überarbeitet. Er lautet nun: „E r b f e h l e r d e r P h i l o s o p h e n. – Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Prüfung u〈nd〉 Zerlegung desselben an’s Ziel aller Menschenkenntniß zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen ‚der Mensch‘ als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel des Werdens, als ein sicheres Maass der Dinge vor. Zuletzt ist alles, was der Philosoph über ‚den Menschen‘ aussagt, aber im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines b e s c h r ä n k t e n Zeitraumes – u vielleicht eines noch beschränkteren Zeit- Raum- Erd-Winkels. Mangel an historischem Sinn war bisher Erbfehler aller Philosophen; auch heute noch machen sie unversehens die allerjüngste Gestaltung des europäischen Menschen, wie eine solche unter dem Ein-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 2, KSA 2, S. 24
79
druck u Druck bestimmter politischer und wirthschaftli. Ereignisse entstanden ist u entsteht, als die feste Form, von der man ausgehen müsse – während alles W e s e n t l i c h e der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen ist, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht wesentlich mehr verändert haben. Umgekehrt urtheilt der Philosoph: er nimmt ‚Instincte‘ am gegenwärtigen Menschen wahr und nimmt sofort an, dass alles Instinktive zu den unveränderlichen Thatsachen des Menschen gehört und insofern einen Schlüssel zum Verständniss des Daseins überhaupt abgeben müsse; die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem e w i g e n redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben. Aber Alles ist geworden; es giebt ja k e i n e e w i g e n T h a t s a c h e n: weshalb auch keine ewigen Wahrheiten giebt. – Demnach ist Geschichte für den Philosophen von jetzt ab nöthig und mit der Geschichte die Tugend des Historikers: Bescheidenheit.“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/ 23/ u. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/24/) Abgesehen von den stilistischen Retuschen fällt an dieser späteren, von N. aber nie zum Druck autorisierten Überarbeitung (in der Titelauflage von 1886 bleibt der Text von 1878 ja unverändert) zunächst auf, dass das gesperrt gesetzte Schlagwort „das h i s t o r i s c h e P h i l o s o p h i r e n“ (25, 13 f.), auf das der Drucktext von MA I 2 als Schlusspointe zusteuert, der Streichung zum Opfer fällt (vgl. NK 23, 16–23). Stattdessen erscheint nun das Abstraktum „Geschichte“ als das für den Philosophen jetzt Nötige – und mit der „Geschichte“ wird der für sie zuständige Wissenschaftler, der „Historiker“, eingeführt, der dem Philosophen gegenübersteht: Es ist seine „Tugend“, die der Philosoph zu lernen habe: „Bescheidenheit“ statt wie ursprünglich bloße „Bescheidung“ (25, 15). Vorher schon wird in der Überarbeitung mit dem „Erd-Winkel“ der Mensch nicht mehr nur zeitlich, sondern auch räumlich dezentriert; die „Religionen“ (24, 27) als Einflussfaktoren entfallen, dafür kommt die Wirtschaft hinzu. Und der kantianisierend klingende Passus mit den „Erkenntnissvermögen“ (24, 29–32) wird vollständig entfernt. Schließlich hatte die Druckfassung die „e w i g e n T h a t s a c h e n“ und die „absoluten Wahrheiten“ mit einem „sowie“ (25, 12 f.) noch parataktisch gereiht, während die Überarbeitung mit einem „weshalb“ eine Kausalbeziehung konstruiert: Weil es keine ewigen Tatsachen gebe, gebe es auch keine ewigen Wahrheiten. KSA 14, 121 teilt überdies eine „Umarbeitung vom Januar 1888“ ohne Fundortangabe mit (KGW IV 4, 108 berichtet von einem Manuskript D 11b, das die „völlige[.] Umarbeitung der Aphorismen 1–3 von MA aus dem Jahr 1888“ enthalten soll. Digital ist ein solches Manuskript derzeit jedoch nicht zugänglich). „Der Erbfehler der Philosophen. – Bisher litten die Philosophen allesammt an dem gleichen Gebrechen, – sie dachten unhistorisch, widerhistorisch. Sie giengen vom Menschen
80
Menschliches, Allzumenschliches I
aus, den der Zufall ihre Zeit und Umgebung ihnen darbot, vor allem von sich am liebsten sogar von sich und von sich allein; sie glaubten schon durch eine SelbstAnalysis zu einem zum Ziel zu kommen, zu einer Kenntniß ‚des Menschen‘. Ihre eigenen Werthgefühle (oder die ihrer Kaste, Rasse, Religion, Gesundheit) galten ihnen als unbedingtes Werthmaaß; nichts war ihnen fremder und widerlicher als jene Selbstentsagung des eigentlich wissenschaftlichen Gewissens: als welches in einer wohlwollenden Verachtung der Person, jeder Person, jeder Personal-Perspektive seine Freiheit genießt. Diese Philosophen waren vorallererst Personen; jeder sogar empfand bei sich ‚ich bin die Person selber‘, gleichsam die aeterna Veritas vom Menschen, ‚Mensch an sich‘; was ich von mir weiß. Aus dieser unhistorischen Optik, die sie gegen sich selber übten, ist die größte Zahl ihrer Irrthümer abzuleiten, – vor allem der Grundirrthum, überall das Seiende zu suchen, überall Seiendes vorauszusetzen, überall Wechsel, Wandel, Widerspruch mit Geringschätzung zu behandeln. Der Philosoph als Ziel der Dinge, die Teleologie Selbst unter dem Druck einer mitten von der Historie beherrschten Cultur (– wie es die deutsche Cultur an der Wende des Jahrhunderts war) präsentirt sich wird sich der typische Philosoph mindestens noch als Ziel des ganzen Werdens, auf welches alle Dinge von Anbeginn ihre Richtung nehmen, präsentiren: dies ist war das Schauspiel, welches seiner Zeit Hegel dem erstaunten Europa bot.“ (KSA 14, 121) Diese Version steht im Kontext der einschlägigen Überlegungen im Kapitel „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ der Götzen-Dämmerung, vgl. NK 6/1, S. 285–292 u. ö. In dieser Überarbeitung von MA I 2 wird die Stoßrichtung stark verändert; die Philosophen stehen nun im Gegensatz zu einer sonst historisch-wissenschaftlich denkenden Umwelt, die sich die philosophische Ahistorizität nicht zuschulden kommen lässt – mit der Nennung Hegels und seiner auf ihn selbst zusteuernden Geschichtsteleologie wird zudem ein komischer Schlusseffekt erzeugt, am Exempel eines Denkers, der gemeinhin als historischer Denker schlechthin gilt. Die Philosophen in der Überarbeitungsversion setzen auf Introspektion, aus der sie dann das Wesen des Menschen deduzieren wollen; die Philosophen von MA I 2 haben bloß ein auf die letzten 4000 Jahre beschränktes Blickfeld. In der Überarbeitung sind sie aus Prinzip Verteidiger des Seins und Verächter des Werdens; in MA I 2 haben sie sich für die Wahrnehmung und Würdigung des Werdens einfach noch nicht hinreichend geschult. Justieren diese ihren Blick historisch, können sie ein neues Philosophieren entwickeln. Bei jenen Philosophen des Jahres 1888 scheint diese Option der Blickwendung hingegen vertan. Der programmatischtherapeutische Ausblick am Ende von MA I 2 weicht 1888 dem Spott. In seiner Gesamtwürdigung von N.s bisherigem Schaffen zitiert Rudolf Lehmann in seiner Studie Friedrich Nietzsche von 1882 ausgiebig aus MA I 2 und kommentiert: „Es ist, wie man sieht, eine eigenthümliche und originelle Verwerthung der Entwicklungstheorie, auf welcher die Weltanschauung des Philosophen
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 2, KSA 2, S. 24
81
beruht, eine Uebertragung dieser Theorie aus dem speciellen Gebiete der Entstehungsgeschichte der Organismen auf das Ganze einer philosophischen Weltanschauung – Historisch ist die Betrachtungsart des Denkers: was sie zu Wege bringen will, ist im modernsten Sinne des Wortes Geschichte des menschlichen Geistes“ (zitiert nach Reich 2013, 788). 24, 16 E r b f e h l e r d e r P h i l o s o p h e n.] In N.s Werken und Nachlass kommt das Wort „Erbfehler“ nur in MA I 2 sowie in dessen Nachbearbeitungen vor. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm gilt „Erbfehler“ – für den es dort nur den Beispielsatz „der trunk war sein erbfehler“ gibt – als „dasselbe“ wie das unmittelbar vorangehende Lemma „Erbfehl“, dessen Bedeutung, mit einem VossZitat erhärtet, mit „vitium a parentibus insitum“ (Grimm 1854–1971, 3, 719) umschrieben wird, also das von den (Vor-)Eltern eingewurzelte Laster. Die in der Forschungsliteratur – z. B. bei Kaufmann 1982b, 115 – vorgebrachte Behauptung, es handle sich bei dem Erbfehler um eine (womöglich von N. stammende) Analogiebildung zur christlichen Erbsünde, lässt sich damit nicht erhärten (entsprechend falsch ist die Übersetzung „péché originel“ in Nietzsche 2019, 18). Eher erinnert dieser „Erbfehler“ an die „Irrtümer des Stammes“ („idola tribus“) bei Francis Bacon (Novum Organon, Aphorismus XLI), auch wenn bei Bacon die Philosophen eigentlich für die „idola theatri“ zuständig sind. Das Wort „Erbfehler“ ist nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts durchaus keine Rarität, sondern wurde spätestens in der Kritik der theoretischen Philosophie von Gottlob Ernst Schulze („Aenesidemus-Schulze“) aus dem Jahr 1801 auch ausdrücklich mit der Philosophie gepaart. Aenesidemus-Schulzes radikal skeptischer Ansatz, gegen den dann Hegel und Schelling, die „Erbfehler“-Formel aufgreifend, Sturm laufen sollten, verbindet sich ebenfalls mit einem Aufruf zur ErkenntnisBescheidenheit: So „fieng ich nach und nach an zu glauben, das Mißlingen aller Bemühungen, der speculativen Philosophie wissenschaftliche Festigkeit zu verschaffen, sey eines der wichtigsten Ereignise in der Geschichte der menschlichen Vernunft, welches von Grund aus und vollständig untersucht zu werden verdiene, und verfiel auf die Vermuthung, daß wohl irgend ein Erbfehler an dieser Philosophie haften, und sich von einer dogmatischen Beschäftigung mit derselben auf die andere fortgepflanzt haben müßte. Was ich nun durch fortgesetztes Nachdenken von diesem Erbfehler in den wichtigsten Systemen der theoretischen Philosophie oder der Metaphysik, in welchen er am leichtesten ausfindig gemacht werden kann, und von denen aus er sich auch den übrigen Theilen der Philosophie mitgetheilt hat, zu entdecken im Stande gewesen bin, das ist in dem gegenwärtigen Werke enthalten“ (Schulze 1801, 1, 8). Nun lässt sich keine Bekanntschaft N.s mit Schulze und seinem Werk nachweisen – immerhin war Schulze Schopenhauers Göttinger Lehrer –, aber die Rede von möglichen Erbfehlern der Philosophie hat sich seither eingebürgert und in lexikalischer Verdichtung mit Schulze ver-
82
Menschliches, Allzumenschliches I
bunden, über den es beispielsweise in der Kulturgeschichte der neuesten Zeit von Otto Henne am Rhyn heißt: „Der ‚Erbfehler‘ aller frühern Philosophie ist nach ihm [sc. Schulze], daß die Erklärungen des Ursprungs der menschlichen Erkenntniß von Dingen ein Spiel mit blosen Begriffen seien; er wollte daher sich schlechthin an die Thatsachen des Bewußtseins halten, ohne daß ihm jedoch die Aufstellung wirklicher Grundsätze gelang.“ (Henne am Rhyn 1872, 3, 470) Auch in der N. wohlbekannten, von ihm 1875 erworbenen und mit Lesespuren versehenen Kritischen Geschichte der Philosophie von Eugen Dühring wird der Philosophie, genauer: der Naturphilosophie ein „Erbfehler“ (Dühring 1873b, 216), nämlich ein Mangel an Inhalt, Systematik, Strenge und Kritik attestiert. Inhaltlich bemerkenswert ist aber vor allem eine Intuitionsparallelität von MA I 2 und einem 1875 von Emil Du Bois-Reymond gehaltenen Vortrag über Julien Offray de La Mettrie, in dem es heißt: „Die philosophischen Systeme, neuere wie ältere, insofern sie mit der Natur des Menschengeistes sich beschäftigen, leiden fast alle an dem Erbfehler, dass sie den Menschengeist nur aus ihm heraus, und nur in seiner höchsten Thätigkeitsform, als selbstbewusst denkendes Wesen, zu erkennen streben. Sie gehen aus von Thatsachen des inneren Sinnes, und berücksichtigen die Erscheinungswelt höchstens, um deren Dasein zuzugeben, um zu beweisen, dass die äusseren Sinne uns davon keine sichere Kunde bringen, und um zu erörtern, wie viel von seinen Einsichten der Geist dieser Kunde verdanke. Ohne die Wichtigkeit mancher auf diesem Weg erlangter Aufschlüsse zu verkennen, wird der Naturforscher sich nicht dabei beruhigen.“ (Du Bois-Reymond 1875, 17) Zwar hat N. wiederholt auf Du Bois-Reymond Bezug genommen (vgl. z. B. NK KSA 1, 390, 26–31 u. NK KSA 5, 28, 26–29, 3); dass ihm aber dessen La MettrieVortrag untergekommen ist, lässt sich bislang nicht nachweisen. La Mettrie selbst erwähnt er nie. Die Passage aus dem Vortrag macht gegen den „Erbfehler“ allein die naturwissenschaftliche Empirie stark, MA I 2 verbindet hingegen diese Empirie mit Geschichte, Gattungsgeschichte, Evolutionsgeschichte. In der Forschungsliteratur ist bisher keine Genealogie des Erbfehlers vorgelegt worden, die Bezugnahmen sind oft eher kursorisch, siehe NK 1/1, S. 66, NK KSA 1, 355, 29–356, 8 u. NK KSA 3, 19, 3, sodann Grau 1984, 180, Vivarelli 1994b, 290, Orsucci 1996, 8 (unter Bezug auf Friedrich Albert Lange), Immel 2003, 153, Benne 2005, 141, Campioni 2007, 67 (Brief Montinaris von 1963), Figl 2007b, 294, Wotling 2008, 38, Gori 2009, 247, Bertino 2011, 32 u. 213, Kimmerle 2011, 513, Neymeyr 2012, 108 f., Mirelli 2014, 161–163 u. Reschke 2014, 31. Heit 2016, 295 führt aus, dass gerade die zeitgenössische angelsächsische N.-Forschung unter dem „Erbfehler“ zu leiden scheine. 24, 19–21 Unwillkürlich schwebt ihnen „der Mensch“ als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge vor.] Eine „aeterna veritas“ ist auf Lateinisch eine „ewige Wahrheit“. In GT 18 hatte N. die
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 2, KSA 2, S. 24
83
„Wahnvorstellung“ (KSA 1, 118, 10) kritisiert, mittels Kausalität „aeternae veritates“ (KSA 1, 118, 18), „ewige Wahrheiten“, entdecken zu können (hier schließt N. an Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung I 1, § 7 u. II, 4, Kapitel 50 an, vgl. auch die „aeterna veritas“ in PHG 11, KSA 1, 846, 29 f. u. PHG 12, KSA 1, 849, 10 im Zusammenhang mit den Eleaten). In MA I 11, KSA 2, 30, 26 f. kehrt der Plural wieder; dort ist es der irrtümliche Glaube an „Begriffe und Namen der Dinge“, der sich einem trügerischen Vertrauen auf ewige Wahrheiten hingibt. UB II HL 10 kontrastiert schließlich den „Glaube[n] an die aeterna veritas“ der „Kastenordnung“ (KSA 1, 328, 7 f.) in Platons Politeia mit dem Glauben des „moderne[n] Deutsche[n] an die aeterna veritas seiner Erziehung, seiner Art Cultur“ (KSA 1, 328, 10 f.). Die „ewige Wahrheit“ tritt also auf ganz unterschiedlichen Feldern auf; gemeinsam ist all diesen Stellen aber, dass N. sich gegen den jeweiligen Wahrheits- und Ewigkeitsanspruch stellt – und damit gegen die metaphysische Tradition, die bis zum Deutschen Idealismus den Glauben an ewige Wahrheiten in unterschiedlichster Ausprägung hochhielt, siehe Laudien 2004. Die „ewige Wahrheit“, die MA I 2 nicht gelten lassen will, ist der Glaube an ein unveränderliches Wesen des Menschen. Dass er ein „sicheres Maass der Dinge“ sei, war die Quintessenz des in Platons Theaitetos (152a) überlieferten, sogenannten homo-mensura-Satzes des Protagoras von Abdera: „πάντων χρημάτων μέτρον ἔστιν ἄνθρωπος, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν, τῶν δὲ οὐκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν.“ – „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass (wie) sie sind, der nicht-seienden, dass (wie) sie nicht sind.“ (Diels/Kranz 1959–1960, 80 B 1) N. formuliert seine Kritik daran in FW 346, vgl. NK KSA 3, 580, 30 f., sowie in JGB 3, vgl. NK KSA 5, 18, 1–3. Auch in MA I 32 kehrt das Thema wieder, siehe NK 51, 29– 52, 1. Zum homo-mensura-Satz bei N. siehe auch Mann 2003, 417–424 u. Brobjer 2005b, 266–271, zu N. und Protagoras Mann/Lustila 2011 u. Meyer 2014, 153–264. In einer die Geschichte der Ethik schematisierenden analytischen Betrachtung hält Simon Blackburn N. für „the most significant modern descendant of Protagoras“ (Blackburn 2005, 72). 24, 24–32 Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen.] In frühen Aufzeichnungen wie NL 1870, KSA 7, 8[82], 253, 8 oder NL 1873, KSA 7, 29[89], 671, 20–22 („Der historische Sinn ist nur eine verkappte Theologie ‚wir sollen es noch einmal herrlich weit bringen!‘“) bemüht N. den „historischen Sinn“, den er in UB II HL Vorwort als „hypertrophische Tugend“ (KSA 1, 246, 30 f.) verdächtigt, in UB II HL 3 (vgl. NK KSA 1, 267, 2–
84
Menschliches, Allzumenschliches I
3) kritisch glossiert, um dann in UB II HL 7 zu statuieren: „Der historische Sinn, wenn er u n g e b ä n d i g t waltet und alle seine Consequenzen zieht, entwurzelt die Zukunft, weil er die Illusionen zerstört und den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein leben können.“ (KSA 1, 295, 25–28) Er mache, so doppelt UB II HL 8 nach, „seine Diener passiv und retrospectiv“ (KSA 1, 305, 18). In MA I sind diese Befürchtungen verflogen – nicht sein lähmendes, sondern sein dynamisierendes und Traditionen depotenzierendes Potential wird nun ins Feld geführt (vgl. zum weiteren Kontext Heller 1972b, 27–34). Hätten die Philosophen „historischen Sinn“ (gehabt), wäre es ihnen nicht eingefallen, den Menschen als ein für sich bestehendes, von aller Zeitlichkeit und allem Geworden-Sein losgelöstes Wesen zu betrachten. Diese positive Umprägung des „historischen Sinns“ wird in N.s späteren Schriften beibehalten. Noch in GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 1 wird das Fehlen „historischen Sinns“ bei den Philosophen gegeißelt, vgl. NK KSA 6, 74, 4 u. Pichler 2014, 201. Zum anhaltenden systematischen Potential des historischen Sinns siehe z. B. Sommer 2008b, vgl. auch NK 226, 18 f. 25, 5–8 nimmt an, dass diese zu den unveränderlichen Thatsachen des Menschen gehören und insofern einen Schlüssel zum Verständniss der Welt überhaupt abgeben können] Im Druckmanuskript stand zunächst: „macht darauf Schlüsse über das Wesen der Welt (wie Schopenhauer)“ (KSA 14, 121). In KGW und KSA (25, 7) steht fälschlich „Schüssel“ statt „Schlüssel“. 25, 9–15 vier Jahrtausende als von einem e w i g e n redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt k e i n e e w i g e n T h a t s a c h e n: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. – Demnach ist das h i s t o r i s c h e P h i l o s o p h i r e n von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.] Im Druckmanuskript stand zunächst: „drei Jahrtausende als von einem ewigen redet. Alles ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen. – So ist das historische Philosophiren nöthig!“ (KSA 14, 121). Heller 1972b, 41–54 sieht im Rekurs auf die „Tugend der Bescheidung“ (oder „Bescheidenheit“, in der späteren Überarbeitung) vor allem eine Reverenz gegenüber der historiographischen Praxis von Jacob Burckhardt. Freilich könnte man bei dieser Stelle ebenso an N.s engen Freund Franz Overbeck denken, der als Christentumshistoriker diese Zurücknahme hypertropher Erkenntnisansprüche zeitlebens geübt und methodologisch verteidigt hat (siehe z. B. Sommer 1997 u. Sommer 2003). 25, 13 Demnach] Das „Demnach“ suggeriert ein logisches Folgeverhältnis, das freilich nicht zwingend gegeben, sondern nur suggeriert ist.
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 2–3, KSA 2, S. 24–25
85
3. MA I 3 setzt ein mit einer als Tatsache hingestellten, weiterer Begründung offensichtlich nicht bedürftigen Hypothese, wonach es eine „höher[e] Cultur“ (25, 18) auszeichne, die streng methodisch gewonnenen „kleinen unscheinbaren Wahrheiten“ (25, 18 f.) stärker zu gewichten als die bombastischen „Irrthümer“ (25, 21) aus „metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern“ (25, 21 f.). Man habe für diese mit Mühe errungenen Wahrheiten nur Spott übriggehabt; indes seien sie „doch das Höhere“ (25, 28 f.), zu dem zu stehen „Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit“ (25, 29 f.) verrate. Hier zeigt sich offensichtlich jene „Tugend der Bescheidung“ (25, 15), von der das Ende von MA I 2 handelt. Es werde so sein, dass schließlich „die gesammte Menschheit“ (25, 31) diese Wahrheiten sich zu eigen machen werde, die jetzt als „haltbare[.], dauerhafte[.] Erkenntnisse“ (26, 1) gelten – ohne wohl mit den in MA I 2 attackierten „absoluten Wahrheiten“ (25, 13) der Metaphysik verwechselt werden zu dürfen. Gegen diese Hochschätzung der „unscheinbaren Wahrheiten und de[s] wissenschaftliche[n] Geist[es]“ (26, 6 f.) werde sich freilich Opposition formieren seitens der Verteidiger herkömmlicher Schönheits- und Erhabenheitsästhetik, entweder weil sie für den „Reiz der s c h l i c h t e s t e n Form“ (26, 8 f.) noch nicht empfänglich seien oder weil die vom wissenschaftlichen Geist Angeleiteten sich diesen noch nicht genügend zu eigen gemacht hätten und daher „gedankenlos“ (26, 11 f.) in den „alte[n] Formen“ (26, 12 f.) verhaftet blieben. Das „Symbolische[.]“ (26, 16) habe an Kraft verloren; jetzt vergeistigten sich „die Formen unseres Lebens“ (26, 21) – was sie nur scheinbar „h ä s s l i c h e r“ (26, 22) mache, weil man den Blick für die „innere[.], geistige[.] Schönheit“ (26, 24) noch nicht hinreichend geschult habe. Die Hochschätzung der vermeintlich unscheinbaren Wahrheiten ist beispielsweise für die sich damals etablierende Soziologie von konstitutiver Bedeutung: Herbert Spencer hat in seiner von N. studierten und unter seinen Büchern mit Lesespuren erhaltenen Einleitung in das Studium der Sociologie dafür geworben, bei der Betrachtung sozialer Phänomene darauf ein besonderes Augenmerk zu legen, denn man könne „leicht durch oberflächliche triviale Thatsachen von den tiefliegenden und wirklich wichtigen Thatsachen, welche jene andeuten, abgelenkt werden. […] Jede sociale Erscheinung resultirt aus einem ungeheuern Aggregat von allgemeinen und socialen Ursachen, und man kann entweder die Erscheinung selbst als an sich wichtig, oder als im Zusammenhang mit andern Erscheinungen irgendeine äusserlich unscheinbare Wahrheit von wirklicher Bedeutung anzeigend betrachten.“ (Spencer 1875, 1, 119; zu N. und Spencer jüngst Muriel Martín 2023). MA I 3 zehrt von einer Logik der Umkehrung: Das vermeintlich Niedrige, die kleine wissenschaftliche Erkenntnis erweist sich im Fortgang des Erkenntnisprozes-
86
Menschliches, Allzumenschliches I
ses als das eigentlich Schöne, ja Erhabene, zumal dadurch, dass es „Männlichkeit“ (25, 31 f.) erfordere, zu ihm zu stehen. Zwar erinnert das in diesem Abschnitt gemalte Geschichtsentwicklungstableau mit seiner allmählichen Überwindung der „metaphysischen“ und der „künstlerischen“ Epoche an landläufige positivistische und progressivistische Geschichtserzählungen, die ebenfalls von einem solchen Überwindungsgestus zehren. Die Abgrenzung von Schopenhauers (Kunst-)Metaphysik und Wagners Kunstreligion ist offenkundig. Die Pointe liegt aber darin, nicht eine völlig ernüchterte wissenschaftliche Zukunft in Aussicht zu stellen, in der es mit dem Ende aller Illusionen von großen metaphysischen und symbolischen Wahrheiten keine Schönheit mehr geben werde. Vielmehr ist dieses („jetzt“ – 26, 19 u. 26, 25 – schon erreichte?) Zeitalter des wissenschaftlichen Geistes selbst eines, das ein neues Gespür für feinere Schönheiten, die im Unscheinbaren liegen, entwickelt hat. Das ästhetische Bedürfnis wird gerade auch in einem solchen Zeitalter befriedigt – zwar ist die Kunst nicht selbst der Gipfel aller Kultur, aber sie findet sich auf diesem Gipfel durchaus harmonisch an der Seite der Wissenschaft mit ein –, und zwar in einer neuen Einfachheit als Ideal, die weder des Bombasts noch der Symbolik bedarf. Die bescheidenen Wahrheiten sind formal schlicht und darum schön. Auch MA I 264, KSA 2, 219, 19–24 wird es den „wissenschaftlichen Naturen“ attestieren, statt auf das Glänzende und Erregende zu schielen, vielmehr die „unscheinbare Wahrheit“ fest im Blick zu haben. Die „Anzeichen höherer und niederer Cultur“, die in MA I 3 erstmals zur Sprache kommen, werden dann das Titelthema des „Fünften Hauptstücks“ (MA I 224–292). In einer Überlegung in NL 1876/77, KSA 8, 23[169], 465, 22–26 wird MA I 3 vorbereitet: „Es ist eine Stufe der Cultur, das Große und Extreme zu schätzen, den großen Menschen, die stärkste Produktivität, das wärmste Herz. Aber um die Welt zu begreifen, muß man zur höheren Stufe kommen, daß das Kleine und Unscheinbare wichtiger in seinen Wirkungen ist z. B. die gebundenen Geister usw.“ Hier ist die „höhere[.] Stufe“, auf der die Sprechinstanz von MA I 3 bereits zu stehen wähnt, eher noch als eine künftige in Aussicht gestellt. Die Fassung des Gedankengangs in MA I 3 ist nicht N.s letztes Wort – etwa gibt sich NL 1880, KSA 9, 7[78], 333, 1–6 im Blick auf eine neue Phantastik des wissenschaftlichen Geistes deutlich zurückhaltender: „Scheinbar ist alles jetzt viel sicherer, die Welt viel fester (wegen der vielen streng bewiesenen Wahrheiten) Aber ehemals glaubte man mehr an den Irrthum als jetzt an die Wahrheit: wir sind unendlich vorsichtiger, skeptischer und folglich u n t e r U m s t ä n d e n p h a n t a s t i s c h e r als ehemals. Wir können ganz andere Träume träumen als die früheren!“ (Dazu NK KSA 3, 411, 27–412, 7) Die Kritik am Glauben an metaphysische Wahrheiten hält sich hingegen bis ins Spätwerk durch (siehe z. B. NK KSA 5, 399, 10–12). Mit den in MA I 3 den wissenschaftlichen Geistern attestierten asketischen Tugenden „Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit“ verrät sich freilich ein Glaube an das
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 3, KSA 2, S. 25
87
Ideal eines „Willens zur Wahrheit“, den die Dritte Abhandlung der Genealogie der Moral als restmetaphysisch problematisieren wird (vgl. z. B. NK KSA 5, 400, 9–15). In der Mappe Mp XIV 1, 77 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,77) befindet sich eine ‚Reinschrift‘ von MA I 3. KSA 14, 122 teilt überdies eine „Umarbeitung vom Januar 1888“ ohne Fundortangabe (vgl. NK ÜK MA I 2) mit, die dort wie folgt lautet: „Es ist das Merkmal eines stärkeren und stolzeren Geschmacks, so leicht es sich auch als dessen Gegentheil ausnimmt, die kleinen unscheinbaren vorsichtigen Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen als jene beglückenden berauschenden Unwahrheiten, an welchen der Glaube künstlerischer Zeitalter sein Glück und seinen Rausch sucht weiten schwebenden umschleiernden Allgemeinheiten, nach denen das Bedürfniß religiöser oder künstlerischer Zeitalter greift. Menschen, deren intellektuelle Zucht zurückgeblieben ist oder, aus guten Gründen, zurückgehalten werden muß (– das der Fall der Frauen Weiber) haben gegen jene kleinen Gewißheiten etwas wie Hohn auf den Lippen; einem Künstler zum Beispiel sagt eine physiologische Entdeckung nichts: Grund genug für ihn, gering von ihr zu denken. Solche Rückständige, welche gelegentlich die Richter zu spielen sich beikommen lassen (– die drei Künstler-Komödianten Rückständigsten großen Stils, welche unsere Zeit aufzuweisen hat, haben es alle drei gethan: Victor Hugo für Frankreich, Carlyle für England, Wagner für Deutschland) weisen mit Ironie darauf hin – – –“. In dieser Neufassung ist nicht mehr wie in MA I 3 von einer „höhern Cultur“ (25, 18), sondern von einem „stärkeren und stolzeren Geschmack[.]“ die Rede, der die unscheinbaren, bescheidenen Wahrheiten zu goutieren verstehe. Hat die originale Version noch mit einem Gegensatz von Wissenschaft(en) und Kunst gespielt und erst eine allmähliche Läuterung und Vertiefung des zivilisatorisch zurückgebliebenen Kunstgeschmacks in Aussicht gestellt, spielt die Version von 1888 von Anfang an mit zwei entgegengesetzten Geschmäckern und verortet die Debatte also gänzlich im Bereich der Ästhetik. Sie nennt mit Victor Hugo, Thomas Carlyle und Richard Wagner dann auch drei zeitgenössisch dominierende Repräsentanten ästhetischer Rückständigkeit. Wagner wird N. im Jahr 1888 zwei überaus scharfzüngige Werke widmen (Der Fall Wagner und Nietzsche contra Wagner); Hugo (vgl. NK KSA 6, 30, 21–23, NK KSA 6, 37, 30–33 u. NK KSA 6, 111, 8) und Carlyle (vgl. NK KSA 6, 111, 12 f. u. NK 6/1, S. 443–445) ergeht es kaum besser. Die neue Fassung ist also mit ihrer personalen Konkretisierung auf die kultur(philosophie)politischen Interessen des Jahres 1888 hin ausgerichtet und weniger als die des Jahres 1878 an einer allgemeinen Kulturentwicklungstheorie allmählicher Verwissenschaftlichung und gleichzeitiger Alltäglichkeitsästhetisierung der menschlichen Lebenswelt interessiert. 25, 21 f. Irrthümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen] Die Rede von einem „metaphysischen Zeitalter“, das dem „wis-
88
Menschliches, Allzumenschliches I
senschaftlichen“ vorausgeht (und auf ein „theologisches“ folgt), ist ein Gemeinplatz in Auguste Comtes Positivismus, worüber sich N. etwa in John Stuart Mills Studie Auguste Comte und der Positivismus belesen hat (Mill 1869–1886, 9, 6–8; mit zahlreichen Anstreichungen von N.s Hand; zu einer möglichen Comte-Nähe auch in MA I 234 siehe Frezzati 2017, 188, zu N.s Begegnungen mit Comte allgemein Toledo 2016). In Henry Charles Careys Lehrbuch der Volkswirtschaft und Socialwissenschaft, das N. allerdings erst nach dem Erscheinen von MA I käuflich erworben hat (vgl. N. an Ernst Schmeitzner, 08. 06. 1879, KSB 5/KGB II 5, Nr. 855, S. 417), wird ganz in dieser Tradition als Losung ausgegeben: „Die methodische Erforschung des Menschen muss an die Stelle der metaphysischen treten.“ (Carey 1870, 1) Von einer „künstlerischen“ Epoche parallel, nach oder vor der „metaphysischen“ findet sich allerdings im landläufigen positivistischen Geschichtsbild keine Spur. MA I 3 initiiert eine in zahlreichen Abschnitten des Buches greifbare Tendenz, künstlerische Ausdrucksformen und Sichtweisen als überwunden oder überwindungsbedürftig, jedenfalls als vormodern darzustellen (vgl. z. B. MA I 223 u. MA I 234). In 25, 21 f. bleibt offen, wie sich „Zeitalter“ und (Einzel-)„Menschen“ zueinander verhalten. Vgl. zum Verhältnis von Wissenschaftler und Künstler in MA I–II auch Heller 1972b, 67–76, zum Ende der Kunst ebd., 82–91. 25, 22 f. Zunächst hat man gegen erstere den Hohn auf den Lippen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „Zunächst hat man gegen sie den Hohn auf den Lippen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1648750028/37/). Zuerst wurde „sie“ am Rand mit Bleistift durch „jene“ ersetzt, dann „jene“ gestrichen und „erstere“ hinzugefügt. 25, 24–26 so bescheiden, schlicht, nüchtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend, berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „so schön, prunkend, berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene, so bescheiden, schlicht, nüchtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese da“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/38/). Die Umstellung wurde mit Bleistift vorgenommen; mit Tinte wurde „beseligend“ in „beseeligend“ korrigiert – eine Korrektur, die aber weder in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 6) noch in späteren Ausgaben übernommen wurde. 25, 27 mühsam Errungene] In der ‚Reinschrift‘: „Mühsam-Errungene“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,77). 26, 2 f. allen Glauben an Inspiration und wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat] Zur wiederholten Kritik N.s am religiösen Anspruch, durch „Inspiration“, also eine übersinnliche Eingebung aus höherer, transzendenter Sphäre, einer Wahrheit teilhaftig zu werden („In der D o g m a t i k bezeichnet man mit
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 3, KSA 2, S. 25–26
89
I[nspiration] […] die übernatürliche Mittheilung von Seiten Gottes an die Menschen durch den ‚Anhauch‘ seines Geistes“ – Meyer 1874–1884, 9, 314 f.), vgl. z. B. NK KSA 5, 19, 2 f. und zur Idee der dichterischen Inspiration aus Platons Ion (534e) NK KSA 3, 435, 2. Jene Kritik hindert freilich die Sprechinstanz in Ecce homo nicht daran, Inspiration für sich selbst in Anspruch zu nehmen, vgl. NK KSA 6, 339, 9– 21. Für den wissenschaftlich Gesinnten von MA I 3 steht außer Frage, dass derlei außerwissenschaftliche Wahrheitsquellen nicht ernstlich in Betracht kommen. 26, 14–17 Ehemals war der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert; jener Ernst des Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden] Was sich hier wie eine Epochenumbruchsbeschreibung liest, beschreibt auch sehr genau N.s eigene Denkentwicklung: In der Geburt der Tragödie zeigte er sich – vor dem Hintergrund Schopenhauers, Wagners und der Romantiker, mit der Schützenhilfe von Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (Creuzer 1836–1843) – sehr eingenommen von der weltdaseinsgrunderschließenden Kraft des Symbolischen (vgl. z. B. NK KSA 1, 33, 31– 34, 4). Als Kulturdiagnose stand in NL 1871, KSA 7, 9[92], 308, 9–14 noch fest: „Der Mangel des Symbols in unserer modernen Welt. Verständniß der Welt in ‚Symbolen‘ ist die Voraussetzung einer großen Kunst. Für uns ist die Musik zum Mythus, zu einer Welt von Symbolen geworden: w i r v e r h a l t e n u n s z u r M u s i k , w i e d e r G r i e c h e z u s e i n e n s y m b o l i s c h e n M y t h e n“. In MA I 3 hingegen ist das Vertrauen in die Kraft des Symbolischen nur noch das Kennzeichen einer vorwissenschaftlichen Denkweise. Vgl. auch NK 1/1, S. 43 f. u. 65. 26, 16 Ernst des Symbolischen] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 6) korrigiert zu: „Ernst im Symbolischen“. (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/25/) 26, 17–20 wie unsere Künste selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „wie unsere Künste selber immer intellectualer werden, unsere Sinne geistiger, und wie wir zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilen“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/38/). 26, 25 geistreiche Blick] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 7) korrigiert zu: „geistreiche innige Blick“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1252332904/26/).
90
Menschliches, Allzumenschliches I
4. MA I 4 stellt eine empfindungsoptische Täuschung in den Fokus der Betrachtung: Die Gegenstände, mit denen es das „religiöse[.], moralische[.] und ästhetische[.] Empfinden[.]“ (26, 30 f.) zu tun hat, seien „wahrscheinlich“ (26, 29 f.) nur oberflächlich, während die Menschen zu glauben geneigt seien, die Intensität ihres entsprechenden Empfindens beweise, dass sie damit „an das Herz der Welt“ (27, 1) rührten. Dieser falsche Glaube gründet nach dem historisch Philosophierenden in einer narzisstischen Selbstüberschätzung; es zeige sich hier derselbe falsche „Stolz wie bei der Astrologie“ (27, 3). Die Astrologie wähne, das Universum kreise um das menschliche Schicksal, während „der moralische Mensch“ (27, 5) sich der Illusion hingebe, das, was ihn umtreibe, müsse auch das sein, was die Welt als ganze ausmache. Damit wird die Reichweite von Religion, Moral und Ästhetik radikal beschnitten: Dass man sich durch sie emotional erregt oder erhoben fühlt, sagt nichts darüber aus, ob Religion, Moral oder Ästhetik außerhalb unseres Innenlebens irgendeine Rolle spielen. So wird erstens die auf Kant zurückgehende moralphilosophische Tradition kassiert, die aus der Selbsterfahrung des moralischen Subjekts zum ‚Ding an sich‘ vordringen zu können glaubt (siehe im „Beschluss“ von Kants Kritik der praktischen Vernunft die berühmte Wendung: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ – AA V, 161; dazu Heller 1972b, 110, ferner zur systematischen Frage des Kantbezugs in MA I 4 Claesges 1999, 92 f.). Zweitens gerät die auf Friedrich Schleiermacher zurückgehende religionsphilosophische Tradition unter die Räder, die sich aus einem für ursprünglich gehaltenen religiösen Gefühl den Schluss auf die Existenz Gottes erlaubt. Drittens hat auch die romantische Tradition, die aus einem ästhetischen Gefühl das Verzaubert-Sein der Wirklichkeit folgert, unter diesem kritischen Zugriff keinen Bestand mehr. In all diesen Fällen hat man es nach MA I 4 mit einer grandiosen Selbstüberschätzung der Aussagekraft privater Empfindungen zu tun. Diese Empfindungen sagen nur etwas über das Subjekt aus, aber nichts über die außersubjektive Welt. Dabei bestreitet MA I 4 keineswegs die Existenz solcher Empfindungen, sondern nur ihre Welterschließungskraft. Sie erweisen sich als religionsoptische, moraloptische und ästhetisch-optische Täuschungen, wenn man ihnen aus Eitelkeit – weil man seine Subjektivität, sein persönliches Gestimmtsein zu wichtig nimmt – eine solche Welterschließungskraft zuschreibt. MA I 15 wird die Einsicht in diese Überschätzung der vermeintlich wirklichkeitserhellenden Innenperspektive weiter vertiefen. Im Heft M I 1, 92 f. (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,92, http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,93) befindet sich eine ‚Reinschrift‘ von MA I 4 und
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 4, KSA 2, S. 26–27
91
in U II 5, 125 eine ‚Vorstufe‘, die lautet: „Ethik u Kunst bleiben an der Oberfläche der Dinge; sie täuschen, weil sie beseligen. Der Mensch ist hier so stolz wie bei der Astrologie.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,125) 26, 30 f. ästhetischen Empfindens] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 7) korrigiert zu: „ästhetischen und logischen Empfindens“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1252332904/26/). 27, 1–7 er täuscht sich, weil jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief unglücklich machen, und zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese meint, der Sternenhimmel drehte sich um das Loos des Menschen; der moralische Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am Herzen liege, müsse auch Wesen und Herz der Dinge sein.] Mit der Parallelisierung von Astrologie und Moral wird suggeriert, dass Moral im herkömmlichen Sinne einer früheren Entwicklungsstufe der Gattung zugehört, die in einem wissenschaftlich-historisch-philosophischen Weltbild eigentlich keinen Platz mehr hat. Dabei ist N. bei seinen Lektüren öfter mit der Frage nach der Bedeutung der Astrologie und ihrer Abgrenzung von der Astronomie in der Menschheitsgeschichte konfrontiert gewesen (vgl. z. B. Lange 1866, 81 u. 338 [zu Lange und Astrologie in MA I 245 siehe Orsucci 1994, 443 f.], Lubbock 1875, 169 u. Tylor 1873, 1, 128–132; zu N.s Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Astronomie seiner Zeit auch als Dezentrierungswissenschaft siehe Treccani 2014 und mit Schwerpunkt auf MA II WS Treccani 2021). Bei William Edward Hartpole Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung steht die Astrologie für einen naiven Geo- und Anthropozentrismus: „Dem Ungebildeten scheint keine Behauptung selbstverständlicher, als dass unsere Erde der grosse Hauptzweck des Weltalls ist […]. Da der Mensch der Mittelpunkt aller Dinge ist, so hat jede auffallende Naturerscheinung einen Bezug auf seine Handlungen.“ (Lecky 1873, 1, 215; von N. am Rand markiert, seine Unterstreichung.) „Es ist eine äusserst geistvolle, und mindestens soweit die Zeit der Wiederbelebung der Wissenschaft darunter begriffen ist, eine höchst richtige Bemerkung Comte’s, dass die Astrologie der erste systematische Versuch war zur Gestaltung einer Philosophie der Geschichte, da sie die schein-/216/bar wunderlichen Erscheinungen der menschlichen Handlungen in das Bereich des Gesetzes zurückzuführen suchte. Man kann sie aber, glaube ich, mit nicht minderem Rechte als eine der letzten Kämpfe menschlicher Selbstsucht gegen das niederdrückende Gefühl der Unbedeutenheit betrachten, welches die Unermesslichkeit des Weltalls erzeugen musste. […] Die, welche unsere Erde für den Mittelpunkt des materiellen Universums betrachten, werden ihr immer eine ähnliche Stellung in dem sittlichen Weltplane zuschreiben; ist nun die Falschheit der ersten Behauptung nachgewiesen, so erscheint die zweite unangemessen oder als Schwierigkeit.“ (Lecky 1873, 1, 215 f.; von N. mit Randstrichen und NBs markiert, seine Unterstreichungen.) Auch
92
Menschliches, Allzumenschliches I
bei Tylor 1873, 1, 128 f. wird der zählebige Erfolg der Astrologie auf einen falschen Analogieschluss zurückgeführt. In Jenseits von Gut und Böse wird N. den Zusammenhang von Astrologie und Moral breiter thematisieren, siehe NK KSA 5, 12, 3– 9, NK KSA 5, 51, 22–25 u. NK KSA 5, 109, 20–25 mit weiteren Quellen für N.s Astrologie-Verständnis.
5. Dieser erste von mehreren Abschnitten in MA I, die sich mit dem Traum beschäftigen – vgl. v. a. MA I 12 und MA I 13, dazu ausführlich Ungeheuer 1983 und Treiber 1994 –, hat noch die verhältnismäßig einfache Struktur einer historischen Tatsachenbehauptung auf der Grundlage von nicht genannter (paläo)anthropologisch-historischer Forschungsliteratur. MA I 5 – dazu findet sich eine ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 208 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,208) – sieht im Traum, der einem andere, parallel zum Wachleben existierende Welten vorgaukelt, den „Ursprung aller Metaphysik“ (27, 12), also den Grund dafür, warum die Menschen in frühen Kulturen darauf verfallen sind, eine Welt hinter oder neben der von ihnen tagsüber bewohnten anzunehmen. Die Vorstellung einer Dualität von Leib und Seele hänge „mit der ältesten Auffassung des Traumes“ (27, 14 f.) ebenso zusammen wie der Glaube an einen „Seelenscheinleib[..]“ (27, 15 f.), sprich: der Glaube an Gespenster – und „wahrscheinlich“ (27, 16 f.) der Glaube an Götter. Das Fortleben der Toten sei an ihrem Erscheinen im Traum festgemacht worden – viele Jahrtausende lang. Der Traum ist bereits in der Geburt der Tragödie vor dem Hintergrund von Schopenhauers Traumtheorie (vgl. NK KSA 1, 26, 3–5) ein tragendes Motiv; er steht dort neben dem dionysischen Rausch für die andere, apollinische Seite des Ursprungs aller Kunst. „Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poësie.“ (GT 1, KSA 1, 26, 21–24) MA I 5 behält eine Grundstruktur von GT 1 bei, nämlich die, dass das Träumen eine Erklärung für die Entstehung einer menschheitsbestimmenden Kulturleistung darstelle – dort der Kunst, hier der Metaphysik, des Leib-Seele-Dualismus sowie des Geister- und Götterglaubens. Während aber in GT 1 das Kulturschöpferische des Träumens unter positiven Vorzeichen steht, haben sich diese Vorzeichen in MA I 5 negativiert: Das Träumen ist verantwortlich für einen Irrweg der Menschheit, den das historische Philosophieren, wie es sich hier in praxi zeigt, aufdecken und umlenken will. Dabei konnte sich N. insbesondere auf die Bücher von Lubbock und Tylor stützen, die er besaß (Lubbock 1875; siehe ausführlich Armin Thomas Müller 2021,
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 4–5, KSA 2, S. 27
93
ferner Sánchez 2013, 82–85) oder sich aus der Basler Universitätsbibliothek entlieh (Tylor 1873). Beide Autoren schließen aufgrund von ethnographischen Befunden zu zeitgenössischen ‚primitiven‘ oder ‚wilden‘ Völkern auf die Beschaffenheit der frühgeschichtlichen Vorstellungswelt; ihre (seit dem 18. Jahrhundert geläufige, aber anfechtbare) Methode ist also die einer Rückprojektion, die sich in Ermangelung einer faktischen Untersuchbarkeit archaischer Menschheitszustände mit Material aus der Gegenwart behilft und die strenge Parallelität heutiger ‚Primitiver‘ und frühgeschichtlicher Menschen behauptet. In Lubbocks Entstehung der Civilisation heißt es: „Die Religionsbegriffe der niederen Rassen stehen in enger Verbindung mit dem Zustande, in den der Mensch durch den Schlaf und hauptsächlich durch den Traum versetzt wird; sie werden vielleicht sogar nur durch diese Erscheinungen hervorgerufen. Schlaf und Tod sind von jeher für Brüder gehalten worden.“ (Lubbock 1875, 178; vgl. Thatcher 1983, 296 f.) „Was geschieht“, fragt Lubbock weiter, „mit der Seele während des Schlafes? Der Leib eines Schlummernden ist anscheinend leblos; aus dieser Thatsache zieht ein Wilder begreiflicher Weise die Schlußfolgerung, /179/ daß die Seele den Körper verlassen habe. Das Auftreten der Träume, die er für wirkliche Erlebnisse hält und denen er eine Bedeutung zuschreibt, die wir kaum begreifen können, bestärkt ihn in diesem Wahne. Während des Schlafes scheint der Geist seine Wohnung zu verlassen; und da wir im Traume andere Orte, ja sogar andere Welten aufsuchen und gleichsam ein Doppelleben führen, so ist es erklärlich, daß Tod und Schlaf für verwandte, sich gleichsam ergänzende Erscheinungen gehalten werden. Daher hält ein Wilder alle Traumbilder für wirkliche Vorgänge und kommt folglich auf den Gedanken, daß er einen Geist besitzen müsse, welcher den Körper verlassen kann.“ (Lubbock 1875, 178 f.) Tylor wiederum unterfüttert seine Theorie des „Animismus“ mit einer Kulturgeschichte der Seelenvorstellungen: „Auf den niedrigsten Culturstufen, von denen wir eine klare Kenntniss haben, finden wir tief eingewurzelt den Begriff einer Geisterseele, welche, so lange sie im Leibe ist, das Leben des Menschen bedingt, und ausserhalb des Leibes in Träumen und Visionen erscheint […] Der Animismus civilisirter Menschen ist, während er natürlich den fortgeschrittenern Kenntnissen angepasst ist, zum grossen Theil nur als ein ausgebildeteres Product des älteren und roheren Systems zu erklären. Die Lehren und Riten der niederen Rassen sind ihrer Philosophie gemäss Resultate unmittelbarer natürlicher Zeugnisse und Akte einer direkten praktischen Zweckmässigkeit. In den Lehren und Riten der höhern Rassen finden wir mitten in den neuen Ueberlebsel aus den alten, Modificationen der alten, um sie mit den neuen in Einklang zu setzen.“ (Tylor 1873, 1, 493) „Der Animismus scheint sich in der That auf seinen äussersten Posten zurückzuziehen und sich auf seine erste und hauptsächlichste Position, die Lehre von der menschlichen Seele, zu concentriren. Diese Lehre hat im Laufe
94
Menschliches, Allzumenschliches I
der Geschichte die durchgreifendsten Umwandlungen erfahren. Sie hat den vollständigen Verlust eines ihrer bedeutendsten Argumente überdauert – die objective Wirklichkeit der in Träumen und Visionen erscheinenden Seelen oder Geister. […] Der Platz der Seele im modernen Denken ist in der Metaphysik der Religion, und dort besteht ihre Hauptaufgabe darin, der religiösen Lehre vom zukünftigen Leben eine intellectuelle Seite zu verleihen. Solche Veränderungen haben den fundamentalen animistischen Glauben in seinem Laufe durch die successiven Culturperioden der Welt differenzirt. Und doch ist es nicht zu verkennen, dass die Anschauung von der menschlichen Seele trotz all dieser tief greifenden Umbil-/495/dungen ihrer wesentlichen Natur nach ununterbrochen von der Philosopie [sic] des wilden Denkers zu der des modernen Professors der Theologie herüberreicht. Die Definition derselben ist von Anfang an die einer belebenden, lostrennbaren, den Körper überdauernden Wesenheit, das Vehikel der individuellen, persönlichen Existenz geblieben.“ (Ebd., 494 f.; vgl. Treiber 1994, 7) Die in MA I 5 aufgestellte Kontinuitätsthese zwischen urtümlichem, traumbasiertem Seelenglauben und moderner Metaphysik wird also bei Tylor breit entwickelt. 27, 16 f. also die Herkunft alles Geisterglaubens, und wahrscheinlich auch des Götterglaubens] Vgl. Lubbock 1875, 293: „In uncivilisirten Gemeinschaften, wo es keine Rangesunterschiede giebt, pflegen die Geister der Entschlafenen in der That kaum das Ansehen eines Gespenstes zu überschreiten; bei einer mehr geregelten Regierung werden die Geister der Großen zu Göttern.“ 27, 17–19 „Der Todte lebt fort; d e n n er erscheint dem Lebenden im Traume“: so schloss man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch.] Fast wortgleich erscheint diese Passage, wenn auch ohne die Anführungszeichen, die hier kein Zitat, sondern eine Anverwandlung an die archaische Sicht markieren, in N.s Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen aus den Wintersemestern 1875/76 und 1877/78, dort bezogen auf die altgriechische Vorstellungswelt: „Der Todte lebt fort, denn er erscheint in Träumen u. Halluzinationen der Lebenden; so begründet sich der Glaube an Geister, getrennt vom Körper; so ward sein Grab Gegenstand abergläubischer Betrachtung.“ (KGW II 5, 371, 3–6; siehe Orsucci 1996, 4 u. Figl 2007b, 249) Lubbock 1875, 179 f. erhärtet diese Behauptung am ethnographischen Material, jedoch ohne Griechen-Bezug: „Sieht ein Wilder einen verstorbenen Freund oder Verwandten /180/ im Traume, so denkt er natürlich, daß der Geist des Abgeschiedenen ihn besuche. Hieraus entsteht nicht sowohl der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele, als vielmehr an ihr Ueberleben des Körpers. So glauben zum Beispiel die Veddahs von Ceylon an Geister, weil sie ihre entschlafenen Angehörigen im Traume sehen, und die Manganjas (Südafrika) begründen ausdrücklich ihren Glauben an ein zukünftiges Leben auf dieselbe Thatsache. / Personen, deren Schlaf häufig durch das Erscheinen verstorbener Angehörigen gestört wird, pfle-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 5–6, KSA 2, S. 27
95
gen auf den Gräbern derselben ein Opfer zu bringen; sie hoffen durch diese Handlung den Geistern der Hingeschiedenen ihre Ruhe wiederzugeben.“ (Vgl. Gasser 1997, 260, der auch auf eine weitere Belegstelle bei Lubbock 1875, 196 verweist.) Lubbock kommt immer wieder auf den „Einfluß der Träume“ zurück: „Erscheint einem Eingeborenen im Traum ein todter Vater oder Bruder, so bezweifelt er keinen Augenblick die Wirklichkeit dieser Erscheinung, und schließt daraus, daß sein Geist noch lebt. Da sie indessen weit seltener von ihren Großvätern träumen, so halten sie dieselben für vollständig todt.“ (Lubbock 1875, 274; vgl. Thatcher 1983, 297) Das Motiv der im Traum wiederkehrenden Toten nimmt MA I 147, KSA 2, 23 f. wieder auf.
6. Hatte es MA I 5 mit der anhaltenden, aber versteckten Präsenz frühgeschichtlicher Vorstellungen im metaphysisch-religiösen mentalen Haushalt neuzeitlicher Menschen zu tun, scheint MA I 6 – zu dem es eine ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 20 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,20) gibt – zunächst auf die Kritik am Wissenschafts- und Philosophieverständnis der Gegenwart ausgerichtet zu sein: Während man bei kleinen Wissenschaftsgebieten nur auf deren konkrete Sachfragen schaue, legten einem die „allgemeinen grossen Wissenschaften“ (27, 24) eigentlich unsachgemäße Fragen auf, nämlich die nach deren Wozu und allgemeinem „Nutzen“ (27, 26). Wem solche Fragen aufgebürdet würden, wird freilich nicht gesagt – allen Gegenwartsmenschen, den wissenschaftlichen Laien, den Wissenschaftlern, gar den Philosophen? In der Philosophie jedenfalls, die an die „Spitze der gesammten Wissenspyramide“ (27, 29 f.) zu stehen kommt, werde „unwillkürlich die Frage nach dem Nutzen der Erkenntniss überhaupt aufgeworfen“ (27, 30–28, 1) – und „jede Philosophie“ strebe „unbewusst“ (28, 1 f.) danach, diesen Nutzen möglichst hoch zu veranschlagen. Daher sei die Philosophie wie die „Kunst“ (28, 9) dazu geneigt, möglichst „hochfliegende“ (28, 4) Antworten zu geben, die nämlich dem Leben scheinbar Tiefe und Bedeutung verliehen, während man sich mit den unscheinbaren Antworten, die etwa die „Physik“ (28, 5) gebe, nicht anfreunden wolle. Daraus entstehe ein Gegensatz von Philosophie und konkreten Wissenschaften; sämtliche Philosophen hätten bisher die Erkenntnis und ihren Nutzen verteidigt und seien damit zumindest „Optimist[en]“ (28, 14) geblieben. Mit der Schlusswendung wird auch die Eingangssuggestion zerstört, wonach es um eine Analyse der wissenschaftlich(-philosophisch)en Gegenwartssituation gehe. Vielmehr scheinen die Wissenschaft und die Philosophie während ihrer gesamten Geschichte von der Frage nach dem Wozu und dem Nutzen bestimmt gewesen zu sein. Diese Frage kann demnach nicht erst mit dem modernen Utilita-
96
Menschliches, Allzumenschliches I
rismus aufgekommen sein (der N. etwa in der Gestalt von John Stuart Mills Utilitarianism durchaus vor Augen stand), der sich nach dem größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Zahl erkundigt und dieser Erkundigung auch die Wissenschaften und die Philosophie unterwirft. Vielmehr muss diese Frage die Philosophie und die Wissenschaften schon lange begleitet haben, da ja alle bisherigen Philosophen sie beantwortet und den Nutzen der Erkenntnis so hoch veranschlagt hätten. Die Wissenschaften und die Philosophie standen offenbar immer schon unter Rechtfertigungszwang. Zur Problematisierung des Nutzens in der Wissenschaft vgl. auch MA I 38. Während die Sprechinstanz in MA I 6 offensichtlich eine Sympathie für die unscheinbaren Wahrheiten hegt, die schon MA I 3 gegen hypertrophe Metaphysik ins Feld geführt hatte, wird nicht ausgeführt, woher denn die Frage nach dem Wozu und dem Nutzen der Wissenschaften rührt. Hätte man eingangs den Eindruck bekommen können, diese „recht unsachliche Frage“ (27, 25) sei eine typische Gegenwartsreaktion auf die Wissenschaften (und auch ein Versuch, sie zu depotenzieren), wird bald klar, dass die Frage offensichtlich mit dem Auftreten von Wissenschaft gleichursprünglich ist, zumal diese ja ursprünglich ohnehin die Gestalt von Philosophie, also die Gestalt eines Globalantwortgefüges gehabt hatte. Aus der Gesprächsgemeinschaft mit Paul Rée hätte N. eine evolutionäre Erklärung für das Woher der Frage nach dem Wozu und dem Nutzen der Wissenschaft erhalten können: „Aus der Geschichte der intellectuellen Fähigkeiten geht also hervor, dass unser Erkenntnissvermögen zunächst blos für die Befriedigung unserer Triebe, nicht etwa für die rein sachliche Erkenntniss des Wahren und Schönen da ist“ (Rée 1877, 92 = Rée 2004, 181). Wäre dem so, müsste sich natürlich auch die Wissenschaft die Frage gefallen lassen, was sie denn zur „Befriedigung unserer Triebe“ beitragen könne – soweit man sich nicht, wie in MA I 6 immerhin in den kleineren Wissenschaften, zu einer „rein sachlichen Erkenntniss“ hinaufgearbeitet hat. Rée seinerseits hält nun genau jenes Pathos der Erkenntnis um jeden Preis, ungeachtet aller womöglich negativen Folgen aufrecht, das nach MA I 6 die Philosophie von Anfang an kennzeichnet: „In dieser Schrift ist das Wesen und der Ursprung der moralischen Empfindungen dargestellt worden, ohne dabei zu beachten, ob ihre Lecture schädlich oder nützlich sein möchte. Nur so kann die Erkenntniss gefördert werden: einem Philosophen darf nichts heilig sein, als die Wahrheit.“ (Rée 1877, 140 = Rée 2004, 210) Im gleichen Atemzug weist Rée die bloße Nützlichkeitserwägung ab: „Wer hingegen von der Wahrheit nur so viel zu sehen wagt, als nützen oder wenigstens nicht schaden kann, wird in den meisten Fällen nur wenig von ihr sehen.“ (Rée 1877, 141 = Rée 2004, 210) MA I 6 liest sich wie die Metakritik einer solchen – von Rée auf geradezu klassische Weise vertretenen – Abweisung bloßer Nützlichkeitskalküle bei gleichzeitiger „Apologie
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 6, KSA 2, S. 27
97
der Erkenntniss“ (28, 13). Rée stünde damit noch in einer Tradition, aus der N. sich anschickt herauszutreten, indem er auch den „Willen zur Wahrheit“ (so dann die Formulierung in GM III 24 und an anderen Stellen im Spätwerk im verbalen Anschluss an Kuno Fischer, vgl. NK KSA 5, 400, 9–15) der Fundamentalkritik preisgibt. Die Sprechinstanz in MA I 6 zelebriert jene Bescheidenheit nachmetaphysischen historischen Philosophierens, die bereits in den vorangegangenen Abschnitten anempfohlen worden ist, und setzt die Bedeutung der Philosophie in ihren bisherigen Selbstbeschreibungen stark herab. Zugleich aber tritt dieses historische Philosophieren – das freilich in MA I 6 nicht namhaft gemacht wird – selbst als eine Kraft auf, die sich zwar nicht durch Nähe zur Kunst und durch Bedeutungsverleihung an das Leben auszeichnet, aber auch vor allem Erkenntnisse produziert, nämlich über die bisherigen blinden Flecken von Philosophie. Damit aber reproduziert das vermeintlich schon halb aus der Philosophie ausgetretene historische Philosophieren das bisherige Selbstrechtfertigungsschema: Rechtfertigung durch Erkenntnis. Eine andere Rechtfertigung steht auch der Wissenschaft nicht zu Gebote, deren „G e i s t“ laut Titelzeile „i m T h e i l , n i c h t i m G a n z e n m ä c h t i g“ (27, 21 f.) sei. Bleibt sie damit aber nicht auch im „Optimismus“ (28, 17) befangen? Vgl. zur Interpretation von MA I 6 z. B. Meyer 2003, 134. 27, 26 wozu? zu welchem Nutzen?] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „wozu? zu solchem Nutzen?“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/40/). 27, 26–28, 1 Wegen dieser Rücksicht auf den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpersönlich, als in ihren Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze der gesammten Wissenspyramide, wird unwillkürlich die Frage nach dem Nutzen der Erkenntniss überhaupt aufgeworfen] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 20 steht stattdessen: „Deshalb werden sie weniger unpersönlich behandelt: so ist die Philosophie die Frage nach dem Nutzen der Erkenntniß überhaupt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,20). 27, 29 f. Wissenspyramide] Das Wort kommt außer in MA I 6 bei N. nur noch in GT 15, KSA 1, 100, 6 sowie in der Vorarbeit dazu, SGT, KSA 1, 638, 10, vor. GT 15 ist mit den Überlegungen zum theoretischen Optimismus die Arbeitsgrundlage für MA I 6, siehe NK 28, 11–17. Das Bild von der Pyramide des Wissens oder der Wissenschaften geht auf Francis Bacon zurück (vgl. Bacon 1881, 8, 321), oder in der Reformulierung von Johann Julius Baumann: „Nach dem Baconischen Vergleich laufen alle einzelnen Seiten des Wissens zusammen in der Philosophie als ihrer Spitze, sie bilden so eine Pyramide, die einzelnen Wissenschaften sind die Grundlagen und Seitenflächen, die aufsteigend in jenem abschliessenden höchsten Punkte zusammentreffen.“ (Baumann 1872, 19)
98
Menschliches, Allzumenschliches I
28, 10 in ersteren sucht man Erkenntniss] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „erstere wollen Erkenntniss“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/40/). 28, 11–17 Es hat bis jetzt noch keinen Philosophen gegeben, unter dessen Händen die Philosophie nicht zu einer Apologie der Erkenntniss geworden wäre; in diesem Puncte wenigstens ist ein jeder Optimist, dass dieser die höchste Nützlichkeit zugesprochen werden müsse. Sie alle werden von der Logik tyrannisirt: und diese ist ihrem Wesen nach Optimismus.] Diese „Apologie der Erkenntniss“ ist – siehe NK ÜK MA I 6 – auch für eine ansonsten dezidiert illusionslose Philosophie wie diejenige Paul Rées kennzeichnend. Überdies verzichtet ja auch die Sprechinstanz in MA I 6 nicht darauf, die unscheinbaren wissenschaftlichen Wahrheiten und die in diesem Abschnitt ins Werk gesetzte Entlarvung großwissenschaftlicher und philosophisch(-metaphysisch)er Selbsttäuschungen nicht nur als erkenntnisfördernd zu behaupten, sondern aus diesem Erkenntnisförderungsmoment auch die eigene Rechtfertigung zu beziehen. In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 20 fehlt der Schlusssatz 28, 14–17 nach dem Semikolon (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,20). MA I 6 prägt zentrale Überlegungen aus GT 14 (vgl. NK KSA 1, 94, 21–95, 25) und v. a. GT 15 um. In GT 15 erscheint Sokrates als „das Urbild des theoretischen Optimisten“ (KSA 1, 100, 25 f.), der alle nachfolgende Philosophie und Wissenschaft mit der „Universalität der Wissensgier“ (KSA 1, 99, 33) angesteckt hat. Sokrates habe im „Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universalmedizin bei[ge]legt […]. In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein: so wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde.“ (KSA 1, 100, 27– 101, 1) In GT 15 beeilt sich N., das angeblich unausweichliche Ende der Geschichte von erkenntnisoptimistischer Philosophie und Wissenschaft zu Ende zu erzählen: Sie strebe, „von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert“ (KSA 1, 101, 19–21). Der „Optimismus“ in der „Logik“ besteht wie in MA I 6 im Vertrauen auf die welterschließende Kraft des regelgeleiteten, schlussfolgernden Erkennens. Aber in GT 15 „scheitert“ dieses Erkennen an all dem, was noch nicht aufgehellt ist und sich als das „Unaufhellbare“ (KSA 1, 101, 27) erweist. Der „edle und begabte Mensch“ (KSA 1, 101, 25) sehe dann, „wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst – da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, d i e t r a g i s c h e E r k e n n t n i s s, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht“ (KSA 1, 101,
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 6–7, KSA 2, S. 28
99
28–32). Genau diese Option einer der wissenschaftlichen Erkenntnis entgegengesetzten, von ihr kategorial unterschiedenen „tragischen Erkenntniss“ streicht MA I 6 ersatzlos. Hier gibt es nur noch die bescheidenen Erkenntnisansprüche der im Kleinen ihre Arbeit verrichtenden (Real-)Wissenschaften und die hypertrophen Erkenntnisansprüche von Philosophie und zu Paraphilosophie aufgeblähten Großwissenschaften. Von der „Kunst“ ist nicht mehr als „Schutz und Heilmittel“ die Rede, sondern nur noch als mit der Philosophie verwandter, mentaler Trickbetrügerin, die dem Leben eine falsche „Tiefe und Bedeutung“ (28, 10) aufzupfropfen versuche. Wenn schließlich nach MA I 6 alle Philosophen Erkenntnisoptimisten sind, gilt das notgedrungen auch für den einstigen philosophischen Gewährsmann der anderen, tragischen Erkenntnis, nämlich für Arthur Schopenhauer. Darin liegt eine besonders böse, unausgesprochene, aber naheliegende Pointe von MA I 6: Der Bannerträger des tragischen Pessimismus erweist sich im Grunde als ebensolcher Erkenntnisoptimist wie Sokrates; auch er ist von der Heilsamkeit der von ihm behaupteten Erkenntnis des Dings an sich überzeugt und lässt sich damit von der optimistischen Logik tyrannisieren.
7. MA I 7 – ein Abschnitt, zu dem sich in Mp XIV 1, 172 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,172) eine ‚Reinschrift‘ findet – setzt die in MA I 6 artikulierte Philosophie-Kritik fort und konkretisiert sie: Die Philosophie habe sich an der Stelle von der Wissenschaft getrennt, als sie danach zu fragen begann, welche Erkenntnis dem Glück der Menschen am dienlichsten sei. Und es wird eine sehr konkrete philosophiegeschichtliche Stelle benannt, an der dies geschehen sei, nämlich bei der Schulbildung im Anschluss an Sokrates. Von da an hat offensichtlich die Glücksfrage das reine Erkenntnisinteresse der Wissenschaften beschädigt; die Philosophie konnte „[ d ] e r S t ö r e n f r i e d i n d e r W i s s e n s c h a f t“ (28, 19) werden. Ausdrücklich erscheint die Philosophie, die den Glücksgesichtspunkt geltend macht, als schädlich für die Wissenschaft – man habe „die Blutadern der wissenschaftlichen Forschung“ (28, 24 f.) damit unterbunden. Auf der Grundlage der schon in MA I 3 geforderten „Tugend der Bescheidung“ (25, 15) gibt sich die Sprechinstanz in MA I 7 radikal glücksasketisch – wenigstens im Feld der Wissenschaften. Dass Sokrates die εὐδαιμονία, das Glück, ins Zentrum seiner Reflexion gerückt hat, ist bei den Philosophiehistorikern zu N.s Zeit weitgehend unbestritten, ebenso, dass die auf Sokrates zurückgeführten oder sich zurückführenden „Schulen“ ein basales Glücksinteresse hatten – neben derjenigen Platons also nament-
100
Menschliches, Allzumenschliches I
lich die von Aristippos von Kyrene begründete „kyrenaische“ mit ihrer hedonistischen Akzentsetzung (vgl. Lange 1876, 1, 32), die mit Antisthenes und Diogenes von Sinope assoziierte „kynische“ mit ihrer im Bedürfnisverzicht begründeten Glücksvorstellung sowie die logisch-dialektisch interessierte „megarische Schule“ des Euklid von Megara (zu den üblichen Schuleinteilungen im Sokrates-Gefolge siehe z. B. Zeller 1875, 2/1, 196–336). „Niemand wohl wird den eigentlichen Kern der persönlichen Lehre des Sokrates in etwas Anderem erkennen wollen als gerade darin, dass er die drei Begriffe: Weise, Gut, Glückselig für ein unum in trino erklärt hat; und die sokratischen Schulen entwickeln sich aus Sokrates, indem sie von den drei Elementen dieser einheitlichen Trias, welche Sokrates im Gleichgewicht erhalten hatte, bald das eine bald das andere überwiegen lassen.“ (Bernays 1878, 237) Nun könnte man gegen die Geschichtserzählung in MA I 7 zunächst einzuwenden geneigt sein, der Text überschätze die geistesgeschichtliche Bedeutung der „sokratischen Schulen“, und sich dazu beispielsweise auf Eduard Zeller berufen: „Sind […] diese Schulen auch nicht ohne Bedeutung für den Fortgang der griechischen Philosophie geblieben, so können wir doch den Werth ihrer wissenschaftlichen Leistungen im ganzen nicht sehr hoch anschlagen“ (Zeller 1875, 2/1, 336). Freilich klammert Zeller Platon als eigentlichen Fortsetzer des Sokrates bei diesem Urteil aus – und der Abschnitt MA I 7 könnte gerade Platon sowie Aristoteles im Blick haben, wenn er die anhaltende Persistenz der Glückfrage herausstellt. Tatsächlich wird man schwerlich bestreiten können, dass diese Frage seit Sokrates – mit Haussen und Baissen – zumindest die praktische Philosophie beherrscht. Allerdings zeigt MA I 7 nicht wirklich, wie die Glücksfrage andere Bereiche des Denkens und Forschens kontaminiert; es bleibt zunächst nur bei der Behauptung, dass dies der Fall sei. Ohnehin verhielt es sich ja zur Zeit der sokratischen Schulen keineswegs so, dass bereits eine völlig unabhängige Wissenschaft existiert hätte, die dann erst durch philosophische Infiltration mit der Glücksfrage auf Abwege geführt worden wäre. Man hätte die Geschichte einer von Glücksfragen unabhängigen Wissenschaft statt als Kontaminations- auch als Emanzipationsgeschichte erzählen können: Die Geschichte einer Wissenschaft, die sich nach und nach von den Glücksbeschaffungszwängen löst, die ihr in ihren Anfängen noch aufgebürdet waren. Aber MA I 7 operiert lieber mit der Figur der Blutzufuhrunterbrechung – als sei das Blut davor ungestört geflossen. MA I 7 steht durchaus in starker Spannung zu GT 15 – einem Abschnitt, der ja die Folie für MA I 6 gebildet hat –, insofern dort Sokrates als kalter Erfinder wissenschaftlicher Rationalität erschienen war, unempfindlich für das Unergründliche, als Inbegriff des wissenschaftlichen Geistes. Dass er in MA I 7 als Begründer einer philosophischen Glücksabirrung und damit als böser Geist der Wissenschaft auftritt, kann durchaus als Widerspruch erscheinen, zeigt aber, dass
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 7–8, KSA 2, S. 28
101
der Basso continuo der Sokrates-Kritik bei N. keine Gelegenheit verstreichen lässt, sich eine vermeintlich offene Flanke des Gegners zunutze zu machen. In dem der „V e r g l e i c h u n g der älteren Philosophie mit der nachsokratischen“ gewidmeten Notat NL 1875, KSA 8, 6[15], 103, 11–24 wird herausgestellt: „sie ist n i c h t so i n d i v i d u e l l - e u d ä m o n o l o g i s c h, ohne die garstige Pretension auf Glück“, und weiter: „diese ältern Philosophen selbst haben in ihrem Leben höhere Weisheit und nicht die kalt-kluge Tugendhaftigkeit. Ihr Lebensbild ist reicher und complicirter, die Sokratiker simplificiren und banalisiren“. Zu MA I 7 vgl. Hildebrandt 1922, 49, Heller 172b, 122–127, Niehues-Pröbsting 1979, 260, Driever 1986, 227, Brose 1990, 90, Claesges 1999, 94 f., Figal 1999, 136, Glatzeder 2000, 45, Zichy 2002, 20 u. Stegmaier 2011, 211, allgemein zum Glück bei N. Schneider 1983. Gegenwärtige Kritik am angeblich universell gewordenen „Glücksdiktat“ kommt übrigens ohne Erwähnung N.s aus (Cabanaz/Illouz 2019). 28, 25 – und thut es heute noch] Fehlt in der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 172.
8. In das Gefüge der Wissenschaften, die bis hierher in Gestalt von (Natur-)Geschichte, Chemie und Physik gemeinsam zur Erhellung einer metaphysisch verzauberten Welt beitragen, tritt in MA I 8 – dazu eine ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 140 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,140) – jene Disziplin, aus der N. akademisch stammt. Trotz der sattsam bekannten, hier aber ausgeklammerten Vorbehalte des Philologie-Professors seiner eigenen Zunft gegenüber gibt die (moderne) Philologie hier das methodische Muster ab, wie man „die Schrift der Natur“ (28, 28) entziffern soll, nämlich ohne jeden Hintersinn in sie hineinzulegen, wie es „[d]ie Metaphysik“ (28, 27 f.) getan habe. Wenn selbst bei der Interpretation von Büchern noch nicht alle Versuche überwunden seien, einen „d o p p e l t e n Sinn“ (29, 4) in sie hineinzugeheimnissen, so gelte das erst recht für den Umgang mit der Natur. Naturwissenschaft ist demnach nur dann gegeben, wenn sie vom „p n e u m a t i s c h [ e n ]“ (28, 27 u. 28, 28 f.) Deutungsanspruch der Natur lässt – was die N. zeitgenössischen Naturdeuter offenbar keineswegs konsequent tun. MA I 8 schließt an eine Überlegung an, die „die Künstler“ als besonders anfällig für eine hintersinnige Lesart der Wirklichkeit verdächtigt: „Auch die Künstler pflegen schlecht zu lesen, sie neigen zum allegorischen und pneumatischen Erklären.“ (NL 1876/77, KSA 8, 23[22], 411, 20–22) Der Satz steht am Ende eines Notats, das sich damit beschäftigt, wie wenig die Philosophen „gelernt“ hätten, „o r d e n t l i c h z u l e s e n“ (ebd., 411, 16), weshalb beispielsweise Schopenhauer Platon völlig missverstanden habe.
102
Menschliches, Allzumenschliches I
Die in MA I 8 zur Diskussion gestellte Vorstellung ist die, die Welt insgesamt in Analogie zu einem Buch zu verstehen und sie für lesbar zu halten. Diese von Hans Blumenberg in ihren Verästelungen seit der Antike rekonstruierte Vorstellung (Blumenberg 1993, wo freilich N. nur marginal vorkommt) findet im christlichen Kulturkontext ihre Ausprägung in der Unterscheidung zwischen einem ‚Buch der Natur‘ und einem ‚Buch der Offenbarung‘, nämlich der Bibel (vgl. zur Übersicht Nobis 1971, Rothacker 1979, Kann 2003 u. Breidbach 2011, 208–210). Die Unterscheidung der beiden Bücher beruft sich auf Andeutungen, die Augustinus in De Genesi ad litteram II 15, 30 macht, wo er Gott als „auctor et conditor“, als „Urheber und Begründer“ beider Sphären in Anspruch zu nehmen scheint. Die Vorstellung vom „Buch der Natur“ hat sich im Laufe der Verneuzeitlichung von der Anbindung an die als komplementär gedachte biblische Offenbarung gelöst (vgl. z. B. NK KSA 3, 423, 11–18) und blieb bis ins 19. Jahrhundert als Leitmetapher für das Naturverständnis wirkmächtig. Noch das von N. in naturwissenschaftlichen Fragen intensiv benutzte Handbuch von Friedrich Schoedler trägt den Titel Das Buch der Natur (1875) in bewusster Zweideutigkeit: nicht nur als Buch, das von der Natur handelt, sondern auch als Werk, das in Analogie zum Buch die als lesbar gedachte Natur entziffert. Der in MA I 8 gegen „[d]ie Metaphysik“ vorgebrachte Vorwurf besagt nicht, es sei unstatthaft, die Natur überhaupt als „Schrift“ (28, 27 f.) zu deuten, sondern vielmehr nur, sie „gleichsam „p n e u m a t i s c h“ (28, 28 f.) zu lesen. Als Vorbild der Naturerklärung wird die strenge, moderne Philologie aufgerufen, die gleichfalls an der Lesbarkeit ihres Gegenstandes – nämlich geschriebener Texte – festhält. Ob es überhaupt sinnvoll ist, die Natur als „Schrift“ zu verstehen, die wie eine „Schrift“ etwas „sagen will“ (29, 3), könnte man durchaus bezweifeln; immerhin setzt die Parallelisierung voraus, dass der Natur wie der Schrift so etwas wie ein Sinn innewohnt, der wie bei einem Text von irgendjemandem (Gott?) intendiert worden ist. Eine konsequente Metaphysikkritik der Naturvorstellungen müsste wohl von solchen Sinnerwartungen und damit auch von der Parallelisierbarkeit von Naturerklärung und philologischer Erklärung Abschied nehmen. MA I 8 beschränkt sich hingegen darauf, den „pneumatischen“, d. h. allegorischen Sinn zu kritisieren, den die moderne Philologie etwa bei der Auslegung der Bibel, aber auch griechischer Klassiker nicht mehr gelten lässt. Zu MA I 8 siehe auch Heller 1972, 128–132, Barbera 1994, 222 (im Blick auf N.s Abkehr von Schopenhauer), Hayoun 1997, 333 f., Bertino 2011, 183 u. Vivarelli 2020, 28. Benne 2005, 35 betont im Blick auf MA I 8, wie sehr N. sich damit von den allegorischen Praktiken abgewendet hat, die er selbst in GT im Umgang mit den tragischen Mythen noch eifrig gepflegt hatte (vgl. z. B. auch NK KSA 1, 67, 14–16). 28, 27–30 Die Metaphysik erklärt die Schrift der Natur gleichsam p n e u m a t i s c h, wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals mit der Bibel thaten.] Die „pneumati-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 8, KSA 2, S. 28
103
sche“ Bibelerklärung, auf die MA I 143, KSA 2, 139, 12 f. zurückkommt, ist diejenige, die gemeinhin die „allegorische“ heißt, und zu der sich N. in William Edward Hartpole Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa wie folgt belesen hat: „In der alten Kirche waren die Interessen der Theologie von zu verschlingender Natur, um den rein weltlichen Studien irgend welchen Raum zu lassen. Wenn je wissenschaftliche Theorieen erörtert wurden, geschah es einfach in der Absicht, eine theologische Frage in das rechte Licht zu stellen, und der Streit wurde ganz und gar von den stehenden Vorstellungen über die Inspiration beherrscht. Ueber diesen Gegenstand waren zwei Doctrinen im Schwange, die keineswegs einander ausschlossen, sondern beide in Etwas von denen abwichen, die jetzt anerkannt werden – eine war allegorisch, die andere streng buchstäblich. Die erste, welche bei den jüdischen Bibelerklärern sehr volksthümlich war, beruhete auf dem Glauben, dass ausser dem unmittelbaren und offenbaren Sinn einer biblischen Erzählung, der durch die gewöhnlichen Erklärungsweisen festzustellen war, sie noch einen verborgenen Sinn enthalte, der lediglich durch das Auge des Glaubens, oder jedenfalls durch menschlichen Scharfsinn, unter Leitung der bestimmten Dogmen der Kirche herauszubringen war.“ (Lecky 1873, 1, 205; N.s Unterstreichung, letzter Satz mit doppelter Anstreichung am Rand) Und Lecky fährt fort: „Diese Anschauung, die in neuerer Zeit mit grossem Scharfsinn von Swedenborg in seiner ‚Lehre von dem Geisterverkehr‘ in ein System gebracht und entwickelt wurde, war der Ursprung von vielen jener äusserst weit hergeholten, und wie sie jetzt sich erweisen, lächerlichen Erklärungen der heiligen Schrift, die so zahlreich bei den Kirchenvätern vorkommen, und von denen ich bereits Gelegenheit hatte, verschiedene anzuführen. […] Wie zur Genüge bekannt, machte Origines das Princip der allegorischen Auslegung zur Grundlage eines Systems des Freidenkens, zuweilen von dem kühnsten Charakter. […] Allein, Origines stand bei weitem zu nahe dem Rande der Ketzerei, um als Vertreter der Kirche zu gelten; die vorherrschende, obgleich nicht ganz klar ausgesprochene Ansicht der Orthodoxen war, dass beide, die buchstäbliche und die allegorische Erklärungsweise, beibehalten werden müssten.“ (Ebd., 1, 206; N.s Unterstreichungen, Anstreichungen am Rand, der letzte Satz mit „NB“.) Der allegorische Sinn wiederum heißt bei Origenes „pneumatisch“ (vgl. z. B. Keil 1873, 679), weil er auf das πνεῦμα, den Geist (Gottes), bezogen ist. Dabei steht im Hintergrund das 10. Kapitel des 1. Korintherbriefes, in dem das Adjektiv „πνευματικὸς“, „geistig“ oder „geistlich“ (so Luther), eine tragende Rolle spielt: „Und haben alle einerley geistliche Speise gegessen; Und haben alle einerley geistlichen Trank getrunken; sie tranken aber von dem geistlichen Fels, der mit folgte, welcher war Christus.“ (1. Korinther 10, 3–4 nach Die Bibel: Neues Testament 1818, 205, im Original: „καὶ πάντες τὸ αὐτὸ πνευματικὸν βρῶμα ἔφαγον καὶ πάντες τὸ αὐτὸ πνευματικὸν ἔπιον πόμα· ἔπινον γὰρ ἐκ πνευματικῆς ἀκολουθούσης πέτρας, ἡ πέτρα δὲ ἦν ὁ Χριστός“. Zu N.s späterer Wortverwendung
104
Menschliches, Allzumenschliches I
„pneumatisch“ im Anschluss an Hermann Lüdemanns Paulus-Buch [Lüdemann 1872, 25] siehe Brusotti 2001, 432.) Im 19. Jahrhundert hat der (nicht nur in Basel sehr einflussreiche) evangelische Theologe Johann Tobias Beck (1804–1878) das Etikett der „pneumatischen Auslegung“ zu seinem Markenzeichen gemacht. In dem von Emil Ferdinand Vogel verfassten Artikel „Interpres, Interpretation, interpretiren“ der von N. während seiner Basler Zeit häufig konsultierten Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber wird diese exegetische Praxis wie folgt beschrieben: „Erst die pneumatische Interpretation wird in und durch den von ihr ins Auge zu fassenden G e i s t erschöpfend, indem sie ([…]) den grammatisch-historischen Sinn göttlich vergeistigt, nicht blos a n t h r o p o l o g i s c h, sondern t h e o l o g i s c h“ (Vogel 1841, 385). Der zeitgenössischen säkularen Philologie steht diese Auffassung denkbar fern. Dass N.s Ablehnung einer pneumatisch-allegorischen Tradition in der methodischen Tradition von Friedrich August Wolf steht, erörtert Benne 2005, 184. 29, 4 d o p p e l t e n Sinn] Die Sperrung erfolgte erst in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16487500 28/41/). 29, 5–9 Wie aber selbst in Betreff der Bücher die schlechte Erklärungskunst keineswegs völlig überwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft noch fortwährend auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung stösst: so steht es auch in Betreff der Natur – ja noch viel schlimmer.] Fehlt in der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 140 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,140).
9. MA I 9 – eine ‚Reinschrift‘ dazu in Mp XIV 1, 195 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,195) – verfolgt eine Strategie der radikalen Vergleichgültigung metaphysischer Erkenntnisansprüche: Man könne zwar nicht bestreiten, dass „eine metaphysische Welt“ (29, 12) existieren könnte; die schiere „Möglichkeit“ (ebd.) ist schlechterdings nicht zu widerlegen. Dies sei allerdings ein Problem, das womöglich wissenschaftlich interessant scheine, für das Leben der Menschen jedoch unwesentlich. Demgegenüber hätten „Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug“ (29, 20 f.) metaphysische Ideen hervorgebracht und sie wertvoll erscheinen lassen – damit hätten die „allerschlechtesten“ (29, 21) Erkenntnismethoden triumphiert (vgl. auch NL 1876, KSA 8, 19[83], 349 f. u. NL 1876/77, KSA 8, 23[90], 435). Mache man diese Methoden sichtbar als Grundlage „aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken“ (29, 23 f.), habe man sie bereits „widerlegt“ (29, 24). Aus
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 8–9, KSA 2, S. 28–29
105
der „Möglichkeit“ einer „metaphysischen Welt“ folge eigentlich gar nichts; man könne darüber nichts aussagen. Und selbst, wenn man eine solche Welt beweisen könnte, wäre dieser Beweis vollkommen gleichgültig. Der Abschnitt knüpft an ein bereits Ende des 17. Jahrhunderts in AtheismusDebatten geläufiges Argument an, wonach es zwar unmöglich sei, die Nichtexistenz beispielsweise Gottes zu beweisen, Atheisten aber keineswegs diese Nichtexistenz beweisen müssten, sondern vielmehr Theisten in der Beweispflicht wären und zu zeigen hätten, dass es Gott, dessen Existenz so unwahrscheinlich anmute, wirklich gebe (vgl. Schröder 2001, 957). Aber MA I 9 belässt es nicht bei der Beweislastumkehr, sondern behauptet darüber hinaus in einer Radikalisierung der Kantischen Erkenntniskritik (im Anschluss an Autoren wie Friedrich Albert Lange), dass, selbst wenn eine „metaphysische Welt“ beweisbar wäre, man über sie nichts aussagen könne, außer dass sie völlig anders sei als unsere Welt. Allerdings beweist Abschnitt 9 seinerseits nicht, warum man denn ein derart „unzugängliches, unbegreifliches Anderssein“ (29, 30) dieser „metaphysischen Welt“ zwingend annehmen muss – beispielsweise Platon hat die metaphysische Sphäre der Ideen ja gerade in Ähnlichkeit zu dem gedacht, was in der hiesigen Welt vorhanden ist, etwa die Idee des Guten oder des Schönen, die in einem irdischen guten und schönen Gegenstand ihr Abbild findet. Nur wenn diese radikale Andersheit der metaphysischen Welt sicher gegeben wäre, könnte man ihr gegenüber so gleichgültig sein, wie das Ende des Abschnitts es heischt. Eine weitere Schwierigkeit in der Argumentation liegt in der etwas kurzatmigen Gleichschaltung von Aufdeckung und Widerlegung. Hat man die angeblichen „Methoden“, die einem die „metaphysische[n] Annahmen w e r t h v o l l , s c h r e c k e n v o l l , l u s t v o l l“ (29, 18 f.) erscheinen lassen sollen, nämlich eben „Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug“ (29, 20 f.), aufgedeckt, folgt daraus nicht zwingend ihre Widerlegung, zumal „Leidenschaft“ als psychische Triebkraft in eine ganz andere Kategorie hineingehört als die moralisch negativ konnotierten Begriffe „Irrthum und Selbstbetrug“. Immerhin sind die Religionen mit der Aufdeckung keineswegs verschwunden. Zudem ist gar nicht klar, woher man wissen kann, dass tatsächlich „Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug“ die zur Anwendung gebrachten „Methoden“ sind, wenn man die „metaphysische Welt“ hinter der uns gegebenen Wirklichkeit gar nicht erkennen kann. Schließlich sind die Gleichgültigkeit einer metaphysischen Welt und die Gleichgültigkeit ihrer Existenz nur und genau dann gesichert, wenn nie jemand über sie mehr weiß, als dass sie existiert oder existieren kann. Aber wie will man wissen, dass wirklich nie jemand prinzipiell von ihr mehr zu wissen vermag? Zur Interpretation von MA I 9 vgl. auch Daigle 2013, 31 f., zu einer angeblichen „genetic fallacy“ in diesem Abschnitt Finken 2012. 29, 11 M e t a p h y s i s c h e We l t] In KGW und KSA wird der Druckfehler der Erstausgabe stillschweigend korrigiert: „M e t a p h y s i c h e W e l t“ (Nietzsche 1878, 9).
106
Menschliches, Allzumenschliches I
Das Thema der „metaphysischen Welt“, über deren Beschaffenheit man, anders als beispielsweise Schopenhauer glaubte, nichts aussagen könne, wird in MA I 16 breit thematisiert, wobei dort ohne Namensnennung auf „strengere Logiker“ (36, 15) Bezug genommen wird, die eine Verbindung zwischen einer solchen metaphysischen und unserer Welt geleugnet hätten (vgl. auch MA I 21, KSA 2, 42, 26–29). In erster Linie steht N. dabei Afrikan Spir vor Augen. Die Fügung „metaphysische Welt“, der sich N. schon im frühen Nachlass und Werk bediente, gelegentlich in der Hoffnung, sich ihr durch Kunst und Mythos nähern zu können (vgl. GT 10, KSA 1, 74, 22 f.), wird im 19. Jahrhundert durchaus benutzt, etwa bei Hegel und Schelling (nicht aber bei Schopenhauer); eine negativ-ironische Verwendung der Formel dürfte N. aus Langes Geschichte des Materialismus geläufig gewesen sein: „Leibnitzens Monaden sind allerdings die Urwesen, die wahren Elemente der Dinge in seiner metaphysischen Welt, und man hat längst erkannt, dass der Gott, den er als den ‚zureichenden Grund der Monaden‘ in sein System aufgenommen hat, eine mindestens ebenso überflüssige Rolle spielt, als die Götter Epikurs, die sich schattenhaft in den Zwischenräumen der Welten herumtreiben“ (Lange 1866, 215). 29, 11 es könnte] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 195 stattdessen: „es könnte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,195). 29, 13–16 Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte.] Das brachiale Bild der Dekapitation taucht auch sonst im philosophischen Horizont des 19. Jahrhunderts auf; so konnte es N. beispielsweise bei der Lektüre von Ludwig Feuerbachs Gedanken über Tod und Unsterblichkeit untergekommen sein, die er sich 1861 ausgerechnet von seiner frommen Mutter zum Geburtstag gewünscht hatte (NL 1861, KGW I 2, 11[24], 307; vgl. Sommer 2019b, 39 f.). Dort tritt es allerdings nicht mit kritischer Stoßrichtung gegen eine vermeintlich absolute, vom physiologischen Erkenntnisapparat unabhängige, metaphysische Erkenntnis wie in MA I 9 auf, sondern mit kritischer Stoßrichtung gegen das Christentum: „Es affectirt eine supranaturalistische Engelhaftigkeit und Schaamhaftigkeit; es macht den Menschen zu einem Castraten; ja trotz seiner körperlichen Auferstehung zu einem gespenster- oder geisterhaften Wesen, indem es alle leiblichen /313/ Bedürfnisse und Verrichtungen, namentlich die der Geschlechts- und Geschmackssinne als thierische Functionen von ihm abstreift, gleich als hätte der Mensch nicht eben so gut als die Geschlechts- und Assimilationsorgane auch die Sinne, auch den Kopf, auch die Existenz überhaupt mit dem Thiere gemein, und als müßte sich folglich nicht der christliche Supranaturalist, wenn er ehrlich und consequent sein wollte, zugleich mit dem Zeugungsglied a u c h d e n K o p f a b s c h n e i d e n;
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 9–10, KSA 2, S. 29
107
denn nur wo der Mensch gar nichts mehr ist, hat er auch mit den Thieren Nichts mehr gemein.“ (Feuerbach 1847, 312 f.) Dass Dingwelterkenntnis für Menschen den Kopf voraussetzt, hat schon Schopenhauer betont: „Das Subjektive und das Objektive bilden kein Kontinuum: das unmittelbar Bewußte ist abgegränzt durch die Haut, oder vielmehr durch die äußersten Enden der vom Cerebralsystem ausgehenden Nerven. Darüber hinaus liegt eine Welt, von der wir keine andere Kunde haben, als durch Bilder in unserm Kopfe. Ob nun und inwiefern diesen eine unabhängig von uns vorhandene Welt entspreche, ist die Frage.“ (Schopenhauer 1873–1874, 3, 12; vgl. Heller 1972b, 134) Jedoch wird in MA I 9 in radikaler Abgrenzung zu Schopenhauer gerade geleugnet, dass wir unmittelbaren Zugang zu einem metaphysischen Ding an sich (namens Wille) gewinnen können (vgl. z. B. Jensen 2021, 63). 29, 18–21 Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen w e r t h v o l l , s c h r e c k e n v o l l , l u s t v o l l gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug] Vgl. z. B. NL 1877, KSA 8, 22[9], 380, 9–12: „Jene uns verborgene Welt viel bedeutungsleerer als die bekannte. Unwillkürlich nimmt man das Gegentheil an. Aber Noth als Mutter, Irrthum als Vater haben den Glauben geschaffen.“ 29, 31–30, 3 Wäre die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre: noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers sein muss.] Heller 1972b, 136 sieht in diesem Bild eine „Anspielung“ auf ein Gleichnis Schopenhauers, das N. in GT 1, KSA 1, 28, 12– 17 noch zustimmend zitiert hatte: „Denn, wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt voll Quaalen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und /417/ vertrauend auf das principium individuationis, oder die Weise wie das Individuum die Dinge erkennt, als Erscheinung.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 416 f.) Der Schiffer von MA I 9, ebenfalls in Sturmgefahr, hegt hingegen seine Gleichgültigkeit ganz zu Recht – denn das, was das Wasser chemisch ausmacht, wäre für sein sicheres Fahren völlig irrelevant. Der Schiffer Schopenhauers sieht in seiner Individualitätsbefangenheit den Sturm nicht; der Schiffer in MA I 9 sieht den Sturm und bekümmert sich gerade deswegen nicht über eine metaphysische Hinterwelt.
10. MA I 9 liefert im Anschluss an den vorhergehenden Absatz wieder einen Tatbeweis für die Tauglichkeit historischen Philosophierens, wie es die ersten beiden
108
Menschliches, Allzumenschliches I
Abschnitte von MA I einfordern: Habe man die Genese von „Religion, Kunst und Moral“ (30, 6) erst einmal vollständig beschrieben und erklärt ohne Zuhilfenahme „m e t a p h y s i s c h e r E i n g r i f f e“ (30, 8 f.) – man könnte ergänzen: also beispielsweise von Göttern, die die Religion gegründet haben, von einer Naturordnung, die Moral vorgibt, oder von übersinnlicher Inspiration, die Kunst erst ermöglicht –, dann werde „das stärkste Interesse“ (30, 10) an der rein theoretischen Frage von „‚Ding an sich‘“ und „‚Erscheinung‘“ (30, 11) verschwinden. Auch hier könnte man ergänzen: Dieses Problem der Kantischen und nachkantischen Erkenntnistheorie ist bestenfalls eines für hochgradige Begriffsarbeitsspezialisten, nachdem MA I 9 gezeigt zu haben beansprucht, dass wir über das „Ding an sich“ so gut wie nichts wissen können. Das bedeutet umgekehrt nach MA I 10 auch, dass „Religion, Kunst und Moral“ (30, 12) – wiederum als Trias auftretend – eben nichts mit diesem „Ding an sich“, dem „‚Wesen der Welt an sich‘“ (30, 13) zu tun haben: Nichts führt sie und ihre Adepten in eine tiefere oder gar transzendente Seinssphäre. Man soll es, so schließt der Abschnitt, der „Physiologie und der Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe“ (30, 17 f.) überlassen, herauszufinden, warum sich „unser Weltbild“ so markant vom „erschlossenen Wesen der Welt“ (30, 15 f.) unterscheide. Diese Schlusswendung ist zweideutig: Wenn mit „Wesen der Welt“ das in 30, 13 genannte „‚Wesen der Welt an sich‘“ gemeint sein sollte, dann gibt es auch nichts zu vergleichen, denn über dieses „Wesen“ können wir ja nach MA I 9 und MA I 10 schlechterdings nichts wissen. Meint „Wesen der Welt“ in 30, 16 hingegen einfach das, was wir für die Welt insgesamt wissenschaftlich wissen können, dann hätten die genannten Disziplinen durchaus zu erklären, weshalb das landläufige „Weltbild“ nicht mit diesem Wissen übereinstimmt, also z. B. an einem auf das Diesseits einwirkenden Jenseits festhält. Zwar musste schon MA I 9 konzedieren, dass die Nichtexistenz einer „metaphysischen Welt“ nicht beweisbar sei. Stattdessen wird deren völlige Gleichgültigkeit behauptet, selbst für den Fall ihrer Existenz. MA I 10 setzt diese Vergleichgültigungsstrategie fort und akzentuiert sie historisch: Selbstaufklärung über Entstehung und Entwicklung vermeintlich weltwesenskernnaher Sphären wie „Religion, Kunst und Moral“ soll diesen Anspruch auf Weltwesenskernnähe unterminieren. (MA I 4 hatte ja schon nahegelegt, wie irrig die Annahme sei, das Universum schere sich um uns.) Dass die historisch-wissenschaftliche Betrachtung namentlich für Religion fundamental bedrohlich ist, stand N. schon früh vor Augen: „Eine Religion zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten der reinen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet.“ (UB II HL 7, KSA 1, 296, 5–8) Überlegungen wie diese entstanden in enger Gesprächsgemeinschaft mit Franz Overbeck, der in seiner Zwillingsschrift zu UB I DS, Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, gegen seine eigene angestammte Zunft,
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 10, KSA 2, S. 29–30
109
die Theologie, polemisierte, die dem „Wahn“ huldige, „sie sei eine christliche Wissenschaft“ (Overbeck 1873, 11): Selbst wenn „von ihr das Christenthum wissenschaftlich bewiesen wäre“, hätte sie „es als Religion vernichtet“ (ebd.). Den radikal historisierenden Blick auf Religion weitet N. durch die Lektüre von Autoren wie Lecky und Lubbock (zu diesem im Horizont von MA I 10 Thatcher 1983, 308). In MA I 10 obwaltet noch eine gehörige Portion Wissenschafts- und Erkenntnisoptimismus: Selbst wenn die Entstehung der vermeintlich Ding-an-sich-affinen Disziplinen vollständig und diesseitig wissenschaftlich erklärt würde, ist es keineswegs zwingend, dass sich Religiöse, Künstler und Moralisten davon beeindrucken und von ihrer Transzendenzorientierung abbringen ließen. Denn gerade diese bringt ihnen offensichtlich einen existenziellen Mehrwert, den sie sonst in der Religion, Kunst oder Moral nicht mehr finden könnten. Und vielleicht beseelt sie ohnehin kein „stärkste[s] Interesse“ am Problem von „Ding an sich“ und „Erscheinung“, sondern geben sie sich mit der Überzeugung zufrieden, über einen direkten Jenseitskanal zu verfügen. „H a r m l o s i g k e i t d e r M e t a p h y s i k i n d e r Z u k u n f t“ (30, 5 f.) ist damit noch nicht verbürgt, sondern erst postuliert. 30, 13 das „Wesen der Welt an sich“] Diese Formel ist bei N. ein Hapax legomenon. Sie kommt beispielsweise in Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung vor: „Kant zeigte jene Gesetze, und folglich die Welt selbst, als durch die Erkenntnißweise des Subjekts bedingt; woraus folgte, daß, soweit man auch am Leitfaden jener weiter forschte und weiter schlösse, man in der Hauptsache, d. h. in der Erkenntniß des Wesens der Welt an sich und außer der Vorstellung, keinen Schritt vorwärts käme, sondern nur sich so bewegte, wie das Eichhörnchen im Rade“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 498). 30, 14 keine „Ahnung“ kann uns weitertragen] Dass mit bloßem Ahnen kein Wissen zu begründen sei und erst recht kein Zugang zum Weltwesenskern gefunden werden könne, führt MA I 131 dann weiter aus, und zwar vor dem Hintergrund von Afrikan Spir, vgl. NK 124, 21–23. Auch im Nachlass finden sich dazu einige Überlegungen, z. B. NL 1876/77, KSA 8, 23[99], 439, 1–13: „Man redet von A h n u n g e n, als ob z. B. die Religion gewisse Erkenntnisse, wenngleich dunkel, vorausgefühlt habe. Ein solches Verhältniß zwischen Religion und Wissenschaft giebt es nicht. Das was man Ahnung nennt, ist aus ganz anderen Motiven aufgestellt als wissenschaftlichen, auf ganz anderen Methoden begründet, nicht einmal auf halbwissenschaftlicher Methode. Es ist z u f ä l l i g, wenn das Eine dem Andern ähnlich sieht. Alle Religionen zusammen sollen gewisse gemeinsame ‚Wahrheiten‘ dunkel enthalten, man glaubt damit einer Philosophie etwas Günstiges zu sagen, wenn man die religiöse Phantastik auf ihre Seite bringt: aber es ist umgekehrt. Wissenschaft und Religion werden sich in ihren Resultaten g a r n i c h t ähnlich sehen können.“ (Vgl. auch NL 1876, KSA 8, 19[83], 349 f.) Besonders prominent hat-
110
Menschliches, Allzumenschliches I
te die Ahnung in der Philosophie des 19. Jahrhunderts Jakob Friedrich Fries gemacht, der sich von ihrer welterschließenden und daseinserhellenden Kraft überzeugt gab; aber auch bei Schopenhauer finden sich (trotz scharfer FriesKritik) durchaus Passagen, die der Ahnung größten Respekt zollen: „So sehr auch das Bewußtseyn befangen ist durch die Form der Erscheinung und daher Jeder acquiescirt auf dem Schicksal der eigenen Person, unbekümmert um die Leiden Anderer; so liegt dennoch im Bewußtseyn eines jeden eine dunkle Ahndung von der blossen Scheinbarkeit dieser ganzen Ordnung der Dinge. Diese Ahndung tritt hervor im G e w i s s e n. / Als ein anderes Phänomen dieser dunkeln Ahndung sehe ich an das G r a u s e n, die Scheu vor dem Nicht-Natürlichen. Diesem Grausen, dieser Scheu ist durchaus jeder Mensch unterworfen, ja selbst die klügern Thiere. Es entsteht jedesmal beim Schein einer Unterbrechung der formellen Gesetzmässigkeit der Natur. Ihm liegt eben die Ahndung zum Grunde, daß die /341/ Scheidewand zwischen unserem Selbst und allen anderen Wesen, welche die Stütze unseres Egoismus und seiner Ruhe ist, doch keine absolute seyn möchte, daß uns die übrigen Wesen doch wohl eigentlich nicht so fremd seyn möchten, als die Erscheinung aussagt, sondern einen Zusammenhang mit uns haben könnten, vor dem das principium individuationis nicht schützt.“ (Schopenhauer 1864, 340 f.) 30, 17 f. der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe] „Physiologie“ und die damit verbundenen Worte gehören später zu N.s Lieblingsvokabular; hier taucht der Begriff in MA I zum ersten Mal auf, in einem schönen Gebinde von Natur- und Geisteswissenschaft, das Begriffe ebenso wie Organismen als evolutionäre Produkte ausweist. In dem von N. gerne konsultierten Buch der Natur von Friedrich Schoedler heißt es zur Gegenstandsbestimmung der Physiologie: „Endlich haben wir [sc. nach den physikalischen und chemischen] noch eine dritte Gruppe eigenthümlicher Erscheinungen, die Lebenserscheinungen heißen, da sie nur an belebten Gegenständen, also an Pflanzen und Thieren, vorgehen. Solche sind z. B. das Wachsen derselben, die Bewegung der verschiedenen Flüssigkeiten im Innern derselben, die Aufnahme und die Verwendung der Nahrungsmittel etc. / D i e s e E r s c h e i n u n g e n a n b e l e b t e n G e g e n s t ä n den heißen physiologische Erscheinungen und die Wissens c h a f t v o n d e n s e l b e n w i r d P h y s i o l o g i e g e n a n n t.“ (Schoedler 1875, 2, XXXIII) So stark N. den Radius der Physiologie später auch ausdehnt, geht es doch immer um „Erscheinungen an belebten“, aber sehr diesseitigen, sehr handfesten „Gegenständen“. Eine wichtige Rolle für N.s Physiologie-Präferenz dürfte auch die Sorrenter Lektüre von Alexandre Herzens Physiologie de la volonté gespielt haben, deren Absicht es laut Vorwort sei, „à familiariser un plus grand nombre de personnes avec la méthode physiologique appliquée à la psychologie, et de manière aussi à rendre plus populaire le résultat auquel cette méthode
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 10–11, KSA 2, S. 30
111
aboutit“ (Herzen 1874, V; vgl. zur Herzen-Rezeption in MA I Salerno 2021, 55–64). Vgl. auch weitere Nachweise in Nietzsche 2019, 1214, Anm. 15.
11. MA I 11 – dazu eine ‚Vorstufe‘ in N II 2, 53–54 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,53et54) und die ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 134 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,134) – appliziert das historische Philosophieren, genauer gesagt: die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise, auf die Sprache, ihre Entstehung und ihre Funktion im Kulturganzen. Mit ihr habe der Mensch „eine eigene Welt neben die andere“ (30, 22 f.) gestellt, also eine eigentliche Weltverdoppelung vollzogen, „einen Ort“ (30, 23) geschaffen, mit dem er sich „zum Herrn“ (30, 25) über die andere Welt, also die der alltäglichen Wahrnehmung und Erfahrung, habe aufschwingen können. Der Mensch habe sich daran gewöhnt, „die Begriffe und Namen der Dinge“ (30, 26) für ewige Wahrheiten zu halten, und habe gewähnt, darin über die Tiere erhaben zu sein, damit eine tatsächliche Welterkenntnis zu haben. „Der Sprachbildner“ sei nicht so „bescheiden“ (30, 30) gewesen, seine Worte für bloße „Bezeichnungen“ (31, 1), also arbiträre Zeichen zu halten, sondern glaubte, das eigentliche Wesen der Dinge mit ihnen auszusagen, wahres Wissen über sie zu besitzen. Das sei ein erster Schritt in der „Bemühung um die Wissenschaft“ (31, 4). „[A]uch hier“ (31, 5) fließe aus dem „G l a u b e [ n ] a n d i e g e f u n d e n e Wa h r h e i t“ (31, 4 f.) eine gewaltige Kraft – was zu implizieren scheint, dass die Kraft immer dann besonders stark und groß ist, wenn sie unhinterfragt, unreflektiert, dogmatisch unterfüttert bleibt. Erst in der Gegenwart werde den Menschen bewusst, dass sie in ihrem Sprachglauben einem fundamentalen „Irrthum“ (31, 8) aufgesessen seien, aber es sei „[g]lücklicherweise“ (31, 9) zu spät, um die Vernunftentwicklung, die auf diesem Glauben beruht habe, revozieren zu können (der Irrtum scheint entwicklungsgeschichtlich heilsam zu sein, vgl. NL 1876/77, KSA 8, 21[60], 375). Nach einem Gedankenstrich wird ergänzt, dass auch die Logik Voraussetzungen mache, denen nichts in der Welt entspreche, etwa die der „Gleichheit von Dingen“ (31, 13) oder die der „Identität des selben Dinges“ (31, 14) zu verschiedenen Zeitpunkten. Und auch mit der Mathematik verhalte es sich so – sie wäre nicht entstanden, hätte man gewusst, dass es „in der Natur“ (31, 19) keine wirklich „gerade Linie, keinen wirklichen Kreis“ (31, 19 f.) gebe (vgl. MA I 19). Woher man freilich wissen kann, dass derlei in der außermentalen Realität nicht existiere, erläutert MA I 11 nicht, ebenso wenig, weshalb es so sicher sei, dass die Zeichen arbiträr sind und nichts über das Wesen der Dinge aussagen. Dieses Wissen wird vorausgesetzt, obwohl es doch äußerst schwer zu gewinnen
112
Menschliches, Allzumenschliches I
sein dürfte, weil man eine Erkenntnisperspektive jenseits der Sprache, jenseits der Logik und jenseits der Mathematik etablieren müsste. Jedenfalls begnügt sich die Sprechinstanz von MA I 11 nicht mit einer skeptischen Urteilsenthaltung, sondern setzt kühn voraus, dass eine Kenntnis der außersprachlichen, außerlogischen und außermathematischen Wirklichkeit nicht nur möglich, sondern gegeben sei. Erst wer über diese Wirklichkeit erkennend verfügt, kann ermessen, ob die Sprache, die Logik und die Mathematik irrtümliche Voraussetzungen machen und falsche Urteile fällen. Bemerkenswert ist die in MA I 11 skizzierte Sprachentstehungstheorie, die sehr stark das aktive, schöpferische Moment der Sprache betont, ohne dabei jedoch wie später etwa in FW 354 (vielleicht im Anschluss an Noiré 1877, 342 f., vgl. Zavatta 2009, 281 f.) die Sprache als Mittel kollektiver Handlungskoordination einer gefährdeten „Menschenheerde“ zu verstehen (dazu ausführlich mit Quellenauszügen NK KSA 3, 591, 24–33). Sprache wurde nach MA I 11 als eine Gegenwelt erfunden und gegen die chaotisch anmutende, wandlungsreiche Erfahrungswelt als sicheres Fundament etabliert. Freilich geschah dies offensichtlich nicht im Bewusstsein, hier etwas zu etablieren, was ganz anders ist als diese Erfahrungswelt und ihr mit ihrem Festlegungs-, ihrem Festschreibungscharakter wesensmäßig gerade entgegensteht. Vielmehr scheint früh der Irrtum aufgekommen zu sein, die Sprache bringe gerade zum Ausdruck, was das Wesen der Dinge ausmache. Dem Sprachgebrauch soll damit von Anfang an eine Selbsttäuschung, ein falscher Dünkel innegewohnt haben – die freilich der Selbstermächtigung der Menschen „über das Thier“ (30, 28) erst die Basis gegeben haben. Mittlerweile scheint die menschliche Spezies reif geworden zu sein, diese Selbsttäuschung und diesen Dünkel abzulegen. Die in MA I 11 aufgeworfene Frage nach der Entstehung der Sprache hat N. schon in seiner philologischen Tätigkeit umgetrieben. Er hat sie in der unveröffentlichten Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne in konventionalistischem Sinne beantwortet: Es sei einst „das fixirt“ worden „was von nun an ‚Wahrheit‘ sein soll d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit“ (WL 1, KSA 1, 877, 25–29). Wie NK KSA 1, 877, 25–28 erläutert, war N. schon früh (KGW I 4, 62[21], 556) geläufig, dass Demokrit gegen Pythagoras behauptet hatte, die Bezeichnung der Dinge drücke nicht deren Natur aus, sondern sei das Resultat einer Übereinkunft (Diels/Kranz 1959– 1960, 68 B 26; vgl. auch Platon: Kratylos 434e–435c u. Aristoteles: De interpretatione 16a19). Ob die sprachliche Bezeichnung aus der Natur herrühre oder aus bloßer Vereinbarung zustande gekommen sei, diskutieren zu Beginn von Platons Dialog Kratylos die Titelfigur und Hermogenes mit Sokrates (383a–384e), siehe NK KSA 1, 878, 14–16; zum Kratylos bei N. Hahn 2000 und zu der von N. zur Zeit von
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 11, KSA 2, S. 30
113
WL verarbeiteten „neueren platonischen Literatur“ Ghedini 1999, 238–249 (vgl. auch Jörn Müller 2021). Seinen Vorlesungen über lateinische Grammatik (1869/70), die wohl noch stark von Friedrich Ritschl zehren, schaltete N. eine Übersicht zur Diskussionslage „Vom Ursprung der Sprache“ (KGW II 2, 185–188) vor, die sich eng an den Kratylos anschließt, aber sowohl die konventionalistische als auch die naturalistische Ursprungsthese ablehnt (vgl. Hahn 2000, 182 f.). Freilich ist N.s Skizze weitgehend aus Versatzstücken zusammengesetzt, namentlich aus Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten (1869) und Theodor Benfeys Geschichte der Sprachwissenschaft (1869), siehe die Nachweise bei Crawford 1988 u. systematisch Thüring 1994. „Abgelehnt sind also damit alle früheren naiven Standpunkte. Bei den Griechen, ob die Sprache θέσει, oder ϕύσει sei: also ob durch willkürliche Gestaltung, durch Vertrag u. Verabredung oder ob der Lautkörper durch den begrifflichen Inhalt bedingt sei.“ (KGW II 2, 186, 12–16; sehr nahe an Benfey 1869, 283 f., siehe Thüring 1994, 484) Zwar gesteht N. in der Vorlesung durchaus eine natürliche Sprachentstehung zu (vgl. Borsche 1994, 115), jedoch nicht im Sinne einer Abspiegelung der dinglichen Wirklichkeit. Vielmehr sei sie ein Instinktprodukt (KGW II 2, 186, 3–9 nach Hartmann 1869, 79 u. 57), ein „inneres Drängniß“ (KGW II 2, 187, 32), wird Herder zitiert und Benfey 1869, 294 f. kopiert. Als Kompilat ist das erste Kapitel der Vorlesungen über lateinische Grammatik kaum ein Beleg für „Nietzsches Sprachursprungsthese“, wie Hahn 2000, 183 es deutet (auch Behler 1994, 103 f. und Bertino 2010, 76 f. überschätzen N.s Originalität an dieser Stelle, weil ihnen die Quellen nicht vor Augen stehen). Jedoch deutet sich die Ablösung von den herkömmlichen Sprachentstehungsmodellen schon hier an und tritt in WL deutlicher hervor. Diese Ablösung wird in MA I 11 evolutionsgeschichtlich ausformuliert. In Gustav Gerbers Buch Die Sprache als Kunst, das N. für WL wesentliche Stichworte geliefert hatte, heißt es: „Nichts ist falscher, als anzunehmen, dass wir durch die Sprache die Dinge in der Welt bezeichnen. Wir haben an der Sprache freilich ein Mittel, um uns mit allen Dingen theoretisch in Verbindung zu setzen, aber ein durchaus künstliches, künstlich in dem doppelten Sinne, dass die Sprache wesentlich nur Menschenwerk ist, Naturgültigkeit nicht besitzt, nur u n s e r e Beziehung zu den Dingen ausdrückt“ (Gerber 1871– 1874, 1, 248). Zur Interpretation von MA I 11 vgl. auch Heller 1972b, 141–147 (mit vielen Nachlass-Parallelstellen), Emden 2014a, 56, Katsafanas 2016, 63, Gori 2017 (im Horizont des amerikanischen Pragmatismus), Mills 2017 u. Corbanezi 2021, 106. 30, 21–30 Die Bedeutung der Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an a e t e r n a e v e r i t a t e s durch lange Zeitstrecken hin-
114
Menschliches, Allzumenschliches I
durch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben.] In N II 2, 54 heißt es: „Der sprachbildende Mensch glaubte den Dingen nicht Namen zu geben, sondern die volle Erkenntniss über sie auszusprechen: es war die erste Stufe der wissenschaftlichen Mittheilung.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,54; vgl. zu einem entsprechenden „Manuscript Basel“ NL 1877, KSA 8, 22[74], 391, 17) Dezidiert wird in 30, 20–30 die Kulturentwicklung mit der Sprachentwicklung parallelisiert; der Hauptakzent liegt nicht mehr wie bei WL auf der Sprache als untauglichem Erkenntnismittel, sondern vielmehr auf der kulturprägenden Kraft, die von Sprache als Illusion ausgeht – von Sprache als Weltgestaltungsmittel bei gleichzeitig lange unangefochtener Überzeugung, sie bilde tatsächlich die wirkliche Welt ab. Die Hintergrundfolie ist der Menschenschöpfungsbericht im Buch Genesis, wo mit der dem Menschen von Gott zugesprochenen Namensgebungskompetenz Weltmächtigkeit einhergeht (vgl. zum „Herrenrecht, Namen zu geben“, NK KSA 5, 260, 1–5, zur menschlichen „Appellationsfähigkeit“, nämlich der Fähigkeit, durch das Namen-Geben die Welt in den Griff zu bekommen, auch Blumenberg 2001, 22): Nach der göttlichen Anweisung in 1. Mose 1, 26 u. 28 soll der Mensch über die Erde und alle Geschöpfe herrschen und sie sich untertan machen, während er in 1. Mose 2, 19 f. allen Dingen Namen zu geben hat. Dass er sich damit in seinem „Stolz“ über das Tier erhoben hat, macht die biblische Hintergrundfolie noch weiter transparent. Bemerkenswert ist auch die Wiederkehr der Verdoppelungsfigur, die MA I 5 schon bemüht hatte: Dort war es der Traum, der die Menschen zur Annahme einer metaphysischen Hinterwelt und damit zu Weltverdoppelung gebracht hat; hier in MA I 11 ist es die Sprache, die die Welt verdoppelt, während sie gleichzeitig sie streng abzubilden vorgibt. Die kulturelle Entwicklung scheint nach dem hier skizzierten Geschichtsbild Jahrtausende lang auf solche Verdoppelungen angewiesen gewesen zu sein, als ob sie seine Überlegenheit gegenüber anderen Tieren erst begründet hätten: Ohne diese (Verdoppelungs-)Irrtümer hätte es menschliche Kultur nie gegeben (vgl. z. B. FW 115). Allerdings hat die Wissenschaft mittlerweile offensichtlich einen gegenläufigen Pfad eingeschlagen, nämlich von den Illusionen und von den Verdoppelungen zu befreien: Nur noch eine Welt steht künftig zur Verfügung – und es bleibt offen, ob daraus „Kraftquellen“ (31, 6) sprießen werden. 30, 26 f. a e t e r n a e v e r i t a t e s] Vgl. NK 24, 19–21. 30, 30–31, 1 Der Sprachbildner war nicht so bescheiden, zu glauben] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „Der Sprachbildner war nicht so bescheiden, zu wissen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/43/).
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 11, KSA 2, S. 30–31
115
31, 3 f. die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „die erste Stufe der wissenschaftlichen Mittheilung“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16487500 28/43/). 31, 11–20 Auch die L o g i k beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z. B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit: aber jene Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es mit der M a t h e m a t i k, welche gewiss nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewusst hätte, dass es in der Natur keine exact gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Grössenmaass gebe.] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 134 fehlt dieser Passus. Dass die Idee einer substanziellen Gleichheit von Dingen und von deren Selbstidentität im Fluss der Zeit zwar eine Illusion sei, aber doch auch dem Überleben der Spezies diene, ist eine Überlegung, die etwa FW 111 wieder aufgreift und noch einmal evolutionsgeschichtlich zu erhärten sucht (vgl. mit weiteren Belegen NK KSA 3, 471, 26–472, 1). FW 112 und FW 121 unterstreichen, dass wir unentwegt mit wissenschaftlichen (namentlich mathematisch-geometrischen) Begriffen zugange seien, denen nichts Wirkliches entspreche (vgl. NK KSA 3, 473, 1–8). Die Erweiterung der sprachhistorisch-kulturphilosophischen Perspektive hin auf die Logik und die Mathematik erfolgte in MA I 11 nach dem ‚Reinschrift‘-Befund erst in einer späteren Überarbeitungsstufe und verdankt sich damit wohl auch nicht der ursprünglichen sprachkritischen Einsicht von Gustav Gerber, sondern hat sich erst unter dem Lektüreeindruck etwa von Afrikan Spirs Denken und Wirklichkeit entwickelt. Für Spir ist klar: „Der Satz der Identität konnte nicht durch Erfahrung gewonnen werden, aus dem einfachen Grunde, weil die Erfahrung mit demselben nicht übereinstimmt oder ihn nicht verwirklicht. Denn um hier kurz zu sagen, was später ausführlich dargethan werden muss – der Begriff des Mitsichidentischen ist kein anderer, als der Begriff des Absoluten, des Unbedingten, des Selbstexistirenden; unsere Erfahrung aber bietet uns gar nichts Absolutes, sondern nur Relatives und Bedingtes dar.“ (Spir 1877, 1, 165; vgl. auch ebd., 92, Fn.) Man könne in der Arithmetik und Geometrie eine „Menge identischer Fälle nicht aus dem Gegebenen empirisch ableiten“, sondern setze sie einfach voraus: „Die Arithmetik fragt nicht darnach, ob es in der Wirklichkeit vollkommen gleiche Einheiten gebe, sie setzt solche selbst voraus. Von allen Unterschieden der Dinge abstrahirt sie; die Einheiten, mit welchen sie operirt, haben gar keine andere Eigenschaft als die, Einheiten zu sein und sich in eine /91/ Summe zusammensetzen zu lassen. In der Arithmetik ist daher eine Schlussfolgerung durch echte Syllogismen, durch Substitution des Gleichen für das Gleiche möglich. Ebensowenig nimmt die Geometrie zur Basis ihrer Demonstrationen eine empirische Constatirung von Linien
116
Menschliches, Allzumenschliches I
und Figuren, welche sich in der Wirklichkeit vorfinden würden. Die geraden Linien, Dreiecke und Kreise, mit welchen sie operirt, sind nur diejenigen, welche ihren Definitionen der geraden Linie, des Dreiecks und des Kreises entsprechen. Die Identität derselben ist mithin von vornherein gesichert und die Geometrie schreitet daher in ihren Schlussfolgerungen ebenfalls durch echte Syllogismen, durch Substitution des Gleichen für das Gleiche, fort.“ (Ebd., 90 f.) Während Spir damit an der Verlässlichkeit logischer und mathematischer Operationen nicht zweifelt, wühlt N. in MA I 11 deren Vorder- und Hintergrund auf und postuliert, Logik und Mathematik hätten einst sehr wohl geglaubt, dass es „dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe“. Auch in dieser Applikation historisch-evolutionären Philosophierens auf die Logik und die Mathematik ist freilich mit der Feststellung, dass dort wie in der Sprache nichts der empirischen Wirklichkeit entspreche, ein Problem nicht ausgeräumt, sondern türmt sich gerade erst unübersehbar auf: Wie nämlich kann der Sprecher das wissen, denn die Menschen haben doch nach den vorangegangenen Abschnitten – siehe MA I 9 – gar keinen unmittelbaren Zugriff auf die ‚wirkliche Wirklichkeit‘, die sie bräuchten, um die ‚Abbildung‘ in Sprache, Logik und Mathematik mit dem ‚Abgebildeten‘, dem Wirklichen vergleichen zu können? 31, 15 aber jene Wissenschaft] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „aber jene Wissenschaften“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/43/). 31, 20 kein absolutes Grössenmaass gebe] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „kein absolutes Zahlenverhältniss gebe“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/44/).
12. MA I 12 – dazu die ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 168 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,168) und eine ‚Vorstufe‘ in N II 2, 77 (http://www.nietzschesource. org/DFGA/N-II-2,77) – greift das Traum-Thema von MA I 5 wieder auf, erneut in frühgeschichtlicher Perspektivierung, aber jetzt nicht fokussiert darauf, dass der Traum der Menschheit scheinbar eine andere, jenseitige Welt zugänglich gemacht hat, sondern auf den Mangel an logischer Stringenz und Erinnerungskohäsion: Im Schlaf sei das Gedächtnis sehr stark eingeschränkt; er versetze uns in einen Zustand, der „in Urzeiten der Menschheit“ (31, 25 f.) auch im Wachen vorgeherrscht haben möge, als das Gedächtnis noch nicht geschult war. Es habe die Dinge unentwegt verwechselt auf Grundlage oberflächlicher Ähnlichkeit. So seien – wird nun im statuierenden Imperfekt behauptet, das an die Stelle der vorbe-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 11–12, KSA 2, S. 31
117
haltvollen Mutmaßungsdiktion tritt – die „Mythologien“ (31, 30) auf dieselbe verworrene und willkürliche Weise entstanden. Und noch heute könne man beim „Wilde[n]“ (31, 31) dieselbe Gedächtnisschwäche konstatieren. Im Träumen glichen wir „diesem Wilden“ (32, 3), würden falsch schließen und gleichsetzen. Zugleich wird die „vollkommene Deutlichkeit aller Traum-Vorstellungen“ (32, 7 f.) festgestellt, die – was ja schon die These von MA I 5 war – „den unbedingten Glauben an ihre Realität“ (32, 8 f.) nach sich ziehe (32, 9 sagt: „zur Voraussetzung hat“). Diese erinnere „uns“ (32, 10) an frühere Stadien der Menschheit, als Halluzinationen allenthalben um sich gegriffen hätten. Im Traum durchlebten „wir das Pensum früheren Menschenthums noch einmal“ (32, 13 f.). In einer ‚Vorstufe‘ fehlte noch der ganze zweite Teil dieses Textes (vgl. NK 31, 27–32, 3); zunächst wurde weder die Verbindung von Traum und Mythologie noch die Verbindung von Traum und Wachleben der „Wilden“ gezogen. Dass Mythologien traumartig-verworrene, auf falschen Ähnlichkeitsschlüssen beruhende Gebilde seien, knüpft nicht nur an die Religionsentstehungsthese von MA I 5 an, sondern konterkariert entschieden die Mythos-Theoreme in N.s Frühwerk. Namentlich in GT erscheint der Mythos nicht als Produkt einer atavistischen, von Vergesslichkeit und unsauberem Schließen bestimmten Bewusstseinsperiode, sondern als tiefsinniges Gebilde, das chiffrenhaft dem wahren Wesen der Dinge viel näher steht, als es wissenschaftlich-philosophische Diskursivität je vermöchte (vgl. Heller 1972b, 150). Die Erklärung zur Mythologiegenese in MA I 12 wirkt demgegenüber recht konventionell ‚altaufklärerisch‘; schon für Geschichtsphilosophen des 18. Jahrhunderts war die überlieferte Mythologie Ausdruck einer überbordenden, von Vernunft (und Gedächtnis) ungebändigten Einbildungskraft (so z. B. bei Isaak Iselin – dazu z. B. Sommer 2002a, 70 –, dessen Geschichte der Menschheit schon der vierzehnjährige N. besessen hatte, vgl. Sommer 2019b, 39). Die strenge innere Logik von Mythologien vieler alter und neuer Kulturen blendet MA I 12 ebenso aus wie den in MA I 19 thematisierten Umstand, dass gerade die scheinbar wissenschaftlichste aller Wissenschaften, die Mathematik, ebenfalls mit ihrem Hauptinstrument, der Zahl, auf Gleichsetzung von Ungleichem (es gebe „nichts Gleiches“, KSA 2, 40, 21) beruhe. Sollte Letzteres wahr sein, würde auch die Wissenschaft in den Verdacht geraten, im Modus der Traumlogik zu verfahren und nichts weiter als eine deviante Form der Mythologie zu sein. MA I 12 lässt diesen Verdacht aber nicht aufkommen – und vermeidet auch eine Erklärung, wie sich ein dynamisches Assoziationsgefüge überhaupt stabilisieren kann, wenn die Traumverknüpfungen doch notorisch instabil seien, indem sie stets nur nach dem vermeintlich Nächstgleichen haschen. Mythologien demgegenüber greifen ja nicht immer wieder nach neuen Ähnlichkeiten, sondern schreiben Ähnlichkeiten fest. Und sie scheinen oft streng in ihrem Denkgestus zu verfahren – was freilich auch ein Abschnitt wie MA I 271 in Abrede stellt, der „Mythologien“ und das „falsche Schliessen“ ebenfalls als innig verbunden betrachtet (KSA 2, 224, 1 f.).
118
Menschliches, Allzumenschliches I
Wie Gedächtnis, Erinnerungsvermögen beim Übergang vom ‚wilden‘, träumerischen Dasein zum ‚zivilisierteren‘ überhaupt zustande kommen kann, erörtert MA I 12 nicht (GM II 3 wird dazu dann einen prominent werdenden Vorschlag machen, siehe NK KSA 5, 295, 14 f.). MA I 12 unterlässt noch jeden Hinweis darauf, dass das träumerische Durcharbeiten (früherer Bewusstseinszustände) auch eine heilsame, entlastende Funktion haben kann – der therapeutische Aspekt des Traumes, der für Sigmund Freud wichtig werden wird, bleibt außen vor. Das holt dann explizit MA I 13 nach mit der Feststellung, dass „der Traum eine Erholung für das Gehirn“ (KSA 2, 34, 1 f.) sei. Davon, dass Träume, wie in NL 1876/77, KSA 8, 23[187], 470 angedacht, sogar unseren Erfahrungshorizont erweitern können, lässt MA I 12 ebenfalls nichts ahnen. Fast alle Abschnitte von MA I, in denen Worte aus dem Feld von Mythos/ Mythologie bemüht werden, konnotieren sie negativ (neben MA I 12 auch MA I 37, MA I 132, MA I 145, MA I 146, MA I 221, MA I 231, MA I 271, „unmythisch“ in MA I 110 u. MA I 475); eine Ausnahme macht nur MA I 261 im Blick auf den Mythos bei den Griechen. Im gesamten Werk wird das Mythische als überwundene oder jedenfalls zu überwindende Bewusstseinsstufe distanziert – eine durchaus plakative Distanzierung, die, ähnlich wie die Voltaire-Widmung auch, die Parteinahme für ‚Aufklärung‘ allseits sichtbar ausflaggen soll. Zugleich handelt es sich bei der in MA I betriebenen Aufklärung um eine, die scharfsichtig die oft keineswegs geringen Reste mythischen Denkens in den Gegenwartsmenschen und den Gegenwartswissenschaften aufspürt (vgl. z. B. MA I 19). Zu MA I 12 neben Treiber 1994 auch Liessmann 2021, 122. 31, 23 beeinträchtigt wird] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „beeinträgtigt [sic] ist“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/44/). 31, 23–29 Gedächtniss: nicht dass es ganz pausirte, – aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit zurückgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei Jedermann am Tage und im Wachen gewesen sein mag. Willkürlich und verworren, wie es ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten Aehnlichkeiten] In der ‚Vorstufe‘ steht stattdessen: „Gedächtniss. Nicht dass es ganz pausirte: aber es ist gleichsam auf einen Zustand reducirt, wie es in Urzeiten der Menschheit gewesen sein mag: äusserst willkürlich verworren. Es verwechselt fortwährend die Dinge auf Grund der geringsten Aehnlichkeiten“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,77). 31, 27–32, 3 Willkürlich und verworren, wie es ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten Aehnlichkeiten: aber mit der selben Willkür und Verworrenheit dichteten die Völker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie sein Geist nach
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 12–13, KSA 2, S. 31–32
119
kurzer Anspannung des Gedächtnisses hin und her zu taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaffung, Lügen und Unsinn hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das schlechte Wiedererkennen] Im Druckmanuskript lautete der Passus ursprünglich: „In seiner äussersten Willkür und Verworrenheit verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten Ähnlichkeiten: so wie ferne Zeiten in ihren Mythologien ein uns so unbegreifliches Verwechseln zeigen. – Das schlechte Wiedererkennen“ (KGW IV 4, 169). Der Passus 31, 30–32, 3 wurde also erst später hinzugefügt. Es ist dabei weniger die Reise- als die Lektüreerfahrung, die N. diesen Gedanken nachträglich eingibt, nämlich die von John Lubbocks Die Entstehung der Civilisation, wo aus Gilbert Malcolm Sproat: Scenes and Studies of Savage Life (1868) wie folgt zitiert wird: „man kann bemerken, wie der aus eigenem Antrieb nach Belehrung suchende Wilde zur Vergeßlichkeit neigt. Ist seine Aufmerksamkeit vollständig bei der Sache, dann zeigt er oft große Schnelligkeit im Antworten und ungemeinen Scharfsinn bei Schlußfolgerungen. Allein eine kurze Unterhaltung ermüdet ihn, besonders wenn man Fragen an ihn stellt, die seinerseits eine Gedanken- oder Gedächtnißanspannung erfordern. Der Geist des Wilden scheint dann aus bloßer Erschlaffung hin und her zu taumeln, und er bringt Lügen und Unsinn vor“ (Lubbock 1875, 8; vgl. Thatcher 1983, 298. Treiber 1994, 24, Fn. 74 bringt Herbert Spencers Principien der Sociologie als Vermittlungsinstanz für das Sproat-Lubbock-Zitat ins Spiel. Freilich besteht kein Zweifel, dass N. Lubbock 1875 besessen und gelesen hat). In der ‚Vorstufe‘ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,77) fehlt die ganze zweite Hälfte von MA I 12 (31, 29–32, 14). 32, 1 hin und her] KGW und KSA korrigieren stillschweigend den Druckfehler der Erstausgabe: „hin nnd her“ (Nietzsche 1878, 12).
13. MA I 13 – ein Abschnitt, zu dem es in Mp XIV 1, 166 f. (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,166et167) eine ‚Reinschrift‘ und in N II 2, 62 f. (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,62 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II2,63) sowie in N II 2, 88 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,88) ‚Vorstufen‘ gibt – weitet das Thema von MA I 12 aus und benutzt den Traum als Sondierbohrer in die geistige Vergangenheit der Menschheit. Begonnen wird mit den Auswirkungen der physischen Befindlichkeit – wie, wo und unter welchen Umständen geschlafen wird – auf das Traumgeschehen, das von innerkörperlichen und außerkörperlichen Gegebenheiten gleichermaßen beeinflusst werde. Der „Geist“ (32, 29) suche nun nach Ursachen dieser Veränderungen – und nichts anderes als diese Ursachensuche und Ursachenvorstellung sei das Träumen. Da-
120
Menschliches, Allzumenschliches I
bei würden zum eigentlichen Ereignis, also zur inneren oder äußeren Irritation, zur schweren Verdauung, zu „Glockenläuten, Kanonenschüsse[n]“ (33, 10 f.) flugs fiktive Ursachen hinzugedichtet, so dass im Traumgeschehen das eigentlich Frühere – der Anlass – zum Späteren, zur Folge umgedeutet wird. Nun stelle sich die Frage, weshalb denn der Geist, der im Wachzustand so vorsichtig und misstrauisch agiere, im Traum zu der erstbesten Ursachenhypothese greife und sie ausschmücke. Statt diese Frage zu beantworten, gibt das sprechende „Ich“ (33, 20) kund, es meine, dass „viele Jahrtausende hindurch“ (33, 22) die Menschen genauso vorschnell und unvorsichtig geurteilt hätten, wie sie es heute noch im Träumen täten. Im Traum seien die uralten Schließmuster noch präsent, so dass er „ein Mittel an die Hand“ gebe, die „ferne[n] Zustände der menschlichen Cultur“ „besser zu verstehen“ (33, 29–31). Während das Gehirn tagsüber strenger Disziplin in der Erschließung kausaler Verhältnisse unterliege, kann es nachts die Zügel schießen lassen; der Traum sei „eine Erholung für das Gehirn“ (34, 1 f.). ‚Wir‘ könnten einen ähnlichen „Schluss von der Wirkung auf die Ursache“ (34, 13 f.) bei geschlossenen Augen beobachten, wenn sich die „formlosen Farbenspiele“ (34, 11) der nachwirkenden Lichteindrücke zu „Figuren, Gestalten“ (34, 11 f.) formierten, die man dann als Ursachen statt als Wirkungen anzusehen geneigt sei. Dem sei zu entnehmen, dass sich das strenge Kausaldenken von Ursache und Wirkung erst sehr spät und womöglich unvollkommen entwickelt habe, wenn „unsere Vernunft- und Verstandesfunctionen“ (34, 30 f.) doch so leicht ins frühere Schema sorglosen Schließens zurückfielen „und wir ziemlich die Hälfte unseres Lebens in diesem Zustande leben“ (34, 32 f.). Im Übrigen, wird nach einem letzten Gedankenstrich noch nachgeschoben, nehme auch „der Künstler“ (34, 34) für seine „Stimmungen und Zustände[.] Ursachen“ (34, 34–35, 1) in Anspruch, die nicht die wahren seien; auch er rufe damit frühere Menschheitsphasen in Erinnerung und könne so zu ihrem Verständnis helfen. Eine knappere, kältere, historisch-philosophierende Erledigung der von N. noch in GT gepredigten Artistenmetaphysik lässt sich schwerlich denken: Der Künstler hat keinen privilegierten, sondern nur noch einen atavistischen Zugang zur Wirklichkeit und stellt damit bestenfalls ein interessantes Objekt der Evolutionswissenschaft dar, keineswegs einen Selbstzweck. Kunst stellt also – gegen Wagner und Schopenhauer – gerade keine höhere, sondern eine niedrigere Erkenntnisform dar, sie verkennt das Eigentliche und ist nur nützlich, weil sie hilft, die menschheitsgeschichtliche Vergangenheit besser zu verstehen. Der Traum ist bei alledem bestimmt von einer eigentümlichen „L o g i k d e s T r a u m e s“ (32, 16), wie die Titelzeile schon kundtut – im Träumen schlussfolgern, denken die Menschen, nur eben nicht streng, nicht quellenkritisch genug. „Wir denken nicht nur innerhalb des Traumes, sondern der Traum selber ist das Resultat eines Denkens.“ (NL 1877, KSA 8, 22[62], 389, 20 f.) Seine Reaktionsschnel-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 13, KSA 2, S. 32–33
121
ligkeit ist zugleich sein Problem: „Traum / wie auch zu starken Tönen usw. eine sofortige Erklärung gefunden wird.“ (N II 2, 88, http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,88) Im Traum wird für jede Begebenheit die erstbeste Ursache als gesetzt, wirksam, gültig akzeptiert. So war es früher auch im Wachzustand. Der Traum ist ein erholsamer Rückfall in diesen Zustand der früheren Menschheitsentwicklung. Sinnlichkeit und Einbildungskraft als deren dominierende frühere Stufen anzunehmen, ist schon ein altes Schema der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie (vgl. z. B. zum hierin prototypischen Isaak Iselin Sommer 2002a). Zur Interpretation von MA I 13 siehe z. B. Esmez 2017, 87–90. 32, 16 Im Schlafe ist fortwährend] Im Druckmanuskript stand ursprünglich: „Ich finde keine wahrscheinlichere Erklärung des Traumes, als diese: fortwährend ist im Schlafe“ (KGW IV 4, 169). 32, 18 secerniren] „secerniren, l[ateinisch], (ab)sondern“ (Petri 1861, 709). 32, 26 f. Bekleidung des ganzen Körpers, – alles diess nach seinem täglichen Wechsel und Grade erregt] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „Bekleidung des Körpers, – alles diess im Ganzen und im Einzelnen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/45/). In der Korrektur wurde der Gedankenstrich ausdrücklich (mit einem zusätzlichen „del“ am Rand) gestrichen, eine Korrektur, die jedoch in der Erstausgabe nicht ausgeführt wurde (Nietzsche 1878, 13) und seither stehengeblieben ist. Das Adjektiv „ganzen“ wurde im überlieferten Korrekturbogen nicht eingetragen, erscheint aber ebenfalls in der Erstausgabe. 33, 1 f. Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen umgürtet] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „Wer zum Beispiel seine Füsse mit einem Band umgürtet“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/45/). 33, 1–7 Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen umgürtet, träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umringeln: diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: „diese Schlangen müssen die causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe“, – so urtheilt der Geist des Schlafenden.] Dieses Beispiel ist nicht angelesen, sondern von N. in seiner Jugend selbst erlebt, wie aus seiner Tagebuch-Aufzeichnung aus Schulpforta vom 11. August 1859 hervorgeht: „– Es ist eigenthümlich, wie rege die Pfantasie [sic] im Traume ist; ich, der ich immer des Nacht Bänder von Gummi um die Füße trage, träumte, daß zwei Schlangen sich um meine Beine schlängelte [sic], sofort greife ich der einen an den Kopf, wache auf und fühle daß ich ein Strumpfband in der Hand habe. –“ (KGW I 2, 6[77], 104, 6–10) Vgl. Heller 1972b, 156, Volz 2000, 394, Brohm 2008, 159, Fn. 6 u. D’Iorio 2020, 80.
122
Menschliches, Allzumenschliches I
33, 7 f. Die so erschlossene nächste Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „Träume sind causae post effectum, und zwar irrthümlich angenommene causae.“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/45/) 33, 9–13 So weiss Jeder aus Erfahrung, wie schnell der Träumende einen starken an ihn dringenden Ton, zum Beispiel Glockenläuten, Kanonenschüsse in seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm h i n t e r d r e i n erklärt, so dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann jenen Ton zu erleben m e i n t.] Auch das Beispiel des „Glockenläutens“ ist aus N.s eigener Erfahrung geschöpft, jedoch nicht wie die Fußriemen aus der Schulzeit (vgl. NK 33, 1–7), sondern aus jüngstem Sorrenter Erleben (vgl. D’Iorio 2020, 79 f.): „Glockenlaute – goldenes Licht durch die Fenster. Traum. Ursache a posteriori hineingedichtet wie bei den Augenempfindungen.“ (NL 1876/77, KSA 8, 21[38], 372, 10–12 = N II 3, 36, http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-3,36) Was damit gemeint war, ist einem Brief von N.s Sorrenter Begleiter Albert Brenner zu entnehmen, der am 27. 12. 1876 seiner Familie geschrieben hat: „Morgens 6 ¼ Uhr ist es noch ganz still im und um das Haus, nur die Türen zittern im Winde. 6 ½ läutet es in der Kapelle neben uns in kläglichem Jammertone. Bald darauf ruft eine Stimme: ‚Freund Brenner!‘ Keine Antwort. Totenstille. Die Jammerglocke wimmert von neuem. Stille. Nach einigen Minuten: ‚Freund Brenner!‘ Kleine Stille. Dann als Antwort: ‚Oh, oh, oh – – – ‚. Wieder Stille. Noch einmal laut: ‚Freund Brenner!‘ Peinliche Stille. ‚Was? Ja! Ich stehe auf!!‘“ (Zitiert nach D’Iorio 2020, 80). Das Beispiel des Kanonenschusses kehrt in GD Die vier grossen Irrthümer 4 wieder; dort scheint Ernst Machs Beobachtung im Hintergrund zu stehen, dass im Traum eine Ursache für etwas hinzugedichtet wird, was in der Traumlogik erst später geschieht, also etwa ein Kanonenschuss, der aber in Wahrheit der Auslöser des Traumes war (vgl. NK KSA 6, 92, 2–16 u. Mach 1886, 107 f.). Machs Beiträge zur Analyse der Empfindungen sind allerdings erst 1886 erschienen und in dieser Ausgabe auch in N.s Bibliothek erhalten; die fragliche Beobachtung der traumhaften, retrospektiven Hinzuerfindung einer Ursache für das Traumauslösungsereignis ist hingegen schon in MA I 13 klar formuliert. Treiber 1994, 15 merkt an, dass es schwerfalle, „Nietzsches Quelle(n) für die eben angesprochene ‚physiologische Seite‘ der Traum- und Phantasiebilder eindeutig zu identifizieren, vor allem deshalb, weil der damalige aktuelle Wissensstand bei einer Reihe von Autoren abgerufen werden konnte, die überdies in der Regel auch mit gleichlautenden (und nicht selten einfach übernommenen) Beispielen aufwarteten (Glockenschlag, Kanonenschuß oder -donner usw.). In dieser Frage geht also Nietzsche weitgehend konform mit jenen Positionen, die man als die damals herrschende Lehre bezeichnen kann.“ Demgegenüber sei die von N. gegebene „Erklärung“ einer Vertauschung von Ursache und Wirkung und der daraus folgenden Zeitumkehr origi-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 13, KSA 2, S. 33–34
123
nell und verweise auf Hermann Helmholtz’ Physiologische Optik (Treiber 1994, 15 f.; vgl. NK 34, 6–27). N.s Basler Philosophen-Kollege Hermann Siebeck (Siebecks Erinnerungen an N. sind ediert in Sommer 1997, 149) hat in einem Basler Vortrag Das Traumleben der Seele, wie Treiber 1994, 17, Fn. 48 anmerkt, für ganz bestimmte Träume in eine ähnliche Richtung argumentiert: „Manchmal erwachen wir im jähen Schreck, weil wir glauben, plötzlich von einer Mauer, einer Treppe oder dgl. herabzufallen. Hierbei ist allem Anschein nach Ursache und Wirkung verwechselt. Nicht die Traumvorstellung des Herabfallens bringt das plötzliche Erwachen hervor, sondern indem wir zu erwachen beginnen, und das Gefühl des Aufliegens, das während des Schlafes aufgehoben war, sich in der Oberfläche des Körpers wie mit einem Rucke wieder herstellt, haben wir die Empfindung, als seien wir auf den harten Boden gefallen. Hieran aber knüpft noch im letzten Moment die Vorstellungen schaffende Traumthätigkeit an.“ (Siebeck 1877, 11) Die Verwechslung von Ursache und Wirkung im Traumgeschehen ist nach Siebeck also typisch für manches Träumen kurz vor dem Erwachen. MA I 13 macht den partikularen Befund zum generellen Kriterium der Traumarbeit. Vgl. auch Ulrici 1874, 2, 109 f., zitiert bei Treiber 1994, 17, Fn. 48. 33, 20–24 Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume schliesst, so schloss die Menschheit a u c h i m W a c h e n viele Jahrtausende hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt als Wahrheit.] In der ‚Vorstufe‘ N II 2, 63 steht stattdessen: „Eine Hypothese genügt: G o t t a l s Wa h r h e i t. So wie der Mensch im Traum schliesst, schloss die Menschheit viele Jahrtausende vielleicht“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,63). In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 166 steht statt „schliesst, so schloss“ (33, 21) nur: „schließt, schloß“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,166). 33, 27 f. denn es ist die Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich entwickelte] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor N.s Korrektur: „denn es ist Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich entwickelte“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/46/). Mit Bleistift hat N. korrigiert zu: „denn es ist der Unterbau und die Grundlage, auf welchen die höhere Vernunft sich entwickelte“. Diese Korrektur wurde aber in Nietzsche 1878, 14 nicht übernommen. 34, 1 der Traum eine Erholung] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 hat N. „Erholung“ mit Bleistift unterstrichen und an den linken Rand „gesperrt“ geschrieben (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/46/). Diese Korrektur wurde aber in Nietzsche 1878, 14 nicht übernommen.
124
Menschliches, Allzumenschliches I
34, 6–27 Schliessen wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindrücken und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller jener Lichtwirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren, Gestalten, Landschaften, belebten Gruppen. Der eigentliche Vorgang dabei ist wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; indem der Geist fragt: woher diese Lichteindrücke und Farben, supponirt er als Ursachen jene Figuren, Gestalten: sie gelten ihm als die Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei offenen Augen, gewohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindrucke eine veranlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die Phantasie fortwährend Bilder vor, indem sie an die Gesichtseindrücke des Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die Traumphantasie: – das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung erschlossen und n a c h der Wirkung vorgestellt: alles diess mit ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann.] Eine ähnliche Theorie entwickelt auch schon Schopenhauer sehr ausufernd an verschiedenen Orten, vgl. z. B. Schopenhauer 1873–1874, 1, 52– 84 u. ebd., 2, 9–15 sowie ebd., 3, 22–30. Treiber 1994, 34 argumentiert, die „Logik des Traums“ in MA I 13 sei der „Logik der Wahrnehmung“ in Hermann Helmholtz’ Physiologischer Optik „nachgebildet“, insofern sie dem Kausalmodell folge, „wie es Helmholtz in seiner ‚Lehre von den Gesichtswahrnehmungen‘ vorgestellt hat“. Nach diesem Modell schließen wir bei jeder sinnlichen Wahrnehmung von der Wirkung auf die Ursache, die uns als Anschauung nicht gegeben ist: „Die psychischen Thätigkeiten, durch welche wir zu dem Urtheile kommen, dass ein bestimmtes Object von bestimmter Beschaffenheit an einem bestimmten Orte ausser uns vorhanden sei, sind im Allgemeinen nicht bewusste Thätigkeiten, sondern unbewusste. Sie sind in ihrem Resultate einem S c h l u s s e gleich, insofern wir aus der beobachteten Wirkung auf unsere Sinne die Vorstellung von einer Ursache dieser Wirkung gewinnen, während wir in der That direct doch immer nur die Nervenerregungen, also die Wirkungen wahrnehmen können, niemals die äusseren Objecte. […] Indessen mag es erlaubt sein die psychischen Acte der gewöhnlichen Wahrnehmung als u n b e w u s s t e S c h l ü s s e zu bezeichnen“ (Helmholtz 1867, 430; zu N. und Helmholtz vgl. auch Reuter 2004, Reuter 2014 u. Jensen 2015). Das konkrete Versuchsarrangement von 34, 6–27 lässt sich freilich in Helmholtz’ Physiologischer Optik, die Heinrich Romundt mehrfach und nach Treiber 1994, 11 auch N. am 05. 04. 1873 der Basler UB entliehen haben soll (fehlt bei Crescenzi 1994), nicht nachweisen, obwohl sich das Werk intensiv mit Fragen der Gesichtswahrnehmung auseinandersetzt. In 34, 6–27 geht es um die sogenannten
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 13–14, KSA 2, S. 34
125
„Schlummerbilder“, die Johannes Müller 1826 in seinem Buch Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen eingehend untersucht hat (vgl. auch die Nachbilder und die Trägheit der Augen, die Jan Evangelista Purkyně erforscht hat). Müllers Buch galt nach Treiber 1994, 15 als „Standardwerk“ zum Thema und wurde immer wieder zitiert. „Es ist selten, daß ich nicht vor dem Einschlafen bei geschlossenen Augen in der Dunkelheit des Sehfeldes mannigfache leuchtende Bilder sehe. Von früher Jugend auf erinnere ich mich dieser Erscheinungen, ich wußte sie immer wohl von den eigentlichen Traumbildern zu unterscheiden, denn ich konnte oft lange Zeit noch vor dem Einschlafen über sie reflectiren.“ (Johannes Müller 1826, 20) Und Müller beschreibt sie näher: „Wenn nun im Anfange immer noch das dunkle Sehfeld an einzelnen Lichtflecken, Nebeln, wandelnden und wechselnden Farben reich ist, so erscheinen statt dieser bald begrenzte Bilder von mannigfachen Gegenständen, anfangs in einem matten Schimmer, bald deutlicher. Dass sie wirklich leuchtend und manchmal auch farbig sind, daran ist kein Zweifel. Sie bewegen sich, verwandeln sich, entstehen manchmal ganz zu den Seiten des Sehfeldes mit einer Lebendigkeit und Deutlichkeit des Bildes, wie wir sonst nie so deutlich etwas zur Seite des Sehfeldes sehen. […] Es sind selten bekannte Gestalten, gewöhnlich sonderbare Figuren, Menschen, Thiere, die ich nie gesehen, erleuchtete Räume, in denen ich noch nicht gewesen.“ (Ebd., 21) Paul Radestock zitiert in seinem Buch Schlaf und Traum diese Müller-Passagen ebenfalls und kommentiert: „Die bekannten, von Joh. Müller, Gruithuisen und Purkinje ausführlich beschriebenen und erörterten Schlummerbilder zeigen sich. Anfangs werden sie noch nicht für wirklich gehalten oder die Täuschungen treten nur isolirt auf, aber die Bilder wechseln beständig ohne unser Zuthun; später wird ihnen sämmtlich eine objective Realität zugesprochen, und diese durchgehend falsche Objectivität scheint ein Zeichen des wirklich eingetretenen Schlafes zu sein; der Uebergang, das eigentliche Einschlafen, ist ein unmerklicher und verhältnissmässig rascher. Nachdem nämlich eine Anzahl von Vorstellungen an uns vorbei gerollt ist, ohne dass wir /94/ unserer schöpferischen Thätigkeit uns dabei bewusst werden, muss bald die Täuschung entstehen, als ob wir Alles wirklich erlebten und die Vorstellungen, welche doch erst von uns erschaffen sind, Realität besässen. Diese Schlummerbilder sind unbestimmte Lichteindrücke auf der Netzhaut, welche die geschäftige Phantasie in bestimmte Gestalten verwandelt. Einzelne Lichtflecke und Nebel ziehen vor den Augen vorbei, weisse und farbige Erscheinungen zeigen sich und nehmen bestimmte Gestalt an.“ (Radestock 1879, 93 f.)
14. War MA I 13 von der Simplizität der Träume ausgegangen – insofern sie sich anscheinend ziemlich restlos durch falsche Kausalitätsannahmen erklären lie-
126
Menschliches, Allzumenschliches I
ßen –, stellt MA I 14 solche Simplizität bei „Empfindungen und Stimmungen“ (35, 5 f.) in Abrede. Der Abschnitt postuliert vielmehr deren komplexen Charakter, d. h. ihr Zusammengesetztsein, das nur durch die Schnelligkeit der un- oder vorbewussten Assoziation verschleiert werden würde. Etwa seien „moralische[.]“ oder „religiöse[.] Gefühle“ (35, 12 f.) keineswegs in sich geschlossene „Einheiten“ (35, 13 f.), sondern Konglomerate aus Verschiedenem – eine Überlegung, die ja bereits in MA I 1 anklang und nach begriffschemischer Analyse heischte. Die „Einheit des Wortes“ beweise „Nichts für die Einheit der Sache“ (35, 15 f.). In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 106 stand zunächst statt 35, 6–16: „es erinnert sich etwas in uns an ähnliche Zustände und deren Ursachen und Gedanken. So bildet sich eine angewöhnte rasche Verbindung von Gefühlen, welche jetzt als Complexe, als E i n h e i t e n empfunden werden z. B. das moralische Gefühl, das religiöse: das hat hundert Ursprünge oder ist ein Fluß mit hundert Quellen und Zuflüßen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,106). Der in MA I noch häufige Begriff der „Stimmung“ (vgl. bereits die Aufzeichnung „Ueber Stimmungen“ in NL 1864, KGW I 3, 17[5], 371–374) tritt in N.s späteren Werken zurück, wie bereits Corngold 1990 festgestellt hat. Ob später tatsächlich „Affekt“ an die Stelle von „Stimmung“ tritt, sei dahingestellt – ebenso, ob tatsächlich, wie Kendal Woodruff 2019/2020 argumentiert, „Leidenschaft“ etwa in FW eine Entwicklungszwischenstufe zwischen „Stimmung“ und „Affekt“ in N.s Denkbewegung darstellt. 35, 4–8 M i t e r k l i n g e n. – Alle s t ä r k e r e n Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wühlen gleichsam das Gedächtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst.] „Miterklingen“ ist ein Wort aus der Musik, das NL 1876/77, KSA 8, 23[80], 431, 1–27 aus seinem Ursprungskontext in die Philosophie importiert: „Wenn Schopenhauer dem Willen das Primat zuertheilt und den Intellekt hinzukommen läßt, so ist doch das ganze Gemüth, so wie es uns jetzt bekannt ist, nicht mehr zu Demonstration zu benutzen. Denn es ist durch und durch intellektual geworden (so wie unsere Tonempfindung in der Musik intellektual wurde). Ich meine: Lust und Schmerz und Begehren können wir gar nicht vom Intellekt mehr losgetrennt denken. Die Höhe Mannichfaltigkeit Zartheit des Gemüths ist durch zahllose Gedankenvorgänge großgezüchtet worden; wie die Poesie sich zur jetzigen Musik verhält, als die Lehrerin aller Symbolik, so der Gedanke zum jetzigen Gemüth. Diese Gedanken sind vielfache Irrthümer gewesen; z. B. die Stimmung der Frömmigkeit ruht ganz auf dem Irrthume. Lust und Schmerz ist wie eine K u n s t ausgebildet worden, genau durch dieselben Mittel wie eine Kunst. Die eigentlichen Motive der Handlungen verhalten sich jetzt so wie die Melodien der jetzigen Musik; es ist gar nicht mehr zu sagen, wo Melodie, wo Begleitung Harmonie ist; so ist bei den Motiven der Handlungen alles künst-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 14, KSA 2, S. 35
127
lich gewebt, mehrere Motive bewegen sich neben einander und geben sich gegenseitig Harmonie Farbe Ausdruck Stimmung. Bei gewissen Stimmungen meinen wir wohl den Willen abgesondert vom Intellekt zu haben, es ist eine Täuschung; sie sind ein Resultat. Jede Regung ist intellektual geworden; was einer z. B. bei der Liebe empfindet, ist das Ergebniß alles Nachdenkens darüber, aller je damit verbundenen Metaphysik, aller verwandten m i t e r k l i n g e n d e n N a c h b a r s t i m m u n g e n.“ So wird jede Trennung zwischen einzelnen Empfindungen, aber auch zwischen traditionellen Seelenvermögen wie „Wille“ und „Intellekt“ zur bloßen Wortspalterei degradiert, weil der beobachtbare Normalfall offensichtlich das „Miterklingen“ – das unaufhebbar komplexe Gemenge – ist. Wie allerdings kann man dann noch einzelne Empfindungen differenzieren – und vor allem wissen, welche elementar und welche komplex sind? Nach MA I 14 gehören die „moralischen“ und die „religiösen Gefühle“ (35, 12 f.) zur komplexen Kategorie, aber Beispiele fürs Elementare fehlen ebenso wie Konkretionen, was denn genau bei den „moralischen“ und „religiösen Gefühlen“ zusammengefügt ist – und wie es sich zusammenfügt. Das „Miterklingen“ ist auch für Schopenhauer in jener Passage von Bedeutung, welche die Musik als jene Kunst ausweist, die nicht, wie die anderen Künste, bloßes „Abbild der Ideen; sondern A b b i l d d e s W i l l e n s selbst“ sei (Schopenhauer 1873–1874, 2, 304): „Ich erkenne in den tiefsten Tönen der Harmonie, im Grundbaß, die niedrigsten Stufen der Objektivation des Willens wieder, die unorganische Natur, die Masse des Planeten. Alle die hohen Töne, leicht beweglich und schneller verklingend, sind bekanntlich anzusehen als entstanden durch die Nebenschwingungen des tiefen /305/ Grundtones, bei dessen Anklang sie immer zugleich leise miterklingen, und es ist Gesetz der Harmonie, daß auf eine Baßnote nur diejenigen hohen Töne treffen dürfen, die wirklich schon von selbst mit ihr zugleich ertönen (ihre sons harmoniques) durch die Nebenschwingungen.“ (Ebd., 304 f.) Die Ausgangslage des Miterklingens ist in der Welt als Wille und Vorstellung derjenigen in MA I 14 genau entgegengesetzt: Eigentlich ist für Schopenhauer im Willen alles eins und das „Miterklingen“ macht auf diese Einheit aufmerksam, während in MA I 14 die „E i n h e i t e n“ (35, 11) bloß empfunden werden, aber gerade nicht der Wirklichkeit entsprechen – einer Wirklichkeit aus offenbar zunächst unverbundenem Einzelnem oder wenigstens vereinzelten „Empfindungen und Stimmungen“, die freilich miteinander in Bewegung geraten und die Einheitssuggestion erzeugen. Warum dies geschieht, lässt MA I 14 weitgehend offen: Was heißt ‚Verwandtschaft‘ bei „Empfindungen und Stimmungen“? Sind sie sich ähnlich oder agiert das Gedächtnis so wie der Träumende in MA I 13, nämlich mittels falscher Analogieschlüsse, die weder echte Kausalität noch echte Ähnlichkeit verbürgen? Oder wird das „Miterklingen“ doch erst durch einen gemeinsamen Grund ermöglicht, so dass Schopenhauer durch die Hintertür unerwartet wieder in den skeptischen Salon träte?
128
Menschliches, Allzumenschliches I
Das „Miterklingen“ ist aber vor allem ein Schlüsselbegriff in Wagners Oper und Drama: „Die Melodie, wie sie auf der Oberfläche der Harmonie erscheint, ist für ihren entscheidenden rein musikalischen Ausdruck einzig aus dem von unten her wirkenden Grunde der Harmonie bedingt: wie sie sich selbst als horizontale Reihe kundgiebt, hängt sie durch eine senkrechte Kette mit diesem Grunde zusammen. Diese Kette ist der harmonische Akkord, der als eine vertikale Reihe nächst verwandter Töne aus dem Grundtone nach der Oberfläche zu aufsteigt. Das Mitklingen dieses Akkordes giebt dem Tone der Melodie erst die besondere Bedeutung, nach welcher er zu einem unterschiedenen Momente des Ausdruckes als einzig bezeichnend verwendet wurde. […] Die Gegenwart dieses Grundtones, und des aus ihm bestimmten harmonischen Akkordes, ist vor dem Gefühle, welches die Melodie nach ihrem charakteristischen Ausdrucke erfassen soll, unerläßlich. Die Gegenwart der Grundharmonie heißt aber: M i t e r k l i n g e n derselben. Das Miterklingen der Harmonie zu der Melodie überzeugt das Gefühl erst vollständig von dem Gefühlsinhalte der Melodie, die ohne dieses Miterklingen dem Gefühle Etwas unbestimmt ließe; nur aber bei vollster Bestimmtheit aller Momente des Ausdruckes bestimmt sich auch das Gefühl schnell und unmittelbar zur unwillkürlichen Theilnahme, und volle Bestimmtheit des Ausdruckes heißt aber wiederum nur: v o l l s t ä n d i g s t e M i t t e i l u n g a l l s e i n e r n o t w e n d i g e n M o m e n t e a n d i e S i n n e. / Das Gehör fordert also gebieterisch auch das Miterklingen der Harmonie zur Melodie, weil es erst durch dieses Miterklingen sein /197/ sinnliches Empfängnisvermögen vollkommen erfüllt, somit befriedigt erhält, und demnach mit notwendiger Beruhigung dem wohlbedingten Gefühlsausdrucke der Melodie sich zuwenden kann. Das Miterklingen der Harmonie zur Melodie ist daher nicht eine Erschwerung, sondern die einzig ermöglichende Erleichterung für das Verständnis des Gehörs.“ (Wagner 1871–1873, 4, 196 f.) Die „verwandten Töne“ Wagners werden in MA I 14 zu „verwandten Empfindungen und Stimmungen“ transponiert; wie bei Schopenhauer ist es in der miterklingenden „Grundharmonie“ etwas Vorgängiges und Allgemeines, das sich zu Gehör bringt, während in MA I 14 nur Paralleles und Gleichrangiges gleichzeitig aufgerufen wird. Ontologische Hierarchien werden abgeflacht und ausgeschliffen; es geht um die Depotenzierung scheinbarer Gefühlseinheiten in Moral und Religion, die als Nicht-Einheiten, als kontingente Konglomerate ausgewiesen werden sollen. Karl Jaspers hat in seinem Handexemplar von MA I wie folgt unterstrichen: „Alle s t ä r k e r n Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wühlen gleichsam das Gedächtniss auf.“ Und er notierte dazu am Seitenrand: „Psychoanalyse“ (Nietzsche 1923, 30). 35, 7 f. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst.] Unter Verweis auf Aristoteles: Rhetorik III 10, 2 und III 11 sieht der Kommentar in Nietzsche 2019, 1214 f. hier die These vertreten,
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 14–15, KSA 2, S. 35
129
dass im Aufspüren von Ähnlichkeiten der fundamentale psychische Mechanismus liege, auch wenn die Etablierung solcher Ähnlichkeiten keine verlässliche Erkenntnis begründe. 35, 12 f. In diesem Sinne redet man vom moralischen Gefühle] Vgl. NK ÜK MA I 78.
15. MA I 14 ist auf die sprachkritische Pointe hinausgelaufen, dass die „Einheit des Wortes“ mitnichten die „Einheit der Sache“ verbürge (35, 15 f.). MA I 15 – dazu die ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 145 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,145) – setzt das sprachkritische ebenso wie das gefühlskritische Geschäft fort, indem der Abschnitt zeigen will, dass die Rede von „‚Innen und Aussen‘“ angewandt auf „Wesen und Erscheinung“ (35, 20 f.) ebenso irreführend ist wie die Rede von Tiefe angewandt auf Gefühle. Dass solche Tiefensuggestion trüge, hatte schon MA I 4 postuliert. Vermeintlich tiefe Gefühle verwiesen nur auf „gewisse complicirte Gedankengruppen“ (35, 24), die von diesen Gefühlen „erregt werden“ (35, 24 f.). Diesen Begleitgedanken hielten wir zwar für tief, aber diese vermeintliche Tiefe beweise keineswegs die Wahrheit des Gedankens. Entkleide man das „tiefe[.] Gefühl[.]“ (35, 28) von der Gedankenzumischung, bleibe nur noch die Gefühlsstärke. Diese Stärke aber beweise nichts für die Erkenntnis. Ebenso beweise ein „starke[r] Glaube“ (36, 3) nur den Glauben selbst, keineswegs aber den Wahrheitsgehalt seines Inhaltes. 35, 17 K e i n I n n e n u n d A u s s e n i n d e r We l t.] Vgl. NL 1876/77, KSA 8, 23[150], 458, 2–5: „In der Natur giebt es keinen T o n, diese ist stumm; keine Farbe. Auch keine Gestalt, denn diese ist das Resultat einer Spiegelung der Oberfläche im Auge, aber an sich giebt es kein Oben und Unten, Innen und Außen.“ 35, 17–19 Wie Demokrit die Begriffe Oben und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben] N. hat sich bereits in seiner Leipziger Studienzeit intensiv mit Demokrit beschäftigt (vgl. z. B. Broese 2004); in 35, 17–19 nimmt er wohl auf eine Anmerkung in Langes Geschichte des Materialismus und die dortige Diskussion einer Passage aus Eduard Zellers Philosophie der Griechen Bezug: „Zeller bemerkt (S. 714), das Bedenken, dass im unendlichen Raum kein Oben und Unten sei, scheine sich den Atomikern noch nicht aufgedrängt zu haben; was E p i k u r bei Diogenes X, 60 darüber sage, sei zu oberflächlich und unwissenschaftlich, als dass es sich Demokrit zutrauen lasse. Dies ist aber zu scharf geurtheilt; denn Epikur setzt keineswegs nur, wie Zeller (III, 1. 377 u. f.) annimmt, dem Einwand des fehlenden Oben und Unten den ‚Augenschein‘ entgegen, sondern er macht die durchaus richtige und daher auch wohl auf Demokrit zurückzuführen-
130
Menschliches, Allzumenschliches I
de Bemerkung, dass man ungeachtet jener Relativität des Oben und Unten im unendlichen Raum eben doch die R i c h t u n g vom Kopf nach den Füssen als eine bestimmt gegebene und der Richtung von den Füssen nach dem Kopf schlechthin entgegengesetzte betrachten könne, wie weit man sich auch die Linie, auf welcher diese Dimension gemessen wird, verlängert denke. In dieser Richtung erfolgt die allgemeine Bewegung der freien Atome und zwar nur in dem Sinne der Bewegung vom Kopf eines in der Linie stehenden Menschen zu den Füssen und diese Richtung ist diejenige von oben nach unten; die grade entgegengesetzte die von unten nach oben.“ (Lange 1876–1877, 1, 130, Anm. 21) Bei Zeller 1869, 1, 714 heißt es: „Das Bedenken aber, dass im unendlichen Raum kein Oben und Unten ist4), scheint sich den Atomikern selbst noch nicht aufgedrängt zu haben5).“ Die Fn. 4 bringt die antiken Belege, nämlich: „Cic[ero] Fin. I, 6, s. o. S. 710, 2. Simpl[ikios] De coelo 300, a, 45 (Schol. 516, 8, 37): ἀντιλέγει μεταξύ πρὸς τοὺς μὴ νομίζοντας εἶναι τι ἐν τῷ κόσμῳ τὸ μὲν ἄνω τὸ δὲ κάτω. ταύτης δὲ γεγόνασι τῆς δόξης Ἀναξίμανδρος μὲν καὶ Δημόκριτος διὰ τὸ ἄπειρον ὑποτίθεσθαι τὸ πᾶν. Aristoteles selbst scheint De coelo IV, 1. 308, a, 17 die Atomiker nicht im Auge zu haben, dagegen hält er ihnen Phys. IV, 8. 214, b, 28 ff. De coelo I, 7 g. E. u. ö. den obigen Einwurf entgegen; vgl. [Zeller: Die Philosophie der Griechen] Th. II, b, 210 f. 312 2. Aufl.“ Und Fn. 5 ergänzt: „Was wenigstens Epikur b. Diog[enes Laertius] X, 60 zur Beseitigung dieses Einwurfs sagt, ist zu oberflächlich und unwissenschaftlich, als dass es sich Demokrit zutrauen liesse.“ Zu N.s Beschäftigung mit Zeller vgl. auch Wenner 2021. 35, 19–22 so die Philosophen überhaupt den Begriff „Innen und Aussen“ auf Wesen und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gefühlen komme man tief in’s Innere, nahe man sich dem Herzen der Natur.] Wer näherhin zu diesen „Philosophen“ gehöre, macht die ursprüngliche Fassung im Druckmanuskript deutlich. Dort steht statt 35, 19–21: „Schopenhauer den Begriff ‚Innen und Aussen‘ auf Wesen und Erscheinung der Welt; er meint“ (KGW IV 4, 170). Schopenhauer hat sich der Metaphorik von Innen und Außen durchaus bedient, in der Introspektion und dem „Gefühl der Ursprünglichkeit“ die Quelle der Wesenserkenntnis gefunden: „Wenn man nach a u ß e n blickt, woselbst die Unermeßlichkeit der Welt und die Zahllosigkeit der Wesen sich uns darstellt; so schrumpft das eigene Selbst, als bloßes Individuum, zu nichts zusammen und scheint zu verschwinden. Durch eben dieses Uebergewicht der Masse und Zahl hingerissen, denkt man ferner, daß nur die nach a u ß e n gerichtete, also die o b j e k t i v e P h i l o s o p h i e auf dem richtigen Wege seyn könne: auch war hieran zu zweifeln den ältesten griechischen Philosophen gar nicht eingefallen. / Blickt man hingegen nach i n n e n; so findet man zunächst, daß jedes Individuum einen unmittelbaren Antheil nur an sich selber nimmt, ja, sich selber mehr am Herzen liegt, als alles Andere zusammengenommen; – was daher kommt, daß es allein sich selbst unmittelbar, alles
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 15, KSA 2, S. 35
131
Andere aber nur mittelbar erkennt. Wenn man nun noch hinzunimmt, daß bewußte und erkennende Wesen schlechterdings nur als Individuen denkbar sind, die bewußtlosen aber nur ein halbes, ein bloß mittelbares Daseyn haben; so fällt alle eigentliche und wahre Existenz in die Individuen. Wenn man endlich gar noch sich darauf besinnt, daß das Objekt durch das Subjekt bedingt ist, folglich jene unermeßliche Außenwelt ihr Daseyn nur im B e w u ß t s e y n erkennender Wesen hat, folglich an das Daseyn der Individuen, die deren Träger sind, gebunden ist, so entschieden, daß sie in diesem Sinne sogar als eine bloße Ausstattung, ein Accidenz des doch stets individuellen Bewußtseyns angesehen werden kann; wenn man, sage ich, dies Alles ins Auge faßt; so geht man zu der Ansicht über, daß nur die nach i n n e n gerichtete, vom Subjekt, als dem unmittelbar Gegebenen, ausgehende Philosophie, also die der Neueren seit Cartesius, auf dem richtigen Wege sei, mithin die Alten die Hauptsache übersehen haben. Aber die vollkommene Ueberzeugung hievon wird man erst erhalten, wenn man, tief in sich gehend, das Gefühl der Ursprünglichkeit, welches in jedem /18/ erkennenden Wesen liegt, sich zum Bewußtseyn bringt. Ja, mehr als Dies. Findet doch jeder, sogar der unbedeutendeste Mensch in seinem einfachen Selbstbewußtseyn sich als das allerrealste Wesen und erkennt nothwendig in sich den wahren Mittelpunkt der Welt, ja, die Urquelle aller Realität. Und dies Urbewußtseyn sollte lügen? Der stärkste Ausdruck desselben sind die Worte des Upanischads: hae omnes creaturae in totum ego sum, et praeter me ens aliud non est, et omnia ego creata feci (Oupnekh. I, p. 122), welches dann freilich der Uebergang zum Illuminismus, wohl gar zum Mysticismus ist. Dies also ist das Resultat der nach Innen gerichteten Betrachtung; während die nach Außen gerichtete uns als das Ziel unsers Daseyns ein Häuflein Asche erblicken läßt.“ (Schopenhauer 1873–1874, 6, 17 f.; vgl. ferner z. B. Schopenhauer 1864, 253 f.) 35, 22–25 Aber diese Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse complicirte Gedankengruppen regelmässig erregt werden, welche wir tief nennen] Im Druckmanuskript stand ursprünglich: „Aber diese Tiefe besteht hier aus gewissen metaphysischen Beimischungen des Gedankens“ (KGW IV 4, 170). 35, 26 f. tiefe Gedanke] Im Druckmanuskript und in der ‚Reinschrift‘ stand „tiefe“ in Anführungszeichen (KGW IV 4, 170). 35, 28–36, 4 rechnet man vom tiefen Gefühle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das s t a r k e Gefühl übrig, und dieses verbürgt Nichts für die Erkenntniss, als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist.] Im Druckmanuskript stand ursprünglich nur: „Das starke Gefühl verbürgt Nichts für die Erkenntniss, als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist.“ (KGW IV 4, 170) Dieses Thema wird N. später häufiger aufgreifen, vgl. z. B. AC 50
132
Menschliches, Allzumenschliches I
u. NK 6/2, S. 233–235; vorgeprägt ist es in Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus: „Die Masse, arm an Logik wie an Glauben, hält die Gewalt prophetenhafter Ueberzeugung so gut für ein Kriterium des Wahren wie die Probe eines Rechenexempels, und da die Sprache nun einmal dem Volke gehört, so werden wir den doppelten Gebrauch des Wortes ‚Wahrheit‘ für einstweilen schon deswegen einräumen müssen.“ (Lange 1866, 495; vgl. dazu Salaquarda 1978, 247 f.) Und im Kapitel über Locke resümiert Lange 1876–1877, 1, 271: „Die begeisterte Ueberzeugung aber ist kein Zeichen der Wahrheit“.
16. Die Sprechinstanz von MA I 16 stellt sich vor die Geschichte des philosophischen Denkens so wie angeblich „[d]ie Philosophen“ „vor das Leben und die Erfahrung“ (36, 6 f.) sich gestellt haben, nämlich als ob es „ein Gemälde“ (36, 9) wäre. Freilich ist das „Gemälde“, das „die Philosophen“ – gemeint sind idealistische und transzendentalphilosophische Vertreter bis hin zu Schopenhauer – vor Augen hätten, vollständig statisch: Sie behaupten nämlich, dass stets und „unveränderlich“ (36, 10) die „Welt der Erscheinung“ aus dem „Ding an sich“ als ihrem „zureichende[n] Grund“ (36, 13 f.) hervorgehe. Demgegenüber ist das, was der betrachtenden Sprechinstanz vor Augen steht, ganz und gar dynamisch, nämlich die Entwicklung des menschlichen Geistes, der es geschuldet sei, dass man zu so seltsamen Konstrukten wie der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung habe gelangen können. Dieser Position wird zunächst diejenige „strengere[r] Logiker“ (36, 15) – ungenannter Gewährsmann dafür ist Afrikan Spir – entgegengesetzt, wonach es zwischen Unbedingtem und Bedingtem, also einem Ding an sich und „der uns bekannten Welt“ (36, 18 f.), gar keine Verbindung gäbe und also keineswegs „das Ding an sich erscheine“ (36, 20). Aber auch diese Position habe einen blinden Fleck, übersehe sie doch „die Möglichkeit“, dass „jenes Gemälde“, also „Leben und Erfahrung“ (36, 22 f.), geworden und noch immer im Werden begriffen sei. „Unarten des unlogischen Denkens“ (36, 30 f.; vgl. NK ÜK MA I 31), ein Auswuchern der Phantasie, der Leidenschaften und „moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüche[.]“ (36, 28 f.) habe diese Erfahrungswelt „bunt“ (36, 32) und tief werden lassen, sie habe „Farbe bekommen“ (37, 1); „wir“ seien, heißt es unter Wiederaufnahme der Gemälde-Metaphorik, „die Coloristen“ (37, 1 f.), die Farbgeber der Wirklichkeit (vgl. Imasaki 2020, 17 f.). Was im Satz davor noch eine bloße „Möglichkeit“ war, ist nun unversehens Indikativ und Wirklichkeit geworden. Erst „[s]pät, sehr spät“ (37, 4) besinne der menschliche Intellekt sich – entweder eben auf die (Spirsche) Position, dass das Ding an sich und die Erfahrungswelt voneinander streng getrennt sein müssten und kein „Schluss“ (37, 7) von dieser
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 15–16, KSA 2, S. 35–36
133
auf jenes zulässig sei, oder auf eine mystische Position, die das Aufgeben des Intellekts und des persönlichen Willens verlange. Andere (und man kann ergänzen: in der Nachfolge Schopenhauers) hätten das Ding an sich für den bedenklichen Weltzustand verantwortlich gemacht und wollten nun „Erlösung vom Sein“ (37, 17 f ). Nach einem gliedernden Gedankenstrich (37, 18) stellt MA I 16 in Aussicht, die „Wissenschaft“ (37, 19), näherhin eine „E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e d e s D e n k e n s“ (37, 20), werde mit all diesen Positionen „fertig werden“ (37, 21 f.). Deren „Resultat“ werde es „vielleicht“ (37, 22) sein, dass das, was wir „die Welt nennen“ (37, 23), sich „Irrthümern und Phantasien“ (37, 24) verdanke, die in der Entwicklungsgeschichte der organischen Wesen eingeschrieben seien. Von dieser Vorstellungswelt vermöge uns die Wissenschaft zwar nicht zu befreien, aber sie könne ihre Entstehungsbedingungen deutlich machen und damit uns über unsere Lage aufklären, so dass „wir“ (38, 2) über das „Ding an sich“ (38, 3) nur noch (homerisch) lachen könnten, weil es doch alles zu sein schien, aber doch „eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer“ (38, 4 f.) sei. Obwohl diese Aufklärungsarbeit der Wissenschaft noch nicht vollzogen ist, will MA I 16 ihr „Resultat“ (37, 23) schon vorwegnehmen – auch indem das Futurisch-Hypothetische im letzten Viertel des Abschnitts den Indikativ Präsens nicht scheut und damit wissenschaftliche Tatsächlickeit suggeriert. Das Eigentliche, nämlich unser Gewordensein auch in dem, was „wir“ für wahr und wirklich halten, will der Sprecher augenscheinlich kundtun. Das argumentative Hauptproblem von MA I 16 wird damit allerdings nicht beseitigt, nämlich die Frage, ob die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise die Frage von Erscheinung und Ding an sich überhaupt berührt oder ob nicht vielmehr ein Kategorienfehler vorliegt: Denn man kann ohne Weiteres zugestehen, dass wir als Menschen physiologisch und evolutionär anders ausgestattet sind als andere Tiere, unsere Welt also notgedrungen eine andere Welt ist als diejenige der Paviane oder der Ameisen. Daraus folgt aber nichts für die Frage, ob es nicht hinter aller Erscheinung, also hinter der jeweils ganz eigentümlichen Erfahrungswelt der Menschen, Paviane oder Ameisen, eine wie auch immer beschaffene Wirklichkeit gebe, die die Bedingung der Möglichkeit all dieser divergenten Erfahrungswelten ist. Man mag diese Frage abtun, weil uns als Nicht-Pavianen und Nicht-Ameisen nur die menschliche, nicht die pavianische oder ameisige Erfahrungswelt zur Verfügung steht – aber die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung adressiert und beseitigt die Frage nicht zwingend. Ein Schopenhauerianer oder ein Kantianer wäre schwerlich bekehrt, zumal dann, wenn sie auf einer ahistorischen Betrachtung beharren. Zu MA I 16 gibt es neben einer ‚Reinschrift‘ in P II 12 b, 60 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/P-II-12b,60) eine längere Vorarbeit in NL 1876/77, KSA 8, 23[125], 447, 4–448, 5, die auch den im Drucktext namenlos bleibenden, philoso-
134
Menschliches, Allzumenschliches I
phiehistorischen Bezug auf Schopenhauer explizit macht: „Während Schopenhauer von der Welt der Erscheinung aussagt, dass sie in ihren Schriftzügen das Wesen des Dinges an sich zu erkennen gebe, haben strengere Logiker jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten, der metaphysischen Welt und der uns bekannten Welt geleugnet: so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich erschiene. Von beiden Seiten scheint mir übersehen, dass es verschiedne irrthümliche Grundauffassungen des Intellectes sind, welche den Grund abgeben, weshalb Ding an sich und Erscheinung in einem unausfüllbaren Gegensatz zu stehen scheinen: wir haben die Erscheinung eben mit Irrthümern so umsponnen, ja sie so mit ihnen durchwebt, dass niemand mehr die Erscheinungswelt von ihnen getrennt denken kann. Also: die üblen, von Anfang an vererbten unlogischen Gewohnheiten des Intellectes haben erst die ganze Kluft zwischen Ding an sich und Erscheinung aufgerissen; diese Kluft besteht nur insofern unser Intellect und seine Irrthümer bestehen. Schopenhauer hinwiederum hat alle characteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung – d. h. der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt – zusammengelesen und statt den Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen Weltcharacters angeschuldigt. – Mit beiden Auffassungen wird eine Entstehungsgeschichte des Denkens in entscheidender Weise fertig werden: deren Resultat vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: das was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern welche in der gesammten Entwicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden. Von dieser Welt als Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich nur in geringem Maasse zu lösen, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten nicht zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung dieser Welt als Vorstellung aufhellen.“ Wie in MA I 16 ist auch im Drucktext von MA I 15 die ursprünglich explizite Schopenhauer-Referenz gestrichen worden, vgl. NK 35, 19–22. Zu MA I 16 siehe z. B. Heller 1972b, 174–183, Claesges 1999, 110–114, Hübner 2000, 141–143, Fornari 2009, 38–40, Riccardi 2009, 87, Daigle 2014, 155, Emden 2014a, 142 u. 159 sowie Pearson 2016, 16 f. (zu N.s Wiederaufnahme früherer Schopenhauerkritik in MA I 16); die metaphysische (Hinter-)Welt wird auch in MA I 9 und MA I 21 thematisiert. Cohen 2014, 38 zieht aus MA I 16 den Schluss, N. sei hier „a sort of Kantian positivist“. 36, 13–22 also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 16, KSA 2, S. 36
135
gestellt: so dass in der Erscheinung eben durchaus n i c h t das Ding an sich erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von beiden Seiten ist aber die Möglichkeit übersehen] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 17) hat N. – wohl 1885 – diesen Passus mit Bleistift umgeschrieben in: „aus jener Wirkung also auf diese Ursache, auf das Unbedingte [im Drucktext eingeklammert, nicht gestrichen: (Ding an sich)], das immer als der zureichende Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen muß man, nachdem 〈man〉 [im Drucktext nicht gestrichen: Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie] den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden hinstellt [im Drucktext nicht gestrichen: festgestellt hatten], umgekehrt gerade jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede stellen: so daß in der Erscheinung eben durchaus n i c h t das Ding an sich erscheint, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von der ersten Seite [im Drucktext eingeklammert, nicht gestrichen: (beiden Seiten)] wird der Thatbestand ignorirt“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/36/). 36, 15–19 Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt] Wie z. B. in MA I 131, KSA 2, 124, 21 ist hier von „Logikern“ im Plural die Rede, aber die in 36, 15–19 formulierte These, dass das „Unbedingte“ nicht bedingen und also auch nicht die phänomenale Welt kausal hervorgebracht haben könne, ist die philosophische Spezialität von Afrikan Spir, dessen Hauptwerk Denken und Wirklichkeit N. vom 14. März 1873 an (Crescenzi 1994, 420) mehrfach oder durchgehend aus der Basler Universitätsbibliothek entliehen hatte, bevor er sich die 1877 erschienene Neuauflage selbst kaufte und mit vielen Lesespuren versah (NPB 567 u. 570). Die Begriffsbestimmung von MA I 16 findet sich dort bereits auf der ersten Seite: „Ich bemerke ausdrücklich, dass ich mit dem Worte ‚metaphysisch‘ ausschliesslich nur dasjenige bezeichne, was sich auf das Unbedingte bezieht.“ (Spir 1877, 1, 1) Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund: „Ich muss gestehen, dass ich die metaphysische Richtung in der Philosophie für eine Art geistiger Krankheit halte“ (ebd., 1, 4; von N. mit doppeltem Randstrich markiert). Für Spir ist völlig klar, dass „die metaphysische Erklärung der Dinge, die Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten“, „den Ur- und Grundirrthum“ verkörpere, „welcher der ganzen Entwicklung des philosophischen Denkens eine falsche (die dogmatische) Richtung gegeben hat. Das Suchen nach der metaphysischen Erklärung der Dinge ist gleich dem Suchen nach der Quadratur des Cirkels, dem perpetuum mobile und der Verwandlung der Stoffe.“ (Spir 1877, 2, 290; von N. mit doppeltem Randstrich markiert; vgl. D’Iorio 1993, 271.) Spir erscheint am Ende des Kapitels „Das Verhältniss der Welt zu dem
136
Menschliches, Allzumenschliches I
Unbedingten“ (Spir 1877, 1, 279–294) die Schlussfolgerung zwingend, dass „das Unbedingte mit keinem empirischen Gegenstand irgend eine Aehnlichkeit hat und nicht den zureichenden Grund des Bedingten enthalten, nicht die Bedingung desselben sein kann“ (ebd., 1, 294). Zur „metaphysischen Welt“ vgl. NK 29, 11. 36, 26 f. Schluss über den Urheber (den zureichenden Grund)] Definitorisch zum zureichenden Grund Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 7. Vgl. z. B. Spir 1877, 1, 31 f.: „Die Veranlassung aller Conflicte zwischen Naturwissenschaft und Philosophie lag in der /32/ Voraussetzung der Philosophen, das Unbedingte, welches sie sich zum Gegenstande machten, enthalte den zureichenden Grund der erfahrungsmässigen Welt, deren Erforschung Gegenstand der Naturwissenschaft ist, und sei als der letzte Erklärungsgrund der Welt zu betrachten und zu gebrauchen. Nun wird es sich uns aber in dem weiteren Verlaufe der Untersuchung zeigen, dass diese Voraussetzung eine irrthümliche ist und die Prätension der Philosophen, die Naturwissenschaft zu schulmeistern, darum eine übel angebrachte war. Nicht das Unbedingte ist der zureichende Grund der erfahrungsmässigen Welt, wohl aber ist der Begriff des Unbedingten, welcher allein den Gegenstand der wirklichen, kritischen Philosophie bildet, die Grundlage auch des erfahrungsmässigen Wissens.“ 37, 2–4 der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen lassen und seine irrthümlichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 18) hat N. – wohl 1885 – „hat die Erscheinung“ (37, 2 f.) mit Bleistift abgeändert in: „auf Grund der menschl. Bedürfnisse, der menschl. Affekte hat die ‚Erscheinung‘“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1252332904/37/). Siehe NL 1877, KSA 8, 22[33], 385, 8–10: „Erscheinung. Es liegt an unseren Irrthümern, welche in die Constitution unseres Intellects hineinreichen, dass Ding und Erscheinung sich nicht decken.“ Für Spir 1877, 2, 311 ist klar, dass auch das Reden von Erscheinungen auf nichts verweisen muss, was substantiell in ihnen erscheint: „Durch unsere Untersuchungen werden wir also zu dem Satze geführt, welcher Herbart (All. Met. I, p. 285) so ungereimt zu sein schien, nämlich dass die Erscheinung sich selber erscheint. Wem könnte sie sonst erscheinen, wenn nicht sich selber? Sie zerfällt eben in zwei Factoren, das Subject und das Object der Erkenntniss, welche nur in ihrer gegenseitigen Relation bestehen können. Aber gerade dieses Zerfallen und diese Relativität ist dem Dinge oder dem Realen an sich fremd. Dasselbe kann also in keinem Sinne weder als Subject noch als Object des Erkennens gefasst und aus dessen Wesen kann die Beschaffenheit des Erkennbaren nicht abgeleitet werden. Es ist eine unbegreifliche Naivetät, wenn Schopenhauer (W. a. W. u. V. II, p. 204) meint, dass die Erscheinung ‚die Manifestation desjenigen sei, was erscheint, des Dinges an sich‘, und es daher zum Ziele der
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 16, KSA 2, S. 36–37
137
Metaphysik macht, das Ding an sich aus der Erscheinung herauszudeuten. Man nennt die empirischen Objecte zwar mit Recht Phänomena, Erscheinungen, aber nicht deshalb, weil in denselben ein Noumenon erschiene, sondern weil sie selbst uns erscheinen, während das Noumenon es nicht thut. Schopenhauer liess sich offenbar durch die Associationen des Wortes ‚Erscheinung‘ und durch die unvertilgbare Voraussetzung, dass das Unbedingte den zureichenden Grund des Gegebenen enthalten müsse, irre führen.“ (Spir 1877, 1, 311; von N. mehrfach am Rand mit Strichen versehen, der zweitletzte Satz – „Man nennt … nicht thuth“ – von N. mit „gut“ quittiert; siehe D’Iorio 1993, 272 f.) 37, 7–11 oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum A u f g e b e n unsers Intellectes, unsers persönlichen Willens auffordert: um d a d u r c h zum Wesenhaften zu kommen, dass man w e s e n h a f t w e r d e] Dass man den Intellekt opfern solle, um der Erlösung (durch den Glauben) teilhaftig zu werden, ist eine im christlichen Kontext unter dem Stichwort des sacrificium intellectus weitverbreitete Vorstellung, auf die N. gelegentlich zu sprechen kommt, so z. B. in JGB 23, vgl. NK KSA 5, 39, 4 f. Nun würde man angesichts des Satzanfangs in 37, 4, wonach sich der Intellekt erst „[s]pät, sehr spät“ besonnen habe, die an dieser Textstelle ins Auge gefasste Zeit eher in der Gegenwart vermuten als in der christlichen Vergangenheit von Spätantike bis Frühneuzeit. Gewiss wird man bei der Aufgabe des Eigenwillens zunächst an Schopenhauer denken, jedoch passt die so betonte Preisgabe des Intellekts nicht wirklich. Eher zu denken ist an einen Autor, von dessen Lektüre N. am 06. 12. 1876 aus Sorrent seinen Freund Franz Overbeck wissen ließ: „Wir haben viel Voltaire gelesen: jetzt ist Mainländer an der Reihe.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 573, S. 202, Z. 20 f.) Mainländer plädiert zwar nicht durchweg dafür, den Intellekt aufzugeben – siehe NK 37, 11–18 –, verrät jedoch große Sympathie für die von ihm ausführlich zitierte Theologia Deutsch, eine anonyme mystische Schrift des 14. Jahrhunderts. Diesem Werk zufolge müsse „der Einzelwille ganz getödtet werden; denn ‚Ichheit und Selbstheit ist von Gott geschieden und es gehört ihm nicht zu, sondern nur so viel dessen nöthig ist zu der P e r s ö n l i c h k e i t.‘ ([Theologia deutsch 1855], 123.) Der letztere Satz ist ein gutes Zeugnis für die Besonnenheit des Mystikers, der der perversen Vernunft nicht gestattete, das Weltganze in eine erfaselte, schlappe, schlaffe Unendlichkeit zerfließen zu lassen.“ (Mainländer 1876, 609; eine darauf unmittelbar folgende Passage, ebd. 610, nimmt N. in EH Warum ich so klug bin 6 auf, vgl. NK KSA 6, 290, 7–10.) Man sei, zitiert Mainländer die Theologia deutsch, schließlich in der mystischen Vollendung „ohne Willen“, so „daß der ewige Wille allein daselbst wolle, thue und lasse“: „Und wo die Einigung geschieht in der Wahrheit und wesenhaft wird, da steht der innere Mensch in der Einigung unbeweglich und Gott läßt den äußeren Menschen hin und her bewegt werden von diesem zu dem.“ (Mainländer 1876, 612 nach Theologia deutsch 1855, 105 u. 107) Das in 37, 10 f. doppelt aufgeru-
138
Menschliches, Allzumenschliches I
fene, einmal substantivierte Adjektiv „wesenhaft“ kommt ansonsten bei N. nur noch dreimal vor (FW 58, KSA 3, 422, 22, NL 1881, KSA 9, 11[156], 501, 4 u. NL 1887, KSA 13, 11[84], 41, 2). Obwohl es gelegentlich durchaus auch im philosophischen Kontext des 19. Jahrhunderts, etwa bei Herder oder Hegel, im Gebrauch ist, wurde es damals vor allem im theologisch-religiösen Schrifttum inflationär verwendet. 37, 11–18 Wiederum haben Andere alle charakteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung – das heisst der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt – zusammengelesen und a n s t a t t d e n I n t e l l e c t a l s S c h u l d i g e n a n z u k l a g e n, das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt und die Erlösung vom Sein gepredigt.] Im Gefolge Schopenhauers sind es vor allem zwei N. wohlbekannte Philosophen, die „das Wesen der Dinge“ für den angeblich heillosen Zustand der Welt verantwortlich machen, nach „Erlösung“ heischen und zugleich den Intellekt davon freisprechen, für das Elend verantwortlich zu sein – die also den heillosen Zustand als tatsächlich gegeben und nicht bloß als Bewusstseinsprojektion ansehen. Der eine ist Eduard von Hartmann, in dessen Philosophie des Unbewussten (die N. besessen, aber 1875 wieder verkauft hatte, vgl. auch Kővári 2021) „Erlösung“ ein persistentes Thema ist: „Das Wollen hat seiner Natur nach einen Ueberschuss von Unlust zur Folge. Das Wollen, welches das ‚Dass‘ der Welt setzt, verdammt also die Welt, gleichviel wie sie beschaffen sein möge, zur Qual. Zur Erlösung von dieser Unseligkeit des Wollens, welche die Allweisheit oder das Logische der unbewussten Vorstellung direct nicht herbeiführen kann, weil es selbst unfrei gegen den Willen ist, schafft es die Emancipation der Vorstellung durch das Bewusstsein, indem es in der Individuation den Willen so zersplittert, dass seine gesonderten Richtungen sich gegen einander wenden. Das Logische leitet den Weltprocess auf das Weiseste zu dem Ziele der möglichsten Bewusstseinsentwickelung, wo anlangend das Bewusstsein genügt, um das Wollen in das Nichts zurückzuschleudern, womit der P r o c e s s und die W e l t a u f h ö r t. Das Logische macht also, dass die Welt eine bestmöglichste wird, nämlich eine solche, die zur Erlösung kommt, nicht eine solche, deren Qual in unendlicher Dauer perpetuirt wird.“ (Hartmann 1869, 643) Das Hauptwerk des anderen Philosophen trägt die „Erlösung“ bereits im Titel, nämlich wiederum Philipp Mainländers Philosophie der Erlösung (vgl. NK 37, 7– 11). An einer Stelle, auf die N. unter ausdrücklicher Nennung Mainländers in NL 1876, KSA 8, 19[99], 354, 21–25 anspielt, heißt es: „Die Kunst bereitet das menschliche Herz zur Erlösung vor, aber die Wissenschaft allein kann es erlösen: denn sie allein hat das Wort, das alle Schmerzen stillt, weil der Philosoph, im objektiven Erkennen, den Z u s a m m e n h a n g a l l e r Ideen und das aus ihrer Wirksamkeit continuirlich sich erzeugende S c h i c k s a l der Welt, den Weltlauf, erfaßt.“ (Mainländer 1876, 166) In Mainländers suizidophiler Seinsverneinungs-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 16, KSA 2, S. 37
139
lehre ist das Sein selbst verdammenswert, was man durch einen „klaren Blick in die Welt“ unschwer erkenne – jedoch könne sich das erkennende Subjekt entziehen: „Die Entzündung des Willens an der Erkenntniß, daß sich die Menschheit aus dem Sein in das Nichtsein bewege, und an der anderen, daß Nichtsein besser ist als Sein, oder auch an der letzteren allein, welche, unabhängig von jener, durch einen klaren Blick in die Welt erlangt werden kann, ist die philosophische V e r n e i n u n g d e s i n d i v i d u e l l e n W i l l e n s z u m L e b e n. Der also entzündete Wille will bis zum Tode den glücklichen Zustand des Herzensfriedens, ohne Unterbrechung, und im Tode die völlige Vernichtung, die volle und ganze Erlösung von sich selbst.“ (Ebd., 218) Und der Erlösungswunsch sei allgemein: „auf dem Grunde sieht der immanente Philosoph im ganzen Weltall nur die tiefste Sehnsucht nach absoluter Vernichtung, und es ist ihm, als höre er deutlich den Ruf, der alle Himmelssphären durchdringt: Erlösung! Erlösung! Tod unserem Leben! und die trostreiche Antwort darauf: ihr werdet A l l e die Vernichtung finden und erlöst werden.“ (Ebd., 335) 37, 23–29 Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen 〈sind〉 und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, – als Schatz: denn der We r t h unseres Menschenthums ruht darauf.] Dass Menschen die Welt so sehen, wie es ihre physiologische Ausstattung erlaubt, ist im evolutionstheoretisch bestimmten Diskurs des späten 19. Jahrhunderts keine originelle Ansicht. Hingegen ist die These, dass sich das menschliche Weltbild „Irrthümern und Phantasien“ verdanke, schon origineller (vgl. dazu ausführlich WL), weil sie das utilitaristische Kalkül gängiger evolutionstheoretischer Betrachtungsweisen konterkariert, die anzunehmen geneigt sind, dass wir die Welt so sehen, wie sie für uns zu sehen dienlich ist, also, wie es für unsere Bedürfnisse und ihre Befriedigung angemessen ist. Freilich stellt sich die methodische Frage, wie man von der Irrtümlichkeit menschlicher Weltbilder wissen kann, wenn wir als Menschen diese Weltbilder nicht verlassen und auf keine außermenschliche Welterfahrung zugreifen können. Ist die Rede von der Irrtümlichkeit ein Denunziationsvokabular, darauf angelegt, die Alltagserfahrung rhetorisch abzuwerten, um der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis Nachdruck zu verschaffen? Wenn nun aber ausdrücklich vom „Schatz der ganzen Vergangenheit“ (37, 27) die Rede ist, wird damit angezeigt, dass die Menschheit offensichtlich einen Lernprozess durchläuft und durch die Irrtümer hindurch, in Prozessen alltags- und erkenntnispraktischer Falsifikation, zu besseren, wenngleich, verglichen mit der alten Metaphysik, sehr bescheidenen Einsichten kommt, die weniger irrtumsbefrachtet sind. Die Zahl der Irrtümer und ihre Tiefenreichweite scheinen sich im Laufe der Zeit zu verringern. Eine solche Auffassung wiederum ist beispielsweise mit derjenigen Herbert
140
Menschliches, Allzumenschliches I
Spencers durchaus nicht unvereinbar. Fornari 2009, 40, Anm. 9 merkt zu FW 110 an, dass N. dort an der „Sichtweise“ von MA I 16 (37, 23–29) zwar „unverändert“ festgehalten habe, sich aber durch „die Begegnung mit Spencers Evolutionismus eine bedeutsame Verschiebung in physiologischer Richtung“ ergeben habe. In MA I 16 soll gezeigt werden, wie eine Entstehungsgeschichte des Denkens uns über uns selbst aufhellt und aufklärt – wie unsere Vorstellungswelt geworden ist, was sie ist – und wie sie durch Wissenschaft und historisches Philosophieren auch wieder anders werden könnte. In 37, 33–38, 2 werden die lange irrtümlichen Vorstellungen wissenschaftlich selbstreflexiv. Lösen können „wir“ (38, 2) uns von ihnen zwar nicht, aber sie in ihrem Gewordensein durchschauen. 37, 26 verwachsen 〈sind〉] Das „〈sind〉“ ist eine editorische Zutat in KSA 2, 37, 26; sie fehlt im Druckmanuskript sowie in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 19) und ist sowohl semantisch als auch grammatikalisch überflüssig. 38, 3 eines homerischen Gelächters] Vgl. NL 1885, KSA 11, 40[65], 666, 15 = KGW IX 4, W I 7, 16, 21 f. u. NK KSA 5, 236, 19. Homer berichtet, dass die Götter in ein „ἄσβεστος γέλως“, ein „unauslöschliches Lachen“, verfielen angesichts des im Netz des betrogenen Ehemanns Hephaistos gefangenen Liebespaares Aphrodite und Ares (Odyssee VIII 326), zum anderen angesichts des übermäßig geschäftigen und atemlosen Hephaistos (Ilias I 599).
17. MA I 17 – zu diesem Abschnitt gibt es eine ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 10 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,10), siehe KGW IV 4, 170 – kontrastiert den Nutzwert „[ m ] e t a p h y s i s c h e [ r ] E r k l ä r u n g e n“ (38, 7) in jüngeren Lebensphasen mit demjenigen wissenschaftlicher Erklärungen in späteren Lebensphasen. Dabei operiert der Absatz seinerseits erklärend, nämlich psychologisch, und lässt sich zugleich als eine Selbstreflexion N.s auf seinen eigenen jugendlichen Metaphysikhunger lesen (vgl. Heller 1972b, 185), der in GT voll ausgereift war. Die psychologische Erklärung, die MA I 17 gibt, verzichtet ganz auf Schopenhauers Theorem eines quasinatürlichen „metaphysischen Bedürfnisses“, das bei N. häufig schlecht wegkommt (vgl. z. B. MA I 26; dazu NK 47, 6–25), sondern führt den Erfolg „metaphysischer Erklärungen“ auf zwei offenbar psychische Bedürfnisse zurück, nämlich einerseits, „[s]ich unverantwortlicher fühlen“ (38, 13) zu wollen, andererseits Interesse an den Dingen und am Leben zu behalten. Was hier allgemein als „metaphysische Erklärungen“ firmiert, hat allerdings schon eine spezifisch schopenhauerische Färbung: Bei den „Dingen, welche“ der junge Mensch „unangenehm oder verächtlich fand“, nur um in ihnen „etwas höchst
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 16–17, KSA 2, S. 37–38
141
Bedeutungsvolles“ (38, 8–10) zu finden, ist man an Schopenhauers Analyse des Geschlechtstriebes zu denken geneigt, in dem sich der Weltwille exemplarisch zeigen soll. Ebenso ist das spezifisch pessimistische Element der Schopenhauerschen Philosophie in jener Rückführung des Unbehagens an und der Unzufriedenheit mit sich selbst auf das allgemeine „Weltelend“ (38, 12) wiederzufinden, die der junge, sich metaphysischer Erklärungen bedienende Mensch nach MA I 17 vornimmt. Und das offensichtlich als befreiend empfundene Gefühl der Unverantwortlichkeit taucht dann auf, wenn es keinen freien Individualwillen gibt, was zu den ethischen Kernbeständen von Schopenhauers Metaphysik gehört, aber sicher nicht zur metaphysischen Tradition im Allgemeinen, wie sie etwa in MA I 1 thematisiert wird. Es ist also eine ganz bestimmte Metaphysik, die just das leistet, was MA I 17 ihr zuschreibt, nämlich Entlastung von Verantwortung und damit von Handlungsdruck bei gleichzeitiger Aufladung des vermeintlich Gewöhnlichen mit Bedeutsamkeit. Dass es ausgerechnet diese beiden Momente sein sollen, die Metaphysik für junge Menschen attraktiv erscheinen lassen, wird in MA I 17 keineswegs so hergeleitet, dass das zwingend erscheinen müsste. Die Pointe ist vielmehr, dass die gegebene, doppelte psychologische Erklärung das Selbstverständnis und die Selbstlegitimationsstrategie der Metaphysik unterläuft: Folgt man diesem Abschnitt, gewinnt die Metaphysik ihr Publikum keineswegs, weil sie eine überzeugende Welttotalerklärung bereithält und damit die Ethik, das Handeln auf ein sicheres Fundament stellt. Im Gegenteil stehen die Entlastungs- und die Unterhaltungsfunktion – die „Dinge“ werden dank Metaphysik „interessanter“ (38, 13 f.) – diesem metaphysischen Selbstverständnis und dieser metaphysischen Selbstlegitimationsstrategie gerade entgegen. Die Unverantwortlichkeit – dass wir für unser Tun nichts können und keinen freien Willen haben – ist allerdings keine Taktik zur Desavouierung eines Fasziniert-Seins durch Metaphysik. Vielmehr ist diese Unverantwortlichkeit selbst ein Leitthema und eine Leitthese von MA I insgesamt (vgl. z. B. MA I 39, MA I 43, MA I 91, MA I 105, MA I 133 u. MA I 144), die N. im Übrigen mit Paul Rée teilt: Wenn wir „die Nothwendigkeit aller menschlichen Handlungen eingesehen haben, so machen wir Niemanden mehr verantwortlich“ (Rée 1877, 42 = Rée 2004, 151). Die Metaphysik liegt, an dieser Leitthese gemessen, demnach nicht wirklich falsch. Der der Jugend entwachsene, gegenüber der Metaphysik misstrauisch gewordene Mensch erkenne, dass er „jene Wirkungen auf einem anderen Wege“ (38, 17 f.) auch erreichen könne, nämlich auf dem Weg der Wissenschaft; „physische und historische Erklärungen“ könnten dasselbe „Gefühl der Unverantwortlichkeit“ (38, 19 f.) ebenso erzeugen wie das „Interesse am Leben“ (38, 21). Somit tritt jetzt nicht etwa der ältere Mensch in die Selbstverantwortung ein und denkt, alles in der Hand zu haben, sondern bleibt im Bannkreis bewusster Ohnmacht.
142
Menschliches, Allzumenschliches I
Ob dieser ältere Mensch noch immer wie der junge mit sich selbst „unzufrieden“ (38, 10) ist, verschweigt der Text. Immerhin war dies beim jungen Menschen wohl der Hauptgrund, an der Unverantwortlichkeit Gefallen zu finden. 38, 15–22 Später freilich bekommt er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erklärungsart, dann sieht er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege eben so gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und historische Erklärungen mindestens ebenso sehr jenes Gefühl der Unverantwortlichkeit herbeiführen, und dass jenes Interesse am Leben und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird.] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 10 stand stattdessen: „Später bekommt man Mißtrauen gegen die Erklärung: dann sieht man ein, daß die physische und historische Erklärung ebenso unverantwortlich stimmt, und das Interesse dabei ist, ein ganz anderes freilich“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,10). 38, 20 Gefühl der Unverantwortlichkeit] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 19) von N. – wohl 1885 – mit Bleistift abgeändert in: „Gefühl der persönl. Entlastung“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/38/). In der späten Überarbeitung spielt N. also mit dem Gedanken, die Wirkung der Metaphysik und die der Wissenschaft auch terminologisch voneinander abzugrenzen.
18. MA I 18 – dazu die ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 201 u. 200 (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/Mp-XIV-1,200et201) – stellt für die Zukunft eine „Entstehungsgeschichte des Denkens“ (38, 25) in Aussicht, die einen dann zitierten „Satz eines ausgezeichneten Logikers“ (38, 26), nämlich Afrikan Spirs, auf neue Art beleuchten werde. Der Satz besagt, dass die menschliche Erkenntnisapparatur darauf geeicht sei, „jeden Gegenstand“ (38, 29) als eine mit sich selbst identische „Substanz“ (39, 2) zu erkennen. War das „neue[.] Licht[.]“ (38, 27) gerade noch für eine künftige Denkentstehungsgeschichte in Aussicht gestellt worden, wird das Licht nun den Lesenden gleich aufgesteckt; die Sprechinstanz fährt also im Indikativ Präsens fort und gibt vor, schon jetzt genau zu wissen, was künftige Forschung einmal erbringen werde, nämlich, dass auch dieser – von Spir als „ursprüngliche[s] allgemeine[s] Gesetz“ (38, 27 f.) menschlichen Erkennens propagierte – Mechanismus selbst geworden ist. Es werde „einmal“ gezeigt werden, dass „niedere[.] Organismen“ (39, 4 f.) zunächst „immer das Gleiche“ (39, 6) wahrnähmen und erst durch die „Erregungen von Lust und Unlust“ (39, 7 f.) die Lebewesen die Dinge zu unterscheiden lernten. Zunächst einmal interessiere Lebewesen nur im Hinblick auf sie selbst, ob sie „Lust und Schmerz“ (39, 19) verspürten. Zwischen
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 17–18, KSA 2, S. 38
143
diesen Empfindungen gebe es aber Zustände „der Ruhe, des Nichtempfindens“ (39, 21 f.); da seien dann die Dinge für die Lebewesen „interesselos“, und „wir bemerken keine Veränderung“ (39, 23) an ihnen. Für Pflanzen sei so „gewöhnlich“ (39, 25) alles ruhig, ewig, sich selbst gleich. Und aus dieser frühen Entwicklungsstufe hätten die Menschen die Vorstellung vererbt bekommen, dass es „g l e i c h e D i n g e“ (39, 28) gebe – eine Vorstellung, der erst „durch höchste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung“ (39, 28 f.) widerspreche. „Der Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist.“ (39, 29–31) Entsprechend fern habe anfänglich die Idee der Kausalität gelegen; noch immer seien wir anzunehmen geneigt, „alle Empfindungen und Handlungen“ (39, 33 f.) entsprängen einem freien Willen, weil jeder bei sich selbst jede Empfindung für isoliert halte, damit für etwas „Unbedingtes, Zusammenhangloses“ (40, 3; vgl. MA II WS 11, KSA 2, 546 f. u. Heller 1972b, 193 f.). Als Beispiel wird das Gefühl des Hungers genannt, das scheinbar einfach so auftauche, während es doch eine unbewusste organische Vorgeschichte hat. Die Idee der Willensfreiheit sei damit, so wird weiter im Indikativ Präsens behauptet, ebenso „ein ursprünglicher Irrthum alles Organischen“ (40, 9) wie „der Glaube an unbedingte Substanzen“ (40, 10 f.; vgl. zu dieser plakativen Negation der Willensfreiheit z. B. Grau 1984, 62, Djurić 1985, 308, Schmidt 1989, 179, Müller-Lauter 1999b, 50 f. u. 117–120 [Schopenhauer-Bezüge], Gschwend 2001, 138, Gerhardt 2011, 52 u. Rauh 2016, 65 f.). Die Metaphysik nun beschäftige sich vornehmlich mit diesen beiden Themen Willensfreiheit und Substanz. Sie sei damit eine Disziplin, die „von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten“ (40, 15 f.). MA I 18 historisiert mit einer kühnen Extrapolation auf die Erkenntnisentwicklung bei Lebewesen überhaupt – einschließlich Pflanzen! – nicht nur scheinbar apriorische Aussagen über den Menschen und sein Erkenntnisvermögen, sondern kehrt zugleich den althergebrachten metaphysischen Anspruch höchster Erkenntnis in sein Gegenteil: Die mit Willensfreiheit und Substanz operierende Metaphysik ist nicht auf einem einsamen, nur theorieaffinen Menschen (und allenfalls Göttern) erreichbaren Erkenntnisgipfel angelangt, sondern reproduziert bloß in schönen Worten die stammes- und lebensgeschichtlich urältesten Fehlurteile. Die Lehrstücke der Metaphysik sind die eigentlich biologisch bedingten Irrtümer der menschlichen Gattung, ja aller organischen Wesen (die „idola tribus“, hätte Francis Bacon gesagt, vgl. NK 24, 16). Zugleich stellt der Abschnitt den prekären Status der eigenen Aussagen regelrecht aus (vgl. auch Claesges 1999, 116). Denn das, was im Anschluss an das SpirZitat als vermeintliches Wissen über Wahrnehmungsgepflogenheiten von Tieren und Pflanzen präsentiert wird, wäre bestenfalls ein mögliches Wissen einer zukünftigen Denkentstehungsgeschichte. Die Metaphysik und ihre Probleme Wil-
144
Menschliches, Allzumenschliches I
lensfreiheit und Substanz werden bloß im Modus des Als Ob ad absurdum geführt – und ohne dass dieses ‚Als ob‘ explizit gemacht würde: Nur wenn die Behauptungen über die vegetabilen und animalischen Wahrnehmungsgepflogenheiten tatsächlich von einer künftigen Entwicklungsgeschichte des Denkens bestätigt werden sollten, wird die Metaphysik als Repertorium der „Grundirrthümer[.]“ (40, 15) entblößt dastehen. Die Depotenzierung der Metaphysik durch evolutionsgeschichtliche Kontextualisierung ist also nur eine vorläufige, eine künftige Erkenntnis hypothetisch vorwegnehmende. N. wird in späteren Werken die Kritik am metaphysischen Substanzbegriff und an der metaphysischen Willensfreiheitsidee unvermindert heftig vorbringen (vgl. z. B. GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 2, KSA 6, 75 u. GD Die die vier grossen Irrtümer 7, KSA 6, 95 f.), ungeachtet des Umstandes, dass zeit seines Lebens die in MA I 18 geforderte Denkentstehungsgeschichte nicht in der von MA I 18 intendierten Weise geleistet worden ist. 38, 24–39, 2 Wenn einmal die Entstehungsgeschichte des Denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen: „Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also selbstexistirenden und im Grunde stets gleichbleibenden und unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen.“] Dieser von N. nicht nachgewiesene „Satz“ stammt aus Afrikan Spirs Denken und Wirklichkeit, dort mit einem von N. ausgelassenen Einschub und einem „oder“ statt einem „und“: „Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects besteht, wie schon ausführlich nachgewiesen worden, in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also selbstexistirenden und im Grunde stets gleichbleibenden oder unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen.“ (Spir 1877, 2, 177; in N.s Handexemplar auf dieser Seite keine Lesespuren; vgl. z. B. D’Iorio 1993, 274 f., Green 2001, 61 u. Xia 2024, 16 u. 71.) In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 201 wurde die Quelle „Spir II 177“ explizit angegeben, aber mit Bleistift schließlich durchgestrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,201). Eine starke Motivparallelität gibt es in FW 111, dazu ausführlich NK KSA 3, 472, 1–6. Das im Spir-Zitat behauptete „Gesetz“ stellt MA I 18 nicht direkt in Frage, sondern relativiert es entwicklungsgeschichtlich: Es mag gelten für menschliche Wesen, wie wir sie sind, aber diese Wesen sind erst geworden, was sie sind – und so sind auch die spezifisch menschlichen Erkenntnismodi nicht einfach gegeben, sondern geworden. 39, 11–17 Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil; dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die E m p f i n d u n g d e s A n g e n e h m e n o d e r S c h m e r z h a f t e n in Bezug auf das
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 18, KSA 2, S. 38–39
145
empfindende Subject. Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form.] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 200 stand nach „Glauben“ am Ende des ersten Satzes die schließlich durchgestrichene Passage: „Welches sind nun dessen niedrigste Formen? Jene, an denen ersichtlich ist, wie jenes Glauben aus dem Empfinden herauswächst? – Ein niedrig organisirtes Wesen hat eine Empfindung; eine andre folgt ihr regelmäßig, z. B. wenn es jemand drücken sieht, so fühlt es einen Schmerz. Im Augenblick des Druckes erzeugt es reproduktiv die Empfindung des Schmerzes: beide Empfindungen verwachsen, Resultat eine Empfindung der Furcht, mit deren Folgen des Fliehens, Abwendens.“ Statt: „Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form“ stand in Mp XIV 1, 200 ursprünglich: „Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier anderer ist eben jener Glaube an die Beziehung eines Dinges zu uns in Lust oder Schmerz: Glaube ist ‚Vorgefühl‘ in seiner niedersten Form“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,200). Zum Begriff des „Vorgefühls“ siehe z. B. Hartmann 1869, 66. Wiederum steht, unter Hinweis auf die „besten Logiker“, Spir im Hintergrund, der sich seinerseits auf Thomas Reid und John Stuart Mill beruft. „Das Wesen des Urtheils besteht nicht in der Form der Aussage, sondern in dem Glauben an die Realität oder die Wahrheit des Ausgesagten. In dem Kapitel des 1. Bandes d. W., welches von der Natur der Vorstellung handelt, habe ich nun aber gezeigt, dass die Affirmation des vorgestellten Gegenstandes, der Glaube an dessen Dasein das Wesen der Vorstellung selbst (nämlich ihrer ideellen Seite nach) ausmacht, und eine durchaus ursprüngliche Eigenschaft derselben, ein unableitbares Factum ist. Der Intellect urtheilt /225/ also von dem ersten Augenblick seines Lebens an, denn ein Urtheil ist eben die glaubende Affirmation des Vorgestellten. Das Urtheilen ist die einfachste Form der intellectuellen Bethätigung, der elementarste Act der Erkenntniss. Dass das Urtheil, die Affirmation, der Glaube nicht nothwendig der Worte bedarf, das hat man schon längst eingesehen und dies ist auch eine am Tage liegende Thatsache. Wenn z. B. ein Hund einem ihm zugeworfenen Stück Brod sich nähert, dagegen vor einem geworfenen Stein flieht, so geschieht dies, weil er glaubt, dass die Berührung mit dem ersteren angenehme, die Berührung mit dem letzteren dagegen unangenehme Folgen für ihn haben wird. Der Hund glaubt das und vieles Andere mehr, ohne seinen Glauben in Worten aussprechen zu können.“ (Spir 1877, 2, 224 f.; N.s Unterstreichungen, mehrere Bleistiftstriche am Rand.) Nach Spir 1877, 2, 83 gebe es „nur zwei Elemente in unserer Erfahrung, welche unserem Bewusstsein eines Nicht-Ich, eines von uns Unterschiedenen die nöthige Energie verleihen können; diese sind 1) das Gefühl des Schmerzes und 2) das Gefühl des Widerstandes“. Ebenso ist für Spir klar, dass „[v]on allen Ableitungen der inneren Phänomena auseinander […] nur
146
Menschliches, Allzumenschliches I
eine einzige richtig und begründet“ sei, „nämlich die Ableitung des Wollens und Begehrens aus den Gefühlen der Lust und Unlust“ (ebd., 2, 191). Dabei geht Spir allerdings nicht so weit wie MA I 18 im Folgenden, wonach „organische Wesen“ an allem „ursprünglich“ (39, 17 f.) nur im Hinblick auf den eigenen Schmerz oder die eigene Lust interessiert seien. Der Text kehrt Spirs Argumentation schließlich geradezu um, wenn er behauptet, dass „wir“ ohne Affektion durch Schmerz oder Lust an der Welt und den Dingen „keine Veränderung“ (39, 23) zu bemerken fähig seien. Für Spir ist „[d]er Schmerz […] ein Zustand, der sich selbst nicht gleich bleiben kann, der die innere Tendenz oder Nothwendigkeit enthält, in einen anderen (schmerzlosen) Zustand überzugehen. Wir können einen Schmerz nicht fühlen, ohne dass in uns das gebieterische Verlangen erwacht, denselben loszuwerden.“ (Spir 1877, 1, 222) „Und die Lust fühlen wir unmittelbar als einen Zustand, welcher nicht bloss keine innere Nöthigung enthält, sich aufzuheben oder zu verändern, sondern umgekehrt den Grund enthält, sich gegen alle entgegenwirkenden Einflüsse zu behaupten.“ (Ebd., 2, 198) Veränderungsbestreben und Veränderungsvermeidungsbestreben sind bei Spir also auf der Seite der negativen oder positiven Empfindung angesiedelt. Dass wir die Welt gerade als veränderliche wahrnehmen und dies das eigentliche Rätsel sei (ebd., 1, 207), während „das innige Bewusstsein der Menschheit“ immer schon erkannt habe, „dass Veränderung, Wechsel, Succession nicht zu dem eignen, wahren Wesen der Dinge gehören kann“ (ebd., 1, 212), ist allerdings ein Leitsatz bei Spir. Dies zu konzedieren, widerspräche ganz dem Gestus von MA I 18 – ein Abschnitt, für den der Erkenntnisirrtum wahrnehmender Lebewesen gerade darin besteht, etwas als unveränderlich zu identifizieren. Zur Interpretation von 39, 11–17, freilich ohne Quellenkenntnis, vgl. z. B. Nicodemo 2016a, 250. 39, 17–25 Uns organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den Momenten, in welchen wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den Zuständen des Empfindens, liegen solche der Ruhe, des Nichtempfindens: da ist die Welt und jedes Ding für uns interesselos, wir bemerken keine Veränderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter nicht merkt, dass Jemand an ihm vorbeigeht).] Nach KGW IV 4, 171 wird in GoA das zweite „uns“ (39, 19) gesperrt. Vgl. zu 39, 17–25 Liessmann 2021, 227, der hier eine Allusion auf Kants Begriff der Interesselosigkeit ausmacht. Der sehr beschränkte Interessenshorizont früher Menschen ist freilich auch ein Thema in der von N. rezipierten ethnographisch-anthropologischen Literatur, vgl. z. B. Caspari 1877, 1, 312 f., der zur Erhellung der menschlichen Urgeschichte „die Thatsachen und Beobachtungen der vergleichenden Psychologie“ in Anspruch nimmt, „nach denen nothwendig für den Urmenschen, ebenso wie für die Thiere, ein ursprünglich begrenzter Interessenkreis, und in Bezug auf seine Anschauung
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 18–19, KSA 2, S. 39–40
147
der Umgebung also eine natürliche ‚Auffassungsenge‘ angenommen werden muß. Wie die Augen der Thiere nur dann thatsächlich erregt werden und ‚funkeln‘ ([…]), wenn die Objecte in diesen Auffassungskreis des Interesses hineinragen, im übrigen aber gläsern und blöde bleiben, sobald dieses /313/ natürliche Interesse daran nicht nachzuweisen und nicht thatsächlich zu bezeichnen ist, so auch beim Urmenschen. Auch der Mensch stand ursprünglich innerhalb dieser natürlichen ‚A u f f a s s u n g s e n g e‘; denn wir haben keine Thatsachen, die uns Gründe an die Hand geben, ihn diesen psychologischen Grundverhältnissen zu entheben. Im Gegentheil, alle aus der Anthropologie und Völkerpsychologie aufzubringenden Thatsachen lehren uns, daß der Urmensch ursprünglich ganz so wie das Thier einer ursprünglich angeborenen A p p e r c e p t i o n s e n g e verfallen war, und […] so konnte er doch um seiner Selbsterhaltung willen alles ihn dauernd Interessirende vom nur vorübergehend Interessirenden und Interesselosen auf das schärfste sondern. Das die Selbsterhaltung nicht direct, dauernd und enger, d. h. sozusagen handgreiflich Interessirende blieb dem Urmenschen innerhalb der Auffassungsenge (Apperceptionsenge) aber farblos und gleichgültig. Er beachtete alle derartigen nur aus der Ferne auf ihn wirkenden Erscheinungen nicht, da er sich im Laufe der Zeit hieran gewöhnte, und alles das als Alltägliches anstarrte.“ Die Schlussfolgerung, dass „wir“ an den uns nicht interessierenden Dingen keine Veränderung wahrnehmen, zieht Caspari aus der von ihm konstatierten „Apperceptionsenge“ nicht, sondern eher, dass wir sie gar nicht wahrnähmen. Ebenso wenig ist er mit der in MA I 18 im Folgenden vorgebrachten Behauptung beschäftigt, dass die Menschen der „Urgeschichte“, weil sie keine kausalen Zusammenhänge hätten erkennen können, von Einflüssen frei zu sein wähnten, worauf die Vorstellung der Willensfreiheit gründe. 39, 20 in welchen] In Mp XIV 1, 200 stattdessen: „wo“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,200). 40, 12–16 Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten.] Die ‚Vorstufe‘ in N II 2, 27 lautet: „Metaphysik welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt doch so als wären es Grundwahrheiten.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,27)
19. MA I 19 – ein Abschnitt, zu dem es nicht nur eine ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 159 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,159) gibt, sondern auch eine Rei-
148
Menschliches, Allzumenschliches I
he von Vorstufen in N II 2, 52 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,52) u. 51 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,51) u. 55 http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,55) u. 62 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,62) u. 54 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,54) – setzt das in MA I 18 begonnene Abbruchbemühen im Blick auf scheinbar Konstantes fort: Waren dort Substanz und freier Wille der Kritik verfallen, folgt jetzt der Angriff auf die Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlichen Weltzugriffs, nämlich die Zahl, deren Erfindung sich dem Irrtum verdanke, dass es erstens gleiche Dinge gebe (vgl. MA I 11) und dass es zweitens überhaupt Dinge gebe. Nichts käme „vielfach“ (40, 23) vor. Nach einem Gedankenstrich in 40, 25 wird eingeschoben, dass nicht nur das menschliche Raum- und Zeitempfinden in Widersprüche führe, sondern dass Wissenschaft zwangsläufig „mit einigen falschen Grössen“ „rechnen“ (40, 28) müsse, aber sie dennoch durch die Konstanz dieser Größen streng verlässliche Resultate zeitige, auf die man bauen könne, bis sich in letzter Konsequenz wie etwa bei der „Atomlehre“ ein Widerspruch zwischen „Grundannahme“ und „Resultaten“ einstelle (41, 2 f.). Nach einem weiteren Gedankenstrich in 41, 11 wird Kant zustimmend zitiert, wonach der Verstand der Natur ihre Gesetze vorschreibe, wobei der Naturbegriff selbst nichts weiter als eine Menge von Verstandesirrtümern sei. Nach einem letzten Gedankenstrich in 41, 16 kehrt der Gedankengang zur Zahl zurück: Deren Gesetze gälten nur in einer Welt menschlicher Vorstellungen. Wenn es tatsächlich nichts Gleiches, sondern nur Verschiedenes gibt (woher weiß der Sprecher das, wenn er, an menschliche Erkenntnis(un)fähigkeit gekettet, über die Welt an sich nicht unterrichtet sein kann?), damit die Bedingung der Möglichkeit von Zählbarkeit entfällt und sich Zahlen als menschlich-allzumenschliches Mittel zum Vorstellungsarrangement erweisen sollten, wird damit auch Wissenschaft in schwierige Rechtfertigungsnöte hineingezwungen. Denn falls sich Wissenschaft nicht damit begnügt, bloß einzelne Sachverhalte bei einzelnen irreduzibel differenten Gegebenheiten (womöglich in Elementarsätzen) festzuhalten, sondern zu allgemeineren Aussagen, womöglich gar zu naturgesetzlichen Hypothesen fortschreitet, stellt sie Gleichheit her, wo (angeblich) nur Verschiedenheit ist. Wenn alles immerzu in Bewegung ist und nichts gleich bleibt, wäre auch Wissenschaft nur noch schwer möglich. Wie unterschiede sich, wird man beim Lesen von MA I 19 fragen, Wissenschaft dann noch vom ganz archaischen Traum in MA I 12, der unentwegt Gleichheit behauptet, wo es keine Gleichheit gibt? Wie ist nach MA I 19 Wissenschaft noch möglich? Jedenfalls scheint manchen modernen Interpreten der Ansatz von MA I 19 in der heutigen Naturwissenschaft durchaus anschlussfähig, siehe z. B. Spiekermann 1992, 192 f. 40, 25–27 Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, consequent geprüft, auf logische Widersprüche.] Welcher Art diese Widersprüche sind, führt MA I 19 freilich nicht aus – auch nicht, worin sich denn Raum- und
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 19, KSA 2, S. 40–41
149
Zeitempfinden von Raum- und Zeitvorstellungen oder -begriffen unterscheiden (Ernst Machs einschlägige Analysen zum Raum- und Zeitempfinden erscheinen erst 1886 in Buchform, siehe NK 33, 9–13; zu N.s späterer Rezeption einer einschlägigen Passage bei Gustav Teichmüller siehe NK KSA 5, 30, 10–14; vgl. demgegenüber das frühe Notat zum Zeit- und Raumempfinden NL 1872/73, KSA 7, 19[210], 484, das einen Bezug auf Lange 1866, 252 f. enthält). Der in N.s Nachlass wiederholt kritisierte Hermann Ulrici (NL 1873/74, KSA 7, 30[16], 738 u. NL 1873/74, KSA 7, 30[20], 739 f.) versuchte beispielsweise aufzuzeigen, dass es „ebenso wenig einen Zeitsinn und Zeitempfindungen wie einen Raum- oder Ortssinn und Ortsempfindungen“ gebe (Ulrici 1874, 1, 320). Demgegenüber war Philipp Mainländer um den Nachweis bemüht, dass Kants und Schopenhauers Konzeption von Raum und Zeit solche logischen Widersprüche produziere, weshalb er dann postuliert: „Aber nicht der R a u m ist es, welcher das Objekt vom Dinge an sich unterscheidet, und ebenso wenig ist es die Z e i t, wie ich gleich zeigen werde, sondern die M a t e r i e allein bringt die Kluft zwischen dem Erscheinenden und seiner Erscheinung hervor“ (Mainländer 1876, 8). Einen solchen Ansatz lässt MA I 19 ebenfalls nicht gelten, wenn ihm zufolge „die ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen“ (41, 6 f.). 41, 3–11 zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines „Dinges“ oder stofflichen „Substrats“, das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von Alters her verknotet ist.] N. hat schon 1873/74 die Philosophiae naturalis theoria redacta (Wien 1759) des jesuitischen Physikers und Mathematikers Ruggiero Giuseppe Boscovich (Rugjer Josip Bošković, 1711–1787) aus der Basler Universitätsbibliothek entliehen (Crescenzi 1994, 420, 423, 426 u. 428). Boscovich habe „zuerst mathematisch demonstrirt […], daß die Annahme e r f ü l l t e r Atompunkte eine für die strengste Wissenschaft der Mechanik u n b r a u c h b a r e Hypothese sei: ein Satz, der jetzt unter mathematisch geschulten Naturforschern als k a n o n i s c h gilt“ (N. an Köselitz, Ende August 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 460, S. 442, Z. 15–19). Das Notat NL 1873, KSA 7, 26[12], 575–579 zeugt von N.s Beschäftigung mit Boscovich und den Schwierigkeiten des traditionellen Stoff-Atomismus. Die Aufzeichnung läuft auf eine „Z e i t a t o m e n l e h r e“ hinaus: „Es ist möglich, 1) die vorhandene Welt auf punktuelle Raumatomistik zurückzuführen, / 2) diese wieder auf Zeitatomistik zurückzuführen, / 3) die Zeitatomistik fällt endlich zusammen mit einer Empfindungslehre. Der d y n a m i s c h e Z e i t p u n k t ist identisch mit dem E m p f i n d u n g s p u n k t. Denn es giebt keine Gleichzeitigkeit der Empfindung.“ (Ebd., 579, 23–33; vgl. zu diesem vieldiskutierten Notat z. B. Whitlock 1997, Whitlock 1999, Ansell-Pearson
150
Menschliches, Allzumenschliches I
2000 u. Gori 2007, 184–192.) Später zieht N. aus Boscovich weitere radikal antimaterialistische Schlussfolgerungen, vgl. ausführlich NK 5/1, S. 143–153. In einem Brief an Köselitz vom 20. 03. 1882 hat N. seine Lesart zusammengefasst: „Wenn irgend Etwas gut widerlegt ist so ist es das Vorurtheil vom ‚Stoffe‘: und zwar nicht durch einen Idealisten sondern durch einen Mathematiker – durch Boscovich. Er und Copernikus sind die beiden grössten Gegner des Augenscheins: Seit ihm g i e b t e s k e i n e n S t o f f m e h r, es sei denn als populäre Erleichterung. Er hat die atomistische Theorie zu Ende gedacht.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 213, S. 183, Z. 35– 41) (Mainländer 1876, 39 verwirft übrigens die „unendliche Theilbarkeit der Kraft u n d das Atom“.) 41, 11–16 – Wenn Kant sagt „der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor“, so ist diess in Hinsicht auf den B e g r i f f d e r N a t u r völlig wahr, welchen wir genöthigt sind, mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das heisst als Irrthum), welcher aber die Aufsummirung einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist. –] Das Kant-Zitat stammt aus § 36 der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, jedoch steht dort nach „Gesetze“ in Klammern „a priori“ (AA IV 320), so dass die Vermutung nahe liegt, N. habe das Zitat nicht aus direkter Kant-Lektüre geschöpft. Tatsächlich gibt Philipp Mainländer in seiner Philosophie der Erlösung auffällig eingerückt den Satz wie N. ohne das Klammer-„a priori“ wieder („s o n d e r n s c h r e i b t s i e d i e s e r v o r“ – Mainländer 1876, 385 – wird zudem gesperrt gesetzt). Der Satz steht bei Mainländer in einer ganzen Reihe von Zitaten, die allesamt die desaströs-vernichtenden Konsequenzen von Kants Vernunftkritik demonstrieren sollen. „Und so stehen wir, am Ende der transscendentalen Analytik, noch niedergeschlagener da, als am Schlusse der transscendentalen Aesthetik. Diese lieferte dem Verstande die Theilvorstellungen eines Erscheinenden = 0, in jener verarbeitete der Verstand diese Theilvorstellungen zu S c h e i nobjekten, in einem S c h e i nnexus. In den S c h e i n der Sinnlichkeit trägt der Verstand, durch Verbindung, n e u e n S c h e i n. Die Gespensterhaftigkeit der Außenwelt ist unaussprechlich grauenhaft. Das fieberfreie denkende Subjekt, das der Urheber der ganzen Phantasmagorie sein soll, stemmt sich mit aller Kraft gegen die Beschuldigung, aber schon betäuben es die Sirenentöne des ‚Alleszermalmers‘, und es klammert sich an den letzten Strohhalm, sein Selbstbewußtsein. Oder ist auch dieses nur ein S c h e i n und Blendwerk? / Die transscendentale Analytik sollte als Motto den Vers über dem Thor der Hölle tragen: / Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate.“ (Mainländer 1876, 385) Zwar malt MA I 19 Kants Ernüchterungskraft nicht derart drastisch aus wie Mainländer es tut, ist aber in den Schlussfolgerungen nicht minder radikal: Natur ist nichts Gegebenes, sondern, mit Schopenhauer, „Welt als Vorstellung“ (41, 14 f.), dann aber auch, mit Mainländer, „als Irrthum“ (41, 15). Oder, um es mit Mainländers exzentrischer Kant-Kategorien-Paraphrase zu sagen: „nun haben wir einen
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 19–20, KSA 2, S. 41
151
innigen Zusammenhang aller Erscheinungen, haben durch Verknüpfung nach allgemeinen und nothwendigen Gesetzen Erkenntnisse und Erfahrung, ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen, mit einem Wort: es steht der Einheit des Selbstbewußtseins die N a t u r gegenüber, welche durch und durch das W e r k u n s e r e s V e r s t a n d e s ist“ (Mainländer 1876, 375). Während die Kant-Adaption bei Mainländer Grauen vor der „Gespensterhaftigkeit der Außenwelt“, Abscheu, Verzweiflung zeitigt, der letztlich nur mit einer „Erlösung“ durch Selbstabschaffung abzuhelfen ist, folgt in MA I 19 nur eine strenge Beschränkung aufs Menschliche – und eine Einsicht in den Nutzen des Irrtums, der im Ersten Hauptstück von MA I wiederholt zum Tragen kommt: Zwar ist metaphysische Erkenntnis dessen, was hinter dem menschlichen Erfahrungshorizont liegt, nicht zu bekommen, aber doch Einblick in die Funktionsweise und damit die Irrtumsmechanismen des menschlichen Erkenntnisapparats. Hat man diese Irrtumsmechanismen verstanden, kann man sie zwar nicht zum Verschwinden bringen, aber bei wissenschaftlicher Erkenntnisbemühung mit ins Kalkül nehmen – etwa auch, indem man zugesteht, dass Zahlen nur in der menschlichen Vorstellungswelt vorkommen, nicht in einer Wirklichkeit da draußen. Von Verzweiflung hierüber oder über das menschliche Los findet sich in MA I 19 hingegen keine Spur. Vgl. zur angeblichen Nähe N.s und Langes in 41, 11–16 Stack 1983, 202, zur Interpretation von 41, 11–16 ferner Müller-Lauter 1999a, 200 f., Stekeler-Weithofer 2000, 117, Jauslin 2002, 73, Daigle 2011, 231, Gentili 2013, 115 u. Navratil 2017, 64 (jeweils ohne Mainländer-Bezug).
20. MA I 20 beginnt mit einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit in einem Buch, das sich schon mit der Titelblatt-Widmung an Voltaire als aufklärerisch-freigeistig zu erkennen gibt, nämlich, dass „der Mensch“ (41, 22) eine hohe Bildungsstufe erreicht habe, wenn er Aberglauben und Religion abgestreift habe. Diese Bildungsstufe wird ausdrücklich als „Stufe der Befreiung“ (41, 26) ausgewiesen, auf der nun auch „mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden“ (41, 26–28) sei. „Metaphysik“ ist nach dieser Darstellung also offensichtlich etwas, was in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung auf die Religion folgt, aber wie diese überwunden werden soll. Das hätte, im Unterschied etwa zum Deutschen Idealismus, auch der Positivismus so geltend gemacht. Die etwas platte antireligiöse und antimetaphysische Botschaft wird freilich im Folgenden konterkariert, denn nun heißt es, es sei „eine r ü c k l ä u f i g e B e w e g u n g nöthig“ (41, 28 f.); der Mensch müsse historisch und psychologisch die „Berechtigung“ „solche[r] Vorstellungen“ – der religiösen und der metaphysi-
152
Menschliches, Allzumenschliches I
schen? – erfassen und begreifen, dass „die grösste Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei“ (41, 29–32), sowie, dass ohne „rückläufige Bewegung“ man sich um die „besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit“ bringe (41, 32–42, 1). Nach einem Gedankenstrich tritt das ‚Ich‘ explizit auf, und zwar als eines, das „Mehrere“ zu kennen behauptet, die eingesehen hätten, „dass jede positive Metaphysik Irrthum ist“ (42, 3 f.), jedoch nur „Wenige“, die „einige Sprossen rückwärts“ stiegen (42, 5). Man solle zwar „über die letzte Sprosse der Leiter“ hinausblicken, jedoch „nicht auf ihr stehen wollen“ (42, 6 f.). Die „Aufgeklärtesten“ (42, 7) – damit sind offenbar die „Mehreren“ gemeint – hätten sich zwar von der „Metaphysik“ befreit (von Religion ist keine Rede mehr) und blickten überlegen auf sie zurück, „während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen“ (42, 9–11). Was sich, zumal in der bilderreichen Sprache, so einfach und eingängig anhört, wirft beträchtliche interpretatorische Probleme auf. Denn worin genau besteht die offenbar rückläufige geistige Bewegung, die als höchste Selbstaufklärung eingefordert wird und sich von der nonchalanten Hochnäsigkeit zu unterscheiden hat, mit der „Aufgeklärteste“ auf die „Metaphysik“ zurückblicken? Bedeutet diese Rückwärtsbewegung nur, anzuerkennen, dass die „Metaphysik“ historisch in der Entwicklung der Menschheit nützlich war, „wir“ der metaphysischen Vergangenheit viel verdanken – Spannkraft und Fokussierungsvermögen zumal? Oder soll eine neue Adaption metaphysischer Vorstellungen und Gehalte stattfinden, quasi scharf gereinigt, in Analogie zu Kants Unternehmen, Metaphysik mit den Mitteln der Vernunftkritik einerseits in die Schranken zu weisen, andererseits innerhalb dieser Schranken aber auch wieder möglich zu machen? Und falls MA I 20 die Bereitschaft einfordert, sich entweder wieder inhaltlich-formal auf „Metaphysik“ einzulassen oder wenigstens auf ihren menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsbeitrag zu besinnen, warum scheint diese Anerkennung nur der Metaphysik gezollt zu werden, nicht aber der Religion? Oder ist zumindest in 41, 28–42, 2 stillschweigend die Religion noch mitgemeint? Mitverantwortlich für die (womöglich intendierten) interpretatorischen Schwierigkeiten ist das Metapherngewitter, das in MA I 20 über die Lesenden hereinbricht. Die Überschrift ist bereits dessen Vorbotin, denn im Unterschied zu den vorangehenden und den nachfolgenden Abschnitten gibt sie keine Inhaltszusammenfassung, sondern führt die Hauptmetaphorik von Leiter (die dann in MA I 292, KSA 2, 236, 1, in MA I 368, KSA 2, 257, 25 sowie 1886 in MA I Vorrede 7, KSA 2, 21, 30 wiederkehren wird) und Hinuntersteigen ein: „E i n i g e S p r o s s e n z u r ü c k.“ (41, 21) Zunächst aber wird im Text nicht diese Metaphorik aufgerufen, sondern die sachverwandte der Treppe, wenn von der „Stufe der Bildung“ (41, 22) und der „Stufe der Befreiung“ (41, 26) die Rede ist. Treppen steigen sich leichter hoch als Leitern; die Religionen (Treppen) bieten einen bequemeren Weg als die
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 20, KSA 2, S. 41
153
Metaphysik (Leiter). Aber der Weg soll nicht nur nach oben führen – Aufstiegsbewegungen gehören spätestens seit Parmenides und Platon zum eisernen philosophischen Leitmetaphernbestand –, sondern in einer „r ü c k l ä u f i g e [ n ] B e w e g u n g“ (41, 28 f.) auch wieder zurück. So sehr Treppen, Stiegen und Leitern mit Auf- und Abwärtsbewegungen verbunden sind, so sehr irritiert doch das doppelt gebrauchte Epitheton „rückläufig“ (neben 41, 28 auch 41, 32), das sehr viel besser zur Hippodrom-Metaphorik passt, die allerdings erst in 42, 9–11 explizit gemacht wird. Ausdrücklich auf „Sprossen“ „rückwärts“ gestiegen wird dann in 42, 5, und in 42, 6 wird zum ersten und einzigen Mal die „Leiter“ tatsächlich genannt. Ein paar gäbe es, die rückwärts stiegen. Und nun wird die Metaphorik beim Wort genommen: Man sollte „nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen“ (42, 6 f.). Das verrät den Lesern immerhin etwas über die Art von Leiter, die der Metapher als Folie dient: Sie ist offensichtlich nicht an eine Mauer gelehnt, um dann über sie hinwegzusteigen und in ein oberes Geschoss zu gelangen. Denn dann müsste man die oberste Sprosse auch betreten. Eher steht diese Leiter entweder in freier Luft oder an einem Baum – nicht um hochzuklettern, sondern um Früchte zu pflücken (vgl. den Gebrauch der Fruchtbaummetapher in MA I 21, KSA 2, 43, 9–13). Da mag es auch sinnvoll sein, nicht nur nicht auf der obersten Sprosse zu stehen, sondern von höheren auf tiefere hinunterzusteigen, um in Reichweite jener Früchte zu gelangen, die sich von ganz oben nicht erhaschen lassen. Der Schluss des Abschnitts nimmt schließlich noch einmal eine neue metaphorische Wendung, indem nun das Hippodrom und die dort notwendige Bahnumkehr ausdrücklich vergleichend („wie im Hippodrom“ – 42, 9 f.) herangezogen werden: Nun wird die horizontale Bewegung unversehens zu einer vertikalen, als ob sich die eine umstandslos in die andere übersetzen ließe. Was aus dem Metapherngewitter bleibt: Offensichtlich hält die Sprechinstanz eine Rückwendung zur Metaphysik für notwendig, aber in welcher Weise sie sich vollziehen soll, verschwimmt im Nebel der bunten Bilder. Demgegenüber hat Ludwig Wittgenstein am Ende seiner Logisch-philosophischen Abhandlung nicht nur klar gesagt, wie man mit der Leiter verfahren soll, sondern seine Leser offensichtlich in ein oberes Geschoss verfrachtet, von dem aus sie das Verlangte gefahrlos tun können: „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)“ (Tractatus logico-philosophicus 6.54 = Wittgenstein 1921, 262) Während Wittgensteins sparsamer Metapherngebrauch keinen Zweifel aufkommen lässt, in welche Richtung sich der „Leser“ zu bewegen hat, sind Zweifel bei N.s Metaphern unausweichlich. MA I 20 ließe sich geradezu als paradigmatischer Fall skeptischen Schreibens heranziehen, das nur den Anschein der Festlegung – irgendwie eine Rückwendung zur „Metaphysik“ –
154
Menschliches, Allzumenschliches I
erzeugt, in Wahrheit aber jede Festlegung vermeidet. Damit ist auch eine Brücke zu MA I 21 geschlagen, wo Skepsis eigens Thema wird. Die Aufzeichnung NL 1877, KSA 8, 22[28], 384, 19–21 unterscheidet, sich im Leitermetaphernfeld bewegend, die „wir“ von den bloß Erkennenden: „Metaphysik: einige Sprossen zurück, nur der erkennende Mensch soll immer über die Leiter hinausschauen, wir sind als volle Menschen nicht n u r Erkenntniss.“ Heißt das nun, dass es vor allem ein emotionales Bedürfnis, ein Bedürfnis der nichtkognitiven (und nicht-kritischen) Teile der „vollen“ Menschen ist, das sie wieder zurück in die Metaphysik treibt? Die ‚Reinschrift‘ zu MA I 20 in Mp XIV 1, 56 weist starke Überarbeitungsspuren auf; N. hat mit Bleistift darüber geschrieben: „Höhere Cultur“; die ursprüngliche Fassung lautete wohl: „Die eine Stufe der Bildung ist jetzt erreicht, wenn der Mensch über abergläubische und religiöse Begriffe und Ängste hinauskommt und zB. nicht mehr an die lieben Englein glaubt, wie die gebildeten Damen Roms: ist man auf dieser Stufe der Befreiung, so ist jetzt eine rückläufige Bewegung nöthig, man muß die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen u. erkennen, wie die Poesie darauf ruht u. wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der größten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde. – In Betreff der philosoph. Metaphysik bin ich viell. der erste, welcher hier an das negative Ziel u. nun wieder rückwärts gelangt ist: während die Aufgeklärtesten es eben nur zur Befreiung von der Metaphysik bringen u. mit Überlegenheit auf sie zurücksehen. Man soll aber auch hier, wie im Hippodrom, um das Ende der Bahn herumbiegen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,56; vgl. auch mit Lesefehlern KGW IV 4, 171 f.) In der definitiven Fassung ist die „Poesie“ ebenso entfallen wie der Anspruch des sprechenden ‚Ichs‘, als erster nicht nur ans Ende der Metaphysik, sondern auch wieder einige Sprossen zurück gelangt zu sein. Genau dies – die Poesie, damit die Kunst – scheint durch den Erhalt einer (Rest-)Metaphysik haltbar; die Welt der Aufgeklärtesten, gnadenlos erhellt, müsste hingegen ohne Poesie auskommen. Vgl. zur Interpretation von MA I 20 neben Heller 1972b, 209– 213 u. Claesges 1999, 141 v. a. Navratil 2017, ferner Bianchi 2022, 77; Salanskis 2022, 185 f. macht für MA I 20 eine Auseinandersetzung mit Bagehot 1874, 36 f. geltend. Zur Leiter- und Sprossenmetaphorik siehe auch MA I Vorrede 8 sowie das in NK ÜK MA I Vorrede mitgeteilte Notat KGW IX 5, W I 8, 246, 2–20. 42, 5 Wenige, welche einige Sprossen rückwärts steigen] In Mp XIV 1, 56 steht in der Version letzter Hand stattdessen: „wenige welche nun wieder einige Sprossen rückwärts gehen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,56). 42, 9–11 während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen] Das Hippodrom, also die Gebäulichkeit für die Pferdeund Wagenrennen bei den alten Griechen, kommt in N.s Werken, Nachlass und
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 20, KSA 2, S. 42
155
Briefen nur an dieser Stelle vor; ein einziges Mal erwähnt er „Hippodrome“ noch bei einer Aufzählung altgriechischer Bauwerke in seiner Vorlesung Encyclopaedie der klass. Philologie (KGW II 3, 436, 26). Das dort von N. zum Thema der Bild- und Bauwerke explizit empfohlene Handbuch Das Leben der Griechen und Römer nach antiken Bildwerken stammt von Ernst Guhl und Wilhelm Koner (KGW II 3, 435, 19 f.; N. schreibt fälschlich „Kohner“); N. hat es in der Auflage von 1864 besessen, allerdings ist der Band heute verloren. Nach Guhl/Koner 1864, 123 muss man sich die ursprüngliche Form der Hippodrome „sehr einfach“ vorstellen: „Den Helden vor Troja genügte zum Wettrennen mit Ross und Wagen ein flaches Gefilde, das sich vom Meere ab landeinwärts erstreckte; rings um werden die Grenzen im Erdboden abgesteckt; ein verdorrter, eine Klafter hoher Stamm, an welchem rechts und links zwei weissschimmernde Steine lehnen, dient als Ziel (σῆμα). Hier hatten die Wagenlenker umzuwenden, um wieder zur Ablaufslinie zurückzukehren.“ Die elaboriertere Form des Hippodroms war erheblich anspruchsvoller gestaltet; Pausanias gibt von dem als exemplarisch geltenden Hippodrom in Olympia eine ausführliche, wenn auch in der Forschung umstrittene Deutung (Pausanias: Graeciae descriptio VI 20, 10–16 u. 19 u VI 21, 1; Übersetzung und Diskussion auch ausdrücklich gegen Guhl/Koner bei Lehndorff 1876, 19–38). Im olympischen Hippodrom „schloss sich der Erdwall in einem halbkreisförmigen Bogen an den Hügel an, und diese Rundung, in deren Mitte wir uns einen Durchgang zu denken haben, bildete den anderen Abschluss der Bahn. Hier war auch das Ziel aufgestellt, um welches die Fahrenden umlenken mussten. Dies war die schwierigste Operation bei dem Wagenlauf, welche die grösste Gewandtheit und Kühnheit erforderte. ‚Hier war,‘ sagt Pausanias, nachdem er den Durchgang erwähnt, ‚das Entsetzen der Pferde, der Taraxippos (ταράξιππος). Er hat die Gestalt eines runden Altares, und wenn die Pferde daran vorüberlaufen, so ergreift sie ohne sichtbare Veranlassung grosse Furcht, und aus der Furcht geht Unruhe und Verwirrung hervor; daher denn hier oft die Wagen zerbrechen und die Wagenlenker verwundet werden.‘ Ein zweites Ziel befand sich auf dem anderen Ende der Rennbahn; es trug eine Statue der Hippodameia und bezeichnete den Ort, an welchem die Wagen, von der Umkreisung des Taraxippos zurückkehrend, anlangen mussten, um den Sieg zu gewinnen.“ (Guhl/Koner 1864, 124) Der Sieg war also im hippodromischen Wagenrennen nicht zu haben vor dem letzten Herumbiegen „um das Ende der Bahn“ – und gerade dort lauerte der Taraxippos, die größte Gefahr für Ross und Reiter, der dämonische Pferdeschreck. Dabei musste die Bahn mehrfach durchgaloppiert werden: „Die Distance für die Rennen mit alten Pferden betrug zwölf Mal die Bahn. Für die Fohlen-Rennen acht Mal die Bahn.“ (Lehndorff 1876, 43) Wenn MA I 20 den eigentlich nottuenden Umgang mit der Metaphysik (und der Religion?) am Ende mit dem Rennen im Hippodrom vergleicht, dann weniger, weil sich dieses Rennen mehrfach im Kreise (oder in der Ellipse) dreht, sondern
156
Menschliches, Allzumenschliches I
weil zur Erreichung des Ziels eine erneute Rückwendung unerlässlich ist. Wie genau diese Rückwendung allerdings sich vom arroganten Blick der „Aufgeklärtesten“ (42, 7) unterscheidet und wie sich diese Rückwendung inhaltlich ausgestaltet – und auch, welches Ziel denn eigentlich erreicht wird –, bleibt offen. (Salanskis 2017, 166 sieht die Hippodrom-Metapher bei Friedrich Albert Lange vorgebildet.) In der Forschungsliteratur wird 42, 9–11 häufig zitiert, wobei nicht immer eine genaue Vorstellung der Rennen in antiken Hippodromen die Stellungnahmen unterfüttert. Vgl. Grau 1984, 181, Schmidt 1984, 154, Kuhn 1992, 123, Gerhardt 1996, 129, Günzel 2001b, 362, Zachriat 2001, 145 f., Reschke 2003, 276, Del Caro 2004, 42, Posselt 2004, 279, Gentili 2010, 157 u. zu letzterem Reschke 2012, 405. Das Hippodrom-Motiv bemüht übrigens auch schon Friedrich Schiller in seinem 1795 publizierten Gedicht Das Reich der Schatten.
21. Nachdem die Überschrift schon skeptisch in den Modus der Mutmaßung geschaltet hat: „M u t h m a a s s l i c h e r S i e g d e r S k e p s i s“ (42, 13), beginnt MA I 21 – dazu in Mp XIV 1, 86 eine ‚Reinschrift‘ mit Bleistiftrubrizierung „Metaphysik u. Moral“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,86) – mit einem Konditional, einem „skeptischen Ausgangspunct“ (42, 14): „[G]esetzt“ (42, 14), eine „metaphysische Welt“ (42, 15; vgl. NK 29, 11 u. NK 36, 15–19) existiere nicht und metaphysische „Erklärungen“ der gegebenen, diesseitigen „Welt“ (42, 16 f.) verfingen nicht, was würde dies für unser Menschen- und Weltverständnis bedeuten? Das könne man sich, wird beschieden, „ausdenken“ (42, 19). Es sei durchaus wahrscheinlich, dass die Menschen in metaphysischer Hinsicht dereinst „s k e p t i s c h“ (42, 23 f.) würden, weshalb man sich fragen müsse, wie denn die „menschliche Gesellschaft“ (42, 25) unter diesem Vorzeichen gestaltet sein würde. Womöglich sei tatsächlich der „w i s s e n s c h a f t l i c h e B e w e i s irgend einer metaphysischen Welt“ (42, 26 f.) bereits derart schwer zu erbringen, dass „die Menschheit“ (42, 28) schon dem Versuch gegenüber grundlegend misstrauisch bleibe. Und wenn sich „gegen die Metaphysik Misstrauen“ (42, 29) einnistet, so seien die Konsequenzen dieselben wie bei einer direkten Widerlegung. MA I 21 diagnostiziert nicht einfach die Tendenz zu einer skeptischen, metaphysikfeindlichen oder metaphysikgleichgültigen Kultur, sondern wirft das Problem auf, welche sozialen Folgen aufträten, falls sich diese Skepsis durchsetzen sollte. Das Misstrauen oder die Widerlegung metaphysischer Antworten hätte denselben Vergleichgültigungseffekt, wird behauptet. Aber, und das ist die Pointe von MA I 21, der Abschnitt gibt gerade keine Antwort auf die Frage, wie eine
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 20–21, KSA 2, S. 42
157
skeptische Menschheit die Welt und sich selbst sehen würde. Die Sprechinstanz – die sich mit dem „wir“ (42, 18) die Lesenden zu Komplizen macht – enthält sich also im Hinblick auf diese eigentliche Frage des Urteils (eine Urteilsenthaltung, die sie nicht übt im Hinblick auf die angebliche Effektgleichheit von Widerlegung und Misstrauen). Damit wird die Technik der ἐποχή, der Urteilsenthaltung, aus der antiken pyrrhonischen Skepsis adaptiert und performativ in einem Text umgesetzt, der die Skepsis thematisiert. MA I 21 lässt sich so als exemplarischer skeptischer Text lesen, der im Blick auf die eigentliche Frage das bedingungsreiche Schwanken zum Prinzip macht und festlegendes Sprechen vermeidet. Die Mutmaßung in der Überschrift wird nicht konstativ oder assertorisch im Text verstärkt, so dass die Lesenden nicht recht wissen, worauf der Text hinzielt: Darauf, in der Gegenwart dieses skeptische Zeitalter schon heraufgezogen zu sehen, was in MA I 22 intendiert sein könnte, wo es heißt, dass niemand mehr für die Ewigkeit baue? Oder darauf, dass sie selbst eine Antwort auf die Frage geben und eine Neugestaltung der Wirklichkeit unter skeptischem Vorzeichen ins Auge fassen sollen? Oder schließlich nur darauf, dass sie sich einem Gedankenexperiment unterziehen sollen? Die skeptische Unbestimmtheit hat auch schon MA I 20 grundiert, wo man nicht erfährt, in welcher Weise man ein paar „Sprossen“ (KSA 2, 42, 5) zur Metaphysik zurücksteigen müsste – und warum man das tun solle. Trotz oder gerade wegen seiner pyrrhonisierenden Zurückhaltung hat MA I 21 einiges gegenwartsdiagnostisches Potential: Die Vergleichgültigung von Religion und Metaphysik, nicht deren Widerlegung scheint auch das 21. Jahrhundert zu prägen, siehe z. B. Sommer 2013e; zum Thema N. und Skepsis allgemein z. B. Berry 2011 u. Sommer 2018a (dort auch weitere Literatur); zur Skepsis in MA I 21 im Besonderen Stegmaier 2020a, 57. Während MA I 21 in der Forschung selten ausgiebiger diskutiert wird, macht Karl Ulmer daran Prinzipielles fest: „Schließen wir mit zwei Grundfragen Nietzsches, die am Beginn seiner produktiven eigenständigen Philosophie stehen: Wenn die Metaphysik als Grundlage der Werte und ihrer Verbindlichkeit sich aufgelöst hat, ‚mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen?‘, und ‚wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluß einer solchen Gesinnung, gestalten?‘ (MA 21). Das sind die Grundfragen der Philosophie, die heute anstehen. Nietzsche hat die erste nur in Grundzügen und versuchsweise ausgearbeitet, zu der zweiten ist er schon gar nicht mehr gekommen.“ (Ulmer 1983, 79; dazu Stegmaier 2012, 306 f., Fn. 457.) 42, 16 f. der uns einzig bekannten Welt] Fehlt in der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 86 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,86). 42, 17 f. würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen?] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 86 steht stattdessen: „würden wir dann in die Welt sehen?“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,86).
158
Menschliches, Allzumenschliches I
42, 18–21 Diess kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal abgelehnt würde.] Der Einschub, „es“ sei „nützlich“, mag irritieren. Bezieht sich dieses „es“ darauf, dass man sich „ausdenken“ könne, wie Menschen auf die Möglichkeit einer völligen Absenz metaphysischer Wahrheiten reagieren könnten, oder vielmehr darauf, dass es „nützlich“ sei, eine solche Absenz anzunehmen? Die Irritation rührt auch vom folgenden Konzessivsatz her: Inwiefern wäre „es“ „nützlich“, wenn auch die „Frage“ zurückgewiesen würde, ob „Kant und Schopenhauer“ „etwas Metaphysisches wissenschaftlich“ „bewiesen“ hätten? Dass Kant zwar in der Kritik der reinen Vernunft überbordende metaphysische Ansprüche zurückwies, zugleich aber Metaphysik für wissenschaftlich möglich hielt, drückt schon der Titel seines 1783 erschienenen Werkes aus: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Dass wiederum Schopenhauer überzeugt war, nicht nur die Gefolgschaft Kants anzutreten, sondern auch, im Willen den metaphysischen Kern alles Seienden gefunden zu haben, liegt ebenfalls auf der Hand. Die mögliche Zukunft, von der MA I 21 spricht, ist nun möglicherweise eine, in der nicht bloß bestritten wird, dass Kant und Schopenhauer einen solchen Beweis für wissenschaftsfähige Metaphysik erbracht haben – das geschah zu N.s Zeit bekanntlich schon zur Genüge –, sondern in der selbst die „Frage“, ob sie es getan haben, zurückgewiesen werde, also eine ganz und gar metaphysikferne und metaphysikfreie Zeit. Die Nützlichkeit, darüber nachzudenken, wie Menschen auf die Möglichkeit einer völligen Absenz metaphysischer Wahrheiten reagieren könnten, oder aber die Nützlichkeit, eine solche Absenz anzunehmen, würde dadurch jedoch in keiner Weise eingeschränkt, sondern im Gegenteil gerade bestärkt. 42, 21 f. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit, sehr gut möglich] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 86 steht stattdessen: „Denn es ist historisch so gut möglich, ja wahrscheinlich“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,86). 42, 25 f. , unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung,] Fehlt in der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 86 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,86). 43, 1 in beiden Fällen] Fehlt in der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 86 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,86).
22. Hat MA I 21 das Heraufdämmern einer skeptischen Epoche, die sich von Metaphysik verabschiedet hat, noch in die Zukunft projiziert, scheint diese Epoche in MA I 22 schon angebrochen zu sein. Der Abschnitt – zu dem es eine ‚Reinschrift‘
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 21–22, KSA 2, S. 42–43
159
in Mp XIV 1, 147 mit der handschriftlichen Rubrizierung „Metaphysik u Moral“ gibt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,147) – benennt gleich die Folgekosten, die der Abschied von der Metaphysik mit sich bringe, dass nämlich der Einzelne zu sehr auf sein eigenes Leben fokussiert bleibe und sich nicht bemüßigt fühle, „an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen“ (43, 8 f.). Denn solange man an metaphysischen Vorstellungen festgehalten habe, sei auch die Überzeugung wirkmächtig gewesen, mit diesen Vorstellungen wäre ein „letzte[s] endgültige[s] Fundament“ (43, 15) alles künftigen menschlichen Lebens gegeben; so habe ein Gläubiger einen Sakralbau für künftige Gläubige stiften können, als „Arbeit am ewigen Heil der Seele“ (43, 20). Nach einem den Abschnitt in zwei Hälften gliedernden Gedankenstrich (43, 20) wird gefragt, ob womöglich auch die Wissenschaft, obwohl sie doch mit „Zweifel“ und „Misstrauen“ (43, 22) als Hauptinstrumenten operiere, einen solchen „Glauben“ (43, 21) erwecken könne. Es sei möglich, konzediert die Sprechinstanz, dass sich solche gegen alle Anfechtung immunen „Wahrheiten“ tatsächlich allmählich herausbildeten und „dass man sich daraufhin entschliesst, ‚ewige‘ Werke zu gründen“ (43, 26 f.). Wer dieses „man“ ist und welche Art von „Werken“ da gegründet werden sollen, verrät die Druckfassung MA I 22 freilich nicht, während die ‚Reinschrift‘ in einem Klammereinschub globale Gesundheitsprophylaxe als Beispiel nennt, siehe NK 43, 27. Gegenwärtig sei allerdings der Gegensatz zwischen der ametaphysischen Kurzlebigkeit der Jetztzeit und der Langatmigkeit der metaphysischen Vergangenheit noch zu groß, als dass das Individuum auch nur die eigene Lebenszeit auf Dauer zu organisieren bereit sei. Nicht einmal ein Haus wolle sich „[e]in ganz moderner Mensch“ (44, 2) noch bauen, weil er zu erstarren fürchtet. MA I 22 gibt den inflationären Diagnosen zur Schnelllebigkeit des modernen Lebens, die im 20. und 21. Jahrhundert so empfunden wird, als hätte es dieses Schnelllebigkeitsempfinden vorher nicht gegeben, ein ideengeschichtliches Rückgrat: Der Verlust metaphysischen Stabilitätsvertrauens warf den Menschen auf das Ausschöpfen seiner Gegenwart zurück; eine zu gestaltende oder eine auch nur gleichförmige Zukunft stand nicht länger am Horizont. Dass nun der wissenschaftliche Wahrheitswille womöglich an Stelle von Religion und Metaphysik Ewigkeitsambitionen entwickeln könnte, wie MA I 22 es zumindest als möglich darstellt, hält zwar die Differenz von Religion/Metaphysik auf der einen und Wissenschaft auf der anderen Seite aufrecht. Aber der Weg zu der 1887 in der 3. Abhandlung von GM behaupteten Teilkontinuität von religiös-asketischem zu wissenschaftlich-asketischem Wahrheitswillen deutet sich schon an. Immerhin ist bemerkenswert, dass MA I 22 den metaphysisch bestimmten Menschen durchaus noch einen dezidierten Weltgestaltungswillen attestiert, selbst dann, wenn sie an ihrem Seelenheil und damit an einem Jenseits dieser Welt orientiert waren.
160
Menschliches, Allzumenschliches I
Eine von MA I 22 abweichende Geschichte zum Irrelevant-Werden von Religion erzählt MA I 472. 43, 4 f. U n g l a u b e a n d a s „ m o n u m e n t u m a e r e p e r e n n i u s“.] Zwei berühmte Zeilen in Quintus Horatius Flaccus: Carmina III 30, 1 f. lauten: „Exegi monumentum aere perennius / regalique situ pyramidum altius“ („Ich habe ein Denkmal errichtet, beständiger als Erz / höher als der königliche Sitz der Pyramiden“). Das lyrische Ich zielt damit auf sein poetisches Werk ab, das alle Stürme der Zeit überdauern werde. N. bemüht das Zitat auch in abgekürzter Version öfter, siehe z. B. NK KSA 5, 194, 9 u. NK KSA 6, 154, 21, zu N. und Horaz in MA I 22 ausführlich Heller 1972b, 223–227. 43, 10 f. desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 147 steht stattdessen: „desshalb pflanzt es jene Bäume nicht mehr“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,147). 43, 18 f. es wird ihm, so meint er,] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 147 steht stattdessen: „es wird ihm sodann“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,147). 43, 20 Arbeit am ewigen Heil der Seele] Zu N.s Bezügen auf die christliche Leitvorstellung ewigen Seelenheils siehe NK KSA 3, 479, 29 f. 43, 21–27 In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der unantastbaren, das heisst alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Diätetik der Gesundheit), dass man sich daraufhin entschliesst, „ewige“ Werke zu gründen.] Dass ausgerechnet das Feld der „Diätetik der Gesundheit“ als „Beispiel“ dafür herhalten muss, dass sich unverbrüchliche wissenschaftliche Wahrheiten herausbilden können, mag überraschen – vielleicht hätte man eher die Physik oder die Biologie als Lieferantinnen solcher Wahrheiten erwartet. Das in N.s Besitz befindliche Handbuch der Fremdwörter definiert Diätetik als „Lebensordnung, Gesundheitslehre“ (Petri 1861, 247), die als διαιτητική τέχνη, als „Lehre von der (richtigen) Lebensweise“, alle Lebensvollzüge umfasst, die dem menschlichen Körper und Geist zuträglich sind – ein Diätetiker ist demnach nicht nur ein „Gesundheitslehrer“, sondern auch ein „Freund einer mäßigen, geordneten Lebensweise“ (Petri 1861, 247). Die Fokussierung der Diätetik auf Fragen der richtigen Ernährung vollzieht sich allmählich zu N.s Lebzeiten und findet bei ihm, angesichts der eigenen Multimorbidität, höchstes Interesse. So schafft er sich nicht nur Bücher an wie Edward Smiths Die Nahrungsmittel (Smith 1874; vgl. auch Kinkelin 1872), sondern berichtet etwa Erwin Rohde am 01. 08. 1875 von seinem Kuraufenthalt in Steinabad bei Bonndorf im Schwarzwald bei Josef Wiel: „Wiel will zu meiner Erheiterung und Belehrung morgen einmal mit mir k o c h e n, er ist ein be-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 22, KSA 2, S. 43
161
rühmter denkender Kochkünstler und Verfasser eines viel gebrauchten, in alle Sprachen übersetzten diätetischen Kochbuchs.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 474, S. 92, Z. 46–50) Dieses Diätetische Koch-Buch mit besonderer Rücksicht auf den Tisch für Magenkranke hat sich auch unter N.s Büchern erhalten (Wiel 1873; vgl. Wiel 1875) und zeigt die Verschiebung des Sprachgebrauchs in Richtung Ernährungslehre an, auch wenn man ein breites Verständnis von Diätetik etwa auch noch im Brief an Franz Overbeck vom 26. 03. 1877 annehmen darf, wo er über eine medizinische Behandlung in Sorrent berichtet, „unter der Obhut des Professor Schrön (Universität Neapel) Einsalben des Kopfes mit Narcein, dann Gebrauch von Brom Natrium, nebst einigen diätetischen Vorschriften“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 602, S. 226, Z. 15–18). MA I 22 ist die erste Stelle in N.s Werken, die auf „Diätetik“ unter diesem Stichwort explizit eingeht. In EH Warum ich so klug bin 1–2 wird dann die eigene Ernährung als Bedingung der Möglichkeit philosophischen Schreibens zum Reflexionsgegenstand, vgl. NK 6/2, S. 394–408. Bis dahin hat sich Diätetik – im ursprünglich weiten und im jüngeren engeren Sinn – bei N. noch nicht als Reservoir wissenschaftlich gesicherter, allgemeiner Wahrheiten etabliert, sondern als ein Feld höchst individuellen Experimentierens erwiesen. 43, 22 f. als treuesten Bundesgenossen] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 147 fehlt „treuesten“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,147). 43, 27 gründen. Einstweilen] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 147 folgt nach „gründen“ der Klammereinschub „(zB. durch Prophylaxis gegen gewisse Krankheiten auf der ganzen Erde usw.)“. Im Druckmanuskript D 11, 17 wird dann der leicht variierte Klammereinschub: „(zum Beispiel durch Prophylaxis gegen gewisse Krankheiten auf der ganzen Erde)“ gestrichen (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,17). 43, 27–44, 4 Einstweilen wirkt der C o n t r a s t unseres aufgeregten EphemerenDaseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äussere Entwickelungen, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich dauerhaft und ein für alle Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle.] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 147 lautet dieser Passus stattdessen: „Einstweilen ist der Contrast gegen die Ruhe metaphysisch. Zeitalter noch zu groß, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele Perioden, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich dauerhaft u ein für alle Mal einzurichten wagt. Dieses Misstrauen, diese Unruhe zeigt sich augenfällig in Architektur, Kleidung usw.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,147)
162
Menschliches, Allzumenschliches I
44, 1 f. wagt. Ein] Nach „wagt“ folgt im Druckmanuskript ein dann gestrichener Einschub: „Dieses Misstrauen, diese Unruhe zeigt sich augenfällig in Architektur, Kleidung“ (KGW IV 4, 172). 44, 2–4 Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle.] Über den Archetypus der Mausoleen genannten, monumentalen Grabanlagen hatte N. seine Studenten in der Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen unterrichtet: „Endlich das sog. Mausoleum (dem Mausolos von Karien durch seine Gemahlin Artemisia errichtet zu Halicarnass, ein Wunder der Welt)“ (KGW II 5, 451, 7–9). In den Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten ließ N. den dort das Wort führenden „Philosophen“ das Mausoleum metaphorisch aufrufen, als dieser die verschiedenen Varianten der Selbstbezüglichkeit erörterte: „Ein Anderer dehnt die Wirkung und die Bedürfnisse seines Subjekts so in die Breite und baut in einem so erstaunlichen Maße an dem Mausoleum dieses seines Subjekts, als ob er im Stande sei, im Ringkampfe den ungeheuren Gegner, die Zeit, zu überwinden.“ (ZB IV, KSA 1, 714, 10–14) Zu 44, 2–4 vgl. z. B. Borchmeyer 2009, 23.
23. Hat MA I 22 aufweisen wollen, dass der Mensch in einer nachmetaphysischen Epoche nichts mehr schafft, was über sein eigenes Leben hinausreicht, ja in diesem Leben so hin und her gerissen ist, dass er jede Festlegung scheut, baut MA I 23 diesen Befund unter dem Titel „Z e i t a l t e r d e r V e r g l e i c h u n g“ (44, 6) zu einer Gesamtdiagnose der Gegenwart aus. In ihr ist „die Polyphonie der Bestrebungen“ (44, 10) das Leitmerkmal. Allgemeiner Bindungsverlust mache sich breit. Für wen gebe es überhaupt „noch etwas streng Bindendes“ (44, 13), wird rhetorisch gefragt. Dieser Bindungslosigkeitsbefund führt freilich nicht im Stile konservativer Kulturkritik zu einem Verdammungsurteil über die Jetztzeit, wie es in N.s Frühschriften noch formuliert wird (siehe den Vergleich von MA I 23 und UB I–II bei Heller 1972b, 231 f.). Vielmehr sieht die Sprechinstanz in der aus der Bindungslosigkeit resultierenden Vielfalt nun ein erhebliches Potential: Es würden gegenwärtig alle Stile und Stufen der Kunst und alle Stile und Stufen der Moral gleichzeitig erprobt, was dem gegenwärtigen „Zeitalter“ (44, 16) einen großen Vorteil gegenüber jenen Kulturen verschaffe, die wie alle früheren „an Ort und Zeit“ (44, 21) gebunden gewesen seien. Jetzt könnten „die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden“ (44, 16–18). Die „Vermehrung des ästhetischen Gefühls“ (44, 21 f.) könne dann über die nun vielfältig zur Auswahl stehenden „Formen“ (44, 23) eine Entscheidung fällen und die meisten Formen „absterben lassen“ (44, 24 f.). Auf diese Weise
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 22–23, KSA 2, S. 44
163
wähle man heute auch im moralischen Bereich, wo das „Ziel“ der „Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten“ sei (44, 26 f.). Dieser wohlwollende Blick auf die Jetztzeit und ihre universalgeschichtliche Relevanz für eine künftige kulturelle Entwicklung verschließt sich freilich nicht der Einsicht, dass diese Zeit auch ihr „Leiden“ habe, vor dem „wir uns“ (44, 29) allerdings nicht fürchten sollten. Im Gegenteil sieht sich dieses ‚Wir‘ gerade durch die Gegenwart vor eine große „Aufgabe“ (44, 30) gestellt – „darob“ die Nachgeborenen „uns“ „segnen“ (44, 32) würden –, nämlich einer künftigen Kultur den Weg zu ebnen, die sowohl die „abgeschlossenen originalen Volks-Culturen“ (45, 1) als auch die „Cultur der Vergleichung“ (45, 2) überwunden haben, aber doch auf beide dankbar zurückblicken werde. Ausdrücklich wird zwar weder gesagt, worin die von „uns“ zu erfüllende Gegenwartsaufgabe bestehe, noch, was denn genau die Dankbarkeit künftiger Generationen begründen werde. Aber der Rahmen, diese Leerstelle auszufüllen, ist beschränkt: Offenkundig soll das gegenwärtige ‚Wir‘ sich der Aufgabe der Vergleichung in ästhetischer und moralischer Hinsicht unterziehen und die Auswahl des Bleibenden aus der Fülle des Möglichen treffen. Und vermutlich dafür, sich dieser Aufgabe der Sonderung unterzogen und eine (die Nachwelt bindende?) Wahl getroffen zu haben, werde dem ‚Wir‘ dann der Respekt der Zukunft zuteilwerden. Dieses ‚Wir‘ holt sich damit die Rechtfertigung für sein Tun aus der Zukunft, dieser unterstellend, sie werde es nachträglich gutheißen – eine Rechtfertigung, die besonders willkommen erscheint, falls man sich für seine Wahl gegenwärtigen Legitimationsnöten ausgesetzt sieht. Noch expliziter bestimmt das Notat NL 1876/77, KSA 8, 23[85], 433, 25–434, 2 die Aufgabe, die dem ‚Wir‘ obliegt: „Der Vorzug unserer Cultur ist die V e r g l e i c h u n g. Wir bringen die verschiedensten Erzeugnisse älterer Culturen zusammen und schätzen ab; d i e s gut zu machen ist unsere Aufgabe. Unsre Kraft soll sich zeigen, wie wir w ä h l e n; wir sollen Richter sein.“ Worin denn die Bindungslosigkeit begründet ist, führt MA I 23 nicht eigens aus. MA I 21 hatte das Misstrauen gegenüber der Metaphysik (selbst im Falle ihrer NichtWiderlegung) für die Zukunft prophezeit; in MA I 22 werden bereits die Gegenwartsmenschen so gezeichnet, dass sie in Ermangelung eines festen religiösen und/ oder metaphysischen Fundaments aufgehört hätten, etwas über ihren eigenen Lebenshorizont hinaus zu schaffen. Die ‚Reinschrift‘ von MA I 23 findet sich zwar auch in Mp XIV 1, dort aber als Blatt 5 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,5), weit entfernt von den ‚Reinschriften‘ zu MA I 21 und 22 (Mp XIV 1, 86 u. Mp XIV 1, 147), so dass man unterschiedliche Entstehungsumstände der drei Abschnitte vermuten könnte. Das ist freilich kein zwingender Schluss, da es sich bei Mp XIV 1 nicht um ein gebundenes Notizbuch, sondern um eine Mappe loser Blätter handelt, deren ursprüngliche Anordnung durch Umgruppierungen verändert worden sein kann. Jedenfalls fällt auf, dass in MA I 23 von „Metaphysik“ oder Reli-
164
Menschliches, Allzumenschliches I
gion als mittlerweile zerstörten Bindungszusammenhängen nicht mehr die Rede ist, sondern die Bindungslosigkeit sich offensichtlich existenziell verallgemeinert hat, was freilich leicht als direkte Folge einer Abnahme metaphysischer und religiöser Kohäsionskräfte interpretiert werden kann. Mobilität der Menschen und Mobilität der Moralen, physische, psychische und mentale Mobilitäten scheinen die Gegenwart zu bestimmen. Die Bindungslosigkeit, die in der Abwesenheit kultureller Zwänge zu bestimmten Formen ästhetischer und moralischer Wertschätzung besteht, ermöglicht den Vergleich – ohne dass MA I 23 eigens erklären würde, wie die gleichzeitige Pluralität der verschiedenen Kunststile und Sittlichkeitsformen zustande kommt: Ein Rückgang metaphysischer und/oder religiöser Kohäsion muss ja nicht zwangsläufig dazu führen, dass sich die Welt auch ästhetisch und/oder moralisch pluralisiert. Dass eine solche Pluralisierung allerdings bereits stattgefunden hat und nicht erst in der Zukunft ansteht, scheint dem die Gegenwart beobachtenden ‚Wir‘ empirisch evident zu sein. Der wohlwollende Blick auf die Jetztzeitkultur ist freilich keiner, der die Pluralisierung per se gutheißt – es drückt sich darin keineswegs die Vorwegnahme postmoderner Entspanntheit aus, die Diversität, den Mischmasch der Kulturen, Stile und Moralen als Zivilisierungserrungenschaft preist. Vielmehr dürfte die Bereitschaft der Sprechinstanz, die Gegenwart nicht wegen ihrer Bindungslosigkeit zu verdammen, zum einen darin begründet liegen, dass diese Bindungslosigkeit per se eine gewaltige emanzipatorische Errungenschaft darstellt, also das Produkt von Kämpfen gegen eine bevormundende Weltsicht in einem religiösen und metaphysischen Rahmen verkörpert. Zum anderen aber hat die freundliche Sicht ihren Rückhalt vor allem im Zukunftsversprechen, das die Gegenwart abgibt, nämlich durch den jetzt zu vollziehenden Prozess der Vergleichung und Entscheidung wieder ein Kulturgerüst zu schaffen, Bindungen zu etablieren, die jenseits von Religion und Metaphysik womöglich eine wissenschaftliche Absicherung haben werden (obschon im Unterschied zu MA I 22 von Wissenschaft als Orientierungsinstanz in MA I 23 nicht die Rede ist). Der normative Hauptakzent von MA I 23 liegt nicht in der Absegnung eines fröhlichen Pluralismus, einer Kultur der Möglichkeiten, die umso besser ist, je mehr Möglichkeiten sie möglichst vielen Menschen bietet (vgl. Sommer 2017b). Eine solche Absegnung liegt der Sprechinstanz denkbar fern – wie dann auch noch der Sprechinstanz in JGB 223, wo der „europäische Mischmensch“ der Gegenwart mit seinen „Stil-Maskeraden“ Eindruck schinden will und doch nur N.s Ironie erntet (vgl. NK KSA 5, 157, 2–15). Vielmehr gewinnt in MA I 23 die „Aufgabe“ (44, 30), nämlich das Vergleichen, diesen Hauptakzent: Die Güte der Gegenwart bemisst sich daran, wie erfolgreich sie diese Aufgabe meistert. MA I 23 steht also im Kontext einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise, die statt des Eigenrechts jeder Epoche deren Eingebundensein in einen über-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 23, KSA 2, S. 44
165
greifenden Entwicklungshorizont geltend macht. Eine solche Betrachtungsweise wurde durch die spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts gebahnt (vgl. z. B. Sommer 2006b); sie wurde dann in dezidiert darwinistisch-evolutionstheoretischen Betrachtungsweisen menschlicher Geschichte reaktualisiert, die sich insbesondere in der von N. rezipierten ethnographischen Literatur wiederfinden (beispielsweise bei Autoren wie Tylor, Lubbock und Hellwald, vgl. z. B. Tylor 1873, 1, 7 u. Lubbock 1875, 9, dazu Orsucci 1996, 41, vgl. Vivarelli 2020, 37). „Der Vergleich von Kulturen und Religionen, der maßgeblich durch die Vergleichende Sprachwissenschaft und in ihrem Gefolge durch die neu entstandene Religionswissenschaft ermöglicht war, kennzeichnet die Kultur des 19. Jahrhunderts und unterscheidet sie von allen bisherigen Kulturen.“ (Figl 2008, 296) Auch Jacob Burckhardts Geschichts- und Kulturdenken kann man im Hintergrund von MA I 23 sehen (vgl. Heller 1972b, 233–241). Der Abschnitt benennt drei Kulturstufen ausdrücklich, zunächst die „abgeschlossenen originalen Volks-Culturen“ (45, 1), sodann das gegenwärtige „Zeitalter der Vergleichung“ (44, 28), und dann die „Nachwelt“ (44, 32), die über beide Kulturen „hinaus“ (45, 2) sein werde. Dabei fragt sich, wie weit vormoderne europäische Kulturen, etwa die christlich-mittelalterliche Sphäre, die MA I 22 aufruft, sich in dieses Schema einpassen lassen. Denn aus „abgeschlossenen“ Kulturen bestand diese christlich-mittelalterliche Sphäre gerade nicht, sondern die katholische Kirche unterwarf – so wenigstens MA I 476 – alles ihrem Universalismus. Jedenfalls ist der Begriff der Kulturen, die dem „Zeitalter der Vergleichung“ vorangegangen sind, unscharf gehalten – die Wendung „orginale[.] Volks-Culturen“ lässt an archaische Stammesgesellschaften denken, während die „alte[.] Cultur“ (45, 7) im folgenden Abschnitt MA I 24 die griechisch-römische Antike anklingen lässt. Diese Unschärfe hängt an der entschiedenen Zukunftsausrichtung von MA I 23, die im Bereich der Ästhetik und der Ethik von der Gegenwart Entscheidungen einfordert, ohne dass klar würde, wer genau das ‚Wir‘ ist, das entscheiden soll und woher es seine Maßstäbe bezieht, außer aus der ihm nun aus der Vergangenheit zur Verfügung stehenden Fülle des Vergleichsmaterials. Spielt es überhaupt eine Rolle, worauf „wir“ „uns“ festlegen werden oder ist das Wichtige nur, dass „wir“ uns überhaupt festlegen? Ist das künftige Zeitalter wieder eines der Bindung, der Festlegung – so dass sich die in MA I 23 skizzierte Entwicklungsgeschichte als eine Läuterungsbewegung (vgl. auch die rückläufige Bewegung in MA I 20) verstehen ließe, die ausgeht von unbewussten, zufälligen Gebundenheiten örtlich und zeitlich eng begrenzter Kulturen, und dann eine Phase der Ungebundenheit durchläuft, in der bewusst Entscheidungen getroffen werden müssen –, bevor ein drittes Zeitalter anbricht, in dem neue Gebundenheiten das Produkt wissenschaftlich unterfütterter (vgl. MA I 22) Setzungen sind? Die Sprechinstanz jedenfalls antizipiert diese Zukunft und weiß, was sie bringen wird – und
166
Menschliches, Allzumenschliches I
folgert aus dieser vorweggenommenen Zukunft, was den gegenwärtigen Menschen zu tun obliegt. Freilich bleibt dieses angemaßte Wissen über die Zukunft formal und ohne inhaltliche Festlegung: Woran sich die „Nachwelt“ gebunden haben wird, sagt der Sprecher nicht – er unterstellt nur, dass sie es getan haben wird. Vgl. auch MA II WS 189, KSA 2, 635 f. Die ursprüngliche Fassung der später stark überarbeiteten ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 5 – mit blauem Farbstift rubriziert unter „Fortschritt“ – ist auf die Fügung, die dann schließlich in den Titel kam, zugelaufen, nämlich auf das „Zeitalter der Vergleichung“: „Je weniger gebunden die Menschen sind, um so größer wird die innere Bewegung der Motive, um so größer wiederum die äußere Unruhe. Durcheinanderfluthen der Menschen tritt ein, wenn sie nicht so streng an den Ort sich mehr gebunden fühlen. Wie alle Stilarten der Künste nebeneinander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten. – Ein solches Zeitalter hat den Sinn, daß die verschiedenen Sitten verglichen werden können; was früher, bei ihrer lokalisirten Herrschaft nicht möglich war; ebenso die Stilarten der Kunst. Eine Vermehrung des aesthetischen Gefühls wird endgültig unter so vielen Formen entscheiden, u. die meisten, vielleicht zu Gunsten der griechischen, absterben lassen. Ebenso eine Wahl der höheren Sittlichkeit! Untergang der niedrigen Sittlichkeiten! Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,5) Bemerkenswert an dieser Fassung ist, dass eine inhaltliche Andeutung gemacht wird, welche ästhetischen Formen im Auswahlprozess den Sieg davontragen könnten, nämlich die griechischen. Einen solchen Fingerzeig, der auf die alten philhellenistischen Präferenzen des Basler Philologieprofessors zurückverweist, unterlässt die Druckfassung vollständig; sie blendet eine mögliche Überlegenheit antik-griechischer Kunstformen aus und verzichtet damit auf eine verspätete Stellungnahme in der Querelle des Anciens et des Modernes. Die Formel vom „Zeitalter der Vergleichung“ greift N., der selbst ihr Urheber gewesen zu sein scheint, im späteren Nachlass noch zwei Mal auf. Die erste Aufzeichnung liest sich wie eine Zusammenfassung von MA I 21 bis MA I 23: „Mißtrauen gegen die metaphysische Welt wegen der Schwierigkeit der Probleme. / Es hört mit dem Glauben an ewige Grundwahrheiten alle Ruhe auf, man sorgt nicht mehr über seine Zukunft hinaus, weil a n d e r e Dinge dann nöthig sein werden. / Zeitalter der Vergleichung: ein Auswählen aus den Sittlichkeiten. Untergang der niederen Sittlichkeit. / C u l t u s des Irrthums: er hat den Menschen so zart, tief, erfinderisch gemacht.“ (NL 1882/83, KSA 10, 6[1], 232, 4–12) Die zweite Stelle aus dem Nachlass von 1887/88 argumentiert deutlich offensiver: „Unser Vorrang: wir leben im Zeitalter der Vergleichung, wir können nachrechnen, wie nie nachgerechnet worden ist: wir sind das Selbstbewußtsein der Historie überhaupt … / Wir genießen anders, wir leiden anders: die Vergleichung eines unerhört Vielfa-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 23, KSA 2, S. 44
167
chen ist unsere instinktivste Thätigkeit … / Wir verstehen Alles, wir leben Alles, wir haben kein feindseliges Gefühl mehr zurück … Ob wir selbst dabei schlecht wegkommen, unsere entgegenkommende u ˹beinahe˺ liebevolle Neugierde geht ungescheut auf die gefährlichsten Dinge los … / ‚Alles ist gut‘ – es kostet uns Mühe, zu verneinen … / Wir leiden, wenn wir ˹einmal˺ so unintelligent werden, Partei gegen etwas zu nehmen … / Im Grunde erfüllen wir Gelehrten heute am besten die Lehre Christi – – “ (KGW IX 7, W II 3, 27, 16–38; vgl. KSA 13, 11[374], 167). Elberfeld 2008, 125 betont: „Sah Nietzsche bisher im Chaos der Kulturen den eigentlichen Anlass seiner Kulturkritik, so fasst er [sc. in MA I 23] den Umgang mit dieser Situation nun als die zentrale Aufgabe seines Zeitalters auf, und zwar in positiver Hinsicht.“ Vgl. dazu auch Günzel 2001a, 140, Borchmeyer 2009, 24, Bertino 2011, 306 u. im Abgleich mit Niklas Luhmann Stegmaier 2016, 307 f. sowie Stegmaier 2020b, 164. „Mit Aphorismus MA I 23 ist der Gebrauch des Plurals Kulturen – der sich nun gleichberechtigt neben dem Gebrauch des Singularetantum herausgebildet hat – voll ausgebildet, so wie er heute noch verwendet wird.“ (Elberfeld 2008, 127) Gluth 2021, 45 f. betont die Bedeutung, die N.s Vergleichungskonzept in MA I 23 für Rechtshistoriker wie Joseph Kohler und Albert Hermann Post gehabt habe. Kulturphilosophisch fruchtbar macht Enrico Müller 2022a, 57– 60 den Abschnitt. 44, 6–10 Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen.] Aus diesem Befund muss keine Nihilismus-Diagnose folgen, die die Gegenwart wie in N.s Spätwerk schließlich für eine „Umwerthung aller Werthe“ reif sieht. Allerdings ist die Sprechinstanz in MA I 23 nicht bereit, diese „Polyphonie“ der Gegenwart als solche zu begrüßen, und prognostiziert bereits die Notwendigkeit neuer Festlegungen. 44, 11 strengeren] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 5 stand stattdessen: „strengen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,5). 44, 25–28 Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann.] Das liest sich wie eine moralfortschrittliche Sicht – wie sie N. etwa in der ethnographischen Literatur seiner Zeit begegnet ist –, die die Durchsetzung einer höheren Moral in Aussicht stellt. Damit wird eine kulturrelativistische Gleichwertigkeit von Moralen ausgeschlossen. Jedoch verschweigt MA I 23, worin denn die höhere Sittlichkeit konkret besteht. Könnte beispielsweise die humanistisch-aufklärerische Moralvorstellung als Exempel „höherer Sittlichkeit“ figurieren? In NL 1876/77, KSA 8, 23[14], 408, 21–29 wird der
168
Menschliches, Allzumenschliches I
„Weise“ demgegenüber als jemand charakterisiert, der keine Sittlichkeit kenne außer der aus sich selbst gewonnenen. 44, 28 Zeitlater der Vergleichung] Das ist in KGW und KSA ein Druckfehler. Korrekt Nietzsche 1878, 26: „Zeitalter der Vergleichung“. 45, 1 die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen] Vgl. NK 45, 27–32.
24. Hat MA I 23 der Gegenwart die Aufgabe zugemessen, die verschiedenen Stile und Moralen zu vergleichen und gegeneinander abzuwägen, bringt MA I 24 einen bewusst und willentlich herbeigeführten „Fortschritt“ (45, 8 u. ö.) zu einer „neuen Cultur“ (45, 14) ins Spiel, während „früher“ (45, 15) die Fortschritte der Menschheit ganz zufällig gewesen seien (vgl. z. B. Wotling 2008, 19). Nimmt man MA I 24 als Entwurf eines radikalaufklärerischen Geschichtsmodells, als letzte Steigerung der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie (in der kein anonymer Weltgeist mehr den Fortschritt hervorbringt, sondern die Menschen selbst ihn in die Hand nehmen), darf jedoch nicht unterschlagen werden, dass der Abschnitt dezidiert den von den Menschen selbst verantworteten Fortschritt zwar für „m ö g l i c h“ (45, 23) hält, jedoch keineswegs für „n o t h w e n d i g“ (45, 24). Es fällt auf, dass in der handschriftlichen Überlieferung der sogenannten ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1 gerade zwischen der Möglichkeit und der Abwehr der Notwendigkeit ein Bruch liegt: Auf dem Blatt Mp XIV 1, 88 ist der Text von 45, 6 bis 45, 23 („er ist m ö g l i c h“) überliefert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,88) – mit einer Bleistiftrubrizierung von N.s Hand: „Fortschritt“ – während das ab 45, 23 („Ich will sagen“) bis 45, 27 („nicht einmal denkbar“) Folgende sich auf dem weit entfernt überlieferten Blatt Mp XIV 1, 378 findet (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,378) – und schließlich in dieser ‚Reinschrift‘ der letzte Satz von MA I 24 zur Romantik (45, 27–32) ganz fehlt. Man wird vermuten, dass die losen Blätter in der Mappe nicht mehr im ursprünglichen Zusammenhang stehen – dass aber Seite 88 und Seite 378 ursprünglich zusammengehört haben, ist damit allerdings auch nicht bewiesen. MA I 24 lässt zunächst einen „Gelehrte[n] der alten Cultur“ (45, 6 f.) auftreten, der jedoch – laut Präsenstempus – in der Gegenwart agiert. Ihm wird nämlich recht gegeben, dass er gut daran tue, sich nicht auf Menschen einzulassen, die „an den Fortschritt glauben“ (45, 8). Wer immer die Instanz ist, die dem „Gelehrten“ hier beipflichtet, weicht die Begründung doch von dem ab, was vor dem Hintergrund von N.s Frühwerk zu erwarten gewesen wäre: Etwa in GT erschien eine Erneuerung der Gegenwartskultur nur unter Rückgriff auf die exemplari-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 23–24, KSA 2, S. 44–45
169
sche Synthese von Dionysischem und Apollinischem in der griechischen Tragödie möglich, so dass unter diesen Vorzeichen der „Gelehrte der alten Cultur“ sich deshalb nicht mit den Fortschrittsgläubigen hätte einlassen sollen, weil die einem verderblichen Irrglauben aufsitzen. Auch die beim jungen N. wirkmächtige philosophische Übervaterfigur Arthur Schopenhauer hätte den Glauben an einen geschichtlichen Fortschritt nur lächerlich gefunden. In MA I 24 hingegen erscheint diese Abkehr des Gelehrten als verzweifelter Versuch des Selbstschutzes vor der Macht der Zukunft – und vor der Macht der Zukunftserwartung, habe doch „die alte Cultur […] ihre Grösse und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann“ (45, 9–11). Inwiefern diese alte Kultur, womöglich als Schatten ihrer selbst, in der Gegenwart noch fortbesteht oder gar die bei allem Blütenende und Verfall derzeit noch dominierende Kultur ist, erörtert MA I 24 nicht, ebenso wenig, inwiefern sie überhaupt eine Einheit darstellt (in MA I 23, KSA 2, 45, 1 war eben noch von „Culturen“ die Rede), und im Bejahungsfall, was denn diese Einheit konstituiert (ein Bezug zu einer normativen Antike? Die Rückbindung an eine autoritative Moral, an einen autoritativen künstlerischen Stil?). Zwar tut MA I 24 die alte Kultur ab, ohne dass jedoch eine „neue[.] Cultur“ (45, 14) schon verwirklicht wäre. Stattdessen wird forsch behauptet, „die Menschen“ (45, 13 – wer sind die?) könnten sich dazu entschließen, „sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln“ (45, 14), während der Fortschritt früher dem Zufall anheimgegeben gewesen sei. Dabei wird das, was diese neue Kultur ermöglichen soll, auch ganz konkret benannt, nämlich für „bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung“ (45, 16 f.) zu sorgen. Bei der „Entstehung der Menschen“ wird man an zeitgenössische eugenische Ideen von der Zuchtwahl zu denken geneigt sein (vgl. z. B. NK KSA 6, 170, 18–22), während die Ernährungspolitik (vgl. z. B. Sommer 2012e) und die Erziehungspolitik (vgl. ZB) ohnehin zu den großen und kontroversen Zeitthemen gehörten (vgl. auch Frezzati 2017, 185 f.) – ebenso die Gesundheitspolitik, die MA I 22 angesprochen hat. MA I 24 vertritt also keineswegs eine spiritualistische Fortschrittsidee, der zufolge der Geist auf hehren Wegen höhere Stufen menschlicher Entwicklung erklimmt (vgl. auch Heidemann 1972, 103). Vielmehr ist dieser Fortschritt augenscheinlich etwas technisch Machbares; er verdankt sich der Verbesserung der äußeren Lebensumstände der Menschen und nicht etwa ihrer tieferen Einsicht; eine ökonomische Gesamtverwaltung der Erde (vgl. 45, 18) führt ihn herbei. In 45, 20 erscheint die „neue bewusste Cultur“ dann doch sowohl im grammatikalischen als auch im semantischen Präsens: Sie töte die alte, unbewusste Kultur und zugleich „das Misstrauen gegen den Fortschritt, – er ist m ö g l i c h“ (45, 22 f.; in der Unterscheidung von Bewusstheit und Unbewusstheit von MA I 24 sieht Salanskis 2017, 175 eine Anspielung auf Darwins Unterscheidung zwischen metho-
170
Menschliches, Allzumenschliches I
discher und unbewusster Selektion, die N. über Walter Bagehot und Oscar Schmidt kennengelernt haben könnte; vgl. zur Entwicklung von N.s Nachdenken über Bewusstes und Unbewusstes NK KSA 3, 382, 20–22). Anscheinend ist das, was MA I 24 als Fortschritt bezeichnet, also nicht schon deckungsgleich mit der Herbeiführung äußerlicher Lebensbedingungsverbesserungen, sondern allenfalls deren mögliche Folge. Dass man das ja angeblich in der „alten Cultur“ vorherrschende „Misstrauen gegen Fortschritt“ tatsächlich schon ausräumt, wenn man ihn bloß für möglich hält, und dann gleich hinterherschiebt, dass es töricht wäre, zu meinen, er sei „n o t h w e n d i g“ (45, 24), darf man bezweifeln: Auch wer ihn für möglich hält, könnte misstrauisch bleiben. Das Ende des Abschnitts betont, dass für die alte Kultur ein Fortschritt eigentlich „nicht einmal denkbar“ (45, 27) gewesen sei – und auch wenn Romantiker den Fortschrittsbegriff benutzt hätten, bezögen sie doch „das Bild davon aus der Vergangenheit“ (45, 30), seien also letztlich reaktionär auf die Wiederherstellung eines als ideal visionierten Ursprungszustandes bedacht. Mit dem Schlusssatz von MA I 24 erledigen sich auch die romantischen Vorstellungen einer Revitalisierung des als normativ gedachten, tragischen Griechentums, wie es GT vehement vertreten hat (auf diesen Bruch macht bereits Rudolf Lehmann in seiner 1882 erschienenen Nietzsche-Studie aufmerksam, siehe Lehmann 1882, 320). Dass die Idee eines geschichtlichen Fortschritts für Schopenhauer nur eine Illusion war, stellt Salanskis 2017, 161–163 in Kontrastierung zu MA I 24 heraus. Zur Fortschrittsidee siehe auch MA I 248, KSA 2, 206. Die ‚Reinschrift‘ hierzu findet sich auf derselben Manuskriptseite wie diejenige zu MA I 24 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,88). 45, 7 f. es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen] Sich verschwören im Sinne von Grimm 1854–1971, 25, 1231: „schwören, dasz man abtritt, verzichtet, entsagt. schon in älterer sprache in freierem sinne, sodasz von einem eigentlichen schwören, von einer abgegebenen versicherung nicht mehr die rede ist; der feste entschlusz, etwas aufzugeben, zu meiden, bleibt übrig“. 45, 9 f. und die historische Bildung zwingt Einen] In Mp XIV 1, 88 stattdessen: „u. historische Bildung zwingt einen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,88). Die Fügung „historische Bildung“ scheint hier affirmativ verwendet zu werden, während sie in der Zweiten unzeitgemässen Betrachtung zur Zielscheibe beißenden Spottes wurde (vgl. z. B. UB II HL 5 u. 7, KSA 1, 279–285 u. 295–302 u. NK 1/2, S. 444 sowie Sommer 2014c). 45, 11–13 es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nöthig, um diess zu leugnen] Fehlt in Mp XIV 1, 88. 45, 12 ebenso unleidliche Schwärmerei] Im Druckmanuskript D 11, 18 stand stattdessen ursprünglich: „böser Wille“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,18).
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 24, KSA 2, S. 45
171
45, 13–19 Aber die Menschen können mit B e w u s s t s e i n beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen.] In Mp XIV 1, 88 steht statt „sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln“ vielmehr: „sich fortzuentwickeln zu einer neuen Cultur“, wobei „zu einer neuen Cultur“ oberhalb der Zeile eingefügt worden ist (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,88). Kabermann 1977, 92 sieht in 45, 13–19 die „alles tragende[.] Grundfrage“ des Ersten Hauptstücks formuliert: „Wie kann ‚die Erde als Ganzes ökonomisch‘ verwaltet werden? Angesichts der Tatsache, daß noch hundert Jahre nach Nietzsche kaum diese Frage verstanden, geschweige denn eine Antwort gefunden worden ist, zeigt Nietzsches Hinweis, daß ‚die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen‘ müßten, bereits die Dimension, in der sie gestellt und beantwortet werden muß.“ Vgl. NK 23, 16–23. Die Fortschrittskonzeption in MA I 24 erinnert an die in John William Drapers Geschichte der geistigen Entwickelung Europas, die N. am 17. Februar 1875 erworben hat (NPB 198). Draper deutet die Gesamtgeschichte der Menschheit als Fortschrittsprozess, bei dem äußere und innere Faktoren zusammenwirken. Am Beispiel Englands führt er aus: „Wer aber überlegen will, was es gethan hat, seit es völlig in sein Zeitalter der Vernunft getreten ist, wird einen wunderbaren Gegensatz bemerken. Es hat ein Fortschritt nicht nur in physischen Bedingungen – einer Sicherung besserer Nahrung, besserer Kleidung, besseren Obdachs, schnellerer Ortsveränderung, / 521/ der Verschaffung individuellen Glückes, einer Ausdehnung der Lebenszeit – stattgefunden. Es hat ein großer sittlicher Fortschritt stattgefunden. Grausamkeiten, wie die in den vorstehenden Abschnitten erwähnten, sind jetzt unmöglich und so ungleich unseren eigenen Sitten, daß man sie anfangs ohne Zweifel ungläubig liest, und mit Mühe dahin gebracht wird, zu glauben, daß dies die Dinge seien, welche unsere Vorfahren thaten. Welch ein Unterschied zwischen der Saumseligkeit der Vergangenheit, ihren zwecklosen Anstrengungen, ihrem unbefriedigenden Ende und der Energie, den wohlgeleiteten Absichten des gegenwärtigen Zeitalters, welche bereits Resultate geliefert haben, gleich den Wundern der Romantik.“ (Draper 1871, 520 f.) Die Romantik wird in MA I 24 auch gleich aufgerufen, allerdings in polemischer Absicht (vgl. NK 45, 27–32; vgl. zum Thema z. B. Petersdorff 2004 u. Weiß 2015, 147–171). Émile Littré propagiert in La science au point de vue philosophique, die N. in der vierten Auflage von 1876 besaß, im Gefolge des Positivismus von Auguste Comte einen linearen Fortschrittsbegriff, den MA I 24 so nicht teilt (vgl. Salanskis 2017, 165). In Littrés Buch hat N. nach Ausweis seiner Lesespuren vor allem das Kapitel über Henry Thomas Buckles History of Civilization in England (Littré 1876, 478–521) zur Kenntnis genommen, die N. später in deutscher Übersetzung lesen sollte (vgl. NK KSA 5, 262, 10–17).
172
Menschliches, Allzumenschliches I
Verschiedenste, einander widerstreitende Vorschläge, wie denn „die Erde als Ganzes ökonomisch“ verwaltet werden sollte, konnte N. der zweiten Auflage von Eugen Dührings Kritischer Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus entnehmen, die er bereits im Erscheinungsjahr 1875 erworben hat (NPB 203). Zur Idee der „Erdregierung“ siehe NK 205, 10 f. 45, 25 dass er möglich sei] In Mp XIV 1, 378 steht stattdessen: „dass er möglich ist“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,378). 45, 26 und auf dem Wege] Fehlt in Mp XIV 1, 378. 45, 27–32 Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort „Fortschritt“ von ihren Zielen (z. B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht: jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalität.] Die Fügung „originale[.] Volks-Culturen“ benutzt N. nur hier sowie in MA I 23, KSA 2, 45, 1, während er den Singular „Volkscultur“ oder „Volkskultur“ als die dem (niederen) Volk eigene Kultur schon in GT 3, KSA 1, 37, 23 f., NL 1872, KSA 7, 23[14], 544, 11 f., NL 1873, KSA 7, 28[2], 615, 18 f. sowie in NL 1875, KSA 8, 6[47], 114, 21 u. 115, 10 verwendet. Die Volkskulturen in MA I 23 und MA I 24 meinen hingegen die einem ganzen Volk, einer ganzen Nation eigene Kultur – die Volkskultur der Deutschen, der Franzosen etc. – und verweisen auf Johann Gottfried Herder und auf die Romantik; im Plural benutzte sie beispielsweise auch der mit Franz Overbeck befreundete Heinrich von Treitschke in seinem ab 1863/64 regelmäßig gehaltenen „Lieblingscolleg“ (Treitschke 1899, 1, III) zur Politik: „Weil in so vielen Völkern das Menschengeschlecht sich auslebt und die verschiedenen Volksculturen neben einander gehen, darum können auch einzelne Völker nach einer Epoche /30/ der Erstarrung ihrer eigenen Cultur an der Quelle anderer sich wieder erholen“ (Treitschke 1899, 1, 29 f.). Eine völlige Abgeschlossenheit der Volkskulturen behauptet also auch der Doyen der deutschen Nationalgeschichtsschreibung keineswegs.
25. Hat MA I 24 über die „M ö g l i c h k e i t d e s F o r t s c h r i t t s“ (45, 6) gesprochen, rückt jetzt seine Machbarkeit ins Blickfeld. Der Abschnitt lässt sich so lesen, als ob nun die „Aufgabe“ (44, 30) definiert würde, die MA I 23 dem ‚Wir‘ der Gegenwart ins Stammbuch geschrieben hat, nämlich „eine alle bisherigen Grade übersteigende K e n n t n i s s d e r B e d i n g u n g e n d e r C u l t u r“ (46, 21–23) zu erwerben, mit der dann eine „bewusste Gesammtregierung“ (46, 21) nicht mehr länger Gefahr liefe, das für die „Menschheit“ (46, 20) Schädliche anzuordnen. Allerdings
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 24–25, KSA 2, S. 45–46
173
nimmt MA I 25 für die Beschaffung dieses Wissens nicht die Gegenwart, sondern die mittelfristige Zukunft in die Pflicht: „Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts.“ (46, 24 f.) Zumindest, was die Beschaffung dieses Wissens angeht, visioniert der Abschnitt keine basisdemokratischen Entscheidungsprozesse, sondern die Festlegungsgewalt einer intellektuellen Elite. Zunächst geht MA I 25 – ein Abschnitt, zu dem es in Mp XIV 1, 50 eine ‚Reinschrift‘ gibt, die mit Bleistift mit dem Wort „Fortschritt“ rubriziert ist und den Teil 46, 2–19 abdeckt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,50) – von einer Verlusterfahrung aus, nämlich vom Ende des Glaubens an eine göttliche Weltregierung, göttliche Weltlenkung und göttliche Weltgeschichtsverlaufssteuerung. Weil „die Menschen“ (46, 5) diesen Glauben verloren hätten, müssten sie sich jetzt selber weltumspannende „Ziele“ (46, 6) setzen. Die „ältere Moral“ (46, 7), für die Kant als repräsentativ hingestellt wird, fordere von den Individuen „Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht“ (46, 8), was jedoch naiv sei, nicht nur, weil diese Vorstellung voraussetze, dass jeder wisse, durch welche Handlungen „das Ganze der Menschheit“ (46, 10) profitiere. Naiv erscheint diese „ältere Moral“ auch, weil sie wie die Freihandelstheorie voraussetze, dass sich am Ende alles zum Besseren und Besten füge. Vielmehr, wird jetzt eingewandt, könne „ein zukünftiger Ueberblick“ (46, 15) über das, was der „Menschheit“ (46, 15 f.) nottut, ans Licht bringen, dass keineswegs „alle Menschen gleich handeln“ (46, 16 f.) sollten, sondern dass zum Weltbesten „für ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein“ (46, 18 f.) dürften. Damit wird zwar nicht explizit gesagt, dass für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Handlungen gut seien, aber dieser Schluss liegt ebenso nahe wie der, dass der Verlauf der Menschheitsgeschichte nicht durch Handlungen vorangetrieben wird, die im Ruf besonderer moralischer Exzellenz und Selbstlosigkeit zu stehen pflegen. Die Schlusswendung – zu 46, 20–25 gibt es in der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 50 keine Vorlage –, dass man, bevor man normative Moral treibt, umfassende Kenntnis über die Kulturentstehungs-, Kulturerhaltungs- und Kultursteigerungsbedingungen gewonnen haben müsse, lässt eine sozialtechnologische Ethik am Horizont erscheinen, die jedes unbedingte Sollen abweist und unbedingt nur auf die Folgen schaut, also radikal konsequentialistisch ist. Freilich maßt sich der Sprecher noch nicht an, selbst über das „der Menschheit“ und ihrer Zukunft Zuträgliche als Herr des Überblicks schon (genauer) Bescheid zu wissen. Und freilich bleibt MA I 25 mit seiner Fortschrittsperspektive ebenso wie mit der Gesamtmenschheit als Geschichtssubjekt ganz im Fahrwasser der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie, wie sie im 18. Jahrhundert entwickelt (vgl. ausführlich Sommer 2006b) und im Deutschen Idealismus wieder aufgewärmt
174
Menschliches, Allzumenschliches I
worden ist. Dass sich die „List der Vernunft“ (Hegel) oder die „Naturabsicht“ (Kant) keineswegs nur moralisch lauterer Mittel bedient, hat dabei unter den spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophen wenig Konfliktpotential geboten. Das in MA I 25 artikulierte, selbst nicht kritisch gespiegelte Vertrauen in die sozialtechnologische Gestaltbarkeit der Gesamtzukunft der Gattung mag heutige Lesende befremden. Glaubte N. wirklich, dass die Wissenschaft Kulturbedingungen nicht nur erschließen und analysieren, sondern auch produktiv machen könnte – also an eine nicht zersetzende, sondern ‚positive‘, weltmächtige Wissenschaft? Wie ist dieser Begriff von Wissenschaft mit demjenigen in N.s früheren Werken kompatibel, die von GT bis UB vor allem die destruktiv-kritische Kraft von Wissenschaft herauszustellen versuchten? Oder ist vielmehr der in MA I 25 skizzierte wissenschaftliche Weltgestaltungsanspruch im Zeichen ökologischer Nöte heute wieder unerwartet aktuell geworden? Eine Vorarbeit in NL 1877, KSA 8, 22[5], 379, 6–10 legt in ihrer Eingangswendung einen Bezug zur Selbstzweckformel von Kants Kategorischem Imperativ (vgl. NK 46, 7 f.) nahe: „So zu handeln, dass die Menschheit usw.: Da müsste man das Vortheilhafte übersehen können. Wer sagt dass überhaupt für das Ganze e i n e Art Handeln zuträglich sei? die Geschichte sagt das Gegentheil. Man ist dem Egoismus viel mehr verpflichtet.“ Die Selbstzweckformel in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten macht die Sittlichkeit freilich gerade nicht abhängig vom Erfolg, etwa von der Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt (vgl. NK ÜK MA I 524): „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (AA IV, 429) Kant würde für sich nicht in Anspruch nehmen, die Handlungsfolgen und ihren Effekt auf die Gesamtentwicklung der Menschheit abzuschätzen. Konsequentialistische, also die Handlungen von ihrer Wirkung her beurteilende Ethiker des 19. Jahrhunderts, zumal solche im Dunstkreis des zwingend konsequentialistischen Utilitarismus, taten dies aber sehr wohl. Mit dem Stichwort des „Egoismus“ ist in 22[5] überdies ein Motiv benannt, das insbesondere Paul Rée umtrieb. In NL 1876/77, KSA 8, 23[154], 460, 20–28 (dazu auch NK 46, 12–14) wird die Kant-Kritik noch einmal spezifiziert und behauptet, sie beraube sich wegen ihrer Fixierung auf reziproke Nahverhältnisse jeder universellen Perspektive. Der Antikonsequentialismus wäre gerade Kants kapitaler Mangel: „Wenn man an die höhere Nützlichkeit, an ökumenische Zwecke bei dem Wort Moral denkt, so ist im H a n d e l mehr Moralität enthalten, als im Leben nach jener Kantischen Aufforderung ‚thue das was du willst daß dir gethan werde‘ oder im christlichen Wandel nach der Richtschnur des Wortes: ‚liebe den Nächsten um Gottes willen‘. Der Satz Kant’s ergiebt eine kleinbürgerliche Privat-Achtbarkeit der Sitte und steht im Gegensatz zu ökumenischen Zwecken: von deren Existenz er nicht einmal
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 25, KSA 2, S. 46
175
einen Begriff hat.“ Die Kant hier untergeschobene „Aufforderung“ ist nichts anderes als die Goldene Regel in ihrer positiven Fassung, die bei Lukas 6, 31 lautet: „Und wie ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen; also thut ihnen gleich auch Ihr [sic].“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 76; vgl. Matthäus 7, 12 – Die Bibel: Neues Testament 1818, 10) Kant wiederum hat sich in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten explizit dagegen verwahrt, dass man seinen Kategorischen Imperativ mit der Goldenen Regel verwechsle: „Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri etc. zur Richtschnur oder Princip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentiren, u. s. w.“ (AA VI 430, Anm.) Allerdings hatte schon und gerade Schopenhauer diese Abgrenzung Kants von der Goldenen Regel nicht gelten lassen. In einer Passage aus der Preisschrift über die Grundlage der Moral, in der Hoche 1992, 458 eine mögliche Inspirationsquelle von 23[154] erkennt, heißt es: „Also zu dem […] dargelegten Mangel an realer B e g r ü n d u n g des Kantischen obersten Grundsatzes der Moral gesellt sich, K a n t s ausdrücklicher Versicherung zuwider, die versteckte h y p o t h e t i s c h e Beschaffenheit desselben, vermöge deren er sogar auf bloßen E g o i s m u s basirt ist, als welcher der geheime Ausleger der in demselben gegebenen Weisung ist. Hiezu kommt nun ferner, daß er, bloß als Formel betrachtet, nur eine Umschreibung, Einkleidung, verblümter Ausdruck der allbekannten Regel quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris ist, wenn man nämlich diese, indem man sie ohne non und ne wiederholt, von dem Makel befreit, allein die Rechts- und nicht die Liebespflichten zu enthalten. Denn offenbar ist dieses die Maxime, nach der ich (versteht sich mit Rücksicht auf meine möglicherweise p a s s i v e Rolle, mithin auf meinen Egoismus) allein wollen kann, daß Alle handeln. Diese Regel quod tibi fieri etc. ist aber selbst wieder nur eine Umschreibung, oder, wenn man will, Prämisse, des von mir als der einfachste und reinste Ausdruck der von allen Moralsystemen einstimmig geforderten Handlungsweise, aufgestellten Satzes: Neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva. Dieser ist und bleibt der wahre reine Inhalt aller Moral. Aber worauf er sich gründe? was es sei, das dieser Forderung Kraft ertheilt? Dies ist das alte, schwere Problem, welches auch heute uns wieder vorliegt. Denn von der andern Seite schreiet mit lauter Stimme der Egoismus: Neminem juva, imo omnes, si forte conducit, laede: ja, die Bosheit giebt die Variante: Imo omnes, quantum potes, laede. Diesem Egoismus, und der Bosheit dazu, einen ihnen gewachsenen und sogar überlegenen Kämpen entgegen zu stellen, das ist das Pro-
176
Menschliches, Allzumenschliches I
blem aller Ethik. Heic Rhodus, heic salta!“ (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 158) Schopenhauer verdächtigt Kant, seine Moral insgeheim auf Egoismus abzustellen, um seinerseits auf ein Prinzip des Nicht-Schädigens und Helfens zu setzen. Der Egoismus ist dabei Feindbild par excellence, in unmittelbarer Nachbarschaft zur schieren Bosheit. MA I 25 nun positiviert den Egoismus in weltgestaltender Absicht, ohne dass der Begriff fällt: Egoistisches Tun, sogar „böse Aufgaben“ (46, 19) könnten sich im Blick auf die weltgeschichtliche Gesamtbilanz der Güter als nützlich, ja als unentbehrlich erweisen. Beispielsweise auch Herbert Spencer hat in seiner Einleitung in das Studium der Sociologie, die N. noch im Erscheinungsjahr 1875 erworben hat, festgehalten, dass für die soziale Entwicklung „ein richtig bemessener Egoismus nothwendig ist“ (Spencer 1875, 2, 3). 46, 3 Schicksale der Welt] In Mp XIV 1, 50 stattdessen: „Schicksale der Menschen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,50). 46, 6 ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele] In Mp XIV 1, 50 fehlt „die ganze Welt umspannende“. Zwar übersetzt Friedrich Erdmann Petri in seinem Handbuch der Fremdwörter, das N. besaß, „ökumenisch“ nur mit „allgemein (von Kirchenversammlungen)“ (Petri 1861, 541), aber N. hat in MA I 25 sowie an den anderen einschlägigen Stellen, nämlich in MA II VM 179, KSA 2, 457, 24, NL 1876/ 77, KSA 8, 23[154], 460, 27 (zitiert in NK ÜK MA I 25) sowie in NL 1876/77, KSA 8, 23[94], 436, 24 (vgl. MA I 242), den gesamten Erdkreis im Blick: Wie der Altphilologe N. natürlich wusste, leitet sich das Adjektiv von der Ökumene her, von der οἰκουμένη γῆ, die die „bewohnte Erde“ ist. Die Begriffsverwendung in MA I 25 und den anderen genannten Stellen konterkariert die christlich-kirchliche Verengung des Begriffs. Heller 1972b, 233 macht darauf aufmerksam, dass auch Jacob Burckhardt „ökumenisch“ im Sinne von ‚weltumspannend‘ benutzt (siehe Burckhardt 2000, 445). NL 1876/77, KSA 8, 23[94], 436, 14–28 nimmt noch den Aspekt der Erziehung hinzu und verbindet ihn unter dem Vorzeichen von Gotthold Ephraim Lessings Erziehung des Menschengeschlechts mit der Geschichtsphilosophie: „E r z o g e n wird jeder Mensch, durch die Umstände, Gesellen, Eltern, Geschwister, Ereignisse der Zeit, des Ortes: aber dies ist alles Erziehung des Zufalls und vielfältig geeignet, ihn recht unglücklich zu entwickeln. Über diese E r z i e h u n g d u r c h d e n Z u f a l l ist aber die Menschheit im Ganzen noch nicht hinausgekommen: gehindert durch die metaphysische Vorstellung (an welcher selbst Lessing’s scharfer Geist stumpf wurde), daß ein Gott die Erziehung der Menschheit in die Hand genommen habe und daß wir seine Wege nicht völlig begreifen können. Von nun an hat die Erziehung sich ökumenische Ziele zu stecken und den Zufall selbst im Schicksal von Völkern auszuschließen: – die Aufgabe ist so groß, daß eine ganz neue Gattung von Erziehern, ein neues Gebilde aus Ärzten Lehrern Priestern Naturforschern Künstlern der alten Kultur – – – “. Lessing hält
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 25, KSA 2, S. 46
177
bekanntlich in seiner geschichtsphilosophisch-geschichtstheologischen Programmschrift am Postulat eines Erziehergottes fest, jedenfalls dem Anscheine nach (vgl. z. B. Sommer 2006b, 291–310). Lessings Folie beibehaltend, Geschichte als Erziehungsprozess zu deuten, visioniert 23[94] demgegenüber wie MA I 25, dass die Menschheit ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und ihre Wege bewusst leiten müsse. N.s Exposition „ökumenischer Ziele“ hat die N.-Forschung nachhaltig fasziniert, siehe z. B. Heller 1972b, 239 f. u. 249, Röttges 1972, 263–265, Kabermann 1977, 92 f., Ulmer 1983, 58, Orsucci 1996, 9, Immel 2003, 156, Nicodemo 2014, 385, Nicodemo 2016b, 159, Reinhard G. Müller 2018, 147 (im Abgleich mit Lessing), Stegmaier 2020b, 165 u. Vivarelli 2020, 37. 46, 7 f. Die ältere Moral, namentlich die Kant’s, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht] Abgesehen von der Provokation, Kant zu den Repräsentanten einer „ältere[n] Moral“ zu rechnen, die, wenn schon nicht in Glaubenszwängen (vgl. 46, 2–5), so wenigstens in Naivität (46, 9) befangen geblieben ist – und damit alle zeitgenössischen Neukantianer vor den Kopf zu stoßen –, zielt 46, 7 f. offensichtlich auf den Kategorischen Imperativ (vgl. NK ÜK MA I 25), den Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wie folgt bestimmt: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (AA IV, 421) Bei N. ist diese moralphilosophische Konzeption, für die die Verallgemeinerbarkeit einer moralisch gerechtfertigten Maxime kennzeichnend ist, ein nie ganz beseitigter Stein des Anstoßes, vgl. z. B. NK KSA 3, 377, 12 f., NK KSA 5, 110, 3–11, NK KSA 5, 227, 10–13, NK KSA 5 ÜK JGB 207, NK KSA 5 ÜK JGB 265, NK KSA 6, 236, 10 f. u. NK KSA 6, 238, 29–239, 1. 46, 8 f. wünscht: das war] In Mp XIV 1, 50 stattdessen: „wünschte: das ist“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,50). 46, 10–12 das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien] In Mp XIV 1, 50 stattdessen nur: „das Ganze wohlfährt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,50). 46, 12–14 es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben m ü s s e] In Mp XIV 1, 50 stattdessen: „es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass sich alles von selbst ergebe nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,50). Es handelt sich um die einzige Stelle in N.s Werken und Nachlass, wo das Wort „Freihandel“ im Sinne der klassischen Nationalökonomie verwendet wird („Freihandeln“ in NL 1876/77, KSA 8, 21[17], 370, 2 ist demgegenüber das Korrelat zu
178
Menschliches, Allzumenschliches I
„Freidenken“ und wird nicht in ökonomischem Sinn gebraucht). In NL 1876/77, KSA 8, 23[154], 460 20–461, 8, das in NK ÜK MA I 25 zitiert wird, ist von „H a n d e l“ die Rede, aber nicht als Parallelerscheinung zur „älteren Moral“ – wie diese eine geschichtsphilosophische Vervollkommnungsharmonie behauptend –, sondern als soziale Gegebenheit, die mehr Gesamtweltnützlichkeit zeitige als die dort Kant unterschobene Moral der Goldenen Regel. In den 1870er Jahren entwickelte N. – wohl auch aus den Gesprächen mit den nationalökonomischen Basler Kollegen Gustav Friedrich (von) Schönberg und August von Miaskowski – durchaus Interesse an ökonomischen Fragen, das sich in einschlägigen Lektüren niederschlug (vgl. Brobjer 2014 und die genauen Analysen bei Simonin 2022, 95–130; allgemein zum Thema Ökonomie u. a. in MA auch Sedgwick 2007). Zu diesen Lektüren gehörte nicht Adam Smiths Klassiker An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), der nicht nur den Freihandel theoretisch begründete, sondern mit der Metapher einer „invisible hand“ (Buch IV, Kapitel 2), die das Gemeinwohl fördere, ohne dass die einzelnen Wirtschaftsakteure das direkt intendierten, einen geschichtsphilosophischen Überbau der Ökonomie propagierte, der der ökonomischen Harmonieidee in MA I 25 entspricht. N. nennt Smith in seinen Werken zwar nie, aber er hat sich über ihn, wie zahlreiche Anstreichungen auf den entsprechenden Seiten belegen, schon in William Edward Hartpole Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa kundig gemacht (Lecky 1873, 2, 274–278). In Eugen Dührings Cursus der National- und Socialökonomie, einschliesslich der Hauptpunkte der Finanzpolitik, den N. ebenfalls besaß, wird die Freihandelsökonomie wie folgt charakterisiert: „Das Princip der freien Concurrenz […] will die Individuen in ihrer wirthschaftlichen Thätigkeit nirgend eingeschränkt und nirgend gefördert, sondern ihrer jedesmaligen Einzelkraft überlassen wissen. Das Spiel der individuell ringenden Kräfte soll mit seinem Ergebniss als Naturgesetz hingenommen werden. Die politisch organisirenden Kräfte haben sich sorgfältig jedes Einflusses auf diesen natürlichen Mechanismus zu enthalten, und man hat die Einzelnen machen und die Dinge gehen zu lassen, wie es ihnen und der Natur gefällt. Dies ist die völlig negative Maxime des laissez faire, laissez aller. Sie ist einerlei mit dem Princip des freien Geschäfts oder des im weitesten Sinne verstandenen Freihandels.“ (Dühring 1873c, 159) Explizit und exzessiv wird das Stichwort der Harmonie dann in den ökonomischen Theorien des 19. Jahrhunderts in Anspruch genommen, so bei Henry Charles Carey schon im Titel seines Werkes The harmony of interests (1851). Mit Carey beschäftigt sich N. nach Ausweis seiner Briefe und Aufzeichnungen ab 1879 direkt; davor ist er ihm insbesondere in Dührings Kritischer Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus begegnet. Der „Grundgedanke“ von Careys The Unity of Law (1873) „besteht“ nach Dühring 1875b, 397 darin, „dass die Natureinrichtung und die Entwicklung der socialen
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 25, KSA 2, S. 46
179
Welt gleichsam in einer zu einander passenden Harmonie befindlich seien, so dass die höchste geistige Entfaltung des vervollkommneten Menschen ein in der physikalischen Gesammtanlage der ökonomischen Vorbedingungen zweckmässig vorgesehenes Erzeugniss wäre“. Zum Werk des (von N. nie genannten) Freihandelsapologeten Frédéric Bastiat, bei dem die Harmoniemetapher gleichfalls überbordet (vgl. Dühring 1875b, 402 f.; in N.s Handexemplar S. 402 mit Eselsohr markiert), notiert Dühring: „Um den Harmonismus, der unter Voraussetzung der indi-/432/viduellen Sichselbstüberlassung des Verkehrs statthaben soll, braucht nicht gestritten zu werden. Dieser Gedanke ist zu allgemein, zu vage, zu fictiv und viel zu alt in der Geschichte der Oekonomie, um im 19. Jahrhundert eine Eigentümlichkeit der besondern, von einem bestimmten Denker in Anspruch zu nehmenden Auffassung ausmachen zu können.“ (Dühring 1875b, 431 f.) N. bemüht in 46, 12–14 also nationalökonomisches Ideen- und Metapherngemeingut. 46, 14–19 Vielleicht lässt es ein zukünftiger Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein.] In Mp XIV 1, 50 stattdessen: „Es ist sogar durchaus nicht wünschenswerth, dass alle Menschen gleich handeln, sondern in Zukunft ökumen. Ziele sich für ganze Strecken der Menschheit specielle viell. sogar böse Aufgaben zu stellen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,50) 46, 21 Gesammtregierung] Die „Gesammtregierung“, die in N.s Werken und Nachlass nur hier auftaucht, wird eingeführt im Modus der Negation: eine solche künftige und „bewusste“ Gesamtregierung könne „die Menschheit“ (46, 20) leicht zugrunde richten, sollte sie von falschem Wissen ausgehen. Der Ausdruck, der die Phantasie vieler Interpreten angeregt hat, scheint in MA I 25 im Sinne einer Weltregierung, die für die planetare Gesamtorganisation zuständig ist, verwendet zu werden – und damit im Gegensatz zur zeitgenössischen lexikalischen Definition beispielsweise in Meyers Konversations-Lexikon: „Gesammtregierung, von mehreren Fürsten oder Mächten für ein Land gemeinschaftlich aufgestellte Regierung, die entweder für vorübergehend oder für fortdauernd erklärt ist“ (Meyer 1874– 1884, 7, 693). Aber der Ausdruck wurde in der zeitgenössischen Literatur durchaus auch in weitem Sinne verwendet, so von N.s Basler Förderer Wilhelm Vischer-Bilfinger, der über das antike Griechenland zu berichten wusste: „So war es nun auch in den durch Sympolitie gebildeten neuen Staaten, höchstens in den Myrioi in Arkadien mag vielleicht eine Art von Repräsentation erstrebt worden sein. Bei einer solchen Verfassung war der Ort, wo der Sitz der Regierung war, sehr bevorzugt /358/ und in den häufigen Volksversammlungen hatten seine Bewohner ein grosses Uebergewicht; sein Vorzug war grösser, je ausgedehnter das
180
Menschliches, Allzumenschliches I
Gebiet war. Dazu kommt, dass die Gesammtregierung, wie es scheint, zugleich Regierung der Hauptstadt war, oder, da die Centralisirung von dieser ausging, im Grunde eher die Stadtregierung zur Gesammtregierung ward.“ (Vischer 1877, 357 f.; der Aufsatz wurde ursprünglich 1849 publiziert.) In Deutschland hatte das Wort „Gesam(m)tregierung“ einen stark tagespolitischen Beiklang (z. B. bei Rotteck 1843, 637), artikulierte es doch vor 1871 den Wunsch einer Vereinheitlichung des mehr oder weniger losen Zusammenhalts der diversen deutschen Staaten unter einer Führung. So konnte Rudolf Gneist 1876 in den Preußischen Jahrbüchern über die Denkschriften des preußischen Reformers Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein schreiben: „Er hat von Anfang an erkannt, daß das französische ebenso wie das englische Parlamentsschema für den deutschen Staatenstaat unanwendbar sei, daß ein deutsches Reich vielmehr nur durch die Zusammenfassung von R e g i e r u n g s g e w a l t e n zu einer Gesammtregierung entstehen könne.“ (Gneist 1876, 277) MA I 25 nimmt also eine Losung aus der deutschen Nationalstaats- und Reichseinigungsbewegung auf und projiziert sie aufs Globale.
26. MA I 26 führt das Fortschrittsthema der vorangegangenen Abschnitte fort (vgl. Salanskis 2017, 164 f.). Dieser Abschnitt propagiert nun „[ d ] i e R e a c t i o n a l s F o r t s c h r i t t“ (46, 27), indem er „schroffe, gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zurückgebliebene Geister“ (46, 28 f.) Revue passieren lässt, die eine frühere Entwicklungsstufe des Geistes noch einmal rabiat wiedererweckten und so demonstrierten, dass den „neuen Richtungen“ (46, 31) noch etwas Entscheidendes fehlte, nämlich Widerstandsfähigkeit. MA I 26 bespricht zwei solchermaßen wirkmächtig eingreifenden Reaktionsgeister eingehender, namentlich Martin Luther – im Kontrast zur Renaissance, vgl. ausführlich MA I 237, KSA 2, 199 f. – und Arthur Schopenhauer. Deren Reaktivierung des Alten ist freilich nichts, was der Aufklärung oder dem Fortschritt schade, sondern vielmehr korrigiere und schule „die historische Betrachtungsart“ (47, 26) die „Aufklärung“ (47, 27): Es sei dies ein „E r f o l g [ . ] d e r G e r e c h t i g k e i t“ (47, 25 f.), helfe es doch, sich in frühere Zeiten zurückzuversetzen und das Wesentliche der früheren Denkungs- und Fühlarten zu erfassen, was wiederum auf das „Z e i t a l t e r d e r V e r g l e i c h u n g“ (44, 6) in MA I 23 zurückverweist. Man könne so, mit Schopenhauers Hilfe, etwa dem Christentum „Gerechtigkeit“ widerfahren lassen. Den Titel des Abschnitts nimmt der Schlusssatz als Refrain auf: „Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht.“ (47, 30 f.) Der Fortschritt kann sich offensichtlich alles dienstbar machen.
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 25–26, KSA 2, S. 46–47
181
Das Notat NL 1876/77, KSA 8, 23[184], 469, 19–24 erweitert nicht nur das Feld, auf dem das Zurückgebliebene progressiv werden kann, um Politik, Gesellschaft und Kunst, sondern gibt auch eine andere Begründung, warum das so ist, nämlich, weil die „Reibung“ produktiv sei: „N u t z e n d e r z 〈 u r ü c k g e b l i e b e n e n 〉 S t 〈 a n d p u n c t e 〉. – Die z u r ü c k g e b l i e b e n e n S t a n d p u n c t e (politische sociale, oder ganze Typen bei Künstlern, Metaphysikern) sind ebenso nöthig als die fortschreitenden Bewegungen: sie erzeugen die nöthige Reibung und sind für die neuen Bestrebungen Kraftquellen.“ Diese Vorstellung von der Produktivität der Reibung ist übrigens bereits im frühen 19. Jahrhundert geläufig: „Die Natur selbst scheint es auf Mannichfaltigkeit ihrer Erzeugnisse angelegt zu haben, also auch auf Mannichfaltigkeit menschlicher Vorstellungen und Bestrebungen, die doch zum Theil wenigstens auch Naturprodukte sind. Die Geister müssen ein Reibzeug haben, das Funken aus ihnen hervorlockt.“ (Krug 1819, 273; vgl. Sommer 2022f, 207.) Luther und Schopenhauer treten schon in NL 1873, KSA 7, 28[6], 618 f. und in NL 1874, KSA 7, 35[11], 811 f. als Paar auf, zunächst im Hinblick auf ihre Grobheit, als „Nihilisten“ dann in NL 1880, KSA 9, 4[103], 125, vgl. NK KSA 3, 451, 21 f. u. Large 2009, 64 f. Thomas Mann zitiert und kommentiert MA I 26 in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen: „Er [sc. N.] hat diese Tugend [sc. die Gerechtigkeit] geübt, er hat diese Genialität bewährt: in dem wundervollen Aphorismus zum Beispiel, der ‚Reaktion als Fortschritt‘ überschrieben ist und in dem er dem großen Lehrer seiner Jugend, Schopenhauer, gerecht wird. Es sei gewiß einer der größten und ganz unschätzbaren Vorteile, sagt er, die wir aus Schopenhauer gewönnen, daß er unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurückzwinge, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde.“ (Mann 1990, 12, 498) Zu MA I 26 gibt es zwei ‚Reinschrift‘-Notate in Mp XIV 1, 52 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,52) und in Mp XIV 1, 74 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,74). Mp XIV 1, 52 umfasst den späteren Drucktext 46, 27 bis 47, 15; Mp XIV 1, 74 ist eine abweichende Version des späteren Drucktextes 47, 15 bis 47, 23, siehe NK 47, 6–25. Zu MA I 26 im Horizont von N.s Beschäftigung mit dem Thema des Fanatismus siehe Ansell-Pearson 2018a, 15 f.; im Horizont der Zusammenfügung von Schopenhauer und Christentum siehe Jaggard 2004, 285 f. 46, 29 zurückgebliebene] In Mp XIV 1, 52 unterstrichen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,52). 47, 1–6 So zeugt zum Beispiel Luther’s Reformation dafür, dass in seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr Haupt erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird.] Wäh-
182
Menschliches, Allzumenschliches I
rend der frühe N., der immerhin einem protestantischen Pfarrhaus entstammte, in dem Luther (neben Jesus und Paulus) die mächtigste religiöse Orientierungsfigur darstellte, Luther durchaus noch nicht schmäht, tritt von MA I an eine scharfe Opposition zwischen der reformatorischen Rückschrittlichkeit, verkörpert in Luther, und der in die Zukunft strebenden Renaissance auf. Jacob Burckhardts Renaissance-Bild (Burckhardt 1869b) hat an dieser Blickveränderung ebenso seinen Anteil wie reformationskritische Literatur aus verschiedenen Ecken (vgl. z. B. NK KSA 3, 404, 31–405, 3, NK KSA 5, 287, 16–21, NK KSA 6, 251, 12–26; vgl. allgemein Heit/Sommer 2020 und Heller 1972b, 272–277. Schon 1950 veröffentlichte Heinz Bluhm einen Aufsatz, der den Wandel von N.s Stellung zu Luther in der Periode nach 1876 dokumentiert: Im Übergang von UB IV zu MA werde aus N.s relativ harmloser und konventioneller Haltung der Reformation gegenüber eine scharfe Kritik Luthers.). Während der Abschlussarbeiten an MA I bestellte N. am 11. 03. 1878 über seinen Verleger Ernst Schmeitzner Hippolyte Taines Geschichte der englischen Literatur (vgl. KSB 5/KGB II 5, Nr. 692, S. 307, Z. 7 f.). Dort gibt es im ersten Band ein Kapitel „Die christliche Renaissance“ (vgl. Campioni 2009a, 193 u. Sommer 2017c, 602 f.), das, wie N. später in AC 61, Luther Cesare Borgia gegenüberstellt und die traumatischen Erfahrungen resümiert, die der „Mönch“ Luther mit dem „zügellose[n] Heidenthum der italienischen Renaissance“ in Rom gemacht habe, die er „vom Standpunkte seines Gewissens aus“ beurteilt habe: „Er betrachtet diese südliche Civilisation als Kind des Nordens und sieht nur deren Laster“ (Taine 1878, 1, 549). Für das in MA I 26 (und in MA I 237) gezeichnete Bild der Reformation und der Persönlichkeit Luthers steht vor allem aber auch Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung Modell, die Luther keineswegs wie die landläufig protestantisch-deutsche Geschichtsschreibung auf der Seite der Aufklärung, sondern vielmehr auf derjenigen der Reaktion verortet: „Wir haben in dem Leben Luther’s einen schlagenden Beleg für den Einfluss der Reformation auf die Hexerei und für die Denkungsweise, welche sie eine Zeit lang unterhielt. Kein Zug war schärfer in seinem Charakter ausgeprägt, als das starke und leidenschaftliche Gefühl der Sündhaftigkeit. Er selbst schildert oft in der bilderreichsten Sprache, wie er in der Abgeschlossenheit seines Klosters zu Wittenberg unter dem wahren Schatten des Todes gelebt, wie die Pforten der Hölle sich zu seinen Füssen zu öffnen schienen, und das Gefühl der hoffnungslosen Verworfenheit ihm das Leben selbst zur Last machte. Niedergebeugt von dem tiefsten Gefühl moralischer Unwürdigkeit, wurde er von intellectuellem Zweifel gequält. […] Wie bei allen Menschen von lebhafter Einbildung, die in gleichen Umständen sind, so bildete sich um seinen Geist ein theologischer Dunstkreis, und wurde das Medium, wodurch er /47/ jedes Ereigniss betrachtete. Er war sehr vielen wunderlichen Einbildungen und Urtheilsschwankungen ausgesetzt, die er beständig der unmittelbaren Einwirkung des Satans beimass. In Folge dessen
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 26, KSA 2, S. 47
183
wurde der Satan die herrschende Vorstellung seines Lebens.“ (Lecky 1873, 1, 46 f.; N.s Unterstreichungen, diverse Randanstreichungen und eine vom Buchbinder beschnittene Randnotiz von N.s Hand, vgl. z. B. ebd., 296–303.) Die Renaissance konnte sich unter dem Eindruck des nach Lecky allenthalben aufbrechenden religiösen Fanatismus nicht behaupten. Vgl. NK KSA 3, 404, 31–405, 3. 47, 6–25 Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer’s Metaphysik, dass auch jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist: so konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauer’s Lehre, trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte „metaphysische Bedürfniss“. Es ist gewiss einer der grössten und ganz unschätzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde. Der Gewinn für die Historie und die Gerechtigkeit ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauer’s Beihülfe dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unmöglich ist.] Statt „in unserem Jahrhundert bewies“ (47, 7) heißt es in Mp XIV 1, 52: „in diesem Jahrhundert beweist“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,52). In N II 2, 22 gibt es zu 47, 15 bis 47, 23 folgende Vorarbeit: „da vielleicht liegt der größte Vortheil, welchen wir aus Schopenhauer gewinnen, darin daß er uns in ältere mächtige Betrachtungen der Dinge zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde … Ich glaube, daß jetzt Jemandem [sic, statt wie 43, 21: Niemandem] möglich sein wird, ohne Schopenhauer dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,22) In Mp XIV 1, 74 lautet der Text: „Viell. liegt der grösste Vortheil, welchen wir aus Schopenhauer gewinnen, darin, dass er uns in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde. Ich glaube, dass jetzt Niemandem so leicht möglich sein wird, ohne Sch.s Beihülfe dem Christenthum u. seinen asiat. Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,74) Zwar hatte sich Schopenhauer explizit vom Christentum und seinen Dogmen distanziert, aber der radikal asketischen religiösen Praxis als Form der von ihm selbst propagierten Willensverneinung viel abgewinnen können: „Märtyrer, Heilige jedes Glaubens und Namens, haben freiwillig gern jede Marter erduldet, weil in ihnen der Wille zum Leben sich aufgehoben hatte; dann aber war sogar die langsame Zerstörung seiner Erscheinung ihnen willkommen.“ (Schopenhauer
184
Menschliches, Allzumenschliches I
1873–1874, 2, 384; vgl. NK 3/2.1, S. 878–881 zu FW 131) In FW 357 nimmt N. den in MA I 26 gesponnenen Faden wieder auf. So sei Schopenhauer bei der Frage nach dem Sinn des Daseins ganz in der christlichen Weltbetrachtung verhaftet geblieben: „Was Schopenhauer selbst auf diese Frage geantwortet hat, war – man vergebe es mir – etwas Voreiliges, Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen- und Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben an Gott, d e r G l a u b e g e k ü n d i g t w a r …“ (KSA 3, 600, 34– 601, 5; vgl. auch NK KSA 3, 492, 10–15). Die „asiatischen Verwandten“ (47, 22 f.) des Christentums, für die Schopenhauer laut MA I 26 ebenfalls eine gerechte Würdigung in der Gegenwart ermöglicht habe, sind der Buddhismus und der Hinduismus, deren asketischen Erscheinungsformen Schopenhauers Hochachtung galt. Ein zentraler Ansatzpunkt für die Kritik an Schopenhauer in MA I 26 ist sein Konzept eines „metaphysischen Bedürfnisses“, das N. in seinen Werken öfter explizit thematisiert (neben MA I 26 auch in MA I 37, KSA 2, 61, 11 f., MA I 153, KSA 2, 145, 13, MA II WS 16, KSA 2, 550, 10, FW 151, KSA 3, 494, 22–24, JGB 12, KSA 5, 27, 1 f. und in EH MA, KSA 6, 328, 20, wobei an all diesen Stellen entschiedene Ablehnung markiert wird, vgl. auch NWB 1, 230 u. Saarinen 2020, 46 f.), ebenso wie etliche Male im Nachlass: „Das sogenannte metaphysische Bedürfniß ist eine Gegeninstanz gegen die Wahrheit irgend einer Metaphysik. Der Wille commandirt.“ (NL 1876/77, KSA 8, 23[164], 464, 17–19) Im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung spricht Schopenhauer das ganze 17. Kapitel lang „Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen“ (Schopenhauer 1873–1874, 3, 175–209). „Erst nachdem das innere Wesen der Natur (der Wille zum Leben in seiner Objektivation) sich durch die beiden Reiche der bewußtlosen Wesen und dann durch die lange und breite Reihe der Thiere, rüstig und wohlgemuth, gesteigert hat, gelangt es endlich, beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen, zum ersten Male zur Besinnung: dann wundert es sich über seine /176/ eigenen Werke und frägt sich, was es selbst sei. Seine Verwunderung ist aber um so ernstlicher, als es hier zum ersten Male mit Bewußtseyn d e m T o d e gegenübersteht, und neben die Endlichkeit alles Daseyns auch die Vergeblichkeit alles Strebens sich ihm mehr oder minder aufdringt. Mit dieser Besinnung und dieser Verwunderung entsteht daher das dem Menschen allein eigene B e d ü r f n i ß e i n e r M e t a p h y s i k: er ist sonach ein animal metaphysicum.“ (Ebd., 175 f.) Entsprechend gilt Schopenhauer der Glaube an die Existenz von Göttern als Ausdruck dieses metaphysischen Bedürfnisses (ebd., 178). Vgl. NK 61, 3–17, NK KSA 3, 494, 22–24 u. NK KSA 5, 26, 30–27, 9. In Mp XIV 1, 52 stand nach „auch in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer’s Metaphysik“ (47, 7 f.) in Klammern noch: „(u. nach ihm Hartmann’s Gespensterspuk am lichten Berliner Tage)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,52). An Eduard von Hartmann und seiner Philosophie des Unbewussten
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 26, KSA 2, S. 47
185
in lockerem Gefolge Schopenhauers hat sich N. schon in UB II HL 9 polemisch abgearbeitet, siehe NK 1/2, S. 260–263 u. 290 f.; mit dem ungeliebten „Berlin“ assoziiert ihn N. noch in JGB 204, siehe NK KSA 5, 131, 11–14. 47, 11 f. trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen,] Fehlt in Mp XIV 1, 52. 47, 12–14 Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht] In Mp XIV 1, 52 heißt es stattdessen: „Viel Wissenschaft klingt in ihn hinein, aber sie beherrscht ihn nicht“. Das erste „ihn“ wurde gestrichen und mit „sie“ überschrieben, das ebenfalls gestrichen wurde, bevor das „ihn“ mit drei Punkten wieder restituiert wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,52). 47, 25–30 Erst nach diesem grossen E r f o l g e d e r G e r e c h t i g k e i t, erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung – die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire – von Neuem weiter tragen.] Das ist die erste Stelle, an der in MA I explizit von „Aufklärung“ die Rede ist, auf die sich das sprechende ‚Wir‘ zudem affirmativ bezieht. „Aufklärung ist in diesem Zusammenhang offensichtlich auch Selbstaufklärung und Selbstkur.“ (Enrico Müller 2020, 58) Worin genau die „Gerechtigkeit“ besteht, die 47, 20 in einem Atemzug mit der „Historie“ nennt, ist nicht ganz eindeutig: Liegt sie darin, dass „wir“ zu einem die christliche und metaphysische Vergangenheit abweisenden, sie womöglich vernichtenden Urteil kommen? Oder liegt sie eher darin, dass „wir“ dank Schopenhauers regredierender Radikalisierung der ursprünglichen christlichen Weltverneinung – in der auch N.s Freund Franz Overbeck eine Grundtendenz des antiken Christentums gesehen hat – diese Vergangenheit besser verstehen können – besser, als uns das die gegenwärtige, um ihren asketischen Kern beraubte Theologie und das veräußerlichte Schwundchristentum der Gegenwart erlaubt (vgl. Overbeck 1873)? Führt Schopenhauer statt zu einer Erneuerung der von ihm verheißenen Willens- und Weltverneinung zu einer tiefer begründeten Willens- und Weltbejahung? Schopenhauers Intention wird – und das ist schon die Tendenz von UB III SE – radikal distanziert, erscheint er doch als Relikt einer metaphysischen Vergangenheit, von der das ‚Wir‘ in der Gegenwart freilich noch einen nützlichen Gebrauch machen kann. Aufklärung ist – und das verweist zurück auf das „historische Philosophiren“ in MA I 1 und MA I 12 – nach dem Schluss von MA I 26 mit der „historische[n] Betrachtungsart“ (47, 26) unauflöslich verbunden (womit N. die Idee einer angeblich ‚unhistorischen‘ Aufklärung en passant Lügen straft). Die Zusammenstellung von Francesco Petrarca (1304–1374), wohl als Wegbereiter der Renaissance, Erasmus von Rotterdam (ca. 1466–1536), wohl als Inbegriff
186
Menschliches, Allzumenschliches I
des Humanismus und entschiedenem Gegner Luthers, und Voltaire (1694–1778), als Verkörperung einer radikal christentumskritischen Aufklärung (vgl. z. B. seine Lettres philosophiques, deren 25. Brief sich gegen Blaise Pascals sündenbewusstseinstriefendes Weltabwendungschristentum wendet), zeigt eine Periodisierung der Aufklärungsgeschichte an (vgl. Montinari 1982, 59, Politycki 1989, 208, Campioni 2001b, 50, Venturelli 2003, 141 f., Gerlach 2007, 39, Gentili 2010, 158, Bertino 2011, 268 f., Vivarelli 2020, 38 f. u. Nicodemo 2021, 99 f.). Luther steht gegen Petrarca und Erasmus, Schopenhauer gegen Voltaire – und das sprechende ‚Wir‘ will schließlich auch den pessimistisch-asketischen Metaphysikschub des 19. Jahrhunderts überwinden. Dabei fristen Petrarca und Erasmus bei N. sonst ein Schattendasein; beide werden in MA I 26 zum einzigen Mal in einem Werk N.s genannt; die verstreuten Nachlassaufzeichnungen, in denen ihr Name fällt, verraten keine intensivere Beschäftigung (das Erasmus erwähnende und scheinbar seine Rolle reflektierende Notat NL 1878, KSA 8, 30[54], 530 f. ist ein Exzerpt nach Brüggen 1878, 103–105, siehe Devreese/Biebuyck 2006). Immerhin berichtet N. seiner Mutter und seiner Schwester am 27. 12. 1871, er habe die Bilder seiner „Stube“ umgehängt: „über das Pianino kommt ein Bild von Holbein, nämlich der große Erasmus, den mir die jungen Vischers am Weihnachtsabende bei der Bescheerung geschenkt haben“ (KSB 3/KGB II 1, Nr. 181, S. 265, Z. 17–21). Dass er sich Hans Holbeins Erasmus zu Weihnachten gewünscht habe, folgt daraus nicht. Voltaire demgegenüber ist ein ziemlich häufiger Gast in N.s Werken und Nachlass, vgl. ausführlicher oben NK ÜK Die Widmung (zu Nietzsche 1878, [I]). Die Zusammenstellung von Petrarca, Erasmus und Voltaire dürfte sich freilich nicht N.s eigenem ingeniösen Gesamtblick auf die abendländische Geistesgeschichte verdanken, sondern der Lektüre des zweiten Bandes von Karl Hillebrands Zeiten, Völker und Menschen, betitelt Wälsches und Deutsches, in dem auch eine sehr wohlwollende Würdigung von UB II HL erschienen war. N. hatte den Band am 07. 05. 1875 erworben (NPB 297), der mit einem Petrarca-Porträt beginnt und dort gleich am Anfang ein Urteil von Giosuè Carducci zitiert: „‚Petrarca’s Krönung auf dem Capitol, unter dem Beifallsrufe des Volkes, in glücklicher Abwesenheit von Papst und Kaiser, war gleichsam die Weihung der Renaissance inmitten des mittelalterigen Europa, auf das er zum großen Vortheile der Cultur seiner Zeit dieselbe Dictatur oder vielmehr Gesetzgebung /4/ des Geistes ausübte, welche Erasmus von Rotterdam auf das sechzehnte, Voltaire auf das achtzehnte Jahrhundert ausübten.‘“ (Hillebrand 1875, 3 f.) Und nach dem Carducci-Zitat fährt Hillebrand fort: „Wie der große Jesuitenfeind [sc. Voltaire], wirkte Petrarca nicht allein durch seine Werke, sondern auch durch seine zahlreichen Briefe, seine Reisen, seine persönliche Gegenwart. Das ‚Epistolario‘ Petrarca’s, wenn auch weniger umfassend als die ‚Correspondance de Voltaire‘ und obschon der Verfasser lieber die Waffe der Beredtsamkeit als die des Witzes
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 26, KSA 2, S. 47
187
gebraucht, hat für das vierzehnte Jahrhundert ganz dieselbe Bedeutung, wie die unerschöpflichen brieflichen Mittheilungen des ‚Alten von Ferney‘. Wie dieser in der Jugend und im Mannesalter, bald in der Zurückgezogenheit der Provinz, bald im Geräusche von Paris, heute in England, morgen in der Schweiz, jahrelang am Hofe des Königs von Preußen, dann wieder bis zum Lebensschlusse auf dem eigenen einsamen Landsitze schrieb und wirkte, so lebte Petrarca bald in Avignon, Mailand oder Prag an den Höfen des Papstes, der Visconti oder Kaiser Karl’s IV., bald in stiller Zurückgezogenheit, sei’s im Thale von Vaucluse, sei’s im versteckten Arquà, durchzog Frankreich und Deutschland als Wanderer, besuchte Rom und Neapel, Parma und Padua und konnte sich erst spät entschließen, sich dauernde Ruhe an einem entlegenen Orte zu gönnen. Das Instrument, dessen er sich für seine Wirksamkeit bediente, war, wie das Voltaire’s, die gerade geltende Universalsprache, zu seiner Zeit die lateinische, die er besser handhabte als irgend ein Neuerer, wie nicht wohl anders zu erwarten war von dem Manne, der eigentlich das römische Alterthum wiedererweckte.“ (Hillebrand 1875, 4) Thomas Mann kommentiert den von ihm zitierten Passus 47, 19–31 mit der progressiven Trias in den Betrachtungen eines Unpolitischen folgendermaßen: „Petrarca, Erasmus, Voltaire, – die Welt der Humanität tut sich auf, das Reich des Fanatismus schließt sich beim Klang dieser Namen. Petrarca war ein Melancholiker, ein Künstler, ein Genießer der Gegensätze. Der deutsche Humanist, dessen edelbürgerliches Bildnis von Holbein ich so liebe, verhielt sich zur Reformation, wie Goethe sich zur Revolution verhielt: ruhige Bildung werde durch das Luthertum zurückgedrängt, das war der Vorwurf, den er ihm machte, wie Goethe dem Franztum. Und daß Voltaire, der Voltaire, dem Nietzsche sein Buch widmete, das Ecrasez l’infâme nur gegen das Christentum und nicht gegen jede Art von Fanatismus und Scheiterhaufen-Unduldsamkeit sollte gerichtet haben, kann ich nicht glauben. Nicht Voltaire war der Mann der Revolution; Rousseau war es …“ (Mann 1990, 12, 499) Ganz kontradiktorisch dazu steht Richard Wagners Urteil, wie es Cosima Wagner im Tagebuch am 1. Dezember 1881 notiert, nachdem er über die angeblich verderbte Renaissance hergezogen hat: „‚Die Leute wie Nietzsche, durch den Renaissance-Mann Burckhardt, sprächen es ja aus, was sie wollen: Erasmus, Petrarca, sie sind mir verhaßt‘“ (Wagner 1988, 2, 837; vgl. Campioni 2009a, 151 f.). Die aufklärerische Trias in MA I 26 scheint die Imagination in Bayreuth nach dem Bruch mit N. von Anfang an beschäftigt zu haben; jedenfalls ließ Cosima Wagner in ihrem Brief vom 12. 01. 1879 Carl von Gersdorff wissen: „Schmeitzner sagt das Buch [sc. MA I] würde in Nord Deutschland viel gekauft und gelesen, gewiß mehr als die ‚Geburt der Tragödie‘! Ich bleibe dem verstorbenen Nietzsche treu, und ich lasse den Lebenden in der Gesellschaft welche er sich erwählte, Petrarca, Erasmus, Voltaire, möge ihm wohl dabei sein!“ (Zitiert nach Kr I, 37, Fn. 40)
188
Menschliches, Allzumenschliches I
27. MA I 27 – ein Abschnitt, zu dem es eine ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 45 gibt (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,45) – setzt ein mit dem Hinweis auf eine offensichtlich landläufige Rechtfertigungsstrategie für „eine[.] Philosophie“ (48, 2 f.), sie nämlich „als Ersatz der Religion für das Volk“ (48, 3 f.) darzustellen. Bei dieser Formulierung ist zunächst nicht klar, ob die Philosophie beim „Volk“ die „Religion“ ersetzen (so die Suggestion in der zugrundeliegenden Quelle Mainländer 1876, 559, siehe NK 48, 2–4) oder ob sie insgesamt ohne bestimmten Adressaten an die Stelle einer Volksreligion treten soll. Im Verlauf des Textes wird deutlich, dass weniger die Adressatenfrage im Zentrum steht – also etwa, ob die Religion auf volkstümliche Weise den Massen vermittelt, was die Philosophie auf begriffliche Weise erkannt hat – als vielmehr die Frage, ob Philosophie tatsächlich jene „Bedürfnisse“ (48, 9 f.) „befriedigen soll“ (48, 11), die die Religion bis hierher zu befriedigen behauptet hat. Man müsse vielmehr „lernen“ (48, 9), dass diese Bedürfnisse keineswegs immerwährende, sondern vielmehr historisch höchst wandelbare seien. Und man könne sie auch „s c h w ä c h e n und a u s r o t t e n“ (48, 12). Das „historische Philosophiren“ von MA I 1 u. MA I 2 wird hier also auf die Bedürfnislage der Menschen appliziert, ohne dass dies begrifflich eigens namhaft gemacht werden müsste. Stattdessen illustriert das Beispiel der „christliche[n] Seelennoth“ (48, 13), als die Heilssorge als einziges wirkliches Bedürfnis erschien, wie kontingent scheinbar ewige Bedürfnisse sind. Gerade die Bedürfnisse, die Religion (und Metaphysik) bedienen, scheinen keine unveränderlichen zu sein. Daher könnte die Philosophie sich entweder als nützlich erweisen, indem sie solche „Bedürfnisse auch b e f r i e d i g t“ (48, 17 f. – ohne dass es ausgesprochen würde: diejenige Schopenhauers dürfte darauf abzwecken), oder aber, indem sie sie „b e s e i t i g t“ (48, 18). Dass sich eine „philosophische Wissenschaft“ (48, 26) aus der Sicht des Sprechers auf diese Seite schlagen dürfte, unterliegt kaum einem Zweifel. Freilich fragt sich, wie denn der „Uebergang“ (48, 6 u. 48, 21) von der Religion in eine wissenschaftliche Weltsicht zu bewerkstelligen wäre, wenn die Philosophie da als Stichwortnehmerin der Religion nicht mehr in Betracht kommen soll. Als Antwort wird „die K u n s t“ (48, 21) genannt, die im Vergleich zu Schopenhauer, Wagner und N.s eigenem Frühwerk radikal abgespeckt als bloßes Erleichterungs- und Abführmittel für religiös übersteigerte Emotionen auftritt, also auf eine untergeordnete soziale Funktionsstelle reduziert wird, von der aus „man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen“ (48, 25 f.) könne – leichter als von einer beschwerenden Metaphysik aus? Vgl. zu den systematischen Folgen, die sich aus MA I 27 ergeben können, Sommer 2013e.
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 27, KSA 2, S. 48
189
Die Frage, in welchem Verhältnis die Philosophie zu den traditionellen Formen der Religion steht, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiv diskutiert. Schopenhauer zeigte sich im Kapitel Ueber Religion aus dem zweiten Band der Parerga und Paralipomena zwar überzeugt, dass diejenigen, „welche wähnen, daß die Wissenschaften immer weiter /419/ fortschreiten und immer mehr sich verbreiten können, ohne daß Dies die Religion hindere, immerfort zu bestehn und zu florieren, – sind in einem großen Irrthum befangen. Physik und Metaphysik sind die natürlichen Feinde der Religion, und daher diese die Feindin jener, welche allezeit strebt sie zu unterdrücken, wie jene sie zu unterminiren. Von Friede und Uebereinstimmung Beider reden zu wollen ist höchst lächerlich: es ist ein bellum ad internecionem [sc. Vernichtungskrieg]. Religionen sind Kinder der Unwissenheit, die ihre Mutter nicht lange überleben. […] So ist es denn augenscheinlich, daß nachgerade die Völker schon damit umgehn, das Joch des Glaubens abzuschütteln: die Symptome davon zeigen sich überall, wiewohl in jedem Lande anders modifizirt. Die Ursache ist das zu viele Wissen, welches unter sie gekommen ist. Die sich täglich vermehrenden und nach allen Richtungen sich immer weiter verbreitenden Kenntnisse jeder Art erweitern den Horizont eines jeden, je nach seiner Sphäre, so sehr, daß er endlich eine Größe erlangen muß, gegen welche die Mythen, welche das Skelett des Christenthums ausmachen, dermaaßen einschrumpfen, daß der Glaube nicht mehr daran haften kann. Die Menschheit wächst die Religion aus, wie ein Kinderkleid; und da ist kein Halten; es plagt. Glauben und Wissen vertragen sich nicht wohl im selben Kopfe; sie sind darin wie Wolf und Schaaf in Einem Käfig; und zwar ist das Wissen der Wolf, der den Nachbar aufzufressen droht.“ (Schopenhauer 1873–1874, 6, 418 f.) Dieses scheinbar eindeutige Statement gegen die Vereinbarkeit von Religion und Philosophie hat freilich Philosophen noch Jahrzehnte später nicht daran gehindert, zu fragen, worin denn die „Bedeutung Schopenhauers für die religiöse Entwickelung“ (Volkelt 1900, 353) liege – eine Frage, die N.s Freund Franz Overbeck in Rage bringt, gehe sie doch Schopenhauer „nichts an, er dürfte sie einfach ablehnen“ (Overbeck in seinem Kirchenlexicon, ediert in Sommer 1997, 141; zu Overbecks Auseinandersetzung mit Volkelt Sommer 2000c, 204 f.). Selbst wenn man jedoch Schopenhauers Unvereinbarkeitsthese aus den Parerga für verbindlich halten sollte, folgt daraus beileibe nicht, dass Philosophie nicht doch als „Ersatz der Religion“ auftreten könnte, nämlich dann, wenn sie tatsächlich dasselbe Bedürfnis adressieren. Und genau dies hat Schopenhauer ja dort behauptet, wo er ausgiebig über das anthropologisch angeblich universelle ‚metaphysische Bedürfnis‘ spricht. MA I 26 hatte dieses Bedürfnis schon ausgiebig thematisiert und zurückgewiesen, siehe NK 47, 6–25. MA I 27 schreitet nun zur Historisierung menschlicher Bedürfnisse überhaupt fort und sieht eine offensichtlich privilegierte Möglichkeit der Philosophie gerade darin, falsche Bedürfnisse zu entlarven und damit
190
Menschliches, Allzumenschliches I
zu beseitigen, anstatt sie künstlich am Leben zu erhalten. Überlegungen zur Philosophie als „Ersatz der Religion“ tauchen in der zeitgenössischen Diskussion aber auch im Kontext moderner naturalistischer Weltanschauungen auf. So behandelt Rudolf Schmid David Friedrich Strauß’ Alten und neuen Glauben, Oscar Schmidts Descendenzlehre und Darwinismus und Ernst Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte unter der Überschrift „Ersatz der Religion durch eine religiöse Verehrung des Universums“ (Schmid 1876, 174–177). Und vor allem Eugen Dühring treibt das Religionsersatzproblem um – obwohl gerade er in seinem Buch Der Werth des Lebens populär dargestellt die prinzipielle Differenz von Religion und Philosophie herausstreicht: „Wir haben nach keinem Religionssurrogat zu suchen, wie Philosophen nach Art eines August Comte gethan haben. Sogar das Wort Ersatz erhält in Anwendung auf die Religion leicht einen falschen Sinn. Nicht die bisherige Religion ist etwa durch eine bessere zu ersetzen; denn dies würde heissen, die Religion als eine bleibende Bethätigungsart des menschlichen Geistes anerkennen; es ist vielmehr die ganze Gattung selbst aufzugeben, und es kann demgemäss von einem Ersatz nur in Beziehung auf diejenigen Bestandtheile geredet werden, die, wie die sachlichen Seiten der Weltanschauung und der Sittenlehre, zwar in falscher Gestaltung mit der Religion verbunden, aber doch in ihrer wahren Beschaffenheit nicht selbst Religion sind. Wenn wir also /276/ sagen, dass eine volksmässige Wahrheits- und Weisheitslehre den Platz der Religion einzunehmen habe, so meinen wir hiemit nicht etwa wiederum etwas Religionsartiges, sondern im Gegentheil etwas mit dem Kern aller Religion Unverträgliches.“ (Dühring 1877, 275 f.; die Passage fehlt in der Ausgabe Der Werth des Lebens von 1865, die N. besaß.) Hier wird, so sehr Dühring bei der Anwendung der Ersatzterminologie zögert, genau jenes Schema aktiviert, das MA I 27 problematisiert – und unter dem schließlich wieder getilgten, direkten Bezug auf Philipp Mainländer entwickelt, siehe NK 48, 2–4. 48, 2–4 Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion für das Volk hinstellt.] In Mp XIV 1, 45 heißt es stattdessen: „Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man wie Ph. Mainländer ˹es von Sch.[openhauer]s Philo. thut˺, sie als Ersatz der Religion für das Volk hinstellt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,45) Offenkundig handelt es sich um folgende Passage in Mainländers Philosophie der Erlösung, auf die hier angespielt wird: „Die schönste Blüthe oder besser: die edelste Frucht der S c h o p e n h a u e r’schen Philosophie ist die Ve r n e i n u n g d e s W i l l e n s z u m L e b e n. Man wird immer mehr erkennen, daß erst auf Grund dieser Lehre ernstlich davon die Rede sein kann, die Philosophie an die Stelle der Religion treten, sie bis in die untersten Schichten des Volkes eindringen zu lassen. Was hat die Philosophie v o r S c h o p e n h a u e r dem nach Erlösung laut rufenden Herzen des Menschen geboten? Entweder erbärmliche Hirngespinnste über Gott,
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 27, KSA 2, S. 48
191
Unsterblichkeit der Seele, Substanz, Accidenzien, kurz einen S t e i n; oder sorgfältige, sehr scharfsinnige, durchaus nothwendige Untersuchungen /560/ des Erkenntnisvermögens. Aber was fragt der Mensch in Momenten des Erstaunens über sich selbst, wann die Besinnung die Oberhand gewinnt und eine leise traurige Stimme in ihm spricht: / Ich leb’ – und weiß nicht wie lang; / Ich sterb’ – und weiß nicht wann; / Ich fahr’ – und weiß nicht wohin; / nach den subjektiven Formen, Raum und Zeit, nach dem Causalitätsgesetz und der Synthesis eines Mannigfaltigen der Anschauung? Das Herz will etwas haben, woran es sich anklammern kann, einen unerschütterlichen Grund im Sturm des Lebens, Brod und wieder Brod für seinen Hunger. Weil das Christenthum diesen Hunger stillte, mußte die griechische Philosophie, im Kampf mit ihm, unterliegen, und weil das Christenthum einen unerschütterlichen Grund gab, wann Alles wankte und zitterte, während die Philosophie der Schauplatz unfruchtbaren Gezänkes und wüthenden Kampfes war, warfen sich oft die hervorragendsten Geister, flügellahm und matt, in die Arme der Kirche. Aber man kann jetzt nicht mehr glauben, und weil man nicht mehr glauben kann, wirft man mit den Wundern und Mysterien der Religion ihren unzerstörbaren Kern fort: die Heilswahrheit. […] Diesen unzerstörbaren Kern der christlichen Religion hat nun S c h o p e n h a u e r mit starker Hand ergriffen und in den Tempel der Wissenschaft, als heiliges Feuer, gebracht, welches als neues Licht für die Menschheit hervorbrechen und sich über alle Länder ausbreiten wird, denn es ist so beschaffen, daß es Einzelne und Massen begeistern und ihre Herzen in helle Flammen versetzen kann. / Dann wird die Religion ihren Beruf erfüllt und ihre Bahn durchlaufen haben: sie kann dann das bis zur Mündigkeit geleitete Geschlecht entlassen, selbst aber in Frieden dahinscheiden. Dies wird die Euthanasie der Religion sein. (Parerga II. 361. [sc. Schopenhauer 1873–1874, 6, 361]) / Aber die Verneinung des Willens zum Leben, diese herrlichste Frucht der Philosophie S c h o p e n h a u e r ’ s, muß erst vor ihm selbst in Sicherheit gebracht werden, denn er greift sein Kind beständig an und bedroht sein Leben.“ (Mainländer 1876, 559 f.) Ebenso wie den Namen Mainländers lässt MA I 27 den sehr spezifischen Kontext seiner philosophischen Religionsersatzlehre, nämlich die „Heilswahrheit“ der Willensverneinung, nicht nur beiseite, sondern stellt dann gerade die für Mainländer allgemein menschliche „Sorge um das Heil“ (48, 14) als eine höchst kontingente Sorge heraus, die Philosophie besser nicht befriedigen, sondern aus dem Weg räumen solle. Mainländer hingegen gab sich überzeugt, dass die Willensverneinungslehre als Philosophie selbst die „untersten Schichten des Volkes“ erreichen könne. 48, 4–8 In der That bedarf es in der geistigen Oekonomie gelegentlich überleitender Gedankenkreise; so ist der Uebergang aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer, gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist.] KGW IV 4, 173 verweist auf NL 1876/77, KSA 8, 21[74], 377, 7 f.: „Aus einem metaphysischen
192
Menschliches, Allzumenschliches I
Zeitalter in ein realistisches [+] ist ein tödtlicher S〈prung〉 Übergänge [+]“. Bei diesem Notat, das manchen Interpreten zu tiefsinnigen Interpretationen Anlass gab (vgl. z. B. Heller 1972b, 360 f.), handelt es sich um die Umkehrung einer gegen Kant gerichteten Passage in Dührings Kritischer Geschichte der Philosophie, wo es heißt: „Es sind nicht erst die Bestrebungen der spätern Zeit gewesen, die dem Verstande in seiner entscheidenden Thätigkeit auf sich selbst zu verzichten zugemuthet haben, – es ist vielmehr schon der Verfasser der Kritik der reinen Vernunft als der Urheber einer Wendung anzusehen, durch welche nichts Geringeres gefordert wird, als dass der theoretische Verstand ein Saltomortale /400/ in die Arme jenes erdichteten Etwas machen solle, welches von Kant als praktische Vernunft bezeichnet wird und in Wahrheit nichts als ein Geschöpf seines moralischen Mysticismus ist. Dieser tödtliche Sprung, durch den der Verstand ein für alle Mal abtreten und der sogenannten praktischen Vernunft die metaphysische Arena überlassen soll, ist eine der naivsten Zumuthungen, die jemals an Männer gerichtet werden konnte, bei denen dialektische Fähigkeit vorausgesetzt wurde.“ (Dühring 1873b, 399 f.) Dass der Sprung aus der Religion in die Wissenschaft gefährlich, ja tödlich sein kann, stand N. am Beispiel Philipp Mainländers, der ersten Inspirationsquelle von MA I 27 (vgl. NK 48, 2–4), wohl plastisch vor Augen: Am 1. April 1876 erhängte sich Mainländer in seiner Offenbacher Wohnung, mit einem Sprung von einem Stapel der gerade aus der Druckerei eingetroffenen Bände seiner Philosophie der Erlösung. 48, 5 überleitender] In Mp XIV 1, 45 stattdessen: „überleitender“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,45). 48, 12–14 Man denke zum Beispiel an die christliche Seelennoth, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil] „Seelennoth“ – bei N. sonst nur noch in NL 1880, KSA 9, 7[8], 318, 14 sowie im Plural in M 14, KSA 3, 28, 8 f. belegt – und „Seufzen“ gehören zum Grundvokabular namentlich protestantisch-pietistischer Frömmigkeitszeugnisse in Lyrik und Liedgut. 48, 18 auch b e f r i e d i g t] In Mp XIV 1, 45 stattdessen: „auch befriedigt“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,45). 48, 19–21 denn es sind angelernte, zeitlich begränzte Bedürfnisse, welche auf Voraussetzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen] Freilich liefert MA I 27 kein Kriterium dafür, welche Bedürfnisse angelernt und zeitlich begrenzt sind und welche nicht. Gibt es überhaupt spezifisch menschliche Bedürfnisse – abgesehen von den allgemein animalischen, beispielsweise der Nahrungs- oder Sauerstoffbedürftigkeit –, die der zeitlichen Begrenzung enthoben sind? Wie und woher will man das angesichts der perspektivischen Bedingtheit vermutlich auch unserer Bedürfniserkennung wissen? Wären Bedürfnisse, die nicht auf „Voraus-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 27, KSA 2, S. 48
193
setzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen“, gerechtfertigt? Und wer legt fest, welche Bedürfnisse Voraussetzungen haben, die denen der Wissenschaft widersprechen? 48, 21–26 Hier ist, um einen Uebergang zu machen, die K u n s t viel eher zu benutzen, um das mit Empfindungen überladene Gemüth zu erleichtern; denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten, als durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen.] In NL 1877, KSA 8, 22[26], 384, 11 f. heißt es: „Übergang von Religion zu Kunst mit ‚unreinem Denken‘, ‚unlogische Stellung zur Welt‘“ – ein Motiv, das dann in MA I 31, KSA 2, 51, 15 f. wiederkehrt – und das N. insbesondere in seiner Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen heranzieht, um die Entstehung des Kultus aus „unreine[m] Denken“ abzuleiten (KGW II 5, 364, 32 f.). In Mp XIV 1, 45 lautete die ursprüngliche Fassung vor einigen Korrekturen: „Hier ist die Kunst sehr zu benutzen, um das geladene Gemüth zu erleichtern, ohne daß zugleich jene Vorstellungen gestärkt werden; die Kunst dient einer solchen befreienden Philosophie als überleitendes Mittel. Und überhaupt, um ein Goethisches Wort, mit kleiner Veränderung, anzuwenden: ‚wer Wissens. u. Kunst besitzt, der braucht nicht Religion‘“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,45; der letzte, später wiederum durchgestrichene Satz mit dem Zitat scheint angesichts des anderen Schriftbilds nachträglich hinzugefügt worden zu sein). Das originale Zitat aus Goethes Zahmen Xenien lautet: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt / Hat auch Religion; / Wer jene beiden nicht besitzt, / Der habe Religion.“ (Goethe 1853–1858, 3, 119) Anzitiert wird der Vers auch in NL 1877, KSA 8, 22[54], 388, 6, vgl. überdies NK ÜK MA I 486 u. Thönges 1993, 74 f. Die Fügung „philosophische Wissenschaft“ fehlt in der ursprünglichen Fassung, sie kehrt in MA I nur noch in Abschnitt 261 wieder (216, 28 f.), wo es freilich spezifisch um die Entwicklung einer solchen „philosophischen Wissenschaft“ im antiken Griechenland geht. MA I 27 nimmt eine Engführung von Philosophie und Wissenschaft vor, die konsequent die Linie einer wissenschaftlich operierenden Philosophie in den ersten Abschnitten von MA I auszieht – wobei MA I 27 von dieser Philosophie eben jene alte metaphysische Philosophie unterscheidet, die Antworten auf die alten Fragen der Religion zu geben und deren Bedürfnisse zu befriedigen sucht. Dass der „Uebergang aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung“ (48, 6 f.) ein gefährliches Unterfangen, ein „Sprung“ (48, 7) mit erheblicher Absturzgefahr sei, hat der Anfang von MA I 27 herausgestellt – im Fortgang dann ebenso, dass eine metaphysische Philosophie nicht tauglich sei, diesen Übergang zu bewerkstelligen, weil sie eben auf die alten, kontingenten und überlebten Bedürfnisse ausgerichtet sei. Für denselben „Uebergang“ (48, 21) führt nun das Ende des Abschnitts die Kunst ins Feld. Als Übergangshelferin federt sie offensichtlich den
194
Menschliches, Allzumenschliches I
Sprung ab, weil sie im Unterschied zur metaphysischen Philosophie, die die Last der überkommenen (und eigentlich abzutuenden) Bedürfnisse beibehält, um ihre eigene Daseinsberechtigung zu beweisen, der Abspannung, der Erleichterung dient. Die Kunst gewinnt damit zwar immerhin eine erhebliche soziale oder sozialpsychologische Bedeutung, aber doch nur als Steigbügelhalterin der Wissenschaft und ihrer Welt – eine Instrumentalisierung der Kunst, die sich gegen Schopenhauers und Wagners Kunstapotheose in gleichem Maße richtet. Dabei wird die (philosophische) Wissenschaft, zunächst wenigstens, von einer Selbstkritik ausgenommen und im Unterschied zur Kunst als Selbstzweck präsentiert. Bemerkenswert im Zusammenhang mit MA I 27 und der hier behaupteten Erleichterungsfunktion der Kunst ist NL 1876, KSA 8, 19[99], 354, 9–25: „Aristoteles meint, durch die Tragödie werde das Übermaß am Mitleide und Furchtsamkeit entladen, der Zuhörer kehre k ä l t e r nach Hause zurück. Plato meint dagegen, er sei rührseliger und ängstlicher als je. – Plato’s Frage über die moralische Bedeutung der Kunst ist noch nicht wieder aufgeworfen. Der Künstler braucht die Entfesselung der Leidenschaft. Wir lassen uns die Leidenschaften, welche der athenische Komiker bei seinen Zuhörern entladen will, kaum mehr gefallen: Begierde Schmähsucht Unanständigkeiten usw. Thatsächlich ist Athen weichlich geworden. Als Ersatz der Religion kann die Kunst nicht gelten: denn für den, welcher vollendet hat, ist sie überflüssig, für den, welcher im Kampf ist, kein Ersatz der Religion, sondern höchstens eine Beihülfe der Religion. – Vielleicht ist ihre Stellung so, wie sie Mainländer nimmt, eine Beihülfe der Erkenntniß, sie läßt den Frieden und den großen Erfolg der Erkenntniß von ferne wie blaue Berge sehen. Ersatz der Religion ist nicht die Kunst, sondern die Erkenntniß.“ Hier erscheint das in MA I 27 entwickelte Verhältnis gerade umgekehrt; der Sprecher scheint sich in diesem Notat mit Mainländers Idee von Philosophie als Religionsersatz anfreunden zu wollen und die Kunst gerade nicht als Erleichterungs-, sondern als Affektsteigerungsmittel unter Verdacht zu nehmen.
28. Der erste Satz nach dem Titel hat in MA I 28 – dazu die ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 22 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,22) – die grammatikalische Form eines Befehls und den semantischen Charakter einer dringenden Aufforderung zur philosophischen Vokabularbereinigung: Man solle von den „verbrauchten Wörtern Optimismus und Pessimismus“ (48, 29) Abschied nehmen, sei doch die Geschäftsgrundlage ihres Gebrauchs entfallen. (Gemeint ist mit „Pessimismus“ oder „Optimismus“ in MA I 28 nicht nach alltagssprachlichem Verständnis eine Auffassung des eigenen Lebens, die entweder dessen negative oder dessen positi-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 27–28, KSA 2, S. 48
195
ve Seiten betont, sondern eine spezifische metaphysische Position, nämlich, dass die Welt die schlechteste oder die beste aller möglichen W sei. Vgl. auch Dühring 1875a, 345–347, letzte Seite von N. mit Eselsohr markiert.) Wer würde denn noch Optimist sein wollen, wenn er keinen Gott mehr zu verteidigen hat, der vermeintlich die beste aller möglichen Welten geschaffen habe – also (ohne dass dies eigens namhaft gemacht würde) ein Anhänger des von Leibniz initiierten Theodizee-Modells? Da aber kein „Denkende[r]“ (49, 3) der Gotteshypothese noch bedürfe, entfällt für ein solches Verteidigungsbemühen die weltanschauliche Voraussetzung. Allerdings gilt das in analoger Weise auch für diejenigen, die pessimistisch (im Gefolge des ebenfalls nicht namhaft gemachten Schopenhauer) glauben, sie lebten in der schlechtesten aller möglichen Welten. Denn auch sie könnten diesen Glauben eigentlich nur hegen, wenn sie „den Theologen oder den theologisirenden Philosophen“ (49, 7 f.) ärgern wollten – aber wer kümmere sich noch um Theologen? Vielmehr sei die Welt, jenseits aller Theologie, weder gut noch böse, auch nicht im jeweiligen Superlativ, da diese Begriffe „nur in Bezug auf Menschen Sinn haben“ (49, 16). MA I 28 kombiniert Begriffskritik mit historischem Philosophieren, dem zufolge bestimmte philosophische Sprachspiele nur unter bestimmten historischen Konstellationen bedeutungsvoll sind – etwa unter der lange philosophischerseits für notwendig erachteten Konkordanz mit der Theologie (bei Leibniz) oder der für ebenso notwendig erachteten Abwehr theologischer Anmaßung (bei Schopenhauer). Damit findet stillschweigend eine Revision früher geäußerter Ansichten statt, hatte N. doch mit Schopenhauer im Handgepäck gegen David Friedrich Strauß den Vorwurf erhoben, Anhänger des Optimismus als einer „ruchlosen Denkungsart“ zu sein (UB I DS 6, KSA 1, 192, 25; vgl. NK KSA 1, 192, 18–23 u. NK KSA 1, 193, 2–8), während Strauß seinerseits den Pessimismus der Ruchlosigkeit bezichtigt hatte (vgl. Sommer 1996). Nun erweisen sich Optimismus und Pessimismus unter posttheologischen und postideologischen Rahmenbedingungen als gleichermaßen überdehnte und untaugliche Beschreibungsversuche der Wirklichkeit – selbst der in N.s Frühwerk hochgerühmte und vielfach variierte Pessimist hat bestenfalls noch als Gegner theologischer Selbstgefälligkeit, sozusagen als Parasit eines theologischen Diskurses, eine soziale Funktion. Damit demonstriert MA I 28 den Distanzierungsgewinn durch historische Begriffsarbeit, nämlich die Wandelbarkeit scheinbar prinzipieller metaphysischer Bedürfnisse, wie sie MA I 27 herausstellen wollte, an einem konkreten Beispiel, eben dem eines metaphysisch verstandenen Optimismus bzw. Pessimismus. Sie werden depotenziert mithilfe eines radikalen moralischen Relativismus, für den es Werturteile nur im Hinblick auf uns Menschen gibt. Das Motiv, dass wir als Menschen in unserer perspektivischen Befangenheit nicht imstande seien, den Wert der Welt oder des Lebens abzuschätzen, zieht sich auch durch N.s spätere Werke, siehe z. B. NK KSA 5, 132, 26–29, NK KSA 6, 68, 10–19 u. NK KSA 6, 68, 19–23.
196
Menschliches, Allzumenschliches I
In einer sehr langen, exzerpt- und kritikartigen Aufzeichnung hat sich N. im Sommer 1875 mit Eugen Dührings Der Werth des Lebens auseinandergesetzt und im Zuge dessen die Frage von Optimismus und Pessimismus ausgiebig erörtert (NL 1875, KSA 8, 9[1], 131–181; vgl. im Blick auf MA I 28 auch Heller 1972b, 374– 377). „Ob diese Welt die beste sei, ist eine absurde Frage: wir haben gar keine Vorstellung von verschiedenen Möglichkeiten.“ (NL 1875, KSA 8, 9[1], 134, 9 f.) Bei Dühring hatte es geheißen: „Das Ergebniss unsrer Betrachtungen wird weder eine optimistische noch eine pessimistische Lebensansicht sein. Der metaphysische Optimismus ist wie alle metaphysische Einsicht nur der Schein einer Erkenntniss. Ob diese Welt die beste unter den möglichen sei, ist eine Frage, welche bereits als Frage den menschlichen Verstand vergisst. Wir haben gar keine Vorstellung von verschiedenen Möglichkeiten, ja nicht einmal von der Möglichkeit solcher Möglichkeiten, und es ist daher ein wunderliches Unternehmen, diese thatsächliche Welt durch das Schlechtere empfehlen zu wollen, was etwa an ihrer Statt hätte werden müssen. Der gemeine Optimismus dagegen ist ein so werthloser Begriff, dass es kaum lohnt, sich gegen ihn zu richten. Er wird von der gemeinen Erfahrung alle Tage gebührend gerichtet, und es wird einem Menschen, der die wesentlichen Charaktere des Lebens kennt, nicht leicht einfallen, sich in den Declamationen jenes Lebenspanegyrikers zu berauschen.“ (Dühring 1865, 9) Dühring 1865 und mit ihm N. 1875 stellen sich jedoch noch ernstlich jenen metaphysischen Fragen, die MA I 28 dann 1878 sprachkritisch und historisierend distanziert: „der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in jedem Falle entschlagen“ (49, 18 f.), während Dühring 1865, 9 unmittelbar nach der zitierten Stelle zu Protokoll gibt: „Es kommt nicht darauf an, die Vorstellung der wahren Uebel zu fliehen und sich so einer leichten, aber auch unhaltbaren Täuschung hinzugeben, sondern es müssen die widrigen Seiten des Daseins in der Harmonie des Ganzen ihre Beleuchtung finden.“ Vom berühmtesten Harmonie-Denker Leibniz grenzt sich Dühring dann aber schroff ab, siehe NK 48, 32–49, 4. Zu MA I 28 vgl. z. B. auch Wein 1972, 368, Venturelli 1986, 115 (= Venturelli 2003, 211) u. Tietz 2012, 341–343. 48, 28 Weg] In Mp XIV 1, 22 stattdessen: „Hinweg“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,22). 48, 31 so unumgänglich] Fehlt in Mp XIV 1, 22. 48, 32–49, 4 Denn wesshalb in aller Welt sollte Jemand Optimist sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu vertheidigen hat, welcher die beste der Welten geschaffen haben muss, falls er selber das Gute und Vollkommene ist, – welcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch nöthig?] Gottfried Wilhelm Leibniz hat in seinen Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme, et l’origine du mal von 1710 den Gedanken, dass ein vollkommener Schöpfergott nur die
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 28, KSA 2, S. 48–49
197
beste aller möglichen Welten geschaffen haben kann, ausführlich entwickelt, um so Gott angesichts der offensichtlichen Übel in der Welt zu rechtfertigen. Selbst hat Leibniz dafür das Wort „Optimismus“ nicht verwendet; vielmehr handelte es sich ursprünglich um eine polemische Prägung französischer Jesuiten gegen Leibniz im Journal de Trévoux von 1737; das Wort hat dann allmählich seine kritische Konnotation verloren und sich positiviert. Vom Optimum hatte Leibniz aber sehr wohl gesprochen, ebenso von der besten aller möglichen Welten, die die absolut beste Welt sei (Essais de Theodicée III, § 416). N. hat freilich keine Leibniz-Originallektüre getrieben, sondern sich die Grundzüge von dessen Metaphysik sekundär vermitteln lassen, neben philosophiehistorischen Handbüchern namentlich über Leibniz’ Widersacher Schopenhauer (vgl. NK 49, 4–15) und wohl auch Voltaire (Candide ou l’optimisme, 1759). In seiner von N. gelesenen Kritischen Geschichte der Philosophie rückt Dühring Leibniz’ Unternehmen wie MA I 28 in einen theologischen Interessenshorizont ein: „Durch seinen Einfluss auf die mit dem Preussischen Herrscher verheirathete Sophie Charlotte wurde es Leibniz möglich (1700) die Stiftung der Berliner Akademie zu veranlassen und abwesender Präsident dieses Instituts zu werden. Um die Glaubenszweifel der erwähnten Dame, die sich durch Bayles Ausführungen beunruhigt fand, zu beschwichtigen und den Verstand mit dem Glauben zu vereinbaren, verfasste er die 1710 als ‚Théodicée‘ (Rechtfertigung Gottes) herausgegebene Schrift, die das, was man metaphysisch als Optimismus zu bezeichnen pflegt, in einer philosophirenden Theologie darlegt.“ (Dühring 1873b, 337) In der folgenden Auslassung über Leibniz benutzt Dühring auch die dann in 49, 6 f. wiederkehrende Advokaten-Metapher, indem er Leibniz die optimistische Originalität abspricht: „Den schwächlichen Optimismus, demzufolge der Gegenstand der Leibnizschen Gottesvorstellung unter allen möglichen Welten die allerbeste zu Stande gebracht haben soll, – diese sicherlich nicht von einer edler aufstrebenden Gesinnung zeugende Vorstellung würden wir gern dem Verfasser der Theodicee als volles Eigenthum überlassen und die schwachen Seiten anderer Philosophien mit der unrühmlichen Urheberschaft verschonen, wenn es die wahre Sachlage nur gestattete. Allein Leibniz hat in dem Optimismus seiner Theodicee nur die Form in Anspruch zu nehmen, insofern er sich als so zu sagen diplo-/340/matischen Advocaten auch hier kundgab und sich dem Gegenstande seiner Gottesvorstellung so zur Seite stellte, als wenn es sich um irgend eine Streitigkeit des Privatfürstenrechts gehandelt hätte. Uebrigens war der Optimismus, aber in einer edleren und entweder gar nicht, wie bei Bruno, oder weit weniger Anstoss erregenden Gestalt, wie bei Spinoza, von allen in der neuern Zeit die Naturtotalität affectiv auffassenden Denkern vertreten worden.“ (Ebd., 339 f.) Vgl. zur besten aller möglichen Welten auch NK KSA 4, 243, 28 f. 49, 3 f. welcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch nöthig?] In Mp XIV 1, 22 stattdessen: „welcher Denkende glaube aber an einen Gott?“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,22)
198
Menschliches, Allzumenschliches I
49, 4–15 Es fehlt aber auch jeder Anlass zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss, wenn man nicht ein Interesse daran hat, den Advocaten Gottes, den Theologen oder den theologisirenden Philosophen ärgerlich zu werden und die Gegenbehauptung kräftig aufzustellen: dass das Böse regiere, dass die Unlust grösser sei, als die Lust, dass die Welt ein Machwerk, die Erscheinung eines bösen Willens zum Leben sei. Wer aber kümmert sich jetzt noch um die Theologen – ausser den Theologen? – Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist] In GT 25 hat N. noch durchaus mit der von Schopenhauer in pointierter Abgrenzung zu Leibniz postulierten Idee geliebäugelt, dass wir in der schlechtesten aller möglichen Welten leben, wenn er auch dafür eine ästhetische Rechtfertigung in Anschlag brachte, vgl. NK KSA 1, 154, 29–32. Im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung (4. Buch, Kapitel 46) heißt es: „Sogar aber läßt sich den handgreiflich sophistischen Beweisen L e i b n i t z e n s, daß diese Welt die beste unter den möglichen sei, ernstlich und ehrlich der Beweis entgegenstellen, daß sie die s c h l e c h t e s t e unter den möglichen sei. Denn Möglich [sic] heißt nicht was Einer etwan sich vorphantasiren mag, sondern was wirklich existiren und bestehen kann. Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie seyn mußte, um mit genauer Noth bestehen zu können: wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen. Folglich ist eine schlechtere, da sie nicht bestehen könnte, gar nicht möglich, sie selbst also unter den möglichen die schlechteste.“ (Schopenhauer 1873–1874, 3, 669) 49, 6 f. den Advocaten Gottes] Der Einschub fehlt in Mp XIV 1, 22. „Anwalt Gottes“ oder „advocatus dei“ ist die populäre Bezeichnung für den Fürsprecher in einem katholischen Selig- oder Heiligsprechungsprozess, dem als Gegner des Ansinnens der „advocatus diaboli“, der „Anwalt des Teufels“, opponiert. Den lateinischen Begriff „advocatus dei“ braucht N. in JGB 34, vgl. NK KSA 5, 52, 22–30. Zu Dührings Gebrauch der Advokaten-Metapher im Blick auf Leibniz siehe NK 48, 32–49, 4. 49, 7 f. oder den theologisirenden Philosophen] Fehlt in Mp XIV 1, 22. 49, 11 jetzt] Fehlt in Mp XIV 1, 22. 49, 15 f. „gut“ und „böse“] Fehlt in Mp XIV 1, 22.
29. MA I 29 – zu dem sich eine ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 215 findet, mit blauem Farbstift nachträglich unter „Cultur“ rubriziert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,215) – lässt auf seine Lesenden (wie schon MA I 20) in desillusionieren-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 28–29, KSA 2, S. 49
199
der Absicht ein Metapherngewitter niedergehen. Am Anfang steht die Gleichsetzung der „Menschheit“ mit einem „Schiff“ (49, 22), von dem man meine, es habe größeren „Tiefgang“, je stärker es „belastet“ (49, 23) werde. Die metaphorische Suggestion ist, dass dies den Kurs des Schiffes, die Richtung, die die Menschheit nimmt, verlässlicher und sicherer mache. Das nautische Bild wird freilich gleich konterkariert und aufgehoben durch ein zweites, das bei der Tiefe im „Tiefgang“ ansetzt: „[M]an“ meine, „je tiefer der Mensch denkt“ (49, 23 f.), desto „näher“ (49, 27) komme er echter Welterkenntnis. Das tue, konzediert die Sprechinstanz, der Mensch auch tatsächlich mit der „Wissenschaft“ (49, 28 f.), nicht jedoch, wie er wähne, mit „Religionen und Künste[n]“ (49, 29 f.). Tiefe erscheint also keineswegs als Garant für Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Denkens – wobei offenbleibt, was Tiefe im Denken überhaupt ausmacht und ob diese Tiefe mehr ist als die gespreizte Anmaßung all der metaphysischen Denker, die mit der Behauptung der Tiefe ihre ungedeckten Schecks auf allerlei Hinterwelten meinten absichern zu können. Jedenfalls werden die Religionen und Künste gleich zur Basis eines neuen Metaphernfeldes, das bereits in der Titelzeile von MA I 29 aufgerufen wurde: „V o m D u f t e d e r B l ü t h e n b e r a u s c h t.“ (49, 21) Zwar seien Religionen und Künste „eine Blüthe der Welt“ (49, 30) – offensichtlich also nicht die einzige –, damit aber der Weltwurzel nicht näher als „der Stengel“ (49, 32). Mit ihrer Hilfe könne man das, was die Welt eigentlich ausmacht, nicht „besser“ (50, 1) begreifen – nicht „besser“ als mit irgendeiner anderen menschlichen Aktivität. Es sei, wird das botanische Metaphernfeld wieder gebrochen, vielmehr „[ d ] e r I r r t h u m“ (50, 2) gewesen, der diese Blüte der Religionen und Künste hervorgebracht habe (vgl. NL 1876/77, KSA 8, 23[125], 447 f.) – „reine[s] Erkennen“ (50, 4) hätte das nicht vermocht (und dieses selbst, d. h. Wissenschaft, scheint auch kein Irrtumsprodukt gewesen zu sein, obwohl doch zweifellos späte Blüte menschlicher Entwicklung). Bei dieser Behauptung bleibt freilich offen, woher der Sprecher sein eigenes Wissen bezieht, dass der Irrtum eine derartige Blütenhervorbringungskraft besitzt und dass diese dem „reinen“, also wohl wissenschaftlichen Erkennen abgeht – und woher er so sicher sein kann, dass, „[w]er uns das Wesen der Welt enthüllte, […] uns Allen die unangenehmste Enttäuschung“ (50, 5 f.) bereiten würde. Nähme man diesen Satz als Tatsachenbehauptung, setzte er voraus, was er nicht ernstlich voraussetzen kann, dass nämlich der Sprecher weiß, was das „Wesen der Welt“ ist, um für seine Enthüllung „Enttäuschung“ prognostizieren zu können. Dass die Welt nur „als Vorstellung“, nicht aber „als Ding an sich“ (50, 6 f.) glücksverheißend, „bedeutungsreich, tief“ (50, 8) sei, setzt streng genommen ebenfalls ein Wissen voraus, das haben zu wollen nach den metaphysikkritischen Abbrucharbeiten der vorangehenden Abschnitte niemand mehr geltend machen kann. Diesen Umstand übergeht der Sprecher jedoch geflissentlich, um
200
Menschliches, Allzumenschliches I
stattdessen das zuletzt Vorgebrachte, nämlich den Mangel an Bedeutungstiefe der Welt als Ding an sich und den Bedeutungsreichtum der Welt als Vorstellung, als „Resultat“ (50, 9) zu präsentieren, das zu einer „Philosophie der l o g i s c h e n W e l t v e r n e i n u n g“ (50, 9 f.) führe, die sich freilich mit „praktische[r] Weltbejahung“ (50, 11) ebenso verbinden lasse wie mit praktischer Weltverneinung. In einem Nachlassnotat im Arbeitsheft W I 7, das wohl aus dem Jahr 1885 stammt und zu einigen Skizzen einer Vorrede zu einer Neuausgabe von MA gehört (sie sind zusammengefasst in NL 1885, KSA 11 40[65], 663–666, obwohl die Texte im Heft an unterschiedlichen Orten stehen), heißt es: „˹Das˺ Mein persönliches Ergebniß ˹von alledem˺ war damals (M Allzu p. 31), wie ich es bezeichnete die logische Welt-Verneinung: nämlich das Urtheil, daß die Welt, die uns überhaupt etwas angeht, falsch sei. ‚Nicht die Welt als Ding als sich – diese ist leer, sinn-leer u des ˹eines homerischen˺ Gelächters würdig! – sondern die Welt als Irrthum ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück u Unglück im Schooße tragend‘: – ˹so dekretirte ich damals˺ Die ‚Überwindung der Metaphysik‘, ‚eine Sache der höchsten Anspannung der ˹aller˺ menschl. Besonnenheit, p. 23 war damals meine beständige Arbeit ˹machte mir beständig Noth˺ ⎣galt mir als erreicht⎦ u. wiederum noch die ˹u nämlich dadurch, daß ich mir innwendig zugleich die˺ ⎣u zugleich stelle ich die⎦ Forderung, ⎣stellte für mich⎦ gegen alles bisherige Denken der ˹für dieses überwundene˺ [Denken der] Metaphysiker ⎣insofern von daher ˹ihr˺ ‚die größte Forderung der Menschheit‘ gekommen sei⎦ den ˹einen˺ großen dankbaren Sinn festzuhalten.“ (KGW IX 4, W I 7, 16, 15–31; vgl. dazu auch Heller 1972b, 380) Retrospektiv gibt N. also eine Erklärung für das, was MA I 29 „logische Weltverneinung“ nennt, nämlich ein bestimmtes Urteil, wonach die „uns“ angehende, für „uns“ bedeutsame Welt falsch sei. Den Habitus, so zu urteilen, wird dann das Ende von MA I 34 mit einer neuen philosophischen Lebensform der affektabstinenten Heiterkeit konterkarieren: Zwangsläufig nihilistisch – N. benutzt in MA I den Ausdruck noch nicht – müssen die Konsequenzen aus dieser Urteilsweise also nicht ausfallen. „Im Vordergrund von Menschliches, Allzumenschliches stand erneut die Perspektive der Erkenntnistragödie als Folge einer Philosophie der logischen Weltverneinung, die Nietzsche als einzig mögliches Ergebnis einer kohärenten Beziehung zwischen Philosophie und Wissenschaft ansah: Nur ein intensiver Dialog zwischen Denken und Dichtung, ein gewagtes Gleichgewicht zwischen philosophischem Nihilismus und einer höheren Behauptung der Lebensfreude schienen ihm damals einen Ausweg aus einer andernfalls ausweglosen Situation darzustellen.“ (Venturelli 2003, 3) Zur logischen Weltverneinung vgl. z. B. auch Röttges 1972, 109, Venturelli 1986, 114, Politycki 1989, 136, Fn. 458, Navratil 2017, 65 u. Lehmann 2020, 88. 49, 21 f. Das Schiff der Menschheit] Die bei N. nur hier belegte, metaphorische Identifikation der Menschheit mit einem Schiff erweitert die seit der Antike be-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 29, KSA 2, S. 49–50
201
kannte Vorstellung vom Staatsschiff, die etwa Aristophanes: Vespae 29 explizit macht und Quintus Horatius Flaccus: Carmina I 14 zu einer ganzen Allegorie ausbaut (vgl. zur Metapherngeschichte des Staatsschiffs z. B. Schäfer 1972, Blumenberg 1979, 12 f. u. Peil 1986). Das Menschheitsschiff wiederum scheint eine Spezialität des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein: Die Hoffnungen auf eine völkerübergreifende Einigung der Menschen kondensierten sich gelegentlich in diesem Bild, so im Gedicht Drei Männer auf dem Dampfboot des elsässischen Schriftstellers Adolf Stöber (1810–1892): „Ständet ihr so zusammen, Europas große Nationen! / Reichtet ihr euch zum Bund also verschwistert die Hand: /185/ Siegreich flöge der Menschheit Schiff die Bahnen des Fortschritts / Unaufhaltsam dahin, allen Gewalten zum Trotz.“ (Stöber 1847, 184 f.) Auch in Heinrich Elsners deutscher Übersetzung von Victor Hugos Ode L’histoire von 1823, wo im Original berichtet wird, dass die Muse der Geschichte mit wachem Auge „le vaste vaisseau“ verfolge, wird vereindeutigt: „Folgt von Meer zu Meer ihr Blick / Dem gewalt’gen Menschheitsschiffe“ (Hugo 1841, 13, 86). Der Philosoph Ludwig Noiré (1829–1889) argumentiert in seinem Buch Die Welt als Entwicklung des Geistes: „Die Ideale aber sind der Nordstern, welcher das Schiff der Menschheit leitet auf dem unermeßlichen, schweigenden Oceane dieser Entwicklung.“ (Noiré 1874, 460) Und schon 1859 hat sich der Hegelianer Carl Ludwig Michelet (1801–1893) überzeugt gegeben, „daß das Licht der Philosophie geeignet ist, den festen Ankergrund nachzuweisen, zu dem das Schiff der Menschheit bei allen Klippen und Riffen vorbei in den sicheren Hafen segeln wird“ (Michelet 1859, 1, 24). All das Pathos, mit dem die geschichtsphilosophische Erwartung das Menschheitsschiff beladen hat, wird in MA I 29 nun unzimperlich abgetakelt: Kein vermeintlicher Tiefgang macht die ungewisse Seefahrt verlockender oder verheißungsvoller. 49, 25–28 je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint, – um so näher werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen] In Mp XIV 1, 215 hieß es ursprünglich: „der Mensch ist das Genie unter den Thieren – daß er dem wirklichen Wesen der Welt näher komme“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,215). 49, 30 f. Diese sind zwar eine Blüthe der Welt, aber durchaus nicht d e r W u r z e l d e r We l t n ä h e r] Die These, dass der moralische Mensch dem Weltwesen nicht näher stehe als der physische, wird MA I 37, KSA 2, 61, 7 f. mit einem Zitat aus Rée 1877, VII f. zu erhärten suchen. 50, 5 f. Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die unangenehmste Enttäuschung machen.] Um das mit Sicherheit sagen zu können, müsste man dieses „Wesen der Welt“ allerdings schon kennen – was der wissenschaftliche Mensch nicht tut. Die Metaphorik des Enthüllens bezieht N. dann explizit in FW Vorrede 4 sowie in FW 57 auf die freventlich enthüllte, verschleierte Statue im
202
Menschliches, Allzumenschliches I
Isis-Tempel von Sais (vgl. Plutarch: De Iside et Osiride 9 u. Schiller: Das verschleierte Bild zu Sais); dazu ausführlich NK KSA 3, 351, 34–352, 5, NK KSA 3, 352, 9–11 u. NK KSA 3, 421, 7–13. Die verhüllte Isis taucht auch in MA I 472, KSA 2, 306, 8 u. MA I 637, KSA 2, 362, 18 auf. 50, 9–12 Diess Resultat führt zu einer Philosophie der l o g i s c h e n We l t v e r n e i n u n g: welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegentheile vereinigen lässt.] Wie N. 1885 seine Fügung verstanden wissen wollte, erhellt KGW IX 4, W I 7, 16, 15–31 (zitiert in NK ÜK MA I 29). Während die Vokabel „Weltverneinung“ in der zeitgenössischen Pessimismus-Diskussion recht häufig bemüht wird (wenngleich etwa Schopenhauer sie keineswegs für sich reklamiert, seine Gegner sie ihm jedoch zuschreiben, vgl. Julius Frauenstädt in seiner Einleitung zu Schopenhauer 1873–1874, 1/1, VII u. XCVII), ist die Kombination mit der Logik augenscheinlich N.s eigene Innovation. Sie soll – wohl im Anschluss an die „Logiker“ der Zeit wie Spir (vgl. NK 38, 24–39, 2 u. NK 39, 11–17) – deutlich machen, dass die Entdeckung der mangelnden Tiefe einer Welt als Ding an sich einen radikalen Desillusionierungsprozess in Gang setzt. In der „logischen“ Verneinung wird negiert, dass die Welt irgendeine religiöse, moralische oder metaphysische Zusatzdimension, einen Hintersinn besitzt, in dem das Eigentliche, das Wesen haust. Das Logische und die Weltverneinung in enge Nachbarschaft gerückt hat aber auch schon der N. wohlbekannte Julius Bahnsen in seiner (unter N.s Büchern allerdings nicht erhaltenen) Schrift Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestalt des Metaphysischen: „Wenn wir die Wirkung des dynamisch Erhabenen empirisch ebenso wie logisch für den ersten, ursprünglichen und elementaren ästhetischen Eindruck halten dürfen, so umfasst dieser schon implicite die ganze ästhetische Antinomie in keimartiger Form und anticipirt so potentialiter deren letzte und höchste Selbstverwirklichung in der pessimistisch-humoristischen Negativität. Das Gefühl des Erhabenen ist Lust am Anblick des das Individuum Bedrohenden verhält sich aber nach Intensität und Intellectsweite zum Humoristischen etwa wie innerhalb der Schopenhauer’schen Ethik der Selbstmord zur asketischen Selbstverneinung des Quietismus. Freude an der Weltverneinung kann erst haben, wer die weite Strasse durch den ganzen eudämonologischen Schein, der zum optimistischen Wahn führt, hinter sich hat.“ (Bahnsen 1877, 7) Auch beim realdialektischen Pessimisten Bahnsen kann man also „Freude an der Weltverneinung“ empfinden. N.s Freund Overbeck hat übrigens in seiner „Zwillingsschrift“ zu UB I DS, Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, die „Seele“ des Christentums als „Weltverneinung“ identifiziert (Overbeck 1873, 70; vgl. ausführlich Sommer 1997).
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 29–30, KSA 2, S. 50
203
30. MA I 30 behandelt landläufige Fehlschlüsse, aber nicht nur, um sie zu demaskieren, sondern um sie den nicht minder fehlerbehafteten Schlüssen des „Freigeist[s]“ (50, 26) gegenüberzustellen. Auch für diese ergreift die Sprechinstanz nicht Partei. Der erste der behandelten „Irrschlüsse“ (50, 15) ist der vom Sein auf das Sollen: Bloß, weil etwas existiert, werde gefolgert, dass es mit „Recht“ (50, 16) existiere. Hier werde aus dem Faktum der „Lebensfähigkeit“ ein Schluss auf die „Zweckmässigkeit“ und von dieser einer auf die „Rechtmässigkeit“ vollzogen (50, 16–18); der Fehlschluss besteht nach dieser Rekonstruktion also in einer irrigen teleologischen Unterstellung. Der zweite Irrschluss ist der von einer beglückenden Meinung darauf, dass sie wahr und gut sein müsse. Man gehe hier davon aus, dass man die „Wirkung“ als „gut“ (in der Bedeutung von ‚nützlich‘) identifiziere, und schreite dann dazu fort, der „Ursache“ ebenfalls dieses Gut-Sein zuzuschreiben, jedoch in der Bedeutung „des Logisch-Gültigen“ (50, 20–23). Diese Fehlschlüsse zögen dann auch ihre Negationen nach sich: Wenn etwas sich nicht behaupten könne, werde es als „unrecht“ verdächtig; wenn eine „Meinung“ quäle anstatt beglücke, erscheine sie als „falsch“ (50, 25). Der „Freigeist“ nun sei sich oft der Fehlerhaftigkeit dieser Art zu schließen schmerzlich bewusst, werde jedoch leicht dazu verführt, ebenso falsche „entgegengesetzte[.] Schlüsse“ (50, 28) zu vollziehen. Es gelte ebenso wenig, dass etwas, das sich nicht „durchsetzen“ kann, deshalb „gut“ oder eine irritierende, unglücklich machende Meinung deshalb „wahr“ sei (50, 30 f.). Zu MA I 30 existiert in Mp XIV 1, 307 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,307 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,308); abgesehen von einer anderen Nummerierung des Absatzes (dort: „15.“) weicht der Text nur geringfügig vom schließlichen Drucktext ab (vgl. NK 50, 26 f. u. NK 50, 30). Im Quartheft U II 5, 133 f. gibt es eine Vorarbeit dazu, die lautet: „Die gewöhnl. Irrschlüsse des Menschen sind diese: / eine Sache existirt: also hat sie ein Recht. / eine Sache ˹Meinung˺ beglückt: also ist sie die wahre. / eine Sache kann sich nicht durchsetzen: also war sie im Unrecht. / eine Meinung quält, regt auf: also ist sie falsch. /134/ Der Freigeist unterliegt der Verführung häufig die entgegengesetzten Schlüsse zu machen / eine Sache kann sich nicht durchsetzen: also war sie gut. – eine Meinung macht Noth, beunruhigt: also ist sie wahr.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,133 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,134; vgl. mit Lesefehlern KGW IV 4, 173) MA I 30 widmet sich der Kritik von Argumentationsfiguren der Rechtfertigung, dem (gerade auch darwinistisch anmutenden) Fehlschluss, dass das, was sich durchsetze, gerechtfertigt sei. Aber auch die entgegengesetzte Annahme wird
204
Menschliches, Allzumenschliches I
als Fehlschluss zurückgewiesen – nämlich dass gut und gerechtfertigt sei, was sich gerade nicht durchsetzt. Der Abschnitt verfolgt eine antikonsequentialistische Argumentation. Folgerungsverhältnisse werden im Hinblick auf Güte und Rechtfertigung für irrelevant erklärt, ohne dass freilich erklärt würde, wie dann die Rechtfertigung und die Güte überhaupt zu Stande kommen, wenn die Folgen oder, darwinistisch, die Durchsetzungsfähigkeit nicht zählen sollen. Zur Interpretation vgl. auch Heller 1972b, 388–394. 50, 15 Irrschlüsse] Von „Irrschlüssen“ ist bei N. nur in MA I 30 die Rede – sowie in den Vorarbeiten U II 5, 133 f. u. Mp XIV 1, 307 f. Im 19. Jahrhundert kommt das Wort gelegentlich vor – häufiger im Plural als im Singular und meist in wissenschaftlichem Zusammenhang. Nach dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm ist „Irrschluss“ ein „irriger, trügerischer schlusz“ (Grimm 1854–1971, 10, 2175). In Christian Wieners Grundzügen der Weltordnung heißt es zum „Schlussvermögen“: „Es ist das Vermögen, durch die richtige Verbindung der Voraussetzungen oder Prämissen und des Schlusses ein Wohlgefühl zu empfinden. […] Wer dieses Vermögen nur in geringem Maße besitzt, ist wenig empfindlich gegen solche Erregungen und läßt sich leicht durch Irrschlüsse täuschen.“ (Wiener 1869, 305) 50, 20–22 Hier legt man der Wirkung das Prädicat beglückend, gut, im Sinne des Nützlichen, bei und versieht nun die Ursache mit dem selben Prädicat gut] In MA I 34, KSA 2, 54 entsteht durchaus der Anschein, als würde die Sprechinstanz das Nützliche mit dem Guten zu identifizieren geneigt sein (vgl. auch MA I 39 u. MA I 45). Der Kontext ist Paul Rées Moraltheorie im Nachgang zum Utilitarismus: „Dem Gesagten zu Folge ist das Gute (Unegoistische) wegen seines Nutzens, nämlich darum gelobt worden, weil es uns einem Zustande grösserer Glückseligkeit näher bringt [cf. John Stuart Mill]. Jetzt aber loben wir die Güte nicht wegen ihrer nützenden Folgen, vielmehr erscheint sie uns an und für sich, unabhängig von allen Folgen, lobenswerth. Trotzdem kann sie ursprünglich wegen ihres Nutzens gelobt worden sein, wenn man auch später, nachdem man sich einmal daran gewöhnt hatte, sie zu loben, vergass, dass dieses Lob sich anfangs auf den Nutzen der Gemeinschaft gründete.“ (Rée 1877, 17 = Rée 2004, 137; vgl. NK 92, 2–5) In GM wird sich N. davon scharf distanzieren, vgl. z. B. NK KSA 5, 258, 29–259, 4. 50, 26 f. , der das Fehlerhafte dieser Art zu schliessen nur allzu häufig kennen lernt und an ihren Folgen zu leiden hat,] Fehlt in der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 308. 50, 30 also ist sie gut] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 308 stattdessen: „also war sie gut“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,308).
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 30–31, KSA 2, S. 50–51
205
31. MA I 31 beginnt in der Titelzeile mit der ersten von drei aufeinander folgenden Notwendigkeitsbehauptungen beim Abschnittsbeginn. Hier wird das „U n l o g i s c h e“ als „n o t h w e n d i g“ (51, 2) behauptet, in MA I 32 das „U n g e r e c h t s e i n“ (51, 18), schließlich in MA I 33 „[ d ] e r I r r t h u m ü b e r d a s L e b e n“ (52, 14). Damit werden die drei Abschnitte eng aneinander gebunden – jeweils mit einer auf Anhieb kontraintuitiven Behauptung. Nach MA I 31 könne die Einsicht „einen Denker“ (51, 3) verzweifeln lassen, dass „das Unlogische für den Menschen“ (51, 4) notwendig sei und daraus „vieles Gute“ (51, 5) entstehe. Dieses „Unlogische“ sei so tief eingewurzelt in den „Leidenschaften“, der „Sprache“, der „Kunst“, der „Religion“ (51, 6 f.), dass man es daraus nicht entfernen kann, ohne „diese[n] schönen Dinge[n]“ (51, 9), einschließlich „Allem, was dem Leben Werth“ (51, 7 f.) verleihe, irreparablen Schaden zuzufügen. Nur Naive – damit sind wohl namentlich Philosophen rationalistischen Schlags von den Stoikern bis zu den Neukantianern gemeint – könnten dem Irrtum aufsitzen, „die Natur des Menschen“ sei in eine „rein logische“ (51, 10 f.) verwandelbar – selbst bei „Grade[n] der Annäherung an dieses Ziel“ (51, 12) wird moniert, es ginge sehr viel „verloren“ (51, 13). Auch wer sehr vernünftig sei, bedürfe immer „wieder der Natur, das heisst seiner u n l o g i s c h e n G r u n d s t e l l u n g z u a l l e n D i n g e n“ (51, 15 f.). Eine frühere Fassung in Heft U II 5, 205 lautet: „Zu der unbesiegbaren Nothwendigkeit des menschl. Daseins gehört das Unlogische: daher kommt vieles Sehr Gute! Es steckt so fest in der Sprache, in der Kunst, in den Affekten, ˹Religion˺, in allem, was dem Leben Werth verleiht! Naive Leute, welche die Natur des Menschen in eine logische verwandeln wollen! Von Zeit zu Zeit bedarf der Mensch wieder der Natur dh. seiner unlogisch. Urstellung zu den Dingen. Daher rühren seine besten Triebe.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,205, ediert als NL 1876, KSA 8, 17[2], 296) Auf der Folgeseite des Heftes steht, den Beginn von MA I 31 vorwegnehmend: „Zu den Dingen, welche einen Denker, der alle Menschen zu Denkern machen möchte, in Verzweifelung bringen kann, gehört die Erkenntniss“ – ohne dass diese Erkenntnis dann genannt oder spezifiziert würde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,206). Eine ‚Reinschrift‘ des späteren Abschnitts MA I 31 findet sich in der Handschrift von Heinrich Köselitz mit Korrekturen N.s im Heft M I 1, 52 f., dort nummeriert „107“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,52 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,53). Von „den Unarten des unlogischen Denkens“ (36, 30 f.) war bereits in MA I 16 die Rede, dort aber mit der Aussicht, dass es möglich sei, sie zu überwinden. Die Kontamination von Religion und Kunst mit solchen „Unarten“ kommt beispielsweise in MA I 27 zum Tragen (vgl. NK 48, 21–26, dort auch das aufschlussreiche
206
Menschliches, Allzumenschliches I
Notat NL 1877, KSA 8, 22[26], 384). An jenen Stellen wird also eine evolutionäre Sicht eingenommen, die die allmähliche Ablösung „unlogischer“ Weltzugänge insinuiert. MA I 31 beharrt demgegenüber nicht bloß auf der Unüberwindlichkeit des „Unlogischen“, sondern begründet zudem noch seinen Wert mit einer konsequentialistischen Argumentationsfigur, es bringe „vieles Gute“ (51, 5) hervor – während doch gerade MA I 30 solche Argumentationsfiguren nach dem Schema „Wirkung ist gut, also ist sie selber gut“ (50, 19 f.) zurückgewiesen hat. Mit dieser Argumentationsfigur wären dann auch Religionen und Künste wieder gerechtfertigt, denen MA I 29 die Legitimation zumindest partiell entzogen zu haben schien. Allerdings hatte dieser Legitimationsentzug dort nur dem Umstand gegolten, dass Religion und Kunst keine Weltwesenserkenntnis verschafften, so sehr sie dies auch suggerierten. Worin denn aber ihr „Gutes“ stattdessen liege, wenn schon nicht in der Weltwesenserkenntnis, verrät MA I 31 nicht, nur dass sie „dem Leben Werth“ verliehen (51, 7 f.). Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Bedeutung dessen, was das „Unlogische“ in MA I 31 sein soll, schwer zu bestimmen ist. In MA I 32 bezieht es sich wieder auf die Fehler beim Urteilen, beim Schließen (51, 18 f.). In MA I 31 scheint das Unlogische hingegen im Wesen des Menschen unausrottbar angelegt zu sein. Das ist nach dem Vorangehenden zumindest eine steile fundamentalanthropologische These, die sich immerhin noch nicht zur fundamentalontologischen These Eduard von Hartmanns aufschwingt, nämlich „dass das Sein ein Product aus dem Unlogischen und Logischen“ sei (Hartmann 1869, 675). Dennoch aber wird am Ende von MA I 31 „Natur“ (51, 15) mit Unlogik enggeführt, nachdem davor eine Verlustrechnung im Rationalisierungsprozess zumindest angedeutet wurde (51, 13 f.). 51, 6 f. in der Kunst,] In der ‚Reinschrift‘ in M I 1, 52 ist danach gestrichen: „in den Affecten“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,52). 51, 14–16 Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heisst seiner u n l o g i s c h e n G r u n d s t e l l u n g z u a l l e n D i n g e n.] Wenn das Ende von MA I 31 das „Unlogische“, wenigstens die „unlogische Grundstellung“ des Menschen mit „Natur“ gleichsetzt, ist die Spitze gegen die philosophische Tradition, die spätestens seit der antiken Stoa geneigt war, die menschliche Natur mit Vernunft gleichzusetzen, unübersehbar. Mit dieser Naturalisierung des Unlogischen geht freilich innerhalb des Textes von MA I 31 nicht nur eine Verschiebung einher, sondern auch eine Ontologisierung, die sich ein begriffskritischer, historisch denkender Philosoph eigentlich versagen müsste. Es ist auch keineswegs klar, woher der Sprecher seine Einsicht in die „Natur“ des Menschen plötzlich bezieht, wenn er doch keine metaphysische Wesenserkenntnis mehr hat. Das Sprachspiel am Ende von MA I 31 erinnert stark an Formulierungen, wie man
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 31–32, KSA 2, S. 51
207
sie in Hartmanns Philosophie des Unbewussten findet. Hartmann hatte freilich an die Überwindbarkeit des weltwesenshaften Unlogischen geglaubt: „Der vollendete Sieg des Logischen über das Unlogische muss also mit dem zeitlichen Ende des Weltprocesses, dem jüngsten Tage, zusammenfallen.“ (Hartmann 1869, 637) Mehr als Spott hatte N. in UB II 9, KSA 1, 318, 3–16 dafür nicht übrig: „‚Der vollendete Sieg des Logischen über das Unlogische‘ (o Schelm der Schelme!) ‚muss aber mit dem zeitlichen Ende des Weltprozesses, dem jüngsten Tage, zusammenfallen‘. Nein, du klarer und spöttischer Geist, so lange das Unlogische noch so vorwaltet wie heutzutage, so lange zum Beispiel noch vom ‚Weltprozess‘ unter allgemeiner Zustimmung so geredet werden kann, wie du redest, ist der jüngste Tag noch fern: denn es ist noch zu heiter auf dieser Erde, noch manche Illusion blüht, zum Beispiel die Illusion deiner Zeitgenossen über dich, wir sind noch nicht reif dafür, in dein Nichts zurückgeschleudert zu werden: denn wir glauben daran, dass es hier sogar noch lustiger zugehen wird, wenn man erst angefangen hat dich zu verstehen, du unverstandener Unbewusster.“ Bereits in NL 1869/70, KSA 7, 3[51], 74, 11–16 wird die Erkenntnis eines wesensmäßig Unlogischen mit dem philosophischen Pessimismus in Verbindung gebracht und dessen Bemühen um die Überwindung dieses Unlogischen rekapituliert: „Der Pessimismus ist die Folge der Erkenntniß vom absolut Unlogischen der Weltordnung: stärkster Idealism wirft sich in Kampf gegen das Unlogische mit der Fahne eines abstrakten Begriffs, z. B. Wahrheit, Sittlichkeit usw. Sein Triumph Leugnung des Unlogischen als eines Scheinbaren, nicht Wesentlichen.“
32. Wie MA I 31 und MA I 33 behauptet MA I 32 in der Titelzeile eine Notwendigkeit – hier das „U n g e r e c h t s e i n“ (51, 18). Das Motiv des Unlogischen aus MA I 31 kehrt am Ende von MA I 32 wieder und wird mit dessen Hauptthema verquickt, wenn den Menschen attestiert wird, sie seien „von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen“ (52, 9 f.). Das von Schopenhauer und Dühring aufgeworfene Problem, wie der „Werth des Lebens“ (51, 19) zu beurteilen sei, entlarvt MA I 32 als nicht lösbares und auch nicht sinnvoll behandelbares Scheinproblem. Alle entsprechenden Urteile seien „unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht“ (51, 19 f.), und zwar zunächst, weil niemand über die notwendige Materialfülle verfüge – Menschen kennten bestenfalls kleine Ausschnitte der Wirklichkeit und hätten damit für das Problem keine hinreichende Entscheidungsgrundlage. Sodann sei die Summenbildung unzureichend – die Art und Weise, wie die einzelnen Ausschnitte miteinander kombiniert würden. Schließlich sei auch „jedes einzelne Stück des Materials“ (51, 23) notwen-
208
Menschliches, Allzumenschliches I
digerweise nur unrein zu erkennen. Was immer wir etwa über einen anderen Menschen zu wissen glaubten, es reiche doch nie aus „zu einer Gesammtabschätzung desselben“ (51, 27 f.). Alle entsprechenden Urteile seien daher „voreilig“ (51, 28). Aber auch „das Maass“ (51, 29), mit dem wir messen zu können glaubten, nämlich unser eigenes Sein, sei keine unveränderliche „Grösse“ (51, 30), sondern von „Stimmungen und Schwankungen“ (51, 30 f.) abhängig. Es fehle also jeder feste Maßstab des Urteils, so dass wir vielleicht „gar nicht urtheilen“ (52, 2) sollten. Jedoch seien wir nicht zu leben imstande, ohne Urteile zu fällen, „ohne Abneigung und Zuneigung“ (52, 3). Alle Zu- oder Abneigung hänge mit Urteilen, mit Abschätzungen zusammen – was uns förderlich oder schädlich erscheine. „Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles, existirt beim Menschen nicht.“ (52, 5–9) „Wir“ seien daher notwendig „unlogische und daher ungerechte Wesen“ (52, 9 f.) – und überdies in der Lage, zu erkennen, dass wir dies seien. Darin liege „eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins“ (52, 11 f.). Eine ‚Reinschrift‘ des späteren Abschnitts MA I 32 findet sich in der Handschrift von Heinrich Köselitz mit Korrekturen N.s im Heft M I 1, 53 f., dort nummeriert „108“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,53 u. http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,54). Die Beschäftigung mit Eugen Dührings Buch Der Werth des Lebens, das N. in der Ausgabe von 1865 am 26. 05. 1875 in Basel gekauft (NPB 202) und dem er dann im Sommer 1875 eine sehr eingehende Lektüre gewidmet hat (NL 1875, KSA 8, 9[1], 131–181), steht im Hintergrund dieses und der nächsten beiden Abschnitte (vgl. NK ÜK MA I 33; die Beschäftigung mit diesem Werk Dührings wird N. noch bis in seine Spätschriften begleiten, vgl. z. B. zur Adaptation von Dührings Begriff des Ressentiments NK KSA 5, 270, 25–271, 1). Konkret nimmt MA I 32 die Überlegungen auf, die N. im Anschluss an Dührings „Einleitung“ notiert hatte (Dühring 1865, 1–12; die einzige Markierung in N.s Exemplar ist eine Unterstreichung des Wortes „übermenschlich“ auf Seite 6), als kritische Replik darauf: „Kurz: aus den vielen einzelnen Werthschätzungen resultirt als Summe die jedesmalige Ansicht vom Werth des Lebens. Bei keiner Werthschätzung handelt es sich um reine Erkenntniß, alle sind Gemüths-Affektionen; jene Summe ist auch nichts als eine Gemüths-Affektion: das Urtheil über den Werth des Lebens kann nie reine Erkenntniß sein. Ich will doch hinzufügen, daß es richtiger noch wäre, alle solche Urtheile u n r e i n e E r k e n n t n i s s e zu nennen: die Unreinheit liegt 1) in der Art, wie das Material vorliegt, sehr unvollständig z. B. 2) in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird: so daß z. B. eine falsche Verallgemeinerung gemacht wird (die Summe unserer Erfahrungen k a n n n i e zu einem Urtheil über das Leben berechtigen), also der logische Ausdruck jener Summirung falsch ist 3) darin daß jedes einzelne Stück des Materials wieder das
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 32, KSA 2, S. 51
209
Resultat unreinen Erkennens ist; und zwar ganz nothwendig: keine Erfahrung z. B. über einen Freund kann vollständig sein, so daß wir ein l o g i s c h e s Recht zu einer Gesammtschätzung hätten. Alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Sodann ist das Maaß, womit wir messen, unser Wesen, keine unveränderliche Größe, wir haben Stimmungen usw., wir müßten uns selbst kennen, um gerecht das Verhältniß irgend einer Sache zu uns abzuschätzen. / Sind somit alle Urtheile über den Werth des Lebens ungerecht und unlogisch entwickelt: so würde daraus folgen, daß man g a r n i c h t urtheilen sollte? Wenn man aber nur l e b e n könnte, ohne zu schätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! Denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Trieb o h n e jede begleitende Erkenntniß (über Förderndes Schädliches) existirt gar nicht. – Wir sind von vornherein unlogische und daher auch u n g e r e c h t e Wesen und können dies erkennen! Das ist eine der ungeheuersten D i s h a r m o n i e n des Daseins! Wir tragen doch ein Maaß in uns, womit wir hier das Dasein messen und das ganz unverrückbar ist: es wird wohl der Satz der Identität sein. Wiederum ist dieses Maaß gerade die einzige H a r m o n i e, welche wir kennen. Uns scheint es so, daß die disharmonische Welt existirt, jene Harmonie im Satz der Identität aber nichts als eine Theorie, eine Vorstellung ist. Kann man sich aber das Sich-Widersprechende als w i r k l i c h denken? Die sogenannte Wirklichkeits-Philosophie empfiehlt sich durch dies Wort dem populären Vorurtheil über Wirklich und Nichtwirklich. Aber wenn z. B. feststünde, daß ohne den Begriff einer harmonischen Wirklichkeit gar nicht die Dinge geschätzt werden könnten, nicht einmal falsch, so ist ja Urtheilen, Werthe-bestimmen selbst nichts andres als Messen der ‚wirklichen‘ Welt an einer, die uns für wirklicher gilt. / Also: die Unterscheidung zweier Welten, von denen die eine die schlechtere ist, die unwirklichere im Vergleich zu einer w i r k l i c h e r e n besseren, d i e T h e s e s o m i t d e s P e s s i m i s m u s ist die Thatsache, welche allem Werthschätzen vorausliegt; sie liegt in der Constitution des urtheilenden Verstandes, der von der Identität als der ihm zugänglichen Welt ausgeht. Die Entstehung des Verstandes und seine Constitution ist nicht aus dem praktischen Verhalten zu den Dingen abzuleiten, der Verstand ist keine Herausbildung des Gemüths. Sondern alles Zu- und Abneigen setzt schon den Verstand voraus und in ihm den Satz des Widerspruchs; o h n e L o g i s c h e s auch keine Empfindung, keine Stimmung, keine Vorstellung.“ (NL 1875, KSA 8, 9[1], 135, 23–137, 12) In MA I 32 wird der sehr spezifische DühringBezug weitgehend unsichtbar gemacht – nur in der Fügung „Werth des Lebens“ ist er noch direkt greifbar; ebenso entfällt die Reflexion auf den „Satz der Identität“ und den „Satz des Widerspruchs“ sowie zur doch noch möglichen Harmonie. Die aphoristische Druckfassung endet mit dem Akzent auf der Disharmonie, die damit unauslöschlich zu bleiben scheint. Zum Dühring-Bezug in MA I 32–34 siehe auch Venturelli 1986, 113 u. Heuler-Neuhaus 2023, 182.
210
Menschliches, Allzumenschliches I
Der Herkunftskontext von MA I 32 aus der kritischen Dühring-Lektüre erklärt auch, weshalb die Frage nach dem Wert des Lebens trotz der sprachlichen Nähe in MA I 31 ganz anders akzentuiert ist: Dort ist der Wert des Lebens nicht die Frage eines Befundes oder eines Abwägungsurteils, sondern einer Zuschreibung, eines Verleihens – in MA I 31 eine ästhetische, hingegen in MA I 32 eine metaphysische Frage, die sich als unsinnig erweist – weil es Menschen eben an der Vollständigkeit der Information mangelt – „unvollständig“ (51, 21) bzw. „vollständig“ (51, 26) ist ein Leitmotiv. In der Sache handelt es sich um eine Reformulierung des Induktionsproblems, wie man es beispielsweise bei David Hume (A Treatise of Human Nature I 3, 6) erörtert findet: Letztlich ist nie genügend Information vorhanden, um zu einem allgemeingültigen Urteil zu gelangen. Dies freilich ist kein spezifisches Problem bei der Frage nach dem Wert des Lebens, sondern betrifft sämtliche Allaussagen und allgemeinen, z. B. naturwissenschaftlichen Gesetze. Das Selbstanwendungsdilemma käme dann noch hinzu: Woher will der Sprecher in MA I 32 denn wissen, dass seine Behauptung für „[a]lle Urtheile über den Werth des Lebens“ (51, 18 f.) gilt, wenn er nur einige davon kennt? Katsafanas 2016, 109 fokussiert seine Interpretation von MA I 32 auf den „Trieb“ (52, 5 u. 7) und behauptet, N. meine, wir würden „our drives“ über weite Strecken nicht kennen. Das scheint in MA I 32 aber gerade nicht die Klippe zu sein – vielmehr, dass wir an der Gültigkeit von Urteilen nicht nur wegen der prinzipiellen Unvollständigkeit der Information (51, 20 f.), sondern auch wegen der völligen Instabilität der Urteilenden (51, 29–52, 1) (ver)zweifeln müssen. Zu MA I 32 vgl. auch Benoit 2013, 17 f. Wotling 2017 entwickelt seine Überlegungen, wie sich die Wertfrage bei N. herausbildet, ausgehend von MA I 32. 51, 24 f. diess mit voller Nothwendigkeit] In der ‚Reinschrift‘ in M I 1, 53 von N.s Hand korrigiert aus: „ganz nothwendig“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ M-I-1,53). 51, 25 f. einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah,] In der ‚Reinschrift‘ in M I 1, 53 von N.s Hand korrigiert aus: „einen Freund“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/M-I-1,53). 51, 29–52, 1 Endlich ist das Maass, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Grösse, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maass kennen, um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns gerecht abzuschätzen.] Im Hintergrund steht wiederum der homo-mensuraSatz des Protagoras, den schon MA I 2 seiner irreführenden Suggestion eines festen Maßstabes wegen ins dialektische Kreuzfeuer genommen hat, vgl. NK 24, 19– 21. Zwar gibt es auch in MA I 32 keinen anderen Maßstab als den Menschen – aber der Mensch als veränderliches, hochgradig einflusssensitives Wesen ist eben kein verlässlicher Maßstab, so dass jede Erkenntnis, jedes Urteil situativ-perspekti-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 32–33, KSA 2, S. 51–52
211
visch bleiben muss. Unsere Urteile sind immer schon durch Wertschätzungen bestimmt, die kontingent, von unserer jeweiligen Verfassung abhängig sind. 52, 1–3 Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur l e b e n könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben!] Das wäre die skeptische Option des Pyrrhon von Elis (ca. 362– 275 v. Chr.), der angeblich im Interesse der Seelenruhe auf jedes Urteilen zu verzichten versucht hat. Der Pyrrhon nacheifernde Skeptiker sei beunruhigt gewesen durch den Widerspruch der Meinungen und begann nachzudenken, um ein Urteil über die wahre Meinung zu bilden. Als er dies nicht herausfand, hielt er inne und dank der Urteilsenthaltung (ἐποχή) stellte sich Unerschütterlichkeit (ἀταραξία), unverhofft Glück ein (Sextus Empiricus: Grundriss der pyrrhonischen Skepsis I 26– 29; vgl. z. B. Diogenes Laertius: De vitis IX 107). Die Urteilsenthaltung zeitigt beim antiken Skeptiker also eine therapeutische Wirkung, während MA I 32 behauptet, dass es unmöglich sei, ohne ein Urteil, eine Wertschätzung überhaupt zu leben. Entsprechend sind die Figuren der Skepsis, die N. wiederholt durchspielt, meist nicht ephektisch urteilsenthaltend, sondern experimentell urteilsfreudig (vgl. Sommer 2018a). 52, 6–8 ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles,] In der ‚Reinschrift‘ in M I 1, 53 von N.s Hand korrigiert aus: „dass ein Gefühl über Förderliches oder Schädliches ihn begleitete“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,53). 52, 9–12 Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, u n d k ö n n e n d i e s s e r k e n n e n: diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.] Wie „wir“ das in einem ambitionierten Sinn „erkennen“ können, bleibt freilich offen, weil „uns“ dafür wohl auch der feste Maßstab fehlt – ebenso dafür, ob wir es hier tatsächlich mit einer „unauflösbarsten Disharmonie[.]“ zu tun haben (was bedeutet der Superlativ von „unauflösbar“?) und nicht mit einer menschheitsgeschichtlich recht ephemeren Einsicht von erkenntniskritischen Philosophen, die sich angewöhnt haben, dem Erkenntnisvermögen zu misstrauen. Und impliziert oder präjudiziert die „Disharmonie“-Diagnose nicht selbst schon ein Urteil über den Wert des Lebens?
33. Während MA I 32 noch die Auffassung stark gemacht hat, „[a]lle Urtheile über den Werth des Lebens“ seien „unlogisch entwickelt“ und daher „ungerecht“ (51, 18–20), wird jetzt nur die eine mögliche Seite einer Gesamtlebensurteilsbilanz
212
Menschliches, Allzumenschliches I
betrachtet, nämlich die eines positiven Urteils – dass das Leben wert sei, gelebt zu werden. Zu einem solchen positiven Urteil gelange das „Individuum“ nur, weil sein „Mitgefühl“ für das „Leiden der Menschheit“ (52, 17 f.) unterentwickelt sei. Selbst diejenigen, die über ihre eigene Nase hinauszublicken vermöchten, nähmen nicht „dieses allgemeine Leben“ (52, 20) in den Blick, sondern bloß „abgegränzte Theile desselben“ (52, 20 f.). Sollte „man“ (52, 21) hingegen seine Aufmerksamkeit „auf Ausnahmen“ (52, 22) richten, also besonders herausgehobene Exemplare der menschlichen Spezies, große Individuen, wäre man geneigt, ihr Erscheinen für den Zweck der Weltgeschichte zu halten und alle anderen Menschen zu übersehen, was wiederum ein Zeichen unreinen Denkens sei. Das verhalte sich ebenso, wenn man zwar alle Menschen in den Blick nähme, aber bei ihnen nur die „weniger egoistischen“ (52, 29) Triebe gelten ließe, denn dann würde man – offensichtlich als letztlich ungerechtfertigt anzusehende – Hoffnungen in die Entwicklung der Gattung investieren. Trotz des hier überall um sich greifenden, unreinen Denkens bleibe „man“ in den genannten Fällen „eine A u s n a h m e“ (53, 2) – ob eine „A u s n a h m e“ im weltgeschichtlichen Sinn bleibt unbestimmt. Die meisten Menschen ertrügen im Unterschied zu diesem Ausnahme-„man“ das Leben jedenfalls, „ohne erheblich zu murren“ (53, 4), seien daher also vom positiven Wert des Lebens überzeugt – und zwar gerade, weil jeder nur er selbst bleiben wolle und an nichts außerhalb seiner eigenen Interessenssphäre Anteil nehme. Dieser „alltägliche[.] Mensch[..]“ (53, 10) finde nur sich selbst wichtig und könne sich aus Phantasiemangel nicht in andere Lebewesen hineinversetzen, damit deren Leiden auch nicht erkennen. Wer hingegen „das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen“ (53, 15 f.) vermöchte, der müsste verzweifeln und das Dasein verfluchen. Nachgeschoben wird der Satz, dass „die Menschheit […] im Ganzen k e i n e Ziele“ (53, 18) habe, weswegen man auch bei der Betrachtung ihrer Gesamtgeschichte weder „Trost“ noch „Halt finden“ (53, 20) könne. Diese aus der geschichtsphilosophischen Reflexion geschöpfte Verzweiflung pflanzt sich dann in der Einsicht fort, das „eigene[.] Wirken“ (53, 22) als vergeudet anzusehen – um von da wieder auf die Abstraktionsebene der „Menschheit“ (53, 23) zu springen: „Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso v e r g e u d e t zu fühlen, wie wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle.“ (53, 23–26) Wer sei aber zu diesem Gefühl fähig? Allein „ein Dichter“ – Dichter jedoch wüssten sich stets „zu trösten“ (53, 27). MA I 33 ist selbst ein Paradebeispiel für das in den Schlussteilen des Ersten Hauptstücks thematisierte unreine Denken. Der Abschnitt unterläuft systematisch die erkenntniskritischen Schranken, die MA I 32 errichtet hat, und suggeriert ohne jede selbstrelativierende Scham, die Gesamtheit der Gattung Mensch und ihre Geschichte, ja eigentlich die Gesamtleidens- und Gesamtglücksbilanz des Uni-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 33, KSA 2, S. 52
213
versums überschauen zu können. MA I 33 weist aber auch unabhängig von der Inkompatibilität mit MA I 32 derart viele innere Inkonsistenzen auf, dass es schwerfällt, darin einen ernstgemeinten Versuch zu sehen, in der Frage nach dem Wert des Lebens zu einem inhaltlichen Urteil zu kommen. Eher drängt sich die Vermutung auf, bei dem Abschnitt handle es sich um eine satirische Karikatur pessimistischen Sprechens. Die Inkonsistenzen deuten sich bereits mit der Titelzeile an, derzufolge „[ d ] e r I r r t h u m ü b e r d a s L e b e n z u m L e b e n n o t h w e n d i g“ (52, 14 f.) sei. Zwar lässt sich derlei behaupten – der N.-Leser fühlt sich auch an WL erinnert –, aber aus der nunmehr nach MA I 31 und MA I 32 dritten Notwendigkeitsbehauptung im Abschnittstitel folgt nicht, dass das Behauptete tatsächlich notwendig ist. Und der folgende Text von Abschnitt MA I 33 ist zur Hauptsache damit beschäftigt, sinnenfällig zu machen, dass man eigentlich zu einem negativen Gesamturteil über den Wert des Lebens kommen müsste, man dies in der Regel aber nicht tue. Der Schluss, dass Menschen nur leben könnten, wenn sie sich der Illusion hingeben, dass das Leben einen Wert hätte, wird nicht explizit gezogen – dagegen spräche im Übrigen, dass ja offensichtlich auch diejenigen, die diesen Wert bestreiten, meist dennoch am Leben bleiben (Mainländer einmal abgerechnet). Welche Bedeutung der „Irrthum“ des Lebenswerts für das Überleben der Spezies hat, wird gerade nicht ausgeführt, während z. B. MA I 31 noch sehr wohl im Text direkt angesprochen hat, warum „das Unlogische für den Menschen“ (51, 4) notwendig sei. Die Inkonsistenz setzt sich mit dem ersten Satz fort, und zwar nicht nur, weil völlig unklar bleibt, woher der Sprecher sein Wissen bezieht: Woher will er wissen, dass eine positive Wertschätzung des Lebens „allein dadurch“ (52, 16 f.) zustande kommen kann, dass es an „Mitgefühl“ mangelt? Woher will er wissen, „dass das Mitgefühl“ (52, 17), wenn es nicht so schwach entwickelt wäre, das Leben als unwert erscheinen lassen müsste? Denn auch wenn man ohne Weiteres zugesteht, dass Menschen und andere Lebewesen sehr viel zu leiden haben, bedeutet das mitnichten, dass damit schon ein Übergewicht des Leidens in der Welt vorherrsche und sie überhaupt, wie Schopenhauer glaubte, die schlechteste aller möglichen sei (vgl. Schopenhauer 1873–1875, 3, 669, zitiert in NK 5/1, S. 359). In MA I 28 hat der Sprecher ein derartiges pessimistisches Glaubensbekenntnis noch ausdrücklich verworfen, vgl. NK 49, 4–15. Selbst also, wenn man eine Gesamtleidensbilanz des Universums aufstellen könnte, bleibt das Argument völlig verquer: Erstens, weil die Menge an Leid nichts oder nur mit Schopenhauer-Mainländerscher Brille etwas über den Wert des Lebens aussagt, und zwar auch nur dann, wenn man der Gesamtleidensbilanz eine Gesamtglücksbilanz des Universums gegenüberstellen, beide gegeneinander abwiegen und schließlich das Gesamtglück für geringergewichtig halten könnte. Zweitens würde jemand, der jenes Mitgefühl
214
Menschliches, Allzumenschliches I
verspürte, das den meisten abgeht, ja nicht nur am Leid der anderen Menschen teilhaben, sondern ebenso an ihrem Glück. In den Sätzen von 52, 19 an nimmt der Sprecher einen Übersichtsstandpunkt höchster Ordnung ein – er blickt gottgleich noch weiter als „die selteneren Menschen“, die immerhin schon über sich selbst hinauszudenken und hinauszufühlen vermögen, weil auch die doch in einer Partialperspektive gefangen blieben, indem sie beispielsweise einseitig nur auf die Ausnahmen und ihre geschichtsbestimmende Wirkung oder auf die unegoistischen Triebe der Menschen schauen. Geradezu grotesk inszeniert wird dabei der Widerstreit zwischen einerseits dem Anspruch des Sprechers, Herr des Überblicks zu sein und Partialperspektiven längst überwunden zu haben, und andererseits der Blickverengung und Sichtverkürzung ebendieses Sprechers, der offensichtlich nur in der Lage ist, das Unglück und das Vergebliche wahrzunehmen. Hätte der Sprecher tatsächlich ein Sensorium für die Sichtweisen der Anderen, würde er auch an ihrem Glück Anteil nehmen und müsste womöglich sogar versucht sein, mit den Augen der Anderen schauend, das Leben für ungemein wertvoll zu erachten, selbst wenn es ihm selbst schlecht gehen sollte. Wenn es nun so sein sollte, dass die meisten Menschen aus „Mangel an Phantasie“ (53, 11) sich das angeblich so betrübliche Dasein ihrer Mitlebewesen weder ausmalen noch sich in sie versetzen könnten und sie aus ihrer eigenen momentanen Behaglichkeit auf den positiven Wert des Daseins schlössen, so liegt darin keineswegs notwendig ein zu geißelndes unreines Denken vor. Die Unreinheit und Inkonsistenz des Denkens liegen vielmehr auf Seiten des Sprechers in MA I 33: Denn wenn tatsächlich die „allermeisten Menschen“ (53, 3 f.) ihr Leben nicht als so abscheulich empfinden, dass es nicht lebenswert wäre, dann wäre die Gesamtglücksbilanz der Menschheit in einem strengen Kalkül offensichtlich positiv. Zwar sehen sie das fremde Leid nicht, aber da sie eine große Mehrheit sind, überwiegt in der Welt insgesamt doch das Glück, so dass die Frage nach dem Wert des Lebens ‚notwendig‘ positiv beschieden werden müsste. Nur die rhetorische Front des Textes von MA I 33 hält die Abwehrhaltung aufrecht, indem auf das „Gesammtbewusstsein der Menschheit“ (53, 15 f.) rekurriert wird – als ob es irgendeinem Individuum möglich wäre, dieses Gesamtbewusstsein zu fassen – oder auch nur einen plausiblen Begriff davon zu bilden. Dass die Menschheitsgeschichte ziellos sei und die Menschheit insgesamt eine entropisch-kosmische „Vergeudung“ (53, 23), kann man zwar ungestraft behaupten, jedoch ist diese Behauptung ad hoc nur so plausibel oder unplausibel wie ihr Gegenteil, die Behauptung einer Zielrichtung der Geschichte und eines Zwecks der Menschheit. Und selbst wenn die Leser nach den bisher erfolgten antimetaphysischen Abbrucharbeiten im Ersten Hauptstück von MA I eine starke Tendenz zum Geschichtsziellosigkeits- und zum Menschheitszwecklosigkeitspostulat haben sollten, stehen diese Postulate
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 33, KSA 2, S. 52
215
keineswegs in irgendeinem ‚notwendigen‘ Folgeverhältnis zur davor aufgestellten Hypothese eines Leidens- und Unglücksüberhangs. Selbst angenommen, die Gesamtleidensbilanz ließe sich mit dem Glück nicht gegenrechnen und sähe so verheerend aus, dass man verzweifeln möchte, sagt die Menge des Leidens und des Unglücks noch gar nichts über ein Geschichtsziel oder einen Menschheitszweck aus. Im Gegenteil könnte es gerade sein – wie es etwa die christliche Heilsgeschichte und die spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie (beispielsweise hegelianischen Zuschnitts) einträchtig angenommen haben –, dass es die Bitternis, das Unglück und das Leiden sind, die die Menschheit voran und zum Endzweck bringen. Die Kaskade der Inkonsistenzen, die sich in MA I 33 hinter markigen Parolen verbergen, ließe sich noch erweitern. Wichtiger ist vielleicht die in der ‚Reinschrift‘ in M I 1, 56 noch fehlende Schlusswendung, der zufolge „nur ein Dichter“ (53, 27) tatsächlich das Vergeudetsein der gesamten Menschheit zu fühlen vermöge – aber Dichter sich immer „zu trösten“ wüssten. Mit anderen Worten: Mag man sich bis hierhin des reinsten Denkens befleißigt haben (was man trotz der Beteuerungen in MA I 33, nur die jeweils anderen hätten sich denkerischer Unreinheiten schuldig gemacht, bezweifeln darf ), springen die Dichter spätestens am Ende des Abschnitts in die Unreinheit, indem sie sich – mit wohlklingenden Worten beispielsweise – über das Trostlose hinwegtrösten – und damit tun, was Dichter laut Platon eben tun, nämlich lügen. Diese Schlusswendung, die plötzlich die sich tröstenden und damit sich und ihr Publikum belügenden Dichter ins Bild nimmt, ist ein deutlicher Ironiemarker, der den gesamten Abschnitt affizieren könnte: Sollten wir MA I 33 insgesamt lesen als poetisches Lügengewebe, das performativ zeigt, was es thematisiert: unreines Denken? Die Leidensüberschussund damit Unwertsuggestion von MA I 33 steht jedenfalls in starker Spannung zu MA I 49, KSA 2, 70, 1–5, wonach nur „trübe Augen“ das viele Glück in der Welt nicht sehen. MA I 33 geht mittelbar zurück auf Überlegungen, die N. im Sommer 1875 im direkten Anschluss an die Lektüre von Eugen Dührings Der Werth des Lebens angestellt hat, nachdem er das Werk sehr ausführlich exzerpiert hatte: „S c h l u s s B e t r a c h t u n g , v o n m i r. / Der Glaube an den Werth des Lebens beruht auf unreinem Denken. Er ist nur möglich, wenn das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach entwickelt ist. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf die seltensten Menschen, die hohen Begabungen, die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Werden zum Ziel und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben. Ebenso wenn man bei allen Menschen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, ins Auge faßt und sie in Betreff der anderen entschuldigt: dann kann man von der Menschheit hoffen. / Mir scheint aber umgekehrt viel sicherer, daß der
216
Menschliches, Allzumenschliches I
Mensch gerade dann das Leben erträgt und an den Werth des Lebens glaubt, wenn er sich allein will und behauptet, nicht aus sich heraus tritt: so daß alles Außerpersönliche nur wie ein schwacher Schatten bemerkbar ist. / Also darin ruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen thätigen Menschen, daß er sich für wichtiger hält als die Welt: und die Ursache davon, daß er so wenig an den anderen Wesen theilnimmt, ist der große Mangel an Phantasie, so daß er sich nicht in andre Wesen hineindenken kann. Wer das kann und ein liebevolles Herz hat, muß am Werth des Lebens verzweifeln; es sei denn, daß er sich eine mystische Bedeutung des ganzen Treibens ausdenkt. / Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche gegen das Dasein zusammen. Denn die Menschheit hat keine Ziele. Folglich kann in Betrachtung des Ganzen der Mensch, selbst wenn er dessen fähig wäre, nicht seinen Trost und Halt finden: sondern seine Verzweiflung. Sieht er bei allem was er thut auf die letzte Ziellosigkeit der Menschheit, so bekommt sein Wirken in seinen Augen den Charakter der V e r g e u d u n g. Ich glaube, das ist mit nichts zu vergleichen, sich als Menschheit ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Knospe von der Natur vergeudet sehen. Es war alles nothwendig und ist es in uns. Nur daß wir das Spectaculum s e h e n sollen! Da hört eigentlich alles auf. / Das W e h e in der Welt hat die Menschen veranlaßt, sich auf geistreiche Weise daraus noch eine Art Glück zu saugen. Die Lebensbetrachtung dessen, der vom Dasein E r k e n n t n i ß allein will, dessen der sich e r g i e b t und resignirt, dessen der r u h t und dessen der a n k ä m p f t – überall ist auch ein wenig Glück mit aufgesproßt. Es wäre aber schrecklich zu sagen, daß mit diesem Glück das Leiden selbst compensirt würde. Überhaupt sollte schon gar keine Compensation möglich sein! Oder vielmehr: was heißt es hier compensiren? Man kann das Leiden nicht ungeschehen machen, dadurch daß später ein Glück folgt. Lust und Unlust können sich gar nicht aufheben.“ (NL 1875, KSA 8, 9[1], 178, 22–180, 4) Eine ‚Reinschrift‘ des späteren Abschnitts MA I 33 findet sich in der Handschrift von Heinrich Köselitz mit Korrekturen N.s im Heft M I 1, 54–56, dort nummeriert „109“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,54, http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,55 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,56). 52, 15–19 Jeder Glaube an Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist.] Im Dühring-Exzerpt von 1875 hat N. in einer Klammer angemerkt: „(Ich wünsche untersucht, was die Menschheit den Einbildungen, dem unreinen Denken verdankt, ja ob ein höheres Leben möglich ist, nachdem nur erst die Skepsis hier zur Herrschaft kommt, z. B. ist Kunst noch möglich?)“ (NL 1875, KSA 8, 9[1], 147, 32–148, 2) Vgl. NK 92, 31–93, 1 mit einer Stelle aus der Vorlesung Der Gottesdienst der Grie-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 33, KSA 2, S. 52
217
chen. Die Worte „und Würdigkeit“ und „im Individuum“ wurden in Köselitz’ ‚Reinschrift‘ in M I 1, 54 von N.s Hand nachträglich eingefügt; „allein dadurch möglich“ korrigiert aus „nur möglich“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,54). 52, 19–21 Auch die seltneren Menschen, welche überhaupt über sich hinaus denken, fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegränzte Theile desselben in’s Auge.] In Köselitz’ ‚Reinschrift‘ in M I 1, 54 von N.s Hand nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,54). 52, 21–27 Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen Weltentwickelung und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei ü b e r s i e h t: also unrein denkt.] Die Worte „Ausnahmen, ich meine“ wurden in Köselitz’ ‚Reinschrift‘ in M I 1, 54 von N.s Hand nachträglich eingefügt, wo stattdessen ursprünglich stand: „die seltensten Menschen“. Die Phrasen „der ganzen Weltentwickelung“ sowie „also unrein denkt“ wurden von N. ebenfalls nachträglich hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,54). Ein solches (auf Hegel zurückverweisendes) Konzept von Geschichte als Geschichte großer Individuen hat N. selbst unter dem Stichwort der „monumentalischen Historie“ beispielsweise in UB II HL 2 entworfen: „Dass die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und gross sei – das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer m o n u m e n t a l i s c h e n Historie ausspricht. Gerade aber an dieser Forderung, dass das Grosse ewig sein solle, entzündet sich der furchtbarste Kampf.“ (KSA 1, 259, 12–20) Allerdings setzt MA I 33 mit der „reinen Seele“, die an Mitgefühlshelden vom Schlage Jesu oder Franz’ von Assisi denken lässt, einen deutlich anderen Akzent als die eher auf brachial durchgreifende Staatslenker, Feldherren und Künstlerkolosse fokussierte „monumentalische Historie“. „Reine Seele“ – die bei N. übrigens sonst kaum vorkommt – ist eine gängige Wendung in der christlichen Erbauungsliteratur des 19. Jahrhunderts, findet sich aber beispielsweise auch in Goethes Iphigenie, Vers 1583. In MA I 33 akzentuiert ihr Auftreten die in den Schlussabschnitten des Ersten Hauptstücks unverkennbare Obsession mit der Idee der zu meidenden „Unreinheit“ (des Denkens, des Urteilens), die sonst in N.s Schreiben nicht besonders prominent ist. 52, 23 reinen Seelen] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 35) korrigiert zu: „reichen Seelen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/ 54/). Vielleicht also beruhen die Überlegungen in NK 52, 21–27 nur auf einem
218
Menschliches, Allzumenschliches I
Druckfehler. Allerdings sind auch in Köselitz’ ‚Reinschrift‘ in M I 1, 54 die Seelen rein (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,54). 52, 27–53, 1 Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen in’s Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, gelten lässt und sie in Betreff der anderen Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im Ganzen Etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben: also auch in diesem Falle durch Unreinheit des Denkens.] Ursprünglich stand in Köselitz’ ‚Reinschrift‘ in M I 1, 54–55 vor N.s Korrekturen und Hinzufügungen: „Und ebenso, wenn man bei allen Menschen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, in’s Auge fasst und sie in Betreff der anderen Triebe entschuldigt: Dann kann man wiederum von der Menschheit etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ M-I-1,54 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,55) Die Identifikation von „gut“ und „unegoistisch“ ist in der zeitgenössischen ethischen Diskussion im Schwange, z. B. bei Paul Rée: „Jene Handlungen (die auch selbstisch, hartherzig, mitleidlos oder, wenn ihnen Neid und Schadenfreude zu Grunde liegt, teuflisch genannt werden) empfindet jeder von uns als moralisch schlecht und tadelnswerth, diese [sc. die unegoistischen Handlungen] hingegen als moralisch gut und lobenswerth“ (Rée 1877, 9). 53, 1–13 Mag man sich aber so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine A u s n a h m e unter den Menschen. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und g l a u b e n somit an den Werth des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich Jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt, als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht, dass er sich nicht in andere Wesen hineinfühlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt.] Die Phrasen und Wörter „ohne erheblich zu murren“ (53, 4), „aber“ (53, 5), „allein“ (53, 9), „daher“ (53, 12) und „ihrem Loos und Leiden“ (53, 13) wurden in Köselitz’ ‚Reinschrift‘ in M I 1, 55 von N.s Hand nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ M-I-1,55). Das in 53, 1–13 Gesagte würde allerdings bedeuten, dass für die meisten Individuen in ihrer Binnensicht die Lebensbilanz positiv ist, weil offenbar bei diesen die Freude das Leiden überwiegt. Dann aber kann in der Gesamtheit das Leiden quantitativ auch nicht überwiegen – und diejenigen, die die Binnensicht überwinden und das Leiden der anderen wahrnehmen, wären in einem perspektivischen Irrtum befangen, weil sie das Leiden der anderen höher gewichten als ihre Freu-
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 33, KSA 2, S. 52–53
219
de. Schopenhauer konnte in seinem Hauptwerk noch behaupten: „Der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikwaare der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt, ist […] einer in jedem Sinn völlig uninteressirten Betrachtung, welches die eigentliche Beschaulichkeit ist, wenigstens durchaus nicht anhaltend fähig: er kann seine Aufmerksamkeit auf die Dinge nur insofern richten, als sie irgend eine, wenn auch nur sehr mittelbare Beziehung /221/ auf seinen Willen haben.“ (Schopenhauer 1873–1874, 220 f.) Dieser Verstockungsdiagnosenausweg, der den „allermeisten Menschen“ einfach die Fähigkeit abspricht, das Wesentliche zu erkennen, ist dem historisch Philosophierenden, der die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung kassiert hat, eigentlich versperrt. Denn er kann nicht mehr im Stil der Pessimisten das Leiden in das Ding an sich qua Weltwesen hineinlesen, weil es ein solches Weltwesen nicht mehr gibt. Es lässt sich dann über die Leidensstruktur der Wirklichkeit auch nichts wirklich Sachhaltiges sagen. Wenn aber in der empirischen Welt angesichts der Mehrheitsmeinung eines Glücksüberhangs gar kein Übergewicht des Leidens zu beobachten ist, macht das an Schopenhauer gemahnende Verstockt- und Blindheitsargument keinen Sinn mehr. Wenn es Leiden gibt und es im Übermaß vorhanden ist, müsste es in dieser einen und einzigen Welt, in der von den „allermeisten Menschen“ geteilten Erfahrungswirklichkeit dominant sein. Das ist es aber nach dem Urteil der Allermeisten nicht, die nur auf sich selbst schauen und mit dem Eigenen ganz zufrieden sind. 53, 7 f. gar nicht oder] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 35) eingeklammert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/54/). 53, 14–21 We r dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe des Lebens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, – denn die Menschheit hat im Ganzen k e i n e Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung.] Ursprünglich stand in Köselitz’ ‚Reinschrift‘ in M I 1, 55–56 vor N.s Korrekturen und Hinzufügungen: „Wer dagegen dieses kennt, müsste am Werthe des Lebens verzweifeln. Vermöchte Jemand gar ein Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, – denn die Menschheit hat keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,55 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I1,56) Das in 53, 14–21 Behauptete ist nach dem Vorangegangenen nicht plausibel: Denn was ändert es am Wert des Lebens, wenn die Menschheit kein Ziel, wenn die spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie Unrecht hat?
220
Menschliches, Allzumenschliches I
53, 23 f. (und nicht nur als Individuum)] In Köselitz’ ‚Reinschrift‘ in M I 1, 56 von N.s Hand nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,56). 53, 26 f. Wer ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten.] Fehlt in der ‚Reinschrift‘ in M I 1, 56.
34. MA I 34 schließt unmittelbar an MA I 33 an und stellt in Aussicht, „[ z ] u r B e r u h i g u n g“ (53, 29) beizutragen, wozu offensichtlich die sich tröstenden Dichter am Ende von MA I 33 doch nicht hinreichend in der Lage sind. Die ‚Reinschrift‘-Version von Mp XIV 1, 97 – rubriziert mit blauem Farbstift „H. [oder 4.] Cultur“ – lautete vor etlichen Umarbeitungen: „Meine Philosophie wird zur Tragödie? Die Wahrheit wird dem Leben, dem Besseren feindlich? Die Frage bleibt: ob man bewußt in der Unwahrheit bleiben könne? Denn ein Sollen giebt es nicht mehr. Die Moral ist ebenso vernichtet wie die Religion. Die Erkenntniß kann als Motive nur Lust und Unlust bestehen lassen: wie werden die sich mit der Wahrheit auseinandersetzen? Auch sie beruhen auf Irrthümern (wenigstens als Neigung u Abneigung). Das ganze menschl. Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt: man kann es nicht herausziehn; man nimmt nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine gegenwärt. Motive (Ehre, Gutsein usw.) hinweg. ‚Vorbereitung zu einer tragischen Philosophie‘ wäre der Name; in Wahrheit bliebe ein viel einfacheres, von Affekten reineres Leben übrig (nur aus schwer besiegter Gewohnheit wirkten die alten Motive noch fort, allmählich immer schwächer). Man lebte unter Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, an allem sich freuend, sobald man es nicht mehr fürchtet – Schauspiel!“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,97; vgl. KGW IV 4, 174 mit Lesefehlern) In der definitiven Druckfassung ist das Possessivpronomen der 1. Person Singular aus Mp XIV 1, 97 ersetzt durch die erste Person Plural. Sie hält sich durch bis zu der mit Gedankenstrich markierten Mittelzäsur des Textes in 54, 20, wo dann das „Ich“ dezidiert auftritt, sich gegen eine sich anbahnende „Philosophie der Zerstörung“ (54, 19) stemmt und offensichtlich nicht will, dass „unsere Philosophie […] zur Tragödie“ (53, 29 f.) werde. Eine tragische Philosophie schreibt sich dieses ‚Ich‘ im Unterschied zur ersten Version gerade nicht zu, sondern plädiert für eine affektfreie Form ‚reinen‘ Erkennens. MA I 34 beginnt aber mit der Frage, ob denn „so unsere Philosophie nicht zur Tragödie“ (53, 29 f.) werde, weil die Wahrheit sich als lebensfeindlich herauszustellen scheine, so dass sich die Folgefrage aufdränge, ob man denn nicht willentlich und wissentlich „in der Unwahrheit bleiben k ö n n e“ (54, 1) – und falls man das
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 33–34, KSA 2, S. 53
221
müsse, ob es nicht besser wäre, zu sterben, denn „unsere Betrachtungsart“ habe „die Moral“ als ein „Sollen“ gleichermaßen zerstört „wie die Religion“ (54, 3–5). Es dürften „nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden“ als „Motive“ (54, 5 f.) anerkannt werden – aber wie sich die mit dem „Sinne für Wahrheit“ (54, 7) vertragen sollen, bleibt eine offene Frage. Das Menschenleben sei insgesamt von „Unwahrheit“ (54, 11) bestimmt, aus der man sich nicht befreien könne, ohne „seine[.] Vergangenheit“ und „seine gegenwärtigen Motive“ (54, 13 f.) zu verachten. Blieben denn so, wird gefragt, auf der persönlichen Ebene nur noch die „Verzweifelung“ und auf der theoretischen „eine Philosophie der Zerstörung“ (54, 18 f.)? Nach dem Gedankenstrich in 54, 20 tritt das „Ich“ mit einer tröstlichen Botschaft auf, indem es zunächst die möglichen Konsequenzen aus der Unwahrheitsbefangenheit des Lebens keineswegs einseitig negativ zeichnet: Je nach „T e m p e r a m e n t“ (54, 21) sei statt einer negativistisch-nihilistischen Folgerung auch eine andere denkbar, nämlich „ein viel einfacheres, von Affecten reineres Leben“ (54, 24 f.), in dem zwar zunächst noch „die alten Motive des heftigeren Begehrens“ (54, 26) nachwirkten, bis sie dann dank „der reinigenden Erkenntniss“ (54, 28) allmählich abebbten. Eine solche neue philosophische Lebensform knüpft an antike Vorbilder an, ohne dies explizit zu machen: Mit der Zähmung der Affekte und dem Aufruf der „N a t u r“ (54, 30) klingt insbesondere die Stoa an (die N. andernorts mit seinem Spott zu verfolgen pflegt, vgl. z. B. JGB 9 u. NK 5/1, S. 115–122, dort auch weitere Literatur). Es handelt sich um eine neu-alte Lebensform, die sich von allen weltlichen Zwängen losgemacht hat und die Welt als „Schauspiel“ (54, 31) nimmt, das keine Furcht mehr einzuflößen vermag. Dafür freilich benötige man „eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein brauchte“ (55, 1–4). Das Ziel dieser Lebensform ist Erkennen, um dessentwillen man überhaupt lebt – und man müsse dafür, heißt es wiederum asketisch-stoisierend, „auf Vieles, ja fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruss verzichten können“ (55, 10–12). Das Resultat sei das „freie, furchtlose Schweben“ (55, 12 f.) über allem, was sonst gilt – und darüber gebe der von allen alten Fesseln freigewordene Mensch auch gerne Auskunft. Wolle man jedoch mehr von ihm, werde er „auf seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der That, und vielleicht ein Wenig Spott nicht verhehlen: denn mit dessen ‚Freiheit‘ hat es eine eigene Bewandtniss“ (55, 19–21). Der künftige freie Mensch der Erkenntnis hat dem freien Menschen der Tat ganz offensichtlich die wirkliche Freiheit voraus – bleibt der doch gefangen in den Motiven, die unfrei machen. In den Notizen zu einer neuen MA-Vorrede, die in NL 1885, KSA 11, 40[65], 663–666 zusammengestellt wurden, obwohl sie im Arbeitsheft W I 7 an verschiedenen Orten verstreut sind, lautet eine zusammenhängende Passage: „Damals war „Eine große, immer größere Loslösung, eine willkürliches ˹In die Fremde
222
Menschliches, Allzumenschliches I
gehen, eine˺ ‚Entfremdung‘, ⎣Erkältung, Ernüchterung⎦ ˹dies allein, nichts weiter war in jenen Jahren˺ mein einziges Verlangen. Ich prüfte Alles, woran sich da bis dahin überhaupt mein Herz gehängt hatte, ich drehte die besten u geliebtesten Dinge um u sah mir ihre Kehrseiten an, ich that das Gleiche ˹Entgegengesetzte˺ mit allem, woran sich bisher die menschliche Kunst der Verleumdung u Verlästerung am feinsten geübt hat. ˹Damals gieng ˹ich˺ um Manches, das mir bis dahin fremd ˹geblieben˺ war, mit einer schonenden, selbst liebevollen Neugierde herum, ich lernte billiger – unsere Zeit u alles ‚Moderne‘ zu empfinden˺. Es war ˹mag˺ im Ganzen ˹wohl˺ ein ˹unheimliches u˺ böses Spiel ˹gewesen sein˺; – ˹u˺ ich war oft krank daran. [Bis „zu rücken“ interlineare Einfügung mit anderer Tinte über die Zeilen, Platzierung unsicher:] Jene plötzliche Loslösung kommt ⎣plötzlich⎦ wie ein Erdstoß: die junge Seele muß sehen, was sich mit ihr begiebt. Es ist eine Krankheit zugleich, die den M.[enschen] zerstören kann: dieser erste Ausbruch von Kraft ⎣u. Willen zur⎦ Selbst-Bestimmung; und viel krankhafter [?] sind die ersten wunderlichen u. wilden Versuche des Geistes, sich auf ˹mit˺ eigene[r] Faust nunmehr die Welt zurecht zu rücken. Aber mein Entschluß blieb stehen; und, selbst krank, machte ich noch die beste Miene zu meinem ‚Spiele‘ und wehrte mich boshaft gegen jeden Schluß, an dem Krankheit oder Einsamkeit oder die Ermüdung der Wanderschaft Antheil haben könnten. ‚Vorwärts, sprach ich mir zu, morgen wirst du gesund sein, heute genügt es dich gesund zu stellen.‘ Damals wurde ich über alles ‚Pessimistische‘ ˹bei mir˺ Herr; der Wille zur Gesundheit ˹selbst, die Schauspielerei der Gesundheit˺ war mein Heilmittel. Was ich damals als ‚Gesundheit‘ empfand u wollte, drücken diese Sätze verständlich und verrätherisch genug aus (p. 37 der ersten Auflage): ‚eine gefestete milde u im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken u plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein braucht u in ihren Äußerungen nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trägt – jene bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben; – und als der wünschenswertheste Zustand jenes freie furchtlose Schweben über Menschen Sitten Gesetzen u den herkömmlichen Schätzungen der Dinge‘. – In der That eine Art Vogel-Freiheit, eine Art ˹u˺ Vogel-Umblick, eine Art Mischung ˹jene etwas von˺ Neugierde u Verachtung ˹zugleich˺, wie sie ˹dergleichen˺ ein Jeder hat ˹kennt˺, der unbetheiligt ein ungeheures Vielerlei übersieht –, das war endlich der erreichte neue Zustand in dem ich es lange aushielt. ‚Ein freier Geist‘ und nichts mehr: so fühlte so nannte ich mich damals; u ich war wirklich ˹– das Wort thut kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe˺; ˹man ist der Mensch ist zum˺ Gegenstück derer geworden, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn; Mich ˹ihn den freien Geist˺ giengen lauter Dinge an, die mich ˹ihn˺ nicht mehr ‚bekümmerten‘.“ (KGW IX 4, W I 7, 17, 33–50 u. 19, 2–6 u. 18, 2–16 u. 19, 24– 36) N. ordnet 1885 also gerade den letzten Abschnitt des Ersten Hauptstücks als
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 34, KSA 2, S. 53–54
223
autobiographisch verräterisch ein – als einen Versuch, über die Suggestion geistiger Gesundheit auch ihr Auftreten zu erzwingen. Er sieht in MA I 34 die Figur des Freigeistes programmatisch konturiert. Das bei der ersten Lektüre von MA I 34 etwas abrupt anmutende Ende 54, 20–55, 21 mit dem Ausblick auf das Ideal einer philosophischen Lebensform, in der das Leiden nur noch zur Kenntnis, aber nicht mehr persönlich ernst genommen wird, bekommt im späteren Rückblick eine lebens- und denkteleologische Rahmung. In der ursprünglichen Textanlage ist dieses heiter gestimmte Ende von MA I 34 ein Echo auf das von N. in der Titelauflage von 1886 weggelassene Motto „An Stelle einer Vorrede“, wo Descartes die reine Freude der Erkenntnis beschwört: „Da wurde endlich meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr Nichts mehr anthun konnten.“ (KSA 2, 11, 19–21) Venturelli 1986, 119–121 interpretiert MA I 34 im Horizont von N.s Auseinandersetzung mit Dühring, während Heller 1972b, 433–484 den Abschnitt als Quintessenz des Hauptstücks begreift und entsprechend ausführlich würdigt. Zum Thema der Lüge in MA I 34 siehe Fillon 2023, 125. 53, 30 f. Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich?] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 36) eingeklammert (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1252332904/55/). 53, 31–54, 2 Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben k ö n n e? oder, wenn man diess m ü s s e, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei?] In der ersten Frage klingt das Motiv der heiligen Lüge an, die durch ihren Zweck gerechtfertigt ist und N. noch im Spätwerk beschäftigt, vgl. z. B. NK KSA 6, 102, 13–16 u. NK KSA 6, 208, 10. Auf die zweite Frage wähnte beispielsweise Philipp Mainländer mit dem Suizid eine Antwort gefunden zu haben. 54, 1–10 oder, wenn man diess müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion. Die Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für Wahrheit auseinandersetzen? Auch sie berühren sich ja mit Irrthümern (insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen).] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 36) eingeklammert (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/55/). 54, 2–5 Denn ein Sollen giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion.] Derlei markige Kundgaben sollten später als Markenkern N.s wahrgenommen werden.
224
Menschliches, Allzumenschliches I
Sie täuschen aber nur unvollkommen darüber hinweg, dass das Behauptete bisher mitnichten bewiesen worden ist – und auch in den nachfolgenden beiden Hauptstücken über Moral und Religion nur bedingt bewiesen werden wird. Die ganze Erörterung zum Wert des Lebens heischt ja noch immer nach Moral – zumal, wenn Leiden per se als etwas Schlechtes rubriziert wird. 54, 5–7 Die Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für Wahrheit auseinandersetzen?] Diese Reduktion der möglichen „Motive“ (menschlichen Handelns oder allgemein tierischen Verhaltens?) mit ihrem utilitaristischen Zungenschlag steht erratisch da und muss ohne erklärende Hinführung auskommen, was umso schwerer wiegt, als nicht erläutert wird, um wessen Nutzen oder Schaden (der Individuen? der Gattungen? der Welt?) es hier gehen soll. „Lust und Schmerz“ hatte immerhin MA I 18 (39, 19) als das ursprüngliche Interesse organischer Wesen herausstellen wollen (in Anlehnung an Spir 1877, vgl. NK 39, 11–17). Die Absicht in 54, 5–7 ist augenscheinlich die einer radikalen Reduktion, die traditionelle religiöse oder moralische Motive nach der Austreibung von Religion und Moral in den Bereich des Wunschdenkens verbannen will. Unter diesen Radikalreduktionsbedingungen droht dann das Trachten nach Wahrheit selbst zu einem unerklärlichen metaphysischen Fremdkörper zu werden. Wenn es einen „Sinn für Wahrheit“ gibt, der jenseits von Lust- oder Nutzenkalkülen angesiedelt ist – und die zweite Hälfte von MA I 34 will gerade eine neue philosophische Lebensform darauf verpflichten, nämlich weiterzuleben, „um immer besser zu erkennen“ (55, 9 f.) –, dann ist offensichtlich die Behauptung falsch, dass für die „Erkenntniss“ (was ist das für ein Handlungssubjekt?) nur „Lust“/„Unlust“, „Nutzen“/„Schaden“ als Motive in Frage kommen – es sei denn, auch die Suche nach Erkenntnis/Wahrheit sei von einem geheimen Lustinteresse getrieben. Das klang in der ersten ‚Reinschrift‘-Version von MA I 34 in Mp XIV 1, 97 noch an, die nach stoischen Ansätzen in eine geradezu neoepikureische Vision auslief: „an allem sich freuend, sobald man es nicht mehr fürchtet – Schauspiel“ (siehe oben die Transkription in NK ÜK MA I 34): Erkennen bringt Freude, also Lustgewinn. Die „Freude“ kehrt zwar im schließlichen Drucktext wieder (55, 15), bleibt aber recht verhalten. Der Entbehrungscharakter der neuen philosophischen Lebensform rückt hier stärker in den Vordergrund. 54, 8–10 (insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen)] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „(wenigstens insofern Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen)“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/ 68/). Der insinuierte Bezug ist wohl der zu MA I 32, KSA 2, 51 f. 54, 11 Unwahrheit] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 37) unterstrichen (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/56/).
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 34, KSA 2, S. 54
225
54, 14 wie die der Ehre,] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 37) eingeklammert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/56/). 54, 10–17 Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen.] Statt „seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne“ hieß es im Druckmanuskript D 11, 23 ursprünglich stattdessen: „seine Vergangenheit kritisch zu zerbrechen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,23). Theodor W. Adornos berühmter Satz in den Minima Moralia: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno 1951, 59) scheint hier vorweggenommen worden zu sein; jedenfalls heißt es in Adornos Vorlesung zur Philosophischen Terminologie: „Ein Gedanke kommt hier zum Tragen, den ich erst spät, nachdem ich ihn ausgedrückt hatte, voller Stolz bei Nietzsche wiederfand: kein richtiges Leben ist im falschen möglich“ (Adorno 1973, 133). Die N.-Stelle, die Adorno im Sinn hatte, ist offensichtlich 54, 10 f., vgl. Fetscher 1986, 235. Die metaphorische Verbindung von Brunnen und Unwahrheit ist die Umkehrung einer von Demokrit überlieferten Sentenz, auf die N. öfters anspielt, nämlich: „ἐτεῆι δὲ οὐδὲν ἴδμεν· ἐν βυθῶι γὰρ ἡ ἀλήθεια“ (Diogenes Laertius: De vitis IX 72 – „über die Wahrheit wissen wir nichts, die Wahrheit ist nämlich in einem Brunnen“). Brunnen und Wahrheit assoziiert N. beispielsweise in ZB 3, KSA 1, 702, 22 u. UB I DS 8, KSA 1, 204, 34–205, 1; direkt auf das Demokrit-Fragment – ohne den Urheber zu nennen – wird in NL 1872/73, KSA 7, 19[216], 487, 4 f. Bezug genommen. Übrigens kehrt der Brunnen ohne Begleitung von Wahrheit oder Unwahrheit auch in MA I 286, KSA 2, 233, 12 u. MA I 292, KSA 2, 236, 32 wieder. 54, 14–20 ungereimt zu finden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich zöge?] Im Druckmanuskript D 11, 23 stand ursprünglich stattdessen: „Liebe, Gerechtigkeit usw. in die Luft zu zerblasen. Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche man eine als Vorbereitung zu einer tragischen Philosophie der Zerstörung zu fassen hätte nennen müßte?“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,23) 54, 17–20 Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich zöge?] Die radikale Destruktivität als philosophische Aufgabe konterkariert wirkungsvoll am Ende des Ersten Hauptstücks das Descartes-Motto der Erst-
226
Menschliches, Allzumenschliches I
ausgabe, das die Glücksträchtigkeit der Erkenntnis herausgestellt hat (MA I An Stelle einer Vorrede, KSA 2, 11). Allerdings ist nicht ganz klar, worauf sich die Eingangswendung „Ist es wahr“ bezieht: auf die Diagnose, dass das Menschenleben in Unwahrheit befangen sei oder darauf, dass sich der Mensch nicht aus dieser Unwahrheitsbefangenheit befreien könne, ohne seine Handlungsmotivationen und seine Glücksvisionen fundamental zu hinterfragen. Sodann wird gerade das Folgende darstellen, dass keineswegs nur die in 54, 17–20 genannte, destruktive Denkweise übrigbleibt. 54, 19 Zerstörung] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 37) eingeklammert, am Rand: „Auflösung Auseinanderlösung Selbstvernichtung“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/56/). 54, 20 Ich glaube] Es wird im Unklaren gelassen, in welchem Verhältnis das „Ich“ zum ‚Wir‘ steht, das bis dahin in MA I 34 als Sprechinstanz auftrat. 54, 20–29 die Entscheidung über die Nachwirkung der Erkenntniss wird durch das T e m p e r a m e n t eines Menschen gegeben: ich könnte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei einzelnen Naturen mögliche Nachwirkung, eine andere denken, vermöge deren ein viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstünde, als das jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens noch Kraft hätten, aus alter vererbter Gewöhnung her, allmählich aber unter dem Einflusse der reinigenden Erkenntniss schwächer würden] „Temperament (lat.), ursprünglich ein gewisser spezifischer Wärmegrad (Temperatur) des Körpers. Man glaubte früher, daß dieser spezifische Wärmegrad abhängig sei von der Mischung der Säfte, und stellte daher so viel Temperamente auf, als man Kardinalsäfte des Körpers (rotes Arterienblut, schwarze Galle, gelbe Galle oder der Schleim und Lymphe) annahm. Je nach dem Vorherrschen des einen oder andern Safts im Körper hat der Mensch ein sanguinisches, melancholisches, cholerisches oder lymphatisches (phlegmatisches) T. Das sanguinische T. hieß auch das warme, das melancholische das kalte, das cholerische das trockne, das phlegmatische auch das feuchte T. Obgleich sich dieser Ideengang keineswegs auf positive Thatsachen gründen läßt und als eine zusammenhängende Reihe von Irrtümern erscheint, so hat sich doch das Wort T. in der Umgangssprache erhalten, weil man das Bedürfnis fühlte, für gewisse Zustände und Erscheinungen am Körper, deren Wesen und innere Bedingungen nicht klar vor uns liegen (wie für andre unbestimmte Begriffe), ein einfaches Wort zur Hand zu haben. Die wissenschaftliche Medizin macht in Deutschland wenigstens keinen Gebrauch mehr von dem Wort und dem Begriff T., wohl aber geschieht dies noch in Frankreich. Um so mehr findet das Wort T. von seiten der Laien Verwendung, und man versteht darunter einen gewissen Teil der Konstitution, nämlich die Stimmung und die Weise der Thätigkeitsäußerung des Gehirns.“ (Meyer 1885–1892, 15, 584) Die Affektreinigung, die 54, 20–29
Stellenkommentar MA I Erstes Hauptstück 34, KSA 2, S. 54–55
227
als Perspektive zeichnet, erinnert stark an das asketische Philosophen-Ideal der Stoa (vgl. NK 75, 19–30). 54, 29–32 Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der N a t u r, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte.] „Man lebte“ ist kein Imperfekt Indikativ, sondern ein Konjunktiv II, der, wie dann das „wäre“ in 54, 32, eine Unwahrscheinlichkeit, eine Irrealität ausdrückt. Hier scheint eine radikal-kontemplative Lebensform auf, wie sie antike Philosophen gerne zu praktizieren empfahlen. Sie scheint „einzelnen Naturen“ (54, 23) als Muster in lebenspraktischer Dissidenz zur Jetztzeit dienen zu können. Vivarelli 1994a, 97 f. sieht in der Schilderung von MA I 34 einen deutlichen Bezug zu Montaigne (vgl. Montaigne 1753–1754, 1, 430 u. 3, XXIX; zu N.s Lesespuren in Montaignes Essais siehe Krause 2022a, 60–65). 54, 32 Emphasis] „Emphasis, f[eminin], gr[iechisch], die Kräftigkeit, der Nachdruck im Sprechen“ (Petri 1861, 280), in N.s Werken und philosophischem Nachlass als griechische Originalvokabel ein Hapax legomenon. In seinem Dankesbrief für die Zusendung von MA I an N. von Ende Juni, Anfang Juli 1878 nimmt Carl Fuchs die Vokabel auf und rühmt: „Das gefällt mir, daß wir die Emphasis los sein werden, daß wir nicht aus Enthusiasmus, für Andere zu handeln, wollen werden“ (KGB II 6/2, Nr. 1088, S. 906. Z. 39–41). 55, 4–7 Nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge, – jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben] In NL 1883, KSA 10, 18[55], 581, 1–3 wird die Metapher dann explizit auf Eugen Dühring angewendet: „Dühring – ein M〈ensch〉 der durch sich selber von seiner Denkweise abschreckt und als ewig kläffender und beißlustiger Kettenhund vor seine Philosophie sich hingelegt hat.“ Vgl. Venturelli 2003, 216. Auf die alte Assoziation von ungebändigten Trieben und Hunden wird in GM III 20 angespielt, vgl. NK KSA 5, 388, 14–16. 55, 8 die gewöhnlichen Fesseln des Lebens] Im Druckmanuskript D 11, 23 hieß es ursprünglich stattdessen: „alle Ketten“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,23). 55, 12–14 ihm muss als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge g e n ü g e n] In seiner Wissenssoziologie hat Karl Mannheim die Wendung „freischwebende Intelligenz“ oder „freischwebende Intellektuelle“ popularisiert, die er Alfred Weber verdankte (siehe z. B. Mannheim 1964, 454–458) und die die soziale und normative Ungebundenheit einer die Moderne wesentlich prägenden, allerdings prekären Schicht geistiger Akteure bezeichnet. Diese Metapher vom freien Schweben der Intelligenz hat vermutlich in MA I 34 eine Wurzel.
228
Menschliches, Allzumenschliches I
Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen. Die Präposition „Zur“ im Titel des Zweiten Hauptstücks indiziert, dass offensichtlich keine Gesamtgeschichte dieser „moralischen Empfindungen“ zu erwarten ist – während Paul Rée mit seiner Geschwisterschrift Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877) noch selbstverständlichen Gebrauch vom bestimmten Artikel gemacht und damit den ganzen Ursprung zu erhellen versprochen hat. N. und Rée sprechen bezeichnenderweise nicht von einer Geschichte der Moral, sondern der „moralischen Empfindungen“, was die Moral aus dem Feld der möglichen objektiven, extramentalen Gegenstände ins Innenleben und damit in die Subjektivität der Akteure verlagert, ohne dass es zumindest für N. einen feststehenden inneren moralischen Sinn gäbe. Gerade die „moralischen Empfindungen“ sind ein durch und durch geschichtliches Phänomen – ausgesetzt dem Werden, dem Verändern und dem Vergehen.
35. MA I 35 markiert den Beginn einer Reflexionskette, die bis MA I 38 reicht und sich als Abfolge von „Argument, Gegenargument, Zurückweisung des Gegenarguments mit einem neuen Argument und Bekräftigung des neuen Arguments“ (Winkler 2021a, 256; vgl. auch Schwab 2019, 68–75) verstehen lässt. Der Eingangsabschnitt des Zweiten Hauptstücks verspricht in der Titelzeile, die „V o r t h e i l e d e r p s y c h o l o g i s c h e n B e o b a c h t u n g“ (57, 5 f.) zu erörtern, so dass die Leser erwarten könnten, über den wissenschaftlich-methodischen Zugang zu den „moralischen Empfindungen“, denen das Hauptstück gewidmet sein soll, unterrichtet zu werden. Diese Erwartung eines Brückenschlags zur zeitgenössischen psychologischen Wissenschaft wird freilich schon im ersten Satz konterkariert: „[P]sychologische Beobachtung“ sei nichts anderes als „Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches“ (57, 6–8). Immerhin aber wird dieser Beobachtung noch im selben Satz eine therapeutische Dimension zugestanden, gehöre sie doch zu den „Mitteln“, die Lebenslast zu verringern. Sie könne, durch „Uebung“ als „Kunst“ perfektioniert, „Geistesgegenwart“ und „Unterhaltung“ (57, 10 f.) unter problematischen Umständen verschaffen – ja man könne sogar den misslichsten eigenen Lebenslagen mit dieser Beobachtungskunst „Sentenzen abpflücken“ (57, 13). Dies jedenfalls sei die Auffassung „frühere[r] Jahrhunderte[.]“ (57, 15) gewesen. Die „psychologische Beobachtung“ ist also – obwohl diese Wendung auch eine direkte Anspielung auf den Titel des 1875 anonym erschienenen Erstlings von Paul Rée (Psychologische Beobachtungen. Aus dem Nachlass von ***) darstellt
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 35, KSA 2, S. 55
229
(vgl. Salanskis 2013, 53 f.) – nichts, was man erst der aktuellen, gerade in Entstehung begriffenen experimentellen Psychologie als Fachwissenschaft verdankt, sondern vielmehr eine tief in der Vergangenheit verankerte Kulturpraxis, die freilich in der Gegenwart vergessen worden sei. Warum in Deutschland, ja in Europa ein derartiger Mangel an psychologischer Beobachtung herrsche, fragt MA I 35 – sie fehle weniger in Romanen und philosophischen Werken als vielmehr bei der „Beurtheilung öffentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten“ (57, 20 f.) und vor allem „in der Gesellschaft aller Stände“ (57, 22 f.), wo man zwar viel über Menschen spreche, jedoch „nicht ü b e r d e n M e n s c h e n“ (57, 24). Warum lasse man sich das entgehen, warum lese man die „grossen Meister der psychologischen Sentenz“ (57, 27), namentlich „La Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten“ (58, 2), nicht mehr? Und die wenigen Leser, die sich doch dazu bereitfänden, würden sie oft nicht hinreichend zu würdigen wissen, wenn sie nicht selbst sich in der „Kunst der Sentenzen-Schleiferei“ (58, 7 f.) geübt hätten. Daher verkenne man die eminenten Schwierigkeiten, die mit der Sentenzen-Produktion verbunden seien und nehme sie zu leicht. Auffällig ist, dass MA I 35 auf die selbst gestellten Warum-Fragen nicht nur keine Antwort gibt, sondern nicht einmal einen Antwortversuch unternimmt. Obwohl gleich eingangs die Vorteile der psychologischen Betrachtung für die Bewältigung eigenen Leids und später dann ihre Dienlichkeit im sozialen Verkehr hervorgehoben werden, hat man offenbar ohne Not auf sie Verzicht geleistet. Man könnte nun fragen, ob zumindest der zweite angeblich positive Effekt nur ironisch gemeint sei, denn in gewöhnlicher „Unterhaltung“ vom „Menschen“ zu sprechen, wie er an sich und ungeschönt ist, mit all den Lastern und Erbärmlichkeiten, die ihm zumindest in der eigens genannten, von La Rochefoucauld herrührenden moralistischen Tradition attestiert werden, dürfte im Regelfall nicht zu geistreicher Kommunikationsfortsetzung führen, sondern zum Kommunikationsabbruch: Wer sich derart mit dem ungeschönt Menschlichen konfrontiert sieht, dürfte sich, wenn er sich nicht gerade in einem sehr erlesenen Kommunikationsumfeld bewegt, einfach nur vor den Kopf gestoßen fühlen und die Unterhaltung beenden. „Offenkundig kann Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches das Erbe der französischen Moralisten glaubwürdig nur antreten, wenn er die Distanz markiert, die seinen monologisch-‚einsamen‘ Schreibhorizont von ihrem dialogisch-geselligen trennt – raumzeitlich und strukturell. / Er tut dies erstens, indem er über diese Distanz reflektiert, zweitens, indem er die moralistische Schreibweise nutzt, um einen vielstimmigen, dialogisch-geselligen Austausch zu suggerieren, und drittens, indem er die Methode der Verdächtigung sowie zentrale Begriffe der Moralistik seinem eigenen Denkhorizont anpasst.“ (Winkler 2021a, 253) Was in MA I 35 Psychologie heißt, ist das, was man gemeinhin Moralistik nennt, jene literarisch-philosophische Bewegung, die sich gerade mit La Rochefou-
230
Menschliches, Allzumenschliches I
cauld verbindet und sich der schonungslosen Analyse menschlicher Wesenszüge und Gepflogenheiten (mores, daher das von N. so verwendete Etikett „Moralistik“) verschrieben hat. Die Engführung von „psychologischer Beobachtung“ und „Sentenz“ ist an sich ja keineswegs zwingend – die meisten wissenschaftlichen Psychologen des 19. Jahrhunderts sind ohne Sentenzenschleiferei ausgekommen –, aber in der Moralistik werden Beobachtung und Sentenzenform tatsächlich enggeführt. Überdies kann MA I 35 damit nicht nur auf den Titel von Rées Werk anspielen, sondern auch auf das Hauptwerk La Rochefoucaulds, die Réflexions ou sentences et maximes morales (1664). Zu MA I 35 finden sich in Mp XIV 1 verschiedene Vorarbeiten, die KGW IV 4, 174 als „Reinschriften“ betitelt. Die Aufzeichnung Mp XIV 1, 368 umfasst mit Varianten den nachmaligen Drucktext 57, 6–58, 4, um dann mit dem späteren Beginn von MA I 36 (KSA 2, 58, 19) fortzufahren (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,368). Die Aufzeichnung Mp XIV 1, 254 setzt mit 58, 4 ein und endet mit 58, 17; benutzt wurde dafür ein schon anderweitig beschriebenes Blatt mit N.s handschriftlicher Notiz: „Ragaz, Mai und Juni / 1877“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,254). Dieser Zeitraum ist demnach als terminus post quem der Niederschrift dieses ‚Reinschrift‘-Teils anzusehen. Unten auf Mp XIV 1, 74 findet sich schließlich das Notat: „Von den unangenehmsten und dornenvollsten Ereignissen u. Lebensstrichen kann man [– – –] Sentenzen abpflücken u. kann sich dabei ein wenig wohler fühlen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,74) Umgewandelt und integriert kehrt diese Sentenz dann in 57, 12–14 wieder. In seinen Aufzeichnungen reflektiert N. den Nutzen der Sentenzenschleiferei durchaus ambivalenter, als MA I 35 den Anschein erweckt: „Ob Lebenserfahrungen in Gestalt von Sentenzen dargestellt einen Nutzen für Andere haben, weiss ich nicht, für den welcher sie macht sind sie eine Wohlthat: sie gehören zu den Mitteln der Erleichterung des Lebens. / Und von den unangenehmsten dornenreichsten Ereignissen oder Lebensstrichen kann man immer noch Sentenzen abpflücken (und einen Mundvoll Annehmlichkeit daraus haben) und sich dabei ein wenig wohl fühlen.“ (NL 1877, KSA 8, 22[15], 382, 5–12) Dass die deutsche Sprache für die Sentenzen auch strukturell Probleme aufgibt, ist ein Aspekt, den NL 1876/ 77, KSA 8, 23[132], 450, 10–28 reflektiert – ein Text, der dann aber nur teilweise Aufnahme in MA I 35 findet: „Wer in der deutschen Sprache Sentenzen bildet, hat die Schwierigkeit, daß sie gerade am Ende nicht scharf und streng abgeschliffen werden können, sondern daß Hülfszeitwörter hinterdrein stürzen wie Schutt und Gerümpel einem rollenden Steine. – Selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht auf diesem Gebiete selber gewetteifert hat. Man nimmt es ohne diese praktische Belehrung für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene nicht scharf genug heraus; deshalb haben die Leser von Sentenzen ein verhältnißmäßig geringes Vergnügen
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 35, KSA 2, S. 55
231
an ihnen, ebenso wie die gewöhnlichen Betrachter von Kameen. Nur im Wetteifer lernt man das Gute kennen: so sollte man, um der Lust der Erkenntniß willen, wenigstens eine Wissenschaft eine Kunst wirklich ausüben, und vielleicht einen Roman, eine philosophische Betrachtung, eine Rede von Zeit zu Zeit ausarbeiten; – durch Nachdenken über seine eignen Erfahrungen begreift man dann auch die verwandten diesen Erfahrungen angrenzenden Gebiete – und erwirkt sich den Zugang zu vielen der besten Lustempfindungen.“ In den Notaten wird auch der Nachteil sentenziösen Schreibens reflektiert – und überlegt, wie sich daraus ein Vorteil gewinnen lässt: „Eine Sentenz ist im Nachtheil, wenn sie für sich steht; im Buche dagegen hat sie in der Umgebung ein Sprungbrett, von welchem man sich zu ihr erhebt. Man muß verstehen, unbedeutendere Gedanken um bedeutende herumzustellen, sie damit einzufassen, also den Edelstein mit einem Stoff von geringerem Werthe. Folgen Sentenzen hinter einander, so nimmt man unwillkürlich die eine als Folie der andern, schiebt diese zurück, um eine andere hervorzuheben, d. h. man macht sich ein Surrogat eines Buches.“ (NL 1876/77, KSA 8, 23[137], 452, 16–24) Natürlich liegt die Vermutung nahe, N. habe mit MA I genau das hier skizzierte Verfahren des Sentenzen-Platzierens und -Profilierens im größeren Textzusammenhang erproben wollen. Dies freilich würde den Lesern und insbesondere dem Kommentator die Aufgabe auferlegen, zu entscheiden, was denn geschliffene edle Sentenz und was geringzuschätzendes Beiwerk sei. Diese Entscheidungen fallen naturgemäß schwer – zumal die eine Leitmetapher von 23[137] schief ist: Edelsteine pflegt man nicht mit „Stoff von geringerem Werthe“ einzufassen, sondern mit ebenbürtigem Edelmetall. Und ob MA I tatsächlich als „Sentenzen-Buch“ geplant war, steht dahin: Eine Aufstellung zu schreibender Werke in NL 1876/77, KSA 8, 21[82], 378, 7 f. unterscheidet „II Menschliches, Allzumenschliches“ von „III Sentenzen-Buch“. Eine weitere Reflexion versteht die Sentenz als ursprünglich immer schon eingefasst, wobei es dort dann dem Rezipienten auferlegt wird, die im geschriebenen oder gedruckten Text fehlenden Kettenglieder zu ergänzen: „Eine Sentenz ist ein Glied aus einer Gedankenkette; sie verlangt, dass der Leser diese Kette aus eigenen Mitteln wiederherstelle: diess heisst sehr viel verlangen. Eine Sentenz ist eine Anmaassung. – Oder sie ist eine Vorsicht: wie Heraclit wusste. Eine Sentenz muss, um geniessbar zu sein, erst aufgerührt und mit anderem Stoff (Beispiel, Erfahrungen, Geschichten) versetzt werden. Das verstehen die Meisten nicht und desshalb darf man Bedenkliches unbedenklich in Sentenzen aussprechen.“ (NL 1876/77, KSA 8, 20[3], 361, 17–25) Die soziale Dimension der Sentenzenbildung und des Sentenzengenusses spiegelt NL 1876, KSA 8, 19[119], 359, 7: „Die Sentenz als Thema der Geselligkeit.“ Im Handexemplar C 4402 hat N. den Abschnitt MA I 35 für eine spätere Ausgabe vollständig mit Bleistift überarbeitet (Nietzsche 1878, 41 f.). Nimmt man das
232
Menschliches, Allzumenschliches I
dort Eingeklammerte als Streichung, liest sich diese überarbeitete Version, die aus der zweiten Hälfte der 1880er Jahre stammen dürfte, wie folgt: „Von der moralistischen Oberflächlichkeit in Deutschland. – Dass das Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches zu den Mitteln gehöre, vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne, dass die Übung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass man den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein Wenig wohler fühlen könne: das glaubte man, wusste man – in früheren Jahrhunderten. Warum vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland die moralistische Armseligk[ei]t durch viele Zeichen sich zu erkennen giebt? Ja, man darf fragen möchte zweifeln, ob Deutschland überhaupt bisher schon ‚moralisirt‘ hat. Man gebe Acht auf die Beurtheilung öffentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten: man erwäge d Erfolg, welchen lächerlich-enge, altjungfernhafte Bücher (zB Vilmar’s Ligesch oder Janssen) [haben,] vor Allem aber gestehe man sich ein, wie die Kunst und auch die Lust der psychologischen Zergliederung und Zusammenrechnung in der Gesellschaft aller dt. Stände fehlt, in der man wohl viel über Menschen, aber gar nicht ü b e r d e n M e n s c h e n spricht. Warum doch lässt man sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen? Warum liest man nicht einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? – denn, ohne jede Übertreibung gesprochen: der Gebildete in D., der La Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten bis hin zum letzten großen Mor. Stendhal gelesen hat, ist selten zu finden; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungewöhnliche Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Künstler ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend, die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat – gleich mir: man vergebe mir den hier Anspruch, unter D. eine Ausnahme zu sein. Man nimmt, ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reizvolle nicht scharf genug heraus. Desshalb haben die d. Leser von Sentenzen ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen, ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht, wie den gewöhnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht lieben können und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber noch, fortzulaufen.“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/60/ u. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/12523 32904/61/; vgl. KGW IV 4, 174 f.) Schon die Eingangszeile wird geändert und damit der sichtlichste Bezug auf Paul Rée getilgt; der Text wird auf die Deutschen und ihre Unfähigkeit zur Moralistik hin justiert – und das ‚Ich‘ führt sich als Sentenzenschleifermeister unbescheiden selbst ein. Die beiden in Klammern eigens ge-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 35, KSA 2, S. 55–57
233
nannten Autoren sind der lutherische Theologe und Philologe August Friedrich Christian Vilmar (1800–1868) und der katholische Theologe und Historiker Johannes Janssen (1829–1891). Vilmar hat mit seinen 1845 erstmals erschienenen, ursprünglich an eine nichtakademische Zuhörerschaft gerichteten Vorlesungen über die Geschichte der deutschen National-Literatur, die als Geschichte der Deutschen National-Litteratur 1894 bereits in der 24. Auflage vorlagen, ein im Bildungsbürgertum ungemein einflussreiches Werk geschaffen. Vilmars Gegenstandsbestimmung in seiner Einleitung hätte N. als Beleg für eine „lächerlich-enge“ Sichtweise dienen können, zumal in der dezidiert antideutschen Stoßrichtung seiner Neubearbeitung von MA I 35: „Es ist nur das Gebiet der G e s c h i c h t e d e r d e u t s c h e n N a t i o n a l l i t e r a t u r, dessen allgemeine Beschreibung diese Vorträge sich zur Aufgabe gesetzt haben; nur diejenigen literärischen Kunstwerke unseres Volkes, welche in Stoff und Form dessen eigentümliche Anschauung, Gesinnung und Sitte, dessen eigensten Geist und eigenstes Leben wiedergeben und abspiegeln, nur diese, als der Inhalt der deutschen N a t i o n a l literatur (oder der d e u t s c h e n Literatur im e n g e r e n Sinne), werden in ihrem Entstehn, ihrem Wesen, ihrer Folge n a c h – und ihrer Wirkung a u f einander Gegenstand meiner Schilderung sein können“ (Vilmar 1845, 1). N. erwähnt Vilmar sonst nirgends und besaß offenbar auch keines seiner zahlreichen Bücher; vermutlich aber war ihm die populäre Geschichte der Deutschen National-Litteratur schon seit Schulzeiten bekannt (vgl. zu Vilmars Einfluss auch Politycki 1989, 193 u. ö.). Demgegenüber kaufte N. am 23. 07. 1878 den ersten Band von Janssens Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, im Folgejahr vermutlich den zweiten Band, der die Reformationszeit behandelte und auf den N. wiederholt zurückkam, weil er daraus ein vom protestantischen Ideal stark abweichendes Luther-Bild vermittelt bekam (vgl. Sommer 2017c sowie im Blick auf Janssen 1882 N.s Brief an Overbeck vom 10. 11. 1882, KSB 6/KGB III 1, Nr. 327, S. 275 f., Z. 20–29). In GM III 19 werden demgegenüber Janssens Zugang zur Reformation und die Publikumsreaktion darauf ironisiert (vgl. NK KSA 5, 387, 2–5). Janssens unbestrittener Einfluss auf N.s Lutherbild wird gemeinhin überschätzt (vgl. NK KSA 5, 66, 19–22 u. NK KSA 6, 251, 12–26 sowie Orsucci 1996, 352–364). Zu MA I 35 vgl. auch Emden 2014a, 50 u. Nasser 2017, 118–120. 57, 5 f. Vo r t h e i l e d e r p s y c h o l o g i s c h e n B e o b a c h t u n g.] Im Druckmanuskript D 11, 25 von Köselitz’ Hand hatte es ursprünglich stattdessen: „Recht der psychologischen Beobachtung“ geheißen, bevor N. es zum schließlich gedruckten Text korrigierte. Nach der Überschrift folgte – später ebenfalls gestrichen –: „Einleitung / Vorrede“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,25). 57, 6–8 das Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches – oder wie der gelehrtere Ausdruck lautet: die psychologische Beobachtung] Diese Gleichsetzung
234
Menschliches, Allzumenschliches I
scheint den Titel von MA zu erklären. Freilich wäre es zu kurz gegriffen, würde man das „Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches“ in „psychologischer Beobachtung“ sich erschöpfen sehen; auch was Rée in seinen Psychologischen Beobachtungen unternimmt, beschränkt sich nicht auf Psychologie in einem akademischen Sinn, auch wenn nach der Eingangsexposition von MA I 35 frühere Jahrhunderte dazu imstande waren, aus diesen psychologischen Beobachtungen qua Entlarvung des Menschlich-Allzumenschlichen Produktives zu gewinnen. Das moderne Verständnis von Psychologie und die Moralistik des 17. Jahrhunderts werden kurzgeschlossen. Dabei wird im Fortgang hervorgehoben, dass diese Art der Beobachtung zu den „Mitteln“ gehöre, „vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne“ (57, 8 f.). Lässt sich daraus ableiten, dass MA I insgesamt unter den Gesichtspunkt der Erleichterung zu stellen wäre? Soll dieses Werk seine Leser entlasten – nicht nur von den Hypotheken der Metaphysik und Religion? MA I 36 wird dann die Gegenrechnung dazu aufmachen – wie viel Unangenehmes psychologische Beobachtungen zutage fördern. 57, 13 Sentenzen] „Sentenzen“ – von lateinisch „sententia“, „Spruch, Ausspruch, Denk- oder Sinnspruch“ (Petri 1861, 714) – pflegte N. in seinen ersten philosophischen Werken bei anderen zu finden und unter Wagners Einfluss – vgl. NK KSA 1, 77, 12–14 – ihren Gebrauch kulturkritisch zu glossieren (vgl. GT 19, KSA 1, 121, 13 u. UB IV WB 9, KSA 1, 488, 21 f.). Wohl auch unter dem Eindruck von La Rochefoucaulds Réflexions ou sentences et maximes morales (vgl. NK 58, 2) positiviert sich der Ausdruck „Sentenzen“ in N.s Sprachgebrauch; „Sentenzen“ stehen nun für äußerst verknappte Aphorismen. In MA II VM 168, KSA 2, 446, 6 wird dann ein „L o b d e r S e n t e n z“ angestimmt (vgl. auch MA II VM 165, KSA 2, 445); und in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 51 nimmt N. für sich in Anspruch, selbst „der Erste unter Deutschen Meister“ sowohl des „Aphorismus“ als auch der „Sentenz“ zu sein, vgl. NK KSA 6, 153, 7–13. Vgl. auch Winkler 2021a, 245 f. 57, 16 wo wenigstens in Deutschland, ja in Europa] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „wo wenigstens in Deutschland und Russland“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/73/). Im Druckmanuskript D 11, 25 von Köselitz’ Hand hatte es ursprünglich nur: „in Deutschland“ geheißen, bevor N. „und Russland“ hinzufügte (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,25). 57, 20 schon mehr] Im Druckmanuskript D 11, 25 von Köselitz’ Hand hieß es ursprünglich stattdessen: „nicht nur“, bevor es zum schließlich gedruckten Text korrigiert wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,25). 57, 23 der Gesellschaft] Im Druckmanuskript D 11, 25 von Köselitz’ Hand hieß es ursprünglich stattdessen: „der deutschen Gesellschaft“, bevor „deutschen“ gestrichen wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,25).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 35, KSA 2, S. 57–58
235
57, 23 f. Gesellschaft aller Stände, in der man wohl viel über Menschen, aber gar nicht ü b e r d e n M e n s c h e n spricht] Das suggeriert, dass die in MA I 35 aufgerufene Psychologie in der Lage sei, allgemeine Aussagen darüber zu formulieren, was der Mensch an sich sei, so dass diese Psychologie zu einer deskriptiv-delegitimierenden Anthropologie würde. Diese Suggestion widerspricht der Exposition „h i s t o r i s c h e [ n ] P h i l o s o p h i r e n [ s]“ in MA I 2, KSA 2, 24 f., wonach es gerade unmöglich sei, ein historisch unveränderliches Humanum zu identifizieren. Freilich handelt MA I 35 hier auch von einer sozialen Kommunikationssituation, aus der nicht zwingend abzuleiten ist, dass der Sprecher nun ein solches Allgemein-Menschliches anzunehmen geneigt ist. Will MA I 35 dazu anspornen, sich selbst in der „Kunst der Sentenzen-Schleiferei“ (58, 7 f.) zu üben, um dann wie Kenner und Könner sich an La Rochefoucauld zu delektieren? Aber kann man über ‚den‘ Menschen mehr herausfinden, Menschlich-Allzumenschliches, als es den alten Moralisten bereits gelungen ist? Sollte man bloß die moralistischen Klassiker lesen oder ist ‚der Mensch‘ im Laufe seiner jüngeren und jüngsten Geschichte doch ein anderer geworden? 58, 1 Gebildete in Europa] Im Druckmanuskript D 11, 26 von Köselitz’ Hand hieß es ursprünglich stattdessen: „Gebildete in Deutschland“, bevor N. es mit Bleistift zum schließlich gedruckten Text korrigierte (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,26). 58, 2 La Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten] In Mp XIV 1, 368 stattdessen: „La Rochefoucauld Vauvenargues Champfort [sic] und Stendhal“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,368). François, Duc de La Rochefoucauld (1613–1680) ist für N. der Inbegriff vornehmer französischer Kultur und der moralistischen Zuspitzung, vgl. z. B. NK ÜK FW 122, NK KSA 5, 252, 22–28 u. NK KSA 6, 361, 12–17, im Überblick Donnellan 1979a, Donnellan 1982b, Göttert 1993, Abbey 2015, Tuncel 2015/16, Stegmaier 2021a, 126, Winkler 2021a u. Stellino 2024 mit weiteren Literaturhinweisen. Luc de Clapiers, Marquis de Vauvenargues (1715– 1747) kommt deutlich seltener vor, während N. Nicolas Chamfort (1741–1794) zwar häufiger nennt, ihm aber ambivalent gegenübersteht, vgl. z. B. NK ÜK FW 95 u. Donnellan 1983. Spätestens bei seinen intensiven Schopenhauer-Lektüren ist N. den anderen französischen Moralisten und insbesondere La Rochefoucauld begegnet; er besaß eine französische und zwei deutsche Ausgaben seiner Réflexions ou sentences et maximes morales (NPB 338 u. 340) und war auch mit seinem Umfeld vertraut, namentlich vermittelt über Charles-Augustin Sainte-Beuve (vgl. Sainte-Beuve 2014). In den 1870er Jahren war, wie Ida Overbeck berichtet, N. ein häufiger Gast bei ihr und ihrem Mann: „Es beschäftigte ihn [sc. N.] damals das Problem einer neuen Moral. Mein Mann las aus dem Stegreif übersetzend SainteBeuvesche Aufsätze vor, da kam Nietzsche auf seine Franzosen zu sprechen. La
236
Menschliches, Allzumenschliches I
Bruyère, der ihm als Mann der untergeordneten gesellschaftlichen Stellung und einer daraus entspringenden Gedrücktheit nicht angenehm war. La Rochefoucauld, den er um seiner Geschlossenheit, seines strengen Prinzips willen liebte, der Mann der Leidenschaft und Vornehmheit, dem die Welt nichts schuldig blieb. Vauvenargues war ihm unsympathisch. Es griff ihn an, was er über dessen frühes Siechtum und frühen Tod hörte, sein liebenswürdiger Stoizismus stieß ihn ab. Bei Fontenelle empfand er den Reiz reiner, kühler, in aller Weite und Höhe sich haltender Geistigkeit, verbunden mit der Sicherheit des weltmännischen Verkehrs. Er liebte das Zeitalter Ludwigs XIV. und haßte die Revolution. Er nahm es Chamfort übel, sich in den Umgang mit Revolutionsmännern gebracht zu haben, und wollte nicht, daß sein eigener Name mit dem Chamforts zusammen je genannt werde. Nietzsche rechnete sich damals zu der Gesellschaft jener aristokratischen Moralisten und litt schon in diesen Jahren, da er bei uns verkehrte, sehr darunter, dass er so wenig gekannt und gelesen sei“ (Overbeck 1908, 237). In der französischen Ausgabe von La Rochefoucaulds Réflexions ou sentences et maximes morales hat N. in der Einleitung von Sainte-Bevue den folgenden Absatz mit Randstrich links und rechts markiert und das Datum „15. Nov. 1877“ dazu gesetzt: „On ne peut assez louer La Rochefoucauld d’une chose, c’est qu’en disant beaucoup il n’exprime pas trop. Sa manière, sa forme est toujours honorable pour l’homme, quand le fond l’est si peu.“ (La Rochefoucauld o. J., XV – „Man kann La Rochefoucauld nicht genug für eine Sache loben: Indem er viel sagt, drückt er nicht zu viel aus. Seine Art, seine Form sind immer ehrend für den Menschen, auch wenn der Inhalt es sehr wenig ist.“) N. war freilich auch mit den deutschen Vertretern der moralistischen Sentenzenliteratur in Berührung gekommen, beispielsweise mit Paul Winckler (1630– 1686), von dessen Rezeption z. B. NL 1876/77, KSA 8, 23[158], 462 u. NL 1876/77, KSA 8, 23[65], 425 zeugen, vgl. Häfner 2020. Dabei hatte er aber wohl nicht Winkklers Originalwerk Zwey Tausend Gutte Gedancken / zusammen gebracht von dem Geübten von 1685 in der Hand, denn dort ist von „Weisheit“ die Rede, wo 23[158] „Wahrheit“ setzt (vgl. NL 1876/77, KSA 8, 23[38], 417, 8–12, dazu NK 73, 10–13). Das ist kein Abschreibfehler, sondern verweist auf eine andere Quelle, nämlich auf die Anthologie Altdeutscher Witz und Verstand. Reime und Sprüche aus dem sechszehnten und siebenzehnten Jahrhundert. Für Liebhaber eines triftigen Sinnes in ungekünstelten Worten, wo sich genau der von N. zitierte Wortlaut findet (Altdeutscher Witz 1877, 113). Auch von anderen Autoren dieser Anthologie, die für die einstige Europäisierung der Moralistik steht, finden sich in N.s Werken und Nachlass Spuren. 58, 5 ungewöhnliche Leser] Im Druckmanuskript D 11, 26 von Köselitz’ Hand hieß es ursprünglich stattdessen: „Ausnahme-Leser“, bevor N. es zum schließlich gedruckten Text korrigierte (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,26).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 35, KSA 2, S. 58
237
58, 14 Annehmlichkeit] In Mp XIV 1, 254 folgt auf „Annehmlichkeit“: „(vorausgesetzt daß sie dies überhaupt haben u nicht, wie gesagt Verdruss)“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,254). 58, 15 Betrachtern von Kameen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte korrigiert aus: „Betrachtern von Kameelen“ (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/74/). Dass ausgerechnet Kameen hier herangezogen werden – sie kommen bei N. nur hier sowie in NL 1876/77, KSA 8, 23[132], 450, 10–28 (in NK ÜK MA I 35 zitiert) vor – hängt mit der Kleinheit und Unscheinbarkeit dieser Objekte zusammen. Es handelt sich, in der Terminologie von Petris Handbuch der Fremdwörter in N.s Bücherbestand, bei einer „Camée“ um einen „geschnittene[n] Stein, dessen Erhabenheiten von anderer Farbe sind als der Grund“, um einen „Bilderstein“ (Petri 1861, 138). Wie die Sentenz wirkt die Kamee auf Anhieb unscheinbar und die Betrachter mit wenig Scharfblick gehen mit ein paar Höflichkeitsfloskeln über sie hinweg, „loben[d], weil sie nicht lieben können und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber noch, fortzulaufen“ (58, 16 f.). Sodann hat bereits die Wendung „Kunst der Sentenzen-Schleiferei“ (58, 7 f.) auf die Kameen-Analogie hingeführt, wurde mit dieser Wendung doch suggeriert, der Autor von Sentenzen verfahre wie ein Edelsteinschleifer, der aus rohem Material ein gestaltetes Juwel hervorbringt. Den Parallelbegriff zur Kamee, den der „Gemme“ für geschnittene Steine, benutzt N. ansonsten durchaus, siehe NK KSA 1, 42, 22–24. Er dürfte sich aber der spezifischen Differenz zwischen diesen beiden Typen geschnittener Steine durchaus bewusst gewesen sein: „G[emmen] im engern Sinne nennt man solche Edelsteine, in welche das Bild vertieft geschnitten ist (intaglio), und Kameen (cammeo) solche, auf welchen das Bild sich in erhabener Arbeit (en relief ) befindet.“ (Meyer 1885–1892, 7, 74) Dieses Ins-Relief-Treten (vgl. zum Relief auch NK ÜK MA I 178) der Kameen dürfte die Wahl der Kameen-Analogie weiter begünstigt haben. Isabelle von der Pahlen, spätere von Ungern-Sternberg, berichtet rückblickend auf ihre Begegnung mit N. im Nachtzug von Genf nach Genua am 20. Oktober 1876, als dieser auf dem Weg nach Sorrent war: „Mit sich führte mein Partner [sc. N.] die ‚Maximes‘ de La Rochefoucauld, dran sich die ersten Fäden unseres Gespräches knüpften. Er pries die Gabe der Franzosen, La Rochefoucauld, Vauvenargues, Condorcet, Pascal vor Allen, einen Gedanken derartig zuzuspitzen, dass er an Schärfe und Relief mit einer Medaille wetteifern könne. Auch sprach er von der Sprödigkeit des Stoffes, der durch Anwendung der schwierigsten Form künstlerische Vollendung erlange. Diese Forderungen unterstützte er durch folgende Verse, die mir, ihrer Prägung wegen, im Ohre haften blieben: ‚Oui, l’oeuvre sort plus belle / D’une matière [recte: forme] au travail rebelle – / Vers, marbre, onyx, émail – / Point de contraintes fausses, / Mais que pour marcher droit – /
238
Menschliches, Allzumenschliches I
Muse, tu chausses, / Un cothurne étroit.‘ / In diesen Worten liegt das gestaltende Prinzip seines aphoristischen Stiles beschlossen. Zugleich aber birgt sich darin seine, – des ersten Sprachkünstlers neben Goethe und Heine – Ueberzeugung, dass die deutsche Zunge, als ein übersprödes Material, mit Stein und Erz auf eine Reihe zu stellen sei.“ (Ungern-Sternberg o. J. [1902], 27; vgl. auch Heller 1972b, 53, Fn. 59 u. Vivarelli 1998, 44 f.) Es handelt sich um die beiden ersten Strophen des programmatisch L’Art betitelten Gedichts von Théophile Gautier (Gautier 1863, 140–143; dort steht die Muse zu Beginn des letzten und nicht des zweitletzten Verses). Mit L’Art endet Gautiers Gedichtsammlung Émaux et Camées, übersetzt also „Emailen und Kameen“. Und nicht nur der Sammlungstitel, auch das von N. (nach Ungern-Sternberg) rezitierte Gedicht spielt in der dritten Zeile (eigentlich ist es in Gautiers Typographie die vierte) bei der Nennung der Materialien, aus denen Kunstwerke gefertigt werden, direkt auf die Kameen an: „Vers, marbre, onyx, émail“, „Verse, Marmor, Onyx, Email“: „Für Kameen ([…]) bevorzugte man mehrfarbige Steine, wie den aus rauchbraunen und milchweißen Schichten bestehenden Onyx“ (Meyer 1885–1892, 7, 74). In seinem Buch Nietzsche und die Romantik wird Karl Joël die Metapher der geschnittenen Steine übrigens aufgreifen: „[M]an nehme den Aphorismus nicht /116/ als Scherbe, sondern als Gemme, als Ganzes im Kleinen, als selbstständige Ausmeißelung, Verklärung, Verallgemeinerung des Einzelnen, als Entfaltung des Endlichen zu unendlicher Bedeutung“ (Joël 1905, 115 f.; vgl. Dietzsch 2004, 26). Einen direkten Bezug zu MA I 35 stellt Joël hier allerdings nicht her.
36. Im Druckmanuskript D 11, 26 von Köselitz’ Hand schließt der Text von MA I 36 auf der nächsten Zeile an das Ende von MA I 35 an; er wurde erst durch die – von N.s Hand – erfolgte Hinzufügung des Initiums „E i n w a n d“ (58, 19) sowie der Abschnittnummer „36“ mit roter Tinte zu einem eigenständigen Abschnitt (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,26). Der hier formulierte Einwand zielt darauf ab, das Vergessen der moralistischen Tradition in der Gegenwart könnte auch ein absichtsvolles Ausblenden gewesen sein, denn vielleicht gehöre diese scharfe „psychologische Beobachtung“ gar nicht zu den „Heil- und Erleichterungsmitteln“ (58, 20 f.). Eine so unbestechlich-harte Sicht auf die Menschen und ihre vermeintlichen Tugenden sei zwar wahrhaftiger, aber man empfinde vor so schonungslos-entlarvender Offenheit doch womöglich „eine Art Schamhaftigkeit“ (58, 27). Womöglich seien psychologische Naivität, eine blauäugigere Sicht auf die vermeintliche Güte und Tugendhaftigkeit der Menschen, ihre angebliche „Fülle des
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 35–36, KSA 2, S. 58
239
unpersönlichen Wohlwollens“ (58, 32–59, 1) für die „Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft“ (59, 5 f.), die „Menschlichkeit“ (59, 8) nützlicher, während man mit der Entlarvung aller Tugend als leerem Schein im Stile La Rochefoucaulds und Rées „die Erkenntniss der Wahrheit“ (59, 8 f.) befördern könne – auch wenn La Rochefoucaulds Sicht auf die Tugend ausdrücklich nur als „Hypothese“ (59, 9 f.), nicht selbst als Wahrheit dargestellt wird. Diese „Meister der Seelenprüfung“ (59, 15) träfen „immer und immer wieder in’s Schwarze […], – aber in’s Schwarze der menschlichen Natur“ (59, 18 f.): Nicht nur die Mitte der Zielscheibe des Bogenoder Gewehrschützen ist schwarz, sondern auch das menschliche Wesen in seiner unmoralischen Abgründigkeit (vgl. Stierle 2008, 86–88 u. Winkler 2021a, 242). Dieses Treffen müsse schließlich den „Zuschauer“ (59, 20 f.) verdrießen, der statt der „Wissenschaft“ lieber der „Menschenfreundlichkeit“ (59, 21 f.) huldige, so dass er sich von diesen treffsicheren Psychologen abwenden müsse. Der Einwand in MA I 36 zehrt also von einem Gegensatz zwischen Wahrheitsinteresse und Wohlfahrtsinteresse. Im Unterschied zur philanthropisch-optimistischen Tradition der Aufklärung unterstellt der Abschnitt zwischen beidem eine tiefe Kluft. Zu MA I 36 finden sich in Mp XIV 1 zwei von KGW IV 4, 176 als „Reinschriften“ bezeichnete Vorarbeiten. Die Aufzeichnung Mp XIV 1, 368, die aus MA I 35 den Text bis 58, 4 vorwegnahm, schließt nach einem Gedankenstrich nahtlos mit dem späteren Text 58, 19–24 bis „In der That“ an (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,368). Die Aufzeichnung Mp XIV 1, 253 setzt mit 58, 24 f. („ein gewisser blinder Glaube“) ein und endet mit 59, 24; der Text enthält einige Korrekturen und Überarbeitungen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,253). Noch viel entschiedener als in der mit „vielleicht“ (58, 31) relativierten Druckfassung von MA I 36 wird in NL 1876/77, KSA 8, 23[41], 418, 17–29 behauptet, das irrtümliche Vertrauen in das Altruistische am Menschen sei dem Gattungswohl dienlich gewesen: „Nicht nur der Glaube an Gott, auch der Glaube an tugendhafte Menschen, Handlungen, die Schätzung ‚unegoistischer‘ Triebe, also auch Irrthümer auf psychologischem Gebiet haben der Menschheit vorwärts geholfen. Es ist ein großer Unterschied, ob einer die Helden Plutarchs mit Begeisterung nachahmt oder anzweifelnd analysirt. Der Glaube an das Gute hat die Menschen besser gemacht: wie eine Überzeugung vom Gegentheil die Menschen schwächer mißtrauischer usw. macht. Dies ist die Wirkung von La Rochefoucauld und vom Verfasser der psychologischen Beobachtungen: diese scharfzielenden Schützen treffen immer ins Schwarze, aber im Interesse der menschlichen Wohlfahrt möchte man wünschen, daß sie nicht diesen Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung hätten.“ Der Sprecher stellt sich hier auf die Seite derjenigen, die die moralistische Schwarzmalerei kritisieren, während MA I 36 den „Zuschauer“ (59, 20 f.) von der Sprechinstanz deutlich unterscheidet. In der Druckfassung ist nicht ausgemacht, dass dem „E i n w a n d“ (58, 19) recht gegeben werden soll.
240
Menschliches, Allzumenschliches I
59, 2–6 Wenn man die Helden Plutarch’s mit Begeisterung nachahmt, und einen Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Handelns anzweifelnd nachzuspüren, so hat zwar nicht die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft ihren Nutzen dabei] Die Werke Plutarchs (ca. 45–125 n. Chr.) und namentlich seine Vitae parallelae, seine Parallelbiographien griechischer und römischer Helden, sind N. seit Schulzeiten geläufig; er kommt bis ans Ende seines Schaffens immer wieder – auch durch implizite Bezugnahmen (vgl. z. B. NK KSA 5, 21, 25–22, 1 u. NK KSA 6, 130, 19–26) – darauf zu sprechen, so dass man in N.s Werk auch schon den „Höhepunkt der deutschen Plutarchrezeption“ (Ingenkamp 1988) meinte erkennen zu können. N.s Verhältnis zu Plutarch ist allerdings keineswegs kritiklos, wie schon seine Vorstellung in N.s Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur deutlich macht: „P l u t a r c h. War Dionysius ein stilistischer Nachklang der Alten, so haben wir hier einen sittlichen Nachklang, es ist ein ausgezeichneter Mensch, aber rückwärts gewendet und nur r e p r o d u k t i v. Es ist ein Böotier aus Chäronea, c. 50 p. C. geboren, aus tüchtiger Familie. Er war später zu Rom Lehrer der Philosophie u. hielt sehr besuchte Vorträge, ein Bewunderer des Plato und heftiger Gegner der Epikureer. Der Kaiser Domitian verbannte später alle Philosophen aus Italien; Plutarch scheint schon früher in seine Heimat zurückgekehrt zu sein. Dort heirathete er die Timoxena, hatte mehrere Ämter inne, war Priester des Apollo. Seine parallelen Lebensbeschreibungen geben einen der großartigsten Gesammteindrücke gemischt mit tiefster Trauer: es ist ein Wandeln unter den kolossalsten Resten der menschlichen Größe und Polyphonie der Alten. Was für eine Unsumme von charaktervollen und ungeheuren Menschen standen seiner Zeit noch vor der Seele! Was ist da verloren gegangen! Kein Buch der Welt hat tiefer gewirkt als diese βίοι, das ist nicht eigentlich Plutarch’s Verdienst; aber doch insofern, als er noch einer war, auf den jene ältere Welt noch am mächtigsten gewirkt hat; er ist ein Zeugniß dafür, was unter veränderten Umständen noch aus der Betrachtung der Alten gewonnen werden kann; selbst bei mittlerer Begabung; darunter ist zB. ein tiefer Blick für das Individuelle u. Lust daran. Alles schwimmt in Geist, typischen Anekdoten der feinsten Art, Witzen, bedeutenden Bildern; auch seine moralischen Schriften, das ganze g e i s t r e i c h e Alterthum klingt uns entgegen. Dabei blicken uns ältere Autoren oft an, kaum verhüllt, die er benutzt hat. Fünf βίοι stehen vereinzelt, nicht parallel. Es sind 22 Parallele, also 44 βίοι.“ (KGW II 5, 266, 5–32) Die ungeheure Nachwirkung betont auch NL 1873/74, KSA 7, 30[31], 743 unter Verweis auf Samuel Smiles (der Bezug ist Smiles 1871, 272, vgl. Campioni 2008b). Thematisch schon nah verwandt mit der Plutarch-Passage in MA I 36 ist UB II HL 6, KSA 1, 295, 15–23, wo freilich ein ganz affirmativ-adhortativer Ton zum Umgang mit Plutarchs biographischem Werk vorherrscht: „Und wenn ihr nach Biographien verlangt, dann nicht nach jenen mit dem Refrain ‚Herr So und So und seine Zeit‘, sondern nach solchen, auf deren
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 36, KSA 2, S. 59
241
Titelblatte es heissen müsste ‚ein Kämpfer gegen seine Zeit‘. Sättigt eure Seelen an Plutarch und wagt es an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt. Mit einem Hundert solcher unmodern erzogenen, das heisst reif gewordenen und an das Heroische gewöhnten Menschen ist jetzt die ganze lärmende Afterbildung dieser Zeit zum ewigen Schweigen zu bringen.“ Vgl. NK KSA 1, 295, 18–20. Auch wenn N. gelegentlich auch später direkt die Plutarch-Lektüre empfiehlt – so im Brief an Franz Overbeck, zweite Hälfte November 1880, KSB 6/ KGB III 1, Nr. 66, S. 50, Z. 52 f.: „lest zur Reinigung von diesem deutschen Schwulste Plutarchs Leben des Brutus und des Dion“ –, auch in MA I 282, KSA 2, 230, 27 f. Plutarch zu den „grossen Moralisten“ rechnet und in MA II WS 20, KSA 2, 554, 3 f. „die grossartige, mächtige, aufopfernde Denkweise, etwa bei den Helden Plutarch’s“ in Erinnerung ruft, steht der kritiklose Glaube an die hehren Motive ebendieser Plutarchschen Helden in MA I 36 unter einem nicht ausgeräumten Naivitätsverdacht. Vielleicht immerhin könnte ein solcher Glaube der allgemeinen „Wohlfahrt“ nützen. UB II HL 6 war davon noch ganz entschieden ausgegangen. 59, 8–14 während die Erkenntniss der Wahrheit vielleicht durch die anregende Kraft einer Hypothese mehr gewinnt, wie sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner „Sentences et maximes morales“ vorangestellt hat: „Ce que le monde nomme vertu n’est d’ordinaire qu’un fantôme formé par nos passions, à qui on donne un nom honnête pour faire impunément ce qu’on veut.“] Die zitierte Sentenz hat La Rochefoucauld entgegen der Versicherung keineswegs der Erstausgabe seiner Réflexions ou sentences et maximes morales „vorangestellt“, sondern sie ist dort die Maxime CLXXIX ([La Rochefoucauld] 1665, 79 f.). Übersetzt lautet sie: „Das, was die Welt Tugend nennt, ist gewöhnlich nur ein Phantom, geformt von unseren Leidenschaften, dem man einen ehrenhaften Namen gibt, um ungestraft tun zu können, was man will.“ N.s fälschliche Behauptung beruht wohl auf einem Missverständnis einer Fußnote zum wirklichen Motto in der von ihm benutzten Ausgabe der Réflexions von La Rochefoucauld (Réflexions, sentences et maximes morales. Précédées d’une Notice par M. Sainte-Beuve. Œuvres choisies de Vauvenargues avec un choix de notes de Voltaire, Morellet, Fortia, etc. et précédées d’une Notice par Suard. Nouvelle édition revue avec grand soin sur les meilleurs textes, Paris o. J.). Es lautet: „Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés.“ (La Rochefoucauld o. J., 9 – „Unsere Tugenden sind meistens nur verkleidete Laster.“) Die dazugehörige Fußnote lautet: „Cette pensée, qui peut être considérée comme la base du système de La Rochefoucauld, se trouve dans la première édition, sous la forme suivante: ‚Ce que le monde nomme vertu n’est d’ordinaire qu’un fantôme formé par nos passions, à qui on donne un nom honnête pour faire impunément ce qu’on veut.‘ (1665 – n° 179.) Elle ne se retrouve ni dans la seconde ni dans la troisième édition, et ce n’est que dans les deux dernières (1675, 1678) qu’elle reparut comme épigraphe, et sous une autre forme, à la tète des Réflexions
242
Menschliches, Allzumenschliches I
morales.“ (La Rochefoucauld o. J., 9, Fn. 1) N. hat offensichtlich überlesen, dass die von ihm dann zitierte Sentenz zwar tatsächlich nur in der Erstausgabe erschienen ist, dort jedoch nicht als Motto „vorangestellt“, sondern, wie es korrekt in der Klammer heißt, eben als Sentenz 179. 59, 16 f. (denen sich neuerdings auch ein Deutscher, der Verfasser der „Psychologischen Beobachtungen“ zugesellt hat)] Gemeint ist Paul Rée, dessen Psychologische Beobachtungen. Aus dem Nachlass von *** 1875 in Berlin anonym erschienen sind. NL 1876/77, KSA 8, 23[47], 421, 14 f. lüftet das Geheimnis der Anonymität: „Rée als scharfzielender Schütze zu bezeichnen welcher immer ins Schwarze trifft.“ Vgl. zu Rée in der moralistischen Tradition an dieser Stelle Zimmer 2022, 99. 59, 20–24 Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint.] In Mp XIV 1, 253: „ihre Kunst erregt Staunen“ statt „Ihr Geschick erregt Staunen“ und „verwünscht vielleicht ein“ statt „verwünscht ein“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,253). Im Handexemplar C 4402 hat N. nach „scheint.“ mit Bleistift hinzugefügt: „Zuletzt ist auch das noch wahr:“ (Nietzsche 1878, 43 = https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1252332904/62/). Bei der tiefgreifenden Umarbeitung von MA I 37 in C 4402 (Nietzsche 1878, 43 = https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1252332904/64/) wird dieser Satz „Zuletzt ist auch das noch wahr:“ mit Bleistift an den Rand notiert zum Passus: „Es ist wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfern darzubringen; und fast unlösbar hat sich der Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz – ein sehr verführerischer Duft – der ganzen Gattung angehängt: so dass seinetwegen der wissenschaftliche Mensch unwillkürlich einiges Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt.“ (60, 24–34) Offensichtlich sollte die mit Bleistift unterstrichene Eingangssequenz „Es ist wahr“ durch „Zuletzt ist auch das noch wahr“ ersetzt und der Passus ans bisherige Ende von MA I 36 verlegt werden. Mit der Umstellung wird wie schon in NL 1876/77, KSA 8, 23[41], 418, 17–29 (vgl. NK ÜK MA I 36) die Perspektive des im Nachlasstext noch nicht als eigene Instanz ausgewiesenen „Zuschauers“ an die der Sprechinstanz deutlich herangerückt. Diese Sprechinstanz tut sich offensichtlich schwer mit einer generellen Verkleinerung und Geringschätzung der Menschen, mit vorschneller anthropologisch-negativistischer Verallgemeinerung.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 36–37, KSA 2, S. 59
243
37. MA I 37 repliziert auf den „E i n w a n d“ (58, 19) von MA I 36, wonach es doch womöglich der allgemeinen „Wohlfahrt“ (59, 5) abträglich sei, den Menschen zu genau und zu schonungslos zu analysieren. Vielmehr sei beim Stand „einer bestimmten einzelnen Wissenschaft“ (59, 27 f.) – gemeint ist „jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen fragt“ (59, 32–60, 1), in der späteren Überarbeitung des Handexemplars C 4402 ist stattdessen dann einfach von „Philos[ophie]“ die Rede (Nietzsche 1878, 44 = https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/63/) – die genaue „moralische[.] Beobachtung“ (59, 28 f.; die Überarbeitung in C 4402 spricht von „der moralistischen Beobachtung“) ganz und gar unabdingbar. Früher habe man in der Philosophie die Herkunft der moralischen Urteile nicht kritisch hinterfragt, was bis in die Gegenwart gravierende Folgen nach sich gezogen habe – etwa die, auf „unegoistischen Handlungen“ eine „falsche Ethik“ (60, 12 f.) aufzubauen, die nicht nur mythologisch und religiös unterfüttert würde, sondern bis „in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung“ (60, 15 f.) ausstrahle. Jetzt dürfe man sich nicht zu schade sein, moralgeschichtlich-moralanalytische Klein- und Kärnerarbeit zu leisten. Auch solle man sich nicht davon abschrecken lassen, dass viele menschlich-allzumenschliche Einsichten ihren Ursprung im Kontext bestimmter sozialer Interaktion – offensichtlich ist an die Salon-Kultur gedacht (vgl. Winkler 2021a, 254 f.) – und damit der „moralistischen Sentenz“ (60, 30) gehabt hätten, was dem wissenschaftlich Gesinnten Misstrauen einflößen könnte. Es genüge zur Abwehr dieses Verdachtes möglicher Unwissenschaftlichkeit aber, auf die „Folgen“ (60, 34) zu schauen, und man werde da reiche „Ergebnisse“ (61, 1) der „psychologischen Beobachtung“ (61, 2) finden – nämlich beim namentlich ungenannt bleibenden Autor des Buchs Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877), also Paul Rée (im Unterschied zu den in MA I 36 genannten Psychologischen Beobachtungen ist dieses Werk nicht anonym erschienen). Dessen „Hauptsatz“ (61, 3) besage, der „moralische Mensch“ komme dem Kern der Wirklichkeit nicht näher als der „physische Mensch“ (61, 7 f.). Mit diesem Satz werde man das „‚metaphysische[.] Bedürfniss‘“ (61, 11 f.) unterminieren – ob das negativ oder positiv für die „allgemeine[.] Wohlfahrt“ (61, 13 f.) sein werde, stehe dahin. Ein semantisches Problem entsteht aus der unterschiedlichen Verwendung von „moralisch“ in diesem Abschnitt: Zunächst ist von „moralischer Beobachtung“ die Rede, während MA I 35 und MA I 36 von „psychologische[r] Beobachtung“ (57, 5 f. u. 58, 20) gesprochen hatten und auch MA I 38 wieder davon sprechen wird (61, 19 f.). Die andere Attribuierung lehnt sich offensichtlich an die Wortverwendung im Titel von La Rochefoucaulds Werk an, das eben „maximes morales“ enthalten soll, nämlich Beobachtungen, die die mores, die Sitten betreffen sollen.
244
Menschliches, Allzumenschliches I
Im Rée-Zitat 61, 7 ist vom „moralische[n] Mensch[en]“ in anderem Sinne die Rede, nämlich nicht als jemandem, der die Moralen der Menschen beobachtet und evaluiert, sondern selbst eine Moral, wahre Sittlichkeit zu besitzen beansprucht. Die Replik auf den in MA I 36 formulierten Einwand bleibt in MA I 37 eigentümlich selbstreferentiell: Wenn es bloß die Wissenschaft der moralischen Herkunftsergründung ist, die in ihrem heutigen Zustand nach einer entsprechend ungeschönten psychologischen Menschenbeobachtung verlange, dann ist damit mitnichten erklärt, warum man eine solche Wissenschaft überhaupt sollte haben wollen – zumal wenn, wie das Ende von MA I 37 einräumt, es keineswegs ausgemacht ist, dass die von ihr produzierten, desillusionierenden Erkenntnisse der Menschheit eher nützen oder schaden. (Die Suggestion, dass es eine solche Wissenschaft schon gäbe und sie in Blüte stände, jenseits geistreicher Sentenzenschleiferei, ist überdies auch nicht unproblematisch: Hat sie bisher mehr als nur einen oder zwei Repräsentanten: Rée und N.?) Nur wer an die Sinnhaftigkeit wissenschaftlicher Forschung als solcher, an einen absoluten Wert von Wahrheit glaubt, wird sich mit dieser selbstreferentiellen Replik zufriedengeben – wobei diesem Wahrheitsgläubigen, soweit er an die wissenschaftliche Wahrheit glaubt, der Konnex zwischen dem sozialen Spiel des Sentenzenschleifens und der psychologisch tiefgründigen Forschung nach wie vor problematisch vorkommen mag. Das Menschen-Analysieren erscheint in MA I 37 nicht mehr als womöglich halb frivoles Gesellschaftsspiel wie in MA I 35, sondern als eine wissenschaftliche Aufgabe, die sich nicht vom Wohlfühlwillen tyrannisieren lassen dürfe. Freilich ist seine tatsächliche Wissenschaftlichkeit nach wie vor nur behauptet, nicht bewiesen. Man braucht diese neue Wissenschaft offensichtlich zunächst, um Fehlurteile in der traditionellen Philosophie zu korrigieren und Distanz zum imaginären „metaphysischen Bedürfniss“ (61, 11 f.) zu schaffen. Das erinnert an Descartes und damit an das Motto der Erstausgabe von MA I (KSA 2, 11), das ja aus dem Kontext der morale par provision stammt. Die moralanalytische Geschichtsschreibung scheint ihrerseits eine asketische Angelegenheit zu sein, die „der enthaltsamen Tapferkeit“ (60, 22) bedarf und damit später (GM III) in Verdacht geraten könnte, selbst asketischen Idealen zu huldigen. Zu MA I 37 finden sich in Mp XIV 1 drei von KGW IV 4, 176 als „Reinschriften“ bezeichnete Vorarbeiten. Mp XIV 1, 368 lässt nach dem später in MA I 36, KSA 2, 58, 24 eingegangenen „In der That“ auf einer neuen Zeile „Wie es sich nun […] verhalte“, damit die erste Satzhälfte aus MA I 37, KSA 2, 59, 26 f., folgen (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,368). Diesen Satzbeginn nimmt Mp XIV 1, 253 nach dem Ende des späteren Textes von MA I 36, KSA 2, 59, 24 wieder auf und setzt ihn mit einigen Korrekturen fort bis KSA 2, 60, 6 („aus dem Wege gegangen“ – http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,253). Mp XIV 1, 367 schließlich bringt den Text von MA I 37, KSA 2, 60, 6 bis 61, 17 – freilich fehlt da an der
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 37, KSA 2, S. 59
245
entsprechenden Stelle z. B. noch 60, 8–16 („wie die Irrthümer […] hineinfallen“; vgl. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,367). Die Überlegungen zur psychologischen Selbsttäuschungsneigung traditioneller Philosophie nimmt NL 1877, KSA 8, 22[107], 399, 7–14 vorweg: „Der Fehler fast jeder Philosophie ist ein Mangel an Menschen-Kenntniss, eine ungenaue psychologische Analyse. Die Moralisten fördern insofern die Erkenntniss mehr als sie sich bei den vorhandenen Analysen der menschlichen Handlungen nicht beruhigen. / Um die falschen psychologischen Facta breitet der Philosoph sein Naturwissen und hüllt alles in metaphysisches Bedürfniss.“ Auch der erste Teil von NL 1876/ 77, KSA 8, 23[114], 443, 14–444, 12 bereitet MA I 37 vor, während der Schluss dann in MA I 38 aufgenommen wird (und ein weiterer Teil in MA I 132, vgl. NK 125, 10–19): „Erwägt man, wie die Irrthümer großer Philosophien gewöhnlich ihren Ausgangspunkt in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis z. B. der sogenannten unegoistischen Handlungen eine falsche Ethik erbaut wird, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Hülfe genommen werden und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und gesamte Weltbetrachtung hineinfallen: erwägt man dies Alles, so sieht man ein, wie unbillig die gewöhnliche Unterschätzung der psychologischen Beobachtung ist: während eben die Oberflächlichkeit der psychologischen Beobachtung, also das Resultat jener Unterschätzung, dem menschlichen Denken und Urtheilen die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem legt. Woher nun diese Nichtachtung? Etwa weil auch dem leeren und eiteln Gesindel der Gesellschaft, männlichen oder weiblichen Geschlechts, gelegentlich solche Bemerkungen gelingen, weil man da in bestimmten Zeiten sich moralische Sentenzen im Carneval der geistreichen Gefallsucht als eine Art Confetti zuzuwerfen pflegte? – Aber der Unterschied ist eben außerordentlich, wenn ein streng wägender Denker den gleichen psychologischen Satz, der einmal auch in jenen Kreisen entdeckt worden ist, ausspricht und ihn mit dem Gepräge und Kopfbilde s e i n e r Autorität versieht. Vielleicht thut jetzt, als Vorarbeit für alles zukünftige Philosophiren, nichts so noth, als Stein auf Stein, Steinchen auf Steinchen psychologische Arbeit zu häufen und tapfer jeder Mißachtung dieser Art Arbeit zu widerstreben. Zu welchen Entdeckungen wird eine spätere Generation, vermöge eines solchen Materials, kommen!“ (NL 1876/77, KSA 8, 23[114], 443, 14–444, 12) Der Schlussteil von MA I 37 ist präludiert in NL 1876/77, KSA 8, 23[195], 472, 22–473, 7: „Und wenn der Urheber dieses Buches sich fragt, zu wessen Vortheil er seine Aufzeichnungen gemacht zu haben wünscht, so ist er unbescheiden genug, geradezu denjenigen Denker zu nennen, welcher als Verfasser jener Schrift über den Ursprung der moralischen Empfindungen ein Besitzrecht auf die angrenzenden Gebiete seines wissenschaftlichen Bezirks sich erworben hat und der seinen
246
Menschliches, Allzumenschliches I
Untersuchungen jenen entscheidenden auch dieses Buch beherrschen〈den〉 Gedanken vorangestellt hat. Dieser Satz, hart und schneidig gemacht unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniß, kann vielleicht einmal als die Axt dienen, welche dem ‚metaphysischen Bedürfnisse der Menschen‘ an die Wurzel gelegt werden soll: und in sofern würde er zu den folgenreichsten Sätzen der menschlichen Erkenntniß gehören.“ Im Notizbuch N II 2, 127 steht groß: „Rée’s Satz“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,127); ausführlicher (und schwer leserlich) zu diesem „Satz“ N II 2, 138: „dieser Satz, stählern u. schneidig geworden durch das umfänglichste histor Wissen, wie es erst unsere Zeit über diese Gegenstände herbei schaffen kann – dieser Satz ist die Axt, welche dem ‚metaph. Bedürfniss‘ an die Wurzel gelegt wird. Was nach dieser Beseitigung noch von der Metaphysik übrig bleibt ist eine Reihe streng wissenschaft. Probleme, mit denen aber niemand mehr Gemüthsbedürfnisse stillen wird“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,138). Im Handexemplar C 4402 hat N. den Abschnitt MA I 37 für eine spätere Ausgabe vollständig mit Bleistift überarbeitet (Nietzsche 1878, 44 f.). Nimmt man das dort Eingeklammerte als Streichung, liest sich diese überarbeitete Version, die aus der zweiten Hälfte der 1880er Jahre stammen dürfte, wie folgt: „37. / Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in dem gegenwärtigen Zustande der Philos. ist die Auferweckung der moralistischen Beobachtung nöthig, und der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Die ältere Philosophie ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der menschlichen Werthschätzung unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum Beispiel der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung hineinfallen. [am rechten Rand:] Allmählich seq. Steht es aber fest, dass die moralistische Oberflächlichkeit in der psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen bisher die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem legt, so bedarf jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen und jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. [Am rechten Rand] hier: ‚Allmählich hat sich u.‘“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 37, KSA 2, S. 59–61
247
1252332904/63/ u. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/ 64/) KGW IV 4, 177 notiert dazu: „dieser Hinweis bezieht sich auf eine VsJGB6“. Was für eine Vorstufe von JGB 6 gemeint ist, verrät der Nachbericht freilich nicht; in JGB 6, KSA 5, 19, 29–31 heißt es: „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires“. Nach dem Handexemplar C 4402 sollte der auf „zu bieten“ folgende Drucktext 60, 24–34 zurückverschoben werden in MA I 36, vgl. NK 59, 20–24. Eine letzte Einklammerung in C 4402 macht schließlich deutlich, dass in der überarbeiteten Version der gesamte Text von „Aber es genügt“ bis „grossen Erkenntnisse haben“ (60, 34–61, 17) hätte entfallen sollen (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/64/). Damit wäre jeder direkte Hinweis auf Paul Rée getilgt gewesen. 59, 31 kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn] In Mp XIV 1, 253 steht stattdessen: „kann der Menschheit nicht ˹mehr˺ erspart bleiben – und nothwendig werden alle jene alten Meister dieser Quälerei: denn“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,253). 61, 3–17 Welches ist doch der Hauptsatz zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des Buches „Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen“ vermöge seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt? „Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch.“ Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem „metaphysischen Bedürfniss“ der Menschen an die Wurzel gelegt wird, – ob m e h r zum Segen, als zum Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen? – aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle grossen Erkenntnisse haben.] Im ansonsten von Köselitz niedergeschriebenen Druckmanuskript D 11, 30 ist „einer der kühnsten und kältesten Denker der Gegenwart“ ein Einschub von N.s Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,30). Das Zitat lautet: „Jetzt aber, seit L a M a r c k und D a r w i n geschrieben /VIII/ haben, können die moralischen Phänomene eben so gut auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden, wie die physischen: der moralische Mensch steht der intelligiblen Welt nicht näher, als der physische Mensch.“ (Rée 1877, VII f. = Rée 2004, 127) In EH MA kommt N. auf diese Stelle zurück und prägt sie für seine eigenen Umwertungszwecke um, behauptet zudem, schon in MA I gegen Rée insgeheim opponiert zu haben, und nimmt zugleich die fragliche Erkenntnis für sich selbst in Anspruch, vgl. ausführlich NK KSA 6, 327, 27–328, 25. Schon in GM Vorrede 4 behauptet N. von sich, er habe von Anfang an in Fundamentalopposition zu Rées Buch gestanden, vgl. NK
248
Menschliches, Allzumenschliches I
KSA 5, 250, 17–29. Die im Schlussteil von MA I 37, KSA 2, 61, 7 f. zitierte These Rées, dass der „moralische Mensch“ dem Weltwesen keineswegs näher stehe als der „physische“, wird in MA I 29, KSA 2, 49 f. sekundiert, wonach weder der religiöse noch der künstlerische Mensch dazu einen privilegierten Zugang haben. Zum „metaphysischen Bedürfniss“ siehe NK 47, 6–25. Die Doppelgesichtigkeit, die bei N. explizit nur hier vorkommt, ist die typische Darstellungsweise des römischen Gottes Janus, der ebenso für den Anfang wie für das Ende steht, für das Dunkle und das Helle. „Die frühsten Abbildungen dieses Gottes (auf den Münzen, welche Servius Tullius prägte) zeigen ihn mit einem Doppelgesicht, vorwärts und rückwärts blickend (daher die Beinamen Geminus, Bifrons, Biceps, […]). […] Unter dem Schutz des J. standen die zahlreichen Durchgänge, die es in dem eng gebauten Rom gab, und alle Hausthüren.“ (Meyer 1885–1892, 9, 153 f.)
38. MA I 38 – den thematischen, von MA I 35 sich spannenden Bogen abschließend – lässt die Frage des gesellschaftlichen Nutzens oder Nachteils der psychologischen Betrachtung ganz in der Schwebe und behauptet nur, dass „[d]ie Wissenschaft“ (61, 23) ihrer bedürfe (ohne dass dies doch, mit Ausnahme der moralhistorischen Spezialdisziplin, im Vorangegangenen tatsächlich gezeigt worden wäre). Wer oder was auch immer „die Wissenschaft“ für die Sprechinstanz sein mag – sie kenne jedenfalls „keine Rücksichten auf letzte Zwecke“ (61, 23 f.), bringe aber ebenso wie „die Natur“ (61, 24) mitunter höchst Zweckmäßiges hervor. So könne es auch sein, dass die Wissenschaft ohne eine bewusste Zwecksetzung die allgemeine „Wohlfahrt“ (61, 28) „vielfach“ (61, 29) durchaus hervorbringe. Nun wird der Leser direkt adressiert, dem eine solche Sicht womöglich zu „winterlich“ (61, 32) anmute, aber doch vielleicht auch nur, weil er selbst zu wenig glühe. Es gebe doch so viel „Gluth und Geist“ (62, 3), die allenthalben der Abkühlung bedürften – in einer von „Brand“ (62, 10) allseits bedrohten Epoche müssten „wir, die g e i s t i g e r e n Menschen“ (62, 9) doch überall nach Kühlung und Löschung Ausschau halten – damit „wir“, wie es nicht ohne Ironie heißt, „wenigstens so stetig, harmlos und mässig bleiben, als wir es noch sind“ (62, 12 f.), nachdem eben am Ende von MA I 37 das grundstürzend-zerstörerische Potential wissenschaftlicher Erkenntnis im Blick auf das alteuropäische Selbstverständnis herausgestellt worden ist. Die metaphorische Überblendung von Hitze, Kälte, Krankheit, Gesundheit am Ende von MA I 38 legt zumindest nahe, dass die „psychologische Beobachtung“ (61, 19 f.) nicht nur desillusionierend-diagnostisch, sondern auch therapeutisch
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 37–38, KSA 2, S. 61
249
gemeint ist, und dass die Abschnittfolge MA I 35–38 durchaus als (para)methodologische Exposition jenes Verfahrens verstanden werden kann, das in MA I fortan angewandt werden soll – oder doch wenigstens als Versprechen, wie fortan verfahren werden soll, nämlich desillusionierend, diagnostisch und therapeutisch. Im Folgenden müsste dann praktisch der Beweis erbracht werden, ob diese psychologische Betrachtungsweise sich als nutzbringend oder unnütz für die Menschen oder gar die Menschheit erweisen kann – wobei die Anwendungsfälle dann sehr unterschiedliche sein werden. Zu MA I 38 finden sich in Mp XIV 1 drei von KGW IV 4, 177 als „Reinschriften“ geführte Vorarbeiten. Mp XIV 1, 367 lässt nach dem später in MA I 37 eingegangenen, bis KSA 2, 61, 17 reichenden Text den ersten Satz von MA I 38, KSA 2, 61, 19– 23 auf einer nächsten Zeile folgen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,367). Der anschließende Text 61, 23–30 findet sich in Mp XIV 1, 255 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,255). Ab 61, 31 folgt Mp XIV 1, 370 mit teilweise schwer entzifferbaren Überarbeitungen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,370). Während der erste Teil von NL 1876/77, KSA 8, 23[114], 443 f. in MA I 37 Aufnahme fand (vgl. NK ÜK MA I 37; der Rest wird verwertet in MA I 132, vgl. NK 125, 10–19), präludiert der Schlussteil den Beginn von MA I 38: „Wie es in der Natur keine Zwecke giebt und sie trotzdem Dinge von der höchsten Zweckmäßigkeit schafft, so wird auch die ächte Wissenschaft ohne Zwecke (Nutzen Wohlfahrt der Menschen) arbeiten, sondern ein Stück Natur werden, d. h. das Zweckmäßige (Nützliche) hier und da erreichen, ohne es gewollt zu haben.“ (KSA 8, 23[114], 444, 18–23) Im Handexemplar C 4402 hat N. den Abschnitt MA I 38 für eine spätere Auflage eingeklammert und durchgestrichen (Nietzsche 1878, 46). Das Initium und den ersten Satz mit einer kleinen Hinzufügung wollte N. zunächst offensichtlich an den Anfang von MA I 37 setzen, bevor er beides auch strich: „I n w i e f e r n n ü t z l i c h. – Also: ob die psychologische Beobachtung mehr Nutzen oder Nachtheil über die Menschen bringe, das bleibe immerhin unentschieden; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die Wissenschaft ihrer nicht mehr entrathen kann.“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/65/) 61, 20 mehr Nutzen oder Nachtheil] In Mp XIV 1, 367 steht: „mehr Nutzen oder mehr Nachtheil“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,367). 61, 23–30 Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur sie kennt: sondern wie diese gelegentlich Dinge von der höchsten Zweckmässigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die ächte Wissenschaft, a l s d i e N a c h a h m u n g d e r N a t u r i n B e g r i f f e n, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach, fördern und das
250
Menschliches, Allzumenschliches I
Zweckmässige erreichen, – aber ebenfalls o h n e e s g e w o l l t z u h a b e n.] Vgl. MA I 136, KSA 2, 130, 10 f. In Mp XIV 1, 255 steht statt „kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke“ nur „kennt keine letzten Zwecke“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,255). Im von Köselitz niedergeschriebenen Druckmanuskript D 11, 31 stand statt „d i e N a c h a h m u n g d e r N a t u r i n B e g r i f f e n“ ursprünglich „ein Stück Natur“ (so auch in Mp XIV 1, 255), was N. dann gestrichen und korrigiert hat in den schließlichen Drucktext. Nach „g e w o l l t z u h a b e n“ folgt in D 11, 31 auf einer neuen Zeile: „Wenn nun zuletzt, nach solchen Vorbemerkungen über das Recht der psychologischen Beobachtung überhaupt, eine wesentliche Frage gerade angesichts dieses Buches übrigbleibt: so bin ich es nicht, der dieselbe beantworten kann. Die Vorrede ist des Autors Recht, des Lesers aber – die Nachrede.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,31) Dieser gestrichene Satz steht ähnlich auch in einem Notat, betitelt „R e i s e b u c h / u n t e r w e g s z u l e s e n. / Vorrede“ (NL 1877, KSA 8, 23[196], 473, 8–10), datiert „Rosenlaui-Bad, am 26. Juli / Sommersonnenwende 1877“ (ebd., 474, 13 f.): „Wenn nun, nach solchen Vorbemerkungen und Angesichts dieses Buches, noch eine wesentliche Frage übrig bleibt, so bin ich es nicht, der sie beantworten kann. Die Vorrede ist des Autors Recht; des Lesers aber – die Nachrede.“ (Ebd., 474, 8–11) Dass die Natur keine letzten Zwecke habe, ist eine Grundweichenstellung neuzeitlicher Naturwissenschaft gegen die aristotelisch-christliche Naturteleologie. Daraus die Folgerung abzuleiten, dass auch die Wissenschaft keine letzten Zwecke habe (vgl. z. B. Jordan 2006, 78 f. u. Nicodemo 2021, 108), ist allerdings kühn, würde dies doch etwa auch implizieren, dass beispielsweise die Wahrheit kein solcher letzter Zweck wäre. In der ersten Variante des Gedankens wurde diese letzte Zwecklosigkeit der Wissenschaft in Mp XIV 1, 255 und im Druckmanuskript damit begründet, dass Wissenschaft selbst „ein Stück Natur“ sei, was N. so aber offensichtlich nicht stehen lassen wollte, zumal das impliziert hätte, dass sie einfach so zustande käme – und es dann auch nicht nötig wäre, ihr beispielsweise eine neue Methode der ‚psychologischen Beobachtung‘ zu verordnen. Sie würde sich als ein natürlicher Prozess vollziehen – was offensichtlich auch N. bei der Korrektur kontraintuitiv erschienen ist. Die neu gefundene, elegant klingende Fügung, echte Wissenschaft sei „d i e N a c h a h m u n g d e r N a t u r i n B e g r i f f e n“, provoziert aber womöglich mehr Fragen als sie löst (vgl. z. B. Heller 1972b, 65, Wisser 1972, 160, Spiekermann 1992, 35, Gerhardt 1996, 130, Bertino 2011, 57, Emden 2014a, 26 u. Saarinen 2019, 77; die Hinweise in NWB 1, 311 sind dazu nicht zielführend; Wissenschaft wird hier keineswegs als „vita contemplativa“ verstanden). Immerhin hatte Otto Busse in seinem Brief an N. vom 20. 02. 1880 aus 61, 23–28 eine Sentenz geformt (KGB III 2, Nr. 15, S. 40, Z. 17–19), die er zu den „b e d e u t e n d e [ n ] S ä t z e [ n]“ rechnete, die als allgemeine „Richtschnur dienen“ sollten: „Ehrlich sein Lernen fördern – im Großen – Begriffe in einfacher Weise erzeugen helfen“ (ebd., Z. 22–24).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 38, KSA 2, S. 61
251
Dass Kunst μίμησις, Nachahmung der Natur sei, ist ein spätestens seit Aristoteles’ Poetik zentraler Topos der europäischen Kulturgeschichte. Aristoteles positionierte sich damit auch gegen Platon, der die Kunst im Verdacht hatte, nicht das Eigentliche, nämlich die Ideen, sondern bloß Schattenbilder nachzuahmen. Dass nun N. die längst von der Kunst emanzipierte Wissenschaft zur „Nachahmung der Natur in Begriffen“ erklärt, könnte freilich durchaus auf Platon zurückverweisen, und zwar namentlich auf den Kratylos, wo das Sprechen als μίμησις verstanden wird – als Versuch, mit Worten der οὐσία, dem Wesen der Dinge beizukommen (vgl. z. B. Kratylos 423e, 424b und 431d). N.s Pfortenser Griechischlehrer Karl Steinhart (vgl. z. B. NK KSA 5, 47, 20–27) hat in seiner Einleitung zum Kratylos darauf hingewiesen, dass schon für Platon der mimetische Charakter der Begriffe auch Grenzen hat: „Ganz entschieden aber wird man, wie Platon meint, die Wörter, welche Zahlen bezeichnen, nur aus Übereinkunft erklären können, da bei so rein abstracten und an sich inhaltleeren Begriffen natürlich von einer Nachahmung der Natur oder von der Abbildung eines Urbildes gar nicht die Rede sein kann.“ (Platon 1851, 2, 566) Sprachphilosophisch ist N. – wie WL belegt – denkbar weit von einer platonisierenden Konzeption entfernt, die Sprache als getreues Abbild der Wirklichkeit verstehen würde. Jedoch waren ihm zeitgenössische Forschungsanstrengungen zum tierischen Nachahmungstrieb geläufig, so beispielsweise aus Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus: „Dass bei der E n t s t e h u n g d e r S p r a c h e auch die Nachahmung von Thierlauten, wie Darwin annimmt, eine Rolle gespielt habe, ist sehr wahrscheinlich, da hier ein durch den blossen Nachahmungstrieb hervorgerufener Laut sehr leicht B e d e u t u n g gewinnen musste. Der Rabe z. B., welcher aus eigner Erfindung das Bellen des Hundes und die gackernden Töne der Hühner nachahmt, verbindet mit diesen Lauten gewiss auch die Vorstellung der betreffenden Thierklasse, da er weiss, wem diese Laute zukommen und wem nicht. Er hat also an seiner Erfindung schon eine Stütze für die B e g r i f f s b i l d u n g, deren Anfänge überhaupt den Thieren keineswegs fremd sind.“ (Lange 1876–1877, 2, 326) Nicht jede Begriffsbildung ist Wissenschaft, aber ohne Begriffsbildung ist Wissenschaft nicht möglich. Dass sie dann angesichts der Aufgabe, „Harmonie in den Erscheinungen zu schaffen“, auf „Begriffsdichtung“ verfällt (ebd., 2, 540), ist bei Lange keineswegs nur negativ konnotiert (zur „Begriffsdichtung“ bei N. siehe NWB 1, 251–254). Ob das Nachahmungsgeschäft der Wissenschaft nur begriffsbildend oder doch begriffsdichtend ist und wie es sich überhaupt genau gestaltet, lässt MA I 38 offen, ebenso, aus welcher Perspektive hier über Wissenschaft gesprochen wird: von einer außer- oder überwissenschaftlichen Warte aus? Die Rechtfertigung der Wissenschaft erschöpft sich jedenfalls nicht darin, möglicherweise unabsichtlich Zweckmäßiges hervorbringen. Nachahmend ein begriffliches Bild der Wirklichkeit zu erzeugen, könnte deren Rechtfertigungsbasis erheblich verstärken.
252
Menschliches, Allzumenschliches I
62, 1 indessen] Mp XIV 1, 370: „indess“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,370). 62, 3 f. „zusammengeknetet“] Es ist dies die einzige Stelle, an der N. von „zusammenkneten“ spricht. Die Anführungszeichen weisen auf Distanzierung oder auf ein Zitat hin. Tatsächlich ist außerhalb der Backstube im 19. Jahrhundert von Zusammenkneten nur selten die Rede, aber Paul de Lagarde macht in seinem in N.s Bibliothek erhaltenen „Bericht“ Ueber die gegenwärtige lage des deutschen reichs von der Metapher Gebrauch im Absatz, der unmittelbar jener Passage vorausgeht, die MA I 408, KSA 2, 271, 10–18 zugrunde liegt: „Vor etwa hundert jahren fieng Wolfgang Gothe an, seinen Faust zu schreiben. die sage, welche er benutzte, reichte in die grauste vorzeit hinauf: misverständnisse ionischer philosophie, christlichen glaubens, römischer geschichte waren zusammengeknetet, um das buch zu liefern, welches dem großen dichter vorlag“ (Lagarde 1876, 44). Zu N. und Lagarde siehe Sommer 1998b u. Sommer 2010c. 62, 5 für sich finden] Die Erstausgabe hat: „für sich finden können“ (Nietzsche 1878, 46). Die KSA und KGW folgen hier offensichtlich Mp XIV 1, 370 und Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 31, wo jeweils das „können“ fehlt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,31). 62, 7 Erregbare und Bewegliche] Mp XIV 1, 370: „bewegliche und erregbare“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,370). 62, 9–15 sollten wir, die g e i s t i g e r e n Menschen eines Zeitalters, welches ersichtlich immer mehr in Brand geräth, nicht nach allen löschenden und kühlenden Mitteln, die es giebt, greifen müssen, damit wir wenigstens so stetig, harmlos und mässig bleiben, als wir es noch sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter als Spiegel und Selbstbesinnung über sich zu dienen? –] Mp XIV 1, 370 hat statt „eines Zeitalters, welches“ „eines Zeitalters, das“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,370). Die Schlussvolte könnte den Eindruck erwecken, hier würde im Modus der rhetorischen Frage ein altes, heruntertemperiertes Philosophenideal reaktiviert – das Ideal des Stoikers, der sich von keinen Affekten echauffieren lässt. Wie aber können die Abgekühlten ein „Spiegel“ des offenbar aufgeheizten Zeitalters sein (ist es zur Glut gebracht durch nationalistische oder weltanschauliche Leidenschaften?)? Die coolen „g e i s t i g e r e n Menschen“ sind damit ja – im Unterschied zur naturmimetischen und damit naturähnlichen Wissenschaft? – offensichtlich diesem Zeitalter unähnlich. Und wenn sie der „Selbstbesinnung“ dienen sollen, helfen sie dann bei der Abkühlung und Ausnüchterung? Das sprechende ‚Wir‘ bildet sich offensichtlich ein, für das ganze „Zeitalter“ und nicht bloß für sich nützlich zu bleiben. Während die Wissenschaft sich keine letzten Zwecke setzt, übt sich dieses ‚Wir‘ nicht in Zweckaske-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 38–39, KSA 2, S. 62
253
se, sondern bezieht aus seiner imaginierten epochalen Rolle seine eigene Rechtfertigung. Die Metaphorik der Kälte wurde schon in MA I 37, KSA 2, 61, 4 im Blick auf Rée aufgerufen. Aber Wärme und Kälte sind noch keine hinreichenden Symptome für Krankheit oder Gesundheit, so dass der zeitdiagnostische Befund reichlich vage bleibt.
39. Hat MA I 37 davon gesprochen, dass die psychologisch-moralistische Betrachtungsweise für die traditionell von den Philosophen angeblich verabscheuten Untersuchungen zur „Geschichte der moralischen Empfindungen“ (60, 5) unerlässlich sei, spricht MA I 39 jetzt direkt von diesen „sogenannten moralischen Empfindungen“ und behauptet, sie ließen sich in „folgende[.] Hauptphasen“ (62, 19 f.) historisch aufteilen: In einer ersten Phase habe man Einzelhandlungen nach ihren Folgen beurteilt, die schädlichen böse und die nützlichen gut genannt. In einer zweiten Phase habe man „die Herkunft dieser Bezeichnungen“ (62, 23 f.) vergessen und die Handlungen als solche, ohne Blick auf die Folgen, für gut oder böse gehalten, also das, „was Wirkung ist, als Ursache“ (62, 28 f.) gefasst. Die dritte Phase der moralgeschichtlichen Entwicklung sei dadurch bestimmt gewesen, dass man jetzt nicht mehr die Handlungen, sondern die ihnen zugrundeliegenden „Motive“ (62, 30) als gut oder böse ausgewiesen habe. In einem vierten Schritt seien dann nicht mehr die Einzelmotive, sondern vielmehr die Menschen als ganze für gut oder schlecht befunden worden. Nun aber habe man „entdeckt“ (63, 5), dass auch der Mensch nicht „verantwortlich“ (63, 6) sein könne, weil er in jeder Hinsicht determiniert sei. Damit stelle sich „die Geschichte der moralischen Empfindungen“ als „die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit“ (63, 11–13) heraus, von der „Freiheit des Willens“ (63, 14). Nach einem Gedankenstrich (63, 14) widmet sich der zweite Teil von MA I 39 Schopenhauer, der aus dem Umstand, dass manche Einzelhandlungen „U n m u t h (‚Schuldbewusstsein‘)“ (63, 15 f.) hervorriefen, gefolgert habe, es gäbe dafür keinen „G r u n d“ (63, 18), wenn nicht nur, was Schopenhauer zugestehe, jegliches menschliches Handeln determiniert sei, „sondern der Mensch selber mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes W e s e n erlangte, – was Schopenhauer leugnet“ (63, 20–22). Daher meine Schopenhauer nun, der Mensch habe zwar keine Freiheit im Blick auf sein Handeln, müsse eine solche aber im Blick auf sein „Wesen“ (63, 26) gehabt haben. Der fragliche Unmut werde nun irrtümlich mit den Handlungen in Verbindung gebracht, während er sich nach Schopenhauer tatsächlich aber auf das Sein beziehe, „welches die That eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums, sei“ (63, 32 f.). Gegen Schopenhauer wird
254
Menschliches, Allzumenschliches I
nun eingewandt, dass aus dem Vorhandensein des fraglichen Unmuts keineswegs geschlossen werden dürfe, dass er zu Recht bestehe – dieser Fehlschluss führe Schopenhauer zu seiner abstrusen Idee „der sogenannten intelligibelen Freiheit“ (64, 5). Der Unmut bestehe vielmehr zu Unrecht, weil er irrtümlich voraussetze, dass der Mensch bei der Handlung, die ihm Verdruss bereitet, auch anders hätte handeln können, obwohl sie doch ganz zwangsläufig erfolgt sei. Der Mensch wähne sich frei, sei es aber nicht, und empfinde in diesem Irrtum „Reue und Gewissensbisse“ (64, 10). Diesen Unmut könne man sich überdies „abgewöhnen“ (64, 11 f.); er komme bei vielen Menschen gar nicht vor, sei höchst „wandelbar[.]“ (64, 14) und spiele vielleicht nur in einer kurzen weltgeschichtlichen Periode überhaupt eine Rolle. Nach einem weiteren Gedankenstrich (64, 16) wird resümiert, dass niemand für seine Handlungen, aber auch niemand für sein Wesen verantwortlich sei; richten bedeute, ungerecht zu sein, was aber kaum jemand einzugestehen bereit sei – „aus Furcht vor den Folgen“ (64, 21). Der erste Teil von MA I 39 listet apodiktisch die angeblichen Perioden der moralischen Urteile auf, als ob dies allseits gesichertes Wissen wäre, das keiner weiteren Begründung und Herleitung bedürfe. Selbst wenn man annimmt, dass es sich historisch ganz so verhält wie beschrieben, folgt daraus doch noch keineswegs, dass die Verantwortungszuschreibung an ein Wesen völlig irrtümlich ist – ein Kantianer würde das, was hier als Irrtumszusammenhang gedeutet wird, als Entdeckungszusammenhang deuten: Die Menschheit musste allmählich lernen, dass nicht Handlungen, sondern die ihnen zugrundeliegenden Maximen sowie der diese fassende Wille gut oder böse sind – und dass für die Frage von Gut und Böse die Konsequenzen, das Nutzenkalkül völlig außen vor bleiben müssten. Aber auch wenn man zugesteht, dass die Moralgeschichte die Geschichte fortschreitender Irrtümer gewesen sei, sind daraus der radikale Determinismus und die Unverantwortlichkeit der Menschen für ihr Handeln keineswegs zwingend abzuleiten. In 63, 5 f. wird zwar die Erkenntnis, dass auch „dieses Wesen“ nicht „verantwortlich sein“ könne, so inszeniert wie eine Anagnorisis, die jäh über die Protagonisten hereinbrechende Einsicht über die wahren Zusammenhänge in der griechischen Tragödie. Aber mehr als die Inszenierung einer plötzlichen Erkenntnis ist dies nicht, denn dass etwas erkannt worden ist, wird nur behauptet, nicht belegt. Die dramatische Inszenierung soll den Verdacht vergessen machen, der doch so nahe liegt – nämlich den, dass die angebliche Erkenntnis auch nichts weiter ist als ein Irrtum: Wäre das angesichts des Umstandes, dass die Moralgeschichte in der Rekonstruktion von MA I 39 nur von Irrtümern gelenkt war, nicht vielmehr sehr wahrscheinlich? Diesen Verdacht soll dann die ausgiebige Schopenhauer-Diskussion, die die völlige Unverantwortlichkeit schon voraussetzt, weiter verdrängen. Selbst wenn man dem Sprecher in seiner Schopenhauer-Kritik zustimmt und weder die intelligible Freiheit einer Wesenswahl für plausibel hält noch bestreitet, dass das
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 39, KSA 2, S. 62
255
schuldbewusste Unbehagen über eigene Taten historisch und kulturell kontingent ist, folgt daraus doch noch nichts für die Frage, ob es Willensfreiheit als Freiheit, zwischen Handlungsoptionen zu wählen, wirklich gibt. Am Ende kommt die Rede wieder zurück auf die angebliche Entdeckung des vollständigen DeterminiertSeins, die dann so präsentiert werden kann, als ob sie felsenfest zwingende Wahrheit wäre. Der Text mündet in eine Schlussbehauptung völliger Evidenz („so hell wie Sonnenlicht“ – 64, 19 f.), aber diese Evidenz ist nur rhetorisch erschlichen, nicht argumentativ gesichert. Zu MA I 39 gibt es in Mp XIV 1, 272–274 eine zusammenhängende ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, mit „16.“ nummeriert sowie mit Korrekturen N.s. Unmittelbar nach den letzten Worten „Furcht vor den Folgen“ folgt dort ab Seite 274 in einem neuen Satz, aber auf derselben Zeile jener Text, den Montinari als „Fragment“ 20[2] isoliert ediert hat. Diese unmittelbare Fortsetzung des späteren Textes von MA I 39 weist ebenfalls Ergänzungen N.s auf und ist insgesamt durchgestrichen: „In der That sind diese Folgen bedenklich. Wenn die schlechte, ungeschickte Handlung irgend wann einmal keinen Unmuth mehr nach sich zieht, so würde diese kalte Gesinnung, an die man sich in Hinsicht auf das Vergangene gewöhnt hätte, auch die Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber das Handeln des Menschen durch die Anticipation der zu erwerbenden Lust oder Unlust bestimmt: fällt diese in Hinsicht auf sogenannte moralische Lust oder Unlust weg, so hält ihn keine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurück, und zöge ihn nichts mehr zu der guten That hin: es sei denn die Rücksicht auf das Nützliche oder Schädliche; die Moral wiche einer Nützlichkeitslehre. Der Mensch würde in Hinsicht auf das Kommende eben so kalt und klug werden wie in Hinsicht auf das Vergangene. Dann würde er für die kalte Ueberlegung reif sein, welchen Werth sein gegenwärtiges Leben habe, das immer noch schmerzhaft genug sein könnte, nebst der Erwägung, ob nicht vielleicht das Nichtsein dem Sein vorzuziehen sei. In Erkenntniss oder Witterung dieses Sachverhaltes, sträubt sich jeder Mensch und auch jede philosophische Ethik gegen die Aufhebung der Verantwortlichkeit: letztere mit Unrecht, da die Philosophie durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit, sondern nur auf sie selber zu achten hat. – Dass das Leben des Menschen als Ganzes keine Folge der Empfindung in Lust oder Unlust haben solle, sondern mit Vernichtung und völliger Empfindungslosigkeit schlösse, wird aus demselben Grunde gemeinhin abgelehnt: man fürchtet den Glauben an den Werth des Lebens zu schwächen und die Lust zum Selbstmorde zu ermuthigen. Der Wille zum Leben wehrt sich gegen die Schlüsse der Vernunft und versucht diese zu trüben: daher die Bedeutung, die man den letzten Augenblicken des Lebens auf dem Sterbebette beilegt, als ob da noch etwas zu fürchten oder zu hoffen wäre.“ (NL 1876/77, KSA 8, 20[2], 360, 14–361, 16 = http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,274, http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,275 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,276)
256
Menschliches, Allzumenschliches I
Vorarbeiten zu MA I 39 finden sich in Heft U II 5, 49 f. (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,49 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,50), U II 5, 47 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,47) und U II 5, 87 f. (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,87 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,88); siehe auch NL 1876, KSA 8, 19[39], 339, 12–340, 19: „59. Von zwei übeln Empfindungen kann allmählich die Philosophie erlösen: erstens von der Furcht auf dem Sterbebette, weil da nichts zu fürchten ist, zweitens von der Reue und Gewissensqual nach der That, weil jede That ganz unvermeidlich war. Hinsichtlich alles Vergangenen ist ein kalter Fatalismus die philosophische Gesinnung. / Der Unmuth über eine That wird aber vielleicht nicht geringer, wenn ich einsehe, daß sie Nothwendigkeit war: es ist ein Schmerz, der sich nicht durch Vorwurf Rache usw. erleichtern kann. Denn seine ganze Natur sein esse der That zu bezichtigen ist nur eine neue Stufe derselben Unvernunft, welche uns für jede einzelne Handlung verantwortlich machen will. Weil der Unmuth da ist, so muß Verantwortlichkeit da sein, also irgendwo eine Freiheit: so kam Schopenhauer auf den Begriff der intelligiblen Freiheit. Aber die Thatsache des Unmuths beweist nicht die rationelle Vernünftigkeit dieses Unmuthes: und nur, wenn es so stünde, würde man in der Schopenhauerschen Weise fortschließen können. – Der Unmuth ist übrigens zwar jetzt da, aber kann vielleicht abgewöhnt werden. / Wenn aber die schlechte ungeschickte Handlung keinen Unmuth nach sich zieht, so würde diese kalte Gesinnung, welche man sich in Hinsicht der Vergangenheit angewöhnt hätte, auch die Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber das Handeln der Menschen durch die Anticipation der zu erwerbenden Lust oder Unlust bestimmt: fällt diese weg, so hielte ihn keine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurück, und zöge ihn nichts mehr zu der guten That hin. Er würde in Hinsicht auf das Kommende ebenso kalt wie in Hinsicht auf das Vergangene. Jetzt träte die kalte Überlegung ein, ob Leben oder Nichtleben vorzuziehen sei: und der Selbstmord aus Besonnenheit wäre die Folge. In Erkenntniß oder Witterung dieses Sachverhaltes sträubt sich jeder Mensch, und auch jede Ethik gegen die Aufhebung der Freiheit: letztere mit Unrecht, da die Philosophie durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit sondern nur auf sie zu achten hat. – Dass das Leben als Ganzes keine Folge der Empfindung (Lust oder Unlust) haben soll, wird aus demselben Grunde abgewehrt (daher die Bedeutung, die dem Sterbebette zugeschrieben wird).“ Auch weitere Aufzeichnungen aus der selben Zeit umkreisen das Thema der prinzipiellen Unverantwortlichkeit, z. B. NL 1876/77, KSA 8, 23[78], 429, 21–29: „Die falsche Voraussetzung aller Moral ist der Irrthum, daß der Mensch frei handele und verantwortlich sei. Jedes Gesetz, jede Vorschrift (in Staat, Gesellschaft, Schule) setzt diesen Glauben voraus, wir sind so daran gewöhnt, daß wir loben und tadeln, auch n a c h der erworbenen Einsicht in die Unverantwortlichkeit: während wir doch die Natur nicht tadeln und loben. Unegoistische Handlungen for-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 39, KSA 2, S. 62
257
dern, wie es die pessimistischen Religionen thun, Liebe fordern: das setzt denselben Grundirrthum voraus.“ Vgl. zur Kritik an der intelligiblen Freiheit in MA I 39 Müller-Lauter 1999b, 25–129 und dazu Brusotti 2021, 202 sowie vor dem Hintergrund der Debatte um Willensfreiheit zwischen Luther und Erasmus Estadieu 2020; zur Unverantwortlichkeit MA I 17, MA I 43, MA I 105, MA I 107, MA I 133 u. MA I 144 sowie z. B. Wisser 1972, Filek 2001, Zavatta 2009, 281, Kerger 2021, 152 f., Sooväli 2022, Xia 2024 u. Jong 2024. 62, 18–20 Die Geschichte der Empfindungen, vermöge deren wir Jemanden verantwortlich machen, also der sogenannten moralischen Empfindungen verläuft in folgenden Hauptphasen.] Der hier angeschlagene Lehrbuchton ist im Gesamtgefüge von MA I ungewöhnlich. Das ‚Wir‘, das hier spricht und sich sehr vom kokett bescheidenen ‚Wir‘ am Ende von MA I 38 abhebt, scheint die Wahrheit mit Löffeln gegessen zu haben, so dass es ihm überflüssig erscheint, zu erläutern, woher es denn sein Wissen bezieht. „Zur Geschichte der moralischen Empfindungen“ will ja das ganze Zweite Hauptstück beitragen – und die Wortwahl belegt nicht nur, dass es keineswegs um die Stufen der Moralität geht (vgl. aber MA I 94), mit der die alte spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie den Menschheitsfortschritt auf den Begriff zu bringen hoffte, sondern bloß um Veränderungen im emotionalen Haushalt. Vielmehr verweist diese Wortwahl direkt auf Paul Rées Buch Der Ursprung der moralischen Empfindungen und damit auf eine Quelle des hier beanspruchten Wissens. 62, 20–29 Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft „gut“ oder „böse“ innewohne: mit demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den Baum selber als grün bezeichnet – also dadurch, dass man, was Wirkung ist, als Ursache fasst.] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 47) hat N. nach „Folgen wegen“ am Rand in Klammern hinzugefügt: „(welche sie für die Gemeinde haben)“. In der Phrase „was Wirkung ist“ hat N. „Wirkung“ gestrichen und „Folge“ darübergeschrieben (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1252332904/66/). Der Passus verweist auf Lektüren, die N. und Rée gemeinsam getrieben haben – „So hebt L u b b o c k ausdrücklich hervor, dass die Wilden, wenn sie überhaupt irgend welche moralische Unterscheidungen machen, niemals die Motive der Handlungen beachten, sondern nur deren Nützlichkeit und Schädlichkeit“ (Rée 1877, 15 = Rée 2004, 135) – und bezieht sich auf RéePassagen wie die in NK 50, 20–22 mitgeteilte. Das Thema des Vergessens in der Moralgeschichte nimmt N. dann in MA II WS 40, KSA 2, 570 f. wieder auf. In GM I 2
258
Menschliches, Allzumenschliches I
paraphrasiert N. Rées Position noch einmal, um sich dann von ihr entschieden abzugrenzen, vgl. NK KSA 5, 258, 29–259, 4. Tatsächlich ist an Rées Modell und an demjenigen, das MA I 39 erprobt, nicht ersichtlich, weshalb jemand das NützlichSein hätte vergessen sollen. Überdies fragt sich, ob zur moralhistorischen Beschreibung des Verhältnisses von „nützlich“ und „gut“ das Verhältnis von Ursache und Wirkung die adäquate Kategorie ist. 62, 29–63, 2 Sodann legt man das Gut- oder Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zweideutig. Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich, herauswächst.] In der Vorarbeit U II 5, 49 lautet der zweite Satz: „Man geht weiter u. legt das Prädikat gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen des Menschen bei, aus dem das Motiv herauswächst, so daß es nothwendig Farbe u. Art seines Ursprungs tragen wird.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,49) Wiederum steht Rée Pate – oder die Gesprächs- und Denkgemeinschaft mit ihm: „Anfangs wurde derjenige gut genannt, der andern (derselben Gemeinschaft Angehörenden) nützte, und derjenige schlecht, der ihnen schadete. Später sah man nicht blos darauf, dass jemand thatsächlich nützte, sondern die Motive seiner Handlungen untersuchend, nannte man nur die andern nützenden Handlungen gut, welche aus unegoistischen Motiven (um der andern selbst willen) gethan werden. Zu dieser Berücksichtigung der Motive kam man ursprünglich desshalb, weil, wenn die Menschen sich aus egoistischen Motiven (wie Eigennutz und Furcht vor Strafe) helfen oder nicht schaden, ihre Eintracht zufällig, unsicher, von aussen her erzwungen ist, während, wenn sie aus unegoistischen Motiven einander helfen oder nicht schaden, ihre Eintracht sicher, solide ist, von innen heraus kommt.“ (Rée 1877, 61 f. = Rée 2004, 163 f.) Rée arbeitet die historische Bindung der Zuschreibung von „gut“/„böse“ zuerst an die Handlungen, dann an die Motive und schließlich an das „Wesen eines Menschen“ nicht in derselben Deutlichkeit heraus wie MA I 39, sondern suggeriert an der zitierten Stelle eher, man habe immer schon die Menschen als „gut“ oder „böse“ qualifiziert. Der Übergang vom Einzelmotiv auf die Güte oder Bosheit des ganzen Menschen erscheint in MA I 39 als eine sehr späte moralgeschichtliche Entwicklung, während Rée eher anzunehmen scheint, dass es eine sehr frühe, ‚primitive‘ Vorstellungsart ist, eine solche Extrapolation aufs Ganze zu machen: jemand schadet einem und man hält ihn, wie schon Kleinkinder es tun, für böse, ohne sich über „Motive“ Gedanken zu machen. Das historische Schichtenmodell von MA I 39 erklärt überdies nicht, wie man in der Menschheits(früh)geschichte plötzlich auf „Motive“ kam, wenn man bis dahin Taten ganz mechanisch verstanden hat als Verursachung von Nützlichem und Schädlichem. Woher stammt das Bedürfnis, Motive anzunehmen?
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 39, KSA 2, S. 62–63
259
63, 5–14 Nun entdeckt man schliesslich, dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt: also dass der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der Freiheit des Willens ruht.] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 47) hat N. in der Phrase „dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums“ „Empfindungen“ gestrichen und „Werthschätzungen zugleich“ darübergeschrieben (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/66/). „Concrescieren“ bedeutet „zusammenwachsen, einverleiben“ (Petri 1861, 189). Wer hier „entdeckt“ hat, macht MA I 39 nicht klar. Man wird an radikale Deterministen denken, auch an Sorrenter Lektüren wie Herzen 1874 (vgl. Salerno 2021, 57–59). So schlägt Rée vor, „Wendungen (eigentlich W i ndungen) wie sittliche Freiheit und ähnliche als verdächtig aus dem Gebiet der philosophischen Terminologie zu verbannen“, weil „jeder Willensact nothwendig ist“ (Rée 1877, 34 = Rée 2004, 147; vgl. NK KSA 3, 579, 9–14). Er widmet einen langen Paragraphen dem Thema „Die Verantwortlichkeit und die Willensfreiheit“ (Rée 1877, 28–44 = Rée 2004, 143–153), wo es unter anderem auch heißt: „Das Verantwortlichmachen anderer beruht also gleichfalls auf dem Irrthum, als ob der Wille des Menschen frei sei. / Wenn wir hingegen eingesehen haben, dass jeder Mensch mit bestimmten Eigenschaften geboren wird; dass auf diese Eigenschaften Umstände wirken, und dass durch die Vereinigung dieser beiden Factoren mit Nothwendigkeit bestimmte Gedanken und Empfindungen entstehen, die ihrerseits mit Nothwendigkeit bestimmte Handlungen erzeugen, – wenn wir so die Nothwendigkeit aller menschlichen Handlungen eingesehen haben, so machen wir Niemanden mehr verantwortlich.“ (Rée 1877, 41 f. = Rée 2004, 151) Im Anschluss führt Rée eine längere Auseinandersetzung mit Kant (Rée 1877, 41–44 = Rée 2004, 151–153), die ähnliche Akzente setzt wie MA I 39 in der Auseinandersetzung mit Schopenhauer. Rée resümiert: „Hätte er [sc. Kant] hingegen das gewöhnliche Verantwortlichmachen richtig aufgefasst; hätte er bemerkt, dass dasselbe gerade die Willensfreiheit voraussetzt, und danach auf die einzelnen Handlungen geht, so würde er auch weiter bemerkt haben, dass dieses Verantwortlichmachen, wenn die Willensunfreiheit eingesehen worden ist, nicht noch auf den angeborenen Charakter geht, sondern aufhört, dass also die tägliche Erfahrung seine Lehre von dem Verantwortlichmachen des angeborenen Charakters widerlegt; er hätte endlich bemerkt, dass das Problem ‚wie kann die Erkenntniss der Willensunfreiheit zusammen bestehen mit dem Verantwortlichmachen‘ gar nicht existirt, indem derjenige, der die Wil-
260
Menschliches, Allzumenschliches I
lensunfreiheit erkannt hat, Niemanden mehr verantwortlich macht. Demnach würde er zur Lösung dieses Problems auch nicht die intelligible Freiheit ersonnen, noch mit Hülfe derselben Gott und Unsterblichkeit als practische Postulate untergebracht haben.“ (Rée 1877, 43 f. = Rée 2004, 152 f.) Freilich wirft die Argumentation in 63, 5–14 Schwierigkeiten auf: Selbst wenn das „Wesen“ (sein Vorhandensein einmal angenommen) vollständig bestimmt ist durch „Elemente“ und „Einflüsse“, folgt daraus nicht, dass dies auch für Handlungen, Motive, Wirkungen gilt. Denn die sind ja nicht einfach zwangsläufige Ausflüsse aus dem „Wesen“, sondern stehen dazu in einem durchaus unbestimmten Verhältnis – spielen nicht auch noch andere Faktoren mit? 63, 14–64, 10 Schopenhauer schloss dagegen so: weil gewisse Handlungen U n m u t h („Schuldbewusstsein“) nach sich ziehen, so muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth wäre k e i n G r u n d vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit Nothwendigkeit verliefe – wie es thatsächlich, und auch nach der Einsicht dieses Philosophen, verläuft –, sondern der Mensch selber mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes We s e n erlangte, – was Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch irgendwie gehabt haben müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu s e i n, nicht so oder so zu h a n d e l n. Aus dem esse, der Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sphäre der strengen Causalität, Nothwendigkeit und Unverantwortlichkeit. Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari – insofern sei er irrthümlich –, in Wahrheit aber auf das esse, welches die That eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums, sei; der Mensch werde Das, was er werden w o l l e, sein Wollen sei früher, als seine Existenz. – Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass aus der Thatsache des Unmuthes die Berechtigung, die vernünftige Z u l ä s s i g k e i t dieses Unmuthes geschlossen wird; und von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthümlichen Voraussetzung, dass die That eben n i c h t nothwendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse.] Diese ausgiebige Auseinandersetzung mit Schopenhauer bezieht sich auf dessen Preisschrift Ueber die Freiheit des menschlichen Willens, in der der Verfasser für sich in Anspruch nimmt, „alle Freiheit des menschlichen Handelns völlig aufgehoben und dasselbe als durchweg der strengsten Nothwendigkeit unterworfen erkannt“ zu haben, aber nur um „d i e w a h r e m o r a l i s c h e F r e i h e i t“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 93) herauszustellen. Um das zu tun, rekurriert er auf das angeblich menschlich universelle, „völlig deutliche und sichere Gefühl der V e r a n t w o r t l i c h k e i t für
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 39, KSA 2, S. 63
261
Das was wir thun, der Z u r e c h n u n g s f ä h i g k e i t für unsere Handlungen, beruhend auf der unerschütterlichen Gewißheit, daß wir selbst die T h ä t e r u n s e r e r Thaten sind“ (ebd.) Die Schuld liege ja nicht in der Tat, sondern im Wesen des Täters. „Da, wo die Schuld liegt, muß auch die V e r a n t w o r t l i c h k e i t liegen: und da diese das alleinige Datum ist, welches auf moralische F r e i h e i t zu schließen berechtigt; so muß auch die Freiheit ebendaselbst liegen, also im Charakter des Menschen“ (ebd., 94) Schopenhauer greift nun auf Kants Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter zurück, um darzulegen, „wie die strenge Nothwendigkeit unserer Handlungen doch zusammenbesteht mit derjenigen Freiheit, von welcher das Gefühl der Verantwortlichkeit Zeugniß ablegt, und vermöge welcher wir die Thäter unserer Thaten und diese uns moralisch zuzurechnen sind.“ (Ebd., 96) Die transzendentale Freiheit sei eine, die sich nicht in den Erscheinungen zeige, sondern das Wesen des Menschen selbst betreffe. „Vermöge dieser Freiheit sind alle Thaten des Menschen sein eigenes Werk […]. Demzufolge ist zwar der W i l l e frei, aber nur an sich selbst und außerhalb der Erscheinung“ (ebd.). So bewerkstelligt Schopenhauer dann den Übergang zur Nichtfreiheit einzelner Handlungen bei gleichzeitiger Wesensfreiheit: „Dieser Weg führt […] dahin, daß wir das Werk unserer F r e i h e i t nicht mehr, wie es die gemeine Ansicht thut, in unsern einzelnen Handlungen, sondern im ganzen Seyn und Wesen (existentia et essentia) des Menschen selbst zu suchen haben, welches gedacht werden muß als seine freie That, die bloß für das an Zeit, Raum und Kausalität geknüpfte Erkenntnißvermögen in einer Vielheit und Verschiedenheit von Handlungen sich darstellt, welche aber, eben wegen der ursprünglichen Einheit des in ihnen sich Darstellenden, alle genau den selben Charakter tragen müssen und daher als von den jedesmaligen Motiven, von denen sie hervorgerufen und im Einzelnen bestimmt werden, streng necessitirt erscheinen. Demnach steht für die Welt der Erfahrung das Operari sequitur esse [sc. das Tun folgt dem Sein] ohne Ausnahme fest. […] Jeder Mensch handelt nach dem wie er ist […]. Die F r e i h e i t, welche daher in Operari nicht anzutreffen seyn kann, m u ß im Esse [sc. Sein] l i e g e n. Es ist ein Grundirrthum […] aller Zeiten gewesen, die Nothwendigkeit dem Esse und die Freiheit dem Operari [sc. Tun] beizulegen. Umgekehrt, im Esse a l l e i n l i e g t d i e F r e i h e i t; aber aus ihm und den Motiven folgt das Operari mit Nothwendigkeit: und a n d e m w a s w i r t h u n , e r k e n n e n w i r w a s w i r s i n d.“ (Ebd., 97) Zum „operari“ und „esse“ siehe auch Rée 1877, 36 = Rée 2004, 147. Es fällt auf, dass in der Rekonstruktion von MA I 39 mit dem „Unmuth“ ein Wort ins Zentrum rückt, das in Schopenhauers Vorlage fehlt – stattdessen spricht er von Verantwortlichkeit, auch von Schuld. Diese Fokussierung auf eine negative Empfindung passt allerdings vorzüglich zum psychologischen Betrachtungsfokus, den MA I 39 im Ausgang von MA I 35 bis 38 wählt.
262
Menschliches, Allzumenschliches I
Auch der in MA I 39 prominent gemachte Begriff der „intelligiblen Freiheit“ fehlt im Schlusskapitel von Schopenhauers Preisschrift Ueber die Freiheit des menschlichen Willens, während Rée 1877, 44 ihn bei Kant findet, siehe NK 63, 5– 14. Allerdings benutzt und erläutert Schopenhauer diese Fügung durchaus, und zwar in seinem Brief an Julius Frauenstädt vom 06. 08. 1852, den letzterer 1863 publizieren sollte: „Die intelligible Freiheit des Willens ist eben eine i n t e l l i g i b l e, nicht eine intuitive: denn sie beruht darauf, dass 1) die Freiheit ein negativer Begriff ist, dessen Inhalt bloss die Abwesenheit jeder Nothwendigkeit; – 2) dass alle Nothwendigkeit bloss besagt ‚Folge aus einem gegebenen Grunde;‘ – 3) dass der Satz vom Grunde, in seinen 4 Gestalten, bloss die Form der Erscheinung ist, präformirt in cerebro [sc. im Gehirn], nicht dem Ding an sich zukommt; ergo ist ein solches als solches frei. Dass das Individuum und sein Charakter das Werk des intelligibeln Willens ist, folgt allein daraus, dass während die Thaten mit Nothwendigkeit aus den Motiven und dem gegebenen Charakter, auf den diese wirken, hervorgehn, dennoch wir das deutlichste Bewusstseyn der Verantwortlichkeit für selbige haben, als Thäter unserer Thaten. Aber intuitiv fasslich können wir alle diese Verhältnisse uns nicht machen: – sind bloss intelligibel.“ (Schopenhauer 1863, 548) Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 48) hat N. in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre zwei Passagen des Lemmas mit Bleistift umgeschrieben, nämlich erstens 63, 19–22 („wie es thatsächlich“ bis „erlangte“) zu: „wie es doch auch nach der Meinung dieses Philosophen, verläuft –, sondern der Mensch selber mit der selben Nothwendigkeit gerade dieser Mensch wäre der er ist“. Und zweitens 64, 1–5 („Hier wird der“ bis „intelligibelen Freiheit.“): „Hier wird der abgesehn von der eigentl. Tollheit der letzt gegebenen Behauptung der Fehlschluss gemacht, dass aus der Thatsache des Unmuthes schon die Berechtigung, die vernünftige Zulässigkeit dieses Unmuthes geschlossen wird; erst von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz der sogenannten intelligibelen Freiheit. (An der Entstehung dieses Fabelwesens sind Plato und Kant zu gleichen Theilen mitschuldig)“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/67/). Den gesamten folgenden Schluss von MA I 39 von 64, 5 („Aber) bis 64, 21 („vor den Folgen“) hat N. eingeklammert und damit offensichtlich streichen wollen, obwohl er in 64, 6 nach „braucht“ ein „noch“ und in 64, 9 zwischen „Also: weil“ ein „nur“ eingefügt hatte (Nietzsche 1878, 48 f., https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/67/ u. https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1252332904/68/). Die in der Handexemplar-Überarbeitung von MA I 39 vorgenommene Ausdehnung des Konzepts „intelligibler Freiheit“ auf Platon und Kant hat N. dann in GD Die vier grossen Irrthümer 8 aufgenommen, vgl. NK KSA 6, 96, 16. Dass die „Reue“ (64, 10) eine überflüssige Empfindung sei, ist ein Motiv, das bei N. wieder-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 39, KSA 2, S. 63–64
263
holt wiederkehrt, siehe z. B. FW 41 u. NK 3/2.1, S. 460 f. In NL 1878, 30[130], KSA 8, 545, 12–14 heißt es: „Das ganz eigentlich u n p h i l o s o p h i s c h e Gefühl, die Reue, ist mir ganz fremd geworden.“ 64, 17–19 Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet.] Das war auch die Quintessenz bei Rée 1877, 43 f., siehe NK 63, 5–14. Die These von der Unverantwortlichkeit und Unfreiheit des Willens ist unter zeitgenössischen Naturalisten und Materialisten weit verbreitet. So schreibt Carl Vogt – dem N. noch 1887 ein Freiexemplar von GM zukommen lassen wird (NK 5/2, S. 8) – in seinen Studien Altes und Neues aus Thier- und Menschenleben: „Der freie Wille existirt nicht und mit ihm nicht eine Verantwortlichkeit und eine Zurechnungsfähigkeit, wie sie die Moral und die Strafrechtspflege und Gott weiß wer noch uns auferlegen wollen. Wir sind in keinem Augenblicke Herren über uns selbst, über unsere Vernunft, über unsere geistigen Kräfte, so wenig als wir Herren sind darüber, daß unsere Nieren eben absondern oder nicht absondern sollen.“ (Vogt 1859, 1, 412) Mit so simplem Materialismus, dieser Diagnose des Nicht-Herr-Sein-Könnens, kann sich N. aber auf Dauer auch nicht anfreunden. Herr-sein-Wollen erweist sich dann als eine bestimmende Devise seines Denkens, vgl. Sommer 2020m. Die Überlegung zum Richten lässt Matthäus 7, 1 anklingen, wonach man nicht richten solle, um selbst nicht gerichtet zu werden (vgl. NK KSA 6, 221, 32–222, 3). Bei Rée 1877, 43 = Rée 2004, 152 heißt es dazu parallel: „Der Satz ‚Alles verstehen heisst Alles verzeihen‘ ist richtig, während K a n t eigentlich behauptet ‚Alles verstehen heisst nicht Alles verzeihen‘, was falsch ist.“ (Zu dieser Sentenz vgl. auch NK KSA 5, 245, 2.) Rée argumentiert im Blick auf die falsche Neigung zur Selbstanklage auf derselben Linie wie MA I 39: „Der Ursprung dieses Entsetzens über die Verwerflichkeit des eigenen Charakters ist nicht die geheimnissvolle intelligible Freiheit; wir haben uns unseren angeborenen Charakter nicht durch unsere Schuld zugezogen; unsere Gewissensbisse sind nicht ein Gefühl der Reue darüber, dass wir, vermöge jener intelligiblen Freiheit, gerade diesen und nicht einen besseren Charakter gewählt haben. / Vielmehr ist der Ursprung dieses Entsetzens der bereits angegebene. Zunächst haben wir uns daran gewöhnt, mit egoistischen Handlungen, z. B. dem Mord, die Vorstellung des Tadels und der Verwerflichkeit zu associiren. Wenn wir dann eine solche Handlung gethan haben, und hierbei einsehen, dass dieselbe ihren zureichenden Grund in dem Grad egoistischen Empfindens hat, welcher im Augenblick des Handelns in uns vorhanden war, so entsetzen wir uns darüber, dass wir einen Charakter haben, der bis zu einem solchen Grad des verwerflichen Egoismus fähig ist. Falls wir der Ueberzeugung sind, unser Charakter sei uns schon angeboren, so fühlen wir eben Entsetzen darüber, dass wir einen verwerflichen angeborenen Charakter haben (d. h. einen Charak-
264
Menschliches, Allzumenschliches I
ter, aus dem verwerfliche Handlungen hervorgegangen sind und möglicherweise wieder hervorgehen können). / Ein solcher nun, der das Gefühl der Verwerflichkeit seines Charakters, seines esse hat, merkt natürlich nicht, dass diesem Gefühl Gewohnheit zu Grunde liegt, dass er somit das Gefühl der Verwerflichkeit nicht haben würde, wenn er sich nicht von Jugend auf daran gewöhnt hätte, egoistische (das Wohl anderer schädigende) Handlungen, wie z. B. den Mord, als verwerfliche anzusehen.“ (Rée 1877, 36 f. = Rée 2004, 148) Unser moralisches Urteil über uns selbst ist also auch für Rée notwendig ungerecht. 64, 19–21 Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier Jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen.] In U II 5, 87 f. lautet der Passus: „Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht u. doch geht hier Jedermann lieber in den Schatten u. die Unwahrheit: aus Furcht völlig das Augenlicht ˹die Sehkraft˺ zu verlieren, also der vermeintlichen Folgen wegen. Aber die Phil. hat durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit sondern nur auf diese selbst zu achten.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,87et88; vgl. NL 1876, KSA 8, 19[36], 338, 13–18.)
40. Das in MA I 39 ausbuchstabierte Motiv, dass moralische Empfindungen auf Irrtümern beruhen, baut MA I 40 zu einer Generalthese über „Moral“ aus: Sie sei „Nothlüge“ (64, 24), und zwar offensichtlich erfunden, um das wilde Tier in uns zu bändigen. Diese „Irrthümer“ (64, 25) der Moral haben aber augenscheinlich einen wesentlichen evolutionären Effekt gehabt, nämlich die bloße Tierheit zu überwinden, indem sich der Mensch so als etwas Höheres auffasste und zu etwas Höherem disziplinierte. Daher rühre auch der „Hass“ (64, 28) gegen die (vermeintlich) dem Tiersein noch näheren Erscheinungsformen des Menschen, weshalb Sklaven oft als „Nicht-Menschen“ (64, 30) behandelt worden seien. „Moral als existenzsichernde ‚Nothlüge‘ ist also zugleich ein Faktor der Menschwerdung und ein Faktor sozialer Differenzierung, der Ab- und Ausgrenzung, die für eine Gesellschaft grundlegend ist“ (Winkler 2021a, 245). Zu MA I 40 gibt es in Mp XIV 1, 67 eine am Ende abweichende ‚Reinschrift‘ (vgl. NK 64, 28–31). Im Notizheft N II 3, 24 ist mit großer Schrift quer über die Seite notiert: „die Bestie in uns will belogen werden / Moral ist Nothlüge“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,24). Zur Interpretation von MA I 40 siehe Joisten 1994, 160, Kleffmann 2003, 218 u. Bertino/Stegmaier 2015, 76 f. 64, 23 D a s U e b e r - T h i e r.] Das Übertier geht bei N. dem Übermenschen voraus. 64, 23–25 Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Nothlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden.] Dass der Mensch eigentlich eine „Bestie“, ein
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 39–40, KSA 2, S. 64
265
wildes Tier sei, ist ein Motiv, das N. wiederholt aufruft (vgl. NK KSA 3, 555, 7 u. NK KSA 6, 99, 5 f.) und das von Thomas Hobbes’ Naturzustandskonzeption bis in zeitgenössische Evolutions- und Kulturtheorie präsent ist: „Alle Civilisation der Welt vermag die Bestie im Menschen nicht zu ersticken“ (Hellwald 1875a, 656). Während ein radikaler Moralkritiker, zumal nach dem bisher im Zweiten Hauptstück Gesagten, geneigt sein könnte, Moral insgesamt als eine von der Wahrheit abführende, mehr oder weniger bewusste Form der Selbst- und Fremdtäuschung, kurzum Moral als Lüge zu qualifizieren, stellte sich die traditionelle Ethik die Frage, ob Lüge mit Moral vereinbar ist. Diese Frage entzündete sich nun insbesondere an der Notlüge, denn jede andere Form der Lüge stand ohnehin im Geruch moralischer Verwerflichkeit. Kant hat in seinem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen von 1797 (AA VIII, 425–430) auch jede Form der Notlüge für moralisch unzulässig erklärt. Schopenhauer, der Lüge sonst auch entschieden abhold, gab sich in Sachen Notlüge demgegenüber deutlich permissiver: „In allen Fällen, wo ich ein Zwangsrecht, ein vollkommenes Recht habe, Gewalt gegen Andere zu gebrauchen, kann ich, nach Maaßgabe der Umstände, ebenso wohl der fremden Gewalt auch die List entgegenstellen, ohne Unrecht zu thun, und habe folglich ein wirkliches R e c h t z u r L ü g e , g e r a d e s o w e i t , w i e ich es z u m Z w a n g e h a b e. Daher handelt Jemand, der einen ihn durchsuchenden Straßenräuber versichert, er habe nichts weiter bei sich, vollkommen recht: ebenso auch Der, welcher den nächtlich eingedrungenen Räuber durch eine Lüge in einen Keller lockt, wo er ihn einsperrt.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 401) Wenn nun MA I 40 Moral nicht zur Lüge, sondern zur Notlüge erklärt, impliziert dies, dass Moral eine wirkliche Funktion hat, nicht aus Bosheit oder Tücke erfunden wurde, sondern aus Überlebensnotwendigkeit, als Schutzwall gegen die brutale Tiernatur, die im Innern jedes Menschen lauert. Ob es freilich plausibel ist, dass ein Mensch von dieser Tiernatur „zerrissen“ würde, wenn er ihr kein moralisches Korsett anlegt, fragt MA I 40 nicht. Immerhin neigen andere Primaten, obwohl sie kein Moralkorsett haben, auch nicht dazu, sich selbst zu zerfleischen. Ist die Moral im Fall der menschlichen Primaten tatsächlich mehr als ein Domestizierungsmittel und Lüge allenfalls dann, wenn ihre unbedingte Gültigkeit behauptet wird? Überdies tut sich ein Kompatibilitätsproblem mit dem harten Determinismus von MA I 39 auf: MA I 40 zehrt von der Idee, dass der Mensch sich etwas zurechtgelegt hat – die Moral –, um damit eine innere Gefährdung zu bekämpfen und sich so zu einem höheren Wesen, einem „U e b e r - T h i e r“ zu machen. Wenn er das kann, ist er augenscheinlich nicht in jeder Hinsicht von seiner Natur bestimmt, sondern verfügt über Spiel- und Bewegungsräume. 64, 28–31 Er hat desshalb einen Hass gegen die der Thierheit näher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige Missachtung des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu erklären ist.] In Mp XIV 1, 67 heißt es stattdessen: „Er hat einen
266
Menschliches, Allzumenschliches I
Hass gegen die der Thierheit näher gebliebenen Stufen: deshalb die Missachtung des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,67). Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 49) hat N. den letzten Halbsatz 64, 29–31 („woraus“ bis „zu erklären ist“) mit Bleistift eingeklammert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/68/). Das Thema der Sklaverei stand im 19. Jahrhundert nicht nur im Blick auf den Abolitionismus namentlich in den Vereinigten Staaten auf der politischen Tagesordnung; auch der Umgang mit Sklaven in der Antike verfiel der retrospektiven Kritik. In Heinrich Ritters N. wohlbekannter Geschichte der Philosophie alter Zeit beispielsweise wurden die einschlägigen Passagen bei Aristoteles zerpflückt: „Als einem echten Griechen scheint es dem Aristoteles gerecht, daß die Griechen über die Barbaren herrschen; von Natur ist das Barbarische und das /360/ Sklavische gleich; er billigt die Jagd auf die Menschen, welche von Natur zu dienen bestimmt, doch nicht dienen wollen, und nennt dies einen gerechten Krieg. […] Der echte Sklav aber ist gänzlich der Besitz eines Andern. […] Aber alle diese Vorschriften werden doch nur gegeben, damit der Sklav ein passendes Werkzeug des Herrn sei und streng gilt die Regel, daß keine Liebe des Herrn gegen den Sklaven und kein Recht des Sklaven gegen den Herrn statt-/361/finde; Aristoteles setzt wohl hinzu, nicht sofern er Mensch, aber wohl sofern er Sklav sei, indem zwischen allen Menschen Liebe, Gerechtigkeit und Vertrag stattfinden könne; allein in der That weiß man nicht zu sagen, wo im eigentlichen Sklaven des Aristoteles noch der Mensch bleibe und warum er nicht vielmehr hätte sagen müssen, ein Mensch, sofern er Mensch, könne eben nicht Sklav sein.“ (Ritter 1837, 3, 359–361) Der Christentumshistoriker Franz Overbeck, mit N. bekanntlich in enger Gesprächs- und Denkgemeinschaft verbunden (vgl. z. B. Sommer 1997), hat in seinen Studien zur Geschichte der alten Kirche eine lange Abhandlung dem „Verhältnis der alten Kirche zur Sclaverei“ gewidmet, in der er nachwies, dass im antiken Christentum entgegen neuerer apologetischer Behauptungen die Sklaverei nie ernsthaft in Frage gestellt worden sei. In der schließlich bewerkstelligten Allianz der Kirche mit dem römischen Staat habe sie sich schließlich sogar bereitgefunden, „Emancipationsbestrebungen nun geradezu zu bekämpfen, welche sie nie begünstigt, und eine Institution [sc. die Sklaverei] geradezu zu vertheidigen, welche sie nie bekämpft hatte“ (Overbeck 1875, 230 = Overbeck 1994b, 2, 200). Selbst die Christen hatten nicht aufgehört, Sklaven als Sachen zu betrachten. Zu N.s Verhältnis zur historischen und (beinahe) noch zeitgenössischen Institution der Sklaverei vgl. z. B. auch Därmann 2019.
41. Die „beliebte“ (65, 4) Vorstellung eines „u n v e r ä n d e r l i c h e [ n ] C h a r a k t e r [ s]“ (65, 2) verdankt sich nach MA I 41 dem Umstand, dass der Zeitraum des
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 40–41, KSA 2, S. 64–65
267
menschlichen Lebens und damit der Beobachtung zu kurz ist: In der üblichen Lebensspanne seien die äußeren Einwirkungen nicht tiefgreifend genug, um die lange gattungsgeschichtliche Prägung zu verändern. Würde man hingegen 80 000 Jahre alt, so erschiene dieser Charakter als „absolut veränderlich[..]“, „so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte“ (65, 9–11). Zu MA I 41 gibt es in Mp XIV 1, 109 eine ‚Reinschrift‘ mit einigen Korrekturen von N.s Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,109). MA I 39 hat auf die Determiniertheit des „Wesens“ aufmerksam gemacht. Aber wenn sich die Zeiten ändern, ändert sich nach und nach auch das Wesen, der Charakter, er wird eben umgeprägt. Zugleich hatte sich MA I 39 gegen Schopenhauers Vorstellung einer ursprünglichen Charakterwahl gewandt, die bei Schopenhauer mit der Idee von dessen Unveränderlichkeit verbunden war. Vgl. auch NL 1876/77, KSA 8, 23[27], 413, 13–21: „Schopenhauer concipirt die Welt als einen ungeheuren Menschen, dessen Handlungen wir sehen und dessen Charakter völlig unveränderlich ist: diesen können wir eben aus jenen Handlungen erschließen. Insofern ist es Pantheismus oder vielleicht Pandiabolismus, denn er hat kein Interesse, alles was er wahrnimmt in’s Gute und Vollkommene umzudeuten. Aber diese ganze Unterscheidung zwischen Handlungen als Wirkungen und einem an sich seienden Charakter als Ursache ist schon am Menschen falsch, erst recht in Hinsicht auf die Welt.“ MA I 222, KSA 2, 185, 2–6 zählt die Idee von der Unveränderlichkeit des Charakters zu den „metaphysischen Voraussetzungen“, die der Kunst mittlerweile abhandengekommen seien. 65, 5 f. einwirkenden Motive] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 49) ist „Motive“ mit Bleistift zweimal durchgestrichen, am Rand steht: „neuen“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/68/). 65, 7–10 Dächte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter] Die Idee eines Menschen von 80 000 Lebensjahren hat N. in seiner Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen durchgespielt (KGW II 4, 268 f.), wo er Karl Ernst von Baer zitiert, der verschiedene Lebensdauern und Pulsfrequenzen mit den jeweiligen Weltwahrnehmungsmustern korreliert. N. hat in der Vorlesung freilich nicht Baer im Original herangezogen, sondern ziemlich wortwörtlich aus dem Aufsatz Ueber subjective, objective und absolute Zeit von Otto Liebmann abgekupfert. Dort lautet die fragliche Passage: „Verlangsamte sich z. B. der Pulsschlag und die Wahrnehmungsfähigkeit um’s Tausendfache, währte unser Leben ‚wenn es hochkommt‘, 80.000 Jahre, erlebten wir also in einem Jahre so viel, wie jetzt in acht bis neun Stunden, dann würden wir in vier Stunden den Winter hinwegschmelzen, die Erde aufthauen, Gras und Blumen emporspriessen, Bäume sich belauben und
268
Menschliches, Allzumenschliches I
Frucht tragen, und dann die ganze Vegetation wieder welken sehen.“ (Liebmann 1871/72, 473; siehe den Nachweis bei Berti/D’Iorio/Fornari/Simonetta 1993, 398– 400.) Weder bei Liebmann noch in N.s Vorlesung ist freilich vom Charakter und seiner Unveränderlichkeit die Rede. Diese Nutzanwendung von Baer-Liebmanns Zahlenspiel macht erst MA I 41.
42. MA I 42 stellt die historische Kontingenz moralischer Urteile heraus. Gezeigt werden soll, dass es je nach historisch-kulturellem Kontext eine unterschiedliche „Rangordnung der Güter“ (65, 16) gibt und dass diese Ordnung darüber entscheide, was als „moralisch“ oder als „unmoralisch“ gelten soll – letzteres ist dann der Fall, wenn ein in der Güterhierarchie niedriger stehendes Gut einem dort höher stehenden vorgezogen wird. Illustriert wird die Abhängigkeit der Güterhierarchie vom Faktor Zeit am Beispiel von „Rache“ und „Gerechtigkeit“ (65, 23): Zöge man erstere letzterer vor, sei das früher moralisch gewesen, heute hingegen unmoralisch. Von 65, 25 an greift eine entwicklungsgeschichtliche Perspektivierung Raum, während der Schlusssatz nach einem Gedankenstrich (65, 29) noch einmal klarstellen will, dass die Güterhierarchiefestlegung nicht nach moralischen Kriterien erfolge, sondern diese Festlegung erst über Moralität und Unmoralität entscheide. Nach welchen Gesichtspunkten diese Festlegung erfolgt und wie die Güterwertschätzungsevolution stattfindet, wird nicht erläutert, aber immerhin schon zu Beginn von MA I 42 angedeutet: „je nachdem ein niedriger, höherer, höchster Egoismus das Eine oder das Andere will“ (65, 16–18). Freilich scheint die damit insinuierte Rückführung von Wertungen auf Egoismus als alleinigem Faktor womöglich auch etwas kurzatmig. Zu MA I 42 gibt es in Mp XIV 1, 108 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,108). 65, 16 Rangordnung der Güter] In Mp XIV 1, 108 ist „Rangordnung der Güter“ unterstrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,108). Von einer „Rangordnung der Güter“ zu sprechen, ist in der Philosophie (und in der thomistischen Theologie) des 19. Jahrhunderts eine geläufige Redensart. N.s Pfortenser Griechischlehrer Karl Steinhart spricht in seiner Einleitung zu den Nomoi von einer „Rangordnung der Güter“ bei Platon (Platon 1859, 7/1, 215). In Julius Frauenstädts Buch Das sittliche Leben, das Schopenhauer für die Zeitgenossen ausbuchstabiert, heißt es beispielsweise: „Die Rangordnung der Pflichten bestimmt sich nach der Rangordnung der Güter; denn Pflichten giebt es überhaupt nur in Beziehung auf Güter ([…]). / Die Rangordnung der Güter aber wiederum ist bestimmt durch die Rangordnung der Zwecke […]. / Falsche Schätzung der Rangordnung der Güter
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 41–42, KSA 2, S. 65
269
führt zu falscher Schätzung der Rangordnung der Pflichten.“ (Frauenstädt 1866, 132) In einem eigenen Unterkapitel „Die Rangordnung der Güter“ führt Frauenstädt weiter aus: „Die Güter des leiblichen Lebens im Ganzen sind untergeordnet denen des geistigen Lebens, weil das geistige Leben ein höheres ist, einem höhern Zweck der menschlichen Natur entspricht, zu welchem sich das leibliche Leben nur wie Mittel verhält.“ (Ebd., 121) Und Frauenstädt lässt auch keinen Zweifel darüber aufkommen, dass diese Rangordnung etwas Unbedingtes und nichts historisch Kontingentes sei, wenn er auch das absolut höchste Gut zu benennen weiß: Wenn in einzelnen Teilbereichen des Lebens „das höchste Gut dasjenige ist, welches dem obersten Zwecke dieser Sphäre entspricht, so kann für das Leben im Ganzen nur dasjenige Gut das höchste sein, welches dem obersten Zweck des Lebens entspricht. / Dieser dürfte aber wohl kein anderer sein, als der s i t t l i c h e Zweck.“ (Ebd., 122) Eine solche Betrachtungsweise will MA I 42 als historische Naivität entlarven. 65, 19–21 Ein niedriges Gut (zum Beispiel Sinnengenuss) einem höher geschätzten (zum Beispiel Gesundheit) vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit vorziehen.] Vgl. NK 65, 16. Die Vorstellung, dass es geistige Güter gebe, die den sinnlichen prinzipiell überlegen seien, war nicht nur unter idealistischen Philosophen verbreitet. Auch beispielsweise John Stuart Mill hält in Utilitarianism an der Güterhierarchie fest mit dem Argument, was höhere Vermögen anspreche, stehe auch für eine höhere Güterqualität: „Nun ist es aber eine unzweifelhafte Thatsache, daß Diejenigen, welche mit zwei Vergnügungen in gleicher Weise bekannt und gleich fähig sind, dieselben zu schätzen und zu genießen, einen sehr entschiedenen Vorzug derjenigen Art des Seins geben, welche ihre höheren Fähigkeiten in Anspruch nimmt. Wenig menschliche Wesen würden einwilligen, sich in eines der niederen Thiere verwandeln zu lassen gegen die Zusicherung des vollsten Genusses thierischer Vergnügungen“ (Mill 1869–1886, 1, 136). „Es ist besser, ein unbefriedigtes menschliches Wesen zu sein als ein befriedigtes Schwein, besser, ein unbefriedigter Sokrates als ein befriedigter Thor. Und wenn der Thor oder das Schwein anderer Meinung ist, so rührt dies eben daher, daß beide die Frage nur von ihrer eigenen Seite kennen; der andere der in Vergleich kommenden Theile kennt aber beide Seiten.“ (Ebd., 137) Aus dem Blickwinkel von MA I 42 reproduziert Mill hier womöglich nur konventionelle Vorurteile. Zum „Wohlleben“ vgl. auch NK ÜK MA I 235. 65, 25–29 „Unmoralisch“ bezeichnet also, dass Einer die höheren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilen neue Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug empfindet: es bezeichnet einen Zurückgebliebenen, aber immer nur dem Gradunterschied nach.] Mit diesem Satz wird eine Entwicklung hin zu höherer Differenziertheit, eine Art evolutionärer Fortschritt insinuiert, der sich
270
Menschliches, Allzumenschliches I
aus dem Vorangegangenen keineswegs zwingend ergibt. Das Geistig-Verfeinerte wäre dann wie bei Mill (vgl. NK 65, 19–21) die Errungenschaft einer späteren, aber auch höheren Stufe. MA I 42 nimmt hier also keineswegs kritisch Abstand zu den konventionellen Fortschrittsnarrativen, die auch in die (Kultur-)Evolutionstheorien Eingang fanden. In Mp XIV 1, 108 steht statt „feineren, geistigeren“ nur „feinen, geistigen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,108). 65, 30 f. nicht nach moralischen Gesichtspuncten] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 50) ist „nicht“ mit Bleistift unterstrichen (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/69/).
43. Schon MA I 42 hat das Motiv des Atavismus, des Überlebens früherer Entwicklungsstufen im Blick auf die heute als ‚unmoralisch‘ geltende Anordnung der Güter aufgerufen, dort freilich noch nicht physiologisch grundiert. MA I 43 behauptet jetzt, dass Grausamkeit bei Menschen heute ein Atavismus sei: Grausame Menschen erscheinen als stammesgeschichtliche Überbleibsel, deren Gehirn sich nicht wie die Gehirne anderer Menschen ausdifferenziert und verfeinert habe. Entsprechend führten sie uns vor Augen, wie „wir“ (66, 11) früher gewesen seien, könnten aber für ihre Grausamkeit nicht verantwortlich gemacht werden, weil das eben in ihrer Natur liege. Überhaupt müssten sich in unseren vermeintlich fortgeschrittenen Gehirnen „Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an Fischzustände finden sollen“ (66, 14–17). Die Physiologisierung und stammesgeschichtliche Betrachtung des Menschen entlastet ihn von Verantwortung. Grausamkeit ist nichts besonders Elaboriertes, keine Verfeinerungsfolge, sondern ein Rückfall in einen früheren Zustand. Da niemand etwas für seine Gehirnausstattung könne, unterstreicht MA I 43 die These der Unverantwortlichkeit für das eigene Verhalten, die bereits MA I 39 prominent formuliert hat und die auch später öfter wiederholt wird (vgl. z. B. MA I 105). Auch Paul Rée hatte am Beispiel der Grausamkeit erläutert, weshalb es nicht tunlich sei, von Verantwortlichkeit zu sprechen, was aber keine Aufhebung der Strafe bedeute. Auch er ging für seine Erörterung zurück auf eine frühere Stufe der Kultur: „Man frage z. B. Jemanden, warum Grausamkeit schlecht sei. Er wird erwiedern: weil er fühle, dass sie schlecht sei. […] /64/ […] Forscht man weiter, woher diese Kennzeichnung der genannten Handlungsweise ursprünglich stammt, so stösst man auf eine fern liegende Kulturstufe, in welcher sie und ähnliche Handlungen zuerst als schlecht bezeichnet wurden, nicht, weil sie in sich betrachtet schlecht, sondern weil sie für andere schlecht sind. Dieser Grund
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 42–43, KSA 2, S. 65
271
aber wurde, wie gesagt, in den späteren Generationen, da man ihnen ebenso wie uns schlechthin (d. h. ohne den Grund dafür anzugeben) lehrte, dass Grausamkeit und Aehnliches schlecht sei, vergessen, und so entstand der erwähnte Schein, als ob die Grausamkeit an und für sich schlecht, nicht nur, wie die Bissigkeit des Hundes, schlecht in sofern sei, als sie andern schädlich ist. / In Wahrheit also ist die obige Analogie vollkommen: Gleichwie der bissige Hund in sich betrachtet nicht schlecht, sondern ein Thier von bestimmter Beschaffenheit ist, ebenso ist der Grausame in sich betrachtet nicht schlecht, sondern ein Thier von bestimmter Beschaffenheit. […] Wenn nun die Grausamkeit und überhaupt das egoistische Handeln in sich betrachtet nicht schlecht, sondern ein Handeln von bestimmter Beschaffenheit ist, so kann dasselbe auch, in sich betrachtet, nicht tadelnswerth, nicht strafwürdig, nicht ein zu vergeltendes sein. Vielmehr, wie man bissige Hunde einsperrt oder tödtet, obgleich sie keine Strafe verdienen, so auch wird man den Menschen schädliche Individuen (Diebe, Mörder), obgleich /65/ sie keine Strafe verdienen, tadeln, einsperren (und zuweilen tödten), damit die Furcht vor Strafe ihnen selbst und allen übrigen zum Motiv werde, nicht wieder zu schädigen.“ (Rée 1877, 63–65 = Rée 2004, 165) Während bei Rée an dieser Stelle die Grausamkeit als solche nicht evolutionsbiologisch auf eine frühere Entwicklungsstufe der Menschheit zurückgeführt und für ein gegenwärtig atavistisches Relikt gehalten wird, zieht er doch dieselbe Folgerung völliger Unverantwortlichkeit wie MA I 43: „Wenn Jemand einen Raubmord begeht, so sagt der naive Zuschauer: Seine Handlung ist an und für sich betrachtet schlecht, und sie verdient (fügt das Gerechtigkeitsgefühl hinzu) durch Strafe vergolten zu werden. Ueberhaupt verantwortlich (bemerkt die Unüberlegtheit) ist er desshalb, weil er, da sein Wille frei ist, anders hätte handeln können. / Der denkende Zuschauer hingegen sagt: 1) Jene Handlung an und für sich betrachtet schlecht zu nennen, ist sinnlos; sie ist an und für sich betrachtet eine Handlung von bestimmter Beschaffenheit. Dieselbe erscheint uns desshalb an und für sich schlecht, weil wir von Jugend auf daran gewöhnt worden sind, solche Handlungen an und für sich schlecht zu finden. 2) Die Handlung verdient keine vergeltende Strafe, theils weil sie an und für sich betrachtet nicht schlecht ist, theils weil das Gefühl, vermöge dessen wir Vergeltung fordern, durch Irrthümer entstanden ist. Nur abschreckenshalber, und zwar auf Grund des Satzes ‚der Zweck heiligt die Mittel‘ ist zu strafen. 3) Der Mörder ist überhaupt nicht verantwortlich; denn seine Handlung folgt mit Nothwendigkeit aus seinem angeborenen Charakter und denjenigen Eindrücken, welche von der Geburt bis zum Augenblicke des Handelns auf diesen gewirkt haben. /66/ Wer nun zu einer dieser drei Einsichten gelangt ist, macht Niemanden verantwortlich; da die meisten Menschen aber zu keiner dieser drei Einsichten gelangen, so machen sie jeden verantwortlich.“ (Rée 1877, 65 f. = Rée 2004, 165 f.) In Lubbocks von N. intensiv studiertem Buch Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschen-
272
Menschliches, Allzumenschliches I
geschlechtes ist zwar die Gedankenfigur des Überbleibsels oder Überlebsels (vgl. auch Tylor 1873, 1, 493, zitiert in NK ÜK MA I 5) sehr präsent und von der Grausamkeit ‚primitiver‘ oder urtümlicher Völker gelegentlich die Rede (z. B. Lubbock 1875, 328), aber die in MA I 43 aufgestellte These, Grausamkeit sei insgesamt ein Atavismus, wird dort nicht explizit vertreten (vgl. auch Thatcher 1983, 296), ebenso wenig bei Tylor (vgl. aber Tylor 1873, 1, 30). Zur Veränderung des Begriffes von Grausamkeit in MA I im Vergleich zu N.s früheren Werken siehe Kissel 2021, 116 f.; zur Interpretation von MA I 43 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Vererbungstheorien siehe Salanskis 2013, 55–57. Zu MA I 43 gibt es in Mp XIV 1, 215 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,215). 66, 13–17 In unserm Gehirne müssen sich auch Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an Fischzustände finden sollen.] Dass sich im menschlichen Gehirn Organisationsformen finden, die stammesgeschichtlich bereits bei den Fischen auftauchen, ist in den 1870er Jahren bereits populärwissenschaftliches Gemeingut. In Ernst Haeckels Anthropogenie (gegen die N. an anderer Stelle explizit polemisiert, vgl. NK KSA 6, 237, 31) heißt es beispielsweise: „Wir haben nun zunächst von den F i s c h e n weiter zu gehen, als von derjenigen Wirbelthierklasse, welche nach dem Zeugnisse der vergleichenden Anatomie und Ontogenie mit absoluter Sicherheit als die Stammklasse sämmtlicher höheren Wirbelthiere, sämmtlicher Kiefermündigen angesehen werden muss. Selbstverständlich kann kein einziger der lebenden Fische als directe Stammform der höheren Wirbelthiere betrachtet werden. Aber eben so sicher dürfen wir alle Wirbelthiere, welche wir von den Fischen bis zum Menschen hinauf unter dem Namen der Paarnasigen begreifen, von einer gemeinsamen ausgestorbenen fischartigen Stammform ableiten. Wenn wir diese uralte Stammform lebendig vor uns hätten, würden wir sie zweifellos als einen echten F i s c h bezeichnen und im System in der Fischklasse unterbringen.“ (Haeckel 1874, 432) Orsucci 1996, 54 sieht in MA I 43 vor allem den von N. gelesenen Haeckel-Adepten Oscar Schmidt im Hintergrund stehen: „Indessen besteht die Thatsache des Parallelismus der individuellen Entwickelung mit der systematischen Reihe, der das Individuum angehört […]. Obwohl die Säugethiere nie wirkliche Fische sind, so ist doch in den embryonalen Stufen ihrer Organe viel Fischähnliches; die Embryonalspalten am Halse entsprechen den Kiemenspalten; die Anlage des Gehirns ist auf das fertige Gehirn der Neunaugen und Haie zurückzuführen usw.“ (Schmidt 1873, 50–52) In Mp XIV 1, 215 steht nach „Fischzustände“ in Klammern: „Leber“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,215). Vgl. auch NK ÜK MA I 272. 66, 17–19 Aber diese Rinnen und Windungen sind nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer Empfindung wälzt.] In Mp XIV 1, 215 stand stattdessen
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 43–44, KSA 2, S. 66
273
ursprünglich: „Aber diese Organe sind fortentwickelt, selber zarter geworden, in Verbindung mit anderen gebracht, welche Gegenemotionen [?] gegen Grausamkeit fortwährend zuführen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,215). Diese Fassung wurde von N. durchgestrichen und durch die neue ersetzt.
44. MA I 44 desillusioniert das gewöhnlich schöngefärbte Bild der Dankbarkeit, die keineswegs als ein spontanes, sondern als ein bedingtes Empfinden oder vielmehr als ein Handeln erscheint. Wer einem „Mächtigen“ (66, 23) etwas Gutes tue, dringe in dessen Machtbereich ein – dieser wiederum greife „zur Vergeltung“ (66, 25) seinerseits in die Sphäre des Wohltäters über und zeige sich dankbar. Das sei eine „mildere Form der Rache“ (66, 26). Ohne diesen Dankbarkeitserweis würde der vermeintlich Mächtige als ohnmächtig gelten. Daher erschiene auch in einer „Gesellschaft der Guten, das heisst ursprünglich der Mächtigen“ (66, 29 f.) Dankbarkeit als primäre Pflicht. Ausbuchstabiert bedeutet das, dass derjenige, der einem anderen eine Wohltat erweist, dessen Macht in Frage, auf die Probe stellt. Denn da dieser die Wohltat offensichtlich annimmt, ist er nicht ganz so mächtig, auch der Wohltäter hat Macht. Dankbarkeit ist eine Art Gegenschlag, sie gibt zurück und zeigt die eigene Macht. Wie es um die Dankbarkeit der Ohnmächtigen bestellt ist, verrät MA I 44 nicht. Zur Dankbarkeit vgl. z. B. auch NK KSA 5, 70, 18–24, NK KSA 5, 274, 23–275, 3 u. NK KSA 6, 182, 16 f. MA I 44 lässt sich auch als eine Erwiderung auf Überlegungen in Rées Psychologischen Beobachtungen lesen: „Durch unsere Wohlthaten wollen wir überraschen und in Erstaunen setzen. / Daher geben wir lieber denjenigen, welche uns nicht gebeten haben, und wenn wir derselben Person etwas geben, so geschieht es, eben aus diesem Grunde, das zweite und dritte Mal sehr viel weniger gern, als zuerst. / Will man öfter von einem Menschen Wohlthaten empfangen, so muß man also jedesmal die größte Ueberraschung und eine grenzenlose Dankbarkeit an den Tag legen. / Denn hierdurch reizt man den Geber fortzufahren, weil er dieselbe Stimmung immer wieder voraussetzt.“ ([Rée] 1875, 23 = Rée 2004, 67) Rée hat seine Überlegungen zur Dankbarkeit noch nicht eingebunden in die Ökonomien von Macht und Ohnmacht und blendet auch die historische Tiefendimension aus, die in MA I 44 zumindest angedeutet wird, um stattdessen eine allgemeine anthropologische Aussage zu formulieren. Zu MA I 44 gibt es in Mp XIV 1, 284–285 eine ‚Reinschrift‘ von Albert Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,284 u. http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,285). Eine Vorarbeit in U II 5, 58 lautet: „Der Mächtige läßt sich helfen in der Noth u ist dankbar: dh. er vergreift sich an der Sphäre
274
Menschliches, Allzumenschliches I
seines Wohlthäters, wie dieser sich an ihr vergriff: eine milde Form der Rache“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,58). 66, 29 f. jede Gesellschaft der Guten, das heisst ursprünglich der Mächtigen] In GM I 5 erinnert N. unter Bezug auf den griechischen Theognis von Megara (6. Jh. v. Chr.) – mit dem er sich schon in seiner Schulzeit intensiv beschäftigt hat – an das griechische Adjektiv ἐσϑλός, das „wacker, brav, bieder, edel“ sowie „gut und tüchtig“ und im substantivierten Plural οἱ ἐσϑλοὶ „die Edlen“ bedeutet (Passow 1841–1857, 1/2, 1189) und in diesem Sinn beispielsweise bei Theognis: Elegiae I 57 u. 71 (vgl. auch I 66–68 u. 607–610) gebraucht wird, vgl. NK KSA 5, 262, 32–263, 12. Ähnliches gilt für das Adjektiv ἀγαθός, vgl. Orsucci 1996, 250–253. Die Idee, dass die Mächtigen sich als die Guten bezeichnet hätten und sich das auch sprachgeschichtlich nachweisen ließe, wird nicht nur in MA I 45 weiter mit Leben erfüllt, sondern dann zu einem zentralen Motiv in N.s später Moralkritik (vgl. z. B. GM I 4, KSA 5, 261 f.). 67, 1 f. Swift hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben Verhältniss dankbar sind, wie sie Rache hegen.] Am 20. 07. 1878 hat N. Das Swift-Büchlein in Basel binden lassen (NPB 582), das in seiner Bibliothek erhalten ist. Dort heißt es: „Die Menschen sind in demselben Grade dankbar, wie sie rachsüchtig sind.“ (Swift 1847, 17) Allerdings hat N. oberflächlich gelesen, denn nach der HerausgeberZwischenbemerkung in Swift 1847, 13 gehört dieser Satz zwar zu den Gedanken über verschiedene Gegenstände von 1706, die Swift gemeinsam mit Alexander Pope angestellt hat, jedoch nicht zu Swifts, sondern zu Popes Anteil. Swifts Gedanken folgen erst ab Seite 19 im Swift-Büchlein. Vgl. auch NK 73, 28–30.
45. MA I 45 skizziert eine Psychosozialgeschichte der moralischen Disposition und Qualifikation, und zwar anhand einer angeblichen „[ d ] o p p e l t e [ n ] V o r g e s c h i c h t e v o n G u t u n d B ö s e“ (67, 4 f.): Zum einen führe sie zurück in die „Seele der herrschenden Stämme und Kasten“ (67, 6 f.), die als „gut“ bezeichnet worden seien, weil sie die Macht des Vergeltens gehabt hätten, „Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem“ (67, 7 f.), während der Ohnmächtige und Vergeltungsunfähige als „schlecht“ gegolten hätte, so dass einst – auf welcher Zeitebene man sich in dieser „Vorgeschichte“ bewegt, bleibt völlig offen – „[g]ut“ mit „vornehm“, „schlecht mit „niedrig“ assoziiert worden sei (67, 16 f.). Zum andern führe diese Vorgeschichte zurück in die „Seele der Unterdrückten, Machtlosen“ (67, 27 f.): Für sie sei „jeder a n d e r e Mensch“ (67, 28), egal ob „vornehm oder niedrig“ (67, 29 f.), bedrohlich und daher „böse“ (67, 30) – auch Zuwendung werde in dieser Lesart
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 44–45, KSA 2, S. 66–67
275
des Sozialen, für die das Menschliche per se böse ist, als Ausdruck verkappter „Bosheit“ (68, 4) gedeutet. Unter diesem radikal menschheitshassenden und bonitätsbestreitenden Blick sei es kaum möglich, dass aus solchen paranoischen „Einzelnen“ (68, 4) ein „Gemeinwesen“ (68, 5) entstehen könne – während vorher wie selbstverständlich von der „Gemeinde der Guten“ (67, 21 f.), der sozialen Kohäsionskraft der Vornehmen die Rede gewesen ist –, oder wenn, dann doch höchstens in rohester Form. Diese aus der sozialen Unterschicht erwachsene „Auffassung von gut und böse“ (68, 6 f.) sei quasi schon im Augenblick ihres Entstehens zum Untergang verurteilt, so dass „[u]nsere jetzige Sittlichkeit […] auf dem Boden der h e r r s c h e n d e n Stämme und Kasten aufgewachsen“ sei (68, 8–10). Sollte dies freilich tatsächlich der Fall gewesen sein, dann gibt es für das heutige moralische Urteilen streng genommen gar keine „doppelte Vorgeschichte“, weil die historisch andere, sklavenmoralische Option wegen der ihr innewohnenden Selbstauflösung gar nie hat wirkmächtig werden können. N. wird später für sich in Anspruch nehmen, seine kritische Rekonstruktion der Moralgeschichte und damit auch die Unterscheidung von Herren- und Sklavenmoral in MA I 45 erstmals formuliert zu haben (vgl. GM Vorrede 2, KSA 5, 248 u. NK KSA 5, 251, 8–11, sodann in der Sache JGB 260 und GM I 10 sowie jeweils die zugehörigen Kommentare). Die beiden entscheidenden Differenzen zwischen MA I 45 und den Schriften von 1886/87 bestehen darin, dass MA I 45 erstens den sozial Deklassierten einen allgemeinen Menschenhass unterstellt, der sie nicht mehr zwischen Herren und ihresgleichen unterscheiden lässt und ihnen so verunmöglicht, sich überhaupt als stabile Gruppe zu konstituieren. Die „Machtlosen“ (67, 28) haben offenbar alle und jeden zum Feind; sie richten sich nicht einfach wie in GM gegen ihre Unterdrücker. So bringen sie vermutlich gar keine Sozialität zustande; entsprechend kann ihre Moral sich nicht fortpflanzen und geschichtlich wirkmächtig werden – was wiederum das Spätwerk mit der Idee eines „S k l a v e n a u f s t a n d [ s ] i n d e r M o r a l“ (GM I 7, KSA 5, 268, 2) behauptet. Entsprechend ist zweitens die Herkunft der Gegenwartsmoral völlig verschieden: MA I 45 zögert nicht, sie direkt auf die einstige Herrenmoral zurückzuführen, während GM darauf beharrt, sie sei aus der einstigen Sklavenmoral entstanden. In der Version von MA I 45 ist es zwar historisch aufschlussreich, etwas über die „doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse“ zu erfahren, aber unsere eigene Moral hätte eigentlich nur eine einzige, eben herrenmoralische Vorgeschichte. Hätte der späte N. an dieser Sicht der Moralgeschichte noch festgehalten, hätte es weder eine Nötigung zur kritisch-genealogischen Moralanalyse noch zu einer Umwertung aller Werte gegeben. Dieses Projekt ergibt nur Sinn, wenn die Gegenwartsmoral sklavenmoralisch unterminiert worden ist. Auch das Christentum wäre aus der Perspektive von MA I 45 kein wirkliches Problem – ganz im Unterschied zum Spätwerk, wo dann die „Umwerthung aller Werthe“ im Antichrist aufgeht, ja in
276
Menschliches, Allzumenschliches I
diesem vollbracht worden sein soll (vgl. NK 6/2, S. 10 u. 12 f.). Reginster 1997, 289 u. Anderson 2011, 41 machen geltend, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen den moralgeschichtlichen Entwürfen in MA I 45 und in GM darin bestehe, dass die „Priester“ in der frühen Version noch keine tragende, katalytische Funktion spielten, vgl. kritisch dazu Loeb 2018, 117 u. 119, ferner Bishop 2020, 50 f. u. Kiesel 2020b, 69 f. Zu MA I 45 gibt es in Mp XIV 1, 278–280 eine ‚Reinschrift‘ von Albert Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,278et279 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,280) sowie Vorarbeiten in U II 5, 81–84 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,81et82 u. http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,83et84). 67, 5–10 Der Begriff gut und böse hat eine doppelte Vorgeschichte: nämlich e i n m a l in der Seele der herrschenden Stämme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Vergeltung übt, also dankbar und rachsüchtig ist, der wird gut genannt; wer unmächtig ist und nicht vergelten kann, gilt als schlecht.] Statt „und auch wirklich Vergeltung übt“ (67, 8) steht in Mp XIV 1, 279: „und vergilt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,279). Diese Herleitung sowie die folgende aus dem Bewusstsein der Schwachen gehen nicht leicht zusammen mit dem Postulat von MA I 39, wonach man zuerst das Nützliche und Schädliche als gut bzw. böse bezeichnet habe. 67, 19 f. Der Troer und der Grieche sind bei Homer beide gut.] In Brenners ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 279 stand zuerst „Der Droher und der Krieger“, was N. dann zu „Der Troer und der Grieche“ korrigiert hat (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,279). Zu Brenners Hörfehler und dem möglichen Rückschluss auf N.s „thüringischen Akzent“ siehe Müller-Buck 1994, 426 f. Ἀγαθὸς sind bei Homer sowohl vornehme Griechen als auch vornehme Trojaner. Vgl. auch Pourgouris 2002, 251. 67, 22 f. dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche hervorwachse] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 279 heißt es: „dass ihr ein Schlechter entschlage“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,279). 67, 25–27 man schiebt zum Beispiel einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit Verblendung und Wahnsinn geschlagen] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 280 heißt es: „man beschuldigt zum Beispiel einen Gott der absichtlichen Verblendung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,280). Das Motiv kehrt dann im Anschluss an Odyssee I 32–34 in GM II 23 wieder, vgl. NK 5/2, S. 386–391. 68, 6 f. diese Auffassung von gut und böse] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 280 heißt es: „diese Auffassung von Gut und Böse“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,280).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 45–46, KSA 2, S. 67–68
277
68, 8–10 Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der h e r r s c h e n d e n Stämme und Kasten aufgewachsen.] Genau diesen Satz, der die Gegenwartsmoral aristokratisch fundiert, lässt N. dann in JGB und GM nicht mehr gelten. Dann wird es die entgegengesetzte These sein, nämlich, dass die „jetzige Sittlichkeit“ durch und durch sklavenmoralisch kontaminiert ist. Das hat Karl Jaspers in seinem Handexemplar, der zum Beginn von MA I 45 notiert: „Herren- u. Sklavenmoral“ (Nietzsche 1923, 68), auch bemerkt, wenn er zum von ihm unterstrichenen letzten Satz an den Rand schreibt: „Später gerade umgekehrt: jetzt herrscht Chr. = Sklavenmoral“ (Nietzsche 1923, 69).
46. MA I 46 schließt an die moralistische Literatur von La Rochefoucauld bis Rée an, wenn – im Übrigen ohne jede historische Perspektivierung, als ob anthropologische Grundgegebenheiten verhandelt würden – behauptet wird, „M i t l e i d e n“ sei mitunter „s t ä r k e r a l s L e i d e n“ (68, 12). „Stärker“ meint hier zumindest nach dem gleich verhandelten Beispielfall nicht, dass es größere Gewalt oder größere Motivierungskraft habe, sondern dass es „schmerzlicher“ (68, 14) sei – aber offensichtlich weniger, weil Mitleiden einen zum Teilhaber des Leidens der anderen mache und einen zum Leidenden hinabziehe. Die herangezogene Fallkonstellation, die die These von der wenigstens gelegentlichen Übermacht des Mitleidens belegen soll, besagt, dass „wir“ stärkeren Schmerz verspürten, wenn ein Freund etwas Ehrenrühriges tut, als wenn wir es selbst täten. ‚Wir‘ glaubten nämlich eher an seine charakterliche Vortrefflichkeit als er selbst und empfänden stärkere Liebe für ihn als er selbst. Wenn der Freund nun die Konsequenzen seiner Tat auf sich nehmen müsse, leide zwar „sein Egoismus“ (68, 19 f.) mehr als der unsrige, aber das „Unegoistische in uns“ (68, 22) werde stärker affiziert als bei ihm. Buchstabiert man diese Überlegungen aus, ist es anscheinend die Zerstörung der Illusionen, die man sich über den Freund gemacht hat, die so heftig schmerzt. ‚Wir‘ liebten ihn und litten, weil ‚wir‘ ihn idealisierten. Aber ist eine solche unegoistisch-schwärmerische Idealisierung nach dem in MA I bisher vorgebrachten Generalverdacht gegen die schiere Möglichkeit des Unegoistischen (vgl. die einschränkende Kautel 68, 22 f.) psychologisch überhaupt noch plausibel? Sind wir bei innigen Freunden tatsächlich quasi selbstverständlich altruistisch? Das Thema des Mitleids und der Kritik daran ist ein oft variiertes und wiederholtes Motiv in N.s Werken, vgl. MA I 49 und MA I 50, KSA 2, 69, 12–71, 29, M 131– 142, KSA 3, 122, 23–136, 4, FW 338, KSA 3, 565, 31–568, 21, Za II Von den Mitleidigen, KSA 4, 113, 1–116, 9, JGB 62, KSA 5, 81, 10–83, 28, JGB 225, KSA 5, 160, 14–161, 32,
278
Menschliches, Allzumenschliches I
JGB 260, KSA 5, 208, 19–212, 23, JGB 293, KSA 5, 235, 23–236, 17, GM III 14, KSA 5, 367, 24–372, 2, GM III 26, KSA 5, 405, 28–408, 23 sowie AC 7, KSA 6, 173, 1–5. Die Verbindung von Mitleid, Einfühlung und unegoistischer Liebe wird beispielsweise auch in Rées Ursprung der moralischen Empfindungen durchgespielt, auch dort unter Rückgriff auf anekdotische Evidenz: „Zuweilen fühlen wir nicht nur in sofern Schmerz, als wir überhaupt die Leiden eines andern uns vorstellen, sondern gerade der Umstand, dass er leidet schmerzt uns: wir fühlen unegoistisch; z. B. eine Mutter, die ihr Kind leiden sieht, empfindet nicht in sofern Schmerz, als sie das Leid des Kindes sich überhaupt vorstellt – in diesem Falle nämlich würde die Person des Kindes ihr gleichgültig sein – sondern gerade der Umstand, dass das Kind leidet, schmerzt sie. Dieses unegoistische Mitleid kommt aber nicht blos bei der El-/3/ternliebe, sondern auch anderweitig vor. Ferner: Wenn der im ersteren Sinne Mitleidige dem Bemitleideten hilft, so geschieht dies ohne Zweifel aus Egoismus, nämlich um sich selbst von der Vorstellung eines Schmerzes zu befreien. Hingegen, wenn der im letzteren (unegoistischen) Sinne Mitleidige dem Bemitleideten hilft, so geschieht es, um das Leid des andern zu erleichtern; er hilft des andern wegen, nicht seinetwegen; z. B. die Mutter handelt ausschliesslich, um das Kind von seinem Schmerze zu befreien, also des Kindes wegen, nicht ihretwegen.“ (Rée 1877, 2 f. = Rée 2004, 128) Zu MA I 46 gibt es in Mp XIV 1, 261 eine ‚Reinschrift‘ von Albert Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,261) sowie eine Version im Pflugschar-Manuskript M I 1, 49 von Heinrich Köselitz’ Hand (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,49). Vgl. NK ÜK MA I 582. 68, 12 f. Es giebt Fälle, wo das Mitleiden stärker ist, als das eigentliche Leiden.] In M I 1, 49 stattdessen: „Es giebt Fälle, wo das Mitleid stärker ist, als das eigentliche Leid.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,49) 68, 15 Schmähliches] Fehlt in M I 1, 49. 68, 16 als wenn wir selbst es thun.] In M I 1, 49 stattdessen: „als dieser selbst“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,49). 68, 19 f. seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein Egoismus mehr dabei leidet] In M I 1, 49 stattdessen: „seine Liebe zu sich selbst (nämlich seine unpersönliche, unegoistische Liebe). Wohl mag dabei sein Egoismus mehr leiden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,49). 68, 20 Egoismus, insofern] KGW IV 4, 179 suggeriert, das Komma nach der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 261 eingefügt zu haben, das in der Erstausgabe fehle. Dort aber steht es ebenfalls (Nietzsche 1878, 53). 68, 21 übelen Folgen] So auch in der Erstausgabe Nietzsche 1878, 53. In der ‚Reinschrift‘ steht „üblen Folgen“, korrigiert aus „den Nachtheil“ (http://www.nietzsche
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 46–47, KSA 2, S. 68
279
source.org/DFGA/Mp-XIV-1,261). In M I 1, 49 steht „den Nachtheil“ ohne Korrektur (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,49). 68, 21–25 so wird das Unegoistische in uns – dieses Wort ist nie streng zu verstehen, sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks – doch stärker durch seine Schuld betroffen, als das Unegoistische in ihm] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 261 fehlt der Einschub „– dieses Wort ist nie streng zu verstehen, sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks –“. In M I 1, 49 lautet der Text stattdessen: „als wir; – vielleicht leidet der Jünger eines Märtyrers mehr, als der Märtyrer“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,49). Dieser letzte Satz wird dann als MA I 582 recycelt.
47. MA I 47 behauptet, man könne „hypochondrisch“ (68, 28) werden durch übermäßiges Sich-Sorgen um andere. Auch gebe es eine „christliche Hypochondrie“ (68, 30–69, 1), die jene befalle, die sich zu sehr in die Leidensgeschichte Christi vertiefen. „H y p o c h o n d r i e“ (68, 27) meint hier im Unterschied zum heute vorherrschenden Alltagsverständnis des Wortes nicht bloß die Einbildung einer Krankheit, an der der Hypochonder tatsächlich nicht leidet, sondern eine echte „Krankheit“ (68, 30; fehlte noch in der ursprünglichen Handschrift, vgl. NK 68, 29 f.). Dies deckt sich mit der zeitgenössischen Wortverwendung (vgl. NK 68, 27). Zu MA I 47 gibt es in Mp XIV 1, 75 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,75). Zur Hypochondrie vgl. auch MA I 615, KSA 2, 348 u. MA II WS 255, KSA 2, 663. 68, 27 H y p o c h o n d r i e] Das in N.s Bibliothek befindliche Handbuch der Fremdwörter erklärt „Hypochondrie“ als „Milzsucht, Grillenkrankheit, Schwermüthigkeit“ (Petri 1861, 388). Die ὑποχόνδρια sind die unter den Rippen befindlichen Körperteile. „Hypochondrie (Hypochondriasis, griech., v. hypochondrium […], lat. Morbus eruditorum s. flatuosus), ein den Geisteskrankheiten nahestehendes Nervenleiden, welches sich vorzugsweise bei Männern findet, und über dessen eigentlichen Sitz jederzeit unter den Ärzten sehr verschiedene Meinungen obgewaltet haben. Bald sollte der H. ein Gallenübel, bald Stockung und Verstopfung der Unterleibsgefäße und Drüsen zu Grunde liegen. Die eine medizinische Schule sah in der H. einen Eingeweidekrampf mit übermäßiger Darmgasentwickelung, die andre ein organisches Gehirnleiden, eine dritte eine schleichende Entzündung der Darmschleimhaut. Die H. ist wesentlich in einer abnormen Thätigkeit der psychischen Funktionen begründet und bildet einen Übergang zu den eigentlichen Geisteskrankheiten. Der Beginn des hypochondrischen Leidens äußert sich etwa auf folgende Weise: Die Heiterkeit des Geistes wird gestört durch den sich
280
Menschliches, Allzumenschliches I
bei jeder Gelegenheit aufdrängenden Gedanken an ein Leiden des eignen Körpers. Der Kranke bestrebt sich, den Sitz seines Leidens genau zu bestimmen. Magen und Darmkanal werden gewöhnlich zuerst für erkrankt gehalten, da sich der H. schon im Beginn übermäßige Gasentwickelung in den Därmen hinzugesellt. Säurebildung im Magen stellt sich ein; der Stuhlgang ist meist fest, doch hier und da mit Diarrhöe abwechselnd. Nach dem Essen klagen die Kranken über Druck und Vollsein in der Magengrube, Spannung unter den Rippen. Abgang von Blähungen nach unten und nach oben erleichtert die Kranken bedeutend wie auch das Erfolgen des Stuhlgangs. Der Schlaf ist unruhig, nicht erquickend. Das Aussehen ist noch gut, der Körper normal genährt, Appetit vorhanden, wenn auch oft unregelmäßig. Ganz charakteristisch für die H. ist das ungemein häufige Wechseln des Sitzes der eingebildeten Krankheit. Ein leichter Katarrh lenkt die Aufmerksamkeit des Kranken auf seine Lungen, er vergißt seine Unterleibskrankheit und fürchtet sich einzig und allein nur vor der Tuberkulose; er fühlt Schmerzen in der Brust, untersucht ängstlich seinen Auswurf und fragt häufig seine Umgebung, ob er nicht abmagere. Bald aber stellt sich öfters Kopfschmerz ein, leichter Schwindel, Hitze und Pulsieren der Arterien, lauter Zeichen, daß ein Schlagfluß auf dem Weg ist. Oder das Herz klopft eine Zeitlang stärker, die Brust ist beklemmt, daher die Furcht vor Herzerweiterung. Der Kranke quält seine Umgebung, weil sie nicht genug Sorgfalt für den schwer Leidenden besitzt; Ärzte werden soviel wie möglich gebraucht und populär-medizinische Werke mit ängstlichem Eifer zu Rate gezogen, denn der Kranke will sich auf alle Weise vor dem Tod retten. Dieses nervöse Leiden kann jahrelang, ja das ganze Leben hindurch bestehen. Man darf es als festgestellt ansehen, daß gewisse körperliche Leiden allerdings bei der H. vorhanden sind, und daß die von ihnen abhängigen abnormen Empfindungen den nächsten Anstoß zur H. geben. Gewiß thut man den Hypochondern Unrecht, wenn man ihre Leiden nur ihrer Einbildung zuschreibt. Sie fühlen sich allerdings krank, aber die Ursache dieser Empfindungen läßt sich in der Regel nicht klar durchschauen oder steht doch wenigstens außer Verhältnis mit der Schwere des subjektiven Krankheitsgefühls. Die H. befällt fast nur das männliche Geschlecht vom Eintritt der Geschlechtsreife an, bei erblicher Beanlagung kommt sie sogar vor dieser Entwickelungszeit zum Ausbruch. Sie kann entstehen durch alle Einflüsse, welche schwächend auf das Nervensystem wirken. Starke Anstrengung des Geistes durch übermäßiges, besonders mit Nachtwachen verbundenes Studium disponiert dazu, zumal wenn gleichzeitig Mangel an Bewegung in der freien Luft hinzukommt. Handwerker mit sitzender Lebensweise sind der H. oft unterworfen. Sorgen und Kummer, Heimweh und Liebesgram erzeugen die H. ebenso häufig wie allzu reichliches Leben in Unthätigkeit und geschlechtliche Ausschweifungen. Fortgesetzte Überladung des Magens mit schwerverdaulichen, fetten Speisen, zu häufiger Arzneigebrauch, Schwächung des Magens durch
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 47–48, KSA 2, S. 68
281
Fasten u. dgl. rächen sich durch H. Dieselbe kommt häufiger in den nördlichen Ländern vor als in den südlichen; feuchtes, nebeliges Klima, wie das Englands, scheint ihr besonders günstig zu sein. In Zeiten von herrschenden gefährlichen Epidemien tritt die H. sehr vermehrt auf; die Furcht vor der syphilitischen Krankheit, vor Vergiftung begünstigt sie. Die H. ist von großer Hartnäckigkeit und begleitet den Betreffenden oft bis an seines Lebens Ende. Sie schädigt die ethische und intellektuelle Persönlichkeit des Kranken durch die überreizte und übertriebene Vorstellung der körperlichen Leiden zu krassem Egoismus, sie hemmt die Leistungsfähigkeit bis zu teilnahmlosem Hinbrüten, sie zeitigt Lebensüberdruß und kann in wirkliche Verrücktheit oder Geistesschwäche übergehen.“ (Meyer 1885–1892, 8, 854) 68, 29 f. die dabei entstehende Art des Mitleidens ist nichts Anderes, als eine Krankheit] Fehlt in der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 75. 68, 30–69, 3 So giebt es auch eine christliche Hypochondrie, welche jene einsamen, religiös bewegten Leute befällt, die sich das Leiden und Sterben Christi fortwährend vor Augen stellen.] Im Notizheft N II 2, 32 gibt es dazu die vorbereitende Notiz: „Hypochondrie aus Mitgefühl – Christen für den leidenden Christus“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,32). Eine solche innige Vergegenwärtigung der Passion Christi ist eine Frömmigkeitspraxis, wie sie katholischerseits in den Exercitia spiritualia des Ignatius von Loyola ebenso geübt wurde wie protestantischerseits in pietistischer Erbauungsliteratur – oder davor beispielsweise schon in De imitatione Christi von Thomas a Kempis (dazu ausführlich NK KSA 6, 113, 11 f.).
48. „Güte und Liebe“ (69, 5) stellt MA I 48 als so wertvolle Güter dar, dass sie nicht verschwendet werden sollten, so zumindest „der Traum der verwegensten Utopisten“ (69, 10). Dieser ökonomische Umgang mit Güte und Liebe sei jedoch „unmöglich“ (69, 9) – anscheinend werden sie verschwendet. Auch wenn MA I 48 die Leser im Unklaren darüber lässt, in welchem Verhältnis der Verfasser zum „man“ (69, 7) oder zu den „Utopisten“ steht, bleibt die Suggestion, Liebe und Güte seien rar und könnten nicht durch Gebrauch vermehrt, sondern nur vermindert werden. Woher plötzlich dieser demonstrative Glaube an Güte und Liebe rührt, für die MA I bisher nicht Partei ergriffen hatte, bleibt ebenfalls unklar. Vgl. z. B. auch Petersen 2008, 171 f. Zu MA I 48 gibt es in Mp XIV 1, 283 eine ‚Reinschrift‘ von Albert Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,283) sowie eine Vorarbeit mit einigen Korrekturen in U II 5, 59 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,59).
282
Menschliches, Allzumenschliches I
69, 5 O e k o n o m i e d e r G ü t e] Die Fügung lässt sich bereits in der 1782 erschienenen deutschen Übersetzung von Matthieu Souverains Versuch über den Platonismus der Kirchenväter nachweisen, wo von der göttlichen „Oekonomie der Güte und Herablaßung“ ([Souverain] 1782, 263) die Rede ist. N. dürfte diesen Text freilich nicht gekannt haben. Bei ihm dürfte „Oekonomie der Güte“ wohl weniger theologische Anspielungen machen, sondern eher eine ironisierende Abwandlung der im 19. Jahrhundert geläufigen ‚Ökonomie der Güter‘ darstellen. 69, 9 doch ist diess unmöglich] In U II 5, 59 wurde „doch dies ist unmöglich“ über die Zeile geschrieben und wohl nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,59).
49. MA I 49 bietet im Meer der zersetzenden Kritik des Zweiten Hauptstücks, das in MA I 48 auch noch die Illusionen der Güteökonomie umspült hat, eine kleine Insel der Erholung: Das Atemholen gilt einer positiven Würdigung des „W o h l w o l l e n [ s]“ (69, 12), das im zwischenmenschlichen Verkehr häufig und ohne Aufhebens geübt würde, womit „fast alles menschliche Thun“ (69, 18) veredelt und „Menschlichkeit“ (69, 21) bestätigt würde. „Gutmüthigkeit“, „Freundlichkeit“, „Höflichkeit des Herzens“ (69, 24), offenbar allesamt Erscheinungsformen oder Varianten des Wohlwollens, seien „Ausflüsse des unegoistischen Triebes“ (69, 25) und für den Kulturaufbau viel relevanter als „Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung“ (69, 27 f.), die man gemeinhin mit diesem Trieb assoziiere. Dass hier unversehens doch ein „unegoistischer Trieb“ auftaucht, nachdem bislang die Suggestion im Raume stand, es gebe gar nichts Unegoistisches, mag zunächst überraschen, wird aber gleich relativiert, sei doch an diesen genannten, zu Unrecht vernachlässigten Tugenden „nicht gerade viel Unegoistisches“ (69, 29). Dennoch vereinigten sich diese „geringen Dosen“ (69, 30) zu einer gewaltigen Kraft, die kaum ihresgleichen habe. Nach einem Gedankenstrich in 70, 1 wird nachgeschoben, es gebe überhaupt auf Erden „viel mehr Glück“ (70, 2) als man gemeinhin annehme, wenn man nämlich die alltäglichen „Momente des Behagens“ (70, 3 f.) in Rechnung stelle. Während MA I 49 das Wohlwollen selbstverständlich wegen seines positiven Effektes als wünschenswert und gut abbucht, wird MA I 96, KSA 2, 93, 1–5 gerade argumentieren, Wohlwollen und Mitleiden hätten als „‚gut wozu‘, als nützlich“ (93, 3) gegolten, weshalb man die beides Ausübenden als „gut“ zu bezeichnen sich angewöhnt hätte. Diese moral(begriffs)historische Perspektive fehlt in MA I 49 noch. Zum Wohlwollen in MA I 49 siehe auch Özen 2021, 264 f.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 48–49, KSA 2, S. 69
283
In der philosophischen Tradition ist das Wohlwollen keineswegs so geringgeschätzt worden, wie MA I 49 suggeriert, auch wenn es bei Descartes, Spinoza und Rousseau tendenziell als Mitleidsfolge erscheint: Wir täten denjenigen wohl, die uns leid tun (vgl. Wissing 2004, 1007). Claude-Adrien Helvétius wiederum argumentiert (und kommt damit dem Egoismus-Verdacht gegen das Wohlwohlen in MA I 49 ziemlich nahe): „Ce qu’on appelle dans l’homme la bonté ou le sens moral est sa bienveillance pour les autres, et cette bienveillance est toujours en lui proportionnée à l’utilité dont ils lui sont. Je préfere mes concitoyens aux étrangers, et mon ami à mes concitoyens. Le bonheur de mon ami se réfléchit sur moi; s’il devient plus riche et plus puissant, je participe à sa richesse et à sa puissance: la /139/ bienveillance pour les autres est donc l’effet de l’amour de nous-mêmes.“ (Helvétius 1795, 9, 138 f.) Für Helvétius ist das Wohlwollen also Ausdruck der Selbstliebe und des Eigennutzes (vgl. schon die εὔνοια bei Aristoteles). N. hat allerdings nur eine deutsche Ausgabe von De l’esprit besessen und mit Sicherheit gelesen (Helvétius 1760; vgl. z. B. NK 263, 11 f. u. NK KSA 3, 449, 4–11), während die zitierte Passage aus De l’homme, de ses facultés intellectuelles et de son education (section 5, chapitre 3) stammt. Allerdings scheint im Sorrenter Gesprächskreis Helvétius’ Position bekannt gewesen zu sein, siehe NK 69, 25. Auch Rée definiert das Wohlwollen: „Gleichwie das Leid anderer nicht immer Mitleid erregt, sondern oft Schadenfreude, so erregt das Glück anderer nicht immer Mitfreude, sondern häufiger Neid. Wenn es aber Mitfreude erregt, so kann diese zwiefach sein: entweder die Vorstellung eines glücklichen Zustandes, zu der wir durch das Vorhandensein eben dieses Zustandes bei andern unwillkürlich angeregt werden, macht uns Freude; oder der Umstand, dass andere glücklich sind, macht uns Freude. Diese letztere unegoistische Mitfreude wird häufig Wohlwollen genannt.“ (Rée 1877, 4 = Rée 2004, 129) Zum Wohlwollen siehe auch NK KSA 3, 384, 25–29 u. NK 3/ 2.1, S. 812 f. Zu MA I 49 gibt es in Mp XIV 1, 13 eine ‚Reinschrift‘, mit blauem Farbstift von N. dem Komplex „Moral“ zugewiesen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,13). 69, 19 f. zu dem, was für ihn Pflicht ist,] In Mp XIV 1, 13 korrigiert aus: „zu seiner Pflicht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,13). 69, 20 fortwährende Bethätigung] In Mp XIV 1, 13 korrigiert aus: „fortwährende Form“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,13). 69, 24 Höflichkeit des Herzens] In Mp XIV 1, 13 korrigiert aus: „Wohlwollen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,13). Die Fügung „Höflichkeit des Herzens“ kommt bei N. öfter vor, so in JGB 122, KSA 5, 94, 15 f., JGB 245, KSA 5, 187, 6, AC 57, KSA 6, 244, 23 u. EH Warum ich so weise bin 5, KSA 6, 271, 22 f. Sie
284
Menschliches, Allzumenschliches I
stammt aus „Ottiliens Tagebuch“ in Goethes Wahlverwandtschaften, vgl. NK KSA 6, 244, 23. 69, 25 unegoistischen Triebes] Über einen „unegoistischen Trieb“ denkt N. wiederholt nach, etwa in NL 1876/77, KSA 8, 23[32], 415, 9–21, wo er als mögliche „späte Entwicklung des s o c i a l e n Triebes“ (415, 9 f.) gilt. In NL 1876/77, KSA 8, 23[41], 418, 17–29 wird die Fortschrittsträchtigkeit eines „Glaube[ns]“ an solche Triebe behauptet (zitiert in NK ÜK MA I 36), während NL 1876/77, KSA 8, 23[176], 468, 1–4 herausstellt: „Beim unegoistischen Triebe ist die Neigung zu einer Person das Entscheidende (wenn es die Lust am Mitleid nicht ist und ebensowenig die Abwehr der Unlust, welche wir beim Anblick des Leidens fühlen)“. N.s Brief an Paul Rée vom 07. 05. 1877 fragt nach dem Erscheinen des Ursprungs der moralischen Empfindungen: „Ist das gute Buch schon auf Wanderschaft? Wenn ich an dasselbe denke, so überfällt mich jedesmal eine solche Regung des Wohlwollens und Wohlbefindens, dass ich daraus die Existenz und Art des ‚unegoistischen‘ ‚Triebes‘ mir klar mache.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 613, S. 234, Z. 13–16) Dieser Passus ist nicht nur eine Anspielung auf das, was dann in MA I 49 exponiert wird, sondern zeigt auch an, wo die Fügung „unegoistischer Trieb“ herstammt: Sie gehört zu Rées Leitvokabular, das gleich am Anfang seines Buches exponiert wird: „Jeder Mensch vereinigt zwei Triebe in sich, nämlich den egoistischen und den unegoistischen Trieb.“ (Rée 1877, 1 = Rée 2004, 127) Dabei steht auch das Wohlwollen in vorderster Linie: „Vermöge des unegoistischen Triebes macht der Mensch das Wohl anderer zum letzten Zweck seines Handelns, sei es nun, dass er ihr Wohl um ihrer selbst willen fördert, sei es, dass er sich ihrer Schädigung um ihrer selbst willen enthält. / Genannt wird der unegoistisch Handelnde auch mitleidig, wohlwollend, nächstenliebend. / Freilich geht aus dem Umstande, dass die eben beschriebenen egoistischen Handlungen nicht blos möglich sind, sondern immerfort geschehen, deutlich hervor, dass der unegoistische Trieb schwach ist. Einige Philosophen, besonders Helvetius, behaupten sogar, dass unegoistische Empfindungen und Handlungen gar nicht in der menschlichen Natur liegen, dass vielmehr das scheinbar Unegoistische nur eine verkappte Form des Egoistischen ist.“ (Rée 1877, 2 = Rée 2004, 128) 70, 1–5 Ebenso findet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen: wenn man nämlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten Menschenleben reich ist, nicht vergisst.] Das steht in sehr starker Spannung zur Suggestion von MA I 33, die Leidensbilanz des Lebens müsste uns eigentlich eine negative Welt- und Lebenswerteinschätzung abverlangen (vgl. KSA 2, 52, 15 f.). Offenbar sind es gerade die „kleinen“ „Dinge“ (69, 12 f.), die einen mit dem Leben zu versöhnen vermögen. Man kann, richtig besehen, dem Glück gar nicht ausweichen.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 49–50, KSA 2, S. 69–70
285
50. MA I 50 kehrt zum Mitleidsthema von MA I 46 und 47 zurück, das in MA I und MA II noch vielfältig variiert wird (vgl. z. B. Schulte 2023, 213 f. u. Gödde 2022, 112 f.). Zunächst wird an La Rochefoucaulds Warnung erinnert, sich als vernünftiger Mensch der Leidenschaft des Mitleidens auszuliefern, dessen es nicht bedürfe, um Menschen zu helfen. Nach La Rochefoucauld solle man dennoch Mitleiden zeigen, da die Leidenden in ihrer Dummheit Mitleidsbekundungen für „das grösste Gut“ (70, 18 f.) hielten. Nach einem Gedankenstrich (70, 19) nimmt ein „man“ den Faden auf und stellt in den Raum, es sei womöglich nicht die „Dummheit“ (70, 21), das Unglückliche nach Mitleid heischen lasse, sondern vielmehr der Wunsch, „w e h z u t h u n“ (70, 31), hätten damit die vermeintlich Ohnmächtigen noch „M a c h t“ (71, 2, vgl. dazu NK KSA 3, 385, 25–386, 4) über ihr Publikum. „[D]er Durst nach Mitleid“ sei „ein Durst nach Selbstgenuss“ (71, 8), und zwar auf Kosten der Mitleidenden. Nach einem zweiten gliedernden Gedankenstrich (71, 12) wird dieser spezifische Befund oder vielmehr Verdacht verallgemeinert, nämlich dahingehend, dass Menschen überhaupt nur deswegen gerne in Gesellschaft seien, weil sie selbstgenießerische Freude hätten, wenn sie anderen wenigstens ein bisschen wehtun können, was sie in der verbalen Kommunikation auch unentwegt täten. Das folgt freilich nicht zwangsläufig aus der vorangehenden Leidens- und Mitleidensanalyse. Denn vielleicht haben ja Leidende nur ein solches Bedürfnis, weh zu tun, weil ihnen selbst weh ist. Weshalb das auf alle zutreffen soll, erläutert MA I 50 nicht, sondern erweckt den Anschein, die Verallgemeinerung sei aus der unvoreingenommenen Beobachtung menschlichen Kommunikationsverhaltens gewonnen – und wer sich dieser Verallgemeinerung verschließe, sei entweder „unehrlich“ (71, 25) oder „zu gut“ (71, 25 f.). Zu MA I 50 gibt es in Mp XIV 1, 244 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,244). Eine Pointe der Behauptung, das Heischen nach Mitleid ziele darauf ab, den Mitmenschen Schmerz zu bereiten, besteht darin, dass dieses Heischen damit genau die Definition von Bosheit erfüllt, die Schopenhauer gegeben hat (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 158; siehe NK ÜK MA I 25) – und Schopenhauer auf der anderen Seite das Mitleiden vehement verteidigt: Nimmt man MA I 50 ernst, wäre dieses für Schopenhauer als Inbegriff der Güte erscheinende Mitleid nur möglich, wenn Leidende ihre Bosheit ausagieren. Vgl. zu MA I 50 z. B. Curtis 2021, 204 f. 70, 7–19 La Rochefoucauld trifft in der bemerkenswerthesten Stelle seines SelbstPortraits (zuerst gedruckt 1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden warnt, wenn er räth, dasselbe den Leuten aus dem Volke zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen (weil sie nicht durch Vernunft
286
Menschliches, Allzumenschliches I
bestimmt werden), um so weit gebracht zu werden, dem Leidenden zu helfen und bei einem Unglück kräftig einzugreifen; während das Mitleiden, nach seinem (und Plato’s) Urtheil, die Seele entkräfte. Freilich solle man Mitleiden b e z e u g e n, aber sich hüten, es zu h a b e n: denn die Unglücklichen seien nun einmal so d u m m, dass bei ihnen das Bezeugen von Mitleid das grösste Gut von der Welt ausmache.] Statt „den Leuten aus dem Volke zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen (weil sie nicht durch Vernunft bestimmt werden)“ (70, 11–13) steht in Mp XIV 1, 244 „dem Pöbel zu überlassen, das der Leidenschaften bedarf (weil es nicht durch Vernunft bestimmt wird)“, dort fehlt „und bei einem Unglück kräftig einzugreifen“ (70, 14). In dieser ‚Reinschrift‘ ist überdies „entkräfte“ (70, 15 f.) korrigiert aus „schwach macht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,244). In der Erstausgabe ist „h a b e n“ (70, 17) nicht gesperrt gesetzt; KGW/KSA übernehmen die Sperrung aus Mp XIV 1, 244 und dem Druckmanuskript. Statt „das grösste Gut von der Welt ausmache“ (70, 18 f.) steht in Mp XIV 1, 244: „die beste Sache von der Welt sei“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,244). Das Portrait du Duc de Larochefoucauld fait par lui-même, imprimé en 1658 ist der von N. benutzten La Rochefoucauld-Ausgabe vorangestellt (La Rochefoucauld o. J., 1–5). An der fraglichen Stelle berichtet La Rochefoucauld über seinen ausgeglichenen Gemütshaushalt, der ihn auch kaum zu Mitleid geneigt mache: „Je suis peu sensible à la pitié, et voudrois ne l’y être point du tout. Cependant il n’est rien que je ne fisse pour le soulagement d’une personne affligée; et je crois effectivement que l’on doit tout faire, jusqu’à lui témoigner même beaucoup de compassion de son mal: car les misérables sont si sots, que cela leur fait le plus grand bien du monde; mais je tiens aussi qu’il faut se contenter d’en témoigner et se garder soigneusement d’en avoir. C’est une passion qui n’est bonne à rien au dedans d’une âme bien faite; qui ne sert qu’à affoiblir le cœur, et qu’on doit laisser au peuple, qui, n’exécutant jamais rien par la raison, a besoin de passions pour le porter à faire les choses.“ (La Rochefoucauld o. J., 4) Der Schein des Mitleidens ist nötig, weil man offensichtlich nur so den Leidenden seine positiven Absichten signalisieren kann. Ist damit auch der Helfende und vermeintlich Mitleidende darauf angewiesen, seitens des Leidenden Anerkennung zu finden, und damit nicht in einer Machtposition? Zur Differenz von La Rochefoucaulds und N.s Mitleidskritik in MA I 50 siehe neben Lawtoo 2024, 47 vor allem Winkler 2021a, 256 f.: „Nietzsche Kritik gilt allein La Rochefoucaulds Versuch, das Bedürfnis nach Mitleid und die Aufforderung dazu als ‚eine Art Geistesstörung […], welche das Unglück mit sich bringt‘ (MA I 50, KSA 2, 70), zu verstehen. Es handele sich vielmehr in Wahrheit – so sein Gegenargument – um ein Bedürfnis nach Macht, genauer nach der ‚Macht, wehe zu thun‘ (ebd., 71). Nietzsche folgert: ‚Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen‘ (ebd., 71). Wir können diese dialektische Revision der moralisti-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 50, KSA 2, S. 70
287
schen Mitleids-Kritik wie folgt deuten: Bei La Rochefoucauld werden das Mitleid und das Bedürfnis danach entsprechend dem Ethos des alten Schwertadels (und nicht etwa christlich) als Phänomen einer zurückgebliebenen gesellschaftlichen Schicht definiert, von der sich der Edelmann, die ‚âme bien faite‘, fernzuhalten hat. Bei Nietzsche wird das Mitleid heischende Verhalten nicht gesellschaftsbezogen, quasi soziologisch avant la lettre, wenngleich ausgehend von altaristokratischen Werten, bestimmt, sondern lebensphilosophisch und anthropologisch: Es ist nun Ausdruck eines alle Schichten und Lebensalter übergreifenden Bedürfnisses nach Macht als Selbstgenuss.“ Zu Platons Mitleidskritik siehe z. B. Politeia 387e, 415c und 605c–606b, dazu NK KSA 5, 252, 22–28. 70, 25–31 Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und schreien, d a m i t sie bemitleidet werden, und desshalb den Augenblick abwarten, wo ihr Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr mit Kranken und Geistig-Gedrückten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen und Wimmern, das Zur-Schau-tragen des Unglücks im Grunde das Ziel verfolgt, den Anwesenden w e h z u t h u n] Die zweite Satzhälfte könnte man mit N.s eigener Erfahrung assoziieren, beispielweise im Lazarett nach seinem Reitunfall als Einjährig-Freiwilliger bei der reitenden Abteilung des Feldartillerie-Regiments Nr. 4 im März 1868 oder Ende August bis Anfang September 1870 als ziviler Krankenpfleger, der prompt selbst mit Ruhr und Rachendiphterie im Krankenbett landet. Weinende Kinder dürften dagegen selten im Blickfeld des Beobachters N. gestanden haben. Eher handelt es sich hierbei um eine Lektürefrucht aus Schopenhauers Hauptwerk: „Auch bestätigt sich das Gesagte dadurch, daß Kinder, die einen Schmerz erlitten, meistens erst dann weinen, wenn man sie beklagt, also nicht über den Schmerz, sondern über die Vorstellung desselben.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 446) Freilich deutet Schopenhauer mit seiner positiven Würdigung des Mitleids dieselbe Beobachtung, auf die sich MA I 50 beruft, ganz anders. Das kindliche Weinen (oder auch das erwachsene Klagen) unter Anteilnahme Dritter ist für ihn kein Beweis für einen (bösen) Willen, Schmerz zu bereiten und Macht zu gewinnen, heißt es doch gleich anschließend: „Wann wir nicht durch eigene, sondern durch fremde Leiden zum Weinen bewegt werden; so geschieht dies dadurch, daß wir uns in der Phantasie lebhaft an die Stelle des Leidenden versetzen, oder auch in seinem Schicksal das Loos der ganzen Menschheit und folglich vor Allem unser eigenes erblicken, und also durch einen weiten Umweg immer doch wieder über uns selbst weinen, Mitleid mit uns selbst empfinden.“ (Ebd.) Gegenüber Schopenhauer betont MA I 50 den theatralischen Charakter der Leidensdemonstration, womit sich die Verdachtshermeneutik nun gegen die Leidenden selbst richtet: Sie wollen, wenn sie selbst schon leiden, auch die anderen leiden machen. Sie haben wenigstens eine Macht – eben „die M a c h t , w e h e z u t h u n“ (71, 3).
288
Menschliches, Allzumenschliches I
71, 7–12 Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen; es zeigt den Menschen in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst: nicht aber gerade in seiner „Dummheit“, wie La Rochefoucauld meint.] Die Verbindung von „Mitleid“ und „Selbstgenuss“ wird in der N. wohlbekannten Studie von Jacob Bernays über die Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie (vgl. z. B. NK ÜK MA I 212 u. NK KSA 5, 322, 22–29) thematisiert – wobei für Aristoteles das Problem darin bestand, dass das Mitleid dem Selbstgenuss entgegenstand: „Denn da er [sc. Aristoteles] Selbstgenügen und Selbstgenuss (αὐτάρκεια) für die höchste Vollkommenheit ansieht, die allein Gott besitzt, der Mensch immer nur erstrebt, so musste er vor allen andern Affecten in dem Mitleid und der Furcht die zwei weitgeöffneten Thore erkennen, durch welche die /181/ Aussenwelt auf die menschliche Persönlichkeit ein dringt und der unvertilgbare, gegen die ebenmässige Geschlossenheit anstürmende Zug des pathetischen Gemüthselements sich hervorstürzt, um mit gleichempfindenden Menschen zu leiden und vor dem Wirbel der drohend fremden Dinge zu beben. Jedoch nicht diese Erkenntniss für sich, sondern erst ihre Verbindung mit der weiter dringenden, in der Rhetorik entwickelten Einsicht, dass Mitleid und Furcht innerlich verschlungen sind, und man den Andern nur wegen dessen bemitleidet, was man für sich selber fürchtet erst dies Ineinssehen von Mitleid und Furcht befähigte den Aristoteles die Sollicitationsweise für sie zu finden, welche die wahrhaft kathartische ist und zugleich die innere Oekonomie der Tragödie so aufdeckt, wie es im dreizehnten und vierzehnten Capitel der Poetik geschieht.“ (Bernays 1857, 180 f.) In MA I 50 geht es aber nicht um die Katharsis, die Wiederherstellung des Selbstgenusses durch den Affekt des Mitleids (und der Furcht) bei einem selbst, sondern um die Konstitution des Selbstgenusses durch Erzeugung von Mitleid bei anderen – wobei dieser Selbstgenuss offensichtlich in einem Machtgefühl über andere besteht. Der Leidende handelt, indem er nach Mitleid heischt, ganz und gar egoistisch. Die Rede vom „Selbstgenuss“ hat ihre paradoxe Pointe darin, dass er ja leidenden Menschen zugeschrieben wird, denen man in ihrem Leiden jeglichen Selbstgenuss abzusprechen geneigt sein dürfte. Ein verwandtes Thema spricht MA I 545 an, wenn dort vom „S e l b s t g e n u s s i n d e r E i t e l k e i t“ gehandelt wird, vgl. NK 329, 6. Der Begriff des Selbstgenusses kann auch mit La Rochefoucaulds „amour-propre“ in Beziehung gesetzt werden, siehe NK 104, 13–18. 71, 18–20 ebenso wie das Wohlwollen, in gleicher Form durch die Menschenwelt hin verbreitet, das allezeit bereite Heilmittel ist] Siehe dazu NK ÜK MA I 49. 71, 26 Pudendum] Lateinisch: „(Etwas) zu Meidendes“, „schamhaft Verschwiegenes“. N. braucht die Wendung auch in MA I 227, KSA 2, 191, 9. Das von N. benutzte Handbuch der Fremdwörter führt nur den Plural „Pudenda“ an: „die Geschlechtstheile, Zeugetheile“ (Petri 1861, 646).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 50–51, KSA 2, S. 71
289
71, 26–29 diese mögen somit immerhin leugnen, dass Prosper Mérimée Recht habe, wenn er sagt: „Sachez aussi qu’il n’y a rien de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le faire.“] An seine „Unbekannte“ (Jenny Dacquin) schrieb Prosper Mérimée: „Sachez aussi qu’il n’y a rien de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le faire.“ (Mérimée o. J., 1, 8 – „Sie sollten auch wissen, dass es nichts Häufigeres gibt, als das Böse zu tun um des Vergnügens willen, es zu tun.“) N. hat den Satz noch einmal aufgegriffen in GM II 5, KSA 5, 300, 1 f., dort ohne Nennung von Mérimées Namen.
51. MA I 51 scheint an die traditionelle Kritik am bloßen Schein anzuknüpfen, wenn der Abschnitt an mehreren Beispielen durchspielt, wie der Schein zum Sein wird, wenn ersterer nur lange genug praktiziert worden ist. Der kulturkritische Akzent verlagert sich aber spätestens von 72, 13–15 an, wonach fast jeder „Beruf“ (72, 13) mit der Nachahmung des Wirkmächtigsten beginne – der mit der „Maske“ (72, 16) der Freundlichkeit Auftretende werde schließlich zwingend selbst „wohlwollend“ (72, 19). Das scheint zu implizieren, dass der alte Gegensatz von Sein und Schein als falscher, übertriebener Gegensatz im Sinne von MA I 1, KSA 2, 23 aufgeweicht und aufgehoben wird: Das Sein ist dann nur ein Entwicklungsprodukt. Im Blick auf den menschlichen Charakter würde das dessen verhältnismäßig rasche Wandelbarkeit durch Selbstformung mittels Scheinhabitualisierung bedeuten – während MA I 41, KSA 2, 65 immerhin noch vom Anschein der Charakterunveränderlichkeit im Rahmen einer normalen menschlichen Lebensspanne ausgegangen ist. Zu MA I 51 vgl. auch Imasaki 2020, 25–28. Zu MA I 51 gibt es in Mp XIV 1, 51 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,51). 71, 31–72, 3 Der Schauspieler kann zuletzt auch beim tiefsten Schmerz nicht aufhören, an den Eindruck seiner Person und den gesammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst beim Begräbniss seines Kindes] Die zugrundeliegende Beobachtung wiederum findet sich ähnlich in Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung – im Anschluss an eine Passage, die für MA I 50 eine Inspirationsquelle gewesen sein dürfte, vgl. NK 70, 25–31. Es heißt dort weiter: „Dies scheint auch ein Hauptgrund des durchgängigen, also natürlichen Weinens bei Todesfällen zu seyn. Es ist nicht sein Verlust, den der Trauernde beweint: solcher egoistischer Thränen würde man sich schämen; statt daß er bisweilen sich schämt, nicht zu weinen. Zunächst beweint er freilich das Loos des Gestorbenen: jedoch weint er auch, wann diesem, nach langen, schweren und unheilbaren Leiden, der Tod eine wünschenswerthe Erlösung war. Hauptsächlich also ergreift ihn Mitleid über das
290
Menschliches, Allzumenschliches I
Loos der gesammten Menschheit, welche der Endlichkeit anheimgefallen ist, der zufolge jedes so strebsame, oft so thatenreiche Leben verlöschen und zu nichts werden muß: in diesem Loose der Menschheit aber erblickt er vor Allem sein eigenes, und zwar um so mehr, je näher ihm der Verstorbene stand, daher am meisten, wenn es sein Vater war.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 446) Aber nicht nur die Konstellation ist hier umgekehrt – Begräbnis des Vaters statt des Kindes –, sondern auch die Deutung: Was bei Schopenhauer als tiefgründiges Mitschwingen mit der Leidensnatur alles Seienden die Tränen hervorruft, ist in MA I 51 zumindest beim habituellen Schauspieler nur Maskerade, Oberflächenspiel. 72, 6–9 Priester, welche als junge Männer gewöhnlich bewusst oder unbewusst Heuchler sind, werden zuletzt natürlich und sind dann wirklich, ohne alle Affectation, eben Priester] In Mp XIV 1, 51 steht statt „Priester“ jeweils „Geistliche“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,51). Auch im Druckmanuskript D 11, 38 von Köselitz stand zunächst „Geistliche“, bevor sie in „Priester“ korrigiert wurden (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,38). Das „werden zuletzt“ (72, 7 f.) ist in Mp XIV 1, 51 korrigiert aus: „sind zuletzt“. 72, 10 f. seine Gewöhnung erbt] Im Druckmanuskript D 11, 38 von Köselitz und in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 57) steht „übt“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,38) statt „erbt“ (72, 11). Es handelt sich nach KGW IV 4, 179 um einen Lesefehler von Köselitz nach der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 51, wo „erbt“ steht; KGW/KSA emendieren wie schon GoA und andere Ausgaben. 72, 13 sogar des Künstlers] In Mp XIV 1, 51 steht stattdessen als Einschub über der Zeile: „zB der des Künstlers“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,51). Im Druckmanuskript D 11, 38 ist „zum Beispiel des Künstlers“ korrigiert in „sogar des Künstlers“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,38). 72, 15–19 Der, welcher immer die Maske freundlicher Mienen trägt, muss zuletzt eine Gewalt über wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, – und zuletzt wieder bekommen diese über ihn Gewalt, er i s t wohlwollend.] Zum Wohlwollen NK ÜK MA I 49. Die Verdoppelung des „zuletzt“ (auch in der ‚Reinschrift‘ und im Druckmanuskript erscheint es so) lässt die Frage aufkommen, was denn nun der tatsächliche finale Zustand ist. Und ließe sich das Geschehen, den Schein in Sein zu überführen, nicht auch als Selbstformung, als Bildung bezeichnen, und könnte so den offensichtlich als künstlich problematisierten Gegensatz von Schein und Sein von Anfang an beiseite lassen? Vgl. Lichtenberg 1867, 4, 31, Fn. * (nach Cicero: Tusculanen IV 37, 80): „Zopyrus behauptete, Sokrates sei ein lasterhafter Mensch, worauf dieser erwiederte, daß er allerdings zu einem lasterhaften Leben geneigt, und gewiß schlecht geworden sein würde, wenn er nicht durch die Philosophie sein böses Naturel verbessert hätte“ (dazu NK KSA 6, 69, 4–10).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 51–52, KSA 2, S. 71–72
291
52. Nach MA I 52 wirken „grosse[.] Betrüger[.]“ (72, 22) nur und haben nur dann Erfolg, wenn sie im Augenblick des Betruges selbst von sich überzeugt sind. Der Hintergrund ist aber nicht eine Theorie des Betrugs, sondern die alte religionskritische Idee, „Religionsstifter“ (72, 28) seien Betrüger, die sich von gewöhnlichen nur dadurch unterscheiden, dass sie von dem falschen „G l a u b e [ n ] a n s i c h s e l b s t“ (72, 26) nicht wegkämen und in der „Selbsttäuschung“ (72, 30) befangen blieben. Um in Religionsbelangen wirksam zu sein, erscheint „Selbstbetrug“ (73, 1) unerlässlich. Im Hintergrund steht der alte Vorwurf, die drei Stiftergestalten von Judentum, Christentum und Islam, Moses, Jesus und Mohammed, seien nichts weiter als impostores, Betrüger. N. konnte beispielsweise von seinem allerdings schon 1869 verstorbenen Basler Kollegen Wilhelm Wackernagel aus den Abhandlungen zur deutschen Litteraturgeschichte, die sich in seiner Bibliothek befanden, erfahren: „Dem Kaiser [sc. Friedrich II. von Staufen] selbst aber ward in einem Ausschreiben Gregor’s IX vom Jahre 1239 die Behauptung in den Mund gelegt (Joh. Vitod. pag. 7), Moses, Christus und Mohammed, alle drei seien Betrüger gewesen und nur darin unterschieden, dass zwei von ihnen in Ehren, der dritte mit Schmach sein Ende genommen. Wir lassen dahingestellt, ob Friedrich II wirklich (er selber widersprach dem aufs bestimmteste), ob Simon von Tournay, Professor zu Paris, oder wer sonst damals diese frevelhafteste Rede zuerst gewagt habe; dass sie gewagt worden ist, dass sie unter den Völkern umlief, so viel ist jedesfalls bezeugt (Berthold S. 44), zugleich aber auch so viel gewiss, dass die verrufene Schrift de tribus impostoribus, die den Frevel im Sinne des Atheismus ausführt, weder Friedrich II, noch überhaupt seinem Zeitalter, sondern frühestens erst der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts angehört. Möglich wäre sie allerdings auch schon im dreizehnten gewesen; denn nehmen wir den ganzen fort und fort hinunterschreitenden Stufengang, die kirchliche Lehre: ‚Der einzig wahre Glaube ist der durch Christum geoffenbarte,‘ den Gedanken Walther’s: ‚Jede der drei Religionen kann die wahre sein, aber Gott allein weiss, welche,‘ die Behauptung, die man Friedrich II beigemessen: ‚Alle drei sind falsch und die Offenbarungen jeder ein betrügerisches Vorgeben,‘ endlich den Satz des Buches de tribus impostoribus: ‚Es ist kein Gott; denn die Offenbarungen, die von ihm zeugen sollen, widersprechen einander und sind Betrug;‘ nehmen wir diese ganze Reihenfolge, so dürfte der letzte Schritt kaum grösser erscheinen, als die ihm vorangegangenen; er ist nur die rückhaltlose und, wenn man will, nothwendige Vollendung.“ (Wackernagel 1873, 460; zum „frommen Betrug“ und seiner theologischen Rechtfertigung siehe auch Lecky 1873, 1, 306–309, freilich ohne Bezug zu De tribus impostoribus.) Dass N. und seinem Umkreis die Vorstellung von den Religionsstif-
292
Menschliches, Allzumenschliches I
tern als Betrügern schon lange geläufig war, belegt auch Paul Deussens Brief an N. vom 16. 05. 1870, wo jener von seiner Beschäftigung mit dem Alten Testament und Mose berichtet und dazu anmerkt: „Zu den impostoribus kann ich ihn ein für allemal nicht rechnen“ (KGB II 2, Nr. 101, S. 210, Z. 49 f.). Zu MA I 52 gibt es in Mp XIV 1, 46 eine ‚Reinschrift‘ mit zahlreichen Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,46). 72, 28–73, 1 Die Religionsstifter unterscheiden sich dadurch von jenen grossen Betrügern, dass sie aus diesem Zustande der Selbsttäuschung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten einmal jene helleren Momente, wo der Zweifel sie überwältigt; gewöhnlich trösten sie sich aber, diese helleren Momente dem bösen Widersacher zuschiebend.] Die Religionsstifter sind also eigentlich noch schlimmer als normale Betrüger, weil sie unentwegt im Bann des Selbstbetrugs bleiben, der bei den Betrügern nur vorübergehend ist. Das ist die Potenzierung des alten Motivs der drei Betrüger, vgl. NK ÜK MA I 52. Bei Jesus von Nazareth sind die Momente des Zweifels etwa in der Geschichte von den drei Versuchungen in der Wüste bei Matthäus 4, 1–11 und Lukas 4, 1–13 dokumentiert. Der Versucher dort soll nach dem synoptischen Bericht der Teufel gewesen sein. 73, 3 glauben an die Wahrheit dessen] In Mp XIV 1, 46 stattdessen: „glauben an die Wahrheit alles dessen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,46).
53. Nach MA I 53 liegt ein landläufiger Fehlschluss darin, von der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, mit der jemand etwas äußert, auf die Wahrheit des Geäußerten zu schließen. Und noch immer wehre „man“ (73, 10) sich gegen die Vermutung, früher habe jemand unter Opfern eine Wahrheit verteidigt, die sich im Nachhinein als Unwahrheit herausstellt. Wäre dem so, dann würde dies der Vorstellung einer „ewigen Gerechtigkeit“ (73, 18) widersprechen. Aber gerade von dieser Vorstellung einer solchen Gerechtigkeit müsse man Abschied nehmen. Mit MA I 53 entfiele damit auch ein geschichtsphilosophischer Trost für das Leiden der vorangehenden Generationen. Zu MA I 53 gibt es in Mp XIV 1, 89 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,89). Zur Interpretation von MA I 53 vgl. auch Röttges 1972, 227. 73, 6 S t u f e n d e r W a h r h e i t] Die Fügung „Stufen der Wahrheit“ kommt bei N. nur in MA I 53 vor. In der zeitgenössischen Literatur ist selten davon die Rede – im Blick auf Religion immerhin beim Philosophen und Journalisten Constantin Rößler: „Man weiß, wie in Hegels Lehre jene beiden Auffassungen zusammenge-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 52–53, KSA 2, S. 72–73
293
faßt wurden, diejenige, wonach die einzige untheilbare Wahrheit im Christenthum gegenwärtig, und die entgegengesetzte der Aufklärung, wonach jede Religion einen Strahl, aber nur einen gebrochenen Strahl der Wahrheit enthält. Nach dieser Lehre stellte das System der Religionen die aufsteigenden Stufen der Wahrheit, nicht aber die nebeneinanderliegenden Theile oder gar die verschiedenen mehr oder minder entstellten Bilder der Wahrheit dar.“ (Rößler 1876, 208) In Frederik Anton von Hartsens Grundzügen der Psychologie, die sich in der Zweitauflage in N.s Bibliothek erhalten haben, ist von verschiedenen Wahrheitsgraden die Rede, je nach Gewissheitsfaktor: „Unserer Ansicht nach gäbe es also verschiedene Stufen der Wahrheit, die von der Zahl der Fälle abhängen würden, in wel-/169/chen der wahre Seelenzustand (Bild, Gedanke, Urtheil) auf die Wirklichkeit anwendbar wäre, d. h. von dem Grade, wie sehr er der ‚absoluten Wahrheit‘ über den Gegenstand sich näherte.“ (Hartsen 1877, 168 f.) 73, 10–13 Ebenso will man nicht zugeben, dass alles Jenes, was die Menschen mit Opfern an Glück und Leben in früheren Jahrhunderten vertheidigt haben, Nichts als Irrthümer waren] Dass das Martyrium nichts für die Wahrheit beweist, für die jemand sein Leben lässt, ist bei N. ein oft wiederholtes Thema, vgl. MA I 630, KSA 2, 356, 14–17 und noch AC 53, dazu NK KSA 6, 234, 16–18. Auch in NL 1876/77, KSA 8, 23[38], 417, 3–12 wird es ausgebreitet: „Auch wenn man Martern und den Tod für seinen Glauben erduldet, beweist man nichts für die Wa h r h e i t, sondern nur für die S t ä r k e d e s G l a u b e n s an das, was man für Wahrheit hält. (Das Christenthum freilich geht von dem unstatthaften Einfalle aus: ‚was stark geglaubt wird, ist wahr‘. ‚Was stark geglaubt wird, macht selig, muthig, usw.‘) Das Pathos der ‚Wahrheit‘ ist an sich nicht förderlich für dieselbe, insofern es dem erneuten Prüfen und Forschen entgegenwirkt. Es ist eine Art Blindheit mit ihm verbunden, ja man wird, mit diesem Pathos, zum Narren: wie dies Winkler sagt.“ Zu Winckler vgl. NK 58, 2. 73, 15 f. gekämpft hat und gestorben ist, wäre es doch gar zu u n b i l l i g] In Mp XIV 1, 89 stattdessen: „kämpft u. stirbt, wäre es gar zu unbillig“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,89). 73, 17–22 So ein Vorgang scheint der ewigen Gerechtigkeit zu widersprechen; desshalb decretirt das Herz empfindender Menschen immer wieder gegen ihren Kopf den Satz: zwischen moralischen Handlungen und intellectuellen Einsichten muss durchaus ein nothwendiges Band sein. Es ist leider anders; denn es giebt keine ewige Gerechtigkeit.] In Mp XIV 1, 89 stattdessen: „Es scheint der ewigen Gerechtigkeit zu widersprechen: zwischen moral. Handlungen und intellect. Einsicht soll durchaus ein nothwend. Band sein. Es ist leider anders; ˹denn˺ es giebt keine ewige Gerechtigkeit.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,89) Schopenhauer beispielweise pflegte einen sehr großzügigen Umgang mit dem Begriff
294
Menschliches, Allzumenschliches I
der „ewigen Gerechtigkeit“, die er gegen die „z e i t l i c h e G e r e c h t i g k e i t“ ausspielte: „Ganz anders aber ist es mit der e w i g e n G e r e c h t i g k e i t, […] welche nicht den Staat, sondern die Welt beherrscht, nicht von menschlichen Einrichtungen abhängig, nicht dem Zufall und der Täuschung unterworfen, nicht unsicher, schwankend und irrend, sondern unfehlbar, fest und sicher ist.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 414) Diesen metaphysischen Optimismus hat die Sprechinstanz in MA I 53 längst verloren.
54. MA I 54 führt gegen landläufige moralische Verurteilungen der Lüge ins Feld, dass sie anstrengender als die bequemere Wahrheit sei – und dass man mit der Wahrheit direkter zum Ziel komme – wenigstens im Normalfall, „in schlichten Verhältnissen“ (74, 1). Anders beim Kind aus „verwickelten häuslichen Verhältnissen“ (74, 4 f.), das ganz natürlich lüge, weil es ihm nützlich sei. Die Lüge ist nach MA I 54 also konditioniert und es gibt keine ‚natürliche‘ Abscheu vor ihr, kein urwüchsiges inneres Widerstreben. Das Kind könne „in aller Unschuld“ (74, 9) lügen. Das Lügen wird in MA I 54 also ganz funktional und außermoralisch betrachtet. Normalerweise ist sie sozial dysfunktional, um die eigenen Interessen durchzusetzen, „weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist, als der der List“ (74, 2–4). Manchmal aber auch nicht. In Rées Psychologischen Beobachtungen heißt es: „Unserer Umgebung zeigen wir Abscheu vor der Lüge, theils aus Furcht, belogen zu werden, theils um unsere eigene Wahrheitsliebe in Credit zu bringen.“ ([Rée] 1875, 32 = Rée 2004, 74) Und auch in der von N. offensichtlich gelesenen Anthologie Altdeutscher Witz und Verstand wird Johann Schrader mit einer einschlägigen, den situativen Wert der Wahrheit relativierenden Sentenz zitiert: „Eine unzeitige Wahrheit ist einer Lüge gleich“ (Altdeutscher Witz 1877, 123). Zu MA I 54 gibt es in Mp XIV 1, 162 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,162). Eine vorbereitende Notiz steht in N II 2, 57: „Die Wahrheit im allt. Leben zu sagen: erstens weil es bequem ist, denn die Lüge erfordert Erfindung u. Verstellung. Dann: weil es vortheilhafter ist in gew. ˹einfachen˺ Verhältnissen. Wird ein Kind in verwickelten häusl. Verhältnissen erzogen, so handhabt er ebenso natürlich das zum Vortheil reden: ein Sinn der Wahrheit, ein Widerwille gegen die Lüge ist dann gar nicht vorhanden.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,57) 73, 25 f. Gewiss nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat.] Vgl. das Verbot, falsches Zeugnis wider den Nächsten abzulegen, im Dekalog 2. Moses 20, 16 u. 5. Moses 5, 20.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 53–55, KSA 2, S. 73–74
295
73, 28–30 (Wesshalb Swift sagt: wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt; er muss nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.)] Der Einschub fehlt in Mp XIV 1, 162. N. konnte das einschlägige Zitat im zweiten Band der Humoristischen Werke von Jonathan Swift finden, die er am 10. 02. 1876 erworben hatte und am 06. 11. 1878 binden ließ (NPB 583): „Wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt. Er muß nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.“ (Swift 1844, 2, 185) Vgl. auch NK 67, 1 f. 74, 2–4 ; also weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist, als der der List] Fehlt in Mp XIV 1, 162. 74, 4–9 Ist aber einmal ein Kind in verwickelten häuslichen Verhältnissen aufgezogen worden, so handhabt es ebenso natürlich die Lüge und sagt unwillkürlich immer Das, was seinem Interesse entspricht; ein Sinn für Wahrheit, ein Widerwille gegen die Lüge an sich ist ihm ganz fremd und unzugänglich, und so lügt es in aller Unschuld.] In Mp XIV 1, 162 wurde der Schluss „und so lügt es in aller Unschuld“ korrigiert aus: „und zwar in aller Unschuld“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,162). Ob sich N. hier an die verwickelte familiäre Situation in seiner eigenen Jugend erinnert, an die komplizierten Gegebenheiten im Hause von Richard Wagner und Cosima von Bülow/Wagner oder an eine Lektüre, steht dahin.
55. Der Glaube, namentlich in der katholischen Kirche, werde nicht durch „Heuchler“ (74, 13) erhalten, sondern durch die ernsten, asketischen Repräsentanten, die Angst verbreiten, denn sie konfrontierten die Lauen mit der Frage: „wie, wenn es n ö t h i g wäre, so zu leben?“ (74, 19 f.) Die „Freigesinnten“ (74, 23) wagten sich auch nicht recht an sie heran, um ihren Selbstbetrug zu geißeln. Stattdessen sinne man auf moralische Diskreditierung und behandele die Antagonisten ungerecht – so zu sehen am Umgang mit den Jesuiten. Stattdessen könnte man sich fragen, so die Schlussvolte, ob nicht eine vergleichbare asketische Praxis der „Aufgeklärten“ (75, 2) ähnliche Effekte zeitigen würde, sie in gleicher Weise wie die Jesuiten „gute Werkzeuge“ (75, 3) sein würden – Werkzeuge wozu, verrät MA I 55 nicht. Zu MA I 55 gibt es in Mp XIV 1, 103 eine ‚Reinschrift‘ mit zahlreichen Korrekturen und Überarbeitungsspuren (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,103). 74, 28–75, 1 So spricht man von der Schlauheit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber übersieht, welche Selbstüberwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrbücher predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem Laienstande zu Gute kommen soll.] Die Societas
296
Menschliches, Allzumenschliches I
Jesu, der als Waffe der Gegenreformation gegründete Jesuitenorden, war im deutschen Kulturkampf eine wesentliche Zielscheibe der protestantisch-preußischen Agitation – 1872 verbot das Jesuitengesetz die Ordensniederlassungen in Deutschland – und schon für Blaise Pascal ein Stein des Anstoßes. Diese Konstellation kommt auch später bei N. noch zum Tragen, siehe NK KSA 5, 13, 6 u. NK KSA 5, 13, 11–16 (dort unter dem Eindruck einer Lektüre eines Buches von Dühring aus dem Jahr 1879, vgl. auch D’Iorio/Ponton 2004, 3 zum Jesuitismus und jesuitistischer Selbsteinschätzung N.s in einem Notat von 1883). In NL 1873/74, KSA 7, 30[33], 743, 24–27 hatte N. notiert: „Die Jesuiten schwächten und milderten die Ansprüche des Christenthums, um doch seine Macht noch zu behaupten. Der Protestantismus begann mit der Erklärung von Adiaphora in grösster Masse.“ Und bei Lecky 1873, 2, 116 f. fand N. die Jesuiten als Vorreiter der Aufklärung und einer „Verweltlichung der Politik“ dargestellt: „Die feurigsten und bei weitem die begabtesten Verfechter des Ultramontanismus waren die Jesuiten, welche indessen so weit über die anderen Theologen in ihren Grundsätzen hinausgingen, dass man sie mit Recht als eine gesonderte Klasse betrachten kann. Die wunderbare Schmiegsamkeit des Verstandes und die gründliche Weltkenntniss, welche wenigstens damals ihren Orden charakterisirte, überzeugte sie schnell, dass die Schwierigkeiten des Streites nicht durch die alten Präcedenzfälle der Kirchenväter zu lösen seien, und dass es nöthig sei, in jeder Weise die überhandnehmende Macht der Souveräne einzuschränken. Sie sahen, was keine Anderen in der katholischen Kirche bemerkt zu haben scheinen, dass das Volk eine grosse Zukunft für sich habe, und sie arbeiteten mit einem Eifer, der ihnen dauernden Ruhm sichern wird, die Emancipation zu leiten und zu beschleunigen. Durch ein System der kühnsten Casuistik, durch einen furchtlosen Gebrauch ihres eigenen Urtheils in allen Angelegenheiten, welche die Kirche /117/ nicht genau bestimmt hatte, und vor Allem durch eine geschickte Anwendung und Verbreitung von einigen Grundsätzen der Scholastiker gelang es ihnen, sich von den Ueberlieferungen der Vergangenheit loszumachen und den Liberalismus überall, wohin ihr Einfluss sich erstreckte, zu fördern.“ (N.s Unterstreichungen, mehrere Anstreichungen von seiner Hand am Rand, oben S. 117 am rechten Rand: „Jesuiten“.) Und weiter erläutert Lecky 1873, 2, 118 f.: „Es würde aber ein Irrthum sein, zu behaupten, dass die Jesuiten die liberalen Principien nur im Hinblick auf theologische Vortheile oder in protestantischen Ländern, oder unter dem Schutze der kirchlichen Autoritäten befürworteten. Mehr als einmal vertheidigten sie selbst ihre extremsten Formen in der Mitte katholischer Völker, und so seltsam der Ausspruch auch erscheinen mag, dieser Orden ist es, bei dem wir einige der aufgeklärtesten Geister der Zeit finden. Zwei der hauptsächlichsten Merkmale eines aufgeklärten Geistes sind, wie wir bereits gesehen haben, eine Liebe, sich mehr auf die allgemeinen Grundgesetze der natürlichen Religion als auf dogmatische Satzungen zu berufen, und /119/ eine Neigung, letztere mit den ersteren in Einklang zu brin-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 55–56, KSA 2, S. 74–75
297
gen; und von diesen beiden Richtungen finden wir unter den Jesuiten mehrere schlagende Beispiele.“ (N.s Unterstreichungen, mehrfache Anstreichung und „Oh!“ von seiner Hand am Rand links S. 118.) Freilich hat N. die Bücher zum Erlaubtsein des Tyrannenmordes, die Lecky im Anschluss rekapituliert, nicht eigens studiert; wenn er in MA I 55 von „jesuitischen Lehrbüchern“ spricht, dürfte, wie Liebscher 2020, 129 zu Recht notiert, vor allem das berühmte, von Schopenhauer übersetzte Hand-Orakel des Jesuiten Baltasar Gracián gemeint gewesen sein, das N. in der Nachlassaufzeichnung lobt, die unmittelbar auf die oben zitierte Jesuiten-Stelle folgt: „Gracian zeigt eine Weisheit und Klugheit in der Lebenserfahrung, damit sich jetzt nichts vergleichen lässt. Wir sind wohl die Mikroskopiker des Wirklichen, unsre Romane verstehen zu sehen (Balzac, Dickens), nur zu fordern und zu erklären versteht niemand.“ (NL 1873/74, KSA 7, 30[34], 744, 1–5) Das Hand-Orakel, das N. in der dritten unveränderten Auflage der Schopenhauer-Übersetzung von 1877 besaß, diente wesentlich zur Erleichterung der „Lebenspraxis“. 75, 1–4 Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklärten bei ganz gleicher Taktik und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewundernswürdig durch Selbstbesiegung, Unermüdlichkeit, Hingebung sein würden.] Das Thema, ob sich Aufgeklärte und Philosophen, jedenfalls Geistesmenschen asketischer Praktiken befleißigen oder gar asketischen Idealen huldigen sollten, wird später GM III 8–10, KSA 5, 351–361 ausführlich besprechen, und u. a. zum Schluss kommen, dass eine asketische Fokussierung, ein Fernhalten alles Ablenkenden geistiger Tätigkeit durchaus zuträglich und ein Priester-Mimikry nützlich sein könnte, aber diese Geistesmenschen deswegen keineswegs asketisch verbiestern müssten. MA I 55 scheint dagegen eher mit dem Versprechen zu liebäugeln, mit derartigen Praktiken für die Aufklärung jene „Macht“ (74, 12 u. ö.) zu erlangen, die bisher den „priesterlichen Naturen“ (74, 15) vorbehalten war.
56. MA I 56 tut die Vorstellung vom radikalen Bösen, von der grundsätzlichen, tiefstgreifenden Verderbtheit des Menschen ebenso wie die Gegenvorstellung von der grundsätzlichen, tiefstgreifenden Güte des Menschen als überwundene Vorstellungen ab, anerkennt sie aber als wichtige Stufen zur Erkenntnis, ja zur Weisheit (vgl. 75, 7). Alle moralischen Urteile werden relativiert und kontextualisiert. Freilich wird nicht einfach das Alte und Hergebrachte, das sich bis in die Gegenwart „verästet“ (75, 12), für falsch erklärt, sondern als Vorstufe der Selbsterkenntnis für unabdingbar angesehen. Damit dispensiert sich der Sprecher stillschweigend davon, zu erläutern, warum diese Vorstellungen denn so unglaubwürdig sein sollen.
298
Menschliches, Allzumenschliches I
MA I 53 hatte falsche Überzeugungen aus der Vergangenheit noch als nicht geschichtsphilosophisch rechtfertigbar hingestellt. MA I 56 macht eine solche Rechtfertigung aber möglich, nämlich um „höher zu steigen“ (75, 13). Das Ende von MA I 56 malt den Erkennenden als reines Erkenntnissubjekt, das sich von keinen Leidenschaften und „Vorstellungen“ (75, 27) mehr beunruhigen lässt – was wiederum an sehr traditionelle Weisheitsvorstellungen anschließt. Zum christlichen Phantasma der Sündhaftigkeit siehe auch MA I 116 u. MA I 117, KSA 2, 118 f. Zu MA I 56 gibt es in Mp XIV 1, 12 eine vom Drucktext stark abweichende ‚Reinschrift‘, blau rubriziert „Religion u. Moral“, die wie folgt lautet: „Es ist für den Weisen werthvoll, eine Zeit lang einmal die Vorstellung vom gründlich bösen u verderbten Menschen gehabt zu haben: Sie ist falsch, wie die entgegengesetzte, aber ganze Zeitstrecken hindurch mächtig gewesen, man muss sie nachfühlen können u darüber hinauskommen. Sünden giebt es nicht im metaphys. Sinne, aber auch keine Tugend. Dieser ganze Bereich ist in fortwährendem Schwanken, es giebt höhere u tiefere Vorstellungen von gut u böse, sittlich u. unsittlich. Wer nicht viel mehr begehrt als erkennen, kommt für sich zur Ruhe darüber u wird höchstens aus Unwissenheit fehlgreifen. Er wird die Begierden nicht mehr verketzern u ausrotten wollen, aber sein Ziel am besten zu erkennen wird ihn kühl machen. Eine Menge quälender Vorstellungen wird er los werden, nicht nur Höllenstrafen, sondern auch die Sündhaftigkeit, die Unfähigkeit zum Guten usw. Dies ist alles falsche unklare unhistorische Betrachtung des Menschen.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,12) Im Druckmanuskript D 11, 39 liegt zunächst dieser Text in Köselitz’ Handschrift zugrunde, bevor er durchgreifend korrigiert und zum schließlichen Drucktext verändert worden ist (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,39). 75, 6 f. S i e g d e r E r k e n n t n i s s ü b e r d a s r a d i c a l e B ö s e] Die Rede vom radikalen, also wurzelhaften Bösen lehnt sich an Immanuel Kants Terminologie an. Dessen 1792 erschienener Aufsatz Über das radical Böse in der menschlichen Natur wurde zum Ersten Stück des im Folgejahr publizierten Buches Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, dem zufolge „im Menschen ein natürlicher Hang zum Bösen“ vorhanden sei, „und dieser Hang selber, weil er am Ende doch in einer freien Willkür gesucht werden muß, mithin zugerechnet werden kann, ist moralisch böse. Dieses Böse ist radical, weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch als natürlicher Hang durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen, weil dieses nur durch gute Maximen geschehen könnte, welches, wenn der oberste subjective Grund aller Maximen als verderbt vorausgesetzt wird, nicht statt finden kann; gleichwohl aber muß er zu überwiegen möglich sein, weil er in dem Menschen als frei handelndem Wesen angetroffen wird.“ (AA VI 37) In Schopenhauers Parerga findet sich davon ein Widerhall, ohne dass Schopenhauer auf den Begriff selbst viel Wert legte: „Wirklich also liegt im Herzen eines jeden
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 56, KSA 2, S. 75
299
ein wildes Thier, das nur auf Gelegenheit wartet, um zu toben und zu rasen, indem es Andern wehe thun und, wenn sie gar ihm den Weg versperren, sie vernichten möchte: es ist eben Das, woraus alle Kampf- und Kriegslust entspringt; und eben Das, welches zu bändigen und einigermaaßen in Schranken zu halten die Erkenntniß, sein beigegebener Wächter, stets vollauf zu thun hat. Immerhin mag man es das radikale Böse nennen, als womit wenigstens Denen, welchen ein Wort die Stelle einer Erklärung vertritt, gedient seyn wird. Ich aber sage: es ist der Wille zum Leben“ (Schopenhauer 1873–1874, 6, 230). Schon Kant schließt mit seiner Rede an die alte Vorstellung von der radikalen Erbsündenverdorbenheit des Menschen an, die, von Paulus begründet und von Augustinus systematisiert, die Geschichte des Christentums wesentlich bestimmt hat. Die Pointe von MA I 56 besteht darin, dass nicht Christus oder die Tugend oder die Pflicht über das radikale Böse triumphieren, sondern eine Erkenntnis, die seine Existenz in Abrede stellt. 75, 14–19 Wir erkennen dann, dass es keine Sünden im metaphysischen Sinne giebt; aber, im gleichen Sinne, auch keine Tugenden; dass dieses ganze Bereich sittlicher Vorstellungen fortwährend im Schwanken ist, dass es höhere und tiefere Begriffe von gut und böse, sittlich und unsittlich giebt.] Woher freilich diese Erkenntnis rührt, macht MA I 56 nicht deutlich. Sie ist eine selbsterfüllende (oder als selbsterfüllend gedachte) Behauptung. 75, 19–30 Wer nicht viel mehr von den Dingen begehrt, als Erkenntniss derselben, kommt leicht mit seiner Seele zur Ruhe und wird höchstens aus Unwissenheit, aber schwerlich aus Begehrlichkeit fehlgreifen (oder sündigen, wie die Welt es heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten wollen; aber sein einziges ihn völlig beherrschendes Ziel, zu aller Zeit so gut wie möglich zu e r k e n n e n, wird ihn kühl machen und alle Wildheit in seiner Anlage besänftigen. Ueberdiess ist er einer Menge quälender Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts mehr bei dem Worte Höllenstrafen, Sündhaftigkeit, Unfähigkeit zum Guten: er erkennt darin nur die verschwebenden Schattenbilder falscher Welt- und Lebensbetrachtungen.] Die Vorstellung von der befreienden Kraft der Erkenntnis gehört zu den zentralen Leitmotiven der abendländischen Philosophie. Die erst in der letzten Bearbeitungsstufe eingefügte Schlusswendung über die „Schattenbilder“ spielt direkt auf Sokrates, seinen Erkenntniswillen und das Höhlengleichnis (Platon: Politeia 514a–520e) an. Dass Erkenntnis zur Seelenruhe beiträgt, sich von den Affekten und „Begierden“ freizumachen (vgl. NK 54, 20–29), ohne diese doch zu verteufeln, und überhaupt in der von Leidenschaften freien Erkenntnis den eigentlichen Lebenssinn zu sehen, ist eine grundlegende Einsicht der Stoa, wie sie N. beispielsweise in Gestalt von Epiktet (Epiktetos 1783, Simplikios 1867) oder Mark Aurel vor Augen stand: Man nimmt in größtmöglicher affektiver Kälte Ab-
300
Menschliches, Allzumenschliches I
schied von beunruhigenden Vorstellungen in diesem Brennglas des Bloß-nochErkennen-Wollens. In M 82, KSA 3, 78, 25–28 und in M 450, KSA 3, 273, 9–11 wird N. dann jeweils ein Zitat Mark Aurels ins Treffen führen (Mark Aurel 1866, 78 [dort von N. mit „NB“ quittiert] u. 35; vgl. NK KSA 3, 78, 21 u. NK KSA 3, 273, 2), in M 546, KSA 3, 316 f. Epiktet auftreten lassen (vgl. NK KSA 3, 316, 12) und schließlich M 563, KSA 3, 328, 2–9 epiktetische Schlussfolgerungen ziehen lassen (vgl. NK KSA 3, 328, 2). Zu diesem stoischen Motivgeflecht siehe auch Brusotti 1997, 227 f.; zum Stoa-Komplex Weiterführendes in NK ÜK MA I 34.
57. An den Beispielen eines Autors, der von einem Kollegen übertrumpft zu werden wünscht, eines Mädchens, das seine Liebe zum untreuen Liebhaber mit der eigenen Treue unter Beweis stellen möchte, eines Soldaten, der sich fürs Vaterland aufopfert, und einer Mutter, die das für ihr Kind tut, erörtert MA I 57 die Unterstellung, es gebe tatsächlich genuin altruistische Handlungen. Dieses Ansinnen wird mit dem Argument zurückgewiesen, die zur Selbstaufgabe Bereiten seien es nur, weil sie das, was sie für das Beste an sich selbst hielten, „einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugniss“ (76, 17 f.), vom Rest abtrennten, sich quasi auseinanderdividierten und den jeweiligen Rest gerne preisgäben. Der scheinbare Altruist hat also sehr wohl Neigung, will etwas erhalten, ist interessiert am Fortbestehen von etwas Bestimmtem, was ihn selbst ausmacht. Unegoistisch ist das keineswegs (vgl. z. B. NK 69, 25), bloß nicht auf die Erhaltung des ganzen Egos ausgerichtet, sondern auf dessen (vermeintlich) Bestes. Zu MA I 57 gibt es in Mp XIV 1, 190 eine ‚Reinschrift‘, in der der letzte Satz 76, 26 f. noch fehlt. Gestrichen ist zudem am Ende: „Lichtenberg Mädchen!“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,190). Stingelin 1996, 98, Fn. 69 bezieht diesen gestrichenen Hinweis auf 76, 6–8: „Das liebende Mädchen wünscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an der Untreue des Geliebten bewähren könne“ und vermerkt zugleich, er müsse den „konkreten Nachweis […] schuldig bleiben“. Nun ist die pointenfreie Behauptung, ein „liebendes Mädchen“ würde die Untreue des Geliebten mit eigener Treue kompensieren, schwerlich eine, für die man die (satirische) Autorität Georg Christoph Lichtenbergs bräuchte, sondern nur ein Gemeinplatz. Wahrscheinlicher scheint es deshalb, dass sich N. auf Passagen bezieht, die bei Lichtenberg gerade den Egoismus in der vermeintlich rein altruistischen Liebe herausstreichen, so etwa im zweiten Band von Lichtenbergs Vermischten Schriften auf einer Seite, die in N.s Ausgabe mit einem Eselsohr markiert ist (NPB 355): „Die Ausdrücke H e r z v e r s c h e n k e n , G u n s t v e r s c h e n k e n, sind wieder poetische Blümchen. Kein Mädchen schenkt ihr Herz
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 56–57, KSA 2, S. 75–76
301
weg, sie verkauft es entweder für Geld oder Ehre, oder vertauscht es gegen ein anderes, wobei sie Vortheil hat, oder doch zu haben glaubt.“ (Lichtenberg 1867, 2, 240) Zu MA I 57 siehe auch Vattimo 1992, 44 f., Fornari 2009, 47–50, Salanskis 2013, 63 f. (dort die starke Abgrenzung in MA I 57 von Rée), Elgat 2015, Riccardi 2021, 215 u. Simonin 2022, 54. 76, 8–11 Der Soldat wünscht, dass er für sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle: denn in dem Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wünschen mit.] Zum ambivalenten Motiv des Soldaten in MA I und MA II siehe Rottmann 2021, 77. Zur soldatischen Opferbereitschaft, insbesondere zum Extremfall von Arnold Winkelried, der für Schopenhauer ein Leitstern der Uneigennützigkeit war (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 203), siehe NK 132, 14–16. 76, 14–16 Sind diese Thaten der Moralität W u n d e r, weil sie, nach dem Ausdrucke Schopenhauer’s, „unmöglich und doch wirklich“ sind?] Der Forschung ist bisher zwar nicht entgangen, dass sich die in Anführungszeichen gesetzten Worte bei Schopenhauer so nicht finden lassen, und sie hat mitunter allerlei Spekulationen über die mögliche Schopenhauer-Originalquelle angestellt (vgl. Nietzsche 2019, 1222, zur Interpretation auch Poellner 1995, 289, Zachriat 2001, 156, Legrand 2012, 290 u. Bishop 2020, 55). Dabei ist jedoch außer Betracht geblieben, dass es sich sehr wohl um ein Zitat handelt, nur eben nicht von Schopenhauer, sondern vielmehr von einem erklärten Schopenhauerianer und N.-Freund, nämlich von Paul Deussen aus dessen Buch Elemente der Metaphysik, das N. brieflich schroff kritisierte (KSB 5/KGB II 5, Nr. 642, S. 264 f., Z. 25–39), um es dennoch ohne Quellenangabe auszuplündern und als der eigenen exakt entgegengesetzte Position zu markieren, vgl. NK 23, 12–16. So verteidigt Deussen die Möglichkeit radikaler Selbstlosigkeit: „Indem wir nämlich, an der Hand der sichersten Erfahrung, das Handeln der Menschen untersuchen, welches im Allgemeinen, wie die ganze übrige Natur, ein Ausdruck der Bejahung des Willens zum Leben ist, stossen wir auf eine Reihe von Handlungen, welche aus der physischen Weltordnung sich nicht begreifen lassen, indem sie dieser Welt und ihren Gesetzen diametral entgegenstehen, ihnen in jedem Sinne widersprechen und sie gewissermassen völlig aus den Angeln heben: diese Phaenomene, welche sich nur als ein Durchbruch der Verneinung innerhalb der Sphaere der Bejahung begreifen lassen, sind die Thaten ächter Moralität. Sie werden als das E v a n g e l i u m einer bessern Weltordnung täglich vor unseren Augen gepredigt in einer Weise, der nicht widersprochen werden kann; sie sind im eigentlichsten und strengsten Sinne des Wortes W u n d e r, die sich immer neu um uns her begeben; und wenn alle andern Wunder dahinfallen, diese werden bleiben, – und es ist genug an ihnen. / Die Thaten der Moralität sind Wunder, weil sie (so seltsam es klingt) u n m ö g l i c h u n d d o c h
302
Menschliches, Allzumenschliches I
w i r k l i c h s i n d: das ist der Widerspruch, den sie in sich tragen, das ist das schwere Problem, welches sie dem denkenden Menschengeiste anliegen. Hierauf beruht es, dass moralische Untersuchungen, wie die wichtigsten, so auch die schwierigsten in der ganzen Philosophie sind.“ (Deussen 1877, 146) Deussen steht also für genau jene Position, die MA I 57 für Augenwischerei und Selbsttäuschung hält. 76, 26 f. In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.] Diesen Satz, der in Mp XIV 1, 190 noch fehlt, hat N. handschriftlich im von Köselitz gefertigten Druckmanuskript D 11, 39 ergänzt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,39). Das Wort „dividuum“ hat N., entgegen der Suggestion mancher Forscher, keineswegs erfunden. Es war ein Terminus technicus der antiken Grammatik, wie N. der von ihm schon 1869 der Basler Universitätsbibliothek entliehenen (Crescenzi 1994, 391) und öfter verwendeten (vgl. Zavatta 2014, 268– 272) Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern von Heymann Steinthal entnehmen konnte: „Priscian übersetzt den Dionysios: Dividuum est, quod a duobus vel amplioribus ad singulos habet rationem, und fügt hinzu: vel plures in numeros pares distributos, ut uterque, alteruter, quisque, singuli, bini, terni, centeni, also die Distributiva, von Priscian anderwärts (De figuris numerorum VI, 23. p. 1353. P.) Dispertitiva genannt.“ (Steinthal 1863, 616) Im Handbuch der Fremdwörter aus N.s persönlichem Buchbestand gibt es wie selbstverständlich ein Lemma für „Dividuum“: „Theilbares“ und für „Dividualität“: „Theilbarkeit“ (Petri 1861, 257). Aber auch unter Philosophen war der Begriff schon längst geläufig, so bei Ludwig Feuerbach, aus dessen lateinischer Erlanger Dissertation von 1828 Karl Grün in seiner Nachlassedition übersetzt: „Das individuelle Eins ist Eins neben und ausser andern Individuen, durch die Relation auf sie; aber das wahre Eins ist das Allgemeine, welches in seinem Begriffe nichts Anders enthält als sich selbst. Die T h e o l o g e n, welche G o t t a u s s e r h a l b d e r We l t s e t z e n, und dann vom P o l y t h e i s m u s der Philosophie reden, sind selbst P o l y t h e i s t e n; denn sie setzen Gott als das Eine, und das Andere daneben, sie machen Gott zum I n d i v i d u u m. Dagegen sollte das gewöhnliche Individuum eigentlich Dividuum heissen, d. h. getheilt in sich und Andere.“ (Grün 1874, 1, 212) Fornari 2015, 241 weist darauf hin, dass auch Friedrich Albert Lange das Individuum für nichts Gegebenes hält, wenn er Goethe zitiert: „J e d e s L e b e n d i g e‘, lehrt er, ‚e s i s t k e i n E i n z e l n e s , s o n d e r n e i n e M e h r h e i t ; s e l b s t i n sofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine V e r s a m m l u n g v o n l e b e n d i g e n s e l b s t ä n d i g e n W e s e n‘“ (Lange 1876– 1877, 2, 249; in Lange 1887, 579 hat N. diese Passage mit einem Randstrich markiert). Auch parallele Überlegungen bei Hippolyte Taine macht Fornari 2015, 241– 243 geltend.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 57–58, KSA 2, S. 76
303
Entgegen vielfacher späterer Inanspruchnahmen von N.s „dividuum“ als Marker für die moderne Subjektzersplitterung wird in MA I 57 keineswegs eine allgemeine Theorie der Subjektivität oder (In-)Dividualität skizziert. 76, 26 f. kann schwerlich als Beleg dafür dienen, dass das „porous self“ aus der verzauberten Vorneuzeit, das nach Charles Taylors These in der entzauberten Neuzeit einem „buffered self“, einem allseits autonomen und abgepufferten Selbst gewichen sei (siehe z. B. Taylor 2018, 221–295), nun bereits wieder in Porosität zurücksinke. Das Argument von MA I 57 besagt nur, dass sich Menschen offensichtlich nicht als unteilbar verstehen – sie „behandel[n]“ sich nicht als Individuen –, wenn es um das geht, was ihnen „moralisch“ wertvoll ist, sondern dass sie bereit sind, um einer ihnen besonders wichtigen Sache willen mitunter sogar sich selbst als (moralische) Akteure preiszugeben. Dies impliziert, dass es in einem ‚Individuum‘ mehrere divergierende Tendenzen gibt und dann eine die Oberhand gewinnt und die anderen ausschaltet, sich also eine Kraft – ein „Wunsch, Trieb, Verlangen“ (76, 24) – durchsetzt. N.s „dividuum“ ist vielfach Gegenstand von (divergierenden) Interpretationen geworden, siehe z. B. Hamacher 1986, 319, Ansell-Pearson 1987, 328, Deleuze 1993, 258, Deleuze 1996, 30, Gödde 2002, 172, Skowron 2002, 12, Joisten 2004, 201, Hatab 2008, 172, Bornedal 2010, 191 f. u. 214–222, Piazzesi 2010a, 202, Gerhardt 2011, 234–236, Constâncio 2015, 86, Bianchi 2018, 444, Rotter 2019, 78, Bishop 2020, 54 f. u. Imasaki 2020, 23–25. N. selbst benutzt den Ausdruck nur noch in NL 1884, KSA 11, 25[159], 55, 18–20: „Absoluter Widerspruch – der Mensch ein Dividuum zweier feindseligen Mächte, die zu einander nur N e i n sagen.“
58. Versprechen-Können bezieht sich nach MA I 58 nicht auf „Empfindungen“ – denn die sind jeder bewussten Entscheidung entzogen –, sondern ausschließlich auf „Handlungen“ (76, 30 f.). Entsprechend könne eigentlich niemand ewig zu lieben versprechen, sondern nur, stetig – unabhängig von seinen tatsächlichen Empfindungen – die Handlungen zu vollziehen, die den Anschein machen, sie entsprängen der Liebe, führten doch „zu einer Handlung […] mehrere Wege und Motive“ (77, 4 f.). In diesem Abschnitt überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, dass man seine künftigen Handlungen sehr wohl voraussehen und versprechen könne. Setzt das nicht eine Form der Willensfreiheit voraus, die MA I 39 doch gerade kassiert hatte? Nimmt man hingegen an, es sei keine Willensfreiheit vonnöten, da ja alle Handlungen determiniert seien, also auch die künftigen von der jetzigen Situation, von der bisherigen Ausprägung des Charakters,
304
Menschliches, Allzumenschliches I
muss die Behauptung irritieren, dass „Empfindungen“ gerade nicht dadurch bestimmt seien. Sind sie also frei im Sinne von nicht-determiniert? Wäre dann in den „unwillkürlich[en]“ (76, 31) Empfindungen das letzte Residuum der Freiheit anzutreffen? Das Thema des Versprechens als Movens menschlicher Entwicklung rückt dann in GM II 1 in den Vordergrund, vgl. NK KSA 5, 291, 5–7. Zu MA I 58 gibt es in Mp XIV 1, 271 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,271). Eine Notiz in N II 1, 9 lautet: „Man kann eine Handlung aber keine Empfindungen versprechen. Denn zu jeder Handl führen verschiedene Motive.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-1,9) U II 5, 85 bietet eine bereits weitgehend ausgearbeitete Version, die mit den Worten endet: „so daß der Schein der ˹unveränderlichen˺ Liebe bestehen bleibt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,85). Der in der Druckversion hinzukommende Satz 77, 11–13 fehlt noch. 77, 9 f. der Schein in den Köpfen der Mitmenschen bestehen bleibt] In die ‚Reinschrift‘ Brenners von N. nachträglich eingefügt: „in den Köpfen der Mitmenschen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,271). 77, 12 f. , wenn man ohne Selbstverblendung Jemandem immerwährende Liebe gelobt] Von N. nachträglich in die ‚Reinschrift‘ Brenners eingefügt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,271).
59. An den Beispielen von Versprechen-Können (vgl. MA I 58) und Mitleid (vgl. z. B. MA I 46, 47 u. 50) will der kurze Abschnitt MA I 59 veranschaulichen, dass für das „Moral“ (77, 19) Genannte bestimmte kognitive Fähigkeiten unerlässlich sind, nämlich im ersten Fall Gedächtnis und im zweiten Fall Einbildungskraft. Wer über diese Fähigkeiten nicht verfügt, kann damit nicht ‚moralisch‘ in einem modernen Sinn sein. Zumindest diese beiden Beispiele lassen es nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass es einen von diesen kognitiven Fähigkeiten unabhängigen moralischen Sinn gibt – ohne dass MA I 59 das eigens thematisieren müsste. Zu MA I 59 gibt es in Mp XIV 1, 294 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,294) sowie eine frühere, fast textidentische (bloß „Mitleiden“ statt „Mitleid“, 77, 18) in M I 1, 45, die Heinrich Köselitz nach N.s Diktat angefertigt hat (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,45). Eine noch rudimentäre Vorarbeit findet sich in U II 5, 193 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,193).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 58–60, KSA 2, S. 77
305
60. MA I 60 unterscheidet zwischen dem „Rachegedanken“ (77, 23), der sich unmittelbar in der Tat abreagieren kann, und demjenigen, dem diese Abreaktion verwehrt bleibt und sich so in ein „chronisches Leiden“ (77, 26) verwandle. „Die Moral“ (77, 27) verurteile beides im Blick auf die identischen „Absichten“ (77, 28). Gemeint ist offenbar eine maximenorientierte Ethik beispielsweise kantischen Zuschnitts, wohingegen „für gewöhnlich“ (77, 28) der sich in der Tat manifestierende Rachegedanke wegen seiner realen Konsequenzen als verwerflicher angesehen werde. Der Schlusssatz schickt hinterher, dass beide Beurteilungen, also sowohl die maximenorientierte als auch die konsequentialistische, „kurzsichtig“ (77, 31) seien, ohne eine eigene langsichtige Alternative anzubieten. Dennoch liegt die Annahme auf der Hand, der Sprecher favorisiere eine dritte, unausgesprochene Option, dass nämlich der lang gehegte, chronifizierte „Rachegedanke“, dem die Möglichkeit der Verwirklichung in einer Tat verschlossen bleibt, tatsächlich der eigentlich „schlimmere[.]“ (77, 29) sei – die dafür benutzte Metaphorik der „Vergiftung an Leib und Seele“ (77, 26 f.) im Kontrast zur Tatrache als „Fieberanfall“ (77, 24) legt dies ebenso nahe wie N.s spätere Analyse des chronifizierten „Rachegedankens“ unter dem Begriff des Ressentiments. Schon 1875 hat N. das Wort „Ressentiment“ aus Eugen Dührings Werth des Lebens exzerpiert (NL 1875, KSA 8, 9[1], 176, 17–19), es aber erst von GM I 10 an in einem von Dühring abweichenden, umgeprägten Sinn in einem gedruckten Werk zum Einsatz gebracht (vgl. NK KSA 5, 270, 25–271, 1 u. NK KSA 6, 70, 21). Dühring 1865, 219 hatte feststellen wollen: „Das Rechtsgefühl ist wesentlich ein Ressentiment, eine reactive Empfindung, d. h. es gehört mit der Rache in dieselbe Gefühlsgattung.“ (N.s Unterstreichung) „Stets bleibt aber das Rachegefühl der Grund des Strebens, dass den Verletzer ein Uebel treffe. Nur wenn Letzteres geschieht, wird der Trieb, der die Vergeltung fordert, befriedigt.“ (Ebd., 221; N.s Unterstreichung) Und genau dies ist das Ausgangsproblem von MA I 60 und von N.s späteren Ressentimentanalysen: Was geschieht trieblogisch, wenn das Vergeltungsbedürfnis nicht befriedigt werden kann? Das Thema der Rache beschäftigt auch Paul Rée intensiv, er bleibt aber in Schopenhauers Fahrwasser, wenn er sich implizit gegen Dührings Herleitung des Gerechtigkeitsempfindens aus der Rache verwahrt: „Diesem analog ist die Süssigkeit der Rache zu erklären. Nämlich: Wenn Jemand uns ein Leid zufügt, /106/ so beweist er hierdurch seine Macht, seine Superiorität über uns. Falls wir nun im Stande sind, ihm selbst ein ähnliches, wenn möglich ein noch grösseres Leid wiederzuthun, so widerlegen wir den Beweis seiner Superiorität über uns, und zeigen, dass vielmehr wir ihm superior sind, wenigstens ihm gleichstehen. (Dieselbe Erklärung giebt Schopenhauer). Das Vergnügen, Jemanden wieder zu ärgern
306
Menschliches, Allzumenschliches I
hat denselben Ursprung. / Mit der Rachlust ist nicht das Gerechtigkeitsgefühl zu verwechseln. Vermöge dieses Gefühls fordern wir, dass den, welcher schlecht handelt, ein Leid als vergeltende Strafe treffe, – gleichviel ob er seine Schlechtigkeit gegen uns oder gegen andere richtet: es ist gerecht, dass ihn Strafe trifft. ([…]). Rache dagegen nehmen wir nur an dem, welcher uns oder die Unsrigen schädigt, und hierzu treibt uns nicht ein Gefühl der Gerechtigkeit, sondern, wie gesagt, der Wunsch, unsere Macht, unsere Superiorität fühlen zu lassen. Der Ursprung der Rachlust ist die Eitelkeit (das Vergnügen, sich ausgezeichnet, superior, über dem zu fühlen, der seine Superiorität über uns beweisen wollte), der Ursprung des Gerechtigkeitsgefühls die Gewohnheit, vermöge deren wir von Jugend auf Verbrechen und Strafe als zwei gerechterweise zusammen gehörige Dinge ansehen. Auch halten wir, in Folge unserer Erziehung, das Gerechtigkeitsgefühl für lobenswerth, Rachlust aber für tadelnswerth. (Bei den Griechen galt auch die Rachlust als lobenswerth). Jedoch, trotz unserer Erziehung; trotzdem wir die Rachlust tadelnswerth finden, sympathisiren wir unwillkürlich mit dem, welcher sich /107/ rächt: er ist kein Schwächling, lässt sich nichts bieten, wir würden es ebenso machen, wie er.“ (Rée 1877, 105–107 = Rée 2004, 189 f.) Zu MA I 60 gibt es in Mp XIV 1, 136 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,136). 77, 26 f. eine Vergiftung an Leib und Seele] Die toxikologische Metapher kehrt in GM I 10 im selben Kontext wieder, wo dann behauptet werden wird, das „Ressentiment“ provoziere bei Vornehmen eine Sofortreaktion, die die Vergiftung dann gerade verhindere, vgl. NK KSA 5, 273, 12–17.
61. MA I 61 ist eine pointenfreie Zwischenreflexion auf die Tugend des Warten-Könnens (vgl. demgegenüber MA I 310, KSA 2, 242), die ihre Beobachtungen an der Weltliteratur und an der Praxis des Duells erhärten will, dass es fatale Konsequenzen habe, nicht warten zu können. Das Thema wird N. beispielsweise in Baltasar Graciáns Hand-Orakel untergekommen sein: „Warten können. Es beweist ein großes Herz mit Reichthum an Geduld, wenn man nie in eiliger Hitze, nie leidenschaftlich ist. Erst sei man Herr über sich; so wird man es nachher über Andere seyn. Nur durch die weiten Räume der Zeit gelangt man zum Mittelpunkte der Gelegenheit. Weise Zurückhaltung bringt die richtigen, lange geheim zu haltenden Beschlüsse zur Reife. Die Brücke der Zeit richtet mehr aus als die eiserne Keule des Hercules. Gott selbst züchtigt nicht mit dem Knittel, sondern mit der Zeit. Es war ein großes Wort: ‚die Zeit und ich nehmen es mit zwei
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 60–61, KSA 2, S. 77–78
307
Andern auf.‘ Das Glück selbst krönt das Warten durch die Größe des Lohns.“ (Gracián 1877, 35) Vgl. Ure 2005, 194. Zu MA I 61 gibt es in Mp XIV 1, 130 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „A“ und noch ohne die spätere Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,130). Eine Vorarbeit findet sich in U II 5, 36, in der die Abfolge der einzelnen Stationen – Othello, Aias, Duell – noch anders verläuft als in MA I 61: „Wenn einer sich sagt: entweder lebe ich weiter, dann muß jener Feind sterben oder umgekehrt – ist das Duell vernünftig. Der zurathende Freund hat nur festzustellen, ob das eine vorübergehende Stimmung oder ein dauernder Zustand ist. In jedem Falle wird er rathen zu warten. Viele Tragödien entstehen, weil man nicht einen Tag wartet: dies ist das Motiv des Ajax, dessen Selbstmord schon am Tage darauf nicht mehr ihm nöthig erschienen wäre: er würde ein Schnippchen geschlagen haben. Daher das Orakel. Das Motiv vieler Tragödien (zB Othello) ist daß die Leidenschaft oft nicht warten will. u das Tragische im Leben großer Männer kommt häufig daher daß sie ihr Werk ein ganzes Jahr zu früh wollten.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,36) Der letzte Satz wurde mit anderer Tinte nachträglich von N. hinzugefügt. 78, 2–5 Das Warten-können ist so schwer, dass die grössten Dichter es nicht verschmäht haben, das Nicht-warten-können zum Motiv ihrer Dichtungen zu machen. So Shakespeare im Othello] Hätte der Titelheld von William Shakespeares Tragödie The Tragœdy of Othello, The Moore of Venice (1603/04) ein wenig zugewartet, bevor er seine Gattin Desdemona wegen des abhanden gekommenen, bei ihrem vermeintlichen Liebhaber Cassio wieder aufgetauchten Taschentuchs erdrosselte (5. Akt, 2. Szene), wären ihm der Suizid und die Tragödie erspart geblieben. Denn dann hätte sich Iagos Intrige bald aufgeklärt. In N.s veröffentlichtem Werk ist MA I 61 der einzige Text, der ausdrücklich auf Othello zu sprechen kommt; eine Anspielung gibt es noch in JGB 224, vgl. NK KSA 5, 159, 4–11. In seiner Vorlesung Prolegomena zu den Choephoren des Aeschylus (1869–1878) erwähnt N. Georg Gottfried Gervinus’ Othello-Deutung (KGW II 2, 26, 14 f.). Gervinus hat freilich in seinem Shakespeare-Buch gerade betont, wie langsam Othellos Eifersucht und Misstrauen aufgekocht seien, bis er dann „in der Ruhe des Richters“ zum Morde schritt (Gervinus 1849, 3, 231). Zu Gervinus’ Shakespeare siehe auch NK KSA 1, 135, 18 u. NK KSA 1, 143, 6 f. 78, 5–14 Sophokles im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine Empfindung hätte abkühlen lassen, nicht mehr nöthig geschienen hätte, wie der Orakelspruch andeutet; wahrscheinlich würde er den schrecklichen Einflüsterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen geschlagen und zu sich gesprochen haben: wer hat denn nicht schon, in meinem Falle, ein Schaf für einen Helden angesehen? ist es denn so etwas Ungeheures? Im Gegentheil, es ist nur etwas allge-
308
Menschliches, Allzumenschliches I
mein Menschliches: Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen.] In Sophokles’ Tragödie Αἴας (ca. 455–449 v. Chr.) bekommt während des Trojanischen Krieges nach dem Willen der anderen Feldherren der Griechen nicht der Titelheld, sondern Odysseus die Waffen des gefallenen Achill zugesprochen, was Aias gegen sie aufbringt. Anstatt aber nun wie gedacht die Generäle metzelt er in Verblendung eine Viehherde und steht nun vermeintlich entehrt da, so dass er sich nur mit Suizid zu helfen weiß. Aias ist bei N. für kulturhistorische Grundsatzüberlegungen ein gerngesehener Gast, so prominent in FW 135, siehe NK KSA 3, 487, 9–14. In seiner Vorlesung zur Geschichte der griechischen Litteratur (1874/75) gibt N. eine ausführliche Inhaltszusammenfassung von Sophokles’ Tragödie, die er selbst bereits in der Schulzeit gelesen und seinerseits den Schülern am Basler Paedagogium nahegebracht hatte. „[Sophokles’ Tragödie] Αἴας μαστιγοϕόρος steht im cod. Florent. voran (dann Electra Oedip. tyr. Antigone Trachiniae Philoctet Oed. Colon.) Zuerst sind wir am Meeresstrand vor Troja, Ajas Zelt im Hintergrund. Die eigentl. Aktion schon vorüber, der Streit des Ajas u. Od. um die Waffen des Achill, die Atriden entscheiden zu Gunsten des Odyss. Ajas wird darüber rasend, macht Nachts einen Angriff auf die Heerden, tödtet Hirten u. Rinder u. schleppt noch die größten Widder ins Zelt, im Glauben es seien die Atriden. Zuerst Odyss. u. Athene, diese ruft dann den Ajas heraus. Dann kommt der Chor, Genossen und Schiffsleute des A., das Gerücht ist verbreitet. Tekmessa bestätigt es. Jetzt hört man Ajas jammern, Tekm. öffnet das Zelt, man sieht ihn in blutigem Aufzug sitzen. Das Bewußtsein überkommt ihn, er jammert über seine Schmach, ruft den kleinen Sohn Eurysakes herbei und bestellt sein Haus. Dann spricht er mit Tekmessa in zweideutigen Reden, sie habe ihn erweicht, sein Übermuth sei zu weit gegangen, er müsse jetzt sein unseliges Schwert die Ursache von allem, das Erbstück Hectors, am Strande vergraben und sich sühnen. Der Chor singt ein Jubellied. Ein Bote, von Teukros gesandt meldet man dürfe heute den Ajas nicht aus dem Zelt lassen, ihm drohe nach der Prophezeiung des Kalchas Unheil. Man erschrickt und eilt ihn zu suchen. Jetzt ein einsamer Platz am Meer. Monolog des Ajas; er ist lächerlich geworden, er der tapferste Held, es thut ihm weh, von der Sonne zu scheiden, aber er kann die Veränderung der δόξα nicht ertragen. Er stürzt sich in sein Schwert. Nun kommen die Suchenden. Jammer und Weh. Teukros kommt auch, um nun mit Tekm. das Begräbniß vorzubereiten, Menelaus fordert daß der Leichnam unbegraben bleibe, weil er den Atriden nach dem Leben gestellt. Reichlicher Wortwechsel. Dann noch einmal zwischen Teukros u. Agamemnon Endlich bringt Odyss. mit kluger Mäßigung den Handel ins Reine. Od. betheiligt sich aus Zartheit nicht selbst am Begräbniß. – Zu Grunde liegt diese Motivirung. Athena ist früher einmal von Ajas gekränkt (er hat ihre Hülfe einmal verschmäht), sie nimmt Rache, indem sie sein Rachewerk vereitelt und ins Lächerliche umbiegt: so treibt sie ihn zum Selbstmord. Odyss. ist dann der Vertreter
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 61, KSA 2, S. 78
309
der Athene; indem er für das Begräbniß sorgt, sorgt er daß die Rache der Göttin nicht ins Maaßlose geht: er selbst benimmt sich edelmüthig gegen seine Feinde. Welch trauriges Bild von dem Walten der Götter! Neidisch und rachsüchtig; erst auf dem Grabe ruht ihre Rache. – Und dann Selbstmord, weil man spottet, noch dazu über eine in Wahnsinn begangene Handlung, die nicht zum Spott dient u. nicht imputabel ist.“ (KGW II 5, 108, 1–109, 9) Dass N. seine liebe Mühe hatte, Aias’ Suizid nachzuvollziehen, belegt auch NL 1877, KSA 8, 22[60], 389, 12 f.: „Selbstmord, bei Ajax um das überreizte Ehrgefühl zu befriedigen.“ (Vgl. dazu NK ÜK MA I 365.) Der „Orakelspruch“, von dem 78, 8 spricht, sind die Verse 756 f. von Sophokles’ Tragödie: „ἐλᾷ γὰρ αὐτὸν τῇδε θἠμέρᾳ μόνῃ / δίας Ἀθάνας μῆνις, ὡς ἔφη λέγων.“ („Denn heut’ an diesem Tag allein verfolge ihn / Der Himmels-Pallas Grollen, sagt, versichert er.“ – Sophokles 1851, 87) Diese Prophezeiung des Kalchas legt nahe, dass der Zorn Athenes verraucht und die Sache glimpflich ausgegangen wäre, hätte man Aias nur den einen Tag im Zelt festgehalten. Auch in der neueren Sophokles-Forschung wird die Lesart von MA I 61 noch diskutiert, auch wenn Lefèvre 2001, 62, Fn. 112 N.s Diagnose übereilter Leidenschaft nicht teilt. 78, 14–18 das Tragische im Leben grosser Männer liegt häufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zeit und der Niedrigkeit ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfähigkeit, ein Jahr, zwei Jahre ihr Werk zu verschieben; sie können nicht warten] Das impliziert eine denkbar große Depotenzierung und Ausnüchterung des Tragischen, das N. in GT ja noch so hoch gehängt hatte – und mit ihm Schopenhauer und Wagner. Das Tragische – alles Tragische? – wird auf ein spezifisches psychisches Unvermögen, eigentlich auf eine Krankheit des Willens zurückgeführt, nämlich auf einen Mangel an Geduld. 78, 18–20 Bei allen Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die betheiligten Personen noch warten können] In der oben in NK ÜK MA I 61 zitierten Aufzeichnung U II 5, 36 steht das Duell an der Spitze der Erörterung, das entsprechend dort den Hauptakzent erhält. Schon in ZB I, KSA 1, 657 f. trat ein Schopenhauer ähnlicher Philosoph auf, der vermeintlich ein Duell unter Studenten verhindert. Schopenhauer stand dem Duell sehr kritisch gegenüber. Das Duell kehrt bei N. häufiger wieder, so auch in MA I 365, KSA 2, 256 und in M 296, KSA 3, 220. Zur Etymologie siehe NK KSA 5, 264, 9–15, zum Motiv ausführlich NK KSA 6, 274, 18 f., ferner Rée 1877, 111 f. = Rée 2004, 193. In der zeitgenössischen Literatur zum Duell lässt sich zwar nicht die Forderung nachweisen, dass die „Freunde“ auf das Warten zu drängen hätten, aber doch immerhin auf eine möglichst gütliche Einigung. In der deutschen Übersetzung von Louis Alfred Le Blanc Comte de Chatauvillards Essai sur le duel heißt es beispielsweise: „Jeder der Streitenden soll beim Pistolen- und Säbel-Duelle zwei
310
Menschliches, Allzumenschliches I
Zeugen haben. […] Die Zeugen sollen beurtheilen, ob der Kampf nothwendig oder unnöthig sei, und dem, dessen Sache sie vertreten, ihre Ansichten mittheilen, […]. Nachdem sie sich mit dem Streitenden, dem sie beistehen, berathen haben, um keinen Vortheil für ihn zu übersehen, so sollen sie sich wieder vereinigen und ihr Möglichstes thun, um die Sache, wenn es mit Ehren geschehen kann, im Guten abzumachen“ (Chatauvillard 1864, 7).
62. MA I 62 attestiert „[g]robe[n] Menschen“ (78, 28) einen Hang zur Übertreibung bei Beleidigungen, wollten die doch das „Hass- und Rachegefühl“ (78, 31 f.) auskosten. Das malt die psychologische Trivialität weiter aus, wonach Beleidigung Rache provozieren muss, wie das Carl Julius Weber in seinem unter N.s Büchern erhaltenen Demokritos artig schildert: „sollen wir Beleidigungen in die Tasche stecken wie ein Schnupftuch? Ich glaube, selbst Beleidigungen in Worten müssen gehörig zurückgewiesen werden, weil es weiter führt und am Ende der elendeste Knappe Muth erhält, an uns zum Ritter zu werden in Geberden, Worten und Werken. Die Natur scheint uns ein gewisses Haß- und Rachegefühl zu unserer Selbsterhaltung gegeben zu haben; außer dem Staate war es nothwendig sogar, im Staate nicht, und Bildung hält es ohnehin in Schranken; aber so eine kleine Wiedervergeltung kann nicht schaden“ ([Weber] 1868, 5, 128). Zu MA I 62 gibt es in Mp XIV 1, 71 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,71). 78, 30 f. mit stark übertreibenden Worten] In Mp XIV 1, 71 korrigiert aus: „stark“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,71). 78, 32 sich recht ausschwelgen] In Mp XIV 1, 71 korrigiert aus: „recht schwelgen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,71).
63. Laut MA I 63 erhält der weitverbreitete Hang zur Herabsetzung anderer in der „Vorstellung“ (79, 6) immerhin die „Selbstachtung“ und ermöglicht tüchtiges „Handeln“ (79, 3 f.). Die dazu neigenden, geringerwertigen Menschen seien die Mehrheit und da man dieser Tüchtigkeit bedürfe, „so – “ (79, 8). Der Satz bricht hier ab und der vermutlich nicht der Masse „geringe[r] Naturen“ (79, 7) angehörende Leser soll ergänzen, vielleicht im Sinne von: ‚so soll man niemanden daran hindern, andere herabzusetzen, wenn es denn der allgemeinen Aktivitätsbilanz
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 61–64, KSA 2, S. 78
311
dient‘. Das macht NL 1877/78, KSA 8, 26[1], 486 explizit – ein Text, der im Druckmanuskript D 11, 195 ursprünglich zwischen MA I 599 und MA I 600 platziert gewesen ist, siehe NK ÜK MA I 600. Auf diese Explizitheit verzichtet der Drucktext von MA I 63, um spielerisch eine Unterscheidung zwischen „geringen“ und überlegenen „Naturen“ nicht nur zu etablieren – sie fehlt in 26[1] –, sondern sie gleich auch praktisch (und ironisch?) umzusetzen. Freilich erfordert die Ergänzung des Satzes keine intellektuelle Meisterschaft; sie zustande zu bringen, schmeichelt der Eitelkeit – womöglich gerade der eigentlich „geringen Naturen“, die sich nun etwas auf ihre Ingeniosität einbilden können. Schopenhauer hatte sich noch in Rage geredet angesichts der „Verkleinerungssucht“, mit der Unberufene bedeutenden Geistern am Zeug flicken zu können glaubten, indem sie biographische Intima ausgrüben: „Dafür nämlich, daß ein großer Geist ihnen die Schätze seines Innersten eröffnet und durch die äußerste Anstrengung seiner Kräfte Werke hervorgebracht hat, welche nicht nur ihnen, sondern auch ihren Nachkommen, bis in die zehnte, ja zwanzigste Generation zur Erhebung und Erleuchtung gereichen, dafür also, daß er der Menschheit ein Geschenk /91/ gemacht hat, dem kein anderes gleichkommt, dafür halten diese Buben sich berechtigt, seine moralische Person vor ihren Richterstuhl zu ziehn, um zu sehn, ob sie nicht dort irgend einen Makel an ihm entdecken können, zur Linderung der Pein, die sie in ihres Nichts durchbohrendem Gefühl beim Anblick eines großen Geistes empfinden. Daher rühren z. B. die weitläufigen, in unzähligen Büchern und Journalen geführten Untersuchungen des Lebens Göthe’s von der moralischen Seite, wie etwan, ob er nicht dieses oder jenes Mädel, mit dem er als Jüngling eine Liebelei gehabt, hätte heirathen sollen und müssen; ob er nicht hätte sollen, statt bloß redlich dem Dienste seines Herrn obzuliegen, ein Mann des Volks, ein deutscher Patriot, würdig eines Sitzes in der Paulskirche, seyn u. dgl. m. – Durch solchen schreienden Undank und hämische Verkleinerungssucht, beweisen jene unberufenen Richter, daß sie moralisch eben solche Lumpe sind, wie intellektuell, – womit viel gesagt ist.“ (Schopenhauer 1873–1874, 6, 90 f.)
64. Nicht nur das Aufbrausende, Wilde und physisch Furchterregende stellt MA I 64 als Atavismus dar, sondern ebenso den „kalte[n] Blick, welchen Vornehme gegen ihre Bedienten haben“ (79, 17 f.), und überdies insbesondere „die Frauen“ (79, 20). Was in N.s späten Werken unter dem Stichwort „Pathos der Distanz“ (vgl. NK KSA 5, 205, 9–20) geradezu als Selbstbehauptungs- und Selbstermächtigungsformel der intellektuell hochgearteten großen Individuen gilt – als Signum männli-
312
Menschliches, Allzumenschliches I
cher Herrschergestalten, keineswegs von Frauen! – und explizit auf vormoderne, hierarchisch geschichtete Gesellschaften zurückgeführt wird, mit deren Revival der Sprecher in diesen Werken von JGB über GM bis AC zu sympathisieren scheint, stellt in MA I 64 nur das Überbleibsel einer eigentlich überwundenen Kulturform dar, für die es keine positiven, zukunftsweisenden Anschlussmöglichkeiten in der Gegenwart gibt. Zu MA I 64 gibt es in Mp XIV 1, 204 eine ‚Reinschrift‘. Dort folgt nach dem Schluss des nachmaligen Drucktextes in 79, 21 nach einem Gedankenstrich: „Gegen solche zurückgebliebne Menschen ist Nothwehr am Platz dh. eine Art sich zu helfen, welche auch nur in früheren Culturen gewachsen ist: aber wir werden in diese zurückgeführt, wenn jemand zu grob u zurückgeblieben ist, um den verfeinerten Geist zu verstehen: die beste Art der Nothwehr ist deutlich ausgedrückte Verachtung: ein kaltes höhnisches Wort gegen den Aufbrausenden, ein Lächeln mit Handgebärde als Wirkung gegen den bösen kalten Blick.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,204) Die alte kastenmäßige Verachtung gilt in dieser ungedruckt gebliebenen Coda also keineswegs als kulturell besonders avanciert und nachahmenswert, vielmehr als Atavismus, gegen den man sich zur Wehr setzen muss. 79, 15 f. Sichtbarwerdenlassen der physischen Wildheit] Im Druckmanuskript D 11, 41 korrigiert aus: „die Appellation an die physische Wildheit“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,41). So stand es auch in Mp XIV 1, 204. 79, 21 Survival] Das englische Wort „Survival“ kommt ansonsten bei N. nur noch in NL 1877, KSA 8, 24[2], 477, 27 vor. N. hat es aus der ethnologisch-kulturanthropologischen Literatur aufgeschnappt. In Edward Burnett Tylors Anfängen der Cultur notieren die Übersetzer in einer Fußnote zum Kapitel „Ueberlebsel in der Cultur“, dass sie „für survival das vielleicht etwas unbeholfene ‚Ueberlebsel‘“ gebrauchen (Tylor 1873, 1, 72, Fn. 1). In dem unter N.s Büchern erhaltenen Werk Der Ursprung der Nationen von Walter Bagehot wird das Gemeinte illustriert: „Es gibt noch heutigentags Leute, die in ihrem Hause nicht gestatten, dass sich dreizehn zu Tisch setzen. Sie fürchten nicht für sich persönlich Unheil davon, aber sie können nicht den Gedanken los werden, dass einer oder der andere von der Gesellschaft Schaden dadurch erleiden könnte. Das ist dasjenige, was Herr Tylor ‚Ueberlebsel‘ nennt.“ (Bagehot 1874, 159) Und die Übersetzerfußnote fügt hinzu: „Engl. ‚survival‘“ (ebd., Fn. 1) und verweist auf die Tylor-Stelle. In NL 1875, KSA 8, 5[155], 83, 4 f. gilt der religiöse Kultus als „‚Überlebsel‘“. Vgl. NK 186, 19–23.
65. MA I 65 erzählt die Geschichte von jemandem, der zu offenherzig über die Motive seines Handelns Auskunft gab und damit sich dem allgemeinen Misstrauen, der
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 64–66, KSA 2, S. 79–80
313
„Justiz“ (79, 29) und endlich einem „frühzeitige[n] Tod“ (80, 4) auslieferte. Die Gegengeschichte desjenigen, der stirbt, weil er sich nie zu seiner eigenen Meinung bekennt, rapportiert MA I 73. Der Abschnitt, zu dem es keine weiteren Vorarbeiten zu geben scheint außer der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 199 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,199), bleibt rätselhaft, fragt man sich doch, wessen Geschichte hier erzählt wird. Zunächst mag man an Helden der Parrhesie von Sokrates bis Jesus denken, die ihre Freimütigkeit mit dem Leben bezahlt haben. Indes gilt für sie gerade nicht, was MA I 65 behauptet, dass nämlich ihre Motive „so gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen“ (79, 25 f.). Als mögliche Warnung an offenherzige Freunde wie Malwida von Meysenbug und Paul Rée, ihr intellektueller Freimut könne sie ein böses Ende nehmen lassen, wäre MA I 65 wohl zu dick aufgetragen. Bemerkenswert ist überdies, dass in den ursprünglichen Versionen die Todesart des Akteurs spezifiziert worden ist, nämlich ausdrücklich der „Galgen“ (siehe NK 79, 23 u. NK 80, 3 f.) und nicht etwa das Schafott. Das Galgenmotiv wiederum lässt an Aphorismen wie den folgenden von Paul Rée denken: „Wer, wenn er sich ganz natürlich beträgt, nicht den Stock oder gar den Galgen verwirkt, gehört zu den außergewöhnlichen Menschen.“ ([Rée] 1875, 49 = Rée 2004, 80) Auch gibt es eine Reihe literarischer Helden, die am Galgen enden, so die Titelfigur von Henry Fieldings The Life and Death of Jonathan Wild, the Great (1743; N. dürfte immerhin Fieldings Tom Jones gelesen haben, vgl. NK KSA 5, 162, 10–12) oder Fagin in Charles Dickens’ Oliver Twist (1837/39), aber diese sterben nicht, weil sie zu freimütig über ihre Motive sprächen. Das tut Julien Sorel – der Protagonist in Stendhals Le Rouge et le Noir (1830) – auch nicht, vielmehr bestimmt die Heuchelei all seine Äußerungen, und er stirbt auf dem Schafott, nicht am Galgen. Dass N. die Ballade des pendus (1462) von François Villon bekannt gewesen wäre, lässt sich nicht nachweisen. 79, 23 Wo h i n d i e E h r l i c h k e i t f ü h r e n k a n n] Im Druckmanuskript D 11, 41 korrigiert aus: „Ehrlichkeit führt an den Galgen“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,41). 80, 3 f. brachten ihn zu Gefängniss und frühzeitigem Tod] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „brachten ihn zuletzt an den Galgen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/97/). So stand es auch in D 11, 41.
66. Der sehr kurze Abschnitt MA I 66 behauptet, es sei „[u]nser Verbrechen“ (80, 6) an Verbrechern, mit ihnen so umzugehen, als wären sie „Schufte“ (80, 7). Gemeint
314
Menschliches, Allzumenschliches I
ist damit wohl, dass „wir“ die Verbrecher moralisch verurteilen, was dann unsinnig wäre, wenn sie gar keine Freiheit zu ihren Verbrechen hätten, sondern es täten, weil sie dazu determiniert sind. Dass dieses Urteil selbst ein „Verbrechen“ sei, insinuiert dann, dass auch „wir“ nichts für unser Urteil können, sondern gleichfalls dazu genötigt sind, es zu fällen – durch die zwingende Kraft der uns bestimmenden Umstände, zu denen auch das Moralkorsett gehört. Zu MA I 66 gibt es in Mp XIV 1, 339 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,339). Textidentisch findet sich der Satz – wie in der ‚Reinschrift‘ ohne Titel – in U II 5, 121, dort von N.s Hand (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,121). Eine Fassung in NL 1876, KSA 8, 18[51], 328, 21–25 ist elaborationsfreudiger: „Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln. Ich wünschte einmal, die Definition des Schuftes zu hören. Das eigentlich Schuftige scheint für das Auge der Justiz unerkennbar zu sein und desshalb erreicht auch ihr Arm es nicht.“ In Za I Vom bleichen Verbrecher kehrt das Motiv wieder: „‚Feind‘ sollt ihr sagen, aber nicht ‚Bösewicht‘; ‚Kranker‘ sollt ihr sagen, aber nicht ‚Schuft‘; ‚Thor‘ sollt ihr sagen, aber nicht ‚Sünder‘.“ (KSA 4, 45, 18–20) 80, 7 Schufte] Vgl. Grimm 1854–1971, 18, 1836 im Lemma Schuft: „im heute gewöhnlichen, schärferen sinne ‚nichtswürdiger, erbärmlicher mensch‘“.
67. MA I 67 spielt auf die Szene bei der Hinrichtung von Jan Hus am Scheiterhaufen an (vgl. NK 80, 9) und verallgemeinert das Verhalten der alten Frau auf den gemeinhin gepflegten Umgang mit Delinquenten oder solchen, die als (moralisch) verurteilt gelten: Man tritt oft noch nach, um seine moralische Überlegenheit allseits sichtbar auszustellen. Zu MA I 67 gibt es in Mp XIV 1, 331 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, deren erster Halbsatz vor einer Korrektur lautete: „Jede Tugend giebt Vorrechte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,331). 80, 9 S a n c t a s i m p l i c i t a s d e r T u g e n d] Nach einer zu N.s Zeit zum bildungsbürgerlichen Gemeingut – siehe Büchmann 1872, 212 f. – zählenden Anekdote hat der Frühreformator Jan Hus bei seiner Hinrichtung am Konzil von Konstanz 1415 angesichts einer einfachen alten Frau, die ihr Reisigbündel zum Scheiterhaufen trug, auf dem er verbrannt wurde, „O sancta simplicitas!“ ausgerufen. Bei N. kehrt die Formel wieder in NL 1882, KSA 10, 3[1] 379, 99, 11 f., auf deutsch in Za I Vom Wege des Schaffenden, KSA 4, 82, 9–11 und wieder auf Lateinisch in JGB 24, vgl. mit weiteren Quellennachweisen NK KSA 5, 41, 4.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 66–68, KSA 2, S. 80–81
315
68. MA I 68 ist zweigeteilt: Die erste Hälfte – 80, 13–26 – beleuchtet den Umstand, dass der Erfolg oder Misserfolg einer Tat sowohl bei den Beobachtern als auch beim Akteur die Motive verschleiert, die ihr zugrunde gelegen haben. Der Erfolg täusche leicht über nicht ganz so reine Motive hinweg, während der Misserfolg selbst reinste Motive verdächtig mache. Die zweite Hälfte – 80, 26–81, 7 – behauptet, aus der irreführenden Beglaubigungswirkung des Erfolgs habe man auch für das Christentum argumentiert: Dass es sich gegen die griechische Philosophie durchgesetzt habe, erscheint den christlichen Apologeten als „Beweis für die grössere Wahrheit“ (81, 1) dieses Christentums. Dagegen wird eingewandt, es habe hier bloß „das Gröbere und Gewaltsamere“ (81, 2 f.) obsiegt, und dagegengehalten, die neuzeitlichen Wissenschaften hätten gerade wieder an den griechischen Philosophen Epikur angeknüpft, um sich der christlichen Befangenheit zu entledigen. MA I 68 verschweigt freilich, dass auch dieser Erfolg der Wissenschaften, ihre Durchsetzungsfähigkeit gegen das Christentum nach der hier erfolgten Zurückweisung des Erfolgskriteriums gar nichts zugunsten ihrer Wahrheit beweist. Man darf überdies fragen, wie sich der Wissenschaftsbegriff in MA I 68 mit demjenigen von MA I 110 verträgt, wo Philosophie und Wissenschaft voneinander getrennt werden (sowie mit demjenigen von MA I 128). Zu MA I 68 gibt es in Mp XIV 1, 118 eine ‚Reinschrift‘, die nur bis zum späteren Drucktext 80, 26 reicht (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,118). Himmelmann 1996, 132 sieht in MA I 68 einen Anklang an die kantische Vorstellung, dass die Erfolglosigkeit der Bemühung, etwas als gesollt Erkanntes auch Wirklichkeit werden zu lassen, „keinen Grund abgeben“ könne, „jemanden moralisch zu verurteilen“. Die Frage nach den Motiven, die man seinem Tun zugrunde liegen glaubt, wird dann in FW 44 noch einmal prominent gestellt, siehe NK 3/2.1, S. 476 f. Dass das Gedächtnis womöglich nicht nur die Motive einer Tat dem Akteur gegenüber verschleiert, sondern sogar die Tat selbst, thematisiert schließlich JGB 68, vgl. NK KSA 5, 86, 5–7. 81, 3–7 Wie es mit der grösseren Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden Wissenschaften Punct um Punct an Epikur’s Philosophie angeknüpft, das Christenthum aber Punct um Punct zurückgewiesen haben.] In seiner von N. hochgeschätzten Geschichte des Materialismus hat Friedrich Albert Lange der Philosophie Epikurs nicht nur innerhalb der Antike eine zentrale Stelle zugebilligt, sondern auch immer wieder betont, wie tiefgreifend dessen Einfluss bei der Entstehung eines neuzeitlichen wissenschaftlichen Weltbildes gewesen ist. „Niemand kann erwarten, nach dem Ablauf der ganzen Culturperiode des christlichen Mittelalters den Materialismus auf demselben Punkte wieder zu finden, wo wir ihn bei Epikur und Lucrez verliessen; die Anknüpfungen an den Materialismus der
316
Menschliches, Allzumenschliches I
Alten sind jedoch ungleich bestimmter und bedeutender, als man sich träumen lässt, wenn man die materialistischen Lehrsätze unserer Tage ohne Weiteres als ein Produkt der neueren Naturwissenschaften hinstellt.“ (Lange 1866, 102) Im 17. Jahrhundert weist Lange Pierre Gassendi dabei die zentrale Rolle zu: „Wenn wir die eigentliche Erneuerung einer ausgebildeten materialistischen Weltanschauung auf G a s s e n d i zurückführen, so bedarf die Stellung, welche wir diesem damit einräumen, einiger vertheidigenden Worte. Wir legen vor allen Dingen Gewicht darauf, dass Gassendi das vollendetste materialistische System des Alterthums, das System E p i k u r s wieder ans Licht gezogen und den Zeitverhältnissen gemäss umgebildet hat. Allein gerade hierauf hat man sich gestützt, um Gassendi aus der mit Baco und Descartes hereinbrechenden neuen Zeit einer selbständigen Philosophie zurück zu weisen und ihn als blossen Fortsetzer der überwundenen Periode der Reproduction altclassischer Systeme zu betrachten. / Hierin liegt eine Verkennung des wesentlichen Unterschiedes, der zwischen dem epikureischen und jedem andern alten Systeme im Verhältniss zu der Zeit, in der Gassendi lebte, bestand. Während die herrschende aristotelische Philosophie, so sehr sie auch den Kirchenvätern noch zuwider war, sich im Laufe des Mittelalters mit dem Christenthum fast verschmolzen hatte, blieb Epikur gerade das Sinnbild des extremen Heidenthums und zugleich des directen Gegensatzes gegen Aristoteles. Nimmt man hierzu den undurchdringlichen Schutt traditioneller Verläumdungen, mit denen Epikur überhäuft war, und deren Haltlosigkeit erst hie und da einsichtige Philologen gelegentlich bemerkt hatten, ohne einen entscheidenden Streich zu führen, so muss /119/ gerade die Ehrenrettung Epikurs verbunden mit der Erneuerung seiner Philosophie als eine That erscheinen, die schon bloss von ihrer negativen Seite, als die vollendete Opposition gegen Aristoteles, sich den selbständigsten Unternehmungen jener Zeit zur Seite setzen darf. Allein auch diese Betrachtung erschöpft die volle Bedeutung der That Gassendis nicht. / Gassendi traf nicht zufällig oder aus blosser Oppositionssucht auf Epikur und seine Philosophie. Er war Naturforscher und zwar P h y s i k e r und E m p i r i k e r. Nun hatte schon Baco dem Aristoteles gegenüber auf Demokrit hingewiesen als den grössten der alten Philosophen. Gassendi, dem eine gründliche philologisch-historische Bildung einen Ueberblick über die sämmtlichen Systeme des Alterthums gab, griff mit sicherm Blick dasjenige heraus, was gerade der neuen Zeit, und zwar der empirischen Richtung in dieser neuen Zeit, am vollständigsten entsprach.“ (Lange 1866, 118 f.; vgl. ebd., 134: „Genau wie Epikur und Lucrez leitet auch Hobbes die Religion aus Furcht und Aberglauben her“) Für das 18. Jahrhundert konstatiert Lange 1866, 184 f.: „Ueberhaupt spielte Epikur in der damaligen französischen /185/ Welt wieder eine ähnliche Rolle, wie in der römischen Kaiserzeit.“ Und er resümiert: „Was das System der Natur in geschlossenem Zusammenhang giebt, das hat die neuere Zeit wieder mannigfach zerstreut und zersplittert. Neue Moti-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 68–69, KSA 2, S. 81
317
ve, neue Gesichtspunkte sind in grosser Zahl gewonnen worden; aber der Kreis der Grundfragen ist unabänderlich derselbe geblieben, wie er in Wahrheit schon bei Epikur und Lucrez derselbe war.“ (Lange 1866, 214)
69. MA I 69 spielt die Gerechtigkeit gegen die Liebe aus, die angesichts ihrer Dummheit und Unparteilichkeit – weil sie jeden, unabhängig von seiner Liebenswürdigkeit oder seinem Verdienst treffen kann – gemeinhin als viel angenehmer gilt. Die Blindheit der Liebe – im Unterschied beispielsweise zum Hohelied, das Paulus auf sie in 1. Korinther 13 anstimmt – wird von MA I 69 gegen sie in Anschlag gebracht. Der Abschnitt transponiert einen aus der theologischen Dogmatik altbekannten Gegensatz – wie lässt sich die Gerechtigkeit Gottes mit der Liebe Gottes vereinbaren? – ins Säkulare und ergreift antiromantisch gegen die Liebe und für die Gerechtigkeit Partei – wobei nicht expliziert wird, um was für einen Begriff von Gerechtigkeit (ausgleichend? austeilend?) es hier gehen soll. Zu MA I 69 gibt es in Mp XIV 1, 125 eine gestrichene Vorarbeit mit vielen Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,125), die sich in Mp XIV 1, 113 ohne wesentliche Korrekturen fortsetzt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,113). Ein weiteres Notat, das mit dem „Sünder“ noch stärker theologisches Vokabular aufruft, findet sich in NL 1877, KSA 8, 22[43], 386, 8 f.: „Liebe so unparteilich wie der Regen der den Sünder bis auf die Haut unter Umständen nass macht.“ 81, 16–19 Sie ist unparteiisch wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur den Ungerechten, sondern unter Umständen auch den Gerechten bis auf die Haut nass macht.] Vgl. Matthäus 5, 45: „Auf daß ihr Kinder seyd eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 8) Dass die Liebe unparteiisch sei, steht weder bei Matthäus noch in 1. Korinther 13, auch wenn dort Vers 4 in diese Richtung weist. In Luthers Übersetzung von Jakobus 3, 17 wird die Unparteilichkeit der Weisheit Gottes zugeschrieben: „Die Weisheit aber von oben her, ist auf’s erste keusch, darnach friedsam, gelinde, läßt sich sagen, voll Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteyisch, ohne Heucheley.“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 287) Die bemerkenswerte Verbindung von Unparteilichkeit und Regen in MA I 69 findet sich übrigens auch in einem allerdings reichlich apokryphen Kommentar, den Luther über 1. Johannes 4, 17 abgegeben haben soll: „Gleichwie Gott in Seiner Liebe unparteiisch ist, Regen und Sonnenschein Allen mittheilt (die Sonne gibt das Leben, der Regen den Unterhalt desselben), so sollen auch wir sein“ (Eberle 1866, 1043).
318
Menschliches, Allzumenschliches I
70. MA I 70 behauptet, eine „Hinrichtung“ (81, 21) beleidige uns mehr als eine Mordtat, und zwar durch ihre Verfahrensrationalität, mit der in eiserner „Kälte“ (81, 22) ein Mensch als bloßes „Mittel benutzt“ (81, 24) werde zur Abschreckung anderer potentieller Mörder. Eine „Schuld“ (81, 25) werde mit der Todesstrafe nicht abgegolten – eine solche liege nämlich nicht bei den Mördern, sondern bei ihrem Umfeld, den „veranlassenden Umstände[n]“ (81, 27). Im 19. Jahrhundert war die Todesstrafe durchaus umstritten: „Über die Zulässigkeit der T. an und für sich ist, seitdem Beccaria für ihre Abschaffung eingetreten [sc. Cesare Beccaria: Dei delitti e delle pene, 1764], also seit mehr denn 100 Jahren, Streit. Wenn dabei vielfach Unklarheit herrscht, so kommt dies besonders daher, weil man oft zwei Fragen nicht gehörig auseinander hält: die rechtsphilosophische, ob dem Staate das Recht zusteht, dem Staatsbürger zur Sühne begangenen Unrechts das Recht auf die Existenz abzusprechen, und die rechtspolitische, ob es, wofern man und zwar wohl mit Recht die erste Frage bejaht, zweckmäßig sei, von ebendiesem Recht noch Gebrauch zu machen. Auch die zweite Frage glaubt die herrschende Ansicht bei dem dermaligen Stand unsrer Zivilisation zur Zeit noch nicht verneinen zu können. Abgeschafft war die T. vor der Herrschaft des norddeutschen Strafgesetzbuchs in Anhalt, Bremen, Oldenburg und im Königreich Sachsen; sie ist es noch in Rumänien, Holland, Portugal, in der Schweiz und in einigen nordamerikanischen Staaten; vorübergehend war sie in Österreich abgeschafft. […]. Im norddeutschen Reichstag hatte sich 1870 die Mehrheit für die Abschaffung der T. entschieden, und nur um das Zustandekommen des Strafgesetzbuchs nicht zu gefährden, entschloß man sich bei dem entschiedenen Widerstand der Regierungen endlich doch für die Beibehaltung der T.“ (Meyer 1885– 1892, 15, 737) In diesem lexikalischen Aufriss ist von der Abschreckungswirkung der Todesstrafe keine Rede, sondern nur davon, dass sie „die Hinrichtung eines Verbrechers zur Sühne begangenen Unrechts“ sei, also jene Schuld tilge, die zu tilgen laut MA I 70 unmöglich sei, weil der Verbrecher nicht verantwortlich sein könne. MA I 70 reproduziert ab 81, 24 die beispielsweise schon in MA I 39 artikulierte Idee einer völligen Unverantwortlichkeit. Das Nicht-Verdienen der Strafe nimmt dann auch MA I 105 auf. Wenn freilich der Verbrecher nicht schuld sein kann, wie kann dann Schuld „in Erziehern, Eltern, Umgebungen, in uns“ (81, 26) liegen? Die Strafe als Abschreckung ist Thema bei Schopenhauer, der auch nicht an moralische Verantwortung für einzelne Handlungen glaubt, sei doch „der unmittelbare Z w e c k d e r S t r a f e im einzelnen Fall E r f ü l l u n g d e s G e s e t z e s als eines /411/ V e r t r a g e s. Der einzige Zweck des G e s e t z e s aber ist A b s c h r e c k u n g von Beeinträchtigung fremder Rechte […]. Das Gesetz also und die Vollziehung desselben, die Strafe, sind wesentlich auf die Z u k u n f t gerichtet, nicht auf
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 70, KSA 2, S. 81
319
die V e r g a n g e n h e i t. Dies unterscheidet S t r a f e von R a c h e, welche letztere lediglich durch das Geschehene, also das Vergangene als solches, motivirt ist. […] Daß demnach der Zweck der Strafe, oder genauer des Straf-/412/gesetzes, Abschreckung vom Verbrechen sei, ist eine so allgemein anerkannte, ja, von selbst einleuchtende Wahrheit“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 410–412). Auch das Problem der Instrumentalisierung spricht Schopenhauer bereits an: „Hier würde nun ein Kantianer unfehlbar einwenden, daß ja, nach dieser Ansicht, der gestrafte Verbrecher ‚bloß als M i t t e l‘ gebraucht würde […]. Der dem Gesetze zufolge der Todesstrafe anheimgefallene Mörder muß jetzt allerdings und mit vollem Recht als bloßes M i t t e l gebraucht werden […]: er, sein Leben, seine Person, muß jetzt das M i t t e l zur Erfüllung des Gesetzes und dadurch zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit seyn“ (ebd., 412). Die Reduktion des Strafzwecks auf Abschreckung wird in MA I 70 nur dahingehend begründet, dass eben eine Sühne der Schuld durch die Kapitalstrafe nicht möglich sei. Andere mögliche Strafzwecke, nämlich etwa der Schutz der Allgemeinheit vor gemeingefährlichen Verbrechern, bleiben hingegen ausgeblendet. Bemerkenswert ist schließlich, dass die Beleidigungsempfindung, die „uns“ (81, 22) bei einer Hinrichtung angeblich anwandle, darauf gründet, dass die Justizmaschinerie mit dem totgeweihten Delinquenten jemanden nur als ein „Mittel“ benutze. Impliziert ist damit, dass die Selbstzweckformel von Kants Kategorischem Imperativ damit verletzt werde, vgl. AA IV, 429 u. NK ÜK MA I 524. Aber warum sollte das sonst so moralkritische ‚Wir‘ sich von diesem Instrumentalisierungsverbot beeindrucken lassen? Ist das mehr als ein moralisches Vorurteil? Zu MA I 70 gibt es in Mp XIV 1, 203 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,203). Vgl. zu MA I 70 auch Petersen 2008, 117 f. Vivarelli 1994a, 97 sieht in MA I 70 einen deutlichen Bezug zu einer Stelle bei Montaigne: „Wie viele Verurtheilungen habe ich nicht gesehen, welche strafbarer als das Verbrechen gewesen sind?“ (Montaigne 1753–1754, 3, 349) In der „Beilage“ zum Geschäftsblatt für den oberen Teil des Kantons Bern (Bd. 28, Nr. 94, 23. November 1881, S. 34) heißt es unter dem Titel „Verschiedenes“: „Die T o d e s s t r a f e im Lichte [d]er P h i l o s o p h i e. / Der tiefe Denker und Menschenkenner Nietzsche, welcher sonst nicht mit dem Strome, auch nicht mit dem des ‚Humanitätsschwindels‘ zu schwimmen gewohnt ist, sagt in seinem Buche: ‚Menschliches, Allzumenschliches‘, Thl. l, 67“. Es folgt darauf MA I 70 im Wortlaut. Manche – wenigstens im Berner Oberland – haben N. also schon früh für kalender- oder geschäftsblatttauglich gehalten.
320
Menschliches, Allzumenschliches I
71. MA I 71 erzählt die mythologische Geschichte von Pandora nach Hesiod: Theogonie 570–612 und Erga 53–105 neu, blendet aber aus, dass dieses „Geschenk der Götter“ (82, 3) den Menschen als Strafe für den Feuerdiebstahl des Prometheus zugedacht war. Pandora habe ihr mit allen Übeln gefülltes Fass geöffnet und damit dafür gesorgt, dass diese fortan die Menschen plagten. „Ein einziges Uebel“ (82, 7 f.) sei auf Zeus’ Geheiß im Fass geblieben, nämlich die Hoffnung – deshalb hätten die Menschen das Fass bei sich behalten und gehegt, im Glauben, die Hoffnung sei das „grösste Glücksgut“ (82, 15). Tatsächlich aber war sie das größte Übel, denn Zeus’ Kalkül habe darauf abgezielt, den Menschen nicht an all den anderen Übeln, die ihm das Leben vergällten, verzweifeln zu lassen. Mit der Hoffnung, dem „übelste[n] der Uebel“ (82, 19 f.), wollte er den Menschen dazu bringen, „sich immer von Neuem quälen zu lassen“ (82, 18), anstatt aus diesem jämmerlichen Dasein zu scheiden. Unstrittig bleibt auch bei Hesiod: Erga 90–100 die Hoffnung im Fass; aber der Text lässt es offen, ob es sich hier um ein Übel oder ein Gut handelt. Der HesiodKommentar in N.s Bibliothek, den er auch für Lehrveranstaltungen benutzt hat, lässt die Frage nach dem Charakter der Hoffnung unbestimmt (Schoemann 1868, 213). In der Überlieferung bei Homer ist von zwei Fässern die Rede, und darauf bezieht sich N. in seiner mehrfach abgehaltenen Basler Lehrveranstaltung Hesiod: Γένος καὶ βίος Ἡσιόδου. Certamen. Ἔργα, wo es in einer Nachschrift von unbekannter Hand heißt: „Woher stammt die Vorstellung des Fasses der Glücks- u. Unglücksgüt.? Ilias 24, 527. 2 Fässer. Alte Volksvorstellung. Auch bei uns durchaus davon die Rede. Das Faß in dem allein d. Hoffnung zurückbleibt, kann nur eines sein, in dem die Glücksgüter sind.“ (KGW II 2, 364, 17–20) Als lehrender Philologe scheint N. also, soweit ihn der mitschreibende Student nicht missverstanden hat, durchaus der traditionellen Auffassung zugeneigt gewesen zu sein, wonach die Hoffnung als Gut zur Kompensation der Übel und nicht selbst als Übel gedacht gewesen sei. Allerdings ist die Auffassung, dass Hesiod an der fraglichen Stelle die Hoffnung sehr wohl als ein Übel, ja als schlimmstes aller Übel angesehen habe, in der Altphilologie des 19. Jahrhunderts durchaus verbreitet. Dezidiert dazu bekannt hat sich etwa Karl Wilhelm Göttling, dessen reich kommentierte Standardausgabe der Werke Hesiods N. benutzt hat. In seinem ausführlichen lateinischen Kommentar zu Erga 94 führt er unter Aufbietung diverser anderer Stellen aus der griechischen Literatur aus, dass „ἐλπίς“, „spes“, also Hoffnung, aus hesiodischer Sicht unbedingt unter die „mala“ gerechnet werden müsse. N. hat diesen Kommentar Göttlings mit diversen Anstreichungen versehen (Hesiod 1863, 170 f.). Wenn N. nun in MA I 71 diese Sicht übernimmt, dann nicht zwingend, weil er als Philologe davon überzeugt gewesen wäre, sondern weil er daraus
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 71–72, KSA 2, S. 81–82
321
philosophisch Kapital schlagen kann: nachdem in MA I 69 die christliche Tugend der Liebe unters Rad geriet, ergeht es in MA I 71 der christlichen Tugend der Hoffnung nicht besser, auch wenn sie immerhin dazu dient – so lautet die philosophische Begründung –, die menschliche Spezies am Leben zu erhalten. Diese Lesart der pandorischen Hoffnung wird auch in M 38 sowie in AC 23 weiter verteidigt, siehe NK KSA 3, 46, 2–15 u. NK KSA 6, 190, 19–27. Zu MA I 71 vgl. ferner Barbarić 2015, 47 f., Bidmon 2016, 98 f., Dalfert 2016, 1 f., Bishop 2020, 55 f., Fenge 2021, 19 f. Zu N. und Hesiod allgemein Hertlein 2021. Zu MA I 71 gibt es in Mp XIV 1, 269 f. eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,269 u. http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,270) sowie Vorarbeiten in U II 5, 73 (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,73) u. U II 5, 71. Dort folgt nach „die Qual des Menschen verlängert“: „– so verstand Hesiod die Hoffnung; dieser alte Böotier wurde aber von den Philologen nicht verstanden. Wer ist nun Böotier?“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,71) Hesiod stammte vermutlich aus Askra in Böotien. In der Antike (namentlich in Athen) galten die Böotier als bäurisch, dumm, grob, tölpelhaft und ungebildet. 82, 3–5 Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes verführerisches Geschenk und „Glücksfass“ zubenannt.] Fehlt in Mp XIV 1, 269. Das Wort „Glücksfass“ lässt sich vor N. nicht belegen; bei ihm kommt es nur in MA I 71 vor. 82, 7 f. Ein einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft] In Mp XIV 1, 269 stattdessen: „Ein einziges Uebel war noch im Fass“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,269). 82, 9–11 und so blieb es darin. Für immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was für einen Schatz er in ihm habe] In Mp XIV 1, 269 stattdessen: „Dieses Uebel hat der Mensch in seinem Hause“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,269). 82, 13 f. dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war] In Mp XIV 1, 269 stattdessen: „dass es das Fass der Übel war, das Pandora brachte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,269). 82, 15 für das grösste Glücksgut] In Mp XIV 1, 269 stattdessen: „für ein Glücksgut“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,269).
72. Die Erregbarkeit der Leidenschaft macht MA I 72 von äußeren Umständen, schrecklichen Erfahrungen abhängig; niemand wisse, wie sehr ihn kontingente
322
Menschliches, Allzumenschliches I
Umstände leidenschaftlich erregen könnten. Der zweite Teil des Abschnitts nimmt eine jähe Wendung: Während der erste die Intensität einer Erfahrung, eines Traumas für die „m o r a l i s c h e [ . ] E r h i t z b a r k e i t“ (82, 22) zur Verantwortung zieht, ist es jetzt ausdrücklich die „Quantität“ (82, 32) dieser Erfahrungen, „von welcher der niedere und höhere Mensch abhängt, im Guten und Bösen“ (82, 32– 83, 2). Diese Formulierung bleibt zweideutig: Heißt das nun, dass es nur äußere Umstände sind, die bestimmen, wer oder was jemand ist, nämlich „niedere[r] oder höhere[r] Mensch“ – oder heißt das, dass sowohl „niedere“ wie „höhere Menschen“ den Umständen nicht entgehen können und ihnen ausgeliefert bleiben? In dieser zweiten Lesart wäre Niedrigkeit oder Höhe etwas schon Gegebenes, das der Bestimmungsmacht der Umstände entzogen wäre (wer ist dann – und wie – überhaupt ein höherer Mensch?). Vor dem Hintergrund der Psychosozialgeschichte moralischer Wertungen in MA I 45 drängt sich freilich die erste Lesart auf: Höhe oder Niedrigkeit ist keine intrinsische Naturgegebenheit, sondern ist eine Bestimmung sozialen Vor- oder Nachrangs, eine Aussage über den gesellschaftlichen Status, der sich im Laufe der Generationen vielleicht nicht nur äußerlich habituell ausprägen kann, sondern zweite Natur wird. Für die erste Lesart spricht auch 82, 30 f., wonach Erbärmlichkeit sich erbärmlichen Verhältnissen, also einem bestimmten Milieu verdanke. MA I 70 hatte ja auch den Kapitalverbrecher dadurch exkulpiert, dass doch seine Umstände an seinen Taten schuld seien. Zu MA I 72 gibt es in Mp XIV 1, 80 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,80). 82, 32 Qualität der Erlebnisse] Im Druckmanuskript D 11, 42 korrigiert aus: „Qualität der Leidenschaft“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,42), wie es auch in Mp XIV 1, 80 stand. 83, 1 der niedere und höhere Mensch] Hier erscheint N.s nachmals berühmte, aber nicht von ihm erfundene Formel vom „höheren Menschen“ zum ersten Mal, vgl. NK 3/2.1, S. 238–241, NK KSA 3, 373, 23 f. u. NK KSA 4, 302, 2–9.
73. Wie MA I 65 erzählt MA I 73 die Geschichte eines Menschen, dessen Lebenswandel den Tod unvermeidlich nach sich zieht, aber hier nicht eines Mannes, der zu freimütig über seine Motive Auskunft gibt, sondern eines feigen Parteigängers, der immer willfährig das sagt und tut, was seine Parteigenossen von ihm verlangen, bis hin zur Todesstrafe – bei deren Vollstreckung er unter dem strengen Blick eines ebenfalls verurteilten Überzeugungstäters es noch immer nicht wagt, sein eigenes Nein gegen das ihm Zugemutete auszusprechen, so dass er jetzt als Held, „Märtyrer“ und „grosser Charakter“ (83, 17) gefeiert werde.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 72–74, KSA 2, S. 82–83
323
Der Abschnitt steht in Spannung zu den Abschnitten MA I 72 und MA I 70, denen zufolge alles Charakterliche eigentlich äußerlich determiniert sei, und zum Abschnitt MA I 51, dem zufolge der Schein durch Habitualisierung zum Sein werde. Bei dem angeblich feigen Parteigänger scheint beides gerade nicht der Fall zu sein: Er behält eine reservatio mentalis, eine unausgesprochene Reserviertheit, einen Generalvorbehalt gegen die ihm aufgedrückten Parteimeinungen selbst noch auf dem Richtplatz. Damit ist er nicht einfach nur das geformte Produkt seiner Umstände noch ein zum Sein gewandelter Schein, sondern setzt seinen eigenen Charakter, wenn auch nicht lautstark, diesen Umständen entgegen. Die aus MA I 73 sprechende moralische Verurteilung des scheinbar charakterlich schwachen Feiglings ist von der sonst in MA I so bereitwillig vertretenen Determinations- und Unverantwortlichkeitsidee nicht gedeckt. Zum Parteimann vgl. auch MA I 579. Zu MA I 73 gibt es in Mp XIV 1, 199 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,199). Weniger eindeutig gegen die angebliche Feigheit und Erbärmlichkeit des „M ä r t y r e r [ s ] w i d e r W i l l e n“ (83, 4) positioniert sich NL 1876, KSA 8, 19[106], 356, 16–18: „Der Märtyrer wider Willen und der Ehrliche der verachtet wird, als Feigling usw., während er nur so ist, wie er sein k a n n.“
74. MA I 74 gibt den Lesern einen „A l l t a g s - M a a s s s t a b“ (83, 20) an die Hand, wonach „extreme Handlungen“ sich der „Eitelkeit“ verdankten, „mittelmässige“ der „Gewöhnung“, „kleinliche“ schließlich der „Furcht“ (83, 21 f.). Der kurze Abschnitt führt freilich nicht aus, wann dieser gewöhnlich angeblich taugliche Maßstab nicht gelte. Immerhin hatte MA I 72 extreme Erregbarkeit auf äußerliche Traumata zurückbuchstabiert, nicht auf etwas Inwendiges wie das Laster der „Eitelkeit“. Und nach MA I 73 war es gerade die Furcht vor sozialer Zurücksetzung, die dort den Feigling wenigstens äußerlich zu großen Taten anstachelte. Der „A l l t a g s - M a a s s s t a b“ suggeriert eine Kenntnis innerster Motivlagen, die zwar ein Moralist wie La Rochefoucauld auch für sich reklamiert hätte, die aber seltsam quer zum streng szientistisch-superfizialistischen Anspruch einer Psychologie steht, welche nur Oberfläche und psychomechanische Determination zu kennen vorgibt. Zu MA I 74 gibt es in Mp XIV 1, 257 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,257) und in Mp XIV 1, 324 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,324) zwei textidentische ‚Reinschriften‘ von Brenners Hand, wie üblich noch ohne den in der Druckfassung die Interpretation anleitenden Titel („A l l t a g s M a a s s s t a b“). In U II 5, 67 findet sich von N.s Hand die Variante: „101 Man wird
324
Menschliches, Allzumenschliches I
selten irren, wenn man extreme Handlungen auf Eitelkeit, mittelmäßige auf Nachahmung ˹Gewöhnung˺ u kleinliche auf Furcht zurückführt“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,67).
75. Abschnitt MA I 75 exponiert zwei unterschiedliche Begriffe der „T u g e n d“ (83, 24), nämlich erstens denjenigen, der Tugend mit „Unlust“ (83, 27) verbinde – weil der jeweilige Akteur in seiner Jugend „Untugend“ und „Lust“ (83, 25) miteinander zu assoziieren gelernt habe –, und zweitens denjenigen, der Tugend für Beruhigung hält – weil sie die „Leidenschaften und Laster[.]“ (83, 28) pazifiziere. So könne es sein, dass sich zwei Tugendhafte gar nicht verstünden. Freilich stehen die beiden Tugendbegriffe nicht in systematischem Widerspruch zueinander – überdies ist nicht zu erwarten, dass derjenige, der Tugend als Unlust begreift, sich ihr in die Arme werfen wird – es sei denn, der Betreffende ist Kantianer und tut dies aus Pflicht. Der „Ruhe“ (84, 1) und „Glück der Seele“ (84, 2) mit Tugend Verbindende steht hingegen in der Tradition des antiken Eudämonismus. MA I 75 stellt vor allem deutlich heraus, dass die Tugendbegriffe lebensgeschichtlich geprägt und ausgeformt sind, eben im Sinne einer „Geschichte der moralischen Empfindungen“. Zu MA I 75 gibt es in Mp XIV 1, 348 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,348). In U II 5, 71 findet sich von N.s Hand die ‚Vorstufe‘: „89 Wer die Untugend in Verbindung mit der Lust kennen gelernt hat – wie die, welche eine genusssüchtige Jugend hinter sich haben – bildet sich ein, daß die Tugend mit der Unlust verbunden sein müsse“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,71).
76. MA I 76 gehört zu den kürzesten Abschnitten des ganzen Buches und lebt von der Umkehrung eines geflügelten Wortes: Wer sich der Askese, einer radikalen Ethik des Verzichts widmet, führt willentlich und wissentlich Notstände herbei. Er oder sie nötigt sich zur radikalen Möglichkeitsreduktion, nötigt sich zur Not – zur Not als Verzicht auf alles. Vgl. auch Langer 2005, 68 f. u. Zibis 2007, 100. Zu MA I 76 gibt es in Mp XIV 1, 334 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,334). Identisch findet sich der Text auch schon in U II 5, 169 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,169) und in M I 1, 40 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,40). N. wird die Sen-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 74–77, KSA 2, S. 83–84
325
tenz dann wieder anführen in einer Sammlung „‚B ö s e W e i s h e i t.‘ / Sprüche und Sprüchwörtliches“ (NL 1883, KSA 10, 12[1], 383, 1 f.) in NL 1883, KSA 10, 12[1]66, 388, 20. 84, 5 f. Der Asket macht aus der Tugend eine Noth.] Das Sprichwort, aus der Not eine Tugend zu machen, ist in zahlreichen Sprachen und in diversen Varianten überliefert, siehe Wander 1867–1880, 3, 1050 mit einer Vielzahl von Belegen. Ursprünglich geht es wohl auf den Kirchenvater Hieronymus zurück („facis de necessitate virtutem“ in Adversus libros Rufini III 2 und „fac de necessitate virtutem“ in Epistolae 54, 6). Die Umkehrung wird schon in NL 1876, KSA 8, 16[14], 290, 6 formuliert, noch ohne Nutzanwendung auf den Asketen: „aus der Tugend eine Noth machen“. Sie stammt übrigens gar nicht von N. selbst, sondern ist zu seiner Zeit durchaus geläufig, etwa bei der Diskussion der Frauenemanzipation in Bartholomäus Carneris Werk Sittlichkeit und Darwinismus: „Aber Eines ist es, aus der Noth eine Tugend, ein anderes, aus der Tugend eine Noth zu machen.“ (Carneri 1871, 234; Rée 1877, 107 zeugt von der Bekanntschaft mit Carneris Buch, vgl. den Nachweis bei Rée 2004, 499 f., sodann NK 138, 28–33)
77. MA I 77 zufolge sorgen allseits geschätzte „Handlungen“ (84, 9) dafür, dass die Schätzung auf die Gegenstände überspringt, denen diese Handlung gilt, „obwohl sie vielleicht an sich nicht viel werth sind“ (84, 13 f.). Die Titelzeile von MA I 77 („D i e E h r e v o n d e r P e r s o n a u f d i e S a c h e ü b e r t r a g e n“ – 84, 8 f.) und der letzte Satz über ein „tapferes Heer“ (84, 14) sprechen freilich von den Personen und nicht von den Handlungen, deren Schätzung auf die „Sache“ überspringe (z. B. nach MA I 39 wären Handlungen und Personen etwas ganz Unterschiedliches; in der ursprünglichen Version von MA I 77 war von „Handlungen“ noch nicht explizit die Rede, vgl. NK 84, 9 f.). Buchstabiert man MA I 77 aus, so wären die drei Ebenen Akteur, Aktion und Worumwillen zu unterscheiden. Im letzten Satz und in der Titelzeile wird der Übersprung vom Akteur auf das Worumwillen, im Mittelteil der Übersprung von der Aktion auf das Worumwillen behandelt. Zu MA I 77 gibt es in Mp XIV 1, 11 eine ‚Reinschrift‘, wo wie üblich die Titelzeile noch fehlt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,11). 84, 9 f. Man ehrt allgemein die Handlungen der Liebe und Aufopferung zu Gunsten des Nächsten] In Mp XIV 1, 11 korrigiert aus: „Man ehrt Liebe und Aufopferung am Nächsten“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,11).
326
Menschliches, Allzumenschliches I
78. Der Abschnitt MA I 78 handelt vom Zusammenspiel von „m o r a l i s c h e [ m ] G e f ü h l“ und „E h r g e i z“ (84, 17 f.). Wem der Ehrgeiz fehlt, bedürfe des moralischen Gefühls, wird apodiktisch behauptet, während die Ehrgeizigen dieses ominösen Gefühls entbehren könnten, „mit fast gleichem Erfolge“ (84, 20) – ohne dass gesagt würde, auf welchem Feld der Erfolg hier einzuheimsen wäre. Indes würden Abkömmlinge aus ehrgeizfernem Milieu leicht zu Schuften, wenn ihnen „das moralische Gefühl“ (84, 22) abhanden käme. MA I 78 könnte die Suggestion erzeugen, es gäbe so etwas wie ein manchen Menschen natürlich gegebenes „moralisches Gefühl“, auf das derjenige verzichten kann, der Ehrgeiz hat, weil er seine Ziele so erreicht. Das könnte nach traditioneller Ehrgeizkritik mit morali(sti)schen Mitteln klingen und unterböte das Reflexionsniveau historischen Philosophierens, das z. B. in MA I 14 ausdrücklich das „moralische[.]“ unter diejenigen „Gefühle“ gerechnet hat, die sich aus „hundert Quellen und Zuflüssen“ speisten und gerade keine „Einheiten“ darstellten (35, 12– 15). Freilich kann man ja, wie das etwa auch Rée 1877, 134 = Rée 2004, 206 explizit tut, das „moralische Gefühl“ zu einem Gegenstand historischer Analyse machen und es in seine Einzelteile zerlegen (Rées Buch gilt ja insgesamt dem Ursprung der moralischen Empfindungen). Die kritische Spitze von MA I 78 scheint sich auf den Umstand zu richten, dass moralisches Gefühl und Ehrgeiz effektidentisch sind oder wenigstens sein können, was das moralische Gefühl depotenziert. Bei N. lässt sich die im 19. Jahrhundert inflationär gebrauchte Fügung „moralisches Gefühl“ schon früh belegen (z. B. in WL 1, KSA 1, 876, 34), ohne eine besondere Prominenz zu erlangen (vgl. M 34 und NK KSA 3, 43, 8 f.). „Ehrgeiz“ wiederum ist ein Hauptthema in der Moralistik von La Rochefoucauld bis Rée und fällt meist der Verurteilung anheim (vgl. Rée 1877, 89 f. = Rée 2004, 180 f.). MA I 78 hält dagegen, indem er die positiven Weltgestaltungseffekte des Ehrgeizes andeutet, mit der dieser dem moralischen Gefühl ebenbürtig sei. Zu MA I 78 gibt es in Mp XIV 1, 71 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,71). KGW IV 4, 181 führt als vorbereitende Notiz N II 2, 111 an: „Jemand der in der menschl Gesellschaft geachtet dastehen will, hat das ˹kann des˺ moral. Gefühls – –“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,111). In N II 2, 112 heißt es: „Das moral. Gefühl ist bei ˹darf in˺ solchen Naturen [– – –] ˹nicht fehlen˺, welche keinen Ehrgeiz haben. Die Ehrgeizigen behelfen sich ohne dasselbe: der Erfolg ist derselbe ˹fast derselbe gleiche˺. Aber ohne moral. Gefühl u, ohne Ehrgeiz sein – das macht Lumpen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,112). Die Einschlägigkeit des Hinweises in KGW IV 4, 181 u. KSA 14, 129 auf NL 1877, KSA 8, 22[101], 398, 9: „Z u r N a t u r w e r d e n!“ bleibt ein wenig rätselhaft. 84, 20 ohne dasselbe] In Mp XIV 1, 71: „ohne denselben“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,71).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 78–80, KSA 2, S. 84–85
327
79. MA I 79 stimmt ein vergiftetes Lob der Eitelkeit an, der sich offensichtlich leicht – nämlich durch „Bewunderung“ (85, 3 f.) – schmeicheln und die sich übertölpeln lässt. Setzt man den „Geist“ (84, 27) mit einem Warenlager gleich, kann jeder alles vom Eitlen gegen geringes Entgelt – Anerkennung – bekommen. Eitelkeit bereichert also vor allem die, die sich die Eitlen zunutze machen. Rée 1877, 88 f. = Rée 2004, 179 f. rekapituliert, weshalb „die Eitelkeit […] zu dem Tadelnswerthen gerechnet wird – […] 1) weil sie den Menschen feindselig gegen die vor ihm Ausgezeichneten stimmt, und ihn zur Heuchelei veranlasst, 2) weil /89/ sie ihm selbst durch den Schmerz über Missfallen etc. eine Anzahl starker Unlustempfindungen bereitet, 3) weil der Eitele unsachlich ist“. MA I 79 macht die Gegenrechnung auf und stellt den allgemeinen Nutzen der Eitelkeit heraus – für kluge Profiteure. Zu MA I 79 gibt es in Mp XIV 1, 183 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel und markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,183). Eine textlich noch abweichende Variante findet sich in U II 5, 92 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,92). Zur Interpretation von MA I 79 siehe z. B. Braatz 1988, 138, Imasaki 2012, 275 u. Gödde 2020b, 196, umfassend zu Eitelkeit und Machtgefühl Simonin 2022, 54–66. 85, 2 Alles fast können sie finden] In Mp XIV 1, 183: „alles fast können sie haben ˹finden˺“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,183).
80. MA I 80 hält ein Plädoyer für einen ‚rechtzeitigen‘ Tod von eigener Hand, nämlich bei fortgeschrittenem Alter und Krankheit, nach dem Vorbild der Griechen und Römer (als ob das bei denen an der Tagesordnung gewesen wäre). Wenn die Religionen sich gegen den Suizid gewehrt hätten, dann doch nur, weil sie denen gefallen wollten, die am Leben hängen. Wie das zu der von N. andernorts vorgebrachten These passt, das Christentum verlagere das ganze Schwergewicht auf ein Jenseits, weil es das Diesseits verachte, steht dahin. Der Abschnitt unternimmt keinen Versuch, die elaborierten Theorien seit Platon und Aristoteles, die Selbsttötung philosophisch zu untersagen, argumentativ zu widerlegen. Vielmehr zehrt MA I 80 von der Suggestion, es sei doch eigentlich völlig evident, dass Alte und Kranke sich töten sollten – und nur ein falsches Vorurteil spräche dagegen. Tatsächlich ist der Hinweis auf „die Häupter der griechischen Philosophie“ (85, 14) und „die wackersten römischen Patrioten“ (85, 15) nicht ganz abwegig: Beispielsweise in der stoischen Philosophie
328
Menschliches, Allzumenschliches I
war die Idee, zur rechten Zeit zu sterben, durchaus schon eine Maxime (vgl. Stellino 2020, 132), klassisch ausformuliert bei Lucius Annaeus Seneca: Ad Marciam de consolatione 20, 4: „Cogita quantum boni opportuna mors habeat, quam multis diutius vixisse nocuerit.“ („Denke darüber nach, wie viel Gutes ein Tod zur rechten Zeit haben dürfte, wie vielen es schadete, dass sie länger gelebt haben.“) N. kommt auf den in seinen Werken hier zum ersten Mal als ein „freier Tod“ thematisierten Suizid gelegentlich zurück, vgl. MA I 88, KSA 2, 87, MA II WS 185, KSA 2, 632 f., Za I Vom freien Tode, KSA 4, 93–96, GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 36, KSA 6, 134–136. Zum Suizid bei N. siehe Bormuth 2008, 99–128, Loeb 2008, Sommer 2010a, Stellino 2013 u. Stellino 2020, 123–178. Zu MA I 80 gibt es in Mp XIV 1, 266 eine vom späteren Drucktext abweichende ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,266). Eine frühere Fassung findet sich in U II 5, 96 (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,96) und in U II 5, 95 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,95). 85, 11 in diesem Falle] Fehlt in Mp XIV 1, 266. 85, 11–16 Die Selbsttödtung ist in diesem Falle eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttödtung zu sterben pflegten.] In Mp XIV 1, 266 stattdessen: „Die Selbsttödtung ist eine ganz natürliche Handlung, welche Ehrfurcht erweckt: wie die vielen Fälle zeigen, in denen die Häupter der griechischen Philosophie so gestorben sind.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,266) 85, 14 die Häupter der griechischen Philosophie] Tatsächlich wird insbesondere bei Diogenes Laertius diversen berühmten Philosophen der Suizid als Todesursache (mitunter als eine von mehreren möglichen) zugeschrieben, so bei Anaxagoras (499–428 v. Chr. – Diogenes Laertius: De vitis II 13–15), bei Pythagoras (ca. 570–480 v. Chr. – Diogenes Laertius: De vitis VIII 39–41), bei Empedokles (ca. 495–435 v. Chr. – Diogenes Laertius: De vitis VIII 69), bei Demokrit (ca. 460– 370 v. Chr. – Diogenes Laertius: De vitis IX 43), bei Diogenes von Sinope (ca. 413– 323 v. Chr. – Diogenes Laertius: De vitis VI 76 f.), bei Speusippos (ca. 410–338 v. Chr. – Diogenes Laertius: De vitis IV 3), bei Aristoteles (384–322 v. Chr. – Diogenes Laertius: De vitis V 8), bei Zenon von Kition (ca. 333/332–262/261 v. Chr. – Diogenes Laertius: De vitis VII 28–31) und bei Kleanthes (ca. 331–232 v. Chr. – Diogenes Laertius: De vitis VII 176). Siehe Brandt 2010, 61–68. 85, 15 die wackersten römischen Patrioten] Da könnte N. neben Seneca (vgl. NK ÜK MA I 80) an Marcus Porcius Cato den Jüngeren (95–46 v. Chr.), aber auch an
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 80–81, KSA 2, S. 85–86
329
Ciceros Gefährten Titus Pomponius Atticus (ca. 110–32 v. Chr.) sowie an Marcus Annaeus Lucanus (39–65 n. Chr.) gedacht haben. 85, 19 ist viel weniger achtbar] In U II 5, 95 folgt darauf: „– das sollte sich von selber verstehen. Aber das Christenthum hat das Gefühl der Menschen hierin [?] verfälscht: wir müssen lernen natürlich zu fühlen“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,95). Die Schmeichelei-These 85, 19–22 fehlt hier also noch ebenso wie in der ‚Reinschrift‘, vgl. 85, 19–22. 85, 19–22 – Die Religionen sind reich an Ausflüchten vor der Forderung der Selbsttödtung: dadurch schmeicheln sie sich bei Denen ein, welche in das Leben verliebt sind.] Fehlt in Mp XIV 1, 266. Der Satz wurde von N. erst in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 44 von MA I 80 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,44).
81. MA I 81 arbeitet an der kontextualisierenden Relativierung von Gerechtigkeitsempfindungen: Der sozial niedrig Gestellte empfinde einen ihm zugefügten Verlust weit intensiver als der höher gestellte Verlustverursacher seinen Gewinn. Urteile über Recht und Unrecht sind nach MA I 81 unmittelbar davon abhängig, wer sie fällt und unter welchen Umständen sie gefällt werden. Es sei gerade nicht so, „dass Thäter und Leidender gleich denken und empfinden“ (86, 24 f.). Die in MA I 81 durchgespielte Anbindung moralischer Urteile an den sozialen Status provoziert das in der Moralphilosophie der Aufklärung, namentlich bei Kant, hochgehaltene Universalisierungsgebot, das die Gleichwertigkeit aller Menschen betont. Stattdessen wird der Mensch mit einem wiederholten Insektenbezug (86, 8 u. 86, 14) als Tier unter die Tiere zurückgestellt (dazu allgemein Sommer 2015g). Zu MA I 81 gibt es in Mp XIV 1, 146 eine ‚Reinschrift‘ mit einigen Korrekturen, von N. mit Bleistift rubriziert „Ursprung der Moral.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,146) 86, 8 tödten eine Mücke] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „ein Insect“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1648750028/103/). Das Mückenbeispiel kehrt in MA I 102, KSA 2, 99, 9 f. wieder. Schopenhauer verwendet es, wenn er das Fleischfressen moralisch zu rechtfertigen sucht: Tiere mit komplexeren Nervensystemen seien leidensfähiger. „Hingegen leidet das Insekt durch seinen Tod noch nicht so viel, wie der Mensch durch dessen Stich“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 440). N. scheint diesen Gedanken auf Menschen zu übertragen.
330
Menschliches, Allzumenschliches I
86, 14 unangenehmes Insect] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „unangenehmes Subject“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/104/). 86, 9–13 So ist es kein Zeichen von Schlechtigkeit bei Xerxes (den selbst alle Griechen als hervorragend edel schildern), wenn er dem Vater seinen Sohn nimmt und ihn zerstückeln lässt, weil dieser ein ängstliches, ominöses Misstrauen gegen den ganzen Heerzug geäussert hatte] Die Quelle für diese Anekdote ist Herodot: Historien VII 38–39 (in Sorrent wurde Herodots Werk gemeinsam gelesen, vgl. Salerno 2021, 52): „Wie er aber mit seinem Heere auszog, kam der Lydier Pythios, beängstigt durch die Erscheinung am Himmel und ermutigt durch die Geschenke, zu Xerxes und sagte wie folgt: ‚Gebieter, möchtest Du mir einen Wunsch gewähren, davon Dir die Erfüllung /782/ leicht, mir aber ein Großes wäre?‘ Xerxes, der sich eher jedes andern Wunsches von ihm versah als was er bat, erklärte, er wolle ihm’s erfüllen, und hieß ihn aussprechen was er begehre. Auf das hin sagte er getrosten Muthes Folgendes: ‚Gebieter, ich habe fünf Söhne, und die trifft es nun alle daß sie mit dir gegen Hellas ziehen müssen. Habe denn, o König, Mitleid mit meinem Alter und sprich mir einen meiner Söhne vom Kriegsdienste frei, den ältesten, damit er mein und meines Vermögens Wärter sei. Die vier anderen aber sollen mit Dir gehen, und Du sollst von Allem, was Du vorhast, glücklich heimkehren!‘ / Darüber ward Xerxes ganz aufgebracht und antwortete: ‚Du schlechter Mensch, Du unterstehst dich, da ich selbst gegen Hellas ziehe, und mit mir meine Söhne und Brüder und Verwandte und Freunde, Deines Sohnes zu gedenken; Du, mein Knecht, der eigentlich mit dem ganzen Haus, sammt seinem Weibe, mitgehen sollte? So sollst Du jetzt auch merken, daß in den Ohren der Menschen der Geist wohnt, der, wenn er Gutes hört, den Leib mit Vergnügen erfüllt, wenn er aber das Gegentheil hört aufbrauset. Da Du nun Gutes thatest und eben Solches auch anbotest, magst Du Dich nicht rühmen, an Wohlthaten den König übertroffen zu haben; nun Du aber in Unverschämtheit ausschlägst, sollst Du doch nicht den verdienten Lohn, sondern weniger als den verdienten empfangen. Dich nämlich und Deine vier andern Söhne errettet Deine Gastfreundschaft: der Eine aber, an dem Du so hängst, mit dessen Leben mußt Du büßen!‘ Und nach dieser Erwiederung befahl er gleich denen die dieses Amt hatten, unter den Söhnen des Pythios den ältesten aufzugreifen und mittenentzwei zu hauen, die zwei Hälften des Leichnams aber gegeneinanderüber zu /783/ legen rechts und links am Wege; wo dann das Heer zwischen durch gehen sollte.“ (Herodot 1871, 7, 781–783; N. hatte diese Herodot-Übersetzung laut Rechnung am 06. 07. 1875 in Basel gekauft – NPB 289.) Vgl. zur nur vermeintlichen Schlechtigkeit von Fürsten und Militärs MA I 101, KSA 2, 98, 25–27. 86, 19–21 Ebenso steht es mit dem ungerechten Richter, mit dem Journalisten, welcher mit kleinen Unredlichkeiten die öffentliche Meinung irre führt.] Die Kritik am Journalismus ist bei N. ein bis ins späte Werk persistierendes Leitmotiv, vgl. z. B.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 81–82, KSA 2, S. 86
331
NK KSA 5, 13, 9–11. Reschke 2015a, 48, Fn. 8 führt zu 86, 19–21 eine bemerkenswerte Parallele in Gustav Freytags Lustspiel Die Journalisten von 1852 an, wo ein Vertreter dieser Zunft verlautbart: „Ich habe nichts gethan, als die öffentliche Meinung ein wenig redigirt.“ (Freytag 1858, 492) Vgl. auch Reschke 2015b, 167 u. Braatz 1988, 48. 86, 21–26 Ursache und Wirkung sind in allen diesen Fällen von ganz verschiedenen Empfindungs- und Gedankengruppen umgeben; während man unwillkürlich voraussetzt, dass Thäter und Leidender gleich denken und empfinden, und gemäss dieser Voraussetzung die Schuld des Einen nach dem Schmerz des Andern misst.] In Mp XIV 1, 146 lautet der Text: „Ursache u. Folge sind von ganz verschiedenen Empfindungs- u. Gedankensystemen umgeben; während man voraussetzt, dass Thäter u. Leidender gleich denken und empfinden.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,146)
82. MA I 82 will die Behauptung, dass die Eitelkeit als Schutz vor dem hässlichen Anblick der Seelenregungen und Leidenschaften funktioniere, mit einer Analogie plausibilisieren, nämlich, dass es sich hier verhalte wie bei der Haut, die vor dem ekelhaften Anblick der Innereien schütze. Das erinnert zwar an den in GM II 7 (vgl. schon FW 599) nach dem Traktat De miseria humanae conditionis von Lotario dei Conti di Segni (später Papst Innozenz III.) paraphrasierten Befund, der Mensch sei körperlich ein Ausbund der Widerwärtigkeit (vgl. NK KSA 5, 303, 2–7). Aber N. übernimmt an der fraglichen Stelle einen Passus aus Philipp Mainländers Philosophie der Erlösung (Mainländer 1876, 206), und es ist weder in GM II 7 noch bei Mainländer wie in MA I 82 von der Haut die Rede, „die den Anblick des Menschen erträglich“ (86, 30) mache. Williams 1952, 46 sieht in MA I 82 La Rochefoucaulds Konzept des „amourpropre“ exemplifiziert. Das Thema der Eitelkeit kehrt in MA I öfter wieder, z. B. in MA I 89, KSA 2, 88. Zu MA I 82 siehe z. B. auch Gerhardt 1996, 132, Planckh 1998, 232, Müller-Lauter 1999a, 151, Haberkamp 2000, 59 u. Imasaki 2012, 276. Zu MA I 82 gibt es in Mp XIV 1, 284 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,284). Eine weitere, fast identische Fassung ebenfalls von Brenners Hand gibt es in U II 5, 53 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,53). 86, 30 die den Anblick des Menschen erträglich macht] In Mp XIV 1, 284 und U II 5, 53 stattdessen: „um den Anblick des Menschen erträglich zu machen“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,284 u. www.nietzschesource.org/DFGA/ U-II-5,53).
332
Menschliches, Allzumenschliches I
86, 32 Haut der Seele] Catherine Pozzi (1882–1934) wird diese Wendung, ins Französische übertragen, als Titel Peau d’âme ihres ab 1915 entstehenden, unvollendeten und erst posthum ab 1935 erschienenen berühmten metaphysischen Essays benutzen – mit der schönen Pointe, dass darin Charles Perraults Märchen Peau d’âne (1694 – Eselshaut) mitklingt. N. hat freilich die Fügung nicht erfunden, vgl. z. B. – sehr viel konventioneller – Stolz 1851, 215: „der Leib ist die Haut der Seele“ (vgl. ebd., 51). Bei N. kehrt sie wieder in NL 1883, KSA 10, 9[31], 355, 10 u. im Brief an Ida Overbeck, kurz vor dem 14. 08. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 448, S. 421, Z. 43.
83. Die Pointe von MA I 83 besteht darin, dass man sonst mit dem „S c h l a f d e r T u g e n d“ (87, 2) Fehltritt und Laster assoziiert. Diesen Assoziationshorizont provoziert die kurze Sentenz und stellt die Möglichkeit in den Raum, dass gerade diese Konfrontation mit der Untugend während des Tugendschlafes die Tugend stärkt: Nach Fehltritten wird manche(r) „frischer aufstehen“ (87, 3), also umso moralischer. Vgl. zur Interpretation dieses Textes Liessmann 2021, 97: „Wie ist das zu verstehen? Auch ein tugendhafter Mensch kann seine Tugend nicht pausenlos durchhalten, so wie der Mensch nicht ununterbrochen wach sein kann. Auch die Tugend muss ruhen, um sich zu erholen. Wann aber schläft die Tugend? Wenn man sich dem Laster hingibt! Aus dieser Hingabe an das Laster kann dann die Tugend frischer erwachsen, erst vor der Folie des Lasters schärfen sich die Konturen und Vorteile der Tugend.“ Zu MA I 83 gibt es in Mp XIV 1, 334 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,334), wie üblich noch ohne Titel. NL 1876, KSA 8, 18[18], 318, 17–20 ist ausführlicher: „In Lastern und bösen Stimmungen sammelt oft der gute Hang in uns sein Quellwasser, um dann stärker hervorzubrechen. Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen.“ Dazu lautet die Vorarbeit in U II 5, 151: „In Lastern u. bösen Stimmungen sammelt oft der gute Hang in uns sein Quellwasser um dann stärker hervorzubrechen. Wenn die Tugend schläft, wird sie einmal frischer aufstehen.“ (http://www.nietz schesource.org/DFGA/U-II-5,151) N. wird die Sentenz 87, 2 f. dann wieder anführen in einer Sammlung „‚B ö s e W e i s h e i t.‘ / Sprüche und Sprüchwörtliches“ (NL 1883, KSA 10, 12[1], 383, 1 f.), und zwar genauer in NL 1883, KSA 10, 12[1]65, 388, 19. 87, 2 S c h l a f d e r T u g e n d] Die Wendung „Schlaf der Tugend“, die während des 19. Jahrhunderts gelegentlich in erbaulicher Literatur vorkommt, hatte bereits einen prominenten Auftritt in Hans Christian Andersens Märchen Die Eisjungfer: „Sie brach in Zorn aus, und das war gut für sie, denn sonst würde sie sehr betrübt
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 82–85, KSA 2, S. 86–87
333
geworden sein; jetzt konnte sie einschlafen, den stärkenden Schlaf der Tugend schlafen.“ (Andersen o. J., 972) Andere Ausgaben ersetzen freilich den „Schlaf der Tugend“ durch den „Schlaf der Jugend“, so dass ersterer womöglich nur ein schnöder, allerdings in neueren Ausgaben perpetuierter Druckfehler gewesen sein könnte. N. jedenfalls kannte Andersen schon seit Jugendtagen (vgl. z. B. Brobjer 1999, 320). Liessmann 2021, 104–106 stellt einen Bezug des Tugendschlafes in MA I 83 zu Francisco de Goyas berühmter Radierung El sueño de la razón produce monstruos (1797/99) aus der Sammlung Los Caprichos her, obwohl er einräumt, dass N. sie wohl nicht gekannt habe.
84. MA I 84 lässt die Scham als eine Haltung erscheinen, die viel weniger mit dem Selbstverhältnis als mit dem Weltverhältnis des Individuums zu tun hat. Man schäme sich nicht der eigenen schmutzigen Gedanken, aber angesichts der Möglichkeit, dass andere einem solche „Gedanken zutraue[n]“ (87, 7 f.). Scham wird damit dargestellt als eine keineswegs natürliche Empfindung, sondern als ein elaboriertes Reflexionsprodukt aus Selbst- und Weltwahrnehmung. Man empfindet nicht einfach Scham, sondern tut dies in einem Kontext, historisch nur unter bestimmten Umständen. Scham ist damit ein vorzügliches Beispiel für das, was der Titel des Hauptstückes artikuliert, dass nämlich „moralische Empfindungen“ eine „Geschichte“ haben. Zu MA I 84 gibt es in Mp XIV 1, 338 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,338), ebenso in M I 1, 46 von Köselitz’ Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,46). Eine Vorarbeit in U II 5, 199 lautet: „Die Menschen schämen sich nicht, etwas Unanständiges zu denken, aber wohl, wenn sie denken, dass man ihnen diesen Gedanken zutraute.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,199) Das Thema der Scham nimmt MA I 100, KSA 2, 97 wieder auf, vgl. auch zu JGB Häubi 2019 und zu GM NK KSA 5, 302, 19–22.
85. „B o s h e i t“ (87, 10) ist nach der Implikation von MA I 85 etwas, was sich gegen andere richtet: Sie komme nämlich nur selten vor, da die Mehrzahl der Menschen sich nur um sich selbst kümmere. Der strukturelle Egoismus menschlichen Verhaltens führt nach dieser Ultrakurzanalyse also nicht zu einer Vermehrung moralischer Übel, sondern schränkt sie gerade ein – die Individualegozentrik verhin-
334
Menschliches, Allzumenschliches I
dert oft das unziemliche Ausgreifen in die Sphäre der Anderen. Schopenhauer hatte die Bosheit als den Willen definiert, das fremde Weh zu wollen (vgl. NK 23, 24–26 u. NK ÜK MA I 25). Dafür haben die meisten Menschen nach MA I 85 gar keine Zeit. Die dem entgegenstehende, landläufige moralphilosophische Meinung besagt, gerade die wahrhaft gute, sittliche Tat sei selten. Zu MA I 85 gibt es in Mp XIV 1, 344 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,344), textlich identisch schon in U II 5, 40 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,40). 87, 10 B o s h e i t i s t s e l t e n.] Der Titel liest sich wie eine Umkehrung von La Rochefoucaulds Maxime 481, nach der nichts so selten sei wie die wirkliche Güte: „Rien n’est plus rare que la véritable bonté; ceux /92/ même qui croient en avoir n’ont d’ordinaire que de la complaisance ou de la foiblesse.“ (La Rochefoucauld o. J., 91 f.)
86. „Urtheilskraft“ (87, 15) ist nach MA I 86 weniger ein Vernunftvermögen, sondern ein Schmuck im sozialen Umgang, der dem Urteilenden Anerkennung verschafft. Entsprechend dosiert dieser sein Lob oder seinen Tadel nicht im Hinblick auf das Zu-Beurteilende, sondern im Hinblick auf diejenigen, die sein Urteilen beobachten. Urteilskraft erweist sich so stets als ein Interaktionsprodukt und keineswegs als das, was sie für Kant zu Beginn der „Transzendentalen Analytik“ in der Kritik der reinen Vernunft war: „Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urtheilskraft das Vermögen unter Regeln zu subsumiren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht.“ (AA III, 131) Die Regeln, unter die eine solche Subsumption nach MA I 86 stattfindet, wären die der sozialen Profilierung. Ohne den Rekurs auf Urteilskraft kommt die Anatomie des Lobens aus, die La Rochefoucauld in seinen Maximen 144 und 146 gibt, die Williams 1952, 46 im Hintergrund von MA I 86 stehen sieht: „CXLIV. On n’aime point à louer, et on ne loue jamais personne sans intérêt. La louange est une flatterie habile, cachée et délicate, qui satisfait différemment celui qui la donne et celui qui la reçoit: l’un la prend comme une récompense de son mérite; l’autre la donne pour faire remarquer son équité et son discernement. […] CXLVI. On ne loue d’ordinaire que pour être loué.“ (La Rochefoucauld o. J., 37) Zu MA I 86 gibt es in Mp XIV 1, 168 eine ‚Reinschrift‘ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,168) und in N II 2, 89 ein fast textidentisches Notat, mit einer allerdings bedeutsamen Abweichung (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,89), siehe NK 87, 13.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 85–87, KSA 2, S. 87
335
87, 13 Man lobt] In Mp XIV 1, 168 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,168), im Druckmanuskript D 11, 44 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,44) und in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 73) steht stattdessen: „Man liebt“. Auch in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601, in N.s Handexemplar C 4402 zur Ausgabe von 1878 und im Handexemplar C 4412[1] zur Ausgabe von 1886 wurde das nicht korrigiert. Die ‚Emendation‘ in KGW/KSA und bereits früheren Editionen beruht ausschließlich auf dem Notat N II 2, 89, wo es „Man lobt“ heißt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,89). Angesichts der starken Textzeugen für das „liebt“ statt des „lobt“ ist freilich nicht auszuschließen, dass N. sich bewusst von der ursprünglichen Version in N II 2, 89 gelöst hat. Dann würde MA I 86 nicht die soziale Praxis des Lobens, sondern die des Liebens behandeln – mit nicht weniger ernüchternden Konsequenzen.
87. MA I 87 will anhand einer unscheinbaren Umstellung eines neutestamentlichen Verses, die ein einziges Wort betrifft, ein Schlaglicht auf die Interessegeleitetheit scheinbar selbstloser christlicher Gesinnung und Praxis hinweisen, aber vielleicht auch auf die allgemeine menschliche Praxis der nach Anerkennung gierenden Selbstherabsetzung in der Alltagskommunikation. Zu MA I 87 gibt es in Mp XIV 1, 345 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, die auf die explizite Nennung der Bibelstelle und damit auf einen Titel verzichtet (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,345). In NL 1876/77, KSA 8, 21[52], 374, 9 wird der Beginn des Verses fortsetzungslos angeführt: „Wer sich erniedrigt“. In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 34 steht am Anfang eines längeren Abschnitts der Satz „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden – das ist der Lauf der Welt ˹Sinn der gewöhnlichen Bescheidenheit˺“, der dann insgesamt durchgestrichen wurde. Danach geht es mit „Trotzdem giebt es“ weiter (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,34) und mit dem Text, der im Druck als MA I 588, KSA 2, 338, 2–11 erscheint. Zunächst dürfte also das abgewandelte Bibelwort als Einleitung eines längeren Textes über „Bescheidenheit“ gedient haben, bevor es zum eigenständigen Abschnitt wurde. 87, 17 f. L u c a s 1 8 , 1 4 v e r b e s s e r t. – Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden.] Der originale Halbvers Lukas 18, 14 lautet in N.s Bibel: „und wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 96). Es ist die Deutung, die Jesus seinem Gleichnis vom selbstgerechten Pharisäer und sündenbewussten Zöllner gibt: Letzterem verspricht Jesus das Himmelreich, ersterem die Erniedrigung. N. ersetzt nur das „wird“ durch das „will“. Auf den Christen angewandt, ist der wohl nicht so bescheiden und demütig, wie er tut,
336
Menschliches, Allzumenschliches I
sondern strebt nach Erhöhung, in einem Jenseitsreich. Aber diese zur Schau gestellte Demut ist keineswegs auf Christen beschränkt, sondern gängige Alltagspraxis zur Absorption der Aufmerksamkeit anderer.
88. Jemanden seines Suizides abspenstig zu machen, stellt MA I 88 als „Grausamkeit“ (87, 22 f.) dar – während es ein Recht gebe, jemandem das Leben nehmen zu dürfen, gebe es „keines, wonach wir ihm das Sterben nehmen“ (87, 22). In der Tradition galt es gerade als Unrecht, sich selbst das Leben zu nehmen. MA I 88 dreht diese Gedankenfigur um. Zum Suizid auch MA I 80, KSA 2, 85. Zu MA I 88 gibt es in Mp XIV 1, 340 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,340). Eine Variante in U II 5, 95 lautet: „Es giebt kein Recht, nach welchem wir einen Menschen verhindern könnten, sich das Leben zu nehmen. Den Verbrecher in diese Lage des Leben-müssens zu versetzen ist Grausamkeit.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,95) Der Fokus dieser Version ist viel enger als der schließliche Drucktext, betrifft die Suizid-Verhinderung hier doch nur den „Verbrecher“, dem man in der Strafrechtspraxis des 19. Jahrhunderts tunlichst die Mittel nahm, sich selbst zu töten, anstatt eine Haftstrafe abzusitzen oder eine Hinrichtung auf sich zu nehmen. Auf welcher moralischen Grundlage MA I 88 das Grausamkeitsverdikt gegen die Suizidverhinderung erhebt, macht der Abschnitt selbst zwar nicht explizit. Es liegt jedoch nahe, gerade im Hinblick auf die den Verbrecher fokussierende Vorstufe, den strengen Determinismus in Anschlag zu bringen, den MA I 70 aufruft, nach dem der Verbrecher (wie jeder andere Mensch) für sein Tun nicht verantwortlich ist und also keine Strafe verdient. MA I 88 behauptet freilich, es gebe „ein Recht, wonach wir einem Menschen das Leben nehmen“ (87, 21), das MA I 70 explizit im Blick auf Todesurteile in Abrede gestellt hatte. Die Frage wäre dann, wie das „Es giebt“ zu verstehen ist: deskriptiv (in den gegebenen Rechtsordnungen vorhanden) oder normativ („wir“ sollten dieses „Recht“ haben).
89. Nach MA I 89 liege uns an der Anerkennung bzw. „guten Meinung“ (88, 2) der anderen, weil sie uns nütze oder wir den anderen selbst eine „Freude“ (88, 4) bereiten wollten. Wer jedoch diese Anerkennung ohne die genannten Absichten sucht, gelte als eitel, weil man sich selbst „eine Freude machen“ (88, 9) wolle, durchaus auf Kosten der anderen. Man wolle eine Beglaubigung der Selbstachtung, der Selbstanerkennung durch die andern, weil man auf Autorität getrimmt
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 87–89, KSA 2, S. 87
337
sei und also das Urteil der anderen zur Absicherung der Selbstbeurteilung braucht. Der Eitle wolle, dass der andere eine unangemessene Hochschätzung von einem habe und richte sich dann an diesem ja faktisch falschen Urteil selbst aus, schenke ihm Glauben, obwohl man doch eigentlich wissen müsste, dass man den anderen bloß in die Irre geführt habe. Eitelkeit wäre dann nichts weiter als Selbstbetrug, der im Gegensatz zu einer um das fremde Urteil unbekümmerten Selbstachtung steht. Nach dem Gedankenstrich in 88, 25 wird resümiert, dass die Eitlen in ihrem Wahn, gefallen zu wollen, ihr tatsächliches Eigeninteresse aus dem Blick verlören, wollten sie „oft“ (88, 28) doch die anderen in Neid und Missgunst gegen sich aufbringen, um so ihren „Selbstgenuss“ (88, 30) zu optimieren. Hier zeigt sich freilich ein Haarriss in der Argumentation: Denn ist das Urteil über jemanden wegen Neid und anderer negativer Affekte unvorteilhaft, kann dieser jemand auch nicht die Hochschätzung der anderen als Abziehbild für seine Selbstschätzung brauchen. Dann würde seine Eitelkeit früher oder später kollabieren. Ist das gemeint, wenn es in 88, 27 f. heißt, dass die Eitlen „ihren Vortheil dabei“ vernachlässigten? Allerdings scheinen weder die Eitelkeit noch die Eitlen auszusterben, wenn man ihr häufiges Auftreten in MA I in Rechnung stellt, vgl. z. B. MA I 79, KSA 2, 84 f. u. MA I 82, KSA 2, 86. Und auch nicht wirklich klar ist, woher der Sprecher so viel weiß über das genaue Verhältnis von Selbst- und Fremdwahrnehmung – über den Willen, sich selbst zu erhöhen? Ist das Argumentieren hinsichtlich der Eitelkeit, das für den moralistischen Diskurs des 17. und 18. Jahrhunderts typisch war, im Jahr 1878 noch auf der Höhe der Zeit, als ob die Eitelkeit ein selbst nicht historisierbares, ewiges menschliches Laster wäre? Immerhin ist Eitelkeit auch bei [Rée] 1875 und Rée 1877 ein dominantes Thema. So ist „Befriedigung der Eitelkeit“ für Rée neben Selbsterhaltung und „Befriedigung des Geschlechtstriebes“ die zentrale Komponente des „egoistischen Triebes“: „Die Eitelkeit endlich giebt den Wunsch ein, zu gefallen und bewundert zu werden. Wer diesen Wunsch hat – jeder hat ihn – wird aber diejenigen hassen, welche besser gefallen oder mehr bewundert werden, als er selbst. Er wird desshalb suchen, sie zu verdrängen, zu vernichten, und wenn es gelungen ist, Schadenfreude empfinden.“ (Rée 1877, 1 = Rée 2004, 127) Zu MA I 89 gibt es in U II 5, 33–34 eine ‚Reinschrift‘ mit zahlreichen Umstellungen und Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,33et34). In der Aufzeichnung NL 1876/77, KSA 8, 20[6], 362, 6–14 wird der Radius enger gezogen und nicht behauptet, über die Eitelkeit im Allgemeinen etwas zu sagen, sondern nur über die ganz bestimmte Eitelkeit eines ganz bestimmten Menschenschlags. Dieses Notat wiederum kommt MA I 545, KSA 2, 329 nahe, das thematisch eine Doublette zu MA I 89 darstellt; 20[6] ist zitiert in NK ÜK MA I 545. Sehr ausführlich behandelt das Thema schließlich NL 1876/77, KSA 8, 20[8], 362, 27–364, 9: „Die Eitelkeit hat zwei Quellen, entweder in dem Gefühl der Schwäche oder in
338
Menschliches, Allzumenschliches I
dem der Macht. Der Mensch, sobald er seine Hülflosigkeit als Einzelner und das Maass seiner Kräfte und Besitzthümer wahrnimmt, sinnt auf Austausch mit den Nächsten. Je höher diese seine Kräfte und Besitzthümer taxieren, um so mehr kann er für sich bei diesem Austausche gewinnen. Nun kennt er von Allem, was er besitzt, die schwachen Seiten nur zu genau. Desshalb verdeckt er diese und stellt die starken glänzenden Eigenschaften an’s Licht. Dies ist die eine Art der Eitelkeit; dazu gehört die andere, welche den Schein von glänzenden Eigenschaften, die in Wahrheit nicht da sind, erwecken will: beide zusammen bilden die sehende Eitelkeit (welche Verstellung ist). Der auf diese Weise eitle Mensch will Begehrlichkeit nach sich und damit höhere Taxation erzeugen. Neid entsteht, wenn einer begehrlich ist, aber keine oder kaum eine Aussicht hat, seine Begehrlichkeit durch Tausch zu befriedigen. Wir sind alle begehrlich nach fremdem Besitz. Einmal weil wir die Schwächen des eigenen Besitzes zu gut kennen und seine Vorzüge uns durch Gewöhnung reizlos geworden sind, sodann weil der Andere seinen Besitz in das günstigste Licht gestellt hat. Wir scheinen verliebter in unsern Besitz, um ihn begehrenswerther erscheinen zu lassen. Beim Tausch glaubt jeder den Andern übervortheilt und selber den höheren Gewinn zu haben. Der Tauschende hält sich für klug; die sehende Eitelkeit vermehrt im Menschen den Glauben an seine Klugheit. Der Tauschende meint, er sei der Täuschende, aber der, mit welchem er tauscht, glaubt von sich dasselbe. – Wir schätzen das Beneidetwerden, weil die Andern, welche uns nicht beneiden, sondern einen Tausch anbieten können, durch die gesteigerte Begehrlichkeit der Neidischen zu einer höheren Taxation unserer Güter gedrängt werden. – Das Gefühl der Macht, vererbt, erzeugt die blinde Eitelkeit (während jenes die sehende, nach dem Vortheile hin sehende war); die Macht discutiert und vergleicht nicht, sie hält sich für die höchste Macht, sie macht die höchsten Ansprüche; bieten andere ihre Begabungen und Kräfte mit demselben Anspruche an, so bleibt jetzt nur der Krieg übrig: durch einen Wettkampf wird über das Recht dieser Ansprüche entschieden oder durch Vernichtung des einen Mitbewerbers, mindestens seiner hervorragenden Fähigkeit. Eifersucht ist der gereizte Zustand des Mächtigen im Verhältniss zum mächtigen Mitbewerber; Neid, der hoffnungslose Zustand, ihm nicht zuvorkommen zu können: also wenn er im Kriege unterliegt. Der Neid bei sehender Eitelkeit entsteht aus ungestillter Begehrlichkeit; der Neid bei blinder Eitelkeit ist die Folge einer Niederlage.“ Zur gegenseitigen Anerkennung Gleichmächtiger in MA I 89 sowie in MA II WS 22 u. 26 siehe Meredith 2021, 225 u. 235. 88, 6–10 Nur wo Jemandem die gute Meinung der Menschen wichtig ist, abgesehen vom Vortheil oder von seinem Wunsche, Freude zu machen, reden wir von Eitelkeit. In diesem Falle will sich der Mensch selber eine Freude machen, aber auf Unkosten seiner Mitmenschen] Diese Begriffsbestimmung lehnt sich eng an (die Gesprächs-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 89–90, KSA 2, S. 88
339
gemeinschaft mit) Paul Rée an: „Vornämlich aus zwei Gründen ist es uns nicht gleichgültig, ob andere eine gute oder eine schlechte Meinung über uns haben, / 1) weil wir eigennützig sind, und in sofern von einer guten Meinung Vortheile hoffen, von einer schlechten Nachtheile befürchten; / 2) weil wir eitel sind; in sofern ist uns die gute Meinung selbst angenehm, die schlechte Meinung selbst unangenehm. Die Eitelkeit hat also eine positive und eine negative Seite: wir wünschen die gute Meinung, nämlich zu gefallen, bewundert, beneidet zu werden; wir fürchten die schlechte Meinung, nämlich zu missfallen, gering geschätzt, verachtet, verlacht zu werden.“ (Rée 1877, 69 = Rée 2004, 168) In einer „Anmerkung“ führt Rée begrifflich weiter aus: „Das Wort Eitelkeit ist hier in einem weiteren Sinne gebraucht, als man es gewöhnlich zu gebrauchen pflegt. Gewöhnlich bezeichnet man nur denjenigen als eitel, bei welchem der Wunsch zu gefallen, /71/ mehr zu haben als andere, bewundert zu werden, unmittelbar hervortritt (also denjenigen, welcher hier als eitel im engeren Sinne bezeichnet ist), und unterscheidet von ihm den Ehrgeizigen und denjenigen, welcher aus Ehrgefühl handelt. Allein Eitelkeit im engeren Sinne, Ehrgeiz und Ehrgefühl sind, wie gezeigt, Aeusserungen desselben Grundtriebes, nämlich der Rücksicht auf die Meinung anderer an und für sich selbst (im Gegensatz zu der Rücksicht auf die Meinung anderer wegen des Nutzens, den man von ihr erwartet: Eigennutz). Der Unterschied besteht nur darin, dass sich diese Rücksicht entweder unmittelbar zeigt: dann nennt man sie Eitelkeit; oder als Arbeit, Bewunderung und Neid erregende Güter zu erwerben, hervortritt: dann nennt man sie Ehrgeiz; oder als Empfindlichkeit gegen Verachtetwerden (gegen Schande) sich äussert: dann nennt man sie Ehrgefühl.“ (Rée 1877, 70 f. = Rée 2004, 169) Auch wenn MA I 89 die begrifflichen Unterscheidungen so schematisch nicht übernimmt, ist der Diskussionszusammenhang deutlich – übrigens auch der mit den klassischen Moralisten, vgl. z. B. La Rochefoucaulds Maxime 389: „Ce qui nous rend la vanité des autres insupportable, c’est qu’elle blesse la nôtre.“ (La Rochefoucauld o. J., 78; Seite in N.s Exemplar mit Eselsohr markiert.) 88, 30 Selbstgenuss] Vgl. NK 71, 7–12, NK 104, 13–18 u. NK 329, 6.
90. Nach MA I 90 stößt die „M e n s c h e n l i e b e“ (89, 2) da an Grenzen, wo das eigene, abschätzige (Vor-)Urteil durch den Umstand, dass ein anderer sich weder als so dumm noch als so schlecht erweist, wie der Urteilende davor glaubte, revidiert werden muss. Man scheint diesen anderen dann erst recht nicht mehr zu mögen, obwohl er sich doch als ein ganz anderer erwiesen hat, als man geglaubt hatte, dass er sei. Zu Lob und Tadel vgl. auch MA I 86, KSA 2, 87.
340
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 90 gibt es in Mp XIV 1, 338 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,338). Fast identisch ist die Formulierung in M I 1, 45 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I1,45). Eine Variante in U II 5,193 lautet: „Jeder, der sich erklärt hat, dass der Andere ein Dummkopf, ein schlechter Gesell ist, ärgert sich, wenn jener gelegentl. zeigt, dass er es nicht ist.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,193) 89, 2 M e n s c h e n l i e b e] Später wird N. gerne gerne gegen den Begriff der „Menschenliebe“ polemisieren, vgl. z. B. zum „Cultus der Menschenliebe“ M 132, KSA 3, 123, 23, zu N.s Begriffsumprägung NK KSA 6, 170, 11–13.
91. Nach MA I 91 spricht „Moralität“ (89, 8) vor allem eine ästhetisch-sinnliche Seite an: Sie rühre, wenn man Geschichten „edler, grossmüthiger Handlungen“ (89, 9 f.) erzählt, zu Tränen und bereite damit ein bittersüßes „Vergnügen“ (89, 7). Würde sich der Gedanken der „völlige[n] Unverantwortlichkeit“ (89, 11) durchsetzen – vgl. z. B. MA I 39 u. MA I 105 –, wäre dieses Vergnügen vernichtet. Daraus folgt, ohne dass MA I 91 es aussprechen müsste, dass viele wohl aus Gründen des ästhetischen Lustgewinns an der Idee der Willensfreiheit festhalten. Zu MA I 91 gibt es in Mp XIV 1, 226 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,226). Thematisch verwandt mit MA I 91 ist NL 1877, KSA 8, 22[87], 394, 1 f.: „Das ausserordentliche Vergnügen welches man der M o r a l (bei Erzählungen) und der Kunst verdankt.“ Freilich ist das Moment der Rührung, das der Titel von MA I 91 sowie das „Meer angenehmer Thränen“ (89, 8 f.) aufrufen, in 22[87] noch unterbelichtet, um die spezifische ästhetische Dimension des Moralgenusses herauszustellen. Zur Interpretation von MA I 91 vor dem Hintergrund von Heine siehe Häfner 2006, 260 f., ferner Wisser 1972, 62. 89, 7 M o r a l i t é l a r m o y a n t e] N. benutzt die Fügung noch ein zweites Mal, nämlich, als er in seinem Brief Reinhart von Seydlitz vom 13. 05. 1888 jene Episode mit dem vom Kutscher gequälten Pferd zu schildern beginnt, die wohl die Keimzelle für das nachmalige Turiner Pferdumarmungsmythologem gewesen ist: „Gestern dachte ich mir ein Bild aus von einer moralité larmoyante, mit Diderot zu reden.“ (KSB 8/KGB III 5, Nr. 1034, S. 314, Z. 59 f.; vgl. dazu z. B. Christian Niemeyer in NH, 31, Niehues-Pröbsting 2005, 180 u. Kaufmann 2019b, 411, Fn. 44.) Nun handelt Denis Diderot anscheinend nirgends von einer „moralité larmoyante“ (allerdings vermerkt der Kommentar in Nietzsche 2023 zu KSB 8/KGB III 5, Nr. 1034: „Diderot ha usato questa espressione per caratterizzare il teatro a contenuto morale, che doveva edificare commuovendo, e anche per i quadri della prima produzione di Jean-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 90–92, KSA 2, S. 89
341
Baptiste Greuze (1725–1805)“, bleibt dafür aber einen Beleg schuldig). Hingegen hat er die eigentlich von Pierre-Claude Nivelle de La Chaussée erfundene „comédie larmoyante“, das „rührende“ oder „rührselige Lustspiel“, namentlich in Le Père de famille (1758) weiterentwickelt – so sehr, dass aus mäßig informierter deutscher Sicht er schließlich zu ihrem Vater erklärt wurde. Bei Herman Grimm – den N. kennt, auch wenn er seinen Vornamen falsch schreibt (ZB 2, KSA 1, 687, 20 f.) – heißt es in seinen populären, vielfach aufgelegten Goethe-Vorlesungen: „Diderot erfand die /60/ prosaische Tragödie, die sogenannte comédie larmoyante, die ‚weinerliche Comödie‘, deren Vertreter in Deutschland Lessing war.“ (Grimm 1877, 1, 59 f.) Obwohl es marginale Belege für den Gebrauch der Fügung „moralité larmoyante“ in der französischen Zeitschriftenliteratur gibt, scheint es wahrscheinlich, dass N. sie vor dem Hintergrund von Diderots (vermeintlicher) „comédie larmoyante“ neu erfunden hat als eine Moralität, die zu Tränen rühren will und sich daher beispielsweise um Wahrheit oder Wahrhaftigkeit nicht schert. 89, 9 grossmüthiger] Fehlt in Mp XIV 1, 226. Zum Großmut bei N. vgl. NK ÜK FW 49 u. zur Begriffsgeschichte NK KSA 3, 374, 4–16.
92. Nach MA I 92 hat „[d]ie Gerechtigkeit“ (89, 14) ihren „Ursprung“ (89, 15) in der Austauschbeziehung von Personen, zwischen denen eine gewisse Machtgleichheit besteht und die einsehen, dass eine (gewaltsame) Auseinandersetzung zum gegenseitigen Nachteil gereichte. Beide Seiten bekämen im Tausch etwas, was sie jeweils besonders gerne hätten; der „Charakter des T a u s c h e s“ (89, 21 f.) sei für den Anfang der Gerechtigkeit ausschlaggebend, selbst „Rache“ und „Dankbarkeit“ (89, 28 f.) fielen unter diesen Gesichtspunkt, wohl weil Rache streng auf die Proportionalität der Schadenszufügung oder Dankbarkeit streng auf die Proportionalität der Gegengabe achtet. Die Gerechtigkeit als Aushandlungsprodukt geht in der Analyse dieses Abschnitts auf „Egoismus“ (90, 1) zurück, weil sie ja den eigensten Interessen desjenigen dienlich war, der sie übt. Diesen egoistischen Ursprung habe man aber vergessen und seither angefangen, die Gerechtigkeit als etwas Unegoistisches zu verstehen, worauf heute ihre Wertschätzung beruhe. Man habe sie immer stärker aufgeladen und dadurch in ihrem Wert vermehrt. „Wie wenig moralisch sähe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus!“ (90, 16 f.) Um die Harmonisierbarkeit der Gerechtigkeitsursprungsgeschichte in MA I 92 mit anderen Herkunftserzählungen ist es nicht ganz leicht bestellt: MA I 81, KSA 2, 85 f. geht von einem Machtungleichgewicht aus, das je nach sozialer Situation ein anderes Gerechtigkeitsempfinden mit sich gebracht habe. MA I 96, KSA 2, 92 f. argumentiert mit der Moralstiftungsfunktion der sozialen Nutzensmaximierung
342
Menschliches, Allzumenschliches I
und der Schadensvermeidung und könnte den Anschein erwecken, eine Austauschgerechtigkeit sei nicht mehr erforderlich. Angesichts der in MA I 92 formulierten Vorbedingung ungefährer Machtgleichheit der Akteure scheint auch nicht jeder, sondern nur ein bestimmter Gerechtigkeitsbegriff hier in seiner Entstehung untersucht zu werden – und es fragt sich, in welcher Weise dieser Begriff verallgemeinerbar ist, gerade im Hinblick auf soziale Verhältnisse, wo eine solche Machtgleichheit nicht gegeben ist. Denn warum sollte man vergessen haben, dass Tauschverhältnisse nützlich sind, wenn sie den Tauschenden zugute kommen? Vergessen hat man nach MA I 92 den egoistischen Ursprung dieser Form von Gerechtigkeit – aber ist das angesichts des nach wie vor für alle sichtbaren Nutzens von Tauschverhältnissen plausibel? Und warum sollte moderne Gerechtigkeit ausschließlich auf diesen speziellen Billigkeitstypus vormoderner Gerechtigkeit zurückgehen? (Das Thema „Gerechtigkeit als Tausch“ ist in der politischen Philosophie der Gegenwart noch virulent, vgl. Höffe 1991 und dazu Kersting 1997.) Zu Gerechtigkeit als Billigkeit vgl. auch NK ÜK MA I 451. Zu MA I 92 gibt es in Mp XIV 1, 105 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich ohne Titel, die den späteren Drucktext 89, 14 bis 90, 3 mit Abweichungen vorwegnimmt (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,105); in P II 12b, 60 steht der Text ab 90, 3 nach dem Gedankenstrich bis 90, 20 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/P-II12b,60). Auch im Druckmanuskript von Köselitz’ Hand kommt dieser Teil auf einem separat eingeschobenen Blatt D 11, 46 erst nachträglich hinzu (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,46). In GM Vorrede 4 nimmt N. auf MA I 92 Bezug, vgl. NK KSA 5, 251, 17–20. Zu MA I 92 siehe auch Gerhardt 1981/82, Gerhardt 1983, Treiber 2015, der den Aphorismus spieltheoretisch durchbuchstabiert – eine erweiterte Fassung stellt Treiber 2023 dar –, Bianchi 2016, 156, Benoit 2017 sowie Kerkmann 2022, 24–26, der betont, dass N. hier keineswegs einen „Appell zur ungehemmten Pleonexie“ (ebd., 26) vortrage. 89, 14–21 Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr g l e i c h M ä c h t i g e n, wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln] N. bezieht sich auf die berühmte Episode in Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges (V 84–116), wo die athenischen Gesandten bei gewaltiger militärischer Übermacht mit den im Krieg gegen Sparta eigentlich neutralen Meliern über die kampflose Übergabe ihrer Insel verhandeln, diese auf die Götter, die Spartaner oder eine gütige Schicksalswendung hoffen und von den Athenern immer wieder angehalten werden, es doch mit vernünftiger Überlegung zu versuchen. Die Melier verweigern die Kapitulation und die Unterwerfung unter die athenische Dominanz, worauf die Insel Melos von
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 92, KSA 2, S. 89
343
den Athenern erobert, alle Männer getötet und alle Kinder und Frauen in die Sklaverei gezwungen werden. N. kommt darauf in NL 1875, KSA 8, 6[32], 110, 28– 111, 5 zu sprechen: „Die entsetzliche Unterredung der Athener mit den Meliern bei Thucydides! Es musste bei solchen Gesinnungen das Hellenische zu Grunde gehen, durch A n g s t auf allen Seiten. Z. B. wie der Athener sagt: ‚was das Wohlwollen der Götter betrifft, so werden wir nicht im Nachtheil sein; denn wir verlangen und thun nichts, was ausser der menschlichen Art liegt, weder in Bezug auf den Glauben an die Götter noch auch in dem, was die Menschen für sich selbst wünschen.‘“ Das Zitat erlaubt die Identifikation der Ausgabe, die N. benutzt hat, nämlich die Übersetzung von Adolf Wahrmund, die sich in seiner Bibliothek erhalten hat (dort das Zitat: Thukydides 1864, 69 = V 105). Dabei zeigt sich der Zusammenhang zur Entstehung von MA II WS 22, KSA 2, 555 f. und zwar über ein Notat in N IV 1, 3, das das Gleichgewichts- und das Thukydides-Motiv aus MA I 92 wieder aufgreift: „Sind die Gleichwiegenden im Kampf da dulden sie keine Neutralität: jetzt wollen sie das Übergewicht (Daher Melier) Dann erscheint die unbestrittene Alleinherrschaft als das geringere Übel: Rom war milder, als es herrschte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-IV-1,3). Die für MA I 92 eigentlich relevante Thukydides-Stelle steht in V 89 f.: „89. A t h e n e r: ‚Gut! Und so wollen denn auch wir nicht mit schönen Worten eine lange Rede halten, die euch doch nicht überzeugen würde, wie z. B., daß wir die Herrschaft mit Recht besizen, weil wir den Meder unschädlich gemacht haben, oder daß wir erlittenes Unrechts wegen euch zu Leibe gehen; dafür erwarten wir aber, daß auch ihr euch nicht der Täuschung hingebet, und mit solchen Dingen überreden zu können, wie wenn ihr vorbringt, daß ihr ja mit den /66/ Lakedämoniern nicht zu Felde gezogen seiet, obgleich ihr von ihnen abstammt, oder daß ihr uns ja nicht zu Leide gethan hättet. Sucht vielmehr nur das durchzusetzen, was nach Maßgabe von unser beider wirklichen Gesinnungen möglich ist. Ihr so gut wie wir wisset, daß nach menschlicher Denkart die Gerechtigkeit nur da in Betracht gezogen wird, wo auf beiden Seiten die Zwangsmittel sich die Wage halten; der Mächtige aber setzt durch, was durchzusetzen möglich ist, und der Schwache fügt sich.‘ / 90. M e l i e r: ,Wir unserseits halten für nützlich – denn ihr zwingt uns ja den Nutzen hervorzuheben, da ihr ihn mit Beseitigung der Gerechtigkeit zu eurem Grundsatz macht – wenn ihr das nicht aufhebt, was für Alle gemeinsamer Nutzen ist.‘“ (Thukydides 1864, 65 f.) Wenn MA I 92 den Melier-Dialog aufruft, dann nicht, weil N. die rücksichtslose Ausnutzung der athenischen Machtposition für eine Quelle der Gerechtigkeit hält, sondern weil die Athener in V 89 explizit die Theorie formulieren, dass Gerechtigkeit nur zwischen Gleichmächtigen in Frage komme, aber nicht bei einem starken Machtungleichgewicht wie zwischen Athen und Melos. Zum Melier-Dialog bei N. siehe z. B. Gerhardt 1996, 66 f., Gschwend 1999, 68–70, Ottmann 1999, 222 f., Schütza 2004, 225–227, Enrico Müller 2005, 1 f. u. Zittel 2016, 84, im
344
Menschliches, Allzumenschliches I
Blick auf Rée Treiber 2001, 158–160; zu N.s Faible für Thukydides NK KSA 6, 156, 15–32 u. NK KSA 6, 156, 20–24; auch in Sorrent wurde gemeinsam Thukydides gelesen, vgl. Salerno 2021, 52. In der Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts spielt die Idee des Machtgleichgewichts eine gewisse Rolle – Treiber 2015, 127 u. 2021, 101 f. verweist auf Phillips 1827–1828, 2, 313 u. Post 1875, 156 (wo Phillips zitiert wird), während Gerhardt 1983, 119 die Gleichgewichtsthese von Dühring 1865, 225 anführt. Der bei Treiber 2021, 101 f. ebenfalls gegebene Hinweis auf Rudolf von Iherings Der Zweck im Recht darf nicht so verstanden werden, als wäre Ihering hier eine mögliche Quelle von MA I 92 und MA II WS 22, denn die fragliche Stelle scheint in der Erstausgabe von Iherings Werk 1877 noch zu fehlen und erst in die zweite Auflage Eingang gefunden zu haben (Ihering 1884, 1, 254). Siehe zur Diskussion NK ÜK MA II WS 22. Auch in GM II 8 wird das Thema der Machtgleichheit als Ausgangspunkt von Gerechtigkeit wieder akut, vgl. NK KSA 5, 306, 32–307, 2. 89, 23 indem Jeder bekommt] Im Druckmanuskript D 11, 45 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,45) und in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 75) steht stattdessen: „indem Jeder bekennt“. Auch in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601, in N.s Handexemplar C 4402 zur Ausgabe von 1878 und im Handexemplar Signatur C 4412[1] zur Ausgabe von 1886 wurde das nicht korrigiert. KSA/KGW verändern hier den Drucktext nach Mp XIV 1, 105, wo Montinari liest: „indem jeder bekommt“. (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,105). Diese Lesart – fehlende m-Verdoppelung in der Handschrift! – ist zumindest anfechtbar. Überdies ‚verbessert‘ Montinari ansonsten den Drucktext von MA I 92 auch nicht nach der stellenweise abweichenden Version in Mp XIV 1, 105 (auch die Kleinschreibung von „jeder“ in der Phrase übernimmt er nicht). Die ‚Emendation‘ in 89, 23 scheint mithin problematisch. 89, 27–29 so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit.] Eugen Dühring hatte die Rache als Ursprungsmoment menschlicher Gerechtigkeitsvorstellungen stark gemacht, vgl. die Quellenauszüge in NK ÜK MA I 60. In Dühring 1865, 225 erscheinen Rache und Dankbarkeit verschwistert: „Ich glaube nun nicht zu irren, wenn ich in einem ähnlichen Sinn, als ich die Rache dem Gerechtigkeitsurtheil als inhaltgebendes Motiv zu Grunde lege, ebenso die Dankbarkeit oder, wenn man will, eine Art Liebe und Wohlwollen den Vorstellungen von der Nothwendigkeit der Belohnung als erzeugenden Trieb unterlege.“ 90, 2 f. „wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?“] In Mp XIV 1, 105 steht stattdessen: „wozu sollte man sich nutzlos schädigen u. sein Ziel ˹vielleicht˺ doch nicht erreichen?“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,105) Im Druckmanuskript D 11, 45 von Köselitz’ Hand
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 92, KSA 2, S. 89–90
345
korrigiert N. diese Version und fügt die Anführungszeichen hinzu (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,45). 90, 3–10 Soviel vom U r s p r u n g der Gerechtigkeit. Dadurch, dass die Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemäss, den ursprünglichen Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen v e r g e s s e n haben und namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist allmählich der Anschein entstanden, als sei eine gerechte Handlung eine unegoistische] Der Text macht keine Anstalten, zu erklären, weshalb man diesen Nutzen hat vergessen können. Es gibt kein Trauma, das Vergessen geböte – und warum sollte man das vergessen, was Sinn macht, und zwar nach wie vor, in Vertragsbeziehungen, bei Fairness und Billigkeit? Da sprechen auch moderne Menschen ja immer noch von Gerechtigkeit und verlangen keinen Altruismus. Das haben wir nicht vergessen. Genau dies wird GM I 3 implizit gegen MA I 92 einwenden: „Die Nützlichkeit der unegoistischen Handlung soll der Ursprung ihres Lobes sein, und dieser Ursprung soll v e r g e s s e n worden sein: – wie ist dies Vergessen auch nur m ö g l i c h? Hat vielleicht die Nützlichkeit solcher Handlungen irgend wann einmal aufgehört? Das Gegentheil ist der Fall: diese Nützlichkeit ist vielmehr die Alltagserfahrung zu allen Zeiten gewesen, Etwas also, das fortwährend immer neu unterstrichen wurde; folglich, statt aus dem Bewusstsein zu verschwinden, statt vergessbar zu werden, sich dem Bewusstsein mit immer grösserer Deutlichkeit eindrücken musste.“ (KSA 5, 260, 26– 261, 3; vgl. NK ÜK GM I 3) Rée 1877, 135 = Rée 2004, 207 hatte behauptet: „Diesen Ursprung von dem Lobe des Unegoistischen hat man später freilich vergessen.“ Die Pointe in MA I 92 besteht nun genau darin, das Gegenteil zu behaupten, dass nämlich die ursprünglich egoistische Dimension der Gerechtigkeit vergessen worden sei, nicht das angeblich ursprünglich Unegoistische. Aber in beiden Fällen wird nicht deutlich, wie es zu diesem Vergessen hat kommen können – und in MA I 92 überdies auch nicht, warum Gerechtigkeit nur einen Ursprung haben sollte. Oder soll man Tausch viel allgemeiner verstehen, als Austausch von Anerkennungsquanten, und kann dann jede Gerechtigkeit auf Austausch reduzieren (vgl. auch MA I 105, KSA 2, 102, 8 f. zur „belohnende[n] Gerechtigkeit“)? (Hat man womöglich vergessen müssen, weil Austauschgerechtigkeit eine Krämergerechtigkeit war, die in agonalen Gesellschaften verpönt wurde?) 90, 17–20 Ein Dichter könnte sagen, dass Gott die Vergesslichkeit als Thürhüterin an die Tempelschwelle der Menschenwürde hingelagert habe.] Zum Begriff der „Menschenwürde“, die hier zum ersten Mal in einem Werk N.s als Kompositum auftaucht – während „Würde des Menschen“ schon in GT 18 attackiert worden war, vgl. NK KSA 1, 117, 19–21 – und in MA I 457 wiederkehrt, siehe NK 296, 20. In 90, 17–20 wird sie als Produkt des Vergessens depotenziert und suggeriert, nur wer sich Illusionen über den Menschen mache, könne an eine solche Würde glauben.
346
Menschliches, Allzumenschliches I
93. Nach MA I 93 gibt es auch ein „R e c h t [ . ] d e s S c h w ä c h e r e n“ (90, 22), insofern dieser – seine Erhaltung – dem Stärkeren wichtig ist. Das wiederum bedeutet, dass Gerechtigkeit nicht einfach nur ihren einen Ursprung im Austausch- und Aushandlungsverhältnis Gleichmächtiger hat, wie MA I 92 plausibel machen wollte, sondern durchaus verschiedene Ursprünge haben könnte – auch wenn der Begriff der Gerechtigkeit hier nicht fällt. (MA I 93 deutet einen Ausweg an, den die militärisch hoffnungslos unterlegenen Melier bei Thukydides – vgl. NK 89, 14– 21 – hätten wählen können, nämlich den Athenern mit Selbstvernichtung zu drohen, um bessere Kapitulationsbedingungen zu bekommen.) Zu MA I 93 gibt es in Mp XIV 1, 105 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich ohne Titel, die unmittelbar auf die ‚Reinschrift‘ zu MA I 92 folgt, was den genetischen Zusammenhang beider Texte nahelegt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,105). In N II 2, 32 wird die lateinische Phrase notiert, die dann in 91, 3 f. aufgerufen wird – noch ohne N.s eigene Klammerergänzung 91, 4 f. (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,32). Zur Interpretation von MA I 93 siehe Gerhardt 1983, 126 f., Bianchi 2016, 158, Giacoia Junior 2016, 285 f., Himmelmann 2017, 10 u. Rotter 2019, 92. 90, 23 Mächtigeren] Im Druckmanuskript D 11, 47 korrigiert aus: „Mächtigen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,47). „Mächtigen“ steht auch in Mp XIV 1, 105. 90, 24 Gegenbedingung] Im Druckmanuskript D 11, 47 korrigiert aus: „Gegenkondition“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,47). 90, 30 in dem Maasse, in welchem] Im Druckmanuskript D 11, 47 korrigiert aus: „so weit als“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,47). 91, 2 In dieser Hinsicht] Im Druckmanuskript D 11, 47 korrigiert aus: „Insofern“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,47). 91, 3–5 Daher das berühmte unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere creditur).] Der Satz stammt aus dem posthum edierten Tractatus politicus von Baruch de Spinoza: „quia unusquisque tantum juris habet, quantum potentiâ valet“, steht in Kapitel 2, Absatz 8 in einer Klammer (S[pinoza] 1677, 271. Spinoza 1841, 4, 18: „weil Jeder nur so viel Recht hat, als er Macht besitzt“) und bezieht sich zurück auf Kapitel 2, Absatz 4: „consequenter quicquid unusquisque homo ex legibus suae naturae agit, id summo naturae jure agit, tantumque in naturam habet juris, quantum potentiâ valet.“ (S[pinoza] 1677, 273. Spinoza 1841, 4, 13: „Alles was sonach jeder einzelne Mensch nach den Gesetzen seiner Natur thut, das thut er mit dem höchsten Naturrechte, und
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 93, KSA 2, S. 90–91
347
er hat so viel Recht auf die Natur als er Macht besitzt.“) N. hat freilich seine Spinoza-Kenntnis (fast) ausschließlich aus zweiter Hand geschöpft (vgl. Scandella 2012, Sommer 2012b u. Rotter 2019). Hier stammt sie aus dem 2. Band von Schopenhauers Parerga und Paralipomena, § 125: „Wenn auf der Welt G e r e c h t i g k e i t herrschte, wäre es hinreichend, sein Haus g e b a u t zu haben, und es bedürfte keines anderen Schutzes, als dieses offenbaren Eigenthumsrechts. Aber weil das U n r e c h t an der Tagesordnung ist; so ist erfordert, daß, wer das Haus gebaut hat, auch im Stande sei, es zu schützen. Sonst ist sein Recht de facto unvollkommen: der Angreifer hat nämlich F a u s t r e c h t, welches geradezu der Rechtsbegriff des S p i n o z a ist, der kein anderes Recht anerkennt, sondern sagt: unusquisque tantum juris habet, quantum potentiâ valet (tract. pol. c. 2, §. 8) und uniuscujusque jus potentiâ ejus definitur (Eth. IV, pr. 37, sch. 1). – Die Anleitung zu diesem Rechtsbegriff scheint ihm gegeben zu haben H o b b e s, namentlich de cive c. 1, §. 14, welcher Stelle dieser die seltsame Erläuterung hinzufügt, daß das Recht des lieben Gottes auf alle Dinge doch auch nur auf seiner Allmacht beruhe. – In der bürgerlichen Welt ist nun zwar dieser Rechtsbegriff, wie in der Theorie, so auch in der Praxis, abgeschafft; in der politischen aber in ersterer allein: in praxi gilt er hier fortwährend. Die Folgen der Vernachlässigung dieser Regel sehen wir eben jetzt in China: Rebellen von Innen und die Europäer von Außen, und steht das größte Reich der Welt wehrlos /259/ da und muß es büßen, die Künste des Friedens allein und nicht auch die des Krieges kultivirt zu haben.“ (Schopenhauer 1873–1874, 6, 258 f.) Zu N.s Veränderung der Vorlage in der Klammer 91, 4 f., die N. erst nachträglich zu Köselitz’ Druckmanuskript hinzugefügt hat (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,47), bemerkt Gerhardt 1996, 147: „Um den Charakter gegenseitiger Machtbewertung zu unterstreichen, schlägt er [sc. N.] daher vor, das ‚berühmte‘ Wort vom Ursprung des Rechts aus der Macht (unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet) in eine genauere Lesart zu übertragen: ‚unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valere creditur‘ […] – jemand hat soviel Recht, nicht als er Macht hat, sondern: als man glaubt, daß er Macht hat, soviel man ihm also an Macht unterstellt. Dieser anscheinend marginale Korrekturvorschlag ist für die systematische Fundierung des Rechts von größter Bedeutung, denn durch das ‚creditur‘, durch den Glauben, d. h. durch die wechselseitige Erwartung möglicher Wirkungen vor dem Hintergrund einer individuellen Wertung, trennt sich die Rechtssphäre sowohl von dem Bereich objektiv meßbarer Größenverhältnisse wie auch vom Arkanum reiner Willkür.“ Vgl. dazu Brusotti 1997, 96, Fn. 152 u. Ottmann 1999, 223. MA I 93 stellt am Ende also nicht irgendwelche objektiven Machtdifferenzen gegeneinander, sondern Machtwahrnehmungsdifferenzen: Macht ist demnach nichts Gegebenes, sondern etwas kommunikativ Zugeschriebenes.
348
Menschliches, Allzumenschliches I
94. Stufen der moralischen „Empfindungen“ will MA I 39, KSA 2, 62–64 erheben, während MA I 94 drei Entwicklungsphasen der – gesperrt gesetzt – „b i s h e r i g e n Moralität“ (91, 20) herausstellt. Die erste Stufe, die den Menschen vom Tier unterscheidet, ist die längerfristiger Nutzen- und Wohlbehagensorientierung, die über das tierische Augenblicksglück hinausgeht. Die zweite Stufe stellt „das Princip der E h r e“ (91, 13) in den Mittelpunkt, mit dessen Hilfe man vom persönlichen Nützlichkeitsinteresse abzusehen lerne. Die bisher letzte und dritte Stufe sei die, wo der Mensch zum „Gesetzgeber“ (91, 22) für sich und andere geworden sei, sich vom Maßstab anderer löse und „nach s e i n e m Maassstab“ (92, 20) als „CollectivIndividuum“ (91, 28; vgl. NK 162, 11) handle. Zu MA I 94 gibt es in Mp XIV 1, 5 eine mit blauem „A“ und „Moral“ rubrizierte ‚Reinschrift‘, die sehr stark überarbeitet worden ist. In der ursprünglichen Fassung lautete sie: „Es ist das erste Zeichen einer höheren Menschheit, daß der Mensch nützlich zweckmäßig handelt: da bricht zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch höhere Stufe ist es, wenn er nach dem Princip der Ehre handelt, da ordnet er sich ein, u. das erhebt ihn hoch über die Nützlichkeit, er achtet u. will geachtet werden. Endlich handelt er, auf der höchsten Stufe, nach seinem Maßstabe über die Dinge u. Menschen, er selber bestimmt, was ehrenvoll ist, er ist zum Gesetzgeber geworden, gemäß dem immer hoeher entwickelten Begriff des Allgemein-Nützlichen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,5) In NL 1876/77, KSA 8, 21[36], 372, 5 f. gibt es ein Notat, das zumindest die erste „Phase“ der „Moralität“ betont: „Nützlichkeit im Wesen der Moral – der Grenzbewohner als Mörder.“ Der etwas kryptische Hinweis auf „Grenzbewohner als Mörder“ könnte auf einen Artikel „Von den Indianern Nordamerika’s“ in der von N. sehr gerne gelesenen Zeitschrift Das Ausland (vgl. Treiber 1996) vom 30. März 1874 verweisen, wo die Kritik an der „Barbarei der Grenzbewohner“ ([N. N.] 1874, 247) thematisiert wird, d. h. jener weißen Siedler an den Grenzen zu Gebieten der amerikanischen Ureinwohner, die sich Bluthunde halten, um den Ureinwohnern nachzustellen. Der Artikel zitiert ausgiebig aus dem Brief eines Siedlers in Neu-Ulm, der sich dagegen verwahrt, der Barbarei bezichtigt zu werden, wenn sie die „Indianer“ mit Bluthunden verfolgten: „Unsere Grenzbewohner im Allgemeinen und die Deutschen insbesondere sind durchschnittlich eine so gebildete, menschlich und christlich gesinnte Klasse von Leuten, wie nirgendwo sonst im Gebiete der Union zu finden. Sie hegen vor jeder Barbarei denselben Abscheu wie der Gebildete, menschlich Fühlende und christlich Denkende überhaupt ihn hegt.“ (Ebd.) Nun aber habe der „Indianer“ „Säuglinge vor den Augen der wimmernden Mütter auf dem zur Glühhitze geschürten Backofen zu Tode gebraten, oder ihnen an dem Rade des Wagens, auf dem die Mutter saß, den Schädel zerschmettert. […] Trotz-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 94, KSA 2, S. 91
349
dem verlangten wir Ansiedler der Grenze nichts als Bestrafung der thierischen Barbaren wie gewöhnliche Verbrecher nach Gesetz und Recht, und sicheren Schutz gegen eine Wiederholung der unerhörten Frevel. Die Strafe ereilte indessen nur eine verhältnißmäßig winzige Handvoll der Frevler; die große Masse derselben, darunter viele der schlimmsten, überwiesenen Mörder, ging frei aus.“ (Ebd.) Und da habe man eben zu Selbstjustiz und den Bluthunden Zuflucht nehmen müssen – alles nicht aus Grausamkeit, sondern im Dienste allgemeiner sozialer Nützlichkeit. MA I 94 macht keine Anstalten, den Übergang zwischen den „d r e i P h a s e n d e r b i s h e r i g e n M o r a l i t ä t“ (91, 7) zu erklären – und was diesen Übergang zur nächsten Stufe bewirkt und ausgelöst hat. Ist da ein evolutionärer Druck am Werk? Auch bleibt ein wenig unklar, wie man sich die dritte Stufe vorzustellen hat: Handelt es sich um ein autonomes moralisches Subjekt im Sinne Kants, das sich in seiner Maximenbildung aus Pflicht nicht vom (Vor-)Urteil seiner Mitmenschen abhängig macht und auf diese Weise immer „den allgemeinen dauernden Nutzen“ (91, 25) im Blick hat? Oder ist dieses „Collectiv-Individuum“ schon die Vorwegnahme des Gesetzgeber- und Umwerter-Typus, den N. in seinem späteren Werk projektieren wird – ein autokratischer Einzelner, der die andern einfach seinem Willen unterwirft, indem er behauptet, es sei dies im Interesse der Menschheit selbst? Und wenn dieser Typus offensichtlich schon in der Gegenwart realisiert ist und mit für die „b i s h e r i g e [ . ] Moralität“ (91, 20) verantwortlich ist: Wie muss man sich dann die Zukunft der Moral(ität) vorstellen? Was kann nach dem autonomen Selbstgesetzgebertypus noch kommen? Dazu lässt sich dann MA I 95 vernehmen. 91, 13 nach dem Princip der E h r e handelt] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 47 hat N. nach „Ehre“ noch eingefügt: „(Eitelkeit)“. Es ist nicht ganz klar, ob diese Eitelkeit schließlich gestrichen oder unterstrichen worden ist (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,47). 91, 17–19 das heisst: er begreift den Nutzen als abhängig von dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 47 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,47). 91, 20 b i s h e r i g e n Moralität] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 korrigiert aus: „bisherigen Moralität“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/109/). 91, 22 f. Gesetzgeber der Meinungen] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 47 hat N. „der Meinungen“ nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,47).
350
Menschliches, Allzumenschliches I
95. An der sich in MA I 94 implizit ergebenden Frage nach der Zukunft der Moralität arbeitet nun MA I 95. Zwar sei es „zu Anfang“ Ausrichtung am „allgemeinen Nutzen“ (92, 2 f.) gewesen, weswegen man „unpersönliche[.] Handlungen“ (92, 4) pries, aber mittlerweile zeichne sich die Einsicht ab, dass es gerade die persönlichsten Handlungen seien, denen auch die Allgemeinheit den größten Nutzen verdanke. Daher plädiert das „Wir“ (92, 14) nun dafür, streng das Eigene zu tun und sich selbst als Persönlichkeit zu vollenden, statt sich vorauseilend für andere zu verausgaben. In MA I 95 wird ein Motiv intoniert, das N. bis zum Ende seines Schaffens begleiten wird, nämlich die Abwehr einer Moral, die auf das Unpersönliche setzt, das bisher als Inbegriff des Moralischen gegolten habe. Dezidiert wird N. fortan auf das Majestätsrecht des Persönlichen und Individuellen gegen die Überschätzung von Unpersönlichkeit und Allgemeinheit pochen, vgl. NK KSA 5, 20, 30–34, NK KSA 6, 121, 16–23 u. NK KSA 6, 177, 19–21. MA I 95 verzichtet freilich großzügig darauf, Beweise für die historische Ausgangsthese oder für die praktischen Folgerungen beizubringen. Denn auch wenn einige sehr persönliche Handlungen allgemein nützlich sein mögen, muss das keineswegs für alle gelten. Letzteres anzunehmen, wäre eine steile spekulativ-geschichtsphilosophische These, wie sie etwa in der liberalen ökonomischen Idee vom gesamtgesellschaftlichen Nutzen privater Interessensverfolgung bei Bernard Mandeville und Adam Smith ihre klassische Formulierung findet. Andernorts macht N. eine solche These gerade lächerlich, vgl. NK 46, 12–14. Zu MA I 95 gibt es in Mp XIV 1, 213 eine mit blauem „A“ rubrizierte ‚Reinschrift‘, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,213). Zur Interpretation von MA I 95 siehe z. B. Immel 2003, 150. 91, 29 95.] In seinem Handexemplar C 4402 hat N. die Abschnittnummer „95.“ eingeklammert (Nietzsche 1878, 77 = https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/96/). 92, 2–5 es ist nachgewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allgemeinen Nutzen es war, derentwegen man alle unpersönlichen Handlungen lobte und auszeichnete] Das ist eine Grundthese bei Rée 1877, 17 = Rée 2004, 137, zitiert in NK 50, 20–22. 92, 3 auf den allgemeinen Nutzen] Mp XIV 1, 213: „auf den Nutzen“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,213). 92, 9 persönliche Handeln] In Mp XIV 1, 213 unterstrichen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,213).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 95–96, KSA 2, S. 91–92
351
92, 12 deren h ö c h s t e s Wo h l] In Mp XIV 1, 213: „deren höchstes Wohl“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,213). 92, 12 in’s Auge fassen] In Mp XIV 1, 213 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,213), in D 11, 47 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,47) und in Nietzsche 1878, 77 unisono: „in’s Auge zu fassen“. Die ‚Emendation‘ von GoA und KGW/KSA scheint grammatikalisch nicht zwingend. 92, 16–24 man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert werden müsste. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als s e i n e n Vo r t h e i l versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.] In Mp XIV 1, 213 stattdessen: „man hat auch nicht den Sinn durch Erziehung darauf gelenkt, sondern dem Staat, der Wissenschaft dem Hülfebedürftigen hiess man uns das Interesse zollen. Aber wesshalb? Jetzt sagen wir: nur soweit jeder dabei seinen Vortheil findet, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als seinen Vortheil versteht; gerade das Unentwickelt-Persönliche will ihn roh verstehen.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,213) In D 11, 47 hat Köselitz zunächst diesen Text abgeschrieben, bevor er dann einer tiefgreifenden Korrektur unterzogen wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,47).
96. MA I 96 – ein Abschnitt, den man im Horizont einer mit der Moralgeschichte befassten Aphorismenkette lesen kann, die von MA I 94 bis MA I 99 oder bis MA I 100 reicht – will zeigen, dass „[m]oralisch, sittlich, ethisch sein“ (92, 26) viel weniger mit der Paarung egoistisch/unegoistisch zu tun hat als mit dem Gehorsam gegenüber dem „Herkommen“ (92, 27 f.), dem Überlieferten. Wer sich daran orientiert, gelte als gut, wer dagegen verstößt, hingegen als böse. Dabei sei es gleichgültig, ob diese überlieferten Gebote vernünftig seien oder nicht. Man neige dazu, das Herkommen zu sakralisieren, je weiter es weg ist – ein Aspekt, den dann MA I 100, KSA 2, 97 mit der Tabuisierung der Ursprünge im Mysterium aufgreifen wird. Die überlieferten Gebote werden aber als das verstanden, was dem Überleben der jeweiligen Gemeinschaft dienlich ist – womit, wie man zu bedenken geben könnte, das ganze utilitaristische Nutzenkalkül wieder durch die Hintertür der Moralgeschichte eingedrungen ist. MA I 96 reflektiert auch nicht, dass die Gegenwart ihr Gut und Böse gerade nicht mehr aus dem Herkommen schöpfen will, während
352
Menschliches, Allzumenschliches I
nach MA I 99, KSA 2, 96 der Moralität der Zwang vorausgeht und eine Stufenfolge von „Moralität“ als Zwang (96, 29) zu Moralität als „Sitte“ (96, 31) behauptet wird. Wie unter den Voraussetzungen von MA I 96 etwas Neues entstehen kann, wenn das Alte heilig gesprochen wird, bleibt offen: Konservierung als höchster Wert torpediert Transformation. Wie aber kommt sie zustande? Eine These von MA I 96 besagt, dass das „‚Egoistische‘“ und das „‚Unegoistische‘“ nicht in einem „Grundgegensatz“ stünden (93, 11 f.), sondern vielmehr die Abhängigkeit oder die Loslösung von einem „Herkommen“ (93, 14) einen solchen Grundgegensatz darstellten. Der Abschnitt leugnet dabei das Unegoistische nicht – sind „Wohlwollen, Mitleiden“ (93, 2) damit assoziiert? –, sondern behauptet sogar, dass wir eine immerwährende Wertschätzung von Wohlwollen und Mitleiden in der Menschheitsgeschichte fänden (vgl. 93, 2–5) – ohne zu erläutern, woher die Sprechinstanz das weiß. Relevant jedenfalls erscheint die jeweils vermutete Nützlichkeit für die Gemeinschaft. Diese Nützlichkeit wiederum hat man in vielem finden können, was nichts mit egoistisch/unegoistisch zu tun hatte, beispielsweise im Gehorsam gegen Gott. Eine wichtige Rolle bei N.s Überlegungen zur „Sitte“ dürften auch seine ethnographischen Lektüren gespielt haben, namentlich Lubbock 1875, dazu NK ÜK MA I 97. Zu MA I 96 gibt es in Mp XIV 1, 98 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert sowie blau: „Urspr der Moral“, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/Mp-XIV-1,98). Vorüberlegungen stehen in NL 1876/77, KSA 8, 23[87], 434, 5–21: „Wir nennen den m o r a l i s c h, welcher in Hinsicht auf ein von ihm anerkanntes Gesetz sich unterordnet und demgemäß handelt, sei dies ein Staatsgesetz, sei es die Stimme Gottes in der Form religiöser Gebote, sei es selbst nur das Gewissen, oder die philosophische ‚Pflicht‘. Ob jemand mit Recht oder Unrecht solche Gesetze glaubt, ist gleichgültig; für die Moral ist nur wichtig, daß er nach ihnen sich richtet. – Innerhalb der verschiedenen Sphären des Egoismus ist ein Unterschied von Höher und Nieder: hier sich auf Seiten des höheren geläuterten Egoismus stellen nennen wir ebenfalls moralisch. – G u t nennen wir jetzt eine moralische Handlungsweise ohne weiteres noch nicht. Seelengüte wird dem Menschen zugesprochen, welcher nicht in Hinsicht auf ein Gesetz, sondern nach inneren Trieben gern Mitleiden Mitfreude Aufopferung usw. zeigt. Also Moralität zum Instinkt geworden, in ihrer Ausübung mit Lust verbunden, wie dies nach langer Vererbung und Gewohnheit zu geschehen pflegt: das heißt bei uns Gutsein.“ MA II VM 89, KSA 2, 412 und M 9, KSA 3, 21–24 werden dann den Gedanken der Gemeinschaftsgebundenheit der Sitte noch weiter elaborieren, FW 29 wird das Thema, Gründe hinzuzulügen, um ein Herkommen zu legitimieren, wieder aufgreifen, siehe NK 3/2.1, S. 423–425. In seinem Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 78 f.) hat N. in den 1880er Jahren den Abschnitt MA I 96 mit Bleistifteinfügungen und -streichungen vollstän-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 96, KSA 2, S. 92
353
dig überarbeitet. Der Text sollte nun lauten: „S i t t e u n d s i t t l i c h. – Moralisch, sittlich, tugendhaft sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz und Herkommen üben. Ob man mit Mühe oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei lange Zeit gleichgültig, genug, dass man es thut. (‚Gut‘ nennt man heute endlich Den, welcher wie von Natur, nach langer Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess ist (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache-üben, wie bei den älteren Griechen, zur guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil er ‚wozu‘ gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden Rücksicht Mäßigung und dergleichen in dem Wechsel der Sitten zuletzt immer als ‚gut wozu‘, als nützlich empfunden wurde, so nennt man später vornehmlich den Wohlwollenden, Hülfreichen ‚gut‘ – anfänglich standen andere u. wichtigere Arten des Nützlichen. Böse ist ‚nicht sittlich‘ (unsittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen widerstreben, wie vernünftig oder dumm dasselbe auch sei; das Schädigen der Gemeinde (und des in ihr begriffenen ‚Nächsten‘) ist aber in allen den Sittengesetzen der verschiedenen Zeiten vornehmlich als die eigentliche ‚Unsitte‘ empfunden worden, so dass wir jetzt bei dem Wort ‚böse‘ zunächst an die freiwillige Schädigung des Nächsten und der Gemeinschaft denken. Nicht das ‚Egoistische‘ und das ‚Unegoistische‘ ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie das Herkommen e n t s t a n d e n ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht auf gut und böse oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung einer G e m e i n d e, einer Geschlechtsgenossenschaft; jeder abergläubische Brauch, der auf Grund eines falsch gedeuteten Zufalls entstanden ist, erzwingt ein Herkommen, welchem zu folgen sittlich ist; sich von ihm lösen ist nämlich gefährlich, für die G e m e i n s c h a f t noch mehr schädlich als für den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer Vorrechte an der Gemeinde und nur insofern auch am Individuum straft). Nun wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger, je weiter der Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist; die ihm gezollte Verehrung häuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die Moral der Pietät eine viel ältere Moral, als die, welche unegoistische Handlungen verlangt.“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/97/ u. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/98/; vgl. KGW IV 4, 183 f.) Siehe zu MA I 96 z. B. Thatcher 1983, 304 u. Salerno 2021, 61 f. 92, 31–93, 1 (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache-üben, wie bei den älteren Griechen, zur guten Sitte gehört)] In seiner Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen argumentiert N.: „Auf diesem Boden des unreinen Denkens erwuchs der griechische Cultus; wie auf dem Boden des Rachegefühls das Rechtsgefühl erwachsen ist.“ (KGW II 5, 365, 2–4) Im Hintergrund steht wiederum die Dühring-Lektüre,
354
Menschliches, Allzumenschliches I
vgl. NK. 52, 15–19 u. NK ÜK MA I 60. Dort heißt es auch: „Wir gestehen, dass wir vergebens versucht haben, die Sühne als etwas Anderes denn als eine Befriedigung des Rachebedürfnisses zu begreifen. Wenn man den Göttern Opfer bringt, um die vermeinten Unthaten der Menschen zu sühnen, so ist es ganz offenbar, dass man sich vorstellt, ihre Rache befriedigen und ihren Zorn durch das eigne Uebel und den eignen Verlust versöhnen zu müssen. Steigen wir von den Göttern, die das menschliche Wesen in abstracten Zügen und in grössern Dimensionen an sich tragen, zu den Menschen herab, so finden wir die Blutrache als die ursprünglichste Gestalt der Gerechtigkeitsübung vor. Erst in einem spätern Stadium der Volksentwicklung kommen die öffentlichen Beilegungen der aus den Verletzungen entstandenen Feindschaften zur Geltung, und das Rechtsgefühl der Einzelnen beruhigt sich, wenn dem Verletzter ein angemessener Eigenthumsverlust als Strafe auferlegt wird. Stets bleibt aber das Rachegefühl der Grund des Strebens, dass den Verletzer ein Uebel treffe.“ (Dühring 1865, 221; N.s Unterstreichungen, siehe auch Orsucci 1996, 18) 93, 2–5 da aber Wohlwollen, Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel der Sitten immer als „gut wozu“, als nützlich empfunden wurde, so nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden, Hülfreichen „gut“] Wohlwollen und Mitleid stehen bei Rée für das Unegoistische: „Unegoistische Theilnahme am Schicksale anderer, mag man sie nun Mitleid, Wohlwollen oder Nächstenliebe nennen, existirt.“ (Rée 1877, 4 = Rée 2004, 129) Dabei will er dieses Unegoistische aber keineswegs als etwas metaphysisch in der Substanz des Menschen Festgeschriebenes begreifen, sondern mit Darwin und evolutionär Denkenden seine Entstehung und seine Wertschätzung auf seinen sozialen Nutzen zurückführen. Entsprechend sind für Rée dann „[d]ie unegoistischen Handlungen […] solche, in denen der Handelnde, zuweilen auf Kosten seines eigenen Wohls, das Wohl anderer um ihrer selbst willen fördert oder sich ihrer Schädigung um ihrer selbst willen enthält“ (Rée 1877, 7 = Rée 2004, 132). Dass in MA I 96 das Mitleiden nun entgegen der Mitleidskritik, die etwa in MA I 50, KSA 2, 70 f. scharf formuliert wird, nicht einfach nur als historisch kontingent gilt, sondern als nützliches Verhalten, wird mit der RéeVorlage zu tun haben. Ein weiteres Problem ist die seit MA I 92, KSA 2, 90, 3–6 im Raum stehende Behauptung, die Menschen hätten die Ursprünge ihrer moralischen Wertungsweisen (dort am Beispiel der Gerechtigkeit exemplifiziert) vergessen. Denn der Nutzen des „Unegoistischen“ ist offensichtlich ebenso wenig verloren gegangen wie die Einsicht, dass er gegeben sei. Freilich kehrt das Vergessen auch in der Moralgeschichtserzählung von MA I 96 wieder, nämlich in 93, 26 f., wonach das „Herkommen fortwährend ehrwürdiger“ würde, je weiter „der Ursprung“ entrückt und „vergessen“ werde. Das Leitmotiv des Vergessens, das sich schon bei Rée findet, wird also in MA I 96 sehr wohl revitalisiert, jedoch nicht, um die wenig plausible Antwort zu wiederholen, man habe die Nützlichkeit sozial
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 96–97, KSA 2, S. 92–93
355
nützlichen Verhaltens vergessen, sondern vielmehr das, was tatsächlich der ursprüngliche Konstitutionsakt einer Gemeinschaft, eines Volkes war, auf den hin als heiliges Herkommen sich nun alles richtet, mag es sich auch um einen „falsch gedeuteten Zufall[.]“ (93, 20) gehandelt haben. 93, 5 f. „nicht sittlich“ (unsittlich) sein] Mp XIV 1, 98: „nicht sittlich, unsittlich sein“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,98). 93, 16 f. ohne Rücksicht auf gut und böse] Mp XIV 1, 98: „ohne Rücksicht auf Gut u. Böse“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,98).
97. Nach MA I 97 verbindet das mit „Sitte“ (94, 7) Bezeichnete das Angenehme, Lustvolle mit dem Nützlichen – denn die Lust habe eine wesentliche Ursache in der Gewohnheit: Dank Gewohnheit geht vieles leicht von der Hand. Das Problem ist nur, dass man aus dem eigenen Lustgewinn, wenn man in die entsprechende Position kommt, nicht nur geneigt sei, anderen seine Sitten oder Gewohnheiten aufzudrücken. Vielmehr glaube man auch, nur wer die Gewohnheit ganz genau so pflegt wie man selbst, werde das entsprechende „Wohlbefinden“ (94, 27 f.) erlangen. Selbst die „härtesten“ (94, 30) Sitten würden allmählich „angenehmer“ (94, 30 f.). MA I 97 buchstabiert nicht aus, legt aber nahe: Ist eine Gewohnheit angenehm, gibt es keinen Grund, von ihr abzuweichen, dann erstickt jede Entwicklung, jeder Fortschritt im Keim. Die Sitte sperrt im altvertrauten Wohlbefinden ein. Die Überlegungen in MA I 97 sind stark grundiert von N.s ethnographischen Lektüren (vgl. Thatcher 1983, 303 f. u. Orsucci 1996, 98 f.). Insbesondere Lubbock 1875 beschreibt eindringlich die „Tyrannei der Sitte“ (Lubbock 1875, 15): „Diejenigen, welche sich nicht eingehend mit diesem Gegenstande beschäftigt haben, nehmen in der Regel an, daß der Wilde vor seinen civilisirten Brüdern wenigstens den einen Vorzug einer ungleich größeren persönlichen Freiheit genieße. / Es giebt keinen stärkeren Irrthum. Der Wilde ist nirgends frei. Ueberall auf der ganzen Erde sehen wir ihn im täglichen Leben durch eine Reihe von umständlichen und häufig höchst unbequemen, mit Gesetzeskraft ausgestatteten Sitten, eigenthümlichen Vorrechten und widersinnigen Verboten beeinflußt. Diese letzteren betreffen gewöhnlich die Frauen, die Vorrechte dagegen die Männer; ja jede ihrer Lebensäußerungen wird durch zahllose Regeln beschränkt, die freilich ungeschrieben, aber darum nicht minder bindend sind. / ,Die Sitte,‘ sagt [Georg] Schweinfurth, ‚quält und peinigt das /375/ arme Menschengeschlecht in den fernen Wildnissen von Afrika eben so sehr, wie in dem großen Gefängnisse der Civilisation.‘“ (Ebd., 374 f.) Und nun führt Lubbock eine Unzahl von Beispielen für
356
Menschliches, Allzumenschliches I
mitunter ganz abstrus anmutende Sitten in unterschiedlichsten Weltgegenden an. „Der Bischof von Wellington sagt: ‚Es ist eine höchst irrige Annahme, zu glauben, daß die Neuseeländer ein Volk ohne Gesetz und Ordnung seien. Sie sind und waren Sclaven des Gesetzes, der Regel und des Herkommens‘.“ (Ebd., 376) N. dürfte es nicht schwergefallen sein, die Beispiele durch eigene Kenntnisse der griechischen, der jüdischen und der christlichen Kultur zu ergänzen. Die Pointe von MA I 97 ist es, die Lustdimension, die Bequemlichkeit der Sitte herauszustellen, während die damals einschlägige ethnographische Literatur eher das mit ihr verbundene Joch herauszustellen pflegte (neben Lubbock auch Tylor, vgl. Orsucci 1996, 98). Zu MA I 97 gibt es in Mp XIV 1, 4 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „B“ und „A“ markiert sowie blau überschrieben: „Urspr der Moral“, wie üblich ohne Titel und mit einigen Abweichungen vom späteren Drucktext (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,4), der dann im Druckmanuskript D 11, 48 mit einigen Korrekturen konstituiert wird (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,48). Vorüberlegungen deuten sich in NL 1876/77, KSA 8, 23[141], 454, 26–30 an: „Alle urspr〈ünglich〉 starre, peinliche Empfindung wird allmählich angenehm. Aus Zwang wird Gewohnheit, daraus Sitte, endlich Tugend mit Lust verbunden. Aber die Menschen, welche diese letzte Stufe erreicht haben, wollen nichts davon wissen, daß ihre fernen Vorfahren den Weg begonnen haben.“ 94, 2 f. Gattung der Lust] In Mp XIV 1, 4: „Gattung der Lust“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,4). 94, 5 f. weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewährt hat, also nützlich ist] In Mp XIV 1, 4: „weiss aus der Erfahrung, dass es nützlich war“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,4). 94, 7–9 ist als heilsam, förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewährten Versuchen] Mp XIV 1, 4: „ist bewiesen als heilsam, förderlich, im Gegensatz zu allen neuen Versuchen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,4). 94, 9 demnach] Fehlt in Mp XIV 1, 4. 94, 10 f. überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig] Mp XIV 1, 4: „sie macht kein Nachdenken nöthig“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,4). 94, 15–17 weil man sich mit einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig] Mp XIV 1, 4: „weil man sich wohl fühlt oder wenigstens weil man seine Existenz durchsetzt, so ist die Sitte nothwendig“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,4).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 97–98, KSA 2, S. 94
357
94, 19 f. das Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen] Mp XIV 1, 4: „das Wohlgefühl des Lebens wächst aus ihr heraus“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,4). 94, 20 f. Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird] Mp XIV 1, 4: „Dies wird“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,4). 94, 22 der Sitte] Fehlt in Mp XIV 1, 4. 94, 22–24 da die Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern und Culturen sehr gering ist, so sieht] Mp XIV 1, 4: „da die Einsicht in die Causalität sehr gering ist, sieht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,4). 94, 26 f. wird sie ihrer scheinbar höchsten Nützlichkeit wegen bewahrt] Mp XIV 1, 4: „wird sie der Nützlichkeit wegen bewahrt“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,4). 94, 28 f. und dass selbst höhere Grade sich erreichen lassen] Mp XIV 1, 4: „u. dass namentl. höhere Grade erreicht werden können“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,4). 94, 31 f. dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und damit zur Lust werden kann] Mp XIV 1, 4: „dass auch die strengste Lebensweise zur Sitte und damit zur Lust werden kann“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,4).
98. Den Gedanken der Lust nimmt Abschnitt MA I 98 aus dem vorangehenden auf und stellt jetzt die soziale Dimension der Lust heraus, wonach Menschen, was im Tierreich schon angelegt sei, aus dem (auch spielerischen) Interagieren mit anderen Angehörigen unserer Gattung Lust gewännen. Dies wiederum trage zur Besserung der Menschen bei; sie würden dadurch „gutmüthiger“ (95, 16) und weniger misstrauisch. Besonders wichtig erscheinen gemeinsame Lust- und Leidensartikulationen, worauf „das älteste Bündniss“ (95, 22 f.) gründe, nämlich ein drohendes Übel gemeinsam abzuwehren, was wiederum jedem nütze. „Und so wächst der sociale Instinct aus der Lust heraus.“ (95, 24 f.) Freilich ist die Kausalbeziehung, die der Schlusssatz 95, 24 f. formuliert, mehr behauptet als bewiesen. Auch wenn man N. in allem zustimmen sollte, was er über die Lust in der sozialen Interaktion bei Tieren und bei Menschen in MA I 98 sagt, über die Vergemeinschaftungsdimension gemeinsamer Lustäußerungen und die „Phantasie der Mitempfindung“ (95, 19 f.), ist damit doch keineswegs die Ent-
358
Menschliches, Allzumenschliches I
stehung des sozialen Instinkts (immerhin in 95, 25 mit bestimmtem Artikel!) zwingend hergeleitet. Er könnte ja durchaus (noch) andere Quellen haben, aus denen er sich speist oder aus denen er herausgewachsen ist. Tatsächlich kommt die Fügung „socialer Instinct“ ja nur in der (erst im Druckmanuskript ergänzten) Überschrift und in der letzten Zeile von MA I 98 vor. Es handelt sich hierbei um ein Schlagwort aus der zeitgenössischen Diskussion um den Darwinismus, das sich auch schon bei Darwin selbst findet, vor allem dann aber in seinem Gefolge. Rée 1877, 7 f. erläutert: „Nach Darwin erklärt sich das unegoistische Handeln nun folgendermassen. / Wie bei vielen Thierarten, z. B. bei den Bienen und Ameisen, so findet sich auch bei unsern Vorfahren den Affen der sociale Instinct. ‚Sehr gross (sagt Brehm, Thierleben I. p. 19) ist die gegenseitige Anhänglichkeit der Mitglieder einer Heerde (von Schimpansen). Die Männchen lieben die Weibchen und diese ihre Kinder ausserordentlich, und die Stärkeren vertheidigen stets die Schwächeren.‘ Dieser sociale Instinct ist durch eine Erweiterung des Elterninstinctes entstanden, und dann durch natürliche Zuchtwahl d. h. dadurch erhalten und gestärkt worden, dass immer die thierischen /8/ Stämme, deren Glieder am engsten durch sociale Instincte verbunden waren, die andern Stämme verdrängten und so übrig blieben.“ Was Rée mit den Darwinisten also „socialen Instinct“ nennt, verdankt sich keineswegs einem gemeinsamen Lusterlebnisgewinn oder der Pazifizierung von Aggression dank gemeinschaftlichem Lusterleben, sondern ist einfach da, um des Gattungsüberlebens willen. In seiner Abstammung des Menschen polemisiert Darwin sogar gegen die Utilitaristen und ihre Behauptung allgemeinen Luststrebens unter Rückgriff auf den sozialen Instinkt: „In Fällen äusserster Gefahr, so wenn ein Mensch während eines Feuers ein Mitgeschöpf, ohne einen Augenblick zu zögern, zu retten unternimmt, kann er kaum ein Vergnügen empfinden; und noch weniger hat er Zeit, darüber nachzudenken, was für ein Unbefriedigtsein er später empfinden würde, wenn er nicht jenen Versuch machte. Sollte er nachher über sein Benehmen nachdenken, so würde er fühlen, dass in ihm noch eine impulsive Kraft liegt, welche von der Sucht nach Vergnügen oder Glück weit verschieden ist; und dies scheint der tief eingewurzelte sociale Instinct zu sein. / Was die niedern Thiere betrifft, so scheint es viel passender, von /156/ ihren socialen Instincten als von solchen zu sprechen, welche sich mehr zum allgemeinen Besten als zum allgemeinen Glück der Species entwickelt haben.“ (Darwin 1875, 1, 155 f.) Im Gegensatz zur betonten Lustaversion Darwins macht sein deutscher Apostel Ernst Haeckel im Namen seines Monismus da erhebliche Zugeständnisse: „alles Seelenleben lässt sich schliesslich auf die beiden Elementar-Functionen der E m p f i n d u n g und B e w e g u n g, auf ihre Wechselwirkung in der Reflexbewegung zurückführen. Die einfache Empfindung von L u s t und U n l u s t, die einfache Bewegungsform der A n z i e h u n g und A b s t o s s u n g, das sind die wahren Elemente, aus denen sich in unendlich mannichfalti-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 98–99, KSA 2, S. 95
359
ger und verwickelter Verbindung alle Seelenthätigkeit aufbaut.“ (Haeckel 1877, 14) Und auch der soziale Instinkt ist hier nicht weit: „Unabhängig von jedem kirchlichen Bekenntniss lebt in der Brust jedes Menschen der Keim einer echten N a t u r r e l i g i o n; sie ist mit den edelsten Seiten des Menschenwesens selbst untrennbar verknüpft. Ihr höchstes Gebot ist die L i e b e, die Einschränkung unseres natürlichen Egoismus zu Gunsten unserer Mitmenschen und zum Besten der menschlichen Gesellschaft, deren Glieder wir sind. Dieses natürliche Sittengesetz ist viel älter als alle Kirchenreligion; es hat sich aus den s o c i a l e n I n s t i n c t e n der Thiere entwickelt.“ (Ebd., 18; dazu Endnote 24 auf S. 24: „Die s o c i a l e n I n s t i n c t e der Thiere sind neuerdings von verschiedenen Seiten mit vollem Rechte als die U r q u e l l e n d e r M o r a l auch für den Menschen in Anspruch genommen worden.“) Aber Haeckel unterlässt jene originelle Verbindung, auf die es in MA I 98 ankommt, nämlich den sozialen Instinkt mit der gemeinschaftlichen Lustempfindung zu kombinieren. Zu MA I 98 gibt es in Mp XIV 1, 1 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert sowie blau: „Urspr der Moral“, wie üblich ohne Titel und mit zahlreichen Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,1). Zum Motiv des Neides in MA I 98 siehe Tuncel 2022, 145, allgemein zu MA I 98 Nicodemo 2021, 97. 95, 4 f. welche er aus sich selber nimmt] Fehlt in Mp XIV 1, 1, wird im Druckmanuskript D 11, 49 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,48). 95, 6–9 Vielleicht hat er mancherlei, das hieher gehört, schon von den Thieren her übernommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den Jungen.] Das Spielen von Tieren ist häufig Gegenstand in der zoologischen Literatur der Zeit – nicht so häufig hingegen ihr Miteinander-Spielen. Aber auch das kommt vor, so bei Drossbach 1873, 87: „Die niederen Thiere empfinden wie der Mensch Freude und Schmerz, Glück und Elend, das Glück zeigt sich nirgends besser als bei jungen Thieren, wenn sie zusammen spielen wie unsere eigenen Kinder; selbst Insecten spielen miteinander.“
99. MA I 99 geht gegen die landläufigen Vorurteile unter Philosophen – namentlich bei Schopenhauer – an, es gebe so etwas wie eine Bosheit an sich, nämlich anderen an sich Schmerz zufügen wollen (vgl. NK 23, 24–26, NK ÜK MA I 25 u. NK ÜK MA I 85). Wer vermeintlich böse handelt, tue dies nur, um sich selbst zu erhalten, seine Lust zu optimieren und Unlust zu vermeiden. Entsprechend räume er unter vorstaatlichen Lebensbedingungen lästige Futter- oder Lustkonkurrenten, egal ob
360
Menschliches, Allzumenschliches I
Gattungsgenosse oder Tier, einfach gewaltsam aus dem Weg. Wenn wir heute das Urteil ‚böse‘ fällen, täten wir dies bei Menschen, weil wir fälschlich unterstellten, sie hätten einen freien Willen, der es ihnen erlaubt hätte, auch ganz anders zu handeln. Gerade diese Willensfreiheit erscheint aber als Irrtum (vgl. MA I 39, KSA 2, 62–64) und auch unser Wunsch nach „Vergeltung“ (96, 15) sei wegen dieses Irrtums „ebenfalls unschuldig“ (96, 16). Die Implementierung staatlicher Strukturen schildert MA I 99 nun als ungemein gewaltsamen Prozess, der Recht erst herstellt und damit den „Boden für alle Moralität“ (96, 24 f.). Moralität beruhe daher zuerst auf „Zwang“, sublimiere sich dann zu „Sitte“ und „freie[m] Gehorsam“, und werde endlich „beinahe Instinct“, mit „Lust“ verbunden, unter dem Namen der „T u g e n d“ (96, 30–33). Zu MA I 99 gibt es in Mp XIV 1, 2 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem, aber durchgestrichenem „A“ markiert und mit dem Titel „Das Unschuldige an den sog. bösen Handlungen“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,2). Zur ‚Unschuld‘ und Absichtslosigkeit des Egoismus vgl. NL 1876/77, KSA 8, 21[31], 371, 13–17 (zitiert in NK ÜK MA I 102), sodann NL 1876/77, KSA 8, 21[72], 377, 1–3: „Die bösen Handlungen auf Irrthümern beruhend z. B. Rache auf dem Glauben an Verantwortlichkeit, ebenso Grausamkeit, soweit Triumph der Macht.“ Zu MA I 99 vgl. z. B. Goedert 1988, 66 f., Fornari 2009, 50 f. u. Bishop 2020, 61. 95, 27 f. D a s U n s c h u l d i g e a n d e n s o g e n a n n t e n b ö s e n H a n d l u n g e n.] Dieser Titel präludiert zusammen mit den Überlegungen in MA I 100 die ab 1883 in N.s Nachlass präsente, nachmals berühmte Formel von der „Unschuld des Werdens“, in der sich die Idee völliger Zweckfreiheit des Geschehens mit der völliger Unverantwortlichkeit verdichtet, siehe dazu NK KSA 6, 96, 32–97, 5. 95, 27–96, 7 D a s U n s c h u l d i g e a n d e n s o g e n a n n t e n b ö s e n H a n d l u n g e n. – Alle „bösen“ Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse. „Schmerz bereiten an sich“ e x i s t i r t n i c h t, ausser im Gehirn der Philosophen, ebensowenig „Lust bereiten an sich“ (Mitleid im Schopenhauerischen Sinne). In dem Zustand v o r dem Staate tödten wir das Wesen, sei es Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere thun würden. –] Im Handexemplar C 4402 hat N. diesen ganzen Passus nachträglich eingeklammert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332 904/100/ u. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/101/). Der von Bitsch 2008, 174 geltend gemachte Bezug der hier artikulierten Lust- und Unlustkonzeption auf Wilhelm Wundt ist nicht zwingend; vielmehr wird an dieser Stelle seit der Antike geläufiges, psychologisches Gemeingut transponiert.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 99, KSA 2, S. 95–96
361
95, 29 Trieb der Erhaltung] Vgl. zum Selbsterhaltungstrieb auch MA I 104, KSA 2, 100–102 u. NL 1876/77, KSA 8, 23[12], 407, 10–18. 95, 30 Vermeidung] Mp XIV 1, 2: „Vermeiden“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,2). 95, 32–96, 2 „Schmerz bereiten an sich“ e x i s t i r t n i c h t, ausser im Gehirn der Philosophen, ebensowenig „Lust bereiten an sich“ (Mitleid im Schopenhauerischen Sinne).] Das schließt ironisch an Schopenhauers Definition, „Bosheit“ sei, „das fremde Weh“ zu wollen, und „Mitleid“, „das fremde Wohl“ zu wollen, an (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 210). Das wird dann bei N.s Freund Paul Deussen schulmäßig ausbuchstabiert: „Zweierlei und nicht mehr kann zu der Aeusserung unseres Willens bestimmen, welche wir Handlung nennen: entweder der Wunsch, Wohlsein zu fördern, oder die Absicht, Wehe zu bereiten. Nun bezieht sich anderseits das beabsichtigte Wohl oder Wehe, welches als Zweck jeder Handlung im Kleinsten wie im Grössten zu Grunde liegt, nothwendigerweise entweder auf unsere eigene Person oder auf einen Anderen. Somit verfolgt jede dem Menschen nur mögliche That als Zweck entweder e i g e n e s W o h l, oder f r e m d e s W o h l, oder e i g e n e s W e h e, oder f r e m d e s W e h e“ (Deussen 1877, 147). 95, 32–96, 1 Gehirn der Philosophen] So in KGW/KSA emendiert nach Mp XIV 1, 2 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,2), während das Druckmanuskript D 11, 49 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,49) und die Erstausgabe Nietzsche 1878, 81 stattdessen „Gehirn der Philosophie“ haben – was auch im Handexemplar C 4402 nicht korrigiert wird. 96, 6 in unwirthlichen Gegenden] In der Erstausgabe stattdessen: „in unwirthliche Gegenden“ (Nietzsche 1878, 82). Im Handexemplar C 4402 hat N. das korrigiert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/101/). 96, 7–16 Die bösen Handlungen, welche uns jetzt am meisten empören, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem B e l i e b e n gelegen habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie, während wir einem Thiere viel weniger zürnen, weil wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung – ist Folge eines falschen Urtheils und desshalb ebenfalls unschuldig.] Im Handexemplar C 4402 hat N. diesen ganzen Passus nachträglich eingeklammert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/12523329 04/101/). 96, 16–24 Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur A b s c h r e c k u n g andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewalt-
362
Menschliches, Allzumenschliches I
thätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess hindern kann.] Hier wird die insbesondere mit Thomas Hobbes assoziierte Vorstellung eines rechtlosen Naturzustandes aufgerufen, in dem ein Krieg aller gegen alle herrscht (vgl. Thomas Hobbes: De Cive, Praefatio 14 u. MA I 615, KSA 2, 348, 30) und das eigene Überleben nur mit Androhung oder Ausübung von Gewalt zu sichern ist. Die Vorstellung, wonach der Mensch von Natur dem anderen Menschen ein gefährliches Raubtier, ein Wolf sei („utrumque vere dictum est, Homo homini Deus, & Homo homini Lupus“ – Hobbes 1657, Bl. *2 verso – „Beides ist wahr gesagt: Der Mensch ist dem Menschen ein Gott, und der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“), findet sich vielfach auch in der von N. gelesenen, rezenten Literatur, während er Hobbes, den er selten erwähnt, wohl weniger durch Originallektüre (vgl. NK KSA 5, 195, 9–13 u. NK KSA 5, 236, 19–26), jedoch etwa dank Lange 1866, 127–138 ganz gut gekannt haben dürfte. Beispielsweise bei Hellwald 1876a–1877a, 1, 108 konnte N. lesen: „Der Krieg ist gleichfalls eine der ältesten Naturerscheinungen, für dessen Berechtigung die gesammte Natur in die Schranken tritt. Er liegt im Grundcharakter aller organischen Wesen und kann auch mit zunehmender Gesittung an seiner Schärfe nichts verlieren.“ Diese Erkenntnis ist bei Hellwald mit demselben Rechtspositivismus verbunden, der aus MA I 99 folgt und dem zufolge es kein vorstaatliches Naturrecht gibt, sondern Recht sich erst staatlicher Setzung verdankt: „Obwohl sich gegenwärtig kaum ein Volk nennen lässt, bei welchem nicht einige, wenn auch noch so grobe Rechtsbegriffe vorhanden wären, so kann doch nicht daran gezweifelt werden, dass es eine Zeit gab, wo selbst diese gröbsten Begriffe fehlten. Das Recht ist nämlich rein menschlich, von selbst hervorgewachsen aus der Gruppirung zu gesellschaftlicher Gemeinschaft. Nirgends in /108/ der Natur ist ein Analogon zu finden; ein ‚Naturrecht‘ kennt die Wissenschaft nicht. In der Natur herrscht nur Ein Recht, welches kein Recht ist, das Recht des Stärkeren, die Gewalt. Die Gewalt ist aber auch in der That die oberste Rechtsquelle, indem ohne sie keine Gesetzgebung denkbar ist.“ (Ebd., S. 107 f.) Die gewaltlastige Staatsentstehungstheorie in MA I 99 fügt sich nicht fugenlos zu dem, was MA I 98 zum „socialen Instinct“ ausgeführt hat. Vor jenem Hintergrund würde man sich die Staatsentstehung weniger als Prozess der Unterwerfung, vielmehr als Prozess der Vergemeinschaftung wegen gegenseitigen Lustgewinns vorzustellen geneigt sein. Die Prämissen scheinen verschieden zu sein und nicht recht zueinander zu passen: Der Mensch als Selbsterhaltungs- und Abschreckungswesen oder der Mensch als Lustoptimierungswesen. 96, 24–31 Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung heraus-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 99–100, KSA 2, S. 96–97
363
zieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Z w a n g voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt.] In Mp XIV 1, 2 korrigiert aus: „Alle Moralität beginnt, wenn ein größeres Individuum z. B. die Gesellschaft der Staat d. h. der Wille Vieler den Einzelnen unterwirft; sie ist Zwang zuerst, dem man sich aus Vermeidung der Unlust, fügt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,2) Vgl. NK 162, 11. 96, 25 f. grösseres Individuum] Im Handexemplar C 4402 hat N. über „grösseres“ „stärkeres“ geschrieben (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252 332904/101/).
100. Im Unterschied zu MA I 84, KSA 2, 87 behandelt MA I 100 die Scham religionshistorisch (vgl. MA II VM 222, KSA 2, 475, 14 f.) und bringt sie mit dem „,Mysterium‘“ (97, 2 f.) und den tabuisierten, verbotenen Bereichen in den alten Kulten in Verbindung, den umgrenzten, für Profane untersagten Zonen, die mit „Schauder und Angst“ (97, 9) belegt waren. Man habe dieses Empfinden auf andere Sphären übertragen, etwa auf die Sexualität oder auch die (monarchische) Herrschaft. Und heute noch sei die „‚Seele‘“ (97, 24) für die Unaufgeklärten ein solches „Adyton“ (97, 12). Religionshistorische Herleitung und Analogisierung dienen in MA I 100 also der Depotenzierung eines noch bestehenden Tabus: Scham angesichts der „Seele“ soll als unangebracht entlarvt werden – und die „Seele“ der wissenschaftlichen Vivisektion preisgegeben werden. Zu MA I 100 gibt es in Mp XIV 1, 53 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich ohne Titel und mit ein paar Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,53). In NL 1876/77, KSA 8, 23 [79], 429, 30–430, 33 wird die Schambewehrung der „Monogamie“ erörtert, die zum „Mysterium“ erhoben worden sei; NL 1877, KSA 8, 24[4], 479, 1 notiert knapp: „Mysterien (Ehe – Königthum, Zukunft) Scham“. Zu MA I 100 siehe z. B. Planckh 1998, 228 f., Tongeren 2007, 136 f. u. Imasaki 2012, 276 f. 97, 12 Adyton] Das ἄδυτον ist griechisch das „Unzugängliche“, „das Allerheiligste von griechischen Tempeln und Kirchen, in welches nur die Priester eintreten durften“ (Meyer 1885–1892, 1, 136). N. ist in seiner Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen vom Wintersemester 1875/76 und vom Wintersemester 1877/78 auf das Thema eingegangen und hat über die altgriechische Kultpraxis Folgendes berichtet: „Besonders nahm man Rücksicht bei der b a u l i c h e n Einrichtung der Tempel; die Schutzbilder wurden sehr häufig in geheime Cellen eingeschlossen, oft unterirdisch: ein ἄδυτον. Dazu die Vorstellung, daß das Bild für den Anblick eines
364
Menschliches, Allzumenschliches I
Jeden (mit Ausnahme des Priesters) Wahnsinn u. Tod nach sich ziehe. Höchstes Gebot: kein Mann eines fremden Stammes darf auf dem Altare eines Schutzbildes opfern. Das rituelle Reinigungsbad des Bildes in Meer oder Fluß wird an einsamen Orten mit geheimnißv. Ceremonien vorgenommen; die Strafe der Gottheit trifft jeden, der es auch nur zufällig erblickt. Das alte Holzbild der Athene zu Pallene stand für gewöhnlich im verschlossenen Heiligthum; wurde es herausgetragen, so wandten sich alle ab, sein Anblick war den Menschen verderblich, es machte die Bäume unfruchtbar, die Früchte fielen ab. – Eine andere Vorsichtsmaßregel ist Aufstellung eines u n ä c h t e n B i l d e s. Pausanias kennt eine ganze Anzahl Tempel mit Adyta, bei denen das zur öffentl. Verehrung, glänzend an Kunst ausgestattete Bild als θέαμα in der Cella steht: das allerheiligste unscheinbare Bild im Adyton verborgen zur Feier von intimen Sacra u. Mysterien.“ (KGW II 5, 408, 30–409, 14) Orsucci 1995, 377 f. hat nachgewiesen, dass N. hier Bötticher 1852, 2/4, 138 f. und Schoemann 1859, 2, 166 f. = Schoemann 1863, 2, 179 ziemlich wortwörtlich paraphrasiert. 97, 16–18 (Im Türkischen heisst desshalb diess Gemach Harem „Heiligthum“, wird also mit demselben Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.)] Von N. erst nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,50). In Mp XIV 1, 384 gibt es dazu eine vorbereitende Notiz: „Harem = Heiligthum: so heissen auch die Vorhöfe der Moscheen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,384). Zwar hat schon Joseph von Hammer-Purgstall in seiner Geschichte des Osmanischen Reiches zur Bautätigkeit von Sultan Selim II. vermerkt: „Zu Mekka hat er […] den Vorhof des heiligen Hauses, das eigentliche Harem oder Heiligthum, nach welchem alle anderen Vorhöfe der Moscheen so genannt sind, mit dreyhundert sechzig Kuppeln gedeckt“ (Hammer 1834, 2, 436), aber da N. nirgends vertieftes Interesse an osmanischer Geschichte zeigte, dürfte dieses Standardwerk kaum N.s direkte Quelle gewesen sein. Viel wahrscheinlicher ist eine wesentlich populärere Quelle, nämlich die mehrfach aufgelegten Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei des nachmaligen Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke, zumal N. den Bruder des Autors und dessen Familie 1871 in Lugano kennengelernt hatte, um sich später damit zu brüsten, er hätte dort „zusammen mit der Familie des Feldmarschall Moltke“ gelebt (N. an Georg Brandes, 10. 04. 1888, KSB 8/KGB III 5, Nr. 1014, S. 287, Z. 22 f.). Bei Moltke 1876, 34 f. heißt es: „Die Ehe ist im Orient rein sinnlicher Natur, und der Türke geht über das ganze ‚Brimborium‘ von Verliebtsein, Hofmachen, Schmachten und Ueberglücklichsein als eben so viele faux frais hinweg zur Sache. Die Heiraths-Angelegenheit wird durch die Verwandten abgemacht, und der Vater der Braut bekömmt viel öfter eine Entschädigung für den Verlust eines weiblichen Dienst-/35/boten aus seiner Wirthschaft, als daß er der Tochter eine Aussteuer mitgäbe. Der Tag, an welchem die Neuvermählte ver-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 100–101, KSA 2, S. 97
365
schleiert in die Wohnung ihres Gemahls tritt, ist der erste, wo dieser sie erblickt, und der letzte, an welchem ihre nächsten männlichen Verwandten, ihre Brüder selbst, sie sehen. Nur der Vater darf ihr Harem noch betreten, und übt auch später immer eine gewisse Gewalt über sie. ‚Harem‘ heißt wörtlich H e i l i g t h u m, und die Vorhöfe der Moscheen tragen denselben Namen.“ N. muss den Schlüsselsatz nicht einmal zwingend in Moltkes Buch gefunden haben, er wurde auch bei Rezensionen des Buches in der Tagespresse verbreitet. 97, 18 f. als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt,] Von N. erst nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 eingefügt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,50). 97, 20 voller Heimlichkeit und Scham] Von N. erst nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,50). 97, 21 f. , unter Völkern, die sonst keineswegs zu den verschämten gehören,] Von N. erst nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 eingefügt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,50).
101. Der Abschnitt stellt dar, dass unsere Wahrnehmung von Gerechtigkeit und das Empfinden von Grausamkeit sehr stark von unserer historisch kontingenten Wirklichkeitssicht abhängt. Es spielt eine Rolle, ob wir die dem als ungerecht oder grausam verdächtigten Tatbestand zugrundeliegende Weltbetrachtung gutheißen oder nicht. Auch sei Grausamkeit mitunter eine quasi moraloptische Täuschung, insofern wir sie jenen zuschrieben, die bloß Befehle erteilten, sie aber nicht ausführten. Man müsse überhaupt erst lernen, dass der Andere ein leidendes Wesen sei. Zu MA I 101 gibt es in Mp XIV 1, 48 eine ‚Reinschrift‘, ohne den späteren Titel, dafür markiert mit rotem „A“ und mit Bleistift: „Ursprung der moral. Empf.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,48), also exakt den Titel von Rée 1877 aufnehmend. Thematisch passt zu MA I 101 aus Rées Werk etwa der folgende Passus: „Wenn nun der Selbstlose ursprünglich darum gut genannt ist, weil er gut für andere ist; der Selbstische, z. B. Grausame, darum schlecht genannt wird, weil er schlecht für andere ist; der Unvernünftige, z. B. Ausschweifende, weil sein Verhalten ihm selbst schadet, so folgt hieraus, dass es sinnlos ist, den Selbstlosen, den Grausamen, den Ausschweifenden auch in sich betrachtet gut, bezüglich schlecht zu nennen. In sich betrachtet ist die gemässigte Temperatur weder gut noch schlecht, sondern eine Temperatur von bestimmter Beschaffenheit, und ebenso sind der Selbstlose, der Grausame, der Ausschweifende in sich betrachtet weder gut noch schlecht, sondern Menschen von bestimmter Beschaffenheit.“
366
Menschliches, Allzumenschliches I
(Rée 1877, 137) Vgl. NK KSA 3, 579, 4–8. Auch MA I 39, KSA 2, 62–64 macht die Umstände für konkrete menschliche Handlungsweisen verantwortlich, während MA I 101 darauf abhebt, dass sich der „Instinct der Gerechtigkeit“ (98, 1 f.) erst entwickle. Instinkt ist zumindest hier nichts zeitlos Gegebenes, anthropologisch Festgeschriebenes, sondern etwas in der Zeit Wandelbares. 97, 29 R i c h t e t n i c h t.] Von N. erst nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,50). Die Aufforderung stammt aus Matthäus 7, 1, vgl. NK KSA 6, 219, 31–34 u. NK KSA 6, 221, 32–222, 3. 97, 31–98, 1 Die Ungerechtigkeit in der Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung von Personen und Völkern ist nicht mit unserem Maasse zu messen.] Vgl. N.s provozierende Äußerungen zur Sklaverei in der Vorrede zum nie geschriebenen Werk Der griechische Staat (CV 3, KSA 1, 764–776) sowie NK ÜK MA I 457. 98, 2–5 Wer darf dem Genfer Calvin die Verbrennung des Arztes Servet vorwerfen? Es war eine consequente aus seinen Ueberzeugungen fliessende Handlung] Im Druckmanuskript D 11, 50 hat N. die ursprüngliche Fassung „dem Calvin“ zu „dem edlen Calvin“ korrigiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,50). Der „Genfer“ ersetzte offenbar erst bei der Fahnenkorrektur den „edlen“. N. stand die Geschichte des Arztes und antitrinitarischen Theologen Michael Servet (1509/1511– 1553) beispielsweise durch die Lektüren von Draper 1871, 502, Draper 1875, 220 u. Lecky 1873, 2, 36 f. lebhaft vor Augen: In Frankreich verfolgt und geflüchtet, wurde ihm in Genf trotz rechtlicher Bedenken der Prozess gemacht und er wurde zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, vgl. NK KSA 3, 350, 8–10, ferner NK KSA 3, 350, 15–21. Bei Lecky 1873, 36 hat N. ausweislich seiner Lesespuren zur Kenntnis genommen, dass „alle die bedeutendsten Reformatoren die Verfolgung [Andersgläubiger befürworteten], und in beinahe jedem Lande, wo ihre gerühmte Reformation siegte, ist dieser Erfolg hauptsächlich dem Zwange zuzuschreiben. Als Calvin den Servet wegen seiner Ansichten über die Dreieinigkeit verbrannte, wurde diese That, die nach den Worten eines grossen neueren Geschichtschreibers, vielleicht ebenso viele Erschwerungsgründe hatte, wie irgend eine Ketzerhinrichtung, die je stattfand, von allen protestantischen Secten fast einstimmig belobt. Melanchthon, Bullinger und Farel sprachen ihre warme Billigung dieses Verbrechens schriftlich aus.“ (N.s Unterstreichungen, zum ersten Satz wiederholt er das Wort „Zwang“ am Rand.) Sehr eingehend mit Anstreichungen und Randglossen hat N. die bei Lecky 1873, 37–39 folgenden Passagen zum Servet- und Toleranzverteidiger Sebastian Castellio (1515–1563) versehen. 98, 5–7 und ebenso hatte die Inquisition ein gutes Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine Consequenz, welche uns hart erscheint] Vgl. Lecky 1873, 2, 1–75.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 101, KSA 2, S. 97–98
367
98, 7–12 , weil uns jene Ansichten fremd geworden sind. Was ist übrigens Verbrennen eines Einzelnen im Vergleich mit ewigen Höllenstrafen für fast Alle! Und doch beherrschte diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel grösseren Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentlich Schaden zu thun.] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 von N. korrigiert aus: „Aber was ist Verbrennen im Vergleich mit ewigen Höllenstrafen – eine Vorstellung, welche damals alle Welt beherrschte und von viel grösserer Schrecklichkeit ist, obschon hier das Verbrennen einem Gotte zugemuthet wurde.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,50) Vgl. Lecky 1873, 2, 1 f. mit diversen Randmarkierungen N.s: „Wenn die Menschen von einem tiefen und überzeugenden Glauben durchdrungen sind, dass ihre eigene Ansicht in einer bestrittenen Frage über alle Möglichkeit des Irrthums erhaben ist, wenn sie ferner glauben, dass Diejenigen, welche sich zu anderen Ansichten bekennen, werden von dem Allmächtigen zu einer ewigen Qual verdammt werden, der sie bei demselben sittlichen Charakter, aber mit einem andern Glauben würden entgangen sein, diese Menschen werden früher oder später verfolgen, soweit irgend ihre Macht reicht. Sprechet ihr zu ihnen von den körperlichen und geistigen Leiden, welche die Verfolgung erzeugt, oder von der Aufrichtigkeit und dem uneigennützigen Heldenmuthe seiner Opfer, so ant-/2/worten sie, solche Argumente beruhen ganz und gar auf einer falschen Auffassung ihrer Glaubenslehre. Denn, welches von Menschen verhängte Leiden kann wohl mit der ewigen Qual aller Derer verglichen werden, die der Ketzerlehre anhängen? Welchen Anspruch können menschliche Tugenden auf unsere Nachsicht haben, wenn der Allmächtige das blosse Bekenntniss eines Irrthums als ein Verbrechen von der grössten Schändlichkeit bestraft? Wenn ihr einem Rasenden begegnet, der in seinem Wahnsinne seiner Umgebung einen Tod der verlängertsten und peinigendsten Qual auferlegt, würdet ihr euch nicht berechtigt fühlen, mit allen euch möglichen Mitteln seinem Beginnen Einhalt zu thun – selbst ihm das Leben zu nehmen, wenn ihr auf andere Weise nicht zum Ziele kommen könntet? Aber, wenn ihr wüsstet, dass dieser Mensch nicht den zeitlichen, sondern den ewigen Tod um sich verbreitet, wenn er nicht ein schuldloser, obgleich gefährlicher Wahnsinniger wäre, sondern Jemand, von dessen Betragen ihr glaubtet, dass er den schändlichsten Charakter in sich schlösse, würdet ihr nicht alsdann mit noch viel weniger Gewissensunruhe oder Zögerung handeln?“ Je nach konfessioneller Ausprägung der jeweiligen Erlösungslehre gilt nach christlicher Überzeugung mitunter nur eine kleine Minderheit als erlösungswürdig, während die große Mehrheit ewiger Verdammnis anheimfällt (eine auch in manchen Teilen des antiken Judentums vertraute Vorstellung, vgl. z. B. NK KSA 6, 220, 30–221, 4; zu einer mittelalterlichen Parallele und ihrer neuzeitlichen Deutung NK KSA 5, 283, 28–284, 3). Insbesondere Augustinus hatte die Vorstellung einer doppelten Prädestination einiger weniger zum Heil und der allermeisten zur Verdammnis in eine elaborierte Doktrin über-
368
Menschliches, Allzumenschliches I
führt (siehe z. B. Sommer 2005a). Ist allerdings ein Inquisitor von einer bipolaren Individualeschatologie und im Unterschied zu einem harten Augustinianer davon überzeugt, dass Reue und Buße am Jenseitsschicksal des Individuums etwas ändern können, wird er alles daran setzen, den Ketzer einer zeitlichen Strafe – sprich: dem Scheiterhaufen – zuzuführen, um ihn womöglich so vor der unendlichen Pein zu bewahren. 98, 12–16 Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben gelernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie dort, wo wir die Anschauungen verwerfen.] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 84) hat N. „gelernt“ gestrichen und durch „gewohnt“ ersetzt (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/103/). Bei seiner intensiven Lektüre von Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa hat N. am unteren Rand der ersten Seite, die die „Geschichte der Verfolgung“ eröffnet, notiert: „Es ist nicht Folge des Christenthums, sondern Folge aller Moral daß der Gegner verfolgt wird“ (Lecky 1873, 2, 1). Lecky 1873, 2, 91 argumentiert seinerseits, es gebe eine „Geschichte der Verweltlichung der Politik“, die darin bestanden habe, den religiösen „Geist der Verfolgung zu schwächen und ihn von dem weltlichen Regiment zu trennen.“ Die rein politischen Verfolgungsexzesse bleiben bei ihm unterbelichtet, während sie N. tagesaktuell vor Augen standen: Kurz nachdem MA I gedruckt war, ereigneten sich am 11. Mai und 2. Juni 1878 zwei erfolglose Attentate auf Kaiser Wilhelm I., die Bismarck Anlass boten, sein Sozialistengesetz auf den Weg zu bringen. Auch davor schon war die Reichsregierung gegen die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands repressiv vorgegangen. 98, 16–20 Die Grausamkeit gegen Thiere bei Kindern und Italiänern geht auf Unverständniss zurück; das Thier ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit hinter den Menschen zurückgesetzt worden.] Den Einschub „namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre“ (98, 18 f.) hat N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,50) und dafür in MA I 104 gestrichen, vgl. NK 101, 14–17. Die Vorstellung, die Italiener seien Tieren gegenüber grausam, ist in der deutschen Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts topisch, vgl. z. B. Stahr 1848, 2, 472 über das von ihm in Rom erlebte Fest des heiligen Antonius Abbas, zu dem Tiere mitgebracht werden: „Die Thiere hatten aber alle insgesammt augenscheinlich den Segen des Heiligen sehr nöthig. Denn die Jammergestalten der Pferde, welche wir hier sahen, überstiegen zum Theil selbst die kühne Phantasie des Schöpfers der unsterblichen Rosinante. Mir fiel dabei recht auf, wie der gegen seine Thiere fast durchweg grausame Italiener sich auch hier in diesem originellen Feste durch Hülfe seiner Religion mit seinem Gewissen abzufinden weiß. Er führt sein Thier dem Heiligen
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 101–102, KSA 2, S. 98
369
zu, welcher für das Wohlergehen desselben ex officio zu sorgen hat, läßt es mit Weihwasser besprengen und mit der Zauberformel des lateinischen Gebets segnen, und traktirt es dann nach wie vor mit der gewohnten herzlosen Grausamkeit.“ 98, 25–27 Die meisten Fürsten und Militärchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam und hart, ohne es zu sein.] MA I 81 gibt dafür das Beispiel des persischen Großkönigs Xerxes, siehe NK 86, 9–13. 98, 27–33 D e r E g o i s m u s i s t n i c h t b ö s e, weil die Vorstellung vom „Nächsten“ – das Wort ist christlichen Ursprungs und entspricht der Wahrheit nicht – in uns sehr schwach ist; und wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und unverantwortlich fühlen. Dass der Andere leidet, ist zu l e r n e n: und völlig kann es nie gelernt werden.] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 84 f.) hat N. diesen Passus eingeklammert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/103/ u. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252 332904/104/). In Mp XIV 1, 48 heißt es stattdessen: „Der Egoismus ist nicht böse, weil die Vorstellung vom ‚Nächsten‘ in uns sehr schwach ist: beinahe wie gegen Pflanze u. Stein fühlen wir uns da ˹un˺veranwortlich. Dass der Andere leidet, ist zu lernen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,48) Die Korrekturen und Ergänzungen nahm N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 vor (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,50). Nach 98, 27–33 ist Empathie also nichts Naturgegebenes und muss erlernt werden. Einmal mehr positioniert sich dieser Passus dagegen, den Egoismus einem (hyper)moralischen Generalverdacht zu unterwerfen.
102. Der Eingang des Absatzes scheint die bereits bekannte Zurückweisung der Vorstellung von der Willensfreiheit gegen die Naturnotwendigkeit aufzunehmen, verschiebt dann aber den Akzent, wenn plausibiliert werden soll, dass eigentlich jede Form des Handelns, das anderen schadet, mehr oder weniger unmittelbar der Selbsterhaltung dient, entweder eigene „Lust“ befördert oder eigene „Unlust“ (99, 19) abwehrt. Dies wiederum bedeutet, dass jeder sein Handeln für gut, nämlich für „nützlich“ hält, was ja auch schon Platons und Sokrates’ Auffassung gewesen sei. Zu MA I 102 gibt es in Mp XIV 1, 216 eine ‚Reinschrift‘, ohne den späteren Titel, dafür markiert mit rotem „A“ und rotem „B“ sowie durchgestrichen blau „Verantwortl.“ und – nicht durchgestrichen – „Unschuld“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,216). Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 85) hat
370
Menschliches, Allzumenschliches I
N. die Abschnittnummer „102“ (99, 1) eingeklammert (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1252332904/104/). Offensichtlich sollten MA I 101 und 102 in einer Neuausgabe zu einem Abschnitt vereinigt werden. Thematisch verwandt – auch mit dem Ende von MA I 101 – ist NL 1876/77, KSA 8, 21[31], 371, 13–17: „Das Egoistische gilt als b ö s e, in den meisten Fallen mit Unrecht; denn dass es s c h ä d i g t, giebt ihm nicht diesen Character. Es will sich erhalten, Character der Nothwehr (selber Emotion der Nerven zu haben kann Bedürfniss sein). Ohne Bedürfniss schädigen und mit Absicht ist Unsinn.“ Die Fokussierung auf die Selbsterhaltung ist vorgespurt in NL 1876/77, KSA 8, 21[73], 377, 4–6: „Alle bösen Eigenschaften gehen auf den Erhaltungstrieb des Einzelnen zurück, der doch gewiss nicht böse ist. M i s s g u n s t bei Hunger, wenn ein anderer – – –“. Vgl. zu MA I 102 z. B. Grau 1984, 73 sowie Wiebrecht Ries u. KarlFriedrich Kiesow in NH, 97. 99, 2 „D e r M e n s c h h a n d e l t i m m e r g u t.“] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 von N. hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,50). Zwar handelt es sich bei dem in Anführungszeichen gesetzten Titel nicht um ein nachweisbares wörtliches Zitat, aber es kondensiert das von Sokrates im Dialog mit Menon Gesagte, vgl. NK 99, 20–24. 99, 8 selbt] 99, 8 übernimmt aus Nietzsche 1878, 85 den Druckfehler. N. fügt in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 ein: „selbst“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,50). 99, 8 f. unter allen Umständen] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 von N. korrigiert aus: „immer“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,50). 99, 9 f. man tödtet z. B. eine Mücke unbedenklich mit Absicht, blos weil uns ihr Singen missfällt] Das Beispiel hat bereits MA I 81 bemüht, vgl. NK 86, 8. 99, 20–24 in irgend einem Sinne handelt es sich immer um Selbsterhaltung. Sokrates und Plato haben Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst: Das, was ihm gut (nützlich) scheint, je nach dem Grade seines Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernünftigkeit.] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 50 von N. korrigiert aus: „Sokrates hat Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer was ihm gut (nützlich) scheint.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,50) Eine solche Auffassung des Sokrates wird in Platon: Menon 78a–b artikuliert: Alle Menschen wollen das Schlechte vermeiden und streben nach dem (für sie) Guten – oder in N.s Worten in der Einführung in das Studium der platonischen Dialoge: „In Hinsicht des Strebens wird [sc. im Menon] vermittelt, daß Jeder nur nach dem Guten strebt.“ (KGW II 4, 92, 33–93, 1) Wer dennoch nach dem Bösen trachte, halte es für gut. „Alle wollen das Gute“ (ebd., 93, 7 f.).
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 102–103, KSA 2, S. 99–100
371
103. Das, was die Moralphilosophie „Bosheit“ zu nennen pflegt, nämlich den anderen ein Leiden zufügen zu wollen, lehrt MA I 103 provozierend mild zu betrachten, nämlich als Ausdruck des eigenen Lust- und Machtsteigerungswillens: ‚Wir‘ würden anderen nicht Leid zufügen, weil ‚wir‘ an ihrem Leiden interessiert sind, sondern vielmehr, weil uns an der eigenen Lust liege. Und wir würden darauf nur verzichten, weil wir Sanktionen fürchten, nämlich, dass der andere sein Leid an uns vergilt. Der Abschnitt läuft in eine Evaluation des Mitleids aus, die sehr deutlich von der bisherigen Mitleidskritik abweicht: Der Mitleidige wolle zuerst die Lust auskosten, die ihm – so „in der Tragödie“ (100, 23; vgl. Aristoteles: Poetik 1453b 1 ff. u. 1449b 26–30) – das starke Gefühl angesichts des Bemitleideten biete, sodann das Machtgefühl, das Leiden der anderen selbst lindern zu können. Schließlich lindere man mit mitleidvollem Handeln eigenes Leiden, wenn einem der leidende Mensch „sehr nahe“ (100, 25) stehe. Entsprechend habe man „das Mitleid, in der Rangfolge moralischer Empfindungen, immer ziemlich tief gestellt“ (100, 28 f.). Zu MA I 103 gibt es in Mp XIV 1, 3 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und durchgestrichenem rotem „B“ sowie blau: „Unschuld im Bösen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,3). 99, 26 f. Die Bosheit hat nicht das Leid des Andern an sich zum Ziele] In Mp XIV 1, 3 sind „Bosheit“, „nicht“ und „Leid des Andern“ unterstrichen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,3); die Unterstreichungen werden im Druckmanuskript eigens gestrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,51). Dass die Bosheit „das fremde Wehe“ wolle, ist bekanntlich Schopenhauers These (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 210), auf die N. häufig zu sprechen kommt, vgl. z. B. NK 23, 24–26. 100, 1 f. Ist Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer sagt?] Vgl. Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 200: „Jedoch ist Neid zu fühlen, menschlich; Schadenfreude zu genießen, teuflisch.“ Ebd., 225: „Kant hätte besser gethan, jenen speciellen Eifer gegen die S c h a d e n f r e u d e loszulassen: diese, nicht die Lüge, ist das eigentlich teuflische Laster.“ 100, 13–23 Allein vom Gesichtspuncte des Nutzens her, das heisst aus Rücksicht auf die F o l g e n, auf eventuelle Unlust, wenn der Geschädigte oder der stellvertretende Staat Ahndung und Rache erwarten lässt: nur Diess kann ursprünglich den Grund abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. – Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als, wie gesagt, die Bosheit den Schmerz des Andern an sich. Denn es birgt mindestens zwei (vielleicht viel mehr) Elemente einer persönlichen Lust in sich und ist dergestalt Selbstgenuss: einmal als Lust der Emotion, welcher Art das Mitleid in der Tragödie ist] Von N. und
372
Menschliches, Allzumenschliches I
Köselitz im Druckmanuskript D 11, 51 so korrigiert. Ursprünglich stand dort: „Allein der Nutzen, das heisst die Rücksicht auf die Folgen, auf eventuelle Unlust kann solche Handlungen ursprünglich verbieten. Das Mitleid ist kein ursprüngliches, sondern ein spätes Phänomen. Überdiess ist es nicht reiner Schmerz, ˹Denn es hat zwei Elemente der˺ sondern Lust der Emotion“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,51). In der ursprünglichen Fassung fehlt also auch noch der Hinweis auf die Tragödie, so dass die Emotionslust der Theaterzuschauer im Mitleid noch nicht ans Licht trat. 100, 27–29 – Abgesehen von einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid, in der Rangfolge moralischer Empfindungen, immer ziemlich tief gestellt: mit Recht.] Von N. nachträglich zu Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 51 hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,51).
104. MA I 104 stellt zur Disposition, ob es überhaupt eine Form der „Bosheit“, der „Grausamkeit“ gibt, die nicht aus eigenem Selbsterhaltungs- oder Selbstluststeigerungsinteresse geboren ist. Wer absichtlich andere schädige, um sich selbst zu erhalten, gelte als moralisch gerechtfertigt, eine unabsichtliche Schädigung ohnehin. Nun könne man den Schmerz der anderen nicht wirklich fühlen, weshalb es schwerfalle, ihn ernstlich nachzuvollziehen, zu ermessen und gegen den eigenen Machtgefühl- oder Lustgewinn aufzurechnen. Der Abschnitt reflektiert das Grundproblem nicht nur des Fremdpsychischen, sondern des Fremdschmerzes, der dem einen beim anderen unzugänglich ist, so dass nur „aus Analogie“ (101, 23 f.) darauf geschlossen werden kann. Das eigene „Mitleiden“ (101, 27) ist mit dem Leiden der anderen eigentlich nicht zu vergleichen, weil beide Leiden – das eigene und das fremde – niemals gleichzeitig empfunden werden können (würde das bedeuten, dass das Mitleiden die Mitleidenden womöglich doch nicht so sehr in Mitleidenschaft zöge, wie die Mitleidskritiker gerne behaupten?). Zu MA I 104 gibt es in Mp XIV 1, 217 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und durchgestrichenem rotem „B“ sowie blau: „Unschuld im Bösen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,217). Das Thema von MA I 104 wird in NL 1876/77, KSA 8, 21[31], 371, 13–17 präfiguriert: „Das Egoistische gilt als b ö s e, in den meisten Fällen mit Unrecht; denn dass es s c h ä d i g t, giebt ihm nicht diesen Character. Es will sich erhalten, Character der Nothwehr (selber Emotion der Nerven zu haben kann Bedürfniss sein). Ohne Bedürfniss schädigen und mit Absicht ist Unsinn.“ Zur Interpretation von MA I 104 siehe z. B. Liessmann 2021, 180 f.
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 103–104, KSA 2, S. 100–101
373
100, 31 N o t h w e h r] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 51 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,51). Eine Pointe von MA I 104 besteht darin, den Begriff der Notwehr so weit wie möglich auszudehnen. Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 legt in § 53 fest: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung durch Nothwehr geboten war. Nothwehr ist diejenige Vertheidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich oder einem Anderen abzuwenden. / Die Ueberschreitung der Nothwehr ist nicht strafbar, wenn der Thäter in Bestürzung, Furcht oder Schrecken über die Grenzen der Vertheidigung hinausgegangen ist.“ § 54 führt weiter aus: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung außer dem Falle der Nothwehr in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Nothstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Thäters oder eines Angehörigen begangen worden ist.“ 100, 31 f. Wenn man überhaupt die Nothwehr als moralisch gelten lässt] In Mp XIV 1, 217 stattdessen: „Wenn man die Nothwehr gelten lässt“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,217). 101, 3–5 man lügt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der Selbsterhaltung sind] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 51 so korrigiert, allerdings mit „ist“ statt „sind“ („sind“ steht erst in Nietzsche 1878, 87). Ursprünglich stand im Druckmanuskript: „(zum Beispiel bei der Nothlüge, wie Schopenhauer sie beschreibt). Aber wo bleibt dann das Unmoralische?“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/D-11,51) Bei Schopenhauer hatte es geheißen: „Aber wie, trotz dem Landfrieden, das Gesetz Jedem erlaubt, Waffen zu tragen und zu gebrauchen, nämlich im Fall der Nothwehr; so gestattet für den selben Fall, aber eben so auch n u r für diesen, die Moral den Gebrauch der Lüge. /225/ Diesen Fall der Nothwehr gegen Gewalt oder List ausgenommen, ist jede Lüge ein Unrecht; daher die Gerechtigkeit Wahrhaftigkeit gegen Jedermann fordert.“ (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 224 f.) In 101, 4 f. ist, wie schon in 101, 2, von Selbsterhaltung die Rede (vgl. dazu schon in MA I 99, KSA 2, 95, 29 den „Trieb der Erhaltung“), als ob diese eine natürliche Gegebenheit wäre, was z. B. in NL 1876/77, KSA 8, 23[9], 405 f. und NL 1876/77, KSA 8, 23[12], 406–408 entschieden in Abrede gestellt wird. In diesen kritischen Stellungnahmen zum gerade vom Darwinismus forcierten Gedanken eines universellen Selbsterhaltungsstrebens könnte sich schon N.s spätere Überbietung der evolutionstheoretischen Selbsterhaltung durch Selbstüberbietung ankündigen (vgl. Sommer 2010b). Die Pointe von MA I 104 ist demgegenüber die Akzentverschiebung: Von 101, 6 f. an geht es nicht mehr um Selbsterhaltung, sondern um „Erhaltung unseres Wohlbefindens“ (gleichlautend 101, 12) – und um Luststeigerung, die dann in 101, 30 f. mit Machtgefühl kurzgeschlossen wird; der Kampf ums Dasein wird zum „Kampf um die Lust“ (102, 1) umgewertet.
374
Menschliches, Allzumenschliches I
101, 14–17 Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, so ist sie keine Handlung der Bosheit; so ist das Kind gegen das Thier nicht boshaft, nicht böse: es untersucht und zerstört dasselbe wie sein Spielzeug.] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 51 korrigiert aus: „Wenn man nicht weiss, wie weh es thut, so ist es nicht unmoralisch, zum Beispiel bei dem Kinde, welches gleich dem Italiäner ‚grausam‘ gegen Thiere ist.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,51) Zur Grausamkeit der Kinder und Italiener NK 98, 16–20. 101, 26–102, 4 Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes hervorruft? Also: bei dem Schädigen aus sogenannter Bosheit ist der G r a d des erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt; insofern aber eine L u s t bei der Handlung ist (Gefühl der eignen Macht, der eignen starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefinden des Individuums zu erhalten und fällt somit unter einen ähnlichen Gesichtspunct wie die Nothwehr, die Nothlüge. Ohne Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der Einzelne diesen Kampf so kämpft, dass die Menschen ihn g u t, oder so, dass sie ihn b ö s e nennen, darüber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit seines I n t e l l e c t s.] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 51 korrigiert aus: „Andererseits sind die Menschen mitleidig aus Liebhaberei an starken Empfindungen, daher die Kunst der Tragödie, das Gefallen an Hinrichtungen.“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/D-11,51) KGW u. KSA setzen das Wort „Intellects“ (102, 4) gesperrt und folgen damit dem Druckmanuskript D 11, 51. In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/120/), in der Erstausgabe selbst (Nietzsche 1878, 88) sowie in N.s Handexemplaren fehlt allerdings die Sperrung. Die Reflexion auf das „Gefühl der Macht“ oder „Machtgefühl“ (vgl. auch MA I 142, KSA 2, 138, 7 f.) wird in M und FW zu einem zentralen Motiv, das noch AC 2 in katechistischer Form zuspitzt (vgl. NK KSA 6, 170, 2–6 und umfassend Simonin 2022). Die Motiventwicklung und Motivabschattungen erläutert der Kommentar zu FW 13, NK 3/2.1, S. 368–371 (siehe ferner z. B. NK KSA 5, 266, 17–23 u. NK KSA 5, 360, 7–11). In NL 1876/77, KSA 8, 23[172], 467 wird eine „neue Darstellung der K u n s t l e h r e“ (ebd., 467, 1) skizziert, die „Emotionen“ (ebd., 467, 3), „G e m ü t h s e r r e g u n g e n an sich“ (ebd., 467, 2 f.) zum Grundmovens des Handelns erklärt und daraus ein Konzept von Kunst als Erregungskunst ableitet. Der hedonistische Gesichtspunkt, den MA I 104 geltend macht, wird beispielsweise bei Rée 1877, 133 = Rée 2004, 205 herausgestellt: „Die guten Handlungen sind von Lustgefühlen begleitet (siehe § 1). Hierbei erwäge man aber, dass der Gute diese Lustgefühle um theuren Preis erkauft, nämlich um die Empfindung schmerzlichen Mitleidens in den zahlreichen Fällen, in denen er nicht helfen kann.“ MA I 104 erprobt die Generalisierung dahingehend, dass jede Handlung nach Lust strebe – jenseits
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 104–105, KSA 2, S. 101
375
aller Klassifizierung als „gut“ oder „böse“ (vgl. 102, 1–4). In seinem Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 88) hat N. den ganzen Passus 101, 34–102, 4 eingeklammert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/107/).
105. Nähme man die Überlegung ernst, dass es keine Willensfreiheit gebe und niemand für irgendeine Handlung Verantwortung übernehmen müsse, ginge eine Belohnung oder Bestrafung als Gerechtigkeitsausgleich ins Leere. Vielmehr dienen Bestrafung und Belohnung als Movens künftiger Handlungen oder Handlungsunterlassungen, insbesondere bei Dritten. Dazu braucht man keine Willensfreiheit, sondern starke Handlungsantriebe. Strafe und Belohnung sind solche; daher könne man nicht auf sie verzichten. Zu MA I 105 gibt es in Mp XIV 1, 75 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,75). Diese Fassung weist einen anderen Schluss auf, siehe NK 102, 27–31. Zum rechtsgeschichtlich-vergleichenden Ansatz, der sich in MA I 105 abzeichnet, vgl. MA I 459, KSA 2, 297 und ausführlich zu dessen Problemgeschichte NK KSA 3, 379, 1 f., zum Nichtverdienen der Todesstrafe NK ÜK MA I 70. Thematisch erinnert MA I 105, wie Salerno 2021, 60 f. herausstellt, an eine gemeinsame Sorrenter Lektüre, nämlich Alexandre Herzens Physiologie de la volonté, wo es nach einer Expektoration gegen die Idee eines durch und durch freien Willens (der, wenn es ihn gäbe, nach Herzen zwingend für jedes Vergehen die Todesstrafe nach sich ziehen müsste) heißt: „Pourtant, les plus grands criminalistes modernes s’accordent à dire que la peine ne se doit pas infliger à titre de vengeance pour un délit /145/ passé, mais comme moyen de prévenir un délit futur, soit de la part du même individu, soit de celle des autres. Ce qui serait une évidente contradiction, une absurdité, une chose sans but, ou sans autre but que la vengeance, si l’on admettait la possibilité d’une volition indépendante des motifs. Alors, il faudrait renverser la théorie de la ‚contre impulsion‘ pénale comme correctif de ‚l’impulsion criminelle,‘ théorie sur laquelle repose tout le droit pénal moderne. / Le système des récompenses sociales ou privées est évidemment le calque négatif, pour ainsi dire, du système penal“ (Herzen 1874, 144 f.). Und Herzen folgert: „la généralité des hommes a besoin de motifs étrangers à la morale pour se maintenir sur la voie d’une conduite tolérable; il lui faut des motifs extérieurs pour étayer, /147/ corriger, renforcer les motifs purement moraux, et ces motifs sont précisément les récompenses et les peines humaines ou divines. / Pour de telles gens, il y a la législation et la religion.“ (Ebd., 146 f.) Fornari 2009, 77–80 stellt den Bezug von MA I 105 zu Rée 1877, 45 f. = Rée 2004, 153 heraus: „Jede staatliche Gemeinschaft
376
Menschliches, Allzumenschliches I
ist eine grosse Menagerie, in der Furcht vor Strafe und Furcht vor Schande die Gitter sind, durch welche die Bestien davon abgehalten werden, sich einander zu zerfleischen. Zuweilen brechen diese Gitter entzwei –. / Nachdem nun die Strafe, um innerhalb eines Staates die Ruhe herzustellen, eingeführt worden war, bil-/46/dete sich das Gerechtigkeitsgefühl, das heisst dasjenige Gefühl, vermöge dessen wir fordern, dass auf schlechte Handlungen Strafe als Vergeltung folge. / Man beachte wohl, dass dieses offenbar in uns liegende Gefühl die Strafe nicht aus demselben Gesichtspunkte fordert, aus dem sie bei ihrer ersten Begründung gefordert wurde. Denn der ursprüngliche Zweck der Strafe ist, wie wir soeben sahen, von schlechten Handlungen abzuschrecken. Das Gerechtigkeitsgefühl dagegen betrachtet die Strafe nicht als ein Abschreckungsmittel für die Zukunft, sondern als eine Vergeltung für die Vergangenheit. Nach ihm soll quia peccatum est gestraft werden, nicht ne peccetur.“ Rée und N. teilten wohl das gemeinsame Lektüreerlebnis Herzen 1874; zur lateinischen Schlusswendung siehe NK 102, 22–25. 102, 6 D i e b e l o h n e n d e G e r e c h t i g k e i t] In N II 2, 35 lautet eine mit blauem Farbstift notierte Aufzeichnung schlicht: „Belohnende Gerechtigkeit“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,35). 102, 7 Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit] Zur Unverantwortlichkeit vgl. z. B. MA I 17, MA I 39, MA I 43, MA I 91, MA I 105, MA I 107, MA I 133 u. MA I 144. 102, 8–11 der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht, dass man Jedem das Seine giebt] Eine Neuperspektivierung der distributiven Gerechtigkeit wird unter dem Titel „S u u m c u i q u e“ auch in FW 242 unternommen, siehe NK 3/2.1, S. 1019 f. Die Vorstellung geht zurück auf Platon: Politeia 433a–e u. Nomoi 757c sowie Aristoteles: Nikomachische Ethik 1130b–1131a. Auch MA I 92, KSA 2, 89 f. zehrt noch von dieser alten Gerechtigkeitsvorstellung, die MA I 105 umbesetzt; MA I 636 münzt sie dann auf Erkenntnisprozesse um. 102, 22–25 Man muss ebenso sagen „der Weise belohnt nicht, weil gut gehandelt worden ist“, als man gesagt hat „der Weise straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht schlecht gehandelt werde“.] Das zweite Zitat ist die deutsche Übersetzung einer Sentenz, die Rée 1877, 50 = Rée 2004, 156 f. zitiert: „In Wahrheit darf nicht gestraft werden, weil gesündigt worden ist, sondern damit nicht gesündigt werde. Nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur.“ Der Satz – gerne übersetzt: „Kein Kluger straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde“ – stammt aus Lucius Annaeus Seneca: De ira I 19, 7 und wird dort ausdrücklich Platon zugeschrieben (vgl. z. B. Protagoras 324a–b). Dabei dürfte für N. und Rée einmal mehr Schopenhauer die Vermitt-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 105–106, KSA 2, S. 102–103
377
lerrolle gespielt haben: „Seneka spricht Platons Meinung und die Theorie aller Strafe vollkommen aus, in den kurzen Worten: Nemo prudens punit, quia peccatum est; sed ne peccetur (De Ira, I, 16 [sic]).“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 413) 102, 27–31 zu gewissen Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt der selbe Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit.] In Mp XIV 1, 75 heißt es stattdessen: „zu gew. Handl. hin, treiben, weg. – Im Verhältnis von Arbeiter u. Arbeitgeber ist ‚Lohn‘ ein falscher Begriff: hier handelt es sich um vertragsmässigen Austausch von Leistungen, je nachdem der Eine diese, der andere jene Art von Leistungen mehr nöthig hat: also der Arbeiter Geld, Haus, Pflege, der Arbeitgeber fremde Körper u. Geisteskräfte.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,75) Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 52 endete ursprünglich bei „fort“ (102, 27); den Passus über die Eitelkeit 102, 27– 31 hat N. dann handschriftlich hinzugefügt. Während der weggelassene Teil über den „Lohn“ auf NL 1876/88, KSA 8, 23[73], 427 verweist, bietet die schließlich gedruckte Überlegung zur Eitelkeit ein Echo der Gesprächsgemeinschaft mit Paul Rée, vgl. Rée 1877, 119 = Rée 2004, 198: „Ferner hält das Ehrgefühl von Verbrechen zurück, weil man die mit der Strafe verbundene Schande fürchtet. Existirte die Eitelkeit nicht, fürchtete man nur den Schaden, nicht auch die Schande der Strafe, so würde ihre abschreckende Kraft wahrscheinlich nicht gross genug sein, um den Frieden innerhalb eines Staates zu erhalten.“ Vgl. auch NK 158, 30–159, 2.
106. In der Welt von MA I 106 ist alles streng kausalmechanisch determiniert. Würde man über genügend Informationen und Übersicht verfügen, könnte man die gesamte Zukunft voraussagen – wobei zu den Faktoren, die diese Zukunft beeinflussen, auch die Illusion der Willensfreiheit gehört. Man müsste also auch sie in die Kalkulation einbeziehen. Zu MA I 106 gibt es in Mp XIV 1, 176 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und blau bezeichnet „Unverantwortl.“ Am Ende des Abschnittes wurde von N. gestrichen: „eine falsche Vorstellung, welche vielfach als Motiv wirkt, zB wenn wir loben belohnen strafen, uns rächen usw.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,176) Zur Interpretation von MA I 106 siehe z. B. Bishop 2020, 62. 103, 2–6 Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den zahllosen Biegungen, Schlängelungen, Brechungen der Wellen Freiheit des Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig, jede Bewegung mathematisch auszurechnen.] Man könn-
378
Menschliches, Allzumenschliches I
te anzunehmen geneigt sein, das Beispiel des Wasserfalls (vgl. auch NL 1872/73, KSA 7, 19[68], 441) sei aus dem unmittelbaren Naturerlebnis geschöpft (beispielsweise in Rosenlauibad im Berner Oberland, wo sich N. im Sommer 1877 aufhielt). Allerdings ist es genau das Beispiel, das Schopenhauer aufruft, wenn er gegen die irrtümliche „Gewißheit einer Freiheit unsers Willens“ (Schopenhauer 1873– 1874, 4/2, 41) agitiert und sich dazu einen „einen Menschen“ denkt, „der, etwan auf der Gasse stehend, zu sich sagte: ‚Es ist 6 Uhr Abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Klub gehn; ich kann auch auf den Thurm steigen, die Sonne untergehn zu sehn; ich kann auch ins Theater gehn; ich kann auch diesen, oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum Thor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wiederkommen. Das Alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; thue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau.‘ Das ist gerade so, als wenn das Wasser spräche: „Ich kann hohe Wellen schlagen (ja! nämlich im Meer und Sturm), ich kann reißend hinabeilen (ja! nämlich im Bette des Stroms), ich kann schäumend und sprudelnd hinunterstürzen (ja! nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl in die Luft steigen (ja! nämlich im Springbrunnen), ich kann endlich gar verkochen und verschwinden (ja! bei 80° Wärme); thue jedoch von dem Allen jetzt nichts, sondern bleibe freiwillig, ruhig und klar im spiegelnden Teiche.‘ Wie das Wasser jenes Alles nur dann kann, wann die bestimmenden Ursachen zum Einen oder zum Andern eintreten; ebenso kann jener Mensch was er zu können wähnt, nicht anders, als unter der selben Bedingung.“ (Ebd., 42) MA I 106 greift die eine Erscheinungsform des Wassers, eben den Wasserfall heraus und stellt ihn apart. An der deterministischen, Schopenhauerschen Grundkonstellation ändert das nichts (vgl. auch NL 1876/77, KSA 8, 23[37], 416 f., zitiert in NK 223, 27–29). Das Motiv des Wasserfalls nimmt dann, anders gewendet, MA I 488, KSA 2, 318 wieder auf. Zur Idee der mathematischen Berechenbarkeit aller künftigen Handlungen siehe NK 3/2.1, S. 1022 f. und ausführlich Marinucci 2017. 103, 6–8 So ist es auch bei den menschlichen Handlungen; man müsste jede einzelne Handlung vorher ausrechnen können, wenn man allwissend wäre] Djurić 1980, 149: „Im Einklang mit dem berühmten Gedanken von Laplace, und sogar ganz in seinem Zeichen, betont Nietzsche, daß nur ein ‚allwissender, rechnender Verstand‘ mit mathematischer Genauigkeit jeden künftigen Zustand der Welt voraussehen könnte.“ Gemeint ist der sogenannte „Laplacesche Dämon“, der zurückgeht auf eine Überlegung von Pierre-Simon Laplace (1749–1827) im Essai philosophique sur les probabilités: „Une intelligence qui pour un instant donné connaîtrait toutes les forces dont la nature est animée et la situation respective des êtres qui la composent, si d’ailleurs elle était suffisamment vaste pour soumettre ces données à l’analyse, embrasserait dans la même formule les mouvemens des plus grands
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 106–107, KSA 2, S. 103
379
corps de l’univers et ceux du plus léger atome; rien ne serait incertain pour elle, et l’avenir, comme le passé, serait présent à ses yeux.“ (Laplace 1825, 4 – „Eine Intelligenz, die zu einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennen würde, von denen die Natur angetrieben ist sowie die jeweilige Lage der Wesen, die sie ausmachen, und die zudem umgreifend genug wäre, diese Gegebenheiten der Analyse zu unterwerfen, würde in der selben Formel die Bewegungen der größten Körper des Universums und die des leichtesten Atoms umfassen; nichts wäre für sie ungewiss, und die Zukunft wie die Vergangenheit wären ihren Augen gegenwärtig.“) Zwar dürfte N. Laplaces Essai nicht gelesen haben, jedoch wurde seine Überlegung in der zeitgenössischen Naturwissenschaft bei Autoren wie Emil Du Bois-Reymond oder Ernst Haeckel immer wieder zitiert. Vgl. NK 105, 23–25. 103, 11 Rad der Welt] Zum Motiv des Weltrades siehe NK KSA 3, 639, 8–11. N.s kurzzeitiger Basler Kollege Wilhelm Wackernagel hat über „Das Glücksrad und die Kugel des Glücks“ einen Aufsatz verfasst, der in seinen Kleinen Schriften veröffentlicht wurde, die sich in N.s Bibliothek erhalten haben (Wackernagel 1872, 241– 257). Dort ist etwa von der mittelalterlichen Vorstellung des Erdrings die Rede: „Von diesem Erdring aber oder Weltring, wie man gleichfalls sagte ([…]), und von der kreisenden Sonnen- und Sternenwelt übertrug sich der Begriff der Radform und der Radbewegung einfach auch auf die Welt im geistlichen Verstand des Wortes“ (ebd., 253). Auch das Rad des Ixion spielt hinein; „Rad der Welt und Rad des Glückes, eigentlich ist aber nur der Ausdruck verschieden, die Sache jedoch beidemal dieselbe“ (ebd.). 103, 14 f. und jede Spur bezeichnen, auf der jenes Rad noch rollen wird] In Mp XIV 1, 176 von N. nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,176).
107. Der Abschnitt, mit dem das Hauptstück „Zur Geschichte der moralischen Empfindungen“ seinen Abschluss findet, akzentuiert noch einmal prominent die völlige „Unverantwortlichkeit“ und Willensunfreiheit, die nicht nur in den beiden vorangegangenen Abschnitten MA I 105 und MA I 106 thematisch waren, sondern beispielsweise auch in MA I 39, MA I 43, MA I 91, MA I 133 u. MA I 144. MA I 107 formuliert für den gesamten Komplex der „moralischen Empfindungen“ ein Schlusswort, in dem sich der Sprecher auf einen harten Determinismus festlegt. Eine nicht-deterministische Sicht, die von Schuld, Sühne und Willensfreiheit handelt, gilt ihm als zu überwindende Moralität. Dieser harte Determinismus entwertet die bisherige Welt-, aber auch Selbstwahrnehmung des Individuums, das sich
380
Menschliches, Allzumenschliches I
verantwortlich wähnte. Ihm wird jetzt unterstellt, sein einziges „Verlangen“ (104, 13) ziele auf „Selbstgenuss“ (104, 14) und verwirkliche sich „unter allen Umständen“ (104, 15) und in alle Richtungen. Was zu Beginn desillusionierend klingt, entpuppt sich als Ankündigung eines neuen Zeitalters, das die moralische Befangenheit hinter sich gelassen hat, einer Selbstverwandlung der Menschheit von der Moral- in die Weisheitsorientierung. Der Sprecher spart nicht mit bunten, religiös verbrämten Zukunftsausmalungen („neue[s] Evangelium[.]“ in 105, 8 oder „Selbsterleuchtung und Selbsterlösung“ in 105, 19 f.). „Nothwendigkeit“ und „Unschuld“ (105, 11–13) sind die beiden Stichworte für ein Menschentum, das sich von der moralischen Hypothek befreit hat. MA I 107 verbindet auf eigentümliche Weise zwei Motive, nämlich das des Determinismus und das einer geschichtsphilosophischen Fortschrittsbewegung. Diese beiden Motive gehören keineswegs notwendig zusammen, können aber ohne grundsätzliche systematische Probleme miteinander kurzgeschlossen werden. Dabei spielt – wie schon in der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts (vgl. Sommer 2002a) – das Versprechen des Trostes eine tragende, motivverbindende Rolle: Obwohl wir unglücklich sein müssten, über uns so desillusioniert zu werden, wie der Anfang von MA I 107 es unternimmt, schenkt der optimistische Zukunftsausblick Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht. Aber kann man diese mit ihrer Rede von „Evangelium“ und „Selbsterlösung“ vor Zukunftsenthusiasmus strotzende Sprechinstanz denn wirklich ernst nehmen oder ist hier ein böser Ironiker am Werk? Dieser Verdacht tritt womöglich auch beim dezidierten Sokratismus auf, der z. B. in 104, 12–14 die Suggestion aufrechterhält, bessere Erkenntnis bringe zwangsläufig besseres Handeln hervor und letztlich auch, dass niemand willentlich und wissentlich Böses tue. Will MA I 107 diesen Gedanken hier ernstlich wieder ins Spiel bringen, behauptend, dass Erkenntnis dann ein Motiv wäre, das in einer restlos determinierten Welt den Ausschlag geben könne? Oder stammt auch dieser Gedanke aus der Hexenküche hochkonzentrierter Ironie, ausgebracht gegen die Naivität vieler Aufklärer? Einerseits betont der Sprecher die Vorläufigkeit aller Urteile und Moralen, andererseits tut er so, als könne er die Zukunft vorwegnehmen und als würde er wissen, in welche Richtung der Strom der Geschichte fließe. Woher er dieses Wissen nimmt, wird den Lesenden freilich nicht verraten. Aus der Zukunft auf die Gegenwart zu blicken, ist jedenfalls ein seit den Zukunftsutopien des 18. Jahrhunderts altbewährtes Mittel, die Gegenwart ins Unrecht zu setzen. Dennoch verfügen Jetztzeitmenschen über die Zukunft nicht, können ihre Weisheitsentwicklung nicht antizipieren. Zu MA I 107 gibt es in Mp XIV 1, 359 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, deren Überschrift zunächst nur „Unverantwortlichkeit“ lautete, bevor N. „und Unschuld“ ergänzte. Dieser Text enthält viele Streichungen und einige
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 107, KSA 2, S. 103
381
Hinzufügungen von N.s Hand. Die zweite Hälfte des Textes ist schließlich diesen Streichungen zum Opfer gefallen; der nicht gestrichene Text endet mit „über uns entscheidet)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,359), also mit der Klammer in 104, 8 des Drucktextes. Die ‚Reinschrift‘ zu dem im Druck dann von 104, 8 bis 104, 34 („giebt es einen Trost:“) reichenden Text findet sich in Mp XIV 1, 231, aber nicht von Brenners, sondern von N.s Hand; nach dem „Trost“-Doppelpunkt folgt nichts mehr (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,231). In Mp XIV 1, 227 findet sich wiederum von N.s Hand eine Rohfassung des späteren Schlussteiles des Textes von 104, 34 bis 106, 3 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,227). Im Druckmanuskript D 11, 53 und D 11, 53vet54 steht dann der gesamte Drucktext von Köselitz sauber ins Reine geschrieben (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,53 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,53 vet54). Eine frühere Variante des Anfanges findet sich in Mp XIV 1, 141 und lautet: „Die völlige Unverantwortl. ˹des Menschen für sein Handeln und sein Wesen˺ ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muß ˹: obwohl man zuerst gerade das Gegentheil glauben möchte˺. Alle unsere Schätzungen, Auszeichnungen, Abneigungen sind dadurch entwerthet, falsch geworden: unser tiefstes Gefühl, das wir dem Dulder dem Helden entgegenbringen gilt einem Irrthum; wir dürfen nicht loben, nicht tadeln, wie wir die Natur nicht loben und tadeln. So wie wir das ˹gute˺ Kunstwerk lieben und nicht lieben, das ˹aber nicht loben˺, das ˹weil es˺ nichts für sich selber kann, wie wir vor der Pflanze stehen, so müssen wir vor den Handlungen der Menschen, vor unsern eigenen stehen. Wir können Kraft Schönheit Fülle usw. ˹an ihnen˺ bewundern, aber ˹dürfen˺ kein Verdienst ˹darin finden˺. Der chemische Prozeß ist ebenso wenig voll ˹ein˺ Verdienst, wie der mühsame ˹Kampf eines Vaters welcher sich entscheiden muß˺, ob er seine Tochter opfere ˹oder˺ seinen Mund mit einer Lüge beflecke (˹wie es der große W.˺ Scott im Kerker von Edinburg ˹darstellt˺) oder ˹das Opfer˺ von 8 Söhnen, welches der greise Erzieher ˹eines Häuptlings dem Rufe desselben darbringt˺ (˹herrlich erzählt im˺ schönen Mädchen von Perth). Diese Handl, enthalten erstens einen Irrthum als Motiv, dort daß es einen Gott ˹gebe, der˺ die Lüge verbiete, hier daß am Rufe des Häuptl. mehr gelegen sei als am Leben von 8 Söhnen. Sodann gilt ˹ist˺ unsere Empfindung ˹an jene erwähnte˺ irrige Vorstellung ˹geknüpft˺, als ob jene ˹die Genannten˺ auch anders hätten handeln ˹sich anders hätten entscheiden˺ können. – Wenn man einsieht daß alle Motive der Ehre und Schande wegfallen müssen weil man nur die ‚freie‘ Handl. ehrt oder tadelt, nicht aber Naturvorgänge, so weiß man ˹in seiner Traurigkeit˺ nicht, wonach ˹eigentlich˺ die Menschen noch leben sollen: wenn nicht nach Motiven des Vortheils, welche wiederum die von Lust u. Unlust wären. – Aber die Wahrheit selber höher taxiren als die Unwahrheit – warum? Dies ist schon Moral. ˹Aber wie kommen
382
Menschliches, Allzumenschliches I
wir darauf in Bezug auf jenen Satz selber? Ist dies eine Rücksicht des Nutzens oder der Moral? – ˺“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,141) N. hat laut Buchhändlerrechnung vom 16. Februar 1876 eine 25- oder 24-bändige WalterScott-Ausgabe gekauft, die sich allerdings in seiner Bibliothek nicht erhalten hat (NPB 546; vgl. auch Large 2019, 123). Das erste Scott-Beispiel in Mp XIV 1, 141 bezieht sich auf den 1818 erschienenen Roman The Heart of Mid-Lothian, den siebten der Waverley Novels. Schon die deutsche Übersetzung von 1825 löst die Anspielung des Titels auf: Das Herz von Mid-Lothian, oder Der Kerker von Edinburgh. Das zweite Scott-Beispiel im Text stammt aus dem 1828 publizierten, ebenfalls zu den Waverley Novels gehörenden Roman St Valentine’s Day, or, The Fair Maid of Perth. Zu N. und Scott siehe auch NK ÜK MA I 163 u. NK 339, 18 f., zu MA I 107 auch Piazzesi 2010b, 357–359, im Horizont der Frage nach der Sterblichkeit Sánchez Meca 2017. 104, 13–18 Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umständen, der Mensch mag handeln, wie er kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache, Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkenntniss.] Zum Begriff des Selbstgenusses vgl. NK 71, 7–12, spezifisch in MA I 107 siehe Winkler 2021a, 257 f., der „eine enge semantische Beziehung“ zwischen N.s Selbstgenuss und dem amour-propre bei La Rochefoucauld erkennt und einen Bezug zu „Schopenhauers Willensmetaphysik“ gegeben sieht: „Doch im Unterschied zu beiden (wie auch zu Pascal) überschreitet Nietzsche aufklärerisch-optimistisch die pessimistischen Vorstellungen von der Ausweglosigkeit und Ruhelosigkeit der Bestrebungen des amour-propre bzw. des Willens zum Leben“, nämlich im versöhnlichen Ende von MA I 107. Freilich hat bekanntlich schon Pierre Nicole (1625–1695) argumentiert, dass die Selbstliebe soziale Zivilität herbeiführe ([Nicole] 1693,3, 150–156). Man kann hinzufügen, dass MA I 107 allenfalls eine sehr spezifische Variante von ‚Erkenntnisoptimismus‘ vertritt (vgl. 105, 27 f.), der als „Trost“ (104, 34) zwar motivisch an den von Sokrates bis Schopenhauer ungebrochenen Glauben an die Leidensbewältigungs- oder zumindest Leidenslinderungskraft der Erkenntnis anschließt, aber doch sehr anders akzentuiert ist: Erkenntnis hilft hier nicht, aus der determinierten Welt herauszukommen, sie schafft keine Freiheit, sondern eine „neue Gewohnheit“ des „Begreifens“ (105, 28 f.), einen neuen Habitus des Geschehen-lassen-Könnens. Dabei ist Erkenntnis einerseits das Produkt eines streng deterministischen Geschichtsverlaufs, dem auch die Moral radikal unterworfen ist (vgl. 105, 23–25); gleichzeitig wird Erkenntnis aber in diesem Verlauf selbst zu einem bestimmenden Faktor, zu einem eigenständigen Weltveränderungsfaktor. Erkenntnis als Weltveränderungsfaktor macht uns gelassen; der De-
Stellenkommentar MA I Zweites Hauptstück 107, KSA 2, S. 104–105
383
terminismus wird frohgemut. Die Welt hat Sinn, nicht weil sie Freiheit, sondern weil sie Erkenntnis bietet, die wiederum selbst weltverändernd ist. Es bietet Trost, die Gespenster der Moral vertreiben zu können. Kein Reich der Freiheit steht in Aussicht, aber ein Reich des Geschehen-lassen-Könnens. Vgl. zu MA I 107 auch Lemm 2015, 86 f. u. v. a. Kerkmann 2022, 26–29. 104, 15 f. der Mensch mag handeln, wie er kann, das heisst wie er muss] Vgl. Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 24: „‚Du kannst t h u n was du w i l l s t: aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur Ein Bestimmtes w o l l e n und schlechterdings nichts Anderes, als dieses Eine.‘“ 104, 19 Die Grade der Urtheilsfähigkeit] Es handelt sich um die einzige Stelle im gesamten Werk MA I, an der wortwörtlich von Urteilsfähigkeit die Rede ist. Woher sie und erst recht woher ihre „Grade“ rühren, erläutert MA I 107 ebensowenig wie die Frage, worin sie eigentlich besteht. Schult die am Schluss für so unausweichlich erklärte Erkenntnis, im Verein mit wiederholter, konkreter Anschauung, auch die menschliche Urteilsfähigkeit? Und worin unterscheidet sie sich von der gelegentlich anvisierten Urteilskraft (vgl. dazu NK ÜK MA I 86)? 105, 23–25 Alles ist im Flusse, es ist wahr: – aber A l l e s i s t a u c h i m S t r o m e: nach Einem Ziele hin] Offenkundig ist die Anspielung auf die einschlägigen Überlegungen bei Heraklit (vgl. Diels/Kranz 1959–1960, 22 B 49a und B 91), die in der Spätantike von Simplikios auf die Kurzformel „πάντα ῥεῖ“ („Alles fließt“) gebracht worden sind (Simplikios 1895, 1313), wobei sich die Version „πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει“ („alles bewegt sich und nichts steht fest“) schon in Platon: Kratylos 402a findet. N. greift das Motiv häufig auf, siehe NK KSA 3, 472, 6 und NK KSA 4, 252, 2–10. Die Pointe ist in 105, 23–25 aber nun, dass das vermeintlich ziellose Fließen mit dem „Strom“ schon immer ein „Ziel“ hat: In einer deterministischen Geschichtsbetrachtung ist der Zufall ausgeschaltet; alles hat seinen zureichenden Grund. Aber die Behauptung reicht im Folgenden viel weiter, was von der deterministischen Grundprämisse nicht gedeckt ist: Es heißt, dass der Weltprozess nicht irgendeinem Ziele notwendig zusteuert, das der Laplacesche Dämon (vgl. NK 103, 6–8) voraussagen könnte, sondern dass dieses „Ziel“ eines sei, das die Menschheit der Weisheit und Gelassenheit zuführt (vgl. dazu NK 104, 13–18). Ob das wirklich das „Ziel“ ist, kann der Sprecher in der Gegenwart mit seinem begrenzten Wissen um die weltbestimmenden Faktoren im Unterschied zum Laplaceschen Dämon nicht wissen; sein Postulat ist ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft, von dem die Sprechinstanz aber womöglich hofft, er werde selbst ein geschichtsbestimmender, die allgemeine Weisheit herbeiführender Faktor.
384
Menschliches, Allzumenschliches I
Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben. Der Titel des Dritten Hauptstücks macht klar, dass es darin nicht um religiöse Wahrheiten geht – um die üblichen Fragen der philosophischen Theologie –, sondern um Praktiken, um die Art und Weise, wie sich das Religiöse im menschlichen Dasein manifestiert. Dabei ist der Singular mit bestimmtem Artikel „Das religiöse Leben“ durchaus und wohl gewollt ein wenig irreführend, denn das Hauptstück führt vielmehr höchst unterschiedliche Formen des religiösen Lebens vor Augen (zum Begriff, der als „vita religiosa“ zunächst für den geistlichen Stand reserviert war, siehe NK KSA 3, 524, 30–32). Dabei sind die Annäherungen an diese so unterschiedlichen religiösen Phänomene und Praktiken ebenfalls vielgestaltig: Manche Abschnitte analysieren historisch, manche psychiatrisch, manche argumentieren philosophisch, manche philologisch. Dennoch erscheint das religiöse Bewusstsein in den unterschiedlichen Perspektivierungen als entwicklungsgeschichtlich überholt und in der Gegenwart als weitgehend dysfunktional – gerade da, wo die Wissenschaft der Religion entgegensteht. Das Dritte Hauptstück zielt nicht auf eine Widerlegung religiöser Dogmen, sondern praktiziert eine multiple Technik der Desillusionierung, die die therapeutische Absicht verfolgt, von den religiösen Verstrickungen zu heilen. Hödl 2007, 152 spricht im Blick auf das Dritte Hauptstück von einer „anthropologische[n] Wende in der Religionsbetrachtung“ und identifiziert verschiedene Schwerpunkte: „Den Ursprung der Religion, das Verhältnis von Religion und Wissenschaft sowie deren jeweiligen Wahrheitsanspruch erörtern die Aph. 108–111 (ebd. [= KSA 2], 107 ff.), Ansätze zu einer Typisierung von Religionen finden sich in den Aph. 111–114 (ebd., 113 ff.), Typen christlichen Alltagslebens werden in den Aph. 115 und 116 (ebd., 118 f.) vorgestellt, zu diesen Typologisierungen kann man auch die Ausführungen über die Irreligiosität der Künstler in Aph. 125 (ebd., 121 f.) rechnen. Das Fortleben religiöser Gefühle nach dem Ende der Religion behandelt Nietzsche in den Aph. 121 (ebd., 120), 130 und 131 (ebd., 123 ff ). Ab Aph. 130 werden auch die knappen, aphoristischen Einsprengsel, die den Hauptteil der Aph. 117– 129 (ebd., 119 ff.) bilden, wieder durch zwei längere, einen deutlich erkennbaren Zusammenhang bildende Reflexionsreihen abgelöst, die den Schluss des Abschnittes ergeben: Zunächst die Aph. 132–135 (ebd., 125 ff.), in denen eine Psychologie des Erlösungsbedürfnisses entworfen wird, worauf Nietzsche den Abschnitt mit der Behandlung der in den Aph. 126 und 127 (ebd., 122) vorbereiteten Thematik des Heiligen und der Heiligkeit in den Aph. 136–144 (ebd., 130 f.) beschließt.“ (Hödl 2007, 153) Zu Grundtendenzen des Dritten Hauptstücks siehe auch Stegmaier 2020a, 56 f. Formal fällt schließlich auf, dass dieses Hauptstück die Bandbreite sehr kurzer und sehr langer Abschnitte maximal ausreizt.
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 108, KSA 2, S. 105
385
108. Die Ausgangsthese dieses ersten Abschnitts aus dem Dritten Hauptstück besagt, dass es zwei Möglichkeiten gibt, mit Übeln umzugehen, nämlich ihre Ursachen zu bekämpfen oder ihre Symptome umzudeuten. Die von den „Religionen“ (107, 20) praktizierte Umgangsweise, das heißt die der Betäubung, der Narkotisierung des Leidens fällt nach MA I 108 in den Bereich der zweiten Möglichkeit (obwohl sie durchaus als dritte Möglichkeit hätte behandelt werden können). MA I 108 postuliert überdies eine geschichtsphilosophische Fortschrittsthese, derzufolge immer mehr Übel tatsächlich auch beseitigt werden können, so dass Religionen mit ihren Priestern und ihren Narkotisierungsstrategien ebenso überflüssig werden wie die Tragödiendichter, weil denen wegen schwindender Schicksalsmacht schlicht die tragischen Stoffe ausgehen. Damit wird die metaphysische Grundlage von GT kassiert, die die Unüberwindlichkeit der tragischen Urkonstellationen behauptet und untragische Zivilisationen als sokratisch-schönfärberisch, als freventlich-tragikvergessen angefeindet hat. MA I 108 hält hingegen die Tragik für überwindbar – denn der wissenschaftliche Fortschritt z. B. in der Medizin verringert die Angriffsfläche des „Schicksals“ – und die Tragödie als Kunstform auch der Zukunft für schlechterdings unnötig. MA I 108 ist mit der Wiederkehr der Übel in 107, 4 und in 107, 27 ringkompositorisch angelegt. Zu diesem Abschnitt gibt es in Mp XIV 1, 32 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und nachträglich mit schwarzer Tinte mit einer Überschrift versehen: „Abnahme der Thatkraft, Religion u Kunst eintretend (zu Gunsten Plato’s)“, darunter mit Bleistift: „Kunst u. Moral“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,32). In N II 3, 51 lautet ein Notat: „Man kann entweder ein Übel beseitigen oder unsere Stimmung über dies Übel ändern (eine andere Wirkung) Heilkunst Einfluss auf die Empfindung bei Zahnschmerz – Kunst“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,51). Thematisch zugehörig ist auch NL 1875, 5[163], KSA 8, 85, 24–86, 9: „Die M i t t e l g e g e n S c h m e r z, welche die Menschen anwenden, sind vielfach B e t ä u b u n g e n. Religion und Kunst gehören zu den Betäubungen durch Vorstellungen. Sie gleichen aus und beschwichtigen; es ist eine Stufe der n i e d r i g e n H e i l k u n s t seelischer Schmerzen. B e s e i t i g u n g d e r U r s a c h e d e s L e i d e n s durch eine Annahme, z. B. wenn ein Kind gestorben, anzunehmen, es lebe noch, schöner, und es gebe einmal eine Vereinigung. So soll die Religion für den Armen da sein, mit ihrer Vertröstung. / Ist die Tragödie für den noch möglich, der keine metaphysische Welt glaubt? Man muss zeigen, wie auch das H ö c h s t e der bisherigen Menschheit auf dem Grund jener niederen Heilkunst gewachsen ist.“ Der Gedanke wird fortentwickelt in NL 1876, KSA 8, 18[33], 322, 21–30: „Die Mittel gegen Schmerzen, welche Menschen anwenden, sind vielfach nur Betäubungen. Alle solche Mittel
386
Menschliches, Allzumenschliches I
aber gehören einer niedrigen Stufe der Heilkunst an. Betäubungen durch Vorstellungen findet man in den Religionen und Künsten, die insofern in die Geschichte der Heilkunst gehören. Besonders verstehen sich Religionen darauf, durch Annahmen die Ursache des Leidens aus den Augen zu rücken, zum Beispiel dadurch, dass sie Aeltern, denen ein Kind gestorben ist, sagen, es sei nicht gestorben und in Hinblick auf den Leichnam hinzufügen, ihr Kind lebe sogar als ein schöneres fort.“ In dieser Version bleibt die Tragödie ausgeklammert, die in 5[163] immerhin noch im Modus der Frage präsent war, während MA I 108 sie als reaktualisierbare Kunstform ganz preisgibt. Dahlkvist 2007, 208 f. zitiert 5[163] als Beleg für eine Abwertung der Kunst zugunsten der Erkenntnis und verweist 209, Fn. 527 auf NL 1875, KSA 8, 6[27], 108 für eine ästhetische Abwertung der Tragödie (zur Figur des Umdeutens in MA I 108 siehe auch Özen 2021, 253, ferner allgemein zu MA I 108 Meyer 2011, 269). Die „metaphysische Philosophie“ fällt im Fortgang von MA I 108 aus, nachdem sie in 107, 10 noch genannt war. In 5[163] kommt die „metaphysische Welt“ vor, an die man noch glaube. Hingegen ist in MA I 108 von solchem Glauben nicht die Rede. Religion, Kunst, metaphysische Philosophie werden dort auf die narkotisierende Funktion in der Heilmittelsgeschichte eingedampft und Kunst auf die tragische Kunst reduziert. Wäre dann noch eine andere Kunst, die nicht betäubt, möglich? Zur Motivparallelität von Narkotikum/Opium bei N. und Karl Marx vgl. Sommer 2021e. 107, 6 dass man seine Ursache hebt] D. h.: seine Ursache beseitigt. 107, 13 „wen Gott lieb hat, den züchtigt er“] Diesen Ausspruch aus Hebräer 12, 6 bemüht N. auch in M 75 – vgl. NK KSA 3, 72, 26 –, um ihn dann in NL 1882, KSA 10, 2[28], 48, 7 umzudrehen: „Wer Gott liebt, der züchtigt ihn“. Dieses Motiv kehrt im Za-Kontext gelegentlich wieder, vgl. KGW VI 4, 18 u. Salaquarda 2000, 330.
109. Die in MA I 108 vermeintlich kassierte, tragische Wirklichkeitsdiagnose aus GT kehrt in MA I 109 travestiert wieder, wenn den (monotheistischen) Religionen das Vermögen zugeschrieben wird, mit Hilfe ihrer falschen Lehren über die Trostlosigkeit des Daseins hinwegzutäuschen. Echte Wahrheiten, die ebenso tröstlich wirkten, könne man nicht gegen die religiösen Falschheiten aufbieten – metaphysische Lehren seien gleichfalls falsche Trostgründe –, da es solche tröstlichen Wahrheiten nicht gebe. Die Wahrheit kann offenbar die Lügen nicht substantiell ersetzen, ihre Funktion erfüllen. Angesichts der zunehmenden Empfindlichkeit und Leidensneigung der menschlichen Gattung könne dies zu völliger Verzweiflung führen, „woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der er-
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 108–109, KSA 2, S. 107
387
kannten Wahrheit verblute“ (108, 16–18) – was wiederum gegen die These von MA I 108 spricht, das Reich des Leidens werde im Laufe wissenschaftlicher Entwicklung immer kleiner: Nach MA I 109 steigt dafür die Leidensanfälligkeit. So könne man sich von Byron Schwermut oder von Horaz Leichtherzigkeit abgucken, aber das intellektuelle Gewissen, die Redlichkeit verbieten die Rückkehr zu christlichen Trostangeboten. Das in MA I 108 bereitgestellte geschichtsphilosophische Postulat einer kontinuierlichen Übelverminderung dank wissenschaftlichen Fortschritts lässt MA I 109 als Trostquelle zwar nicht mehr gelten. Aber die Schlusswendung, dass „Schmerzen“ für einen künftigen „Führer und Erzieher der Menschheit“ (109, 4 f.) notwendig sein würden, bietet immerhin den Trost des heroischen Trotzes. Zum Anfang von MA I 109 gibt es in Mp XIV 1, 176 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ sowie durchgestrichenem rotem „B“ und blau bezeichnet „Religion u. Moral“. Sie lautet: „Wie kann man die falsche Annahme, es gebe einen Gott, der das Gute wolle, Wächter u Zeuge jeder Handl jedes Augenblicks jedes Gedankens sei, der uns liebe, in allem Unglück unser Bestes wolle – wie kann man dies mit Wahrheiten austauschen, welche ebenso heilsam wohlthuend sind? Solche giebt es nicht, die Philosophie kann höchstens wiederum ˹metaphys. Scheinbarkeiten (im Grunde nur [?]˺ Unwahrheiten˹)˺ entgegensetzen. Nun ist aber die Tragödie die, daß man jene Unwahrheiten ˹Dogmen der Religion u Metaphysik˺ nicht glauben kann, wenn man die strenge Methode der Wahrheit im Herzen ˹u Kopfe˺ hat, anderseits durch die Entwicklung der Menschheit so zart, reizbar leidend geworden ist, um Heilung u Trost nöthig zu haben. ˹, so dass die Gefahr erwächst [?], dass der Mensch sich an der erkannten Wahrheit verblute?. Wesshalb Byron sagt: Der Gram des Wissens˺.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,176) Zur Fortsetzung in Mp XIV 1, 369a siehe NK 108, 19–21. In Mp XIV 1, 372 findet sich wiederum die ‚Reinschrift‘ für den später hinzugefügten Schluss von MA I 109, vgl. NK 108, 30–109, 7. Dieser Schluss verdankt sich, wenn man Köselitz Glauben schenken will, der direkten Auseinandersetzung mit Wagner und seiner Rückkehr zum Christentum. Gegenüber dem Eingang von MA I 109 opponiert Alfred Altherr in seiner Rezension: „Es heißt in jenem Buch, d a ß e s e i n e n G o t t g e b e , s e i e i n e f a l s c h e B e h a u p t u n g d e r P r i e s t e r. Nun wußten wir wohl, daß die ordinäre Aufklärung für jeden Glauben, den sie nicht theilen kann, zu allen Zeiten schnell mit der Weisheit parat war, derselbe sei nichts als eine Erfindung der Priester. Aber es befremdet uns, diesem oberflächlichen Einwand in einem Buch zu begegnen, das von tiefer Kenntniß des Menschen-/131/herzens zeugt und qualvoll ernstem Nachdenken entsprungen ist.“ (A. [= Altherr] 1879, 130 f.) Zu MA I 109 vgl. auch Görner 2006, 22, Oliveira 2013a (der auch die folgenden Abschnitte interpretiert), Saarinen 2019, 69 u. Saarinen 2020, 47 f.
388
Menschliches, Allzumenschliches I
108, 2 gern möchte] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht stattdessen „könnte“ und blieb dort unkorrigiert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/128/). 108, 3 die falschen Behauptungen der Priester] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 96) hat N. „Priester“ durchgestrichen und durch „homines religiosi“ ersetzt (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/115/). In FW 350 werden die „homines religiosi“ dann Titelbestandteil, siehe zu dieser Fügung ausführlich NK 3/2.2, S. 1337 f., ferner NK 5/1, S. 314 f. 108, 6 wie gern möchte man diese] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht stattdessen „könnte man diess“ und blieb dort unkorrigiert (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/128/). 108, 8 wohlthuend wären] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „wohlthuend sind“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/128/). 108, 17 f. an der erkannten Wahrheit] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 96) hat N. hier an den Rand geschrieben: „richtiger: am durchschauten Irrthum“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/115/). 108, 19–21 Sorrow is knowledge: they who know the most / must mourn the deepst o’er the fatal truth, / the tree of knowledge is not that of life.] George Noël Gordon Lord Byron: Manfred I 1. N., dem Byrons Manfred seit Jugendtagen geläufig war und dem die Titelfigur als Vorbild diente (vgl. NK KSA 6, 286, 24–26), hat den ersten dieser berühmten Verse auf deutsch auch schon in seinem Brief an Raimund Granier, 2. Septemberhälfte 1865: „Ich habe mich oft schon gefragt, ob wirklich das Glück für den Menschen das Erstrebenswürdigste ist, dann wäre ja der Dummkopf der schönste Vertreter der Menschheit, und unsre Helden des Geistes, ‚so wahr Denken Gram ist‘ mindestens Narren“ (KSB 2/KGB I 2, Nr. 479, S. 84, Z. 48–52). Thatcher 1974, 122 bemerkt, dass 108, 19–21 die einzige Stelle in N.s Werk sei, wo dieser Byron im englischen Original zitiere (vgl. auch Schmidt 1984, 131). In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 176 steht noch nicht der englische Wortlaut, sondern eine Paraphrase, die den vorangehenden Vers aufnimmt, der in MA I 109 schließlich nicht zitiert wird: „Der Gram des Wissens“ (integral transkribiert in NK ÜK MA I 109). In der von N. einst besessenen und benutzten Übersetzung von Adolf Böttger lautet die Stelle: „Der Gram nur sollte Lehrer sein des Weisen; / Schmerz ist Erkenntniß; wer am meisten weiß, / Der fühlt am tiefsten auch die grause Wahrheit: / Daß der Erkenntniß Baum nicht der des Lebens.“ (Byron 1864, 5, 3) Offensichtlich wollte N. dann aber doch den Originalwortlaut bringen, den er sich von Franz Overbeck besorgt zu haben scheint. Jedenfalls sind die drei schließlich gedruckten englischen Zeilen mit genauer Stellenangabe „Manfred
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 109, KSA 2, S. 108
389
Act. I Sc. 1.“ in Overbecks Handschrift in Mp XIV 1, 369a überliefert (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,369a). 108, 26–29 quid aeternis minorem / consiliis animum fatigas? / cur non sub alta vel platano vel hac / pinu jacentes –] Quintus Horatius Flaccus: Carmina II 11, 11– 14 („Was ermüdest du mit ewigen Ratschlägen den geringeren Geist? Warum nicht einfach so unter der hohen Platane oder unter dieser Pinie liegen?“). Schon der Schüler N. hat sich, als er lateinische Oden dichtete, an Horaz orientiert, siehe Wollek 2020. Horaz spielt wohl für die Denk- und Stilentwicklung N.s eine größere Rolle, als Weeda 2017, 465 wahrhaben will. Zu N.s Horaz-Adaptionen vgl. NK KSA 6, 154, 21–24, zu 108, 26–29 auch Brusotti 1997, 177 und Wollek 2020, 258 f., Fn. 1 unter Hinweis auf Kytzler 1985, 121 f. Der gesamte Passus 108, 22–29 ist von N. nachträglich in das sonst von Köselitz niedergeschriebene Druckmanuskript D 11, 56 eingefügt worden (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,56). 108, 30–109, 7 Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden Grades besser, als eine romantische Rückkehr und Fahnenflucht, eine Annäherung an das Christenthum in irgend einer Form: denn mit ihm kann man sich, nach dem gegenwärtigen Stande der Erkenntniss, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein i n t e l l e c t u a l e s G e w i s s e n heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen mögen peinlich genug sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem Führer und Erzieher der Menschheit werden; und wehe Dem, welcher diess versuchen möchte und jenes reine Gewissen nicht mehr hätte!] In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 372 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,372) fehlt noch der Einschub „nach dem gegenwärtigen Stande der Erkenntniss“ (108, 33–109, 1), den N. erst in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 56 einfügte. Ebenfalls eingefügt ist dort, allerdings von Köselitz’ Hand: „und Erzieher“ (109, 5). Schließlich ist am Ende des Druckmanuskripts ein von N. ebenfalls hinzugefügter Satz ganz am Ende nach „nicht mehr hätte!“: „Es bleibt also dabei:“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,56). Das auf Mp XIV 1, 372 zurückgehende Ende von MA I 109 soll „N hinzugefügt“ haben, „nachdem er einen Brief von H. von Wolzogen an Gast gelesen hatte; in diesem Brief wurden drei ‚rein atheistisch gehaltene‘ Aufsätze von Gast für die ‚Bayreuther Blätter‘ abgelehnt; vgl. P. Gast an J. Hofmiller, 31. Aug. 1894, in ‚Süddeutsche Monatshefte‘, Nov. 1931“ (KGW IV 4, 187). In Hofmillers N.-Büchlein, das auf dem Artikel in den Süddeutschen Monatsheften beruht (vgl. Hofmiller 1931, 87), wird die Episode unter Rückgriff auf Köselitz’ Brief an Hofmiller wie folgt geschildert: „Während Nietzsche noch an ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ arbeitet, sendet Peter Gast von Basel aus an den Herausgeber der ‚Bayreuther Blätter‘ Hans von /32/ Wolzogen, drei seiner Essays, die, rein atheistisch gehalten, von Nietzsche gutgeheißen worden waren;
390
Menschliches, Allzumenschliches I
er erhält sie zurück mit einem siebenseitigen Brief Wolzogens, ‚der uns (!) wie aus den Wolken fallen ließ. Als Nietzsche diesen Brief an mich gelesen hatte, schrieb er an den Aphorism. 109 in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ I noch die zwölf direkt an Wagner gerichteten Schlußzeilen ‚Sicherlich ist Leichtsinn oder Schwermut jeden Grads besser, als eine romantische Rückkehr und Fahnenflucht, eine Annäherung an das Christentum etc.‘ ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ ging im Januar 1878 in die Druckerei. Mit diesem Briefe Wolzogens an mich war Nietzsches Stellung zu Wagner entschieden.‘ Einige Monate später schickt Wagner an Nietzsche die Dichtung des ‚Parsifal‘.“ (Hofmiller [1947], 31 f.; vgl. auch Love 1972, 274) Sollte der Schluss von MA I 109 tatsächlich im Kontext der Absetzung von Wagner und seinem neuentdeckten Christentum entstanden sein, wie Köselitz als Augenzeuge, aber auch als Betroffener nahelegt, ließe sich dieser Text als dezidierte Ankündigung davon lesen, dass an Wagners Stelle nun andere – N. selbst mit seinen neuen Getreuen – als „Führer und Erzieher der Menschheit“ (109, 5) in Erscheinung treten wollen. Zum „i n t e l l e c t u a l e [ n ] G e w i s s e n“ (109, 2) ausführlich NK 3/2.1, S. 279–281.
110. Der Abschnitt wendet sich gegen die seit der Romantik und Schopenhauer virulente, in Opposition zur aufklärerischen Missachtung der Religion vertretene These, in der Religion sei eine Wahrheit mythisch verpackt, die die Philosophie und die Wissenschaften begrifflich zum Ausdruck zu bringen versuchten. Dem stellt der Sprecher die Behauptung entgegen, Religion habe noch nie eine wissenschaftliche Wahrheit artikuliert, auch nicht auf allegorische oder mythologische Weise; vielmehr seien Wissenschaft und Religion in völlig anderen Sphären zu Hause und nur eine anerzogene Religionspräferenz der Philosophen habe diese dazu verleiten können, religiöse Aussagen überhaupt in irgendeiner Weise für wissenschaftsfähig zu halten und ihr philosophisches Denken religiös einzufärben. Entsprechend stellt MA I 110 jede Philosophie mit partieller religiöser Anmutung unter den Generalverdacht völliger wissenschaftlicher Wertlosigkeit – im Übrigen beweise auch die vorgebliche universelle Übereinstimmung der Menschen in religiösen Grundsatzfragen gar nichts. Zu MA I 110 gibt es in Mp XIV 1, 189 und Mp XIV 1, 188 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und einigen Korrekturen (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,189 u. http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,188). Vgl. auch NL 1876, KSA 8, 19[100], 354, 26–355, 5: „Die Religionen drücken nicht irgend welche Wahrheiten sensu allegorico aus, sondern g a r k e i n e Wahrheiten – das ist gegen Schopenhauer einzuwenden. Der consensus
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 109–110, KSA 2, S. 108–110
391
gentium in Religionsansichten ist doch eher ein Gegenargument gegen die zu Grunde liegende Wahrheit. Nicht eine uralte Priesterweisheit, sondern die Furcht vor dem Unerklärlichen ist der Ursprung der Religion: was von Vernunft darin ist, ist auf Schleichwegen in sie hineingekommen.“ Zu MA I 110 vgl. auch Hödl 2007, 154 f. 109, 16 f. welches die Wissenschaft des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe] In Mp XIV 1, 189 stattdessen: „welches alle ˹die˺ Wissenschaft nur ˹des dogmat.˺ aus dem Gewandes zu entkleiden habe“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,189). 109, 20 sensu allegorico] Vgl. 110, 9–12. 109, 25 Gleichheit der Einsichten] Im Druckmanuskript D 11, 57 korrigiert aus: „Einheit der Erkenntnisse“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,57). 110, 9–12 würde er unmöglich vom sensus allegoricus der Religion haben reden können; er würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit den Worten] In Mp XIV 1, 189 stattdessen: „hätte er unmöglich vom sensus allegoricus der Religion reden können; er würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit dem Worte“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,189). Schopenhauer benutzt die Wendung „sensus allegoricus“ zwar nicht im Nominativ, aber im Ablativ an mehreren Stellen, z. B. in Schopenhauer 1873–1874, 3, 723, wo davon die Rede ist, dass „alles bloß allgemein und abstrakt zu Denkende der großen Mehrzahl der Menschen ganz unzugänglich“ sei: „Daher bedurfte es für diese, um jene große Wahrheit in den Bereich ihrer praktischen Anwendbarkeit zu bringen, überall eines m y t h i s c h e n V e h i k e l s derselben, gleichsam eines Gefäßes, ohne welches jene sich verlieren und verflüchtigen würde. Die Wahrheit mußte daher überall das Gewand der Fabel borgen und zudem stets sich an das jedes Mal historisch Gegebene, bereits Bekannte und bereits Verehrte anzuschließen bestrebt seyn. Was, bei der niedrigen Gesinnung, der intellektuellen Stumpfheit und überhaupt Brutalität des großen Haufens aller Zeiten und Länder, ihm sensu proprio unzugänglich bliebe, muß ihm, zum praktischen Behuf, sensu allegorico beigebracht werden, um sein Leitstern zu seyn. So sind denn die oben genannten Glaubenslehren anzusehen als die heiligen Gefäße, in welchen die seit mehreren Jahrtausenden, ja, vielleicht seit dem Beginn des Menschengeschlechts erkannte und ausgesprochene große Wahrheit, die jedoch an sich selbst, in Bezug auf die Masse der Menschheit, stets eine Geheimlehre bleibt, dieser nach Maaßgabe ihrer Kräfte zugänglich gemacht, aufbewahrt und durch die Jahrhunderte weitergegeben wird.“ Der „sensus allegoricus“ oder allegorische Sinn ist in der traditionellen Text-, insbesondere Bibelhermeneutik ein hinter dem Wortlaut verborgener, höherer Sinn. Bei Schopenhauer
392
Menschliches, Allzumenschliches I
wird Religion als Verbildlichung, als fabelhafte Einkleidung und damit als allegorische Darstellung einer eigentlich abstrakten Denkwahrheit verstanden. 110, 10–15 er würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit den Worten: n o c h n i e h a t e i n e R e l i g i o n , w e d e r m i t t e l b a r, n o c h u n m i t t e l b a r, w e d e r a l s D o g m a , n o c h a l s G l e i c h n i s s , e i n e W a h r h e i t e n t h a l t e n.] Das ist die Kontrafaktur von Schopenhauer-Passagen wie den dem Dialogpartner Demopheles in den Mund gelegten Worten: „Zur Wahrheit steht die Religion aber nicht im Gegensatz: denn sie lehrt selbst die Wahrheit. Nur darf sie, weil ihr Wirkungskreis nicht ein enger Hörsal, sondern die Welt und die Menschheit im Großen ist, dem Bedürfnisse und der Fassungskraft eines so großen und gemischten Publikums gemäß, die Wahrheit nicht nackt auftreten lassen, oder, ein medicinisches Gleichniß zu gebrauchen, sie nicht unversetzt eingeben, sondern muß sich, als eines Menstruums, eines mythischen Vehikels bedienen. […] /357/ […] Jedenfalls aber ist Religion die allegorisch und mythisch ausgesprochene, und dadurch der Menschheit im Großen zugänglich und verdaulich gemachte Wahrheit: denn rein und unversetzt könnte sie solche nimmermehr vertragen“ (Schopenhauer 1873–1874, 6, 356 f.). In seiner Rezension von MA I erwidert Alfred Altherr auf 110, 10–15: „Wir meinen im Gegentheil, noch nie habe es eine Religion von Bedeutung gegeben, welche nicht irgend eine Wahrheit enthalten.“ (A. [= Altherr] 1879, 130) 110, 15 f. aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede geboren] Den Angstursprung der Religion hatte bereits die antike Religionskritik behauptet (vgl. z. B. Publius Papinius Statius: Thebais III 661), was auch in der zeitgenössischen historischen und religionswissenschaftlichen Diskussion öfters aufgenommen wurde (vgl. z. B. Draper 1871, 27 f.). N. kommt darauf wiederholt zu sprechen, vgl. z. B. NK KSA 5, 70, 18–24 u. NK KSA 5, 328, 27 f. 110, 17–25 sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gefährdung durch die Wissenschaft, irgend eine philosophische Lehre in ihr System hineingelogen, damit man sie später darin vorfinde: aber diess ist ein Theologenkunststück, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an sich selber zweifelt. Diese Kunststücke der Theologie, welche freilich im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie durchtränkten Zeitalters, sehr früh schon geübt wurden, haben auf jenen Aberglauben vom sensus allegoricus hingeleitet] Das ist eine Grundthese in Franz Overbecks kritischer Sicht der altkirchlichen Theologie und ihrer philosophischen Kontamination des ursprünglichen Christentums, vgl. z. B. Overbeck 1873, 5–8. In Mp XIV 1, 188 ist der Einschub „welche freilich im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie durchtränkten Zeitalters“ eingeklammert (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,188).
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 110–111, KSA 2, S. 110–111
393
110, 26–28 (namentlich der Halbwesen, der dichterischen Philosophen und der philosophirenden Künstler)] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „(namentlich der Halbwesen, der dichterischen Philosophen und der philosophischen Künstler)“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/164 8750028/131/). In der Rezeptionsgeschichte hat man sich aus der Verlegenheit, wie N. denn einzuordnen sei, gerne mit dem Kompositum „Dichterphilosoph“ beholfen (zum Zusammenspiel von Dichtung und Philosophie bei N. grundlegend die Beiträge in Grätz/Kaufmann 2016). 110, 34 „metaphysischen Bedürfnisses“] Vgl. NK 47, 6–25. 111, 15–32 Uebrigens: wenn alle Völker über gewisse religiöse Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, übereinstimmten (was, beiläufig gesagt, in Betreff dieses Punctes nicht der Fall ist), so würde diess doch eben nur ein G e g e n a r g u m e n t gegen jene behaupteten Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes sein: der consensus gentium und überhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht, in Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der Goethe’sche Vers spricht: Alle die Weisesten aller der Zeiten / lächeln und winken und stimmen mit ein: / Thöricht, auf Bess’rung der Thoren zu harren! / Kinder der Klugheit, o habet die Narren / eben zum Narren auch, wie sich’s gehört! / Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der consensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer Narrheit gilt.] Vgl. NK KSA 6, 67, 12 f. Seit der Antike wird der „consensus gentium“, die „Übereinstimmung der Völker“, als Beweis für die Existenz Gottes geltend gemacht (vgl. Marcus Tullius Cicero: Tusculanae disputationes I 16, 36 u. Lucius Annaeus Seneca: Epistulae morales ad Lucilium 117, 6). Dagegen spielt MA I 110 den „consensus sapientium“, die „Übereinstimmung der Weisen“ (vgl. z. B. Aristoteles: Topik I, 1 100b20 ff.), aus, die sich eben gar nicht auf eine solche Existenz einigen können. Das Goethe-Zitat stammt aus dem Cophtischen Lied, Verse 3–7 (Goethe 1853–1858, 1, 103). 111, 32 einer Narrheit gilt] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 100) wird mit Bleistift emendiert: „nur einer Narrheit gelten kann“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/119/).
111. Die (urtümliche) religiöse Wirklichkeitsauffassung unterscheidet sich nach MA I 111 von der modernen wesentlich dadurch, dass erstere ohne eine Vorstellung natürlicher Kausalität auskommt und die Natur als regelloses, willkürliches Reich der Freiheit ansieht, während die Sphäre der Menschen als plan- und ge-
394
Menschliches, Allzumenschliches I
staltbare erscheint, die zumindest eine gewisse Regelmäßigkeit verbürgt. Die Anfänge der religiösen Kultur hätten darin gelegen, die natürlichen Vorgänge durch Gunstwerbung und vor allem durch Magie quasi zu Verlässlichkeit zu zwingen, ihnen den Willen, das Gesetz der Menschen aufzuzwingen und so das scheinbar chaotisch-willkürliche Durcheinander zu organisieren. Religion habe ihren Ursprung also in der Zauberei – „der Zauberer ist älter, als der Priester“ (115, 34) – und erscheint als Verlässlichkeitserzwingungsmaschine. Bei dem sehr langen Abschnitt MA I 111 handelt es sich um den bei N. überaus seltenen Fall einer direkten Übernahme aus einem Vorlesungsmanuskript, nämlich aus § 2 des im Wintersemester 1875/76 und im Wintersemester 1877/78 gehaltenen Kollegs Der Gottesdienst der Griechen (KGW II 5, 366, 27–369, 31, Manuskriptbestand P II 14a 274–266). Diese Textherkunft erklärt auch die epische Breite, mit der hier eine an sich simple historische Hypothese ausgebreitet statt aphoristisch verdichtet wird. Der Beginn der Druckfassung MA I 111, nämlich 112, 2–8, der sich von KGW II 5, 366, 24–27 unterscheidet, ist in Mp XIV 1, 230 notiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,230). Zu einer in KGW II 5 fehlenden Passage, für die es ein anderes Textzeugnis gibt, siehe NK 115, 16–20. 112, 17–20 die ganze Vorstellung vom „natürlichen Hergang“ fehlt, – sie dämmert erst bei den älteren Griechen, das heisst in einer sehr späten Phase der Menschheit, in der Conception der über den Göttern thronenden Moira] Im Vorlesungstext KGW II 5, 367, 6–9 heißt es stattdessen: „die ganze Vorstellung vom ‚natürlichen Hergang‘ fehlt (– sie dämmert bei den älteren Griechen allmählich in der Conception der über den Göttern thronenden Ἀνάγκη, Μοῖρα.)“. Moira, Μοῖρα ist in der griechischen Mythologie die Personifikation des (persönlichen) Schicksals (vgl. M 130 und den Kommentar NK KSA 3, 120, 4), während die Ananke, Ἀνάγκη das unpersönliche Schicksal repräsentiert. In 112, 17–20 erscheint griechische Archaik nicht mehr wie in GT als ideale, aber kulturell normativ bleibende Frühzeit, vielmehr als eine Spätzeit, die den magischen Okkasionalismus mit dem Glauben an ein allwaltendes Schicksal überwunden hat. 112, 25–30 In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem Hammer, seinem Beil und den übrigen Werkzeugen Opfer darzubringen; ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter seinen Pflug in gleicher Weise.] Die in Klammern genannte Quelle ist authentisch: „In Indien, sagt Dubois, pflegt eine Frau den Korb zu verehren, welcher ihre Lebensbedürfnisse enthält, und ihm Opfer darzubringen; das Nämliche thut sie mit der Reismühle und allen anderen Geräthen, die sie zu ihren häuslichen Arbeiten benutzt. Ein Tischler zollt die gleiche Ehrerbietung seinem Hammer, seinem Beil und den übrigen Werkzeugen; er bringt ihnen ebenfalls Opfer dar. Ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt,
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 111, KSA 2, S. 112–114
395
ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle und ein Arbeiter seinen Pflug in gleicher Weise.“ (Lubbock 1875, 239; vgl. Thatcher 1983, 301) Armin Thomas Müller 2021, 279 weist darauf hin, dass Lubbocks Frauenbeispiel in MA I 111 entfällt, aber es die einzige Stelle in N.s Werk sei, die Lubbock namentlich nenne. „Ironischerweise liegt jedoch gerade hier, wo Nietzsche ausnahmsweise eine Quelle offen-/280/legt, ein nicht ganz einwandfreier Nachweis vor. Denn Lubbock kennzeichnet den Passus wiederum als Zitat aus Jean-Antoine Dubois’ Description of the Character, Manners, and Customs of the People of India von 1817 (Dubois 1817, S. 373), was aus dem reduzierten Nachweis in MA I 111 nicht hervorgeht.“ (Armin Thomas Müller 2021, 279 f.) 113, 5 f. völlig umgekehrt] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 101) wird mit Bleistift „völlig“ gestrichen (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/120/). 113, 7 sein Subject] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 101) hat N. „sein Subject“ eingeklammert und an den Rand geschrieben: „die Musik u der Lärm seiner Seele ist“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/ 120/). 113, 8–10 wir Alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele] Als Beispiel für eine solche zur Gelassenheit führende Außenwelterfahrung bei Goethe kann man mit Osten 2003 an das berühmte Lied des Türmers Lynceus in Goethe: Faust II, V. 11288–11303 („Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt, / Dem Thurme geschworen / Gefällt mir die Welt“…) denken. Vgl. auch Kaulbach 1981/82, 458, Thönges 1993, 37 f. sowie Claus Zittel in NH, 386. 113, 10 der grössten Uhr] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 102) von N. mit Bleistift korrigiert in: „dieser grössten Uhr“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1252332904/121/). 113, 12 f. dadurch zum Genuss] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 102) von N. mit Bleistift korrigiert in: „dadurch erst zum Genuss“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1252332904/121/). 114, 21–31 Das Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man Etwas in Gewalt bekommt, das Jemandem zu eigen ist, Haare, Nägel, etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen Namen. Mit solchem Apparate kann man dann zaubern; denn die Grundvoraussetzung lautet: zu allem Geistigen gehört etwas Körperliches; mit dessen Hülfe vermag man den Geist zu binden, zu schädigen, zu vernichten; das Körperliche giebt die Handhabe ab, mit der man das Geistige fassen kann. So wie nun der Mensch den Menschen bestimmt, so bestimmt er auch irgend einen Naturgeist; denn dieser hat auch sein Körperliches, an dem er zu fassen ist.] Die ursprüngliche
396
Menschliches, Allzumenschliches I
Quelle ist Ellis 1829, 2, 228, N. adaptiert hier aber erneut eine Stelle aus Lubbocks Entstehung der Civilisation, die N. verändert und auch um den ursprünglichen Kontext – nämlich Tahiti – bringt und jede konkrete raumzeitliche Festlegung vermeidet (siehe Armin Thomas Müller 2021, 280 f. u. Steinbeiß 2009, 94): „Gewöhnlich halten es die ‚Wilden für unerläßlich, daß der Zauberer zu seinem Werke etwas erhält, das mit dem erwählten Opfer in körperlichem Zusammenhange steht; sei es nun eine Locke seines Haares, etwas von seinem Speichel, einige Schnitzel von seinen Nägeln oder ein wenig von seinem Essen. Diese Dinge gelten als das Werkzeug, mit dessen Hülfe der böse Geist in einen Menschen einzugehen vermag.‘“ (Lubbock 1875, 204) „Eine grundlegende Rezeptionsstrategie Nietzsches liegt in diesem Fall also darin, Lubbock gleichsam als Steinbruch zu verwenden, um die Argumentation innerhalb seiner Texte via Konkretion zu verbessern. Dass es dabei aber nicht bleibt, zeigt das […] Fallbeispiel. Nietzsche passt die gegebenen Informationen an den eigenen Textbestand an und verbindet beides“ (Armin Thomas Müller 2021, 281). 115, 2–5 liegt auf einsamer Haide ein Block, erscheint es unmöglich, an Menschenkraft zu denken, die ihn hieher gebracht habe, so muss also der Stein sich selbst hinbewegt haben, das heisst: er muss einen Geist beherbergen] Im Vorlesungstext KGW II 5, 368, 32 f. heißt es stattdessen: „liegt auf einsamer Haide ein ungeheurer Block, so muß der sich selbst hinbewegt haben, also einen Geist beherbergen“. 115, 9–16 Die geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit Stricken, reissen es nieder, schleifen es über die Strassen durch Lehm- und Düngerhaufen; „du Hund von einem Geiste, sagen sie, wir liessen dich in einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist du so undankbar.“] Die Quelle dafür dürfte ein Büchlein gewesen sein, dessen Lektüre die N.-Forschung bisher noch nicht erschlossen hat, obwohl mehrere Texte, nämlich MA I 449, KSA 2, 291 f., MA I 574, KSA 2, 334 u. MA II WS 330, KSA 2, 697 darauf anspielen, letzterer sogar unverhohlen mit dem als Überschrift benutzten Buchtitel: „W e t t e r p r o p h e t e n“ (KSA 2, 697, 10). Gemeint ist die vom nachmals berühmt gewordenen Astronomen Hermann Joseph Klein (1844–1914) in jugendlichem Alter 1865 publizierte Schrift Die Wetterpropheten und die Wetterprophezeiungen, oder: Ist die Kunst, das Wetter vorherzubestimmen, entdeckt oder nicht? Zur Verständigung für Jeden, der sich über diesen Punkt ein selbstständiges Urtheil verschaffen will. Dort heißt es – und es sind nicht wie in MA I 111 „geringe Leute in China“, sondern vielmehr „Bonzen“ die Akteure –: „Ich habe oben auf eine gewisse Aehnlichkeit zwischen den Wetterpropheten und den Priestern des Fo aufmerksam gemacht; ich will indessen doch hier zum Schlusse nicht verschweigen, daß diese Aehnlichkeit in manchen andern Punkten nicht
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 111, KSA 2, S. 114–115
397
zutrifft, und da ich oben die Gründe pro durch eine Anekdote erläutert habe, so mögen die Gründe contra ebenfalls durch eine solche motivirt werden. / Wenn nämlich die Bonzen ihren Gott lange genug verehrt und beräuchert haben, ohne daß sie Wirkung davon verspüren, so geschieht es bisweilen, daß ihre Geduld erschöpft und das Idol mit Schimpfreden belastet wird. ‚Du Hund von einem Geiste,‘ pflegen sie zu sagen, ‚wir logiren dich in einen bequemlichen Tempel, du bist gut vergoldet und erhältst Ueberfluß an Rauchwerk; dennoch, nach aller Sorge, die wir auf dich verwenden, bist du undankbar genug, uns selbst nothwendige Sachen zu verweigern.‘ Sie binden sodann das Götzenbild mit Stricken fest, schleppen es durch die Gassen und beschmieren es mit Schmutz zur Strafe für das vergeblich verschwendete Rauchwerk. Wenn zufällig während eines solchen Auftritts dasjenige, um welches jene Priester flehten, in Erfüllung geht, was bisweilen vorkommen kann, so ändern sie ihre Behandlungsweise. Dann wird der Gott abgewaschen, zum Tempel zurückgebracht und mit Feierlichkeit in seine alte Nische gesetzt.“ (Klein 1865, 62) 115, 16–20 Aehnliche Gewaltmaassregeln gegen Heiligen- und Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch während dieses Jahrhunderts in katholischen Ländern vorgekommen.] Fehlt im Vorlesungsmanuskript Der Gottesdienst der Griechen (KGW II 5, 369); der Satz ist stattdessen notiert in Mp XIV 1, 407 auf der Rückseite eines „Prospectus“ zu Carl Friedrich Glasenapps Richard Wagner’s Leben und Wirken von 1876 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,407). 115, 24–27 so dass man den günstigen Verlauf des gesammten Ganges der Natur, namentlich des grossen Jahreskreislaufs, sich durch einen entsprechenden Verlauf eines Proceduren-Systems zu verbürgen meint] KGW II 5, 369, 11–13: „so daß man den günstigen Verlauf des Naturganges [dazu N.s Fn.1: Namentlich der große Kreislauf der Natur (annus annulus.)] sich durch einen entsprechenden Verlauf eines Prozeduren-Systems zu garantiren meint“. Die Quelle ist, wie Orsucci 1994, 446 nachgewiesen hat, Heinrich Nissens Das Templum: „Der grosse Kreislauf der Natur (annus, annulus) stellte die Befugnisse und Anrechte der einzelnen Gottheiten an die Verehrung des Staates fest“ (Nissen 1869, 191). 115, 33 f. und der Zauberer ist älter, als der Priester] Entsprechende Hypothesen konnte N. z. B. aus Friedrich von Hellwalds Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung schöpfen. An einer Stelle, wo es um die von manchen gewonnene Fähigkeit geht, Feuer zu entzünden, heißt es: „Diese geheimnissvolle /77/ That war Magie, Z a u b e r e i, die Feuerentzünder Z a u b e r e r. Mit Einem Rucke waren dadurch die urgeschichtlichen Sclaven in den Besitz der Herrschaft gelangt, denn ihre Kunst war in den Augen ihrer Mitmenschen eine s t ä r k e r e Macht als die physische Kraft, welche an und für sich gleichen Zauber nicht zu vollbringen
398
Menschliches, Allzumenschliches I
vermochte. Diese Feuerschamanen der Urzeit waren also die ersten G ö t t e r u n d P r i e s t e r z u g l e i c h in einer Person.“ (Hellwald 1876a–1877a, 1, 76 f.) 116, 3 Dankbarkeit] Vgl. JGB 49 u. NK KSA 5, 70, 18–24. 116, 8–14 auf der griechischen Stufe der Religion, besonders im Verhalten zu den olympischen Göttern, ist sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten, einer vornehmeren, mächtigeren und einer weniger vornehmen zu denken; aber beide gehören, ihrer Herkunft nach, irgendwie zusammen und sind Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu schämen. Das ist das Vornehme in der griechischen Religiosität.] Das „Kastenwesen“ Indiens mit dem Adel des antiken Griechenlands in Verbindung zu bringen, ist in der Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts nicht unüblich. So zitiert Nissen 1869, 103 eine entsprechende Stelle von Theodor Mommsen. Vgl. zur griechischen Religiosität auch MA I 114, 117 f.
112. Dass das „Possenhafte[.]“, „Obscöne[.]“ (116, 18 f.) mit dem Religiösen zusammengehen könne, ist nach MA I 112 eine uns mittlerweile ganz fremd gewordene Empfindungskombination, während in späterer Zeit die „uns“ noch geläufige Verbindung von „Rührende[m]“ und „Lächerliche[m]“ (116, 24 f.) vielleicht nicht mehr zugänglich sein werde. Der Abschnitt zeigt, wie kontingent die Verbindungen von Gefühlen sein können und verneint die Suggestion eines anthropologisch konstanten Gefühlshaushalts. Zu MA I 112 gibt es in Mp XIV 1, 124 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und blauer Rubrizierung „Religion u Moral“. Dort fehlt noch die Schlusswendung des Druckes: „was vielleicht eine spätere Zeit auch nicht mehr verstehen wird“ (116, 25), die im Druckmanuskript D 11, 62 nachträglich ergänzt wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,62). Stattdessen wurde in der ‚Reinschrift‘ nachträglich am Ende hinzufügt: „zu Archilochos Sappho“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,24). In seiner Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈III〉 vom Wintersemester 1875/1876 führt N. den kultur- und religionsgeschichtlichen Hintergrund von MA I 112 breiter aus und erwähnt auch den hier einschlägigen Text von Archilochos: „Alle orgiastischen Culte haben den Sinn, die ferocia einer Gottheit auf Ein Mal zu entfesseln, damit sie uns nachher in Ruhe lasse u. milde sei. Hierher gehört auch das Hohn- und Spottlied des Archilochos. Bei den Culten der Demeter gab es eine Berechtigung von jedermann, all seine neidische boshafte gehässige scheltende höhnende Natur in Worten zu entladen, ebenso die Neigung zur unanständigen Rede. Da kam alles heraus, was sonst verschwiegen wurde, der Fest-
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 111–113, KSA 2, S. 115–116
399
rausch erlaubte dies u. die ganze Feierlichkeit des Cultus brachte es zu Wege, daß hier sich in Worten entlud, was sich sonst in Thätlichkeiten entladen hätte.“ (KGW II 5, 286, 31–287, 8) In einer Nachschrift zum Kolleg Die griechischen Lyriker vom Wintersemester 1878/79 heißt es dann: „Die Gelegenheit der Vereinigung von Tanz u. Rhythmus sind Feste der Demeter, derem [sic] Kult einerseits ekstatische Trauer, andererseits als Gegenmittel Hohn, Spott, Lachen verlangte. Nach dem Mythos wird Demeter durch die Jambe zum Lachen gebracht. ἰαμβίζειν bedeutete allmählich geradezu ‚verspotten‘ (τινα). Archilochos 〈ver-〉wandte den Jambus zuerst kunstmäßig zu seiner Spottpoesie.“ (KGW II 2, 389, 19–24) 116, 18 f. Vereinigung des Possenhaften, selbst des Obscönen, mit dem religiösen Gefühl] In Mp XIV 1, 24 stattdessen: „Vereinigung des Possenhaften, ˹selbst des Obscönen˺, mit dem religiösen Gefühl“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,24). 116, 21–23 bei den Demeter- und Dionysosfesten, bei den christlichen Osterspielen und Mysterien] Dionysos und Demeter als komplementäre Gottheiten, die männliche Potenz und weibliche Fruchtbarkeit versinnbildlichten, wurden namentlich in den Mysterien von Eleusis in obszön-orgiastischen Dimensionen gefeiert, siehe z. B. NK KSA 1, 30, 15. Zu Obszönitäten im Umfeld Demeters vgl. auch NK KSA 3, 352, 20 u. NK 6/2, S. 788 f., zu den griechischen Mysterien in N.s Frühwerk Biebuyck/Hemelsoet/Praet 2006. Obszöne Travestien der christlichen Liturgie waren N. wohlbekannt, siehe z. B. NK KSA 5, 21, 19–23.
113. MA I 113, beginnend mit einer gedankenöffnenden Glockenimpression, isoliert einzelne dogmatische, mythologische und lebenspraktische Aspekte des Christentums, namentlich in seinen Anfängen, und stellt sie mit ihrer Unglaubwürdigkeit für moderne Menschen in ein grelles Licht. Das Christentum erscheint als ein antikes Phänomen, dessen Plausibilität für einen aufgeklärten Menschen eigentlich dahin sein müsste – aber es offensichtlich und erstaunlicherweise noch nicht überall ist. Zu MA I 113 gibt es in Mp XIV 1, 89 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und zahlreichen Einfügungen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,89). Der Anfang von MA I 113 ist in einem Bleistiftnotat N II 2, 19 mit einer konkreten Ortsangabe präfiguriert: „Morgen Kirchenglocken Berner Alpen – zu Ehren eines gekreuzigten Juden, welcher sagte er sei Gottes Sohn“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,19). Die Fortsetzung findet sich in N II 2, 22: „Ist es glaublich, dass so etwas noch geglaubt wird?“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,22) Und schließlich in N II 2, 35 mit blauem Farb-
400
Menschliches, Allzumenschliches I
stift: „Gottessohn – der Glaube ohne Beweis ist schon ein Stück Alterthum.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,35) Die Ortsangabe erlaubt die Zuordnung des akustischen Eindrucks, auf den MA I 113 zurückgeht, nämlich zu N.s Aufenthalt in Rosenlauibad im Berner Oberland während einiger Sommerwochen 1877, vgl. D’Iorio 2020, 115 f. Motivisch hängt die dortige Glockenerfahrung eng zusammen mit einer analogen in Genua, vgl. NK ÜK MA I 628; zum Fortwirken des Motivs NK KSA 4, 397, 29–398, 6. MA I 113 vollzieht eine radikale Distanzierung vom Christentum nicht durch das Bemühen um eine Widerlegung seiner Lehrsätze, sondern durch Verfremdung, durch Absurdisierung. Die Schlüsselthese, dass das Christentum ein in der Moderne unpassend gewordenes antikes Relikt sei, ist eine Überlegung, von der N.s Freund Franz Overbeck in seiner Christlichkeit unserer heutigen Theologie ausgeht: „Das griechisch-römische Alterthum wird in den Stunden, in denen es sein Ende fühlt, christlich und gewinnt nun sterbend die Kraft, uns zu seinen Erben zu machen, so dass nun gleichzeitig, von denselben Händen und als ein einheitliches /2/ Gebilde die modernen Völker mit der christlichen Religion auch die Cultur des Alterthums empfangen haben. Die Sache so angesehen kann man auch sagen, das Christenthum sei die Einbalsamirung, in welcher das Alterthum auf unsere Zeiten gekommen ist.“ (Overbeck 1873, 1 f.) 117, 3 f. aus ferner Vorzeit] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 106) von N. mit Bleistift korrigiert in: „aus einer sehr ferne[n] Vorzeit“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/125/). 117, 4 f. dass man jene Behauptung glaubt] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 106) von N. mit Bleistift korrigiert in: „dass man ihm jene Behauptung überhaupt noch glaubt“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/12523329 04/125/). 117, 6 von Ansprüchen ist] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 106) von N. mit Bleistift korrigiert in: „von Ansprüchen geworden ist“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/125/). 117, 8 ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten] Vgl. Matthäus 6, 25 f. 117, 8–10 nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten] Vgl. Matthäus 7, 1 f. 117, 10 f. eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer annimmt] Die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch Christi Kreuzestod ist eigentlich erst im hohen Mittelalter (Anselm von Canterbury: Cur Deus homo?, ca. 1094–1098) ausformuliert worden (zu N.s späterem Umgang damit vgl. auch Sommer 2000a, 270 u. 272).
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 113–114, KSA 2, S. 117
401
117, 11 f. Jemand, der seine Jünger sein Blut trinken heisst] Vgl. Matthäus 26, 27 f. 117, 17 f. Grabe uralter Vergangenheit] In Mp XIV 1, 89 stattdessen: „Grabe uralter Vergangenheiten“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,89).
114. Der Vergleich von griechisch-olympischer, italisch(-römisch)er und christlicher Religion fällt in MA I 114 nicht zugunsten des Christentums aus: Während die Griechen ihre olympischen Götter als eine höhere Form von ihresgleichen betrachtet hätten, die sie im eigenen Selbstbewusstsein motivierten, hätten sich die antiken Bewohner Italiens mit ihrer Bauernreligion ängstlich gegenüber ihren launig-willkürlichen Göttern verhalten. Das Christentum schließlich habe auf die völlige Erniedrigung des Menschen gesetzt, um ihn dann, hatte es ihn als Sünder erst einmal völlig gebrochen, mit dem Erlösungszucker wieder zu reanimieren. Das Christentum könne nur eines nicht, nämlich Maß halten, „und desshalb ist es im tiefsten Verstande barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch“ (118, 13 f.). Damit gibt N. den Grundton für seine später oft wiederholte Kritik am Christentum als sklavenmoralischer Erfindung vor. Weshalb das Asiatische als „barbarisch“ und „unvornehm“ gelten soll, ist MA I 114 keiner Erörterung wert, so dass sich der Text als Ausdruck für den im 19. Jahrhundert durchaus gelehrtentypischen „Orientalismus“ (vgl. Marchand 2009) verstehen lässt. Später kehrt N. das Schema gerade um (vgl. Orsucci 1996 u. Sommer 1999). Zu MA I 114 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von Köselitz’ Hand in M I 1, 82 f., also im Diktatmanuskript der Pflugschar, wie üblich noch ohne Überschrift und markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,82 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,83). Der Text dort reicht allerdings nur bis zum späteren Gedankenstrich in 118, 2; die gesamte dann im Druck folgende Thematisierung des Christentums (118, 2–118, 14) fehlt in dieser handschriftlichen Fassung. Eine ausführliche Vorarbeit, aber ebenfalls noch unter Ausklammerung des Christentums, findet sich in NL 1875, KSA 8, 5[150], 80 f. Der Passus über das Christentum kommt im Druckmanuskript D 11, 62 mit dunklerer Tinte, aber auch von Köselitz’ Hand nachträglich hinzu (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,62). Zu diesem Passus vgl. Gemes 2023, 15, Fn. 23 u. 19, Fn. 31. Himmelmann 1996, 345 meint zu MA I 114, dieser Abschnitte lese sich „[w]ie ein Kommentar zu Arnobiuslektüre“, die sie ebd., 334–346 ausführlich bespricht. Gemeint sind Arnobius’ Sieben Bücher wider die Heiden, die N. in der reich kommentierten, deutschen Übersetzung von Franz Anton von Besnard gelesen hat (Arnobius 1842; vgl. z. B. NK KSA 6, 158, 16–23 u. NK KSA 6, 158, 23–159, 2). Freilich sind die religionsgeschichtlichen Stereotype, die MA I 114 aufruft, in der zeitge-
402
Menschliches, Allzumenschliches I
nössischen, von N. insbesondere auch zur Vorbereitung seiner Lehrveranstaltungen genutzten Literatur weit verbreitet. Sánchez Méca 2004 will herausstellen, wie sehr im Blick auf den Umgang mit den Griechen in Texten wie MA I 114 N.s späteres genealogisches Denken bereits vorgeformt sei (dazu auch Pfeuffer 2012, 439). 117, 21 D a s U n g r i e c h i s c h e i m C h r i s t e n t h u m.] Im Druckmanuskript D 11, 62 korrigiert aus „Halbgöttlich“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,62). KGW IV 4, 188 liest: „Halbgötterei“. 117, 22 f. Die Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte, wie die Juden] In MA I 111 kommt die Idee der Nicht-Servilität der Griechen im Verhältnis zu ihren Göttern schon einmal zur Sprache (KSA 2, 116, 7–14). Dass demgegenüber „die Juden“ sich ihrem Gott gegenüber als „Knechte“ gefühlt hätten, ist ein antijudaistischer Topos, den N. auch in der antisemitischen Literatur seiner Zeit finden konnte (z. B. bei Dühring 1875a, 391: „Das Einzige, worin die Juden in der Weltgeschichte Epoche gemacht haben, ist die Knechtsform in der Religion gewesen.“ Ausführlich dazu NK KSA 3, 486, 21 f.). Später entwickelt N. den Topos dann weiter zum Gedanken einer sklavenmoralischen Prägung von Juden- und Christentum, vgl. z. B. NK 5/1, S. 526–528 u. Kiesel 2020b, 69. 117, 27 Symmachie] Symmachie, συμμαχία, ist ein „Schutz- und Trutzbündnis, von den griechischen Staaten untereinander geschlossen und zwar meist so, daß ein mächtigerer (z. B. Athen) die Hegemonie hatte. Berühmt ist namentlich die S[ymmachie] (Seebund) Athens mit den Städten und Inseln des Ägeischen Meers 476–404 v. Chr.“ (Meyer 1885–1892, 15, 459) MA I 114 überträgt diesen militärisch-politischen Begriff (des „Mitkampfes“ oder der „Mitkampfgemeinschaft“) auf das Verhältnis der olympischen Götter und der griechischen Menschen. Vgl. auch Enrico Müller 2005, 124 u. Ponton 2007, 111. 117, 30–32 während die italischen Völker eine rechte Bauern-Religion haben, mit fortwährender Aengstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber und Quälgeister] Im Druckmanuskript D 11, 62 sind die „italischen Völker“ (117, 30) korrigiert aus „Römer“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,62). NL 1875, KSA 8, 5[150], 81, 23–25 spricht ebenfalls ausdrücklich von der „Bauernreligion“ der „Römer“ und ihrer „Ängstlichkeit gegen Kobolde und Spukereien“. In N.s Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen wird der Unterschied zwischen römischer und griechischer Religion ähnlich akzentuiert, etwa im Blick auf die Mantik, die Wahrsagekunst: „Die Skepsis gegen die μάντεις unterscheidet die Griechen gegen die Römer, sie sind nicht so ängstlich u. peinlich befangen im Anblick der gesamten Natur, obgleich die Elemente der Mantik beiden gemeinsam sind.“ (KGW II 5, 477,
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 114–115, KSA 2, S. 117–118
403
7–10 f.) Unter Rückgriff auf ein scharfes Urteil bei Polybios: Historien VI 36 charakterisiert Nissen 1869, 150 die der „römischen Religion“ zugrundeliegende „italische Anschauung“ als eine, die „mit ihrer starren Satzung, ihrer eisernen Consequenz, die Nichts weiss von Freiheit und Selbstbestimmung, sondern nur von Gesetz und Notwendigkeit, für unser Gefühl geradezu unerträglich“ sei. 118, 9 Excess des Gefühls] Der Vorwurf des Gefühlsexzesses wird in N.s späterer Religions- und Christentumskritik zu einem tragenden Motiv, vgl. z. B. GM III 20 u. NK 5/2, S. 538–540. 118, 11 f. es will vernichten, zerbrechen, betäuben, berauschen] In dem Psychogramm, das N.s Freund und christentumsgeschichtlicher Gesprächspartner Franz Overbeck vom epochenbestimmenden Kirchenvater Augustin gibt, ist der „Rausch“ der Hauptgesichtspunkt: „Rausch, betäubender Rausch, das ist es wonach Augustin trachtet und was er in der Kirche findet“ (Franz Overbeck in seinem unpublizierten Kirchenlexicon, s. v. „Augustin (Charakteristik) / Allgemeines“, ediert in Sommer 1998a, 138).
115. MA I 115 wendet den Blick von der religiösen Vergangenheit auf die Gegenwart und konstatiert, dass gerade prosaische Menschen, die sich nicht in irgendeiner Kriegskunst im wortwörtlichen oder übertragenen Sinne übten, für „Servilität“ (118, 22 f.) anfällig seien, die wiederum verschönernd wirke. In einer damit kombinierten, aber nicht zwingend abgeleiteten Beobachtung wird darauf hingewiesen, dass diejenigen, die die Leere und Eintönigkeit ihres Lebens stark empfänden, in der Religion Abhilfe fänden, aber falsch darin lägen, diese Abhilfe allen anderen ebenfalls anzusinnen. Zu MA I 115 gibt es in U II 5, 79 eine ‚Reinschrift‘ noch ohne Überschrift. Dabei sind die in der Druckfassung mit Gedankenstrichen abgetrennten semantischen Einheiten noch in eigens durchnummerierte und damit getrennte Abschnitte aufgeteilt: Vor „Es giebt“ (später 118, 16) steht „67“: vor „Alle Menschen“ (später 118, 19) steht „68“; vor „Leute welchen“ (später 118, 24; dort mit Komma) steht „69“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,79). Der Mittelteil von MA I 115 ist in einem Notat N II 1, 247 vorbereitet, das auf einem Kalenderblatt vom Dezember 1876 mit Bleistift notiert ist: „Alle Menschen welche sich nicht auf irgend ein Waffenhandwerk verstehen, werden servil: für solche ist die christl. Religion sehr nützlich, es verschönert sie“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,247). Freilich erklärt weder diese Aufzeichnung noch die schließliche Druckfassung, warum ausgerechnet Ausübende eines „Waffenhandwerks“, also Krieger, nicht
404
Menschliches, Allzumenschliches I
servil sein sollten, wo diese doch, wenn sie nicht gerade Freibeuter oder Oberkommandierende sind, in aller Regel gehorchen müssen wie sonst kein Zivilist. Im Grütlianer vom 27. Dezember 1882 (S. 2), der Zeitschrift des Schweizerischen Grütlivereins, eines nationalistisch ausgerichteten Arbeitervereins, wird unter der Rubrik „Aphorismen“ vor Goethe, Riehl und Uhland „Fr. Nietzsche“ zitiert, und zwar mit dem Ende von MA I 115 (also der Passage 118, 24–28, vgl. www. e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=GTR18821227-01.2.5). 118, 23 nimmt darin den Anschein einer christlichen Tugend an] In U II 5, 79 stattdessen „nimmt ˹dann˺ den Anschein christl. Tugend an“.
116. Hätte das Christentum mit seiner Anthropologie der völligen Verworfenheit des Sünders und seiner Eschatologie der drohenden ewigen Verdammnis recht, wäre es nach MA I 116 vollkommen töricht, nicht auf Weltverneinung zu setzen und „n i c h t Priester, Apostel oder Einsiedler zu werden“ (119, 4 f.). Wer unter diesen Vorzeichen ein an Irdischem noch immer interessierter „Alltags-Christ“ (119, 8 f.) bliebe, müsste als unzurechnungsfähig gelten und hätte es deshalb – so will es die ironische Schlussvolte – gerade nicht verdient, den Höllenstrafen anheimzufallen. Zu MA I 116 gibt es in Mp XIV 1, 16 eine von der späteren Druckfassung stark abweichende ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert mit „Religion“: „Wenn das Christenthum mit seinen Sätzen vom rächenden Gotte u der allgem. Sündhaftigkeit Recht hätte, so wäre es ein Zeichen von Schwachsinn u Charakterlosigkeit, nicht Priester oder Mönch zu werden; es wäre unsinnig, den ewigen Vortheil so aus dem Auge zu lassen. Vorausges. dass überhaupt geglaubt wird, so ist der Alltagschrist eine erbärmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zählen kann.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,16) Zur Sündhaftigkeit siehe auch NK ÜK MA I 56. 119, 2 Gnadenwahl] Das Wort „Gnadenwahl“ taucht bei N. nur hier sowie in NL 1880, KSA 9, 6[118], 224, 22 auf. Es ist der theologische Fachbegriff für die göttliche Erwählung eines Menschen zum ewigen Heil und systematisiert die Überlegungen von Paulus im Römerbrief – Überlegungen, die die Verdammnis der Nichterwählten miteinschließen. N. polemisiert dagegen in MA II WS 85, KSA 2, 591, vgl. auch Havemann 2002, 89–91 u. Hödl 2009, 379–381. 119, 6 f. es wäre unsinnig, den ewigen Vortheil gegen die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen] Das ist die Grundidee von Blaise Pascals berühmter „Wette“, die N. in seiner deutschen Übersetzung der Pensées mit Randstrichen markiert hat (Pascal 1865, 2, 136 f.; vgl. Souladié 2020, 107 u. ferner Brusotti 1997,
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 115–117, KSA 2, S. 118–119
405
201 f.) und der er auch sonst bei seinen Lektüren häufig begegnet ist (vgl. NK KSA 5, 66, 22–26). 119, 12 als das Christenthum ihm verheisst] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 108) von Köselitz mit Bleistift korrigiert in: „wie das Christenthum ihm verheisst“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/127/).
117. Als „K l u g h e i t d e s C h r i s t e n t h u m s“ (119, 14) charakterisiert MA I 117 das Verächtlich-Machen des Menschen überhaupt, werde es dadurch doch unmöglich, auf die „Mitmenschen“ (119, 17) herabzuschauen, sei man selbst doch ebenfalls ein Sünder. Zugleich höre man auf, seine „individuelle Verächtlichkeit“ (119, 22 f.) zu empfinden, weil man ja eigentlich nicht als Einzelner, sondern als Angehöriger der Gattung böse sei. Zu MA I 117 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von Köselitz’ Hand in M I 1, 57, also im Diktatmanuskript der Pflugschar, markiert mit blauem „A“ und einigen Korrekturen N.s. Dem gehen in M I 1, 56 f. einige Zeilen voraus, die später dann den Kern von MA I 549 bilden werden und lauten: „Durch Nichts fühlt der Mensch das Leben so beschwert, als durch Verachtung und zwar ist ihm die Verachtung durch Andere noch empfindlicher, als die /57/ Verachtung durch sich selbst. Es ist ein Kunstgriff“ usw. N. hat nun „Verachtung durch sich selbst“ durchgestrichen und stattdessen die Überschrift „Von der Klugheit des Christenthums“ hinzugesetzt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,56. u. http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,57). In der Aufzeichnung U II 5, 200 sind die späteren Texte MA I 549 und MA I 117 noch ungetrennt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,200). Impliziert die zur Sprache gebrachte „Klugheit des Christenthums“, die Menschen als Sünder einander gleichzumachen, auch politisch und sozial eine radikale Egalisierung aller Menschen? MA I 117 zieht diese Schlussfolgerung freilich nicht explizit, aber N.s spätere Tendenz, das Christentum für die moderne Demokratie verantwortlich zu machen, könnte auf einer solchen Schlussfolgerung gründen. Durch die Sündenverfallenheit aller hebt sich das individuelle ArmSünder-Bewusstsein auf und das Individuum könnte sich befreit wähnen – eine Befreiung, die MA I 117 allerdings nicht einräumt. Vgl. auch MA I 124, KSA 2, 121. 119, 16 und Verächtlichkeit] Von N. nachträglich in Köselitz’ Manuskript M I 1, 57 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,57). 119, 16 f. überhaupt so laut zu lehren] Von N. nachträglich in Köselitz’ Manuskript M I 1, 57 korrigiert aus: „so zu betonen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MI-1,57).
406
Menschliches, Allzumenschliches I
119, 17 Verachtung der Mitmenschen] Von N. nachträglich in Köselitz’ Manuskript M I 1, 57 korrigiert aus: „Verachtung des Nächsten“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/M-I-1,57). 119, 18 möglich] Von N. nachträglich in Köselitz’ Manuskript M I 1, 57 korrigiert aus: „nöthig“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,57). 119, 18–21 „Er mag sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich von mir: ich bin es, der in jedem Grade unwürdig und verächtlich ist,“ so sagt sich der Christ.] Von N. nachträglich in Köselitz’ Manuskript M I 1, 57 korrigiert aus: „Er mag sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich von uns, wir selbst sind es, denen die Verachtung gebührt, so empfindet derie Christen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,57). Das Anführungszeichen zu Beginn (im Druck: 119, 18) könnte auch erst mit N.s Korrektur hinzugekommen sein, ein Schlusszeichen fehlt jedenfalls in der ursprünglichen Version. Es handelt sich also nicht um ein Zitat, sondern um eine den Christen in den Mund gelegte Betrachtung.
118. MA I 118 behauptet eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen den anfänglichen und den späteren Anhängern einer Religion: Sei sie einmal herrschend geworden, wären die ursprünglichen „Jünger“ (119, 27) ihre fundamentalen Opponenten. Zu MA I 118 gibt es in Mp XIV 1, 324 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,324). Eine weitere, textidentische Version ebenfalls von Brenners Hand gibt es in Mp XIV 1, 257 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,257). Ein vorbereitendes Notat in U II 5, 67 lautet: „Sobald eine Religion herrscht, hat sie ihre Macht auf allen denen, welche ˹hat sie alle die zu ihren˺ Gegnern, welche ihre ersten Jünger gewesen wären. Religionen sollten nie herrschen, sondern immer nur entstehen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,67) MA I 118 variiert aus säkularer Beobachterperspektive eine Gedankenfigur, die beispielsweise in der radikalpietistischen Kirchengeschichtsschreibung virulent war, wie sie Gottfried Arnold am Ende des 17. Jahrhunderts konzipiert hatte (siehe Sommer 2002b): dass nämlich der Abfall von der ursprünglichen Güte und Reinheit des Christentums bereits sehr früh eingesetzt und in der Etablierung einer Staatskirche im 4. Jahrhundert ihren bitteren Niedergangstiefpunkt erreicht habe. Bei Overbeck 1873 wird diese Gedankenfigur ohne fromme Hintergrundannahmen fortgeführt.
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 117–120, KSA 2, S. 119–120
407
119. MA I 119 attestiert dem ursprünglichen Christentum, für seelische Erleichterung gesorgt zu haben. Heute aber müsste es erst beschweren, um erleichtern zu können: ein offensichtlich hoffnungsloses Unterfangen, so dass es untergehen müsse. Zu MA I 119 gibt es in Mp XIV 1, 343 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,343). Eine Vorarbeit in NL 1876, KSA 8, 19[56], 342, 21–343, 5 zeigt, dass N. bei der Ausarbeitung von MA I 119 zum Mittel der sentenzenartigen Verknappung gegriffen hat: „Entweder macht man sich mit Hülfe einer Religion das äußere Leben schwer und das innere leicht oder umgekehrt: ersteres ist der Fall beim Christenthum, letzteres beim Zugrundegehen der Religionen. Daraus ergiebt sich, daß eine Religion entsteht um das Herz zu erleichtern und zu Grunde geht, wenn sie hier nichts mehr zu erleichtern hat.“ In 19[56] wird der Untergang der Religion also daran gekoppelt, dass sie keine psychologische Entlastungsfunktion mehr ausüben kann, weil sich die psychische Belastung offensichtlich verflüchtigt hat. In MA I 119 wird hingegen behauptet, das Christentum müsse „das Herz erst beschweren, um es nachher erleichtern zu können. Folglich wird es zu Grunde gehen“ (120, 4 f.). Dieses „Folglich“ wird freilich nicht alle Leser überzeugen, denn warum sollte es dem Christentum nicht tatsächlich gelingen, die Menschen zu belasten, um sie dann wieder zu entlasten? Im Spätwerk wird N. betonen, dass das Christentum dies schon in der Antike getan habe, als es über „Barbaren“ Herr werden wollte, vgl. NK KSA 6, 189, 17–20. 120, 3 f. jetzt müsste es das Herz erst beschweren] In Mp XIV 1, 343 stattdessen: „jetzt muss es das Herz erst beschweren“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,343).
120. Nach MA I 120 ist der „Beweis der Kraft“ (120, 9) nichts weiter als ein „B e w e i s d e r L u s t“ (120, 7), insofern angenehm Erscheinendes für wahr gehalten werde. Und der Abschnitt stellt diese Strategie „alle[r] Religionen“ (120, 9 f.) als verachtungswürdig dar, denn man würde dann nur glauben, weil einem dieser Glaube die Seligkeit verspräche – und nicht wegen des Glaubens selbst. Zu MA I 120 lässt sich bisher keine ‚Reinschrift‘ nachweisen; das Druckmanuskript D 11, 63 von Köselitz’ Hand ist dafür der erste Textzeuge (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,63). Die Wendung „Beweis der Kraft“ bezieht sich biblisch zunächst auf 1. Korinther 2, 4 f. („Und mein Wort und meine Predigt war nicht in vernünftigen Reden menschlicher Weisheit, sondern in Beweisung des
408
Menschliches, Allzumenschliches I
Geistes und der Kraft; /2, 5/ Auf daß euer Glaube bestehe, nicht auf Menschen Weisheit, sondern auf GOttes Kraft.“ – Die Bibel: Neues Testament 1818, 198). Gotthold Ephraim Lessing will in seinem berühmten Aufsatz Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777) den innerweltlichen und innerseelischen Effekt von Religion (statt Wunderwirkung und Wunderglauben) als „Beweis der Kraft“ angesehen wissen; auch bei Pascal finden sich für N. richtungsweisende Überlegungen zum Thema (dazu Lebreton 2018). Die polemische Wendung, die MA I 120 der christlichen und aufklärerischen Rede vom „Beweis der Kraft“ gibt, besteht in seiner Gleichsetzung mit einem „Beweis der Lust“, der eben nur auf den Effekt (‚Seligkeit‘ = „Lust“), aber nicht auf die Wahrheit abzielt. Glaube erscheint als gewollte Selbsttäuschung in hedonistischer Absicht – als Instrument eigennütziger Lustmaximierung. Im Spätwerk (vgl. z. B. GD Die vier grossen Irrthümer 5, AC 50 u. EH Warum ich so weise bin 4) baut N. die Argumentation „Beweis der Kraft“/„Beweis der Lust“ dann aus, siehe NK KSA 6, 57, 6, NK KSA 6, 93, 12 f., NK KSA 6, 204, 29 f., NK KSA 6, 229, 15 sowie auch NK KSA 3, 581, 28 f.
121. MA I 121 konstruiert ein religionspsychologisches Argument der schiefen Ebene: Eine „religiöse[.] Empfindung“ (120, 14 f.) greife leicht um sich und nehme schließlich die ganze Person in Beschlag, so dass man sich davor zu hüten habe. MA I 121 liest sich in den Augen biographisch geneigter Leser wie eine apotropäische Selbstbeschwörung, religiösen Stimmungen nicht nachzugeben, die N. quasi in die Wiege gelegt bekommen hatte. Zu MA I 121 gibt es in Mp XIV 1, 143 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und einer Bleistiftrubrizierung „Religion“. Die Wendung „religiösen Empfindung“ ist dort unterstrichen (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,143); die Hervorhebung wird im Druckmanuskript D 11, 63 durchgestrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,63).
122. Der Absatz stellt die Psychologie der Nachfolge ans Licht: Wer „die Stärke und Schwäche seiner Lehre“ (120, 24) noch kenne, entwickle sie nicht zur vollen Kraft, während die Schüler in blindem Gehorsam und Meisterglauben nur die Stärke sähen und so dank „der Dummheit“ (121, 4) dieser Lehre erst zum Durchbruch verhülfen. Zu MA I 122 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift und mit rotem „A“ markiert, auf zwei Blätter verteilt, die archivalisch
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 120–123, KSA 2, S. 120
409
an unterschiedlichen Orten liegen, nämlich in Mp XIV 1, 358 (späterer Drucktext 120, 23–26) sowie in XIV 1, 289 (späterer Drucktext 120, 26–121, 5). Diese Fassung lautet: „So lange einer sehr gut, die Stärke und Schwäche einer Lehre, einer Kunstart, einer Religion kennt, ist diese noch schwach; der Schüler, welcher gegen die Schwäche der Lehre, der Religion /Mp XIV 1, 289/ und so weiter blind ist, geblendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine Pietät gegen ihn, hat desshalb gewöhnlich mehr Macht als der Meister. Ohne die blinden Schüler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines Werkes gross geworden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen, heisst oft nur, sie so mit der Dummheit verschwistern, dass das Schwergewicht der Letzteren auch den Sieg für die erste erzwingt.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,358 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,289) Von Köselitz’ Hand ist im Pflugschar-Manuskript M I 1, 4 eine Version mit folgendem Wortlaut überliefert: „6. Werth der blinden Schüler. – So lange Einer sehr gut die Stärke und Schwäche einer Lehre, einer Kunstart, einer Religion kennt, ist diese noch schwach; der Schüler, der die Blindheit gegen die Schwäche der Lehre, der Religion etc. besitzt, hat desshalb gewöhnlich mehr Macht, als der Meister. Ohne die blinden Schüler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines Werkes gross geworden. Einer Erkenntniss zum Siege zu verhelfen, heisst oft nur, sie so mit der Dummheit verschwistern, dass das Schwergewicht der letzteren auch den Sieg für die erstere erzwingt.“ Eine sehr ähnlich lautende Version von N.s Hand – offenbar nach Köselitz’ Vorlage – in U II 5, 189 fügt hinter „Schüler“ (später 120, 25) oberhalb der Zeile noch „(Jünger)“ ein (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,189).
123. In dem sentenziös verdichteten, verkürzten und verrätselten Abschnitt wird ein Mangel an Religion konstatiert, der nicht ausreiche, um „die Religionen“ (121, 8) aus der Welt zu schaffen. Offenbar, so mag man ergänzen, sind aus der Sprecherperspektive für ein solches Vernichtungswerk (para)religiöser Eifer und kompromisslose Überzeugungsbereitschaft vonnöten, die die Gegenwart nicht mehr aufbringt. Zu MA I 123 gibt es in Mp XIV 1, 330 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift und mit abweichendem Wortlaut: „Es ist nicht genug an Religion da, um die Religion auch nur zu vernichten.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,330) Noch etwas narrationsbereiter ist das vorangehende Nachlassnotat NL 1876, KSA 8, 19[63], 344, 23–27: „Beim Anblick der zahllosen Kirchen, welche das Christenthum einstmals baute, muß man sich sagen: es ist gegenwärtig nicht genug Religion da, um diese Gebäude abzutragen. Ebenfalls: es fehlt jetzt an Religion, um die Religion auch nur zu vernichten.“
410
Menschliches, Allzumenschliches I
124. MA I 124 wischt die christliche Sündenlehre mit einer herrischen Geste vom Tisch, beruhe sie doch auf einem Vernunftirrtum, die Menschen für böser zu halten, als sie sind. Streift man diesen Irrtum ab, sehe man „Menschen und Welt“ (121, 15) im Licht der „Harmlosigkeit“ (121, 16). Der Mensch erscheint im Gefüge der „Natur“ als ein „Kind“ (121, 18), das gelegentlich einen Alptraum habe, aus dem es dann wieder erwache. Zu MA I 124 gibt es in Mp XIV 1, 177 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“ und durchgestrichenem rotem „B“. Sie endet mit dem Halbsatz „dass es einem von Grund aus wohl dabei wird“ (http://www.nietz schesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,177). Es fehlt hier also die Schlusswendung des späteren Drucktextes 121, 17–20. Zur Sündenfrage siehe z. B. auch MA I 117, KSA 2, 119. 121, 10 S ü n d l o s i g k e i t d e s M e n s c h e n.] Vgl. NK 140, 5–12. 121, 11 „wie die Sünde in die Welt gekommen“ ist] Vgl. Römer 5, 12: „Derhalben, wie durch Einen Menschen [sc. Adam] die Sünde ist gekommen in die Welt, und der Tod durch die Sünde und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündiget haben“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 185). 121, 20 so sieht es sich immer wieder im Paradiese] Vgl. Jesu Antwort auf den reumütigen Schächer am Kreuz nach dem Passionsbericht bei Lukas 23, 43: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese seyn“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 105).
125. Nach MA I 125 seien die großen Dichter von Homer über Aischylos und Aristophanes bis Shakespeare und Goethe so frei mit dem jeweils herrschenden Glauben und Aberglauben umgegangen, dass sie eigentlich als „tief unreligiös“ (121, 24) gelten müssten, mögen sie noch sehr von Göttern reden. Zu MA I 125 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von Köselitz’ Hand in M I 1, 81, also im Diktatmanuskript der Pflugschar, markiert mit rotem „A“ und noch ohne Überschrift. Der Schlussteil (später 121, 27–122, 3) wird von Köselitz später nachgetragen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,81). Der Nukleus von MA I 125 findet sich schon als Marginalie in der Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈III〉 von 1875/76: „u n r e l i g i ö s Homer Überhaupt die Dichter u. die Religion“ (KGW II 5, 293), sowie in NL 1875, KSA 8, 5[196], 95, 16–19: „H o m e r ist in der vermenschlichten Götterwelt so zu Hause und hat als Dichter ein solches
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 124–126, KSA 2, S. 121–122
411
Behagen, daß er tief unreligiös gewesen sein muß. Er verkehrt wie der Bildhauer mit seinem Thon und Marmor.“ Homers Irreligiosität betonend, vertrat N. in der altertumswissenschaftlichen Zunft damals keineswegs eine singuläre Position. So behandelt Heinrich von Stein in den von N. 1871/72 der Basler Universitätsbibliothek entliehenen Sieben Büchern zur Geschichte des Platonismus ausführlich „Homer’s irreligiösen Leichtsinn“ (Stein 1862, 1, XXXIX). Aber N. erweitert wie dann in MA I 125 auch im Nachlass das Autorenspektrum, beispielsweise in NL 1875, KSA 8, 8[6], 130, 9: „Aeschylus ist, wie alle Dichter, unreligiös.“ In NL 1875, KSA 8, 11[18], 203, 32–204, 6 erfolgt schließlich die Nutzanwendung des Gedankens auf Richard Wagner, der seinerseits „über der r e l i g i ö s e n Bedeutung dieser Mythen f r e i steht und dies auch von seinen Zuhörern verlangt; so wie die griechischen Dramatiker darüber frei standen und schon Homer. Auch Aeschylus wechselte nach Belieben seine Vorstellungen, selbst von Zeus. F r o m m ist ein Dichter niemals. Es giebt keinen Cultus, keine Furcht und Angst 〈und 〉 Schmeichelei vor diesen Göttern, man g l a u b t n i c h t a n s i e.“ Vgl. NL 1875/76, KSA 8, 14[6], 275, 1–5. Auf die im Nachlass wiederholte Projektion dieser spezifischen Irreligiosität auf Wagner verzichtet MA I 125; Goethe markiert hier den historischen Schlusspunkt. Vgl. zum Homer-Bezug in MA I 125 auch Zhavoronkov 2021, 58 u. 115, zu Aristophanes NK ÜK MA I 617.
126. MA I 126 stellt religiöse Ausnahmezustände – einschließlich der daimonischen Stimme, die Sokrates gehört haben will – als Krankheitszustände dar, die einfach nur falsch interpretiert worden seien. Die Heiligen und Genies seien von ihren Auslegern systematisch falsch ausgelegt worden. Zu MA I 126 gibt es in Mp XIV 1, 6 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“ und blau rubriziert „Religion“. Diese Fassung weist einige Korrekturen und Überarbeitungen auf; in der ursprünglichen Fassung lautete sie: „Alle die Visionen Ermattungen usw des Heiligen sind bekannte Krankheits-Zustände, welche bei ihm nur ganz anders gedeutet werden. – So ist das Dämonion des Sokrates ein Ohrleiden, das er sich als moral. Mensch auslegt. So der Wahnsinn der Propheten u Orakelpriester; es ist immer die Intelligenz u ganze Moralität der Interpreten, welche daraus soviel gemacht hat.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,6) 122, 10–13 So ist vielleicht auch das Dämonion des Sokrates ein Ohrenleiden, das er sich, gemäss seiner herrschenden moralischen Denkungsart, nur anders, als es jetzt geschehen würde, a u s l e g t.] Ob das Daimonion, das Sokrates in sich zu hören glaubte, womöglich eine physiologische Fehlfunktion, eine Krankheitserschei-
412
Menschliches, Allzumenschliches I
nung war, ist eine im 19. Jahrhundert eingehend diskutierte Frage, siehe zu den Positionen in diesem Streit ausführlich NK KSA 6, 69, 15–17. In GD Das Problem des Sokrates 4, KSA 6, 69 erwägt N. in polemischer Absicht, ob Sokrates denn unter wahnhaften akustischen Halluzinationen gelitten habe. Zweifellos legen die antiken Quellen, namentlich Platon und Xenophon, nahe, dass sich das Daimonion als Stimme dem Sokrates – und nur ihm – vernehmbar gemacht hat (vgl. z. B. Platon: Apologie des Sokrates 31c–d u. 40a–c). Zum Ohrenleiden des Sokrates (bei N.) siehe Sandvoss 1966, 51 f., Schmidt 1969, 193 u. Renzi 1997, 332 f. 122, 20 m i s s v e r s t e h e n] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „missverstehen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/143/).
127. MA I 127 setzt die religionspsychologische Entlarvungsarbeit des vorangegangenen Abschnitts fort: Aus dem Umstand, dass psychische „Erregung“ (122, 23) mitunter zur geistigen Klärung beitrage, habe man fälschlich geschlossen, dass höchste, wahnsinnige Erregung für höchste geistige Klarheit, Einsicht in höchste Gegenstände sorge. „Hier liegt ein falscher Schluss zu Grunde.“ (127, 27 f.) Zu MA I 127 gibt es in Mp XIV 1, 208 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“, aber sonst mit identischem Wortlaut wie der spätere Drucktext (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,208). Religionsphänomenologisches Material zum Thema konnte N. etwa in John Lubbocks Entstehung der Civilisation finden (vgl. Thatcher 1983, 305), wo es nicht nur heißt: „In manchen Gegenden werden die Irrsinnigen mit großer Ehrfurcht behandelt, weil man ihren Körper für die Wohnstätte eines Gottes hält.“ (Lubbock 1875, 187) Sondern auch: „Bei den Karens arbeitet sich der ,Wee‘ oder Prophet in einen Zustand hinein, in dem er die Geister der Abgeschiedenen ‚zu sehen, ihre fernen Wohnungen zu besuchen und sogar ihre Seelen in den Körper zurückzurufen vermag und auf diese Weise die Todten auferstehen läßt. Die Wees sind nervöse, reizbare Menschen, die sich vortrefflich zu einem Medium eignen würden; beim Orakelertheilen verfallen sie in wirkliche Zuckungen.“ (Ebd., 288) Parallelen waren N. natürlich auch von Platon her geläufig, der Sokrates im Phaidros (244a– 245a) eine Rede halten lässt, die den göttlichen Wahnsinn der Orakel und der Dichter preist (siehe auch Ion 533e–534e; dazu Sommer 2019i, 127).
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 126–130, KSA 2, S. 122
413
128. MA I 128 stellt den religiösen Weltzugriffen den wissenschaftlichen gegenüber, der auf Schmerzminderung und Lebensverlängerung abziele. Das möge zwar auch als „eine Art von ewiger Seligkeit“ (123, 4 f.) erscheinen, könne aber nicht mit den religiösen Versprechungen mithalten. Zu MA I 128 gibt es in Mp XIV 1, 66 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „S“, die wie folgt lautet: „Verheissungen der Wissenschaft. / Die moderne Wissenschaft hat als Ziel: so wenig Schmerz wie möglich, so lange Leben als möglich, – also eine Art von seliger Aeternität, nur ganz bescheiden ˹ewiger Seligkeit, freilich eine sehr bescheidene˺ in Vergleich mit den Verheissungen der Religionen.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,66)
129. Der Abschnitt suggeriert, dass „Liebe und Güte“ (123, 9) knappe, zu knappe Güter seien, weswegen man sie nicht an bloß imaginäre Wesen, also an Götter, verschwenden dürfe. Zu MA I 129 gibt es in Mp XIV 1, 343 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift, aber ansonsten mit dem Drucktext identisch (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,343). Von N.s Hand stammt die Aufzeichnung U II 5, 52: „Es ist nicht genug Liebe und Güte in der Welt, um hier ˹noch davon˺ an eingebildete Wesen wegzuschenken.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,52) MA I 129 praktiziert die Umkehrung der seit Aurelius Augustinus: De doctrina christiana I 3, 3–5 etablierten christlichen Überzeugung, dass Gott allein Gegenstand unserer Liebe sein dürfe, während wir alles Irdische bloß benutzen, nicht aber lieben dürften (vgl. NK KSA 5, 79, 2–13 u. NK KSA 5, 86, 2 f.).
130. Nach MA I 130 ist es den antiken Kulten ebenso gut wie der katholischen Kirche gelungen, Menschen durch die Art des Ritus, seine architektonische und theatralische Einbettung zu fesseln und emotional zu stimulieren. Mit dem Wegfall der vorausgesetzten Glaubensüberzeugungen scheint freilich der Rückweg zu solcher religiöser Emotionalexitation versperrt. Dennoch aber hätten sich die Folgen bis heute fortgepflanzt; die den Menschen jetzt noch mögliche Fülle und Tiefe der „Stimmungen“ (123, 15 u. 123, 29) verdankten sie dieser Einübung.
414
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 130 gibt es in Mp XIV 1, 111 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“, blau rubriziert „Religion u Moral“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,111). Im Gegensatz zum dezidiert religionskritischen Umfeld des Dritten Hauptstücks beschäftigt sich MA I 130 mit einer durchaus positiven Folge von Religion als Kult: Sie gibt der „Seele“ (123, 30) Raum, vielleicht schafft sie überhaupt erst eine Seele, ein Innenleben. Religiöse Praxis erscheint hier als Seelenausweitungsunternehmen. Dabei scheint der Abschnitt einen Lektüreeindruck aufzunehmen und umzuakzentuieren, nämlich aus dem zweiten Band von Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa: „Ein anderer Einfluss, den die Kirche, wie ich glaube, mittelbar auf die Bühne übte, ist nicht so augenfällig wie der vorgenannte. Welcher Meinung man auch über die allgemeine Frage rücksichtlich der verhältnissmässigen Vorzüge der classischen und der gothischen Baukunst sein mag, so viel ist wenigstens gewiss, dass die letzte darin unermesslich höher steht, dass sie die Wirkungen grosser Entfernungen zu würdigen verstand – und nicht bloss auf den Geschmack, sondern auch auf das Gemüth wirkte durch eine geschickte Anwendung aller Mittel der Täuschung, welche ein wunderbarer Sinn für die Gesetze der Perspective bieten kann. Der griechische Tempel konnte den Geschmack befriedigen, aber nie berührte er eine tiefere Saite des Gemüths oder schuf eine Täuschung, oder erweckte eine Vorstellung von dem Unendlichen. Das Auge und der Verstand erfassten sofort seine Verhältnisse und begriffen das volle Mass seiner Grösse. Ganz verschieden davon ist die Empfindung, welche wach gerufen wird durch die gothische Kathedrale mit ihren fast unendlichen Perspectiven der zurücktretenden Bogen, mit ihrem Hochaltar, der durch Hunderte von Lichtern beleuchtet, sich mächtig emporhebt mitten aus dem Düster der bemalten Fenster, während das Auge weiter und immer weiter sich in die unbestimmbare Entfernung zwischen den reichen Verzierungen der reichgeschmückten Kanzel, oder den düsteren Säulen der Marienkapelle verliert. Das Sichtbare führt da die Einbildung zu dem Unsichtbaren. Das Gefühl der Endlichkeit ist überwunden. Eine Ahnung der Unermesslichkeit und ein Schauer drückt unwiderstehlich auf das Gemüth. Und diese Ahnung, welche die Bauart und das Dunkel des Tempels erzeugen, ist in dem Katholicismus immer geschickt durch Bräuche unterstützt worden, die vorwiegend darauf berechnet sind, durch das Auge auf das Gemüth zu wirken.“ (Lecky 1873, 2, 250; N.s Unterstreichungen, mehrere Randmarkierungen und schwer leserliche Marginalie „sehr wesentlich“ [?] zum Satz: „Der griechische Tempel […] von dem Unendlichen“.) Während Lecky den Akzent ganz auf die Architektur legt und die Differenz zur heidnischen Antike betont, füllt MA I 130 den Kirchenraum mit Kulthandlungen, um die Gemütswirkung noch zu verdeutlichen. N. verzichtet überdies auf Leckys Pointe, dass dies alles dem modernen Theater den Weg bereitet habe.
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 130–131, KSA 2, S. 122–123
415
123, 12 f. F o r t l e b e n d e s r e l i g i ö s e n C u l t u s ’ i m G e m ü t h.] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 65 nachträglich eingefügt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,65). 123, 19 priesterlichen] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 65 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,65). 123, 20 und sie fast angstvoll lauschen lässt, wie] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 65 korrigiert aus: „, welche nun lauscht“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,65). 123, 22 f. in’s Unbestimmte] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 65 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,65). 123, 24–27 wer wollte solche Vorgänge den Menschen zurückbringen, wenn die Voraussetzungen dazu nicht mehr geglaubt werden? Aber die Resultate von dem Allen sind trotzdem nicht verloren: die] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 65 nachträglich korrigiert aus: „wer wollte das den Menschen zurückbringen, wenn es verloren ist? Die“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,65). 123, 28 gerührten] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 65 u. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht noch: „rührenden“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/145/). 123, 29 vornehmlich] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 65 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,65). 123, 31 , als er keimte, wuchs und blühte,] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 65 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,65).
131. Unter dem Titel „R e l i g i ö s e N a c h w e h e n“ (124, 2) verhandelt MA I 131 die anhaltend positive Haltung gegenüber religiösen Emotionen „ohne begrifflichen Inhalt“ (124, 5). Das gelte nicht nur für die Musik, sondern auch für Philosophien, die religiöse Ambitionen aufrechterhalten, insbesondere sich ins Feld der Ahnung vorwagen und sich anhaltender Publikumsgunst erfreuten. Das freilich stellt der Abschnitt als unredlich dar; mit dem „‚Ahnen‘“ (124, 29) ist keineswegs eine Vorstufe zum Wissen erreicht, ebenso wenig wie das Gefühl des Hungerns die Sättigung in Aussicht stellt. Ohnehin erwiesen sich die scheinbar konstanten „Bedürfnisse[.]“ (124, 19) wie das religiöse als historisch kontingent. Zu MA I 131 gibt es in Mp XIV 1, 157 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“, mit Bleistift rubriziert „Religion u Moral“. Sie lautet
416
Menschliches, Allzumenschliches I
wie folgt: „Hat man sich auch der Religion entwöhnt, so doch nicht in dem Grade, dass man nicht Freude hätte, religiösen Empfindungen ohne begriffl. Inhalt zu begegnen zB in der Musik; und wenn eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphys. Hoffnungen, von dem tiefen Frieden der Seele (dem ganzen sichern Evangelium im Blick der Madonna bei Rafael) aufzeigt, so kommen wir diesen Partien mit besonders herzlicher Stimmung entgegen: der Philosoph hat es hier leichter, zu beweisen, er entspricht mit dem, was er geben will, einem Herzen, welches gern nehmen will. Daran bemerkt man, wie die Freigeister eigentl. nur an den Dogmen Anstoss nehmen, aber recht wohl den Zauber der relig. Empfindung kennen; es thut ihnen wehe, letzteren fahren zu lassen, um der ersteren willen. – Die wissenschaftl. Philos. muss sehr auf der Hut sein, nicht auf Grund jenes Bedürfnisses Irrthümer einzuschmuggeln: selbst Logiker wie Spir sprechen von ‚Ahnungen‘ der Wahrheit in Moral u. Kunst (dass das Wesen Eins ist). Aber zwischen den sorgsam erschlossenen Thesen und solchen ‚geahnten‘ Dingen bleibt unüberbrückbar die Kluft, dass jene dem Intellekt, diese dem Bedürfniss verdankt werden. Der Hunger beweist nicht, dass es hier eine Speise giebt, er ‚ahnt‘ die Speise nicht. ‚Ahnen‘ heisst eine Sache gar nicht erkennen, sondern nur Etwas für möglich halten, was man wünscht oder fürchtet; die ‚Ahnung‘ trägt keinen Schritt weit in’s Land der Gewissheit. – Man glaubt die religiösen Partien einer Philos. seien besser bewiesen als die anderen; aber es ist immer umgekehrt, man hat nur den guten Glauben, dass es so sein müsse.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,157) Zahlreiche Änderungen, die dann den Drucktext konstituierten, wurden mit Korrekturen im Druckmanuskript D 11, 65 hergestellt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,65). Der erste Teil von MA I 131 deutet sich in NL 1876/77, KSA 8, 21[55], 374, 18–20 an: „Hat man sich auch einer Religion entwöhnt, so glaubt man doch einen Satz besser bewiesen, wenn seine Stimmung uns religiös anmuthet z. B. ‚ein ganz sicheres Evangelium‘.“ Von dem im zweiten Teil des Drucktextes im Zentrum stehenden „Ahnen“ ist hier noch nicht die Rede; schon in Mp XIV 1, 157 sowie im Drucktext gibt es eine gewisse Diskrepanz zwischen dem religiösen Gefühlsbedürfnis – als Variante des „metaphysischen Bedürfnisses“, vgl. NK 47, 6–25 – in der ersten Texthälfte und der Polemik gegen das Ahnen in der zweiten. Sie hängt wesentlich mit den sehr unterschiedlichen Philosophen zusammen, gegen die sich die beiden Hälften richten, nämlich zuerst gegen Schopenhauer, danach gegen Afrikan Spir. Am Schluss (124, 32–125, 4) werden beide Fäden wieder zusammengebunden. Zur Musik in MA I 131 siehe Frühauf 2006. 124, 6–10 und wenn eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphysischen Hoffnungen, von dem dorther zu erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und zum Beispiel von „dem ganzen sichern Evangelium im Blick der Madonnen bei Rafael“ spricht] Das in Anführungszeichen Gesetzte ist, wie auch schon in Mp XIV 1,
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 131, KSA 2, S. 124
417
157 deutlich wird (siehe NK ÜK MA I 131), kein wortwörtliches Zitat, vielmehr ist die ganze Passage eine Paraphrase einer berühmten Schopenhauer-Stelle: „Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf Diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand und dann sich selbst frei verneinte, und welche dann nur noch seine letzte Spur, mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehen abwarten; so zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Ueberganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Rafael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist: nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille ist verschwunden.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 486) Zum „Frieden der Seele“ (124, 8) vgl. NK KSA 6, 84, 21–23. 124, 21–23 selbst Logiker sprechen von „Ahnungen“ der Wahrheit in Moral und Kunst (zum Beispiel von der Ahnung, „dass das Wesen der Dinge Eins ist“)] Auch hier liegt kein direktes Zitat vor – in Mp XIV 1, 157 fehlten noch die Anführungszeichen und die vermeintliche Zitatphrase lautete bloß: „(dass das Wesen Eins ist)“. Dafür sind dort die Gemeinten spezifiziert, nämlich „Logiker wie Spir“. Afrikan Spir hatte in seinem von N. intensiv rezipierten Werk Denken und Wirklichkeit vermerkt, dass wir über das Verhältnis des „Realen“ oder des „Dings an sich“ zu seiner „Erscheinung“ „schlechterdings keine Vorstellung bilden“ könnten. „Das Einzige, was wir davon wissen können, ist, […] dass dieses Verhältniss mit keinem der uns bekannten eine Analogie habe und am allerwenigsten zur Erklärung und Vermittlung der letzteren gebraucht werden dürfe. Die Erscheinungswelt ist aus einem Guss, ist in allen ihren Theilen homogen, nämlich durch keine Uebergriffe des Dinges an sich verquickt.“ (Spir 1877, 1, 312) Dazu setzt Spir nun eine einschränkende Fußnote, die N. mit Randstrichen und einem Ausrufezeichen markiert: „Zwar gibt es wohl Uebergriffe oder Andeutungen des Dinges an sich, d. h. des wahren, höheren Wesens der Dinge in der Welt der Erfahrung, aber dieselben sind nicht physischer, sondern ästhetischer und moralischer Natur. Solcher Art ist in der äusseren Welt die Schönheit und in der inneren Welt die Poesie, die Moralität und die Religiosität. Diese sind nicht das Product eines Wirkens des Dinges an sich, des Noumenon, sondern die Folge des Umstandes, dass die Welt der Erfahrung mit dem Noumenon oder dem Unbedingten nach einer Seite ihres Wesens verwandt ist, an der höheren Natur der Dinge inneren Antheil hat, von der erhabenen einen Substanz etwas in sich trägt, weil sie eben doch Erscheinung derselben ist. In diesem Verhältniss ist jedoch nichts Physisches enthalten, nichts von dem Zwang, mit welchem eine Ursache ihre Wirkung nach sich zieht. Dieses
418
Menschliches, Allzumenschliches I
Verhältniss ist supraphysischer Natur und eröffnet das Reich der Freiheit.“ (Ebd., 312, Fn.; N.s Unterstreichung, vgl. D’Iorio 1993, 275 f.) Dabei operiert Spir gelegentlich gern mit dem Begriff der „Ahnung“: „Der Intellect ist folglich, wie wir sehen, nicht das einzige Organ zur Auffassung des Unbedingten; ein Organ zur Auffassung des Unbedingten ist auch das Gefühl, und das ist eine Thatsache von ganz besonderer Wichtigkeit. Denn die Auffassung des Unbedingten durch das Gefühl ist eben die Religiosität, die wahre Grundlage aller Religion, welche diesen Namen verdient. Nichts Anderes nämlich ist die Religiosität, als die Ahnung einer höheren Natur der Dinge und das innere Gefühl unserer Verwandtschaft mit derselben.“ (Spir 1877, 1, 224; vgl. ebd., 289) Zur „Ahnung“ ausführlich NK 30, 14. 125, 3 verleitet uns] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 korrigiert aus: „verleitet nun“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750 028/146/).
132. Gegen eine von Friedrich Schleiermacher sich herleitende Psychologisierung religiöser Befindlichkeiten, die diese Befindlichkeiten als unveränderliche anthropologische „‚Thatsachen‘“ (125, 18) und damit als Beweis für eine religiöse Grundeinstellung des Menschen an sich nimmt, bringt MA I 132 die Psychologie als analytisches Instrument gegen das religiöse Erlösungsbedürfnis in Stellung. Der Gedankengang setzt sich bis MA I 135 fort, was sich auch darin zeigt, dass die Abschnitte MA I 133 bis 135 keine eigene Überschrift haben, sondern sich unter diejenige von MA I 132 einordnen: „V o n d e m c h r i s t l i c h e n E r l ö s u n g s b e d ü r f n i s s“ (125, 6 f.). Nach MA I 132 verdankt sich das Erlösungsbedürfnis dem Gefühl des Unbehagens, jene selbstlosen Handlungsweisen zu unterlassen, die gesellschaftlich als Ideal gesetzt sind, und stattdessen zu dem zu neigen, was als niedrig und verächtlich gilt. Anstatt im Vergleich mit anderen festzustellen, dass dieses Verhalten ebenso wie das Leiden und die generelle Unvollkommenheit gemeinmenschlich sind, rechne man es sich als persönliche Schuld an, die im Vergleich mit einem vollkommenen, selbstlosen, aber streng richtenden Wesen, nämlich Gott, monströs groß erscheine und so das Phantasma der Erlösungsbedürftigkeit hervorbringe. Die Angst vor der ewigen Verdammnis stehe dann über allem. Zu MA I 132 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von N.s Hand in M I 1, 63–65, noch ohne die spätere Überschrift. In M I 1, 63 folgt nach dem Eingangssatz, endend „˹also˺ eine rein psychologische also“ (sic; später 125, 10), eine gestrichene, durch 125, 10–19 ersetzte Passage mit folgendem Wortlaut: „Der Mensch fühlt sich, durch Vergleichung mit einem ˹seligen˺ ganz rein unpersönlich waltenden Wesen ˹wel-
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 131–132, KSA 2, S. 124–125
419
ches er Gott nennt˺, durch u. durch persönlich, verschuldet, mit ˹von˺ Gewissensbissen gequält, unrein, unselig, voll tiefer gründlicher Verachtung gegen sich selbst. – In diesen Zustande ist eben der Mensch nicht durch seine Schuld, sondern durch mehrere Irrthümer gerathen ˹es war der Fehler des Spiegels, dass ihm sein Wesen so verzerrt, so dunkel entgegentrat˺: erstens giebt es kein Wesen, welches Gott ist, also vergleicht sich der Mensch nur mit seinen vorgestellten ˹fingirten˺ Ideen [?]: aber diese Vorstellung enthält eine grosse Unklarheit diese Fiction ist aber eine sehr unklare nicht deutlich zu denkende, denn es giebt für die [– – –] ˹der Entstehung [– – –] ˺ [– – –] wie reine unegoistische Handlungen, nur durch eine Täuschung der Vernunft hat man sie angenommen und [– – –] [– – –] ist ein [– – –], welches sie allein ausübt, etwas [?] Unmögliches. Sodann: wenn der Begriff Gott wegfällt, so fällt auch der Begriff Sünde weg: es bleibt das Gefühl des Umuths übrig, insofern man sich gegen menschl. Satzungen u. Ordnungen vergangen hat: der schärfste Stachel ist aber ausgebrochen, wenn man durch ein solches Vergehen nicht mehr das ‚ewige Heil der Seele‘, ihre Beziehung zur Gottheit gefährdet hat. Überdies: auch das Gefühl des Unrechts, der Gewissensbiss verschwindet, wenn der Mensch sich von der absoluten Nothwendigkeit aller seiner Handl. gründlich überzeugt hat.“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/M-I-1,63) Teilweise geht dieser Text, der auch noch mit schwer lesbaren Ergänzungen in blauem Farbstift versehen ist, in MA I 133 ein; im Manuskript schließt sich dann der Beginn des späteren Abschnitts MA I 134 an. In M I 1, 65 folgt nach den Schlussworten des schließlichen Drucktextes von MA I 132 (126, 22) nach einem Gedankenstrich unmittelbar der Anfang des späteren Drucktextes von MA I 133 ab 126, 24 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,65). Zur Interpretation von MA I 132 und der folgenden Abschnitte vgl. Oliveira 2013b, 222–233. 125, 6 f. E r l ö s u n g s b e d ü r f n i s s] Der Begriff „Erlösungsbedürfnis“ ist in der christlichen Theologie des 19. Jahrhunderts sehr weit verbreitet – vgl. z. B. Schleiermacher 1861, 1, 95. Er formuliert eine anthropologische Fundamentalbehauptung, wonach der Mensch an sich auf ein von Gott zu schenkendes Heil nicht nur angewiesen sei, sondern auch danach dürste. Bei N. kommt der Ausdruck nicht häufig vor, vgl. NL 1876/77, KSA 8, 23[25], 412 u. NL 1876/77, KSA 8, 23[110], 442. 125, 10–19 Bis jetzt sind freilich die psychologischen Erklärungen religiöser Zustände und Vorgänge in einigem Verrufe gewesen, insoweit eine sich frei nennende Theologie auf diesem Gebiete ihr unerspriessliches Wesen trieb: denn bei ihr war es von vornherein, sowie es der Geist ihres Stifters, Schleiermacher’s, vermuthen lässt, auf die Erhaltung der christlichen Religion und das Fortbestehen der christlichen Theologen abgesehen; als welche in der psychologischen Analysis der religiösen „Thatsachen“ einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue Beschäftigung gewinnen sollten.] Im Druckmanuskript D 11, 66 wurde „unerspriessliches Wesen“
420
Menschliches, Allzumenschliches I
aus „unehrliches Unwesen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,66) korrigiert. In einem Nachlasstext, der auch in MA I 37 u. MA I 38 verwertet wird (vgl. NK ÜK dazu), heißt es: „Freilich muß jener unehrliche Geist von diesem Gebiete fern gehalten werden, in dem z. B. Schleiermacher seine Schüler aufforderte, die psychologischen Thatsachen des religiösen Bewußtseins zu untersuchen: denn hier war es von vornherein auf die Erhaltung der Religion und auf das Fortbestehen der Theologie (welcher er eine neue Arbeit zuweisen wollte) abgesehen.“ (NL 1876/77, KSA 8, 23[114], 444, 12–18) Demgegenüber korreliert NL 1876/77, KSA 8, 23[13], 408, 13–20 nicht Schleiermacher, sondern Lagarde mit dem Thema: „Gelehrte wie Paul de Lagarde meinen, die Thatsachen des religiösen Bewußtseins müsse man vermöge der Wissenschaft festhalten. Aber wohl kann man sie constatiren, beschreiben, wissenschaftlich erklären: aber für das Individuum ist es dann mit ihnen vorbei. Denn der gute Glaube an sie ist zerstört, wenn man begriffen hat, wie irrthümlich menschlich es in ihrem Wesen aussieht. Die Wissenschaft ist der Tod aller Religionen, vielleicht einmal auch der Künste.“ KGW IV 4, 189 verweist dazu pauschal auf die Abschnitte 9 und 10 von Lagardes 1873 erstmals erschienener Schrift Ueber das verhältnis des deutschen staates zu theologie, kirche und religion (Lagarde 1878, 1, 43–53), wo dieser freilich nirgends „Thatsachen“ und „religiöses Bewusstsein“ ins Verhältnis setzt – letztere Wendung benutzt er überhaupt nie. Den Tatsachenbegriff benutzt er zwar – in Abschnitt 4 des Buches – durchaus einschlägig, aber ohne Bewusstseinskonnex: „man kann sehr wohl sagen, daß zu einer bestimmten zeit zum ersten male die und die objective tatsache der idealen welt religiös erfaßt worden ist: der hauptaccent wird aber für überlegte menschen stets auf der tatsache und dem mächtigwerden derselben, nicht aber auf dem kalenderdatum dieses mächtigwerdens liegen“ (Lagarde 1878, 1, 34; zu N. und Lagarde auch Sommer 1998b, Sommer 2010c u. Sommer 2012a). Auf Schleiermacher nimmt Lagarde im einschlägigen Kontext nirgends Bezug. Während also die „Thatsachen des religiösen Bewußtseins“ bei Lagarde gar nicht zu finden sind, gibt es bei Schleiermacher immerhin die „Formation des christlichen Bewußtseins“ und die „Thatsache des christlichen Bewußtseins“ (Schleiermacher 1861, 1, 109). Innerhalb der liberalen Theologie im Gefolge Schleiermachers wird das Sprechen von „Thatsachen des religiösen Bewußtseins“ dann ubiquitär und gerne mit Schleiermacher direkt assoziiert, z. B. heißt es bei dem N. wohlbekannten Daniel Schenkel (vgl. NK KSA 6, 255, 1) in einer Rede auf Schleiermacher: „Er [sc. Schleiermacher] hat nicht nur ein erlösendes Wort gesprochen, sondern eine entscheidende That damit gethan, daß er an die Stelle autoritätsmäßiger Dogmen von schlechthin übernatürlichem /48/ Inhalt erfahrungsmäßige Thatsachen des religiösen Bewußtseins setzte“ (Schenkel 1868, 47 f.). In MA I 132 wird dann auf die Fügung verzichtet; in der Version von M I 1, 64 ist statt von „der psychologischen Analysis“ noch pluralisch von „den psychol. Analysen“ die
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 132–133, KSA 2, S. 125–126
421
Rede – und der Relativsatz endet nicht mit „sollten“ (125, 19), sondern mit „sollte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,64). 126, 10 fähig ist] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 108) mit Bleistift korrigiert in: „fähig sein soll“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1252332904/127/).
133. MA I 133 nimmt den Hauptfaden von MA I 132 nach einem längeren Einschub mit einem „Weiter“ in 128, 1 wieder auf und macht für die Erlösungsbedürftigkeit den unsachgemäßen Selbstvergleich mit einem unendlich überlegenen, höheren Wesen namens Gott verantwortlich. Da dieses Wesen aber eine reine Fiktion sei, bleibe, wenn man dies erkannt habe, von der „Sünde“ (128, 12) nicht viel übrig, aber doch immerhin ein „Unmuth der Gewissensbisse“ (128, 17), sich mit seinen egoistischen Handlungen gegen menschlich gesetzte Normen vergangen zu haben. Der Horizont des göttlichen Heils sei mit dem Abschied von der Gottesfiktion beseitigt; gelinge es zudem noch, Einsicht in das völlige Determiniertsein aller Handlungen zu gewinnen, verflüchtigten sich auch die auf verletzte menschliche Satzungen bezogenen Gewissensbisse. Der vorangehende lange Einschub (126, 24–128, 1) erörtert eingehend, dass der „Spiegel“ (126, 28 u. 30), nämlich Gott, schadhaft war, in dem sich der Mensch meinte betrachten zu müssen. Es sei gar keine menschliche Handlung denkbar, bei der das Eigene völlig ausgeblendet bleibe und die damit im strengen Sinne unegoistisch sei. Auch Gott als Liebe wäre keineswegs unegoistisch; und wer reine Liebe für andere werden wolle, müsse erstens zunächst sehr viel für sich selbst tun und zweitens voraussetzen, dass diejenigen, die diese Liebe empfangen, Egoisten bleiben und also eigennützige Empfänger der Liebe sein wollen, „so dass die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben, und die höchste Moralität, um bestehen zu können, förmlich die Existenz der Unmoralität e r z w i n g e n müsste (wodurch sie sich freilich selber aufheben würde)“ (127, 30–128, 1). Damit erscheinen alle Liebesethiken hinfällig, die Liebe für etwas Uneigennütziges halten. Auf Liebe ließe sich allenfalls eine egoistische Moral gründen. Der Beginn von MA I 133 ist unten auf M I 1, 65 in der ‚Reinschrift‘ zu finden (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,65, vgl. NK ÜK MA I 132), die Fortsetzung (ab 126, 25 des Drucktextes) in Mp XIV 1, 245 (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,245), der Abschluss (ab 128, 2) in Mp XIV 1, 258 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,258). Die Spiegelmetapher (die auf 1. Korinther 13, 12 anspielt) wird schon in N II 2, 24 erprobt: „Es war der Fehler des
422
Menschliches, Allzumenschliches I
Spiegels, dass ihm sein Wesen so verzerrt, so dunkel entgegentrat“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,24). 126, 25 wir es doch uns] In M I 1, 65 stattdessen: „wir uns doch“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,65). 126, 27 Irrtühmern der Vernunft] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht noch: „Irrthümern des Verstandes“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/148/). Vgl. NK 129, 29. 127, 2–4 weil der ganze Begriff „unegoistische Handlung“ bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt] Der Begriff wird beispielsweise bei Rée 1877, 2 u. 7 f. diskutiert, vgl. auch NK 90, 3–10 u. NK 93, 2–5. 127, 7 f. doch in einem persönlichen Bedürfniss haben müsste] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 116) mit Bleistift korrigiert in: „doch immer in einem persönlichen Bedürfniss haben muss“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/135/). 127, 9–11 Ein Gott, der dagegen g a n z Liebe ist, wie gelegentlich angenommen wird, wäre keiner einzigen unegoistischen Handlung fähig] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 116) wird „wie gelegentlich“ (127, 10) mit Bleistift korrigiert in: „wie ein solcher gelegentlich“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/135/). Dass Gott Liebe sei, ist christliche Spruchweisheit, siehe 1. Johannes 4, 8: „Wer nicht lieb hat, der kennet GOtt nicht; denn GOtt ist die Liebe.“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 270) 127, 11–18 wobei man sich an einen Gedanken Lichtenberg’s, der freilich einer niedrigeren Sphäre entnommen ist, erinnern sollte: „Wir können unmöglich für Andere f ü h l e n, wie man zu sagen pflegt; wir fühlen nur für uns. Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn er nur recht verstanden wird. Man liebt weder Vater, noch Mutter, noch Frau, noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen“] Eine Bleistiftnotiz in U II 5, 68 vermerkt lapidar: „Lichtenberg“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,68). Das Lichtenberg-Zitat selbst (127, 13–18) und das nachfolgende La Rochefoucauld-Zitat (vgl. NK 127, 18 f.) sind im Druckmanuskript D 11, 68 nach dem auf Lichtenberg verweisenden Einleitungssatz (127, 11–13) nachträglich hinzugefügt worden; „Lichtenberg“ ist unterstrichen (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,68). In Mp XIV 1, 245 ist noch von „einer etwas niedrigeren Sphäre“ die Rede; D 11, 68 korrigiert „einer niedrigeren Sphäre“ aus „einer niederen Sphäre“. Die fragliche Stelle hat N. in seiner LichtenbergAusgabe in den Bemerkungen vermischten Inhalts mit Randstrich markiert. Sie lautet im Kontext: „Ä u ß e r e Gegenstände zu erkennen, ist ein Widerspruch; es ist dem Menschen unmöglich, aus sich heraus zu gehen. Wenn wir glauben, wir sähen Gegenstände, so sehen wir bloß uns. Wir können von nichts in der Welt
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 133, KSA 2, S. 126–128
423
etwas eigentlich erkennen, als uns selbst, und die Veränderungen, die in uns vorgehen. Eben so können wir unmöglich für Andere f ü h l e n, wie man zu sagen pflegt; wir fühlen nur für uns. Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn er nur recht verstanden wird. Man liebt weder Vater, noch Mutter, noch Frau, noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen; es schmeichelt immer etwas unserem Stolze und unserer Eigenliebe.“ (Lichtenberg 1867, 1, 83; vgl. auch Stingelin 1996, 98, Fn. 68 u. 176 f.) 127, 18 f. wie La Rochefoucauld sagt: „si on croit aimer sa maîtresse pour l’amour d’elle, on est bien trompé.“] Es handelt sich um La Rochefoucaulds Maxime 374 (La Rochefoucauld o. J., 77; Seite in N.s Ausgabe mit Eselsohr markiert. Die Seitenangabe in KGW IV 4, 190 ist falsch). 127, 20–24 Wesshalb Handlungen der Liebe höher g e s c h ä t z t werden, als andere, nämlich nicht ihres Wesens, sondern ihrer Nützlichkeit halber, darüber vergleiche man die schon vorher erwähnten Untersuchungen „über den Ursprung der moralischen Empfindungen“.] In Mp XIV 1, 245 ist „Nützlichkeit“ (127, 21 f.) noch unterstrichen; im Druckmanuskript D 11, 69 wurde „vorher“ (127, 22) korrigiert aus „in der Vorrede“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,69). Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 117) wird der Passus 127, 20–24 mit Bleistift eingeklammert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/136/). Offensichtlich sollte in einer Folgeauflage von MA I dieser offene Hinweis auf Paul Rées Werk (das MA I 37, KSA 2, 61, 3–8 explizit namhaft macht) getilgt werden – ein Hinweis, der ohnehin nicht ganz präzise erscheint, denn Rée behauptet zwar, dass man in der menschlichen Frühzeit Handlungen ganz nach ihrer Nützlichkeit qualifiziert habe – „[i]n dieser frühen Periode nannte man diejenigen gut, welche ihren Stammesgenossen nützten und ihrer Schädigung sich enthielten, gleichwohl aus welchen Motiven sie handeln mochten“ (Rée 1877, 135 = Rée 2004, 135; vgl. NK 62, 20–29). Aber die spezielle Anwendung auf die Liebe formuliert er nicht so, wie MA I 133 es tut. 127, 26 schon desshalb] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 117) mit Bleistift eingeklammert und am Rand korrigiert in: „auch noch aus dem Grunde“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/136/). 128, 1–6 Weiter: die Vorstellung eines Gottes beunruhigt und demüthigt so lange, als sie geglaubt wird, aber wie sie e n t s t a n d e n ist, darüber kann bei dem jetzigen Stande der völkervergleichenden Wissenschaft kein Zweifel mehr sein; und mit der Einsicht in jene Entstehung fällt jener Glaube dahin.] In Mp XIV 1, 258 steht statt „jene Entstehung“ (128, 5) „diese Entstehung“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,258). Autoren wie Lubbock oder Hellwald führen das menschlichallzumenschliche Geworden-Sein aller religiösen Vorstellungen drastisch vor Au-
424
Menschliches, Allzumenschliches I
gen – und auch MA I 132 gibt Hinweise. Freilich erörtert MA I 133 nicht, weshalb die Einsicht in die Genese einer (Gottes-)Vorstellung über ihre Geltung entscheiden sollte. 128, 7–9 wie dem Don Quixote, der seine eigne Tapferkeit unterschätzt, weil er die Wunderthaten der Helden aus den Ritterromanen im Kopfe hat] Zu N.s 1859 erstmals erfolgter Lektüre von Miguel de Cervantes’ Roman El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha (1605/1615 – N. ließ sich 1859 die Übersetzung von Ludwig Tieck zum Geburtstag schenken) sowie zu dessen vielfältigen Adaptionen bei N. siehe NK KSA 5, 301, 31–302, 3, Arenas-Dolz 2019 u. Slama 2022. 128, 10 mit welchem] In Mp XIV 1, 258 steht stattdessen: „mit dem“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,258). 128, 11 Vorstellung des Gottes] In Mp XIV 1, 258 steht stattdessen: „Vorstellung Gottes“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,258). 128, 18 Gefühl der Schuld] In Mp XIV 1, 258 steht stattdessen: „Gefühl der ‚Sünde‘“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,258). 128, 22–27 Gelingt es dem Menschen zuletzt noch, die philosophische Ueberzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen, so verschwindet auch jener Rest von Gewissensbissen.] Zur völligen Unverantwortlichkeit MA I 39, MA I 43, MA I 91, MA I 105 u. MA I 107. Hier kommt besonders gut die befreiende Wirkung eines radikalen Determinismus zum Tragen. Das Garnicht-anders-handeln-Können bringt eine eminente Entlastung mit sich. Es könnte also auch ein deterministisches ‚Als ob‘ schon reichen, die Idee der Unverantwortlichkeit zur Heilung von religiöser Tollheit, nicht als Selbstzweck.
134. MA I 134 geht noch einen Schritt hinter die am Ende von MA I 133 in Aussicht gestellte Selbstentlastung durch ein deterministisches Handlungsverständnis zurück und fragt, was nun explizit der „Christ“ (128, 29) mit seinen positiven Gefühlserfahrungen mache – jene Augenblicke, in denen er nicht von Gewissensbissen und Qual über sein sündhaftes Ungenügen im Vergleich mit dem vollkommenen Gott heimgesucht werde. Die Antwort lautet, dass er diese Augenblicke, in denen er sich frei von Sünde wähnt, als göttliche Gnadenwirkungen ebenso falsch interpretiere wie zuvor sein Missbehagen als Sündenfolge. „Das, was er Gnade und Vorspiel der Erlösung nennt, ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterlösung“ (129, 21–23). Man könnte gegen MA I 134 einwenden, dass die Unverantwortlich-
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 133–134, KSA 2, S. 128–129
425
keitsthese, mit der MA I 133 schließt, gleichfalls „Selbstbegnadigung, Selbsterlösung“ sei. Der schroffe Determinismus ist womöglich genauso Fiktion und eine falsche Wirklichkeitsdeutung wie der Glaube an die im Leben unverhofft sichtbar werdende göttliche Güte der Christen. Dieser Determinismus hätte dann vor allem therapeutische Relevanz, als praktisch-philosophische Selbsterlösungslehre. Vgl. MA I 107, wo „Selbsterlösung“ für die zur Unverantwortlichkeit hin befreite Zukunftsmenschheit explizit in Aussicht gestellt wird (105, 20) – das ist übrigens die erste Stelle, an der N. die Vokabel „Selbsterlösung“ explizit verwendet. Die ‚Reinschrift‘ zu MA I 134 von N.s Hand in M I 1, 63–64 ist mit der zu MA I 132 verbunden (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,63 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,64). Thematisch einschlägig ist auch NL 1877, KSA 8, 22[20], 383, 5–22: „Wie ist es möglich dass einer sich in allem verachtet (sich ‚sündhaft‘ durch und durch weiss) und doch noch liebt? Die wissenschaftliche Erklärung ist eine ganz andere als der religiöse Mensch sich giebt. Jene Liebe misst er Gotte zu: wenn er in alle möglichen Erlebnisse die Zeichen einer gütigen barmherzigen Gesinnung hineinlegt, jede getröstete Stimmung als Wirkung von dem auffasst, also alle besseren Empfindungen einem Wesen ausser sich als dem wirkenden Urheber zuschreibt, so bekommt die Liebe, mit der er sich im Grunde selber liebt, den Anschein einer göttlichen Liebe. Diese ist unverdient, schliesst der Mensch weiter, ist Gnade. / Voraussetzung ist, dass der Mensch sich freiwillig fühlt und schlecht: dies nur durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen. Er legt in den einen Theil seiner Handlungen den Begriff Sünde hinein, in den andern Theil den Begriff göttliche Gnadenwirkungen. Falsche Psychologie, Phantastik in der Ausdeutung der Motive ist Wesen des Christenthums.“ Die Schlusspassage dieser Überlegungen wird dann in MA I 135 übernommen. 129, 6 Erregung] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 119) von Köselitz mit Bleistift ergänzt: „Erregung durch die Zeit“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1252332904/138/). 129, 23 Selbsterlösung] Der Ausdruck wird in der Theologie des 19. Jahrhunderts vielfach gebraucht, namentlich unter Protestanten, die Katholiken und Aufklärer im Verdacht haben, zu glauben, sich selbst erlösen zu können, statt auf die alleinige Gnadenwirkung, sola gratia zu setzen. So spricht beispielsweise Martensen 1878, 72 von „Schiller’s optimistischer Anschauung von der menschlichen Freiheit, von der Kraft der menschlichen Natur zur Selbsthülfe und Selbsterlösung“. Eine ironische Pointe von MA I 134 liegt darin, dass diesem Abschnitt zufolge gerade die auf sola gratia, ausschließlich auf die Gnade setzenden Gläubigen psychologisch sehr geschickte Selbsterlöser sind.
426
Menschliches, Allzumenschliches I
135. Dieser Abschnitt fasst die Ergebnisse von MA I 132 bis 134 noch einmal kompakt und verallgemeinernd zusammen: Es sei eine „falsche Psychologie“ (129, 25), die einen zum Christen mache und einem die Illusion der Erlösungsbedürftigkeit einträufle. „Mit der Einsicht in diese Verirrung der Vernunft und Phantasie hört man auf, Christ zu sein“ (129, 28–30). MA I 135 gibt sich mit anderen Worten sokratisch und aufklärerisch überzeugt, dass Erkenntnis ausreicht, um den Gefühlsund Bedürfnishaushalt umzukrempeln. So viel Psychorationalismus hat beispielsweise MA I 131, KSA 2, 124 f. nicht aufgebracht. Wiederum findet sich die ‚Reinschrift‘ dieses Abschnitts in M I 1, 64 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,64). Eine vorbereitende Notiz ist NL 1877, KSA 8, 22[20], 383, zitiert in NK ÜK MA I 134. 129, 29 Verirrung der Vernunft und Phantasie] Im Druckmanuskript D 11, 72 steht demgegenüber „Verirrung von Verstand und Phantasie“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,72); in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 „Verirrung von Verstande und Phantasie“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/151/). Vgl. NK 126, 27.
136. Mit MA I 136 beginnt eine längere Überlegungskette, die sich bis MA I 144 und damit bis zum Ende des Dritten Hauptstücks fortsetzt. Wie bei MA I 132 bis 135 kommen die Abschnitte MA I 136 bis 144 mit einer einzigen Überschrift zu Beginn aus: „V o n d e r c h r i s t l i c h e n A s k e s e u n d H e i l i g k e i t.“ (130, 2 f.) Dabei ist dieser erste Abschnitt eine Problemanzeige: Während religiös und metaphysisch gesonnene Denker behaupteten, Phänomene wie „Askese und Heiligkeit“ (130, 4 f.) seien wundersam und wunderbar, wolle die Wissenschaft ergründen, was es damit auf sich habe und akzeptiere das Wunderargument nicht. Die erste Vermutung ist die, dass es sich bei diesem vermeintlich Wunderbaren um etwas Kompliziertes, vielfach Verwickeltes handeln müsse. Daher wird – implizit anschließend an die begriffschemische Ausgangsidee von MA I 1, KSA 2, 23 f. – Analyse als Arbeitsprogramm für die kommenden Überlegungen ausgegeben: „Wagen wir es also, einzelne Antriebe in der Seele der Heiligen und Asketen zunächst zu isoliren und zum Schluss sie in einander uns verwachsen zu denken“ (130, 27–30). Während die Aphorismenkette MA I 132 bis 135 auch textgenetisch zusammengehört, sind die von MA I 136 bis 144 zu einem inhaltlichen Bogen verbundenen Texte teilweise in unterschiedlichen Kontexten entstanden und überliefert, um schließlich patchworkartig zusammengefügt zu werden. Zu MA I 136 gibt es
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 135–136, KSA 2, S. 129–130
427
bereits separierte ‚Reinschriften‘, nämlich erstens zu 130, 16–21 in Mp XIV 1, 226: „Das Unerklärte soll durchaus unerklärlich, das Unerklärliche soll durchaus noch Wunder sein, – so lautet das [– – –] in den Seelen aller Religiösen, Metaphysiker u. Künstler; während der wissenschaftliche Mensch in dieser Forderung das ‚böse Princip‘ sieht.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,226) Vorbereitet ist das im Bleistiftnotat N II 2, 60: „das Unerklärte soll durchaus unerklärlich das Unerklärliche durchaus ein Wunder sein“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ N-II-2,60). Demgegenüber umfasst zweitens Mp XIV 1, 238 unter dem Titel „Ascese u Heiligkeit“ den gesamten späteren Drucktext von MA I 136, allerdings mit zahlreichen Korrekturen. Es folgt danach dann der Beginn des späteren Abschnitts MA I 140 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,238). MA I 136 operiert mit einer Engführung von Askese und Heiligkeit, die einerseits auf N.s Lektüren zur Kulturgeschichte des Christentums (z. B. Lecky; dazu NK 131, 32), andererseits von dezidiert metaphysischen Philosophen mit einem Faible für asketische Heilige (z. B. Schopenhauer und Mainländer) zurückverweist. Askese wird dabei in einem engen Sinne verstanden, nicht allgemein philosophisch als Übung oder Selbstgestaltung. Das Thema wird dann breit wieder aufgenommen in GM III. Zum Thema der Askese in MA I 136 bis 144 siehe auch Argy 2017, bes. 271–274. 130, 3–7 So sehr einzelne Denker sich bemüht haben, in den seltenen Erscheinungen der Moralität, welche man Askese und Heiligkeit zu nennen pflegt, ein Wunderding hinzustellen, dem die Leuchte einer vernünftigen Erklärung in’s Gesicht zu halten, beinahe schon Frevel und Entweihung sei] Denn für Autoren wie Schopenhauer und Mainländer steht beides an der Spitze aller menschlichen Bemühungen, vgl. z. B. Mainländer 1876, 578 unter Rückgriff auf Schopenhauer: „‚Freiwillige, v o l l k o m m e n e K e u s c h h e i t ist der erste Schritt in der Askese oder der Verneinung des Willens zum Leben. […]‘ [Schopenhauer 1873–1874, 2, 449] Ich habe nur hinzuzufügen, daß die vollkommene Keuschheit der e i n z i g e Schritt ist, der s i c h e r zur Erlösung führt.“ 130, 9 N a t u r] In Mp XIV 1, 238 nicht hervorgehoben (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,238). 130, 10 f. die Wissenschaft, insofern sie, wie früher gesagt, eine Nachahmung der Natur ist] Vgl. NK 61, 23–30 u. MA I 38. In Mp XIV 1, 238 stand statt „wie früher gesagt“ (130, 11): „wie gesagt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,238). Die Wendung „eine Nachahmung der Natur“ hat N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 72 korrigiert aus: „ein Stück Natur“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,72). 130, 16–18 das Unerklärte soll durchaus unerklärlich, das Unerklärliche durchaus unnatürlich, übernatürlich, wunderhaft sein] In den Korrekturbogen zur Erstaus-
428
Menschliches, Allzumenschliches I
gabe C 4601 von N. korrigiert aus: „das Unerklärte will durchaus unerklärlich, das Unerklärliche durchaus unnatürlich, übernatürlich, wunderhaft sein“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/152/). Terminologisch erinnert das an den von Emil Du Bois-Reymond 1872 ausgelösten „IgnorabimusStreit“ (vgl. allgemein Bayertz/Gerhard/Jaeschke 2007), der N. bekannt war (vgl. NK KSA 5, 28, 26–29, 3). In MA I 136 geht es aber nicht um die angebliche letzte Unerklärbarkeit von Grundprinzipien namens Materie und Kraft wie bei Du BoisReymond, sondern um die Weigerung von metaphysisch frommen Philosophen, asketische Praktiken einer nüchtern-naturwissenschaftlichen Erklärung zuzuführen. 130, 17 soll] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 120) mit Bleistift unterstrichen (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/139/). 130, 23 bei Betrachtung der Askese und Heiligkeit] In Mp XIV 1, 238 stattdessen: „bei Betrachtung von Heiligkeit u Askese“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,238). 130, 27 Complicirte und] In Mp XIV 1, 238 stattdessen: „Complicirte,“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,238). 130, 28 in der Seele] In Mp XIV 1, 238 stattdessen: „aus der Seele“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,238). 130, 29 in einander uns] In Mp XIV 1, 238 stattdessen: „uns in einander“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,238).
137. Ein erster analytischer Ansatz, die asketische Selbstverachtung zu verstehen, sieht sie als Ausdruck eines fehlgeleiteten Herrschaftsbedürfnisses, das in Ermangelung anderer Gegenstände sich gegen das Subjekt dieses Bedürfnisses selbst wendet. Es erscheint als Triumph dieses Machtstrebens, sich selbst knechten und verächtlich machen zu können. Die scheinbare Selbstverachtung erscheint so als „sehr hoher Grad der Eitelkeit“ (131, 22 f.). Der Schluss von MA I 137 gewährt Ausblick auf einen Zwiespalt in der asketischen Selbstmachtausübung, nämlich auf die Selbstdualisierung: „In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisiren.“ (131, 26–28) Zu MA I 137 gibt es in Mp XIV 1, 184 eine ‚Reinschrift‘, mit einem später hinzugefügten Titel: „Zur Erklärung des Cynismus“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,184). Ein vorbereitendes Bleistiftnotat N II 2, 125 macht die philoso-
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 136–137, KSA 2, S. 130–131
429
phische Bezugsfigur, die MA I 137 nicht nennt, direkt namhaft: „Trotz gegen sich selbst (Schopenhauer u Ascese). Ansichten äussern, die ihm schädlich sind, frühere widerrufen / Sch die Verachtung der Anderen heraufbeschwören / Ein sehr hoher Grad von Gewalt u Herrschsucht welcher sich gegen eigene niedere Ängstlichkeit erhebt. Bergsteiger.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,125) 131, 9 leicht hätte, durch] In Mp XIV 1, 184, im Druckmanuskript D 11, 73 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,73) und in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/153/) stattdessen: „leicht hätte, einfach durch“. 131, 13–15 welche das Pferd, erst wenn es wild geworden, mit Schweiss bedeckt, scheu gemacht ist, am liebsten mögen] In der Erstausgabe stand demgegenüber: „welche das Pferd, erst wenn es wild geworden, mit Schweiss bedeckt, scheu geworden ist, am liebsten mögen“. (Nietzsche 1878, 121) KGW u. KSA ‚emendieren‘ hier nach dem Handexemplar C 4402, wo das zweite „geworden“ durchgestrichen und von fremder Hand mit „gemacht“ ersetzt worden ist (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1252332904/140/). Dort wird wiederum von anderer Hand die Bemerkung eingefügt: „vgl. Correkt.Bogen! Schl.“ Dort wiederum, also in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601, steht tatsächlich am Rand ein mit Bleistift (von N.?) notiertes Fragezeichen (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/153/). Jedoch bezieht sich dieses Fragezeichen – was KGW IV 4, 190 unterschlägt – auf einen syntaktisch anderen Text, der sich so aber sowohl in Mp XIV 1, 184 als auch im Druckmanuskript D 11, 73 findet, nämlich: „welche das Pferd, wild geworden, mit Schweiss bedeckt, scheu geworden, am liebsten mögen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,73). In N.s ursprünglichem Text gab es gar keinen temporalen Nebensatz mit „wenn“, sondern nur eine Apposition zum Pferd. Das Fragezeichen am Rand kann sich auch nur darauf bezogen haben, dass der Setzer in C 4601 das Komma zwischen „scheu geworden“ und „am liebsten“ vergessen hatte. Jedenfalls findet sich dann in der Erstausgabe die korrigierte Version mit temporalem Nebensatz (und richtiger Kommasetzung); N.s Monitum wurde bereinigt. Dazu, diese Version wiederum zu verändern und ein „gemacht“ einzufügen (weil einem womöglich die Verdoppelung von „geworden“ nicht gefällt), gibt die offenkundig irrtümliche Korrektur von fremder Hand in C 4402 keine hinreichende Rechtfertigung. 131, 15 f. auf gefährlichen Wegen] In Mp XIV 1, 184 stattdessen: „in gefährlichen Wegen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,184). 131, 18 Askese, Demuth und Heiligkeit] In Mp XIV 1, 184 stattdessen: „Askese, Demuth, Heiligkeit“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,184). 131, 21 spernere se sperni] Lateinisch: „verachten, selbst verachtet zu werden“. Es handelt sich um eine Losung, die N. auch in M 56 und M 205 aufnimmt, und
430
Menschliches, Allzumenschliches I
die in Goethes Italiänischer Reise mit Bernhard von Clairvaux und Filippo Neri assoziiert wird, siehe den ausführlichen Quellenauszug in NK KSA 3, 57, 21 (vgl. auch Alfano 2018, 129 f.). N. konnte die Losung aber vielerorts begegnet sein, z. B. bei Stahr 1860, 278: „Fra Filippo’s ganzes Leben war der Wohlthätigkeit und der Milderung des Elends der Armen dieser Welt geweiht. Er war es der das Wort des heiligen Bernard, jenes berühmte: Spernere mundum, spernere neminem, spernere se ipsum, spernere se sperni für sein ganz dem Dienste der Menschheit und des Guten gewidmetes Leben zum Wahlspruche machte.“ Eine Fußnote erläutert die lateinische Spruchfolge: „D. h. Man muß die W e l t gering achten und doch keinen Einzelnen gering achten, sich selbst gering achten, und es doch gering achten verachtet zu werden.“ 131, 23 Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hieher] Siehe Matthäus 5, 1–7, 29 und dazu Sommer 2022d, 176: „Das Prinzip von Nietzsches psychologischer Entlarvungsstrategie ist die Umkehrung: Gerade die vermeintlich größtmögliche Selbstlosigkeit erscheint als eine besonders elaborierte Form des Egoismus. Dieser Egoismus ist nach der hier gegebenen Diagnose auf Lustgewinn durch Leiden aus – wobei das Leiden durch die Abspaltung eines deifizierten von einem diabolisierten Teil kompensiert wird: Das vergötterte ‚tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele‘ darf sich in seinem Machtbedürfnis vollauf befriedigt fühlen. Es triumphiert durch Unterjochung. Nietzsches religionspsychologische Interpretation setzt stillschweigend voraus, dass Gott, der als Fordernder auftritt, nichts anderes ist als eine Projektion des herrschaftslüsternen Subjekt(teil)s. Ludwig Feuerbachs Fundamentalkritik an der Religion ist gleichermaßen vorausgesetzt wie Strauß’ Mythostheorem: Der fordernde Gott ist ein Mythos, der nur die innersten Interessen des bergpredigenden Subjekts camoufliert. Als distinktes Wesen gibt es diesen Gott ebenso wenig wie den Altruismus, den Nietzsche im Geist des französischen Moralistik auf versteckten Egoismus zurückbuchstabiert. Diese Evaluation der Bergpredigt – so scharf sie auch klingen mag – verhehlt doch nicht Reste der Bewunderung für die ungeheure Konsequenz und den – um Nietzsches späteren Ausdruck vorwegzunehmen – Willen zur Macht, der in dieser Selbstverleugnungspraxis liegt“. Vgl. NK 136, 28. 131, 24 hat eine wahre Wollust darin] In Mp XIV 1, 184 fehlt das „darin“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,184).
138. Eine zweite analytische Annäherung an asketische „Selbstverleugnung“ (131, 32 u. ö.) setzt beim intensiven Affekt an: Losgebunden von kalt kontrollierender Rati-
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 137–138, KSA 2, S. 131
431
onalität sei es in Phasen höchster emotionaler Erregtheit am wahrscheinlichsten, sich zu einer vermeintlich selbstlosen, selbstverleugnenden Tat durchzuringen. In solchen affektiven Augenblicken lägen extreme Reaktionen, namentlich solche der Rache, nahe; und es habe langer Perioden der Zivilisierung bedurft, um den Verzicht auf Rache und Gewalt als etwas Großes erscheinen zu lassen. Man habe dann die tätige Selbstverleugnung und Selbstaufopferung als heroisch-moralische Affektbezwingung interpretiert, während tatsächlich nur die eine Form, die affektive Spannung abzubauen, nämlich Rache zu üben, von einer anderen Spannungsabbauform ersetzt worden sei. Die affektbedingten Selbstverleugnungsakte seien also eigentlich auch keineswegs selbstlos, sondern dienten der Affekterleichterung. Zu MA I 138 gibt es in Mp XIV 1, 25 eine ‚Reinschrift‘, mit einem später hinzugefügten Titel: „Moralische Grösse aus Affekt“ und markiert mit einem roten „B“. Sie weist viele Überarbeitungsspuren und Korrekturen auf (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,25). Zur „psychologisch-funktionale[n] Erklärung“ der Selbstaufopferungsbereitschaft in MA I 138 (u. MA I 139) siehe Hödl 2007, 157. 131, 32 Selbstverleugnung] Das Wort kommt in MA I nur in diesem Abschnitt vor, dafür gleich drei Mal (132, 16 u. 132, 31 – das eine Mal so nicht in der ‚Reinschrift‘, siehe NK 132, 16). N. schenkte der „Selbstverleugnung“ seine Aufmerksamkeit bei der Lektüre von Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa an einer Stelle, wo es um die Unterscheidung zweier für die europäische Geschichte prägender Lebensanschauungen geht: „Was man die asketische und die industrielle Philosophie nennen könnte, hat zu allen Zeiten zwei der wichtigsten Abtheilungen der menschlichen Meinungen gebildet; und da jede eine grosse Reihe von moralischen und intellectuellen Folgen mit sich bringt, berührt ihre Geschichte beinahe jeden Theil des intellectuellen Fortschritts. Das Losungswort der ersten Philosop[h]ie heisst Selbstverläugnung, das der zweiten, Entwickelung. Die erste sucht die Begierden zu verringern, die andere zu vermehren; die erste erkennt die Glückseligkeit als einen Gemüthszustand und sucht sie desswegen durch unmittelbare Einwirkung auf das Gemüth, die zweite durch Einwirkung auf die äusseren Verhältnisse zu erreichen. Die erste giebt den Gefühlen eine grössere Stärke und erzeugt die hingebendsten Menschen, die zweite lenkt die vereinte Thätigkeit der Gesellschaft und bewirkt dadurch die höchstmögliche sociale Ausgleichung. Die erste hat sich dem Bildungsstande von Asien und Aegypten, die zweite dem von Europa am entsprechendsten erwiesen. / Von dem Anfang des vierten Jahrhunderts, als das Mönchssystem zuerst von Aegypten her in die Christenheit eingeführt wurde, bis beinahe zur Reformation war die asketische Theorie überall vorherrschend.“ (Lecky 1873, 2, 288; N.s Unterstreichungen, überdies mit Randstrichen markiert.) Vgl. dazu ausführlich NK 3/2.1, S. 393–395 zu FW 21.
432
Menschliches, Allzumenschliches I
132, 1 Heiligkeit ist] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 122) mit Bleistift korrigiert in: „Heiligkeit heisst“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1252332904/141/). 132, 6 hoch Erregenden;] In Mp XIV 1, 25 stattdessen: „Hocherregenden:“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,25). 132, 14 Entladung seiner Emotion] In Mp XIV 1, 25 unterstrichen (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,25). 132, 14–16 da fasst er wohl, um seine Spannung zu erleichtern, die Speere der Feinde zusammen und begräbt sie in seine Brust] Vgl. NK 76, 8–11. Das Motiv reicht in die Antike zurück: Der letzte Ostgotenkönig Teja soll im Jahr 552 in der Schlacht am Milchberg alle byzantinischen Speere auf sich gezogen, aber mit immer neuen Schilden abgewehrt haben – er fiel, als er einen feindspeergespickten Schild austauschen musste und einen Augenblick lang schutzlos war (Prokopios von Caesarea: Historien VIII 35 = Prokop 1978, 988–991). In seinem berühmten Erfolgsroman Ein Kampf um Rom (1876) hat Felix Dahn diese Episode, Prokop teilweise wörtlich zitierend, zur Schlüsselszene gemacht (Dahn 1908, 3, 426; vgl. ausführlich zu Dahns Teja-Selbststilisierung Osterkamp 2019, 66–87, zu N.s Seufzen über Dahns Erfolg NK KSA 6, 104, 8 f.). Allerdings soll Teja die Speere abgewehrt und ihnen nicht freiwillig die eigene Brust dargeboten haben, wie es von Arnold von Winkelried berichtet wird, der so seinen Eidgenossen in der Schlacht bei Sempach 1386 gegen die Habsburger den Sieg gesichert haben soll. In der helvetischen Memorialkultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Winkelried sehr präsent (schon 1861 wurde eine eidgenössische 5-Franken-Gedenkmünze als Schützentaler auf ihn geprägt, 1865 das berühmte Denkmal in Stans eingeweiht); N. dürfte ihm auch bei der Lektüre Schopenhauers an jener Stelle begegnet sein, die die mögliche Diskrepanz von Vernünftigkeit und höchster Moralität diskutiert: „wer lobt es als eine überaus v e r n ü n f t i g e That, daß Arnold von Winkelried, mit überschwänglichem Edelmuth, die feindlichen Speere zusammenfaßte, gegen seinen eigenen Leib, um seinen Landsleuten Sieg und Rettung zu verschaffen?“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 611) Eine Eigennützigkeitsperspektive Winkelrieds stellt Schopenhauer vehement in Abrede: „Imgleichen wird man mir, denke ich, zugestehen, daß mancher hilft, und giebt, leistet und entsagt, ohne in seinem Herzen eine weitere Absicht zu haben, als daß dem Andern, dessen Noth er sieht, geholfen werde. Und daß Arnold von Winkelried, als er ausrief: ‚Trüwen, lieben Eidgenossen, wullt’s minem Wip und Kinde gedenken‘, und dann so viele feindliche Speere umarmte, als er fassen konnte, dabei eine eigennützige Absicht gehabt habe; das denke sich, wer es kann: ich vermag es nicht.“ (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 203) Zu Winkelried bei Schopenhauer und in MA I 138 vgl. Fornari 2009, 49.
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 138–139, KSA 2, S. 132
433
132, 16 Selbstverleugnung] In Mp XIV 1, 25 stattdessen: „Verleugnung“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,25). 132, 18 anerzogen] In Mp XIV 1, 25 stattdessen: „angezogen“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,25). 132, 18–20 eine Gottheit, welche sich selbst opfert, war das stärkste und wirkungsvollste Symbol dieser Art von Grösse] Gemeint ist natürlich in erster Linie der Gott-Mensch, der im Zentrum des Christentums steht, Jesus Christus. Statt „stärkste und wirkungsvollste“ (132, 19) steht in Mp XIV 1, 25: „stärkste ˹wirkungsvollste˺“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,25). 132, 24 bei ihr] In Mp XIV 1, 25 stattdessen: „dabei nur“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,25). 132, 32 Hinsicht auf Andere] In Mp XIV 1, 25 unterstrichen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,25).
139. Einen dritten analytischen Zugang zum asketischen Verhaltenskomplex wählt MA I 139 über die Analyse des Willens, der den Asketen beseelt. Dabei erweise sich, dass der völlige Verzicht auf einen eigenen Willen und die Unterordnung unter einen fremden Willen wesentlich einfacher ist als eine partielle Kontrolle der eigenen Leidenschaften und das Aufrechterhalten einer eigenen konstanten Willenspersönlichkeit. Askese so betrachtet wäre also Ausdruck einer Bequemlichkeit, sich der Mühsal eigener Willensregungen gänzlich entziehen zu wollen (was im Übrigen auch für den Untertanengehorsam im Staat gelte) – und zugleich durch Fremdbestimmung Beschäftigtsein sicherzustellen sowie Langeweile zu vermeiden. Zu MA I 139 gibt es in Mp XIV 1, 112 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit einem roten, aus einem „A“ korrigierten „B“. Dabei weichen Anfang und Ende von der späteren Druckfassung ab. Statt 133, 2 f. beginnt der Text mit den später mit Bleistift vorangestellten Worten: „Auch der Asket sucht sich das Leben leicht zu machen“. Statt der letzten beiden Sätze des Drucktextes (133, 18–24) heißt es am Ende der ‚Reinschrift‘: „Also: überall wo der Wille nicht außerordentl. stark u frei ist, ist seine vollständ. Unterwerfung wünschenswerth. Im andern Falle giebt es Schwanken, Unklarheit, halbe Lösung von der Sitte; das Glück der Moralität begleitet einen solchen Menschen nicht. – Das Höhere ist aber, sein eignes Gesetz zu sein.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,112) In dieser dann verworfenen Version wird noch stärker als in der Druckfas-
434
Menschliches, Allzumenschliches I
sung von MA I 139 eine (Wahl-)Freiheit des Willens herausgestellt, die sich schwer mit der in MA I 133 zum wiederholten Mal vorgetragenen Einsicht in die „unbedingte[.] Nothwendigkeit aller Handlungen“ (128, 24) verträgt. Die ursprüngliche Fassung formuliert ein normatives Programm, entweder radikale Autonomie und Freiheit oder völlige Heteronomie und Unterwerfung. Das ist offensichtlich abgelöst vom Thema des Asketen, auf das dann die Druckfassung ab 133, 18 mit der Evokation des „Heilige[n]“ wieder zurückführt, um auch dieses Stück aus anderem Entstehungskontext in den Gesamtthemenbogen MA I 136 bis 144 einzupassen. 133, 4 Unterordnung] In Mp XIV 1, 112 unterstrichen (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,112). 133, 5–7 ; etwa in der Art, wie der Brahmane durchaus Nichts seiner eigenen Bestimmung überlässt und sich in jeder Minute durch eine heilige Vorschrift bestimmt.] In Mp XIV 1, 112 stattdessen: „(etwa [?] wie der Bramane durchaus nichts seiner eigenen Bestimmung überlässt u sich in jeder Minute an eine Vorschrift bindet)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,112). Dieses Bild der brahmanischen Lebensführung als ängstlich orientiert an den überlieferten Gesetzen und Gebräuchen wurde in der zeitgenössischen Literatur vielfach vermittelt, vgl. zur Übersicht z. B. Wurm 1874, 271–280, ferner 68–76. 133, 10 Leidenschaft] In Mp XIV 1, 112 stattdessen als Teil einer Einfügung mit Bleistift: „Leidenschaften“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,112). 133, 15–18 Wenn wir uns der jetzigen Stellung des Mannes zum Staate erinnern, so finden wir auch da, dass der unbedingte Gehorsam bequemer ist, als der bedingte.] Die Frage des bedingten und des unbedingten Gehorsams war in der zeitgenössischen politischen Publizistik, vor allem im Horizont des Kulturkampfes gegen die katholische Kirche, ein intensiv diskutiertes Thema, über das im Reichstag ausgiebig gestritten wurde. Der Bismarckschen Seite galten Regel und Praxis des angefeindeten Jesuitenordens als Inbegriff unbedingter, sklavischer Gehorsamsforderung – und zugleich stand die Unterstellung im Raum, deutsche Katholiken ließen es am nötigen Gehorsam gegenüber dem deutschen Staat fehlen, weil sie sich „ultramontan“, also nach Rom orientierten. MA I 139 nimmt diesen zeittypischen Diskurs ironisierend auf, wenn weisgemacht werden soll, dass „der unbedingte Gehorsam“ auch staatspolitisch „bequemer“ sei „als der bedingte“: Das unterstellt, dass der (deutsche) Nationalstaat, das deutsche Kaiserreich in seinen Gehorsamsansprüchen gegenüber den Bürgern um keinen Deut liberaler ist als der Jesuitenorden: unbedingt gehorchende Bürger sind wahrhaftig bequem.
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 139–141, KSA 2, S. 133–134
435
140. Die vierte analytische Annäherung an die Phänomene Heiligkeit und Askese setzt ein mit der Behauptung, es gebe gerade bei schwer erklärbaren Verhaltensweisen offensichtlich eine „Lust an der E m o t i o n a n s i c h“ (133, 27). Die asketischen Praktiken sind nun solche der Selbstquälerei, die wesentlich dazu dienten, starke Emotionen zu erzeugen, die über den Lebensüberdruss und die Langeweile durch Anstachelung des Willens hinweghelfen. Die ‚Reinschrift‘ von MA I 140 folgt in Mp XIV 1, 238 derjenigen zu MA I 136 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,238). Daher wirkt auch der im Drucktext aus der ‚Reinschrift‘ übernommene Anschluss an MA I 139 etwas abrupt und unpassend, ging es dort doch keineswegs um eine durch emotionale Agitation erzeugte Selbstlust, sondern vielmehr um die Ruhigstellung durch Unterwerfung und Auslöschung des Eigenwillens. Wie aus MA I 136 werden auch aus MA I 140 die Motive in GM III weitergetragen. Vorbereitet sind die Überlegungen von MA I 140 auch in NL 1876/77, KSA 8, 23[113], 443,9–13: „S e l b s t v e r a c h t u n g. – Jene heftige Neigung zur Selbstprüfung und -Verachtung, die man bei Sündern Büssern und Heiligen wahrnimmt, ist häufig auf eine allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (oder der Nerven) zurückzuführen, gegen welche sie auch die schmerzhaftesten Reizmittel anwenden.“ Zur Lustpsychologie der Furcht äußert sich auch NL 1876/77, KSA 8, 23[127], 448, 22 f.: „Wer vom Reiz der Gefahr spricht, kennt die Lust an der Emotion der Furcht an sich.“ 133, 26–28 Nachdem ich, in vielen der schwerer erklärbaren Handlungen, Aeusserungen jener Lust an der E m o t i o n a n s i c h gefunden habe] In Mp XIV 1, 238 stattdessen: „Nachdem ich in vielen der schwerer erklärl. menschl. H[an]dl[ungen] u. Zustände jene Lust an der Emotion an sich gefunden habe“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,238). 133, 31 f. Wahnsinns] In Mp XIV 1, 238 stattdessen: „Wahnsinns usw.“ http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,238). 134, 5 Indolenz] „Empfindungslosigkeit, Gleichgültigkeit, Trägheit“ (Meyer 1885– 1892, 8, 929).
141. Der sehr lange Abschnitt MA I 141 führt die verschiedenen analytischen Stränge zusammen und beschreibt den Asketen, namentlich den christlich-pessimistischen, als vital interessiert daran, sein eigenes Leben als Kampfgeschehen, als Krieg mit dämonischen inneren Widersachern zu verstehen, so sich emotional
436
Menschliches, Allzumenschliches I
aufzupeitschen, seine Herrschsucht gleichermaßen auszuleben und den eigenen Willen demütig unter einem fremden Willen, demjenigen Gottes, zu beugen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Sexualität, die verteufelt worden sei, um jede Lebenslust abzuschneiden, die im Zentrum der paganen Kulte gestanden habe. Das Christentum erscheint hingegen als letzte Erfindung der antiken Menschen, die völlig abgestumpft selbst gegen die Grausamkeit in den Arenen geworden waren und jetzt stärkster Stimulanzien bedurften. Der Mensch sollte nun „sich sündhaft fühlen und dadurch überhaupt erregt, belebt, beseelt werden“ (137, 5 f.). Die sogenannten ‚Reinschriften‘ zu MA I 141 sind zerstückelt überliefert und stammen nicht aus einem Guss. Während für den Beginn des Abschnitts eine solche Vorlage überhaupt fehlt, deckt Mp XIV 1, 65 – markiert mit rotem „A“ und zwei blauen Strichen – den späteren Drucktext 134, 17 bis 134, 28 ab (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,65). Mp XIV 1, 122 bietet den späteren Drucktext 134, 28 bis 135, 5 sowie 135, 16 bis 135, 20 (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,122 – mit starker Abweichung, vgl. NK 135, 3–5), aber damit nicht die Calderón-Passage 135, 5 bis 135, 12. Eine Bleistift-Vorarbeit zu dieser Passage, immer noch ohne die Nennung des spanischen Dichters, findet sich in N II 2, 21: „Ein Gedanke der im Superlativ-Christenthum noch einmal zusammengeknotet wird – zur verwickeltsten Paradoxie, die ich kenne. / Also die Zeugung ˹u. Geb ist˺ Schuld des Kindes, das eben gezeugt ˹geboren˺ wird (nicht einmal des Vaters der Mutter)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,21). Mp XIV 1, 97 – mit rotem „B“ und zwei blauen Strichen markiert – liefert nun mit vielen Überarbeitungsspuren die einigermaßen vollständige Vorlage von 135, 5 bis 135, 22, einschließlich Calderón und Empedokles (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,97). Mp XIV 1, 240 setzt fort mit der Vorlage für 135, 26 bis 136, 5, für 136, 32 bis 136, 34 sowie für 137, 6 bis zum schließlichen Schluss von MA I 241, nämlich 137, 27; auf die Aussparung 136, 5 bis 136, 32 wird mit „Alles Natürliche“ ausdrücklich hingewiesen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,240). Diese Aussparung mit dem nachmaligen Text 136, 5 bis 136, 32 liefert Mp XIV 1, 102 nach (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,102). Eine zweite Aussparung ist in Mp XIV 1, 240 ebenfalls markiert; sie betrifft 136, 34 bis 137, 6. Die Vorlage dieses Textes findet sich schließlich in Mp XIV 1, 239 (http://www.nietz schesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,239). Das dort angesprochene Thema der heidnischen Fest- und Lebensfreude thematisiert NL 1876/77, KSA 8, 23[148], 457 ausführlicher. Überblickt man alle ‚Reinschrift‘-Seiten im Vergleich, fällt nicht nur die hohe Anzahl an Korrekturen und Überarbeitungen auf, sondern vor allem auch das sehr unterschiedliche Schriftbild und die unterschiedlichen Tintenfarben: Die Blätter stammen sichtlich aus unterschiedlichen Zeiten. Material zu MA I 141 konnte N. z. B. bei Lecky 1873, 1, 179 (N.s Unterstreichungen, mehrere Randmarkierungen) finden, wo es zur christlichen „Religion“ heißt, sie habe „seit vielen Jahrhunderten die Unterdrückung aller körperlichen Leiden-
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 141, KSA 2, S. 134
437
schaften zum Hauptbegriff der Heiligkeit“ gemacht. „In dieser Beziehung waren Philosophen, Ketzer und Heilige einstimmig. Plotin, einer der hervorragendsten Neuplatoniker, schämte sich so sehr einen Körper zu haben, dass er sich aus dem Grunde nicht malen lassen wollte, um nicht seine Schande zu verewigen. Der Gnosticismus und Manichäismus, die in ihren verschiedenen Gestaltungen einen tieferen und dauernderen Halt in der Kirche erlangten, als irgend andere ketzerische Systeme, hielten die wesentliche Schlechtigkeit der Materie für ihr Grunddogma, und einige Katharer, die zu den spätesten Gnostikern gehörten, sollen sich bei ihren Anstrengungen, die Neigungen des Körpers zu unterdrücken, zu Tode gehungert haben. Einige von den orthodoxen Heiligen rühmten sich ganz besonders, dass sie seit vielen Jahren niemals ihren eigenen Körper angesehen hätten, andere verstümmelten sich, um vollständiger ihre Leidenschaften zu zügeln, andere arbeiteten durch Geisselungen, Fasten und schauerliche Bussübungen auf denselben Zweck hin. Alle betrachteten den Körper als etwas durchweg Böses, seine Leidenschaften und seine Schönheit als die tödtlichsten Versuchungen.“ Zu Parallelen zwischen MA I 141 und FW 130 siehe NK 3/2.1, S. 877 f.; zur Assoziation von Religion und Grausamkeit NK KSA 5, 74, 2 f. Ein Passus in MA I 141, nämlich 136, 27–34, soll der Grund gewesen sein, weshalb MA I in Russland von der Zensur verboten wurde, siehe oben im Überblickskommentar, Abschnitt 1 zur Textentstehung, Druckgeschichte und N.s werkspezifischen Äußerungen: „Man gehe die einzelnen moralischen Aufstellungen der Urkunden des Christenthums durch und man wird überall finden, dass die Anforderungen überspannt sind, damit der Mensch ihnen nicht genügen k ö n n e; die Absicht ist nicht, dass er moralischer w e r d e, sondern dass er sich m ö g l i c h s t s ü n d h a f t fühle. Wenn dem Menschen diess Gefühl nicht a n g e n e h m gewesen wäre, – wozu hätte er eine solche Vorstellung erzeugt und sich so lange an sie gehängt?“ 134, 11 f. Dazu braucht er einen Gegner und findet ihn in dem sogenannten „inneren Feinde“.] Vgl. dazu ausführlich NK KSA 6, 84, 16–18. 134, 17–20 Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie durch die Regelmässigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gemässigt, ja fast unterdrückt, umgekehrt, durch Enthaltsamkeit oder Unordnung im Verkehre entfesselt und wüst.] In einer mit Bleistift notierten Vorarbeit in N II 3, 16 heißt es: „die sinnliche Phantasie wird durch regelmässigen Beischlaf gemässigt, ja unterdrückt, umgekehrt durch Enthaltsamkeit erhöht u unordentlich“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,16). Was nach Erfahrungswissen des Autors klingt, ist allerdings populärmedizinisches Gemeingut der Zeit, das N. beispielsweise in dem von ihm 1875 erworbenen und rege konsultierten Buch vom gesunden und kranken Menschen bestätigt finden konnte, auch wenn dort der Akzent deutlich repressiver ist: „Hat aber der Geschlechtstrieb mit Vollendung der Mannbarkeit seine höchste Stufe erreicht, so
438
Menschliches, Allzumenschliches I
ist im Allgemeinen seine Befriedigung für beide Geschlechter nicht allein instinktmäßiges Naturbedürfniß, sondern auch für die Gesundheit des Körpers und die Wohlfahrt des Geistes das Zuträglichste, indem dadurch ein Verirren der Sinnlichkeit auf andere Wege verhütet wird. Jedoch muß der Geschlechtstrieb, der beim Menschen nicht periodisch wie beim Thiere (in der Brunstzeit) eintritt, stets unter der Herrschaft der sittlichen Kraft und Vernunft stehen, so daß er beherrscht und selbst völlig unterdrückt werden kann. Es steht übrigens auch fest, daß ein Unterlassen jeder geschlechtlichen Vermischung der Gesundheit nicht entfernt dieselbe Gefahr bringt, wie eine zu frühzeitige und übermäßige Ausübung des Beischlafs oder sonstige Verirrungen des Geschlechtstriebes.“ (Bock 1870, 800) 134, 20–25 Die Phantasie vieler christlichen Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse schmutzig; vermöge jener Theorie, dass diese Begierden wirkliche Dämonen seien, die in ihnen wütheten, fühlten sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei; diesem Gefühle verdanken wir die so belehrende Aufrichtigkeit ihrer Selbstzeugnisse.] Vgl. die Fülle dieser Dokumente schon aus der Antike, aus der Athanasius’ Vita Antonii und Augustins Confessiones herausragen. Auch für das Mittelalter galt nach Lecky 1873, 1, 61 (N.s Unterstreichungen, mit Randstrich markiert): „Menschen, die mit der vollsten Ueberzeugung diese Ansicht von der grossen Mehrheit der Frauen gefasst hatten, die das Colibat als die höchste der Tugenden, und jede Versuchung ihm zu entsagen, als die unmittelbare Folge des satanischen Einflusses ansahen, kamen durch einen sehr natürlichen Verlauf dahin, ‚alle Erscheinungen der Liebe‘ als ganz besonders unter der Einwirkung des Teufels stehend zu betrachten.“ 134, 28–31 Damit der Kampf aber wichtig genug erscheine, um andauernde Theilnahme und Bewunderung bei den Nicht-Heiligen zu erregen, musste die Sinnlichkeit immer mehr verketzert und gebrandmarkt werden] In Mp XIV 1, 122 eingefügt anstelle der gestrichenen Eingangspassage: „Statt dafür dankbar zu sein, dass gewisse körperliche Verrichtungen, welche die Gesundheit fordert, mit Lust verbunden sind, hat man sie gebrandmarkt, das Wort ‚Lust‘ im verächtlichen Sinne gebraucht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,122). 135, 2 Menschheit] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 78 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,78) sowie in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht stattdessen „Menschlichkeit“ – wobei dort zur Korrektur die Stelle am Rande mit einem Bleistiftstrich und einem Fragezeichen versehen worden ist (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/157/). 135, 3–5 Und doch steht hier die Wahrheit ganz auf dem Kopfe: was für die Wahrheit besonders unschicklich ist.] Das hat N. auch in NL 1876/77, KSA 8, 21[48], 374 notiert. Die etwas schlüpfrige Pointe ergibt sich aus der von N. gerne variierten Vorstellung, dass die Wahrheit weiblich sei – und nackt, vgl. z. B. NK KSA 5, 11, 2.
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 141, KSA 2, S. 134–135
439
In Mp XIV 1, 122 folgt auf die dann in 135, 3–5 gedruckte Sentenz ein schließlich gestrichener Passus: „Hierin muss die Menschheit zu der harmlosen Auffassung der Griechen zurückkehren, deren düsterster Philosoph, Empedocles, in der Aphrodite ˹zwei Menschen, die aneinander Freude haben˺ die beste glücklichste und hoffnungsreichste Erscheinung auf Erden sieht und durchaus nichts von jenem mönchischen halb begehrlichen Grauen merken lässt, mit dem Schopenhauer diese Dinge ansieht. – Plato freilich verketzert alle Sinne, Augen und Ohren voran; und überhaupt giebt es auch unter den Griechen Ausnahmen der Unvernunft und Unnatur“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,122). 135, 6 in Sünden empfangen und geboren] In Mp XIV 1, 97: „in Sünden ˹empfangen u˺ geboren“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,97). Siehe Psalm 51, 7: „Siehe, ich bin aus sündlichem Samen gezeuget, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen.“ (Die Bibel: Altes Testament 1818, 580; vgl. Römer 5, 12–14) 135, 6–9 im unausstehlichen Superlativ-Christenthume des Calderon hatte sich dieser Gedanke noch einmal zusammengeknotet und verschlungen, so dass er die verdrehteste Paradoxie wagte] In Mp XIV 1, 97 stattdessen: „dieser Gedanke ist ˹erscheint˺ im Superlativ-Christenthume des Calderon, noch einmal zusammengeknotet u. verschlungen, als die verwickelteste Paradoxie“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,97). In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 79 korrigierte N. „verwickelteste“ in „verdrehteste“ (www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,79), was freilich den Setzer nicht davon abhielt, in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stattdessen „verdichteste“ zu schreiben, was wiederum eine Bleistiftkorrektur in „verdrehteste“ nach sich zog (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/157/). N.s Kenntnisse des spanischen Barockdichters Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) dürften beschränkt gewesen sein; in seinen Werken wird er nur hier sowie in MA II VM 170, KSA 2, 449, 21 und in MA II VM 173, KSA 2, 453, 7 (dort jeweils in Dramatiker-Listen) explizit bemüht (zu einer möglichen Anspielung siehe auch NK KSA 3, 417, 3 f.). In seiner Bibliothek hat sich kein Werk Calderóns erhalten; immerhin aber dokumentiert NL 1876/77, KSA 8, 23[95], 437, 13–20 eine offensichtlich frustrierende Calderón-Lektüreerfahrung oder vielmehr Calderón-Vorleseerfahrung: „als man mir den standhaften Prinzen Calderon’s in der Schlegelschen Übersetzung vorlas, gieng mir’s so: ich zog meinen Strick eine Zeitlang und ließ ihn endlich mißmuthig fahren, machte einen neuen Versuch und zog wieder einen Faden voller Worte hinter mir, aber selten kam das erklärende erlösende Wort: Qual Verdruß, wie bei einem Bilde, auf dem alle Zeichnung verblaßt ist und Eines Vieles bedeuten kann.“ Die entsprechende Lektüre hat in Sorrent stattgefunden (vgl. z. B. Liebscher 2020, 133); der fragliche „Prinz“ ist die Titelfigur in Calderóns El príncipe constante (1629). 135, 11 f. die grösste Schuld des Menschen / ist, dass er geboren ward.] Pedro Calderón de la Barca: La vida es sueño I 2, V. 111 f.: „Pues el delito mayor / Del
440
Menschliches, Allzumenschliches I
hombre es haber nacido“. Um dies anzubringen, bedurfte N. keiner vertieften Caldéron-Kenntnis (vgl. NK 135, 6–9); vielmehr hatte Schopenhauer die zwei Zeilen aus Segismundos Monolog im spanischen Original samt deutscher Übersetzung wiederholt zitiert, siehe Schopenhauer 1873–1874, 2, 300 u. 419. An einer dritten Stelle im zweiten Band von Schopenhauers Hauptwerk hat N. den auf den Calderón-Hinweis folgenden Satz mit Randstrich und „NB“ markiert und davor schon Unterstreichungen und einen weiteren Randstrich gezogen: „Allein die ernstliche und tiefe Lösung des Problems liegt in der christlichen Lehre, daß die Werke nicht rechtfertigen; demnach ein Mensch, wenn er auch alle Gerechtigkeit und Menschenliebe, mithin das αγαθoν, honestum, ausgeübt hat, dennoch nicht, wie C i c e r o meint, culpa omni carens (Tusc. V, 1) ist: sondern el delito mayor del hombre es haber nacido (des Menschen größte Schuld ist, daß er geboren ward), wie es, aus viel tieferer Erkenntniß, als jene Weisen, der durch das Christenthum erleuchtete Dichter C a l d e r o n ausgedrückt hat. Daß demnach der Mensch schon verschuldet auf die Welt kommt, kann nur Dem widersinnig erscheinen, der ihn für erst soeben aus Nichts geworden und für das Werk eines Andern hält.“ (Schopenhauer 1873–1874, 3, 692) Diese Schopenhauer-Passage bildet einen LektüreHintergrund von MA I 141, vgl. NK 135, 14. 135, 14 empfunden] In Mp XIV 1, 97 folgt darauf: „so gilt er auch Schopenhauer“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,97). Vgl. z. B. Schopenhauer 1873– 1874, 3, 666. 135, 16–22 Empedokles zum Beispiel weiss gar Nichts vom Beschämenden, Teuflischen, Sündhaften in allen erotischen Dingen; er sieht vielmehr auf der grossen Wiese des Unheils eine einzige heil- und hoffnungsvolle Erscheinung, die Aphrodite; sie gilt ihm als Bürgschaft, dass der Streit nicht ewig herrschen, sondern einem milderen Dämon einmal das Scepter überreichen werde.] Vgl. N.s Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen: „In dieser Welt der Zwietracht, der Leiden, der Gegensätze findet er nur ein Princip, welches eine ganz andere Weltordnung ihm verbürgt: er findet die Aphrodite, jeder kennt sie, aber niemand als kosmisches Princip. Das Geschlechtsleben ist ihm das Beste u. Edelste, der größte Gegensatz gegen den Trieb der Entzweiung. Hier zeigt sich das Zusammenstreben der getrennten Bestandtheile, um etwas zu erzeugen, am deutlichsten. Das Zusammengehörige ist irgendwann von einander gerissen u. sehnt sich nun wieder zusammen. Die ϕιλία will das Reich des νεῖκος überwinden: er nennt sie ϕιλότης στοργὴ Κύπρις Ἀϕροδίτη Ἁρμονίη.“ (KGW II 4, 322, 26–323, 2; vgl. D’Iorio 1994, 396, ferner Heller 1972b, 325) Die Fragmente, auf die N. sich bezieht, finden sich bei Diels/ Kranz 1959–1960, 31 B A 29, B 16, B 17, 1–8, B 18–B 19, B 26, B 35–B 36, B 66, B 121 („Wiese des Unheils“) u. B 128 („Kypris“). Zu N. und Empedokles siehe auch Babich 2020, 86–99 u. Söring 1990.
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 141, KSA 2, S. 135–137
441
135, 26–29 Feind, durch dessen Bekämpfung und Ueberwältigung sie dem NichtHeiligen sich immer von Neuem wieder als halb unbegreifliche, übernatürliche Wesen darstellten] Mp XIV 1, 240: „Feind, in ˹durch˺ dessen Bekämpfung u. Ueberwältigung sie sie immer von neuem sich mit der Dornenkrone schmückten ˹dem Nichtheiligen sich immer von neuem wieder˺ als unbegreifliche, ˹halb˺ übernatürl. Wesen darstellten“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,240). 136, 4 suchte] In Mp XIV 1, 240 unterstrichen (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,240). 136, 7 f. des Erotischen] In Mp XIV 1, 102 unterstrichen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,102). 136, 10 macht ihn unsicher und vertrauenslos; selbst] In Mp XIV 1, 102 stattdessen: „unzufrieden sein, macht ihn ˹so dass er˺ unsicher, vertrauenslos gegen sich selbst usw ˹wird˺. Selbst“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,102). 136, 11–14 Und doch ist dieses Leiden am Natürlichen in der Realität der Dinge völlig unbegründet: es ist nur die Folge von Meinungen ü b e r die Dinge.] Nach Epiktet: Encheiridion V 1 sind es nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern nur unsere Meinungen über die Dinge. Schopenhauer 1873–1874, 2, 105 u. ebd., 5, 344 zitiert es griechisch und lateinisch. Auch den Kommentar von Simplikios zu diesem Satz des Epiktet nimmt N. ausweichlich seiner Lesespuren zur Kenntnis (Simplikios 1867, 39–41). Vgl. NK ÜK MA I 508. 136, 15 unvermeidlich-Natürliche] In Mp XIV 1, 102, im Druckmanuskript D 11, 80 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,80) sowie in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stattdessen: „Unvermeidlich-Natürliche“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/159). 136, 17 Religion und jener Metaphysiker] In Mp XIV 1, 102 stattdessen: „Religionen und Metaphysiken“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,102). 136, 28 Urkunden des Christenthums] In Mp XIV 1, 102 stattdessen: „Bergpredigt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,102). Vgl. NK 131, 23. 137, 6 erregt, belebt, beseelt werden] In Mp XIV 1, 239 sind „erregt, belebt, beseelt“ unterstrichen; auf das „werden“ folgen chaotisch anmutende Durchstreichungen. Eingefügt werden sollte aber offenbar: „(Das Christenthum ist das Erzeugniss einer überreifen Culturperiode: als solches wirkte es auf frische barbarische Völkerschaften wie Gift u. Fäulniss) während der antike Geist eine bestimmte Gattung von Emotion ˹die der Freude in allen Stufen˺ wollte, suchte der christliche Geist die Emotion an sich, ja des Schmerzes (˹aus welcher so˺ nebenbei ˹u. gelegentlich˺ sich das Verlangen nach der ausschweifenden Lustempfindung tiefer erwuchs)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,239).
442
Menschliches, Allzumenschliches I
137, 15 wurde] KGW u. KSA emendieren nach Mp XIV 1, 240 und dem Druckmanuskript D 11, 82 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,82) zu „wurde“. In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/160/) und in der Erstausgabe steht hingegen: „werde“ (Nietzsche 1878, 128). 137, 18 f. Bedeutung des kurzen Erdenlebens] In Mp XIV 1, 240 unterstrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,240). 137, 19 Entscheidung] In Mp XIV 1, 240 stattdessen: „Entscheidungen“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,240). 137, 25 erbebt] In Mp XIV 1, 240 stattdessen: „bebt“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/Mp-XIV-1,240). 137, 25 f. w e l c h e d a s A l t e r t h u m e r f a n d] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „welche das Alterthum erfand“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/160/). In Mp XIV 1, 240 und in D 11, 82 ist nur die vorangehende „Lust“ unterstrichen. 137, 27 Thier- und Menschenkämpfen] In Mp XIV 1, 240 stattdessen: „Thierhetzen u. Menschenkämpfen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,240).
142. MA I 142 hat zusammenfassenden Charakter: Der Heilige habe allseits bekannte, aber meist geringgeschätzte seelische Anwandlungen, die er durch extreme Steigerung quasi veredle. Seine „Herrschsucht“ (138, 7) könne dann ebenso extrem gesteigert sein wie seine „Wollust“ (138, 26 u. ö.), die er gleichzeitig verachte. Auch zur drastischen Steigerung seiner Lust an der „Grausamkeit“ (138, 18) oder seiner Empfindungslosigkeit sei er fähig. Zu MA I 142 gibt es in Mp XIV 1, 236 eine ‚Reinschrift‘ unter der Überschrift „Schluss. 8 [?]“. Sie weist Überarbeitungsspuren und Korrekturen auf und verzichtet auf das Novalis-Zitat, mit dem die Druckversion abschließt (138, 28–33). Stattdessen heißt es, teilweise den späteren Drucktext von MA I 143 vorwegnehmend: „Seine [sc. des Heiligen] Kunstfertigkeit ist, aus inneren Zuständen eine Reihenfolge von inneren Zuständen ˹sich aus˺ zu spinnen, welche ˹jeder˺ alle anderen Menschen ebenfalls ˹kennt und˺ erlebent, aber ˹dieser˺ unter der Zufälligkeit äußerer Einwirkungen: jener aus lauter inneren Motiven, aus einer Zusammenkoppelung von schlechtem Wissen, guten Absichten u. verdorbener Gesundheit. – Diese Einsicht soll uns nicht verhindern einzugestehen, daß der Asket u der Heilige, in Hinsicht auf ihr Resultat, nicht auf ihre Elemente, zu den herrlichsten ˹u fruchtbarsten Kräften˺ Erscheinungen der Menschheit gehören – innerhalb bestimmter
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 141–142, KSA 2, S. 137–138
443
Zeiträume, in welchen der religiöse Wahnsinn an Stelle jedes Wahr-sinns getreten ist“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,236). Vgl. z. B. Lecky 1873, 1, 49 (N.s Unterstreichung): „Der Wahnsinn ist, seiner Natur nach, während grosser religiösen und politischen Umwälzungen häufig“ (dazu NK KSA 5, 376, 19–24). Für Simonin 2022, 67–82 bietet MA I 142 einen Einsatzpunkt seiner auch philologisch genauen Analyse, wie Askese und Heiligkeit im Dritten Hauptstück mit dem Thema des Machtgefühls verschränkt sind. 138, 7 f. Gefühl der Macht] Vgl. NK 101, 26–102, 4, ferner NL 1876/77, KSA 8, 23[63], 425. 138, 15 Indolenz] Vgl. NK 134, 5. 138, 24 zuletzt:] KGW u. KSA folgen hier Mp XIV 1, 236; im Druckmanuskript D 11, 83 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,83) sowie in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 129) fehlt der Doppelpunkt. 138, 28–33 Novalis, eine der Autoritäten in Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct, spricht das ganze Geheimniss einmal mit naiver Freude aus: „Es ist wunderbar genug, dass nicht längst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat.“] Dieser Passus wurde im Druckmanuskript D 11, 83 nachträglich von Köselitz’ Hand eingefügt (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/D-11,83). Auch wenn N. in einem autobiographischen Zeugnis aus den Sommerferien 1859 von einem Aufenthalt bei Verwandten berichtet: „Den Nachmittag laß ich gewöhnlich in des Onkels Bibliothek; ich fand da Novalis (dessen pfilosopfische [sic] Gedanken mich interessirten)“ und allerlei mehr (NL 1859, KGW I 2, 6[77], 130, 16–18), ist ansonsten sein Interesse an Novalis (und den anderen Frühromantikern) sehr beschränkt: Es lässt sich kein einziges Buch von Novalis in seinem persönlichen Besitz oder unter seinen Basler Bibliotheksausleihen nachweisen; außer in MA I 142 erwähnt er ihn nur noch (in seiner Oppositionsstellung zu Goethe) an zwei Stellen im Nachlass von 1888. Nach Novalis 1928, 3, 294 (18. Junius 1799, Nr. 96) lautet der Wortlaut des in 138, 30–33 zitierten Fragments: „Es ist sonderbar, dass nicht längst die Assoziation von Wollust, Religion und Grausamkeit die Leute aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und ihre gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat.“ Die im 19. Jahrhundert gängigen Novalis-Ausgaben von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck lesen statt „sonderbar“ vielmehr wie in MA I 142 „wunderbar“ (z. B. Novalis 1815, 2, 250 f.). Die Assoziation von Grausamkeit und Wollust – allerdings ohne expliziten Bezug auf Religion – ist auch in Rées Ursprung der moralischen Empfindungen ein wichtiges Thema: „Diese Grausamkeit beruht zum Theil auch auf dem Geltendmachen seiner Superiorität ([…]); zum Theil beruht sie auf der, abgestumpften Nerven zusagenden Nervenemotion des Grausamen. Einer solchen Emotion wegen wird ja auch die
444
Menschliches, Allzumenschliches I
Nervenemotion, welche man Wollust nennt, zuweilen mit Grausamkeit verbunden.“ (Rée 1877, 107 = Rée 2004, 190) Hubert Treiber verweist in seinem Kommentar zu dieser Stelle (Rée 2004, 499 f.) als Quelle auf Carneri 1871, 154 [fälschlich 124], wo es heißt: „Eben weil die W o l l u s t eine Art Z o r n ist, liegt G r a u s a m k e i t in ihr, und ist umgekehrt mit der G r a u s a m k e i t W o l l u s t verbunden. Der geistvolle Hardenberg (Novalis) sagt: ‚Es ist sonderbar, daß der eigentliche Grund der G r a u s a m k e i t Wo l l u s t ist; es ist wunderbar genug, daß nicht längst die Association von W o l l u s t , R e l i g i o n und G r a u s a m k e i t die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und ihre gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat.‘“ Obgleich es keinen Beleg für eine Carneri-Lektüre N.s gibt (vgl. aber NK 84, 5 f.), liegt einerseits die Vermutung doch nahe, dass N. im Austausch mit Rée auf das Novalis-Zitat gestoßen ist und dass er es nicht, wie Vietta 2023, 262 meint, in der Schlegel-Tieck-Ausgabe gefunden hat. Andererseits ist eine weitere Filiation vielleicht noch wahrscheinlicher: Am 09. 01. 1888 erinnert Köselitz N. daran, dass er N. bereits in Basel mit Georg Brandes in Berührung gebrachte habe: „Seine Geschichte der geistigen Strömungen im 19. Jahrhundert (oder wie der Titel sonst lautet) habe ich die Ehre gehabt, Ihnen in Basel vorzulesen.“ (KGB III 6, Nr. 511, S. 142, Z. 15–19; vgl. KGB III 7/3.2, 664) Gemeint sind Brandes’ Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, wo es im Romantik-Band heißt: „Diesem wollüstigen Krankheitsgefühl bei Novalis entspricht im Pietismus das Sündenbewußtsein, die geistige Krankheit, die zugleich eine Wollust ist. Von diesem Zusammenhange hat Novalis das klarste Bewußtsein. Er sagt: ‚Die christliche Religion ist die eigentliche Religion der Wollust. Die Sünde ist der größte Reiz für die Liebe der Gottheit; je sündiger der Mensch sich fühlt, desto christlicher ist er. Unbedingte Vereinigung mit der Gottheit ist der Zweck der Sünde und der Liebe.‘ Und an einer anderen Stelle: ‚Es ist wunderbar genug, daß nicht längst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat.‘ / Und wie Novalis die Krankheit der Gesundheit vorzieht, so zieht er bei Weitem die Nacht dem Tage mit seinem ‚frechen Lichte‘ vor.“ (Brandes 1873, 2, 234) MA I 142 gibt das Zitat in derselben verkürzten Version wieder wie Brandes und nicht in der längeren Version von Carneri (vgl. zur möglichen frühen Brandes-Lektüre auch NK 314, 15 f.). Motivisch nimmt N. die von Novalis insinuierte Verbindung von „Wollust, Religion und Grausamkeit“ z. B. in AC 21 wieder auf, siehe NK KSA 6, 188, 16–18.
143. MA I 143 unterstreicht die welthistorische Bedeutung des Heiligen, an dem nichts Wunderbares ist, sondern bloß die wunderliche Übersteigerung des emotional
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 142–143, KSA 2, S. 138–139
445
unter Menschen Üblichen. Man habe das in einer kulturellen, eschatologisch erregten Spätzeit nur völlig falsch interpretiert. Dabei steht nicht die Frage im Vordergrund, was der Heilige sei, sondern was er sozial bedeute – wie er im sozialen Gefüge interpretiert werde (noch GM III wird nicht fragen, was asketische Ideale sind, sondern, was sie bedeuten). Abgesehen von der in NK ÜK MA I 142 mitgeteilten, verworfenen Passage aus Mp XIV 1, 236 gibt es zu MA I 143 in Mp XIV 1, 237 eine ‚Reinschrift‘ mit Überarbeitungsspuren und Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,237). Zur Interpretation von MA I 143 siehe z. B. Stegmaier 2020a, 70–72. 139, 2 Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das] In Mp XIV 1, 237 stattdessen: „Nicht das, was der Heilige ist, sondern das“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,237). 139, 5 falsch auslegte] In Mp XIV 1, 237 stattdessen: „falsch dar auslegte“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,237). 139, 7 fremdartig-Uebermenschliches] In Mp XIV 1, 237 stattdessen: „FremdartigÜbermenschliches“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,237). 139, 11–13 nach einer Kunst der Interpretation, welche ebenso überspannt und künstlich war, wie die pneumatische Interpretation der Bibel] Vgl. NK 28, 27–30. 139, 26 noch genug] In Mp XIV 1, 237 stattdessen: „noch“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,237). 139, 25–27 dass selbst in unserer Zeit, die nicht mehr an Gott glaubt, es noch genug Denker giebt, welche an den Heiligen glauben] Vgl. – neben Schopenhauer – z. B. Mainländer 1876, 197 f.: „Es erhellt endlich aus dem Bisherigen, daß ein echter Christ, dessen Wille sich durch und durch an der Lehre des milden Heilands entzündet hat – also ein Heiliger – der denkbar g l ü c k l i c h s t e Mensch ist; denn sein Wille ist einem klaren Wasserspiegel zu vergleichen, der so tief liegt, daß ihn der stärkste Sturm nicht kräuseln kann. Er hat den vollen und ganzen inneren Frieden, den Nichts mehr auf dieser Welt, und wäre es das, was die Menschen als das größte Unglück ansehen, beunruhigen und trüben kann. […] der flüchtige Zustand der tiefsten aesthetischen Contemplation ist beim Heiligen p e r m a n e n t geworden, er dauert immer fort, weil Nichts in der Welt im Stande ist, den i n n e r s t e n K e r n des Individuums zu b e w e g e n. Und wie bei der aesthetischen Contemplation das Subjekt sowohl, als das Objekt, aus der Zeit herausgehoben sind, so lebt auch der Heilige zeitlos, /198/ ihm ist unbeschreiblich wohl in dieser scheinbaren Ruhe, dieser dauernden inneren Unbeweglichkeit, ob sich gleich noch der äußere Mensch bewegen, empfinden und leiden muß.“
446
Menschliches, Allzumenschliches I
144. Von den bisher behandelten ‚gewöhnlichen‘ Heiligen macht MA I 144 Ausnahmen geltend, namentlich Jesus von Nazareth, der zum gleichen Resultat gekommen sei wie später dann die Wissenschaft, nämlich zum „Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit“ (140, 10 f.). Und auch die indischen Heiligen seien kein reiner Typus, da sie der Logik und zeitgenössischen Wissenschaft zugewandt blieben. Wiederum liegt der Akzent auf dem strengen Determinismus, der sich als wissenschaftliche Entlastungslehre zu empfehlen scheint (bedarf man doch noch der Entlastung, wenn man schon die Erlösung nicht mehr braucht?). Zu MA I 144 gibt es in Mp XIV 1, 373 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, oben links mit einem Notennotat (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,373). Die Hochschätzung des Buddhismus (vgl. 140, 12–22) und die Auskoppelung Jesu aus dem christlichen Verblendungszusammenhang – obwohl dieser immerhin noch als „Stifter des Christenthums“ (140, 6) firmiert – kehren wieder im Antichrist, zunächst im Vergleich von Christentum und Buddhismus als Dekadenzreligionen, bei dem letzterer, als wissenschaftlich, kalt und auf Leidensvermeidung gepolt verstanden, sehr gut abschneidet (AC 20–23, KSA 6, 186–191), sodann in der „P s y c h o l o g i e d e s E r l ö s e r s“ (AC 28, KSA 6, 198, 32). Dort ist Jesus ebenfalls eine wahnhaft-kranke, aber zugleich hochanziehende Gestalt, die dennoch der Verfügungsmacht der sich auf ihn berufenden Kirche entzogen wird. Zur Interpretation von MA I 144 siehe auch Brusotti 1997, 12. 140, 5–12 wie es zum Beispiel mit dem berühmten Stifter des Christenthums der Fall ist, der sich für den eingeborenen Sohn Gottes hielt und desshalb sich sündlos fühlte; so dass er durch eine Einbildung – die man nicht zu hart beurtheilen möge, weil das ganze Alterthum von Göttersöhnen wimmelt – das selbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft Jedermann sich erwerben kann.] In Mp XIV 1, 373 steht nach „fühlte“ (140, 8) gestrichen: „weil sein Vater es war“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,373). Explizit unter dem Stichwort „Sündlosigkeit“, aber bezogen auf den Menschen im Allgemeinen, nicht auf Jesus Christus, spricht das Thema der Unverantwortlichkeit auch MA I 124, KSA 2, 121, 10 im Titel an. Das Thema der Sündlosigkeit Jesu wird in der Theologie des 19. Jahrhunderts im Banne Schleiermachers (vgl. Ullmann 1863, 5, Fn.) intensiv diskutiert – und N. steht das spätestens seit Studienzeiten auch unmittelbar vor Augen: Wie seinem Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 24./25. 10. 1864 zu entnehmen ist, hatte er damals von einem Prediger ein populäres Buch zum Thema geschenkt bekommen und für „interessant[.]“ befunden (KSB 2/KGB I 2, Nr. 449, S. 15, Z. 64 f. u. S. 16, Z. 68), nämlich das 1828 erstmals erschienene Werk Über die Sündlosigkeit Jesu des Vermittlungstheologen Carl Ullmann (1796–1865). Ullmann freilich schreibt
Stellenkommentar MA I Drittes Hauptstück 144, KSA 2, S. 140
447
Jesus nicht bloß ein „Gefühl“ zu – so wichtig ihm „Gefühl“ (in der Nachfolge Schleiermachers) auch ist (vgl. z. B. Ullmann 1863, 152 f. u. 169) – sondern Sündlosigkeit „als eine für sich selbst erst zu begründende T h a t s a c h e, aus welcher dann aber in Beziehung auf Person und Werk Christi, ja in Beziehung auf das Ganze des christlichen /6/ Glaubens höchst wichtige und tiefgreifende Schlüsse zu ziehen sind. Daß aber gerade hiefür die sündlose Volkommenheit Jesu, insbesondere zu unserer Zeit, von der größten Bedeutung ist, kann leicht schon im voraus in einigen allgemeinern Zügen anschaulich gemacht werden, wenn wir uns den eigentlichen Zweck der Apologetik noch näher vor Augen stellen.“ (Ebd., 5 f.) MA I 144 münzt diesen theologischen Diskurs säkular um und verallgemeinert das Sündlosigkeitsbewusstsein für alle Menschen. Dass dies einem theologischen Rezensenten wie Alfred Altherr missfallen musste, erstaunt nicht: „Was dann schließlich die Ansicht des Verfassers betrifft, Christus habe darin Recht, daß er sich für sündlos gehalten, weil in der That durch die /132/ Wissenschaft Jeder zur Erkenntniß kommen könne, d a ß e s k e i n e S ü n d e g e b e, sondern jede Handlung unbedingt nothwendig sei – so müssen wir durchaus bestreiten, daß dieser Naturalismus sich auf Christum als seinen Propheten zu berufen das Recht habe. Wir finden in den Worten Christi mit der äußersten Milde gegen die Sünder den tiefsten Abscheu vor der Sünde innig verbunden. Er entläßt freilich die Ehebrecherin im Frieden, weil sie Buße gethan hat, aber nicht ohne die Mahnung: Sündige hinfort nicht mehr! Wir versagen es uns, obwohl es nahe genug läge, auf die Folgen der proklamirten Sündlosigkeit hinzuweisen.“ (A. [= Altherr] 1879, 131 f.) 140, 16 f. soweit es eine solche gab] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „soweit es eine solche giebt“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/163). 140, 17–20 die Erhebung über die anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens wurde bei den Buddhaisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso gefordert] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 „wurde“ (140, 18) von N. korrigiert aus: „wird“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1648750028/163). Dass das logische Denken in der buddhistischen Selbsterlösungspraxis eine wichtige Rolle spielt, betonte die zeitgenössische Forschung wiederholt, so z. B. Max Müller: „Dieser Weg zum Nirvâna besteht aus acht Dingen – rechtem Glauben (Orthodoxie), rechtem Urtheil (Logik), /218/ rechter Sprache (Wahrheitsliebe), rechter Absicht (Ehrlichkeit), rechter Ausübung (frommem Leben), rechtem Gehorsam (gesetzmässigem Leben), rechtem Gedächtniss und rechter Meditation.“ (Max Müller 1869, 1, 218 f.)
448
Menschliches, Allzumenschliches I
Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller. Der Titel des Vierten Hauptstücks besagt nicht – auch wenn er das erwarten lassen könnte –, dass hier nun Herzensergießungen einer Künstlerseele zu lesen sein werden. Nicht aus der Innenperspektive des Künstlers wird gesprochen, sondern es werden sehr ernüchternde Analysen der Seelenzustände von „Künstlern“ und „Schriftstellern“ geboten (zwischen beiden Gruppen wird übrigens auch im Text differenziert: MA I 148 spricht vom Dichter und scheint ihn vom Künstler in MA I 146 und 147 zu unterscheiden). Die vorherrschende Tendenz ist eine Depotenzierung der Kunst, die freie Geister offenbar ebensowenig mehr brauchen wie die Religion (vgl. Heller 1972b, 67–107). Fillon 2017 macht seine Rekonstruktion von N.s Überlegungen zum Stil namentlich am Vierten Hauptstück fest.
145. Der erste Abschnitt des mit Künstler und Kunstproduktion beschäftigten Hauptstücks zielt auf eine „Illusion“ (141, 24), nämlich die, dass etwas, was vollkommen scheint, in der Wahrnehmung von seiner kontingenten Entstehung abgekoppelt gesehen werde. Diese offenbar in der Gegenwart des sprechenden „Wir“ (141, 6) bei der Wahrnehmung von Kunstwerken vorherrschende Gewohnheit scheint in archaischen Vorstellungen zu gründen, als man Göttern die urplötzliche Erschaffung von eigentlich menschlichen Gebilden wie Tempeln zuschrieb. Der Künstler wiederum hat es nach MA I 145 gerade darauf abgesehen, diese von ihm durchschaute Illusion vom Nicht-geworden-Sein des vollkommen anmutenden Kunstwerks aufrecht zu erhalten und weiter zu nähren – sich selbst damit also den Anschein eines Originalgenies im Stile der Sturm- und Drang-Ästhetik zu geben –, indem er alle Spuren der faktischen Entstehung tilgt und es wie vollkommen, aus Vollkommenheit geboren erscheinen lässt. Dagegen ruft das Ende von MA I 145 die Kunstwissenschaft auf, deren Aufgabe es sei, diese Illusion zu zerstören, und damit den Pakt zwischen dem gleichfalls um die Illusion wissenden Künstler und seinen lieber unwissenden Rezipienten. „Die Wissenschaft der Kunst“ (141, 23 f.), also die ästhetische Theorie, wird damit in radikale Opposition zur Kunstproduktion und Kunstrezeption gebracht – ähnlich wie im Dritten Hauptstück die Wissenschaft zur Religion. Zu MA I 145 gibt es in Mp XIV 1, 191 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren, als These formulierten Titel (der aber den Bezug auf die Kunst verschweigt – 141, 5), markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,191). Vorbereitet wird die Überlegung in NL 1877, KSA 8, 22[36], 385, 16–20: „Alle
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 145, KSA 2, S. 140–141
449
Kunst weist den Gedanken an Werden ab. Alle will I m p r o v i s a t i o n scheinen, augenblickliches Wunder (Tempel als Götterwerk, Statue als Verzauberung einer Seele in Stein). So alle Musik. In gewisser Musik wird dieser beabsichtigte Effect durch Kunstmittel (Unordnung) nahe gelegt.“ Auch NL 1876/77, KSA 8, 23[84], 433 gehört in den thematischen Horizont – dort wird die „Improvisation“ explizit an der Musik und an Beethoven exemplifiziert. Zu MA I 145 siehe auch Vivarelli 1994b, 290, Schlesier 2004 u. Lebeau-Henry 2022, zur Musik in MA I auch Burnett 2010. 141, 6 f. Wir sind gewöhnt, bei allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen] Denn Geworden-Sein und Vollkommenheit scheinen sich begrifflich auszuschließen, was schon Mephisto wusste: „denn alles was entsteht / Ist werth daß es zu Grunde geht“ (Goethe: Faust I, V. 1339 f.). Aufgabe „historischen Philosophirens“ nach MA I 1 und 2 ist es gerade, das Geworden-Sein des scheinbar Zeitlosen und Zeitenthobenen aufzudecken. Das gilt auch für die Kunstwissenschaft, siehe NK 141, 23–27. 141, 10–14 Es ist uns b e i n a h e noch so zu Muthe (zum Beispiel in einem griechischen Tempel wie der von Pästum), als ob eines Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe] Buddensieg 2002, 20 bezweifelt, dass N. tatsächlich von Sorrent aus eine Reise nach Paestum angetreten hat: „Es bleiben aber gelinde Zweifel, ob ihm nur die Lektüre des Cicerone die Tempel in Pästum bekannt machte, mit denen Burckhardt seine ‚Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens‘ machtvoll beginnt.“ (Ebd.) Dort heißt es: „Welchem Gebäude des italischen Festlandes hier die erste Stelle gebührt, darüber wird wohl kein Zweifel herrschen.“ (Burckhardt 1869a, 1, 1) „Von den drei erhaltenen Tempeln der alten Poseidonia [= Paestum] sucht das Auge sehnsüchtig den g r ö s s t e n, mittlern. Es ist Poseidon’s Heiligthum; durch die offenen Trümmerhallen schimmert von fern das blaue Meer. / Ein Unterbau von drei Stufen hebt das Haus des Gottes über die Fläche empor. Es sind Stufen für mehr als menschliche Schritte. […] Diese Halle ist, abgesehen von ihren besonderen Zwecken, nichts als ein idealer, lebendig gewordener Ausdruck der Mauer selbst. In wunderbarer Ausgleichung wirken strebende Kräfte und getragene Lasten zu einem organischen Ganzen zusammen. / Was das Auge hier und an anderen griechischen Bauten erblickt, sind eben keine blossen Steine, sondern lebende Wesen.“ (Ebd., 2) Burckhardt ergeht sich dann in einer langen Beschreibung, bevor er schließt: „Nur in dürftigen Andeutungen haben wir das, was die Seele dieses wunderbaren Baues ausmacht, bezeichnen können. Obwohl eines von den besterhaltenen Denkmälern seiner Art, verlangt er doch ein beständiges geistiges Restauriren und Nachfühlen dessen was fehlt und dessen, was nur für die aufmerksamste Pietät noch sichtbar ist. […] Unsere Vorstellung vom Kunstvermögen der Griechen stei-
450
Menschliches, Allzumenschliches I
gert er aber schon in seinem jetzigen Zustande auf das höchste.“ (Ebd., 5) Auch Heinrich Wölfflin greift nach Buddensieg 2002, 55 im Jahr 1886 „Burckhardts und Nietzsches Sätze über ‚die Seele der Tempel in Paestum‘“ auf. Ohne den Namen der Stadt zu nennen, kommt N. auf Paestum oder Poseidonia noch einmal in MA I 223 zurück, siehe NK 186, 12–19. 141, 14 f. anderemale als ob eine Seele urplötzlich in einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn reden wolle] Abgesehen vom naheliegenden BurckhardtBezug, wo die bloßen Steine lebenden Wesen gegenübergestellt werden (Burckhardt 1869a, 1, 2, zitiert in NK 141, 10–14), verweist 141, 14 f. einerseits auf die Vorstellungswelt des „Animismus“ (Tylor, vgl. NK ÜK MA I 5), die von der Beseeltheit aller Dinge ausgehe: Auf Tahiti, so konnte N. bei Lubbock 1875, 28 erfahren, glaubte man, dass „selbst die Steine eine Seele besitzen“ (vgl. ebd., 238 u. zu den Steinkulten ausführlich 253–268). Andererseits ist die Idee, dass der Künstler einem von ihm bearbeiteten Stein Leben, eine Seele einhaucht (wie es einst auch Pygmalion getan haben soll), etwa auch in dem von N. (angeblich) mündlich zitierten Gedicht L’Art von Théophile Gautier präsent (vgl. NK 58, 15): „Sculpte, lime, cisèle; / Que ton rêve flottant / Se scelle / Dans le bloc résistant!“ (Gautier 1863, 143) 141, 17 Improvisation] Petri 1861, 399 führt das Abstraktum nicht an, aber doch den „Improvisator“ als „Stegreifdichter, Stegreifsänger“ und das Verb „improvisiren“ als „aus dem Stegreife, nicht vorbereitet (ex improviso) sprechen, dichten, singen“. „Improvisation (franz.), im allgemeinen die Kunst, etwas ohne alle Vorbereitung aus dem Stegreif zu verrichten. Doch bezieht man die I. bloß auf die ästhetische Kunst und zwar erst in der neuern Zeit in ausgedehnterm Umfang.“ (Meyer 1885–1892, 8, 908 f.) In MA I 155 wird die Improvisation abgewertet im Vergleich „zum ernst und mühevoll erlesenen Kunstgedanken“ (146, 32–147, 1). 141, 23–27 Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellects aufzuzeigen, vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft.] Die Kunstwissenschaft soll also nicht nur das Geworden-Sein scheinbar vollkommener Kunstwerke aufdecken, sondern auch der Suggestion der Plötzlichkeit ihrer Entstehung, der Suggestion ihrer Epiphanie widersprechen. Es handelt sich damit um eine historisch kontextualisierende Wissenschaft, die den Konsens von Künstlern und Rezipienten aufkündigt – den Konsens, Illusionen zu produzieren und sich Illusionen gerne hinzugeben. Wie in den vorangegangenen Hauptstücken von MA I wird „Wissenschaft“ auch hier als Gegenrednerin, als Widerpart landläufiger Üblichkeiten und Überzeugungen verstanden: Kunstwissenschaft erscheint als eine Desillusionierungstechnik, ähnlich der Religionswissenschaft im Dritten Hauptstück, die wesentlich Religionskritik ist. Macht kritische Kunstwissenschaft
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 145–146, KSA 2, S. 141–142
451
Kunst überflüssig – so wie kritische Religionswissenschaft in N.s Verständnis Religion überflüssig macht? Der Künstler wiederum erscheint nicht besser als im Dritten Hauptstück der Priester: Auf Illusionsbildung bedacht, fragt er nur, wie er sein Produkt am besten an den Adressaten bringt und maximalen Effekt erzielt. Will der Künstler nur wirken (vgl. 141, 16) oder hat er auch noch etwas hervorgebracht, ein wirkliches Kunstwerk, um dessen Vermarktung es dann noch geht und das mit dem Schleier der Plötzlichkeit umkleidet wird?
146. Im Anschluss an MA I 145 wird dem Künstler in MA I 146 abgesprochen, dass er im Blick auf „das Erkennen der Wahrheiten“ (142, 3) von derselben Redlichkeit beseelt sei wie der „Denker“ (142, 4). Stattdessen habe er es auf Wirkung abgesehen und wolle daher nicht Abstand nehmen von Mythos, Phantastik und Genieglauben. Mit der möglichen Unscheinbarkeit des Wahren könne er sich nicht anfreunden. Die Frage wird nicht gestellt, weshalb der Künstler überhaupt an der Erkenntnis oder der Wahrheit interessiert sein sollte – ist das denn der Code, nach dem der Kunstbetrieb funktioniert? Zu MA I 146 gibt es in Mp XIV 1, 142 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert: „Kunst“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,142). Zum Thema der Redlichkeit siehe z. B. Zaborowski 2010 u. Knoll 2012. 142, 3 Künstler] In Mp XIV 1, 142 unterstrichen (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,142). 142, 4 schwächere Moralität] In Mp XIV 1, 142 unterstrichen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,142). 142, 12 f. er hält also die Fortdauer seiner Art des Schaffens für wichtiger] In Mp XIV 1, 142 korrigiert aus: „er schätzt die Fortexistenz seines Schaffens als wichtiger“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,142). 142, 14 Hingebung an das Wahre in jeder Gestalt] Die pathetisch, mitunter religiös konnotierte Rede von der „Hingebung“ findet sich, ebenfalls deren Mangel konstatierend, beispielsweise in Rées Analyse des Eitlen: „Der Mensch ist, in sofern er eitel ist, unsachlich: er interessirt sich für die Gegenstände der Natur, der Kunst, der Philosophie und der Wissenschaft nicht ihrer selbst wegen, sondern weil er durch die Kenntniss von ihnen gefallen und Bewunderung erlangen will. Dieser Mangel an Hingebung macht, dass er sie weder gründlich kennen lernt, noch zu dem intellectuellen Genuss kommt, welchen die rein sachliche Beschäftigung mit solchen Gegenständen gewährt.“ (Rée 1877, 88 = Rée 2004, 179)
452
Menschliches, Allzumenschliches I
147. MA I 147 stellt „[ d ] i e K u n s t“ (142, 17) als eine Macht dar, der es zumindest „nebenbei“ (142, 18) darum zu tun ist, das Vergangene zu bewahren, wiedererstehen zu lassen und damit „alte Empfindungen“ (142, 24 f.) wachzurufen, worin „man“ immerhin einen „allgemeinen Nutzen[.] der Kunst“ (142, 26 f.) anerkennt. Freilich besteht dieser Nutzen offensichtlich nur in einer gelegentlichen Verkindlichung der Menschen zum Zwecke der Abspannung, so dass der Künstler eben „nicht in den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden V e r m ä n n l i c h u n g der Menschheit“ (142, 28 f.) stehe. Geschichte erscheint damit wie in der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts – etwa bei Isaak Iselin, dessen Hauptwerk N. zumindest einst besessen hatte (Sommer 2019b, 39) – als Prozess des Erwachsenwerdens, an dem die Kunst als Kindheitsbeschwörerin wenig Anteil hat. Kunst erscheint also heutzutage nicht als lebensbestimmende Macht, bestenfalls als angenehme Beigabe für Mußestunden. Trotz des „nebenbei“ in 142, 18 wird in MA I 147 keine Aussage darüber gemacht, dass Kunst noch eine andere, wesentliche(re) Aufgabe habe als die der Vergangenheitswiederbelebung. Zu MA I 147 gibt es in Mp XIV 1, 52 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert: „Kunst Moral“. Diese Version weist einige Überarbeitungen auf (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,52). Siehe zur Vermännlichung auch NK KSA 4, 213, 33–214, 2, zur Entmännlichung der Kunst NK KSA 5, 52, 6. 142, 17 D i e K u n s t a l s T o d t e n b e s c h w ö r e r i n.] Eine Totenbeschwörerin kommt bei N. nur hier vor und spielt an auf die biblische Geschichte der Totenbeschwörerin von Endor (ור ין ובת־ ת), die nach 1. Samuel 28 für König Saul den Geist des verstorbenen Propheten Samuel heraufbeschwor. MA I 147 deutet Kunst als nekromantische Praxis. 142, 18 conserviren] In Mp XIV 1, 52 unterstrichen (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,52). 142, 23 f. wie die Wiederkehr geliebter Todten im Traume] Vgl. NK ÜK MA I 5 u. NK 27, 17–19. 142, 24 auf Augenblicke] In Mp XIV 1, 52 stattdessen: „˹für Augenblicke˺“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,52). 142, 29 Ve r m ä n n l i c h u n g] In Mp XIV 1, 52 nachträglich eingefügt und nicht hervorgehoben (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,52). 142, 30–143, 2 er ist zeitlebens ein Kind oder ein Jüngling geblieben und auf dem Standpunct zurückgehalten, auf welchem er von seinem Kunsttriebe überfallen wur-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 147–148, KSA 2, S. 142–143
453
de; Empfindungen der ersten Lebensstufen stehen aber zugestandenermaassen denen früherer Zeitläufte näher, als denen des gegenwärtigen Jahrhunderts.] In Mp XIV 1, 52 stattdessen: „er ist ein Kind geblieben oder ein Jüngling, ˹wie ihn˺ in frühem Lebensalter überfiel ihn sein Kunsttrieb ˹in einem frühen Jugendalter überfiel, dessen Empfindungen˺, u er kann nur Homogenes darstellen zugestandenermaßen denen früherer Zeitläufte näher stehen als denen des gegenwärt. Jahrhu[ndert]s“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,52). Im Druckmanuskript D 11, 88 wird diese Fassung dann noch einmal intensiv korrigiert und die schließliche Druckfassung hergestellt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,88). 143, 2–4 Unwillkürlich wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu verkindlichen; diess ist sein Ruhm und seine Begränztheit.] Fehlt in Mp XIV 1, 52; der Satz wird in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 88 nachträglich hinzugefügt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,88).
148. In MA I 148 werden die Dichter getrennt von den Künstlern angeführt, aber ebenfalls wie die Kunst in MA I 147 mit der Evokation der Vergangenheit in Verbindung gebracht: Sie wollten „das Leben der Menschen erleichtern“ (143, 7) und blendeten daher entweder die „Gegenwart“ (143, 8 f.) aus oder brächten sie mit Hilfe der Vergangenheit zum Strahlen, seien also so oder so positiv und normativ auf das Vergangene bezogen. Die versprochene Erleichterung sei aber nicht heilend, sondern betäubend, sie verhindere gerade, dass die von ihr affizierten Menschen etwas an ihrer Situation änderten. Zu MA I 148 gibt es eine ‚Reinschrift‘ in M I 1, 59 von Köselitz’ Hand, markiert mit blauem „A“, der N. dann die Überschrift „Dichter als Erleichterer des Lebens“ eigenhändig hinzugefügt hat. Sodann hat N. zahlreiche Korrekturen und Überarbeitungen vorgenommen. Die ursprüngliche Textfassung in Köselitz’ Handschrift lautet: „Die Dichter, als Erleichterer des Lebens wenden den Blick entweder von der Gegenwart ab oder lassen die Gegenwart in einem Lichte, das von der Vergangenheit herstrahlt, leuchten. Wegen dieser Richtung sind sie selbst in manchen Hinsichten rückständige und können als Brücken zu ganz fernen Zeiten und Vorstellungen gebraucht werden. Sie sind eigentlich immer und nothwendig Epigonen. Es ist ihren Mitteln zur Erleichterung des Lebens vorzuwerfen, dass sie nur vorläufig beschwichtigen und heilen und sogar die Menschen abhalten, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten, die zur That drängen, aufheben und palliativisch verkleiden.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,59) Eine Vorarbeit bietet
454
Menschliches, Allzumenschliches I
NL 1875, KSA 8, 5[162], 85, 17–23: „Die Dichter sind rückständige Wesen und eine Brücke zu ganz fernen Zeiten, eigentlich immer Epigonen. Sind sie also nöthig? Es ist ihnen vorzuwerfen, was der Religion vorzuwerfen ist, dass sie v o r l ä u f i g e B e r u h i g u n g e n geben und etwas Palliativisches haben. Sie halten die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung zu arbeiten, indem sie selbst die Leidenschaft der Unbefriedigung aufheben und ableiten.“ In NL 1877, KSA 8, 22[26], 384 wird der in MA I 148 artikulierte Gedankengang in eine buchthematische Abfolge gebracht. Die dichterische „Erleichterung des Lebens“ (143, 16) – das Motiv wird in MA I 279, KSA 2, 229 wieder aufgenommen – erweist sich nach MA I 148 als ästhetische Gaukelei; eine tatsächliche „Verbesserung“ der „Zustände“ (143, 19) führt sie nicht herbei. Das klingt fast schon nach sozialistischer Ideologiekritik, zumal mit dem Akzent auf dem Veränderungshandeln. Zu MA I 148 vgl. auch Ponton 2007, 187 u. Meyer-Sickendiek 2015, 275 f. 143, 7 insofern] In M I 1, 59 von N. stattdessen eingefügt: „sofern“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,59) 143, 15 E p i g o n e n] MA I 148 schließt hier an den für das 19. Jahrhundert so charakteristischen Epigonalitätsdiskurs an, in den N. sich im Frühwerk selbst eingeschrieben hat, um seinerseits für eine postepigonale Kulturtransformation zu werben (vgl. UB I DS 2, KSA 1, 169, UB II HL 5, KSA 1, 279 u. UB II HL 6, 1, 295 sowie NK KSA 1, 75, 25–32 u. NK KSA 6, 137, 5 f.). Hier nun aber liegt die Pointe darin, dass die Dichter eben immer und konstitutionell „Epigonen“ seien, keineswegs nur die heutigen, nachklassischen, wie das gewöhnliche Kulturverfallsnarrativ der Zeit es wollte. Meyer-Sickendiek 2001 u. 2015, 276 sieht bei N. zur Zeit von MA I bereits ein positives Verständnis von Epigonalität vorherrschen. 143, 21 palliativisch] Vgl. Petri 1861, 561 zu „Palliativ“: „eig. ein Vermäntelungsoder Einhüllungsmittel; ein Frist- oder Hinhalt(ungs)- oder Linder(ungs)mittel, Palliativ-Cur, f., eine nur gegen die Krankheitszeichen, nicht gegen die Krankheit selbst gerichtete Heilart“.
149. Herrschte bis dahin im Vierten Hauptstück der Eindruck vor, Kunst sei etwas von existenziell eher bedenklichem Wert, ändert MA I 149 den Fokus und spricht, jenseits von Kunst und ihren Produktionsbedingungen, von der „Schönheit“ (143, 24), und zwar erst noch von der edelsten Form. Sie überrumple nicht plötzlich, sondern niste sich langsam ein, bis sie „uns“ (143, 29 u. 144, 1) völlig in Beschlag nehme. Das klingt nun so, als sei diese Schönheit etwas äußerst Einnehmendes,
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 148–149, KSA 2, S. 143
455
für sich Bestehendes. Diese Vermutung konterkariert freilich das Ende des Abschnitts, das die bei der Wahrnehmung dieser Schönheit sich einstellende Glückssehnsucht unbarmherzig als „Irrthum“ (144, 3) zurückweist: Glück und Schönheit gehen also offenbar gerade nicht zusammen. Zu MA I 149 gibt es in Mp XIV 1, 31 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“. In dieser Fassung fehlt die jähe Schlusswendung, derzufolge Schönsein, wonach „wir“ (144, 1) uns sehnten, keineswegs wie fälschlich angenommen mit „Glück“ verbunden sein müsse. Stattdessen heißt es in der ‚Reinschrift‘ statt 144, 1–3: „˹Der Art ist˺ So die Schönheit des Golfs ˹von Neapel˺, im Abendlichte, von Posilipp aus und die Adagios Beethoven’s ˹gesehen˺“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,31). Diesen Passus hat N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 89 gestrichen und durch den Text 144, 1–3 ersetzt. Der Posil(l)ipo ist ein Hügelzug im Südwesten Neapels mit Ausblick auf den Golf und die Bucht von Pozzuoli. Malwida von Meysenbug berichtet vom Ankunftstag N.s, Rées und Brenners in Neapel auf dem Weg nach Sorrent, vom 27. 10. 1876: „Gegen Abend […] lud ich die Herren zu einer Fahrt auf den Posilip ein. Es war einer jener Abende, wie man sie nur dort erlebt, Himmel, Erde und Meer schwammen in einer Glorie von Farbentönen, die man nicht beschreiben kann, die aber die Seele durchdringen mit dem Zauber einer wonnevollen Musik, einer Harmonie, in der sich jeder Misston auflöst und verschwindet. Ich sah, wie Nietzsches Gesicht sich in freudigem, beinahe kind-/47/lichem Staunen aufhellte, wie ihn innige Rührung überkam, und endlich brach er in einen Jubelausruf über den Süden aus, den ich als eine gute Vorbedeutung für seinen Aufenthalt begrüsste“ (Meysenbug 1903, 46 f.). Vgl. auch N.s eigene Äußerungen in NL 1881, KSA 9, 12[177], 606 u. NL 1881, KSA 9, 12[181], 607, ferner NL 1881, KSA 9, 12[142], 600 (dazu auch Figl 2007a, 27 f. u. 38–40). An „Adagios“ gibt es bei Beethoven eine große Auswahl, zu der sich N. ansonsten nicht äußert (nur einmal taucht in einer Liste von Musikstücken in NL 1867/68, KGW I 4, 60[2], 530, 10 das Adagio zur 9. Symphonie auf ); gemeint sein könnten beispielsweise die beiden Adagios, die Richard Wagner in seinem von N. einst hochgeschätzten Beethoven hervorhebt, nämlich aus dem Streichquartett Nr. 14 cis-Moll, op. 131: „Das einleitende längere Adagio, wohl das Schwermüthigste, was je in Tönen ausgesagt worden ist, möchte ich mit dem Erwachen am Morgen des Tages bezeichnen, ‚der in seinem langen Lauf nicht einen Wunsch erfüllen soll, nicht einen!“ (Wagner 1870, 40) Zum fünften und sechsten Satz heißt es dann: „Wir glauben nun den tief aus sich Beglückten den unsäglich erheiterten Blick auf die Außenwelt richten zu sehen (Presto 2/2): da steht sie wieder vor ihm, wie in der Pastoral-Symphonie; Alles wird ihm von seinem inneren Glücke beleuchtet; es ist als lausche er dem /41/ eigenen Tönen der Erscheinungen, die luftig und wiederum derb, im rhythmischen Tanze sich vor ihm bewegen. Er schaut dem Leben zu, und scheint sich (kurzes A d a g i o 3 /
456
Menschliches, Allzumenschliches I
4) zu besinnen, wie er es anfinge, diesem Leben selbst zum Tanze aufzuspielen: ein kurzes, aber trübes Nachsinnen, als versenke er sich in den tiefen Traum seiner Seele.“ (Ebd., 40 f.) 144, 1–3 Wonach sehnen wir uns beim Anblick der Schönheit? Darnach, schön zu sein: wir wähnen, es müsse viel Glück damit verbunden sein. – Aber das ist ein Irrthum.] Der nachträglich eingeschobene Schlusssatz (vgl. NK ÜK MA I 149) ist mit dem Vorangehenden gedanklich eher lose verbunden – nun geht es ums Schön-sein-Wollen, nicht um eine Schönheitserfahrung. Dabei wird eine platonisierende Vorstellung bemüht, wonach derjenige, der das Schöne liebt, selbst schön wird. Dass das Schöne ein Glückversprechen sei, ist eine Sentenz, die N. später von Stendhal explizit aufgreift, vgl. NK KSA 5, 347, 12 f. Die Schlusswendung von MA I 149 beharrt demgegenüber darauf, dass ein solches Versprechen eben nicht eingehalten würde. Dagegen bleibt ausgeblendet, dass ästhetische Schönheitserfahrung positives Gestimmt-Sein, also Glücksempfinden womöglich immer schon impliziert.
150. MA I 150 stellt Reflexionen über den Machtzugewinn der Kunst an, der dort begonnen habe, wo die Religionen ihre Macht verloren hätten, denn die Kunst könne die von der Religion erzeugten „Gefühle und Stimmungen“ (144, 7) – vgl. MA I 130 u. 131, KSA 2, 123–125 – umlenken, nachdem „Aufklärung“ (144, 12) der religiösen Dogmatik den Boden entzogen habe. Die Gefühle blieben bestehen, wanderten neben der Kunst auch ins Politische, selbst in die Wissenschaft ein. Wie in MA I 147, KSA 2, 142 f. wird „Aufklärung“ in MA I 150 als rationalisierende, gefühlseindämmende und religionskritische Macht stark gemacht. Zu MA I 150 gibt es in Mp XIV 1, 216 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert „Kunst u Moral“. Während diese Fassung keine Überarbeitungsspuren zeigt, weist das Druckmanuskript D 11, 89 zahlreiche nachträgliche Korrekturen auf, die den schließlichen Drucktext konstituieren (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,89). Die Version in Mp XIV 1, 216 lautet: „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen, sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle u Stimmungen, nimmt sie in ihr Blut auf u. wird jetzt tiefer seelenvoller, sucht Erhebung, Begeisterung, das Erhabene und Schöne. Der zum Instinkt gewordene Reichthum des Gefühls bricht jetzt wieder aus, will sich bethätigen: aber die wachsende Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert u Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl in die Kunst. In anderen Fällen auch auf das politische Leben, ja selbst auf die Wissenschaft: die höhere düstere Färbung daran beweist es, es ist Weih-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 149–151, KSA 2, S. 144
457
rauchduft daran hängen geblieben, u Kirchenschatten.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,216) Die Druckfassung schwächt das Übergreifen des Gefühls auf Politik und Wissenschaft ab: Da ist dann nur noch von „einzelnen Fällen“ (144, 15 f.) die Rede.
151. Das „M e t r u m“ (144, 22), also das Vers- und Silbenmaß, die rhythmische Gestaltung einer sprachlichen Äußerung, die gemeinhin für Dichtung charakteristisch ist, wird in diesem Abschnitt als Medium der Täuschung verdächtigt, das die Wirklichkeit schönfärbe und die „Unreinheit des Denkens“ (144, 24) verschleiere, dem aber doch auch eine verdeutlichende Funktion zugeschrieben wird. Im letzten Satz holt der Sprecher zu einer Verallgemeinerung aus, wie sie die Anhänger von N.s früherer, in GT dokumentierter Kunstmetaphysik schockieren musste: Die Kunst mache das Leben zwar erträglich, aber nur, indem sie täusche und das Leben mit „unreine[m] Denken[.]“ verunstalte. Zu MA I 151 gibt es eine ‚Reinschrift‘ in M I 1, 52 von Köselitz’ Hand, markiert mit blauem „A“, der N. dann die Überschrift „Wodurch das Metrum verschönert“ eigenhändig hinzugefügt hat. Die Textfassung in Köselitz’ Handschrift lautet: „Ein Hauptmittel für den idealisirenden Dichter ist eine Art von unreinem Denken. Zu diesem verhilft ihm namentlich das Metron. Das Metronum legt Flor über die Realität; es veranlasst einige Künstlichkeit des Geredes [N.s Einfügung:] ˹und Unreinheit des Denkens˺ durch den Schatten, den es auf den Gedanken wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor,. wWie Schatten nöthig ist, um zu verschönern, so ist das ‚Dumpfe‘ nöthig, um zu verdeutlichen.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/M-I-1,52) Der Eingangssatz wurde später gestrichen. MA I 151 ist vorbereitet in NL 1876, KSA 8, 17[1], 296, 9–15, wo es u. a. heißt: „Das M e t r o n legt F l o r ü b e r die Realität; einiges künstlichere Gerede verdeckt etwas und hebt; das ‚Dumpfe‘. Die letzten Mittel, womit die Kunst wirkt, recht naiv nachzuempfinden! Ist sehr selten! Es sind ziemlich alberne Sachen, die dabei herauskommen. Ebenso ist es bei der Religion. / Der große Werth des u n r e i n e n D e n k e n s für die Kunst.“ Siehe auch NL 1876, KSA 8, 17[18], 299 u. NL 1876, KSA 8, 17[79], 309. Zum unreinen Denken vgl. z. B. MA I 33, KSA 2, 52 f., zu MA I 151 auch Djurić 1985, 247, Görner 2006, 22, Ponton 2007, 195 u. Reschke 2020b, 102. 144, 22 M e t r u m] In seiner Lehrveranstaltung zur Griechischen Rhythmik (Wintersemester 1870/71) bestimmte N. μέτρον oder Metrum lapidar wie folgt: „Wichtiger Begriff des μέτρον. Ziemlich so viel wie ‚Vers‘ Eine Gruppe zusammengehöriger πόδες [= Füße]“ (KGW II 3, 116, 5–7). Die lexikalische Definition der Zeit ist etwas ausführlicher: „Metrum (griech., ‚Maß‘), in der Dichtkunst das Silben- oder
458
Menschliches, Allzumenschliches I
Versmaß, welches aus einer rhythmischen Aufeinanderfolge der Silben besteht und die bestimmte Form der Dichtersprache bildet“ (Meyer 1885–1892, 11, 549). Vgl. allgemein auch Günther 2008b (ohne Bezug auf MA I 151). 144, 22 f. Das Metrum legt Flor über die Realität] Das spielt an auf Goethes Brief an Schiller vom 05. 05. 1798, in dem er über den Fortschritt der Arbeit am noch chaotischen Faust-Manuskript berichtet. In der unter N.s Büchern überlieferten Ausgabe des Briefwechsels ist die fragliche Seite mit einem Eselsohr markiert: „Ein sehr sonderbarer Fall erscheint dabei: Einige tragische Scenen waren in Prosa geschrieben, sie sind durch ihre Natürlichkeit und Stärke im Verhältniß gegen das andere ganz unerträglich. / Ich suche sie deswegen gegenwärtig in Reime zu bringen, da denn die Idee wie durch einen Flor durchscheint, und die unmittelbare Wirkung des ungeheuren Stoffes gedämpft wird.“ (Schiller/Goethe 1870, 2, 81) Goethe also benutzt die Reimform, das Metrum, um die Wucht der Prosa zu dämpfen, ihre realistische Wirkung mittels Form zu bändigen und in Schach zu halten. 144, 27–29 Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch dass sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt.] In M I 1, 52 fehlt dieser Schlusssatz noch; N. fügt ihn in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 89 eigenhändig hinzu (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,89). Die Kunst verfügt nach der in 144, 27–29 gebotenen Deutung nicht, wie Schopenhauer und N. es in GT noch wahrhaben wollten, über einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit. Vielmehr wird sie zur Verschleierungsdisziplin erklärt. Ganz passgenau steht freilich der neue Schlusssatz nicht zum Rest von MA I 151: Der „Flor“ meint in 144, 22 f. noch die Wirkung des „Metrums“, in 144, 29 hingegen das „unreine Denken“.
152. Nach MA I 152 sind es keineswegs nur die „schönen“ (145, 7), das heißt ausgeglichenen Seelen, die künstlerisch produktiv würden, sondern gerade die „hässlichen“ (145, 6), die besonders starke Kunsteffekte, „das Seelenbrechen, Steinebewegen und Thierevermenschlichen“ (145, 8 f.) hervorzubringen vermöchten. Zu MA I 152 gibt es in Mp XIV 1, 214 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“. Dort folgt am Ende nach dem „gelungen“ (im Druck: 145, 10) ein Doppelpunkt und ein dann gestrichenes „sie“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,214). Offensichtlich hätte der Text ursprünglich fortgesetzt werden sollen. NL 1876/77, KSA 8, 23[112], 443, 1–8 bringt im Unterscheidungshorizont der schönen und hässlichen Seele noch das Erhabene mit ins Spiel: „Das Erhabne wirkt als Reizmittel und Pfeffer auf Ermüdete, das Schöne bringt
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 151–153, KSA 2, S. 144–145
459
Beruhigung für die Erregten – das ist ein Hauptunterschied. Der Erregte scheut sich vor dem Erhabnen, der Ermüdete langweilt sich bei dem Schönen. Übrigens ist das Erhabne, wenn es vom Schönen disjungirt wird, identisch mit dem Hässlichen (d. h. allem Nicht-Schönen); und wie es eine Kunst der schönen Seele giebt, so auch eine Kunst der hässlichen Seele.“ 145, 6 eine Kunst der hässlichen Seele] In Mp XIV 1, 214 unterstrichen (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,214). 145, 7 Kunst der schönen Seele] Schon Platon: Symposion 209b bemüht die „schöne Seele“, die mit den „Bekenntnissen einer schönen Seele“ im 6. Buch von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren (Goethe 1853–1858, 17, 94) endgültig populär wird. Bei Schiller 1844, 10, 47 heißt es: „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affect die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen.“ N. bezieht sich oft ironisch auf das Motiv, vgl. z. B. NK KSA 5, 369, 33, NK KSA 6, 157, 2–4 u. NK KSA 6, 221, 9. NL 1877, KSA 8, 22[39], 386, 4 spricht von einer „Musik der schönen Seele“. Vgl. auch NK 311, 26.
153. MA I 153 beschreibt das anhaltende Fortwirken des „metaphysische[n] Bedürfniss[es]“ (145, 13) beim „Freigeiste“ (145, 15), der eigentlich der Metaphysik längst entsagt hat. Und zwar sei es gerade die Kunst, die dieses Bedürfnis wieder aktiviere und so den Aufgeklärten, für „Religion oder Metaphysik“ (145, 26) Verlorenen mit einer unstillbaren Sehnsucht erfülle, die ihn depressiv stimme, weil er sich die Tröstungen von Religion und Metaphysik zurückwünsche. Zu MA I 153 gibt es in Mp XIV 1, 12 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“ und blau rubriziert: „Metaphys. u Moral“. Sie lautet: „Was man an metaphys. Vorstellungen verliert, kann man daraus entnehmen, dass auch beim völligen Freigeiste die höchsten Wirkungen der Kunst leicht eine mitklingende metaphysische Vorstellung erzeugen, sei es zb. dass man in einem Stück der 9 Symphonie sich über der Erde in einem Sternendome schweben fühlt, mit dem Traume der Unsterblichkeit im Herzen: alle Sterne flimmern um uns. – Jeder geistige Gewinn mit Einbussen verknüpft, deshalb lange Entwicklung u. in den naiven Vorstellungen der Religion anfangen! Das lehrt am meisten.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,12) Zum „metaphysischen Bedürfniss“ siehe NK 47, 6–25, zum „Freigeist“ NK ÜK MA I 225.
460
Menschliches, Allzumenschliches I
145, 19–23 sei es zum Beispiel, dass er bei einer Stelle der neunten Symphonie Beethoven’s sich über der Erde in einem Sternendome schweben fühlt, mit dem Traume der U n s t e r b l i c h k e i t im Herzen: alle Sterne scheinen um ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken.] Auf Ludwig van Beethovens 1824 uraufgeführte 9. Sinfonie in d-Moll, op. 125 mit dem berühmten Schlusssatz, der Gesangssolisten und einen Chor Friedrich Schillers Gedicht An die Freude vortragen lässt, kommt N. wiederholt zu sprechen, etwa in Abgrenzung von David Friedrich Strauß in UB I DS 5, vgl. NK KSA 1, 185, 31–33. Schon Schillers Gedichtvorlage bietet eine stellare Bilderflut („… Such ihn überm Sternenzelt, / Über Sternen muß er wohnen …“). Hauptsächlich aber findet N.s Auseinandersetzung mit der Neunten vor dem Hintergrund Richard Wagners statt, der sie in seinem Beethoven ins Zentrum rückte (vgl. z. B. NL 1874, KSA 7, 32[40], 766, 22 f. u. NL 1874, KSA 7, 32[52], 770, 15–18). Heinrich Porges ergeht sich in seiner unter N.s Büchern erhaltenen Broschüre Die Aufführung von Beethoven’s Neunter Symphonie unter Richard Wagner in hymnischer Himmelszeltrhetorik: „Der Spannungsgrad in den wir versetzt werden, erreicht da eine Höhe, daß wir wie in das Weltall hinein verathmen zu müssen glauben. Derselbe Trieb, der sonst in uns gelebt, um in blindem Sinnengenuße oder maßloser Herrschgier uns die Welt zu eigen zu machen, ist jetzt zum höchsten geistigen Streben umgewandelt: es ist als wenn jetzt oder nie unser Ziel mit der Gottheit Eins zu werden, erreicht werden müsse. Bei den dann auf dem Esdur-Dreiklange mit einer wie alle Bande des sinnlichen Daseins sprengenden Heftigkeit ausgerufenen Worten: ‚Ueber Sternen muß er wohnen!‘ war es, als würden wir ‚des Erdenlebens schweres Traumbild‘ nun ganz von uns werfen.“ (Porges 1872, 34) In NL 1875, KSA 8, 11[15], 197, 30–198, 28, einer Vorarbeit zu UB IV WB 9, heißt es dann: „Beispiel an der n e u n t e n Symphonie Beethoven’s: hier giebt der erste Satz den Gesammtton und -Wurf der Leidenschaft und ihres Ganges: das braust immer fort, die Reise durch Wälder Klüfte Ungeheuer: da braust in der Ferne der Wasserfall, da stürzt er in mächtigen Sprüngen hinab, mit einem ungeheuren Rhythmus in seinem Donner. R u h e a u f d e r R e i s e, ist der zweite Satz (S e l b s t b e s i n n u n g der Leidenschaft und S e l b s t g e r i c h t), mit Vision einer e w i g e n Ruhe, welche über alles Wandern und Jagen wehmüthig-selig nieder lächelt. Der dritte Satz ist ein Moment aus der höchsten Flugbahn der Leidenschaft: unter den Sternen ist ihr Lauf, unruhig, kometenhaft, irrlichthaft, gespenstisch-unmenschlich, eine Art von Abirrung, die R a s t l o s i g k e i t, inneres flackerndes Feuer, ermüdend, quälendes Vorwärtsziehen, ohne Hoffen und Lieben: höhnisch derb mitunter, wie ein nie Ruhe findender Geist herumschweift, auf Gräbern. Und nun der vierte Satz: herzzerschmetternder Aufschrei: die Seele trägt ihre Last nicht mehr, sie hält den ruhelosen Taumel nicht aus, sie wirft selbst die Vision ewiger Ruhe von sich, die in ihr auftaucht, sie knirscht, sie leidet schreck-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 153–154, KSA 2, S. 145
461
lich. Da erkennt sie ihren Fluch: ihr A l l e i n sein, ihr Losgelöstsein, selbst die Ewigkeit des Individuums ist ihr nur Fluch. Da hört sie, die einsame Seele, eine Menschenstimme, die zu ihr wie zu allen Einzelnen redet und zwar als zu F r e u n d e n spricht und zur Freude der Vielsamkeit auffordert. Das ist ihr Lied. Und nun stürmt das Lied von d e r L e i d e n s c h a f t f ü r d a s M e n s c h l i c h e ü b e r h a u p t herein, mit seinem eigenen Gange und Fluge: der aber nie s o h o c h gewesen wäre, wenn nicht die Leidenschaft des nächtlich fortstürmenden einzelnen V e r e i n s a m t e n so groß gewesen wäre. Es knüpft sich die M i t l e i d e n s c h a f t an die L e i d e n s c h a f t des Einzelnen an, nicht als Contrast, sondern als Wirkung aus jener Ursache.“ Wagner seinerseits wird nicht müde, den epochalen Umbruch herauszustellen, den Beethovens letzte Sinfonie markiere: „In Wahrheit gleicht dieser unerhörte künstlerische Vorgang dem jähen Erwachen aus dem Traume; wir empfinden aber zugleich die wohlthätige Einwirkung hiervon auf den durch den Traum auf das Aeußerste Geängstigten; denn nie hatte zuvor uns ein Musiker die Qual der Welt so grauenvoll endlos erleben lassen. So war es denn wirklich ein Verzweiflungs-Sprung, mit dem der göttlich naive, nur von seinem Zauber erfüllte Meister in die neue Lichtwelt eintrat, aus deren Boden ihm die lange gesuchte göttlich süße, unschuldsreine Menschenmelodie entgegenblühte.“ (Wagner 1870, 45) Beethoven habe in diesem Werk eine „Fähigkeit“ bewiesen, die der Musik bis dahin verschlossen gewesen zu sein schien, nämlich „weit über das Gebiet des ästhetisch Schönen in die Sphäre des durchaus Erhabenen“ zu treten, „in welcher sie von jeder Beengung durch traditionelle oder konventionelle Formen, vermöge vollster Durchdringung und Belebung dieser Formen mit dem eigensten Geiste der Musik, befreit ist“ (ebd., 46). Über Schillers Vorlage verlieren Porges und Wagner ebensowenig ein Wort wie MA I 153.
154. Dieser Abschnitt präsentiert ein in der Akzentsetzung von N.s Frühwerk abweichendes Bild der alten Griechen: Sie erscheinen zwar noch immer als ein Volk, das Zugang zur tatsächlichen Realität des Lebens hat, aber gerade nicht über das Medium der Kunst – womöglich der Tragödie, von der hier keine Rede ist. Vielmehr gilt der „Verstand“ (146, 4) als Erschließungsmacht der tristen Realität, über die die Dichtung nun seit Homer hinweggespielt habe: Allein „durch die Kunst“ habe „das Elend zum Genusse werden können“ (146, 10 f.). Und die griechische Kultur befand sich nicht – wie in GT – auf der schiefen Ebene hin zu einem wirklichkeitsverstellenden Rationalismus, sondern vielmehr zu ungebremster Fabulierlust, die das „Alltagsleben“ (146, 13) so sehr affiziert habe, dass zwischen Lüge und Wahrheit kaum mehr zu unterscheiden war. Daraus können die Leser
462
Menschliches, Allzumenschliches I
folgern, was MA I 151 schon vorwegnimmt: Die Kunst verschönert die Wirklichkeit, indem sie verschleiert; sie wirkt, indem sie ablenkt. Ihre existenzielle Wirkung erschöpft sich damit im Palliativen (vgl. MA I 148, KSA 2, 143, 21); ihr Mittel und ihr Kern sind der Betrug. Zu MA I 154 gibt es eine ‚Reinschrift‘ in M I 1, 87 von Köselitz’ Hand, markiert mit rotem „A“ und noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ M-I-1,87). Der Text basiert auf zwei zunächst voneinander unabhängigen Aufzeichnungen, zum einen auf NL 1875, KSA 8, 5[121], 72, 4–17: „Die griechischen Götter verlangten keine Sinnesänderung und waren überhaupt nicht so lästig und zudringlich: da war es auch möglich, sie ernst zu nehmen und zu glauben. Zu Homer’s Zeiten war das griechische Wesen übrigens fertig: Leichtfertigkeit der Bilder und der Phantasie ist nöthig, um das übermäßig leidenschaftliche Gemüth etwas zu beschwichtigen und zu befreien. Spricht bei ihnen der Verstand, o wie herbe und grausam erscheint das Leben! Sie täuschen sich nicht. Aber sie umspielen das Leben mit Lügen: Simonides rieth, das Leben wie ein Spiel nehmen: der Ernst war ihnen als Schmerz zu bekannt. Das Elend der Menschen ist den Göttern ein Genuß, wenn ihnen davon gesungen wird. Das wußten die Griechen, daß einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genuße werden könne, vide tragoediam.“ Zum andern auf NL 1875, KSA 8, 5[115], 70, 22–26: „Die Griechen waren von der Lust zu fabuliren gräßlich geplagt. Gar im Alltagsleben war es schwer, sie vom ‚Mythischen‘, vom Schwindeln fernzuhalten: wie alles Poetenvolk eine solche Lust zur Lüge hat, nebst der Unschuld dazu. Die benachbarten Völker fanden das wohl verzweifelt.“ Der Wille zur Lüge um der tröstlichen Selbsttäuschung willen in 5[121] wird mit der ans Pathologische grenzenden Fabulierlust in 5[115] verbunden; die in M I 1, 87 noch nicht sehr feste Umklammerung wird dann in der weiteren Manuskriptbearbeitung noch verstärkt, siehe NK 146, 11 f. Zugleich entfällt der in 5[121] noch präsente, explizite Bezug auf die Tragödie. Mehr als dass das Leiden in der Tragödie künstlerisch zu Genusszwecken umgenutzt werden könne, weiß aber auch 5[121] dazu nicht zu sagen. Zur Erleichterungsfunktion der Kunst (nicht nur) im alten Griechenland vgl. auch NK 48, 21–26. 146, 5 dann] Fehlt in M I 1, 87 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,87) und im Druckmanuskript D 11, 90 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,90). 146, 6 f. Simonides rieth seinen Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen] In M I 1, 87 fehlt „seinen Landsleuten“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MI-1,87), die Wendung wurde von N. nachträglich ins Druckmanuskript D 11, 90 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,90). Das fragliche Zitat des altgriechischen Dichters Simonides von Keos (557/556–468/467 v. Chr.), mit dem N. sich auch als Textphilologe in seiner Schrift Beiträge zur Kritik der griechischen Lyriker. I. Der Danae Klage 1868 auseinandergesetzt hat (KGW II 1, 59–74), bringt
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 154–155, KSA 2, S. 146
463
er auch in seinem wiederholt gehaltenen Kolleg Die griechischen Lyriker an den Mann: „Seine [sc. Simonides’] Lebensklugheit und σωϕροσύνη war berühmt; man sagte von ihm παίζειν ἐν τῷ βίῳ καὶ περὶ μηδὲν ἁπλῶς σπουδάζειν. (‚heiter ist die Kunst, ernst das Leben‘ umgekehrt.)“ (KGW II 2, 150, 23–26) Die Sentenz ist überliefert bei Ailios Theon: Progymnasmata 33 (I 215 Walz): „βλαβερῶς παραινεῖ Σιμωνίδης παίζειν ἐν τῷ βίῳ καὶ περὶ μηδὲν ἁπλῶς σπουδάζειν.“ („Eine schädliche Anweisung gibt Simonides, wenn er sagt, man solle scherzen im Leben und bei nichts nur einfach ernst sein.“ – Übersetzung Oskar Werner) Vgl. auch Enrico Müller 2005, 93, Ponton 2007, 185, 224 u. 243, Huang 2019, 316 u. Reschke 2020b, 101. 146, 8–10 allzubekannt (das Elend der Menschen ist ja das Thema, über welches die Götter so gern singen hören) und sie wussten] In M I 1, 87 stattdessen: „zu bekannt; das Elend der Menschen ist ja das Thema, über welches die Götter so gern singen hören; und die Griechen wussten“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,87). Das Motiv, dass im griechischen Denk- und Fühlhorizont das Leiden der Menschen ein Schauspiel für die Götter sei, spielt N. wiederholt durch, siehe z. B. GM II 7 und dazu NK 5/2, S. 281–293. 146, 11 f. Zur Strafe für diese Einsicht waren sie aber von der Lust, zu fabuliren, so geplagt] In M I 1, 87 stattdessen: „Sie waren von der Lust, zu fabuliren, so geplagt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,87). Die Wendung stammt aus Goethes Zahmen Xenien (VII.): „Vom Vater hab’ ich die Statur, / Des Lebens ernstes Führen, / Von Mütterchen die Frohnatur / Und Lust zu fabuliren.“ (Goethe 1853–1858, 3, 137) 146, 13 von Lug und Trug] In M I 1, 87 von N. korrigiert aus: „vom Schwindeln“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,87). 146, 16 zum Verzweifeln] In M I 1, 87 von N. korrigiert aus: „verzweifelt“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,87).
155. Auch im Umgang mit der künstlerischen „I n s p i r a t i o n“ (146, 18) als einem Lieblingskind des künstlerischen Selbstverständnisses in der Neuzeit bleibt der Sprecher konsequent auf dem Weg der Desillusionierung: Charakteristisch sei für die künstlerische Produktivität nicht eine höhere Eingebung, „wie ein Gnadenschein vom Himmel“ (146, 21 f.), sondern vielmehr die Kraft zur Selektion, aus der Fülle der unterschiedlichsten Ideen, die „die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers“ (146, 23) unentwegt hervorbringe, das Gute auszusondern und zu etwas
464
Menschliches, Allzumenschliches I
Neuem, Bedeutendem zu kombinieren. Inspiration erscheint so ausgenüchtert als Auswahlkompetenz und unausgesetzte Bearbeitungskraft. Zu MA I 155 gibt es in Mp XIV 1, 78 eine ‚Reinschrift‘, bereits mit dem nachträglich von N. hinzugefügten Titel „Glaube an Inspiration“, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert: „Kunst u Moral“. Sie weist einige Überarbeitungen N.s auf und lautete in der ursprünglichen Version: „Die Künstler haben ein Interesse daran, dass man an die plötzlichen Eingebungen, Inspirationen glaubt; als ob das Kunstwerk, die Dichtung, der tiefe Gedanke, wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte. In Wahrheit produzirt die Phantasie des Künstlers fortwährend, Gutes, Mittelmässiges u. Schlechtes, aber seine Urtheilskraft, höchst geschärft, verwirft, wählt aus, knüpft zusammen; wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethovens ersieht, dass er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen u. ausgelesen (in kleinen Stücken) hat. Wer weniger streng scheidet u. sich der Erinnerung überlässt, der wird ein grosser Improvisator sein können; aber die künstl. Improvisation taugt nichts im Verhältniss zum tief u. mühevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle Grossen waren grosse Arbeiter, die [?] vorsehend [?] waren [?].“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,78) Die hier geäußerte Kritik am romantischen Inspirationsglauben hat N. später nicht davon abgehalten, selbst Inspiration bei der Abfassung von Za in Anspruch zu nehmen, siehe EH Za 3 und NK KSA 6, 339, 9–21. Das hat Thomas Mann wiederum nicht davon abgehalten, dem Tonsetzer Adrian Leverkühn in seinem Doktor Faustus die Inspirationskritik aus MA I 155 in den Mund zu legen: „Denn er hatte über Kunst und Künstlertum äußerst nüchterne, ja, reaktiverweise, schneidende Meinungen und war dem ‚romantischen Brimborium‘, das damit anzustellen der Welt eine Zeitlang beliebt habe, so abhold, daß er sogar die Wörter ‚Kunst‘ und ‚Künstler‘ nicht gern hörte, wie man deutlich seinem Gesichte ansah, wenn sie fielen. Ebenso war es mit dem Worte ‚Inspiration‘, das man in seiner Gesellschaft durchaus zu vermeiden und allenfalls durch ‚Einfall‘ zu ersetzen hatte. Er haßte und verspottete jenes Wort.“ (Mann 1990, 6, 38) Auch Ludwig Wittgenstein nimmt 1947 die Überlegungen aus MA I 155 auf, siehe Brusotti 2009, 340, Fn. 14. 146, 26–29 wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethoven’s ersieht, dass er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen und aus vielfachen Ansätzen gewissermaassen ausgelesen hat] N.s Brief an Carl von Gersdorff vom 25. 05. 1865 ist zu entnehmen: „Als Nebensache treibe ich jetzt Beethovens Leben nach dem Werk von Marx.“ (KSB 2/KGB I 2, Nr. 467, S. 56, Z. 3 f.) Gemeint ist die mehrfach aufgelegte, zweibändige Darstellung Ludwig van Beethoven. Leben und Schaffen von Adolf Bernhard Marx (vgl. NK 160, 5–12). Am Ende des zweiten Teils von Marx’ Werk werden bei den „Beilagen“ als B1 bis B4 einige Seiten „Aus B[eethoven]s Notizbüchern, in der Berliner Bibliothek befindlich“ (Marx 1859, 2, LIX) im Faksimile abgedruckt. Die Erläuterung dazu besagt: „Mit ‚meilleur‘ werden
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 155–157, KSA 2, S. 146–147
465
Verbesserungen angedeutet“ (ebd.) – und tatsächlich kann auch der ansonsten unkundige Leser mit Hilfe dieser allerdings schwer entzifferbaren NotizbuchReproduktionen nachvollziehen, wie Beethoven Kompositionsideen revidiert und modifiziert hat. 146, 32 künstlerische Improvisation] Vgl. NK ÜK MA I 145 u. NK 141, 17. 147, 1 f. Alle Grossen waren grosse Arbeiter] In der Schlusswendung betreibt MA I 155 mit der Veralltäglichung der Kunst eine eigentümliche ‚Proletarisierung‘ der Künstler (und Denker), die auch nur eine spezifische Form von Arbeit verrichteten. Demgegenüber werden im Spätwerk die philosophischen Arbeiter (einschließlich Kant) den wahren Philosophen als jeder Arbeitslogik enthobenen Gesetzgebern gegenübergestellt (vgl. z. B. NK 5/1, S. 557 f., 593 u. 595–597 sowie Sommer 2014d).
156. MA I 156 fragt ein weiteres Mal nach dem, was die in der Genieästhetik so hochgejubelte Inspiration ausmacht. Die Antwort fällt bedenklich nüchtern aus: Inspiration ist, um N. ins Physiologische zu übersetzen, nichts weiter als eine plötzliche Entleerung, eine spontane Diarrhö nach einer vorangehenden geistigen Verstopfung. Die Rede vom „plötzlichen Erguss“ (147, 8) ruft zweifellos auch einen sexuellen Assoziationshorizont auf, der ökonometaphorisch geerdet wird: „Das Capital hat sich eben nur a n g e h ä u f t, es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen.“ (147, 12 f.) Wie zu MA I 155 gibt es auch zu MA I 156 in Mp XIV 1, 78 eine dort allerdings nicht unmittelbar folgende ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, dafür markiert mit rotem „A“. Diese Fassung weist einige Korrekturen und Überarbeitungen N.s auf und lautete ursprünglich: „Wenn sich die Produktionskraft eine Zeit lang angestaut hat, dann giebt es einen so plötzlichen Erguss als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, eintrete. Daraus entsteht dann die Täuschung, das Capital hat sich nur angehäuft, es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. So überall. Es giebt auch solche scheinbare Inspiration der Güte, Tugend, des Lasters.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,78)
157. MA I 157 ruft einen weiteren Topos der romantischen Ästhetik auf, nämlich den des großen, unverstandenen „Genius“ (147, 18), der kein Gehör finde, weil es für
466
Menschliches, Allzumenschliches I
seine Kunst noch kein Publikum gebe. Dieses Leiden, das, mit „Ehrgeiz“ und „Neid“ (147, 30) noch angefacht, sich leicht ins Große steigert, wird mit dem Etikett eines „lächerlich-rührende[n] Pathos“ (147, 21) versehen – das in der Tradition hier erwartbare Etikett des Tragischen wird nur fragenderweise und mit einem „[v]ielleicht“ aufgerufen (147, 23 f.). Im Unterschied zum künstlerischen könne der „wissende Genius“ (147, 30), für den Johannes Kepler und Baruch de Spinoza exemplarisch stehen, eher noch auf das direkte Rezipiert-Werden verzichten und leide entsprechend weniger, weil er anders als der Künstler auf das gerechtere Urteil der Nachgeborenen hoffen könne – eine Behauptung, die MA I 157 nicht weiter erklärt, aber die vielleicht darin gründen soll, dass der „wissende Genius“ etwas Objektives entdeckt und feststellt, was die Nachgeborenen nicht leugnen können. Statt einer solchen Erklärung räsoniert MA I 157 weiter, der Künstler könne kompensatorisch seine eigentliche Freude aus dem Schaffen ziehen, während die „ganz seltenen Fälle[.]“ (148, 6) einer Vereinigung von Erkenntnis- und Moral-Genialität neben dem individuellen Leiden noch ein gewaltiges Leiden angesichts des Wehs der Menschheit, der Welt nach sich zögen. Aber, fragt das Ende von MA I 157 skeptisch, welche Sicherheit habe man, dass diese Leiden auch tatsächlich echt seien? Der erste Teil des späteren Drucktextes von MA I 157 ist in einer ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 203 abgedeckt, die noch ohne den späteren Titel und markiert mit einem blauen „A“ sowie rot rubriziert „Kunst Moral“ dem Text 147, 17 bis 148, 3 entspricht. Für 148, 3 bis 148, 6 findet sich dort keine Vorlage – der Passus wurde erst nachträglich von Köselitz in sein Druckmanuskript D 11, 91 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,91) eingefügt –, während dann für das Ende von MA I 157, also 148, 6 bis 148, 19, Mp XIV 1, 375, von N. mit anderer, dunkler Tinte notiert, die ‚Reinschrift‘ darstellt. In Mp XIV 1, 203 hat N. mit derselben dunklen Tinte noch einige Einfügungen vorgenommen; davor lautete der Text: „Der künstler. Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm die Geniessenden; er bietet Speisen, aber man will sie nicht. Das giebt ihm ein so lächerliches Pathos; denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber niemand will tanzen: kann das tragisch sein? – Zuletzt hat er als Compensation mehr Vergnügen beim Schaffen, als in allen anderen Gattungen der Thätigkeit ein Mensch hat. Man schildert seine Leiden übertrieben; u. mitunter sind seine Leiden so gross, weil sein Ehrgeiz u Neid so gross sind. Der wissende Genius wie Kepler, ist nicht so begehrlich u. macht von seinen wirkl. grösseren Leiden und Entbehrungen kein solches Aufheben.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,203) Spinoza fehlte in der ursprünglichen Version also ebenso wie die Antwort auf die Frage, ob das „tragisch sein“ könne: „Vielleicht doch.“ (147, 24) Zu Spinoza in MA I 157 vgl. z. B. Rotter 2019, 14 f. u. Yhee 2022, 197–204.
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 157, KSA 2, S. 147–148
467
147, 30–148, 4 Der wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist für gewöhnlich nicht so begehrlich und macht von seinen wirklich grösseren Leiden und Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit grösserer Sicherheit auf die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen] Es handelt sich um die einzige Stelle, an der N. den Astronomen Johannes Kepler (1571–1630) überhaupt erwähnt (während Spinoza – siehe NK ÜK MA I 157 – erst bei der späteren Manuskriptbearbeitung eingefügt wurde). An dieser Stelle reproduziert N., der kaum über KeplerOriginallektürekenntnisse verfügt haben dürfte – zeitgenössisch populäre Urteile. So gelten die beiden Protagonisten von 147, 30–148, 4 Moriz Carriere im „Genius“Kapitel seiner Aesthetik als exemplarisch unangepasste Genies: „Als Kepler die Harmonie der Welt erkannt hatte, dachte er: Ich werfe das Los und schreibe das Buch, ob es das gegenwärtige Geschlecht lesen wird oder ein zukünftiges, das ist mir einerlei; es kann seinen Leser erwarten. Hat Gott nicht selber sechstausend Jahre lang eines aufmerksamen Betrachters seiner Werke warten müssen? – Spinoza schliff Glas um seine Unabhängigkeit zu wahren und seine Ethik der Nachwelt als Vermächtniß zu hinterlassen.“ (Carriere 1873, 1, 509) 148, 6–13 In ganz seltenen Fällen, – dann, wenn im selben Individuum der Genius des Könnens und des Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen – kommt zu den erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen sind: die ausser- und überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesammten Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen] Den Begriff des „moralischen Genius“, den N. hier sowie in der Variante des „moralischen Genie’s“ in MA I 252, KSA 2, 210, 20 benutzt, hat N. in Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung aufgegriffen, wo es nach einer Erörterung epochentypischer Konstanten im Moralhaushalt und der Gebundenheit moralischer Vorstellungen an die jeweiligen Zeitkonstellationen heißt: „Es giebt jedoch e i n e überraschende Ausnahme von diesem Gesetze in dem Auftreten eines Phänomens, das man moralischen Genius nennen kann. Von Zeit zu Zeit erheben sich Menschen, /238/ die zu dem sittlichen Zustande ihres Zeitalters ganz in demselben Verhältnisse stehen, wie Menschen von Genie zu dessen intellectuellem Zustande. Sie anticipiren die sittliche Richtschnur eines späteren Zeitalters, sprechen Ansichten von uneigennütziger Tugend, Menschenliebe oder Selbstverleugnung aus, die keine Beziehung zu dem Geiste ihrer Zeit haben, schärfen Pflichten ein und geben Beweggründe der Handlung an die Hand, die den meisten Menschen vollständig chimärisch vorkommen. Doch die Anziehungskraft ihrer Vollkommenheit wirkt mächtig auf ihre Zeitgenossen; es entzündet sich eine Begeisterung, es bildet sich eine Gruppe von Anhängern, und Viele emancipiren sich von dem sittlichen Zustande ihres Zeitalters. Die Gesammtwirkungen einer solchen Bewegung sind indessen nur vorübergehend.“ (Lecky 1873, 1, 237 f.; N.s Unterstreichungen, diverse Anstreichungen am Rand)
468
Menschliches, Allzumenschliches I
148, 10 f. absonderlichsten Ausnahmen in der Welt] In Mp XIV 1, 375 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,375), im Druckmanuskript D 11, 91 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,91) und in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stattdessen: „höchsten Efflorescenzen der Welt“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/174/). Petri 1861, 272: „Efflorescénz, […], die Blüthe, Blüthezeit, das Ausblühen“. 148, 13–16 : welche ihren Werth durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig werth)] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 91 nachträglich eingefügt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,91). In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand ursprünglich: „(Mitleid an sich ist wenig Werth)“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/175/). N. korrigierte mit Bleistift zu: „(Mitleid an sich hat wenig Werth)“; in der Erstausgabe steht dann aber wie von N. im Druckmanuskript ergänzt: „(Mitleid an sich ist wenig werth)“ (Nietzsche 1878, 143). Vgl. zum Inhaltlichen Gemes 2023, 3.
158. Wie MA I 157 hält auch MA I 158 die Idee individueller Schaffensgröße des künstlerischen oder denkerischen Genies aufrecht, während MA I 155 und 156 den aufgeblasenen Begriff der Inspiration stark abgespeckt haben, so dass die Frage sich aufdrängt – die aber nicht gestellt wird –, worin Größe denn bestehe, wenn sie mehr sein soll als Fleiß, Ausdauer, Arbeit und Auswahlkraft. MA I 158 beschreibt eine angebliche Entartungs- und Verdrängungstendenz „des Grossen“ (148, 23): Einerseits kämen die Nachäffer obenauf, deren Größenimitationen jede Größe fehle. Andererseits verdrängten die „grossen Begabungen“ (148, 25) alle kleineren und verbreiteten Ödnis um sich her. Am besten wäre die Koexistenz gleichstarker Genies, die einander in Schach hielten und damit Raum ließen auch für weniger begabte Naturen. Zu MA I 158 gibt es in Mp XIV 1, 282 eine ‚Reinschrift‘ von Albert Brenners Hand, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und zwei blauen Strichen. Eine Vorstufe dazu stellt in Köselitz’ Pflugschar-Manuskript M I 1 85 f. dar: „Die Entartung folgt auch bei den Griechen jeder grossen Erscheinung nach. In jedem Augenblicke scheint der Ansatz zu einem schlimmen Ende da zu sein. Das Vorbild des Grossen reizt die eitleren Naturen zum äusserlichen Nachmachen, oder zum Überbieten; dazu haben alle grossen Begabungen das Verhängnissvolle an sich, viele schwächere Kräfte und Keime zu erdrücken, und um sich herum gleichsam die Natur zu veröden, so wie Rom zuletzt in einer Einöde lag. Der glücklichste Fall in der Entwickelung ist, dass mehrere Genies sich gegenseitig
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 157–159, KSA 2, S. 148–149
469
in Schranken halten. Bei diesem Kampfe wird gewöhnlich den schwächeren Naturen auch Luft und Licht gegönnt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,85 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,86) Elemente hieraus stammen aus NL 1875, KSA 8, 5[146], 77–79 – ein Notat, das noch stärker die Bezüge zur Antike konkretisiert (konkret werden u. a. Aischylos und Sophokles, Theokrit und Homer genannt). Mit der Reflexion auf die Verfallsgeschichte(n) im antiken Griechenland nimmt N. ein gängiges Motiv aus der zeitgenössischen Altertumswissenschaft auf, das nach den jeweiligen Präferenzen anders akzentuiert wird. In seinen N. wohlbekannten Griechischen Alterthümern spricht beispielsweise Georg Friedrich Schoemann von „Entartung und Verfall“ im Blick auf die politische Verfassung von Sparta (Schoemann 1861, 1, 300–306) und von Athen (ebd., 354–359), ebenso wie er bei anderer Gelegenheit die „Entartung der Musik“ (ebd., 520) beklagt. In der finalen Fassung von MA I 158 werden die in den Vorarbeiten dominanten Bezüge zur Antike vollständig getilgt; es entsteht der Anschein, als würde hier ein universelles kulturelles Niedergangsmuster entdeckt, während es in den Ausgangsüberlegungen nur um den griechischen Spezialfall (mit römischen Einsprengseln) ging.
159. MA I 159 kehrt die landläufige Erwartung um, dass die Kunst für den Künstler hilfreich und gut sein müsse. Vielmehr stelle sie insofern eine Gefahr dar, als sie ihn zurückversetze in frühere Kulturzustände, deren Götter- und Dämonenglauben sich im Künstler ebenso reaktualisiere wie ihr Hass auf die Wissenschaft. Der Künstler regrediere auf die Entwicklungsstufe eines spielenden Kindes und sei daher mit seinen erwachsenen, nichtkünstlerischen Zeitgenossen nicht mehr kompatibel. Zu MA I 159 gibt es in Mp XIV 1, 171 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert: „Kunst u Moral“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,171). Zur Rückwärtsgewandtheit der Künstler siehe auch MA I 147, KSA 2, 142 f. u. NL 1876, KSA 8, 16[54], 295. Man könnte sich fragen, ob Wagner N. ein zeitgenössisches Anschauungsbeispiel dafür gegeben hat. 149, 16 den gleichalterigen Menschen] „Gleichalterig“ meint hier „dem gleichen lebens- oder zeitalter angehörend“ (Grimm 1854–1971, 7, 8021). 149, 17 f. und ein trübes Ende; so wie, nach den Erzählungen der Alten, Homer und Aeschylus in Melancholie zuletzt lebten und starben] Diesen Schluss hat N. in Mp XIV 1, 171 nachträglich hinzugefügt, die Aufzählung lautet dort aber: „Homer
470
Menschliches, Allzumenschliches I
Aeschylus Plato“; das „und starben“ kam nochmals später mit Bleistift hinzu (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,171). Platon erscheint auch noch in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 91 und wird dort schließlich gestrichen (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,91). N. nimmt hier auf, was er in der Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈III〉 im Wintersemester 1875/1876 unter der (in MA I 159, KSA 2, 149, 15 wieder anklingenden) Überschrift „Melancholie alter Dichter im Antagonism zur Zeit“ ausführlicher thematisiert hat: „Mehrfach aber findet sich auch bei den reichsten Geistern im Alter eine Anwandlung von Melancholie, an der sie sterben, meistens mit einem unbedeutenden Anlaß. So stirbt Homer der Sage nach, als er ein Räthsel, das junge Fischer ihm aufgeben nicht lösen kann, er wird mißmuthig, stolpert über einen Stein u. ist in 3 Tagen todt. Aeschylus stirbt im Groll über die Athener in der Fremde. Man erzählte, ein Adler habe eine Schildkröte auf das Haupt des Dichters fallen lassen, Niemand glaubt daran, aber die Erklärung. dieser Parabel lauten sehr verschieden. Meine Vermuthung: ein großer Aufschwung ergreift u. hebt das träge Volk – der Perserkrieg, an dem Aesch. den persönl. Antheil hatte – als das Volk wieder sinkt u. fällt, der Schwung des Adlers die Schildkröte nicht mehr trägt, so veranlaßt das den Tod des Dichters: er stirbt ὑπ᾽ἀθυμίας, wie Homer.“ (KGW II 5, 347, 7–21) MA I 168 nimmt die Geschichte vom Tod des Aischylos noch einmal auf, siehe NK 157, 20–23. Die Anekdote zu Homers Tod nimmt auch FW 302 auf, zur antiken Quellenüberlieferung dazu ausführlich NK KSA 3, 541, 22–25; zur vielfach überlieferten Aischylos-Sterbeanekdote (vgl. z. B. Vita Aeschyli 9 u. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia IX 12) hat N.s Freund Erwin Rohde eine quellenkritische Miszelle geschrieben (Rohde 1880). Der schließlich in MA I 159 gestrichene Platon passt nach dem Bericht über die Todesarten in der Geschichte der griechischen Litteratur 〈III〉 tatsächlich gar nicht ins Schema der Melancholiker und Lebensüberdrüssigen: „Jene ganz seltenen Menschen, die u n e r s c h ö p f b a r P r o d u k t i v e n, denen das Alter nichts anhat, sehen wir an der Euthanasie zu Grunde gehen, ohne Selbstmord, bis zum letzten Augenblick dichtend u. schaffend: Plato der 82jährige, der bei einem Hochzeitsschmause stirbt“ (KGW II 5, 346, 18–22).
160. Auch die Fähigkeit der Kunst – namentlich des Dramas –, menschliche Charaktere als „leibhaftige[.] Naturproducte“ (150, 1) zu erzeugen, wird in MA I 160 gegen den ersten Anschein als gering veranschlagt. Aus der Nähe betrachtet, stelle sich dieser künstlich geschaffene Mensch wenig überzeugend dar, während der reale Mensch, dem man Widersprüchlichkeit vorzuwerfen pflege, gerade „etwas ganz und gar N o t h w e n d i g e s“ (150, 7) verkörpere, sogar in seiner Widersprüchlich-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 159–160, KSA 2, S. 149–150
471
keit. Die Kunst – auch die bildende – vermöge kaum, das Wesen des Menschen zu erfassen; überhaupt sei sie bestimmt „von der natürlichen U n w i s s e n h e i t des Menschen über sein Inneres (in Leib und Charakter)“ (150, 26–28). Kunst bietet nach MA I 160 nicht nur keine privilegierte Kenntnis des Menschen an, sondern steht solcher Erkenntnis sogar im Wege. Zu MA I 160 gibt es in Mp XIV 1, 9 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert: „Kunst“. Ebenfalls mit blauem Farbstift steht ganz unten auf dem Blatt: „Kunst die Wissen. verhindernd bei den Griechen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,9). Montinari hat das als eigenständiges ‚Nachlassfragment‘ veröffentlicht in NL 1876/77, KSA 8, 23[8], 405. Oben auf dem Manuskriptblatt XIV 1, 9 steht, mit Tinte hinzugefügt, aber dann im Druckmanuskript nicht übernommen: „Sie verhalten sich zu wirkl. Charakteren, wie der Schuh auf dem Bilde des Malers zum wirkl. Schuh. Und ebenso steht die Kenntniß des Malers von Schuhen überhaupt jener Kenntniss gegenüber, welche der Schuster von ihnen hat.“ Das ist eine Variation von NL 1877, KSA 8, 22[77], 392. Zu MA I 160 im Horizont von Robert Musil und Marcel Proust siehe Large 1990. 149, 29 oberflächliche Entwürfe] In Mp XIV 1, 9: „oberflächliche“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,9). 150, 9–18 Der erdichtete Mensch, das Phantasma, will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen, welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen, unnatürlichen Simplification verstehen: so dass ein paar starke, oft wiederholte Züge, mit sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten und Halbdunkel herum, ihren Ansprüchen vollständig genügen. Sie sind also leicht bereit, das Phantasma als wirklichen, nothwendigen Menschen zu behandeln, weil sie gewöhnt sind, beim wirklichen Menschen ein Phantasma, einen Schattenriss, eine willkürliche Abbreviatur für das Ganze zu nehmen.] In Mp XIV 1, 9 steht stattdessen: „Der dichterische ˹erdichtete˺ Mensch ˹das Phantasma˺ hat die Prätension, nothwendig zu sein, ist es aber in Wahrheit nicht.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,9) Die Neufassung erfolgte dann mit einer umfangreichen Korrektur in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 92 (dort aber statt „vollständig genügen“ wie in 150, 14 f. und schon in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 – https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/177/ – sowie in der Erstausgabe Nietzsche 1878, 145 vielmehr: „vollkommen genügen“, http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,92). Mit dem Motivschatz von Licht und Schatten zur Personencharakterisierung zu spielen, gehört schon zum frühneuzeitlichen Repertoire, vgl. z. B. Andreas Sutor: „Das Licht hilft dem Schatten.“ (Altdeutscher Witz 1877, 104) Einen „Schattenriß“ – „Bild eines meist im Profil dargestellten Menschen, das mit schwarzer Farbe ausgefüllt ist“ (Brockhaus 1894–1896, 14, 392) – von sich
472
Menschliches, Allzumenschliches I
selbst hat N. einer Weihnachtsgabe an Mutter und Schwester 1864 beigefügt (KSB 2/KGB I 2, Nr. 455, S. 28, Z. 18). 150, 19 f. Dass gar der Maler und der Bildhauer die „Idee“ des Menschen ausdrücke, ist eitel Phantasterei und Sinnentrug] Im Druckmanuskript D 11, 92 sind „eitel Phantasterei und Sinnentrug“ korrigiert aus: „ersichtlich Unsinn“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,92). Es ist das Kunstverständnis Schopenhauers, gegen das hier polemisiert wird: „Es gehört […] zum Auszeichnenden der Menschheit, daß bei ihr der Charakter der Gattung und der des Individuums auseinandertreten, so daß […] jeder Mensch gewissermaaßen eine ganz eigenthümliche Idee darstellt. Die Künste daher, deren Zweck die Darstellung der Idee der Menschheit ist, haben neben der Schönheit, als dem Charakter der Gattung, noch den Charakter des Individuums, welcher vorzugsweise C h a r a k t e r genannt wird, zur Aufgabe; diesen jedoch auch nur wieder, sofern er nicht als etwas Zufälliges, dem Individuo in seiner Einzelnheit ganz und gar Eigenthümliches anzusehen ist, sondern als eine gerade in diesem Individuo besonders hervortretende Seite der Idee der Menschheit, zu deren Offenbarung die Darstellung desselben daher zweckdienlich ist. Also muß der Charakter, obzwar als solcher individuell, dennoch idealisch, d. h. mit Hervorhebung seiner Bedeutsamkeit in Hinsicht auf die Idee der Menschheit überhaupt ([…]) aufgefaßt und dargestellt werden: außerdem ist die Darstellung Porträt, Wiederholung des Einzelnen als solchen, mit allen Zufälligkeiten. Und selbst auch das Porträt soll, wie Winckelmann sagt, das Ideal des Individuums seyn.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 265) 150, 23 f. Die bildende Kunst will Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „Die bildende Kunst will Charakter auf der Haut sichtbar werden lassen“ (https://haab-digi tal.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/177/).
161. MA I 161 wendet sich gegen eine Kunst der Effekthascherei, die die Güte eines Kunstwerks und die Bedeutung eines Künstlers an der Erschütterungswirkung festmachen will. Die Emotionalisierungskraft wird ebenso wenig als Gütekriterium gelten gelassen wie unübersehbare Breiten- und Langzeitwirkungen; überdies sei auch „u n s e r e e i g e n e G ü t e in Urtheil und Empfindung“ (151, 2 f.) vollständig unbewiesen. Der Abschnitt lässt die Leser allein mit der Frage, was – wenn es weder Wirkung, Nachwirkung noch eigene Urteilskraft sein können – denn Kriterium für die Güte eines Kunstwerkes sein soll, zumal, wenn man sich an die wiederholte Feststellung erinnert, dass der Mensch wegen seiner Wankelmütig-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 160–161, KSA 2, S. 150–151
473
keit kein fester Maßstab sein könne (z. B. MA I 32, KSA 2, 51, 29–52, 1). Ist das Kriterium jenes, das MA I 222 andeuten wird, nämlich die Lebensbejahung? Zu MA I 161 gibt es in Mp XIV 1, 197 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“ und mit einigen nachträglichen Überarbeitungen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,197). Zur Interpretation von MA I 161 siehe Lebeau-Henry 2020, 70 f. 151, 4–7 Wer hat mehr im Reiche der bildenden Kunst ergriffen und entzückt, als Bernini, wer mächtiger gewirkt, als jener nachdemosthenische Rhetor, welcher den asianischen Stil einführte und durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte?] In Mp XIV 1, 197 lautete dieser Satz vor N.s nachträglichen Ergänzungen: „Wer hat mehr ergriffen u. entzückt als Bernini, wer als jener nachdemosthen. Rhetor, welcher den asianischen Styl einführte?“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,197) Abfällig über den angeblich für den „Ruin der Skulptur“ verantwortlichen italienischen Barock-Bildhauer und Architekten Lorenzo Bernini (1598–1680) lässt sich N. 1888 in WA Nachschrift 2 vernehmen (in Parallelsetzung zu Wagner), siehe NK KSA 6, 46, 19 f. N. reproduziert die wenig wohlwollende Sicht auf Bernini aus Jacob Burckhardts Cicerone, der „die Anwendung des A f f e c t e s um jeden Preis“ (Burckhardt 1869a, 2, 691; Randanstreichungen N.s) für Bernini-typisch hält. „Auch seine Behandlung der m e n s c h l i c h e n G e s t a l t i m a l l g e m e i n e n ist mit Recht verrufen“ (ebd., 693). „Welches war nun der A f f e c t, dem zu Liebe Bernini die ewigen Gesetze der Drapirung so bereitwillig preisgab? […] Genug, dass nunmehr ein falsches dramatisches Leben in die Sculptur fährt, dass sie mit der Darstellung des blossen S e i n s nicht mehr zufrieden ist und um jeden Preis ein T h u n darstellen will […]. Ging man aber so weit, so war auch die plastische Composition überhaupt nicht mehr zu retten. Die so schwer errungene Einsicht in die formalen Bedingungen, unter welchen allein die Statue schön sein kann, das Bewusstsein des architektonischen Gesetzes, welches diese stoffgebundene Gattung allein beschützt und beseelt – dies ging für anderthalb Jahrhunderte verloren.“ (Ebd., 696) Vgl. NK 178, 29–32 u. NK 180, 3–7. Der „nachdemosthenische Rhetor“, der den sogenannten Asianismus in die Rhetorik einführte, war Hegesias von Magnesia (um 300 v. Chr.). In seiner Lehrveranstaltung über die Geschichte der griechischen Beredsamkeit (1872/73) ließ N. seine Studenten dazu wissen: „Die Redekunst zog sich natürlich scheu vor den Diadochenhöfen zurück, fand aber in den hellenischen und hellenisirten Städten Kleinasiens Pflege und Umbildung: dort konnte sie sich vor Gericht und in Ecclesien noch wirksam erweisen. Von Anfang an hatte man in bewußtem Gegensatze zur attischen Classicität ohne Bedenken vulgäre und provinzielle Ausdrücke in Menge aufgenommen, die Straffe periodische Gliederung der demosthen. Rede mit loser, oft zerhackter Satzbildung vertauscht, dafür aber weichliche Rhythmen, pretiöse Wortstellungen, schwülstige üppige Ausdrucksmittel, spitze geistreiche
474
Menschliches, Allzumenschliches I
Sentenzen bevorzugt. Hegesias, aus Magnesia am Sipylos, ist der Mann des Verhängnisses“ (KGW II 4, 399, 31–400, 10). „Hegesias erhob sich seiner Meinung nach weit über die Attiker […]. Flucht vor der Periode, kleine Sätze: somit s t ä r k s t e r R h y t h m u s i m K l e i n e n f ü h l b a r, Rückkehr zum Wirkungsreichsten für die große Masse (als ob jetzt einer aus der großen Periodik Beethovens u. Wagners zum viertaktigen Lied- oder Tanzrhythm. zurückgreift) In diesen kleinen rhythm. Gebilden aber alles Raffinement u. Würze. […] So schuf er einen Redestil für weniger feine und vornehme Ohren, aber f ü r d i e g a n z e h e l l e n i s t i s c h e M a s s e, und bezauberte ein paar Jahrhunderte; ebenso war er in überkühnen Bildern Metaphern geistreichen fremdartigen Wendungen stark-aufdringlich, er war auf die d i r e k t e W i r k u n g aus und erreichte sein Zie. […] Sein Verdienst ist eine universale Leidenschaft der ganzen hellenist. Welt entdeckt und befriedigt zu haben; damit steht er mächtig da, für alle Zeiten. Nie, bis diesen Augenblick, hat der Asianismus des Stils wieder aufgehört. […] Aber so weit sich eine gebildete Gesellschaft jetzt wieder ausdehnt, hat sie Lust am Asianismus, die Franzosen, erzogen in Cicero u. dem römisch modificirten Asianism. haben die ganze Welt daran gewöhnt.“ (Ebd., 400, 16–401, 14; vgl. auch KGW II 5, 253 f.) N.s negative Charakterisierung des Hegesias wird dabei unter seinen Studiengenossen geteilt, vgl. z. B. Rohde 1876, 311, 350 u. 551. Unter „asianism“ hat N. in Mp XIV 1 auch eine ‚Reinschrift‘ zu MA I 204, NL 1876/77, KSA 8, 23[171], 466 und eine ‚Vorstufe‘ zu MA II VM 134 nachträglich rubriziert, siehe KGW IV 4, 528. 151, 15–18 Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie, einer Religion beweisen für ihre Wahrheit Nichts: ebensowenig als das Glück, welches der Irrsinnige von seiner fixen Idee her geniesst, Etwas für die Vernünftigkeit dieser Idee beweist.] Den Schlusssatz 151, 16–18 über das „Glück“ des „Irrsinnigen“ hat N. erst nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 93 eingefügt (http://www.nietz schesource.org/DFGA/D-11,93). Dass der Effekt einer Überzeugung mitnichten ihre Wahrheit verbürge, ist bei N. ein wiederkehrendes Motiv, vgl. z. B. zum „Beweis der Kraft“ NK ÜK MA I 120. Auch die „fixe Idee“ und den „Irrsinn“ nimmt N. wiederholt aus dem zeigenössischen psychopathologischen Diskurs auf, vgl. z. B. NK KSA 3, 374, 18 f. u. NK KSA 5, 295, 32–296, 5.
162. MA I 162 akzentuiert die Überlegung aus MA I 155, wonach kreative Größe wesentlich in Fleiß und Fokussierungskraft gründe, mit einer rezeptionsästhetischen Neuperspektivierung: ‚Wir‘ neigten aus „Eitelkeit“ (151, 33) zu einem Genie-Kult, der die große Leistung einer überirdischen Inspiration zuschreibt, weil wir so Frustration darüber vermieden, selbst keine Genies zu sein. Die Genies derart zu
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 161–162, KSA 2, S. 151
475
überhöhen, befreit uns vom Zwang, uns mit ihnen messen zu müssen und auf ihre extraordinäre Leistung neidisch sein zu müssen. Tatsächlich aber sei auch das künstlerische oder denkerische Genie vor allem die Bündelung aller Kräfte in eine einzige Richtung, die das jeweilige Individuum ganz bestimmt: alles werde ihm dann zum Stoff; es kann alles in eine Richtung gefügig machen und ins Eigene umprägen. Schließlich wird das Motiv aus MA I 145 aufgegriffen: Eine rezeptionsästhetische Täuschung rührt oft daher, dass der Eindruck auftritt, das Kunstwerk sei nicht durch mühevolle Arbeit entstanden, sondern stünde von Anfang an schon in schierer Vollkommenheit da. Zu MA I 162 gibt es in Mp XIV 1, 26 eine ‚Reinschrift‘ unter der (mit blauem Farbstift durchgestrichenen) Überschrift „Eitelkeit fördert den Cultus des Genius“, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert: „Kunst u Moral“. Das Manuskript weist zahlreiche Überarbeitungen auf (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,26). KGW IV 4, 195 verweist auch auf NL 1877, KSA 8, 21[8], 369. MA I 521, KSA 2, 324 wird dann Größe überhaupt als Richtungsgebungskraft verstanden wissen wollen. Zur Geniekritik in MA I 162, 163 u. 164 siehe Kaufmann 2022a, 403. Dass Richard Wagner in seiner Polemik Publikum und Popularität besonders Anstoß an den geniekritischen Passagen von MA I genommen hat, erstaunt nicht: „Je unbeachteter die hier bezeichneten Saturnalien der Wissenschaft vor sich gehen, desto kühner und unbarmherziger werden dabei die edelsten Opfer abgeschlachtet und auf dem Altar der Skepsis dargebracht. Jeder deutsche Professor muss einmal ein Buch geschrieben haben, welches ihn zum berühmten Manne macht: nun ist ein naturgemäss Neues aufzufinden nicht Jedem beschieden; somit hilft man sich, um das nöthige Aufsehen zu machen, gern damit, die Ansichten eines Vorgängers als grundfalsch darzustellen, was dann um so mehr Wirkung hervorbringt, je bedeutender und grösstentheils unverstandener der jetzt Verhöhnte war. […]. Die wichtigeren Vorgänge sind nun aber die, wo überhaupt jede Grösse, namentlich das so sehr beschwerliche ‚Genie‘, als verderblich, ja der ganze Begriff: Genie als grundirrthümlich über Bord geworfen werden.“ (Wagner 1878, 216) 151, 29 miraculum] Lateinisch: „Wunder“. 151, 30–32 (selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare seinen Stern der fernsten Höhe; wobei man sich jenes Verses erinnern mag: „die Sterne, die begehrt man nicht“)] So „nannte“ Goethe Shakespeare nicht, vielmehr heißt es im Gedicht Zwischen beiden Welten: „Einer Einzigen angehören, / Einen Einzigen verehren, / Wie vereint es Herz und Sinn! / Lida! Glück der nächsten Nähe, / William! Stern der schönsten Höhe / Euch verdank’ ich was ich bin.“ (Goethe 1853–1858, 2, 86) Montinari hat in KGW IV 4, 195 N.s fehlerhaftes Zitat erkannt, aber seinerseits einen bei Goethe nicht belegbaren Vers „William! Stern der schönsten Ferne“ beige-
476
Menschliches, Allzumenschliches I
bracht. Der Vers, den 151, 32 zitiert, stammt aus Goethes Trost in Thränen: „Die Sterne, die begehrt man nicht, / Man freut sich ihrer Pracht, / Und mit Entzücken blickt man auf / In jeder heitern Nacht.“ (Goethe 1853–1858, 1, 70) 152, 13–16 Woher nun der Glaube, dass es allein beim Künstler, Redner und Philosophen Genie gebe? dass nur sie „Intuition“ haben? (womit man ihnen eine Art von Wunder-Augenglas zuschreibt, mit dem sie direct in’s „Wesen“ sehen!)] In Mp XIV 1, 26 steht „gäbe“ statt „gebe“ (152, 14); dort wurde auch die Klammerbemerkung „womit man ihnen eine Art von Wunder-Augenglas zuschreibt, mit dem sie direct in’s „Wesen“ sehen!“ anstelle einer gestrichenen gesetzt, die lautete: „sie machen dieselben Prozeduren des Denkens allmähl. so schnell, dass sie mit einem Male, blitzschnell zu erfolgen scheinen, es giebt kein intuitives Denken“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,26). Während N. in GT (aber auch in WL 2, KSA 1, 888 f.) noch einen recht freihändigen Gebrauch vom Begriff „Intuition“ machte und in der Tragödienschrift eine unmittelbare Anschauungserkenntnis rationaler Erschließung gegenüberstellte, nimmt er von diesem eigenen alten Lehrstück in MA I Abschied. Die einstige Vorliebe für die Intuition geht direkt auf Schopenhauer zurück. Um es mit Julius Frauenstädts Einleitung zu der von N. benutzten Ausgabe von Schopenhauers Sämmtlichen Werken zu sagen: „Die Erkenntnißweise des Genies und die Erkenntnißweise, aus der alle echte Tugend und in höherm Grade die Heiligkeit entspringt, sind nach Schopenhauer i d e n t i s c h, nämlich die i n t u i t i v e, das principium individuationis durchschauende.“ (Schopenhauer 1873–1874, 1/1, CXXVIII; vgl. ausführlich zur intuitiven Erkenntnis bei Schopenhauer NK KSA 1, 25, 2–4) Derlei steht N. 1878 noch immer so unmittelbar vor Augen, dass er in einem Notat über „Schopenhauer’s Wirkung“ als eigenen Punkt anführen kann: „Genius und Inspiration bei Wagner, sodaß alles Erkannte abgelehnt wird; die ‚Intuition‘ und der ‚Instinkt‘“ (NL 1878, KSA 8, 30[9], 523, 8 u. 15 f.). Wenn MA I 162 gegen die „Intuition“ Stellung bezieht, richtet sich das gegen Schopenhauer und Wagner gleichermaßen: Nach MA I ist Erkenntnis, wenn sie überhaupt ist, immer eine bedingte – eine ganz und gar irdisch bedingte. Vgl. ausführlich NK ÜK MA I 164. 152, 19 f. Jemanden „göttlich“ nennen heisst „hier brauchen wir nicht zu wetteifern“.] „Plato der göttliche“, beginnt der erste Satz von Schopenhauers Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (Schopenhauer 1873–1874, 1/1, 1).
163. MA I 163 setzt die Abgrenzung von landläufiger Inspirations- und Genieästhetik nahtlos fort, indem der Abschnitt eine weitgehende Identifikation von Kunst und
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 162–163, KSA 2, S. 151–152
477
Handwerk vornimmt. Künstlerische, denkerische Größe erscheint als etwas Erlernbares, und zwar dann, wenn man beim Kleinen ansetzt und sich kontinuierlich darin einübt, bevor man zum großen Ganzen voranschreitet. Der Sprecher ziert sich nicht, in die Rolle des Ratgebers zu schlüpfen und zu erläutern, wie man denn – durch Beobachten, Sammeln, Formulieren, Schleifen – ein guter Novellist werden könne. Manchmal übernähmen auch „das Schicksal und die Noth“ (154, 1) disziplinierende und kanalisierende Funktion, wenn jemand seinem Künstlerleben nicht selbst Form geben könne. Zu MA I 163 gibt es in Mp XIV 1, 164 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Überschrift, markiert mit blauem „A“. Sie umfasst den Text bis 153, 33 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,164). Der Schluss vom Gedankenstrich in 153, 33 bis 154, 3 wurde dann nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 94 ergänzt (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,94). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 120 lautet: „Was Talent Begabung! Alle mod. Männer haben sie; die grössten Künstler sind mitunter gering begabt gewesen. Aber Charakter, Handwerkerernst fehlt: man will gleich das Vollkommene malen. Erst 100 Entwürfe zu Novellen, dann mehr Wissenschaft Natur Excerpte Tagebücher voll Gedanken usw. Und wie Scott Jahre abwarten. Immer erzählen (Anekdoten), Charactere sammeln.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/N-II-2,120) Im Notizbuch N III 3, 58 notiert N. mit Tinte: „Novelle Übung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,57). Zu Walter Scott vgl. auch NK ÜK MA I 107 u. NK 339, 18 f. Dass er viele Jahre der Übung gebraucht hat, um wirklich Schriftsteller zu werden, betonen die zeitgenössischen biographischen Darstellungen gerne, siehe z. B. Eberty 1871, 1, 121: „In diesem ländlich stillen Aufenthalte [1799] entstanden die Werke, die zuerst den Ruhm des Dichters begründen sollten; und ganz abweichend von dem Entwickelungsgange anderer Poeten scheint es, daß Walter Scott jetzt zuerst, fast dreißig Jahre alt, sich seines Berufes vollständig bewußt wurde. / Auch das ist ihm eigenthümlich, daß er zu selbstständigen Schöpfungen sich durch eine Reihe von Uebersetzungen und Nachahmungen vorbereitete, während junge Genies in der Regel, ihre Kräfte überschätzend, mit den umfassendsten eigenen Productionen beginnen und, durch das Mißlingen darauf hingewiesen, sich zu beschränken, dann allmählich erst die Bahn einschlagen, die zum Gipfel führt.“ Ohnehin scheint für MA I 163 Scott im Hintergrund zu stehen, auch im Blick auf die behauptete Notwendigkeit, immer wieder zu erzählen (vgl. 153, 18–20), wenn man ein guter Novellist werden wolle. In NL 1875, KSA 8, 5[181], 91, 21 f. heißt es: „Walter Scott liebte die Gesellschaft, weil er erzählen wollte; er übte sich, wie ein Virtuose sieben Stunden Klavier übt.“ Goethe übrigens lobt in seinem Gespräch mit Eckermann am 3. Oktober 1828 Scotts Welthaltigkeit ebenfalls mit einem musikalischen Vergleich: „Ueberall finden Sie bei Walter Scott die große Sicherheit und Gründlichkeit in der Zeichnung, die aus seiner umfassenden Kenntniß der realen Welt hervorgeht, wozu er durch lebenslängliche Studien und Be-
478
Menschliches, Allzumenschliches I
obachtungen und ein tägliches Durchsprechen der wichtigsten Verhältnisse gelangt ist. Und nun sein großes Talent und sein umfassendes Wesen! Sie erinnern sich des englischen Kritikers, der die Poeten mit menschlichen Sängerstimmen vergleicht, wo einigen nur wenig gute Töne zu Gebote ständen, während andere den höchsten Umfang von Tiefe und Höhe in vollkommener Gewalt hätten. Dieser letztern Art ist Walter Scott!“ (Eckermann 1868, 2, 12) Die Identifikation von Kunst und Handwerk spielt ohnehin auch auf eigene (modernitäts-)ästhetische Überlegungen Goethes an. Während er etwa in seinem Essay Kunst und Handwerk 1797 noch befürchtet, hochentwickeltes Handwerk und fabrikmäßige Produktion führten zum Untergang der Kunst, bejaht in Wilhelm Meisters Wanderjahren (1821/29) dann die Figur Odoard die Gegenposition einer (künftigen) Gleichsetzung von Handwerk und Kunst zumindest auf dem Boden Nordamerikas, vgl. Saße 2010, 223–235. 153, 29 in das Licht der Strasse] KGW u. KSA ‚emendieren‘ hier nach Mp XIV 1, 164 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,164) u. D 11, 94 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,94). In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/183/) sowie in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 149) steht aber: „an das Licht der Strasse“. 153, 29 Wie machen es aber] In Mp XIV 1, 164 stattdessen: „Wie machen es dagegen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,164).
164. MA I 164 bleibt im Ausnüchterungsmodus bei der Bewertung von Nutzen und Nachteil des Geniekults. Diejenigen, die ihm anhängen, gäben sich zwar einer falschen Illusion hin, das Genie habe einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit, könnten aber in ihrer Genie-Gefolgschaft zumindest eine nützliche Schulung des eigenen Geistes durchlaufen. Das verehrte Genie selbst, das an seine eigene Genialität glaubt, verfalle freilich leicht einer rechthaberischen Verblendung, die jede Kritik an ihm als Lästerung versteht, übrigens auch dem „Gefühl der Unverantwortlichkeit“ (154, 32), die MA I ja sonst so hochzuschätzen pflegt. Es sei „[f]ür grosse Geister“ (155, 9) tunlicher, über die konkret-kontingenten Entstehungsbedingungen der eigenen Schöpferkraft ohne Selbsttäuschung Bescheid zu wissen. Gehe es hingegen um „grösstmögliche W i r k u n g“ (155, 17), so sei diese Selbsttäuschung, verbunden mit zumindest „halbe[m] Wahnsinn[.]“ (155, 19), jeweils ziemlich erfolgversprechend. Offenkundig denkt der Sprecher an religiös-politische Führungsfiguren. Mitunter möge der partielle Wahnsinn auch persönlichkeitsstabilisierend gewirkt haben; aber gerade in fortgeschrittenem Alter – Beispiel Napoleon (dazu z. B. Bilate 2021, 131) – habe die unanfechtbare Selbstgewissheit ei-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 163–164, KSA 2, S. 153–154
479
nes Genies selbstzerstörerische Kraft entfaltet: Realitätsverlust zieht Selbstverlust nach sich. Zu MA I 164 gibt es in Mp XIV 1, 27 eine ‚Reinschrift‘, ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und rubriziert mit „Kunst u Moral“. Dort ist freilich nur der Text von 154, 31 bis 155, 33 erhalten; die lange Eingangssequenz fehlt ebenso wie das Schlussbeispiel Napoleon (155, 33–156, 6). Der Eingangssatz in Mp XIV 1, 27, bevor es mit „Die langsamen Folgen sind“ weitergeht, lautet: „Der Cäsarenschauder u. der Genie-Schauder vor sich selbst sind nahe verwandt; der Opferduft, welchen man einem Gote bringt, dringt diesem, weil er kein Gott ist, ins Gehirn, er schwank u beginnt sich für etwas Übermenschliches zu halten; dabei überkommen ihn jene Schauder.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,27) Für den ersten Teil von MA I 164 enthält NL 1876/77, KSA 8, 23[173], 467, 9– 18 eine Vorarbeit, die auch den in MA I 164 dann nicht namentlich angegangenen Protagonisten einer solchen Erkenntnisgenie-Ästhetik ausdrücklich nennt: „Schopenhauer hat leider in dem Begriff ‚intuitive Erkenntniss‘ die schlimmste Mystik eingeschmuggelt, als ob man vermöge derselben einen unmittelbaren Blick auf das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung hätte und als ob es bevorzugte Menschen gäbe, welche, ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge eines wunderbaren Seherauges etwas Endgültiges und Entscheidendes über die Welt mitzutheilen vermöchten. Solche Menschen giebt es nicht: und das Wunder wird auch für den Bereich der Erkenntniss fürderhin keinen Gläubigen mehr finden.“ Vgl. auch NL 1876/77, KSA 8, 23[156], 462, 16–21 und zu Schopenhauers Idee intuitiver Erkenntnis NK 152, 13–16. Barbera 1995, 128 stellt einen Bezug zwischen MA I 164 und einem 1864 erschienenen Schopenhauer-Aufsatz von Rudolf Haym (Haym 1903) her (vgl. auch Dahlkvist 2007, 215, Fn. 546), der freilich keineswegs zwingend erscheint. Zu MA I 164 siehe auch Bertino 2011, 283, Stegmaier 2012, 159 f., Reschke 2020b, 103 u. Lebeau-Henry 2022, 394. 154, 27 f. sei es nun jener berühmte Cäsaren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder] In dieser Wendung lässt sich die Berühmtheit des „Cäsaren-Schauders“ jedenfalls nicht nachweisen, zumal nicht als Schauder, die (ein) Caesar vor sich selbst empfunden hat. Dass andere ihm mit Schaudern begegnen, ist freilich durchaus belegt. So resümiert Julian Schmidt eine Novelle Erscheinungen von Iwan Turgenjew, wo ein furchteinflößendes Spukbild Caesars beschworen wird, von dem sich der Dichter mit Grausen abwendet, wie folgt: „Für uns, die wir in der Schule Cäsar’s Commentare übersetzt haben, macht diese Stimmung zuerst einen wunderlichen Eindruck. Cäsar hat sich ja so wohlwollend und leutselig geäußert, daß man nicht begreift, wie er zu so einem Gesicht kommen soll. Aber die Empfindung des Dichters ist die richtige. Glaube Niemand einen großen Menschen richtig gefaßt zu haben, der nicht einmal vor ihm einen
480
Menschliches, Allzumenschliches I
Schauder empfunden hat. In der Größe liegt etwas Fremdes, Erkältendes und Dämonisches, wie nach der Sage der Alten in der Erscheinung der Götter.“ (Schmidt 1870, 456) 154, 28 f. der Opferduft, welchen man billigerweise allein einem Gotte bringt] Zwar ist „Opferduft“ bei N. ein Hapax legomenon – auch in den schriftlichen Unterlagen zu seinen Lehrveranstaltungen kommt das Wort augenscheinlich nicht vor. Dennoch ist es unter N.s Zeitgenossen rege im Gebrauch, wenn es um Brandopfer geht, die dem anthropomorph gedachten Gott oder den Göttern in die Nase(n) steigen sollen (so auch in Übersetzungen von 5. Mose 33, 10, 1. Samuel 26, 19 u. Psalm 66, 15, freilich nicht in der von N. hauptsächlich benutzten Luther-Version). In Karl Böttichers (von N. zu Vorlesungszwecken ausgebeuteten) Tektonik der Hellenen heißt es: „Für die Gegenwart der Gottheit beim Opfer und Gebete spricht schon die Einladung derselben zum Opfer im Gebete […]; daher genießt der Gott den Opferduft, Lucian. de Sacrif. 9, und Jup. Trag. 30; Iliad. I. 301“ (Bötticher 1852, 2/4, 34). 155, 3 f. zu taxiren und das und das Verfehlte seines Werkes in’s Licht zu setzen.] In Mp XIV 1, 27 stattdessen: „zu taxiren, das Verfehlte seines Werkes ins Licht zu setzen. Schon der Begriff ‚Genie‘ ist religiösen Ursprungs: man soll weder an einen Gott noch an einen beigegebenen Genius mehr glauben.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,27) 155, 5 f. fällt zuletzt aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der anderen aus] „Schwungfedern“ kommen bei N. nur hier vor – die Remiges, jene Teile des Vogelgefieders also, die das Fliegen ermöglichen. Vertiefte ornithologische Kenntnis war für den metaphorischen Gebrauch an dieser Stelle freilich nicht nötig; gut belegt ist zu N.s Zeit schon die Redensart „Einem die Schwungfedern ausrupfen“ (Wander 1867–1880, 4, 484). 155, 24–26 insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die grössten Segnungen über die Menschen gebracht] Platon: Phaidros 244a–245c unterscheidet vier Arten göttlichen Wahnsinns (μανία), nach Sokrates „werden uns die größten der Güter durch Wahnsinn zu Theil, freilich nur einen Wahnsinn, der durch göttliche Gabe gegeben ist. Denn die Prophetin in Delphoi und die Priesterinnen zu Dodona haben ja Vieles und Schönes in besonderen und öffentlichen Angelegenheiten unserer Hellas im Stande des Wahnsinns geleistet, in dem der Besinnung aber noch Weniges oder Nichts. Und wollten wir von der Sibylla und den Anderen sprechen, welche göttlicher Wahrsagekunst mächtig, fürwahr Vielen Vieles vorausgesagt und für die Zukunft berichtigt haben, so würden wir, doch nur von Allbekanntem sprechend, allzu weitläufig werben.“ (Platon 1853–1874, I/1, 106) In seiner als Basler Professor wiederholt abgehaltenen Einführung in das Studium
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 164–165, KSA 2, S. 154–155
481
der platonischen Dialoge resümiert N. den Gedanken wie folgt: „Denn der Wahnsinn ist nicht ohne Weiteres ein Übel. Die Seherin zu Delphi u. die zu Dodona erzeigten im Wahnsinn viel Gutes. Die Seher u. die Mantik (gespielt mit μανία) Durch die rechten Wahnsinnigen sind die Menschen von den größten Drangsalen befreit. (Reinigungen) Dann die Dichter, die von den Musen ergriffen. Wer ohne Wahnsinn zu der Pforte der Poesie gelangt, der bleibt stets unvollkommen u. die Dichtweise des Besonnenen verschwindet vor der des Wahnsinnigen. So steht es auch in der Liebe. Es ist nachzuweisen, daß diese Gattung des Wahnsinns von den Göttern zum größten Heile verliehen sei.“ (KGW II 4, 101, 28–102, 4) Vgl. dazu ausführlich NK KSA 3, 495, 16–19. 155, 33–156, 6 man möge sich zum Beispiel Napoleon’s erinnern, dessen Wesen sicherlich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen Stern und durch die aus ihm fliessende Verachtung der Menschen zu der mächtigen Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast wahnsinnigen Fatalismus übergieng, ihn seines Schnell- und Scharfblickes beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde.] Ursprünglich lautete dieser (in Mp XIV 1, 27 fehlende) Passus in D 11, 95: „man möge sich zum Beispiel Napoleon’s erinnern, dessen Wesen allmählich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen Stern und durch die aus ihm fliessende Verachtung der Menschen zerstört wurde, bis endlich ihn, anstatt seines ursprünglichen Scharfsinns, ein fast unsinniger Fatalismus bestimmte“. In der nachfolgenden Korrektur wurde der schließliche Drucktext konstituiert, wobei nach „Schnell- und Scharfblicks“ noch ein schließlich gestrichenes „in räthselhafter Weise“ folgte (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,95). Walter Scott betont in seiner von N. am 10. 02. 1876 erworbenen Napoleon-Biographie wiederholt Napoleons fatalistische Neigungen. „Zuverlässig sind wir nicht ungerecht gegen Napoleon, wenn wir von ihm voraussetzen, dass er wenig Sinn für Religion hatte. Einige dunkle jedoch eingewurzelte Doctrinen des Fatalismus scheinen, so weit wir es zu beurtheilen vermögen, den Gesammtinhalt seines metaphysischen Glaubens ausgemacht zu haben.“ (Scott 1827, 8, 159) Zum Napoleon-Komplex bei N. siehe auch Beßlich 2023.
165. Auf zwei längere Abschnitte folgt nun eine Reihe kürzerer Texte, die Einzelaspekte von Kunstproduktion und -rezeption herausgreifen. Den Auftakt macht MA I 165 mit der Behauptung, dass gerade die originell Begabtesten gänzlich Unvollkommenes produzieren könnten, während minder Begabte durchaus jederzeit etwas Ak-
482
Menschliches, Allzumenschliches I
zeptables hervorbrächten, weil sie aus der Erinnerung an Gutes schöpften, das von anderen hervorgebracht wurde. Zu MA I 165 gibt es in Mp XIV 1, 104 eine ‚Reinschrift‘, ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“. Sie lautet: „Wenn ˹Gerade˺ Gerade die originellen, ˹aus sich schöpfenden˺ Köpfe ˹unter den Künstlern˺ können ˹unter Umständen auch˺ ganz leeres und schaales Zeug machen; die Talente nämlich stecken voller Reminiszenzen ˹Erinnerungen˺ an alles mögliche Gute u. produziren auch im Zustand der Schwäche etwas Leidliches. Sind die Originellen aber von sich selber verlassen, so giebt die Erinnerung ihnen keine Hülfe: sie werden leer, wie zb Goethe so mannichfach. Schiller wäre nicht im Stande gewesen, so etwas Schlechtes wie die „Aufgeregten“ zu machen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,104) Eine so scharfe Kritik an Goethe hat N. ansonsten selten formuliert: Dass der Originelle „mannichfach“ Leeres produziert habe, sagt ihm N. andernorts nicht nach (vgl. auch Politycki 1989, 297). Dass demgegenüber Schiller bloß zu den „Talenten“ gehören soll, erstaunt nicht (zu N.s wiederholter Abgrenzung von Schiller vgl. z. B. NK KSA 6, 111, 5 f.). Das 1793 entstandene revolutionäre Drama Die Aufgeregten ist unvollendet geblieben: Bauern proben den Aufstand, aber eine gütige Gräfin bringt alles wieder ins Lot. Gegenüber Eckermann bekundete Goethe am 4. Januar 1824: „Ich schrieb es zur Zeit der Französischen Revolution […] und man kann es gewissermaßen als mein politisches Glaubensbekenntniß jener Zeit ansehen. Als Repräsentanten des Adels hatte ich die Gräfin hingestellt und mit den Worten, die ich ihr in den Mund gelegt, ausgesprochen, wie der Adel eigentlich denken soll. Die Gräfin kommt soeben aus Paris zurück, sie ist dort Zeuge der revolutionären Vorgänge gewesen und hat daraus für sich selbst keine schlechte Lehre gezogen. Sie hat sich überzeugt, daß das Volk wol zu drücken, aber nicht zu unterdrücken ist und daß die revolutionären Aufstände der untern Klassen eine Folge der Ungerechtigkeit der Großen sind. Jede Handlung, die mir unbillig scheint, sagt sie, will ich künftig streng vermeiden, auch werde ich über solche Handlungen anderer in der Gesellschaft und bei Hofe meine Meinung laut sagen. Zu keiner Ungerechtigkeit will ich mehr schweigen, und wenn ich auch unter dem Namen einer Demokratin verschrien werden sollte.“ (Eckermann 1868, 3, 31)
166. MA I 166 unterscheidet zwei Hauptformen in der Rezeption der (griechischen?) Tragödie, nämlich die des allgemeinen Publikums, das nur zu Tränen gerührt werden wolle, und die des „Artist[en]“ (156, 19), der sich für die Machart im Detail interessiere und als Kenner seine Freude an neuen Motivwendungen und Stoffarrangements habe. Dazwischen gebe es noch einen Graubereich jener Men-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 165–168, KSA 2, S. 155–157
483
schen zwischen Künstler und Volk, die sich weder für den einen noch für den anderen Rezeptionsgenuss entscheiden könnten. Zu MA I 166 gibt es in U II 5, 31 eine ‚Reinschrift‘, ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“. Diese Fassung weist zahlreiche Korrekturen und Überarbeitungen auf (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,31). 156, 25–28 Von dem Menschen dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder Volk noch Artist und weiss nicht, was er will: so ist auch seine Freude unklar und gering] In U II 5, 31 stand ursprünglich: „Von dem Menschen dazwischen ist nicht zu reden, da ist alles durcheinander gemischt“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,31).
167. Während MA I 166 Zwischenstufen zwischen populärer und artistischer Dramenrezeption gerade als irrelevant ausschließt und den Anschein erweckt, als gäbe es zwischen beiden Hauptrezeptionssträngen keinen Übergang, spricht sich MA I 167 jetzt für eine klassische Geschmacksbildung durch Dauerkonfrontation aus: Man solle das Publikum denselben Stoff „hundertfältig“ (157, 3) variiert vor Augen führen, um so seine Urteilskraft zu schulen. Zu MA I 167 gibt es in Mp XIV 1, 234 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne die spätere Überschrift, markiert mit einem blauen „A“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,234). Eine Vorstufe gibt es von N.s Hand in U II 5, 38 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,38). 157, 5 Interesse des Stoffes] In U II 5, 38: „Interesse am Stoff“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,38).
168. MA I 168 schildert das Verhältnis von Künstler und Publikum als einen Vertrag, der gegenseitige Rücksichtnahme notwendig macht. Der Künstler dürfe sich in seiner eigenen Entwicklung nie zu rasch von der Auffassungsgabe des Publikums entfernen, sonst könne es ihm nicht mehr folgen und stürze in rezeptionsästhetische Abgründe. Zu MA I 168 gibt es in Mp XIV 1, 234 f. eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, die unmittelbar auf die ‚Reinschrift‘ zu MA I 167 folgt, noch ohne die spätere Überschrift, markiert mit einem blauen „A“. Diese Fassung reicht nur bis zum späteren Drucktext 157, 20 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,234 u.
484
Menschliches, Allzumenschliches I
http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,235). Eine Vorstufe gibt es von N.s Hand in U II 5, 38, wiederum direkt auf die Vorstufe zu MA I 167 folgend (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,38). Zum Pakt von Publikum und Künstler vgl. auch MA I 145, KSA 2, 141. 157, 14 diesen Fortgang] In D 11, 96 korrigiert aus: „ihn“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,96), wie es auch in Mp XIV 1, 235 und U II 5, 38 steht. 157, 16 auf abgelegener Höhe] In D 11, 96 korrigiert aus: „auf unerreichbarer Höhe“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,96). In Mp XIV 1, 235 und U II 5, 38 steht: „auf unerreichbare Höhe“. 157, 20–23 und zwar stürzt es um so tiefer und gefährlicher, je höher es ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar, aus dessen Fängen die in die Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu ihrem Unheil hinabfällt] Dieser Passus wird in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 96 nachträglich ergänzt (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,96). Die Geschichte vom Adler, der die Schildkröte in die Lüfte trägt, ist diejenige vom Tod des Aischylos (der nämlich von der Schildkröte erschlagen worden sein soll), auf die MA I 159 anspielt, siehe mit Quellennachweisen NK 149, 17 f. Hier wird aber nicht die Perspektive des Dichters, sondern die der Schildkröte eingenommen.
169. MA I 169 skizziert eine Ultrakurztheorie des Komischen und des Tragischen: Menschen seien die längste Zeit angstbestimmte Wesen gewesen, denen plötzliche, unerwartete Veränderung Schrecken eingejagt habe. Wenn das Unerwartete aber keinen Schaden mit sich bringt, löse sich die Spannung – „der Mensch lacht“ (158, 6). „Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden Uebermuth nennt man das K o m i s c h e.“ (158, 6–8) Das Tragische hingegen gründe im Übergang von einem langanhaltenden Übermut in Angst, was viel seltener vorkomme als das Komische, da langer Übermut unter irdischen Bedingungen die Ausnahme sei. Zu MA I 169 gibt es in Mp XIV 1, 120 eine ‚Reinschrift‘, ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,120). Siehe zum Komischen vor dem Hintergrund der ästhetischen Theorien des 19. Jahrhunderts auch NK 3/2.1, S. 986 f., ferner Kunnas 2017. MA I 169 bietet eine entwicklungsgeschichtliche Herleitung des Komischen, die zu N.s paläanthropologischen Interessen passt, vgl. Orsucci 1996, 50 (mit Fn. 141). Der Abschnitt nimmt verbreitete psychologische Beobachtungen auf, wie sie etwa Kuno Fischer formuliert hat: „Die einfache Bedingung alles Komischen, das Element desselben ist die Heiterkeit
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 168–170, KSA 2, S. 157–158
485
der Vorstellung, die aus dem ungedrückten Selbstgefühle hervorgeht. Wir dürfen nur auf die eigenen Zustände achten, um zu sehen, wie das Komische in seiner einfachsten Form entsteht. Eine gute Nachricht, die uns von Angst und Sorge befreit, eine glücklich gelöste Aufgabe, eine nach langer Mühe wohl vollendete Arbeit, und wir sind entlastet, fühlen uns frei wie nie und sind mehr als je aufgelegt zu Frohheit und Scherz, zum spielenden Verkehr mit Menschen und Dingen. Oder beobachten wir die ersten und einfachsten Erscheinungen des Komischen an den Lebensäußerungen des Kindes. Die erste Weltempfindung ist ein Schmerz, der sich im Schrei Luft macht; ‚wann wir geboren werden, weinen wir,‘ sagt Lear. Das erste Zeichen, daß sich das Kind wohl fühlt und die Seinigen erkennt, daß ihm die nächste Welt nicht mehr unheimlich ist, sondern anfängt heimlich zu /23/ werden, ist das glückliche und beglückende Lächeln des Kindes.“ (Fischer 1871, 22 f.) Derartige Überlegungen zur Ontogenese des Komischen überträgt N. nun auf die Evolution des Menschen, also auf seine Phylogenese. Bemerkenswert ist an MA I 169, dass hier – im fundamentalen Gegensatz zu GT – das Tragische in kürzester Zeit abgefertigt wird, als Appendix zum Komischen. Ein Beispiel für das angeblich tragiktypische Übergehen anhaltenden Übermuts in große Angst gibt MA I 474, KSA 2, 308 f. mit dem Ende des perikleischen Optimismus.
170. MA I 170 betont – am Beispiel der Tragiker – den agonalen Charakter der griechischen Kunst: Man habe vor sich, vor Seinesgleichen, den Mitkünstlern, bestehen und siegen wollen und habe sich bis zur Heranbildung von „Kunstrichter[n]“ (158, 24 f.) nicht um die Publikumsgunst geschert. Zuerst sei es ausschließlich um die Selbstachtung, die Selbstgewissheit des Siegers gegangen. Wolle man hingegen zuerst die Publikumsgunst, sei man eitel, während derjenige, der sich nur auf Seinesgleichen verlasse, stolz sei. Zu MA I 170 gibt es in Mp XIV 1, 17 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“. Ihr stand ursprünglich der Titel „Kunst u. Ehrgeiz“ mit Tinte voran, später wird „Ehrgeiz“ mit blauem Farbstift gestrichen und durch „Moral“ ersetzt. Das Manuskript weist zahlreiche Korrekturen auf (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,17). Zu MA I 170 vgl. auch Reschke 2020b, 103 f. 158, 17 f. die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem Genius die Flügel] Vgl. NK KSA 3, 45, 28–46, 2. Während Ἔρις, die Göttin des Streits und der Zwietracht, in Hesiods Theogonie (226–229) ausschließlich negativ gezeichnet wird, unterscheidet er in seinen Werken und Tagen eine zerstörerische und eine förderliche Eris: „Nicht nur eine Sippe der Eris gibt es; auf Erden / Walten ja zwei. Die eine mag gern der Kundige loben, / Aber die andere tadeln. Sie sind ja verschiedenen Sin-
486
Menschliches, Allzumenschliches I
nes. / Eine von ihnen erweckt nur Hader und häßliche Feindschaft / Grausam […] / Aber die finstere Nacht gebar schon früher die andre […] / Denn sie ermuntert sogar die lässigen Männer zur Arbeit. / Schaut ein solcher auf andre, die reicher, so möchte er stärker / Schaffen, er sputet sich dann, den Acker zu pflügen, zu säen, / Gut zu richten das Haus: so eifert Nachbar mit Nachbar / Um den bessern Ertrag. Die Eris ist Sterblichen nützlich; / Eifert doch Töpfer mit Töpfer, der Zimmermann mit dem Zimmrer, / Und es neidet der Bettler dem Bettler, der Sänger dem Sänger.“ (Hesiod: Erga 11–26; Übersetzung von Thassilo von Scheffer nach NK KSA 3, 45, 28–46, 2) Die Verbindung von Eris und Agonalität der griechischen Kultur stellte der junge N. oft her, vgl. z. B. PHG 5, KSA 1, 825 und seine Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen 10, KGW II 4, 272. Zu N. und Hesiod allgemein Hertlein 2021, zur guten und schlechten Eris MA II WS 29, KSA 2, 562, ausführlich Aichele 2000, 115–118, Enrico Müller 2005, 80, Siemens 2021, 48, 75 f. (zu MA I 170) u. 187 f. sowie Zhavoronkov 2021, 51 f. Der Genius wiederum, als Schutzgeist einer Person, wird in der römischen Kunst oft mit Flügeln dargestellt. 158, 24 f. bis sie sich endlich Kunstrichter e r z o g e n hatten] Statt „e r z o g e n hatten“ steht in Mp XIV 1, 17: „erzwangen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,17). Die Korrektur erfolgte in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 97 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,97). 158, 30–159, 2 Ehre erstreben heisst hier „sich überlegen machen und wünschen, dass es auch öffentlich so erscheine“. Fehlt das Erstere und wird das Zweite trotzdem begehrt, so spricht man von E i t e l k e i t. Fehlt das Letztere und wird es nicht vermisst, so redet man von S t o l z.] Der in Anführungszeichen gesetzte Passus ist offensichtlich kein Zitat, sondern eine Definition. Über Eitelkeit und Stolz dürfte sich N. eingehend mit Paul Rée beraten haben, in dessen Ursprung der moralischen Empfindungen die Eitelkeit als Movens menschlichen Tuns herausgestellt wird (vgl. z. B. NK 102, 27–31). „S t o l z entsteht folgendermassen. Jemand, der seine Eigenschaften oder Leistungen mit den Eigenschaften oder Leistungen anderer vergleicht, findet die seinigen hervorragend, und verbindet nun mit der Vorstellung seiner, z. B. als eines Schriftstellers, die Vorstellung eines hervorragenden, vor andern ausgezeichneten Menschen, ohne sich um die Meinung der Welt noch weiter zu kümmern; vielmehr, in dem Bewusstsein, ausgezeichnet zu sein, ist die Meinung anderer ihm nun gleichgültig. Wenn er dies Bewusstsein seiner Vorzüge durch sein Betragen ausdrückt, wird er stolz genannt.“ (Rée 1877, 107 = Rée 2004, 190 f.)
171. MA I 171 polemisiert gegen die Notwendigkeitsrhetorik, die das künstlerische Sprechen über ein Kunstwerk oft begleitet. Vielmehr verhalte es sich so, dass
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 170–172, KSA 2, S. 158–159
487
man vieles weglassen oder hinzufügen könne, ohne dass das Kunstwerk dadurch Einbuße erleide oder Gewinn verzeichne. Zu MA I 171 gibt es in Mp XIV 1, 178 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,178). Siehe auch NL 1877, KSA 8, 22[82], 393, 12–16: „Die Form eines Kunstwerks hat immer etwas Lässliches. Der Bildhauer kann viele kleine Züge hinzuthun oder weglassen – ebenso der Klavierspieler. Man muss es so stellen, dass es wirkt: d. h. dass Leben auf Leben wirkt. Als ob jemand eine Geschichte aus seinem Leben erzählt. Einschlafen –“. 159, 6 f. in majorem artis gloriam] Lateinisch: „zum höheren Ruhm der Kunst“. Das ist eine Parodie der zur Devise des Jesuitenordens gewordenen Formel „ad maiorem Dei gloriam“ („zum höheren Ruhme Gottes“), vgl. NK KSA 5, 346, 2 f.
172. Gegenstand von MA I 172 ist die musikalische Aufführungspraxis, näherhin die Aufforderung an den Pianisten, bei seinem Vortrag eines Meisterstücks den Meister vergessen zu machen und zu suggerieren, er erzähle in seinem Spiel seine eigene Lebensgeschichte – was freilich je nach Interpretenpersönlichkeit auch seine Schattenseiten hat. Die ‚Reinschrift‘ zu MA I 172 folgt in Mp XIV 1, 178 unmittelbar der ‚Reinschrift‘ zu MA I 171, ebenfalls noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,178). Zum Klavierspieler siehe auch das in NK ÜK MA I 171 mitgeteilte Notat NL 1877, KSA 8, 22[82], 393, sowie in der personellen Konkretisierung NL 1876/77, KSA 8, 23[190], 471, 1–13: „Wenn Richard Wagner Beethoven zum Vortrag bringt, so versteht es sich von selber, daß Wagner’s Seele durch Beethoven hindurch klingen wird und daß Tempo Dynamik Ausdeutung einzelner Phrasen Dramatisirung des Ganzen Wagnerisch und nicht Beethovenisch ist. Wer daran Ärgerniß nehmen will, dem ist es zu gönnen; Beethoven selbst aber würde gesagt haben ‚es ist ich und du, aber es klingt gut zusammen; so sollte es immer sein‘. Dagegen wenn die Kleinmeister Beethoven vortragen, so wird Beethoven etwas von der Seele der Kleinmeister annehmen – denn der Duft der Seele hängt sich sofort an die Musik und läßt sich nicht von ihr fortblasen. – Ich fürchte, Beethoven hätte keine Freude daran und sagte ‚das ist ich und nicht-ich, hol’s der Teufel!‘“ 159, 27 Zuhörers] In Mp XIV 1, 178 stattdessen: „Hörers“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,178).
488
Menschliches, Allzumenschliches I
159, 28 f. Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und Narrheiten des „Virtuosenthums“] In Mp XIV 1, 178 ist „erklären sich“ korrigiert aus: „entstehen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,178). Der auch durch distanzierende Anführungszeichen markierte, pejorative Gebrauch von „Virtuosenthum“ ist durchaus zeittypisch; er findet sich z. B. auch bei Wagner 1871–1873, 8, 180 über die gegenwärtige Konjunktur dieses „Virtuosenthums“ bei „musikalischen Unterhaltungen“: da ist „das sinnloseste Gebahren eines Virtuosen“ oft nicht weit (ebd., 181).
173. Auch MA I 173 ist auf einem Nebenschauplatz der Kunsttheorie unterwegs: Widrige Umstände mögen Künstler dazu gezwungen haben, große Werke nur skizzenhaft zu hinterlassen. Nachfolgende Künstler sollten diesen Mangel beseitigen, indem sie das eigentlich Gemeinte zu Ende bringen und Wirklichkeit werden lassen. Zu MA I 173 gibt es in Mp XIV 1, 72 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,72). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 88 lautet: „grosse Bdur Sonate / in ihr haben wir den ungenügenden Klavierauszug einer Beethov. Symphonie / jene Zufälligkeiten im Leben des Künstlers, welche den Maler zwingen, sein bedeut. Bild nur als flüchti. Gedank. zu scizziren / den Bildhauer, sich bei dessen Enthüllung zu verhauen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,88). 160, 2 C o r r i g e r l a f o r t u n e.] Französisch: „Das Schicksal korrigieren“. Die französische Sentenz hat sich im deutschsprachigen Raum dadurch verbreitet, dass Riccaut sie in Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm (Akt 4, Szene 2) ausspricht. Sie kommt in der französischen Literatur schon früher vor, siehe Büchmann 1877, 133 f., und meint eigentlich „falsch spielen“ (ebd., 133). 160, 5–12 zum Beispiel Beethoven zwangen, uns in manchen grossen Sonaten (wie in der grossen B-dur) nur den ungenügenden Clavierauszug einer Symphonie zu hinterlassen. Hier soll der späterkommende Künstler das Leben der Grossen nachträglich zu corrigiren suchen: was zum Beispiel Der thun würde, welcher, als ein Meister aller Orchesterwirkungen, uns jene, dem Clavier-Scheintode verfallene Symphonie zum Leben erweckte.] In Mp XIV 1, 72 ist „späterkommende“ aus „nachkommende“, „der Grossen“ aus „der Meister“ korrigiert worden (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,72). Gemeint ist Ludwig van Beethovens 1817/18 entstandene Klaviersonate Nr. 29 B-Dur, op. 106, die sogenannte Hammerklaviersonate, die lange Zeit als das schwierigste Klavierwerk überhaupt galt, das erst Franz
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 172–174, KSA 2, S. 159–160
489
Liszt zu spielen verstanden haben soll. „Ich rufe ferner den ersten Besten aus jenem pietistischen Musik-Mäßigkeitsvereine, den ich sofort noch näher betrachten werde, auf, wenn er einmal von L i s z t die große Beethoven’sche B d u r S o n a t e spielen hörte, mir gewissenhaft zu bezeugen, ob er diese Sonate vorher wirklich gekannt und verstanden hatte?“ (Wagner 1871–1873, 8, 389) Die positive Beurteilung dieses einst beargwöhnten Werkes setzt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig durch, so auch in der von N. gelesenen (vgl. NK 146, 26–29) Beethoven-Darstellung von Adolf Bernhard Marx: „Ja, man muss sich fragen, ob nicht seine Verhältnisse und Schmerzen nothwendig gewesen, damit er ein solcher würde, tief erweckt und tief bis in den innersten Grund seines Nerven- und Gefühlssystems aufgereizt und wund, um so zu empfinden und zu schaffen, wie er gethan. Denn allerdings konnte nur in einer so gestimmten Seele die erregteste, ja heiterste Lebenskraft sich dieses Hineinschaun und Niedertauchen in die nächtigsten Tiefen des Daseins gestatten. Jenes heitre BdurTrio bat davon zu erzählen gehabt. Ein noch stärkeres Zeugniss giebt aus dem Jahre 1818 die / Grande Sonate pour Piano, Op. 106, / an Lebensfülle jenem gleich, an Macht alle Klavierkompositionen überragend. Die Musiker nennen sie die R i e s e n s o n a t e und man denkt dabei zunächst an den Umfang, 58 Seiten, und das Aufgebot technischer Spielkraft, das sie in Anspruch nimmt. Der Name rechtfertigt sich noch besser durch die Macht und Zahl der Gedanken, die sich in diesem kolossalen Werke zusammenstellen und in Fülle der Ausarbeitung vollenden. Eine Folge davon ist das reichste, durch alle Oktaven ausgebreitete Tonspiel; hierin – und nur hierin ist das Aufgebot höchster Technik bedingt. Diesem Spiel der Töne betrachtend hier zu folgen, mangelt nach allem Vorangegangenen so Raum, wie Nothwendigkeit; wer für sich unternimmt, was wir hier unterlassen müssen, wird abermals jene vollkominne Herrschaft über den Stoff zu bewundern haben, die den Meister im weitesten Raum eben so sicher walten und gestalten lässt, als im enger gemessenen.“ (Marx 1863, 2, 228)
174. MA I 174 spricht über Größenverhältnisse und ihre Unübersetzbarkeit: Die Monumentalskulptur mache sich im Miniaturformat nur schlecht, und noch weniger sei etwas Kleines ins Große zu transponieren. So könne man leichter einen großen Mann in einer Biographie klein machen als einen kleinen groß. MA I 174 lebt von der Suggestion, dass Größe und Kleinheit absolute, nicht relative Größen seien. Zu MA I 174 gibt es in Mp XIV 1, 67 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“. Sie hat folgenden Wortlaut: „Nicht alles kann im Kleinen dargestellt werden / Manche Themata vertragen es nicht, im kleinen
490
Menschliches, Allzumenschliches I
Maassstabe behandelt zu werden. Man kann die Laokoongruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Grösse nothwendig.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,67) Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 12 bereitet das vor: „Laokoon kann nicht als Nippes gedacht werden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/NII-3,12). Die zweite Hälfte von MA I 174, der Drucktext 160, 17 bis 160, 20, der in Mp XIV 1, 67 fehlt, findet sich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 98, aber nicht in Gestalt einer späteren Hinzufügung. Es ist dazu keine frühere Manuskriptvorlage nachweisbar. 160, 16 f. Man kann die Laokoon-Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Grösse nothwendig.] „Nippes, fr.[anzösisch], M[ehr]z.[ahl], Putzzeug, Modetand.“ (Petri 1861, 527) Die von N. gelegentlich erwähnte „Laokoon-Gruppe“, eine griechisch-römische Skulptur, die in der Renaissance wiederentdeckt wurde und in die vatikanischen Sammlungen aufging, zeigt Laokoon und seine Söhne im Ringen mit den Schlangen. Die Plastik ist 1,84 Meter hoch, aber oft im Taschenformat reproduziert worden, denn gerade in der deutschen Geistesgeschichte spielt sie seit Johann Joachim Winckels Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755) und Gotthold Ephraim Lessings Abhandlung Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) eine wichtige Rolle. Reschke 2004, 144 sieht in der Kritik an der LaokoonVerkleinerung von MA I 174 eine Parallele zu Winckelmanns Überlegungen. Jacob Burckhardt schreibt im Cicerone dazu: „Die G r u p p e d e s L a o k o o n im Belvedere des Vaticans ist durch die grössten Geister unserer Nation beschrieben und mit einer /501/ Tiefe gedeutet worden wie vielleicht kein anderes Kunstwerk der Welt. […] Wir haben das Werk nicht zu erklären, sondern nur davon zu reden, wie der Einzelne es sich am ehesten geistig zu eigen machen könne. Das Erste, worüber man genau ins Klare kommen muss, ist der Moment, dessen Wahl und Bezeichnung an sich schon ihres Gleichen nicht mehr hat. Man wird finden, dass derselbe aus einem unvergleichlichen Zusammenwirken einer Anzahl Momente verschiedenen Grades besteht. In und mit diesen entwickeln sich die Charaktere zu einem Ausdruck, welcher in dem Kopfe des Vaters seinen höchsten Gipfelpunkt erreicht. Bei weiterer Betrachtung wird man inne werden, wie die dramatischen Gegensätze zugleich die schönsten plastischen Gegensätze sind, und wie die Ungleichheit der beiden Söhne an Alter, Grösse und Vertheidigungskraft ausgeglichen wird durch jene furchtbare Diagonale, welche in der Gestalt Laokoons sich ausdrückt; die Gruppe erscheint schon als Gruppe absolut vollkommen, obschon sie nur für die Vorderansicht bestimmt ist. Das Einzelne der Durchführung ist dann noch der Gegenstand langen Forschens und stets neuer Bewunderung. Sobald man sich Rechenschaft zu geben anfängt über das Warum? aller einzelnen Motive, über den Mischungsgrad des leiblichen und des geistigen Leidens, so eröffnen sich, ich möchte sagen, Abgründe künstlerischer Weisheit. Das Höchste
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 174–176, KSA 2, S. 160
491
aber ist das Ankämpfen gegen den Schmerz, welches Winckelmann zuerst erkannt und zur Anerkennung gebracht hat. Die Mässigung im Jammer hat keinen bloss ästhetischen, sondern einen sittlichen Grund.“ (Burckhardt 1869a, 2, 500 f.) Burckhardt hätte N. sicher zugestimmt, dass eine solche Dichte und Vollkommenheit eine Reduktion auf Miniaturgröße nicht zulässt, so beliebt derlei Skulpturkopien im bürgerlichen Haushalt des 19. Jahrhunderts auch waren.
175. Künstler sind nach MA I 175 in der Gegenwart schlecht beraten, wenn sie die Sinnlichkeit ihres Publikums aufreizen wollen. Denn dieses Publikum sei in einer weihevollen Stimmung und daher diesen sinnlichen Reizungen eher abhold. Zu MA I 175 gibt es in Mp XIV 1, 180 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,180). Eine Bleistiftvorarbeit in N II 2, 129 lautet: „Die Künstler verrechnen sich häufig wenn sie auf eine sinnl. Wirkung ihrer Kunstwerke hinarbeiten; denn ihre Zuschauer u. Zuhörer haben nicht mehr ihre vollen Sinne u. gerathen ganz wider seine Absicht durch sein Kunstwerk in eine langweilige ‚Heiligkeit der Empfindung‘“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,129). In der Druckfassung wird nur die „Heiligkeit“ in Anführungszeichen gesetzt (160, 27), aber nicht der gesamte Term „Heiligkeit der Empfindung“ wie in N II 2, 129. Die Fügung stammt nicht von N., sondern ist schon vor ihm verbreitet. So schreibt der N. wohlbekannte (vgl. NK KSA 5, 16, 28–31) Kunsthistoriker Wilhelm Lübke über die Schwierigkeit „im germanischen Volkscharakter, die ganze Gestalt zum rhythmisch bewegten Träger der Empfindung zu machen. Mag die Bewegung der Seele im feucht schimmernden oder strahlenden Auge, im lächelnden oder schmerzlich zuckenden Mund, im gesteigerten Incarnat des Antlitzes sich hervordrängen wir vermögen ihr dort nicht zu wehren: aber die übrigen Glieder sollen gleichsam nicht wissen, was die Seele bewegt und im Gesichte sich spiegelt. Die Heiligkeit der Empfindung erschiene uns profanirt, wenn sie den ganzen Körper zum Ausdruck mit fortrisse und sich im Gestus, in der Stellung und leidenschaftlichen Bewegung überall äussern wollte.“ (Lübke 1871, 2, 591)
176. MA I 176 ist der erste Abschnitt, der sich einem einzelnen Künstler widmet, nämlich Shakespeare, der die Leidenschaften wohl aus eigener Anschauung gekannt habe, aber im Unterschied zu seinem Vorbild Montaigne nicht in eigenem Namen
492
Menschliches, Allzumenschliches I
über sie gesprochen, sondern seine Einsichten zu ihnen seinen leidenschaftlichsten Figuren in den Mund gelegt habe. Das wird zwar als psychologisch nicht recht plausibel hingestellt – „wider die Natur“ (161, 8) –, gebe Shakespeares Dramen aber eine unvergleichliche Gedankentiefe, die bei Schiller gerade fehle, dessen „Sentenzen“ (161, 11) erfolgreich auf Wirkung setzten, während Shakespeares Gedanken beim allgemeinen Publikum unwirksam blieben. MA I 176 hilft damit freilich nicht, gerade Shakespeares kolossale, in globaler Perspektive Schiller noch weit übertreffende, überaus breite Wirkungsgeschichte zu erklären. Zu MA I 176 gibt es zwei separierte ‚Reinschriften‘, nämlich erstens zu 161, 2– 11 in Mp XIV 1, 100, noch ohne den späteren Titel und markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,100), sowie zweitens zu 161, 11–17 in Mp XIV 1, 183. Zwischen den ersten beiden Zeilen steht da mit blauem Farbstift: „Sophokles“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,183). Diesen zweiten Teil bereitet ein Bleistiftnotat in N II 2, 132 vor: „Schiller der in seinen allgemeinen Sentenzen gar Unrecht oder ein wenig zu sehr Recht hat“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,132). N. ist wiederholt bemüht, sich von Schiller und seiner angeblichen Oberflächlichkeit abzugrenzen, vgl. z. B. NK ÜK MA I 165 u. NK KSA 6, 111, 5 f. 161, 14–17 während die Sentenzen Shakespeare’s seinem Vorbilde Montaigne Ehre machen und ganz ernsthafte Gedanken in geschliffener Form enthalten, desshalb aber für die Augen des Theaterpublicums zu fern und zu fein, also unwirksam sind.] In Mp XIV 1, 183: „während die Sentenzen Sh.’s seinem Vorbilde Mont. Ehre machen und ganz ernsthafte gewesen sind ˹Gedanken in geschliffener Form enthalten˺: desshalb aber für den Rücken ˹die Augen˺ des ˹Th.-˺Publikums zu schwer zu tragen ˹zu fern und zu fein, also unwirksam˺ sind.“ Die Frage von Montaignes Einfluss auf Shakespeare wurde in der zeitgenössischen Forschung diskutiert, und zwar vor dem Hintergrund eines Verses aus Ben Jonsons Volpone (III 2): „‚Almost as much as from Montagnié!’ Gegen wen ist dieser Hieb geführt? Bei welchem Dichter der Elisabethanischen Zeit finden sich Entlehnungen aus Montaigne? Wir vermögen keine ausfindig zu machen, als die berühmten, fast wörtlich übertragenen Verse im Sturm II, 1. Man sollte glauben, dass bei der fortgesetzten, emsigen Durchforschung der Elisabethanischen Literatur solche Stellen nicht verborgen geblieben wären, wenn es deren gäbe. Allerdings lässt sich an Hamlet denken, und vermuthlich hat Jonson ihn gleichfalls im Sinne gehabt. Hamlet’s Betrachtungen über die Ungewissheit des Todes und das ‚Reifsein ist Alles‘ wie seine Gedanken über den Selbstmord haben ihr Vorbild in Essai XIX des ersten Buches (Que philosopher, c’est apprendre à mourir) und in Essai III des zweiten Buches (Coustume de l’Isle de Cea). Der nicht nur im Hamlet II, 2, sondern auch anderswo bei Shakespeare ausgesprochene Gedanke, dass nichts an sich weder gut noch böse sei, sondern dass unser Denken es dazu mache, könnte an Essai XL des ersten
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 176–178, KSA 2, S. 161
493
Buches erinnern (Que le goust des biens et des maux despend en bonne partie de l’opinion que nous en avons); das ist jedoch nur scheinbar, denn Montaigne redet von physischen, Shakespeare von sittlichen Gütern und Uebeln. Die Schilderung der Sphärenmusik im Kaufmann von Venedig (V, 1) ist gleichfalls aus Montaigne geschöpft (Buch I, Essai XXII), was zugleich beweist, dass Shakespeare ihn im Original gelesen haben muss, denn bei der Abfassung des Kaufmanns von Venedig (1594) kann Florio’s Uebersetzung schwerlich schon vorhanden gewesen sein“ (Elze 1877, 231). Zu Montaigne bei N. vgl. auch Vivarelli 2019b, 49–60 u. Vivarelli 2021.
177. MA I 177 reflektiert anhand der räumlichen Bedingungen einer musikalischen Darbietung die Notwendigkeit, nicht nur „gut zu spielen, sondern auch sich gut zu Gehör zu bringen“ (161, 20 f.). Es bleibt offen, ob hier nur die Musik oder auch eine Verallgemeinerung gemeint ist. Man könnte diese Reflexion ja auch so verstehen: Nicht nur in der Ausführung einer Sache, in künstlerischer Produktivität beispielsweise, soll man sein Bestes geben, sondern zugleich die Rezeptionsbedingungen zu steuern und zu optimieren suchen. Zu MA I 177 gibt es in Mp XIV 1, 117 eine ‚Reinschrift‘, bereits mit dem Titel „Sich gut zu Gehör bringen“ und markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,117). Eine Bleistiftvorarbeit in N II 3, 38 bringt die beiden Teile des späteren Abschnitts MA I 177 in umgekehrter Reihenfolge: „Die Geige in der Hand des grössten Meisters giebt nur ein Gezirp zu hören, wenn der Raum zu gross ist; man kann den Meister hier mit jedem Stümper verwechseln. – Man muss verstehen, nicht nur gut zu spielen, sondern sich auch gut zum Gehör bringen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,38)
178. Nach MA I 178 kann es wirkungsvoller sein, einen Gedanken, eine Philosophie bloß andeutungsweise zu skizzieren – sie wie in der Plastik ein Personenrelief in der erstarrten Bewegung zur Darstellung zu bringen –, um so die Rezipienten zu nötigen, selbst in die Bewegung des Gedankens einzutreten und ihn „zu Ende zu denken“ (162, 3). Zu MA I 178 gibt es in Mp XIV 1, 138 eine ‚Reinschrift‘, bereits mit dem Titel „Das Unvollständige als das Wirksame“ und markiert mit rotem „A“ und zwei blauen Strichen. Mit blauem Farbstift steht darüber auch: „Plato“, wiederum rot
494
Menschliches, Allzumenschliches I
durchgestrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,138). Eine exemplarische Philosophie, die wegen ihrer „unvollständige[n] Darstellung“ (161, 29) die Nachfolgenden zur Ausformulierung reizt, scheint also diejenige Platons gewesen zu sein. In N II 3, 47 lautet eine Bleistiftvorarbeit: „Relief: herauswollen, auf halb Wege stehen bleiben – bei einem System: scharfe Beleuchtung“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,47). Das Motiv der Unvollständigkeit als „R e i z m i t t e l“ (167, 15) nimmt MA I 199 wieder auf. MA I 178 und 199 schließen an die romantische Fragmentpoetik an, die die Leser nötigt, den jeweiligen Gedanken selbst und auf ihre Weise zu Ende zu bringen. Zur Metapher des Reliefs vgl. auch NK 58, 15, zu den „innere[n] Gesetze[n] des Reliefes“ Burckhardt 1869a, 534–536.
179. Auch MA I 179 setzt einen rezeptionsästhetischen Akzent: Als Kunst werde Kunst „am besten“ erkannt, wenn sie in „abgetragenste[m] Stoff“ (162, 8) daherkomme. Diese Feststellung – oder soll es eine Aufforderung sein? –, ausdrücklich „[ g ] e g e n d i e O r i g i n a l e n“ (162, 7), also die avantgardistisch-geniehaft Neuerungswütigen gerichtet, scheint einen formalen Konservatismus anzuraten, es also nicht mit dem äußerlichen Anschein des Neuen zu versuchen, wenn man etwas in der Sache Neues zu sagen hat. Fragen sind unausweichlich: Wird damit eine auf Kunst nur schwer anwendbare Unterscheidung von Form und Inhalt postuliert? Oder ist die Rede von Neuem – die MA I 179 vermeidet – überhaupt irreführend, als ob es in der Kunst gar nicht um Neuerung, bislang Ungesehenes, Ungehörtes gehe? Vgl. MA II VM 200, KSA 2, 465 und MA II WS 122, KSA 2, 604 f. Zu MA I 179 gibt es in Mp XIV 1, 162 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel und markiert mit rotem „S“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,162). Mit identischem Wortlaut findet sich der Text schon als Bleistiftnotat in N II 2, 69 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,69).
180. MA I 180 scheint die Schreibsituation in Sorrent, arbeitend in Gemeinschaft mit Paul Rée und Malwida von Meysenbug, zu spiegeln, wenn behauptet wird, „[e]in guter Schriftsteller“ habe neben seinem eigenen zudem „noch den Geist seiner Freunde“ (162, 11–13). In welcher Weise er ihn „hat“, verrät der Aphorismus allerdings nicht. Zu MA I 180 gibt es in Mp XIV 1, 345 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel und markiert mit zwei blauen Strichen. Der Text folgt, von N.s eigener Hand
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 178–182, KSA 2, S. 161–162
495
als „100“ nummeriert, unmittelbar auf 99 vorher von Brenner niedergeschriebene Texte (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,345). Vgl. zur Interpretation von MA I 180 auch Ruckenbauer 2002, 67 f. 162, 11 C o l l e c t i v g e i s t.] Auch wenn das Wort „Collectivgeist“ bei N. nur hier vorkommt – in MA I 94 (91, 28) und MA I 99 (96, 26) ist von „Collectiv-Individuum“ die Rede –, handelt es sich nicht um einen Neologismus. Z. B. Rosenkranz 1875, 2, 278 und Schäffle 1878, 2, 460 benutzen ihn auch schon. Für das „Collectivindividuum“ sind die Belege noch viel zahlreicher, vgl. z. B. Wirth 1872, 5 u. Weygoldt 1875, 122.
181. MA I 181 ist eine rezeptionsästhetische Reflexion auf die Wahrnehmung von Literatur: Wer klar und scharfsinnig schreibe, werde für oberflächlich gehalten, weswegen man sich nicht mit ihm beschäftige, wohingegen derjenige, der sich unklar ausdrücke, die Verstehensanstrengung des Publikums herausfordere, das wiederum „die Freude“ (162, 18) an dieser Anstrengungsbemühung dem unklaren Schriftsteller verdanken zu müssen glaube. Zu MA I 181 gibt es in Mp XIV 1, 327 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift, aber ansonsten mit dem Drucktext identisch, markiert mit zwei blauen Strichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,327). Von N.s Hand stammt die Aufzeichnung U II 5, 81, die lautet: „Das Unglück scharfsinniger Denker ist, dass man sie für flach nimmt ˹u. desshalb ihnen keine Mühe zuwendet˺: und das Glück der unklaren, dass man ˹der˺ Leser sich an ihnen abmüht u. der Stolz auf ˹die Freude über˺ seinen Eifer auch ihnen zu Gute schreibt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,81)
182. Ob beim in MA I 182 verhandelten „V e r h ä l t n i s s z u r W i s s e n s c h a f t“ (162, 21) das Verhältnis von Künstlern oder Schriftstellern oder Normalbürgern zu ihr gemeint ist, bleibt unklar. Jedenfalls behauptet der Abschnitt nur, dass es von einem bloß oberflächlichen Interesse für eine Wissenschaft zeuge, wenn man sich erst begeistere, nachdem man „selbst Entdeckungen in ihr gemacht“ habe (162, 23 f.). Vgl. demgegenüber MA I 251, KSA 2, 208 f. Zu MA I 182 gibt es in Mp XIV 1, 121 eine ‚Reinschrift‘, in die der Titel „Verhältniss zur Wissenschaft“ von N. bereits eingefügt wurde (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,121). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 36 lautet: „Alle die ha-
496
Menschliches, Allzumenschliches I
ben kein wirkl. Interesse für eine Wissenschaft, welche erst anfangen für sie warm zu werden, als sie selbst Entdeckungen gemacht haben.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,36)
183. MA I 183 spricht über bedeutende Menschen, die den „eine[n] Gedanke[n]“ ausbrüten, der ihnen als „S c h l ü s s e l“ (163, 2) zu geistigen „Schatzkammern“ (163, 5) dient, während die Vielen bloß darüber lachen und ihn zum Alteisen rechnen. Der Abschnitt lässt sich als Kürzestversion der Rezeptionsgeschichte Arthur Schopenhauers lesen, dessen einer Gedanke von der Willensnatur der Welt ihm das Universum aufschloss, aber lange Gegenstand allgemeiner Nichtachtung und Spotts war. Zu MA I 183 gibt es in Mp XIV 1, 198 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne späteren Titel und mit roter Markierung (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,198). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 66 diente als Vorarbeit (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,66). In diesen beiden Fassungen steht: „Der einzelne Gedanke“ statt der „Der eine Gedanke“, wie dann im Druck (163, 2) und im Druckmanuskript D 11, 99 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,99).
184. Nach MA I 184 sei an einem Buch „weder das Beste, noch das Schlechteste“ „unübersetzbar“ (163, 7 f.). Zu MA I 184 gibt es in Mp XIV 1, 331 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift, aber ansonsten mit dem Drucktext identisch, markiert mit zwei blauen Strichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,331). Eine Bleistiftaufzeichnung N.s in N II 3, 9 lautet: „Es ist nicht das Beste an einem Buche was an ihm unübersetzbar ist, sondern nur (die Bornirtheit des Individuellen) das Unfreie der Individuen“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-3,9; KGW IV 4, 197 liest: „Unfreie des Individuums“). Von „unübersetzbar“ spricht N. ansonsten nur noch in JGB 28, vgl. NK KSA 5, 46, 10–20.
185. MA I 185 will klarstellen, dass das, was man „Paradoxien des Autors“ (163, 10 f.) nenne, häufig nicht im jeweiligen Buch, sondern nur im Kopf des Lesers selbst zu finden sei.
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 182–187, KSA 2, S. 162–163
497
Zu MA I 185 gibt es in Mp XIV 1, 183 eine ‚Reinschrift‘ noch ohne die spätere Überschrift. Vor den für den Drucktext konstitutiven Korrekturen lautete die ursprüngliche Fassung: „Die Paradoxien des Autors, an welchen ein Leser Anstoss nimmt, sind häufig gar nicht die Paradox. des Autors, sondern die des Lesers.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,183) Während N. selbst in UB III SE 2, KSA 1, 346, 27–31 davon spricht, dass er bei Schopenhauer „nie“ „eine Paradoxie gefunden habe“, und „Paradoxien“ bestimmt „als Behauptungen, die kein Vertrauen einflössen, weil der Autor sie selbst ohne echtes Vertrauen machte, weil er mit ihnen glänzen, verführen und überhaupt scheinen wollte“, liebt es ein Autor wie Eugen Dühring, den von ihm behandelten Autoren „Paradoxien“ nachzuweisen, siehe z. B. Dühring 1866, X u. 195, Dühring 1871, 77 u. 485 u. Dühring 1873b, 417. MA I 185 lässt sich auch als Adaption von Lichtenbergs Erkenntnis lesen: „Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?“ (Lichtenberg 1867, 4, 192)
186. Die „witzigsten Autoren“ sind nach MA I 186 diejenigen, die bloß ein kaum merkliches „Lächeln“ hervorrufen (163, 15 f.). Zu MA I 186 gibt es in Mp XIV 1, 329 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift, mit zwei blauen Strichen markiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,329). Gleichlautend findet sich der Text von N.s Hand schon in U II 5, 111 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ U-II-5,111). MA I 186 nutzt die semantische Bandbreite des Wortes „Witz“ – „verstand, klugheit, kluger einfall, scherz“ (Grimm 1854–1871, 30, 861) – und führt vom modernen Alltagsverständnis – „Scherz“ – zurück zum alten Verständnis: Witz als esprit. 163, 16 bemerkbarste] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 159) ist „st“ in „bemerkbarste“ unterstrichen und am Rand markiert (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1252332904/178/). Die GoA ‚emendiert‘ entsprechend zu „bemerkbare“ (KGW IV 4, 197). In NL 1883, KSA 10, 12[1] 68, 389, 3 (mit Korrektur nach KGW VII 4/1, 220) nimmt N. den Aphorismus wieder auf in der Fassung: „Die witzigsten Autoren erzeugen das unmerklichste ˹ein unmerkliches˺ Lächeln.“
187. Wenn MA I 187 sich einer neutestamentlichen Metapher bedient (vgl. NK 163, 18), „[d]ie Antithese“ zur „enge[n] Pforte“ erklärt, durch die sich „der Irrthum zur
498
Menschliches, Allzumenschliches I
Wahrheit schleicht“ (163, 18 f.), dann könnte das auf den ersten Blick ganz im Sinne Hegelscher Dialektik so klingen, also ob ein triadisches Schema, das von These über Antithese zu Synthese führt, am Ende die Wahrheit herbeizaubert. Freilich dürfte der Aphorismus eher so gelesen werden, als ob der Irrtum, der sich wie ein heimlicher Liebhaber zur Wahrheit „schleicht“, diese am Ende kontaminiert und zu Fall bringt. Dafür sprechen auch die Vorarbeiten. Zu MA I 187 gibt es in Mp XIV 1, 328 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift, mit zwei blauen Strichen markiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,328). N.s Aufzeichnung in U II 5, 92 lautet: „Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich am liebsten die Lüge zur Wahrheit schleicht.“ Über „Lüge“ hat N. mit Bleistift „Irrthum“ geschrieben (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,92). Diese Fassung schließt an NL 1876, KSA 8, 19[29], 337, 19 f. an: „Dreiviertel aller Lügen sind durch die Antithese in die Welt gekommen.“ Den Begriff der Antithese, der bei N. selten vorkommt, bezieht er eher aus der (Gerichts-)Rhetorik als aus der philosophischen Dialektik, vgl. z. B. N.s Darstellung der antiken Rhetorik § 12, KGW II 4, 481 f. 163, 18 enge Pforte] Vgl. Matthäus 7, 13: „Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführet; und ihrer sind viele, die darauf wandeln.“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 10)
188. Dass die meisten Denker schlechte „S t i l i s t e n“ (163, 21) seien, rührt nach MA I 188 wesentlich daher, dass sie nicht bloß ihre „Gedanken“ zu Papier brächten, sondern auch „das Denken der Gedanken“ (163, 22 f.), also offensichtlich den Prozess dokumentierten, wie sie zu ihren Gedanken gekommen seien. MA I 145 hat die Suggestion der Vollkommenheit darin begründet gesehen, dass die Spuren der Entstehung eines Kunstwerks systematisch getilgt worden sind, dieses Verfahren aber als eine von der „Wissenschaft der Kunst“ (141, 24) zu entlarvende Unredlichkeit unter Verdacht gestellt. MA I 188 liest sich hingegen eher als eine stiltechnische Anweisung an die Adresse der Denker, es in der schriftstellerischen Darstellung genau so zu halten, nämlich alles zu beseitigen, was auf das Gewordensein der Gedanken hinweist. Zu MA I 188 gibt es in Mp XIV 1, 339 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Titel, markiert mit zwei blauen Strichen: „Die meisten Schriftsteller schreiben schlecht, weil sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken mittheilen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,339) Diese Version, mit „Schriftstellern“ statt „Denkern“ (wie im Druck, 163, 21), geht zurück auf das längere Notat NL 1876, KSA 8, 19[22], 336, 1–6 „Die meisten
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 187–189, KSA 2, S. 163–164
499
Schriftsteller schreiben schlecht weil sie uns nicht ihre Gedanken sondern das Denken der Gedanken mittheilen. Oft ist es Eitelkeit was die Periode so voll macht, es ist das begleitende Gegacker der Henne, welche uns auf das Ei aufmerksam machen will, nämlich auf irgend einen inmitten der vollen Periode stehenden kleinen Gedanken.“ Diese Fassung wiederum basiert auf dem Bleistiftnotat N II 1, 195 (aufgezeichnet auf einer Kalenderseite vom Oktober 1876), das anhand konkreter Wendungen das Gemeinte konkretisiert: „Die meisten Autoren schreiben schlecht weil sie uns nicht ihre Gedanken sondern das Denken der Gedanken mittheilen ‚wenn man bedenkt dass‘ ‚nimmt man hinzu‘ – usw. Die vollen Perioden über einen kleinen Gedanken sind nichts als das Gegacker der Henne über das gelegte Ei“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,195). Die Aphorismen MA I 179 bis 193 scheinen in ihrer Kürze zu beglaubigen, dass man nur die Gedanken, nicht aber das Denken der Gedanken zeigen soll. Der Leser soll denken – oder das Denken hinter dem Gedanken rekonstruieren. Vgl. zu MA I 188 auch Dahlkvist 2007, 118 f. u. Fn. 249.
189. MA I 189 sieht die Rhythmisierung, die lyrische Fassung der Gedanken beim Dichter als Versuch, zu verschleiern, dass diese Gedanken „zu Fuss nicht gehen können“ (164, 4), also in prosaischer Form als untauglich entlarvt werden müssten, während der „Denker“ (163, 21) in MA I 188 noch den Ratschlag bekommen hatte, nur auf seine Gedanken, ohne das Beiwerk ihrer Entstehungsgeschichte, zu setzen. Zu MA I 189 gibt es in Mp XIV 1, 327 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift, markiert mit zwei blauen Strichen. Vor N.s Korrekturen lautete der Eingangssatz: „Der Dichter fährt seinen Gedanken festlich spazieren“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,327). Dies geht zurück auf N.s Aufzeichnung U II 5, 85 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,85). Zu der in MA I 189 artikulierten Dichter-Kritik siehe NK KSA 3, 640, 5 f. 164, 3 Wagen des Rhythmus] Das Bild erläutert N. in seiner 1874/75 gehaltenen Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈I und II〉 im Abschnitt „Prosa und Poesie in ihrem Unterschiede“: „Die Prosa heißt πεζὸς λόγος, sie geht zu Fuß, der Dichter ist hoch zu Wagen; das Bild vom Wagen schon Homer bekannt, nach Bergk, daher die übliche Formel Od. VIII 500 ἔνθεν ἐλῶν ‚von da ausfahrend‘, Pindar ἔλα fahr zu = λέγε. Oft ἅρμα Μοισᾶν bei Pindar, auch Empedocles, großartiger Eingang bei Parmenides, wie er geleitet von den Sonnenjungfraun, Roß und Wagen zum Tempel der Weisheit hinlenkt.“ (KGW II 5, 28, 12–18) Zu Parmenides’ poetischer Selbstermächtigung Sommer 2019i.
500
Menschliches, Allzumenschliches I
190. MA I 190 merkt an, dass das Einzige, was ein Leser dem Autor nicht verzeihe, sei, sich ihm gleich zu machen und „sein Talent“ (164, 17) zu verhehlen. Als ‚Reinschrift‘ für MA I 190 vermerkt KGW IV 4, 197 nur: „Mp XIV 1“, ohne Seitenangabe. Auch der Manuskriptbeschreibung von Mp XIV in KGW IV 4, 526– 539 ist nicht zu entnehmen, wo sich diese ‚Reinschrift‘ tatsächlich befindet. 164, 9 im Fall] In der ‚Reinschrift‘ nach KGW IV 4, 197 stattdessen: „falls“.
191. MA I 191 kritisiert, dass es mit der „E h r l i c h k e i t“ (164, 14) der Schriftsteller doch nicht so weit her sei, wenn ihnen „ein Wort zu viel“ entfalle, weil sie „eine Periode abrunden“ wollten, also um des Effektes willen bereit sind, mehr – oder weniger? – zu sagen, als notwendig ist. Zu MA I 191 gibt es in Mp XIV 1, 326 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Brenners, noch ohne Überschrift, sonst aber mit dem Drucktext identisch, markiert mit zwei blauen Strichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,326). Dies geht zurück auf N.s Aufzeichnung U II 5, 71, die freilich vor mehreren Korrekturanläufen lautete: „Auch der beste Schriftsteller hat immer [?] zu wenig Geist, wenn er eine Periode abrunden will“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,71).
192. MA I 192 stellt die Schriftstellerei überhaupt als ein anrüchiges Geschäft dar, sei doch derjenige „[d]er beste Autor“ (164, 18), der sich schäme, überhaupt einer zu sein. Zu MA I 192 gibt es in Mp XIV 1, 340 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Brenners, noch ohne Überschrift, sonst aber mit dem Drucktext identisch, markiert mit zwei blauen Strichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,340). Das geht zurück auf NL 1876, KSA 8, 19[32], 338, 1–4, wo N. noch keine aphoristische Verkürzung walten lässt: „Der beste Autor schämt sich Schriftsteller zu sein, er ist zu reich an Gedanken und zu vornehm, als daß er sich nicht schämen sollte, seinen Reichthum anders als nur gelegentlich sehen zu lassen.“ Vgl. die Variante dazu in KGW IV 4, 425.
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 190–194, KSA 2, S. 164
501
193. MA I 193 setzt die Schriftstellerkritik von MA I 192 fort, um vorgeblich die Bücherflut einzudämmen, indem nun prinzipiell jeder Schriftsteller unter die Kriminellen gerechnet wird, „der nur in den seltensten Fällen Freisprechung oder Begnadigung“ (164, 23 f.) verdiene. Zu MA I 193 gibt es in U II 5, 32 eine mit dem späteren Drucktext identische ‚Reinschrift‘, noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „S“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,32). Im Spätwerk wird N. das Metaphernspiel mit Gerichtsprozess und Verurteilung auf die Spitze treiben, am extremsten in dem AC angehängten Gesetz wider das Christenthum (KSA 6, 254), das vor Hinrichtungsphantasien nicht zurückschreckt (vgl. Sommer 2001). Zu MA I 193 siehe auch Hütig 2003, 186. 164, 21 D r a k o n i s c h e s G e s e t z] Das Adjektiv „drakonisch“ benutzt N. nur hier sowie in NL 1879, KSA 8, 42[7], 596, 21. En passant hat Rée 1877, 98 = Rée 2004, 185 die „drakonische Gesetzgebung“ erwähnt. Drakon hatte in Athen 621 v. Chr. das Strafgesetz schriftlich kodifiziert und öffentlich aufstellen lassen. „Das Verlangen nach geschriebenen Gesetzen führt 621 die Gesetzgebung des Drakon herbei.“ (KGW II 3, 431, 31 f.) Diese galt bereits in der Antike als überaus grausam.
194. Die „Feuilletonisten“ (165, 3 f.) seien, so MA I 194, in der Gegenwart das, was in der höfischen Kultur des Mittelalters die „Narren“ (165, 2 f.) gewesen seien, bloß halbwegs vernünftig, halbwegs hellsichtig, zu Übertreibung und Albernheit nur allzu geneigt, das wahrhaft Wichtige übertönend, früher im Fürstendienst, heute im Parteiendienst. Und die Schriftsteller seien den Feuilletonisten nah verwandt, die man wegen ihrer „Tollheit“ (165, 16) allenfalls nachsichtig beurteilen möge. Zu MA I 194 gibt es in Mp XIV 1, 172 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „A“. Sie lautet: „Die Narren der mittelalterl. Höfe entsprechen unseren Feuilletonisten, es sind die selbe Gattung Menschen, halb vernünftig witzig übertrieben, albern, mitunter nur dazu da, das Pathos der Stimmung durch Einfälle, durch Geschwätz zu mildern, ehemals im Dienste von Fürsten u Adeligen, jetzt im Dienste von Parteien (in Partei-Zucht u dgl. lebt jetzt ein guter Theil des alten Sklavensinns im Verkehr des Volks mit dem Fürsten fort). Der ganze moderne Litteratenstand steht aber den Feuilletonisten sehr nahe, es sind ‚Narren der modernen Cultur‘ und durch Überreiztheit des Nervensystems wirkl. nicht ganz zurechnungsfähig.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,172) In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 100 wurden dann die Korrekturen vorgenom-
502
Menschliches, Allzumenschliches I
men, die den Drucktext konstituierten (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,100). Die für Narren sonst durchaus auch bei N. in Anspruch genommene Hellsicht macht sich bei den Literatur- und Feuilleton-Narren nur unzureichend bemerkbar. Zum bei N. oft bemühten Narrenmotiv vgl. z. B. NK KSA 3, 374, 12 f., NK KSA 3, 422, 20–24 u. NK KSA 3, 465, 12–18. 165, 9–11 (wie in Partei-Sinn und Partei-Zucht ein guter Theil der alten Unterthänigkeit im Verkehr des Volkes mit dem Fürsten jetzt noch fortlebt)] N. artikuliert wiederholt seine fundamentalen Vorbehalte gegenüber Parteien und Parteipolitik, vgl. z. B. NK ÜK MA I 579 u. Ottmann 1999, 129. 165, 13 „Narren der modernen Cultur“] Als Zitat lässt sich die Wendung, die auch schon in Mp XIV 1, 172 in Anführungszeichen steht, nicht nachweisen. Eher ist es wohl eine Parallelkonstruktion zu den eingangs bemühten „Narren der mittelalterlichen Höfe“ (165, 2 f.). Die Anführungszeichen dienen vielleicht nur der ironisierenden Hervorhebung; im Titel von MA I 194 kommen die „N a r r e n d e r m o d e r n e n C u l t u r“ (165, 2) noch ohne Anführungszeichen aus.
195. MA I 195 stellt einen antiromantischen Affekt zu Schau: Der seit 100 Jahren grassierende Gefühlsüberschwang behindere die Erkenntnis, deren Herrschaft doch die höhere Kulturstufe darstelle. Eine kalte, nüchterne Schreib- und Denkungsart nach griechischem Vorbild wird dem entgegengesetzt – und am Schluss wird noch warnend zu bedenken gegeben, dass ein derart ausgekühlter Stil als ein neues Gegensatzreizmittel wirken könne, so als ob gerade er die überflüssigen Gefühle erneut anstacheln könnte. Zu MA I 195 gibt es in Mp XIV 1, 154 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „A“. Sie lautet: „Alle Worte werden übertrieben gebraucht, man hat die Furche so tief als möglich eingegraben zB Kunst Weise Gut usw. Die höchste Stufe der Cultur hat eine grosse Ernüchterung aller Worte von Nöthen u. ich glaube, dass die Griechen im Zeitalter des Demosthenes auf dem richtigen Wege waren. Das Ueberspannte bezeichnet alle modernen Schriften; und selbst wenn sie einfach geschrieben wären, so würden die Worte noch zu excentrisch gefühlt werden. Einfachheit, Kälte, Schlichtheit, selbst absichtlich bis an die Grenze hinab, das kann allein helfen. – Übrigens ist diese kalte Schreibart, als Gegensatz, jetzt sehr reizvoll: ˹und darin liegt freilich eine neue Gefahr˺“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,154). In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 100 erfolgten dann von N.s und von Köselitz’ Hand zahlreiche Umarbeitungen, die den Drucktext konstituierten.
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 194–196, KSA 2, S. 165
503
165, 21 höhere Stufe der Cultur] In Mp XIV 1, 154 und ursprünglich im Druckmanuskript D 11, 100 stand „höchste“. Dort wurde dann die Korrektur in „höhere“ vorgenommen. So erscheint es auch in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601. Dort aber markiert N. mit seinem „st“ und einem Strich am Rand, dass er wieder den Superlativ wünsche (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/197/). Diese Korrektur wurde jedoch in der Erstausgabe nicht umgesetzt (Nietzsche 1878, 161). 165, 23–25 hat eine grosse Ernüchterung des Gefühls und eine starke Concentration aller Worte vonnöthen; worin uns die Griechen im Zeitalter des Demosthenes vorangegangen sind] Diese Ausrichtung an der angeblichen griechischen Nüchternheit passt nicht recht zu der in MA I 154, KSA 2, 146 gegebenen Charakterisierung der Griechen als enthemmte Fabulierer. Oder ist „D e n G r i e c h e n n a c h“ (165, 18) tatsächlich nur auf eine ganz spezifische, nachsokratische Periode der griechischen Geschichte gemünzt, in der Demosthenes die Politik Athens bestimmte – also von 346 bis 324 v. Chr. –, während Alexander sein Weltreich zusammenraffte? In NL 1875, KSA 8, 3[71], 35, 2 lobt N. die „Einfachheit“ von Demosthenes’ Stil und in UB II 9 seine von seiner politischen Erfolglosigkeit unbeschadete Größe, vgl. NK KSA 1, 321, 7–9. In seinem Kolleg Geschichte der griechischen Beredsamkeit von 1872/73 behandelt N. Demosthenes ausführlich, ohne ihm dabei jene Tugenden zu attestieren, die MA I 195 mit ihm in Verbindung bringt (KGW II 4, 391–397). Ausführlich zu N.s Demosthenes-Rezeption auch NK KSA 5, 190, 19–24. 165, 28 f. Strenge Ueberlegung, Gedrängtheit, Kälte, Schlichtheit] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand ursprünglich (wie nach Korrektur in D 11, 100): „Strenge Ueberlegung, Einfachheit, Kälte, Schlichtheit“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/197/). N. strich dann mit Bleistift „Einfachheit“ und ersetzte sie durch „Nüchternheit“. In der Erstausgabe steht dann aber „Gedrängtheit“ (Nietzsche 1878, 161).
196. Gute Erzähler, die ihre Figuren mit großer psychologischer Folgerichtigkeit darzustellen verstünden, versagten nach MA I 196 regelmäßig darin, selbst als psychologische Erklärer dieser Figuren aufzutreten. Das sei vielleicht vergleichbar mit der Unfähigkeit großer Pianisten, zu erklären, was genau sie denn da mit jedem einzelnen Finger auf der Tastatur anstellen. Zu MA I 196 gibt es in Mp XIV 1, 69 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, wie üblich noch ohne Titel. Vor den zahlreichen Korrekturen lautete sie: „Bei guten Erzählern steht oft die grösste psycholog. Sicherheit in den Handlungen ihrer Per-
504
Menschliches, Allzumenschliches I
sonen in einem geradezu lächerl. Gegensatz zu der Ungeübtheit des psycholog. Denkens: so dass sie in dem einen Augenblicke ebenso bewunderungswerth als im nächsten bedauernswerth erscheint; sie erklären ihre eigenen Helden u. deren Handlungen ersichtlich falsch, – es ist kein Zweifel, so unwahrscheinlich die Sache klingt. Vielleicht hat der grösste Klavierspieler nur wenig über die technischen Bedingungen u. die speciellen Tugenden u Untugenden, Nutzbarkeit und Erziehbarkeit jedes Fingers (daktylische Ethik) nachgedacht und macht grobe Fehler, wenn er von solchen Dingen redet.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,69) Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 109 f. lautet: „Man findet oft bei mässigen Dichtern, bei Fabrik. v. Sensationsromanen (Miss Braddon) die grösste psycholog. Sicherheit, vielleicht mit Unfähigkeit, die Gründe der Handlungen anzugeben. Wie würdest du handeln? – so wie viell. der grösste Klavierspieler wenig über die technische Bedingung u die speziellen Tugenden u Untugenden jedes Fingers nachgedacht hat (daktylische Ethik) (Nutzbarkeit, Erziehbarkeit d. F.). / Zur Natur werden!“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,109 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/ N-II-2,110) Es gibt keinerlei sonstige Hinweise darauf, dass N. die Werke der englischen Erfolgsschriftstellerin Mary E. Braddon (1837–1915) je gelesen oder besessen hat. Sie waren auch in deutschen Übersetzungen sehr weit verbreitet und firmierten in der Presse und in den Konversationslexika allenthalben als „Sensationsromane“. Psychologisches Talent bei der Figurenführung wird Braddon in den meist gehässigen Besprechungen allerdings kaum attestiert (eine Ausnahme nennt Rubik 2000, 122, Fn. 20). Auffällig ist nun, dass in einem Werk, für das es sonst bei N. auch keine Lektüre-Evidenzen gibt (vgl. aber NK ÜK MA I 206), nämlich in Georg Webers Lehrbuch der Weltgeschichte mit besonderer Rücksicht auf Cultur, Literaturund Religionswesen, die identische, ansonsten nicht belegbare Wendung wie in N II 2, 109 verwendet wird, dass nämlich „Miss Braddon“ eine „unermüdliche Fabrikantin von sogenannten Sensations-Romanen“ gewesen sei (Weber 1876, 2, 627). Dabei taucht Braddon, deren persönliches psychologisches Geschick beim Figurenarrangement Weber nicht würdigt, im Kontext einer ganzen Gruppe englischsprachiger Autorinnen auf, um auf George Eliot zuzusteuern: „Die Romane von G. Eliot (Adam Bede, mill on the floss, Silas Marner, Romola, Felix Holt, the radical,) sind jedenfalls das Bedeutendste was die weibliche Schriftstellerei der Gegenwart in England geleistet hat. Realistisch in den Schilderungen zeugen sie doch von feiner und geistvoller Beobachtung des menschlichen Herzens, von meisterhafter Entwickelung der psychologischen Vorgänge in den einzelnen Charakteren und haben einen bedeutenderen Hintergrund an den Strömungen und Fragen der Zeit“ (Weber 1876, 2, 627). Hat N. womöglich diese Seite nur überflogen, die Wendung von den „Fabrik. v. Sensationsromanen“ und Braddons Namen aufgegriffen und mit der psychologischen Figurenführung kombiniert? Immerhin ist auffällig, dass er 1878 die Werke der von Weber gelobten George Eliot käuflich erwirbt (NPB 209 f.).
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 196–198, KSA 2, S. 165–166
505
Auffällig ist schließlich auch, dass zwischen N II 2, 109 f. und Mp XIV 1, 69 eine bemerkenswerte Verschiebung stattfindet: Genau dasselbe wird ausgesagt – zuerst von den „mässigen Dichtern“, später von den „guten Erzählern“. 166, 16 daktylische Ethik] Der δάκτυλος ist griechisch der Finger – eine daktylische Ethik ist eine Ethik der Fingerfertigkeit, des Fingergebrauchs. Mit dem gleichnamigen Versfuß hat sich N. in seinen philologischen Lehrveranstaltungen intensiv beschäftigt. Der Daktylus besteht aus einer langen oder betonten und zwei kurzen oder unbetonten Silben. „Der Jambus näherte sich der gewöhnlichen Rede, nicht so feierlich wie der Daktylos. Aristoteles sagt, daß man in gewöhnlicher Rede unwillkürlich in Jamben spricht, Rhet. 3, 8, daß man, wenn man feierlich wird, in Daktylen übergeht.“ (KGW II 2, 389, 32–390, 1)
197. Uns persönlich bekannte Autoren lesen „[w]ir“ (166, 20) laut MA I 197 mit doppeltem Blick, insofern wir nicht nur das Geschriebene als solches betrachten und danach forschen, was es für neue Erkenntnis bringen könnte, sondern immer auch darauf schielen, was es uns denn wohl über die Autorpersönlichkeit verrät. Das führe zu einer gegenseitigen Störung der diametral entgegengesetzten Verständnisbemühungen. Auch wer sich mit Freunden unterhalte, könne erst da reiche Erkenntnisse gewinnen, wo die Freundschaft in Vergessenheit gerate und „die Sache“ (167, 1) ins Zentrum rücke. Ähnlich wie in MA I 195, KSA 2, 165 f. scheint eine Praxis der Kälte, der Abkühlung im intellektuellen Umgang selbst mit Freunden notwendig. Zu MA I 197 gibt es in Mp XIV 1, 177 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,177). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 126 lautet: „Werke von Bekannten lesen wir doppelt (von Freunden u. Feinden) / ‚das ist ein Zeichen für ihn‘ das ist ein Beitrag zur Erkenntniss überhaupt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,126). 166, 24 festzustellen] In Mp XIV 1, 177 stattdessen: „festzuhalten“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,177). 166, 28 wie das sich] In Mp XIV 1, 177 stattdessen: „˹wie es sich˺“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,177).
198. Während MA I 189 poetisch rhythmisierte Gedanken unter den Verdacht stellte, nicht für sich stehen zu können, wird in MA I 198 diagnostiziert, dass „[g]ute
506
Menschliches, Allzumenschliches I
Schriftsteller“ (167, 4) den Rhythmus ihrer Satzgefüge an den Geschmack und das Fassungsvermögen ihres beschränkten Publikums anpassten – und damit viel Verlust in Kauf nähmen. Musikern könnte Ähnliches widerfahren. Zu MA I 198 gibt es in Mp XIV 1, 224 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert (später gestrichen): „Leser“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,224). NL 1876, KSA 8, 19[49], 341, 22 f. macht deutlich, dass N. das in MA I 198 Diagnostizierte auch aus der Produzentenperspektive kennt: „Ich verändere manche Rhythmen der Periode wegen der Leser.“ 167, 9–11 Diese Rücksicht auf das rhythmische Unvermögen der jetzigen Leser hat schon manche Seufzer entlockt, denn ihr ist viel schon zum Opfer gefallen.] Diesem „Unvermögen“ stehen schon in N.s frühen Reflexionen „die Griechen mit ihrer ungeheuren rhythmischen u. bildnerischen Kraft“ (KGW II 3, 12, 19 f.) entgegen. Zum Thema ausführlich Günther 2008b.
199. Dass „[ d ] a s U n v o l l s t ä n d i g e a l s k ü n s t l e r i s c h e s R e i z m i t t e l“ (167, 14 f.) wirken könne, exemplifiziert MA I 199 an der glückenden Lobrede, die die Verdienste des Gerühmten nicht vollständig zu erfassen suche, weil so dessen Begrenztheit dem Publikum vor Augen gestellt würde und der Lobredner, der auf Vollständigkeit abziele, sich über den Gegenstand des Lobes stelle. „Desshalb wirkt das Vollständige abschwächend.“ (167, 25 f.) Zu MA I 199 gibt es in Mp XIV 1, 139 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit zwei roten „A“s und zwei blauen Strichen. Vor einigen Korrekturen lautete die ursprüngliche Fassung: „Das Unvollständige ist oft wirksamer als die Vollständigkeit, so namentlich in der Lobrede: da braucht man gerade so eine anreizende Unvollständigkeit, als ein irrationales Element, welches der Phantasie des Lesers ein Meer vorspiegelt u. gleichsam wie Nebel die gegenüberlieg. Küste verdeckt. Die bekannten Verdienste zu erwähnen u dabei ausführl. zu sein, lässt immer den Argwohn aufkommen, es seien die einzigen. Der vollständig Lobende stellt sich über den Gelobten, er scheint ihn zu übersehen. Desshalb wirkt es abschwächend.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,139) Zum Unvollständigen als dem Wirksamen siehe MA I 178, KSA 2, 161 f. MA I 199 lässt sich als Weiterführung einer Überlegung verstehen, die N. in seiner Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈I und II〉 aus Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges II 42 aufgegriffen hatte: „Alles Verschönern aber ist nur bei verhältnißmäßig Kleinen Dingen am Platz, etwas Großes, wie die Macht Athens,
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 198–200, KSA 2, S. 166–168
507
die Größe des Kriegs braucht keinen Lobredner, keinen Homer, ist schon Typus II 42 οὐκ ἂν πολλοῖς τῶν Ἑλλήνων ἰσόρροπος ὡσπερ τῶνδε ὁ λόγος τῶν ἔργων ϕανείη.“ (KGW II 5, 240, 2–6)
200. MA I 200 macht auf eine fundamentale Gefahr im Schreib- und Lehrberuf aufmerksam, nämlich, all das, was man tut, nur daraufhin zu betrachten, wie man es kommunizieren könnte. Ihr eigenes Erkenntnisinteresse, ihr eigenes Wohl verlören der Schriftsteller und der Lehrer so leicht aus dem Blick. Zu MA I 200 gibt es in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 7 f. eine ‚Reinschrift‘ bereits mit dem Titel, markiert mit blauem „A“ und zwei blauen Strichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I1,7 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,8). Sehr ähnlich ist die von N. selbst niedergeschriebene Version in U II 5, 201 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,201). Der thematische Kern stammt aus NL 1876, KSA 8, 16[3], 287, 3– 12, einer augenscheinlich autobiographischen Reflexion auf die eigenen sozialen Rollen mit eindeutigem Ort- und Zeitindex: „Menschen, welche das Talent der Darstellung haben, sehen an den Dingen nur das Darstellbare. Sie begreifen vieles nicht. So auch die Schriftsteller und Lehrer. Diese Alle denken im Grunde immer nur an ihr Talent: ob sie sonst besser oder schlechter werden, ist ihnen gleich. / Als Mensch, Musiker, Philolog, Schriftsteller, Philosoph – in allem merke ich jetzt wie es mit mir steht – gleich, überall gleich! Wäre ich ehrgeizig, so wäre es vielleicht gar nicht zum Verzweifeln: aber da ich es so wenig bin, so ist es f a s t zum Verzweifeln. Bei Schloss Chillon geschrieben, Abends gegen 6.“ Zu datieren ist die Aufzeichnung wohl auf den 30. März 1876 (KGW IV 4, 414). 168, 1 geschrieben hat] Das „hat“ fehlt in M I 1, 7 und wird im Druckmanuskript D 11, 101 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,101). 168, 2 aus Allem] In M I 1, 7 stattdessen: „in Allem“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/M-I-1,7). Die nachträgliche Korrektur erfolgte im Druckmanuskript D 11, 101. 168, 2 und erlebt] Fehlt in M I 1, 7 und wird im Druckmanuskript D 11, 101 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,101). 168, 3 heraus] Fehlt in M I 1, 7 und wird im Druckmanuskript D 11, 101 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,101). 168, 9–11 Er betrachtet sich zuletzt als einen Durchweg des Wissens und überhaupt als Mittel, so dass er den Ernst für sich verloren hat.] In U II 5, 201 stattdes-
508
Menschliches, Allzumenschliches I
sen: „Er betrachtet sich als einen Durchweg, als Mittel u. nimmt sich nicht mehr ernst“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,201).
201. Hat MA I 193, KSA 2, 164 noch mit drakonischen Strafen für schlechte Schriftsteller geliebäugelt, räumt MA I 201 ihre Notwendigkeit ein, gebe es doch immer ein großes, unterentwickeltes Publikum. Die feinsinnigeren, reiferen Rezipienten stürben gewöhnlich zu früh, so dass die überwiegende Mehrheit der Menschen stets der schlechten Schriftsteller bedürfte. MA I 201 prognostiziert keinerlei allgemeine Entwicklung zu höherem Geschmack, keine menschheitsgeschichtliche Geschmacksbildungsperspektive, wie sie die spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie der Aufklärung nahelegt hatte. Zu MA I 201 gibt es in Mp XIV 1, 13 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Titel, mit blauem „A“ und zwei blauen Strichen markiert (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,13). 168, 16 wie die reifern] In Mp XIV 1, 13 stattdessen: „wie die reifen“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,13). 168, 18 f. überwiegend oder mindestens gleich gross mit der der unreifen ausfallen] In Mp XIV 1, 13 stattdessen: „überwiegend oder ˹mindestens˺ gleich gross ˹mit der der unreifen˺ sein“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,13). 168, 22 , mit der grösseren Heftigkeit der Jugend,] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 wurden die beiden Kommata mit Bleistift gestrichen (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/200/). Dennoch blieben sie in der Erstausgabe erhalten (Nietzsche 1878, 164). Im Handexemplar C 4402 ist die gewünschte Streichung der Kommata erneut und diesmal mit rotem Farbstrich markiert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/ 183/).
202. Eine Verständnislücke zwischen Autor und Leser stellt MA I 202 häufig dort fest, wo der Autor zu gut Bescheid weiß und auf Beispiele verzichtet, ohne die der unwissende Leser aber die Sache, um die es dem Autor geht, nicht erfassen kann. Zu MA I 202 gibt es in Mp XIV 1, 175 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Titel, mit blauem „A“ und zwei blauen Strichen markiert (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,175).
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 200–203, KSA 2, S. 168–169
509
203. MA I 203 rühmt es dem deutschen Gymnasium nach, dass es intensiv lateinische Stilübungen getrieben habe, die kein Wissen, sondern eben die „K u n s t ü b u n g“ (169, 5) selbst zum Ziel gehabt hätten. Der Aufsatz im Deutschen sei dazu untauglich, weil es eben bislang keinen musterhaften deutschen Stil gebe. Die Stilübung solle sich an einem gegebenen Inhalt abarbeiten, um so die Konzentration auf die Form selbst zu gestatten. Zu MA I 203 gibt es in Mp XIV 1, 196 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Überschrift, markiert mit blauem „A“ und vier blauen Strichen. Sie lautet: „An Allem was das Gymnasium trieb, war das Werthvollste der lateinische Stil: hier gab es eine Kunstübung, alles andere bezieht sich auf Wissen. Den deutschen Aufsatz voranzustellen ist Barbarei, zumal bei so schlechten Lehrern: denn wir haben keinen mustergültigen deutschen Stil; u. den Gedanken entwickelt man gewiss besser, wenn man einstweilen von Stil absieht, also zwischen der Übung im Denken u. der im Darstellen scheidet. Letztere sollte sich auf mannichfache Fassung eines gegebenen Inhaltes beziehen. Dies geschah im latein. Stil, und die alten Lehrer hatten feines Gefühl u. Gehör. Wer gut schreiben lernte, verdankt es dieser Übung; aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit u. Schwierigkeit der Form. Das Griechische an Stelle des Latein. zu setzen ist eine andere Art von Barbarei: handelt es sich nur ums Kennenlernen von Meisterwerken, so ist es recht, aber das Lebensalter ist nicht reif dafür, man muß erst durch die Klippen unserer Cultur gesegelt sein, um sich mit Wollust in jenen Hafen einzuschiffen. So verdirbt man durch vorzeitige Bekanntschaft eben nur die tiefe Wirkung. Es ist aber alles Lüge, bei Lehrern u Schülern: beide kommen ihr Leben nicht zu einer ehrlichen Empfindung über etwas Alterthümliches, auch nicht über Goethe, sie wissen gar nicht recht, was gut schmeckt u haben sich nur immer geschämt, mit ihrer Empfindung abzuweichen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,196) In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 102 erfolgten dann zahlreiche Umarbeitungen, die den Drucktext konstituierten und selbst von intensiver Stilarbeit zeugen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,102). Den langen Schlussabschnitt über das „Griechische an Stelle des Lateinischen“ hat N. schon in Mp XIV 1, 196 mit blauem Farbstift durchgestrichen; es sollte nach einer später eingefügten Notiz mit roter Tinte dem unvollendeten Werkkomplex „Wir Philologen“ zugeordnet werden. Unter ähnlichen Vorzeichen wie in MA I 203 und in Mp XIV 1, 196 reflektiert N. auf seine eigene Bildungsgeschichte im Lateinischen und Griechischen in GD Was ich den Alten verdanke, vgl. NK 6/1, S. 558–580. 169, 14 blose] KSA u. KGW folgen der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 165). Noch in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand: „blosse“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/201/).
510
Menschliches, Allzumenschliches I
169, 18–22 (jetzt muss man sich nothgedrungen zu den älteren Franzosen in die Schule schicken); aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und Schwierigkeit der Form und wurde für die Kunst überhaupt auf dem einzig richtigen Wege vorbereitet] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand zunächst: „; jetzt muss man sich nothgedrungen zu den älteren Franzosen in die Schule schicken; aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und Schwierigkeit der Form und wurde für die Kunst überhaupt auf dem einzig richtigen Wege vorbereitet“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/201/). N. hat dies mit Bleistift korrigiert in: „; jetzt muss man sich nothgedrungen zu den älteren Franzosen in die Schule schicken. Aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und Schwierigkeit der Form überhaupt und wurde für die Kunst auf dem einzig richtigen Wege vorbereitet“. In der Erstausgabe wurde aber weder die neue Interpunktion noch die Umstellung des „überhaupt“ berücksichtigt; stattdessen wurde der Franzosen-Satz eingeklammert (Nietzsche 1878, 165). Die (in Mp XIV 1, 196 noch fehlende) Behauptung, dass „man sich“ „jetzt“ der stilistischen Schule der „älteren Franzosen“ unterwerfen müsse, ist ein wenig kokett – jedenfalls war N. in den 1870er Jahren aus Mangel an Sprachkenntnis kaum imstande, stilistische Nuancen der französischen Autoren im Original zu würdigen. Bei der gemeinsamen Beschäftigung mit Sainte-Beuves Causeries du Lundi im Haus von Franz und Ida Overbeck war N. darauf angewiesen, dass man ihm die französischen Texte aus dem Stegreif ins Deutsche übersetzte (siehe Sainte-Beuve 2014, 23).
204. MA I 204 ist ein stilkritisches Aperçu und nimmt die Schriftsteller aufs Korn, die aus Unklarheit ihrer Gedankenführung zu Superlativen ihre Zuflucht nehmen müssen, was zu einer starken Kontrastwirkung und grotesken Verzerrungen führe. Zu MA I 204 gibt es in Mp XIV 1, 211 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift, mit rotem „A“, blauem Strich und einer blauen Rubrizierung „asianism“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,211; zum Asianismus siehe NK 151, 4–7). In N II 2, 49 ist mit Bleistift notiert: „Schriftst[eller] welche im Allg. ihren Gedanken keine Deutlichkeit zu geben verstehen, wählen [?] im Einzelnen mit Vorliebe die stärksten übertriebensten Bezeichnungen u. Superlative“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,49).
205. Man werde schriftstellerisch einen Gegenstand am besten darstellen, behauptet MA I 205 metaphorisch, wenn man „die Farben zum Gemälde aus dem Gegenstan-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 203–206, KSA 2, S. 169–170
511
de selber“ (170, 4) nehme und sie artistisch brauche, nämlich „die Zeichnung aus den Gränzen und Uebergängen der Farben erwachsen“ (170, 6 f.) lasse. Zu MA I 205 gibt es in Mp XIV 1, 198 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne späteren Titel und mit roter Markierung (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,198). Was der Ratschlag konkret für die Schriftsteller bedeuten soll – in der Druckfassung sind sie mit der Überschrift „S c h r i f t s t e l l e r i s c h e s M a l e r t h u m“ (170, 2) direkt angesprochen –, bleibt freilich offen: Heißt es, direkte Rede, originalen Wortlaut zu übernehmen und den dann zu kollagieren? Die Vorarbeit NL 1877, KSA 8, 22[64], 390, 3–5 ist nicht nur aufschlussreich, weil sie eine autobiographische Wendung nimmt: „Die früheren Schriften waren Gemälde, zu denen ich die Farben aus den Stoffen, welche ich darstellte, wie ein Chemiker nahm und wie ein Artist verbrauchte.“ Offensichtlich hält das hier sprechende ‚Ich‘ seine bisherigen Werke – GT und UB I bis IV – für chemisch malende, ohne explizit den Anspruch zu stellen, dass sie deshalb besonders gelungen gewesen seien. In diesen Werken, insbesondere in den letzten beiden Unzeitgemässen Betrachtungen über Schopenhauer und Wagner, ist tatsächlich viel ‚Originales‘ aus dem Gegenstand in die Darstellung übernommen worden. Seit Lessings Briefen, die neueste Literatur betreffend (vgl. z. B. Brief 40 u. 41) ist die Kritik an einer bloß „malenden Poesie“ ein stetes Thema in der literaturkritischen Auseinandersetzung. Zur „gemalten Leidenschaft“ (172, 26 f.) siehe NK ÜK MA I 211. 170, 6 und Uebergängen] Von N. in Mp XIV 1, 198 nachträglich eingefügt (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,198).
206. MA I 206 spricht mit sichtlichem Behagen von Büchern, „w e l c h e t a n z e n l e h r e n“ (170, 11), nämlich solchen, die das Unmögliche als selbstverständlich möglich darstellten und so ein überwältigendes Freiheitsempfinden hervorzubringen verstünden. Zu MA I 206 gibt es eine ‚Reinschrift‘, noch ohne späteren Titel und mit blauem „A“ markiert, in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen PflugscharManuskript M I 1, 47. Diese Fassung weist einige Überarbeitungen von N.s Hand auf, die den schließlichen Drucktext konstituierten. In der ursprünglichen Version lautete der Text: „Es giebt Schriftsteller, welche dadurch, dass sie Unmögliches als möglich darstellen und vom Sittlichen so reden, als ob es nur eine Laune sei, ein Gefühl von Freiheit hervorbringen, als ob der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte. Wieland zum Beispiel verstand es, aus märchenhafter Freigeisterei und Lüsternheit einen solchen Trank zu brauen.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,47) Die Tanzmetaphorik, die dann in der Druckfassung mit der Über-
512
Menschliches, Allzumenschliches I
schrift (170, 11) und dem Ende (170, 16 f.) so zentral wird, fehlt in der ursprünglichen Fassung vollständig (zur Freiheitstanzmetaphorik Sommer 2019g); der Akzent lag hier in der moralischen Destabilisierung, die durch freigeistige Neuperspektivierung und skeptisches Ins-Belieben-Stellen zustande kam. Das ist auch in NL 1876, KSA 8, 16[33], 293, 1 f. greifbar: „Ziel: einen Leser so elastisch zu stimmen, daß er sich auf die Fussspitzen stellt.“ Und NL 1876, KSA 8, 16[34], 293, 3 f. doppelt nach: „Freigeisterei Feenmärchen Lüsternheit heben den Menschen auf die Fussspitzen.“ Christoph Martin Wieland (1733–1813) wird immerhin (neben MA II WS 90, KSA 2, 593 u. MA II WS 125, KSA 2, 608) in MA II WS 107, KSA 2, 599 in einem eigenen Abschnitt gewürdigt, wo er allerdings „uns Nichts mehr zu denken“ gebe: „Wir vertragen seine heitern Moralitäten eben so wenig wie seine heiteren Immoralitäten“ (599, 6–8). Immerhin werden Wielands Übersetzungen von Lukian und Cicero gepriesen (599, 4–6) – die N. neben Wielands Horaz-Übersetzungen auch selbst besaß, während sich in seiner Bibliothek keine Originalschrift Wielands erhalten hat. Die Zusammenstellung von „Freigeisterei“ und „Lüsternheit“ ist im Blick auf Wieland durchaus nicht originell, wie Georg Webers mehrfach aufgelegte Geschichte der deutschen Literatur nach ihrer organischen Entwickelung belegt, die Wieland einerseits attestiert: „Er geht mit den Freigeistern“, und andererseits von seinen „leichtfertige[n] lüsterne[n] Schilderungen“ zu berichten weiß (Weber 1850, 59). Zu Georg Weber vgl. auch NK ÜK MA I 196.
207. MA I 207 handelt von unfertigen Gedanken, die wie die Kindheit und Jugend einen Wert an sich hätten, so dass man dem Dichter nicht mit elaborierten (Aus-)Deutungen zu nahe treten solle, wenn er gedanklich unterbestimmt bleibt. „Der Dichter nimmt Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg und macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem haschen; der aber gaukelt an unserm Kopf vorüber und zeigt die schönsten Schmetterlingsflügel – und doch entschlüpft er uns.“ (170, 29–171, 3) Zu MA I 207 gibt es in Mp XIV 1, 96 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne späteren Titel, mit rotem „A“ und zwei blauen Strichen. Sie weist einige spätere Korrekturen N.s auf. Die ursprüngliche Version lautete: „Ebenso wie nicht nur das Mannesalter sondern auch Jugend u Kindheit einen Werth an sich haben u gar nicht nur als Durchgänge u Brücken zu schätzen sind, so haben auch die nicht fertig gewordenen Gedanken ihren Werth; man muss desshalb einen Dichter nicht mit subtiler Exegese quälen u. sich an der Unsicherheit des Horizontes vergnügen; es ist der Weg zu mehreren Gedanken noch offen, man steht an der Schwelle;: es ist, als ob ein Glücksfund von Tiefsinn eben gemacht werden sollte; Der Dichter
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 206–208, KSA 2, S. 170
513
anticipirt etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens, wir [?] sind [?] begehrlich und haschen nach ihm; er gaukelt an unserm Kopf vorüber und zeigt die schönsten Schmetterlingsflügel.“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/Mp-XIV-1,96) Semantisch relevant ist vor allem N.s Korrektur von „es ist der Weg zu mehreren Gedanken noch offen“ zu „wie als ob der Weg zu mehreren Gedanken noch offen sei“ (170, 25 f.). Die Druckfassung klingt so, als ob eine solche Offenheit eine irrtümliche Unterstellung sei; das Original macht deutlich, dass der Analytiker gerade diese Offenheit annimmt. Wer in MA I 207 das „wir“ (171, 1) ist, bleibt offen – ein Denker-Wir, das starke, zu Ende gedachte Gedanken haben will und sich mit den unfertigen nicht begnügt? Und warum soll man die halben Gedanken nicht komplettieren dürfen, auf eigene, denkerische Rechnung? 170, 28–171, 2 gemacht werden sollte. Der Dichter nimmt Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg und macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem haschen; der aber gaukelt an unserm Kopf vorüber] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand zunächst: „gemacht werden sollte; der Dichter nimmt Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg und er macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem haschen; er gaukelt an unserm Kopf vorüber“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/202/). N. hat dies mit Bleistift korrigiert in: „gemacht werden sollte. Der Dichter nimmt Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg und macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem haschen: er gaukelt jetzt an unserm Kopf vorüber“. In der Erstausgabe wurde zwar der Punkt nach „sollte“ gesetzt, nicht aber der Doppelpunkt nach „haschen“; der letzte Halbsatz wurde noch einmal umgestellt und kommt ohne „jetzt“ aus (Nietzsche 1878, 166).
208. Der wieder etwas längere Abschnitt MA I 208 gibt der konventionellen Idee, dass ein Autor in seinen Büchern weiterlebe, eine neue Wendung: Das Buch friste, einmal aus den Händen des Autors gegeben, bei seinen Lesern ein Eigenleben, initiiere neue Gedanken und Taten, auch neue Werke. Entsprechend könne sich glücklich schätzen, wer am Ende seines Lebens von sich sagen dürfe, er habe alle seine Ideen in Buchform in die Welt gebracht. Die Pointe von MA I 208 besteht nun darin, dieses Konzept des Fortlebens, ja der „U n s t e r b l i c h k e i t“ (171, 27) durch Selbstdiffusion auf jede Form von menschlicher Handlung auszuweiten, auf jeden Gedanken, der geäußert und in der Welt im Kleinen oder Großen wirkmächtig wird. Da alles miteinander verbunden erscheint, sei jede Form der „Bewegung“ (171, 28) in den nachfolgenden Bewegungen aufgehoben.
514
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 208 gibt es in Mp XIV 1, 187 eine ‚Reinschrift‘ noch ohne den Titel, markiert mit blauem „A“ und blau rubriziert „Fortleben der Griechen“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,187). MA I 208 variiert den alten, von N. etwa in NL 1872/73, KSA 7, 19[173], 472, 24 bemühten Spruch nach Terentianus Maurus: De litteris, syllabis, pedibus et metris II 1286: „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“ (in der von N. am 19. 11. 1870 entliehenen Ausgabe: Terentianus 1825, 57; vgl. Rahden 1984, 481): Bücher haben ihre Schicksale, die der Autor nicht mehr kontrolliert, was freilich auch den Tod des Autors verhindert. Allerdings würde die mögliche Suggestion von MA I 208, ein Autor oder ein Handelnder stehe ganz am Anfang einer Kausalkette, der in MA I ja wiederholt vorgetragenen Idee vollständiger Determination und damit Unverantwortbarkeit aller Handlungen widersprechen. Mehr als ein Katalysator auf ihn einwirkender Kräfte könnte der Autor oder Handelnde unter diesen Umständen eigentlich schwerlich sein. Zu MA I 208 vgl. z. B. Juhász/Csejtei 2005, 309 u. Brücker 2019, 269. 171, 8 f. als wäre der eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun seinen eigenen Weg weiter] Die hier zugrundeliegende entomologische Erkenntnis mutet apokryph an: Bei welchem Insekt auch mit bester Regenerationsfähigkeit so etwas vorkommen kann, bleibt N.s Geheimnis. 171, 15 wird die Seele von Vorsätzen und Handlungen] In Mp XIV 1, 187 stattdessen: „wird die Seele von Handlungen u Vorsätzen“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,187). 171, 25 f. dass Alles, was geschieht, unlösbar fest sich mit Allem, was geschehen wird, verknotet] Vgl. NK KSA 4, 276, 23 f. 171, 28–30 was einmal bewegt hat, ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem Bernstein ein Insect, eingeschlossen und verewigt] Dass Insekten in Bernstein aus Urzeiten überliefert sind, war im 19. Jahrhundert keine neue Erkenntnis; vielfach ist sie auch literarisch verarbeitet worden, z. B. in Joseph Victor von Scheffels (1826–1886) Erfolgsroman Ekkehard (1855 – zu N. und Scheffel vgl. NK KSA 6, 111, 5 f.): „Mitten im Bernstein saß ein Mücklein, so fein erhalten, als wär’s erst neulich hereingeflogen, und hat sich dies Insect, wie es in vorgeschichtlichen Zeiten vergnüglich auf seinem Grashalm saß und vom zähflüssigen Erdharz überströmt ward, auch nicht träumen lassen, daß es in solcher Weise auf die Nachwelt übergehen werde.“ (Scheffel 1874, 41) Was es mit dem Bernstein chemisch auf sich hat, konnte N. z. B. bei Schoedler 1875, 1, 490 erfahren. Ob die Bernstein-Insektenmetapher in MA I 208 glücklich angewendet wird, steht in Frage: Im Unterschied zur Bernsteinkonservierung ist im Falle menschlicher Handlungen und Autorschaft die anfängliche Bewegung in den nachfolgenden gerade nicht erhalten, sondern das Anfängliche ist völlig verändert, auch wenn man
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 208–210, KSA 2, S. 171–172
515
einen strengen Determinismus verficht, der alles Dynamisch-Veränderliche als festgezurrt denkt in unauflöslicher Verknotung – womit Veränderung und Bernsteinkonservierung letztlich in eins fielen. Man könnte freilich auch den MA I 208 genau entgegengesetzten Schluss ziehen: Es müsse zu Trauer Anlass geben, dass das Eigene gerade nicht konserviert bleibe, sondern bestenfalls monströs travestiert weiterwirke. Ist es nicht gerade das Rezeptionsschicksal eines Menschen, nicht Herr zu bleiben?
209. MA I 209 nimmt ein Motiv aus MA I 208 auf, dass nämlich der alt und hinfällig gewordene Schriftsteller sich im besten Fall glücklich schätzen kann, all das, was er zu sagen hatte, auch gesagt zu haben. Hier nun soll er am Zerstörungswerk des Alterns eine heimliche Freude empfinden, weil dies nämlich den schon in die Sicherheit des Werkes gebrachten Schätzen nichts anhaben könne. Zu MA I 209 gibt es in Mp XIV 1, 349 f. eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne die spätere Überschrift und markiert mit rotem „A“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,349 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,350). In U II 5, 89 findet sich von N.s Hand eine Vorarbeit mit zahlreichen Korrekturen. Ursprünglich lautete sie wohl: „Den Künstler u den Denker welcher in Werken sein besseres Selbst dargestellt hat, hat es davor gerettet, mit seinem Leib zu altern er [?] sieht deshalb diesem Zerbröseln u Zugrundegehen mit Ironie zu: die Zeit scheint zu glauben, dass als ob er im Verborgenen einen Dieb an seinem Geldschranke arbeiten sieht, während er weiss, dass er leer ist u alle Schätze gerettet sind.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,89) 172, 4 empfindet eine fast boshafte Freude, wenn er sieht] In Mp XIV 1, 350 stattdessen: „sieht mit Ironie zu“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,350). Die Korrektur erfolgte in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 103 von N.s Hand (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,103).
210. MA I 210 macht einmal mehr aus dem Unbehagen gegenüber atemloser schriftstellerischer Geschäftigkeit keinen Hehl und plädiert stattdessen für vornehme Zurückhaltung, der dann das reife Produkt in den Schoß fällt. Zu MA I 210 gibt es in Mp XIV 1, 132 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ und blauem Strich, wie üblich noch ohne den späteren Titel. Diese Fassung lautet: „Die geborenen Aristocraten des Geistes sind nicht zu eifrig; ihre Production
516
Menschliches, Allzumenschliches I
˹Schöpfungen˺ erscheinen ˹und fallen an einem ruhigen Herbstabend vom Baume˺, ohne hastig begehrt, gefördert, von Neuem verdrängt zu werden. Das unablässige Schaffenwollen ist gemein, zeigt Eifersucht Neid Ehrgeiz an. Wenn man etwas ist, so braucht man nichts zu machen.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,132) Die Schärfe des Schlusssatzes in Mp XIV 1, 132 tilgt die Druckversion mit der Einfügung von „eigentlich“ – und dem nachgeschobenen Halbsatz „und thut doch sehr viel“ (172, 16). Der Drucktext wurde dann durch Korrekturen in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 103 konstituiert. Den Schlusssatz 172, 16 f. hat N. selbst handschriftlich hinzugefügt. 172, 10 f. Aristokraten des Geistes] Vgl. NK 3/2.2, S. 1084 f. u. zur Metapher der Geistesaristokratie im deutschen Geistesleben NK KSA 6, 112, 2 f. 172, 13 durch Neues] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „von Neuem“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648 750028/204/). 172, 17 über dem „productiven“ Menschen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „über den ‚productiven“ Menschen‘ (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/204/).
211. Aus der Konstellation Achill und Homer – der eine erlebt etwas, der andere beschreibt das Erlebnis – reflektiert MA I 211 das Verhältnis des Künstlers zur Leidenschaft. Er sei entgegen dem populären Vorurteil keineswegs selber ein Mensch „der grossen Leidenschaft“ (172, 24 f.), sondern male sie bloß. Da das Publikum jedoch gerne diese „gemalte[.] Leidenschaft“ (172, 26 f.) mit der persönlichen Leidenschaftlichkeit der Künstler biographisch beglaubigt sähe, gäben diese „unbewusst[..]“ (172, 26) häufig vor, sie zu haben. Sie in höchstem Maße selbst zu haben, verunmögliche es, sie künstlerisch zu beschreiben. Allerdings, so der Nachsatz, seien Künstler als „Individuen“ oft „z ü g e l l o s [ . ]“, „soweit sie eben nicht Künstler sind“ (173, 4 f.; vgl. dazu Mp XIV 1, 218, mitgeteilt in NK ÜK MA I 212). Zu MA I 211 gibt es in Mp XIV 1, 128 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“, bereits mit der Überschrift „Achilles u Homer“ versehen (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,128). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 1 lautet: „Der eine hat die Empfindung und der Andere beschreibt sie. Ewig Homer u. Achilles. / Alle Schriftsteller erleben zu bewusst, zu unsicher.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/N-II-3,1; den letzten Satz edieren Colli und Montinari als eigenständiges „Fragment“: NL 1876/77, KSA 8, 21[2], 368) Quer übers Blatt steht in N II 3, 1 weiter:
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 210–212, KSA 2, S. 172–173
517
„Er giebt dem Affect Anderer Worte, er ist Künstler soweit“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-3,1). Die in MA I 211 gestellte Frage lässt sich zurückspiegeln auf den Denker – gerade auch den Denker N. Gibt der seine Leidenschaftlichkeit, sein Hingerissensein nur vor, übertreibt es zumindest kolossal, um Effekt zu erzielen? Muss der Denker selbst Leidenschaften haben oder ist er (womöglich im Unterschied zum Künstler) ein kalter Herr der Übersicht, auch über die Leidenschaften der anderen und was Dritte – „Künstler“ – mit ihnen machen? Zur malenden Poesie siehe NK ÜK MA I 205, zur Konstellation Homer/Achill NK KSA 5, 344, 1–3. 173, 5 soweit sie eben nicht Künstler sind] Das „eben“ hat N. in Mp XIV 1, 128 nachträglich mit Bleistift eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,128).
212. MA I 212 setzt ein mit der Problematisierung jener klassischen Funktionsbestimmung der Tragödie in Aristoteles’ Poetik (1453b 1 ff. u. 1449b 26–30, ferner Politik 1341b 38 ff.; vgl. MA I 103, KSA 2, 100, 23), wonach deren Wirkung als Reinigung (κάθαρσις) der von ihr im Zuschauer hervorgerufenen Affekte Furcht (φóβος) und Mitleid/Erbarmen (ἔλεος) zu verstehen sei (ein Thema, das N. wiederholt aufgreift, vgl. z. B. NK KSA 1, 134, 3 f., NK KSA 3, 436, 25 f., NK KSA 5, 48, 22–7, NK KSA 5, 166, 9–13, KSA 6, 174, 4–7 u. NK KSA 6, 160, 18–21; zu N.s Beschäftigung mit Aristoteles in seiner Basler Zeit siehe Huang 2021). Mit Jacob Bernays’ Studie über die Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, die N. intensiv rezipiert hatte, kam ein medizinisch-therapeutisches Verständnis der fraglichen Aristoteles-Passagen auf (vgl. Bernays 1857, 148, zitiert in NK KSA 5, 322, 22–29), das MA I 212 adaptiert, um es zugleich zu bestreiten: Mitleid und Furcht scheinen erstens nicht zu jenen organischen Bedürfnissen zu gehören, die sich wie der Sexualtrieb durch Befriedigung wenigstens zeitweise lindern lassen. Und zweitens würde sich noch „jeder Trieb“ (173, 18) durch wiederholte Befriedigung, durch Einübung verstärken, so dass also Platon doch recht gehabt haben könnte, dass die Menschen durch die Tragödie schließlich furchtsamer und sentimentaler würden, schließlich ganze Poleis in falscher Leidenschaft entarteten. MA I 212 stellt freilich diese Anfragen in den Raum, um sie mit einer unverhofften Schlusswendung abzublocken (die in Spannung zu früheren Äußerungen z. B. in MA I 201 über den Einfluss schlechter Schriftsteller oder in MA I 208 über die anhaltende Wirkung des Geschriebenen steht): Wo gebe es, so fragt das sprechende „[W]ir“ (174, 1), heutzutage überhaupt noch eine Wirkung, einen „Einfluss der Kunst“ (174, 3)?
518
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 212 gibt es in Mp XIV 1, 218 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert „Kunst u Moral“, wie üblich noch ohne den späteren Titel. Diese Fassung lautet: „Sollten Mitleid u Furcht wirkl. wie Aristoteles will, durch die Tragödie entladen werden? Sollten Geistergeschichten weniger furchtsam u abergläubisch machen? Liebesgenuss weniger verliebt? Es ist bei einigen zB. bei dem Liebesgenuss wahr, dass hier ein Bedürfniss befriedigt u. so vorübergehend eine Linderung eintritt. Aber die Furcht u das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Bedürfnisse bestimmter Organe, welche erleichtert werden wollen. Und auf die Dauer wird jeder Trieb durch Übung gestärkt; selbst jene periodischen Linderungen thun dem keinen Eintrag. Es wäre möglich, dass Mitleid u. Furcht unmittelbar durch die Tragödie gemildert würden; im Ganzen, im Verlaufe werden sie doch verstärkt u. Plato hat Recht. Der tragische Dichter bekommt nothwendig eine düstere, furchtvolle Weltbetrachtung, u. eine weiche reizbare thränenvolle Seele; dies beweist die Entwickelung tragischer Dichter. Ebenso vermögen sie sich schwer im Zaume zu halten; nur als Künstler sind sie maassvoll, als Menschen maasslos. – Ebenso die Völker u Stadtgemeinden, wie die Athener.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,218) Die tiefgreifende Überarbeitung des Textes fand dann in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 104 statt, ausschließlich von Köselitz’ Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,104). Das neue Ende hat insbesondere die Überschneidung mit MA I 211, KSA 2, 173, 4–6 getilgt. Die Konstellation Aristoteles/Platon in ihrer entgegengesetzten Einschätzung der Tragödienwirkung behandelt auch NL 1876, KSA 8, 19[99], 354. Eine in MA I 212 dann nicht eingebaute Erweiterung in Richtung einer Kritik an einer auf Mitleid basierenden Moral deutet NL 1876/77, KSA 8, 21[75], 377, 9–11 an: „Gegen Aristoteles, Geistergeschichten – durch die Kunst das Mitgefühl der Menschen gemehrt, darauf Moral, ebenso durch die Religion.“ 173, 23–25 und Plato behielte doch Recht, wenn er meint, dass man durch die Tragödie insgesammt ängstlicher und rührseliger werde] Siehe Platon: Politeia 605c–606b. In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand zunächst: „und Plato hat recht behalten, welcher meint“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/205/). N. hat dies mit Bleistift korrigiert in: „und Plato hat [sic] doch recht behalten, wenn er meint“. Erst in der Erstausgabe erscheint dann der Konjunktiv II „behielte“ (Nietzsche 1878, 169). 173, 26–28 eine weiche, reizbare, thränensüchtige Seele bekommen, desgleichen würde es] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand zunächst: „eine weiche, reizbare, thränenvolle Seele bekommen, würde es“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/205/). N. hat mit Bleistift „thränenvolle“ in „thränensüchtige“ geändert, vor dem „würde“ das Komma gestrichen und zusammen mit einem Semikolon ein „auch“ eingefügt. Dieses wird in der Erstaus-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 212–213, KSA 2, S. 173–174
519
gabe durch ein „desgleichen“ ersetzt und das Komma wird restituiert (Nietzsche 1878, 169). 173, 29 f. besonders an ihnen ergötzen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „besonders an ihm ergötzen“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/205/).
213. „F r e u d e a m U n s i n n“ (174, 5) rührt nach MA I 213 daher, dass das Erwartbare, Zweckmäßige, Notwendige ins Gegenteil verkehrt werde und so eine Befreiung vom Joch der Notwendigkeit stattfinde. Zu MA I 213 gibt es in Mp XIV 1, 87 eine ‚Reinschrift‘ noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und mit Bleistift rubriziert: „Kunst u Moral“. Diese Fassung lautet: „Wie kann der Mensch Freude an Unsinn haben? So weit auf der Welt gelacht wird, ist dies der Fall. Man kann sagen, fast überall wo es Glück giebt, giebt es Freude an Unsinn. Das Umwerfen der Erfahrung ins Gegentheil, doch so dass es keinen Schaden macht, sondern in der Vorstellung bleibt, ergötzt, denn es befreit uns momentan von einem Zwange; wir spielen u. lachen dann, wenn das Unerwartete (das gewöhnl. bange macht und spannt) sich ohne zu schädigen entladet.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,87) In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 104 erfolgte dann eine eingehende Überarbeitung (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,104). Offensichtlich ist einerseits der Bezug zu Schopenhauers’ Kompakttheorie des Lachens: „Das L a c h e n entsteht jedesmal aus nichts Anderem, als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen einem Begriff und den realen Objekten, die durch ihn, in irgend einer Beziehung, gedacht worden waren, und es ist selbst eben nur der Ausdruck dieser Inkongruenz. […] Je richtiger nun einerseits die Subsumtion solcher Wirklichkeiten unter den Begriff ist, und je größer und greller andererseits ihre Unangemessenheit zu ihm, desto stärker ist die aus diesem Gegensatz entspringende Wirkung des Lächerlichen. Jedes Lachen also entsteht auf Anlaß einer paradoxen und daher unerwarteten Subsumtion; gleichviel ob diese durch Worte, oder Thaten sich ausspricht. Dies ist in der Kürze die richtige Erklärung des Lächerlichen.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 70) Andererseits reichert MA I 213 das Schema der schadensfrei enttäuschten Erwartung mit einer physiologischen Entladungsidee an (vgl. NK 174, 15 f.). Zum anbrechenden Zeitalter des Ernstes siehe MA I 240, KSA 2, 201 f. 174, 15 f. wir spielen und lachen dann, wenn das Erwartete (das gewöhnlich bange macht und spannt) sich, ohne zu schädigen, entladet] So in der Erstausgabe Nietz-
520
Menschliches, Allzumenschliches I
sche 1878, 170. In allen vorangehenden Textzeugen, also in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648 750028/206/), in D 11, 104 und in Mp XIV 1, 87, stand statt „das Erwartete“ unkorrigiert: „das Unerwartete“. Die Entladungsterminologie hat Bernays benutzt, als er über Aristoteles Katharsis-Idee sprach, vgl. NK ÜK MA I 212 u. NK KSA 5, 322, 22– 29. 174, 17 Es ist die Freude der Sclaven am Saturnalienfeste.] Vgl. NK KSA 3, 345, 16 mit ausführlichen Quellenauszügen zum römischen Saturnalienfest, das auch in DW 1, KSA 1, 558, 7 sowie in WL 2, KSA 1, 888, 11 erwähnt wird. „Während der ganzen Festdauer waren alle öffentlichen und Privatgeschäfte eingestellt, und es herrschte ungezügelte Freiheit überall. Den Gefangenen wurden die Ketten abgenommen, die Sklaven durften mit ihren Herrschaften zu Tische sitzen und wurden sogar von diesen bedient.“ (Meyer 1874–1884, 14, 175)
214. MA I 214 skizziert eine kulturelle Sublimierungstheorie: Durch eine „Kunst des Idealisirens“ (174, 24 f.) hätten manche Kulturen wie die griechische Triebe wie den Sexualtrieb oder Krankheiten wie „Nerven-Epidemien“ (174, 27) zu etwas Höherem, Kulturdienlichem veredelt. Zu MA I 214 ist keine Vorarbeit überliefert; im Druckmanuskript D 11, 104 ist unter der von Köselitz notierten Überschrift „Veredelung der Wirklichkeit“ ein mit schwarzer Tinte von N.s Hand (?) geschriebenes Manuskript aufgeklebt (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,104). Vgl. zur Interpretation von MA I 214 z. B. Heller 1972b, 81, Hütig 2003, 185 u. Bitsch 2008, 168. 174, 20 aphrodisischen Triebe] „Aphrodisischer Trieb“ ist ein etwas preziöses Synonym für den Geschlechtstrieb, das im 19. Jahrhundert gelegentlich belegt ist (z. B. Klausen 1839, 1, 128 u. Mercklin 1851, 71). Die göttliche Verkörperung dieses Triebes, von der MA I 214 spricht, ist bei den Griechen zunächst Aphrodite selbst, sodann Eros, den auch NL 1880, KSA 9, 367, 19 f. vor Augen hat, wenn es dort (im Blick auf das Symposion) heißt: „Plato hat den Erkenntnißtrieb als idealisirten aphrodisischen Trieb geschildert“. 174, 22–24 ist im Verlaufe der Zeit jener Affect mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch thatsächlich sehr veredelt worden] In D 11, 104 steht stattdessen: „ist ˹wurde˺ im Verlaufe der Zeit jener Affect so mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen worden, dass er thatsächlich sehr veredelt wurde ˹worden ist˺“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,104). Die Einfügungen wur-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 213–215, KSA 2, S. 174
521
den mit Bleistift vorgenommen. In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 bleibt unkorrigiert: „ist im Verlaufe der Zeit jener Affect so mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen worden, dass er thatsächlich sehr veredelt wurde“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/206/). Die Erstausgabe Nietzsche 1878, 170 bringt dann den Text wie in 174, 22–24. 174, 26–29 zum Beispiel die Griechen, welche in früheren Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus der Bacchantin herausgebildet haben] Die Tragödie Die Bakchen oder Bacchantinen des Euripides, 406 v. Chr. entstanden, in der die von Dionysos mit Wahnsinn geschlagenen Frauen Thebens nicht nur orgiastisch Dionysos feiern, sondern auch lebendes Wild und Pentheus zerreißen, lieferte N. eine Vorlage für seine Darstellung des Dionysos-Kultes in GT und DW 1, KSA 1, 554 f., vgl. z. B. NK KSA 1, 31, 31–33, NK KSA 1, 82, 11–83, 4, Hödl 2009, 535 u. Reibnitz 1992, 42. 1870 las N. mit seinen Schülern am Pädagogium in Basel Euripides’ Werk und notierte dazu: „Die Bacchen des Euripides haben nach der Aussage meiner Schüler einen starken Eindruck gemacht und Lust erweckt“ (NL 1870, KSA 7, 4[9], 91, 17 f.). In seiner Vorlesung Einleitung in die Tragödie des Sophocles von 1870 kam N. ausführlich auf die Bachantinnen in Euripides’ Tragödie als „Muster edler Sittsamkeit“ (KGW II 3, 14, 11) zu sprechen: „Man bewundert am meisten die That des Hellenenthums in der Vergeistigung der Dionysosfeier, wenn man vergleicht, was aus gleichem Ursprunge bei den andren Völkern entstanden. Solche Feste sind uralt u. überall nachweisbar“ (KGW II 3, 13, 18–21), aber eben nirgends so edel und sittsam orgiastisch wie bei den Griechen. Zum Veitstanz vgl. NK KSA 5, 391, 25–30 u. Sommer 2019g.
215. MA I 215 nimmt eine radikale Desillusionierung der Musik vor, die keineswegs, wie Schopenhauer glauben machen wollte, die „u n m i t t e l b a r e Sprache des Gefühls“ (175, 5 f.) oder des Willens sei. Vielmehr sei sie von alters her mit der Poesie verbunden gewesen. Diese Verbindung habe sie symbolisch aufgeladen, so dass nun der falsche Eindruck entstehe, sie richte sich direkt an unser Innerstes. Vielmehr habe der menschliche Geist erst „Bedeutsamkeit […] in den Klang h i n e i n g e l e g t“ (175, 27 f.); die überragende Bedeutung der Musik scheint sich damit als reines Projektionsphänomen zu erweisen. Zu MA I 215 gibt es in Mp XIV 1, 175 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Titel, mit rotem „A“ markiert. Sie lautet: „Die Musik ist nicht an u. für sich zu bedeutungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, sondern ihre uralte Verbindung mit der
522
Menschliches, Allzumenschliches I
Poesie hat so viel Symbolik in die Bewegung, in Stärke u Schwäche gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direkt zum Inneren u. käme aus dem Inneren. Die dramatische Musik ist erst möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbol. Mittel erobert hat, durch Lied Tonmalerei ˹und˺ Oper. Die absol. Musik ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen überhaupt Freude macht oder die ohne Poesie zum Verständniss redende angelernte Symbolik der Formen; Menschen, welche in der Entwickl. der Musik zurückgeblieben sind, können dasselbe Tonstück rein formalistisch empfinden, wo die Fortgeschrittenen alles symbolisch verstehen. An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom ‚Willen‘, vom ‚Dinge an sich‘; das hat höchstens der Intellekt hineingelegt, wie er in die Verhältnisse von Linien bei der Architektur Bedeutung gelegt hat, welche an sich den mechan. Gesetzen ganz fremd sind.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,175) Die zahlreichen Überarbeitungen erfolgten dann teilweise von N.s Hand in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 105 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,105). In NL 1876/77, KSA 8, 23[52], 422, 17–22 lautet eine Vorarbeit: „Die Musik ist erst allmählich so symbolisch geworden, die Menschen haben immer mehr gelernt, bei gewissen Wendungen und Figuren seelische Vorgänge mitzuverstehen. Von vorn herein liegen sie nicht darin. Musik ist nicht unmittelbarer Ausdruck des Willens, sondern erst in der Fülle der Kunst kann sie so e r s c h e i n e n.“ Auch wenn Schopenhauer weder hier noch in MA I 215 namentlich genannt wird, ist es doch seine Musikphilosophie, die hier verhandelt und für zu leicht befunden wird: „Die Musik ist nämlich eine so u n m i t t e l b a r e Objektivation und Abbild des ganzen W i l l e n s, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Ideen; sondern A b b i l d d e s W i l l e n s s e l b s t, dessen Objektität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der anderen Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 304) Und weiter heißt es: „Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden, daß sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objektität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt.“ (Ebd., 310) Diesen Passus zitiert N. in GT 16 und fügt an: „Auf diese wichtigste Erkenntniss aller Aesthetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Aesthetik erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit, seinen Stempel gedrückt“ (KSA 1, 104, 6–9). Diese „wichtigste Erkenntniss“ gibt MA I 215 ohne Zögern preis und wendet sich von Schopenhauers und Wagners Musikmetaphysik und Kunstreligion mit kalter Miene ab. Zu den musikästhetischen Hintergründen von MA I 215 namentlich im Kon-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 215, KSA 2, S. 174–175
523
text von Eduard Hanslick siehe Dufour 1999 sowie Schütte 2005 u. Schütte 2012. Gegen eine zu große Annäherung von MA I 215 an Hanslick argumentiert LebeauHenry 2023. 175, 6 Sprache des Gefühls] Die Fügung benutzte N. bereits in NL 1865, KGW I 4, 26[1], 32: „Die Musik ist analog dem Gefühl, nicht identisch oder Sprache des Gefühls“. Es handelt sich hier um eine Paraphrase nach Hanslick 1865, siehe Santini 2016, 271. 175, 9 f. z u m Inneren] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 wurde von Köselitz (?) mit Tinte die Präposition „zum“ hinzugefügt (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/207/). 175, 13–17 Die „absolute Musik“ ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständniss redende Symbolik der Formen] In Mp XIV 1, 175 stand die „absolute Musik“ noch nicht in Anführungszeichen. Die Fügung kam Mitte des 19. Jahrhunderts auf, um Musikformen zu bezeichnen, die von außermusikalischen Faktoren wie Text, Handlung, Programm unabhängig sind. Ein vehementer Verteidiger der „absoluten Musik“ gegen Richard Wagner war Eduard Hanslick (1825–1904), mit dem sich N. intensiv beschäftigt hat (Hanslick 1865), siehe z. B. Mayer Branco 2016, 140, Santini 2016, Hartmann Cavalcanti 2006, Lebeau-Henry 2023 u. Landerer/Schuster 2002. N. kommt von 1869 an wiederholt auf die absolute Musik zu sprechen, und zwar im Sinne Wagners, der die Absolutsetzung der Musik für einen Irrweg der Musikgeschichte hielt: „Die absolute Musik und das Alltagsdrama: die beiden auseinandergerissenen Stücke des Musikdramas.“ (NL 1869, KSA 7, 1[27], 17, 17 f.) In Oper und Drama (1852) hatte Wagner an der Melodie im Schlusssatz von Beethovens 9. Sinfonie das Problem illustriert: Diese Melodie enthalte „so /188/ gut wie gar keine Modulation und erscheint in einer solchen tonleitereigenen Einfachheit, daß sich in ihr die Absicht des Musikers, als eine auf den historischen Quell der Musik rückgängige, unverholen deutlich ausspricht. Diese Absicht war eine nothwendige für die absolute Musik, die nicht auf der Basis der Dichtkunst steht: der Musiker, der sich nur in Tönen klar verständlich dem Gefühle mittheilen will, kann dieses nur durch Herabstimmung seines unendlichen Vermögens zu einem sehr beschränkten Maaße. Als Beethoven jene Melodie aufzeichnete, sagte er: – so können wir absoluten Musiker uns einzig verständlich kundgeben. Nicht aber eine Rückkehr zu dem Alten ist der Gang der Entwickelung alles Menschlichen, sondern der Fortschritt: alle Rückkehr zeigt sich uns überall als keine natürliche, sondern als eine künstliche. Auch die Rückkehr Beethoven’s zu der patriarchalischen Melodie war, wie diese Melodie selbst, eine künstliche.“ (Wagner
524
Menschliches, Allzumenschliches I
1871–1873, 4, 188) In Abgrenzung von Wagner hält nun MA I 215 durchaus an der Möglichkeit absoluter Musik fest, auch wenn bestritten wird, dass sie oder Musik überhaupt irgendwie unmittelbar das Gefühl oder gar den Weltwillen zum Ausdruck bringe. Vgl. NK ÜK MA I 216. 175, 28 h i n e i n g e l e g t] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „hineingelegt“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/207/). Das nachfolgende Komma hat N. durch einen Doppelpunkt ersetzt; diese Änderung wurde aber in der Erstausgabe nicht übernommen (Nietzsche 1878, 171).
216. MA I 216 passt nicht recht in das desillusionierend-kunstpolemische Gefüge der vorangegangenen Abschnitte, wenn nun über den Ursprung der Kommunikation nachgedacht werden soll, die zunächst in der Nachahmung von Gebärden bestanden habe, die eine bestimmte Empfindung ausgedrückt und mitunter selbst Schmerz (z. B. das Ausraufen von Haaren) oder Lust (z. B. Lachen) mit sich gebracht hätten. So sei eine „S y m b o l i k der Gebärde“ (176, 22) entstanden, eine phonetische Sprache, bei der zuerst die Gebärden und Laute noch beieinander waren, bevor sich die Laute von den Tönen hätten emanzipieren können. Diese menschheitsgeschichtlich frühe Entwicklung scheine sich in jüngster Zeit zu wiederholen, seitdem sich nämlich die Musik von dem mit ihr einst zwingend verquickten „Tanz und Mimus“ (176, 29 f.) abzulösen begonnen habe und nun als etwas Unmittelbares verstanden werden könne, was es früher nicht gab, als „absolute[.] Musik“ (177, 2) nämlich, die etwas symbolisch besagen will. MA I 215 hatte demgegenüber noch festgehalten, dass „absolute Musik“ neben der „Symbolik der Formen“ (175, 17), um die es dann in MA I 216 geht, durchaus archaisch auch die „Form an sich“ (175, 14) gewesen sei, vgl. NK 175, 13–17. MA I 216 reserviert den Begriff der „absoluten Musik“ für eine Musik, „in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird“ (177, 2 f.), also eine hochartifizielle Spätform der Musikentwicklung, ohne die doch wie Wagner abzuwerten. Zu MA I 216 gibt es in Mp XIV 1, 90 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „A“, noch ohne den späteren Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,90). Das Notat N II 2, 48 lautet: „Älter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, unwillkürlich, so stark dass es wir jetzt ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen können. Die Gebärde leitete zurück auf die Empfindung welche uns zu einer ˹dieser˺ Gebärde treibt. So lernt man sich verstehen: so das Kind die Mutter. Im allgem. Mögen schmerzhafte Empfind.
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 215–216, KSA 2, S. 175–176
525
Wohl auch durch Gebärden ausgedrückt werden welche Schmerz ihrerseits verursachen (Haarausraufen, Brustschlagen, selbst gewaltsame Verzerrungen u Anspannungen der Gesichtsmuskeln), umgekehrt: Gebärden der Lust selber lustvoll s (Lachen bei ⎣als Aeusserung des⎦ Gekitzeltwerdens“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,48). Die Fortsetzung findet sich in N II 2, 51: „Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine Symbolik der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so dass man zuerst Ton u. Gebärde (zu der er symbol. hinzutrat) später nur den Ton hervorbrachte. – Es scheint sich da in früher Zeit dass. ereignet zu haben, was vor unseren Augen u Ohren, in der Entwickel. der dramati. Musik vor sich geht: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz u Mimus, leeres Geräusch ist, wird, in langer Gewöhnung jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung, das Ohr an die Symbolik der Tonfiguren gewähnt u braucht endl. die sichtbare Bewegung nicht mehr.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,51) Den expliziten Bezug zu (Wagners Thema) der Oper stellt NL 1877, KSA 8, 22[110], 399, 18–20 her: „Die Entwicklung des Liedes der Oper giebt der absoluten Musik immer eine neue Zukunft (durch Vermehrung der Symbolik).“ Zur Gebärdensprache siehe NK KSA 3, 592, 11–14 und den dortigen Hinweis auf die Überlegungen in Charles Darwins Abhandlung über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren (Darwin 1877, 54). Einen Zusammenhang zwischen MA I 216 und NL 1871, KSA 7, 12[1], 359–369 und somit Schopenhauers Überlegungen zur Musik stellt Bickenbach 1999, 49–51 her. 176, 2–4 Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht] Diese mit keinen Nachweisen belegte Behauptung steht in pointiertem Gegensatz zu der in der pädagogischen Literatur des 19. Jahrhunderts oft zitierten Beobachtung von Berthold Sigismund (1819–1864): „Mein Knabe war schon vierzehn Monate alt, als er zum ersten Male Etwas nachahmte. In diesem Alter können viele Kinder schon eine Unzahl Kunststücke oder sprechen mehrere Worte. Erwacht denn bei den meisten Kindern der Trieb zur Nachahmung der Sprachlaute früher als der zur Nachahmung von Gebärden und Bewegungen?“ (Sigismund 1856, 1, 121) Freilich hatte Sigismund die Individualentwicklung im Auge, während MA I 216 offenbar eine gattungsgeschichtliche Entwicklungsthese aufstellen will. Zum Thema jetzt erschöpfend Silenzi 2023. 176, 6 f. dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen können] Analoge Überlegungen finden sich, ebenfalls unter Gebrauch der seltenen Vokabel „Innervation“, bereits 1870 in DW 4, KSA 1, 572, 20–26: „Die Geberdensprache besteht aus allgemein verständlichen Symbolen und wird durch Reflexbewegungen erzeugt. Diese Symbole sind sichtbar: das Auge, das sie sieht, vermittelt sofort den Zustand, der die Geberde hervorbrachte und den sie symbo-
526
Menschliches, Allzumenschliches I
lisirt: zumeist fühlt der Sehende eine sympathische Innervation derselben Gesichtstheile oder Glieder, deren Bewegung er wahrnimmt.“ Die lexikalische Definition von „Innervation“, die das von N. benutzte Handbuch der Fremdwörter (Petri 1861) nicht kennt, lautet: „der Einfluß der Nerven auf die Verrichtungen der Organe des Körpers.“ (Meyer 1885–1892, 8, 962) Zum Begriff der Innervation exzerpiert N. dann in NL 1881, KSA 9, 11[25], 452 Überlegungen aus Mayer 1845, 107, vgl. Brusotti 1997, 59 f. 176, 7–9 (man kann beobachten, dass fingirtes Gähnen bei Einem, der es sieht, natürliches Gähnen hervorruft)] In Mp XIV 1, 90 nimmt das sprechende ‚Ich‘ diese Beobachtung für sich selbst in Anspruch, wie auch im Druckmanuskript D 11, 105 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,105) und in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 „(ich habe beobachtet, das [sic] fingirtes Gähnen bei Einem, der es sah, natürliches Gähnen hervorrief )“ (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/208/). In der Erstausgabe rückt das anonymere „man“ ein und die singuläre, im Imperfekt erzählte Beobachtung wird ins Präsens und in die Verallgemeinerbarkeit transponiert (Nietzsche 1878, 172). Die Überlegung geht zurück auf ein Bleistiftnotat in N II 2, 144: „Nachgemachtes Gähnen erzeugt Wirkliches“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,144). 176, 15–17 (zum Beispiel durch Haarausraufen, die-Brust-schlagen, gewaltsame Verzerrungen und Anspannungen der Gesichtsmuskeln). Umgekehrt:] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „(zum Beispiel Haarausraufen, die Brust schlagen, gewaltsame Verzerrungen und Anspannung der Gesichtsmuskeln). Umgekehrt;“ (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/208/). Im selben Korrekturdurchgang hat N. „Verzerrungen“ in „Verzerrung“ verwandelt, während „Abspannung“ blieb; in der Erstausgabe heißt es dann: „Verzerrungen und Anspannungen“ (Nietzsche 1878, 172). 176, 30 Mimus] Vgl. NK KSA 5, 308, 3. Mimus, lateinisch für „Nachahmer“, meint hier nicht ein Genus der lateinischen Komödiendichtung oder die ältere Form von derb-komödianten Szenen in der griechischen Literatur (vgl. z. B. KGW II 5, 175, 17 u. Bernhardy 1836, 97, 269 u. 389 f.), sondern szenisches Nachahmungstun überhaupt. 177, 1–3 den Tondichter ohne dieselbe v e r s t e h t. Man redet dann von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „den Tondichter ohne dieselbe versteht (absolute Musik das heisst Musik, in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird).“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/209/) In Mp XIV 1, 90 hatte die Schlussklammer ursprünglich gelautet: „(absolute Musik
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 216–217, KSA 2, S. 176–177
527
dh. Musik, in der Alles symbolisch verstanden wird)“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,90).
217. MA I 217 findet zurück ins polemische Fach, und zwar mit der wesentlich wohl auf Richard Wagner gemünzten Feststellung, dass die Musik der Gegenwart immer lauter geworden sei, die Vernunft aber stets beispringe und den zunehmenden Lärm, der die Sinne abstumpfe, in eine Gloriole höherer Bedeutung tauche. Man frage nicht mehr, was es sei, sondern, was es bedeute, und habe so verlernt, feinere Unterscheidungen sinnlich wahrzunehmen. Auch in der Malerei sei man dazu übergegangen, sich das Hässliche künstlerisch gefügig zu machen, was die Sinnesorgane zwar intellektualisiere, doch „die Freude wird in’s Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach“ (177, 30–32). Das wiederum erscheint als sicherer Weg in die „Barbarei“: „die Welt ist hässlicher als je, aber sie b e d e u t e t eine schönere Welt als je gewesen“ (178, 2–4). Nur sei die Mehrzahl der Menschen bald nicht mehr imstande, diese Bedeutung zu sehen, so dass sie sich an der Hässlichkeit selbst zu delektieren versuchten, während eine Minderheit sich zu den Sumpfblüten der Bedeutung versteige. Zu MA I 217 gibt es in Mp XIV 1, 186 eine ‚Reinschrift‘, die mit rotem „A“ markiert ist. Anstatt der später hinzukommenden Überschrift (177, 5) steht dem Text in dunklerer Tinte der von Montinari als NL 1876/77, KSA 8, 23[153], 460 veröffentlichte Text voran (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,186). Eine Vorarbeit mit zahlreichen Korrekturen und Überarbeitungen findet sich in U II 5, 35. Deren Schlusssätze lauten: „Was ist die Consequenz? Je gedankenfähiger Auge u Ohr wird, um so mehr kommt es an die Grenze, wo es unsinnlich wird, wo der Sinn stumpf u schwach wird u die Freude immer [?] mehr ins Gehirn verlegt wird.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,35) Mayer Branco 2016, 134 u. 139–141 vergleicht MA I 217 mit FW 372. 177, 12 f. dass sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem „es bedeutet“] In Mp XIV 1, 186 stattdessen: „dass sie immer gleich nach dem ‚es bedeutet‘“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,186). Die Änderung erfolgte im Druckmanuskript D 11, 106, wobei Köselitz in N.s Vorlage versehentlich „wenngleich“ las, das er dann in „sogleich“ korrigierte (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ D-11,106). 177, 16 f. die feineren Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen cis und des] „Im jetzigen Tonsystem ist die Enharmonik mit den übrigen Mitteln des Ausdrucks verbunden und bezeichnet den Wechsel, die Ablösung eines Tons durch seinen
528
Menschliches, Allzumenschliches I
enharmonisch verwandten, z. B. cis:des, […] (daher der Ausdruck «enharmonische Verwechselung»). Die Möglichkeit dieser Verwechselung ruht auf dem System der gleichschwebenden Temperatur; die Komponisten wenden sie an, um den Ausdruck unerwartet zu steigern oder absinken zu lassen, und zur Erleichterung für Schreiben und Lesen.“ (Brockhaus 1894–1896, 6, 156) 177, 19 f. Sodann ist die hässliche, den Sinnen ursprünglich feindselige Seite der Welt für die Musik erobert worden] In U II 5, 35 heißt es: „Die hässliche, dem Ohr feindliche Seite der Musik ist erobert“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/UII-5,35). In die Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 hat N. „der Welt für die Musik“ mit Bleistift eingefügt in den ursprünglichen Drucksatz: „den Sinn [sic] ursprüglich [sic] feindselige Seite der Musik erobert worden“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/209/). Mit brauner Tinte wurde, wohl von Köselitz, „den Sinn“ – von N. unangetastet gelassen – zu „dem Sinn“ verbessert; „ursprüglich“ wurde nicht verändert. In der Erstausgabe ist „ursprünglich“ korrekt gesetzt – und statt „dem Sinn“ steht dann „den Sinnen“ (Nietzsche 1878, 173). So wurde es auch nachträglich im Druckmanuskript D 11, 106 korrigiert. 177, 24–28 In ähnlicher Weise haben einige Maler das Auge intellectualer gemacht und sind weit über Das hinausgegangen, was man früher Farben- und Formenfreude nannte. Auch hier ist die ursprünglich als hässlich geltende Seite der Welt vom künstlerischen Verstande erobert worden.] In U II 5, 35 heißt es: „So wie etwa Böcklin das Auge intellektualer macht u über die Farbenfreude weit hinaus geht: die häßliche Seite der Welt ist vom künstlerischen Verstand erobert.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,35) Abgesehen von diesem Notat kommt der symbolistische Maler Arnold Böcklin (1827–1901) ansonsten bei N. nur noch in NL 1881, KSA 9, 11[249], 536, 9 f. als für die Schweiz exemplarischer „w e g e s u c h e n d e [ r ]“ Künstler vor. Obwohl Böcklin Basler war und N. ihm 1884 vorgestellt werden sollte (vgl. N. an Franziska u. Elisabeth Nietzsche, 4./5. 11. 1884, KSB 6/KGB III 1, Nr. 552, S. 553), scheint es nie zu einer persönlichen Begegnung gekommen zu sein (vgl. Reich 2004, 32). 178, 1 f. und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem anderen] Als Barbarei gilt hier also nicht wie gemeinhin ein Überhandnehmen der Sinnlichkeit und Animalität, sondern deren brachiale Zurückdrängung. Zum Thema umfassend Kaufmann/Winkler 2022. 178, 4 Ambraduft] „Ambra (grauem Amber, orientalischer Agtstein), eine Art Gallen- oder Darmsteine des Pottwals […], erweicht in der Hand und riecht eigentümlich angenehm […]. Man benutzte die A. früher als nerven- und magenstärkendes, krampfstillendes Mittel, jetzt nur noch in der Parfümerie, besonders in Verbindung mit Moschus. Ihr Geruch ist ungemein haftend.“ (Meyer 1885–1892, 1, 448)
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 217–219, KSA 2, S. 177–178
529
218. Hätte MA I 217 die Vorstellung erzeugen können, Kunst müsse per se auf Schönheit abzielen und verfalle der Hässlichkeit, wenn sie auf „Bedeutung“ setze, macht MA I 218 die Gegenrechnung auf: Architektur sei zunächst ein System hochkomplexer Bedeutungen gewesen, die in der Gegenwart über weite Strecke unverständlich geworden seien. Die Schönheit habe bestenfalls dazu gedient, „das G r a u e n“ (178, 32) angesichts des Göttlich-Erhabenen, das sich im (offenbar sakralen oder herrschaftsnahen) Bauwerk zum Ausdruck gebracht habe, ein wenig zu dämpfen, während heute die Schönheit nicht mehr diesen Schrecken mildere, sondern maskenhaft-aufgesetzt bleibe. Zu MA I 218 gibt es in Mp XIV 1, 212 eine ‚Reinschrift‘ mit rotem A markiert, wie üblich noch ohne Überschrift, dafür blau rubriziert „Rhetor“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,212). In N II 3, 66 lautet eine Bleistiftnotiz: „Gebäude unverständlich weil wir nicht mehr in der Symbolik der Linien leben“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,66). Und ein weiteres Notat findet sich in N II 2, 28, wo oben auf der Seite steht: „Symbol / Voluten“, und nach einem eingeschobenen Text – mitgeteilt in NK ÜK MA I 305 – unten: „wie die größte Kunst der attisch antiken Beredsamkeit jetzt nur undeutlich zu uns redet“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,28). Die Transzendenz- und Erhabenheitssemantik, mit der MA I 218 die Architektur belegt, verweist zurück auf den Eingang von Jacob Burckhardts Cicerone und die Beschreibung des (vermeintlichen) Poseidon-Tempels in Paestum, die MA I 145 aufnimmt, vgl. NK 141, 10–14 u. NK 141, 14 f. Die Rede von „Symbolik“ in der Architektur begegnet oft in den Schriften von Gottfried Semper (1803–1879), die N. auf Vermittlung Wagners eingehend studiert hatte (vgl. Neumeyer 2001, Günther 2008a u. Arburg 2011) und dessen Stil in den technischen und tektonischen Künsten (1860–1863) er 1875 noch einmal der Basler Universitätsbibliothek entlieh (Crescenzi 1994, 437). Auf MA I 218 geht Neumeyer 2001, 150 f. ein. 178, 32 aber dieses Grauen] Von N. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit Bleistift korrigiert aus „denn dieses Grauen“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/211/).
219. MA I 219 kehrt zurück zur Musik und stellt sie unter den Verdacht, in ihrer neueren Entwicklung – selbst da, wo sie bei Johann Sebastian Bach protestantischpietistisch daherkommt – ein Produkt der „Gegenreformation“, ja der „G e g e n -
530
Menschliches, Allzumenschliches I
r e n a i s s a n c e“ (179, 24–26) zu sein, insofern sie die Gefühls- und Gemütsagitation in den Mittelpunkt stellt, rasche Empfindungswechsel und scharfe Gegensätzlichkeit bevorzugt. Darin zeige sich gerade kein klassisch antiker oder renaissancistischer Zug, sondern „Barockstil“ (179, 28). Zu MA I 219 gibt es in Mp XIV 1, 37 eine ‚Reinschrift‘ noch ohne die spätere Überschrift, markiert mit rotem „A“ und zahlreichen Korrekturen (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,37). Polemisch hat N. die Epochenbezeichnung „Barock“ auch schon in UB I DS ins Treffen geführt, vgl. NK KSA 1, 185, 31– 33 u. NK KSA 1, 215, 8. Barock mit Verfall zu assoziieren, ist (auch vor dem Hintergrund Jacob Burckhardts) im späteren 19. Jahrhundert gängige Praxis, gerade auch in der Parallelisierung zur Gegenwart. So hat Wilhelm Mohr in seiner Streitschrift Das Gründerthum in der Musik, die N. zumindest aus zweiter Hand bekannt war (vgl. NL 1872/73, KSA 7, 19[279], 506, 26), geätzt: „indem gewisse Elemente des Kunstwerks einseitig entwickelt werden, entsteht eine gewisse Hypertrophie einzelner Theile, eine Störung des künstlerischen Gleichgewichts, eine Trübung des Verhältnisses zwischen Inhalt und Form und mit Einem Worte der V e r f a l l. So kommen, um nicht zu weit auszugreifen, nach Raphael die Manieristen, nach Michel Angelo Bernini und der Barockstil in der Baukunst, nach der / 18/ classischen Zeit unserer Literatur die Sturm- und Drangperiode, nach Schiller und Goethe Kozebue, Spieß und Cramer, wie nach Mozart und Weber Richard Wagner.“ (Mohr 1872, 17 f.) Der an die Musik der Gegenwart adressierte Barockvorwurf – und damit an Wagner, den MA I 217 insinuiert – ist also kulturpublizistisch bereits gängige Münze. Zum musikgeschichtlichen Setting in MA I 219 und zur Abweichung von N.s früheren Periodisierungsversuchen siehe Large 2004b, 113–115. Zum Verhältnis von Religion und Gefühl vgl. auch mit anderer Blickrichtung MA I 131, KSA 2, 124 f., zur Gemütssteigerung als religiösem Proprium siehe MA I 222, KSA 2, 185 f. In MA II VM 144, KSA 2, 437–439 unternimmt N. eine partielle Ehrenrettung des „Barockstils“. Zum Barockstil bei N. auch Barner 1970, 3– 21. 179, 7 tridentinischen Concil] Das Konzil von Trient (Tridentinum) fand von 1545 bis 1563 statt und setzte sich die Erneuerung der römisch-katholischen Kirche nach der Reformation zum Ziel. 179, 7–12 durch Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und tief bewegten Geiste zum Klange verhalf; später, mit Bach, auch im Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von seinem ursprünglich dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden war] In Mp XIV 1, 37 von N. korrigiert aus: „durch Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und tief bewegten Geiste entsprach; später, mit Bach, auch im Protestant. soweit dieser durch die Pietisten vertieft worden war; also ein wiederhergestellter Protestantismus“ (http://www.
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 219, KSA 2, S. 179
531
nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,37). Die in KGW u. KSA gewählte Schreibweise „Palestrina“ (179, 7) für den (zumindest im 19. Jahrhundert) in unterschiedlichen Schreibweisen geführten italienischen Komponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina (ca. 1525–1594) entspricht zwar der Buchstabenfolge in Mp XIV 1, 37, jedoch nicht den späteren Textzeugen: In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 107 steht „Palästrina“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,107), was N. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 in „Palaestrina“ korrigiert hat (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/211/). So steht es dann auch in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 175) und bleibt in N.s Handexemplaren unkorrigiert. Zu N.s (und Wagners) Beschäftigung mit Palestrina siehe ausführlich NK KSA 1, 120, 14–32 und NK KSA 6, 25, 17–19. 1878 wurde das öffentliche Interesse an Palestrina auch durch die Nachlasspublikation des vierten Bandes von August Wilhelm Ambros’ Geschichte der Musik neu geweckt, der Palestrina ins Zentrum stellt (Ambros 1878). 179, 12–15 Voraussetzung und nothwendige Vorstufe für beide Entstehungen ist die Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance und Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene gelehrte Beschäftigung mit Musik] In Mp XIV 1, 37 von N. korrigiert aus: „Voraussetzung für beide ist die Renaissance u. die gelehrte Beschäftigung mit Musik“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,37). 179, 19 Polyhymnia] Polyhymnia, die Muse der Hymnendichtung, wird seit der Antike gewöhnlich ohne Attribute und in ernster Haltung dargestellt. 179, 25 verschuldet.] In Mp XIV 1, 37 wurde danach der Satz gestrichen: „Wenn jetzt von neuem der Gedanke einer Wiedergeburt des Alterthums auftaucht, so werden wir nach einem beseelteren Alterthum verlangen als das fünfzehnte Jhd.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,37) 179, 26–29 Die Musik war die G e g e n r e n a i s s a n c e im Gebiete der Kunst, zu ihr gehört die spätere Malerei des Murillo, zu ihr vielleicht auch der Barockstil: mehr jedenfalls als die Architektur der Renaissance oder des Alterthums.] In Mp XIV 1, 37 von N. korrigiert aus: „Die Musik war die Gegenrenaissance im Gebiete der Kunst, ebenso die spätere Malerei. Dieser Musik entspricht keineswegs die Architektur der Renaissance oder des Alterthums, sondern der Barockstyl“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,37). Ein konkreter Maler wurde zunächst also nicht genannt. In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand zunächst wie im Druckmanuskript D 11, 107: „Die Musik war die Gegenrenaissance im Gebiete der Kunst, zu ihr gehört die spätere Malerei der Caracci“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/212/). Mit Bleistift hat N. die Sperrung der „Gegenrenaissance“ verfügt und nach „Kunst“ das Komma durch ein Semikolon ersetzt. Die letzte Korrektur wurde in der Erstausgabe nicht übernommen,
532
Menschliches, Allzumenschliches I
jedoch wird jetzt die italienische Malerfamilie der Carracci, die auch in der unorthodoxen Schreibweise „Caracci“ ansonsten bei N. nirgends vorkommt, vom spanischen Maler Murillo abgelöst (Nietzsche 1878, 176). Die Maler-Rochade bringt auch eine zeitliche Verschiebung mit sich: Bartolomé Esteban Murillo (1618–1682), der übrigens auch bei N. sonst nicht auftaucht, gilt als frommer Maler des Hochbarock und ist zwei Generationen jünger als der berühmteste Carracci, nämlich Annibale Carracci (1560–1609), der erst als Wegbereiter und Begründer der Barockmalerei angesehen zu werden pflegt. Carracci stand auch schon in der ‚Reinschrift‘ und im Druckmanuskript. Der Anschluss in 179, 27 f.: „zu ihr vielleicht auch der Barockstil“ passt zu Murillo – dem Inbegriff des Barock – viel schlechter als zu Carracci, seinem Vorreiter. 179, 29–32 Und noch jetzt dürfte man fragen: wenn unsere neuere Musik die Steine bewegen könnte, würde sie diese zu einer antiken Architektur zusammensetzen? Ich zweifle sehr.] In Mp XIV 1, 37 von N. korrigiert aus: „Und noch jetzt: wenn die Musik Beethovens die Steine bewegen würde, so würde sie dies viel eher berninisch thun als antik.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,37) Zu Bernini als exemplarische (und abschreckende) Barockkünstlerfigur siehe NK 151, 4–7 u. NK 180, 3–7. Bekanntlich soll der mythische Sänger Orpheus imstande gewesen sein, durch seine Kunst Steine zu bewegen, vgl. Ovid: Metamorphosen XI 2. 180, 3–7 die Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven, – das hat Alles schon einmal in den bildenden Künsten regiert und neue Stilgesetze geschaffen: – es war aber weder im Alterthum noch in der Zeit der Renaissance] In Mp XIV 1, 37 von N. korrigiert aus: „die Ekstase und das Naive neben einander. – Wir alle, soweit wir ˹noch˺ nicht moderne Menschen sind, sind ˹ein wenig˺ Berninische Menschen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,37) Vgl. NK 151, 4–7 u. NK 179, 29–32. 180, 6 Stilgesetze geschaffen: – es war aber] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „Stilgesetze geschaffen. Es war aber“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/212/).
220. Nicht die ironische Distanzierung prägt in MA I 220 die Haltung des sprechenden „man“, sondern „tiefe[r] Schmerz“ (180, 10), nämlich darüber, dass die Künstler der Vergangenheit – genannt werden in 180, 20 f. freilich nur solche aus der Zeit vom 13. bis 16. Jahrhundert – uns heute völlig absurd erscheinende Vorstellungen
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 219–220, KSA 2, S. 179–180
533
nicht nur unerbittlich geglaubt, sondern in ihren Werken auch verherrlicht haben. Der Glaube an „eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte“ (180, 22 f.) sei damit unrettbar verloren. Zu MA I 220 gibt es in Mp XIV 1, 181 eine ‚Reinschrift‘, die mit blauem „A“ markiert ist; wie üblich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,181). 180, 9–13 Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht man sich ein, dass die Künstler aller Zeiten in ihrem höchsten Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen] Wortwörtlich gilt das für das zwischen 1518 und 1520 entstandene Werk Raffaels Die Transfiguration Christi, das N. in GT 4 bespricht, vgl. NK KSA 1, 39, 12–17; MA I 220 nennt in 180, 20 „die Bilder Rafael’s“ dann auch explizit (vgl. überdies NK KSA 6, 117, 15–18). In MA I gibt es vier Stellen, an denen das Vokabular der „Verklärung“ aufgerufen wird: neben 180, 12 noch MA I 272, KSA 5, 225, 7 f., MA I 474, KSA 5, 308, 32–309, 1 und MA I 638, KSA 5, 363, 32 f. Die Metaphorik der Verklärung ist dabei mit der des abendlichen Lichtes verwoben, durchaus auch mit einer Stimmung des Abschieds und der Melancholie. Nur in MA I 220 wird mit der „himmlischen Verklärung“ der direkte Bezug zur neutestamentlichen transfiguratio Domini, der μεταμόρφωσις oder Verwandlung Christi auf dem Berg (Tabor) unter der Zeugenschaft von drei Jüngern, hergestellt (vgl. Matthäus 17, 1– 8, Markus 9, 2–9 und Lukas 9, 28–36), wo das helle, weiße Licht ebenfalls ein zentrales Motiv ist. Auf „Verklärung“ und „Transfiguration“ kommt N. zeitlebens immer wieder zu sprechen; zu seiner „Neigung zur Verklärung“ ausführlich Kleinert 2021, 119–157, der allerdings zugesteht, dass N. „[i]n den aphoristischen Büchern der mittleren Werkphase […] den Verklärungsbegriff weniger häufig und auffällig“ (ebd., 125) verwende (um aber gleich MA II WS 332, KSA 2, 697 f. als Gegenbeispiel anzuführen): Die betonte Kälte und Nüchternheit des Blicks verträgt sich nur schlecht mit dem Verklärungspathos von GT, aber auch nicht mit demjenigen von Za. 180, 14 religiösen und philosophischen Irrthümer] In Mp XIV 1, 181 stattdessen: „religiös philos. Irrthümer“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,181). 180, 20 die divina commedia] In Mp XIV 1, 181 stand stattdessen ursprünglich: „die antike Tragödie“, bevor N. korrigierte in: „die divina commedia“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,181). Diese Schreibweise mit doppeltem „m“ übernehmen KSA u. KSA, der GoA folgend. Im Druckmanuskript D 11, 107 und in der Erstausgabe steht jedoch, wie in der Schreibweise des 19. Jahrhunderts für Dante Alighieris Hauptwerk (1307–1320) geläufig: „divina comedia“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,107 u. Nietzsche 1878, 177). Vgl. NK 337, 6.
534
Menschliches, Allzumenschliches I
180, 20 f. die Fresken Michelangelo’s] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 107 nachträglich hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,107). Gemeint sind die von Michelangelo Buonarroti zwischen 1508 und 1512 geschaffenen Deckenmalereien in der Sixtinischen Kapelle. 180, 21 die gothischen Münster] In Mp XIV 1, 181 stand ursprünglich: „die Kunst W.s“, also Wagners, bevor N. das strich und „die gothischen Münster“ darüberschrieb (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,181). In der ursprünglichen Fassung waren als Beispiele für eine Kunst, die „eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt“ (180, 22 f.), also keineswegs nur wie in der Druckfassung christliche Werke des Mittelalters und der Renaissance genannt, sondern die vorchristliche griechische Tragödie (vgl. NK 180, 20) ebenso wie Wagners postchristliche „Kunst“. In der finalen Version fallen „die gothischen Münster“ aus der ursprünglich eingehaltenen, diachronen Reihung. Die Bosheit, Wagners vermeintliche Gegenwarts- und Zukunftskunst für unrettbar veraltet zu erklären, versagte sich N. in der Druckfassung. So weit wollte er 1878 in der öffentlichen Konfrontation offensichtlich noch nicht gehen. 180, 23 voraussetzt] KSA u. KGW emendieren, der GoA und den grammatikalischen Regeln folgend, zu „voraussetzt“, während in Mp XIV 1, 181, D 11, 107 u. Nietzsche 1878, 177 unisono: „voraussetzen“ steht.
221. Dieser sehr lange Abschnitt MA I 221 illustriert performativ, was er inhaltlich thematisiert, nämlich die Entfesselung der Künste, die zur Auflösung aller Form führe und in ein richtungsloses Experimentieren ausarte. Dieser Gedanke wird fleißig wiederholt, nachdem in Erinnerung gerufen worden ist, wie sehr die Ausrichtung an rigiden Kunstregeln doch die Kunstfertigkeit schule – beispielhaft in der klassischen französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts (180, 27–181, 1), in der musikalischen Kontrapunkt- und Fugenlehre des 17. und 18. Jahrhunderts (181, 1 f.) sowie in den rhetorischen Figuren des Gorgias (181, 3) – und es schließlich in der Musik ermöglicht habe, sich frei zu machen und offenbar doch Form zu behalten, was wiederum in der Dichtkunst nicht gelungen sei. Der Kulturdiagnose der um sich greifenden Formlosigkeit werden auch Gestalten wie Goethe und Byron unterworfen, während Voltaire noch im formalen Regelkanon bei größter geistiger Selbstentfesselung sich zu bewegen verstanden habe. Der Abschnitt gibt selbst ein Exempel gelebter literarischer Formlosigkeit, reiht Fallbeispiele und ihre Einzelheiten aneinander, ohne dass eine wirkliche Entwicklung des Ausgangsgedankens sichtbar würde. Einerseits ließe sich das mit der am Ende
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 220–221, KSA 2, S. 180–181
535
in Erinnerung gerufenen Idee Goethes korrelieren, wonach es in wahrer Kunst nicht auf neue Stoffe ankomme, sondern auf die Umgestaltung der alten (184, 29– 31) – so dass Abschnitt MA I 221 selbst als Kunstgebilde erschiene. Andererseits aber stellt sich der Abschnitt unter den Vorbehalt, für die moderne, ‚naturalistische‘ Entfesselung (vgl. 181, 20) zu stehen, die ihren Stoff nicht mehr streng zu bändigen weiß. Zu MA I 221 gibt es in Mp XIV 1, 232–234 eine später mit blauem „A“ markierte, ursprünglich mit „1.“ nummerierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners (und N.s Korrekturen), die den Drucktext KSA 2, 180, 27 (noch ohne Überschrift) bis 181, 34 vorwegnimmt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,232, (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,233 u. (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,234). Es folgen dann in Brenners Manuskript Mp XIV 1, 234 f. nummeriert als Abschnitte 2 und 3 ‚Reinschriften‘ zu MA I 167 und MA I 168, bevor Mp XIV 1, 235c, Mp XIV 1, 235d, Mp XIV 1, 235a und Mp XIV 1, 235b von N.s Hand den späteren Drucktext KSA 2, 182, 1 bis 183, 22 präsentieren – wobei die ByronZitate 183, 22–30 selbst fehlen und nur die Zitateinleitung sich schon hier findet („Lord Byron hat einmal ausgesprochen:“, gefolgt von einem Anführungszeichen). Schließlich bietet Mp XIV 1, 229 den Schluss (Drucktext KSA 2, 183, 30–184, 33). Eine Vorarbeit zum späteren Drucktext 180, 27 bis 181, 34 findet sich in U II 5, 39 f. (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,39et40) Zu MA I 221 siehe auch Vivarelli 1998, 45 f., Borchmeyer 2009, 28 f., Reschke 2020b, 91 u. 94–96 sowie Winkler 2021a, 249 f. und im Horizont des modernen Geistes der Unruhe Konersmann 2021, 292, Anm. 16. 180, 27–30 Der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Versund Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 108 von N. und Köselitz korrigiert aus: „Der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit des Ortes und der Zeit, auf Stil, und so weiter“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,108). 181, 2 f. die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredtsamkeit] Die schon in der Antike geläufige Bezeichnung „Gorgianische Figuren“ (Dionysios von Halikarnassos: De antiquis oratoribus. Demosthenes 25, 4 u. Xenophon: Symposion II 26) bezieht sich auf „diejenigen absichtsvollen und zum Zwecke der Kunst eingesetzten Abweichungen von der gewöhnlichen Gestaltung einer Rede, welche durch Gorgias von Leontinoi (ca. 484–376 v. Chr.), einem der maßgeblichen Redner und Sophisten des 5. Jh. und dem Begründer der attischen Kunstprosa, mit besonderer Vorliebe verwendet wurden. Als hauptsächliche Beispiele für die G. nennt die spätere rhetorische Überlieferung insbesondere: Antithese (Gedankengliederung in Form der Gegenüberstellung), Parisose (Isokolon) (Serie syntaktisch
536
Menschliches, Allzumenschliches I
gleichgebauter, mehrgliedriger Satzteile) und Parhomoiose (Homoioteleuton, Homoioarkton, Parechese) (Gleichklang von Satzteilen).“ (Buchheim 1996, 1025) N. ließ die Studenten seiner Vorlesung Geschichte der griechischen Beredsamkeit (1872/73) wissen: „Mit Gorgias ist die Kunstprosa in die Welt eingetreten, und sofort siegreich, berauschend; alle die andren Arten der Beredsamkeit können sich nicht mehr unberührt erhalten, der Ausdruck, der Stil wird zu einer Macht für sich, während bis dahin von den Rhetoren das Disponiren der Rede, die Beweismittel, die Affekterregungen usw. fast allein überlegt und geübt waren.“ (KGW II 4, 371, 13–18) In seiner Abhandlung Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf (1870/73) argumentiert N., das von ihm untersuchte, vermeintlich uralte Werk stamme aus der Werkstatt eines Gorgias-Adepten: „es ist jener Wettkampf das grosse Einleitungsstück im Lehrbuch des Alcidamas, in dem, durch das berühmteste mythische Exempel, das Wesen der G o r g i a n i s c h e n Beredsamkeit als uralt dargestellt werden sollte. Der grösste und weiseste Dichter, Homer, wird als Zeuge und Repräsentant jener Kunst des Extemporirens σχεδιάζειν, der Redemanieren διὰ βραχυτάτων, διὰ γνωμῶν, δι᾽ αἰνιγμάτων u. s. w. vorgeführt, nach der auch sonst üblichen Sitte der grossen griechischen Neuerer und Entdecker, sich durch Homer gleichsam sanktioniren zu lassen.“ (KGW II 1, 299, 24–32, vgl. Nietzsche 2024, 128 f. und die dortigen Erläuterungen zum Text.) 181, 4–6 trotzdem giebt es kein anderes Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich] Im Druckmanuskript D 11, 108 von Köselitz’ Hand korrigiert aus: „trotzdem ist es das einzige Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, sich“. 181, 7–9 Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken] Im Druckmanuskript D 11, 108 von Köselitz’ Hand korrigiert aus: „Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf dem Seile tanzen“. Zum Motiv der gebundenen Bewegung, das in 181, 7–9 zum Tragen kommt, vgl. z. B. Sommer 2019g. 181, 10 f. vor den Augen aller Jetztlebenden] Im Druckmanuskript D 11, 108 von Köselitz’ Hand nachträglich eingefügt. 181, 11–15 Hier sieht man, wie Schritt vor Schritt die Fesseln lockerer werden, bis sie endlich ganz abgeworfen scheinen können: dieser S c h e i n ist das höchste Ergebniss einer nothwendigen Entwickelung in der Kunst.] Im Druckmanuskript D 11, 108 von Köselitz’ Hand korrigiert aus: „Hier sieht man, wie Schritt vor Schritt, die Fesseln lockerer werden, bis sie endlich, durch Wagner, ganz abgeworfen worden, eher durfte es nicht geschehen.“ Der explizite Bezug auf Wagner, der die behauptete Entwicklung musikhistorisch genau fassbar gemacht hätte, entfällt also in
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 221, KSA 2, S. 181
537
der Druckfassung, in der stattdessen mit dem „Schein“ operiert wird – und mit einer angeblichen Entwicklungsnotwendigkeit, von der die ursprüngliche Fassung noch nichts wusste. Dieser Schein kehrt als „Schein[.] der Freiheit“ in 181, 32 wieder. In Mp XIV 1, 232 steht „Schritt für Schritt,“ statt „Schritt vor Schritt“; das auch im Druckmanuskript und in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 177) nach dem zweiten „Schritt“ stehende, grammatikalisch durchaus mögliche Komma entfällt ohne Begründung in KGW u. KSA. 181, 16–21 Lessing machte die französische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum Gespött in Deutschland und verwies auf Shakespeare, und so verlor man die Stetigkeit jener Entfesselung und machte einen Sprung in den Naturalismus – das heisst in die Anfänge der Kunst zurück.] Dazu hat sich Gotthold Ephraim Lessing in den Briefen, die neueste Literatur betreffend (1759–1765) und in der Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769) sehr ausführlich vernehmen lassen. Die Art der Zusammenfassung macht freilich eine unmittelbare Originalquellenlektüre N.s in Vorbereitung von MA I 221 wenig wahrscheinlich. Wie eine Reihe von literaturhistorischen Äußerungen in diesem Abschnitt weist der Lessing-Passus auffällige Ähnlichkeiten mit August Kobersteins Grundriss der Geschichte der deutschen National-Litteratur auf: „Den Franzosen, die darnach noch gar keine wahre Tragödie besaßen, war […] Shakspeare als der Dichter der Neuzeit gegenübergestellt, der mit Sophokles und Euripides von den Deutschen studiert werden müßte, wenn sie die rechte Einsicht in das Wesen der tragischen Kunst gewinnen […] wollten.“ (Koberstein 1856, 2, 1331; vgl. ebd., 1305 u. ö.) Auch den Begriff des „Naturalismus“ (182, 20), den MA I 221 noch nicht als literaturhistorische Epochenbezeichnung nutzt, bringt Koberstein hier an und beklagt: Die „Prosaform“ (ebd., 1657) drang „auch in die tragische /1659/ Dichtung ein; sie wurde seit der Verdrängung der den Franzosen nachgekünstelten heroischen Tragödie in unserer gesammten dramatischen Litteratur auf lange Zeit hin die beinahe /1660/ durchgängig herrschende und trug […] viel dazu bei, mit der Sprache auch den Geist und Ton der deutschen Schauspieldichtung zu gemeiner Natürlichkeit und Alltagsplattheit herabzuziehen. Die /1661/ Winke, welche Lessing im Laokoon und in der Dramaturgie hin und wieder über den Unterschied zwischen rohem Naturalismus und idealer Naturwahrheit im Dichten […] ertheilt hatte, 8) blieben unbeachtet oder wurden wenigstens nicht gehörig verstanden“ (Koberstein 1856, 2, 1658–1661; vgl. Koberstein 1866, 3, 2955–2957). Koberstein war N.s Deutschlehrer in Schulpforta; auch wenn er Kobersteins Grundriss nicht besessen (und vielleicht auch nicht gelesen) hat, dürften ihm die darin enthaltenen Urteile aus dem intensiven Pfortenser Literaturunterricht noch geläufig gewesen sein. Vgl. zu Lessing in MA I 221 auch Behler 1979, 175 f. 181, 18 in Deutschland] Im Druckmanuskript D 11, 108 von Köselitz’ Hand nachträglich eingefügt.
538
Menschliches, Allzumenschliches I
181, 20 f. – das heisst in die Anfänge der Kunst zurück] Im Druckmanuskript D 11, 108 von Köselitz’ Hand nachträglich eingefügt. 181, 23 zu binden wusste] Im Druckmanuskript D 11, 108 von Köselitz’ Hand korrigiert aus: „band“. 181, 25–28 Schiller verdankt die ungefähre Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn auch verleugneten Vorbilde der französischen Tragödie] In Brenners Handschrift stand in Mp XIV 1, 233 zunächst nur: „Schiller verdankt die ungefähre Sicherheit seiner Form dem Vorbild der französischen Tragödie“. N. hat dann vor „Vorbild“ eingefügt: „heimlich verehrten, obwohl [?] verleugneten“. Im Druckmanuskript D 11, 108 fehlte der Einschub vor „Vorbilde“ ursprünglich ebenfalls, von Köselitz’ Hand ist dann „unwillkürlich verehrten, wenn auch verleugneten“ hinzugefügt worden. 181, 28 f. (dessen dramatische Versuche er bekanntlich ablehnte)] Im Druckmanuskript D 11, 108 von Köselitz’ Hand nachträglich eingefügt. 181, 34 Rousseau’schem] Alle maßgeblichen Textzeugen (Mp XIV 1, 234, D 11, 108 und Nietzsche 1878, 178) haben stattdessen: „Rousseau’ischem“. KGW u. KSA folgen ohne Begründung der GoA. 182, 1–6 Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaire’s Mahomet, um sich klar vor die Seele zu stellen, was durch jenen Abbruch der Tradition ein für alle Mal der europäischen Cultur verloren gegangen ist. Voltaire war der letzte der grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den grössten tragischen Gewitterstürmen gewachsene Seele durch griechisches Maass bändigte] In N.s Bibliothek hat sich Voltaires 1741 uraufgeführte, 1743 erstmals in vom Verfasser autorisierter Fassung publizierte Tragödie Le fanatisme ou Mahomet le Prophète nicht im französischen Original erhalten, wohl aber in der von Goethe besorgten Übersetzung Mahomet. Trauerspiel in fünf Aufzügen, nach Voltaire in Goethes Sämmtlichen Werken (Goethe 1853–1858, 35, 163–244). Beispielsweise aus N.s Brief an Overbeck vom 06. 12. 1876 wissen wir, dass Voltaire zum Lektüre-Programm in Sorrent gehört hat (KSB 5/KGB II 5, Nr. 573, S. 202, Z. 20, vgl. NK 37, 7–11). Brobjer 2009, 24, Fn. 23 und Salerno 2021, 51 vermuten zu Recht, dass Mahomet Bestandteil dieser gemeinsamen Lektüren gewesen sein dürfte. Und man darf weiter vermuten, dass es auch damals schon die Goethesche und nicht die originale Version gewesen ist, schreibt N. doch am 13. 02. 1881 auf seiner Postkarte an Mutter und Schwester, speziell an Elisabeth gerichtet: „zum L e s e n in Gesellschaft empfehle ich Voltaire’s Mahomet, von Goethe übersetzt (in allen Goethe-Ausgaben)“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 82, S. 62, Z. 13–15). Spätestens seit einem Exzerpt aus Hermann Hettners Geschichte der französischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert war N. der Titel des Werkes geläufig (vgl. zur Hettner-Rezeption auch NK 299, 15–19 u. NK 299, 26–30); er resü-
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 221, KSA 2, S. 181–182
539
miert, der Autor habe 1740 König Friedrich II. von Preußen aus dem Mahomet vorgelesen (vgl. NL 1863, KGW I 3, 15A[2], 217, 8 f. u. Figl 2007b, 136). Während N. in NL 1884, KSA 11, 25[187], 64, 28 f. (im Echo auf Emmanuel de Las Cases’ Mémorial de Sainte-Hélène) Voltaire ankreidet, er habe „Mahomet“ missverstanden und sei damit „in der Bahn g e g e n die höheren Naturen“, also wohl den Begründer des Islam in der fraglichen Tragödie als finsteren, sein eigenes Lebensglück optimierenden, über Leichen gehenden Machtmenschen dargestellt, dürfte ihm 1876 oder 1878 vor Augen gestanden haben, dass die Titelfigur der Tragödie Voltaire nur den durchsichtigen Vorwand dafür lieferte, Fanatismus und religiösen Machtmissbrauch zu brandmarken: Eigentliche Adressatin war die katholische Kirche und die mit ihr verbandelte Staatsmacht. Folgt man dem Ratschlag, Mahomet (in Goethes Version) zu lesen, wird man zunächst jenen eingangs von MA I 221 beschriebenen „strenge[n] Zwang […] in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit“, vielleicht auch „auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken“ (180, 27–30) verwirklicht finden. Namentlich das sich liebende, aber nicht um seine Verwandtschaft wissende Geschwisterpaar Palmire und Seide durchlebt ebenso wie ihr lange unwissender Vater Sopir tatsächlich die „grössten tragischen Gewitterstürme[.]“, ist aber – im Unterschied zu Mahomet – bis zum Letzten noch in der Lage, dieser ihrer Lage in gemessenen Worten, maßvoll Ausdruck zu geben. Palmire hält sich, als sie sich ersticht, Mahomet mit den Worten vom Leibe, die zugleich die letzten des Stückes sind: „Ich sterbe. Fort! / Dich nicht zu sehen ist das größte Glück. / Die Welt ist für Tyrannen; lebe du!“ (Goethe 1853–1858, 35, 244) Vgl. zu N.s MahometRezeption auch ausführlich Métayer 2007 u. Métayer 2011, 57–64. 182, 5 vielgestaltige, auch den grössten] Im Druckmanuskript D 11, 108 von N.s Hand nachträglich korrigiert aus: „mächtige, allen“. 182, 6–9 , – er vermochte Das, was noch kein Deutscher vermochte, weil die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist, als die Natur des Deutschen –] Im Druckmanuskript D 11, 108 von N.s Hand nachträglich eingefügt. 182, 12 f. einer der letzten Menschen] Im Druckmanuskript D 11, 109 von N.s Hand korrigiert aus: „vielleicht der letzte Mensch“. 182, 19 Angst und] Im Druckmanuskript D 11, 109 von Köselitz’ Hand nachträglich eingefügt. 182, 20 Zügel der Logik] In Mp XIV 1, 235c stattdessen: „Zügel der starren Logik“. 182, 21 des künstlerischen Maasses] Im Druckmanuskript D 11, 109 von Köselitz’ Hand korrigiert aus: „des menschlichen Maasses“. 182, 27–30 wir benutzen reichlich die „barbarischen Avantagen“ unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend machte, um die Formlosigkeit seines Faust in das
540
Menschliches, Allzumenschliches I
günstigste Licht zu stellen] Die zitierte Wendung stammt nicht aus einem Brief Goethes an Schiller, vielmehr aus Goethes Anmerkungen über Personen und Gegenstände, deren in dem Dialog R a m e a u ’ s N e f f e erwähnt wird (1805): „Wohl findet sich bei den Griechen, so wie bei manchen Römern eine sehr geschmacvolle Sonderung und Läuterung der verschiedenen Dichtarten, aber uns Nordländer kann man auf jene Muster nicht ausschließlich Hinweisen. Wir haben uns andrer Voreltern zu rühmen und haben manch anderes Vorbild im Auge. Wäre nicht durch die romantische Wendung ungebildeter Jahrhunderte das Ungeheure mit dem Abgeschmackten in Berührung gekommen, woher hätten wir einen Hamlet, einen Lear [sc. von Shakespeare], eine Anbetung des Kreuzes, einen standhaften Prinzen [sc. von Calderón]? / Uns auf der Höhe dieser barbarischen Avantagen, da wir die antiken Vortheile wohl niemals erreichen werden, mit Muth zu erhalten ist unsre Pflicht, zugleich aber auch Pflicht, dasjenige was andre denken, urtheilen und glauben, was sie hervorbringen und leisten, wohl zu kennen und treulich zu schätzen.“ (Goethe 1853–1858, 29, 332) Koberstein 1866, 3, 2079 zitiert den ganzen Passus in einer Fußnote, setzt den letzten Satz gesperrt, versieht die „barbarischen Avantagen“ mit einem in Klammern gesetzten Ausrufezeichen und kommentiert: „(Er [sc. Goethe] meint hier insbesondere den französischen Geschmack und die französischen Classiker)“. Der Schiller-Bezug ist bei Koberstein dadurch gegeben, dass die Anmerkung unter einer Passage über Schillers Dramenproduktion steht. In MA I 221 wird diese Passage, die schon NL 1875, KSA 8, 11[9], 193, 22–30 mit dem Faust-Thema und dem „Volkslied“ (vgl. 182, 25) zusammenbringt, mit einer Passage aus Goethes Brief an Schiller vom 27. 06. 1797 kontaminiert, die N. aus der Lektüre des Briefwechsels noch in Erinnerung gewesen sein könnte: „Ihre Bemerkungen zu Faust waren mir sehr erfreulich. Sie treffen, wie es natürlich war, mit meinen Vorsätzen und Planen recht gut zusammen, nur daß ich mir’s bei dieser barbarischen Composition bequemer mache und die höchsten Forderungen mehr zu berühren als zu erfüllen denke. So werden wohl Verstand und Vernunft, wie zwei Klopffechter, sich grimmig herumschlagen, um Abends zusammen freundschaftlich auszuruhen.“ (Schiller/Goethe 1870, 1, 311) 182, 30 f. auf wie lange noch?] In Mp XIV 1, 235d folgt darauf: „Wir werden jetzt schon ersichtlich immer [?] mehr zur Verehrung der poetischen Urzustände herabgedrückt Vermag eine verwilderte Poesie, welche im Cultus der Kraft, der Farbe, der Wirkung schwelgt, die Ehrfurcht vor der Kunst zu erhalten? Muß sie, wegen ihrer Absicht nach Berauschung, nicht den Ekel im Gefolge haben? Wird nicht die Wissenschaft ˹mit ihrer unbarmherzigen Geißel der Logik˺ auf einer Stätte nothwendig immer triumphiren, wo die Orgie u. der Ekel dieen ˹Begriff der˺ Kunst entwürdigt haben?“ 182, 32 hinwegschwemmen] In Mp XIV 1, 235d stattdessen: „wegschwemmen“
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 221, KSA 2, S. 182–184
541
183, 2 sein; das] In Mp XIV 1, 235d stattdessen: „sein. Das“. 183, 7 willen, ja] In Mp XIV 1, 235a fehlt das „ja“, das Folgende über die „Inspiration“ ist ein nachträglicher Einschub. 183, 11 der Künstler isolirt sie ihm auch dareichen m ü s s e] In Mp XIV 1, 235a stattdessen: „der Künstler sie auch isolirt dem Publikum darreichen müsse“. 183, 22–30 Lord Byron hat einmal ausgesprochen: „Was die Poesie im Allgemeinen anlangt, so bin ich, je mehr ich darüber nachdenke, immer fester der Ueberzeugung, dass wir allesammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der Andere. Wir folgen Alle einem innerlich falschen revolutionären System, – unsere oder die nächste Generation wird noch zu der selben Ueberzeugung gelangen.“ Es ist diess der selbe Byron, welcher sagt: „Ich betrachte Shakespeare als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den ausserordentlichsten Dichter.“] Zwar liegt KGW IV 4, 201 bei der Identifikation der ursprünglichen Byron-Quelle richtig, nämlich im Fall des ersten Zitates Byrons Brief an John Murray vom 15. 09. 1817, im Fall des zweiten Byrons Brief an Murray vom 14. 07. 1821. Jedoch kann die von Montinari gleichfalls angegebene deutsche Version in der unter N.s Büchern erhaltenen Zusammenstellung von Ernst Ortlepp (Ortlepp o. J. 2, 360 bzw. 3, 139) nicht N.s Vorlage für 180, 22–30 gewesen sein, denn der Wortlaut der Übersetzung weicht stark ab. Die tatsächliche Quelle ist vielmehr der von Eduard Engel kompilierte Band Lord Byron. Eine Autobiographie nach Tagebüchern und Briefen: „Was die Poesie im Allgemeinen anlangt, so bin ich, je mehr ich darüber nachdenke, immer fester der Ueberzeugung, daß wir allesammt – S c o t t , S o u t h e y, W o r d s w o r t h , M o o r e , C a m p b e l l und ich – auf dem falschen Wege sind, einer wie der andere. Wir folgen alle einem innerlich falschen, revolutionären System, das keinen Dreier werth ist, – /81/ nur R o g e r s und C r a b b e sind frei davon. Unsere oder die nächste Generation wird noch zu derselben Ueberzeugung gelangen.“ (Engel 1876, 80 f.) „Sie werden zugeben, daß alles Dies [sc. Byrons Sardanapal und Marino Faliero] wenig von Shakespeare hat; das ist aber eben das Gute daran, d e n n i c h b e t r a c h t e S h a k e s p e a r e a l s d a s s c h l e c h t e s t e Vo r b i l d , w e n n a u c h a l s d e n a u ß e r o r d e n t l i c h s t e n D i c h t e r.“ (Engel 1876, 164) Vgl. zu Byron auch NK 277, 10 f. 183, 34 im Grossen und Ganzen] In Mp XIV 1, 229 stattdessen: „im Grossen Ganzen“. 184, 21–25 Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht] Es liegt nahe, hier an das Figurenarrangement in Faust. Der Tragödie zweiter Theil (1831) zu denken. Das Goethe-Bild, das MA I 221 vermittelt und das auch durch Eckermanns Gesprä-
542
Menschliches, Allzumenschliches I
che mit Goethe inspiriert gewesen sein dürfte (vgl. Nietzsche 2019, 1234, Anm. 57) – siehe auch MA II VM 170, KSA 2, 448 f. u. MA II WS 109, KSA 2, 599 –, untersuchen Montinari 1982, 56–63, Barbera 2004, 57 f. (unter Verweis auf Burckhardt) u. Venturelli 2021, 109 f.
222. MA I 222 schlägt nach all der im Vierten Hauptstück vorherrschenden Kunst- und Kunstbetriebskritik einen versöhnlichen Ton an: Zwar habe die Kunst eine größere Bedeutung besessen, als man ihr (wie in der nicht explizit genannten Metaphysik Schopenhauers) das Vermögen zuschrieb, den unveränderlichen Charakter des Menschen, das Wesen der Welt zur Darstellung zu bringen, oder auch noch unter transzendentalphilosophischen Voraussetzungen, als man mit der Idee der Erscheinung operierte und man die Traumwelt des Künstlers mit ihr in Verbindung bringen konnte, zumal die Kunst das Gleichbleibende darstellen könnte. Mittlerweile habe man aber gelernt, den Menschen als gewordenes Wesen zu sehen und alles vermeintlich Immergültige als historisch kontingent anzusehen – man habe begriffen, dass „selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Beharrendes ist“ (185, 10 f.). Was die Kunst heute aber vermöge und schon seit langem vermocht habe, sei es, „mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen“ (185, 23). Kunst erscheint somit als eine Schule der Lebens- und Weltbejahung, die – wie die Religion als Gefühlserzeugungs- und Gefühlssteigerungsmaschinerie – selbst dann noch wirkmächtig bleiben werde, wenn die Kunst selbst verschwinden sollte. „Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des künstlerischen.“ (186, 4 f.) Das impliziert, dass sich auch nach einem offenbar nicht weiter zu bedauernden Ende der Kunst die Lebens- und Weltbejahung in der Wissenschaft, im wissenschaftlichen Tun weitertragen würde. Offenbar soll gelten: Eine Zukunft der Kunst ist möglich, aber nicht nötig. Kunst ist verzichtbar, weil ihre Funktion anderweitig besetzt werden kann. Mit dem in MA I 222 behaupteten lebensbejahenden Charakter der Kunst wird auch eine Antwort auf die in MA I 161 nicht explizit gestellte, aber implizierte Frage gegeben, was denn das Kriterium für gute Kunst sein soll: Lebensbejahung. In GM III 23–27 sollte später die am Ende von MA I 222 vertretene Position, in der Wissenschaft ein wirksames Antidot gegen die asketischen Ideale zu vermuten, zurückgewiesen und sie selbst als askesesanfällig angesehen werden, während die Künstler ihrerseits dort (GM III 2–6) keineswegs als prinzipiell lebensbejahende Gegenpole zu den Weltverzichtsidealisten betrachtet werden. Zu MA I 222 gibt es in Mp XIV 1, 362 von Köselitz’ Hand eine ‚Reinschrift‘ mitsamt dem von N. nachträglich hinzugefügten Titel „Was von der Kunst übrig
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 221–222, KSA 2, S. 184–185
543
bleibt“. N. hat in dieser Version eine Reihe von Änderungen und Korrekturen angebracht (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,362). Eine abweichende, frühere Fassung von N.s Hand, markiert mit rotem „A“ und mit Bleistift rubriziert „Kunst u. Moral“, findet sich in Mp XIV 1, 85: „Es ist wahr, bei gewissen metaphys. Voraussetzungen hat die Kunst viel grösseren Werth zB wenn der Charakter unveränderlich, das Wesen der Welt sich in allen Charakteren u Handlungen ausspricht: da wird das Werk des Künstlers zum Bild des ewig Beharrenden, während für unsere Auffassung der Künstler seinem Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann: es ist der Mensch im Ganzen geworden u. wandelbar, auch der einzelne Mensch ist nichts Festes. – Sodann: ist unsere sichtbare Welt nur Erscheinung, so kommt die Kunst der wirkl. Welt nahe zu stehen: zwischen Erscheinung u. Traumbild des Künstlers ist wenig Unterschied; und er fiele noch zum Vortheile des Künstlers aus, weil dieser das Gleichförmige, die Typen darstellt. – Diese Voraussetzungen sind nun falsch: welche Stellung bleibt jetzt der Kunst? Sie hat gelehrt, mit Interesse u Lust auf das Leben in jeder Gestaltung sehen ‚wie es auch ist das Leben, es ist gut.‘ Dies Erbgut der Kunst, das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmässiger Entwicklung anzusehen – wollen wir nicht verlieren. Man könnte die Kunst aufgeben, nicht aber die von ihr gelernte Fähigkeit: ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemüths-Steigerungen u Erhebungen. Die Musik ist der Maaßstab des wirklich erworbenen GefühlsReichthums; die vielen Begriffe und falschen Urtheile, welche dazu verhelfen, sind vergessen; die Intensität u. Vielartigkeit des Gefühls ist geblieben und fordert seine Befriedigung. Die Musik entladet es zum Theil.“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/Mp-XIV-1,85) Zur Deutung vgl. z. B. Niemeyer 2006, Medrado 2011, Ponte 2016, 55–57 sowie Steiner 2020 im Abgleich mit MA I 29 und MA I 486. 185, 4 f. dass der Charakter unveränderlich sei] Vgl. NK ÜK MA I 41. 185, 25 „wie es auch sei, das Leben, es ist gut.“] Das ist die Schlusszeile aus Goethes Gedicht Der Bräutigam, dessen letzte Strophe lautet: „Um Mitternacht! der Sterne Glanz geleitet / Im holden Traum zur Schwelle wo sie ruht. / O sey auch mir dort auszuruhn bereitet, / Wie es auch sey das Leben es ist gut.“ (Goethe 1853–1858, 2, 88) In Mp XIV 1, 85 wurde der wohl aus dem Gedächtnis zitierte Wortlaut der Gedichtzeile nicht wortgetreu wiedergegeben; die Korrektur erfolgte in Mp XIV 1, 362. 185, 32–34 ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemüths-Steigerungen und Erhebungen] Vgl. z. B. NK ÜK MA I 219. 185, 33 f. Erhebungen] KGW u. KSA folgen hier fälschlich Mp XIV 1, 362 und D 11, 111, während die Erstausgabe stattdessen „-Erhebungen“ hat (Nietzsche 1878, 183).
544
Menschliches, Allzumenschliches I
Da in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 der Bindestrich noch fehlt (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/219/), ist die Annahme unabweisbar, dass es sich nicht um ein Druckereiversehen handeln kann, sondern dieser Bindestrich nachträglich von N. (oder von Köselitz) eingefügt worden ist, um die Verbindung zum „Gemüth“ in „Gemüths-Steigerungen“ (185, 33) herzustellen.
223. MA I 223 ist ein ironischer Abgesang auf die Kunst als lebensbestimmende Macht und zugleich auf N.s eigenes Frühwerk, das der Kunst die zentrale welterschließende und welterlösende Kraft zugesprochen hatte. Die Sphäre der Kunst wird hier keiner boshaften Zersetzung ausgesetzt, sondern in ein sanftes Licht der „A b e n d r ö t h e“ (186, 7) getaucht: Eine leise Wehmut mache sich breit, wenn man auf den Künstler blicke, der bald nur noch ein Relikt aus einer gloriosen Vergangenheit sein werde – heute verstehe man die Kunst vielleicht besser, als man sie je verstanden habe. Auf die Frage, warum die Wehmut nicht in Wehklagen umschlägt, gab MA I 222 schon die erschöpfende Auskunft: weil das, was uns die Kunst wesentlich beibrachte, nämlich Lebens- und Weltbejahung, jetzt auch ohne sie verwirklicht werden kann. Kunst erscheint als durch und durch ersetzbar. Zu MA I 121 gibt es in Mp XIV 1, 143 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“ und einer Bleistiftrubrizierung „Fortschritt“. Diese Fassung lautete vor einigen Bleistiftkorrekturen: „Wie man sich im Alter der Jugend erinnert u. Gedächtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältniss einer rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend. Viell. dass niemals früher die Kunst so tief seelenvoll erfasst wurde als jetzt. Man denke an jene griech. Stadt in Unteritalien, welche an einem Tage des Jahres ihre griech. Feste feierte, unter Wehmuth u Thränen. Den Künstler selber sieht man als ein Überbleibsel an u. ehrt ihn wie ein Uraltes, Ehrwürdiges, an dem das Glück früherer Zeiten hieng; das Beste an uns ist viell. aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt kaum mehr kommen können.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,143) Das von Köselitz niedergeschriebene Druckmanuskript D 11, 111 geht von der noch einmal überarbeiteten Version Mp XIV 1, 143 aus und wird selbst von N. und von Köselitz weiteren Überarbeitungen unterzogen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,111). Zur Interpretation erschöpfend Hartmann 2022. Er stellt (ebd., 107) auch Lecky 1873, 203 f. (Lesespuren N.s) als mögliche Quelle für das Kunstperiodenende heraus, das als Motiv spätestens seit Hegel die Ästhetik des 19. Jahrhunderts
Stellenkommentar MA I Viertes Hauptstück 222–223, KSA 2, S. 185
545
durchzieht. Für das Kunstverständnis der Avantgarden im späten 19. und im 20. Jahrhundert musste die in MA I 223 formulierte Kunstendzeitdiagnose empörend wirken. Vielleicht lassen sich die Avantgarden nur verstehen als Reaktion auf solche Kunstendzeitdiagnosen. Vgl. auch MA I 145, wo die Kunstwissenschaft im Verdacht steht, (Kunst-)Illusion zu zerstören, und MA I 147 zur Kunst als Totenbeschwörerin. Eine Provokation von MA I 223 liegt auch darin, dass die Kunstproduktion und die Kunstrezeption auseinanderklaffen. Die intensivste Empfindung bei der Rezeption liegt dem Absatz zufolge in der Gegenwart und nicht in den Zeiten der bedeutendsten Kunstproduktion. Zur Abenddämmerungsmetaphorik im Abgleich von MA I 223 zu Freud siehe Liessmann 2021, 123, zur Gedankenfigur des Sonnenuntergangs auch NK KSA 3, 481, 3–11. 186, 12–19 Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche an Einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmuth und Thränen darüber, dass immer mehr die ausländische Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten triumphire; niemals hat man wohl das Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschlürft, als unter diesen absterbenden Hellenen.] Die fragliche Stadt ist Posidonia oder Paestum, das in MA I 145 und damit im ersten Abschnitt des Vierten Hauptstücks explizit genannt wird, siehe NK 141, 10–14. Hier im letzten Abschnitt des Hauptstücks muss man entsprechendes historisches Hintergrundwissen mitbringen, um Paestum ein zweites Mal zu identifizieren: beispielsweise aus zeitgenössischen Reiseführern („Im 4. Jahrh. war die Stadt in der Gewalt der Lucaner, welche sie hart bedrückten. Damals begingen die Einwohner jährlich ein Fest als Trauerfeier zum Gedächniss ihrer griech. Herkunft und der vergangenen besseren Tage“ – Baedeker 1876, 160) oder aus Barthold Georg Niebuhrs Historischen und philologischen Vorträgen: „Der mächtigste der griechischen Orte auf dieser Küste war P o s i d o n i a oder P a e s t u m. Es sind dort die schönsten griechischen Ruinen in Italien, drei alte ziemlich vollständig erhaltene Tempel. […] Posidonia wurde von den Lucanern erobert, die Zeit können wir nicht näher angeben, und stand unter lucanischer Herrschaft bis zu dem Kriege des Pyrrhos, da legten die Römer eine Colonie hieher unter dem Namen Paestum. Daß die Lucaner schon vorher eine Colonie hier hatten, geht hervor aus der Erzählung des Aristoxenos bei Athenaeos von einem jährlichen Fest, das sie ganz nach alter griechischer Sitte feierten, wobei sie unter anderen darüber klagten, daß sie durch die Herrschaft der Barbaren griechisches Wesen und griechische Eigenthümlichkeit unaufhaltsam verlören und Barbaren würden.“ (Niebuhr 1851, 527) Die von Niebuhr angeführte Quelle besaß N. im griechischen Original, nämlich Athenaios aus Naukratis, Deipnosophistae XIV 34: „καίτοι οἱ καθ᾽ ἡμᾶς γε τέλος ποιοῦνται τῆς τέχνης τὴν παρὰ τοῖς θεάτροις εὐημερίαν. διόπερ Ἀριστόξενος ἐν τοῖς Συμμίκτοις Συμποτικοῖς ὅμοιον, φησί, ποιοῦμεν Ποσειδωνιάταις τοῖς ἐν τῷ Τυρσηνικῷ κόλπῳ κατοικοῦσιν. οἷς συνέβη τὰ μὲν ἐξ
546
Menschliches, Allzumenschliches I
ἀρχῆς Ἕλλησιν οὖσιν ἐκβεβαρβαρῶσθαι Τυρρηνοῖς [ἢ Ῥωμαίοις] γεγονόσι, καὶ τήν τε φωνὴν μεταβεβληκέναι τά τε λοιπὰ τῶν ἐπιτηδευμάτων, ἄγειν δὲ μίαν τινὰ αὐτοὺς τῶν ἑορτῶν τῶν Ἑλληνικῶν ἔτι καὶ νῦν, ἐν ᾗ συνιόντες ἀναμιμνήσκονται τῶν ἀρχαίων ἐκείνων ὀνομάτων τε καὶ νομίμων καὶ ἀπολοφυράμενοι πρὸς ἀλλήλους καὶ ἀποδακρύσαντες ἀπέρχονται.“ – „Daher stellt Aristoxenos in den ‚Vermischten Zechergeschichten’ fest: ‚Wir machen es genau wie die Einwohner von Poseidonia, die am thyrrhenischen Meer wohnen. Diesen geschah es, daß sie ihr ursprüngliches Griechentum gänzlich abgelegt hatten und Tyrrhenier [oder Römer] geworden waren. Sie haben Sprache und alle übrigen Gewohnheiten vertauscht, begehen aber bis auf den heutigen Tag noch irgendeins der griechischen Feste, an dem sie zusammenkommen und sich jener alten Namen und Bräuche erinnern sowie einander vorjammern und Tränen vergießen und dann wieder auseinandergehen.‘“ (Athenaios 2001, 398) Zu den Verwicklungen, wer denn eigentlich hier dieses Fest feiert – die Lukaner, die Griechen? (Niebuhrs Version ist unklar) –, siehe ausführlich Hartmann 2022, 96–99, vgl. auch NK KSA 3, 410, 23 f. 186, 19–23 Den Künstler wird man bald als ein herrliches Ueberbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht leicht Unseresgleichen gönnen.] Den bei N. schon 1860 belegten Begriff des „Überbleibsels“ mit seiner späteren Lektüre von Tylor 1873, 2, 16 in Verbindung zu bringen, wo in der deutschen Übersetzung von „survivals“ nicht von „Überbleibseln“, sondern „Ueberlebseln“ die Rede ist, scheint mir weder zwingend noch naheliegend (vgl. aber Orsucci 1996, 33 f. u. Hartmann 2022, 103 f.), zumal N. an anderer Stelle ausdrücklich das englische Wort benutzt, vgl. NK 79, 21. „Überbleibsel“ ist seit dem 17. Jahrhundert im Deutschen sehr geläufig, vgl. Grimm 1854–1971, 23, 143 f. Der Satz 186, 19–23 spielt mit mehreren Zeitebenen – Futur und Gegenwart bilden eine Klammer, die ein Imperfekt einschalt – und kommt assertorisch, ja apodiktisch daher, während im vorangehenden Satz ein „wohl“ die Behauptungswucht noch abgemildert hat. Wird jeder in der Zukunft im Künstler ein solches herrliches Überbleibsel sehen – sind „man“ alle? Jedenfalls ist das „Ueberbleibsel“ nichts Biologisches, sondern etwas Künstliches. Und woher rührt diese apodiktische Sicherheit, dass der Künstler künftig geschätzt werde, wenn dereinst doch die Sonne völlig untergegangen zu sein scheint und kein Abendrot mehr leuchtet (vgl. 186, 25–28)? 186, 22 nicht leicht] KGW u. KSA emendieren hier nach D 11, 111. In der Erstausgabe stand stattdessen: „nicht gleich“ (Nietzsche 1878, 184).
Stellenkommentar MA I Viertes HS 223–Fünftes HS 224, KSA 2, S. 186
547
Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Cultur. Haben die drei vorangehenden Hauptstücke gezeigt, dass es mit Moral, Religion und Kunst heute und künftig nicht mehr weit her sein kann, hält das Fünfte Hauptstück nach dem Ausschau, was womöglich positive Zukunftsperspektiven eröffnet. Der Titel verspricht eine Semiotik, eine Zeichenlehre für „höhere“ und „niedere Cultur“ – eine Unterscheidung, die die Lesenden schon aus MA I 3, KSA 2, 25 f. kennen. Mit dem bloßen Zeichenlesen begnügt sich die Sprechinstanz hier freilich nicht – zumindest stellenweise soll einer höheren Kultur auch schon der Weg gebahnt werden. Instruktive Vorschläge, die Anlage des Hauptstückes zu verstehen, macht Schacht 2020.
224. Der Eingangsabsatz des Fünften Hauptstücks kombiniert einen Modifikationsvorschlag zur evolutionsbiologischen Theorie von Charles Darwin (und Ernst Haeckel) mit Kulturdiagnostik und Kulturtherapeutik, schließlich mit Vorschlägen zur individuellen Erziehung: Ein sozialer Verband müsse in sich ruhen durch fraglos gültige Regeln, anerzogene Bereitschaft zur Unterordnung, bedürfe dann aber auch der Irritationsgestalten, die einer „Verdummung“ (187, 15) entgegenwirkten und einen Fortschritt durch Irritation ermöglichten. Diese Irritationsgestalten fügten der Sicherheit Wunden zu, auf denen dann wie im Obstbau neue Zweige aufgepfropft werden können, um den sozialen Gesamtorganismus vorwärts zu bringen. Der scheinbar Schwächere diene der Weiterbildung des Ganzen. Und auch in der Individualerziehung müsse man den Zögling zuerst einigermaßen fest und sicher in der Welt machen, bevor man ihm Wunden zufügen und auf ihnen etwas Neues festpflanzen könne. Zu MA I 224 gibt es in Mp XIV 1, 310–314 eine mit rotem „A“ markierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 17 nummeriert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,310). Aus dieser Version wird freilich nur der Text bis Mp XIV 1, 313 übernommen, der dem Drucktext bis 189, 1 entspricht. Mp XIV 1, 313–314 fährt nach „die Veredelung spüren lassen. –“ fort mit dem Text, der in NL 1875, KSA 8, 20[11], 364 f. als ‚Nachlassfragment‘ publiziert worden ist. Dieser Text, also das ursprüngliche Ende der Vorfassung von MA I 224, lautet mit Korrekturen von N.s Hand in Brenners Handschrift: „Um das Beispiel eines ganzen Volkes ˹einer übermässigen und fast verunglückten Inoculation˺ zu nehmen: die Deutschen, ˹ursprünglich von jener ausserordentlichen Geschlossenheit und Tüchtigkeit, welche Tacitus, der grösste Bewunderer ihrer Gesundheit, schildert,˺ wurden ˹durch die Inoculation
548
Menschliches, Allzumenschliches I
der römischen Cultur˺ nicht nur verwundet, sondern fast bis zum Verbluten gebracht: man nahm ihnen Sitte, Religion, Freiheit, Sprache, so viel man konnte; sie sind nicht zu Grunde gegangen, aber dass sie eine tief leidende Nation sind, haben sie dadurch bewiesen, dass sie die deutsche Musik erfanden˹durch ihr seelenvolles Verhalten zur Musik bewiesen˺. Kein Volk hat so viel wunde Stellen, wie die Deutschen, und eben desshalb haben sie eine grössere Begabung zur Freigeisterei zu jeder Art von Freigeisterei. – Ich will bei dieser Betrachtung absichtlich bei dem Menschen verbleiben und mich hüten, aus den Gesetzen über die menschliche Veredelung auf Grund der schwächeren und entarteten Naturen, Schlüsse auf die thierischen Naturen und deren Gesetze zu machen. – Aus dieser ganzen Betrachtung kann der Freigeist den Beweis entnehmen, dass er auch den gebundenen Geistern nützlich ist: denn er hilft dazu, dass das Product der gebundenen Geister, ihr Staat, ihre Cultur, ihre Moral nicht erstarren und absterben; er lässt in Stamm und Aeste immer von Neuem den belebenden Saft der Verjüngung fliessen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,313 u. http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,314; zu Vorstufen siehe KGW IV 4, 430) Das Notat U II 5, 57 gehört zum Themenspektrum von MA I 224 (und den folgenden Abschnitten): „der Fr.[eigeist] findet hier seine Rechtfertigung. Eine Kultur ist das stabile Element.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,57) Das Notat NL 1876, KSA 8, 12[22], 257–259 ist eine Keimzelle von MA I 224. Allerdings wird dort die Auseinandersetzung mit dem Darwinismus als „eine[r] Philosophie für Fleischerburschen“ (KSA 8, 259, 6 f.) viel expliziter geführt und aus der botanischen Metapher des Inokulierens von Edlem in die Wunden, die die Erziehung zugefügt (oder zumindest zugelassen) hat, nicht auf einen streng evolutionsbiologischen Ablauf menschlicher Entwicklung geschlossen. Im Gegenteil: „Übrigens will ich mit meiner Betrachtung bei den Menschen verbleiben und mich hüten, aus den Gesetzen über die menschliche Veredlung auf Grund der schwächeren, entarteten Naturen, Schlüsse über die thierische Entwicklung zu machen. Ob es gleich noch viel mehr erlaubt wäre, dies zu thun als aus der Bestialität und ihren Gesetzen nun auch den Menschen bestialisch zu systematisiren: wie dies Herr Häckel in Jena thut, und seines Gleichen wie D. Strauß. –“ (KSA 8, 259, 11–18) Eine bereits ausgearbeitete Version in Köselitz’ Handschrift findet sich in M I 1, 9–12; diese Version lautet mit Korrekturen von Köselitz’ und N.s Hand: „Werth der Verwundung. – Aus der Geschichte ist zu lernen, dass der Stamm eines Volkes sich am besten erhält, in dem die meisten Menschen mit ˹lebendigen˺ Gemeinsinn und mit andren sympathischen Affectionen leben ˹in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiscutirbaren Grundsätze haben˺. Hier erstarkt die gute, tüchtige Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit schon als Mitgift ˹Angebinde˺ gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr dieser starken, auf gleichartige, charakter-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 224, KSA 2, S. 186
549
volle Individuen gegründeten Gemeinwesen ist die allmählich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundneren, viel unsicher˹er˺en und schwächeren Individuen, an denen das geistige Fortschreiten in solchen Gemeinwesen hängt: ˹es sind die˺ Menschen, die Neues und überhaupt Vielerlei versuchen, u˹U˺nzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne Wirkung zu Grunde; aber im Allgemeinen lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas Neues ˹gleichsam˺ inoculirt; und seine Kraft im Ganzen ist ˹muss aber˺ stark genug ˹sein˺, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen, und sich zu assimiliren. Die degenerirenden ˹abartenden˺ Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll; jedem Fortschritt im Grossen muss eine theilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen halten den Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortzubilden. – Etwas Aehnliches ergiebt sich für den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung, eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine körperliche oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht ˹mehr Veranlassung haben, für sich zu sein und˺ ruhiger und weiser sein ˹zu werden˺, der Einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in’s Innere schauen und jedenfalls schärfer hören. Insofern scheint mir nicht ˹der berühmte˺ ‚Kampf um’s Dasein‘ ˹nicht˺ der ˹einzige˺ wichtigste ˹und vielleicht nicht einmal der wichtigste˺ Gesichtspunkt, um das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen oder einer Race erklärt werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal ˹die˺ Mehrung der stabilen Kraft durch immer lebendigeres ˹Bindung der Geister in Glauben und˺ Gemeingefühl in dem stärksten Einzelnen; sodann ˹die˺ Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen da sind ˹und in Folge derselben˺ und partielle ˹theilweise˺ Schwächungen ˹und Verwundungen˺ der stabilen Kraft vorkommen; gerade die schwächere Natur, als die zartere und freiere, macht alles Fortschreiten überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo anbröckelt und schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: Jemanden so fest und sicher hinzustellen, dass er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn gebracht ˹abgelenkt˺ werden kann. Dann aber hat er der Erzieher ihm Wunden beizubringen ˹oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlägt, zu benutzen˺, und wenn so der Schmerz und das Bedürfniss entstanden sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculirt werden. Die gesammte Natur wird es in sich hineinnehmen und als Ganzes die Veredelung spüren ˹lassen˺. ˹Um das Beispiel eines ganzen Volkes zu nehmen:˺ die Deutschen wurden nicht nur
550
Menschliches, Allzumenschliches I
verwundet, sondern fast bis zum Verbluten gebracht: man nahm ihnen Sitte, Religion, Freiheit, Sprache, so viel man konnte; sie sind nicht zu Grunde gegangen, aber dass sie eine tief leidende Nation sind, haben sie dadurch bewiesen, dass sie die deutsche Musik erfanden. Kein Volk hat so viel wunde Stellen, wie die Deutschen, und eben desshalb haben sie eine grössere Begabung zu jeder Art von Freigeisterei. – Ich will bei dieser Betrachtung absichtlich bei dem Menschen verbleiben und mich hüten, aus den Gesetzen über die menschliche Veredelung auf Grund der schwächeren und entarteten Naturen, Schlüsse auf die thierischen Naturen und deren Gesetze zu machen, ob es gleich ˹mehr˺ erlaubt wäre, diess zu thun, als aus der Bestialität und ihren Gesetzen nun den Menschen bestialisch zu systematisiren ˹nachträglich [?] den Kanon für den Menschen zu bestimmen˺: wie dies übrigens der grosse Darwin nie gethan hat.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/M-I-1,9et10, http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,11et12 u. http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,13) Bemerkenswert ist vor allem das Ende dieser bislang nicht edierten Fassung M I 1, 13, die ausdrücklich den „grossen Darwin“ gegen die Darwinisten in Schutz nimmt, die NL 1876, KSA 8, 12[22], 257, 23–259, 18 demgegenüber namentlich nennt, ohne Darwin von ihnen abzuheben, nämlich Ernst Haeckel und David Friedrich Strauß. Mit der in MA I 224 und den Vorarbeiten dokumentierten und sich verschiebenden Kritik am Darwinismus setzt sich Salanskis 2013, 57 f., Salanskis 2017, 175 f., Salanskis 2018 u. Salanskis 2021, 141 intensiv auseinander, siehe auch Frezzati 2017, 181 f. Dabei ist in der definitiven Fassung von MA I 224 etwa der Einfluss von Johan William Draper fassbar, vgl. NK 189, 2–10. Die Forschung hat überdies wiederholt darauf hingewiesen – siehe Vivarelli 2008, 539, Vivarelli 2019a, 82 u. Salanskis 2022, 186 f. –, dass Walter Bagehots Ursprung der Nationen in N.s Überlegungen hineingespielt haben dürfte, vgl. z. B. Bagehot 1874, 68 f.: „die wichtigste Vorbedingung für eine das Uebergewicht erlangende Nation ist, dass sie aus dem ersten Zustand der Civilisation schon in den zweiten übergegangen sein muss; /69/ dass sie den Zustand, in welchem das Beharren das Haupterforderniss ist, mit demjenigen vertauscht habe, in welchem die Veränderlichkeit am wichtigsten wird“. Zum gebundenen Geist und zur Aufgabe von Erziehung siehe MA I 228, KSA 2, 192, zur Nützlichkeit der Wunde MA I 231, KSA 2, 194 sowie MA I 605, KSA 2, 344. Der Soziologe Norbert Elias hat MA I 224 exzerpiert und sich für Überlegungen zum Fortschrittsbegriff zunutze gemacht, siehe Holzer 2010, 51. Zu MA I 224 vgl. schließlich Holub 2018, 336 u. 339. 187, 24–188, 1 Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas Neues gleichsam i n o c u l i r t; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren.] MA I 224 ist die einzige Stelle in N.s Werken, an der er sich der
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 224, KSA 2, S. 187–188
551
Analogie von „Inoculation“ (das Substantiv kommt in 189, 8) bedient; im Nachlass gibt es nur in den MA I 224 vorangehenden Notaten Inokulationsvokabular (vgl. auch Klass 2008a u. 2008b, 414 u. Lemm 2018, 297, ferner Del Caro 2004, 280 f., Hermens 2005, 204, Holzer 2008, 372 f. u. Skowron 2008, 167 f.). Jedoch wendet N. die Vorstellung von der Inokulation explizit auch in seiner Vorlesung über den Gottesdienst der Griechen auf die Kultur, und zwar eine spezifische an: „Jede Veränderung ist eine Erhaltung durch Auswahl, der grösste Theil des Alten wird erhalten u. etwas Neues Gleichartiges nur als Zusatz angefügt. Die Griechen verstanden sich auf die Inoculation des Neuen, auf das Einwachsenlassen des Fremden, so daß der ganze Stamm nicht beschädigt wird.“ (KGW II 5, 415, 18–22) Orsucci 1996, 137 f. sieht in der zugrundeliegenden synkretistischen Kulturkonzeption Parallelen zu einem von N. studierten Artikel von Heinrich Nissen (vgl. Nissen 1873, 521 f.), jedoch wird darin das Inokulationsvokabular nicht gebraucht. Dessen Pointe in MA I 224 besteht darin, dass zwei Bedeutungen hier zusammenspielen: Einerseits die medizinische, also „Inoculation“, „eig. die Einaugung“, schlicht als „Impfung, Einimpfung“ (Petri 1861, 412), andererseits die botanische-hortikulturelle: „Impfung (lat. Inokulation), im Gartenbau s. v. w. Veredelung, besteht in der möglichst innigen Vereinigung eines Teils eines abgeschnittenen Zweigs oder eines Auges des zu vermehrenden Baums (der, auf natürlichem Weg fortgepflanzt, die Eigenschaften der Varietät verliert, welche ihm Wert verleihen) mit einer bereits herangezogenen Unterlage (dem Subjekt) verwandter Art.“ (Meyer 1885– 1892, 8, 905) 187, 24–188, 1 zehrt von der vakzinatorischen Inokulation, wie sie in Europa während des 18. Jahrhunderts gegen die Pocken praktiziert wurde: eine Sache des Blutes (187, 27). Mit der „veredelnde[n] Inoculation“ (189, 8) und der ausdrücklichen Behauptung, es könne „in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculirt werden“ (188, 32–34), was dann „in ihren Früchten, die Veredelung spüren“ (189, 1) lasse, ist hingegen die Inokulationspraxis des Obstbauern aufgerufen. 188, 14–23 Insofern scheint mir der berühmte Kampf um’s Dasein nicht der einzige Gesichtspunct zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklärt werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und Gemeingefühl; sodann die Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade die schwächere Natur, als die zartere und freiere, macht alles Fortschreiten überhaupt möglich.] Das darwinistische Schlagwort vom ‚Kampf ums Dasein‘ begegnet bei N. von NL 1870/71, KSA 7, 7[24], 143, 1 an bis in seine letzte Schaffensphase häufig; es beruht auf Heinrich Georg Bronns Übersetzung von Charles Darwins On the Origin of Species
552
Menschliches, Allzumenschliches I
by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859) unter dem Titel Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn (1860), vgl. ausführlich NK KSA 3, 585, 20 f. In 188, 14–23 zeigt sich eine deutliche Distanzierung gegenüber dem vulgärdarwinistischen Allerklärungsanspruch; die Idee des Daseinskampfes reicht keineswegs aus, um (kulturelle) Entwicklung zu erklären. Hier wird die Kampfidee durch ein Erklärungsschema zweier einander zugleich bedingender und konkurrierender Faktoren substituiert; später wird N. das darwinistische Mangelmodell ins Zentrum seiner Darwinismus-Kritik stellen (vgl. Sommer 2010b). KSA u. KGW emendieren in 188, 23 nach Mp XIV 1, 313 und D 11, 113 „zartere und freiere“. In der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 188) steht aber wie in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stattdessen: „zartere und feinere“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/224/). 188, 24 anbröckelt] KSA u. KGW ‚emendieren‘ hier nach den Aufzeichnungen M I 1, 11 und NL 1876, KSA 8, 12[22], 258, 23. Die ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 313, das Druckmanuskript D 11, 113 und die Erstausgabe (Nietzsche 1878, 188) haben hingegen unisono das (grammatikalisch im Passiv vollkommen korrekte) „angebröckelt“. Die ‚Emendation‘ in KSA u. KGW hat keine zureichende Grundlage. 189, 1 später, in ihren Früchten] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 113 von Köselitz’ korrigiert aus: „als Ganzes“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,113). 189, 2–10 Was den Staat betrifft, so sagt Macchiavelli, dass „die Form der Regierungen von sehr geringer Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders denken. Das grosse Ziel der Staatskunst sollte D a u e r sein, welche alles Andere aufwiegt, indem sie weit werthvoller ist, als Freiheit“. Nur bei sicher begründeter und verbürgter grösster Dauer ist stetige Entwickelung und veredelnde Inoculation überhaupt möglich. Freilich wird gewöhnlich die gefährliche Genossin aller Dauer, die Autorität, sich dagegen wehren.] Dieser Passus wurde nachträglich von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 113 hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,113). N. hat den vermeintlichen Machiavelli-Ausspruch (vgl. dazu auch Häfner 2006, 326) einer mit Eselsohr markierten Seite der von ihm am 17. 02. 1875 erworbenen Geschichte der geistigen Entwickelung Europas von John William Draper entnommen (vgl. Jaspers 2020, 557, Anmerkung 559). Es handelt sich aber nicht um ein echtes Machiavelli-Zitat, sondern um Drapers Paraphrase einiger Grundideen aus dem Principe: „Machiavelli sagt uns in jenem Werke, […] /435/ […]. Daß, was Regierungen betreffe, ihre Form von sehr geringer Bedeutung sei, obgleich halb gebildete Leute anders denken. Das große Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche alles andere werth sei, da sie weit schätzbarer als Freiheit.“ (Draper 1871, 434 f.) N.s Versehen hat seinen Grund darin, dass die Reprise der Passage bei
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 224–225, KSA 2, S. 188–189
553
Draper selbst missverständlich ist: „Trotz der Unvollkommenheiten eines Systems, welches auf eine so fehlerhafte Basis gegründet ist, hat jener große Staat doch erreicht, was viele als das Ziel der Staatskunst betrachten. Ich habe bereits (S. 435) die Bemerkung Machiavellis angeführt, daß, ‚was Regierungen betrifft, ihre Form von sehr geringer Bedeutung ist, obgleich halb gebildete Leute anders denken. Das große Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche alles andere aufwiegt, indem sie weit werthvoller ist, als Freiheit.‘ Dauer aber ist nur in einem scheinbaren Sinne der Gegenstand einer guten Staatskunst, Fortschritt in Uebereinstimmung mit der natürlichen Richtung ist der wirkliche. Die allmäligen Stufen eines solchen Fortschritts folgen einander so unmerklich, daß es ein täuschendes Aussehen von Dauer giebt. Der Mensch ist so beschaffen, daß er /632/ ununterbrochene Bewegung gar nicht gewahr wird. Abgebrochene Veränderungen allein erregen seine Aufmerksamkeit. / Regierungsformen sind daher von Bedeutung, obgleich nicht in der gewöhnlich angenommenen Weise. Ihr Werth nimmt zu im Verhältniß, wie sie der natürlichen Richtung zur Entwickelung gestatten oder sie ermuntern, befriedigt zu werden.“ (Draper 1871, 631 f.) Das ist beim vermeintlichen MachiavelliZitat der Wortlaut, den N. in MA I 224 übernimmt. Aber auch in den allgemeinen Überlegungen zur Kulturevolution schiebt sich der ungenannt bleibende Draper damit in den Fokus von MA I 224 – zumal N. zwar nicht die eben zitierte DraperStelle markiert hat, dafür aber diverse Passagen auf den fraglichen Seiten davor und danach.
225. Die Figur des „Freigeistes“ wird in MA I 225 vor Augen gestellt (vgl. z. B. schon MA I 30, KSA 2, 50, 26) – aber nicht, wie vielleicht erwartbar, als stolzes Selbstbekenntnis der Sprechinstanz, sondern über den Umweg seines Wahrgenommenwerdens durch „die gebundenen Geister“ (189, 16) – also durch jene, die sich an das Überlieferte, das allseits Gültige und Akzeptierte halten. Von deren Seite werden die Freigeister in dreifacher Hinsicht verdächtigt, nämlich, sie seien, was sie sind, erstens aus dem unstillbaren Wunsch aufzufallen, oder zweitens aufgrund von Taten, die mit der herrschenden Moral nicht kompatibel seien, oder schließlich drittens, weil sie geistig verschroben seien. Während der dritte Einwand gegen die Freigeister als boshaft abgewiesen wird, gesteht der Abschnitt MA I 225, der sich auf der Metaebene bewegt und über Freigeister als Reflexions- und Forschungsgegenstände spricht, dem ersten und zweiten gerne zu, dass sie seitens der gebundenen Geister nicht nur redlich gemeint sein, sondern sogar zutreffen könnten. Jedoch beeinträchtige dies nicht die allfällige Wahrheit dessen, was die Freigeister vorbringen. Zwar müsse der Freigeist nicht
554
Menschliches, Allzumenschliches I
per se über wahrere Erkenntnisse verfügen als seine geistig-moralisch gebundenen Mitmenschen, aber er suche nach der Wahrheit: „er fordert Gründe, die Anderen Glauben“ (190, 11 f.). Zu MA I 225 gibt es in Mp XIV 1, 302–304 eine mit rotem „A“ markierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 11 nummeriert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,302). Dabei hat N. mit eigener Hand die Schlusspartie (im Druck 190, 6–12) nachgetragen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,304). In U II 5, 137 gibt es eine von N. niedergeschriebene, frühere Fassung des Textes: „Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man bei ihm auf Grund seiner Herkunft seines Standes Amtes usw. erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel: sie werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze 1) entweder aus Verrücktheit oder 2) aus der Sucht aufzufallen 3) oder aus freien dh. ungebunden unmoral. Handlungen abzuleiten seien. Thatsächlich entstehen viele Freigeister auf diese Art: desshalb könnten die Sätze, zu welchen sie kommen, doch wahrer sein als die der gebundenen. Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es darauf an, dass man sie hat, nicht darauf, aus welchem Motive man sie gesucht hat. Haben die Freigeister Recht, so haben die gebundenen Unrecht: ob nun die Ersten aus Unmoralität zur Wahrheit gekommen sind, die Anderen aus Moralität an der Unwahrheit festhalten. / Es fragt sich nur: ist der Intellekt hier oder dort schärfer? Ist die eine oder die andere Position begründeter?“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,137) Eine weitere Überarbeitungsstufe dieses Textes in der Handschrift von Köselitz mit Korrekturen von N. findet sich in M I 1, 24; dort fehlt der letzte Satz von U II 5, 137 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,24). In Mp XIV 1, 92 hat N. notiert: „Nicht dass er richtigere Ansichten hat, sondern dass er die herkömmlichen Ansichten nicht hat, das macht den Freigeist.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,92) Das geht zurück auf die Bleistiftaufzeichnung N II 2, 19, die etwas anders akzentuiert: „Nicht dass er richtigere Ansichten hat, sondern dass er eigne hat, macht den Freigeist“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/NII-2,19). Dass der Freigeist ein befreiter Geist sei, thematisieren MA I 225–232 erstmals ausführlich. Auch später bleibt der Gedanke präsent, siehe NK KSA 3, 537, 30. Zum Zusammenhang von Notaten und Drucktext in den Freigeistpassagen D’Iorio 2020, 16–18 und passim, zu Simone de Beauvoirs Kritik am Freigeist, wie er gerade in MA I 225 gezeichnet wird, siehe Inkpin 2022. Zur Interpretation von MA I 225 u. MA I 226 siehe auch Reginster 2003 u. Ferraro 2017, 53–55. 189, 24–27 denn das Zeugniss für die grössere Güte und Schärfe seines Intellectes ist dem Freigeist gewöhnlich in’s Gesicht geschrieben, so lesbar, dass es die gebun-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 225–226, KSA 2, S. 189–190
555
denen Geister gut genug verstehen] In N II 1, 77 gibt es eine Bleistiftaufzeichnung, die das präfiguriert: „das Zeugniss für die Überlegenheit seines Intellekts ist dem Freigeist gewöhnlich ins Gesicht geschrieben / so leserlich dass es die gebundenen Geister gut genug verstehen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,77). 190, 11 f. er fordert Gründe die Anderen Glauben] Diese Forderung nach Gründen entspricht der juristischen und dann philosophischen Praxis der Rechtfertigung, des λόγον διδόναι, in der Sokrates ein Meister gewesen sein soll (vgl. z. B. Platon: Protagoras 336 b–c).
226. MA I 226 ist eine Coda zu MA I 225: Ein gebundener Geist habe für seine Ansichten, seine Überzeugungen, seinen Habitus keine Gründe, habe sie nicht im kritischen Vergleich mit anderen gewonnen, sondern nur übernommen von seiner Umgebung. Glaube bestehe gerade darin, keine Gründe für sein Fürwahrhalten zu haben, sondern es von der Gewohnheit bestimmen zu lassen. Zu MA I 226 gibt es in Mp XIV 1, 304–305 eine mit rotem „A“ markierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 12 nummeriert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,304 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,305). Im Heft U II 5 hat N. an mehreren Stellen die Überlegungen von MA I 226 vorgeprägt, so in U II 5, 137: „Aus Gründen nimmt der gebundene Geist seine Position nicht ein, sondern aus Gewöhnung. Die Gründe sind nur hier u da angeleimt: man mag sie umwerfen, man wirft seine Grundsätze nicht um.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/UII-5,137; vgl. U II 5, 138). In U II 5, 136 heißt es: „(man nöthige sie zB ihre Gründe gegen die Bigamie vorzubringen u frage sich, ob der heilige Eifer für die Monogamie auf Gründen oder auf Angewöhnung beruht.[)]“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,136) Siehe auch die Bleistiftnotiz U II 5, 144 sowie NL 1876, KSA 8, 17[71], 308 u. NL 1876, KSA 8, 19[10], 334. In der Handschrift von Köselitz ist in M I 1, 24–25 eine direkte Vorstufe zu MA I 226 überliefert, die ursprünglich gelautet hat: „Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Deutscher, nicht weil er sich für Deutschland entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und das Deutschthum vor und nahm es an ohne Gründe, wie Jemand Sonnenschein und Regen annimmt. Später, als er Christ und Deutscher war, hat er vielleicht auch einige Gründe ausfindig gemacht; man mag diese Gründe umwerfen, damit wirft man seine Grundsätze nicht um. Man nöthige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen Bigamie vorzubringen,
556
Menschliches, Allzumenschliches I
dann wird man wissen, ob sein heiliger Eifer für die Monogamie auf Gründen oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,24 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,25) N. hat diese Fassung an einigen Stellen korrigiert und der schließlichen Druckfassung angenähert, insbesondere die Deutschen durch die Engländer ersetzt. Über die Macht der Gewohnheit und die Kontingenz der jeweiligen sozialen, nationalen und religiösen Zugehörigkeiten hat, wie Vivarelli 1994a, 88 f. herausstellt, in N.s Lektürehorizont insbesondere Michel de Montaigne nachgedacht, siehe z. B. Montaigne 1753–1754, 1, 175 unter der Marginalie „Wie viel Gewalt die Gewohnheit über uns hat“: „Wenn die Kretenser ehedem iemanden etwas viel Böses wünschen wollten, so baten sie die Götter, denselben in eine böse Gewohnheit fallen zu lassen. Allein ihre vornehmste Wirkung besteht darinnen, daß sie sich unserer dergestalt bemächtiget, und uns dergestalt einnimmt, daß es kaum in unserm Vermögen steht uns von ihr loß zu reissen, in uns selbst zu gehen, und ihre Verordnungen vernünftig zu überlegen und zu beurtheilen. In Wahrheit, da wir sie mit der Muttermilch in uns saugen, und da sich die Welt unserm ersten Blicke in dieser Gestalt darstellet, so scheinen wir gleichsam gebohren zu seyn dieser Bahn zu folgen. Die gemeinen Einbildungen, welche wir um uns herum in dem Schwange gehen sehen, und die uns bey der Erzeugung gleichsam eingepflanzet worden sind, scheinen uns die allgemeinen und natürlichen zu seyn. Daher kömmt es daß uns dasienige, was der Gewohnheit entgegen ist, auch der Vernunft entgegen zu seyn scheinet: Gott weiß, wie unbillig am öftersten.“ Das Beispiel, das MA I 226 gibt, scheint N. direkt Montaigne entnommen zu haben, auch wenn er diesen unmittelbaren Bezug durch das Ersetzen der Deutschen durch die Engländer in M I 1, 24 f. schließlich verschleiert: „Ein anderes Land, andere Zeugen, ähnliche Verheissungen und Drohungen, könnten uns durch eben den Weg einen ganz widrigen Glauben beybringen. Wir sind mit eben dem Rechte Christen, mit welchem wir Gasconier oder Deutsche sind.“ (Montaigne 1753–1754, 2, 17) Vivarelli 1994a, 89 weist überdies darauf hin, dass Blaise Pascal die in MA I 226 virulente Idee der legitimierenden, aber bloß nachgeschobenen Gründe ebenfalls vorbringt: „die Gründe kommen mir erst hernach, aber zuerst gefällt mir oder verstimmt mich eine Sache […]. Aber ich glaube nicht, das dieses verstimmte um der Gründe willen, die man später dafür findet, sondern das man diese Gründe nur findet, weil die Sache uns verstimmt.“ (Pascal 1865, 1, 172; unten auf der Seite eine Anstreichung in N.s Handexemplar) Zur Interpretation von MA I 226 siehe auch Katsafanas 2016, 128 f. u. 233, zur konkreten Frage von Monogamie und Bigamie NK KSA 3, 610, 29 f. und dort das Zitat aus Schopenhauer 1873–1874, 6, 658.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 226–227, KSA 2, S. 190–191
557
227. In der Fortsetzung von MA I 226 macht MA I 227 geltend, dass alle festeren sozialen Institutionen – von Staat bis Ehe, von Recht bis Kirche – ihre Autorität nicht auf Gründe bauten, sondern auf den „Glauben der gebundenen Geister an sie“ (191, 5 f.). Es werde – das Christentum als bestes Beispiel – ängstlich vermieden, die Frage nach den Gründen überhaupt aufkommen zu lassen und darauf gepocht, dass sich der Glaube durch seinen Nutzen beweise. MA I 227 identifiziert es dann als den tragenden Mechanismus in der Selbstrechtfertigungslogik der gründefeindlichen gebundenen Geister, dass der persönliche Nutzen die Wahrheit einer Sache beweise. Ein solches persönliches Nutzenkalkül unterstellten diese gebundenen Geister dann auch den Freigeistern, deren dem landläufigen Glauben widersprechenden Ansichten sie dann als „schädlich“ (191, 31) für sich selbst, ihre Wahrheit, ihren Nutzen empfänden. Zu MA I 227 gibt es in Mp XIV 1, 305 f. eine mit rotem „A“ markierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 13 nummeriert, mit Ergänzungen N.s (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,305 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,306). NL 1876, KSA 8, 17[76], 309 bietet die Keimzelle der Überlegungen; im Heft U II 5, 135 f. lautet eine frühere Version: „Nun haben alle Staaten & Ordnungen die Ehe die Erziehung usw. ihre Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister dh. der Vielen: nicht in den Gründen derselben leben das ist ein pudendum [?]. Das Christenthum aber, das sehr unschuldig in seinen intellekt. Einfällen war, forderte Glauben u. wies das Verlangen nach Gründen ab. Es verwies auf den Erfolg: ‚ihr werdet den Vortheil des Glaubens spüren‘. / So thut auch der Staat, so erzieht jeder Vater seinen Sohn: ‚halte diess nur fürwahr, du wirst spüren, wie gut das thut.‘ Dh. doch: aus dem persönl. Nutzen soll ihre Wahrheit erwiesen werden, aus der Zuträglichkeit einer Lehre die intellekt. Halt- und Sicherheit derselben /U II 5, 136/ wie wenn der Angeklagte vor Gericht spräche: mein Vertheidiger spricht die Wahrheit, denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen. / Alle Religionen berufen sich auf ihre Erfolge: als ob /U II 5, 135/ – Deshalb vermuthet man beim Freigeist, er habe seinen Nutzen bei seinen Ansichten: dh. auch er halte fürwahr, was ihm gerade frommt u. da ihm das Entgegengesetzte nützt, was seinen Landes-[?] oder Standesgenossen, so nimmt an an, dass seine Grundsätze ihnen schädlich sind. / Also: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schädlich.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/UII-5,135 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,136) In der Handschrift von Köselitz ist in M I 1, 25 f. eine direkte Vorstufe zu Mp XIV 1, 305 f. überliefert. 191, 9 Pudendum] Vgl. NK 71, 26.
558
Menschliches, Allzumenschliches I
191, 13 es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin] Vgl. NK ÜK MA I 120 u. NK ÜK MA I 68. 191, 13–15 ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon spüren, deutete es an, ihr sollt durch ihn selig werden] Vgl. NK KSA 6, 229, 16 u. Markus 16, 16. 191, 24 f. Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben] In M I 1, 26 stand statt „ihre Grundsätze“ ursprünglich: „die Wahrheit“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,26). 191, 30 ihnen gefährlich] Die handschriftlichen Überlieferungsträger U II 5, 135, M I 1, 26, Mp XIV 1, 306 und D 11, 114 sowie die Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/228/) haben stattdessen: „ihnen schädlich“. Die Erstausgabe hat dann zu „ihnen gefährlich“ emendiert (Nietzsche 1878, 192).
228. Unter Rückgriff auf den Begriff des gebundenen Geistes wird die (vermeintliche) „Charakterstärke“ (192, 4), die sich Menschen gegenseitig attestieren, als Zeichen ihrer Gebundenheit interpretiert, als ihre (Selbst-)Beschränkung auf einen möglichst geringen Radius von Möglichkeiten. Erziehung erscheint dann als Versuch, das So-Sein der Menschen in ihrer Gebundenheit möglichst umfassend bei den nachfolgenden Generationen zu reproduzieren; als „gute[r] Charakter“ (192, 24 f.) gelte bei einem Kind gerade, wenn es sich an das Vorgegebene, Überlieferte halte und so ein am angeblichen „Gemeinsinn“ orientierter, staatstreuer Erwachsener zu werden verspreche, der zufrieden wäre mit möglichst wenig Optionen des Lebens und Denkens. Zu MA I 228 gibt es in Mp XIV 1, 308–310 eine mit rotem „A“ markierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 16 nummeriert, mit Ergänzungen N.s (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,308, http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,309 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,310). In der Handschrift von Köselitz ist in M I 1, 28 f. eine direkte Vorstufe zu Mp XIV 1, 308–310 überliefert; in dieser Fassung begann ursprünglich mit dem späteren Drucktext 192, 11 f. (es steht dann in M I 1, 29 jedoch: „Dem Charaktervollen“ statt „Dem Charakterstarken“ wie in 192, 11 f.) ein neu nummerierter Abschnitt 47, während mit dem Halbsatz „was man Charakterstärke nennt“ (später 192, 11) der Abschnitt 46 schloss. Mit blauem Farbstift wurden danach die beiden Abschnitte zusammengezogen (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,29). Der „Charaktervolle“ trat in NL 1876, KSA 8, 17[93], 311, 15–17 als Gegenfigur zum „Freigeist“ auf: „Der Freigeist handelt
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 227–229, KSA 2, S. 191
559
wenig: daher Unsicherheit gegenüber dem Charaktervollen. / Er schweift auch im Denken aus: leicht Scepsis.“ (Vgl. NK ÜK MA I 230, Vivarelli 1994a, 95 f. u. Montaigne 1753–1754, 2, 525 f.) Im Heft U II 5, 131 hat N. mit Bleistift notiert: „Die Gebundenheit der Ansichten, durch Gewöhnung zum Instinkt geworden, nennt man Characterstärke. Immer die gleichen Motive werden bewegt, erlangen eine grosse Energie: sie werden anerkannt sie erzeugen nebenbei die Empfindung, dass sie des guten Gewissens.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,131) Vgl. auch NK ÜK MA I 224 zur Erziehung.
229. Gemäß MA I 229 sei für die gebundenen Geister „im Rechte“ (193, 2) erstens, was Dauer habe, zweitens, was nicht lästig falle, drittens, was persönlichen Vorteil bringe, viertens, wofür man Opfer bringe. Wenn nun Freigeister vor dem Tribunal der gebundenen zwar beweisen könnten, dass ihre Ansichten seit jeher bestünden und sie nicht lästig fielen, gelänge es ihnen doch nicht, zu beweisen, dass sie den gebundenen Geistern Vorteile brächten. Zu MA I 229 gibt es in Mp XIV 1, 306 f. eine mit rotem „A“ markierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 14 nummeriert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,306 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,307). In der Handschrift von Köselitz ist in M I 1, 27 eine direkte Vorstufe überliefert; in dieser Fassung begann mit dem späteren Drucktext 193, 9 („Die Freigeister“…) ein neu nummerierter Abschnitt 44, während mit dem Halbsatz „sobald erst Opfer gebracht sind“ (später 193, 8) der Abschnitt 43 schloss. Mit blauem Farbstift wurden danach die beiden Abschnitte zusammengezogen. Der letzte Halbsatz lautete ursprünglich: „aber gerade von diesem Letzten können sich die gebunden Geister nicht überzeugen“, bevor N. ihn korrigiert hat in: „aber weil sie von diesem Letzten die gebundenen Geister nicht überzeugen können, nützt es ihnen nichts den ersten und zweiten Punct bewiesen zu haben.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ M-I-1,27) Im Heft U II 5, 144 gibt es ein Bleistiftnotat: „Alle Dinge welche Dauer haben, sind im Recht. / Alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen ~ ~ / Alle Dinge, welche uns Vortheil bringen ~ / Alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben ~“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,144). Eine umfassendere Vorarbeit bietet U II 5, 133: „Nun bestimmen die gebundenen Geister die 4 Kategorien von Dingen, welche im Recht sind: 1 / 2/ 3 / 4. / Die Dinge [?] der Freigeister haben noch keine Dauer / sie fallen uns lästig, sie bringen uns keinen Vortheil, und Opfer haben wir nicht für sie gebracht / Also sind sie im Unrecht. / Die Freigeister haben als zu ihrer Vertheidigung [?] den gebundenen Geistern zu zeigen / dass
560
Menschliches, Allzumenschliches I
sie Dauer haben / dass sie nicht lästig fallen wollen / dass sie den gebund. Geistern Vortheile bringen / dass sie selber für ihre Sache Opfer bringen.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,133) 192, 32 M a a s s d e r D i n g e] Vgl. NK 24, 19–21. 193, 2 sie seien im Rechte] Im Druckmanuskript D 11, 115 und in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht stattdessen: „dass sie im Rechte sind“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/229/). In der Erstausgabe ist das korrigiert in: „sie seien im Rechte“ (Nietzsche 1878, 193).
230. Der Freigeist ist MA I 230 zufolge im Vergleich mit dem gebundenen Geist schwach, besonders handlungsschwach, weil ihm zu viele verschiedene Möglichkeiten vor Augen stehen, während der Gebundene die wenigen, die er hat – vgl. MA I 227 –, ganz einfach ergreift. Die Frage, wie man einen starken freien Geist erzeuge, den „esprit fort“ (193, 25 f.), der unbeirrt und beharrlich seine Zwecke verfolge, sei durchaus „in einem einzelnen Falle“ (193, 26) auch die, wie man das Genie hervorbringe. Zu MA I 230 gibt es in Mp XIV 1, 314 f eine mit rotem „A“ markierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 18 nummeriert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,314 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,315). In U II 5, 43 gibt es eine kürzere Vorarbeit: „Verglichen mit dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat u. keine Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach. Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch verhältnissmässig stark zu machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt u. nicht ˹wirkungslos˺ zu Grunde geht? Es ist diess, in einem einzelnen Falle, die Frage nach der Erzeugung des Genius. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher der Einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet?“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,43) Die (Handlungs-)Schwäche des freien Geistes (vgl. z. B. NL 1876, KSA 8, 17[90], 311 u. NK ÜK MA I 228) ist ein Thema, das sich motivisch beispielsweise schon bei Montaigne ankündigt, vgl. Vivarelli 1994a, 95 f., aber natürlich auch in der Titelfigur von Shakespeares Hamlet. Zur Interpretation von MA I 230 siehe Salerno 2023, 50–52. 193, 18 E s p r i t f o r t] Im Druckmanuskript D 11, 115 korrigiert aus: „Der freie Geist selten“. Die Fügung „esprit fort“, „starker Geist“, die in U II 5, 43 noch fehlte, benutzt N. abgesehen von MA I 230 nur noch in zwei Nachlassnotaten von 1876:
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 229–230, KSA 2, S. 192–193
561
„Die S c h ä t z u n g d e s c o n t e m p l a t i v e n Lebens h a t a b g e n o m m e n. Ehemals waren Gegensätze der Geistliche und der esprit fort: eine Art Neugeburt beider in Einer Person jetzt möglich.“ (NL 1876, KSA 8, 16[51], 295) Sowie: „Die Schätzung des c o n t e m p l a t i v e n Lebens hat abgenommen. – Deshalb ist meine Betrachtung unzeitgemäß. Ehemals waren der Geistliche und der esprit fort Gegensätze, beide innerhalb des contemplativen Lebens.“ (NL 1876, KSA 8, 17[41], 304, 6–9; vgl. Montinari 1991, 62 unter Verweis auf NL 1876, KSA 8, 16[55], 295, sowie Rethy 1976, 294, Fn. 21 zum möglichen Descartes-Hintergrund.) Isabelle von der Pahlen, spätere von Ungern-Sternberg berichtet von ihrer Begegnung mit N. im Nachtzug von Genf nach Genua am 20. 10. 1876, dieser habe sie gefragt: „‚Nicht wahr, mein Fräulein, Sie sind auch ein Freigeist?‘ Ich verwahrte mich gegen diese Bezeichnung, da sie, als Uebersetzung des im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts geprägten ‚Esprit fort‘ der Encyclopädisten, eine stark polemische Färbung habe und fügte hinzu: ‚Mein Wunsch geht danach ein >freier Geist< zu sein, was sich allenfalls mit dem >libre penseur< der Franzosen decken mag.‘ / Hier trug er, wie schon häufig im Verlaufe unserer Unterhaltung, eine Anmerkung in sein Taschenbuch ein.“ (Ungern-Sternberg o. J. [1902], 28) Als Leser war N. dem „esprit fort“ etwa in Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa begegnet, die schilderte, wie „das Gefühl der Unwahrscheinlichkeit der Hexerei fortwährend stärker“ wurde, „bis jede Anekdote, in der eine Einwirkung des Teufels vorkam, gerade desswegen allgemein verlacht wurde. Dieser Geist zeigte sich besonders bei Denen, deren Denkweise sehr weltlich und deren Ge-/75/müther am wenigsten von der Autorität beherrscht wurden“ (Lecky 1873, 1, 74 f.; N.s Unterstreichungen, Randmarkierung S. 74 unten). In der dazugehörigen Fußnote wird aus L.-F.-Alfred Maurys La magie et l’astrologie dans l’Antiquité et au Moyen Âge: „‚Ce furent les esprits forts du commencement du dixseptième siècle qui s’efforcèrent les premiers de combattre le préjugé régnant, de défendre de malheureux fous ou d’indiscrets chercheurs contre les tribunaux. Il fallait pour cela du courage, car on risquait, en cherchant à sauver la tête du prévenu, de passer soi-même pour un affidé du diable, ou ce que ne valait pas mieux, pour un incrédule. Les libres penseurs, les libertins comme on les appelait alors, n’avaient que peu de crédit.‘“ (Lecky 1873, 1, 75, Fn. 1 nach Maury 1860, 221; N.s Unterstreichungen, der erste Satz von ihm am Rand mit „17 Jh“ markiert, der letzte mit „N[B]“.) Die Stärke der „esprits forts“, von denen in MA I 230 die Rede ist, wird an dieser Stelle unmittelbar vor Augen geführt: Im 17. Jahrhundert haben sie sich mit dem großen Risiko, selbst verketzert und verfolgt zu werden, gegen Magie- und Hexenwahn ins Zeug gelegt. Genau diese Stärke der „esprits forts“ fehlt nach MA I 230 den zeitgenössischen Freigeistern noch in erheblichem Maße. Dazu passt eine weitere „esprit fort“-Stelle, die N. bei Lecky 1873, 1, 62, Fn. mit einem Randstrich markiert hat: „Montaigne scheint der erste gewesen zu sein,
562
Menschliches, Allzumenschliches I
der den Aberglauben leugnete, indem er der Einbildungskraft zuschrieb, was die Orthodoxen dem Teufel zuschrieben; und seine Meinung scheint ein Merkmal der Freidenker in Frankreich geworden zu sein; denn [Jean-Baptiste] Thiers (der 1678 schrieb) beklagt sich, dass ‚Les esprits forts et les libertins qui donnent tout à la nature, et qui ne jugent des choses que par la raison, ne veulent pas se persuader que de nouveaux-mariés puissent par l’artifice et la malice du démon estre empêches de se rendre le devoir conjugal (p. 567.) – eine sehr boshafte Ungläubigkeit – puisque l’Église, qui est conduite par le Saint-Esprit, et qui par conséquent ne peut errer, reconnoit qu’il se fait par l’opération du démon‘ (p. 573.).“ (N.s Unterstreichung) Dass der freie Geist entsprechende Stärke und Gesundheit erlangen müsse, wird dann auch in MA I Vorrede 4, KSA 2, 17 f. thematisch. 193, 18–20 Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach] Salerno 2020, 54 weist darauf hin, dass in Charles de Rémusats Drama Abélard, das 1877 in der Denk- und Gesprächsgemeinschaft in Sorrent gemeinsam gelesen wurde, der Freigeist Abaelard von seinem Lehrer Wilhelm von Champeaux den Vorwurf kassiert, er sei ein „esprit faible“ (Rémusat 1877, 35). Salerno argumentiert, dieser Leseeindruck kehre womöglich in 193, 18–20 wieder.
231. MA I 231 personalisiert „die Natur“ (194, 6) als handelndes Subjekt (vgl. zur Kritik an einer solchen Sprechweise NL 1876/77, KSA 8, 23[18], 409 f.). Sie wolle das Genie hervorbringen und tue dies durch äußerste Verknappung, äußerste Beschneidung der Möglichkeiten – den Genie-Kandidaten gleichsam in einen Kerker einsperrend oder in einem Wald aussetzend, um ihn unter Aufbietung aller List einen Ausweg finden zu lassen: Radikale Beschränkung scheint also Fokussierungsenergie hervorzubringen und die Kräfte zu kanalisieren, die sich sonst in der Vielfalt der Möglichkeiten verlieren. Ein spezieller Fall, auf den man diese Überlegungen anwenden solle, sei der der „Entstehung des vollkommenen Freigeistes“ (194, 22). Zu MA I 231 gibt es in Mp XIV 1, 315 f. eine mit rotem „A“ markierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 19 nummeriert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,315 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,316). In Heft U II 5, 99 gibt es ein Notat, das den späteren Drucktext 194, 2–9 vorwegnimmt, in U II 5, 101 ein Notat mit einer Vorfassung von 194, 15–20 und in U II 5, 102 schließlich mit 194, 20–22. In U II 5, 57 heißt es: „Der Freigeist entsteht wie das Genie. Drei Arten dieser Entstehung. Dann Anwendung auf den Freigeist.“ (http://www.nietzsche
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 230–232, KSA 2, S. 193–194
563
source.org/DFGA/U-II-5,57) Ein gedruckter Kalender vom Oktober 1876, zu finden in N II 1, 199 f., enthält Bleistiftnotizen, die den späteren Rahmen abstecken. So wird unter dem 12. Oktober 1876 notiert: „12 Jemand der sich verirrt hat und mit ungemeiner Energie nach seiner Richtung strebt, entdeckt oft einen neuen Weg, den niemand kennt: so entstehen die originalen Genies“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-1,199). Gleich darunter unter dem 13. Oktober: „13 Der Witz des Gefangenen, die Benützung jeden Vortheils kann lehren, welches Mittel sich wohl die Natur bedienen wird, um das Genie zu erzeugen, Sie bri fängt es ein und bringt es in die peinlichste [?] Lage –“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ N-II-1,199). Und auf der unbedruckten Folgeseite N II 1, 200 des Kalenders ist als Vorarbeit zu 194, 14–20 notiert: „14. Wenn einer mit dem Ohr auch die Funktion des Auges versehen muss, wird sein Auge scharfsichtiger. Der Verlust oder Mangel einer Eigenschaft, ist häufig Ursache einer glänzenden Entwicklung einer Begabung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,200). 194, 14–19 Es wurde schon erwähnt, dass eine Verstümmelung, Verkrüppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu versehen hat.] Vgl. MA I 224, KSA 2 188, 5–9. Karl Jaspers unterstreicht in seinem Handexemplar: „Es wurde schon erwähnt, dass eine Verstümmelung, Verkrüppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut entwickelt“ und notiert am Rand: „A. Adler“ (Nietzsche 1906, 219).
232. MA I 232 unternimmt nicht die am Ende von MA I 231 dem lesenden „man“ (194, 21) zugemutete Anwendung der allgemeinen Genieentstehungsgedanken auf den Fall des „vollkommnen Freigeistes“ (194, 22), sondern behauptet in Analogie zu einer meteorologischen Gegebenheit (vgl. NK 194, 25–27), dass das Aufkommen von Freigeisterei damit zusammenhänge, dass „irgendwo“ (194, 29) die Empfindungen glühend heiß geworden seien. Zu MA I 232 gibt es in Mp XIV 1, 185 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „A“, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,185). In N II 2, 84 findet sich eine Aufzeichnung, die lautet: „die grössere Gluth der Sonne an dem Aequator macht es dass die Gletscher im Norden zunehmen: darnach bemessen, beweist eine mächtige Freigeisterei, dass der Gluthstrom der Empf. Irgendwo heisser fliesst“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,84). Zur Notwendigkeit eines doppelgehirnigen Heiz- und Reflexionszentrums siehe MA I 251, KSA 2, 208 f.
564
Menschliches, Allzumenschliches I
194, 25–27 Ebenso wie die Gletscher zunehmen, wenn in den Aequatorialgegenden die Sonne mit grösserer Gluth als früher auf die Meere niederbrennt] Das ist die Kurzzusammenfassung dessen, was N. aus der glaziologischen Monographie in seiner Bibliothek, John Tyndalls Das Wasser in seinen Formen als Wolken und Flüsse, Eis und Gletscher, hat erfahren können, wo der Vorgang ausgiebig beschrieben wird: „56. Sie wissen, dass in England die Sonne nie im Scheitelpunkte steht. Aber am Aequator und innerhalb gewisser Grenzen nördlich und südlich von ihm steht die Sonne zu gewissen Zeiten des Jahres am Mittag vollkommen im Scheitelpunkte. Diese Grenzen weгden die Wendekreise des Stein-/23/bocks und des Krebses genannt. Auf den Gürtel, welcher zwischen diesen beiden Kreisen liegt, fallen die Sonnenstrahlen mit ihrer ganzen Macht; denn hier schiessen sie gerade herunter und erhitzen Erde und See mehr, als wenn sie schief auffallen. / 57. Wenn die Sonnenstrahlen senkrecht auf das Land fallen, so erhitzen sie es sehr, und die Luft, welche in Berührung mit dem warmen Boden ist, wird ebenfalls erwärmt. Aber erwärmte Luft dehnt sich aus, und ausgedehnte wird leichter. Diese leichtere Luft steigt durch die schwerere Luft hindurch in die Höhe wie Holz, das in Wasser geworfen wird. / 58. Wenn die Sonnenstrahlen auf das Meer fallen, wird das Wasser erwärmt, obgleich nicht in demselben Grade wie das Land. Das erwärmte Wasser dehnt sich aus, wird dadurch leichter und schwimmt daher auf der Oberfläche. Diese obere Schicht des Wassers erwärmt in einigem Umfang die Luft, mit welcher sie in Berührung steht, aber sie sendet auch eine Menge wässerigen Dampfes in die Höhe, welcher, leichter als die Luft, letzterer das Aufsteigen erleichtert. So haben wir sowol vom Land als vom Meer aufsteigende Ströme, welche durch die Thätigkeit der Sonne erzeugt werden. / 59. Wenn sie eine gewisse Höhe in der Atmosphäre erreicht haben, theilen sich diese Ströme und gehen theils nach Norden, theils nach Süden, während von Norden und Süden ein Strom schwe-/24/ rerer und kälterer Luft eintritt, um den Raum der aufgestiegenen warmen Luft auszufüllen. / 60. Ununterbrochener Kreislauf ist auf diese Weise in der Atmosphäre hergestellt. Die Aequatorialluft und der Dampf fliessen oben gegen die Nord- und Südpole, während die Polarluft unten gegen den Aequator hin fliesst. Die beiden so entstandenen Ströme heissen die obern und untern Passatwinde. / 61. Aber bevor die Luft von den Polen zurückkehrt, sind grosse Veränderungen mit ihr vorgegangen. Denn als die Luft die Aequatorialgegenden verliess, war sie mit Wasserdampf beladen, welcher in den kalten Polargegenden nicht bestehen konnte. Hier wurde er niedergeschlagen und fiel zuweilen als Regen oder häufiger als Schnee. Das Land in der Nähe des Pols ist mit diesem Schnee bedeckt, welcher weite Gletscher erzeugt; auf welche Art dies geschieht, wollen wir weiter unten erklären. / 62. Es ist nöthig, dass Sie eine vollkommen klare Vorstellung von diesem Vorgang erhalten, denn es sind grosse Irrthümer begangen worden in Bezug auf die Art, in welcher die Gletscher
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 232–233, KSA 2, S. 194
565
mit der Sonnenwärme in Verbindung gebracht worden sind. / 63. Man hat vermuthet, dass wenn die Sonnenwärme vermindert würde, grössere Gletscher als die jetzt bestehenden erzeugt werden könnten. Aber die Verminderung der Sonnenwärme würde unfehlbar die Menge des Wasserdampfes verringern /25/ und dadurch die Gletscher an ihrer Quelle abschneiden. Ein kurzes Beispiel wird Ihnen dies vollständig klar machen. / 64. In dem Vorgang des gewöhnlichen Destillirens wird die Flüssigkeit, welche destillirt werden soll, in dem einen Gefass erwärmt und in Dampf verwandelt und in einem andern abgekühlt und wieder in Flüssigkeit zurückverwandelt. Was vorhin festgestellt wurde, zeigt klar, dass die Erde und ihre Atmosphäre einen grossen Destillationsapparat bilden, in welchem der Ocean in der Gegend des Aequators die Rolle des Kessels spielt und die Eisregionen der Pole die Rolle des Verdichters. In diesem Destillationsvorgang spielt die Wärme eine ebenso wichtige Rolle wie die Kälte, und bevor Bischof Heber von ‚Grönlands Eisbergen‘ sprechen konnte, musste der tropische Theil des Oceans von der Sonne erwärmt werden. Wir werden über diese Frage später noch mehr zu sagen haben.“ (Tyndall 1873, 22–25)
233. MA I 233 spielt mit den projektiven Erwartungen, das Geschichtsganze verstehen zu wollen: Die Geschichte scheine uns sagen zu wollen, dass Jahrhunderte des Menschheitsleidens, eines überstarken Drucks schließlich das Genie hervortrieben: „der Wille, wie ein Ross durch den Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein anderes Gebiet über“ (195, 10–12). Wer also das Genie bewusst erzeugen wolle, müsse so rücksichtslos und gewalttätig wie „die Natur“ (195, 13 f.) agieren – die hier wie in MA I 231, KSA 2, 194, 6 als handelndes Geschichtssubjekt auftritt wie einst schon in der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie (vgl. Sommer 2006b, 312–322). Aber, gibt ein nachgeschobener Schlusssatz zu bedenken, „vielleicht“ hätten „wir uns“ ja nur „verhört“ (195, 16) – bei dem, was die vermeintliche Stimme der Geschichte oder der Natur uns sagen wolle. Zu MA I 233 gibt es in Mp XIV 1, 316 f. eine mit rotem „A“ markierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 20 nummeriert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,316 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,317). Es fehlt in dieser Fassung der Nachsatz „Aber vielleicht haben wir uns verhört“ (195, 16), der nachträglich ins Druckmanuskript D 11, 116 eingefügt wird (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,116). Vorarbeiten sind NL 1875, KSA 8, 5[191], 94 u. NL 1875, KSA 8, 5[194], 95. Eine von Köselitz in M I 1, 9 notierte Version hat N. ausgiebig korrigiert;
566
Menschliches, Allzumenschliches I
ursprünglich hatte sie gelautet: „Stimme der Geschichte über die Erzeugung des Genius: – Misshandelt die Menschen, treibt sie zum Äussersten und zwar durch Jahrhunderte hindurch, dann springt durch eine Verirrung der Natur, gleichsam aus einem abspringenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal der Genius hervor. – Wer zum Bewusstsein über die Erzeugung des Genius käme und die Art, wie die Natur dabei verfährt, auch practisch durchführen wollte, würde gerade so böse und rücksichtslos, wie die Natur, sein müssen.“ (www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,9)
234. Endete MA I 233 mit deutlich artikuliertem Zweifel, dass die Erkenntnis des Geschichtsganzen in menschlicher Reichweite liegt, unternimmt MA I 234 dennoch unbeirrt einen weiteren Anlauf. Der Zweifel macht diesmal den Anfang, und zwar daran, ob Genies womöglich nur in bestimmten Epochen der Menschheit aufgetreten sind oder auftreten – so, wie ein religiös geschlossener Horizont künftig unmöglich geworden sei und nur unter bestimmten historischen Umständen gefestigt werden könne. Womöglich sei es ja einer bestimmten Epoche vorbehalten, geniale intellektuelle Willenskraft nicht nur zu kultivieren, sondern sogar zu vererben. Die Kräfte, die diese Möglichkeit eröffneten, könnten aussterben, eine gewisse Wildheit und Halbbarbarei, die in einem ideal geordneten Staat keinen Platz mehr haben werde. Vielleicht, wird stipuliert, sei die Menschheit in der Mitte ihrer Entwicklung ihrem Ziele näher gekommen als an ihrem künftigen Ende (vgl. auch MA I 20, KSA 2, 41 f.): Das vorbehaltvolle Sprechen weicht erneut einer steilen geschichtsphilosophischen These, die nicht am Ende, sondern am Ende der Mitte von MA I 234 steht, während das Abschnittsende angesichts einer künftig vollgeordneten Welt dem „unvollkommenen Staat[..]“ (196, 16 f.) und seiner kreativitätssteigernden „halb-barbarischen Gesellschaft“ (196, 17) nachtrauert. Zu MA I 234 gibt es in Mp XIV 1, 317–319 eine mit rotem „A“ markierte ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 21 nummeriert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,317, http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,318 u. http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,319). Eine von Köselitz niedergeschriebene Version in M I 1, 15 f. lautet, übrigens unter Einschluss des in Mp XIV 1, 317 fehlenden Titels, der im Druckmanuskript D 11, 116 nachträglich ergänzt wird: „Werth der Mitte des Wegs. – Man muss von der Zukunft der Menschheit nicht erwarten, was ganz bestimmte Vergangenheiten allein zu erzeugen vermochten; zum Beispiel nicht die erstaunlichen Wirkungen des religiösen Gefühls. Dieses selbst hat seine Zeit gehabt und vieles sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus ihm
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 233–234, KSA 2, S. 194–196
567
wachsen konnte. Vielleicht ist der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes möglich, mit der es, wie es scheint, für alle Zukunft vorbei ist. Selbst die Höhe der Intelligenz ist vielleicht einem begränzten Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen: damals, als eine ausserordentliche Energie des Willens auf geistige Bestrebungen durch Vererbung übertragen wurde. Es wird mit jener Höhe vorbei sein, wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr gross gezüchtet wird. Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher, als am Ende. Es könnten Kräfte, von denen ˹durch welche˺ z. B. die Kunst bedingt ist, geradezu aussterben, z. B. die Lust am Lügen, am Undeutlichen, am Symbolischen, auch der Rausch könnte in Missachtung kommen, und im Grunde: ist das Leben erst im idealen Staate geordnet, dann ist aus der Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es könnten nur zurückgebliebene Menschen sein, welche nach dichterischer Unwirklichkeit verlangten. Diese würden dann jedenfalls mit Sehnsucht rückwärts schauen, nach den Zeiten des unidealen Staates, nach unseren Zeiten.“ Danach hat N. mit eigener Hand ergänzt: „Nun die Gegenvorstellung. –“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,15et16) Eine frühere Fassung findet sich in NL 1875, KSA 8, 5[185], 92; in NL 1877, KSA 8, 22[98], 398, 4 f. heißt es: „Die Dichter werden dann um Elend und Unordnung förmlich beten lernen.“ Dass die Kunst aussterben könnte, wird am Ende des Vierten Hauptstücks eingehend thematisiert, vgl. z. B. MA I 222 u. MA I 223, KSA 2, 185 f. 195, 18 We r t h d e r M i t t e d e s We g s.] Vgl. NK 21, 18 f. 196, 15–18 Diese würden dann jedenfalls mit Sehnsucht rückwärts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der halb-barbarischen Gesellschaft nach u n s e r e n Zeiten.] KGW u. KSA folgen in der Interpunktion hier treu der Erstausgabe, die ebenfalls kein Komma nach der „halb-barbarischen Gesellschaft“ setzt (Nietzsche 1878, 197). Deshalb ist gelegentlich in der Forschung der Eindruck entstanden, diese Semibarbarei werde erst in der Zukunft, jedenfalls nach der Gegenwart des Jahres 1878 eintreten, während diese Gegenwart womöglich noch im Zustand der Ganzbarbarei befangen sei. Der handschriftliche Befund in Mp XIV 1, 319, im Druckmanuskript D 11, 116 und in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/233/), wo jeweils ein Komma steht, macht klar, dass hier entweder ein Drucksatzfehler vorliegt oder die Streichung des Kommas absichtlich erfolgte, freilich in semantisch unklarer Absicht. Mit dem Komma ist aus Sicht des Sprechers die „halb-barbarische[.] Gesellschaft“ die der damaligen Gegenwart.
568
Menschliches, Allzumenschliches I
235. MA I 235 nimmt den Faden von MA I 234 auf und behauptet, ein Staat, der nach sozialistischer Maßgabe auf das Wohlergehen, das „Wohlleben“ (196, 21 u. ö.) aller abziele, vernichte die Entstehungsbedingungen des Genies. Das „wärmste Herz“ (197, 1) wolle zwar das Wohlergehen aller – ein Wunsch, der, würde er realisiert, die Grundlage, auf der ein solches Herz hat brennen können, abschnitte. Die ideale Verkörperung dieses wärmsten Herzens, nämlich Jesus von Nazareth (vgl. Düsing 2020, 136), habe freilich auf die „Verdummung“ (197, 18) der Menschheit hingewirkt, während der „Weise“ (197, 21) als Verkörperung höchster Intellektualität der Entstehung eines Christus-Typus im Wege stünde. Der Staat nun sollte – heißt es am Schluss in einem erst im Druckmanuskript hinzugefügten Passus – eigentlich die Individuen voreinander schützen, vernichte aber in seiner vollkommenen Ausprägung jegliche Form von Individualität (vgl. z. B. ZB 3, KSA 1, 708–711 u. ö.). Zu MA I 235 gibt es in Mp XIV 1, 319–322 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne die spätere Überschrift, von ihm als Abschnitt 22 nummeriert. Der Beginn dieser ‚Reinschrift‘ wurde von Colli und Montinari separat als NL 1876/77, KSA 8, 20[12], 365 publiziert. Mitten auf Seite Mp XIV 1, 320 beginnt ohne Absatzmarke, mit nachträglicher roter „A“-Markierung dann der Text, der schließlich MA I 235 werden sollte. In seiner Gesamtheit lautet der Text Mp XIV 1, 319–322: „22. Es ist vielleicht das wichtigste Ziel der Menschheit, dass der Werth des Lebens gemessen und der Grund, wesshalb sie da ist, richtig bestimmt werde. Sie wartet desshalb auf die Erscheinung des höchsten Intellectes; denn nur dieser kann den Werth oder Unwerth des Lebens endgültig festsetzen. Unter welchen Umständen aber wird dieser höchste Intellect entstehen? Es scheint, dass die, welche die menschliche Wohlfahrt im Ganzen und Groben fördern, sich gegenwärtig noch ganz andere Ziele setzen, als diesen höchsten, werthbestimmenden Intellect zu zeugen. Man ˹Die Socialisten˺ begehrten für möglichst viele ein Wohlleben herzustellen und versteht dieses Wohlleben noch dazu äusserlich genug. Wenn die dauernde Heimat dieses Wohllebens, der vollkommene Staat, den die Socialisten begehren, wirklich erreicht wäre, so würde durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der grosse Intellect wächst, zerstört sein: ich meine die starke Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden sein, wenn dieser Staat erreicht ist, um dieses den Genius noch erzeugen zu können. Müsste man somit nicht wünschen, dass das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte und dass immer von Neuem wieder wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden? Das höchste Urtheil über den Werth des Lebens wäre dann vielleicht das Resultat jenes Augenblicks, in welchem die Spannung der Gegensätze im Chaos, Wille und Intellect, am kräftigsten wäre, und zwar als Kampf im Wesen eines einzelnen
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 235, KSA 2, S. 196
569
Individuums. Nun will das warme, mitfühlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewaltsamen und wilden Characters, und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde eben darnach am leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade seine Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Character des Lebens ihr Feuer, ihre Wärme, ja ihre Existenz genommen hätte; das wärmste Herz will also Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heisst doch: es ist ˹will etwas Unlogisches, es ist˺ nicht intelligent. Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein, und der Weise, welcher über das Leben das Urtheil spricht, stellt sich auch über die Güte und betrachtet diese nur als etwas, das bei der Gesammtrechnung des Lebens mit abzuschätzen ist. Der Weise muss den Wünschen der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus und an dem endlichen Entstehen des höchsten Intellectes gelegen ist; mindestens wird er der Begründung des vollkommenen Staates nicht förderlich sein. Christus dagegen, den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen, förderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und hielt die Erzeugung des grössten Intellectes auf: und diess war consequent. Sein Gegenbild, der vollkommene Freigeist, würde ebenso nothwendig der Erzeugung von Christus hinderlich sein.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,319, http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,320, http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,321 u. http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,322) In dieser Version ist der Rahmen völlig anders gesetzt als in der schließlichen Druckversion: Die Rahmenfrage ist mit Eugen Dühring die nach dem Wert des Lebens (vgl. z. B. NK ÜK MA I 28 u. NK ÜK MA I 32) – eine Frage, zu deren Beantwortung man den „höchsten Intellect“ braucht, denn der werde dereinst diesen Wert bestimmen können. In der Druckversion MA I 235 fällt dieser Rahmen weg; der „höchste Intellect“ wird sozial funktionslos und erscheint nunmehr wie das Genie in den vorangehenden Abschnitten als Selbstzweck oder als Zweck der Natur. In der Überarbeitung hat N. offenbar nicht länger daran festhalten wollen, dass das „wichtigste Ziel der Menschheit“ es sei, „dass der Werth des Lebens gemessen“ werde. Damit freilich gerät die Gesamtarchitektur des Textes ins Schwanken, weil die Entgegensetzung des „höchsten Intellects“ zum „wärmsten Herz“ nicht mehr auf die Lebensgesamtwertfrage hin perspektiviert ist. Als Jesu Gegenbild figuriert in Mp XIV 1, 322 nicht wie in MA I 235, KSA 2, 197, 21 der „vollkommene Weise“, sondern vielmehr der „vollkommene Freigeist“. Dieser wurde erst in N.s Überarbeitung von Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 117 durch den Weisen ersetzt. N. fügte dort auch erst den Schlusspassus über den Staat (197, 23–27) hinzu. Die Überlegungen zur Lebenswertfrage gehen zurück auf NL 1875, KSA 8, 5[188], 93 f.; das Wegfallen dieser Überlegungen in der Druckfassung von MA I 235 könnte daran liegen, dass N. unterdessen die Frage nach der „Gesammtrechnung
570
Menschliches, Allzumenschliches I
des Lebens“ (197, 11) insgesamt für problematisch, wenn nicht für obsolet zu halten geneigt war, vgl. MA I 32, KSA 2, 51 f. Die von Köselitz niedergeschriebene Version in M I 1, 13 f. unter dem Titel „Factum tristissimum“ endet: „Christus förderte die Verdummung der Menschen, er hielt die Erzeugung des grössten Intellectes auf und stellte sich auf die Seite der geistig Armen, und diess sogar consequent. Sein Gegenbild ˹der vollk. Freigeist˺, würde nothwendig der Erzeugung von Christus hinderlich sein. Beides zusammengenommen giebt das fatum tristissimum.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,13et14) Dadurch, dass in der Druckfassung der Dühring-Rahmen mit der Frage nach dem Wert des Lebens entfällt, bekommen darin der Sozialismus und die Kritik daran ein stärkeres Gewicht (vgl. auch MA I 340, KSA 2, 248 f. und mit den „Möglichst-Vielen“ MA I 438, KSA 2, 285, 18). MA I 235 stellt ihn als eine universalhedonistische Ideologie dar, die das „Wollleben“ (196, 21 u. 24) aller in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellt. In den Nachlassaufzeichnungen aus den Entstehungsjahren von MA I ist der Sozialismus häufiger Gegenstand von Analyse und Kritik, vgl. z. B. NL 1876/77, KSA 8, 21[32], 371, NL 1876/77, KSA 8, 21[43], 373, NL 1876/77, KSA 8, 23[16], 409, NL 1876/77, KSA 8, 23[25], 412 u. ausführlich mit Behandlung des „Wohlbefinden[s]“ NL 1877, KSA 8, 25[1], 481–483, ferner Murray 2024. 197, 19 stellte sich auf die Seite der geistig Armen] Vgl. Matthäus 5, 30.
236. MA I 236 setzt die geschichtsphilosophische Deutungsarbeit fort, aber mit deutlich anderer Betonung: Das klimatische Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen wird jetzt „gleichnissweise“ (197, 29) diachron perspektiviert und das gegenwärtige Eintreten in eine gemäßigte Kultur mit geringen Druck- und Temperaturschwankungen einer vorangehenden, tropischen Epoche mit enormer Üppigkeit, Farbigkeit und Vitalität gegenübergestellt. Dieses Tropenzeitalter soll geprägt gewesen sein von gewaltigen Gegensätzen. Künstler trauerten dieser Zeit ebenso nach wie metaphysische Philosophen vom Schlage Schopenhauers und könnten im Eintritt in ein gemäßigteres Zeitalter keinen Fortschritt erkennen; das ‚Wir‘ – die Rede ist von „uns Nicht-Künstler[n]“ (198, 21 f.) – hingegen sieht bereits „die E x i s t e n z der gemässigten Zone der Cultur selbst als Fortschritt“ (198, 29–31) an. Dieser Fortschrittsoptimismus steht in starker Spannung zu den vorangehenden Abschnitten MA I 234 und 235, die der Gegenwart eher eine Verfallsdiagnose auszustellen schienen. Zu MA I 236 gibt es in Mp XIV 1, 150 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“, blau rubriziert „Cultur“ und mit einigen Korrekturen, noch ohne den späteren Titel, stattdessen: „Übergang der Griechen aus der tragischen in die gemäßig-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 235–236, KSA 2, S. 197–198
571
te Zone: Sophisten.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,150) Dieser Titel wurde auch noch im Druckmanuskript D 11, 117 übernommen, dann aber gestrichen und durch „Die Zonen der Cultur“ ersetzt (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,117). Wie dieser im Text von MA I 236 ja nicht explizit gemachte Bezug zu den Griechen und den griechischen Sophisten hätte gedacht werden können, macht NL 1876/77, KSA 8, 23[110], 442, 10–22 deutlich: „G e i s t i g e Ü b e r g a n g s c l i m a t a. – Wir haben uns freigemacht von vielen Vorstellungen – Gott ewiges Leben vergeltende jenseitige und diesseitige Gerechtigkeit, Sünde Erlöser Erlösungsbedürftigkeit –; eine Art vorübergehende Krankheit verlangt einen Ersatz an die leeren Stellen hin, die Haut schaudert etwas vor Frost, weil sie früher hier bekleidet war. Da giebt es Philosophien, welche gleichsam Ü b e r g a n g s c l i m a t a darstellen, für die, welche die frische Höhenluft noch nicht direct vertragen. – Vergleiche, wie die griechischen Philosophensekten als Übergangsklimata dienen: die alte Polis und deren Bildung wirkt noch in ihnen nach: wozu soll aber übergegangen werden? – es ist wohl nicht gefunden. Oder war es der S o p h i s t, der volle Freigeist?“ Diesen Aspekt der spezifisch innerphilosophischen Klimaschwankungen thematisiert MA I 236 nicht; Schopenhauer wird nur genannt als Repräsentant eines Denkens, das Fortschritt in Religion und Metaphysik leugnet (damit freilich nicht zwangsläufig auch intellektuelle Klimaschwankungen). Zur Metaphorik der Klimazonen, die N. gerne anwendet, siehe ausführlich NK KSA 3, 379, 17–27. Auch Richard Wagner hat 1850 in seinem Aufsatz Kunst und Klima (Wagner 1871–1873, 3, 251–268) das Thema der gegenseitigen Bedingtheit von Kultur und Klima aufgegriffen, aber doch eigentlich nur, um dem klimatischen Faktor jeden Einfluss abzusprechen: „Die schöpferische Fähigkeit lag […] immer in dem n a t u r u n a b h ä n g i g e n Wesen des Menschen, ja in der Überfülle dieses Wesens, nicht aber in einer unmittelbar produktiven E i n w i r k u n g d e r k l i m a t i s c h e n N a t u r, begründet.“ (Wagner 1871–1873, 3, 257) Wenn MA I 236 explizit auf die seit dem 18. Jahrhundert diskutierten Klima-Kultur-Interdependenztheorien zurückkommt, aber sie umakzentuiert, indem nun nicht mehr Kausalitäten, sondern Analogien behauptet werden, nimmt dies einerseits Wagners Kritik auf, überbietet sie aber andererseits und treibt sie ad absurdum: An ein „naturunabhängige[s] Wesen des Menschen“ konnte der Verfasser von MA I ebensowenig mehr glauben wie an an sich gegebene „schöpferische Fähigkeit[en]“. Dennoch fällt MA I 236 auch nicht zurück in einen klimatologischen Monokausalismus, den Wagner kritisiert hatte. 198, 2 f. Ganzen und Grossen] In Mp XIV 1, 150 (und GoA) stattdessen: „Ganzen Grossen“. 198, 17 f. selbst im Traume kommt uns Das nicht bei, was frühere Völker im Wachen sahen] Vgl. Lubbock 1875, 179 f., zitiert in NK ÜK MA I 5, ferner Thatcher 1983, 297.
572
Menschliches, Allzumenschliches I
198, 27 keinen Anlass haben] In Mp XIV 1, 150, D 11, 117 und in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht stattdessen: „keinen Grund haben“. Die Korrektur muss vor der Drucklegung erfolgt sein; die Erstausgabe hat: „keinen Anlass haben“ (Nietzsche 1878, 199).
237. MA I 237 wird gern als erstes Manifest für N.s Renaissancismus angeführt, der von einem scharfen Gegensatz von Renaissance und Reformation lebt: Die Renaissance wird als „Entfesselung des Individuums“ (199, 7 f.), als Befreiung von Geist und Wissenschaft aus den Zwängen der Autorität verstanden – Elemente, aus denen sich die „moderne Cultur“ (199, 4) speise, ohne dass sie bisher doch wieder zu der in der Renaissance erreichten Kulturhöhe zurückgefunden habe. Scharf dagegen abgesetzt wird die Reformation Luthers, die als entschlossenes Zurück zu einer beinahe schon überwundenen christlich-mittelalterlichen Welt erscheint und mit der von ihr heraufbeschworenen Gegenreformation für einen allgemeinen kulturellen Rückfall verantwortlich sei. MA I 237 bricht damit das gerade in Deutschland verbreitete Schema auf, das Renaissance und Reformation als gleichrangige Befreiungsbewegungen ansieht, die beide gleichermaßen positiv modernitätsträchtig seien. MA I 237 will dieses Schema als typisch deutsch-protestantisches Geschichtsmythologem entlarven. Zu MA I 237 gibt es in Mp XIV 1, 21 eine ‚Reinschrift‘, die mit rotem „A“ markiert ist und bereits den Titel „Renaissance u Reformation“ trägt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,21). Dieser Abschnitt versammelt bereits die wesentlichen Motive von N.s später wiederholt vorgetragener Reformationskritik; zu den Quellen vgl. Sommer 2017c. Den ersten Band von Hippolyte Taines Geschichte der englischen Literatur, dem N. dann wesentliche Elemente seiner Entgegensetzung von Reformation und Renaissance und die These von der Behinderung der Renaissance durch die Reformation entnehmen wird (Taine 1878), hat N. zwar 1878 erworben; gebunden wurde das Buch allerdings laut entsprechender Rechnung erst am 20. 07. 1878 (NPB 587), also nach Erscheinen von MA I, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass N. sich davor schon des noch ungebundenen Bandes bedient hatte. Vgl. z. B. auch NK ÜK MA I 26 u. NK KSA 6, 251, 16–26. 199, 7 f. Entfesselung des Individuums] Nicht der Terminologie, aber der Sache nach verweist die Rede von der „Entfesselung des Individuums“ (wie im Übrigen auch die anderen Bestimmungen zu Anfang von MA I 237) auf Jacob Burckhardts Cultur der Renaissance in Italien, die einen berühmten Abschnitt der „Entwicklung des Individuums“ widmet (Burckhardt 1869b, 104–135), zu dessen Beginn es heißt: „In Italien zuerst verweht dieser Schleier [sc. „aus Glauben, Kindesbefan-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 236–238, KSA 2, S. 198–200
573
genheit und Wahn“] in die Lüfte; es erwacht eine o b j e c t i v e Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämmtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das S u b j e c t i v e; der Mensch wird geistiges I n d i v i d u u m und erkennt sich als solches.“ (Ebd., 104) Die Entfesselungsmetapher hat N. auch nicht als erster benutzt; sie lässt sich beispielsweise nachweisen im Katechismus der Allgemeinen Literaturgeschichte des N. (über die Wagners) persönlich bekannten Literaturhistorikers Adolf Stern, wo es zur Renaissance heißt: „Der Widerstand des mittelalterlichen Geistes und Lebens gegen die neuen Regungen und Richtungen war stark und andauernd. Oft finden wir mitten in der großen geistigen Bewegung, welche das Mittelalter zur neuen Zeit umbildet, Nachwirkungen und Nachklänge der Anschauung, die nahezu ein Jahrtausend die europäische Menschheit beherrscht hatte. Die Entfesselung des Individuums kam in gewissem Sinne auch den Unterliegenden zu Hülfe.“ (Stern 1876, 78) In MA I 472, KSA 2, 305, 27 f. will N. hingegen nicht mehr von der „Entfesselung des Individuums“ sprechen, sondern nur noch der „Privatperson“. 199, 21 anstatt] In Mp XIV 1, 21 (und in der GoA) stattdessen: „statt“. 200, 7 Huss] Im Handexemplar C 4412[1] wurde nach „Huss“ ein Komma eingefügt (Nietzsche 1886a, 201). Zu Jan Hus und seiner Hinrichtung siehe NK ÜK MA I 67 u. NK 80, 9. 200, 8 Morgenröthe der Aufklärung] In Mp XIV 1, 21 stattdessen: „Morgenröthe der Wissensch.“
238. MA I 238 spielt mit der religionsphilosophischen Vorstellung eines „w e r d e n d e n G o t t e s“ (200, 11), der die Sprechinstanz immerhin abgewinnen kann, dass sie das Wirrwarr der Kulturgeschichte auf einen sinnhaft anmutenden Nenner zu bringen erlaubt. Nur ein geschichtsverleugnender Denker wie Schopenhauer, der unempfindlich gegenüber dem Elend der Geschichte gewesen sei, habe sich leicht spöttisch über diese Vorstellung auslassen können. Zu MA I 238 gibt es in Mp XIV 1, 56 eine ‚Reinschrift‘, die mit rotem „A“ markiert und blau unter „Religion“ rubriziert ist, noch ohne den späteren Titel, die lautet: „Wenn sich die ganze Geschichte der Cultur vor den Blicken aufthut, als ein Gewirr von bösen u edlen wahren u. falschen Vorstellungen u es einem beim Anblick dieses Wellenschlags fast seekrank zu Muthe wird, so begreift man, was für ein Trost in der Vorstellung eines werdenden Gottes liegt: dieser enthüllt sich immer mehr in den Plänen der Menschheit, es ist nicht alles blinde Mechanik. Die Vergottung des Werdens ist ein metaphys. Ausblick, welchem eine allzu viel
574
Menschliches, Allzumenschliches I
historisirende Gelehrtengeneration zu ihrem Troste entgegenlief; da darf man nicht böse werden. Nur wer, wie Schoph., die Entwickelung leugnet, fühlt auch Nichts von dem Elend dieses historischen Wellenschlags u. kann sich billigerweise auch von jenem werdenden Gotte u. dem Bedürfniss seiner Annahme Nichts fühlen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,56) In beiden Handexemplaren aus N.s Besitz, C 4402 (Nietzsche 1878, 202) u. C 4412[1] (Nietzsche 1886, 202), wird am linken Rand zum Ende des letzten Satzes (KSA 2, 200, 28–29) mit einem „V“ eine allerdings unterbliebene Einfügung markiert. Die Vorstellung eines werdenden Gottes, der sich erst im geschichtlichen Prozess realisiert, hat – bei Vorgängern in der Kabbala und in der Mystik (vgl. z. B. Sommer 1995) – im 19. Jahrhundert vor allem in Schelling einen berühmten Gewährsmann: „Gott seinem höchsten Selbst nach ist nicht offenbar, er offenbart sich; er ist nicht wirklich, er wird wirklich, eben damit er als das allerfreieste Wesen erscheine.“ (Schelling 1861, 308; vgl. auch Wilson 1996, 11, Fn. 30 u. Corti 1965, 97 f.) Auch im Gefolge von Hegel und sogar von Schopenhauer (bei Julius Frauenstädt) wird die Idee gelegentlich durchbuchstabiert. Die in MA I 238 präsentierte Variante weist Ähnlichkeiten zu derjenigen auf, die Eduard von Hartmann im zweiten, Metaphysik des Unbewussten betitelten Band seiner Philosophie des Unbewussten präsentiert hat. Hartmann argumentiert gegen die alte theistische Idee vom Bewusstsein Gottes, die vor allem aufrecht erhalten worden sei aus „Abscheu vor dem Gedanken, in Ermangelung eines bewussten Gottes als P r o d u c t b l i n d e r N a t u r k r ä f t e, als unbeabsichtigtes, unbewachtes, zwecklos entstehendes und zwecklos vergehendes Combinationsresultat einer zufälligen Nothwendigkeit dastehen zu müssen“ (Hartmann 1876, 2, 175). Hartmann selbst will nun einen Mittelweg zwischen „Theismus“ und „Naturalismus“ gehen: „Diese richtige Mitte besteht eben in der Anerkennung der Finalität, welche aber nicht nach Art bewusster menschlicher Zweckthätigkeit durch discursive Reflexion geschaffen wird, sondern als immanente unbewusste Teleologie von einer intuitiven unbewussten Intelligenz den Naturdingen und Individuen vermittelst derselben Thätigkeit eingepflanzt wird, welche wir […] als stetige Schöpfung oder Erhaltung, oder als reale Erscheinung des All-Einen Wesens bezeichneten.“ (Ebd., 176) Hartmanns Gott ist also ein unbewusster, der sich im geschichtlichen Prozess realisiert und damit, wie in MA I 238 beschrieben, das scheinbar sinnlose geschichtliche Geschehen teleologisch positiviert. Montinari hat am 19. 08. 1963 an Delio Cantimori aus Weimar geschrieben: „Im Archiv gibt es außerdem ein persönliches Exemplar von ‚Menschliches‘, in dem die ersten Aphorismen von N. für eine Neufassung korrigiert wurden, die er dann nicht zu Ende brachte (1885–6); die „historische Philosophie“ von 1876– 77 wird hier ‚Philosophie des Werdens‘, das heißt etwas Feierlicheres und … ‚Zarathustra-Näheres‘ – aber davon sind schon Spuren in Menschliches Aph. 238.“ (Campioni 2007, 67) Vgl. zu MA I 238 auch Schoeck 1948, 94 u. Schacht 2020, 120.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 238–240, KSA 2, S. 200
575
200, 24–29 Nur wer, wie Schopenhauer, die Entwickelung leugnet, fühlt auch Nichts von dem Elend dieses historischen Wellenschlags und darf desshalb, weil er von jenem werdenden Gotte und dem Bedürfniss seiner Annahme Nichts weiss, Nichts fühlt, billigerweise seinen Spott auslassen.] Schopenhauer artikuliert seine Abneigung gegen jegliche Form des Entwicklungsdenkens wiederholt und mit sarkastischem Unterton: „Während die Geschichte uns lehrt, daß zu jeder Zeit etwas Anderes gewesen, ist die Philosophie bemüht, uns zu der Einsicht zu verhelfen, daß zu allen Zeiten ganz das Selbe war, ist und sein wird.“ (Schopenhauer 1873– 1874, 3, 504; Lesespuren N.s)
239. Die Diskrepanz zwischen dem Fortschrittsoptimismus von MA I 236 und der Entwicklungsverlustbilanz von MA I 234 wird in MA I 239 partiell versöhnt: Kultur zeitige zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Früchte und mit dem Fortschritt gehe auch viel verloren. Es sei eine Illusion, zu glauben, „dass eine höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge früherer Stufen in sich vereinigen werde und zum Beispiel auch die höchste Gestaltung der Kunst erzeugen müsse“ (201, 5–8). Zu MA I 239 gibt es in Mp XIV 1, 143 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und einer Bleistiftrubrizierung „Fortschritt“: „Es ist Optimismus zu glauben, dass eine höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge früherer Stufen in sich vereinigen werde u zB auch die höchste Gestaltung der Kunst erzeugen müsse. Sondern jede Jahreszeit hat ihre Vorzüge u Reize für sich. Das was aus der Religion u. in ihrer Nachbarschaft gewachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese zerstört ist; höchstens können verirrte spät kommende Absenker zur Täuschung darüber verleiten, ebenso wie die zeitweilig ausbrechende Trauer der Erinnerung an die alte Kunst – neues Leben beweist diess aber nicht!“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,143) Diese Version wurde dann im Druckmanuskript D 11, 118 korrigiert. Zum Ende der Kunstperiode in der Gegenwart siehe MA I 222 u. 223, KSA 2, 185 f.
240. MA I 240 sieht die Gegenwart unter dem Vorzeichen des Ernstes stehen: Im 16. und im 18. Jahrhundert habe man noch über Kirche oder Ehe spotten können, jetzt sei man nicht einmal mehr bereit, die Differenz von Sein und Schein zum Gegenstand seines Amüsements zu machen.
576
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 240 gibt es in Mp XIV 1, 1 eine ‚Reinschrift‘, mit blauem „A“ markiert sowie blau rubriziert „Höhere Cultur“ sowie der nachträglich hinzugefügten Überschrift „Abnahme des Stoffes fürs ˹zu˺ Scherzen“. Sie weist einige Überarbeitungen auf. Die ursprüngliche Version lautete: „Je höher die Cultur eines Menschen steigt, um so mehr Gebiete entziehen sich dem Scherze, dem Spotte. Voltaire war für die Erfindung der Ehe u der Kirche dankbar: worüber sollte man sonst spotten? Aber er u seine Zeit u vor ihm das 16te Jahrh., haben diese Themen zu Ende gespottet, es ist alles was jetzt hier noch witzelt, verspätet u gar zu wohlfeil. Man ist noch auf der Oberfläche, wenn man die Differenzen zwischen Wirklichkeit u. Ansprüchen in scherzhaftem Lichte sieht; das Gefühl dieser Contraste wirkt alsbald ganz anders, wenn man nach den Gründen sucht. Je gründlicher Jemand das Leben versteht, um so weniger wird er spotten, nur dass er zuletzt viell. noch über die ‚Gründlichkeit seines Verstehens‘ spottet.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,1) Weitere Überarbeitungen, die teilweise die Überarbeitungen in Mp XIV 1, 1 wieder zurücknahmen, erfolgten im Druckmanuskript D 11, 119, vgl. die Teildokumentation in KGW IV 4, 205. Wie passt die Diagnose des neuen Ernstes in MA I 240 zu MA I 213, KSA 2, 174 und zu der auf Kontraste bauenden Theorie des Komischen? Gibt es im „Zeitalter des Ernstes“ (201, 27) keine Kontraste mehr, über die man lachen kann, ja muss? Gibt es nicht neue Gegensätze, die in hohem Maße scherztauglich sind? 202, 1–3 nur dass er zuletzt vielleicht noch über die „Gründlichkeit seines Verstehens“ spottet] Die „Gründlichkeit des Verstehens“ ist das, was laut dem Artikel „Präparation“ in der Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens von Schülern bei der Lektüre in besonderer Weise zu fordern sei (Encyklopädie 1867, 6, 155).
241. Der in MA I 241 imaginierte „Genius der Cultur“ erscheint als mythologisches Mischwesen, das sich rücksichtsloser Gewalt bedient, aber angeblich lauterste, beste Zwecke im Sinn hat. Zu MA I 241 gibt es in Mp XIV 1, 218 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert „Höhere Cultur“, wie üblich noch ohne den späteren Titel. Sie endet unten links mit einer Klammerbemerkung: „(Prom. und sein Geier)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,218). Bekanntlich soll ein Adler (oder Geier) an der Leber des am Kaukasus angeketteten Prometheus genagt haben, bevor Herakles ihn befreite – ein Motiv, das N. schon früh beschäftigte (vgl. z. B. NK KSA 1, 35, 34–36, 4 u. NK KSA 1, 73, 31–33 sowie zur künstlerischen Umsetzung des Motivs Sommer 2020b, 308). Bereits NL 1876/77, KSA 8, 21[76], 377, 12
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 240–242, KSA 2, S. 202
577
fragt: „Wie wäre der Genius der Cultur?“ Was der „Genius der Cultur“ konkret tut, führt MA I 258 aus, vgl. NK 212, 28–213, 2. Wie sich dieser „Genius der Cultur“ zum Genie z. B. in MA I 231, KSA 2, 194 u. in MA I 162, KSA 2, 151 f. verhält, ist offen – ebenso, wie dieses mythologische Mischwesen lebensfähig sein könnte. „Engelsflügel dazu am Haupte“ (202, 11) oder wenigstens am Helm hat der Götterbote Hermes. 202, 5 G e n i u s d e r C u l t u r] Während die in FW 354 prominent gemachte Wendung „Genius der Gattung“ von Schopenhauer stammt (vgl. NK 3/2.2, S. 1356–1359), ist „Genius der Cultur“ oder „Genius der Kultur“ (vgl. auch Ponton 2007, 42 u. Bertino 2011, 285) in der zeitgenössischen Literatur breit, wenn auch unspezifisch belegt: So lässt Johann Joseph Roßbach in seiner Geschichte der Gesellschaft wissen: „der Genius der Cultur erhob seinen Flügelschlag und brachte die Industrie“ (Roßbach 1875, 48), während der N. wohlbekannte Daniel Schenkel ihn unter dem Titel Christenthum und Kirche im Einklange mit der Culturentwicklung aufruft im zu versöhnenden Konflikt von Religion und Kultur (Schenkel 1867, 1, 78). In seinen Studien sieht Johannes Huber den fraglichen Genius als menschliches Individuum, wenn er schreibt: „die Aufgabe eines jeden Genius der Kultur ist es die empirische Menschheit mit ihren Idealen zu vermitteln, und um so größer erscheint sein Werk, je weiter diese beiden von einander abstehen“ (Hubert 1867, 308). Karl Biedermann, N.s Vermieter in Leipzig (vgl. Reich 2004, 30), fasst ihn schließlich in seinem Frauen-Brevier als überindividuelle Wesenheit: „Der Geist der Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit, der G e m e i n g e i s t, dieser belebende Genius der Kultur auf allen ihren /363/ Gebieten, hat auch in diesen untersten Stufen der civilisirten Gesellschaft, […] , sich mächtig zu regen begonnen“ (Biedermann 362 f.). MA I 241 und 258 nehmen also einen unbestimmt-quecksilbrigen Begriff aus dem zeitgenössischen bildungsbürgerlichen Jargon auf, stellen gegen diesen Jargon die Nähe des „Genius der Cultur“ zu Gewalt und Rücksichtslosigkeit heraus, behalten zugleich aber seine Quecksilbrigkeit bei.
242. MA I 242 macht einen Ausflug in die Pädagogik: Erst als man sich von der Vorstellung befreit habe, dass Erziehung auf wundersame Weise einfach geschehe und göttliche „Fürsorge“ (202, 15) die Hand im Spiel habe, habe man die Erziehung planvoll in die Hand nehmen können. Nun gehe es darum, festzustellen, was beim Individuum an „Energie“ (202, 30) vererbt sei, woher es neue Energie schöpfen und wie man dafür sorgen könne, dass es an die Ansprüche der Kultur adaptiert werde, ohne in seiner Individualität zerstört zu werden. Diese Überlegungen
578
Menschliches, Allzumenschliches I
gehen von der Beobachtung aus, dass unter identischen Umständen zahllose Menschen zugrunde gingen, während einige wenige aus angeborener Kraft gerade triumphierten. Zu MA I 242 gibt es in Mp XIV 1, 101 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“, vier blauen Strichen und der ebenfalls blauen Rubrizierung „Fortschritt“ – noch ohne Überschrift, dafür mit vielen Überarbeitungsspuren. Die ursprüngliche Version lautete: „Das Interesse an der Erziehung wird von dem Augenblick an stark, wo man den Glauben an einen Gott und seine Fürsorge aufgiebt: ebenso wie die Heilkunst erst erblühen kann, wenn der Glaube an Wunderkuren aufhört. Bis jetzt glaubt alle Welt an die Wunder-Erziehung: aus der grössten Unordnung, Verworrenheit der Ziele, Ungunst der Verhältnisse erwuchsen die fruchtbarsten, mächtigsten Menschen: dies konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen? – Jetzt muss man, in solchen Fällen, näher zusehen: Wunder wird man nicht entdecken. Unter gleichen Verhältnissen gehen zahlreiche Menschen zu Grunde, das einzelne gerettete Individuum ist dafür gewöhnlich stärker geworden, weil es an Sturm u. rauhen Wetter gewöhnt ist. Nun kommt es auf zweierlei bei der Erziehung an: erstens auf Entzündung der Energie, zweitens auf Beseitigung beunruhigender kraftzersplitternder Vorstellungen, sodaß die einmal entzündete Energie sich einer Aufgabe weihen kann.“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/Mp-XIV-1,101) Das Dreierschema von MA I 242 und damit die Einpassung des Individuums in soziale Gefüge ist in der ursprünglichen Version also noch nicht enthalten. Dabei ist Erziehung weder in Mp XIV 1, 101 noch in MA I 242 einfach Reproduktion des Bekannten, vgl. MA I 228, KSA 2, 192. Vgl. auch NL 1876/ 77, KSA 8, 23[94], 436, zitiert oben in NK 46, 6. Offen bleibt, ob es in MA I 242 um die Züchtung von Genies ebenso wie in MA I 231, KSA 2, 194 gehen soll oder doch eher um allgemeine Erziehung und Erzeugung von sozialer Resilienz. 202, 27 diese Kraft noch geübt] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 204) korrigiert in: „diese Kraft dabei noch geübt“ (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1252332904/223/). 203, 1–3 wie kann das Individuum jenen so überaus vielartigen Ansprüchen der Cultur angepasst werden] Im Druckmanuskript D 11, 119 korrigiert aus: „wie können dem Individuum jene vielen Vorstellungen der Cultur beigebracht werden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,119). 203, 4–7 und seine Einartigkeit zersplittern, – kurz, wie kann das Individuum in den Contrapunct der privaten und öffentlichen Cultur eingereiht werden, wie kann es zugleich die Melodie führen und als Melodie begleiten?] Im Druckmanuskript D 11, 119 korrigiert aus: „und seine Kraft zersplittern – dass die angesammelte Energie sich nunmehr Einer Aufgabe weihen kann.“ Statt „eingereiht“ steht im Druckmanuskript D 11, 119 sowie in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 204) „einge-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 242–243, KSA 2, S. 202–203
579
weiht“; KSA u. KGW ‚emendieren‘ nach einer Korrektur im Handexemplar C 4402 zu: „eingereiht“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/ 223/).
243. MA I 243 prophezeit für den Arztberuf eine große Zukunft: Nachdem der religiöse Seelsorger als falscher Arzt seine Vertrauenswürdigkeit weithin eingebüßt habe, soll der künftige Arzt alle nur erdenklichen persönlichen und professionellen Vollkommenheiten in sich vereinigen. Er könne – auch durch eugenische Fortpflanzungspolitik – so ein Wohltäter der Menschheit werden. Zu MA I 243 gibt es in Mp XIV 1, 165 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,165). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 87 lautet: „über den Arzt“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,87). Konkretisiert wird das in N II 2, 121 f.: „Es giebt jetzt keinen Beruf der sich so hoch steigern lässt als der des Arztes; namentl. seitdem die sog. geistl. Seelsorger ihre tauben Künste ˹Seelenbeschwörungskunst˺ nicht mehr unter öffentl. Beifall treiben dürfen u. ein Gebild. ihnen aus dem Wege geht. Die höchste geist. Ausbildung eines Arztes einer jeden Natur angepasst [?] / Beredtsamkeit, eine / Polizeiagenten-Feinheit, / die Geheimnisse der Seele / eine Kuppler-Geschmeidigkeit im Vermitteln zwischen solchen die aus Gesundheitsgründen erfreuen u solchen die erfreut werden müssen, / eine Männlichkeit, der Anblick schon den Kleinmuth verscheucht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II2,121 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,122). In N II 2, 127 schließlich: „so aus Medizinmann / Heiland“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,127). Im Vergleich zur Version in N II 2, 121 f. sind in der Druckfassung von MA I 243 die Kompetenz und die Reichweite ärztlicher Kunst universal ausgedehnt – der Arzt gilt hier weit mehr als je ein Wunderheiler und vereinigt Fähigkeiten aller möglichen Berufsklassen, was den konkreten Repräsentanten der ärztlichen Kunst völlig überfordern muss, so dass sich der Schluss nahelegt, das Gesagte könnte nur ironisch gemeint sein, zumal z. B. MA I 306, KSA 2, 241 und MA I 573, KSA 2, 334 ziemlich illusionslos auf die Ärzteschaft blicken. Zu N. und Medizin siehe auch Dahlkvist 2014, Aurenque 2018 u. Wienand/Wotling 2020. Niemeyer 2020, 222 f. deutet MA I 242 und 243 vor dem Hintergrund von N.s eigener möglicher syphilitischer Infektion. 203, 21 f. Diplomaten-Geschmeidigkeit] Im Druckmanuskript D 11, 120 korrigiert aus: „Kuppler-Geschmeidigkeit“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,120). 203, 24 (und können)] Mp XIV 1, 165 hat stattdessen: „(und es können)“, was GoA übernimmt.
580
Menschliches, Allzumenschliches I
203, 25 f. Advocaten, die Geheimnisse einer Seele zu verstehen] Von N. in seinem Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 205) korrigiert zu: „Anwalts, die Geheimnisse einer Seele zu errathen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1252332904/224/). 204, 3 f. so erst wird er aus einem „Medicinmann“ ein Heiland] Zum Medizinmann vgl. auch NL 1875, KSA 8, 5[160], 84 f. sowie M 9, KSA 3, 22, 31, M 14, KSA 3, 27, 34, M 42, KSA 3, 50, 5 u. GM III 9, KSA 5, 358, 4 (dort ebenfalls in der Zusammenstellung mit dem „Heilande“). Thatcher 1983, 305 weist darauf hin, dass vor allem Lubbock in seiner Entstehung der Civilisation von „Medizinmännern“ spreche (vgl. Lubbock 1875, 24 u. 40).
244. MA I 244 stellt eine ausgreifende Gegenwartsdiagnose, die ihre therapeutischen Ambitionen nicht verhehlt: In der Gegenwart erscheint der Druck der Kultur derart belastend, dass viele Individuen dem Wahnsinn zu verfallen drohen. Diese Spannung – erzeugt durch Christentum, Philosophie und Kunst – sei behutsam abzuspannen, um „zu der grossen Hoffnung einer n e u e n R e n a i s s a n c e Spielraum“ (204, 18 f.) zu geben. Zu MA I 244 gibt es in Mp XIV 1, 197 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“, vier blauen Strichen und rot rubriziert „Fortschritt“. Diese Fassung weist einige Überarbeitungen auf. Ursprünglich lautete sie: „Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen ist so gross geworden, dass eine Überreizung des Nervensystems die allgemeine Gefahr ist, ja dass die kultivirten Klassen der europäischen Länder neurotisch sind u fast jede Familie in einem Gliede dem Irrsinn nahe kommt. Nun kommt man der Gesundheit auf alle Weise entgegen; aber in der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefühls von Nöthen, welche ich als die neue zu erwartende Renaissance bezeichne. Man hat dem Christenthum, den Philosophen, Dichtern, Musikern eine Menge sublimirter Empfindungen zu danken: damit diese uns nicht überwuchern, müssen wir den Geist der Wissenschaft beschwören, welcher im Ganzen etwas kälter u skeptischer macht u. namentlich den Gluthstrom des Glaubens an die letzte endgültige Wahrheit abkühlt: er vornehmlich ist durch das Christenthum so wild geworden.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,197) Gerade die Funktion der neuen „Renaissance“ verändert sich im Verlaufe der verschiedenen Fassungen, siehe NK 204, 17–19 (zur Renaissance auch NK ÜK MA I 237). Norbert Elias hat MA I 244 exzerpiert für seine Überlegungen zur Fortschrittsidee, siehe Holzer 2010, 52 f. Zu MA I 244 vgl. auch Ansell-Pearson/Serini
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 243–245, KSA 2, S. 203–204
581
2022, 14. Das Motiv der epochenübergreifenden Spannung und Abspannung wird in GM Vorrede, KSA 5, 11–13 wiederkehren. 204, 11 f. die cultivirten Classen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind] Zum zeitgenössischen Begriff der Neurose vgl. NK ÜK MA I 394. 204, 17–19 wenn sie selbst mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen Hoffnung einer n e u e n R e n a i s s a n c e Spielraum giebt] Im Druckmanuskript D 11, 120 korrigiert aus: „wenn sie ohne zu schwere Einbuße erreicht werden könnte, nicht ohne Hoffnung für eine neu zu erwartende Renaissance“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,120). 204, 22–26 den Geist der Wissenschaft beschwören, welcher im Ganzen etwas kälter und skeptischer macht und namentlich den Gluthstrom des Glaubens an letzte endgültige Wahrheiten abkühlt; er ist vornehmlich durch das Christenthum so wild geworden] Vgl. NK 3/2.1, S. 824–826 zu FW 122.
245. MA I 245 bleibt in der kulturphilosophischen Gesamtbetrachtung und analogisiert die Kulturentwicklung mit einem „G l o c k e n g u s s“ (204, 28): Die äußere Form ist der aus unedlerem Material gemachte „Mantel[.]“ (204, 29) aus Trug, Gewalt, „Metaphysik“, „Religionen“ (205, 5 f.), auf den man verzichten kann – aber wer weiß, wann denn das Metall genug erkaltet ist, um das Abschlagen der Form zu erlauben, fehlt uns doch die Perspektive Gottes, „unsere eigene Einsicht muss da entscheiden“ (205, 9 f.). Mit anderen Worten: Wann kann eine Kultur auf das äußere Korsett religiöser und metaphysischer Lehren sowie auf gewaltsamen Zwang verzichten? Die Menschen müssten sich nun zu einer „Erdregierung“ (205, 10) aufraffen und die „Cultur“ (205, 12) in bewusste, strenge Obhut nehmen. Abgesehen von Schillers berühmtem Gedicht Lied von der Glocke – an dessen konzertanter Aufführung der fünfzehnjährige N. bei der Feier zu Schillers 100. Geburtstag am 9. November 1859 in Schulpforta als Damenchorsänger (!) mitwirken durfte, wie er stolz seiner Mutter berichtet (N. an Franziska Nietzsche, Mitte November 1859, KSB 1/KGB I 1, Nr. 114, S. 84 f., Z. 14–20) – dürfte vor allem ein Text die Metaphernbildung in MA I 245 beflügelt haben, nämliche Langes Geschichte des Materialismus: „Es ist durch Feuerbach in Deutschland und durch Comte in Frankreich die Anschauung aufgekommen, als sei der wissenschaftliche Verstand weiter nichts, als der nach Verdrängung der hindernden Phantasieen zu seiner natürlichen Geltung gekommene gesunde Menschenverstand. Die Geschichte zeigt uns keine Spur von einem solchen plötzlichen Hervorspringen des gesunden Menschenverstandes nach blosser Beseitigung einer störenden Phantasie; sie
582
Menschliches, Allzumenschliches I
zeigt uns vielmehr überall, wie die neuen Ideen sich trotz des entgegenstehenden Vorurtheils Bahn brechen, wie sie mit dem Irrthum selbst, den sie beseitigen sollen, sich verschmelzen oder zu irgend einer schiefen Richtung zusammenwirken, und wie die völlige Beseitigung des Vorurtheils in der Regel nur die letzte Vollendung des ganzen Processes ist, gleichsam das Putzen der fertig gearbei-/173/ teten Maschine. Ja um der Kürze wegen beim Bilde zu bleiben – der Irrthum erscheint historisch oft genug als der Mantel, in welchem die Glocke der Wahrheit gegossen wird, und der erst nach Vollendung des Gusses zerschlagen wird. Das Verhältniss der Chemie zur Alchemie, der Astronomie zur Astrologie mag dies erläutern. Dass die wichtigsten positiven Resultate erst nach Vollendung der Grundlagen der Wissenschaft gewonnen werden, ist natürlich. Wir verdanken Copernicus im Einzelnen sehr wenig von unsrer heutigen Kenntniss des gestirnten Himmels; Lavoisier, welcher in der Ursäure, die er suchte, noch den letzten Rest der Alchemie mit sich trug, würde ein Kind in unsrer heutigen Chemie sein. Wenn die richtigen Grundlagen einer Wissenschaft geschaffen sind, findet sich allerdings eine grosse Menge von Folgerungen mit verhältnissmässig geringer Geistesarbeit von selbst; eine Glocke zu läuten ist eben leichter, als eine zu giessen. Wo aber ein principiell bedeutender Schritt vorwärts gemacht wird, erblickt man fast immer dasselbe Schauspiel: eine neue Idee greift Platz trotz des Vorurtheils; anfänglich vielleicht gar gestützt auf dasselbe. In ihrer Entfaltung erst sprengt sie die morschen Hüllen.“ (Lange 1876–1877, 2, 172 f.; vgl. den Nachweis bei Orsucci 1994, 443 f. u. die Erläuterungen bei Orsucci 1996, 8 f., dort auch der Hinweis auf NL 1876/77, KSA 8, 23[167], 465 u. erneut mit der Glockenmetapher MA II VM 179, KSA 2, 457, 19–21.) Der Fokus in Langes Metapherngebrauch ist die Entwicklung wissenschaftlicher Wahrheit. MA I 245 weitet den Horizont und fasst die gesamte Kulturentwicklung unter der optimistischen Losung einer schließlichen Emanzipation von allem Einengenden, Falschen und Gewaltsamen – als ob der Fortschritt nicht nur möglich, sondern eigentlich gewiss wäre und als ob die Menschheit in Gestalt der „Erdregierung“ schließlich über die Geschichte verfügen könnte. Zu MA I 245 gibt es in Mp XIV 1, 79 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ und blauem „B“ sowie „Cultur“, wie üblich ohne Titel und mit zahlreichen Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,79). Eichberg 2009, 124 dokumentiert, wie Heinrich Köselitz alias Peter Gast in der von ihm verantworteten Ausgabe von MA I nach N.s geistiger Umnachtung den Abschnitt MA I 245 nach Gutdünken stilistisch geglättet hat. Zu MA I 245 vgl. z. B. auch Röttges 1972, 273. 204, 29 f. gröberem, gemeinerem] Mp XIV 1, 79: „gröberem gemeinem“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,79).
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 245–246, KSA 2, S. 204–205
583
205, 1 aller einzelnen Völker] Nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 120 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,120), fehlt in Mp XIV 1, 79. 205, 8 Volk und Volk?] Nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 120, noch ohne Fragezeichen eingefügt: „Volk und Volk.“ (Wendung fehlt ganz in Mp XIV 1, 79). Ohne Fragezeichen kommt auch die Erstausgabe aus (Nietzsche 1878, 206). In N.s Handexemplar C 4412[1] zur Titelausgabe von 1886 (Nietzsche 1886a, 206) ist hingegen ein Fragezeichen eingetragen, das dann in späteren Ausgaben und in KGW/KSA übernommen wurde (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1255106514/237/). 205, 10 f. Die Erdregierung des Menschen im Grossen hat der Mensch selber in die Hand zu nehmen] In MA I 24 wurde die ökonomische Gesamtverwaltung bereits angesprochen, vgl. NK 45, 13–19. Die in 205, 10 f. artikulierte Vorstellung einer auf den ganzen Planeten ausgreifenden, offensichtlich alle Menschenkraft bündelnden Gesamtherrschaft hat N. unter dem Label der „Erdregierung“ ab NL 1884, KSA 11, 25[221], 72, 1–4 einige Male in seinen Notaten erwogen, aber nur noch einmal in einem Werk, nämlich in EH WA 2, KSA 6, 360, 8–15 explizit gemacht, so oft das Motiv ohne das Stichwort auch anklingt (in NL 1881, KSA 9, 11[273], 546, 4–6 ist vom künftigen „Kampf um die Erdherrschaft“ die Rede, der „im Namen p h i l o s o p h i s c h e r G r u n d l e h r e n geführt werden“ werde). Zwar ist das Wort „Erdregierung“ auch schon vor N. gelegentlich zu belegen – so beim badischen Revolutionär Gustav Struve: „Erde und Welt sind nicht mehr gleichbedeutend, Erdregierung und Weltregierung sind so verschieden, als Tropfen und Meer.“ (Struve 1865, 3, 108) Aber eine direkte Wortübernahme aus einer Quelle lässt sich für N. nicht belegen; auch Wendungen wie „Regierung der Erde“ (NL 1884, KSA 11, 26[243], 213, 19) und „Herrschaft der Erde“ (NL 1884, KSA 11, 25[112], 41, 28) kommen gelegentlich vor. In dem in N.s Bibliothek erhaltenen Band Die Arier von Theodor Poesche ist von der „Herrschaft der Erde“ die Rede, die den Ariern zufallen solle, vgl. Poesche 1878, 238, zitiert in NK KSA 5, 264, 2–9. Im Vergleich zu den späteren Äußerungen aus den 1880er Jahren, die mit künftigen Aristokratien, herrschenden Kasten, konkreten Völkern und angeblich wünschenswerten Rassenmischungen experimentieren, bleiben die Art und Weise der Regierung und die darin involvierten Personen(gruppen) in MA I 245 noch gänzlich unbestimmt. Zum Thema der Erdregierung siehe z. B. Müller-Lauter 1999a, 228 f., Del Caro 2004, 264, Hödl 2009, 473, Stegmaier 2016, 309–313 u. ö. sowie Stegmaier 2020b, 164–166.
246. Auch MA I 246 hält sich wie die vorangegangenen Abschnitte auf der Höhe der Kulturgesamtbetrachtungen und operiert mit geographisch-glaziologischen und
584
Menschliches, Allzumenschliches I
mit mythologischen Vergleichen: Wie ein Gletscher oder ein Kyklop hätten wilde Kräfte, die man gemeinhin „das Böse“ (205, 22 f.) nenne, der „Humanität“ (205, 24) den Weg bereitet. Zu MA I 246 gibt es in Mp XIV 1, 137 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „A“, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,137). In N II 3, 6 findet sich die Aufzeichnung: „Zerfurchte Kessel später Wiesen – Gleichniss für Wildheit“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,6). Zur Interpretation vgl. z. B. Gleiter 2014, 143 u. Kissel 2021, 116. 205, 15 D i e C y k l o p e n d e r C u l t u r] Zyklopen sind bekanntlich in der griechischen Mythologie oft als einäugig dargestellte, gewalttätige und menschenfressende Riesen. Der bekannteste unter ihnen ist der Odysseus und seinen Gefährten stark zusetzende Polyphem gewesen (Homer: Odyssee IX 105–565). Sie gelten nicht gerade als prototypische Kulturschöpfer, auch wenn sie nach Meinung mancher antiker Autoren als Erbauer der sogenannten Zyklopenmauern in Erscheinung getreten sind (Strabon: Geographica VIII 6, 11) – eine architekturale Metaphorik, die N. in MA II WS 275, KSA 2, 671 f. u. FW 7, KSA 3, 380 aufnimmt und auch in MA I 246 aufgreift, obwohl sie ursprünglich in der ‚Reinschrift‘ nicht enthalten war, siehe NK 205, 23 f. Das Grobianisch-Gewaltsame, nicht nur das Großmächtige anfänglicher zivilisatorischer Anstrengungen steht in MA I 246 im Zentrum – es soll menschlicher(er) Kultur den Weg bahnen, wie sich der Text zuversichtlich gibt. Für das Grobianisch-Gewaltsame passt das Bild der Zyklopen ja durchaus. Siehe eingehend dazu NK KSA 3, 380, 3–5. 205, 15–18 Wer jene zerfurchten Kessel sieht, in denen Gletscher gelagert haben, hält es kaum für möglich, dass eine Zeit kommt, wo an der selben Stelle ein Wiesenund Waldthal mit Bächen darin sich hinzieht.] Im glaziologischen Handbuch von Tyndall (vgl. NK 194, 25–27) in N.s Bibliothek gibt es zwar vergleichbare Beschreibungen („Diese Seen, welche jetzt von zarter Waldschönheit umgeben sind, waren alle mit vormaligem Eis ausgefüllt. Es ist verschwunden, und Samen aus andern Gegenden wurden hierher geweht, um die Bäume, Sträucher, Farrn und Gräser zu säen, welche jetzt Killarney so schön machen.“ – Tyndall 1873, 179). Aber N. war auf dieses Fachbuchwissen nicht angewiesen, spätestens seit seinem Aufenthalt in Rosenlauibad, dessen Gletscher er eifrig besuchte. An Paul Rée schreibt er in der zweiten Junihälfte 1877 über die Lektüre des Ursprungs der moralischen Empfindungen: „So bin ich wohl der Erste, der Sie in der Nähe der Gletscher liest; und ich kann Ihnen sagen, das ist der rechte Ort, wo man überschaut das menschliche Wesen mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung (sich selbst s e h r einbegriffen) gemischt mit Mitleiden über die vielfältige Qual des Lebens; und mit dieser doppelten Resonanz gelesen, wirkt Ihr Buch sehr stark.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 627, S. 246, Z. 5–11; vgl. N. an Reinhart von Seydlitz aus Rosen-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 246–247, KSA 2, S. 205
585
lauibad, 22. 08. 1877, KSB 5/KGB II 5, Nr. 650, S. 273, Z. 37 f.) Gletscherträchtig sind auch Notate aus derselben Zeit, so NL 1876/77, KSA 8, 21[1], 368, 1 u. NL 1877, KSA 8, 22[131], 402, 17 f. sowie das bekannte Gedicht „Um Mittag“, das N. in späterer Bearbeitung „Am Gletscher“ nennen wird (NL 1877, KSA 8, 22[94], 396, 11–397, 21; zur eingehenden Interpretation Grätz 2017). Auch in späteren Werken kehrt das Gletschermotiv wieder, vgl. z. B. NK KSA 5, 241, 8–17. 205, 23 f. die cyklopischen Architekten und Wegebauer der Humanität] In Mp XIV 1, 137 korrigiert aus: „die rohen Architekten der Humanität“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,137). In der ursprünglichen Fassung, die ja auch den Titel 205, 15 noch nicht trug, war das Zyklopen-Thema also noch gar nicht präsent.
247. MA I 247 konterkariert die geschichtsphilosophische Überhöhung der Evolutionstheorie, wonach das Herkommen des Menschen aus dem Affen nicht nur ein irreversibler Prozess sei, sondern womöglich noch eine künftige Höherentwicklung in Aussicht stelle: Vielmehr wäre es möglich, dass der aus dem Affen hervorgegangene Mensch wieder zum Affen werde, ebenso wie das Römische Reich sang- und klanglos zugrunde gegangen sei in einer „allgemeine[n] Verhässlichung des Menschen“ (206, 3 f.), was der menschlichen Kultur insgesamt ebenfalls wiederfahren könne. Da der Glaube an eine göttliche Geschichtslenkungsinstanz vergeblich sei, wir als Menschen aber eine solche katastrophische Geschichtsausgangsoption in Erwägung zu ziehen vermöchten, wären wir womöglich auch in der Lage, ihr Eintreten zu verhindern. Zu MA I 247 gibt es in Mp XIV 1, 226 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“, wie üblich ohne Titel und mit zahlreichen Korrekturen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,226). Zu 206, 1–8 findet sich in Mp XIV 1, 377 eine textlich abweichende Vorarbeit (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,377). MA I 247 beginnt und endet im Druck mit einem „vielleicht“ (205, 26 u. 206, 9) – während die ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 226 das erste „vielleicht“ erst nachträglich hineinmontiert und den Satz mit dem zweiten „vielleicht“ gar nicht enthält. Gleich eingangs wird damit markiert, dass die menschliche Spezies womöglich nur eine ephemere Erscheinung sein könnte, während am Ende auch die Möglichkeit eines selbstrettenden Eingriffs unter Vorbehalt gestellt wird: Vielleicht gibt es eine Gefahr, vielleicht können wir sie abwenden. Die doppelte Hypothetisierung lässt verschiedene Möglichkeiten der Geschichte offen; stark aber ist der Kontrast zu MA I 246 – einem Abschnitt, der es sich in Fortschrittserwartung trotz Gletscherkälte noch behaglich machen wollte.
586
Menschliches, Allzumenschliches I
205, 26–30 Vielleicht ist das ganze Menschenthum nur eine Entwickelungsphase einer bestimmten Thierart von begränzter Dauer: so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder zum Affen werden wird] Die maßgeblichen Vertreter der zeitgenössischen Evolutionstheorie, allen voran Darwin selbst (Darwin 1875), hatten nie ernstlich behauptet, der Mensch sei „aus dem Affen“ geworden. Diese karikatureske Darstellung, wie sie insbesondere die Gegner des Darwinismus gerne zeichneten (so nachmals berühmt angeblich schon 1860 Bischof Samuel Wilberforce gegenüber Thomas Henry Huxley, mit der Frage, ob dieser denn auf Großmutter- oder auf Großvaterseite von einem Affen abstamme), versuchten zeitgenössische Evolutionisten geduldig auszuräumen, so Oscar Schmidt in seinem von N. gelesenen Buch Descendenzlehre und Darwinismus, der sich gegen „das unglückselige Missverständniss“ wandte, „als ob die Vertheidiger der Descendenzlehre das Menschengeschlecht aus der Veredlung vom Orang, Schimpanse oder Gorilla, kurz, von noch lebenden Affen hervorgehen liessen“ (Schmidt 1873, 263). Schmidt schob gleich hinterher: „Aber jeder einigermassen logische Denker musste vom ersten Auftauchen der darwinistischen Lehre an den Menschen ebenfalls als veränderlich und aus der Veränderlichkeit der Arten hervorgegangen ansehen.“ (Ebd.) Die Pointe in MA I 247 ist nun aber, dass der humane Entwicklungsprozess als ein reversibler gedacht wird – dass bei Menschen Regression ebenso möglich ist wie Aufwärtsentwicklung. Diese Regressionsoption ist zwar weniger ernsthafter Gegenstand der wissenschaftlichen Deszendenztheorie, scheint aber auf im „Urtheil eines geistreichen Feuilletonisten“, nämlich von Rudolf Valdek in der Presse 1865, das Schmidt ausführlich zitiert: „Nehmen wir, blos zum Scherz, an, die Natur, welche wir immer und überall vom Einfachsten bis zum Zusammengesetzten, vom Niedrigen zum Höhern schreiten sehen, hätte diesem Gesetze nicht angesichts des Menschen plötzlich entsagt; sie hätte seinetwegen nicht ihre Entwickelung plötzlich aufgegeben; sie hätte in ihm nicht plötzlich eine neue Schöpfung begonnen, sondern sie wäre hierbei wie bei allem übrigen hübsch sachte, allmählich, natürlich vorgegangen, und der Mensch wäre demnach nichts als das letzte Glied der endlosen Reihe von Thieren, nichts als ein ‚entwickelter Affen‘. Das Erste, was sich uns dann aufdränge, würde die Bemerkung sein, dass in den Thatsachen dadurch nicht das Geringste geändert sei, dass der Mensch ganz derselbe bliebe, der er ist […] /265/ […]. Oder sollte der gebildete Theil der Menschheit durch den Gedanken, vom Affen abzustammen, wirklich so tief entmuthigt werden können, dass er, an der Möglichkeit verzagend, seine Bildung, welche ihm keineswegs als reife Frucht in den Schos fiel, sondern die er sich schwer errungen hat, aufrecht zu erhalten und fortzuführen, seinen Handel und Wandel, seine Rechts- und Staatsformen, seine Kunst und Wissenschaft aufgäbe und sich zu dem Austral- Neger herabsinken liesse? Dass er das, wodurch er sich über den Affen so hoch erhoben hat und immer höher erhebt, fahren
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 247, KSA 2, S. 205–206
587
liesse, weil es ihm einst schwer geworden, sich auch nur um eines Haares Breite über jenen zu erheben? […] Die Menschheit wird, wie jeder einzelne, ihre Kräfte üben und ausbilden, weil sie sie hat, nicht weil sie sie von da oder dort her hat.“ (Schmidt 1873, 264 f.; die Frage, ob manche Menschengruppen wieder in „Barbarei“ zurückgefallen sind, diskutiert Schmidt unabhängig von Valdek auf S. 278) Während Valdek in dem von Schmidt zitierten Artikel die Regression als mögliche Reaktion auf die Erkenntnis der menschlichen Tierabstammung ironisch glossiert, macht MA I 247 daraus eine ernsthaft klingende, entwicklungsgeschichtliche Hypothese. Der zu 205, 26–30 in manchen N.-Ausgaben angemerkte Ausspruch von Arthur de Gobineau „Nous ne descendons pas du singe, mais nous y allons“ (z. B. Nietzsche 2014, 145; vgl. auch Thatcher 1983, 309, Fn. 40) passt inhaltlich zwar vorzüglich zu MA I 247, hat aber den Nachteil, dass sich seine Authentizität nicht nachweisen lässt: Erst im 20. Jahrhundert scheint man ihn Gobineau zugeschrieben zu haben; entsprechend weiß man auch nichts von einer Bekanntschaft N.s mit dieser Sentenz. 206, 1–5 So wie mit dem Verfalle der römischen Cultur und seiner wichtigsten Ursache, der Ausbreitung des Christenthums, eine allgemeine Verhässlichung des Menschen innerhalb des römischen Reiches überhand nahm] Dass das Christentum am Untergang des römischen Imperiums schuld gewesen sei, wird N. noch in seiner als „Umwerthung aller Werthe“ gedachten Spätschrift Der Antichrist vertreten (vgl. AC 58, KSA 6, 245); damit knüpft er an eine christentumskritische Lesart der antiken Geschichte an, die sich mit Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776–1789) Bahn gebrochen hat. Zwar zitiert N. Gibbon an ein paar wenigen Stellen, hat ihn aber vor allem über sekundäre Quellen vermittelt bekommen, vgl. ausführlich Sommer 2015a. Die spezifisch ästhetische Perspektivierung dieses historischen Vorgangs, verbunden mit dem Vorwurf der „Verhässlichung“, wird N. noch in AC 57 reprozieren, vgl. NK KSA 6, 242, 33–243, 2. Sie findet sich auch schon in Jacob Burckhardts Die Zeit Constantin’s des Großen (1853), wie Köselitz feststellen wird (vgl. Sommer 2000a, 590). Auch für die Gegenwart und jüngste Vergangenheit wird N. später eine allgemeine Verhässlichung diagnostizieren, vgl. NK KSA 5, 156, 25–29. Dies alles erhellt noch nicht, inwiefern die in MA I 247 vorgeschlagene Analogie einer allgemeinen Gattungsregression mit der Spätphase des Römischen Reiches überhaupt stichhaltig ist, fand dort doch gerade keine Rückkehr zu den Ursprüngen statt, sondern (so wenigstens die in MA I 247 vorgeschlagene Betrachtungsweise) nur Niedergang und Ende. Gerettet werden soll die Analogie im Fortgang dann mit der Engführung von „Verhässlichung“ und „Verthierung“, die allenfalls einleuchtet, wenn man den Affen für hässlicher hält als den Menschen, was die Affen aus ihrer Sicht womöglich nicht bestätigen. Die Veräffung ist aber wohl ohnehin weni-
588
Menschliches, Allzumenschliches I
ger als physiologischer, vielmehr als psychisch-mentaler Prozess zu verstehen. Ist dann das dem Menschen künftig drohende Affenschicksal mehr als eine Metapher? 206, 8–10 Gerade weil wir diese Perspective in’s Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen.] Fehlt in Mp XIV 1, 226. Das Ende von MA I 247 mit dem erhobenen Zeigefinger lässt offen, was man machen muss, um die Regression und die Verhässlichung zu verhindern. Die bemerkenswerte Fügung „Ende der Zukunft“ (206, 10) gibt es in N.s Werken und Nachlass nur hier; bei Philosophen wie Jakob Friedrich Fries und Karl Christian Friedrich Krause ist sie aber bereits geläufig.
248. Als „T r o s t r e d e e i n e s d e s p e r a t e n F o r t s c h r i t t s“ (206, 12) stellt MA I 248 der Gegenwart ein zwiespältiges Zeugnis aus: Einerseits habe sich das Herkömmliche, Alte noch partiell erhalten, ohne dass man zu seinen Sicherheiten zurückkehren könne, andererseits sei das Neue noch nicht trittsicher genug, um eine kohärente Kultur auszubilden. Vielleicht erscheine das zögerliche Schreiten dann doch einmal wie ein Fortschritt. Darauf folgt ein Zitat von Friedrich II. von Preußen (206, 31 f.). Nach der Vorwegnahme der Zukunft, die vielleicht der Jetztzeit einen Fortschritt attestieren werde, konterkariert MA I 248 die hoffnungsvolle Perspektive mit einer misanthropischen Akzentuierung, die den Horizont unerwartet dunkel einfärbt und nicht mehr recht zur „T r o s t r e d e“ (206, 12) passen will. Ohnehin könnte jemand fragen, weshalb das „Wir“ (206, 22) sich denn zwingend bewegen müsse und nicht einfach stehenbleiben könne. Auffällig ist zudem, dass in 206, 17 die Gegenwartsdiagnose zuerst mit Konjunktiv als hypothetisch markiert ist („würde“, „gienge“), dann aber in die indikativische Vergleichsrede vom Marschieren wechselt (206, 18–24). In 206, 24 f. behauptet sich dann endgültig der Indikativ – als ob jene Diagnose gesichert wäre, obwohl gerade die dort gemachte Aussage, dass „wir“ nämlich „die Schiffe verbrannt“ „h a b e n“, den Verlust aller Sicherheiten indiziert. Zu MA I 248 gibt es in Mp XIV 1, 88 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ sowie mit Bleistift rubriziert „Fortschritt“, wie üblich ohne den späteren Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,88). Sie reicht nur bis „herauskommen“, im Drucktext bis 206, 27; die Passage über Friedrich II. und damit die anthropologisch-pessimistische Schlusswendung fehlt also hier noch. 206, 27–32 hat N. erst nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 121 hinzugefügt (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,121).
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 247–248, KSA 2, S. 206
589
Norbert Elias hat MA I 248 exzerpiert und sich angeeignet, siehe Holzer 2010, 54. Orsucci 2008, 54 stellt MA I 248 als scharfe Gegenwartsdiagnose N.s heraus, vgl. auch Röttges 1972, 274, Pieniążek 2003, 141, Vivarelli 2008, 530, Gleiter 2014, 147 f., Wenner 2017, 140 f. u. Jaspers 2020, 341. 206, 12 T r o s t r e d e e i n e s d e s p e r a t e n F o r t s c h r i t t s] Ob diese Fügung als Genitivus obiectivus oder subiectivus zu verstehen ist, bleibt offen, ebenso, wer hier spricht: Ist es der verzweifelnde Fortschritt, der hier sich selbst oder einem (imaginierten) Publikum Mut machen will, oder handelt es sich um eine Trostrede, die ein Dritter über den Fortschritt artikuliert? Zum Fortschritt siehe z. B. MA I 24, KSA 2, 45 – dazu findet sich die ‚Reinschrift‘ auf derselben Manuskriptseite wie zu MA I 248 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,88). 206, 18 immer schwächlicher werde] Im Druckmanuskript D 11, 121 korrigiert aus: „schwächlich sei; so dass die Kraft abhanden komme“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,121). 206, 18–22 Aber so geht es dem Soldaten, welcher marschiren lernt; er ist eine Zeit lang unsicherer und unbeholfener als je, weil die Muskeln bald nach dem alten System, bald nach dem neuen bewegt werden und noch keines entschieden den Sieg behauptet.] Die Analogisierung der Fortschrittstrittsicherheit einer Kultur mit dem Marschieren-Lernen eines Soldaten ist nicht ohne Fallstricke, denn zwar soll auch das militärische Marschieren so habitualisiert werden, dass es ohne Überlegung fest und sicher ist. Aber kann das blinde, servile, befehlsabhängige Marschieren tatsächlich ein Vorbild für eine Kultur sein, deren Fortschritt wohl nicht in Drill und Disziplin liegt? Am Ende von MA I 248 wird ja dann der Preußenkönig Friedrich II. bemüht, der das Geistige mit dem Militärischen zu verbinden wusste – und von dem die Biographie berichtet, sein Vater habe ihn von den schönen Künsten und Wissenschaften abbringen sollen, damit er „gleich ihm, ein geübter und zu allen Kriegesstrapazen abgehärteter Soldat“ werde: „Zu dem Ende gab er ihm von seinem siebenten Jahre an eine ganz militärische Erziehung; er ließ ihn reiten, fechten, exerciren und marschiren lernen“ ([Funke] 1795, 10). Allerdings fehlt in der ursprünglichen Manuskriptfassung von MA I 248 in Mp XIV 1, 88 die Schlusswendung mit Friedrich II. ja noch, während dort das Marschieren des Drucktextes vorweggenommen ist, so dass die Verknüpfung des Preußenkönigs mit dem Marschieren nicht zwingend ist. Militärische Marschübungen waren zur Abfassungszeit auch im zivilen Feuilleton präsent. So lässt die Neue Freie Presse (die N. zumindest gelegentlich las, vgl. seinen Brief an Köselitz, 02. 08. 1880, KSB 6/KGB III 1, Nr. 44, S. 33, Z. 15–18) ihre Leser unter dem Titel Der „Sonnenstich“ im Heere mit Kennermiene wissen: „Ein noch wesentlich schädlicheres Moment betreffs der Marschausdauer der Truppe liegt in der nicht ausreichenden Marschübung. Man muß das Marschiren lernen und üben wie jede ande-
590
Menschliches, Allzumenschliches I
re mechanisch-technische Leibesbewegung. […] Der Soldat soll alltäglich, zu jeder Jahreszeit, seinen mindestens zweistündigen Uebungsmarsch halten.“ ([N. N.] 1877, 2) N. hat während seiner Militärdienstzeit selbstverständlich auch marschieren gelernt, jedoch die Metapher „Das in Reih und Glied Marschiren“ zumindest in NL 1870, KSA 7, 8[82], 253, 9 in einer Liste der Gravamina der Gegenwartskultur angeführt und dort nicht zum leuchtenden Vorbild erhoben. Zum „Muskel als Scharnierbegriff“ in der Physiologisierung diverser Diskurse im späteren 19. Jahrhundert siehe Treiber 1998. 206, 25 wir h a b e n die Schiffe verbrannt] Während es in FW 124 von „uns“ Schifffahrern heißt, sie hätten „die Brücke“, ja „das Land“ hinter sich „abgebrochen“ (KSA 3, 480, 10–12), scheint 206, 25 die einzige Stelle in N.s Werk zu sein, die direkt die Redewendung von den Schiffen, die man hinter sich verbrenne, aufnimmt. Sie gehörte schon zu N.s Denkzeiten zum gängigen Zitatenschatz geflügelter Worte: „Die Schiffe hinter sich verbrennen pflegt man zu sagen, um damit auszudrücken: sich die Möglichkeit des Zurückweichens abzuschneiden. P l u t a r c h ‚Ueber die Tugenden der Frauen‘ erzählt unter ‚Trojanerinnen‘, dass der Aetoler Timarchos, als er in Asien landete, die Schiffe verbrennen ließ, damit seine Söldner nicht vor der zahlreichen Menge der Feinde die Flucht ergriffen. Ein glänzender Sieg war die Folge. Dass Ferdinand C o r t e z am 26. Juli 1519 in Mexiko bei Entdeckung einer Verschwörung die Schiffe zerstören ließ, um jede Verbindung nach außen abzuschneiden, ist erfunden.“ (Duro: ‚Las Joyas de Isabel la Católica, las Naves de Cortès y el Salto de Alvacado.‘ Madrid 1882.) P o l y a e n u s Strat. 8, 25, 2.“ (Büchmann 1882, 333) 206, 29–32 so mag Friedrich’s des Grossen Wort auch zu uns gesagt sein und zwar zum Troste: Ah, mon cher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette race maudite, à laquelle nous appartenons] Französisch: „Ach, mein lieber Sulzer, Sie kennen diese verfluchte Rasse nicht genügend, der wir angehören“. Die ursprüngliche Quelle sind die von Friedrich Nicolai herausgegebenen Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen, wo die Begegnung des Königs mit dem Philosophen Johann Georg Sulzer (1720–1779) wie folgt geschildert wird: „Als Er mit dem sel. Sulzer vom Erziehungswesen sprach, und dieser bey der Gelegenheit äußerte: Der Mensch habe von Natur weniger Neigung zum Bösen als zum Guten; so schüttelte der König den Kopf und sagte lächelnd: ‚Je vois bien, mon cher Sulzer, que vous ne connoissés [sic] pas comme moi cette race maudite /275/ à laquelle nous appartenons.‘ Diese aus der Erfahrung geschöpften misanthropischen Grundsätze hatten besonders starke Wirkung auf Ihn, wenn Er Ursache zu haben glaubte, schon vorher gegen jemand Mistrauen [sic] zu hegen; und dazu hatte Er leider freilich zuweilen Ursache.“ (Nicolai 1789, 3, 274 f.) Immanuel Kant zitiert diesen Ausspruch in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: „Friedrich II fragte
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 248–249, KSA 2, S. 206
591
einmal den vortrefflichen Sulzer, den er nach Verdiensten schätzte und dem er die Direction der Schulanstalten in Schlesien aufgetragen hatte, wie es damit ginge. Sulzer antwortete: ‚Seitdem daß man auf dem Grundsatz (des Rousseau), daß der Mensch von Natur gut sei, fortgebauet hat, fängt es an besser zu gehen.‘ ‚Ah (sagte der König) mon cher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette maudite race a laquelle nous appartenons.‘“ (AA VII 332, Fn.) Während N. das Nicolaische Original kaum in der Hand gehalten haben dürfte, ist eine Lektüre von Kants Anthropologie zumindest nicht ausgeschlossen, siehe NK 263, 11 f. Auch denkbar wäre, dass N. als gelegentlicher Leser der Deutschen Rundschau dort auf Ludwig Friedländers Aufsatz Kant in seiner Stellung zur Politik gestoßen ist, der die Szene nach der Anthropologie nacherzählt und das französische Originalzitat ebenfalls bringt (Friedländer 1876, 243). Wenn nun der König mit seinem Urteil über das Menschengeschlecht Recht haben sollte, kann dieses aus dem Befund immerhin Trost schöpfen, falls aus dem Fortschritt doch nichts wird.
249. MA I 249 nimmt die philosophischen Kulturanalytiker selbst in den Blick, die von ähnlichen Gefühlen beschlichen würden wie die Erben eines unrechtmäßig erworbenen Vermögens oder einer unrechtmäßig erworbenen Herrschaft – offensichtlich angesichts der gewaltigen Leiden, die die Kulturentwicklung mit sich gebracht habe. Wehmut und Trauer bestimmten ihre Seelenlage. Und man könne vorauswissen, dass die Künftigen an ihrer Vergangenheit, also der jetzigen Gegenwart, ebenso leiden würden. Die elegische Grundstimmung von MA I 249 verschleiert freilich eher, was das „Problem der Cultur“ ist oder war, als es „klar gemacht“ (207, 3) wurde. Besteht es darin, dass wir auf Kosten der Vergangenheit leben, dass das Leiden vergangener Menschen unser Glück erst möglich gemacht hat? Oder besteht es darin, dass die Vergangenheit groß war, wir heute aber klein sind – Epigonen einer großen Kraft, die nur noch wehmütig zurückblicken können? Schließt MA I 249 damit an UB II HL an, wo allerdings gerade „der jederzeit schädliche Glaube an das Alter der Menschheit, der Glaube, Spätling und Epigone zu sein“ (UB II HL 5, KSA 1, 279, 11–13) vehement bekämpft wird? Oder ist die Vergangenheit gerade illegitim, böse, ein schlimmes Erbe als Mischmasch von Irrtum und Gewalt – vgl. MA I 245 u. 246, KSA 2, 204 f. – der man sich nur in einem Akt der Emanzipation, der Vergangenheitsentsorgung, wie sie etwa die „kritische Historie“ nach UB II HL anbietet, entledigen kann? Und wie ist es schließlich um die kulturelle Produktivität des Leidens an der Vergangenheit bestellt: Erweist es sich nicht als nützlich, als hilfreich – weil es den Leidenden nötigt, etwas zu tun – sich des historischen Ballasts (beispielsweise mittels eines Ausgreifens in die Zukunft) zu entledigen?
592
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 249 gibt es in Mp XIV 1, 15 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ sowie blau rubriziert „Cultur“, wie üblich ohne den späteren Titel (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,15). Norbert Elias hat MA I 249 exzerpiert unter dem Stichwort „Cultur-Stealing“, siehe Holzer 2010, 54 f. 207, 11 f. , er weiss es voraus,] Im Druckmanuskript D 11, 121 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,121).
250. „M a n i e r e n“ (207, 14) gelten MA I 250 als Kulturentwicklungsindikator: Zwar hätten sich die Manieren im Zuge der Vernichtung höfischer und aristokratischer Kulturen immer stärker barbarisiert – um Beispiele ist der Sprecher nicht verlegen –, jedoch bestünde die Aussicht, dass die Manierenentwicklung die Gestalt einer „Curve“ (207, 29) habe, die gerade ihre Talsohle erreiche, bevor sie in einer gefestigten Kultur eine neue Aufwärtsbewegung beschreiben könne. Eine Kultur der Zukunft werde vermutlich auch neue sichere Manieren ausbilden. Dass die Gelehrten als Vorreiter der Zukunftskultur selbst noch kein Beispiel der Zukunftsmanieren darstellen, hänge damit zusammen, dass in ihnen weitgehend noch die Kulturvergangenheit rumore. Zu MA I 250 gibt es in Mp XIV 1, 364–365 eine ‚Reinschrift‘ mitsamt dem Titel „Manieren“ von Köselitz’ Hand und mit vielen Korrekturen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,364 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,365). Eine abweichende, frühere Fassung findet sich in Mp XIV 1, 170 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,170). Auch in diesen Fassungen sind bereits alle thematischen Elemente in derselben Reihenfolge enthalten, die in der Dreiteilung des Drucktextes scharf hervortreten: Der Beginn thematisiert den Manierenniedergang und reicht von 207, 14 bis zum Gedankenstrich in 207, 27. Im Mittelteil wird die Möglichkeit einer Kehrtwende und einer künftigen Höherentwicklung der Manieren diskutiert. Der nach dem Gedankenstrich in 208, 9 beginnende Schlussteil akzentuiert die traditionelle (und von N. z. B. in UB III SE durchexerzierte) Gelehrtenkritik neu: Die Gelehrten als vermeintliche Vorreiter einer Zukunftskultur und damit als exemplarische Manierenmacher bleiben gewaltig hinter den Erwartungen, weil sie – auch sozioökonomisch – in herkömmliche Zwänge eingebunden bleiben. Die im ersten Teil von MA I 250 angebotene Lesart der Manierengeschichte, der zufolge Manierenverschlechterung mit der Entfernung von höfischer und adliger Einflussnahme einhergehe, kontrastiert scharf mit einer Lesart, wie sie im gründerzeitlichen Deutschland entschieden vorgebracht wurde: Das Paradigma
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 249–250, KSA 2, S. 207–208
593
einer höfischen Kultur ist das absolutistische Frankreich. Dessen dominante kulturelle Vorbildfunktion während des 17. und 18. Jahrhunderts ist in der zeitgenössischen Literatur einerseits unbestritten, andererseits Gegenstand heftiger Polemik. So hat N. 1875 Johann Jakob Honeggers Kritische Geschichte der französischen Cultureinflüsse in den letzten Jahrhunderten gekauft (vgl. NPB 307), die nicht müde wird, den französisch-höfischen Einfluss auf die authentischen deutschen Sitten als verderblich zu brandmarken: „Es war in der That so weit gekommen, daß deutsches Wesen und Leben im innersten Kerne gefährdet und von fremden Schmarotzerpflanzen überwuchert waren. Als zu der französischen feinen Sitte und Geschmacksherrschaft, zu seiner als klassisch gepriesenen Literatur und der geschulten Conversationssprache, zu seiner bestechenden Mode und dem Prunke noch die Herrschaft der Waffen und der Diplomatie seit Richelieu hinzutraten, und als alle diese Factoren auf ein erschöpftes und verwildertes Deutschland trafen, da war es um das deutsche Wesen geschehen. Die lange Anwesenheit französischer Krieger und Staatsmänner auf deutschem Boden, der Einfluß der eingewanderten Hugenotten, die Flut der französischen Bücher guter und schlechter Art, welche damals schon die deutschen Lande überschwemmten und in allen mit Weltbildung prunkenden Kreisen die einzige fashionable Lektüre ausmachten, endlich das Reisen nach Paris, das für den Mann von Welt gradezu eine Notwendigkeit ward und erst den gesellschaftlichen Schliff gab: alle das brachte uns in Massen und ohne Maß französische Sitten und Manieren in Wort und That, französische Thorheiten und Laster.“ (Honegger 1875, 32) Derartigen deutschen Kulturchauvinismus – Honegger ist allerdings Schweizer – pariert N. in MA I mit Ironie: Ohne die französische Hochkultur wäre Deutschland überhaupt nie aus seinem Sumpf herausgekrochen. Dass Norbert Elias MA I 250 exzerpiert hat, erstaunt angesichts seines Interesses für Manieren vielleicht nicht, siehe Holzer 2010, 55. 207, 25 f. So scheint die öffentliche festliche Begegnung der Menschen] In Mp XIV 1, 170 stattdessen: „So erscheint die Begegnung der Menschen“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,170). In Mp XIV 1, 364 wird „öffentlich festliche“ (sic!) nachträglich eingefügt, „erscheint“ statt „scheint“ bleibt bestehen (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,364). 208, 6 f. gymnastische Uebung] Vgl. NK 209, 31–210, 1. 208, 13 f. obgleich ihr Geist willig genug dazu sein mag: aber ihr Fleisch ist schwach] Vgl. Matthäus 26, 41: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 37) 208, 18–27 durch veraltete geistlose Methoden verkrüppelt und unlebendig gemacht. Sie sind also, jedenfalls ihrem Körper nach und oft auch zu Dreiviertel ihres
594
Menschliches, Allzumenschliches I
Geistes, immer noch die Höflinge einer alten, ja greisenhaften Cultur und als solche selber greisenhaft; der neue Geist, der gelegentlich in diesen alten Gehäusen rumort, dient einstweilen nur dazu, sie unsicherer und ängstlicher zu machen. In ihnen gehen sowohl die Gespenster der Vergangenheit, als die Gespenster der Zukunft um: was Wunder, wenn sie dabei nicht die beste Miene machen, nicht die gefälligste Haltung haben?] In Mp XIV 1, 170 stattdessen: „durch veraltete geistlose Methoden verkrüppelt u. unlebendig; sie sind keine muthigen freien Männer, sondern kuriose ˹abgelebte˺ Höflinge der alten ˹ja greisen˺ Kultur.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,170) Die Umstellung wurde dann in Mp XIV 1, 364 f. aufgenommen.
251. MA I 251 stellt zunächst den problematischen Charakter der Wissenschaft heraus, die Freude bereite, wenn man in ihr arbeite und suche, aber nicht, wenn man sie bloß rezipierend lerne. Wenn aber die Wissenschaft „alle wichtigen Wahrheiten“ (208, 32) gefunden und allgemein bekannt gemacht habe, könne sie nicht mehr selbst Quelle der Freude sein – man wäre dann offensichtlich nur noch Rezipient und Applikator wissenschaftlicher Erkenntnisse (vgl. demgegenüber MA I 182, KSA 2, 162). Aber nicht nur in sich gehe die Freude verloren, die die Wissenschaft als Suchbewegung gehabt habe, sondern sie zerstöre überdies die Freude, die mit „Metaphysik, Religion und Kunst“ (209, 5 f.) verbunden gewesen sei (vgl. zur Entwicklung dieser These NK KSA 3, 464, 10–19). Da Wissenschaft so alle „Freude“ (209, 5) – werden „Vergnügen“ (209, 1 f.) und „Lust“ (209, 7) gegenseitig austauschbar und für „Freude“ synonym gebraucht? – auszurotten drohe, sei es im Interesse einer „höhere[n] Cultur“ (209, 8), sich gleichsam doppelhirnig zu organisieren, nämlich mit der „Wissenschaft“ als der einen „Hirnkammer[.]“ und der „Nicht-Wissenschaft“ (209, 9 f.) als der anderen. Dabei müssten diese Kammern voneinander abtrennbar sein, um die allgemeine „Gesundheit“ (209, 12) sicherzustellen. Die organisch-physiologische Metapher transponiert MA I 251 nun in diejenige angewandter Thermodynamik und Dampfmaschinentechnik (dazu NK 290, 2–6): Die eine Kammer müsse den Brennstoff liefern – das ganze Gemenge von „Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften“ (209, 13 f.) – und heizen, während die andere für die Regulierung zuständig sei und dafür zu sorgen habe, dass nichts überhitzt. Käme aber die Wissenschaft dieser Temperierungsaufgabe nicht nach, sei das Schicksal einer Kultur besiegelt: Die Illusionen nähmen überhand, die Wissenschaft würde verdrängt und die Menschheit fiele wieder zurück in den Zustand der „Barbarei“ (209, 23). Dann müsste die Menschheit ihren Entwicklungsgang hin zu den Wissenschaften neu aufnehmen, sofern sie dazu die „Kraft“ (209, 26) fände.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 250–251, KSA 2, S. 208
595
Während MA I 232, KSA 2, 194 nur im Blick auf die Entstehung der „Freigeisterei“ ein Zusammenspiel von Heizen und Abkühlen für nötig erachtet und MA I 259, KSA 2, 213 f. die antike griechische Kultur als gelingende Synthese von Geist und Natur darstellt, skizziert der vielbemühte Doppelhirnkammernabschnitt MA I 251 eine allgemeine Theorie gelingender Kultur. Allerdings wirft der Text zahlreiche Fragen auf, angefangen bei den Metaphernbrüchen – lässt sich das gehirnphysiologische Initialbild folgenlos in eine Dampfmaschinenimagination überführen und diese wiederum in „Gewebe“ (209, 24) hüllen? –, über die Frage, aus welcher Perspektive hier überhaupt gesprochen wird – aus der Vogelschau jenseits aller Wissenschaft? – und von wem, bis hin zum Problem, weshalb die „Freude“ hier überhaupt als Argument zählen darf und weshalb dem wissenschaftlich-kritischen Tun im Umgang mit den Illusionen nicht selbst eine beglückende Kraft eingeräumt wird, ist es doch auch ein wissenschaftliches Suchen, Forschen, Entdecken (mögen die sich einstellenden Entdeckungen – siehe MA I 252, KSA 2, 209 f. – noch so geringfügig sein). Die hedonistisch anmutende Prämisse, nur ein Interesse an Empfindungen der Freude bringe kulturelle Bewegung in Gang, scheint jedenfalls in MA I sonst nicht durchgängig leitend zu sein. Und in der Metaphernflut droht schließlich unterzugehen, was Wissenschaft eigentlich ausmachen soll: In 209, 5 f. zerstört sie die metaphysischen, religiösen und ästhetischen Illusionen, nur um dann im „Doppelgehirn“ (209, 9) an das Irrationale gekettet zu werden, das von ihr (aber auch vice versa) „trennbar, abschliessbar“ (209, 11 f.) sein soll – zugleich jedoch fällt der Wissenschaft die Aufgabe zu, regulatorisch einzugreifen und den Dampfkessel der Irrationalitäten herunterzukochen. Sie hätte dann eine Wächterfunktion – nicht die Zerstörerfunktion, die ihr in MA I sonst häufiger zufällt. Wer die ganze bipolare Maschinerie in Gang halten will, wird auch nicht recht deutlich – immerhin tritt in 209, 8 „eine höhere Kultur“ als handelndes Subjekt in Erscheinung: Wer sind ihre Sachwalter (die in MA I 250 gerade abgekanzelten „Gelehrten“ – 208, 10 – wohl nicht)? Wer verhindert die Verselbständigung der Illusionen und damit den Rückfall in die „Barbarei“ (dazu in allen Facetten Kaufmann/ Winkler 2022)? Zu MA I 251 gibt es in Mp XIV 1, 49 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ und mit Bleistift rubriziert: „Wissenschaft u Moral“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,49). In NL 1876/77, KSA 8, 21[53], 374, 11–14 werden Überlegungen aus MA I 251 vorbereitet: „Die Wissenschaft macht dem, welcher sie fördert, Lust: s e h r w e n i g dem, welcher Resultate empfängt. / Aber anders mit Kunst Religion usw. Wir müssen das Reich der Unwahrheit in uns halten: dies ist die Tragödie.“ Hier zeichnet sich noch kein „Doppelgehirn“-Ausweg ab. NL 1876/77, KSA 8, 23[15], 409, 1–6 macht auf die privilegierte Stellung der erkenntnisgeleiteten Gegenwartsmenschen im diagnostischen und therapeutischen Umgang mit der „Kultur“ aufmerksam, deren Herkommen sie noch verhaftet seien.
596
Menschliches, Allzumenschliches I
Zur Interpretation von MA I 251 siehe z. B. Heller 1972b, 75 f., Vattimo 1992, 38 f., Brusotti 1997, 441, Fn. 114, Müller-Lauter 1999b, 45, Kang 2003, 176 f., Sloterdijk 2004, 467, Caysa 2008, 193, Ommeln 2008, Reckermann 2003, 117 (zu Vattimo), Barbera 2004, 56 (im Blick auf Parallelen bei Goethe), Bertino 2011, 57, Roethe 2016, 275–283 u. Conill-Sancho 2017, 200 f. 209, 2 f. so wie wir beim Lernen des so bewunderungswürdigen Einmaleins längst aufgehört haben, uns zu freuen] Vgl. NK KSA 3, 594, 19–21. 209, 8 f. ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern] Zwar konnte sich N. in der einschlägigen medizinisch-physiologischen Literatur, die er besaß, etwa bei Bock 1870 und His 1874, über das menschliche Gehirn wissenschaftlich kundig machen; die von ihm gepflegte Redeweise von „Doppelgehirn“ und „zwei Hirnkammern“ hat dort keinen direkten Anhalt. Hatte er mit den beiden „Hirnkammern“ die beiden „Hemisphären“ im Blick, deren stammesgeschichtliche Entstehung beispielsweise His 1874, 110 f. erklärt? Diesseits der wissenschaftlichen Fachliteratur ist die metaphorische Rede von „Hirnkammern“ jedenfalls geläufig, vgl. schon N.s Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom 05. 11. 1865, KSB 2/ KGB I 2, Nr. 486, S. 94, Z. 28. Auch das „Doppelgehirn“, das bei N. nur hier in Erscheinung tritt, ist in seinen Lektüren durchaus schon vorgekommen, so bei [Weber] 1868, 7, 131. 209, 17–19 Wird dieser Forderung der höheren Cultur nicht genügt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwickelung fast mit Sicherheit vorherzusagen] Im Druckmanuskript D 11, 123b korrigiert aus: „Anders verläuft sonst die Entwickelung, wenn sie nicht mit Bewusstsein geleitet wird“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,123bet123). So stand es auch in Mp XIV 1, 49. 209, 24–27 anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des Nachts zerstört hat. Aber wer bürgt uns dafür, dass sie immer wieder die Kraft dazu findet?] Im Druckmanuskript D 11, 123b korrigiert aus: „anfangen. Sterne im Tristram hat einmal Etwas über diesen ganzen Vorgang gesagt.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,123bet123) So stand es auch in Mp XIV 1, 49. Erst in der letzten Textbearbeitungsphase kam also die Metaphorik des Gewebes und der Bezug auf die Frau des Odysseus hinzu, die während der langen Abwesenheit ihres Gatten gegenüber den um sie buhlenden Freiern kundtat, sie müsse ein Leichentuch weben, das sie tagsüber auch herstellte, aber nachts jeweils heimlich wieder auftrennte, bevor sie verraten wurde (Homer: Odyssee II 93–110 u. XIX 134–156). Was mit dem ursprünglichen Hinweis auf Laurence Sternes Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759–1767) gemeint gewesen sein könnte, gibt auch NL 1876/77, KSA 8, 21[42], 373, 4 nicht preis: „Stelle im Tristram über Barbarei“. Vivarelli 1998, 135 sieht einen Bezug zu N.s jugendlichen
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 251–252, KSA 2, S. 209
597
Sterne-Lektüren und den absurden (pseudo)wissenschaftlichen Projekten von Onkel Toby im Roman; noch in späten, in NK KSA 6, 285, 4–286, 12 mitgeteilten Reflexionen N.s ist von der angeblich prägenden, ganz frühen Tristram ShandyLektüre (1859) die Rede, während er Sterne in MA II VM 113, KSA 2, 424–426 einen Kurzessay widmet.
252. Nach MA I 252 sind es menschlich-allzumenschliche Motive, die dem Forscher Lustempfinden bei der Erkenntnis verschaffen: Erstens, weil die Erkenntnistätigkeit wie Gymnastik als Kraftbeweis empfunden wird, zweitens, weil man über frühere Vorstellungen und Forscher gesiegt zu haben wähnt, drittens, weil man sich als allein Erkennender über alle anderen Nicht- und Weniger-Erkennenden erhaben fühlen kann. Aus UB III SE könne man überdies viel über „Nebengründe“ (210, 8) erfahren, die den „Gelehrte[n]“ (210, 16) Lust bereiten, die wie Künstler, Philosophen und Genies aus sehr verschiedenen Elementen zusammengesetzt seien. Im Blick „auf seine E n t s t e h u n g“ (210, 22) sei alles ironiewürdig – was freilich die Ironie zugleich überflüssig mache. In MA I 252 gibt es im Unterschied zu MA I 251 eine anhaltende Lust an der wissenschaftlichen Betätigung, selbst bei kleinsten Erkenntnissen (210, 4 f.). Hier stellt sie also noch immer eine Quelle der Freude dar – die in MA I 251 versiegt war. Zu MA I 252 gibt es in Mp XIV 1, 177 eine ‚Reinschrift‘ in brauner Tinte, wie üblich noch ohne späteren Titel, markiert mit blauem „A“ und rubriziert „ἀγών“, die den Drucktext bis 210, 8 umfasst (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,177). Die Fortsetzung des Textes 210, 8 bis 210, 24 findet sich auf Blatt Mp XIV 1, 369 in schwarzer Tinte (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,369). Die beiden Teile von MA I 252 scheinen in ihrer Entstehung also ursprünglich nicht (zwingend) zusammengehört zu haben. Auf Blatt Mp XIV 1, 367a heißt es ganz unten: „Citat über die Motive des Gelehrten von mir“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,367a), was sich offensichtlich auf das Zitat bezieht, das MA I 252 aus UB III SE 3 beibringt. In N II 2, 123 wird gefragt: „Weshalb ist die Erkenntniss lustvoll? – 1) Weil wir unserer Kraft bewusst werden 2) gegen andere siegreich sind 3) überhaupt uns über Alle durch einen Punct des Besserwissens erheben. Menge Nebengründe. Die Methoden der Erkenntniss sind im Streite gewonnen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,123). Den letzten Aspekt nimmt MA I 634 auf. Norbert Elias hat MA I 252 exzerpiert, siehe Holzer 2010, 56 f. Zur „Lust am Erkennen“ siehe auch Schubert 2021, 139.
598
Menschliches, Allzumenschliches I
209, 31–210, 1 Erstens und vor Allem, weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, also aus dem selben Grunde, aus dem gymnastische Uebungen auch ohne Zuschauer lustvoll sind.] In MA I 250, KSA 2, 208, 6 f. kam die „gymnastische Uebung“ auch schon kurz zur Sprache. N. hat sich auch praktisch dafür interessiert; so erwarb er etwa am 10. 09. 1878 Daniel Gottlob Moritz Schrebers Aerztliche Zimmergymnastik oder System der ohne Geräth und Beistand überall ausführbaren heilgymnastischen Freiübungen (NPB 543 f.), an der er sich lebenspraktisch zu orientieren gedachte (zu Schrebers Auswirkungen auf MA II WS siehe Brücker 2019, 175–183 u. 195–197). Über Schreber verfügte N. zur Abfassungszeit von MA I noch nicht; die Zusammenschau von Körper- und Geistes-Gymnastik verdankt sich eher der Lektüre der Nachrichten über Leben und Schriften des Herrn Geheimraths Dr. Karl Ernst von Baer, wo davon ausdrücklich die Rede ist, vgl. Baer 1865, 126 und NK ÜK MA I 265 sowie NK ÜK MA I 266. 210, 5 f. erhaben und uns als die Einzigen fühlen] Im Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 211) hat N. korrigiert in: „erhaben und uns nunmehr als die Einzigen fühlen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/230/). 210, 6–21 Diese drei Gründe zur Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, je nach der Natur des Erkennenden, noch viele Nebengründe. – Ein nicht unbeträchtliches Verzeichniss von solchen giebt, an einer Stelle, wo man es nicht suchen würde, meine paraenetische Schrift über Schopenhauer: mit deren Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener der Erkenntniss zufrieden geben kann, sei es auch, dass er den ironischen Anflug, der auf jenen Seiten zu liegen scheint, wegwünschen wird. Denn wenn es wahr ist, dass zum Entstehen des Gelehrten „eine Menge sehr menschlicher Triebe und Triebchen zusammengegossen werden muss“, dass der Gelehrte zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und „aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht“: so gilt doch das Selbe ebenfalls von Entstehung und Wesen des Künstlers, Philosophen, moralischen Genie’s – und wie die in jener Schrift glorificirten grossen Namen lauten.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand statt „meine paraenetische Schrift über Schopenhauer“ (210, 10 f.) noch: „Friedrich Nietzsche in seiner Paränese übes [sic] Schopenhauer“, statt „eine Menge sehr menschlicher Triebe“ (210, 15) noch: „eine Menge kleiner, sehr menschlicher Triebe“, statt „der Gelehrte zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist“ (210, 16 f.) noch: „der Gelehrte selber durchaus ein ‚unreines Metall‘“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16487500 28/248/). Das erste Zitat 210, 15 f. stammt aus UB III SE 6, KSA 1, 399, 23 f. – wobei das „kleiner“ in C 4601, das im Drucktext entfiel, in der Vorlage enthalten ist. Das zweite Zitat 210, 17 f. stammt aus UB III SE 6, KSA 1, 394, 25 f., darauf folgt unmittelbar in 394, 26: „er ist durchaus ein unreines Metall“. Zum Diminutiv „Triebchen“, den N. nur vier Mal und immer in Gemeinschaft mit „Trieben“ verwendet, siehe NK KSA 3, 391, 14. Zum „moralischen Genie“ siehe NK 148, 6–13.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 252–253, KSA 2, S. 209–210
599
210, 21–24 A l l e s Menschliche verdient in Hinsicht auf seine E n t s t e h u n g die ironische Betrachtung: desshalb ist die Ironie in der Welt so ü b e r f l ü s s i g.] Der Beginn des Satzes variiert jenen Satz, den N. in seiner Ausgabe von Platons Politeia 604c unterstrichen hat: „οὔτε τι τῶν ἀνθρωπίνων ἄξιον ὂν μεγάλης σποuδῆς“ (Plato 1852, 4, 298) und in MA I 628, KSA 2, 354, 8 f. übersetzt, „a l l e s M e n s c h l i c h e“ sei „d e s g r o s s e n E r n s t e s n i c h t w e r t h“ (vgl. NK ÜK MA I 628). In MA I 252 wird aber in der schließlichen Druckfassung (in Mp XIV 1, 369 wird „in Hinsicht auf seine Entstehung“ erst nachträglich eingefügt!) nicht das „Menschliche“ an sich, sondern nur in seiner „Entstehung“ dem Ernst entzogen – über die Abkunft des Menschen vom Affen wird ja schon in MA I 247, KSA 2, 205 f. gesprochen: Alles vermeintlich Erhabene ist von niederer Herkunft. Da das nun aber für alles gilt, könnte man die Ironie wegstreichen – obwohl oder gerade weil in 210, 12 f. der eigene, ältere Text UB III SE als ironisch ausgeflaggt wird. Will nun MA I 252 ernsthaft Ironieabstinenz predigen, weil sie überflüssig ist, oder ist es ironisch (weil unmöglich?), die Ironie ganz abschaffen zu wollen? Soll die Ironie von UB III SE also zurückgenommen werden, oder geschieht auch dies nur auf ironische Weise? Vgl. NK ÜK MA I 372.
253. MA I 253 setzt damit ein, dass es für die Güte einer Theorie spräche, wenn jemand ihr 40 Jahre treu geblieben sei – um dann gleich kontrastierend nachzusetzen, es habe aber keinen Philosophen gegeben, der ernsthaft an seiner Jugendphilosophie festgehalten habe, auch wenn er vielleicht, nicht zuletzt aus Rücksicht auf seine Anhänger, sein Abrücken nicht öffentlich eingestanden habe. Es liegt nahe, bei den philosophischen Repräsentanten der Selbsttreue zunächst an Schopenhauer zu denken, der ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Erscheinen der Welt als Wille und Vorstellung in der Vorrede zur zweiten Auflage vermerkte: „Was nunmehr diese zweite Auflage betrifft, so freut es mich zuvörderst, daß ich nach fünfundzwanzig Jahren nichts zurückzunehmen finde, also meine Grundüberzeugungen sich wenigstens bei mir selbst bewährt haben.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, XXI) Und 41 Jahre nach Erscheinen der Erstauflage schreibt Schopenhauer in der Vorrede zur dritten: „Das Wahre und Aechte würde leichter in der Welt Raum gewinnen, wenn nicht Die, welche unfähig sind, es hervorzubringen, zugleich verschworen wären, es nicht aufkommen zu lassen. Dieser Umstand hat schon Manches, das der Welt zu Gute kommen sollte, gehemmt und verzögert, wo nicht gar erstickt. Für mich ist seine Folge gewesen, daß, obwohl ich erst dreißig Jahre zählte, als die erste Auflage dieses Werkes erschien, ich diese dritte nicht früher, als im zweiundsiebenzigsten erlebe. […]
600
Menschliches, Allzumenschliches I
Bin ich zulegt doch auch angelangt und habe die Befriedigung, am Ende meiner Laufbahn den Anfang meiner Wirksamkeit zu sehen, unter der Hoffnung, daß sie, einer alten Regel gemäß, in dem Verhältniß lange dauern wird, als sie spät angefangen hat.“ (Ebd., XXXI) Offiziell und an markanter Stelle hat Schopenhauer also völlige denkerische Selbstkongruenz im Fluss der Zeit behauptet – gegen den Wankelmut ebendieser Zeit. Die Frist von 40 Jahren, die MA I 253 nennt, ist bekanntlich die Dauer der Wüstenwanderung des Volkes Israel nach dem Auszug aus Ägypten (5. Mose 2, 7, 5. Mose 8, 2 u. 4, 5. Mose 29, 4 u. Josua 5, 6); diese Zahl nennen auch die Schopenhauer-Verehrer, wenn sie darauf hinweisen wollen, wie lange das Werk des Meisters unbeachtet und geringgeschätzt geblieben ist: „Schopenhauer wurde bekannt, um nie wieder vergessen zu werden. Nun fand er mit einem mal in allen Schichten der bildungsbedürftigen Lesewelt begeisterte, ja, wie er lächelnd zu sagen pflegte, fanatische Anhänger, und nicht Deutsche allein, sondern ebenso auch Engländer, Franzosen, Holländer, Skandinavier, Kurländer, Russen, Polen, Ungarn und Italiener suchten ihn auf, sodass er in den letzten zehn Jahren seines einsamen Lebens die Genugthuung hatte, den Tag seines Ruhms, dessen Aufgang er 40 Jahre lang mit der unerschütterlichen Zuversicht des Genies auf die Zeit nach seinem Tode verschoben, noch vor demselben klar und untrüglich anbrechen zu sehen.“ (Gwinner 1862, 104; vgl. zu Gwinners Umgang mit Schopenhauer aus N.s Sicht NK KSA 5, 386, 25–28; zu Schopenhauers eigenen Zahlenspielen mit der 40 und der ausbleibenden Genie-Rezeption auch Schopenhauer 1873–1874, 6, 490.) Angesichts einer „fanatischen Anhängerschaft“ könnte es, so die lapidare Schlussfolgerung von MA I 253, ja durchaus sein, dass ein Denker wie Schopenhauer sich selbst nur treu zu bleiben vorgibt, um diese nicht zu enttäuschen. Zu MA I 253 gibt es in Mp XIV 1, 18 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ und einigen Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,18). 210, 31 f. – mindestens mit Argwohn –] In Mp XIV 1, 18 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,18). 211, 1 f. – wie es bei edlen Naturen wahrscheinlicher ist –] In Mp XIV 1, 18 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,18).
254. Als typisch für den Gang einer „höheren Bildung“ (211, 6) setzt MA I 254 an, dass einem immer mehr „interessant“ und anschlussfähig erscheine, was einem begegnet, so dass die „Langeweile“ (211, 10) ebenso abnehme wie die emotionale „Erregbarkeit“ (211, 11) – und man seine Mitmenschen und sich selbst mehr und mehr als Stimulantien des Erkenntnistriebes wahrnehme.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 253–255, KSA 2, S. 210–211
601
Während MA I 254 die Bildungsfähigkeit des Interesses offensichtlich ernsthaft vertritt, zeigte sich Paul Rée deutlich skeptischer, wenn er den Zweck des Intellekts zunächst evolutionär in der Bedürfnisbefriedigung lokalisierte, weswegen die meisten Menschen „sich mit den Gegenständen der Kunst und Wissenschaft gewöhnlich“ nur beschäftigten, „um Bewunderung zu erlangen, nur ausnahmsweise und vorübergehend aus sachlichen Interesse. Um die Beschäftigung mit solchen Gegenständen dauernd ihrer selbst wegen zu mögen, bedarf es eben einer ungewöhnlichen, exorbitanten Beschaffenheit des Intellects, des s. g. Genies.“ (Rée 1877, 92) Dabei ist das „sachliche Interesse“ für Rée das wiederkehrende Schlagwort; insbesondere auch pädagogische Anstrengungen haben bisher geradezu verhindert, dass es zur Geltung kommen konnte: „Der Schüler lernt aus Furcht vor Strafe oder in der Hoffnung, andere zu übertreffen, und so gewöhnt er sich daran, keine Erkenntniss mit sachlichem Interesse aufzunehmen. / Trotz diesem gestehen die Menschen gewöhnlich /104/ nicht, dass sie aus Ehrgeiz oder Ruhmsucht produciren und besonders nicht, dass das Aufnehmen, das Anschauen der Gegenstände der Natur, Kunst und Philosophie ihnen meistens kein Vergnügen macht, sondern aus äussern Gründen geschieht. Sie wollen für solche gelten, welche die zum Verstehen und Geniessen der genannten Gegenstände erforderliche höhere Intellectualität besitzen. Auf diese Weise entsteht ein zweiter Scheinzustand: Aus Eitelkeit thun die Menschen, als ob sie sich mit den Gegenständen der Natur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft aus sachlichem Interesse beschäftigten, während sie thatsächlich doch aus unsachlichen Gründen sich mit ihnen beschäftigen. Gewöhnlich thun sie auch vor sich selbst so: denn nicht blos in der Schätzung der Welt, sondern auch in ihrer eigenen Schätzung wollen sie intellectuell vor andern hervorragen oder wenigstens hinter andern nicht zurückstehen. Daher erfahren die meisten Menschen gar nicht, was ihnen selbst eigentlich langweilig oder interessant ist, schön oder hässlich vorkommt.“ (Ebd., 103 f.) Demgegenüber pointiert MA I 254, dass die Bildungsbemühungen gerade dazu führen, dass alles zum Gegenstand (bloßen) intellektuellen Interesses wird; sogar sich selbst nimmt dieser höher Gebildete dann nur noch als Erkenntnisgegenstand war. MA I 254 spricht dabei nicht aus, was GT und UB II HL noch pointiert hätten: Dass der Erkenntnistrieb dem Leben abträglich sein könne. Zu MA I 254 gibt es in Mp XIV 1, 86 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „IIII“ und rotem „A“ sowie mit Bleistift rubriziert: „Höhere Cultur u. ihre moral. Wirkungen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,86).
255. MA I 255 kritisiert die noch immer verbreitete, magische Auffassung, wonach Gleichzeitigkeit kausale Verbundenheit anzeige, wo eben nichts mehr vorliege als
602
Menschliches, Allzumenschliches I
ein zufälliges Nebeneinander. Gerade Historiker neigten noch immer zu dieser „Gattung des Aberglaubens“ (211, 26), weil sie mit der eklatanten Sinn- und Bezugslosigkeit des Geschehens (wohl auch narrativ) nicht umgehen könnten. Welche „Historiker[.] und Culturmaler[.]“ (211, 27) konkret als diejenigen adressiert sind, die „vor allem sinnlosen Nebeneinander“ (211, 28) kapitulierten und also Zusammenhänge herstellten, wo keine sind, lässt MA I 255 offen. Immerhin ist es die Aufgabe der Historiker, Kausalitäten da zu sehen, wo es sie gibt. Und N. postuliert in MA I ja stellenweise eine streng deterministische Welt, wo alles kausal bestimmt ist, was das Geschäft der Historiker, diese Kausalitäten zu rekonstruieren, naheliegend, ja zwingend macht. Das erstreckt sich freilich nur auf echte und nicht auf unechte Kausalitäten: Man darf vermuten, dass sich das Ende von MA I 255 gegen nationalistische und geschichtsphilosophische Teleologien richtet, die mit Geschichtszeichen, Geschichtszielen und Geschichtszwecken freihändig operieren und beispielsweise eine gesamtgeschichtliche Wegrichtung hin auf das jüngst gegründete Deutsche Kaiserreich behaupten. Zu MA I 255 gibt es in Mp XIV 1, 6 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „A“ sowie blau rubriziert: „Religion“, wie üblich noch ohne Titel sowie ohne den Schlusspassus über die Historiker 211, 26–30 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,6). Dieser Passus wurde nachträglich im Druckmanuskript D 11, 124 hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,124). 211, 20–22 Es ist wie bei den Schiffbrüchigen, welche Gelübde thun: man sieht später im Tempel die Votivtafeln Derer, welche zu Grunde giengen, nicht.] Eine Votivtafel ist eine „Gelübde- oder Weihtafel“ (Petri 1861, 817), angebracht in antiken Tempeln und heute noch in katholischen Kirchen als Dank an die Gottheit(en) für ein vermeintlich erhörtes Gebet oder angenommenes Opfer. Votivtafeln können nach MA I 255 nur die aufstellen, die – zufällig – überlebt haben – all die unerhörten Gebete und folgenlosen Opfer bleiben tafellos. Über die antike Praxis, Votivtafeln aufzustellen, unterrichtete N. seine Studenten in der Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen (KGW II 5, 398, 26) in einer Passage, die bei Karl Bötticher: Der Baumkultus der Hellenen abgekupfert ist (Bötticher 1856, 18; vgl. den Nachweis bei Orsucci 1995, 372 f.). Die eigentliche Quelle für 211, 20–22 könnten aber, wie Vivarelli 1994a, 95 meint, Montaignes Essais (I 11) gewesen sein: „Auf diese Art antwortete Diagoras, mit dem Zunamen der Gottesläugner, demjenigen, der ihm in Samothracien in einem Tempel eine Menge Gelübde und Schildereyen von Leuten, die dem Schiffbruche entgangen waren, zeigte, und ihn dabey fragte: Nun Wohlan! Du meynst die Götter bekümmern sich nicht um die Menschen: was willst du sagen, da so viele durch ihre Gnade bey dem Leben erhalten worden sind? So geht es, war seine Antwort: die Ertrunkenen, deren eine weit größere Anzahl ist, sind nicht mit abgemahlt.“ (Montaigne 1753–1754, 1, 70, nach Cicero: De natura deorum III 37; vgl. auch Vivarelli 1998, 83) Eine Variante
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 255–256, KSA 2, S. 211
603
derselben Anekdote wird N. aber auch bei Tylor 1873, 1, 135 f. gelesen haben, und zwar als Zitat aus Francis Bacons Novum Organon (I 46) „Wie Wenige selbst aus unsern gebildeten Klassen haben die Richtung jener denkwürdigen Stelle im Anfange des ‚Novum Organon‘ eingeschlagen: ‚Der menschliche Verstand zieht in das, was er einmal als wahr angenommen hat, (weil es von Alters her gilt und geglaubt wird, oder weil es gefällt), auch alles Andere hinein, um Jenes zu stützen und mit ihm übereinstimmend zu machen. Und wenn auch die Bedeutung und Anzahl der entgegengesetzten Fälle grösser ist, so bemerkt oder beachtet er sie nicht oder sein ebenso starkes wie schädliches Vorurtheil verwirft und beseitigt sie mittels beliebiger Unterscheidungen, nur damit das Ansehn jener alten fehlerhaften Verbindungen aufrecht erhalten bleibe. Als deshalb /136/ jenem Mann im Tempel die aufgehangenen Votivtafeln derer, welche für ihre Errettung aus dem Schiffbruch Geschenke geweiht hatten, gezeigt wurden, und man ihn mit der Frage bedrängte, ob er nun nicht das Walten der Götter anerkenne, so fragte er mit Recht: ‚Aber wo sind denn jene verzeichnet, die trotz ihrer ausgesprochenen Gelübde dennoch untergegangen sind‘?“ Vgl. zur Frage der Geschenke bei Tylor auch NK 242, 19–22. 211, 22 f. eine Eule krächzt] Nachträglich in Mp XIV 1, 6 eingefügt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,6). 211, 23 f. alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht ein Zusammenhang sein?] Nachträglich in Mp XIV 1, 6 eingefügt: „alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht – ?“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,6) Erst im Druckmanuskript D 11, 124 kommt „ein Zusammenhang sein“ hinzu (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,124). 211, 24 Vertraulichkeit] Nachträglich in Mp XIV 1, 6 korrigiert aus: „Intimität“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,6). 211, 25 , wie diese Ahnung sie annimmt,] Nachträglich in Mp XIV 1, 6 eingefügt: „wie da angenommen wird“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,6). Erst im Druckmanuskript D 11, 124 wird das korrigiert in: „, wie diese Ahnung sie annimmt,“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,124).
256. MA I 256 zeigt die disziplinierende Wirkung wissenschaftlicher Arbeitspraxis auf, bei der es weniger auf die tatsächlich gewonnenen Erkenntnisse ankomme als vielmehr auf die Einübung, auf die Ausdauer, einen gewählten Zweck planvoll und beharrlich verfolgen zu können, so dass Erfahrung in wissenschaftlichem Arbeiten einem auch bei anderen Tätigkeiten von Nutzen sein könne.
604
Menschliches, Allzumenschliches I
Diese etwas bieder anmutende Form der Arbeitsethik schließt an die dynamisierende Wirkung wissenschaftlicher Erkenntnisanstrengung in MA I 252, 209 f. an. Man könnte sich fragen, wie der aus der wissenschaftlichen Praxis zu erlernende Habitus des Zweckesetzens sich mit dem Determinismus in den ersten beiden Hauptstücken von MA I verträgt, dem zufolge Menschen doch eigentlich nicht frei sind, ihre Zwecke selbst zu bestimmen. Zu MA I 256 gibt es in Mp XIV 1, 16 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ sowie blau rubriziert: „Wissenschaft u Moral“ (durchgestrichen), wie üblich noch ohne Titel. Der Text ist länger und schließt ab mit dem Satz: „Es muss diess von allen Menschen gefordert werden, dann wird es in Staat u. Sitte viel consequenter gehen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,16) Im Druckmanuskript D 11, 124 lautete dieser Schlusssatz: „Es muss diess von allen Menschen gefordert werden, dann wird es in Staat und Sitte einmal consequenter ˹zu˺gehen.“ Schließlich wurde dieser Satz durchgestrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,124). Damit entfiel das Plädoyer für eine allgemeine gymnasial-universitäre Wissenschaftsausbildung, der N. ohnehin z. B. in ZB kritisch gegenübergestanden hatte. 212, 2 f. D a s K ö n n e n , n i c h t d a s W i s s e n , d u r c h d i e W i s s e n s c h a f t g e ü b t.] Im Druckmanuskript D 11, 124, in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 213) sowie in den Handexemplaren C 4402 und C 4412[1] fehlt das Komma nach „W i s s e n“. 212, 5 auf deren Ergebnissen] Mp XIV 1, 16: „in deren Ergebnissen“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,16). 212, 5 f. werden, im Verhältniss] In Mp XIV 1, 16 und im Druckmanuskript D 11, 124 steht das Komma nach dem „werden“, das in den Korrekturbogen C 4601, in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 214) sowie in den Handexemplaren C 4402 und C 4412 fehlt.
257. In MA I 257 wird die Entwicklung der Wissenschaften historisch perspektiviert: Sie befänden sich gegenwärtig noch in ihrer Jugendphase und lockten mit dem Versprechen, eine neue, unverbrauchte Wahrheit zu Tage zu fördern, was einen sehr viel größeren „Reiz“ (212, 15) habe als das bloße Suchen nach dem Irrtum. Was werde aber geschehen, wenn diese Wahrheit dereinst alt geworden sei und „nur noch eine kümmerliche Herbstnachlese dem Forscher übrig bleibt“ (212, 24 f.), wie es in manchen „historischen Disciplinen“ (212, 25 f.) bereits der Fall sei?
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 256–257, KSA 2, S. 212
605
Eine allgemeine Antwort jenseits dieses spezifischen Hinweises enthält MA I 257 den Lesenden vor – sie würde wohl nicht günstig für die Wissenschaft ausfallen. Zu MA I 257 gibt es in Mp XIV 1, 35 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ sowie mit Bleistift rubriziert: „Wissenschaft“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,35). Eine Vorüberlegung findet sich in NL 1876/77, KSA 8, 21[44], 373, 11 f.: „Der Reiz der Wissenschaft hebt sich j e t z t noch durch den Contrast.“ 212, 16 grau und langweilig gewordenen Irrthum] In Mp XIV 1, 35 stattdessen: „geltenden Irrthum“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,35). Im Druckmanuskript D 11, 124 stand ursprünglich: „˹gewaltherrischen und˺ aufdringlichen Irrthum“, bevor dann in den schließlichen Drucktext korrigiert wurde (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,124). 212, 17–21 jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der Wissenschaft und pflegen der Wahrheit wie einem schönen Mädchen nachzugehen; wie aber, wenn sie eines Tages zum ältlichen, mürrisch blickenden Weibe geworden ist? Fast in allen Wissenschaften] In Mp XIV 1, 35 stattdessen: „anders umarmt der Jüngling die Geliebte, anders der Mann. Ebenso ist fast in allen Wissenschaften“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,35). Im Druckmanuskript D 11, 124 wurde dieser Text zunächst übernommen, bevor er in den schließlichen Drucktext korrigiert wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,124). Allerdings stand dann noch „Jünglingszeitalter“ statt „Jugendzeitalter“ (212, 18), was dann in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift in „Jugendzeitalter“ geändert wurde (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/250/). 212, 18–21 pflegen der Wahrheit wie einem schönen Mädchen nachzugehen; wie aber, wenn sie eines Tages zum ältlichen, mürrisch blickenden Weibe geworden ist?] Das Motiv der Wahrheit als Frau, die vermeintlich sehr weiblichen Eitelkeiten und auch dem Älterwerden unterliegt, kehrt bei N. später häufig wieder, vgl. NK KSA 3, 352, 18 f. u. NK KSA 5, 11, 2 sowie Derrida 1978 u. Babich 1996. Auch in einer Vorstufe zu MA I 264 ist es präsent, siehe NK 219, 22–24. 212, 25 f. (welche Empfindung man in einigen historischen Disciplinen kennen lernen kann)] In Mp XIV 1, 35 stattdessen: „(welche Empfindung man in einigen Disciplinen der Philologie kennen lernen kann)“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,35). Die Korrektur erfolgte im Druckmanuskript D 11, 124 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,124). Den wenig fruchtbaren, aber kulturell dominanten historischen Wissenschaften hatte N. UB II HL gewidmet; eine weitere Unzeitgemässe Betrachtung unter dem Arbeitstitel „Wir Philologen“ war eine Zeit lang in Planung. Gerade die Philologie schien dem Philologen N. zur unfruchtbaren Epigonenwissenschaft zu degenerieren.
606
Menschliches, Allzumenschliches I
258. Der „Genius der Cultur“ (212, 28 f.), der in MA I 241, KSA 2, 202, 5–11 noch den Eindruck eines mythologischen Monsters machen konnte (zur Wendung selbst NK 202, 5), wird jetzt in seinem rastlos schöpferischen Tun vor Augen gestellt – ein Tun, dem in Not und Mangel alles zum Material wird und alles Material recht ist, so dass auch geringerwertiger Stoff in seinem Werk am Ende amalgamiert ist. Schon das gewöhnliche Genie kann nach MA I 162 „Alles als Stoff benützen“ (152, 6); im „Genius der Cultur“ scheint sich diese Umschmelzungskraft noch zu potenzieren. Zu MA I 258 gibt es in Mp XIV 1, 24 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ sowie mit Blaustift rubriziert: „Höhere Cultur“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,24). Zur Interpretation von MA I 258 siehe auch Geuss 2008, 42 f. 212, 28–213, 2 Der Genius der Cultur verfährt wie Cellini, als dieser den Guss seiner Perseus-Statue machte: die flüssige Masse drohte, nicht auszureichen, aber sie s o l l t e es: so warf er Schüsseln und Teller und was ihm sonst in die Hände kam, hinein.] Diese Szene von Dezember 1549, in der die lange Entstehungsgeschichte von Benvenuto Cellinis nachmals berühmter, von Herzog Cosimo I. von Medici in Auftrag gegebener Bronzeskulptur dramatisch gipfelte, schilderte Cellini selbst in seiner Autobiographie. In Goethes sehr freihändiger Übertragung Leben des Benvenuto Cellini (IV 6), die N. besaß, lautet die Schilderung – nachdem Cellini neues Feuer für den Guss hatte entfachen lassen: „Nun glaubte ich einen Todten auferweckt zu haben, triumphirte über den Unglauben aller der Ignoranten, und fühlte in mir eine solche Lebhaftigkeit, daß ich weder ans Fieber dachte, noch an die Furcht des Todes. Auf einmal hörte ich ein Getöse, mit einem gewaltsamen Leuchten des Feuers, so daß es schien als wenn sich ein Blitz in unserer Gegenwart erzeugt hätte. Ueber diese unerwartete fürchterliche Erscheinung war ein jeder erschrocken, und ich mehr als die andern. Als der große Lärm vorbei war, sahen wir einander an und bemerkten, daß die Decke des Ofens geplatzt war, und sich in die Höhe hob, dergestalt, daß das Erz ausfloß. Sogleich ließ ich die Mündung meiner Form eröffnen, und zu gleicher Zeit die beiden Gußlöcher aufstoßen. Da ich aber bemerkte daß das Metall nicht mit der Geschwindigkeit /62/ lief, als es sich gehörte, überlegte ich daß vielleicht der Zusatz durch das grimmige Feuer könnte verzehrt worden seyn, und ließ sogleich meine Schüsseln und Teller von Zinn, deren etwa zweihundert waren, herbeischaffen, und brachte eine nach der andern vor die Canale, zum Theil ließ ich sie auch in den Ofen werfen, so daß jeder nunmehr das Erz auf das beste geschmolzen sah, und zugleich bemerken konnte, daß die Form sich füllte. Da halfen sie mir froh und lebhaft und gehorchten mir, ich aber befahl und half bald da und bald dort, und sagte: O Gott, der du
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 258, KSA 2, S. 212–213
607
durch deine unendliche Kraft vom Tode auferstanden und herrlich gen Himmel gefahren bist, verschaffe, daß meine Form sich auf einmal fülle! Darauf kniete ich nieder und betete von Herzen. Dann wendete ich mich zu der Schüssel, die nicht weit von mir auf einer Bank stand, aß und trank mit großem Appetit, und so auch der ganze Haufen. Dann ging ich froh und gesund zu Bette, es waren zwei Stunden vor Tag, und, als wenn ich nicht das mindeste Uebel gehabt hätte, war meine Ruhe sanft und süß.“ (Goethe 1853–1858, 29, 61 f.) Am nächsten Morgen müssen dann alle von tönernem Geschirr essen, weil solches aus Zinn nicht mehr zur Verfügung stand. Hector Berlioz’ N. wohlbekannte Oper Benvenuto Cellini (uraufgeführt 1838) macht die Perseus-Gussszene zum dramatischen Höhe- und Schlusspunkt im 3. Akt. Dort schmilzt der Künstler nicht bloß Schüsseln und Teller ein, sondern auch sämtliche Skulpturen, die in seiner Werkstatt herumstehen. Das kunsthistorische Urteil, das Jacob Burckhardt im Cicerone zu Cellini abgibt, ist übrigens deutlich verhaltener, als die rezeptionsgeschichtliche Heroisierung des 19. Jahrhunderts es erwarten ließe: Cellini habe „durch seine eigene Lebensbeschreibung eine grössere Bedeutung gewonnen […] als durch seine Werke. […] Von grösserm Umfang und selbständiger Bedeutung ist bloss der eherne P e r s e u s unter der Loggia de’ Lanzi in Florenz. Benvenuto erscheint hier noch wesentlich als der Naturalist des XV. Jahrh., als der geistige Sohn Donatello’s, allein das Motiv ist bei aller Wunderlichkeit (man sehe die Verschränkung der Medusenleiche) doch nicht nur energisch, sondern auch in den Linien bedeutend, sodass man die Mängel der an sich sehr fleissigen Einzelbehandlung, z. B. die Dürftigkeit des Rumpfes im Verhältniss zu den Extremitäten, darob übersehen mag. Die Statuetten an der Basis sind dagegen idealistisch manierirt in der schlechtesten Art der römischen Schule, das Relief ebenso und dabei möglichst unplastisch.“ (Burckhardt 1869a, 2, 644) Zur Selbststilisierungs- und Fremdstilisierungsgeschichte der Perseus-Gussszene siehe auch Tauber 2001, 199–201; zum metallurgischen Hintergrund Lein 2004, 90 u. ö. 212, 30–213, 1 die flüssige Masse drohte, nicht auszureichen, aber sie s o l l t e es:] In Mp XIV 1, 24 stand stattdessen: „die Gluth muß unterhalten werden, um jeden Preis, womit? ist gleichgültig:“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,24). So stand es zunächst auch im Druckmanuskript D 11, 124, wo aber zuerst „die Gluth“ in „der Fluss“ korrigiert wurde, bevor die ganze Passage gestrichen und durch den schließlichen Drucktext ersetzt wurde (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,124). 213, 1 f. und was ihm sonst in die Hände kam,] Fehlt noch in Mp XIV 1, 24 und wurde erst im Druckmanuskript D 11, 124 hineinkorrigiert (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,124). 213, 3 f. und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle] In Mp XIV 1, 24 stattdessen: „Sachen von schlechterem Metalle“ (http://www.nietzschesource.org/
608
Menschliches, Allzumenschliches I
DFGA/Mp-XIV-1,24). Im Druckmanuskript D 11, 124 wurde dies dann in den schließlichen Drucktext verändert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,124). 213, 5 Statue der Menschheit] Im Druckmanuskript D 11, 124 stand vor einer Korrektur ursprünglich: „Natur der Menschheit“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,124). Es handelt sich wohl um einen Lesefehler von Köselitz; Mp XIV 1, 24 hat vermutlich auch „Statue“.
259. MA I 259 reflektiert die Abhängigkeit der kulturellen Eigenheiten vom Verhältnis und von der sozialen Rolle der Geschlechter. Der Abschnitt illustriert das anhand des antiken Griechenlands, das eine Kultur der Männlichkeit gewesen sei, in der höhere Bildung auf homosexuell-päderastischen Beziehungen von Männern zu Jünglingen gegründet habe, während die Frauen ins rein Private oder ins Religiöse abgedrängt worden seien und ihnen nur die Funktionen der biologischen Reproduktion und der Wollustbefriedigung zugekommen seien. Die Rückkehr zur Natur in Gestalt der Mütter habe die griechische Kultur jung erhalten. In MA I 259 wird eine provozierende Blickverengung auf das Männliche betrieben – geht es denn nicht schon in den Homerischen Epen ununterbrochen um Frauen? –, wobei der Text es in der Schwebe lässt, ob er bloß als historische Befundbeschreibung oder doch normativ gemeint ist. Plädiert er für eine „C u l t u r d e r M ä n n e r“ (213, 9) oder wünscht er ein Gleichgewicht von Natur und Geist, das dank der Geschlechtersegregation in der griechischen Antike verwirklicht gewesen sein soll? Bleibt den Frauen die „Natur“ (214, 9) zugeordnet und den Männern der „Genius“ und soll der durch Erdung vor Überreizung und Schwäche bewahrt werden? Zu MA I 259 gibt es in Mp XIV 1, 132 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „A“ und zahlreichen Korrekturen, wie üblich noch ohne den späteren Titel (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,132). Zum Notat in N II 2, 100 vgl. NK 213, 22–24. 213, 10–13 Was die Frauen anlangt, so sagt Perikles in der Grabrede Alles mit den Worten: sie seien am besten, wenn unter Männern so wenig als möglich von ihnen gesprochen werde.] Gemeint ist der Epitaphios, den der athenische Staatsmann Perikles 431/30 v. Chr. auf die Gefallenen im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges gehalten haben soll, und die der Historiker Thukydides in der Geschichte des Peloponnesischen Krieges II 35–46 wiederzugeben beansprucht. Die Stelle, auf die 213, 10–13 anspielt, steht bei Thukydides in Abschnitt II 45 und lautet in der Übersetzung von Adolf Wahrmund, die sich in N.s Bibliothek befunden hat: „Soll
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 258–259, KSA 2, S. 213
609
ich aber nun auch noch der weiblichen Tugend derer Erwähnung thun, die nun als Wittwen leben werden, so will ich in kurzem Ermunterungswort Alles sagen. Euch wird groß der Ruhm sein, wenn ihr eurer weiblichen Art treu bleibt, und wenn unter Männern in Lob oder Tadel von Einer am wenigsten die Rede ist.“ (Thukydides 1861, 131) Während die Perikles-Rede in MA I 259 als Beleg für die vermeintlich authentische griechische Kultur herhalten muss, gilt sie in MA I 474, KSA 2, 308, 29 gerade als „grosses optimistisches Trugbild“, das für die athenische Dekadenz steht. Das Beispiel zeigt, wie N. oft seine Quellen situativ arrangiert nach dem jeweiligen Argumentationsbedürfnis. 213, 13–16 Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen war in einem, unserem Verständniss unzugänglichen Grade die nothwendige, einzige Voraussetzung aller männlichen Erziehung] N. hat sich als Philologe mit der „Knabenliebe“ insbesondere bei Theognis und Platon beschäftigt. So rekapituliert er die Pausanias-Rede in Platons Symposion in seiner Einführung in das Studium der platonischen Dialoge: „Nicht jeder Eros ist schön u. preiswürdig, sondern nur der zu einer schönen Liebe antreibt. Der Eros von der älteren u. nur am Männlichen theilhabenden Göttin hat seine Wirkung in der Knabenliebe: die hier durchaus als das Reine u. Vollkommene gepriesen wird, im Verhältniß zum Verkehr der Geschlechter. Dieser nöthigt den Liebenden sowohl wie den Geliebten viel Sorgfalt auf die Tugend zu verwenden.“ (KGW II 4, 106, 22–28) In der Vorlesung Encyclopaedie der klass. Philologie hat N. einige historisch-philologische Werke genannt, die sich mit den „P r i v a t a l t e r t h ü m e r [ n ] d e r G r i e c h e n“ beschäftigen (KGW II 3, 435, 16–23), und dabei auch „Die Ehe, häusliches Leben u. Stellung des weibl. Geschlechts. Die Mitgift. Die Sitte der Hochzeit. Dann die Hetären. Die Knabenliebe“ (ebd., 435, 30–436, 2) erwähnt, wenn auch in seinen Notaten nicht dargestellt. Dabei folgt N., was die Forschung bisher noch nicht zur Kenntnis genommen hat, in seiner Stichwortaufzählung streng der Gliederung des Aufsatzes Griechische Privatalterthümer von Hermann Göll. Selbst die Literaturangaben sind Titel für Titel Gölls Aufsatz entnommen (Göll 1870, 115). Man darf deshalb vermuten, dass N. in seiner lehrenden Darstellung der „Privatalterthümer“ Göll, dem er die Struktur verdankt, auch unmittelbar paraphrasiert haben dürfte. Dabei stellt Göll die rechtliche und soziale Isolation der Frauen im alten Griechenland ebenso scharf heraus wie später MA I 259 (Göll 1870, 124–128); er widmet einen Abschnitt der „K n a b e n l i e b e“, der mit den Sätzen beginnt: „Noch früher als das Hetärenwesen, aber sicher nach der Homerischen Zeit, ward die Päderastie eine Nebenbuhlerin der Frauenliebe. Sie entsprang jedenfalls einem edeln Grunde. Denn die Heldenfreundschaften der heroischen Zeit fanden ja ihren Nachklang in dem reinen, als Erziehungsmittel vom Staate benutzten Liebensverhältnisse zwischen älteren und jüngeren Spartanern.“ (Ebd., 129) Göll muss dann aber zugeben, dass die Knabenliebe „nicht frei vom Schmuze [sic] der Wollust“ (ebd.) geblieben sei. Es wäre ihm auch nicht
610
Menschliches, Allzumenschliches I
eingefallen, sie wie MA I 259 zur „nothwendige[n], einzige[n] Voraussetzung aller männlichen Erziehung“ zu erklären – vielleicht auch aus christlich-moralischer Verschämtheit. Dass N. seinerseits die kulturelle Bedeutung der Päderastie lustvoll überzeichnet, um zu provozieren, liegt wiederum zu vermuten nahe. Wie schwer eine nüchtern-kühle Lesart von Passagen wie 213, 13–16 manchen heutigen Lesern noch fällt, dokumentiert z. B. Rappe 2000, 147 f. Zur Interpretation siehe demgegenüber Stegmaier 2012, 522, Fn. 758 (mit Verweis auf Foucault), zu Göll auch NK 213, 19–22. 213, 16–18 (ungefähr wie lange Zeit alle höhere Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe herbeigeführt wurde)] Vgl. NK 213, 22–24. 213, 19–22 wahrscheinlich sind junge Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchaus in Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden, wie im sechsten und fünften Jahrhundert] Das lateinische Wort „virtus“, abgeleitet von „vir“, „Mann“, hat ein weites Bedeutungsspektrum, angefangen bei der Mannhaftigkeit, der Tatkraft, der Tapferkeit, der Entschlossenheit, über die Tüchtigkeit, Kraft, Vortrefflichkeit bis hin zur Tugend in philosophischem Sinne. Die historische Behauptung in 213, 19–22, dass im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert die homoerotisch bestimmte Pädagogik ihren Höhepunkt erreicht habe, kontrastiert scharf zu Göll 1870, 129 (vgl. NK 213, 13–16), wo es über dieselbe Epoche heißt: „Man glaubte selbst bei Männern guten Rufes gar nicht mehr an die Enthaltung vom somatischen Genusse, und die Gesetzgebung schützte nur gegen widerrechtliche Gewalt und brandmarkte […] die Verkuppelung freier Knaben durch Erwachsene, ohne das Laster selbst unterdrücken zu wollen und zu können. Zu derselben Zeit, wo die Bordellwirthschaft in Athen so große Ausdehnung gewann, ging auch in der Knabenliebe jeder sittliche Halt aus früherer Zeit verloren.“ 213, 22–24 also gemäss dem schönen Spruche Hölderlin’s „denn liebend giebt der Sterbliche vom Besten“] Der „Spruch“ stammt aus der Rede des Empedokles in der ersten Fassung von Friedrich Hölderlins Der Tod des Empedokles (2. Akt, 4. Auftritt, V. 1538 f., nach Hölderlin 2008, 341). N. hat ihn wohl bei der Lektüre jener 1859 erschienenen Hölderlin-Anthologie kennengelernt, die er 1861 für seinen Pfortenser Schulaufsatz über Hölderlin ohne jede Kennzeichnung ausbeutete (NL 1861, KGW I 2, 12[2], 338–341; vgl. ausführlich Brobjer 2001; den Versuch einer Relativierung von Brobjers Plagiatsdiagnose unternimmt Reschke 2020a, 307; siehe auch Schmidt 1993, 586–600). In N.s Bibliothek sind zwei Hefte dieser Anthologie Friedrich Hölderlin. Moderne Klassiker. Fünfte bearbeitete Auflage erhalten (Leipzig 1859; die erste Auflage ist 1853 als Bd. 22 der dort noch Moderne Klassiker. Deutsche Literaturgeschichte der neueren Zeit in Biographien, Kritiken und Proben betitelten Reihe in Kassel erschienen); es fehlen das erste und das letzte Hölderlin-Heft, ebenso Titelseiten, die es nach dem bedruckten Umschlag aber womög-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 259, KSA 2, S. 213
611
lich gar nicht gegeben hat. Die von Brobjer 2001, 399 suggerierte Autor- oder Herausgeberschaft von William Neumann am Hölderlin-Band lässt sich ebenso wenig erhärten wie die dort behauptete Identität Neumanns mit Arthur Friedrich Bussenius. „W. Neumann“ hat zwar explizit einige andere Bände der Modernen Klassiker verantwortet, aber keine verfügbare historische Quelle nennt Neumann als Urheber der Hölderlin-Anthologie. Der Band verbindet biographische Informationen und Deutungsversuche mit dem Abdruck längerer Werkpassagen. Der von N. zitierte Satz wird – im Unterschied zu heutigen Ausgaben – in der Anthologie gesperrt gesetzt und fällt damit sofort ins Auge: „Dann, o ihr Genien der wandelnden / Natur! Dann ladet Euch, ihr Heiteren, / Das freie Volk zu seinen Festen ein, / Gastfreundlich! fromm! D e n n l i e b e n d g i e b t / D e r S t e r b l i c h e v o m B e s t e n, schließt und engt / Den Busen ihm die Knechtschaft nicht“ (Hölderlin 1859, 85. In dieser Fassung sind nach „Heiteren“ vier Verse ohne Kennzeichnung gestrichen). Bereits in seinem Brief an Wilhelm Pinder vom 5. Juli 1866 hat N. sich des Hölderlin-Zitates bedient, um den Gelehrtendienst vom Militärdienst abzugrenzen, der sich gerade im Preußisch-österreichischen Krieg bewähren konnte, während die Gelehrten daheim bleiben mussten: „Sodann dienen wir ja auch in unsern Studien dem Vaterlande, das von den Seinen bald dies, bald jenes verlangt, körperliche oder geistige Leistungen. Jeder aber gebe sein Bestes: ‚denn liebend‘ wie Hölderlin sagt, ‚giebt der Sterbliche vom Besten‘. Ergo: ärgern wir uns nicht darüber, daß wir zu Hause hocken, während die waffenfähigen jungen Leute blutbespritzte Ehrenzeichen einhandeln.“ (KSB 2/KGB I 2, Nr. 510, S. 137, Z. 11– S.138, Z. 17) Der Hölderlin-Bezug hat hier bereits einen durchaus ironischen Beiklang, der sich im Brief an Erwin Rohde vom 3. September 1869 noch verstärkt, weil das Schreibhandeln des Briefstellers den Spruch gerade konterkariert: „Immer wenn ich mich zum Briefschreiben an Dich niedersetze fällt mir das Wort Hölderlin’s (meines Lieblings aus der Gymnasialzeit) ein ‚denn liebend giebt der Sterbliche v o m B e s t e n!‘ Und was hast Du nun, wenn ich mich recht erinnre, in meinen letzten Briefen bekommen? Negationen, Verdrießlichkeiten, Einsamkeiten, Einzelheiten.“ (KSB 3/KGB II 1, Nr. 28, S. 51, Z. 5–10) Auch der Gebrauch, den MA I 259 von der Hölderlin-Sentenz macht, wiederum unter Nennung von Hölderlins Namen, verbürgt keinen letzten Ernst (und ist kein Beleg für Reschke 2020a, 304: „Immer dann, wenn Nietzsche bis ans Äußerste dessen ging, was für ihn Philosophie und Poesie bedeuteten, fiel Hölderlin ein und ins Gewicht“): Dass im pädophilen Verhältnis erwachsener griechischer Männer zu Jungs und Heranwachsenden „liebevoll“ das „Beste[.]“ gegeben und erweckt (213, 20 f.) worden sei, stellt eine fundamentale Provokation der sexualmoralischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts dar. Ausgerechnet den Erhabenheitsdichter Hölderlin dafür Pate stehen zu lassen, könnte als böse Pointe gelesen werden – wobei Hölderlin selbst
612
Menschliches, Allzumenschliches I
in seiner asklepiadeischen Ode Sokrates und Alcibiades (1798/99) die antike Knabenliebe gepriesen hatte, was N., der in NL 1873, KSA 7, 29[202], 711, 2 den Beginn der zweiten Strophe zitiert, sehr wohl gewusst hat. In einem flüchtig hingekritzelten Bleistiftnotat in N II 2, 100 heißt es: „Ungefähr wie jetzt die höhere Erziehung der Weiber auf der Ehe gegründet war (denn liebend giebt der Sterbliche vom Besten)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,100). Der Hölderlin-Spruch hätte also auch an anderer Stelle, nämlich in 213, 16–18, zur Anwendung gebracht werden können, was die Vermutung nahelegt, er sei bei N. vielmehr ein ziemlich frei flottierendes, situativ applikables Bildungsgut mit variablem Einsatzradius, keineswegs N.s existentielles Selbstbekenntnis mit der Stimme eines Anderen. Zu 213, 22–24 siehe neben Reschke 2020a, 303 f. schon Vivarelli 1989, 511, Fn. 5 u. Castellari 2018, 163, Fn. 231, zur Wiederkehr des Motivs in Za III vgl. NK KSA 4, 249, 8–14 u. NK KSA 4, 263, 1 f. 213, 25–31 der Gesichtspunct der Kindererzeugung und der Wollust – Nichts weiter kam hier in Betracht; es gab keinen geistigen Verkehr, nicht einmal eine eigentliche Liebschaft. Erwägt man ferner, dass sie selbst vom Wettkampfe und Schauspiele jeder Art ausgeschlossen waren, so bleiben nur die religiösen Culte als einzige höhere Unterhaltung der Weiber.] In Mp XIV 1, 132 hieß es stattdessen ursprünglich: „τεϰνοποιία, ἡδονή – nichts weiter, kein geistiger Verkehr keine eigentliche Liebschaft. Dann der ἀγών, der ebenfalls die Frauen ausschloss. Die religiösen Culte waren die einzige höhere Unterhaltung der Weiber.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,132) Τεϰνοποιία meint „Zeugung“, ἡδονή „Freude“, „Wollust“, ἀγών Wettkampf. 213, 28 Liebschaft. Erwägt man] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „Liebschaft; erwägt man“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/251/). 213, 31–214, 3 Wenn man nun allerdings in der Tragödie Elektra und Antigone vorführte, so e r t r u g man diess eben in der Kunst, obschon man es im Leben nicht mochte: so wie wir jetzt alles Pathetische im L e b e n nicht vertragen, aber in der Kunst gern sehen. –] In der 413 v. Chr. uraufgeführten Tragödie Elektra von Sophokles stiftet die Titelheldin aus Rache für die Ermordung ihres Vaters Agamemnon ihren Bruder Orestes zur Tötung ihrer Mutter Klytaimnestra und deren Liebhaber Aigisthos an. Sophokles’ Antigone wurde 442 v. Chr. uraufgeführt. Gegen den ausdrücklichen Willen des thebanischen Tyrannen Kreon begräbt Antigone darin ihren gefallenen Bruder Polyneikes und muss dafür büßen. Beide Tragödien zeigen also aktive, selbst- und weltmächtige Frauengestalten, die gar nicht zu der in MA I 259 formulierten These von dem im alten Griechenland angeblich völlig weggeschlossenen, auf Sex, Reproduktion und Religion reduzierten weiblichen Geschlecht passen wollen. Entsprechend muss der Text diese naheliegende Einre-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 259–260, KSA 2, S. 213–214
613
de von vornherein neutralisieren: Man habe ins Theater ausgelagert, was man in der Realität nie hätte dulden wollen. 213, 32 so e r t r u g man] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „so ertrug man“ (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/251/). 214, 7–10 Diess hielt die griechische Cultur verhältnissmässig so lange jung; denn in den griechischen Müttern kehrte immer wieder der griechische Genius zur Natur zurück.] In Mp XIV 1, 132 hieß es stattdessen ursprünglich vor eingehenden Korrekturen: „Diess hielt die griech. Cultur so lange. Die Mütter waren die Rückkehr des griech. Genius zur Natur.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,132)
260. MA I 260 beanstandet das Vorurteil zugunsten des Großen, das auf einer ungleichgewichtigen Ausprägung und Betonung von Eigenschaften beruht. Während dieser Abschnitt derartige Einseitigkeit problematisiert und trotz der Bewunderung durch das Publikum für wenig glücksverheißend hält, hat MA I 162 das intellektuelle Tätigsein in eine einzige Richtung (152, 5 f.) als genieträchtig deklariert. Zu MA I 260 gibt es in Mp XIV 1, 154 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „A“ und einigen Korrekturen, wie üblich noch ohne den späteren Titel (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,154). 214, 17 f. eine g l e i c h m ä s s i g e Ausbildung] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „eine gleichmässige Ausbildung“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/252/). 214, 19 f. jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den übrigen Kräften Blut und Kraft aussaugt] Zum Motiv des Vampirismus bei N. siehe Sommer 2016d. 214, 24 um von ihnen sich fesseln zu lassen] In Mp XIV 1, 154 korrigiert aus: „um von ihnen gefesselt zu werden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,154). 214, 24 f. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will.] Während N. bekanntlich in den 1880er Jahren die experimentalphilosophische These von einem alles Organische (und Unorganische) bestimmenden Willen zur Macht erproben sollte (vgl. ausführlich z. B. NK 5/1, S. 272–286), wird in 214, 24 f. eine solche These keineswegs vorformuliert, sondern nur eine alltagssoziologische Beobachtung auf den Punkt gebracht – dass sich nämlich die Angehörigen unserer Gattung da zu fügen pflegen, wo andere Machtansprüche geltend ma-
614
Menschliches, Allzumenschliches I
chen. Daraus folgt keineswegs, dass alle Menschen oder gar alle Lebewesen nach Macht streben.
261. MA I 261 schlägt einen weiten Bogen: Der Abschnitt beginnt scheinbar mit einer Fundamentalkritik an der dem Mythos abholden, in Griechenland entstandenen Philosophie. Das Licht des Mythos sei von den Philosophen durch ihre jeweils exklusiv behauptete und in Anspruch genommene Wahrheit ausgetauscht worden. Diese Philosophen – es sind diejenigen vor Sokrates gemeint – seien allesamt „T y r a n n e n d e s G e i s t e s“ (214, 27) gewesen und als Tyrannen charakteristisch für die griechische Kultur, die sich keineswegs langsam und naturwüchsig entwickelt habe, sondern rasch und überhitzend, so dass ein „Stein“ (216, 26), nämlich Sokrates, genügt habe, um das Räderwerk außer Funktion zu setzen. Neben dem durch Platons Typenbildungsarbeit dominant gewordenen Typus des Sokrates hätte es, wäre Platon nicht von Sokrates infiziert worden, womöglich eine andere, in den Philosophengestalten vor Sokrates aber nur schemenhaft überlieferte, „höchste[.] M ö g l i c h k e i t d e s p h i l o s o p h i s c h e n L e b e n s“ (217, 4 f.) gegeben, die jedoch nie realisiert worden sei. Der für die vorsokratischen Philosophen typische tyrannische Exklusivanspruch auf Wahrheit habe sich zwar später noch fortgepflanzt, sich aber mittlerweile an skeptischen Einreden erschöpft. Heute sei auch nicht mehr, so der Gegenwarts- und Zukunftsausblick in MA I 261, an eine Tyrannis, sondern an eine Oligarchie des Geistes zu denken. Das geistig hervorragende, philosophische Individuum erkennt Seinesgleichen offenbar instinktiv und tue sich mit diesen anderen Seinesgleichen zusammen, um sich zu „behaupten“ (218, 9 f.) und seine Sache machen zu können. Eine philosophische Lebensform scheint MA I 261 auch der Gegenwart und der Zukunft nahelegen zu wollen. Warum eine solche angeraten sein sollte, wenn doch der Eingang von MA I 261 Philosophie als eine historische Fehlentwicklung weg vom Mythos unter Verdacht stellt, bleibt freilich offen. Die Selbstbehauptung (vgl. 218, 9 f.) erscheint der Sprechinstanz in der Gegenwart als ziemlich defensives Vergemeinschaftungsmotiv an sich unabhängiger Geister. Offenbar ist in der Moderne der Druck auf den Einzelnen viel größer als im alten Griechenland, so dass sich philosophisch-tyrannische Selbstermächtigungsphantasien erledigt zu haben scheinen. Als philosophische Vergemeinschaftungsform stand N. in seinem eigenen Leben natürlich die kleine PhilosophenKommune in Sorrent vor Augen. Dennoch wurde für das Ansinnen, Philosophie und Philosophen zu heroisieren, MA I 261 ein wirkmächtiger Abschnitt: Gerade das Auslaufen in Oligarchie scheint ja Agonalität anzudeuten und zu suggerie-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 260–261, KSA 2, S. 214
615
ren, dass eine unausgesetzte heldenhafte Auseinandersetzung untereinander statthabe (zum Kampf ausdrücklich 218, 9–20). Zu MA I 261 gibt es in Mp XIV 1, 246 (der spätere Drucktext 214, 27–215, 17), Mp XIV 1, 246a (der spätere Drucktext 215, 17–216, 4) und Mp XIV 1, 247a (der spätere Drucktext 216, 4-[216, 29], am Ende stark abweichend) eine durchgehende ‚Reinschrift‘, fast ohne Korrekturen, wie üblich noch ohne den späteren Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,246, http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,246a u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,247a). Das Zwischenblatt Mp XIV 1, 247 gehört nicht zu diesem Textbestand. In Mp XIV 1, 228 wiederum folgt – mit etwas mehr Korrekturen – der spätere Drucktext 217, 22–218, 20 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,228). Es fehlt in Mp XIV 1 eine ‚Reinschrift‘ für den späteren Drucktext 216, 29–217, 22, namentlich also jener Passage, die sich mit der „M ö g l i c h k e i t d e s p h i l o s o p h i s c h e n L e b e n s“ (217, 4 f.) explizit auseinandersetzt. In seiner Genese scheint sich Abschnitt MA I 261 aus verschiedenen Quellen gespeist zu haben. So werden die verschiedenen Themen in unterschiedlichen Nachlassnotaten des Jahres 1875 angesprochen. Zunächst gibt es Aufzeichnungen, die auf eine zu schreibende (Philosophie-)Geschichte der griechischen Antike reflektieren und welche Wegmarken sie setzen müsste: „Es giebt auch eine Art, diese Geschichte zu erzählen, i r o n i s c h und v o l l T r a u e r. Ich will jedenfalls den ernsthaftgleichmässigen Ton vermeiden. / Socrates w i r f t das G a n z e u m, in einem Augenblick, wo es sich der Wahrheit noch am m e i s t e n genähert hatte; das ist besonders i r o n i s c h. / Alles auf dem Hintergrund des Mythos aufzumalen. Dessen grenzenlose Unsicherheit und Wogen. Man sehnt sich nach Sicherem. / Nur wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben des Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben sich diese Philosophen des Mythus; also wie halten sie es in dieser Düsterkeit aus? – / Das Individuum, welches a u f s i c h s e l b s t stehen will. D a b r a u c h t e s l e t z t e E r k e n n t n i s s e, Philosophie. Die andern Menschen brauchen langsam anwachsende Wissenschaft. / Oder vielmehr: es ist ein Glaube nöthig, solche letzte Erkenntnisse zu besitzen. Einen solchen Grad von Gläubigkeit für das eigene Erkennen wird es nie wieder geben, wie ihn jene alten Griechen besaßen: aber die Schwierigkeit und Gefahr des Erkennens stand ihnen noch nicht vor der Seele; sie hatten einen handfesten Glauben an sich, mit dem sie alle ihre Nachbarn und Vorgänger niederwarfen. Das Glück im Besitz der Wahrheit war nie größer auf der Welt, aber auch nie die Härte, der Übermuth, das T y r a n n i s c h e. In seinen geheimen Wünschen war jeder Grieche Tyrann; und überhaupt jeder war es, der es sein konnte, vielleicht mit Ausnahme des Solon, nach seinen eigenen Gedichten zu schließen. / Auch die Unabhängigkeit ist nur scheinbar: zuletzt knüpft jeder an seinen Vorgänger an. Phantasma an Phantasma. Es ist komisch, alles so ernst zu nehmen. / Die ganze ältere Philosophie als curioser I r r g a r t e n-Gang der Ver-
616
Menschliches, Allzumenschliches I
nunft. Es ist eine Traum- und Märchentonart anzustimmen.“ (NL 1875, KSA 8, 6[7], 99, 6–100, 8) Die verheerende Schlüsselrolle des Sokrates wird in NL 1875, KSA 8, 6[23], 106, 22–107, 7 thematisiert, wo die Frage der „Lebensform“ ins Zentrum rückt: „In der ganzen Welt herrscht die A l l m ä h l i c h k e i t, bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber auch furchtbar schnell abwärts. Als der hellenische Genius seine höchsten Typen erschöpft hatte, da sank der Grieche auf das Geschwindeste. Es musste nur einmal eine Unterbrechung eintreten, und die grosse Lebensform nicht mehr ausgefüllt werden: sofort war es vorbei; gerade wie bei der Tragödie. Ein einziger mächtiger Querkopf wie Socrates – da war der Riss unheilbar. In ihm vollzieht sich die Selbstzerstörung der Griechen. Ich glaube, es macht, dass er der Sohn eines Bildhauers war. / Wenn einmal diese bildenden Künste reden würden, sie würden uns oberflächlich erscheinen; in Socrates, dem Sohne des Bildhauers, kam ihre Oberflächlichkeit heraus.“ NL 1875, KSA 8, 6[27], 108, 11–109, 4 behält das Allmählichkeitsmotiv bei, verschiebt aber den Fokus aufs Militärisch-Politische: „Ich glaube nicht mehr an die ‚n a t u r g e m ä s s e E n t w i c k l u n g‘ der Griechen: sie waren viel zu begabt, um in jener schrittweisen Manier, a l l m ä h l i c h zu sein, wie es der Stein und die Dummheit sind. Die Perserkriege sind das nationale Unglück: der Erfolg war zu gross, alle schlimmen Triebe brachen heraus, das tyrannische Gelüst ganz Hellas zu beherrschen wandelte einzelne Männer und einzelne Städte an. Mit der Herrschaft von Athen (auf geistigem Gebiete) sind eine Menge Kräfte erdrückt worden; man denke nur, wie unproductiv Athen für Philosophie lange Zeit war. Pindar wäre als Athener nicht möglich gewesen. Simonides zeigt es. Und Empedocles wäre es auch nicht, Heraclit nicht. Alle grossen Musiker kommen fast von Aussen. Die athenische Tragödie ist nicht die höchste Form, die man denken könnte. Den Helden derselben fehlt doch das Pindarische gar zu sehr. Überhaupt: wie grässlich war es, dass der Kampf gerade zwischen S p a r t a und A t h e n ausbrechen musste – das kann gar nicht tief genug betrachtet werden. D i e g e i s t i g e H e r r s c h a f t A t h e n s w a r d i e V e r h i n d e r u n g j e n e r R e f o r m a t i o n. Man muss sich einmal dahinein denken, wo diese Herrschaft noch gar nicht da war: nothwendig war sie nicht, sie wurde es erst in Folge der Perserkriege, d. h. erst, nachdem es die physische politische Macht zeigte. Milet war z. B. viel begabter, Agrigent auch.“ Und das „Tyrannische“ kommt gleich anschließend in NL 1875, KSA 8, 6[28], 109, 5–17 zum Tragen: „Der Tyrann, der thun kann wozu er Lust hat, d. h. der Grieche, der durch keine Gewalt in Schranken gehalten wird, ist ein ganz maassloses Wesen: ‚er stürzt die Gebräuche des Vaterlands um, thut den Weibern Gewalt an und tödtet Menschen nach Willkür‘. Ebenso zügellos ist der tyrannische Freigeist, vor dem die Griechen ebenfalls Angst haben. Königshass – Zeichen der demokratischen Gesinnung. Ich glaube: die Reformation wäre möglich gewesen, wenn ein Tyrann ein Empedocles gewesen wäre. / Plato sprach mit seiner Forderung des Philoso-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 261, KSA 2, S. 214–215
617
phen auf dem Throne einen ehemals m ö g l i c h e n G e d a n k e n aus: er fand den Einfall, nachdem die Zeit, ihn zu verwirklichen, vorüber war. Periander?“ Schließlich sieht es für die „Tyrannen des Geistes“ nicht gut aus, jedenfalls nicht am Lebensende, will man NL 1875, KSA 8, 6[47], 114, 21–115, 11 glauben, das mit praktischen Folgerungen für Gegenwart und Zukunft aufwartet: „Versuch einer Volkscultur. / Verschwendung des kostbarsten Griechen g e i s t e s und Griechen b l u t e s! Daran ist zu zeigen, wie die Menschen viel b e s o n n e n e r leben lernen müssen. Die Tyrannen des Geistes in Griechenland sind fast immer ermordet worden, und haben nur spärliche Nachkommenschaft gehabt. Andre Zeiten haben ihre Kraft gezeigt im zu Ende Denken und im alle Möglichkeiten Verfolgen Eines grossen Gedankens: die christlichen z. B. Aber bei den Griechen war diese Übermacht zu erlangen sehr schwer; alles war da in Feindschaft unter einander. Stadtcultur allein bis jetzt b e w i e s e n – jetzt noch leben wir davon. / Stadt-cultur / Weltcultur / Volks-cultur: wie schwach bei den Griechen, eigentlich doch / nur die athenische Stadtcultur, verblasst.“ Einen Ausblick auf Volkskulturen, seien es vergangene, seien es künftige, versagt sich MA I 261 dann ganz. Zur Veränderung des Bildes der Vorsokratik in MA I 261 siehe z. B. Kissel 2021, 126–128, zu MA I 261 insgesamt Venturelli 2003, 55, Enrico Müller 2005, 166 f. u. Stegmaier 2022, 268 f. 214, 27–29 Nur wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es düster.] Den Mythos mit Licht zu assoziieren, und damit zu unterstellen, dass der Logos, die Vernunft finster sei, kehrt die landläufige Entwicklungserwartung vom Mythos zum Logos um und konterkariert die Selbstwahrnehmung der Philosophen als Lichtbringer (vgl. 214, 29–215, 6). In GT hatte N. den Mythosbegriff breit entfaltet und ihm tiefere, dionysische Wahrheit zugesprochen. Zur Lichtmetaphorik in MA I 261 siehe Bertino 2015. 215, 1 f. wollten? Aber] Im Druckmanuskript D 11, 126 folgte nach „wollten“ ursprünglich ein Doppelpunkt statt ein Fragezeichen sowie der schließlich gestrichene Halbsatz: „wie hielten sie es in dieser Düsterkeit aus?“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,126) So lautete auch der Text in Mp XIV 1, 246. 215, 2 Aber keine Pflanze geht dem Lichte aus dem Wege] Melchtal skandiert in Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, 1. Aufzug, 4. Szene: „Alle Wesen leben / Vom Lichte, jedes glückliche Geschöpf – / Die Pflanze selbst kehrt freudig sich zum Lichte.“ Von Joseph Priestley und Jan Ingenhousz bis Julius von Sachs reicht im 18. und 19. Jahrhundert die Forschungsgeschichte dessen, was man dann Photosynthese nennen sollte. 215, 6–8 Damals aber hatte die Erkenntniss noch einen grösseren Glanz; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade] Vgl. MA I 257, KSA 2, 212.
618
Menschliches, Allzumenschliches I
215, 8 ihrer Pfade; sie] Im Druckmanuskript D 11, 126 stand vor der Korrektur ursprünglich: „des Denkers; man“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11, 126). So lautete auch der Text in Mp XIV 1, 246. 215, 8–11 sie konnte damals noch hoffen, mit einem einzigen Sprung an den Mittelpunct alles Seins zu kommen und von dort aus das Räthsel der Welt zu lösen.] Über „Welträthsel“ wurde in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts gern gesprochen; etwa bei Schopenhauer 1873–1874, 3, 206 konnte N. lesen, dass „die wirkliche, positive Lösung des Räthsels der Welt etwas seyn“ müsse, „das der menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig unfähig ist“. Vgl. zur Begriffsgeschichte ausführlich NK KSA 3, 594, 18. 215, 19–23 Vielleicht macht nur Solon eine Ausnahme; in seinen Gedichten sagt er es, wie er die persönliche Tyrannis verschmäht habe. Aber er that es aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung; und Gesetzgeber sein ist eine sublimirtere Form des Tyrannenthums] Plutarch: Vita Solonis, Kapitel 14 schildert diese Verzichtsbereitschaft Solons und zitiert aus den sonst nicht überlieferten Gedichten (Plutarch 1840, 34–37). In N.s Spätwerk wird dann die Idee, dass Philosophen auch künftig Gesetzgeber sein sollen, sehr stark artikuliert, vgl. z. B. NK 5/1, S. 557–560 u. 593–597. 215, 23 f. Auch Parmenides gab Gesetze, wohl auch Pythagoras und Empedokles] Über die Gesetzgeberrolle, die Parmenides übernommen haben soll, berichten z. B. Diogenes Laertius: De vitis IX 23 und Plutarch: Adversus Colotem 32, über Pythagoras Diodor: Bibliotheca historica XII 9 und Polybios: Historien II, 39 (vgl. auch Rohde 1871) sowie über Empedokles Diogenes Laertius: De vitis VIII 64–66 (vgl. auch Söring 1990, 187). 215, 24 f. Anaximander gründete eine Stadt.] Nach Claudius Aelianus: Varia historia III 17 seien Philosophie und politische Tätigkeit keineswegs unvereinbar; in einer Aufzählung wird auch Anaximander genannt, der die milesische Kolonie in Apollonia habe begründen sollen („καὶ Ἀναξίμανδρος δὲ ἡγήσατο τῆς ἐς Ἀπολλωνίαν ἐκ Μιλήτου ἀποικίας“). 215, 31–216, 1 als erst die verschiedenen Secten ihre Wahrheiten auf den Strassen verfochten, da waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und Geifersucht völlig verschlammt, das tyrannische Element wüthete jetzt als Gift in ihrem Körper] Von philosophischen Schulen als „Sekten“, „sectae“ zu sprechen, war in der frühneuzeitlichen und aufklärerischen Philosophiegeschichtsschreibung, wie man etwa am Beispiel von Johann Jakob Bruckers Historia critica philosophiae a mundi incunabulis ad nostram usque aetatem deducta (zuerst 1742– 1744) ersehen kann, weder ungewöhnlich noch abwertend, sondern folgte dem spätantiken Wortgebrauch, der sich vom Verb „sequi“ für „folgen“ herleitet. Wenn
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 261, KSA 2, S. 215–216
619
MA I 261 von „Secten“ spricht und damit die miteinander konkurrierenden Schulen wie die Akademiker, Peripatetiker, Stoiker, Epikureer und Skeptiker meint, ist aber der pejorative Klang unüberhörbar. Zur Fügung „Freier der Wahrheit“ siehe NK KSA 4, 371, 22 f. u. NK KSA 6, 377, 16 f.; in MA I 635, KSA 2, 361, 16–20 tritt dann ein „Genie“ auf, das ein „Freier“ der „Wahrheit“ zu sein vorgibt, jedoch ihr „Feind“ sei. 216, 1 f. Diese vielen kleinen Tyrannen hätten sich roh fressen mögen] Vom Kyniker Diogenes von Sinope berichtet Diogenes Laertius: De vitis VI 34, er habe rohes Fleisch zu essen versucht, es aber nicht verdauen können – in VI 76 heißt es dann, er habe sich womöglich durch den Verzehr von rohem Tintenfisch tödlich vergiftet. 216, 4–7 Ueberhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen meistens ermordet werden und dass ihre Nachkommenschaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des Geistes. Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung bricht plötzlich ab.] Vgl. NL 1875, KSA 8, 5[7], 42, 16 f.: „Auch die Tyrannen des Geistes sind fast immer ermordet worden und haben nur spärliche Nachkommenschaft.“ Ausführlicher dazu NL 1875, KSA 8, 6[47], 114 f., zitiert in NK ÜK MA I 261. Der „Satz“, dass Tyrannen meist ermordet wurden, wurde in Xenonophon: Hieron III 8 klassisch formuliert: „εἰ τοίνυν ἐθέλεις κατανοεῖν, εὑρήσεις τοὺς μὲν ἰδιώτας ὑπὸ τούτων μάλιστα φιλουμένους, τοὺς δὲ τυράννους πολλοὺς μὲν παῖδας ἑαυτῶν ἀπεκτονότας, πολλοὺς δ᾽ ὑπὸ παίδων αὐτοὺς ἀπολωλότας, πολλοὺς δὲ ἀδελφοὺς ἐν τυραννίσιν ἀλληλοφόνους γεγενημένους, πολλοὺς δὲ καὶ ὑπὸ γυναικῶν τῶν ἑαυτῶν τυράννους διεφθαρμένους καὶ ὑπὸ ἑταίρων γε τῶν μάλιστα δοκούντων φίλων εἶναι.“ Die Übersetzung, in N.s Bibliothek macht aus den „Tyrannen“ des Originals einfache „Herrscher“: „Willst du nun näher zusehen, so wirst du finden, daß im bürgerlichen Leben eben in diesen Verhältnissen die größeste Innigkeit herrscht; daß dagegen viele Herrscher ihre eigenen Kinder umgebracht haben, viele von ihren Kindern umgebracht worden sind, daß viele Brüder über die Herrschaft sich gegenseitig ermordet haben, daß viele Herrscher sogar von ihren eigenen Frauen verrathen worden sind und auch von Günstlingen, die für ihre besten Freunde galten.“ (Xenophon 1869, 54) 216, 7–11 Fast von allen grossen Hellenen kann man sagen, dass sie zu spät gekommen scheinen, so von Aeschylus, von Pindar, von Demosthenes, von Thukydides; ein Geschlecht nach ihnen – und dann ist es immer völlig vorbei.] Die Genannten sind keine Philosophen, aber nach 215, 17 f. wollte eigentlich jeder Grieche Tyrann sein, was offensichtlich auch für Dichter und Historiker gilt, deren unmittelbare Wirkung entsprechend tyrannisch kurz gewesen sei. In 216, 7–11 weitet sich der Horizont von der Philosophie-, genauer: Philosophengeschichte auf die griechische Geschichte im Allgemeinen.
620
Menschliches, Allzumenschliches I
216, 12–15 Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der Schildkröte. Geschichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu allen Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht worden wäre: „möglichst wenig in möglichst langer Zeit!“] Nach „Schildkröte“ wurde im Druckmanuskript D 11, 126 gestrichen: „: immer langsam voran“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,126). So lautete auch der Text in Mp XIV 1, 247a. Vgl. NL 1875, KSA 8, 6[43], 114, 1–6: „Man bewundert jetzt das Evangelium der Schildkröte – ach, die Griechen liefen zu rasch. Ich suche nicht nach glücklichen Zeiten in der Geschichte, aber nach solchen, welche einen günstigen Boden für die E r z e u g u n g des Genius bieten. Da finde ich die Zeiten vor den Perserkriegen. Man kann sie nicht genau genug kennen lernen.“ Zum Motiv siehe ausführlich NK KSA 3, 432, 8–10; im Hintergrund steht das berühmte Paradox vom Wettrennen zwischen Achill und der Schildkröte, auf das MA I 261 gleich zu sprechen kommt, siehe NK 216, 21 f. 216, 16 rasch!] Statt einem Ausrufezeichen wie in KSA u. KGW steht in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 218), im Druckmanuskript D 11, 126, in der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 247a sowie in den Handexemplaren ein Punkt. KSA u. KGW folgen ohne Erläuterung der GoA. 216, 21 f. wie es die Schildkröte im Wettlauf mit Achilles ist] Im Druckmanuskript D 11, 126 korrigiert aus: „wie es der Stein und die Dummheit ist“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,126; die gestrichene Formulierung findet sich schon in NL 1875, KSA 8, 6[27], 108, 13 f.). Zur Schildkröte vgl. NK 216, 12–15. Gemeint ist in 216, 21 f. das Zenon von Elea zugeschriebene Paradox, wonach es Achill nicht gelänge, eine Schildkröte einzuholen, wenn man ihr anfangs einen Vorsprung gewähre, vgl. Aristoteles: Physik VI 9, 239b14–240a18. N. bemüht das Beispiel gelegentlich, vgl. CV 5, KSA 1, 790, 6–8 u. PHG 12, KSA 1, 848, 8–17. 216, 23–29 Bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber eben so schnell abwärts; die Bewegung der ganzen Maschine ist so gesteigert, dass ein einziger Stein, in ihre Räder geworfen, sie zerspringen macht. Ein solcher Stein war zum Beispiel Sokrates; in einer Nacht war die bis dahin so wunderbar regelmässige, aber freilich allzu schleunige Entwickelung der philosophischen Wissenschaft zerstört.] Die Passage 216, 27–29 „in einer Nacht […] zerstört“ wurde im Druckmanuskript D 11, 127 korrigiert aus: „über Nacht waren die philosophirenden Griechen damals tödtlich erkrankt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,127). Die polemische Wendung gegen Sokrates verschleiert, worin genau dessen Zerstörungswerk bestanden hat – im Unterschied zu GT, wo Sokrates selbst für optimistische Wissenschaft stand, die das Tragische vernichtet habe. Das bleibt in MA I 261 außer Betracht, es bleibt aber die Verunglimpfung des Sokrates. Alle anderen Kollegen waren gemäß diesem Abschnitt ja ebenfalls Geistestyrannen und gelten doch nicht als Steine im Getriebe, sondern als Beispiel für das überhitzte Getriebe selbst.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 261, KSA 2, S. 216–217
621
Die Fügung „philosophische Wissenschaft“ kommt in MA I sonst nur noch in Abschnitt 27 vor, siehe NK 48, 21–26. 217, 1–20 als es selber hervorgebracht hat; aber es blieb bei dem Verheissen und Ankündigen. Und doch giebt es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus’, einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten M ö g l i c h k e i t d e s p h i l o s o p h i s c h e n L e b e n s. Selbst von den älteren Typen sind die meisten schlecht überliefert; es scheinen mir alle Philosophen von Thales bis Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar; wem es aber gelingt, diese Gestalten nachzuschaffen, der wandelt unter Gebilden von mächtigstem und reinstem Typus. Diese Fähigkeit ist freilich selten, sie fehlte selbst den späteren Griechen, welche sich mit der Kunde der älteren Philosophie befassten; Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht. Und so scheint es, als ob diese herrlichen Philosophen umsonst gelebt hätten oder als ob sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der sokratischen Schulen hätten vorbereiten sollen. Es ist hier, wie gesagt, eine Lücke, ein Bruch in der Entwickelung; irgend ein grosses Unglück muss geschehen sein und die einzige Statue, an welcher man Sinn und Zweck jener grossen bildnerischen Vorübung erkannt haben würde] Im Druckmanuskript D 11, 127 korrigiert aus: „als es erfüllt hat; immer schnitt die Schere dazwischen. Und doch giebt es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus’, einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten Möglichkeit des ˹philosophischen˺ Lebens. Selbst von den älteren Typen sind die meisten schlecht überliefert, schwer lesbar, so scheinen mir alle Philosophen von Thales bis Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar; aber ich spüre einen Reichthum der eigenartigsten und schönsten Typen, von denen die Griechen später das Beste vergessen haben. Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht; ihm fehlt in fast räthselhafter Weise der Sinn für grosse und polyphone Naturen. Und so scheint es, als ob diese herrlichen Philosophen umsonst gelebt hätten oder als ob sie gar nur das streit- und redelustige Völkchen von Stoikern und Epikureern vorbereiten sollten. Es ist hier eine Lücke, irgendwo ein grosses geschah und die einzige Figur, an welcher man Sinn und Zweck jener Männer erkannt haben würde zerbrach oder misslang: was eigentlich geschah, ist ein Geheimniss der Werkstätte geblieben. –“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,127) Offen lässt der Drucktext, warum man überhaupt an der Möglichkeit eines philosophischen Lebens noch interessiert sein sollte, nachdem der Eingang von MA I 261 doch eigentlich die Philosophie mit ihrer Abkehr vom Mythos eher als einen Betriebsunfall der griechischen Geschichte hatte erscheinen lassen. Steht für diese „Möglichkeit“ immer noch eine tyrannische oder wenigstens eine oligarchische Option im Raum? N. führt später in Za und JGB mit dem gesetzgebenden Philosophen der Zukunft diese Idee aus MA I 261 weiter aus: In Ermangelung
622
Menschliches, Allzumenschliches I
eines noch gesetzgeberisch wirkmächtigen Philosophen der Vergangenheit muss dann (mindestens) einer für die Zukunft erschaffen werden? 217, 12–14 Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht] Aristoteles behandelt beispielsweise in seiner Metaphysik I 4–10 die vorsokratischen „Naturphilosophen“ als Stichwortgeber für sein Konzept der vier Ursachen, interessierte sich aber nicht für die von ihnen repräsentierten Philosophen-Typen. 217, 31 f. Denn im Ganzen redet jetzt die Gegenlehre und die Skepsis zu mächtig, zu laut.] Vgl. allgemein Berry 2011 u. Sommer 2018a. 217, 33–218, 7 In den Sphären der höheren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben müssen, – aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den Händen der O l i g a r c h e n d e s G e i s t e s. Sie bilden, trotz aller räumlichen und politischen Trennung, eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich e r k e n n e n und a n e r k e n n e n, was auch die öffentliche Meinung und die Urtheile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller für Schätzungen der Gunst oder Abgunst in Umlauf bringen mögen.] Statt „Gunst oder Abgunst“ stand in Mp XIV 1, 228: „Gunst u. Abgunst“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,228). Von einer „Oligarchie des Geistes“ ist in der populärwissenschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts durchaus öfter schon die Rede, namentlich im Hinblick auf den Bund der Pythagoräer: „Die politische Tendenz des Bundes ging darauf hinaus, eine aristokratische Regierungsform in dem oben bezeichneten Sinne, als eine Oligarchie des Geistes (Herrschaft Weniger und zwar der Weisesten und Besten) zu begründen.“ ([Noack] 1851, 36) Eher unfreiwillig komisch wirkt die in 217, 33– 218, 7 angedeutete Vorstellung von den Geistesheroen, die sich irgendwie in einer säkularen, unsichtbaren (Atheisten-)Kirche zusammenfinden, aber für ihresgleichen auf wundersame Weise sichtbar, erkennbar sind – ungeachtet der zahllosen geistesgeschichtlichen Gegenbeispiele der Nicht-Anerkennung von Ebenbürtigkeit. Nicht minder seltsam klingt der Seitenhieb gegen das Presse(un)wesen, das in Wahrheit wiederum N.s Hauptquelle für sein Wissen um andere zeitgenössische Geistesheroen war, die mit ihm zur Zeit von MA I – Ausnahmen: Jacob Burckhardt und Gottfried Keller – größtenteils nicht in Kontakt standen. Von der Bindung, die 218, 7–9 beschwört, kann im späten 19. Jahrhundert wissenssoziologisch wohl kaum die Rede sein, vielmehr herrschte ein weltanschaulich-philosophisches Sektenwesen wie schon im Hellenismus und im Römischen Reich. 218, 13 f. den ochlokratischen Charakter] „Ochlokratie“ ist die „Pöbelherrschaft“, „ochlokratisch“ „pöbelherrisch“, „pöbelherrschend“ (Petri 1861, 538). 218, 15 Massenwirkung] Vgl. NK 314, 15 f.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 261–262, KSA 2, S. 217–218
623
218, 18–20 – aber trotzdem ist ein Jeder von ihnen frei, er kämpft und siegt an s e i n e r Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen.] Hier scheint – auch im Gestus der Unterwerfungsverweigerung – Ferdinand Freiligraths berühmtes Gedicht Trotz alledem (1843/48) anzuklingen.
262. Zwar sei – und damit bewegt sich MA I 262 scheinbar im Fahrwasser des im 19. Jahrhundert landläufigen Philhellenismus – Homer sehr früh in ganz Griechenland herrschend geworden und habe so die Freiheit befördert. Zugleich aber – und hiermit rückt der Sprecher vom philhellenischen Konsens ab – habe er auch verhängnisvoll, nämlich zentralisierend und verflachend auf die „griechische[.] Bildung“ (218, 26) gewirkt. Große geistige Mächte seien eben gleichermaßen befreiend wie unterdrückend – „freilich ist es ein Unterschied, ob Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die Menschen tyrannisiren“ (218, 32–219, 2). MA I 261 sagt, dass die geistigen Tyrannen gleich wieder abdanken oder unsanft das Zeitliche segnen wie alle Tyrannen. Homer aber ist nach MA I 262 dominant geworden und geblieben. Ob er überhaupt eine Person oder doch eher eine Projektion ist, diskutiert N. in seiner Basler Antrittsvorlesung, die 1869 unter dem Titel Homer und die klassische Philologie als Privatdruck erschienen ist. Dort entwirft er anhand von Homer das Programm einer neuen, sich ins Philosophische transformierenden Philologie als Universal- und Leitwissenschaft (vgl. eingehend Sommer 1997, 18–29 sowie mit Akzent auf der Schopenhauer-Rezeption Apollonio 2022), problematisiert die kulturelle Dominanz von Homer aber noch nicht. Zu MA I 262 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von Köselitz’ Hand in M I 1, 83–84, also im Diktatmanuskript der Pflugschar (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,83 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,84). In der Aufzeichnung NL 1875, KSA 8, 5[146], 77, 23–79, 22 wird unter dem Titel „K r i t i k d e r E n t w i c k l u n g“ (77, 23) gegen die „[f]alsche Annahme einer n a t u r g e m ä s s e n Entwicklung“ (77, 24; vgl. MA I 261, KSA 2, 216, 17–29) agitiert und da u. a. die Homerfrage aufgegriffen: „Die grösste Thatsache bleibt immer der frühzeitig p a n h e l l e n i s c h e Homer. Alles Gute stammt doch von ihm her: aber zugleich ist er die gewaltigste Schranke geblieben, die es gab. Er v e r f l a c h t e, und deshalb kämpften die Ernstern so gegen ihn, umsonst. Homer siegte immer. / Das U n t e r d r ü c k e n d e der grossen geistigen Mächte ist auch hier sichtbar, aber welcher Unterschied: Homer oder eine Bibel als solche Macht!“ (KSA 8, 78, 24–31) Zur Interpretation von MA I 262 siehe z. B. Enrico Müller 2005, 167 u. Zhavoronkov 2021, 59 f. 218, 22–24 Die grösste Thatsache in der griechischen Bildung bleibt doch die, dass Homer so frühzeitig panhellenisch wurde.] Dem Begriff des „Panhellenischen“ –
624
Menschliches, Allzumenschliches I
„panhellenisch“ heißt „gesamtgriechisch“, „alle Griechen betreffend“ – ist N. spätestens als Student in der Leipziger Vorlesung zur Geschichte der griechischen Literatur im Wintersemester 1865/66 bei Georg Curtius begegnet, von der die Kollegnachschrift von N.s Hand erhalten ist (C III 1a, Wintersemester 1865/66). Dort heißt es über die griechische Frühzeit: „Nach ihrem [sc. der Italiker] Ausscheiden haben die Griechen wahrscheinlich noch längere Zeit in Nähe der persischen Stämme gewohnt. Diese Zeit können wir die Panhellenische nennen. Wir müssen sie für sehr bedeutend halten, denn alles gemeinsam〈e〉 wurzelt in ihr“ (C III 1a, 16, zitiert nach Figl 2007b, 199). Das findet dann unmittelbar Eingang in N.s eigene Vorlesung zur Encyclopaedie der klass. Philologie von 1871: „Dann eine panhellenische Periode, Ungeschiedenheit der Stämme. Nahe Berührung mit den herumwohnenden Barbaren“ (KGW II 3, 428, 32–34). Gegenüber solchen Behauptungen wächst dann bei N. allmählich die Skepsis; jedenfalls heißt es in der Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈I u. II〉 von 1874/75: „Die älteste, panhellenische Periode, wo die gesammten Stämme noch ein ungetrenntes Ganze bildeten, ist uns ganz unbekannt. Wir beginnen also mit der Periode der S p a l t u n g i n M u n d a r t e n.“ (KGW II 5, 9, 24–27) Im geschichtlichen Gang haben sich die einzelnen Poleis ausdifferenziert, ihre eigene Sprache und Kultur entwickelt. Da konnten dann Homer und der Rekurs auf ihn vereinigend wirken. Und genau die These von MA I 262 scheint auch schon in N.s Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈III〉 vom Wintersemester 1875/1876 auf: „Das, was die Sitten u. Anschauungen der Hellenen unter sich a n n ä h e r t e, war auch das, was die starre Eigenthümlichkeit jeder πόλις b r a c h. Insofern ist die allgemeine Verehrung für Homer die tiefste Erschütterung der s t ä d t i s c h e n exklusiven Religiösität“. Und als Marginalie steht dazu am Rand: „Der frühe panhellen. Homer“ (KGW II 5, 298, 26–30). In NL 1875, KSA 8, 5[101], 66, 23 f. wird resümiert: „Homer, in der Welt der hellenischen Zwietracht, der panhellenische Grieche.“ 218, 24 f. welche die Griechen] In M I 1, 83 stattdessen: „die die Griechen“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,83). 218, 28–30 Von Zeit zu Zeit erhob sich aus dem tiefsten Grunde des Hellenischen der Widerspruch gegen Homer] In NL 1875, KSA 8, 6[18], 104, 27 f. wird der „Kampf des Heraclit gegen Homer und Hesiod“ erwähnt. Heraklit wollte Homer aus den musischen Wettkämpfen verbannen und verprügeln (Diels/Kranz 1959–1960, 22 B 42). Schon Xenophanes hatte sich gegen Homers Dominanz gewandt – und Platons Fundamentalkritik an Homer als dem repräsentativen (lügnerischen) Dichter im 10. Buch der Politeia ist notorisch (zur Übersicht noch immer Weinstock 1927 u. Gerhard Müller 1975). 218, 32–219, 2 aber freilich ist es ein Unterschied, ob Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die Menschen tyrannisiren] In M I 1, 84 stattdessen: „aber freilich
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 262–263, KSA 2, S. 218–219
625
ist es ein Unterschied, ob Homer, oder die Bibel und Aristoteles die Menschen tyrannisiren“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,84).
263. Der Gedanke, dass jeder „Zugang zu vielen Talenten“ (219, 5 f.) habe, ja sogar „a n g e b o r e n e s T a l e n t“ (219, 6), wird in MA I 263 nicht als zeitlose Wahrheit deklariert. Vielmehr sei dieser Zugang Zeichen einer hohen Entwicklungsstufe, wie sie die Menschheit gegenwärtig erreicht habe. Im Umkehrschluss würde das, ohne dass der Abschnitt das ausführt, bedeuten, dass in früheren Phasen der Geschichte den Menschen dieser Zugang verschlossen geblieben ist – in einer schriftlosen Kultur wäre schriftstellerisches Talent vergebens, in einer Kultur, die musikalische Innovation verachtet, ebenso kompositorisches Talent. Die Genese und Realisierung von Begabung wären demnach durch und durch historisch bedingt. Aber schon der zweite Satz macht deutlich, dass die Ausstattung mit Talent durch Zugang oder Geburt noch nicht dafür sorgt, dass jemand das Potential auch realisiert – das sei nur möglich, wenn jemand auch mit „Zähigkeit, Ausdauer, Energie“ (219, 7 f.) versehen ist, um so zu werden, was er ist, nämlich jemand, der nicht nur Talent hat, sondern ein Talent ist und Bedeutsames hervorbringt. Wieso soll in der jetzigen „hoch entwickelten Menschheit“ das Talent eine Eigenschaft sein, zu der jeder „von Natur“ Zugang habe, aber „Zähigkeit“ etc. „nur Wenigen“ angeboren? MA I 263 klingt sehr nach klassischer bürgerlicher Moral, die nach Jesu Gleichnis von den anvertrauten Talenten (dort ist noch eine erhebliche Geldsumme gemeint, siehe Matthäus 25,14–30 u. Lukas 19,12–27) diese nicht zu verstecken, sondern zu mehren heißt. Es fehlt die überraschende, pointierte Wendung. Zu MA I 263 gibt es in Mp XIV 1, 100 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „A“ und vier blauen Strichen, wie üblich noch ohne den späteren Titel (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,100). Vgl. zur Interpretation von MA I 263 Brusotti 2021, 201, Fn. 61 u. Quérini 2023a, 243. Dass die Vielfalt der Talente auch ein Problem sein kann, spricht MA I 560, KSA 2, 332 an. 219, 9 also w i r d, was er i s t] Später wird N. seiner Autogenealogie Ecce homo den Untertitel geben: Wie man wird, was man ist, vgl. dazu NK KSA 6, 255, 2. Er spielt dort wie hier in 219, 9 mit einer berühmten Zeile aus Pindar: Pythische Oden II, 72: „γένοι’ οἵος ἐσσὶ μαθών“ („werde der, der du bist“).
626
Menschliches, Allzumenschliches I
264. MA I 264 inszeniert einen Gegensatz zwischen „Geistreichen“ (219, 25) und „wissenschaftlichen Naturen“ (219, 19): Erstere seien zwar für begabte, aber zugleich unwissenschaftliche Gesprächspartner eine Quelle des Ansporns und ein Mittel gegen die „Langenweile“ (219, 18), während der Wissenschaftler den Geist in strenge Zucht nehmen wolle und jedes Ausscheren aus den Bahnen der wohlgeordneten Forschung nach „dem Wirklichen, Haltbaren, Aechten“ (219, 27 f.) verunglimpfe, so dass oft „unbedeutende[.] Gelehrte[.]“ (219, 28 f.) die Geistreichen in Bausch und Bogen verurteilten, während „Künstler“ (220, 2) – die offenbar prototypisch für jene begabten, aber unwissenschaftlichen Naturen stehen – der Wissenschaft feindlich gesonnen seien. Zu MA I 264 gibt es in Mp XIV 1, 94 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „A“ und einigen Korrekturen, wie üblich noch ohne den späteren Titel (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,94). Vivarelli 1994a, 99 sieht in MA I 264 einen Bezug zu Montaigne 1753–1754, 3, 52, wo dieser über die geistreiche, aber unwissenschaftliche Unterhaltung spricht. 219, 22–24 die oft unscheinbare Wahrheit ist die Frucht, welche er vom Baum der Erkenntniss zu schütteln wünscht] In Mp XIV 1, 94 korrigiert aus: „die oft unscheinbare Wahrheit ist das Weib, um das er freit“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,94). Ursprünglich war hier also das Motiv der umworbenen Wahrheit aufgerufen worden, vgl. NK 212, 18–21, während die Fassung letzter Hand mit dem „Baum der Erkenntniss“, der nach 1. Mose 2, 9 neben dem Lebensbaum im Paradies stand und dessen Früchte zu essen Gott Adam und Eva untersagt hatte (1. Mose 2, 17), andere Assoziationshorizonte aufreißt, nämlich zunächst den, dass Wissenschaft gegen die Religion und ihre Verbote steht (bekanntlich hat sich das Urelternpaar auch über Gottes Verbot hinweggesetzt), zugleich aber auch den, dass Erkennen etwas Diabolisch-Anrüchiges hat, jedenfalls aus der Sicht der Autorität. Die „unscheinbare Wahrheit“ von MA I 264 hatte bereits in MA I 3, KSA 2, 25 f. einen prominenteren Auftritt. 219, 24 f. Er darf, wie Aristoteles, zwischen „Langweiligen“ und „Geistreichen“ keinen Unterschied machen] Aristoteles’ Interesse deckte bekanntlich sämtliche Bereiche des Wissens ab – er hat nicht danach gefragt, ob etwas oder jemand, dem er seine Aufmerksamkeit schenkte, „geistreich“ oder „langweilig“ ist. 220, 1 f. wie zum Beispiel fast alle Künstler] In Mp XIV 1, 94 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,94).
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 264–265, KSA 2, S. 219–220
627
265. MA I 265 gibt ein radikal rationalistisches pädagogisches Programm vor: Der Schule obliege es, folgerichtiges Denken, Schließen, Urteilen zu lehren und sie dürfe sich mit nichts abgeben, was – wie Religion – davon abführen könnte. Die Erschlaffung der denkerischen Anstrengung setze noch früh genug ein. Der zweite Teil des Abschnitts macht einen Kulturgegensatz zwischen Asien und Europa geltend: Letzteres habe „die Schule des consequenten und kritischen Denkens“ (220, 18 f.) absolviert, ersteres nicht und sei daher nicht imstande, Gründe für das anzugeben, was es für wahr halte. „Die Vernunft in der Schule hat Europa zu Europa gemacht“ (220, 23 f.). In die Anthologien postkolonialer Korrektheit finden Sätze wie dieser wohl kaum Eingang. Er behauptet eine spezifisch europäische, im Mittelalter bedrohte – da war Europa „auf dem Wege, wieder zu einem Stück und Anhängsel Asiens zu werden“ (220, 24 f.) –, einst von den Griechen initiierte Vernunftaffinität. Und tatsächlich scheint MA I 265 geschichtsphilosophische Stereotypen zu reproduzieren. Es handelt sich nicht um ein Zeugnis eigenen „strenge[n] Denken[s]“ (220, 5), sondern um eine ans Plagiatorische grenzende Paraphrase nach den Nachrichten über Leben und Schriften des Herrn Geheimraths Dr. Karl Ernst von Baer von 1865. Wo und wann N. dieses von Baer selbst verfasste Werk in die Hände gekommen ist, ist offen; es wird auch in MA I 266 Verwendung finden. Für Baers biologische Erkenntnisse hat sich N. andernorts interessiert, auch wenn er sie dort aus zweiter Hand übernimmt, siehe NK 65, 7–10. Zu MA I 265 gibt es in Mp XIV 1, 187 eine ‚Reinschrift‘ in brauner Tinte, die mit einer Abweichung am Schluss (siehe NK 220, 12–14) den späteren Drucktext 220, 4–12 noch ohne Titel umfasst und mit blauem „A“ markiert ist (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,187). Auf Blatt Mp XIV 1, 248 findet sich eine ‚Reinschrift‘ in schwarzer Tinte mit einigen Abweichungen des späteren Drucktextes 220, 14–25 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,248). Im Druckmanuskript D 11, 128 ist dieser auf Mp XIV 1, 248 beruhende zweite Teil mit einem zusätzlichen, angeklebten Blatt 128a ergänzt worden (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,128a). Der erste Teil des Abschnitts MA I 265 wird vorbereitet in NL 1877, KSA 8, 22[46], 387, 3–5: „Die Schule soll die grösste Freiheit im Rel〈igiösen〉 lehren, das nüchternste strenge Denken. Die Unklarheit und die gewohnten Neigungen werden sehr weite Grenzen ziehen.“ In Mp XIV 1, 367a hat N. notiert: „v. Bär Vernunft in der Schule“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,367a). Einen Ausgangsbefund für das rationalistische Schulprogramm von MA I 265 bietet etwa NL 1876/ 77, KSA 8, 23[43], 419, 15–27: „Die außerordentliche U n s i c h e r h e i t alles U n t e r r i c h t s w e s e n s hat darin ihren Grund, daß es kein gemeinsam anerkanntes Fundament mehr giebt, und daß jetzt weder Christenthum noch Alterthum noch
628
Menschliches, Allzumenschliches I
Naturwissenschaft noch Philosophie eine überstimmende und herrschende Macht haben. Man bewegt sich schwankend zwischen sehr verschiedenen Ansprüchen: zuletzt will gar noch der Nationalstaat eine ‚nationale‘ Kultur, um damit die Unklarheit auf den Gipfel zu bringen – denn national und Kultur sind Widersprüche. Selbst an den Universitäten, den Festungen der Wissenschaft, giebt es Leute, welche ü b e r der Wissenschaft noch als höhere Mächte Religion oder Metaphysik, mit der Heimlichkeit von Verräthern, anerkennen.“ 220, 4–8 Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht für diese Operationen tauglich sind] Auch der Beginn von MA I 265 – obwohl in der ‚Reinschrift‘ anders überliefert als der Passus 220, 14– 23, wo dann Karl Ernst von Baer ausdrücklich genannt wird – klingt bereits nach dessen Nachrichten über Leben und Schriften. Dort wird über den Zweck pädagogischer Anstrengungen nachgedacht: „Wir brauchen aber gar nicht so weit zurück zu gehen, um Menschen zu finden, welche Ueberzeugungen haben, von denen sie sich nicht bewusst sind, worauf sie sich gründen, ob auf ein folgerechtes Denken, auf nicht untersuchte Tradition, oder egoistische Wünsche; und andere Menschen, welche genau wissen, worauf ihre Ueberzeugungen sich gründen, die das Gebäude ihres Wissens von den ersten Grundlagen an aufbauen können. Bezeichnen wir nun die Fähigkeit des sichern Urtheils mit dem Worte Kritik, so sind die ersten von den besprochenen Personen unkritische, die andern kritische zu nennen. Die allgemeine Aufgabe einer guten Schule scheint nun darin zu bestehen, diese Kritik in uns zu entwickeln, indem sie bei jedem Unterrichtsstoffe auf die Basis zurückgeht, und nachweist, wie darauf folgerecht gewisse Lehren begründet sind“ (Baer 1865, 121). Entsprechend positioniert sich Baer entschieden gegen eine philanthropische Pädagogik (er verwahrt sich ausdrücklich gegen Johann Bernhard Basedow), die in der Schule eine ‚ganzheitliche‘ Förderung aller kindlichen Anlagen betreiben will: „Indem ich die wahre Aufgabe der Schule in der Einübung eines consequenten und kritischen Denkens suche, und die Ueberzeugung ausspreche, dass die Schule diese Tendenz in Europa früh entwickelt hat und dadurch vorzüglich die wissenschaftliche Bildung dieses Welttheils weit über die der andern erhoben ist, glaube ich schon zu erkennen gegeben zu haben, dass ich kein Anhänger des Philanthropinismus, oder derjenigen Ansicht bin, welche es für die wahre Aufgabe der Schule hält, so viel als möglich vielerlei Kenntnisse, mit leichter Anstrengung des Denkens bei den Kindern aufzuspeichern.“ (Ebd., 125) In MA I 265 verwandelt sich die Sprechinstanz genau diese von Baer verfochtene Position an. Zu Baer bei N. siehe Holub 2018, 326–328. Paul Celan hat in seinem Handexemplar von MA I Passagen aus MA I 265 unterstrichen, siehe Richter/Alac/Badiou 2004, 209.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 265–266, KSA 2, S. 220
629
220, 10 f. den Bogen des allzustraffen Denkens abspannen] N. hat eine Vorliebe für die Metapher des gespannten Bogens, vgl. z. B. NK KSA 5, 13, 1–3 u. NK KSA 5, 278, 3–6. 220, 12–14 was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist: „Vernunft und Wissenschaft des Menschen a l l e r h ö c h s t e Kraft“ – wie wenigstens Goethe urtheilt.] In Mp XIV 1, 187 fehlen Goethe und seine Verse – Faust I 1851–1852 – noch, der Text endet dort mit dem Halbsatz: „was das Höchste am M. ist“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,187). Das wurde zunächst von Köselitz ins Druckmanuskript D 11, 128 übernommen, bevor dann der endgültige Text hineinkorrigiert wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,128) 220, 14–23 Der grosse Naturforscher von Baer findet die Ueberlegenheit aller Europäer im Vergleich zu Asiaten in der eingeschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für Das, was sie glauben, angeben können, wozu Diese aber völlig unfähig sind. Europa ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen.] Die Quelle sind Baers Nachrichten über Leben und Schriften: „Die Einübung der Kritik im Denken, das Bewusstseyn nämlich, worauf unsere Ueberzeugungen sich gründen, ist denn ohne Zweifel auch die Frucht, welche das Europäische Schulwesen im Laufe der Zeit getragen hat und woher es kommt, dass in Europa die Wissenschaften sich entwickelt haben, in Asien nicht und in Europa die gutgeschulten Personen ein mehr sicheres Urtheil haben, als ungeschulte oder schlecht geschulte. Vergleicht man nämlich geschulte Europäer, auch wenn sie nicht der Cultur einer besondern Wissenschaft sich ergeben haben mit Asiaten, so wird man finden, dass die letztern sich nicht bewusst sind, worauf ihre Ueberzeugungen beruhen, ob sie durch Tradition von Andern auf sie gekommen sind, ob sie aus eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen. Selbst nicht klar geworden über den Ursprung ihrer Ueberzeugungen, sind sie völlig unfähig, einem Andern zu sagen, warum sie etwas glauben.“ (Baer 1865, 122) Und weiter heißt es bei ihm: „die Asiaten und mehr noch die eigentlichen Wilden […] /124/ […] lügen allerdings auch, wenn sie die Absicht haben zu betrügen, so gut wie die Europäer; allein nach meiner Erfahrung wissen sie überhaupt Wahrheit und Dichtung gar nicht zu unterscheiden.“ (Ebd., 123 f.) Large 2013, 183 diskutiert 220, 14–23 – ohne Bezug auf die Quelle – als Beleg für N.s „orientalism“.
266. MA I 266 bleibt beim Thema der Bildung und fokussiert die gymnasiale Beschäftigung mit Klassikern. Das mute zwar wie eine „monströse Procedur“ (221, 6) an,
630
Menschliches, Allzumenschliches I
weil weder die Schüler für eine solche Beschäftigung reif seien, noch die Lehrer dazu imstande, sie angemessen zu vermitteln. Aber da diese Lehrer sich der „a b s t r a c t e [ n ] S p r a c h e d e r h ö h e r n C u l t u r“ (221, 11) bedienten, verhülfen sie ihren Zöglingen zu einer „hohe[n] Gymnastik des Kopfes“ (221, 13; zur Gymnastik vgl. NK 209, 31–210, 1) und hielten sie damit zu Abstraktionsleistungen an, zu denen sie ansonsten nicht imstande wären. Wie schon in MA I 265 übernimmt und transponiert N. hier stillschweigend Überlegungen aus den Nachrichten über Leben und Schriften des Herrn Geheimraths Dr. Karl Ernst von Baer. Auch Baer sieht den Zweck der Klassiker-Lektüre in den antiken Originalsprachen nicht auf der inhaltlichen Ebene. „Ich gestehe, dass ich den Werth des Studiums der alten Sprachen anderswo suche, als im stofflichen Inhalte der Classiker.“ (Baer 1865, 119) Gymnasien sollen – siehe MA I 265 und die im Kommentar dazu zitierten Baer-Passagen – ausschließlich der kritischen Denk-, Schlussfolgerungsund Urteilsbildung dienen – der „wirkliche[n] Geistes-Arbeit […]. Diese Arbeit, wir wollen sie Geistes-Gymnastik nennen, ist die wahre Aufgabe der Gymnasien und verwandter Schulen“ (Baer 1865, 126; eine Fußnote auf derselben Seite erklärt dann den in alten Sprachen nicht bewanderten Leser noch die gemeinsame sprachliche Abstammung von Gymnastik und Gymnasium aus der griechischen Nacktheit). Auf die Fülle von Wissensinhalten komme es nicht an, sondern darauf, was sie zur „Geistes-Gymnastik“ (vgl. NK 221, 12 f.) beitragen können. „Als vorzügliche Mittel dieser Geistes-Gymnastik haben in den höhern Schulen seit langer Zeit die Mathematik und die alten Sprachen gegolten. Bei der Mathematik springt es in die Augen, dass sie ganz besonders die kritische und consequente Methode befolgen kann und es ist deshalb ganz besonders ihre consequente Methodik, das Fortschreiten von den einfachsten von selbst einleuchtenden Principien zu immer weiter geführten Folgerungen bearbeitet worden. Eine so consequente Methodik kann auf die alten Sprachen zwar nicht angewandt werden, da es bei ihnen nicht darauf ankommt, aus einfachen Principien ein Gebäude des Wissens zu erbauen, sondern fremde Gedanken in unsere Sprache und Ausdrucksweise umzusetzen. Darin aber liegt eine grosse Geistes-Gymnastik. Der ganze Bau der alten /128/ Sprachen weicht von dem der neuern, und namentlich auch von unsrer Deutschen so ab, dass es keinesweges genügt, die Bedeutung der einzelnen Wörter zu kennen, sondern dass wir einen Satz erst im Geiste der alten Sprache klar denken müssen, um ihn dann im Geiste unsrer Sprache gedacht, ausdrücken zu können. Das was wir ‚übersetzen‘ nennen, scheint mir, wenn von alten Sprachen die Rede ist, immer in dieser doppelten Denkübung zu bestehen und das langsame Durchführen durch die Grammatik beim Unterricht ist nichts als die durch Erfahrung gewonnene Methodik, zum vollen Verständniss zu führen.“ (Ebd., 127 f.) Während Baer vor allem die Konfrontation mit strukturell ganz fremden Sprachen für denkgymnastisch bedeutsam hält, legt MA I 266 weniger
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 266–267, KSA 2, S. 220–221
631
Gewicht auf die Sprachaneignung und Übersetzung als auf die abstrakte Kultursprache, in der gymnasialpädagogisch über die Klassiker geredet wird, was einen entsprechenden Bildungseffekt zeitige, auch wenn der damit drangsalierte Schüler das Gelernte „so schnell er darf, von sich abzuschütteln“ (221, 4) trachte. Auch Baer 1865, 128 konzediert: „Ist es anzuerkennen, dass das Uebersetzen aus einer alten Sprache in unsre Muttersprache in einer fortgehenden Denkübung besteht, so wird man auch zugeben, dass die Klage, die man nicht allein bei uns, sondern überall hören kann: ‚Ich habe mein Latein und Griechisch vergessen; schade um die auf der Schule verlorne Zeit!‘ unbegründet ist. Man hat eben die Uebung im Denken gewonnen – wenn man auch nur einige leichte Schriftsteller gelesen hat: hat man mehr gelesen, so muss man mehr dabei gewonnen haben.“ Was Baer dann aber im Unterschied zu MA I 266 herausstellt, ist die geistesgymnastische Bedeutung der Mathematik und der Naturwissenschaften möglichst auch im gymnasialen Curriculum. Zu MA I 266 gibt es in Mp XIV 1, 161 eine ‚Reinschrift‘, die mit blauem „A“ markiert ist, und wie üblich noch ohne den Titel (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,161). Ein zugehöriges Bleistiftnotat N II 2, 139 lautet: „Werth des abstrakt. Geredes von Lehrern an den Gymnasien“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/N-II-2,139). Eine mehr oder minder abwegige Ableitung aus MA I 266 wurde in Sommer 2019f, 213–215 im Kapitel „FAKE NIETZSCHE“ diskutiert – bevor vor Augen hat stehen können, dass MA I 266 zu einem guten Teil N.s Fake war – nämlich eine stillschweigende Übernahme von Karl Ernst von Baer. 221, 2 unverlierbar] In Mp XIV 1, 161 stattdessen: „˹unverdorben˺“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,161). Das stand ursprünglich auch im Druckmanuskript D 11, 128, bevor es in „unverlierbar“ korrigiert wurde (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,128). 221, 10 der gewöhnlich verkannt wird, –] In Mp XIV 1, 161 stattdessen: „der gewöhnl. verkannte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,161). Im Druckmanuskript D 11, 128 steht dann schon der schließliche Drucktext. 221, 12 f. , wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes] Dieser Einschub und damit der Schlüsselbegriff aus Baer 1865 fehlten noch in Mp XIV 1, 161. Erst im Druckmanuskript D 11, 128 wurde er in einem Korrekturdurchgang nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,128).
267. Nach MA I 267 beeinträchtigt das Erlernen vieler Sprachen die Fähigkeit, sich differenziert und virtuos in der eigenen Muttersprache auszudrücken. Die Griechen
632
Menschliches, Allzumenschliches I
und die Franzosen, denen man die besten Stilisten verdanke, hätten überhaupt keine fremden Sprachen gelernt. Nun fordere aber die allgemeine Kosmopolitisierung die Fähigkeit, sich in mannigfachen Sprachen zu artikulieren. In „irgend einer fernen Zukunft“ (222, 11) werde es nicht nur die „Luft-Schifffahrt“ (222, 13 f.) geben, sondern auch eine Weltsprache, herausgewachsen aus einer allgemeinen Handelssprache. Dass der Bildungseffekt beim Erlernen moderner Sprachen gering sei und also kaum etwas zur gymnasial eigentlich gebotenen „Geistes-Gymnastik“ (vgl. NK ÜK MA I 266) beitrage, behauptet auch Karl Ernst von Baer: „Die neueren Sprachen sind von unserer Muttersprache in ihrem Bau viel weniger verschieden als die alten. Deswegen ist viel weniger Geistes-Gymnastik beim Uebersetzen aus denselben, als beim Uebersetzen aus den alten Sprachen, so nützlich auch jene durch ihre Anwendbarkeit auf das Leben seyn mögen. Die Grammatik ist einfacher, und bei manchen Sprachen so einfach – abgeschliffen sagen die Philologen – , dass man, wenn die Bedeutung der Wörter bekannt ist, mit sehr wenigem Denken übersetzen kann.“ (Baer 1865, 128) Während MA I 267 Polyglossie grundsätzlich als abträglich erachtet, zielt Baer auf die differente Wertigkeit von alten und neuen Sprachen ab: „Ich stimme also vollkommen mit den Philologen und mit den Schulmännern überhaupt in der Ueberzeugung, dass die Erlernung der alten Sprachen viel mehr den Geist ausbildet, als die der neuern, weil er bei jenen mehr geübt wird.“ (Ebd., 129) Zu MA I 267 gibt es in Mp XIV 1, 58 eine ‚Reinschrift‘, die mit rotem „A“ und vier blauen Strichen markiert ist, wie üblich noch ohne den Titel. Sie weist eine Reihe von Korrekturen auf (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,58). Ein Bleistiftnotat U II 5, 145 lautet: „Das absurde Viel-Sprachenlernen! Man füllt das Gedächtniss mit Worten u Klängen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ U-II-5,145). Die in der zweiten Hälfte von MA I 267 ausgesprochene Idee einer Weltsprache avanciert im Nachlass zu einer sprachwissenschaftlichen Hauptaufgabe, vgl. N II 1, 209: „Ziel der Sprachwissenschaft ist eine Universalsprache zu erfinden: sie ist nothwendig sobald der europäische Universalmensch da ist. Wozu dies fürchterliche Sprachenlernen!!“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-1,209) In NL 1876, KSA 8, 17[49], 305, 10–13 wird das etwas elaboriert: „Was ist das Ziel aller S p r a c h w i s s e n s c h a f t, wenn nicht einmal eine U n i v e r s a l s p r a c h e finden? Dann wäre der europäische Universalmensch da. Wozu dann noch das fürchterliche S p r a c h e n lernen!“ Vgl. dazu Sonderegger 1973, 2 u. Stegmaier 2020b, 180. Die „Universalsprache“ und die Idee, dass die Sprachwissenschaft sich zu ihrer Erfindung bequemen müsse, waren seit dem 17. Jahrhundert populär; N. konnte sich beispielweise über die entsprechenden Universalsprachenprojekte von Leibniz und vor allem von John Wilkins in den von ihm 1869 der Basler Universitätsbibliothek entliehenen Vorlesungen über die
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 267, KSA 2, S. 221–222
633
Wissenschaft der Sprache von Max Müller kundig machen (Max Müller 1866, 2, 40–56). Freilich hatte Müller im ersten Band seiner Vorlesungen der Sprachwissenschaft gerade jenes Ziel abgesprochen, das N. ihr (versuchsweise) zuschreibt: „Sie kann sich nicht anheischig machen, uns bei der Erlernung fremder Sprachen erheblich zu helfen, sie erregt auch keine Hoffnung, dass je der Traum einer Universalsprache in Erfüllung gehen könnte. Sie erklärt nur ganz einfach, lehren zu wollen, was das Wesen der Sprache ist“ (Max Müller 1863, 1, 9). 221, 24 aus,] Fehlt in Mp XIV 1, 58. 222, 2–4 Die beiden Völker, welche die grössten Stilisten erzeugten, Griechen und Franzosen, lernten keine fremden Sprachen.] Zur Abstinenz der Griechen gegenüber anderen Sprachen schon NL 1874, KSA 7, 37[7], 832, 29–833, 1: „Die Griechen hiengen von sich ab und bemühten sich nicht um fremde Sprachen: wohl aber um die eigne. Bei uns umgekehrt: die deutschen Studien haben sich erst allmählich eingedrängt, und sie haben, w i e sie getrieben werden, etwas Ausländisches und Gelehrtenhaftes an sich.“ Auch Carl Julius Weber ergreift in seinem unter N.s Büchern erhaltenen Demokritos die Partei der monolingualen Griechen: „Die Griechen lernten nur ihre Sprache, und die Römer bloß Griechisch; Erasmus s p r a c h bloß Latein, die /103/ Universalsprache des Mittelalters, und verstand weder Französisch, noch Italienisch, noch Englisch […], und wir Neuern sind wahre Papageien geworden. […] An den Papageien der Welt habe ich fast immer bemerkt, daß sie, wenn sie fremde Sprachen ohne Accent vollkommen sprachen, leere Köpfe waren“ ([Weber] 1868, 11, 102 f.). 222, 13 f. so gewiss, als es einmal Luft-Schifffahrt giebt] Über das Thema der Luftschifffahrt konnte sich N. in dem von ihm 1875 erworbenen Buch Die Ortsbewegung der Thiere. Nebst Bemerkungen über Luftschifffahrt von James Bell Pettigrew kundig machen. Diese ausführlichen „Bemerkungen“ erörtern auf 44 Seiten alle möglichen Fluggeräte und Antriebstechniken (Pettigrew 1875, 179–223). In seinen „Schlussbemerkungen“ nimmt Pettigrew den Optimismus vorweg, der aus 222, 13 f. spricht: „Aus den in diesem Bande im einzelnen dargestellten Untersuchungen und Experimenten geht hervor, dass zwischen Gehen, Schwimmen und Fliegen eine merkwürdige Analogie besteht. Es erhellt ferner daraus, dass man die Bewegungen des Fischschwanzes wie des Insekten-, Fledermaus- und Vogelflügels leicht nachahmen und nachbilden kann. Diese Thatsachen müssen jeden Pionnier der Luftschifffahrt mit Zutrauen erfüllen. Land und Wasser sind bereits mit Erfolg dem Willen der Menschen unterworfen worden. Das Reich der Luft allein ist noch unbesiegt. Dies ist jedoch so ungeheuer und für die Nationen ein so wichtiger Verkehrsweg, dass Wissenschaft und Civilisation in gleichem Masse seine Eroberung verlangen. Die Geschichte der künstlichen Beförderungsmittel gibt uns die Ueberzeugung, dass wir die ätherischen Gefilde eines Tages mit einer von
634
Menschliches, Allzumenschliches I
Menschenwitz erdachten und von Menschenhand gebauten Maschine durcheilen werden. […] /225/ […] Der Luftschifffahrer hat eine […] schwierigere Aufgabe zu lösen. Wenn er versucht, eine Flugmaschine herzustellen, so versucht er damit nicht nothwendig etwas Unmögliches. Die zahllosen Schwärme fliegender Geschöpfe zeugen von der Ausführbarkeit eines solchen Unternehmens, und die Natur gibt ihm zugleich die Vorbilder und die Mittel. Wäre der künstliche Flug etwas Unerreichbares, so würden die Insekten, Fledermäuse und Vögel das einzige Beispiel sein von Thieren, deren Bewegung nicht nachgebildet werden kann. Die Geschichte, Analogien, die Beobachtung, das Experiment, alles steht dieser Ansicht entgegen. Der Erfolg der Locomotive und des Dampfschiffes ist uns eine Bürgschaft für den Erfolg der Flugmaschine. Sind auch die bei der Construction einer solchen zu überwindenden Schwierigkeiten gross, so wird der Triumph und die Belohnung um so grösser sein. Es ist unmöglich, den Vortheil, den die Menschheit von der Lösung dieser Aufgabe haben würde, zu überschätzen. Unter den vielen mechanischen Problemen, die der Welt jetzt vorliegen, dürfte vielleicht keines grösser sein als das der Luftschifffahrt. Frühere Miserfolge [sic] dürfen nicht als die Vorboten künftiger Nieder-/226/ lagen gelten, denn erst in den letzten Jahren ist der künstliche Flug in wahrem wissenschaftlichem Geiste angepackt worden. Innerhalb verhältnissmässig kurzer Zeit ist eine ungeheuere Masse werthvoller Daten gesammelt. Da sich in England, Amerika, Frankreich und andern Ländern Gesellschaften für die Förderung der Luftschifffahrt gebildet haben, so ist Hoffnung vorhanden, dass unsere Kenntniss dieses schwierigsten Gebietes der Wissenschaft fortfahren wird sich mehren, bis das heikle Problem endlich gelöst ist. Sollte dieser Tag je kommen, so würde dadurch eine neue Aera in der Geschichte der Menschheit eröffnet werden, und so gross die Bestimmung unsers Geschlechts bis hierher gewesen ist, sie würde durch den Glanz und die Grösse der kommenden Ereignisse in Schatten gestellt werden.“ (Pettigrew 1875, 224–226) 222, 16 f. abgeschätzt!] Statt eines Ausrufezeichens steht im Druckmanuskript D 11, 129 sowie in den Handexemplaren ein Fragezeichen. KSA u. KGW folgen mit dem Ausrufezeichen der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 58.
268. Was eine weniger schroffe psychologische Sichtweise als ‚Entwicklungsgeschichte‘ des Individuums charakterisieren würde, heißt in MA I 268 „K r i e g s g e s c h i c h t e“ (222, 19). Der Abschnitt stellt das individuelle Durchlaufen verschiedener Kulturstufen als Kampfgeschehen dar, bei dem das Bedürfnis, sich von früheren, eigenen Zuständen abzugrenzen, besonders markant hervortritt.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 267–268, KSA 2, S. 222
635
MA I 268 polarisiert die Individualentwicklungsgeschichte zu einer Kriegsgeschichte und benutzt den Generationenkonflikt von Vater und Sohn als Metapher für die inneren Kämpfe, die jemand mit sich selbst ausficht. MA I 419, KSA 2, 275 f. wird im Blick auf die Entwicklung von Frauen argumentieren, sie wechselten im Laufe ihres Lebens häufiger ihre Positionen und hinterließen mit der Begeisterung für das jeweils Neue tote Stellen. MA I 268 legt nahe, dass dies nicht nur ein spezifisch weibliches Problem sein könnte. Demgegenüber steht der Vorschlag von MA I 292, KSA 2, 235–237, die Abfolge der einzelnen Lebensphasen nicht mehr als Kampf zu deuten, in dem sie einander ausschließen, sondern als Stufenleiter der Erkenntnis. Zu MA I 268 gibt es in Mp XIV 1, 40 eine ‚Reinschrift‘, die mit rotem „R“, rotem „A“ und vier blauen Strichen markiert und mit Bleistift unter „höhere Cultur“ rubriziert ist. Wie üblich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,40). 222, 20–23 Wir finden in ein einzelnes Menschenleben, welches durch mehrere Culturen geht, den Kampf zusammengedrängt, welcher sich sonst zwischen zwei Generationen, zwischen Vater und Sohn, abspielt] In Mp XIV 1, 40 heißt es: „In einem Leben, welches durch mehrere Culturen geht, wiederholt sich der Kampf, welcher zwischen zwei Generationen, zwischen Vater und Sohn, sich gewöhnlich abspielt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,40). Im Druckmanuskript D 11, 129 wurde das dann in die schließliche Druckfassung korrigiert (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,129). 222, 24 f. weil jede Partei schonungslos das ihr so gut bekannte Innere der anderen Partei mit hineinzieht] In Mp XIV 1, 40 heißt es: „weil beide Parteien schonungslos das ihnen bekannte Innere mit hineinziehen“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,40). Im Druckmanuskript D 11, 129 wurde das dann in die schließliche Druckfassung korrigiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,129), in der freilich fälschlich noch „das ihnen bekannte Innere“ stehengeblieben ist (Nietzsche 1878, 225), das KGW u. KSA emendieren. 222, 25–29 und so wird dieser Kampf im einzelnen Individuum am erbittertsten sein; hier schreitet jede neue Phase über die früheren mit grausamer Ungerechtigkeit und Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg] In Mp XIV 1, 40 heißt es: „im einzelnen Individ. ist er am erbittertsten; man schreitet mit grausamer Ungerechtigkeit u Verkennung über die Ziele u Mittel der früheren Phase hinweg“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,40). Im Druckmanuskript D 11, 129 wurde das dann in die schließliche Druckfassung korrigiert (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,129). 222, 28 f. Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „Verkennung über
636
Menschliches, Allzumenschliches I
deren Mittel und Ziele“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/164 8750028/261/).
269. Nach MA I 269 wird derjenige, der die öffentliche Meinung der unmittelbar bevorstehenden Zukunft vorausnimmt – „die Vulgäransichten des nächsten Jahrzehnts“ (223, 2 f.) –, zwar sehr berühmt, hat jedoch im Unterscheid zum leisen Ruhm der wahrhaft Bedeutenden nur Triviales vorweggenommen. Zu MA I 269 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von Köselitz’ Hand in M I 1, 41, also im Diktatmanuskript der Pflugschar, markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,41). In ihr wurden der Titel „Um eine Viertelstunde früher“ sowie der letzte Satz 223, 6 f. von N. nachträglich hinzugefügt. In U II 5, 169 findet sich eine Vorarbeit, die erhellt, wer hier eigentlich adressiert ist: „Man kann mit seinen Ansichten über seiner Zeit stehen, aber doch nur so weit, daß man die Vulgäransichten des nächsten Jahrzehends anticipirt, also nur die öffentl. Meinung eher hat als sie öffentlich ist (zB Hillebrand).“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,169) Mit dem Publizisten und Literaturhistoriker Karl Hillebrand (1829–1884) hatte N. durchaus positive Erfahrungen gemacht, nämlich schon bei einer Rezension von UB I DS im Jahr 1873, die N. in Ecce homo noch zu einem seinerseits positiven Urteil über Hillebrand Anlass gibt (vgl. NK KSA 6, 318, 9–18 u. NK KSA 6, 318, 19–31). Hillebrands vielbändiges Sammelwerk Zeiten, Völker und Menschen stellte für N. eine wichtige kulturhistorische Quelle dar. Dennoch ist Hillebrand N. nicht radikal genug; an Marie Baumgartner schrieb er am 13. 05. 1875: „Ich möchte Ihnen ein neues Buch von Hillebrand in Florenz geben, wenn ich nur wüsste, wie! Es heisst ‚Zeiten Völker und Menschen‘ und bei den ‚Menschen‘ komme ich auch ein wenig in Betracht. Er redet so, wie die öffentliche Meinung in 10 Jahren sein wird d. h. er ist ein klein wenig der jetzigen Meinung voran. Doch geht es nicht weit.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 446, S. 52, Z. 19–24) Im fraglichen zweiten Band Wälsches und Deutsches werden Hillebrands Besprechungen zu UB I DS, UB II HL und UB III SE (erneut) gedruckt. Wenn nun N. im Brief an Baumgartner darauf Bezug nimmt, dass er „auch ein wenig in Betracht“ komme, legt das nahe, dass er in Hillebrands wohlwollenden Urteilen über ihn aufscheinen sah, wie man ein Jahrzehnt später über ihn urteilen werde. Dennoch aber scheint Hillebrand der Radikalität des von N. verkörperten Neuen aus N.s Sicht doch nicht ganz gerecht geworden zu sein, vgl. NL 1876, KSA 8, 16[29], 292, 6–8: „Menschen die wie Hillebrandt nur der öffentlichen Meinung um einige Jahre voraus sind: die ebenfalls nur eine öffentliche Meinung haben.“ Montinari 1986, 198 notiert dazu: „Die Bemerkung im Brief verliert allmählich ihre Beiläufigkeit
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 268–270, KSA 2, S. 222–223
637
und Zufälligkeit, wird, im Nachlaß, zu einem Urteil über Hillebrand und, im veröffentlichten Werk, zu einer Sentenz allgemeinen Charakters, eben die Beschreibung eines Charakters, des Charakters des Eintagsschreibers, Zeitungsschreibers, welcher in sich so viel Geist und Klugheit hat, um der öffentlichen Meinung der nächsten zehn Jahre vorauszueilen.“ Dabei stand die Polemik gegen Hillebrand, wie Montinari weiter ausführt, im Dunstkreis der Wagners und wurde schließlich nicht in die Druckfassung von MA I übernommen – von der N. Hillebrand wiederum ein Freiexemplar zukommen ließ. Zur öffentlichen Meinung vgl. MA I 482, KSA 2, 316.
270. MA I 270 lässt die Philologie in ihrer methodischen Strenge und ihrer klaren Zielsetzung, einfach nur verstehen zu wollen, „was der Autor sagt“ (223, 19), als eine „starke Richtung“ (223, 9) erscheinen, die in ihrer Einseitigkeit und Gradlinigkeit kaum Berührungspunkte mit anderem hat. Dennoch habe „[a]lle Wissenschaft […] dadurch erst Continuität und Stetigkeit gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die Philologie, auf ihre Höhe kam“ (223, 21–23). Das wiederum spricht der Philologie eine zentrale Rolle in der Genese moderner Wissenschaftlichkeit zu, weil sie offensichtlich – vgl. MA I 266, KSA 2, 220 f. – methodischcharakterlich schult und von ihr vermeintlich auch ganz entfernte Disziplinen und ihre Vertreter diszipliniert. Der Abschnitt gibt eine bemerkenswert einfache Beschreibung des philologischen Aufgabenprofils, nämlich verstehen zu wollen, was ein Autor hat sagen wollen, also die intentio auctoris zu rekonstruieren – oder, wie es in Ralph Waldo Emersons Essay Nature heißt: „‚Jede Schrift muß von demselben Geiste ausgelegt werden, von dem sie herausgegeben ward‘, ist das Fundamentalgesetz aller Kritik.“ (Emerson 1868, 26) Der Hauptakzent liegt aber auf der disziplinierenden Wirkung der Philologie: Als solche kann sie eine Leitwissenschaft sein und bleiben (vgl. HkP). Zu MA I 270 gibt es in Mp XIV 1, 10 u. 11 eine ‚Reinschrift‘, die mit rotem „R“ markiert ist und einige Korrekturen aufweist. Wie üblich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,10et11). Zur Interpretation von MA I 270 vgl. z. B. Heller 1972b, 130 f., Schrift 1987, 101, Benne 2005, 229, Fn. 318 (kritisch zu Schrift), Borsche 2012, 470, Nicodemo 2012, 229 u. Geuss 2019, 91. 223, 9 D i e K u n s t , z u l e s e n.] Noch in AC 52 wird N. die Philologie als „Kunst, gut zu lesen“ bestimmen und ihr Ethos in radikaler Projektionszurückhaltung dingfest machen, siehe NK KSA 6, 233, 17–24.
638
Menschliches, Allzumenschliches I
223, 10–13 sie nähert sich der Richtung der geraden Linie und ist wie diese ausschliessend, das heisst sie berührt nicht viele andere Richtungen, wie diess schwache Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und Hergehen thun] In Mp XIV 1, 10 korrigiert aus: „verbunden mit Stumpfheit u Bornirtheit gegen andere Richtungen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,10). 223, 14 Philologen] In Mp XIV 1, 10: „Philologen“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,10). 223, 19 f. es war Etwas, diese Methoden zu finden] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht: „es war Etwas, diese Methode zu finden“ (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/262/). Die Stelle ist zwar am Rand mit Bleistift markiert, aber nicht korrigiert. 223, 20 war Etwas] In Mp XIV 1, 10: „war Etwas“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,10). 223, 21–23 Alle Wissenschaft hat dadurch erst Continuität und Stetigkeit gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die Philologie, auf ihre Höhe kam.] Im Druckmanuskript D 11, 129 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,129) und in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 226) fehlt das Komma nach „Philologie“ (223, 23), das KGW u. KSA nach GoA ergänzen. In Mp XIV 1, 10 u. 11 wird unten auf dem Blattrand der Satz „Alle Wissenschaft hat dadurch erst Continuität und Stetigkeit gewonnen“ ergänzt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,10et11); die Fortsetzung „dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die Philologie auf ihre Höhe kam“ wurde erst in D 11, 129 ergänzt und, zwar nachträglich mit anderer Tinte.
271. Gegen Schopenhauer wendet MA I 271 ein, dass nicht nur das Urteilen, sondern auch das richtige Schließen wenigen vergönnt sei und einen großen Entwicklungsschritt der Menschheit darstelle. Wie Religion und Mythologie bewiesen, sei das falsche Schließen historisch die Regel gewesen. Wie gering das Bemühen um korrektes Schlussfolgern bei Völkern ausgeprägt sei, die in träumerischer Mythologie befangen blieben, erörtert schon MA I 12, KSA 2, 31 f. Eine Quelle ist da John Lubbocks Entstehung der Civilisation (vgl. NK 31, 27–32, 3), die nach Thatcher 1983, 308 auch in MA I 271 nachwirkt. Tatsächlich gibt es in diesem Werk zahlreiche Belege für die angeblich mindere Schließfähigkeit sogenannter Primitiver, z. B.: „Ferner möchte ich die Aufmerksamkeit der Leser auf die zwischen Wilden und Kindern bestehende Gleichartigkeit des
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 270–271, KSA 2, S. 223
639
Charakters lenken. ‚Können die Abiponen,‘ sagt Dobritzhoffer [sic], ‚eine Sache nicht auf den ersten Blick ergründen, so werden sie bald des Betrachtens müde und rufen ‚Oroquinam‘, das heißt: was ist denn überhaupt dran? Die Guaranis ziehen, sobald sie stutzig werden, ihre Augenbrauen in die Höhe und rufen ‚tupa ciquaa‘, d. h. Gott weiß, was dahinter steckt! Weil sie so geringe Ueberlegungskraft besitzen und so wenig Neigung haben, dieselbe anzuspannen, so ist es nicht zu verwundern daß sie weder den Willen noch die Fähigkeit haben, eine Schlußfolgerung zu ziehen.“ (Lubbock 1875, 439; das Zitat ist hier aus der englischen Übersetzung von Martin Dobrizhoffers 1784 erstmals auf Lateinisch erschienener Historia de Abiponibus wiederum ins Deutsche übersetzt worden, vgl. Dobrizhoffer 1822, 2, 59 f.). Dass die Einübung des Vermögens kritischen und korrekten Schlussfolgerns die Hauptaufgabe schulischer Bildung sei, hat MA I 265 auf der Folie von Baer 1865 schon dargelegt. „K u n s t , z u s c h l i e s s e n“ (223, 25) ist allerdings keine Wendung, die Baer benutzt; vielmehr ist sie eine Parallelkonstruktion zur „K u n s t , z u l e s e n“ (223, 9) in MA I 270 und dient der Verknüpfung beider Abschnitte. Zu MA I 271 gibt es in Mp XIV 1, 6 eine ‚Reinschrift‘, die mit rotem „A“ markiert sowie blau mit „Fortschritt“ rubriziert ist und einige Korrekturen aufweist. Wie üblich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,6). 223, 27–29 Das ist gar nicht so etwas Natürliches, wie Schopenhauer annimmt, wenn er sagt: „zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig“] Der Teilsatz „wenn er sagt: „zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig“ fehlt in Mp XIV 1, 6 noch, ist aber mit einem Einfügungszeichen „V“ markiert. Er wird dann in einem Einschub im Druckmanuskript eingefügt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,130). In Ueber das Fundament der Moral schreibt Schopenhauer: „Aber dagegen ist auch in der Ethik weit mehr, als in irgend einer andern Wissenschaft, das Wesentliche in den ersten Grundsätzen enthalten; indem die Ableitungen hier so leicht sind, daß sie sich von selbst machen. Denn zu s c h l i e ß e n sind Alle, zu urtheilen W e n i g e fähig. Daher eben sind lange Lehrbücher und Vorträge der Moral so überflüssig, wie langweilig.“ (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 114) Vgl. NL 1876/77, KSA 8, 23[37], 416, 23–417, 2: „Schopenhauer sagt mit Recht: ‚Die Einsicht in die strenge Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen ist die Gränzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den anderen scheidet.‘ Falsch dagegen: ‚der letzte und wahre Aufschluß über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muß nothwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns‘. Ebenso falsch: ‚zu schließen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig‘.“ 223, 30–224, 4 zur Herrschaft gelangt. Das falsche Schliessen ist in älteren Zeiten die Regel: und die Mythologien aller Völker, ihre Magie und ihr Aberglaube, ihr
640
Menschliches, Allzumenschliches I
religiöser Cultus, ihr Recht sind die unerschöpflichen Beweis-Fundstätten für diesen Satz] In Mp XIV 1, 6 korrigiert aus: „herrschend. Das falsche Schließen ist die Regel, wie z. B. in der Mythologie Kühe und Wolken gleich setzen“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,6). Diese mythologische Gleichsetzung wird bei Lubbock 1875 nicht angesprochen, dafür aber häufig in der altertumswissenschaftlichen und indologischen Literatur. Beispielsweise gilt Indra als Hüter der mit Rindern gleichgesetzten Wolken. In seinen von N. 1869 der Basler Universitätsbibliothek entliehenen Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache greift Max Müller das Beispiel im Blick auf die „poëtische Metapher“ auf, „welche dann eintritt, wenn ein Nomen oder Verbum, das für ein bestimmtes Object oder eine bestimmte Handlung fertig gemacht und festgesetzt ist, in dichterischer Weise auf ein anderes Object oder eine andere Handlung übertragen wird. […] Mittelst desselben Gedankenganges werden die Wolken Berge genannt, oder die Regenwolken Kühe mit schweren Eutern“ (Max Müller 1866, 2, 334). Dabei hat die Metapher natürlich nichts Zwingendes, „derselbe Gegenstand“ könnte „den menschlichen Geist auf verschiedene Weise afficiren […]; man könnte sich die Wolken ebenso gut als Milchkühe mit schweren Eutern, wie als schwarze und wild brausende Dämonen vorstellen“ (ebd., 336).
272. Der Abschnitt MA I 272 schiebt der Erwartung, ein Sohn werde seinen Vater bald überflügeln und in der Entwicklung sehr viel weiter kommen, einen Riegel vor: Gemeinhin bringe es der Abkömmling nur geringfügig über seinen Erzeuger hinaus, da mit 30 Jahren gewöhnlich die „S p a n n k r a f t“ (224, 9) nachlasse, die man viel nötiger brauche als „Begabung“ (224, 8; vgl. MA I 263, KSA 2, 219). Wer hingegen wie Goethe – der sich offensichtlich von dem berühmt werdenden Viertelstundenvorauseiler in MA I 269, KSA 2, 222 f. wesentlich unterscheidet – über große Spannkraft verfügt, der vermöge Zeitspannen zu überspringen, die mehrere Generationen nicht einzuholen imstande seien. Dennoch aber seien die „gewöhnlichen Phasen der geistigen Cultur“ (224, 28) von den Individuen immer schneller zu durchlaufen: Man beginne – und das klingt beinahe autobiographisch – als Kind mit religiöser Inbrunst, die sich abschwäche, man gehe zur Metaphysik über und dann zur Kunst, bevor das wissenschaftliche Denken dominant werde. In der Individualentwicklung durchläuft das Individuum ein „Pensum[.], an welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat“ (225, 14–16). Zu MA I 272 gibt es in Mp XIV 1, 57 eine ‚Reinschrift‘, die mit blauem „H“ (oder „II“) markiert und ebenfalls blau mit „Cultur“ rubriziert ist. Sie weist einige
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 271–272, KSA 2, S. 223
641
Korrekturen auf; wie üblich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,57). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 78 deutet die Richtung an, in die der spätere Text geht, aber bricht unvermittelt ab: „Wenn ein 30jähr. seine Energie vererbt u. der Sohn wieder in diesem Alter / so viel als ob“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,78). In NL 1876, KSA 8, 16[28], 292, 4 f. wird eine Pointe von MA I 272 vorweggenommen: „Ein freidenkender Mensch macht die Entwicklung ganzer Generationen vorher durch.“ Und detaillierter NL 1876/ 77, KSA 8, 23[145], 455, 20–456, 3: „Der gut befähigte Mensch erlebt mehrenmal den Zustand der R e i f e, insofern er verschiedene Culturen durchlebt und im Verstehen und Erfassen jeder einzelnen einmal einen Höhepunkt erreicht: und so kann ein Mensch in sich den Inhalt von ganzen Jahrhunderten vorausfühlen: weil der Gang, den er durch die verschiedenen Culturen macht, derselbe ist, welchen mehrere Generationen hinter einander machen. – So hat er auch mehrenmal den Zustand der U n r e i f e, der perfecten Blüthe, der Überreife: diese ganze Stufenleiter macht er vielleicht erst einmal als religiöser, dann wieder als künstlerischer und endlich wissenschaftlicher Mensch durch.“ Heller 1972b, 66 sieht in MA I 272 einen „verhüllt autobiographische[n] Aphorismus“, in welchem N. „das in den 60er Jahren formulierte ‚biogenetische Grundgesetz‘, wonach die Ontogenesis (Entwicklung des Individuums) eine Rekapitulation der Phylogenesis (Stammesentwicklung) darstellt, auf die psychisch-kulturelle Entwicklung des modernen Menschen zu übertragen scheint, obschon der Gedanke, daß ‚die Jugend‘ als ‚Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen‘ muß, sich auch in Goethes Gesprächen mit Eckermann, einem Lieblingsbuch Nietzsches, findet“. N. konnte sich mit Ernst Haeckels Auffassung von Ontogenese und Phylogenese insbesondere mit Hilfe von Oscars Schmidts Descendenzlehre und Darwinismus vertraut machen, was sich z. B. auch in MA I 43 niederschlug, vgl. NK 66, 13–17 u. Orsucci 1996, 54. Nach Schmidt 1873, 48 f. führten „schon die ersten etwas ausgedehnten Beobachtungen der Entwickelungsformen verschiedener Thiere zu der Wahrnehmung […], dass die Embryone und Entwickelungsstufen höherer Thiere vorübergehend in einer engern Beziehung zu den fertigen und definitiven Zuständen der niedern Thierformen wenigstens desselben Stammes ständen, woraus sich die bestimmte /49/ Vorstellung entwickelte, dass der Embryo der höhern Thiere die bleibenden Formen der niedern Thiere durchlaufe“. Aber auch der von Heller gegebene Hinweis auf Goethe ist nicht abwegig, wie Vivarelli 1994b, 291 betont, zumal dieser in MA I 272 prominent in Erscheinung tritt. Im Gespräch mit Eckermann lässt sich Goethe am 17. Januar 1827 wie folgt vernehmen: „Wenn auch die Welt im ganzen vorschreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorn anfangen und als Individuum die Epochen der Weltcultur durchmachen.“ (Eckermann 1868, 1, 206) MA I 272 sieht die einzelnen Lebensphasen nun nicht mehr wie MA I 268, KSA 2, 222 im Kampf miteinander liegen, sondern begreift sie als Stufenabfolge.
642
Menschliches, Allzumenschliches I
224, 9 S p a n n k r a f t] In der „Spannkraft“ kehrt die bei N. beliebte Metapher des gespannten Bogens wieder, vgl. NK 220, 10 f. In MA I 273, KSA 2, 225, 31 wird dann zum „Sprunge“ angesetzt. 224, 19 ein Wenig schneller vorwärts] In Mp XIV 1, 57 stattdessen: „˹ein wenig˺ leichter ˹u schneller vorwärts˺“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,57). 224, 21 f. wie zum Beispiel Goethe] In Mp XIV 1, 57 stattdessen: „wie Luther ˹z. B.˺ Goethe Wagner“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,57). In NL 1876/ 77, KSA 8, 23[100], 439, 14–22 wird gerade die Reformation für Entwicklungsrückständigkeit verantwortlich gemacht, aber Goethe dieselbe Epochenumspannungskraft zugeschrieben wie in MA I 272: „Es leben zu gleicher Zeit Menschen der verschiedensten Culturstufen selbst in den hochentwickelten Nationen neben einander fort. In Deutschland und der Schweiz ist alles, was von der Reformation an die Seelen beherrschte, noch irgendwo zurückgeblieben, es ist möglich, durch mehrere Jahrhunderte rückwärts zu wandern und Menschen dieser Zeiten zu sprechen. Ja, der sehr reich entwickelte Mensch (wie Goethe) lebt große Zeiträume, ganze Jahrhunderte voraus in den verschiedenen Phasen seiner Natur.“ Wagner passt mit dem kritischen Blick des Jahres 1878 nicht mehr ins Anforderungsprofil für epochenüberschreitende Genies. 224, 27–225, 16 Die gewöhnlichen Phasen der geistigen Cultur, welche im Verlauf der Geschichte errungen ist, holen die Menschen immer schneller nach. Sie beginnen gegenwärtig in die Cultur als religiös bewegte Kinder einzutreten und bringen es vielleicht im zehnten Lebensjahre zur höchsten Lebhaftigkeit dieser Empfindungen, gehen dann in abgeschwächtere Formen (Pantheismus) über, während sie sich der Wissenschaft nähern; kommen über Gott, Unsterblichkeit und dergleichen ganz hinaus, aber verfallen den Zaubern einer metaphysischen Philosophie. Auch diese wird ihnen endlich unglaubwürdig; die Kunst scheint dagegen immer mehr zu gewähren, so dass eine Zeit lang die Metaphysik kaum noch in einer Umwandelung zur Kunst oder als künstlerisch verklärende Stimmung übrig bleibt und fortlebt. Aber der wissenschaftliche Sinn wird immer gebieterischer und führt den Mann hin zur Naturwissenschaft und Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens, während der Kunst eine immer mildere und anspruchslosere Bedeutung zufällt. Diess Alles pflegt sich jetzt innerhalb der ersten dreissig Jahre eines Mannes zu ereignen. Es ist die Recapitulation eines Pensums, an welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat.] In Mp XIV 1, 57 ist dieser Passus stark überarbeitet worden; die ursprüngliche Fassung lautete: „Die gewöhnl. Phasen der vergangenen Cultur machen wir immer schneller durch. Wir beginnen als religiöse Menschen, deren höchste Lebhaftigkeit vielleicht im 10.n Lebensjahre liegt, gehen dann in abgeschwächtere Formen (Pan-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 272–273, KSA 2, S. 224–225
643
theism) über, während wir uns der Wissenschaft nähern, kommen über Gott Unsterblichkeit u dergl. ganz hinaus aber verfallen einer metaphys. Philosophie; auch diese wird uns unglaubwürdig, die Kunst scheint uns noch am meisten zu gewähren (Metaphysik als Stimmung) aber der wissenschaftl. Sinn wird immer strenger und jetzt kommen wir zur Naturwissenschaft u Historie usw. – alles innerhalb 30 Jahren“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,57). Der Schlusssatz 225, 14–16 wird im Druckmanuskript D 11, 130 erst nachträglich hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,130). 225, 7 f. künstlerisch verklärende Stimmung] Vgl. NK 180, 9–13.
273. MA I 273 tritt dem Anschein entgegen, wer sich „gegenwärtig“ (225, 19) noch aus „religiösen Empfindungen“ (225, 19 f.) nähre, würde ewig zurückbleiben. Denn diese religiöse Sphäre, die in Metaphysik und Kunst persistiere, sei eine gewaltige Kraftquelle, die manchen zum großen, alle überflügelnden Sprung bereit und fähig mache. Zu MA I 273 gibt es in Mp XIV 1, 124 eine ‚Reinschrift‘, die mit blauem „A“ markiert ist und nur wenige Korrekturen aufweist; wie üblich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,124). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 134 gehört in die Geschichte der Textentstehung: „Wer gegenwärtig noch mit Religion Metaph Kunst anfängt, begiebt sich ein Stück zurück u. verliert insofern Kraft u. Zeit. Aber er hat dadurch ein Sprungbrett für einen grösseren Sprung u. kommt in Kurzem wieder voran.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,134) Die Pointe von MA I 273 wird N. dann in JGB 280 in die Form eines Minidialoges kleiden: „‚Schlimm! Schlimm! Wie? geht er nicht – zurück?‘ – Ja! Aber ihr versteht ihn schlecht, wenn ihr darüber klagt. Er geht zurück, wie Jeder, der einen grossen Sprung thun will.“ (KSA 5, 229, 23–25) Damit wird alte Spruchweisheit aufgenommen, vgl. Wander 1867–1880, 4, 751. Zur weiteren Motivgeschichte siehe NK KSA 5, 229, 23–25. 225, 26 f. unversiegbarer] In Mp XIV 1, 124 stattdessen: „unversiegter“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,124). 225, 32 f. so kann selbst etwas Fürchterliches, Drohendes in diesem Rückgange liegen] In Mp XIV 1, 124 korrigiert aus: „es ist etwas Fürchterliches in diesem Rückgange“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,124).
644
Menschliches, Allzumenschliches I
274. Es könne, so MA I 274, für ein „Zeichen überlegener Cultur“ (226, 3 f.) genommen werden, wenn man bewusst eigene Entwicklungsphasen zu dokumentieren, quasi malend zu bannen und säuberlich voneinander zu separieren imstande sei. Beschäftigung mit der Geschichte schule „die Befähigung zu diesem Malerthum“ (226, 10) und erlaube es dann, aus wenigen Anzeichen den Geistes- und Gefühlshaushalt einer Person zu erfassen. MA I 274 gibt auch eine Definition des „historische[n] Sinn[s]“ (226, 18), nämlich, aus Ruinen der Vergangenheit das ehemalige Ganze im Geiste wiedererstehen lassen zu können. Dieser wäre damit ein divinatorisches Rekonstruktionsvermögen einzelner Phasen und der in ihnen jeweils dominanten Kräfte. So wären „wir“ (226, 19) dann auch in der Lage, Menschen „als ganz bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Culturen“ zu „verstehen, das heisst als nothwendig, aber als veränderlich“ (226, 19–22) – „nothwendig“, insofern sie in ihrem Sein von ihrer Geschichte kausal (vollständig) determiniert sind, „veränderlich“, insofern neue Einflüsse sie zu anderen Menschen machen (werden). In welcher Weise das Studium der Geschichte darin schult, „bei Anlass eines Stückes Geschichte, eines Volkes – oder Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken, eine bestimmte Stärke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das Zurücktreten jener vorzustellen“ (226, 11–15), macht schon John Lubbock gleich zu Beginn seiner Entstehung der Civilisation im Blick auf die menschliche Urgeschichte deutlich: „Erstens haben die Lebensweise und Gebräuche der jetzigen Wilden in vieler, wenn auch nicht in jeder Hinsicht eine Aehnlichkeit mit denen, die unsern Vorfahren in einer lang entschwundenen Zeit eigen waren; zweitens erläutern sie viel von dem, was unter uns vorgeht, manche Sitten, die offenbar in keinem Zusammenhange mit jetzigen Zuständen stehen, ja sogar einige Anschauungen, die gleich erdumhüllten Versteinerungen in der Tiefe unserer Seele ruhen, und drittens vermögen wir mit ihrer Hülfe sogar einen kleinen Theil des Nebels zu durchblicken, welcher die Gegenwart von der Zukunft trennt.“ (Lubbock 1875, 1; vgl. Thatcher 1983, 296) Dabei ließ sich Lubbock bei seiner Rekonstruktion des Vergangenen von der „Ueberzeugung“ leiten, „daß die ältesten Geistesstufen, welche die Menschheit durchschritten hat, durch das Leben der jetzigen oder kürzlich ausgestorbenen Wilden veranschaulicht werden“ (Lubbock 1875, 398). In MA I 274 wird dem mit „historischem Sinn“ Begabten die Fähigkeit zugesprochen, vergangene „Gedanken- und Gefühlssysteme aus gegebenen Anlässen schnell reconstruiren“ zu können, „wie den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig stehen gebliebenen Säulen und Mauerresten“ (226, 15–18). Zu MA I 274 gibt es in Mp XIV 1, 22 eine ‚Reinschrift‘, die mit rotem „A“, blauem „H“ und „Cultur“ markiert ist und zahlreiche Korrekturen aufweist; wie üb-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 274–275, KSA 2, S. 225–226
645
lich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,22). Das Notat NL 1876/77, KSA 8, 21[68], 376, 11 f. deutet den Gedankengang an: „Separiren geistiger Phasen mit Bewusstsein, Zeichen von Cultur.“ 226, 18 f. der historische Sinn. Das nächste Ergebniss desselben ist] In Mp XIV 1, 22 stattdessen: „die historische Cultur. Das nächste Ergebniss derselben ist“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,22). Das wird im Druckmanuskript D 11, 131 gestrichen und durch den „historische[n] Sinn“ (sowie „desselben“) ersetzt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,131). Der berühmte Terminus „historischer Sinn“, den Eduard Schmidt 1839 in die Debatte eingeführt haben soll (Schmidt 1839, 26; siehe Dominic Kaegi in Jaspers 2020, 554, Endnote 533), kehrt bei N. häufig wieder und wird in MA I 2 ausdrücklich für das neue Philosophieren in Anspruch genommen, vgl. NK 24, 24–2.
275. Nach MA I 275 erkennen sowohl die Kyniker als auch die Epikureer – die Bezeichnungen werden im engeren Sinne für die Angehörigen der beiden antiken griechischen Philosophenschulen verwendet, zugleich aber versteckt sich in ihnen ein Seitenblick auf das philosophische Zusammenleben in Sorrent (vgl. NK 227, 14–17 u. NK 227, 17–19) – die Leidensträchtigkeit höherer Kultur, die Bedürfnisse mit sich bringt, deren Nichtbefriedigung Unlust erzeugt. Die Kyniker verzichteten auf die einschlägigen „Meinungen“ (226, 28 u. 32) und gewännen durch das Ausscheren aus dem Kulturzusammenhang Freiheit und Kraft. Die Epikureer unterschieden sich bei gleicher Betrachtungsweise vor allem im „Temperament[..]“ (227, 10 f.) und darin, sich die höhere Kultur selbst dienstbar zu machen, während der Kyniker sie einfach verneine. Über die antike Schule der Kyniker war N. schon durch seine philologischen Studien zu Diogenes Laertius so gut informiert, wie man es angesichts der problematischen Quellenbasis nur sein konnte (zu den Kynikern insbesondere Diogenes Laertius: De vitis VI, zu Epikur De vitis X). Das Übungs-, Lust- und Unlustkalkül sowie der Antikulturalismus des Vorzeigekynikers Diogenes von Sinope wird rekapituliert in Diogenes Laertius: De vitis VI 70 f.; Passagen wie diese grundieren MA I 275 philosophiehistorisch. Zu MA I 275 gibt es in Mp XIV 1, 34 eine ‚Reinschrift‘, die mit blauem „A“ markiert ist und einige Korrekturen aufweist; wie üblich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,34). Zu N. und Epikur siehe auch Kloss 2003, 161–164, Ansell-Pearson 2013, AnsellPearson 2017, 30–34, Ansell-Pearson 2019/20, Babich 2020, 157–179 u. Marcio Cid
646
Menschliches, Allzumenschliches I
2022; zum Kynismus bei N. neben Niehues-Pröbsting 1979 u. Niehues-Pröbsting 2005 jetzt auch Guo 2022. 226, 28–31 er begreift also, dass die Menge von Meinungen über das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen musste.] In Mp XIV 1, 34 heißt es stattdessen: „die Menge von Meinungen über das Schöne Schickliche Geziemende Erfreuende hat reiche ˹ebenso sehr˺ Genuß- aber auch Unlustquellen entspringen lassen“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,34). Das wird geändert in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 132 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,132), wobei dort „mussten“ statt „musste“ eingefügt wird, wie es auch in Nietzsche 1878, 230 sowie in N.s Handexemplaren stehen bleibt. KGW u. KSA emendieren dann nach GoA zu „musste“. 227, 6 f. schimpfen kann er ebenfalls nach Herzenslust] Der aggressive, schimpfende Stil der antiken Kyniker in ihren Diatriben ist vielfach bezeugt. 227, 13 dieselben] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 132 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,132), Nietzsche 1878, 230 sowie in N.s Handexemplaren steht stattdessen „dieselbe“. KGW u. KSA ‚emendieren‘ zu „dieselben“ unter Berufung auf Mp XIV 1, 34, wo jedoch auch „dieselbe“ steht. 227, 14–17 Er wandelt gleichsam in windstillen, wohlgeschützten, halbdunkelen Gängen, während über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verrathen, wie heftig bewegt da draussen die Welt ist.] Im Bleistiftnotat N II 3, 15 heißt es „in windstillen ˹halbdunklen˺ Gängen gehen, während über uns die Bäume von heftigen Winden bewegt rauschen, in hellerem Schein“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,15). Dabei scheint N. zunächst noch nicht an die philosophiehistorische Figur des Epikureers gedacht zu haben, sondern nur eine Beobachtung notiert zu haben, die ihn auf seinen Sorrenter Spaziergängen überkam (vgl. zur Keim- und Wuchsgeschichte dieses Motivs in MA I 275 D’Iorio 2020, 81 f.). Eine erste Verarbeitung erfolgt dann im Brief an Reinhart von Seydlitz von Ende Februar 1877, in dem er die Sorrenter Gegebenheiten schildert: „Dass es s t ü r m i s c h hier sein kann, haben wir eigentlich erst in den letzten Tagen erfahren. Dem März sagt man nach, dass er die schöne Jahreszeit beginne, aber ein paar windige Tage dürften doch kaum ausbleiben. Es giebt so gute verdeckte Spaziergänge zwischen Orangengärten, dass es einem darin immer windstill zu Muthe wird und man nur aus der heftigen Bewegung der Pinien ü b e r einem s i e h t, wie es draussen in der Welt stürmt. (Wirklichkeit und Gleichniss unseres hiesigen Lebens – w a h r in beidem)“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 599, S. 224, Z. 18–26). Gleichnishaft wird diese Erfahrung dann in MA I 275 auf den Epikureer angewandt, mit dem der Sprecher offensichtlich sympathisiert.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 275–276, KSA 2, S. 226–227
647
227, 17–19 Der Cyniker dagegen geht gleichsam nackt draussen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur Gefühllosigkeit ab.] Müller-Buck 1994, 431 liest das Kyniker-Porträt in MA I 275 als „eine Art anonymes literarisches Denkmal für den jung verstorbenen Freund“ Albert Brenner, der eine wichtige Rolle im philosophischen Gemeinschaftsleben Sorrents gespielt hatte. „Vergleicht man diese Charakterisierung des Zynikers mit Nietzsches, aber auch Malwida von Meysenbugs oder Paul Rées Äußerungen zu Brenner, so entsteht der starke Eindruck, daß kein anderer als er das leibhaftige Vorbild für diesen Zyniker abgegeben hat.“ (Ebd., 432)
276. Will man über Kultur nachdenken, so muss man gemäß MA I 276 nicht zwingend nach außen gehen, sondern kann mit der aufmerksamen Selbstanalyse beginnen. Sie kann zutage fördern, dass man „zwei heterogene Mächte“ (227, 23) – warum gerade zwei, mögen sich die Lesenden fragen – in sich wirksam finde, die sich nicht vereinen ließen, weswegen dem Individuum nur bleibe, aus sich „ein so großes Gebäude der Cultur“ (227, 29) zu erbauen, dass beide Mächte darin Platz fänden und sich nicht unentwegt ins Gehege kämen. Dieser Individualbau der Kultur ähnele dem Kulturbau ganzer Epochen, der gleichfalls die „Aufgabe“ gehabt habe, „die einander widerstrebenden Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammelung der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie desshalb zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen“ (228, 6–10). MA I 276 reiht sich ein in jenes Gefüge von Aphorismen, die keine vollständige Überwindung der menschheitsgeschichtlich älteren Phasen von Religion, Metaphysik und Kunst zugunsten reiner Wissenschaft predigen oder die sie gar ausrotten wollen, sondern wie z. B. MA I 251, KSA 2, 209 die Notwendigkeit einer doppelgehirnigen Anlage der Kultur herausstellen oder wie z. B. MA I 273, KSA 2, 225 Religion, Metaphysik und Kunst als individuelle Voraussetzungen, nämlich als Kraftquellen für einen großen Vorwärtssprung für möglich halten. MA I 276 wählt für diese Integrationsleistung des Heterogenen die Metapher des Gebäudes, das groß genug sein muss, um unliebsame Begegnungen in den Fluren und den Gemeinschaftsräumen zu vermeiden. Die für die Moderne charakteristische „Möglichkeitskultur“ (Sommer 2022f, 72, 115 u. 122) realisiert idealtypisch eine solche Integration von höchst Heterogenem unter einem Dach. Zu MA I 276 gibt es in Mp XIV 1, 181 eine ‚Reinschrift‘, die mit blauem „A“ markiert ist und mit einer Bleistiftrubrizierung „Plato als Culturmacht“ versehen ist; wie üblich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,181). Platon kommt freilich im Text von MA I 276 und auch in der ‚Reinschrift‘ nicht vor. Ist damit gemeint, dass auch Platon zwischen Kunst und Wissen-
648
Menschliches, Allzumenschliches I
schaft schwankte und beider Mächte bedurfte, trotz seiner Dichterkritik, oder dass manche dualistische Tendenzen sich in seiner Seelenlehre finden, oder dass er in seinen eigenen Konstruktionen des politischen Raums (namentlich in der Politeia und in den Nomoi) die verschiedenen Antriebskräfte in einer gesellschaftlichen Gesamtarchitektur zu integrieren versucht hat? Oder schließlich, dass er mit dem Modell einer solchen Gesamtarchitektur kulturell im Abendland prägend geworden ist? Vgl. auch Heller 1972b, 59 f., Fn. 7 u. 292, Fn. 29. Die plausibelste Erklärung wird aber in NK 227, 21 f. skizziert. Zur Interpretation von MA I 276 siehe z. B. Immel 2003, 156, Barbera 2004, 55, Nicodemo 2014, 390 u. zu N. Architekturmetaphorik Sommer 2015d. 227, 21 f. M i k r o k o s m u s u n d M a k r o k o s m u s d e r C u l t u r.] In Mp XIV 1, 181 fehlte ja dieser Titel noch, es gibt nur die Bleistiftrubrizierung „Plato als Culturmacht“, vgl. NK ÜK MA I 276. Aber der schließliche Titel legt die Antwort nahe, wie es zu dieser Rubrizierung hat kommen können, ohne dass Platon hier oder im folgenden Text genannt werden müsste: Denn genau die Vorstellung, dass das, was in der Seele geschieht, streng parallel zu denken ist zu dem, was das gesellschaftliche Ganze ausmacht, ist ein Grundgedanke von Platons Politeia: Der ideale Staat muss in strenger Analogie zur wohlgeordneten Seele angelegt sein. Die Welt im Kleinen, der Mikrokosmos jeder Person gibt nach MA I 276 das Modell für die Welt im Großen, den Makrokosmus der Kultur: „Die besten Entdeckungen über die Cultur macht der Mensch in sich selbst“ (227, 22 f.). Das ist eben der Grundgedanke der Politeia, transponiert in den Kulturdiskurs des späten 19. Jahrhunderts. 227, 26 fortgerissen werde] In Mp XIV 1, 181: „fortgerissen wird“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,181). Im Druckmanuskript D 11, 132 wird das dann korrigiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,132).
277. Die Konfrontation mit den Orten der eigenen „Kindheit“ (228, 13) stimmt das in MA I 277 sprechende „wir“ (228, 16 u. ö.) nicht glücklich. Vielmehr mache deren Unverändertheit ‚uns‘ das Leiden bewusst, das ‚wir‘ durchlebt haben und führe ‚uns‘ vor Augen, dass höhere Kultur offensichtlich nichts ist, was glücklich und zufrieden macht. Wer das wolle, solle sich von dieser höheren Kultur fernhalten. Der Abschnitt lebt von der Analogisierung der Individual- und der Kulturentwicklung. Er setzt voraus, dass die hier geschilderte, individuelle Erfahrung tatsächlich eine allgemeine ist – dass jeder im „Anblick“ (228, 12) der Kindheitsorte nicht nur melancholische Anwandlungen habe, sondern „erschüttert“ (228, 13)
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 276–277, KSA 2, S. 227–228
649
werde – und zwar ausdrücklich wegen des Leidens, das er seit der Kinderzeit selbst durchgemacht habe. Dies impliziert, dass die Kindheitsorte für eine heile, leidensfreie Welt stehen, die nachher zerstört worden ist. Mag das auch N.s persönliche Empfindung im Rückblick auf seinen malerischen Geburtsort Röcken gewesen sein, lässt sich doch sehr bezweifeln, ob diese Empfindung in irgendeiner Weise verallgemeinerungsfähig ist. Denn keineswegs lässt sich jeder Kindheitsort für Leidfreiheit reklamieren und schon gar nicht derjenige N.s, dessen Kindheit mit einem toten Bruder und einem jämmerlich dahinsiechenden Vater nur bei sehr viel retrospektiver Schönfärberei idyllisierungsfähig ist. Die Analogie mit der allgemeinen Kulturentwicklung wirkt ein wenig gesucht, auch wenn sie das Ontogenese/Phylogenese-Schema aus MA I 272, KSA 2, 224 f. wieder aufnimmt. Dass höhere Kulturen nicht glücklichere sein müssen, ist eine Binsenweisheit. Tatsächlich ist die Analogisierung von Individual- und Kulturentwicklung in MA I 277 erst das Resultat einer späten Bearbeitung. Zu MA I 277 gibt es in Mp XIV 1, 196 eine ‚Reinschrift‘, die mit blauem „x“ und „A“ markiert ist und einige Korrekturen aufweist; wie üblich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,196). Mp XIV 1, 196 umfasst nur die erste Fassung des Textes in 228, 12–20; die Analogisierung von Individuum und Kultur und die geringe Glücksträchtigkeit höherer Kultur, also der Schluss des Textes in 228, 21–25, wurde erst im Druckmanuskript D 11, 132 hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,132). Im Nachlass der mittleren 1870er Jahre gibt es einige Aufzeichnungen, in denen N. auf die eigenen Kindheits- und Jugendorte reflektiert, so z. B. NL 1875, KSA 8, 11[11], 194, NL 1878, KSA 8, 28[6], 504 f., NL 1878, KSA 8, 28[7], 505 u. NL 1878, KSA 8, 28[8], 505, siehe dazu Montinari 1982, 22–37. Nur in NL 1875, KSA 8, 11[11], 194, 7 f. wird Trauer explizit gemacht: „In Pobles, als ich über die verlorene Kindheit weinte.“ Nach KGW IV 4, 392 soll das 1851 gewesen sein. Mehr als topische Trauer ist das aber noch nicht, vgl. zur Empfindung angesichts der verlorenen Kindheit auch MA II WS 168, KSA 2, 622. 228, 12 f. Der Anblick der Umgebungen unserer Kindheit] In Mp XIV 1, 196 korrigiert aus: „Der Anblick der Erinnerungen unserer Kindheit“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,196). 228, 14 f. – diess sehen wir immer als Leidende wieder] Erst im Druckmanuskript D 11, 132 hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,132). 228, 19 f. Eichenbaume] Im Druckmanuskript D 11, 132 korrigiert aus: „Baum“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,132). 228, 21 f. Erschütterung, Selbstmitleid im Angesichte der niederen Cultur ist das Zeichen der höheren Cultur] Ursprünglich hieß es im Druckmanuskript D 11, 132
650
Menschliches, Allzumenschliches I
nur: „Selbstmitleid ist das Zeichen der höheren Cultur“. Das wurde dann dort korrigiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,132).
278. Heterogene Ansprüche werden laut MA I 278 an denjenigen herangetragen, der für „grosse[.] Cultur“ (228, 28) zu stehen vermag, nämlich einerseits streng und gradlinig im Erkennen zu sein und andererseits dazu in der Lage, „der Poesie, Religion und Metaphysik“ (229, 1) die Schritte in die Zukunft zu weisen sowie „ihre Gewalt und Schönheit nachzuempfinden“ (229, 2). Dieser schwelende Konflikt darf keine Erschlaffung provozieren, sondern die Spannung muss aufrechterhalten werden – wie im Tanz, den der Abschnitt als Leitmetapher für „hohe Cultur“ (229, 12) propagiert. Dass MA I 278 zwischen „grosser Cultur“ (228, 28) und „hohe[r] Cultur“ (229, 12) hin und her laviert, aber den Komparativ der „höheren Cultur“, den noch MA I 277, KSA 2, 228, 25 aufgerufen hatte, nicht benutzt, ist wohl weniger als begriffliche Subtilität zu deuten denn als begriffstänzerische Beweglichkeit. Das Zusammenspiel von „Kraft und Geschmeidigkeit“ (229, 13) als Charakteristikum guten Tanzes entspricht, wie Sebastian Kaufmann in NK KSA 3, 635, 23–25 nachweist, genau dem Tanzlehrbuchwissen, das N. in Schulpforta vermittelt bekommen hatte, nämlich aus dem 1843 eigens für Schulpforta geschriebenen Systematischem Lehrbuch der bildenden Tanzkunst von Franz Anton Roller: „K r a f t ü b u n g führt zu K r a f t v e r m e h r u n g , v i e l g e ü b t e K r a f t führt zur S i c h e r h e i t. K r a f t und S i c h e r h e i t erzeugen G e s c h i c k l i c h k e i t und G e s c h m e i d i g k e i t. Nach erlangter K r a f t , S i c h e r h e i t , G e s c h i c k l i c h k e i t kann erst das S c h ö n e in der Ausbildung erreicht werden.“ (Roller 1843, 38) Dass N. nach Ausweis seiner Zensuren im Tanzunterricht unter der Obhut eines Roller-Schülers nur „befriedigend“ oder „mittelmäßig“ abschnitt (vgl. Hoyer 2002, 147, Fn 84), hat ihn allerdings nicht daran gehindert, eine große Vorliebe für den Tanz als (absolute) Metapher zu entwickeln (vgl. z. B. Sommer 2019g). Zu MA I 278 gibt es in Mp XIV 1, 20 eine ‚Reinschrift‘, die mit blauem „A“ markiert sowie mit „Höhere Cultur“ rubriziert ist und keine Korrekturen aufweist; wie üblich fehlt noch der spätere Titel. Diese Fassung endet mit dem Satz „Die hohe Cultur wird einem kühnen Tanze ähnlich sehen.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,20) Der Hinweis auf „Kraft und Geschmeidigkeit“ (229, 13) kommt erst im Druckmanuskript D 11, 133 hinzu, ebenso die Paarung zu Beginn (vgl. NK 228, 28 f.). N. hat MA I 278 also quasi anhand von Roller 1843 oder anhand seiner Tanzstundenerinnerungen aufgearbeitet und die dortigen Leitbegriffe nachträglich hineingetragen.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 277–279, KSA 2, S. 228–229
651
228, 28 f. wenn Jemand jene Kraft und Biegsamkeit besitzt] Im Druckmanuskript D 11, 133 korrigiert aus: „wenn Jemand die grosse Biegsamkeit besitzt“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,133). 228, 30 zu sein] Im Druckmanuskript D 11, 133 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,133) sowie in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 232) folgt nach „sein“ ein Komma, das KGW u. KSA nach Mp XIV 1, 20 und GoA weglassen. 229, 3 f. Eine solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen Ansprüchen ist sehr schwierig] Im Druckmanuskript D 11, 133 korrigiert aus: „Eine solche Stellung zur Cultur kann schwer erhalten bleiben“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,133).
279. Nach MA I 279 erleichtert das Idealisieren-Können das Leben enorm – es ist eine Bereitschaft, die Dinge nicht ganz genau und scharf in den Blick zu nehmen. Das Paradigma dafür geben die Maler ab, die ihre Werke so schaffen, dass man in bestimmter Distanz zu diesen stehen muss, um sie mit Wohlgefallen zu betrachten. Was MA I 279 „Idealisiren“ (229, 16 f.) nennt, heißt in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Abstrahieren-Können: „In dieser Rücksicht ist nun das Abstractionsvermögen viel schwerer, aber auch wichtiger als das der Attention, wenn es Vorstellungen der Sinne betrifft. Viele Menschen sind unglücklich, weil sie nicht abstrahiren können. Der Freier könnte eine gute Heurath machen, wenn er nur über eine Warze /132/ im Gesicht oder eine Zahnlücke seiner Geliebten wegsehen könnte. […] Wenn das Hauptsächliche gut ist, so ist es nicht allein billig, sondern auch klüglich gehandelt, über das Üble an Anderen, ja selbst unseres eigenen Glückszustandes wegzusehen; aber dieses Vermögen zu abstrahiren ist eine Gemüthsstärke, welche nur durch Übung erworben werden kann.“ (AA VII 131 f.) Zu MA I 279 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von Köselitz’ Hand in M I 1, 51, also im Diktatmanuskript der Pflugschar, mit einigen Korrekturen von N.s Hand. Auch den Titel (vgl. NK 229, 15) hat N. dort bereits eingetragen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,51). In NL 1876, KSA 8, 17[1], 296, 2–5 wird der „Idealismus“ der Malerei durchaus kritisch gesehen, während MA I 279 in der schließlichen Druckfassung mit dem Ausblick auf Goethe ihm offensichtlich Positives abgewonnen hat. NL 1876, KSA 8, 17[1], 296, 1–8 lautet: „Ü b e r d a s A e s t h e t i s c h e : e i n i g e s D e r b e. / Das Weglassen ein Hauptmittel des Idealismus. Man darf so genau nicht zusehn, man z w i n g t den Z u s c h a u e r in eine g r o ß e F e r n e z u -
652
Menschliches, Allzumenschliches I
r ü c k , d a m i t e r v o n d o r t a u s b e t r a c h t e (wie bei der Dekorations-Malerei). Wie wichtig ist der Ansatz der Entfernung des Betrachters! Hier darf der schaffende Künstler nicht schwanken. Gerade hier zeigt sich, wie genau er vom stärksten Gefühle s e i n e s Zuhörers ausgehen muß.“ Dieses Nachlassnotat mit dem Hinweis auf die „Dekorations-Malerei“ erlaubt es, eine mögliche Quelle für die in 17[1] und MA I 279 vorgetragenen Überlegungen zu den bildkünstlerischen Täuschungspraktiken zu identifizieren. Dankenswerterweise handelt es sich um ein Werk, das N. in seiner Lehrveranstaltung Einführung in das Studium der platonischen Dialoge bei der Besprechung der Forschungsliteratur zum Thema ausdrücklich rühmt: „das bedeutendste Werk der letzten Jahren [sic] war Peipers, Untersuch. über das System Platos I Th. die Erkenntnißtheorie Leipz. 1874“ (KGW II 4, 28, 24–26). Dort heißt es bei der Diskussion der Kritik sinnlicher Erkenntnis bei Platon: „Halten wir uns an die deutlichsten Beispiele des Sinnentrugs, an die φαντάσματα. Plato charakterisirt sie im Sophisten (p. 235d sqq.) als unvollkommene, unähnliche Bilder, welche nicht die wirklichen Verhältnisse des Originals (τὰς οὔσας oder ἀληθινὰς συμμετρίας) wiedergeben, sondern andere enthalten. Worin aber liegt da das Täuschende? Plato antwortet: zur Illusion wird dies unrichtige Bild dann, wenn es unter solchen Bedingungen dem Betrachter vor Augen gestellt wird, unter denen das Unrichtige, vom Original Abweichende in den Verhältnissen auf das Auge grade einen wohlthuenden Eindruck, den Effekt des Schönen machen muss. Wenn z. B. eine Kolossalstatue absichtlich von dem Künstler so gebildet wird, dass die oberen Theile viel zu gross sind, entgegen dem natürlichen Verhältnisse, so thut er dies, weil er dabei mit in Rechnung zieht, dass wegen der Dimensionen der Statue /455/ die oberen Theile dem Beschauer, der sie von unten sieht, sich nothwendig verkürzen müssen und dass mithin, wenn ein ebenmässiges, wohlgestaltetes Bild in dem Wahrnehmungseindruck des Beschauers zu Stande kommen soll, diese Ungunst der Bedingungen, unter denen er dieselbe schaut, durch Veränderung der natürlichen Verhältnisse aufgehoben werden muss. Er erreicht hiedurch den Effekt desselben wohlthuenden, schönen Eindrucks, den auch das Original in den kleineren Dimensionen macht. Er erreicht ihn aber durch eine Täuschung, weil er dazu verleitet, seinem Bilde dieses Ebenmaass in den Proportionen nachzurühmen. Den Fehler aber oder den Irrthum begeht nicht er, sondern der Beschauer, wenn er sich verleiten lässt. Der Fehler besteht darin, dass er dem gefälligen Wahrnehmungseindruck sogleich das Vorstellungsbild von der ebenso beschaffenen Statue im Prädikat seines Urtheils zuweist, ein Verfahren, zu welchem ihn die Association der Vorstellungen menschliche Figur und Proportionalität der oberen Körpertheile mit den übrigen fast mit Nothwendigkeit hindrängt. Nur eine sehr grosse Umsicht, vor Allem die Kenntniss von den optischen Wirkungen solcher kolossalen Figuren, also perspektivische Begriffe, hätten ihn von dem vorschnellen Urtheil: was
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 279, KSA 2, S. 229
653
ich da sehe, ist eine wohlproportionirte Statue, zurückhalten können. Also auch hier würde der sichere Weg gewesen sein, dass der Eindruck zunächst trotz seiner Schärfe als ein ἀσαφές angesehen worden wäre, um zuerst die Umstände, unter denen er wirkt, die Grösse des Objekts, die Entfernung u. s. f. in Betracht zu ziehen ([…]). Aber es ist zuzugestehen, dass es ungemein schwer ist, solchen Eindrücken, deren ganze Beschaffenheit in allen ihren Theilen auf eine in uns lebendige und längst gehegte Vorstellung genau passt, die Benennung mittelst dieser Vorstellung im Prädikate vorzuenthalten, weil das Verfahren, so zu prädiciren, sich in tausend Fällen bei der Prüfung des Urtheils, d. h. bei näherer Betrachtung des Objekts, als völlig gerechtfertigt bewährt hatte und uns zur Gewohnheit geworden war. Der Eindruck, den der Künstler mit diesem und ähnlichen Kunstgriffen erzeugt, z. B. in der Dekorationsmalerei, verleitet also geradezu, irrig zu urtheilen.“ (Peipers 1874, 1, 454 f.) Was bei Platon und bei Peipers zunächst der Trick des Monumentalbildhauers ist, schreibt 17[1] allgemein dem „Künstler“ zu und vermerkt das bei Peipers hinzugefügte Beispiel der Dekorationsmalerei. MA I 279 hingegen transponiert das gesamte Setting auf den „Maler“ (229, 18), der ohnehin immer mit der Distanz und Nähe der Bildbetrachter kalkulieren muss. Mit dem für die hier skizzierte künstlerische Praxis benutzten, ungewöhnlichen Ausdruck des Idealisierens (statt z. B. wie bei Kant des Abstrahierens) ist allerdings eine Verbindungslinie zu Platon noch erhalten. Vgl. zu MA I 279 auch Brusotti 1997, 445. 229, 15 Vo n d e r E r l e i c h t e r u n g d e s L e b e n s.] Während unter dem Eindruck insbesondere von Montaigne (vgl. Vivarelli 1994a, 83, Fn. 10) die epikureische Idee vorherrscht, sich das Leben möglichst zu erleichtern, das ohnehin schon schwer genug ist – vgl. auch MA I 148, KSA 2, 143 –, entwickelt N. nach und nach eine ausgesprochen polemische Haltung gegenüber dem philosophischen Ansinnen, das Leben erleichtern zu sollen, siehe z. B. NK KSA 5, 60, 25–61, 22. Der Genese des Titels von MA I 279 geht Ponton 2003 sehr detailliert nach und demonstriert die verschiedenen Bearbeitungsstufen im Nachlass der 1870er Jahre. Ursprünglich geht die Metapher nach Ponton auf die „leichtlebenden Götter“ in Homer: Ilias VI 138–140 und Odyssee IV 804–807 zurück (vgl. zu den Nachlassnotaten, die die freien Geister mit dem „leichtlebenden Göttern“ identifizieren, auch D’Iorio 2020, 17). In Ponton 2004 wird das Thema noch einmal variiert, während in Ponton 2007 N.s gesamte Philosophie unter dem Leitmotiv der Lebenserleichterung gedeutet wird. 229, 25–28 Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel Goethe.] In M I 1, 51 wurde dieser Satz von N. hinzugefügt und in Köselitz’ Diktattext der Satz gestrichen: „Jeder, der idealisirt,
654
Menschliches, Allzumenschliches I
muss ebenso gut aus seinen Augen, als aus den Augen eines bestimmten Anderen zu sehen verstehen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,51)
280. Konnte man MA I 279 noch als Plädoyer für ein allseits erleichterndes Idealisieren verstehen, stellt MA I 280 heraus, dass dasselbe Phänomen sowohl der „E r s c h w e r u n g“ (229, 30) als auch auf einer „höheren“ (230, 2) Kulturstufe der „E r l e i c h t e r u n g“ (229, 30) dienen könne. Aber anhand des „Beispiel[s]“ der „Religion“ (230, 5) wird auch „das Umgekehrte“ (230, 4) als möglich ausgewiesen: Auf einer frühen Kulturstufe wirke sie entlastend, auf einer späteren behindernd, fesselnd. Also wird man sich fragen, ob im „Idealisiren“ (229, 16 f.) von MA I 279 nicht nur die Erleichterung, sondern auch die Erschwerung verborgen sein könnte. MA I 280 lässt die Metaphorik von Erleichterung und Erschwerung auf ein Abheben „hoch in die Lüfte“ (230, 8 f.) zusteuern, das durch den Ballast der Religion unterbunden zu werden droht (zu N.s Interesse an der realen Luftschifffahrt, die hier metaphorisch transfiguriert wird, siehe NK 222, 13 f.). Zu MA I 280 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von Köselitz’ Hand in M I 1, 50 u. M I 1, 51, also im Diktatmanuskript der Pflugschar, mit Ergänzungen von N.s Hand, aber ohne den späteren Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,50 u. http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,51). In diesem Manuskript M I 1, 51 ist zwischen dem von Köselitz niedergeschriebenen, dann gestrichenen Rest der Vorlage für den späteren Abschnitt MA I 280 und dem Anfang des späteren Abschnitts MA I 279 noch ein Text dazwischengeschaltet, der nicht in MA I aufgenommen wurde: „Wenn das Leben im Verlauf der Geschichte immer schwerer empfunden werden soll, so kann man wohl fragen, ob die Erfindungsgabe der Menschen zuletzt auch für die höchsten Grade dieser Erschwerung ausreicht.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,51; auch in NL 1876, KSA 8, 18[31], 322) Die Aufzeichnung U II 5, 207 lautet: „Die Erleichterung des Lebens: vieles, was für gewisse Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer höheren Stufe als Erleichterung, weil sie stärkere Erschwerungen des Lebens kennen gelernt hat, zB Religion hat ein Doppelgesicht.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,207) 230, 9 steige] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „steigt“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16487 50028/269/).
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 279–281, KSA 2, S. 229–230
655
281. Unausweichlich sei, so MA I 281, dass einseitig orientierte Menschen höhere Kultur und ihre Vertreter missverstehen müssten, weil sie eben nicht „auf mehr Saiten“ (230, 15) zu spielen und zu hören verstünden. Entsprechend neigten die Wenigsaitigen dazu, das eine fälschlich auf das andere zurückzuführen, etwa Kunst auf Religion oder gar Wissenschaft auf Religion. Dabei gelten die „Gelehrten“ (230, 13) ausdrücklich als bloß zweisaitige Menschen, nämlich ausgestattet nur mit „W i s s e n s t r i e b“ und „r e l i g i ö s e [ m]“ Trieb (230, 13 f.). Als mögliche Vorreiter der „höheren Cultur“ wie in MA I 250, KSA 2, 208 verdienen sie keine Erörterung mehr. Auffällig ist in MA I 281 die starke Rolle des Komparativs nicht nur bei der ja allseits im Fünften Hauptstück präsenten „höheren Cultur“: Sie ist keine ‚vielsaitige‘, aber auch nicht die ‚vielsaitigste‘, sondern eine „v i e l s a i t i g e r e [ . ]“ (230, 16). Ihr weiteres Steigerungspotential ist ungebrochen. Das Motiv des Missverstanden-Werdens gerade herausragender Personen zieht sich durch N.s Werk, vgl. NK ÜK FW 371. In Ralph Waldo Emersons Essay Selbstvertrauen hatte N. gelesen: „Misverstanden! Das ist so recht das Wort eines echten Thoren. Ist es denn so schrecklich, misverstanden zu werden? Pythagoras wurde misverstanden, und Sokrates, und Jesus, und Luther, und /43/ Kopernikus, und Newton, und jeder lautere und weise Geist, der jemals Fleisch ward. Groß sein ist misverstanden sein.“ (Emerson 1858, 42 f.; letzter Satz von N. mit doppeltem Randstrich markiert und in NL 1878, KSA 8, 30[104], 540, 11 exzerpiert.) Zu MA I 281 gibt es in Mp XIV 1, 145 eine ‚Reinschrift‘, die mit rotem „A“ markiert sowie mit Bleistift mit „höhere Cultur“ rubriziert ist und keine Korrekturen aufweist; wie üblich fehlt noch der spätere Titel (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,145). 230, 14 anerzogenen] In Mp XIV 1, 145 stattdessen: „angezogenen“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,145). 230, 16–19 können. Es liegt im Wesen der höheren v i e l s a i t i g e r e n Cultur, dass sie von der niederen immer falsch gedeutet wird; wie diess zum Beispiel geschieht, wenn die Kunst als eine verkappte Form des Religiösen gilt. Ja Leute] In Mp XIV 1, 145 heißt es stattdessen: „können: es ist die höhere Cultur, welche von der niedereren immer falsch gedeutet wird (zB. Kunst als eine verkappte Form des Religiösen; ja Leute“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,145). Die schließende Klammer fehlt in Mp XIV 1, 145. Diese Fassung liegt auch dem Druckmanuskript D 11, 133 zugrunde, wo sie dann von Köselitz’ Hand in den schließlichen Drucktext korrigiert wird (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,133).
656
Menschliches, Allzumenschliches I
230, 22 nicht sichtbare Bewegung] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „nicht Bewegung“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/270/).
282. MA I 282 ist bis auf den durch einen Gedankenstrich abgetrennten Schlusssatz (231, 16–19) ein „K l a g e l i e d“ (230, 24), nämlich über die in der Gegenwart um sich greifende Geringschätzung des kontemplativen Lebens, die verhindere, dass „grosse[.] Moralisten“ (230, 27 f.) aufträten. Wegen fehlender Denk- und Ruhezeit falle es überhaupt ungemein schwer, „abweichende Ansichten“ (231, 2) in Erwägung zu ziehen. Die „ungeheure[.] Beschleunigung“ (231, 3) des Lebens – die Eisenbahn steht dafür exemplarisch – verlocke zu vorschnellen Urteilen und strafe den „Freigeist“ (231, 8), der nicht gleich sein oberflächliches Urteil parat hat, mit Verachtung. Gerade von Seiten der „Gelehrte[n]“ (231, 9) schlage ihm diese Verachtung entgegen, weil ihm gelehrte „Gründlichkeit und […] Ameisenfleiss“ (231, 10 f.) abgehe. Dabei habe dieser Freigeist doch eine „höhere Aufgabe“, nämlich „von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen“ (231, 13–16). Hier scheint jene Funktion des Freigeistes auf, die sich dann in Jenseits von Gut und Böse in der Vorstellung verdichtet, dem Philosophen der Zukunft habe Befehls- und Legislationsgewalt zuzukommen („D i e e i gentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeb e r“ – JGB 211, KSA 5, 145, 7 f.). Der Freigeist erfüllt also auch schon nach MA I 282 nicht nur als kritische Instanz, als Irritator eine gesamtgesellschaftliche oder gesamtkulturelle Funktion, sondern ihm kommt eine zentrale Kultursteuerungsaufgabe zu. Der Schlusssatz wechselt dann die Ebene und stellt die eben vorgebrachte „Klage“ (231, 16) selbst wiederum in einen historischen Kontext und prophezeit, sie werde sich erübrigen, wenn der „Genius[.] der Meditation“ (231, 18 f.) machtvoll wiederkehre. Man mag es bemerkenswert finden, dass die Diagnose der „ungeheuren Beschleunigung“, die das 20. und 21. Jahrhundert für sich zu reklamieren pflegt und von Paul Virilios „Dromologie“ (Geschwindigkeit und Politik, 1977) über Hartmut Rosas Beschleunigungstheorem (Beschleunigung und Entfremdung, 2013) bis ByungChul Hans Antibeschleunigungsverweilpredigt (Duft der Zeit, 2014) allerlei (Angst-) Blüten treibt, bereits 1878 zum topischen Inventar eines als „Klagelied“ halb ironisch distanzierten Textes gehört, verfasst von einem Autor, der die technischen Beschleunigungsmittel der Zeit – namentlich die eigens genannte Eisenbahn – selbst leidenschaftlich in Anspruch nahm. Eine Binnenspannung entsteht in
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 281–282, KSA 2, S. 230
657
MA I 282 dadurch, dass die Freigeister einerseits als diejenigen profiliert werden, die ganz ihr eigenes Ding machen sollen, ihrer niemandem rechenschaftspflichtigen Reflexionstätigkeit obliegen können sollen, sie andererseits jedoch eingespannt werden in den Dienst der kulturellen Gesamtentwicklung, als ‚Befehlshaber‘ der Gelehrten und Wissenschaftler. Diese Feldherrenmetapher mag irritieren, denn normalerweise empfängt auch der militärische Befehlshaber nur seine Anweisungen von oben und agiert nicht selbstbestimmt (es sei denn, er ist ein Warlord). Allerdings fügt sich diese Metapher in eine Weltdeutung, die das Kulturgeschehen insgesamt als Kampf begreift (vgl. z. B. MA I 268, KSA 2, 222). Dennoch geht das Martialische schlecht mit der „vorsichtige[n] Haltung der Erkenntniss“ (231, 7) zusammen, die eben noch als freigeisttypisch erschien (vgl. zur Vorsicht des freien Geistes ausdrücklich MA I 291, KSA 2, 234 f.). Zu MA I 282 gibt es in Mp XIV 1, 295 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners mit einigen Korrekturen N.s, der hier schon den Titel „Klagelied“ einfügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,295 u. http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,296). Von N.s eigener Hand existieren Vorarbeiten, so Bleistiftnotizen in N II 1, 217: „Abwesenheit der Moralisten / Montaigne Larochef〈oucauld〉 nicht wieder gelesen / vita contemplativa missgeachtet / Klöster aufgehoben / Mangel des besonnenen Lebens / Missachtung abweichender Ansichten / selbst unter den Gelehrten Hass. / ungeheure Beschleunigung des Lebens. / Dadurch halb oder falsches Sehen und Beurtheilen / Missachtung der Freigeister durch die Gelehrten (zB Lichtenberg’s)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,217; Lichtenberg und seine Missachtung durch die Gelehrten sind dann in der Druckfassung von MA I 282 entfallen, siehe Stingelin 1996, 98 f.). In U II 5, 161 heißt es: „Unzeitgemäss: unsere Zeit leidet an Abwesenheit großer Moralisten / Montaigne Plutarch nicht gelesen / vita contemplat. überhaupt nicht geachtet. / Klöster aufgehoben, Wuth der Arbeit / Missachtung, ja Hass gegen abweichende Ansichten selbst unter Gelehrten, ‚Verrücktheit‘ / ungeheure Beschleunigung des Lebens, daher halbes oder falsches Sehen und Beurtheilen wie bei Eisenbahnfahrten / Missachtung der Freigeister durch Gelehrte (die ‚Gründlichkeit‘ ‚Arbeitstheilung‘)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,161). Dann finden die Überlegungen in ausgefeilterer Form Eingang in das Köselitz diktierte Pflugschar-Manuskript M I 1, 23; N. hat auch hier einige Korrekturen angebracht (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,23); es fehlt aber noch die Rahmung durch den Titel „K l a g e l i e d“ (230, 24) sowie den Schlusssatz im Druck (231, 16–19). Zu Muße und „vita contemplativa“ (230, 26) in MA I umfassend Krause 2021, 262–272. 230, 24 K l a g e l i e d.] Von N. in der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 295 korrigiert aus: „Zu Gunsten der Moralisten“. Auch diesen Titel hatte N. Brenners ursprünglich titelloser Handschrift schon hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,295).
658
Menschliches, Allzumenschliches I
230, 24–231, 1 Es sind vielleicht die Vorzüge unserer Zeiten, welche ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der vita contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten, dass Pascal, Epictet, Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss – sonst im Gefolge der grossen Göttin Gesundheit – mitunter wie eine Krankheit zu wüthen scheinen.] In Mp XIV 1, 295 wurde der Satz so von N.s Hand hineinkorrigiert. Die ursprüngliche Version von Brenners Hand lautete: „Unsere Zeit leidet an der Abwesenheit grosser Moralisten. Montaigne, La Rochefoucauld, Plutarch werden nicht mehr gelesen. Die vita contemplativa ist in Missachtung, die Klöster hebt man auf, Arbeit und Fleiß wüthen wie eine Krankheit.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,295) 230, 25 f. ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „ein Zurücktreten, eine gelegentliche Unterschätzung“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/270/). 231, 16–19 Eine solche Klage, wie die eben abgesungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius’ der Meditation, verstummen.] Diesen Satz hat N. erst nachträglich in Brenners ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 296 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,296).
283. MA I 283 setzt die kulturkritische Perspektivierung der Gegenwart fort, ohne aber wie in MA I 282 in eine Klage auszubrechen. Der Ton ist eher der einer nüchternen Rekapitulation: Die „Thätigen“ (231, 22) oblägen zwar brav ihren Berufspflichten, seien aber meist nicht imstande, eine eigene, individuelle Tätigkeit zu finden, die ganz ihnen entspricht. Daher bestehe die herkömmliche Unterscheidung von Sklaven und Freien nach wie vor fort: Wer nicht zwei Drittel seiner Tageszeit für sich habe, bleibe ein Sklave. Zu MA I 283 gibt es in Mp XIV 1, 298 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, die von N. mit dem Titel „Hauptmangel der thätigen Menschen“ versehen wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,298). Von N.s eigener Hand existieren Vorarbeiten, so Bleistiftnotizen in N II 1, 48: „Alle Menschen zerfallen in Sclaven und Freie: wer vom Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er sei sonst, was er sei: Beamter, Kaufmann usw.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-1,48; vgl. auch D’Iorio 2020, 16 f.) In N II 1 heißt es weiter, in der als NL 1876, KSA 8, 16[38], 293, 12–16 edierten Aufzeichnung: „Die Unthätigkeit
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 282–283, KSA 2, S. 230–231
659
bei den ‚Thätigen‘. Sie wissen den Grund nicht, warum sie arbeiten, sie verlieren vitam ohne Sinn: es fehlt ihnen die höhere Thätigkeit, die i n d i v i d u e l l e, sie denken als Beamte Kaufleute, aber sind unthätig als Menschen einziger Art.“ Und in NL 1876, KSA 8, 16[40], 293, 19–294, 2: „Es ist das Unglück der Thätigen dass ihre Thätigkeit immer ein wenig unvernünftig ist: sie rollen so bewusstlos fort wie der Stein fällt.“ In U II 5, 157 wird dann geschliffen: „Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit fast immer ein wenig unvernünftig ist; sie rollen wie der Stein rollt, man darf nach dem Zweck nicht fragen (denke an den geldsammelnden Banquier)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,157). Im Manuskript folgt jetzt das als NL 1876, KSA 8, 17[48], 305 edierte Notat, bevor es weitergeht: „Den ‚Thätigen‘ fehlt gewöhnlich die höhere Thätigkeit: ich meine die individuelle; sie sind als Beamte Kaufleute Gelehrte usw thätig, aber nicht als der ganz bestimmte einzige Mensch.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,157) In U II 5, 173 folgt: „Alle Menschen zerfallen jetzt in Sklaven und Freie. Wer vom Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle, Beamter, Gelehrter, Kaufmann“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,173). In ausgearbeiteter Form finden sich die Überlegungen dann in dem von Köselitz niedergeschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 21 f. (http://www.nietz schesource.org/DFGA/M-I-1,21 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,22), wobei das spätere Ende 231, 31–232, 2 in diesem Manuskript noch immer als völlig separater Aphorismus auf Seite M I 1, 41 erscheint (http://www.nietzschesource. org/DFGA/M-I-1,41). Im Unterschied zur expliziten Verteidigung der Kulturnotwendigkeit von Sklaverei, die N. in der Vorrede zum nie geschriebenen Buch Der griechische Staat provokationslustig behauptet (CV 3, KSA 1, 764–777; dazu Ruehl 2004), wird in MA I 283 die faktische Fortexistenz der Sklaverei scheinbar einfach nur festgestellt – aber nicht da, wo es der Leser wohl zuerst vermutet hätte, nämlich im Industrieproletariat und in der grundbesitzlosen Landbevölkerung, sondern vielmehr bei sozial durchaus Höher- und Hochgestellten. Der Sklavereibegriff ist hier von seinem historischen und sozialen Kontext einigermaßen losgelöst, im Unterschied zu CV 3 (vgl. dazu auch Bierl 2022). Aber noch immer bleibt die polemische Implikation gegen all diejenigen erhalten, die gegen die antike Präferenz für die Sklaverei (namentlich bei Aristoteles) wie etwa Wilhelm Oncken in seinem von N. gelesenen Buch über Die Staatslehre des Aristoteles vom „Adel der Arbeit“ (Oncken 1870, 1, 76) schwärmen (Sören E. Schuster sieht in CV 3 eine zumindest mittelbare Reaktion auf die Oncken-Lektüre, vgl. Schuster 2023, ferner NK KSA 5, 75, 26–76, 3; Bagehot 1874, 83 kann sich hingegen mit der Sklaverei gut anfreunden, vgl. Vivarelli 2008, 538). Vivarelli 1994a, 90 f. macht zu MA I 283 und den einschlägigen Nachlassstellen auch eine Parallele bei Montaigne (Essais III 10) dingfest: „Du hast bey dir genug zu thun, entferne dich nicht. Die Menschen verdingen sich einander.
660
Menschliches, Allzumenschliches I
Sie brauchen ihre Kräfte nicht für sich, sondern für diejenigen, in deren Dienste sie sich begeben. Diejenigen, welche sie gemiethet haben, sind bey sich; sie aber sind es nicht. Diese gemeine Art misfällt mir. Man muß die Freyheit seiner Seele sparen, und nur bey rechten Gelegenheiten verpfänden: und deren giebt es sehr wenige, wenn wir richtig davon urtheilen wollen. Man sehe nur diejenigen Leute, welche gewohnt sind, sich aufzubringen und einnehmen zu lassen, sie thun es durchgängig; bey kleinen Dingen so wohl als bey großen, bey Dingen, die sie etwas angehen, sowohl als bey andern, die sie nichts angehen. Sie mischen sich allerwegen ein, wo etwas zu thun ist: und können nicht leben, wenn sie nicht in einer unruhigen Bewegung sind. In negotiis sunt, negotii caussa. Sie machen sich etwas zu schaffen /216/ um etwas zu schaffen zu haben. Sie wollen nicht gehen; sondern können nur nicht stille sitzen: ebenso wie ein fallender Stein nicht eher ruht, bis er auf den Boden kömmt.“ (Montaigne 1753–1754, 3, 215 f.) N. dürfte den Vergleich mit dem fallenden, rollenden Stein hier entlehnt haben. Vivarelli 2008, 537 sieht in MA I 283 Überlegungen aus Bagehot 1874, 215 f. mit Montaigne zusammengeführt. Zum Verhältnis von Arbeit und Sklaverei siehe MA I 457, KSA 2, 296 u. NK KSA 3, 389, 23–29; zum hier entwickelten Verständnis von Muße Krause 2021, 267 f.
284. MA I 283 akzentuiert die Kritik an rastloser, aber fremdbestimmter Tätigkeit des vorangegangenen Abschnitts und optiert, gerade gegen den Aktivismus der Gelehrten, für eine Rehabilitation des „otium“ (232, 10), der Muße. Freilich soll die nicht mit bloßer Faulheit verwechselt werden, wie es in einer direkten „ihr“Ansprache der „Faulthiere“ (232, 16) unter den Lesern am Ende heißt. Dass Gelehrte, die Spezialisten der Muße sein müssten, sie meist scheuen, ist schon eine These in UB III SE 6, KSA 1, 397, 24–26: „Während der wirkliche Denker nichts mehr ersehnt als Musse, flieht der gewöhnliche Gelehrte vor ihr, weil er mit ihr nichts anzufangen weiss.“ Zu MA I 284 gibt es in Mp XIV 1, 297 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, die von N. mit dem Titel „Zu Gunsten der Müssigen“ sowie Zusätzen versehen wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,297 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,298). In U II 5, 163 heißt es: „Die Schätzung des contemplativen Lebens hat abgenommen. – Deshalb ist meine Betrachtung unzeitgemäß. Ehemals waren der Geistliche und der esprit fort Gegensätze, beide innerhalb des contempl. Lebens“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,163, ediert in NL 1876, KSA 8, 17[41], 304). In N II 1 gab es dazu schon eine Vorarbeit: „Die S c h ä t z u n g d e s c o n t e m p l a t i v e n Lebens h a t a b g e n o m m e n. Ehe-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 283–284, KSA 2, S. 231–232
661
mals waren Gegensätze der Geistliche und der esprit fort: eine Art Neugeburt beider in Einer Person jetzt möglich.“ (NL 1876, KSA 8, 16[51], 295, 8–11) Dort steht auch: „Der Gelehrte hat Würde verloren, er macht den hastig geniessenden a c t i v e n Menschen Concurrenz.“ (NL 1876, KSA 8, 16[48], 295, 1 f.) NL 1876, KSA 8, 17[82], 310, 5 f. stellt fest: „Die Muße und der Müssiggang gehen verloren! wieder verleumdet!“ Die Variation zum bekannten Sprichwort wird in U II 5, 67 skizziert: „Wenn Müssiggang wirklich ˹nur der Anfang˺ aller Laster Anfang ist, so befindet er sich doch mehr ˹also˺ wenigstens in der ˹nächsten˺ Nähe aller Tugenden; [– – –] Zustand des Menschen ˹der müssige Mensch ist immer˺ noch ein besserer Mensch als der thätige.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,67) NL 1876, KSA 8, 17[92], 311, 13 f. schlägt in dieselbe Kerbe: „Daß wir uns beim Anfang aller Laster doch noch sehr in der Nähe der Tugend befinden.“ In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 20 ist der spätere Drucktext 232, 4–10 enthalten; N. hat darin „contemplativen Lebens“ in „beschaulichen Lebens“ korrigiert. Unten auf der Seite, mit unklarer Zuordnung (die in KGW IV 4, 211 ist nicht zwingend), hat N. den Satz notiert: „In einer Zeit, welche verlernt, was Musse otium ist, mag auch ein Wort zu Gunsten des Müssigganges erlaubt sein.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,20) 232, 9 viel mehr] In der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 235) und in N.s Handexemplaren stattdessen: „vielmehr“. KGW u. KSA emendieren nach Mp XIV 1, 297 und dem Druckmanuskript D 11, 134 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,134). 232, 10 otium] Lateinisch: „Muße“. Lucius Annaeus Seneca hat einen berühmten Dialog De otio verfasst, wo unter „otium“ nicht Faulheit und Nichtstun, sondern die Enthaltung von politischer Tätigkeit und das Betreiben philosophisch-wissenschaftlicher Studien fallen. 232, 10 f. Es ist aber ein edel Ding um Musse und Müssiggehen.] Von N. nachträglich in Brenners ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 297 eingefügt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,297). Die altertümelnde Wendung, es sei „ein edel Ding um“, findet sich bei N. nur hier; sie ist aber im 19. Jahrhundert durchaus belegt, so bei Wilhelm Raabe: „Es ist ein edel Ding um ein Gewissen, das sich leicht regt“ (Raabe 1865, 292). 232, 11–13 Wenn Müssiggang wirklich der A n f a n g aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten Nähe aller Tugenden] Das „wenigstens“ hat N. nachträglich in Brenners ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 297 eingefügt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,297). Dass Müssiggang aller Laster Anfang sei, ist eine vielfach belegte Redensart, die N. hier ironisch konterkariert (vgl. die Nachweise bei Wander 1867–1880, 3, 791 f.). Er wird auch später gerne mit ihr spielen, so in GD Sprüche und Pfeile 1, vgl. NK KSA 6, 59, 3 f.
662
Menschliches, Allzumenschliches I
232, 15 f. Ihr meint doch nicht, dass ich mit Musse und Müssiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere? –] Von N. nachträglich in Brenners ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 298 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,298). Vgl. zum Faultier auch NK 254, 26–28 u. zum zoologischen Hintergrund Krause 2021, 269–271.
285. MA I 285 stellt nun eine allgemeine Kulturdiagnose der Unruhe aus, die auch einen kulturgeographischen Akzent setzt: Die Amerikaner seien noch rastloser als die Europäer, die ihnen geradezu als „ruheliebende […] Wesen“ (232, 20 f.) erschienen. Diese Ruhelosigkeit könne schnurstracks „in eine neue Barbarei“ (232, 26) münden. Daher müsse man „das beschauliche Element“ (232, 29) verstärken. Zu MA I 285 gibt es in Mp XIV 1, 296 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, die von N. mit dem Titel „Die moderne Unruhe“ sowie Zusätzen versehen wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,296 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,297). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 21 findet sich eine Vorstufe mit Korrekturen von N.s Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,21). In U II 5 b gibt es eine Reihe von Notaten, die MA I 285 vorbereiten: „Die moderne Bewegtheit wird so groß, daß alle großen Ergebnisse der Cultur dabei verschwinden, es fehlt allmählich an dem ihnen gemäßen Sinne. So läuft die Civilisation in eine neue Barbarei aus. Die Menschheit darf aber nicht in diesen einzigen Strom der ‚Thätigen‘ geleitet werden. Ich hoffe auf das Gegengewicht, das beschauliche Element im russischen Bauern und im Asiaten. Dies wird irgend wann einmal in größerem Maaße den Charakter der Menschheit corrigiren.“ (NL 1876, KSA 8, 17[53], 306, 1–8) „Nach dem Westen zu wird der Wahnsinn der Bewegung immer größer, so daß den Amerikanern schon alle Europäer behaglich und genießend vorkommen. / Wo die beiden Ströme zusammentreffen und sich verschmelzen, kommt die Menschheit zu ihrem Ziele: die höchste Erkenntniß über den Werth des Daseins (dort nicht möglich, weil die Aktivität des Denkens zu gering, dort nicht möglich, weil diese Aktivität anders gerichtet ist).“ (NL 1876, KSA 8, 17[54], 306, 9–16) „Ich imaginire zukünftige Denker, in denen sich die europäisch-amerikanische Rastlosigkeit mit der hundertfach vererbten asiatischen Beschaulichkeit verbindet: eine solche Combination bringt das Welträthsel zur Lösung. Einstweilen haben die betrachtenden Freigeister ihre Mission: sie heben alle die Schranken hinweg, welche einer Verschmelzung der Menschen im Wege stehen: Religionen Staaten monarchische Instinkte Reichthums- und Armutsillusionen, Gesundheitsund Rassenvorurtheile – usw.“ (NL 1876, KSA 8, 17[55], 306, 17–25) Vivarelli 2008, 533 f. verweist auf Parallelen dieser Kritik an der „m o d e r n e [ n ] U n r u h e“ (232, 18) in Jacob Burckhardts Vorlesungen Über das Studium
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 284–285, KSA 2, S. 232
663
der Geschichte, die N. selbst in Basel besucht hat. Dort heißt es beispielsweise im Abschnitt über „die Cultur des XIX. Jahrhunderts als Weltcultur“, „zweifelhafter“ sei der „Gewinn der Erwerbenden, welche wesentlich das vorwärtstreibende Element sind und mit elementarer Leidenschaft auf 1) noch viel größere Beschleunigung des Verkehrs, 2) völlige Beseitigung der noch vorhandenen Schranken, d. h. auf den Universalstaat hindrängen […]. Die Strafe: die enorme Konkurrenz vom Größten bis ins Geringste und die Rastlosigkeit. Der erwerbende Culturmensch möchte gerne geschwind /188/ recht Vieles mitlernen und mitgenießen, muß aber mit Schmerzen das Beste Andern überlassen; andere müssen für ihn gebildet sein, wie für den großen Herrn des Mittelalters andere beteten und sangen. / Freilich eine große Quote sind die amerikanischen Culturmenschen, welche auf das Geschichtliche, d. h. auf die geistige Continuität großenteils verzichtet haben und Kunst und Poesie nur noch als Formen des Luxus mitgenießen möchten. / Am unglücklichsten befinden sich in dieser Zeit Kunst und Poesie selber, innerlich ohne Stätte in dieser rastlosen Welt, in dieser häßlichen Umgebung, während alle Naivität der Production ernstlich bedroht ist.“ (Burckhardt 2000, 10, 187 f.) Auf dieser Linie mit Burckhardt wird das Wort „Amerikanismus“ bei zeitgenössischen Intellektuellen wie Ernest Renan und Moritz Lazarus zum Synonym für moderne Barbarei (vgl. die Nachweise bei Vivarelli 2008, 535). Einen für MA I 285 nicht unwesentlichen Lektüreeindruck dürfte N. zudem Walter Bagehots Der Ursprung der Nationen geboten haben (vgl. Vivarelli 2008, 540), wo es beispielsweise heißt: „In Amerika und Australien wächst /44/ jetzt eine neue Art des sogenannten Angelsächsischen heran. Ein besonderer Charaktertypus hatte sich aus den Schwierigkeiten des Coloniallebens, aus dem Kampf mit der Wildniss herausgebildet, und dieser Typus hat sich über die Masse verschiedener Charaktere verbreitet, weil ihn die Masse unbewusst nachgeahmt hat. Viele amerikanische Charakterzüge sind unbedingt nützlich und bilden sich heraus aus einem derartigen Leben. Die eifrige Rastlosigkeit, die straffe Spannung des Nervensystems sind bei unausgesetztem Kampf von Nutzen und werden noch erhöht durch denselben.“ (Bagehot 1874, 43 f.) Vor allem aber hat N. sich durch den von ihm hochgeschätzten Mark Twain die übergeschäftige Lebensart der Amerikaner vor Augen führen lassen, wie Vivarelli 2008, 540 f. nachweist, namentlich durch die Erzählung Im Silberland Nevada, die unter N.s Büchern erhalten ist (Twain 1874, 279–281, zitiert in NK KSA 3, 556, 4–9). Zur Insektenmetaphorik mit Bienen und Wespen in MA I 285 siehe Landgraf 2021, 282, zum Rastlosigkeitsmotiv Krause 2022b. 232, 30 zu verstärken] In Brenners ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 297 folgt darauf: „: (was am einfachsten durch eine Vermischung von asiatischem und russischbäurischem Blute mit europäischem und amerikanischem gelingen dürfte)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,297). Schon im Pflugschar-Manuskript M I 1, 21 heißt es: „was am einfachsten durch eine Vermischung von russi-
664
Menschliches, Allzumenschliches I
schem und asiatischem Blute mit europäischem gelingen dürfte“. In der Pflugschar bildete dies zugleich Höhepunkt und Ende des Abschnitts, bevor N. dem Manuskript von Köselitz’ Hand noch eine Vorfassung von 232, 30 bis 233, 4 hinzufügte (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,21). Dass „die Mischung verschiedener Rassen“ kulturell wichtig und heilsam sei, konnte N. bei Bagehot 1874, 48 erfahren, vgl. Vivarelli 2008, 539. Im Druckmanuskript D 11, 135 fehlt dieser Blut-Einschub; offenbar wollte sich N. da nicht mehr auf eugenische Vorstellungen und konkrete sozialpolitische Tranquillierungsvorschläge einlassen. 233, 4 Aufgabe] Von N. nachträglich in Brenners ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 297 korrigiert aus: „Mission“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,297).
286. Der Abschnitt nimmt ein Motiv aus MA I 283, KSA 2, 231 auf, wonach der Einzelne seine individuelle Tätigkeit finden müsse. Da nun, so MA I 286, jeder ein „eigenes, nur einmaliges Ding“ (233, 8 f.) sei, nehme er auch zu allem eine ganz eigene „Stellung“ (233, 10) ein und müsste dazu „eine eigene Meinung haben“ (233, 8). Diesen Gedanken wird N. später noch schärfer herausarbeiten; in der N.-Rezeptionsgeschichte wird dieser Überlegungskomplex dann das Etikett „Perspektivismus“ bekommen. Es sei, so MA I 286 weiter, nun gerade die „Faulheit“ (233, 10) der fremdbestimmt Tätigen, die sie daran hindere, sich wirklich ihre eigenen Meinungen zu bilden. Meinungen seien wie „Gesundheit“ (233, 13) radikal individuell. Zu MA I 286 gibt es in Mp XIV 1, 299 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners und von N. mit dem Titel „Inwiefern der Thätige faul ist“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,299 u. http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,300). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 16 f. findet sich eine Vorstufe mit Korrekturen von N.s Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,16 u. http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,17). Hier folgt nach „schöpfen“ (später 233, 12) noch der Satz: „(Übrigens zerfallen die Dinge in solche, über welche ein Wissen und in solche, über welche Meinungen möglich sind; nur von der letzten Gattung der Dinge kann hier die Rede sein.)“ Mit dem Folgesatz „Mit der Freiheit […]“ (später 233, 12 f.) beginnt in der Pflugschar-Version ein neuer, mit 21 nummerierter Abschnitt. In der ‚Reinschrift‘ findet sich von beidem keine Spur mehr; sie verschmilzt also nicht nur zwei Abschnitte, sondern lässt auch die wichtige Differenzierung zwischen Meinung und Wissen weg, der zufolge es „Dinge“ gibt, von denen ein als objektiv gedachtes Wissen gewonnen werden kann – vermutlich mit wissenschaftlicher Forschung –, das nicht individuell, sondern überindividu-
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 285–287, KSA 2, S. 232–233
665
ell gültig ist. Dieser erkenntnistheoretische Akzent entfällt in der Druckfassung vollständig: Er hätte Rückfragen provoziert, die die Hauptpointe von MA I 286, nämlich die radikale Individualisierung, zu verschleiern drohten. Diese wird schon mit dem emphatischen „Ich glaube“ (233, 6) performativ in Szene gesetzt. Im Nachlass fristen die verschiedenen Elemente von MA I 286 noch ein getrenntes Dasein. In U II 5, 169 heißt es: „Ich glaube dass jeder über jedes Ding eine eigene Meinung haben muss, weil er ein einziges Ding selber ist: aber die Faulheit verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eignen Brunnen zu schöpfen. / Die Dinge zerfallen in solche, über welche ein Wissen u solche über welche nur Meinungen möglich sind.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,169) Das diesen Notaten vorausgehende Notizbuch N II 1 enthält die beiden folgenden Bleistiftaufzeichnungen: „Jeder hat über jedes seine eigene Meinung, weil er ein eignes Wesen ist – doch muss er sich sehr besinnen! / Die Dinge zerfallen in solche über welche ein Wissen und solche über welche Meinungen möglich sind.“ (NL 1876, KSA 8, 16[42], 294, 5–8) Sowie: „Mit der Freiheit steht es wie mit der Gesundheit: sie ist individuell.“ (NL 1876, KSA 8, 16[43], 294, 9 f.; so, nur mit unterstrichener „Freiheit“, dann auch in U II 5, 167 – http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,167). Welchen Schwierigkeiten eine zwischenmenschliche Relation wie Freundschaft unterliegt, wenn wir uns menschliche Individuen als radikal different vorstellen müssen, veranschaulicht dann MA I 376, KSA 2, 262 f.
287. Wer sich ein freies Urteil über das Leben erlaubt, werde nach MA I 287 zwischen Hass und Liebe hin und her gerissen sein, bevor er schließlich etwas milder gestimmt, ihm „bald mit dem Auge der Freude, bald mit dem der Trauer“ (233, 28) gegenübertrete. Zu MA I 287 gibt es in Mp XIV 1, 300 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,300). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 18 findet sich eine Vorstufe mit Korrekturen von N.s Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MI-1,18). In U II 5, 165 heißt es: „Der Wechsel von Liebe u. Hass ist charakteristisch für den Menschen, welcher frei werden will: er vergisst nicht u. trägt den Dingen nach, Gutes und Böses. Zuletzt wird er nicht das Dasein verachten u. es auch nicht lieben, sondern über ihm liegen mit Trauer u. Freude, wie die Natur bald sommerlich bald herbstlich.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,165) In MA I 287 kehrt das Motiv der positiven oder negativen Lebensgesamtbilanz wieder, das N. etwa in der Auseinandersetzung mit Dühring (Der Werth des Lebens) und Schopenhauer umgetrieben hat, vgl. z. B. NK ÜK MA I 28.
666
Menschliches, Allzumenschliches I
233, 21 f. C e n s o r v i t a e. – Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet für eine lange Zeit] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. steht: „C e n s o r v i t a a. – Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet für uns lange Zeit“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/273/). Der Lateinfehler und das Personalpronomen bleiben hier unkorrigiert, aber am Rand gibt es eine Bleistiftmarkierung (ein Fragezeichen?). Die Überschrift „Censor vitae“ hat N. erst im Druckmanuskript D 11, 135 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,135). Die lateinische Wendung „censor vitae“ oder „vitae censor“ für „Zensor/ Richter des Lebens“ kommt in der neulateinischen, namentlich auch in der theologischen Literatur vor (z. B. in der poetischen lateinischen Paraphrase von Psalm 139, 1 bei Arthur Johnston: „Tu, Deus […] Tu rigidus vitae censor es ipse meae“ – Jonston [sic] 1706, 145). Jedoch ist bei diesen Belegen – die sich überdies quellenkritisch nicht unmittelbar mit N. in Verbindung bringen lassen – meist ein bestimmtes Leben und nicht das Leben im Allgemeinen gemeint, über das zu Gericht gesessen wird. 233, 21–25 Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet für eine lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem Urtheile über das Leben werden will; er vergisst nicht und trägt den Dingen Alles nach, Gutes und Böses.] In M I 1, 18 lautete der Satz ursprünglich in Köselitz’ Handschrift: „Der Wechsel von Liebe und Hass ist charakteristisch an dem Menschen, welcher frei werden will. Er vergisst nicht und trägt den Dingen nach, Gutes und Böses.“ N. fügt ein: „in seinem Urtheile über das Leben“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I1,18). In Mp XIV 1, 300 lautet der Satz in Brenners Handschrift: „Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet einen Menschen, welcher frei in seinem Urtheile über das Leben werden will; er vergisst nicht und trägt den Dingen nach, Gutes und Böses.“ N. korrigiert hier nicht (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,300). Diese Fassung liegt auch dem Druckmanuskript D 11, 135 zugrunde. Dort emendiert N. dann mit Einschüben zum definitiven Drucktext (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,135). Die Freiheit war ursprünglich also nicht aufs Urteilen bezogen, sondern so allgemein gemeint wie gleich im folgenden Abschnitt MA I 288, KSA 2, 234: Eine philosophische Freiheit der Erkenntnis. 233, 25 f. , wenn die ganze Tafel seiner Seele mit Erfahrungen voll geschrieben ist,] Von N. erst mit einem Einschub ins Druckmanuskript D 11, 135 hineinkorrigiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,135).
288. MA I 288 stellt demjenigen, der frei werden wolle (vgl. auch NK 233, 21–25), in Aussicht, dass er auch „die Neigung zu Fehlern und Lastern“ (234, 3) verlieren
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 287–289, KSA 2, S. 233–234
667
werde, ebenso wie die Affekte des Ärgers und des Verdrusses. Er werde nichts anderes wollen als das Erkennen – und die Voraussetzungen dafür, einen erkenntnisermöglichenden Zustand. Zu MA I 288 gibt es in Mp XIV 1, 300 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,300 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,301). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 18 findet sich eine Vorstufe mit Korrekturen von N.s Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,18). In U II 5, 165 heißt es: „Wer ernstlich frei werden will, verliert allen Hang zu Lastern, auch Aerger u. Verdruss kommt [sic] seltener. Zuletzt will er nicht mehr als Erkennen u. deshalb das, was ihn im Zustande erhält, wo er am tüchtigsten dazu ist. Es ist ein Kampf gegen die angebliche Nothwendigkeit, die den Menschen umschließt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,165) Die ursprüngliche Verbindung von Freiheit und Kampf in U II 5, 165 geht in der Druckfassung von MA I 288 verloren; nun wird ein reines Erkenntnissubjekt entworfen, das altbacken antikisierend alle Laster dank des Erkennens leichthin abstreift, so wie es erkenntnisgläubige Philosophen im Gefolge von Sokrates und Platon über die Stoa und Epikur für möglich hielten. Vivarelli 1994a, 88 macht auch einen Bezug zu Montaigne mit dessen Präferenz für ein stilles Leben geltend: „Was jene [sc. die Stoiker] aus Tugend gethan haben, habe ich mich aus Neigung zu thun gewöhnt. Die Ungewitter Halten sich in der mittlern Gegend auf. Die beyden äußerten, die Weltweisen und Landleute, sind gleich ruhig und glücklich.“ (Montaigne 1753–1754, 3, 248) Zur Erkenntnisperspektive siehe auch MA I 292, KSA 2, 235–237. 234, 2 N e b e n e r f o l g. –] Die Überschrift hat N. erst im Druckmanuskript D 11, 135 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,135).
289. Der Abschnitt MA I 289 behauptet eine erkenntniserschließende Kraft von Krankheiten, die zur „Musse“ (234, 13) zwingen: Sie ermöglichen dem Menschen die Einsicht, dass womöglich seine soziale Rolle das ist, woran er leidet. Zu MA I 289 gibt es in Mp XIV 1, 299 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, in die N. den Titel „Werth der Krankheit“ eingetragen hat (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,299). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 6 f. findet sich eine Version, die auch schon einen Titel trug, nämlich „Werth der Krankheit für die Erkenntniss“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,6). In U II 5, 197 lautet das vorbereitende Notat: „Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er
668
Menschliches, Allzumenschliches I
für gewöhnlich an seinem Amte Berufe Geschäfte krank ist u. jede Besonnenheit über sich verloren hat.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,197) Es liegt nahe, MA I 289 in den autobiographischen Rahmen von N.s Unwohlbefinden mit seiner Stellung als Basler Philologie-Professor und dem dazugehörigen sozialen Umfeld zu stellen, aus dem er dann krankheitshalber beurlaubt nach Sorrent Reißaus nahm. In U II 5, 197 ist die „Gesellschaft“ (234, 11) noch nicht erwähnt – als ob dem Sprecher erst spät gedämmert habe, wie schädlich sich schlechte Gesellschaft auf die Gesundheit auswirken kann. 234, 12–14 hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Musse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt.] In Mp I 1, 7 stattdessen: „hat. Der kranke Mensch ist oft an seiner Seele gesünder als der gesunde Mensch.“ Der Satz ist in (nachträgliche?) Klammern gesetzt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,7); aus U II 5b wurde er dann auch ediert als NL 1876, KSA 8, 17[11], 298. In der Druckfassung von MA I 289 wollte N. die seelische Gesundheitsbehauptung kranker Menschen weder in der ursprünglich generalisierten, noch in (personen)spezifisch abgeschwächter Form stehen lassen.
290. MA I 290 ist das Plädoyer für ein ländliches Dasein, das seine fest umzirkelten Horizonte hat, anstatt sich im städtischen Gewirr zu zersetzen. Der Abschnitt, der eine bukolische Motivtradition idyllischer Landschaftlichkeit aufruft, bringt auf den Punkt, was gegen den ideologischen Mainstream der Moderne, der sich der Großstadt verschrieben hat, eine noch nicht weit verbreitete Erkenntnis ist: Dass geistige Bewegungskraft auf dem Lande, fernab von ständiger urbaner Nervenüberreizung, ungleich gespannter ist, während der Städter „unruhig, zerstreut und begehrlich“ (234, 19) bleibt. Allerdings dienen in MA I 290 die „Gebirgs- und Waldlinien“ (234, 17 f.) vor allem als metaphorische Analogien; man benötige einfach „feste, ruhige Linien am Horizonte seines Lebens“ (234, 17). Wenn man die hat, wäre vielleicht auch ein Leben in der Stadt fruchtbar. Ausbuchstabiert hat die urbane Überreizung dann Georg Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben von 1903, wobei er dem städtischen Leben mehr schöpferisches Potential einräumte als N.: „Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“ (Simmel 1995, 116) Dass gegen die modernitätstypische urbane Voreingenommenheit das eigentliche Zentrum intellektueller Produktivität das Dorf sei, deuten Ajouri/Rahden/Sommer 2015 an.
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 289–291, KSA 2, S. 234
669
Zu MA I 290 gibt es in Mp XIV 1, 301 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,301). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 19 lautet die ursprüngliche Version, bevor N. sie in den späteren Drucktext korrigiert hat: „Wenn man nicht feste, ruhige Linien am Horizonte seines Lebens hat, Gebirgs- und Waldlinien gleichsam, so wird das Leben selber unruhig und flüssig, wie das Wesen des Städters.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,19) So lautet auch das Notat U II 5, 161 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,161). Eine Keimzelle des Gedankens findet sich in einer Bleistiftnotiz N II 1, 216: „wenn man nicht ruhige Linien um sein Leben hat, Gebirgs- und Waldlinien gleichsam, so wird es flüssig und unruhig, wie das Wesen des Städters.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-1,216) 234, 16 E m p f i n d u n g a u f d e m L a n d e.] Die Überschrift hat N. erst im Druckmanuskript D 11, 136 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,136).
291. Spielte MA I 282, KSA 2, 231 noch mit dem Gedanken, den „Freigeist“ als Befehlshaber kulturerobernder Armeen einzusetzen, mahnt MA I 291 explizit zur „V o r s i c h t“ (234, 22): Erkenntnisgierige, freie Köpfe würden sich mit einer bescheidenen Stellung, die ihnen Unabhängigkeit und Auskommen sichert, zufriedengeben und sich so positionieren, dass sie durch äußere Veränderungen möglichst wenig tangiert werden. Der Freigeist wolle sich nicht „verwickeln“ (235, 9) ins Weltgetriebe – auch in seiner „Liebe zu den Menschen“ (235, 13) sei er zurückhaltend und vorsichtig. Seine Lebensform läuft unter dem Stichwort eines „v e r f e i n e r t e n H e r o i s m u s“ (235, 20), der nicht den Zuspruch der Masse sucht, aber Abgründigstes auslotet. Zu MA I 291 gibt es in Mp XIV 1, 301 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners mit einigen Korrekturen N.s und noch ohne Titel (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,301 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,302). Diese Fassung reicht aber nur bis 235, 19 im Drucktext, vgl. NK 235, 16–19. Der Blick in das von Köselitz nach N.s Diktat niedergeschriebenen PflugscharManuskript zeigt, dass der Text von MA I 291 aus verschiedenen Textvorlagen zusammengestückelt worden ist, die dort an unterschiedlichen Orten als einzeln durchnummerierte Abschnitte geführt werden. Der Beginn des späteren Abschnitts MA I 291, nämlich eine Vorstufe von 234, 22–235, 6, findet sich in M I 1, 19 f. unter der Abschnittnummer 29 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I1,19 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,20; dazu eine abweichende Vorarbeit in U II 5, 163 – http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,163). Die spätere
670
Menschliches, Allzumenschliches I
Fortsetzung 235, 6–9 findet sich mit der Abschnittnummer 37 in M I 1, 22 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,22; dazu eine abweichende Vorarbeit in U II 5, 157 – http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,157); der Anschluss 235, 9–12 dann als Abschnitt 22 mit abweichender Textgestalt in M I 17, schließlich die abweichende Vorfassung zum vorläufigen Ende 235, 12–19 ebenfalls in M I 17, aber mit der Abschnittnummer 23 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,17; dazu eine abweichende Vorarbeit in U II 5, 167 – http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,167). Der Drucktext führt alle diese separaten Abschnitte dann jeweils mit Gedankenstrichen voneinander abgesetzt zu einem Text zusammen, dessen logische Folgerichtigkeit durch diese Kollage freilich nicht zwingend wirkt. In U II 5 b gibt es generelle Überlegungen zur Sozial(un)gebundenheit des Freigeistes: „Wie steht der Freigeist zum activen Leben? Leicht an dasselbe gebunden, kein Sklave desselben.“ (NL 1876, KSA 8, 17[42], 304, 10 f.) Vor U II 5 verweisen auch bereits in N II 1 Bleistiftstiftnotizen thematisch auf MA I 291 voraus. Der Beginn von MA I 291 ist präfiguriert in NL 1876, KSA 8, 16[49], 295, 3–5: „Zeitig sein äusserliches Ziel erreichen, ein kleines Amt, ein Vermögen, das gerade ernährt. So leben dass ein Umsturz aller Dinge uns nicht sehr erschüttern kann.“ Das Tauchermotiv von 235, 3–5 ist vorweggenommen in NL 1876, KSA 8, 16[52], 295, 12–14: „Es kommt darauf an, wie viel Athem ihr habt, um in dies Element tauchen zu können: habt ihr viel, so werdet ihr den Grund sehen können.“ NL 1876, KSA 8, 16[44], 294, 11–13 macht klar, was für Ereignisse in 235, 6–9 gemeint sein könnten: „Der Freigeist wird nur einen Zipfel eines Ereignisses fassen, aber es nicht in seiner ganzen Breite haben wollen (z. B. Krieg – Bayreuth).“ Eine mögliche Naturbeobachtung schildert NL 1876, KSA 8, 16[50], 295, 6 f.: „Sonnenlicht glitzert in dem Grund und zeigt worüber die Wellen fliessen: schroffes Gestein.“ Das Motiv des Auf-den-Grund-Sehens kehrt dann in 235, 6 und in 235, 26 f. zusammen mit dem „Sonnenschein“ wieder – die Spur des „schroffen Gesteins“ hat sich allerdings in MA I 291 verloren. Siehe dazu auch D’Iorio 2020, 84 f. Vivarelli 1994a, 93 f. arbeitet Parallelen von MA I 291 zu Montaignes Essais heraus, so zum Gesichtspunkt, sich mit kleinen äußerlichen Ausgaben zu begnügen, in III 10 (Montaigne 1753–1754, 3, 226). Ebenfalls in Essai III 10 schildert Montaigne sein Bemühen, sich von wenigen Dingen und Ereignissen in Mitleidenschaft ziehen zu lassen (Montaigne 1753–1754, 3, 212) – ein (im Übrigen stoisches) Bemühen, das Vivarelli in 235, 6–9 wiederkehren sieht. Zu 235, 12–19 macht Vivarelli im selben Essay Überlegungen über die vermeintliche eigene „Kaltsinnigkeit“ (Montaigne 1753–1754, 3, 249) und Verborgenheit (ebd., 250 f.) geltend. Gödde 2020a, 154 meint im Blick auf MA I 291 (sowie MA I 283 und 286), die Erkenntnisleidenschaft trete hier an die Stelle der in N.s Frühwerk propagierten „dionysischen Kunst“. Die Freigeister in MA I 291 machen keinen umstürzlerischen Eindruck, sondern wirken bescheiden, angepasst und bürgerlich – nicht einmal ihr Produkt,
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 291, KSA 2, S. 234–235
671
der aus den Tiefen entspringende „Strom“, ist bedrohlich, vielmehr nur „hell“, klar und „geräuschlos“ (vgl. 235, 23–27). Das lässt sich nicht leicht mit den schroffen, revolutionären Freigeistgestalten unter einen Hut bringen, denen die Lesenden ansonsten in MA I begegnet sind. Offenbar macht dieses Buch ganz unterschiedliche Angebote an verschiedene Adressatentemperamente, die sich ganz unterschiedliche Freigeister zum Hausgebrauch herausziehen können. Den Charakter einer Gemischtwarenhandlung mit einer breiten Angebotspalette kann MA I nicht ganz abstreifen: Das Werk versucht, es ganz vielen Publika recht zu machen und verschiedenste Bedürfnisse zu befriedigen. 234, 22 Vo r s i c h t d e r f r e i e n G e i s t e r. –] Die Überschrift hat N. erst im Druckmanuskript D 11, 136 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,136). 235, 2–6 Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie möglich an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam mit einem langen Athem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu sehen.] Zu früheren Fassungen im Nachlass siehe NK ÜK MA I 291. Das Bild des Tauchens als der eigentlichen philosophischen Tätigkeit geht auf Sokrates zurück, von dem Diogenes Laertius: De vitis II 22 überliefert, man erzähle, Euripides habe ihm eine Schrift von Heraklit zu lesen gegeben und nach seinem Eindruck gefragt: „Was ich davon verstanden habe, zeugt von hohem Geist; und wie ich glaube, auch was ich nicht verstanden habe; nur bedarf es dazu eines delischen Tauchers.“ (Übersetzung Otto Apelt; in der unter N.s Büchern erhaltenen Übersetzung von Christian August Borheck wird durch die Übersetzung „Delischer Schwimmer“ statt „Taucher“ die Pointe verschenkt – Diogenes Laertius 1807, 1, 112; vgl. auch Diels/Kranz 1959–1960, 22 A 4.) 235, 9 er will sich nicht in diese verwickeln] In Mp XIV 1, 302, im Druckmanuskript D 11, 136 sowie in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht statt „diese“ hier „diesen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/274/). KGW u. KSA emendieren nach der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 238). 235, 14–19 denn er will sich nur, so weit es zum Zwecke der Erkenntniss nöthig ist, mit der Welt der Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss darauf vertrauen, dass der Genius der Gerechtigkeit Etwas für seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen sollten.] In Mp XIV 1, 302 wurde dieser Text von N. in die Diktatnachschrift von Köselitz hineinkorrigiert, die ursprünglich lautete: „denn er will sich nur so leicht als möglich mit der Welt einlassen. Die allgemeine grossartige Haltung seines Lebens muss fürbittend eintreten, wenn man ihn etwas arm an Liebe finden sollte.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,302) In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 endet MA I 291 mit dem Satz 235, 16–19 (unkorrigierter Druckfehler „in“ statt „ihn“).
672
Menschliches, Allzumenschliches I
In brauner Tinte wird danach notiert: „ – Fortsetzung im Mscr. beiliegend.“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/275/) Dieses Manuskript liegt den Korrekturbogen heute nicht mehr bei. Auch das Druckmanuskript D 11, 136 endet mit „sollten“. Die Fügung „Genius der Gerechtigkeit“ kommt bei N. nur in MA I 291 (und den Vorarbeiten) vor; sie ist im zeitgenössischen Kontext für Unterschiedliches geläufig: So wird eine Skulptur von Bertel Thorvaldsen ebenso damit bezeichnet (Thorvaldsens Museum 1875, 2) wie Rashnu, eine Gestalt der altiranischen Religion (Spiegel 1873, 2, 90), und aus der frühchristlichen Schrift Der Hirte des Hermas wird rapportiert: „Der Mensch hat zwei Genien, (ἄγγελοι im griechischen Original) einen Genius der Gerechtigkeit, und einen Genius der Sünde“ (Schwegler 1841, 114).
292. Der letzte Abschnitt des Fünften Hauptstücks adressiert unter der adhortativen Losung „V o r w ä r t s“ (235, 29) ein Du, bei dem es sich ebenso gut um den Leser wie um das sich selbst in seinen Nöten thematisierende ‚Ich‘ handeln kann. MA I 292 ist eine Aufforderung zur Selbstversöhnung, die zur entwicklungsgeschichtlichen Selbstbekriegungsdiagnose von MA I 268 in Kontrast steht oder dazu ein synthetisches Therapieangebot macht. Der Angesprochene solle auf Selbstanklagen verzichten, denn all das, was er noch mitschleppe an entwicklungsgeschichtlichen Überbleibseln, könne ihm erkenntnisträchtig werden. Und genau darum gehe es: Das eigene Leben solle „den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss“ (236, 24 f.) bekommen. Darin liegt die erkenntnisoptimistische Botschaft, mit der das Fünfte Hauptstück schließt: Erkenntnis ist möglich, Erkenntnis ist wirklich und Erkenntnis ist unbedingt erstrebenswert. Nach MA I 292 lohnt es sich, für die Erkenntnis zu leben, so unvollkommen sie auch bleiben wird. Zu MA I 292 gibt es in Mp XIV 1 mehrere Vorlagen. Mp XIV 1, 207 von N.s Hand enthält zahlreiche Überarbeitungen und Korrekturen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,207); Mp XIV 1, 106 bringt ganz unten auf der Seite den schließlich letzten Satz 237, 14–16 von MA I 292 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,106); Mp XIV 1, 363 u. 363a ist eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Köselitzens, ebenfalls mit Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,363 u. (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,363a). Aus Mp XIV 1b stammt auch NL 1876/77, KSA 8, 23[160], 463, 7–30: „Zum S c h l uß. / Ich will w e i s e werden bis zum 60. Jahre und erkenne dies als ein Ziel für Viele. Eine Menge von Wissenschaft ist der Reihe nach anzueignen und in sich zu verschmelzen. Es ist das Glück unseres Zeitalters, daß man noch eine Zeitlang in einer Religion aufwachsen kann und, in der Musik, einen ganz echten Zugang zur Kunst hat; das
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 291–292, KSA 2, S. 235
673
wird späteren Zeiten nicht mehr so gut zu Theil werden. Mit Hülfe dieser persönlichen Erfahrungen kann man ungeheure Strecken der Menschheit erst verstehen: was wichtig ist, weil alle unsere Cultur auf diesen Strecken ruht. Man m u ß Religion und Kunst verstehen – sonst kann man nicht weise werden. Aber man muß über sie hinaus sehen können; bleibt man darin, so v e r s t e h t man sie nicht. Ebenso ist die Metaphysik eine Stufe, auf der man gestanden haben muß. Ebenso die Historie und das Relativische. Man muß in großen Schritten dem Gang der Menschheit als Individuum nachgehen und über das bisherige Ziel hinauskommen. / Wer w e i s e werden will, hat ein i n d i v i d u e l l e s Z i e l, in welchem alles Erlebte, Glück Unglück Unrecht usw., als Mittel und Hülfe aufgeht. Überdies kommt das menschliche Leben da in die richtige Gestalt, denn der a l t e Mensch erreicht das Ziel seiner ganzen Natur nach am leichtesten. Das Leben verläuft auch interessant, das Thema ist sehr groß und nicht zu zeitig zu erschöpfen. – Die Erkenntniß selbst hat kein Ziel weiter.“ Im Notizheft N II 2 wiederum gibt es eine Reihe von Aufzeichnungen – teilweise in KGW IV 4, 212 f. als „Vorstufen“, teilweise in KSA 8 als „nachgelassene Fragmente“ veröffentlicht –, die die Metaphern- und Motivmelange in MA I 292 vorbereiten, so in N II 2, 24: „Mancherlei Qual Unruhe Unglück Krankheit – aus allem sucht er sich den Honig des Erkennens zusammen (weise werden[)]“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,24). Weiter unten auf derselben Seite heißt es: „ob man mit an seinem Charakter Freude hat oder nicht, vorwärts auf der Bahn der Weisheit ((Schluss)) / ob wir allein stehen, gehasst, verkannt, missachtet werden / Die ˹hängende˺ Wolkenballen des Unglücks – sind die Euter, aus welchen er seine Milch melkt“ (ebd.). Das Wolkenmotiv kehrt in NL 1877, KSA 8, 22[44], 386, 10 wieder: „hängende Wolken der Trübsal, der Verstimmung“. In N II 2, 25: „ein wenig voraus zu erspähen, wie der Knoten der Menschheit noch geknüpft wird“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,25). In N II 2, 81 mit Bleistift: „hinauf auf jene Höhe! Dort erst nahe uns der Nebel des Todes, mitten in ein ˹das˺ Jauchzen der Erkenntniss hinein spreche er ˹töne uns˺ ˹da˺ sein[e] Wort! Stimme!“ Darüber hat N. mit brauner Tinte vermerkt: „Gleich nach: Und so vorwärts“, unter der gestrichenen Bleistiftaufzeichnung: „Dort wo das einsame Jauchzen deiner Erkenntniss“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,81). In N II 2, 151: „Eine Bewegung nach dem Licht – seine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntniss – sein letzter Laut.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II2,151) Immer noch N II 2 (ediert in NL 1877, KSA 8, 22[27], 384, 15–18) gibt das Grundgerüst der in MA I 292 insinuierten Persönlichkeitsentwicklung an: „Moral / Religion / Kunst / zuletzt: Weise werden“. NL 1877, KSA 8, 22[59], 389, 8 f. beschwört „d a s J a u c h z e n d e s e r k e n n 〈 e n d e n 〉 M e n s c h e n“, NL 1877, KSA 8, 22[96], 397, 26 den „Schwur dessen der sich der Erkenntniss weiht“. Das passt zu einer Aufzeichnung in N II 3: „Schlussg e l ö b n i s s über Wissenschaft. Wenn ihr es könnt, werdet ihr müssen.“ (NL 1876/77, KSA 8, 21[84], 378, 13 f.) Schließlich wieder-
674
Menschliches, Allzumenschliches I
um in Mp XIV 1b: „Zum Schluß: V e r n u n f t und W i s s e n s c h a f t, ‚des Menschen a l l e r h ö c h s t e K r a f t!‘“ (NL 1876/77, KSA 8, 23[86], 434, 3 f.; dazu auch Barbera 2004, 54). Vgl. NK ÜK MA I 591. In der Metaphernmelange, die aus MA I schon Bekanntes aufnimmt (z. B. die Leiter und Sprosse in MA I 20, KSA 2, 41 f. u. MA I 368, KSA 2, 257, 25) und mit Neuem verquickt, bleibt der erkenntnisoptimistische Grundton das einende Moment: Menschen können nicht nur erkennen, sondern ihr ganzes Leben auf das Erkennen ausrichten, was ihnen zudem – man meint, einen Sokratiker zu hören – auch noch Glück bescheren soll. Im Unterschied zu vielen Vorarbeiten kommt mit der ermahnenden Du-Ansprache ein starker Forderungscharakter ins Spiel: Das Du soll sein Leben ändern und ein Erkennender werden. Im Gestus erinnert diese Ermahnungsrede (neben manchen Passagen bei Emerson) an Mark Aurels Τὰ εἰς ἑαυτόν, seine Selbstbetrachtungen, die N. gut kannte. Das Erkennen erweist sich als Möglichkeit, die einzelnen durch Kampf voneinander abgetrennten Lebensphasen (vgl. MA I 268, KSA 2, 222) zu versöhnen. Ein integrativer Blick auf das eigene Vorleben kommt zur Geltung, der Ingrimm gegenüber der eigenen Vergangenheit wird abgebaut. „Die Erfahrung soll d i r dienen, nicht d u der Erfahrung“ (Altdeutscher Witz 1877, 183). 235, 29 f. Und damit vorwärts auf der Bahn der Weisheit, guten Schrittes, guten Vertrauens!] In Mp XIV 1, 207 stattdessen: „Und damit vorwärts auf der Bahn der Weisheit ˹guten Schrittes, guten Muthes, guten Vertrauens!˺!“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,207). 235, 31 Quell der Erfahrung] In Mp XIV 1, 207 stattdessen: „Born der Erfahrung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,207). 236, 2 steigen kannst.] In Mp XIV 1, 207 folgt: „Die Wissenschaften lagern sich um dich und sehen dich an: sie warten der Reihe nach, daß du ihrer Herr werdest“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,207). 236, 5 Zeit] In Mp XIV 1, 207 stattdessen: „Zeiten“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,207). 236, 6 müssen] In Mp XIV 1, 207 stattdessen: „werden“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,207). 236, 7 noch] In Mp XIV 1, 207 danach: „, durch die Musik,“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,207). 236, 10 nachgehen] In Mp XIV 1, 207 stattdessen: „entgegen˹nach˺laufen“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,207). 236, 12 viele der herrlichsten] In Mp XIV 1, 207 stattdessen: „die sämmtlichen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,207).
Stellenkommentar MA I Fünftes Hauptstück 292, KSA 2, S. 235–237
675
236, 13 f. Man muss Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben] In Mp XIV 1, 207 stattdessen: „Man muss Religion und Kunst ˹in sich getragen aus sich geboren haben, wie Mutter und Amme geliebt haben˺“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,207). 236, 17 f. das vorsichtige Spiel mit den Wagschalen: „einerseits–andererseits“] In Mp XIV 1, 207 stattdessen: „das vorsichtige Spiel mit den Wagschalen des Relativismus“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,207). Das Wort „Relativismus“ kommt sonst bei N. nur noch in UB III SE 3, KSA 1, 355, 24 vor. 236, 26–237, 6 die Versuche, Irrwege, Fehler, Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehn. Dieses Ziel ist, selber eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen Cultur zu schliessen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zukünftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst du, ein solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu mühevoll, zu ledig aller Annehmlichkeiten? So hast du noch nicht gelernt, dass kein Honig süsser als der der Erkenntniss ist und dass die hängenden Wolken der Trübsal dir noch zum Euter dienen müssen, aus dem du die Milch zu deiner Labung melken wirst.] In Mp XIV 1, 207 stattdessen: „Glück Unglück Unrecht Liebe Freundschaft in deinem Ziele ohne Rest aufgeht. Aus mancherlei Qual Unruhe Krankheit suche dir den Honig der Erkenntniß zusammen: ob du allein stehst, gehaßt, verkannt, mißachtet wirst: die hängenden Wolken des Unglücks sind die Euter aus welchen du deine Milch melken wirst.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,207) Der Satz 237, 3–6 dient Karl Schlechta als Beleg, dass N. längst vor Za den vermeintlich spezifischen „Zarathustra-Ton“ angeschlagen habe (Schlechta in Nietzsche 1972, 5, 1436 f.; vgl. Überblickskommentar, Abschnitt 6 zur Wirkungsgeschichte). 237, 12 f. auf Einem Bergrücken des Lebens, so wollte] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand „auf Einem Bergrücken des Lebens so wollte“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/277/). Nach „Lebens“ wurde handschriftlich ein Doppelpunkt eingefügt; in der Erstausgabe steht da dann ein Komma (Nietzsche 1878, 241). 237, 14–16 dass der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu – deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntniss – dein letzter Laut.] In Mp XIV 1, 207 stattdessen: „dass der Nebel des Todes naht: du hast erkannt: und ihn gerufen – und es war gut“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,207). In dieser Fassung spielen die letzten Worte des Abschnitts natürlich auf die biblische Schöpfungsgeschichte an, wo es nach den jeweiligen Schöpfungsakten heißt: „Und GOtt sahe, daß es gut war.“ (1. Mose 1, 10 u. ö. – Die Bibel: Neues Testament 1818, 1)
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken
Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Band 2/1.2
Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr. Das Sechste Hauptstück beginnt wie das Siebente mit einer Reihe sehr kurzer, sentenzenartiger Aphorismen, die oft nicht länger sind als ein Satz, der auf die gesperrt gesetzten Eingangsthemenanzeige folgt. Von MA I 336 an werden die Aphorismen allmählich länger, um erst gegen Ende des Hauptstückes die aus den vorangegangenen Hauptstücken bekannte Länge von mehreren umfangreichen Sätzen zu erreichen. Es ist ein Sammelbecken für alle möglichen Texte, die oft, aber keineswegs immer die soziale Dimension des Menschseins behandeln – in unterschiedlicher Intensität und wechselhafter Belichtung.
293. Der erste Abschnitt gibt schon den Grundton des Sechsten Hauptstücks über den „Menschen im Verkehr“ vor: MA I 293 stellt heraus, dass in diesem Verkehr „Verstellung“ (239, 5) nötig sei und ruft damit einen Topos der Moralistik seit Baltasar Gracián („Das praktischste Wissen besteht in der Verstellungskunst.“ – Gracián 1877, 60; vgl. ebd., 141) und La Rochefoucauld auf. Entscheidend ist aber das Epitheton: Die „Verstellung“ sei „eine wohlwollende“ (239, 5), nämlich so zu tun, als ob man die „Motive“ (239, 6) seiner Mitmenschen nicht erriete. Die Verstellung scheint also weniger dem Selbstschutz als dem Schutz der anderen und damit einem sozialen Miteinander zu dienen. Zu MA I 293 gibt es in Mp XIV 1, 346 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne die spätere Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,346). Das Sechste Hauptstück beginnt in MA I 293 mit der wohlwollenden Verstellung und endet mit dem Verhehlen der Erkenntnis, die man über seine Freunde hat, in MA I 376, KSA 2, 262 f. Damit ist das Hauptstück ringkompositorisch angelegt. Eine Motivparallelität zu MA I 293 weist MA I 313, KSA 2, 243 auf. 239, 4–6 Es ist häufig im Verkehre mit Menschen eine wohlwollende Verstellung nöthig, als ob wir die Motive ihres Handelns nicht durchschauten.] Wem das Wohlwollen gilt, verrät MA I 293 nicht, vgl. auch Liebscher 2020. Williams 1952, 46 sieht ein Echo auf La Rochefoucaulds Maxime 115: „Il est aussi facile de se tromper soimême sans s’en /32/ apercevoir qu’il est difficile de tromper les autres sans qu’ils s’en aperçoivent.“ (La Rochefoucauld o. J., 31 f.) Das Verstellen ist auch ein tragendes Thema in Paul Rées Psychologischen Beobachtungen, siehe [Rée] 1875, 52 = Rée 2004, 82 sowie [Rée] 1875, 116 = Rée 2004, 110: „Wer Empfindungen zeigt, die er nicht hat, verstellt sich. / Wer Empfindungen, die er hat, nicht zeigt, beherrscht sich. / Frauen beherrschen sich, Männer verstellen sich öfter. / Es ist leichter sich zu verstellen, als sich zu beherrschen. / Tadelnswerth ist Verstellung nur dann,
678
Menschliches, Allzumenschliches I
wenn sie zum Schaden Anderer angewendet wird.“ (Rée 2004, 110) Zum Motiv des „Verkehrs mit Menschen“, der negative Affekte zu zeitigen droht, vgl. auch NK KSA 5, 44, 3–13. Paul Celan hat in seinem Handexemplar von MA I den Abschnitt 293 markiert, siehe Richter/Alac/Badiou 2004, 209.
294. Nach MA I 294 sei es oft der Fall, dass „man“ auf „Copien bedeutender Menschen“ (239, 8 f.) treffe, die wie bei Bildern meist mehr Gefallen fänden als die Originale. Zu MA I 294 gibt es in Mp XIV 1, 328 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,328). Vorbereitet wird MA I 294 in der Bleistiftnotiz N II 1, 202: „viele Menschen benehmen sich als Copien grösserer Menschen und vielen Menschen gefallen deren Copien besser als die Originale – ganz wie bei Bildern“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,202). In U II 5, 101 wird daraus dann: „viele Menschen benehmen ˹geben˺ sich als Copien bedeutender Menschen; und vielen Menschen gefallen wie bei Gemälden so auch hier die Copien besser als das Original-Ge.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,101). 239, 8 C o p i e n] Im Druckmanuskript D 11, 139: „Originalmenschen und ihre Copien“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,139). 239, 8–10 Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und den Meisten gefallen, wie bei Gemälden, so auch hier, die Copien besser als die Originale.] Was „bedeutende Menschen“ sind und wer dazugehört, erläutert MA I 294 nicht. Man mag beispielsweise an Emersons 1850 publizierte Vortragssammlung Representative Men denken, wo Platon, Swedenborg, Montaigne, Shakespeare, Napoleon und Goethe jeweils eine Seite exemplarischen Menschseins repräsentieren. Die Bedingungen für die Rezeption von Gemälden waren zu N.s Zeit als einer vor dem Zeitalter perfekter technischer Reproduzierbarkeit fundamental anders als in der Gegenwart: Die allermeisten Menschen hatten zu den Originalen keinen direkten Zugang; Kenntnis von Kunstwerken wurde größtenteils über Vervielfältigungen in Form von Holzschnitten, Stichen und Aquatinten, dann auch Photound Heliogravüren erlangt, die die Farbe der Originale nicht reproduzieren konnten, oder über gemalte Kopien (oft minderer Qualität). In der bürgerlichen Wohnstube hingen solche Reproduktionen berühmter Gemälde.
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 293–296, KSA 2, S. 239
679
295. MA I 295 macht auf ein Grundproblem der Rhetorik aufmerksam, nämlich darauf, dass die sachlich angemessene Rede wirkungslos verpufft, sofern sie sich nicht an die angemessenen Adressaten richtet. Zu MA I 295 gibt es in Mp XIV 1, 341 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,341). In U II 5c gibt es eine Version, die für das Behauptete ein historisches Beispiel beibringt: „18. Man kann h ö c h s t p a s s e n d r e d e n und doch so daß alle Welt über das Gegentheil schreit. So redete Sokrates sehr passend, aber vor einem weltgeschichtlichen Forum: seine Richter urtheilten umgekehrt. – Die Meister reden sich zu ihren Hörern herab.“ (NL 1876, KSA 8, 19[12], 334, 10–14) Wie Sokrates vor Gericht 399 v. Chr., als ihm die Todesstrafe drohte, angeblich geredet hat, ist in Platons Apologie des Sokrates nachzulesen: Er versuchte keineswegs, sich aus der Sache herauszuwinden, mildernde Umstände geltend zu machen oder um sein Leben zu betteln, sondern die Richter vor einem gravierenden Unrecht, nämlich seiner Verurteilung, zu bewahren. Seine eigentliche Adressatin ist die Weltgeschichte als Weltgericht, nicht die Heliaia, das athenische Volksgericht. 239, 12 D e r R e d n e r] Im Druckmanuskript D 11, 139 nachträglich hinzugefügt; die dort ursprünglich stehende Überschrift wurde gestrichen: „Missverstanden werden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,139). 239, 12–14 Man kann höchst passend reden und doch so, dass alle Welt über das Gegentheil schreit: nämlich dann, wenn man nicht zu aller Welt redet.] In die unpubliziert bleibende Sammlung „‚B ö s e W e i s h e i t.‘ / Sprüche und Sprüchwörtliches“ (NL 1883, KSA 10, 12[1], 383, 1 f.) nimmt N. diesen Aphorismus später nochmal auf (ebd., 385, 13–15). N. hat – angefangen mit seiner Basler Antrittsvorlesung über Homer und die klassische Philologie bis hin zu seinen Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten – einschlägige Erfahrungen als öffentlicher Redner gemacht, der im tatsächlichen Auditorium nicht das Publikum findet, das er sich eigentlich erhofft. Das Widmungsgedicht zur Druckfassung der Antrittsvorlesung macht das deutlich: „In Basel steh ich unverzagt / Doch einsam da – Gott sei᾽s geklagt, / Und schrei ich laut: Homer! Homer! / So macht das Jedermann Beschwer. / Zur Kirche geht man und nach Haus / Und lacht den lauten Schreier aus.“ (KGW II 1, 248, 1–6; dazu Sommer 1997, 18–20 u. Zhavoronkov 2021, 24 f.)
296. MA I 296 nimmt erstmals das Thema der Freundschaft im Sechsten Hauptstück auf, das noch in dessen letztem Aphorismus zentral ist, und verbindet es mit dem
680
Menschliches, Allzumenschliches I
Begriff der „Vertraulichkeit“: Wer deren Fehlen unter Freunden rüge, sorge dafür, dass sie sich gar nicht mehr einstellen könne. Zu MA I 296 gibt es in Mp XIV 1, 325 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,325 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,326). In U II 5, 71 steht bereits der identische Text (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ U-II-5,71). Zur Problematik des Vertrauens und der Vertraulichkeit siehe auch MA I 304, KSA 2, 241, MA I 311, KSA 2, 242 u. MA I 428, KSA 2, 280. 239, 16–18 Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden ist ein Fehler, der nicht gerügt werden kann, ohne unheilbar zu werden.] Auch wenn das Wort „Vertraulichkeit“ „veraltet für vertrauen“ (Grimm 1854–1971, 25, 1963) benutzt wird, unterscheidet N. etwa in MA I 304, KSA 2, 241 „Vertrauen“ und „Vertraulichkeit“ scharf. Die im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm weiter – auch unter Rückgriff auf eine andere N.-Stelle – angebotene Semantik „zutraulichkeit“, „vertrauensverhältnis, freundschaft“ (Grimm 1854–1971, 25, 1963) trifft offensichtlich das in MA I 296 Gemeinte nicht ganz. Hingegen ist der „in neuerer sprache insbesondere“ damit gemeinte „innige[.], zwanglose[.], rückhaltlose[.] verkehr“ (ebd., 1964) offensichtlich das, was 239, 16–18 intendiert: Wer dessen Fehlen beklagt, errichte eine Schranke, die diese Vertraulichkeit nie mehr aufkommen lasse. Ob man diese Vertraulichkeit tatsächlich im Umgang mit Freunden braucht, stellt NL 1876/77, KSA 8, 20[15], 366 zumindest in Frage.
297. MA I 297 spricht über die „K u n s t d e s S c h e n k e n s“ (240, 2) – eine im 19. Jahrhundert durchaus geläufige Wendung (Grimm 1854–1971, 4, 1673) –, aber doch nur über einen speziellen Aspekt derselben, nämlich den, dass es gegen den Schenkenden erbittere, wenn man ein Geschenk habe ablehnen müssen, weil es „nicht auf die rechte Weise angeboten wurde“ (240, 3 f.). Zu MA I 297 gibt es in Mp XIV 1, 324 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,324). Eine weitere, textidentische Version ebenfalls von Brenners Hand gibt es in Mp XIV 1, 257 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,257). Auch das Notat U II 5, 60 ist fast gleichlautend, bloß steht da: „erbittert sehr gegen den Geber“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,60). 240, 2 Z u r K u n s t d e s S c h e n k e n s] Im Druckmanuskript D 11, 139 nachträglich hinzugefügt; die dort ursprünglich stehende Überschrift wurde gestrichen: „Verzweifelte Unfreiwilligkeit“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,139).
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 296–299, KSA 2, S. 239–240
681
240, 2–4 Eine Gabe ausschlagen zu müssen, blos weil sie nicht auf die rechte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den Geber.] Wann, wo und wie oft dieser Fall eintritt, dass man wegen einer falschen Gebeweise das Angebotene ausschlägt, verrät MA I 297 nicht. Rührt die Erbitterung daher, dass man das Geschenk gerne hätte, es aber zurückweisen muss, und daher sich die Enttäuschung über das Entgangene als Aggression gegen den Schenker richtet? Der ist ohnehin in einer komfortablen Lage, denn er ist vom Geben nun dispensiert und kann die angedachte Gabe behalten. Das mag den geprellten Beschenkten noch zusätzlich erbittern. Nach Rées Psychologischen Beobachtungen gelte der als „guter Mensch“, „dessen Gaben ein edler Mensch gern annimmt“ ([Rée 1875], 58 = Rée 2004, 85). Zum Thema des Schenkens bei N. berühmt Za I Von der schenkenden Tugend, KSA 4, 97–102, vgl. auch NK KSA 4, 279, 27 f. u. NK KSA 6, 409, 8.
298. Aus der Privatheit von Freundschaft und Schenken in den vorangegangenen Aphorismen tritt MA I 298 in die große soziale Arena, wenn nun herausgestellt werden soll, dass es in jeder Partei einen gebe, der derart fanatisch die Parteilinie durchficht, dass er alle anderen dazu veranlasst, mit der Partei zu brechen. Zu MA I 296 gibt es in Mp XIV 1, 136 eine ‚Reinschrift‘ in blauer Tinte, der N. die Überschrift mit schwarzer Tinte nachträglich hinzugefügt hat (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,136). 240, 6–8 In jeder Partei ist Einer, der durch sein gar zu gläubiges Aussprechen der Parteigrundsätze die Uebrigen zum Abfall reizt.] Für diese sozialpsychologische Behauptung ließen sich historische Belege vom antiken Christentum über die revolutionären Jakobiner bis hin zum Parteienwesen im deutschen Reichstag beibringen. Vgl. auch MA I 579, KSA 2, 335 u. MA II VM 301, KSA 2, 502.
299. MA I 299 kehrt zurück aus der Politik ins Häusliche, zum Krankenlager genauer gesagt: Weil derjenige, der einem Kranken einen Rat gibt, ein Überlegenheitsempfinden entwickelt, seien „reizbare[n] und stolze[n] Kranke[n]“ (240, 13) solche Ratgeber zuwider. Zu MA I 299 gibt es in Mp XIV 1, 346 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift. Davor steht, von N. durchgestrichen: „Wer seiner Gesundheit lebt, hat eine Krankheit mehr“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,346).
682
Menschliches, Allzumenschliches I
240, 10–14 Wer einem Kranken seine Rathschläge giebt, erwirbt sich ein Gefühl von Ueberlegenheit über ihn, sei es, dass sie angenommen oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reizbare und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit.] Rée hat in seinen Psychologischen Beobachtungen die Machtdynamik des Ratgebens von der Seite her beleuchtet: „Die Lebhaftigkeit, mit der wir unseren Freunden Rathschläge ertheilen, entspringt weniger aus Sorge für sie, als aus dem Vergnügen, sie zu bevormunden.“ ([Rée] 1875, 63 = Rée 2004, 88) N. wiederum hat entsprechende medizinische Ratschläge auf indirekte und ihn erbitternde Weise von Seiten Richard Wagners erfahren, der dem N. behandelnden Arzt Otto Eiser am 23. 10. 1877 schrieb, N.s Übelbefinden rühre wohl von Onanie her und könne durch Wasserkuren und Heirat geheilt werden (vgl. Gilman 2009, 398 f. u. Eger 2001, 188). N. hat von dieser freundschaftlich-paternalistischen Ratschlaggeberei über den Umweg des Arztes Wind bekommen und erregt sich darüber noch lautstark in seinem Brief an Köselitz vom 21. 04. 1883, wo er den Onanie-Verdacht in eine Päderastie-Denunziation umdeutet (KSB 6/KGB III 1, Nr. 405, S. 365, Z. 38–42). Man darf freilich daran zweifeln, dass das die „tödtliche Beleidigung“ war, die Wagner N. zugefügt haben soll, vgl. NK KSA 6, 11, 5–9.
300. Nach MA I 300 kann sich „[d]ie Sucht nach Gleichheit“ (240, 16 f.) auf zweifache Weise äußern, nämlich, indem man die Ungleichen „zu sich hinunter[zu]ziehen“ (240, 18) versuche „oder sich mit Allen hinauf“ (240, 19). Zu MA I 300 gibt es in Mp XIV 1, 43 eine ‚Reinschrift‘, der N. die Überschrift nachträglich hinzugefügt hat. Diese Fassung lautet: „Doppelte Art der Gleichheit. Die Sucht nach Gleichheit kann sich entweder so äussern, dass man alle anderen zu sich hinunterziehen möchte (durch Verkleinern Beschimpfen Secretiren Beinstellen) oder sich mit allen hinauf (durch Anerkennen Helfen Freude an fremdem Gelingen).“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,43) 240, 16–20 Die Sucht nach Gleichheit kann sich so äussern, dass man entweder alle Anderen zu sich hinunterziehen möchte (durch Verkleinern, Secretiren, Beinstellen) oder sich mit Allen hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen).] Dass es hier um ein als pathologisch erachtetes Egalisierungsbedürfnis geht, macht der Gebrauch des abwertend klingenden Wortes „Sucht“ allemal deutlich – auch, dass Gleichheit aus der Sicht des Sprechers nichts ist, was an sich gegeben und nur durch widrige Umstände verstellt und verkannt wäre. Bemerkenswert ist, dass die fragliche Sucht offensichtlich nur diejenigen plagt, die unten sind – und die nun ihre Mitmenschen auf ihr Niveau herunterziehen oder sich selbst auf ein höheres Niveau hieven wollen. Die naheliegende Möglichkeit der Selbsternied-
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 299–302, KSA 2, S. 240–241
683
rigung, der Selbstherabsetzung, um sich als Höherer den Niedrigeren gemein zu machen, scheint bewusst ausgeklammert zu werden (obwohl N. natürlich die dafür paradigmatische christliche Gedankenfigur der Selbstentäußerung Gottes in Menschengestalt, die Kenosis, geläufig war, vgl. z. B. NK KSA 6, 404, 5–7). 240, 18 Secretiren] Petri 1861, 710: „heimlich halten, verbergen, verschweigen“.
301. MA I 301 kommt als praktischer Ratschlag daher, nämlich Verlegenen durch Loben aus der Verlegenheit zu helfen. Zu MA I 301 gibt es in Mp XIV 1, 226 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,226). Mp XIV 1, 376 enthält eine durchgestrichene Vorarbeit: „Das sicherste Mittel, um sehr verlegene Menschen zu beruhigen, ist, sie zu loben.“ Zur Verlegenheit siehe auch MA I 329, KSA 2, 246. 240, 22–24 Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu Hülfe zu kommen und sie zu beruhigen, besteht darin, dass man sie entschieden lobt.] Das Thema der Verlegenheit treibt Paul Rée in seinen Psychologischen Beobachtungen stark um (vgl. z. B. Rée 2004, 100 f., 106 u. 108 f.), wobei er es analytisch-diagnostisch angeht: Verlegenheit sei ein „mißlicher Affect“, den Vernunftkontrolle nicht unterbinde, sondern verschlimmere (ebd., 108). „Bedeutende Menschen sind oft verlegen; denn sie fühlen, daß sie anders sind als die übrigen und fürchten nun, ihnen lächerlich zu erscheinen.“ (Ebd., 109) MA I 301 liest sich wie eine direkte therapeutische Antwort auf diesen Befund – die Verlegenen scheinen, wenigstens, wenn sie bedeutende Menschen sind, einen derartigen therapeutischen Umgang mit ihrem Leiden auch zu verdienen.
302. MA I 302 unterstellt dem „Wir“ (241, 2) ein rein instrumentelles Verhältnis zu den Tugenden: „Wir“ würden immer genau jene besonders wertschätzen, die wir bei Gegnern vermissen. Zu MA I 302 gibt es in Mp XIV 1, 136 eine ‚Reinschrift‘, der N. die Überschrift nachträglich hinzugefügt hat (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,136). 241, 2–4 Wir legen nicht eher besonderen Werth auf den Besitz einer Tugend, bis wir deren völlige Abwesenheit an unserem Gegner wahrnehmen.] Diese Tatsachenbehauptung impliziert, dass „wir“ Tugenden nicht um ihrer selbst willen schätz-
684
Menschliches, Allzumenschliches I
ten, sondern stets im Hinblick auf andere. MA I 302 betont jedoch die Sozialität der Tugenden nicht im herkömmlichen Sinne, wie auch Paul Rée es 1877 im Ursprung der moralischen Empfindungen noch tat („Ebenso werden ihren Besitzern zuträgliche Eigenschaften […] (Eigenschaften, die man oft auch Tugenden nennt) eben dieser Zuträglichkeit wegen gelobt, aber als gut wird derjenige, der durch solche Eigenschaften sich selbst Gutes thut, nicht bezeichnet, sondern nur derjenige, welcher, sei es durch diese, sei es durch andre Eigenschaften, seinen Mitmenschen Gutes thut.“ – Rée 1877, 10 = Rée 2004, 133). Vielmehr gibt die Sentenz der Idee der Tugendsozialität eine ironische Wendung. Für sie gilt zwar auch: Tugend zeigt sich im Umgang mit anderen – aber eben so, dass „unsere“ Hochschätzung darauf beruht, dass wir sie gerade bei den anderen nicht finden.
303. MA I 303 übt sich in Kommunikationsanalyse: An Äußerungen anderer missfalle „oft“ (241, 6) nicht die Aussage, der propositionale Gehalt, sondern der illokutionäre Aspekt, die Art und Weise, wie die Aussage vorgetragen wird. Zu MA I 303 gibt es in Mp XIV 1, 118 eine ‚Reinschrift‘, der N. die Überschrift nachträglich hinzugefügt hat (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,118). 241, 6–8 Man widerspricht oft einer Meinung, während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist.] MA I 303 psychologisiert den menschlichen Sprachgebrauch: Menschen bedienen sich keiner neutralen, Tatsachen bloß abbildenden Sprache. Entsprechend kommt es oft auch gar nicht auf die Gehalte der Aussagen an, sondern auf ihren Tonfall, gegen den der Gesprächspartner opponiert, indem er die Gehalte bestreitet.
304. In Erweiterung der Überlegung von MA I 296 unterscheidet MA I 304 zwischen Vertrauen und Vertraulichkeit und stellt das Bemühen um Vertraulichkeit, also um ungezwungenen, formlosen Verkehr (vgl. NK 239, 16–18), als Versuch hin, sich eines ungewissen Vertrauens zu versichern. Wer Vertrauen genieße, bedürfe der Vertraulichkeit nicht. Vertrauen ist demnach nicht gebunden an den äußeren Anschein der Vertraulichkeit. Zu MA I 304 gibt es in Mp XIV 1, 225 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,225). In U II 5, 68 ist mit Bleistift notiert: „Vertraulichkeit erzwingen“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,68). Dass Vertrauen wesentlich auch eine politische Dimension hat
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 302–305, KSA 2, S. 241
685
(vgl. z. B. Hartmann 2020 u. Sommer 2022f, 128–135), spielt in den einschlägigen Texten von MA I keine Rolle, vgl. MA I 311, KSA 2, 242 u. MA I 428, KSA 2, 280. 241, 10–14 Wer die Vertraulichkeit mit einer anderen Person geflissentlich zu erzwingen sucht, ist gewöhnlich nicht sicher darüber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth.] In den von Brenner niedergeschriebenen Partien in Mp XIV 1a findet sich die Aufzeichnung: „34. Es ist practisch, im Verkehr mit Freunden und Gattinnen viel Vertrauen aber wenig Vertraulichkeit, im Verkehr mit der übrigen Welt dagegen wenig Vertrauen und viel Vertraulichkeit zu haben.“ (NL 1876/77, KSA 8, 20[15], 366, 1–4)
305. Das dann in MA I 376, KSA 2, 262 f. eingehender besprochene Thema der Freundschaft packt MA I 305 therapeutisch an: Ein „Gleichgewicht“ (241, 18) könne man da gelegentlich zurückgewinnen, indem man bei sich Abstriche mache und zugestehe, dass „Unrecht“ (241, 19) auch bei einem selbst liege. Die Formulierung, das fragliche „Gleichgewicht“ kehre wieder, „wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran Unrecht legen“ (241, 18 f.), lässt freilich auch die entgegengesetzte Deutung zu, nämlich dem Anderen Unrecht zuzufügen. Dafür sprich N.s Brief an Carl Fuchs vom 29. 07. 1877: „mir scheint doch dabei etwas Gutes herausgekommen zu sein, daß ich damals, in einer so unerquicklichen und harten Weise, mein Herz erleichterte: denn ich fühle es jetzt zu deutlich, daß meine Empfindung für Sie verändert ist, in’s Hoffnungsreiche, Freudige. (Ein Skeptiker würde sagen: da sieht man, was einige Gran Unrecht in der Einen Wagschale nützen können.)“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 640, S. 261, Z. 12–18) Zu MA I 305 gibt es in Mp XIV 1, 75 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,75). Vorbereitet wird MA I 305 in der Bleistiftnotiz N II 2, 28: „Mitunter kehrt, im Verhältniss von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der Freundschaft wieder zurück, wenn wir in unsre eigene Wagschale Einige Gran Unrecht legen.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,28) Zur Interpretation von MA I 305 vgl. z. B. Jaspers 2016, 45. 241, 16–19 Manchmal kehrt, im Verhältniss von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der Freundschaft zurück, wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran Unrecht legen.] „Gran (Granum), 1) altes Apothekergewicht, = 0,06 g“ (Meyer 1885–1892, 7, 670). Die Fügung „Gleichgewicht der Freundschaft“ kommt übrigens im 19. Jahrhundert nicht häufig vor. Sie lässt sich etwa bei N.s Basler Kollegen, dem Kirchenhistoriker Karl Rudolf Hagenbach, in einem Passus
686
Menschliches, Allzumenschliches I
über Glarean als Freund des Erasmus von Rotterdam wiederfinden, der „das Gleichgewicht der Freundschaft da wieder herzustellen suchte, wo es etwa durch Zwischenträger gestört zu werden drohte“ (Hagenbach 1870, 229).
306. MA I 306 greift das spätestens seit der Renaissance (vgl. z. B. Agrippa von Nettesheim: De incertitudine et vanitate scientiarum, 1527) beliebte Thema der Medizinkritik auf und spricht über gefährliche Ärzte. Die „g e f ä h r l i c h s t e n“ (241, 21) seien diejenigen, die als „geborene Schauspieler“ die „geborenen“ Ärzte (241, 22 f.) überzeugend nachzuahmen verstünden. Zu MA I 306 gibt es in Mp XIV 1, 329 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift und mit folgendem Wortlaut: „Der Arzt ist entweder ein Genie oder ein Schauspieler; die gefährlichsten Ärzte sind die, welche es dem genialen Arzte auf eine geniale Art nachmachen.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,329) In U II 5, 104 lautet die Überlegung: „Der Arzt ist entweder ein Genie oder ein Schauspieler; die gefährlichsten Ärzte sind die genialen Schauspieler welche [– – –] ˹es dem Arzt Genie zum verwechseln nachmachen und es selbst˺ vielleicht täuschen.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,104) Zum Risiko medizinischer Behandlung siehe auch MA I 573, KSA 2, 334, gegenläufig zur großen „Z u k u n f t d e s A r z t e s“ MA I 243, KSA 2, 203 f. 241, 21–24 Die gefährlichsten Aerzte sind die, welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Täuschung nachmachen.] Die „Kunst der Täuschung“ taucht bei N. noch an zwei weiteren Stellen auf, nämlich in NL 1875, KSA 8, 11[6], 192, 11 als die Richard Wagner attestierte „L i s t u n d K u n s t d e r T ä u s c h u n g“ sowie in NL 1875, KSA 8, 12[3], 247, 8–12 im Blick auf den eigenen Bericht zu Bayreuth: „Ich verzichte aus Noth darauf, die sehr verschiedenen Erwägungen, zu denen ich mich gedrängt fühle, in Form und Zusammenhang zu bringen; man könnte wohl den Eindruck eines Ganzen und Geschlossenen mit einiger Kunst der Täuschung hervorbringen“. In einem zentralen Text, den N. seiner Rhetorik-Vorlesung zugrunde gelegt hatte, nämlich Richard Volkmanns Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht, wird referiert, wie Cicero und Quintilian „die Angriffe abgeschnitten“ hätten, „die man möglicherweise gegen die Rhetorik erheben könnte, als sei sie eine Kunst der Täuschung und des Betrugs“ (Volkmann 1872, 8), während Eduard Zeller in seiner von N. öfter konsultierten Gesamtdarstellung Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung an Platons Urteil erinnert: „die Sophistik ist eine Kunst der Täuschung“ (Zeller 1869, 1, 885).
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 305–308, KSA 2, S. 241–242
687
307. MA I 307 reflektiert den kommunikativen Nutzen von Paradoxien, nämlich um besonders „[g]eistreiche[.] Personen“ (242, 2 f.) für eine bestimmte Proposition zugänglich zu machen. Zu MA I 307 gibt es in Mp XIV 1, 42 eine ‚Reinschrift‘ in blassvioletter Tinte, von N. nachträglich mit schwarzer Tinte um die Überschrift ergänzt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,42). In N II 3, 50 ist die Sentenz bereits mit Bleistift notiert; statt „Geistreichen Personen“ steht da: „Übergeistreichen Personen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,50). Ist MA I 307 ein selbstreferentieller Aphorismus, in der N. über die Machart seiner eigenen Texte, insofern sie Paradoxien erzeugen, Auskunft gibt? (Im Sechsten Hauptstück wimmelt es freilich von unparadoxen Texten, über die man leicht hinwegliest.) 242, 2 W a n n P a r a d o x i e n a m P l a t z e s i n d.] Sind sie es nur in diesem Fall? Oder beispielsweise auch in der Wirklichkeit selbst (sind Paradoxien nur eine sprachliche Erscheinung?)? Vgl. allgemein zu Paradoxie und Alterität vor dem Hintergrund N.s Liebsch/Stegmaier 2022, 42–44. 242, 2–5 Geistreichen Personen braucht man mitunter, um sie für einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form einer ungeheuerlichen Paradoxie vorzulegen.] Was hier im Unverbindlich-Allgemeinen bleibt, wird N. später historisch konkretisieren, etwa anhand der heidnischen Antike und ihrer „Bildung“, die so „paradoxensüchtig“ gewesen sei, dass sie sich dem Christentum mit seinen abstrusen Lehren ergeben habe (NL 1880, KSA 9, 3[20], 52, 10–20). N.s spätere Christentumskritik nimmt dieses Motiv auf, siehe NK KSA 5, 258, 2–4 u. NK KSA 5, 269, 13–18.
308. Während es im vorangehenden Abschnitt MA I 307 darum ging, geistreiche Menschen zu motivieren, eine Ansicht anzunehmen, geht es in MA I 308 darum, Mutige „zu einer Handlung“ (242, 8) anzuspornen, indem man ihnen ebenfalls eine kommunikative Falle stellt, nämlich diese Handlung als überaus gefährlich darzustellen, ohne dass sie es wäre. Zu MA I 308 gibt es in Mp XIV 1, 138 eine ‚Reinschrift‘ in blassvioletter Tinte, von N. nachträglich mit schwarzer Tinte um die Überschrift ergänzt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,138). In N II 3, 23 ist die Sentenz mit geringen Abweichungen bereits mit Bleistift notiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ N-II-3,23).
688
Menschliches, Allzumenschliches I
242, 7–9 Muthige Leute überredet man dadurch zu einer Handlung, dass man dieselbe gefährlicher darstellt, als sie ist.] Gemeinhin gilt N. als Philosoph, der das gefährliche Denken und das gefährliche Leben fordere (dazu jetzt umfassend Schulte 2023). Die in MA I 308 skizzierte Taktik wendet N. selbst in seinem Spätwerk inflationär an, wenn er sich selbst mit „Dynamit“ vergleicht (vgl. NK KSA 6, 365, 7 f.) und das Mitvollziehen der „Umwerthung aller Werthe“ seitens seiner Leser als etwas ungemein Gefährliches darstellt. Inwiefern auch der junge N. eine solche Leserlenkungstaktik anwendet, wäre zu untersuchen.
309. Nach MA I 309 sind „A r t i g k e i t e n“ (242, 11) etwas, was „wir“ (ebd.) denen, die sie uns erweisen, übelnehmen, wenn wir die Erweisenden nicht mögen. Zu MA I 309 gibt es in Mp XIV 1, 333 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,333). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 34 f. findet sich eine Version, die im Nachsatz erklärt, warum das so sei: „Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten, welche sie uns erweisen, zum Vergehen an: sie belasten uns damit.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,34 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,35) So lautet der Text auch in U II 5, 143, hier von N. selbst notiert (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,143). 242, 11 A r t i g k e i t e n] Im Druckmanuskript D 11, 140 nachträglich hinzugefügt; die dort ursprünglich stehende Überschrift wurde gestrichen: „Schlechte Bezichtigung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,140). KGW IV 4, 214 liest: „Schlechte Berichtigung“. 242, 11 f. Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten, welche sie uns erweisen, zum Vergehen an.] Während „Artigkeit“ im Singular „geschick, manier“ bedeutet, meint der Plural „schmeichelhaftes“ (Grimm 1854–1971, 1, 574). Vgl. zu den „Artigkeiten“ auch UB II HL Vorwort, KSA 1, 246, 20, UB III SE 6, KSA 1, 391, 6 u. N. an Elisabeth Nietzsche, 31. 03. 1877, KSB 5/KGB II 5, Nr. 603, S. 227, Z. 15 f.
310. MA I 310 behauptet, es mache die Menschen wütend und „unmoralisch“ (242, 17), wenn man sie warten lasse.
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 308–311, KSA 2, S. 242
689
Zu MA I 310 gibt es in Mp XIV 1, 333 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,333). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 36 findet sich eine Version, die das Behauptete an einem historischen Beispiel erhellt: „Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse quälende Gedanken in den Kopf zu setzen, ist: sie lange warten zu lassen. Das Christenthum hat die Menschen unmoralisch gemacht, weil es ihnen das Weltgericht versprochen hat und sie bis jetzt darauf warten lässt.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,36) In U II 5, 148 hat N. mit Bleistift notiert: „Warten – ein Mittel die Leute aufzubringen“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,148). 242, 15 W a r t e n l a s s e n] Im Druckmanuskript D 11, 140 korrigiert aus: „Lange warten lassen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,140). 242, 15–17 Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen.] Zur Tugend des WartenKönnens vgl. demgegenüber NK ÜK MA I 61. Auf eine Spezifizierung, wer die angesprochenen „Leute“ sind, verzichtet MA I 310. Der spezifizierende Nachsatz in M I 1, 36 zum Christentum legt eine sehr spezifische Adressatenschaft nahe, vgl. NK ÜK MA I 310.
311. Während MA I 304, KSA 2, 241 die Differenz von Vertrauen und Vertraulichkeit aufweist, sind in MA I 311 die „V e r t r a u l i c h e n“ (242, 19) diejenigen, die „uns“ ihr Vertrauen schenkten, aber dafür auch das unsere haben wollten. Auf solche Gegenseitigkeit aber gebe es keinen Anspruch. Zu MA I 311 gibt es in Mp XIV 1, 336 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,336). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 49 gibt es zum schließlichen Drucktext nur eine geringfügige Abweichung: Statt „ein Fehlschluss“ (242, 21) heißt es da „ein grober Fehlschluss“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,49). 242, 19 G e g e n d i e Ve r t r a u l i c h e n] Im Druckmanuskript D 11, 140 hieß die Überschrift ursprünglich: „Noch keine Gegenseitigkeit“. Diesen Titel hat Köselitz durchgestrichen und durch den schließlich gedruckten ersetzt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,140). Durch diese Umstellung ergab sich erst die Spannung zu MA I 304, wo Vertraulichkeit und Vertrauen auseinanderdividiert werden.
690
Menschliches, Allzumenschliches I
242, 19–22 Leute, welche uns ihr volles Vertrauen schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess ist ein Fehlschluss; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.] In der Ethnologie des 20. Jahrhunderts hat bekanntlich Marcel Mauss die Gabe und die umfassende Pflicht zur Geschenk-Reziprozität ins Zentrum seines Essai sur le don (1923/24) gestellt; Mauss’ Überlegungen werden allerdings vorgespurt durch die einschlägige Forschung des 19. Jahrhunderts, die N. zur Kenntnis genommen hat. So entwickelt Edward Burnett Tylor eine „Geschenktheorie“ des Opfers (Tylor 1873, 2, 363 u. ö.): „Man kann auch in der allgemeinsten Ausdehnung den Satz aufrecht erhalten, dass bei dem Geschenke, welches der gemeine Mann dem Grossen darbringt, um Gutes zu erlangen oder Böses abzuwenden, um Hülfe zu erbitten oder Beleidigung wieder gut zu machen, der Häuptling nur durch die Gottheit ersetzt zu werden braucht, um eine logische Lehre von den Opfergebräuchen herzustellen, welche in hohem Masse geeignet ist, den Zweck derselben direct zu erklären und auch auf anderen Gebieten die wirkliche Bedeutung dessen vermuthen zu lassen, was im Laufe der Zeiten eine durchaus veränderte Gestalt angenommen hat. […] Man /395/ wird bemerken, dass die Opfergaben für die Gottheiten sich in derselben Weise klassificiren lassen, wie die irdischen Geschenke. Das gelegentliche Geschenk, das bei irgend einem besonderen Vorfall gemacht wird, der periodische Tribut, den der Unterthan dem Herrscher zollt, die Abgabe an den König für die Sicherung des Besitzes oder den Schutz des erworbenen Eigenthums, dies Alles findet in den Opfersystemen der verschiedenen Völker sein deutliches und klarbestimmtes Analogon.“ (Ebd., 2, 394 f.) Geschenke in sozialen Systemen sind mit anderen Worten nach Tylors anthropologischem Befund immer solche, die Gegengaben verlangen oder „Rechte“ sichern. Das versucht MA I 311 gerade in Abrede zu stellen. Zu Tylors Bemerkung über Votivgaben siehe NK 211, 20–22.
312. Wer – so MA I 312 – die Chance bekommt, „über uns“ (243, 1) einen Witz zu machen, gewinne dadurch einen Ausgleich für eine Beeinträchtigung, die er durch uns erlitten hat. Zu MA I 312 gibt es in Mp XIV 1, 333 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,333). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 34 findet sich eine Version, die das Behauptete in ein spezifisches politisches Setting einpasst: „Einem Anderen, dem man einen Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu einem Witz zu geben, um ihn gut zu stimmen, ja um ihm persönliche Genugthuung vor uns zu geben, ist ein Diplomaten-Kniff.“
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 311–313, KSA 2, S. 242–243
691
(http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,34) Diesen Wortlaut hat N. auch in U II 5, 143 notiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,143). Der Ausdruck „Diplomatenkniff“ ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits recht geläufig. 242, 24–243, 2 Es genügt oft, einem Andern, dem man einen Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu einem Witze über uns zu geben, um ihm persönlich Genugthuung zu schaffen, ja um ihn für uns gut zu stimmen.] Mit der Kehrseite, der zerstörerischen Macht des Witzes, konnte N. sich in Rées Psychologischen Beobachtungen vertraut machen: „Es ist ein Risico, seiner Eitelkeitsbefriedigung wegen große Anstrengungen zu machen, z. B. Paläste zu erbauen. Denn oft genügt ein Witzwort, das uns zu Ohren kommt, ja ein spöttischer Blick, der uns im richtigen Momente trifft, um uns die ganze Freude zu vergällen.“ ([Rée] 1875, 135 f. = Rée 2004, 116)
313. MA I 313 thematisiert die Kommunikationsökonomie im Umgang mit den eigenen negativen Charaktereigenschaften: Egal, ob jemand sie verberge oder offen zu ihnen stehe, sei beides doch – da er die Verbergung oder Offenlegung je nach Adressaten wohlkalkuliere – Ausdruck seiner „Eitelkeit“ (243, 6). Zu MA I 313 gibt es in Mp XIV 1, 168 eine ‚Reinschrift‘ mit einigen Korrekturen, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,168). Zu MA I 313 siehe z. B. Liebscher 2020, 133 (mit Hinweis auf Baltasar Gracián) u. Donnellan 1975, 2, 682, Anm. 261, zum Motiv der Verstellung MA I 293, KSA 2, 239. 243, 4 E i t e l k e i t d e r Z u n g e.] Im Druckmanuskript D 11, 140 korrigiert aus: „Im Beichten berechnend“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,140). Zwar ist die Eitelkeit, vanité, ein zentrales Thema der Moralistik von La Rochefoucauld bis Rée, aber eine „vanité de (la) langue“ ist offensichtlich weder dort noch sonst wo eine eingeführte Wendung; auch das lateinische „vanitas linguae“ ist eher obskur (nachweisbar nur in einer einst Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Predigt In Canticum Virginis Mariae 6). 243, 7 f. man beachte nur, wie fein er unterscheidet] In Mp XIV 1, 168 korrigiert aus: „dasselbe unterscheidet er genau“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,168).
692
Menschliches, Allzumenschliches I
314. Bemühe man sich, niemanden zu schädigen, so müsse das, MA I 314 zufolge, nicht Ausdruck einer tugendhaften Gerechtigkeit sein – sondern könne auch einer „ängstlichen Sinnesart“ (243, 13) entspringen. Zu MA I 314 gibt es in Mp XIV 1, 73 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,73). In N II 2, 34 ist die Sentenz bereits mit Bleistift notiert; statt „Kennzeichen“ (243, 12) steht da: „Zeichen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,34). Vgl. MA I 317, KSA 2, 244. Die Formel „Neminem laede“, „verletze niemanden“, ist die Grundformel von Schopenhauers Moralphilosophie (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 158), siehe NK ÜK MA I 25. Schopenhauer will den Verdacht abwehren, wahre Moral beruhe im geheimen Kern doch auf Egoismus – und N. holt ihn in MA I 314 mit diesem Verdacht ein: Denn vermeidet es jemand, andere zu verletzen, weil er ängstlich ist, tut er dies aus Furcht vor Gegenschlägen – also aus dem egoistischen Beweggrund, sich selbst schadlos zu halten.
315. MA I 315 gibt die metaphorisch verklausulierte Diskursanweisung, man solle sich nicht auf hitzige Debatten einlassen, wenn man „seine Gedanken nicht auf Eis zu legen“ (243, 15 f.) verstehe. Das bedeutet offensichtlich nicht, dass man seine Überlegungen und Argumente in den geistigen Permafrost schicken soll, wo sie allmählich erfrieren, sondern sich ihrer kalt und eisig stets bewusst zu bleiben, wie nahe einem die Diskussion auch gehen mag. Weniger blumig ausgedrückt lautet die Anweisung also nur: Sei im Streit beharrlich und verlier’ das Eigene nicht aus dem Blick! Zu MA I 315 gibt es in Mp XIV 1, 211 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,211). In N II 2, 50 ist mit Bleistift notiert: „Wer sein[e] Gedank[en] nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich in die Hitze eines Streites (einlassen) begeben“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,50). In dieser Version fehlt das verneinende „nicht“ – die Aufforderung ist also die genau gegenteilige! 243, 15 Z u m D i s p u t i r e n e r f o r d e r l i c h] Im Druckmanuskript D 11, 140 korrigiert aus: „Warnung vor dem Streit“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,140). 243, 15–17 Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben.] Im Rückblick von Ecce homo wird N. MA I
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 314–317, KSA 2, S. 243
693
attestieren, dieses Buch habe einen „Irrthum nach dem andern […] gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt – e s e r f r i e r t …“ (EH MA 1, KSA 6, 323, 7 f.) In MA I 315 sollen aber nicht die zum Erfrieren und Sterben bestimmten Gedanken der Kälte ausgesetzt werden, sondern gerade die bewahrenswerten. Zur stark kontextabhängigen Eismetaphorik vgl. z. B. auch NK KSA 6, 169, 5 f.
316. Nach MA I 316 ist Anmaßung etwas, was sich im Verkehr mit Menschen, die etwas leisten, verliert. Junge Leute seien anmaßend, weil sie sich unter „Ihresgleichen“ bewegen, „welche alle Nichts sind“ (343, 22 f.). Zu MA I 316 gibt es in Mp XIV 1, 206 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „S“ markiert, wie üblich noch ohne Überschrift und mit einer Vorliebe für Kleinschreibung: „Man verlernt die Anmaassung, wenn man sich immer unter verdienten Menschen weiss; allein sein pflanzt Übermuth. Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit ihres gleichen um, welche alle nichts sind, aber gerne viel bedeuten.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,206) Dies würde bedeuten, dass sich Anmaßung tatsächlich einfach verlöre, wenn man sich nur in der rechten Gesellschaft befände. Wie aber, wenn man sich – wie N. später – über alle Welt erhaben wähnt? Und bemerkenswerterweise steht in Mp XIV 1, 206 unmittelbar vor der ‚Reinschrift‘ von MA I 316 jenes Notat, das dann als NL 1876/77, KSA 8, 23[158], KSA 8, 462, 28–30 publiziert werden wird: „Paul Winkler 1685 ‚der Mensch ist so lange weise als er die Wahrheit sucht; wenn er sie aber gefunden haben will, wird er ein Narr‘“ (nach Altdeutscher Witz 1877, 113; vgl. NK 58, 2). Anmaßung wiederum ist ein moralistisches Dauerthema, vgl. neben MA I 332, KSA 2, 246, MA I 358, KSA 2, 254 u. MA I 373, KSA 2, 260 f. Siehe auch [Rée] 1875, 115 = Rée 2004, 110: „Wer keine Vorzüge hat, aber deren zu haben glaubt, ist anmaßend.“ Zur Anmaßung junger Menschen siehe sodann NK ÜK MA I 599. 243, 19 U m g a n g u n d A n m a a s s u n g] Im Druckmanuskript D 11, 140 korrigiert aus: „Anmaassung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,140).
317. MA I 317 lässt mit der Beobachtung, dass man womöglich jemanden attackiere, nicht um ihn zu verletzen, sondern um seine eigene „Kraft“ (244, 4) zu spüren, ein Motiv anklingen, das dann von der Morgenröthe an stärker heraustritt, nämlich das des Machtgefühls. MA I 252, KSA 2, 209, 31–210, 1 hatte argumentiert, die Lust des Erkennens bestehe zunächst in der Erfahrung eigener „Kraft“.
694
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 317 gibt es in Mp XIV 1, 73 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,73). In N II 2, 34 ist die Sentenz bereits mit Bleistift notiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/NII-2,34). Bleistiftnotiz und ‚Reinschrift‘-Eintrag stehen jeweils in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Texten, die MA I 314, KSA 2, 243 zugrunde liegen. Auch in MA I 317 steht im Hintergrund wieder Schopenhauers Moraltheorie, diesmal mit der Akzentuierung auf der „Bosheit; die das fremde Wehe will“ (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 210). Dass einer bewussten Verletzungshandlung womöglich nicht das Wollen des fremden Leidens, sondern vielmehr der Wunsch nach der Erfahrung eigener Kraft zugrunde liegt, wendet MA I 317 gegen Schopenhauers Setting ein. Zugleich verweist MA I 317 auf den in N.s Frühwerk intensiv diskutierten, agonalen Charakter antiker griechischer Kultur: Im (Wett-)Kampf erfährt man die eigene Stärke. Noch im antichristlichen Katechismus 1888 wird behauptet, alles sei gut, „was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht“ (AC 2, KSA 6, 170, 2 f.; vgl. NK KSA 6, 170, 2–6). Man könnte vor dem Hintergrund von MA I 317 geneigt sein, alle Angriffe, die N. zeitlebens in seinen Schriften führt, als Kraftselbstversicherungsbemühungen zu verstehen. Zu MA I 317 im Horizont der Problemgeschichte der Polemik vgl. Rose 2020, 374: „Erstens denkt Nietzsche die Polemik konsequent vom ‚polemischen Subjekt‘ her, das seine Souveränität aus dem Umstand bezieht, dass es diesen Kommunikationsbzw. Schreibakt überhaupt erst in Gang setzt und die jeweiligen Positionen darin festlegt. […] Und zweitens denkt Nietzsche die Polemik als weitgehend schriftkommunikativen Akt, in dessen Zentrum das Schreiben selbst und eine darauf zu gründende Autorschaft stehen“.
318. Nach MA I 318 werde Schmeicheln oft eingesetzt, um uns geneigt zu stimmen und einzuschläfern. Das Risiko bei diesem Mittel bestehe aber darin, dass es nicht verlässlich funktioniert und im Gegenteil aufputschend wirken kann – wohl weil es unser Misstrauen weckt. Zu MA I 318 gibt es zwei im Wortlaut identische ‚Reinschriften‘ in Mp XIV 1, 256 und in Mp XIV 1, 323, beide von der Hand Albert Brenners und beide wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,256 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,323). Fast im späteren Wortlaut hat N. den Gedanken auch in U II 5, 65 notiert (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,65). Die Schmeichelei und ihre Fallstricke sind seit jeher ein großes Thema der Moralistik, z. B. bei La Rochefoucauld in der Maxime 144: „La louange est une flatterie habile, cachée et délicate, qui satisfait différemment celui qui la
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 317–320, KSA 2, S. 243–244
695
donne et celui qui la reçoit: l’un la prend comme une récompense de son mérite; l‘autre la donne pour faire remarquer son équité et son discernement.“ (La Rochefoucauld o. J., 37) Und noch entschiedener Maxime 158: „La flatterie est une fausse monnoie qui n’a de cours que par notre vanité.“ (Ebd., 39) 244, 6 f. Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen durch Schmeicheleien betäuben wollen] In U II 5, 65 stattdessen: „Personen welche unsere Vorsicht mit Schmeicheleien betäuben wollen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,65).
319. MA I 319 nennt drei Bedingungen, die einen „[ g ] u t e [ n ] B r i e f s c h r e i b e r“ (244, 12) ausmachen, nämlich keine Bücher zu schreiben, viel nachzudenken und in einer sozialen Umgebung zu leben, die für diesen wachen, nachdenkenden Geist unzureichend ist. Zu MA I 319 gibt es in Mp XIV 1, 182 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,182). In N II 2, 61 lautet eine Bleistiftnotiz: „gut Brief schreiben / wer gut redet“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,61). Klassische Fälle, für die das in MA I 319 Gesagte zutrifft, sind beispielsweise Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de Sévigné, die N. allerdings erst in den frühen 1880er Jahren mehrfach erwähnt, Ferdinando Galiani, der bei N. ab 1884 zu einer zentralen Referenzfigur wird und nur in jugendlichem Alter ernsthaft Bücher schrieb und mit seinen Briefen berühmt wurde und schließlich Julie de Lespinasse, die Eingang gefunden hat in die von Ida Overbeck veranstaltete Sainte-Beuve-Ausgabe, deren Textauswahl N. wesentlich mitbestimmt hat (Sainte-Beuve 1880, kommentiert Sainte-Beuve 2014). Dass N. selbst, obwohl er Bücher schrieb, durchaus auf exzellente Briefschreiberschaft aspirierte und seine Korrespondenz subtil organisierte, machen die Beiträge in Enrico Müller (Hg.) 2021c deutlich. Exemplarisch für N.s briefliche Werbungskünste angesichts „unzureichender Gesellschaft“ (244, 13) sind etwa die Briefe an Erwin Rohde vom 18. 07. 1876, KSB 5/KGB II 5, Nr. 542, S. 176 f., an Louise Ott vom 22. 09. 1876, KSB 5/KGB II 5, Nr. 552, S. 185 f. und an Reinhart von Seydlitz vom 24. 09. 1876, KSB 5/KGB II 5, Nr. 554, S. 188 f.
320. MA I 320 spricht der ganzen physiognomischen und anthropozentrischen ästhetischen Tradition Hohn: So viel einer auch herumgereist sein möge, werde er doch
696
Menschliches, Allzumenschliches I
kaum „hässlichere Gegenden“ (244, 17) aufgefunden haben, als das menschliche Antlitz sie biete. Zu MA I 320 gibt es eine ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 325 von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,325). Ein Notat in U II 5, 69 hat N. zum Wortlaut von Mp XIV 1, 325 korrigiert, vor den Korrekturen lautete es: „Es ist zu zweifeln ob ein vielgereister Mann irgendwo eine hässlichere Gegend gefunden hat als das menschliche Gesicht ist.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,69) Zwar ist die Vorstellung, dass manche menschlichen Gesichter hässlich seien, durchaus weit verbreitet – und im Zeitalter der Aufklärung wurde das Vorurteil kultiviert, bestimmte Menschengruppen, namentlich die ‚Hottentotten‘, seien generell hässlich (zu diesem Diskurs ausführlich Kaufmann 2019a, 155–182), aber so pauschal der Hässlichkeit verdächtigt zu werden, ist dem menschlichen Gesicht, ansonsten gerne als Inbegriff des Schönen verstanden, doch wohl selten widerfahren. Dass Landschaften und Gesichter als Objekte ästhetischer Zuschreibungen oft in einem Atemzug genannt werden, führt weder notwendig zu einer Analogisierung beider Sphären wie in MA I 320 noch zu einem so vernichtenden Verdikt. Beispielsweise Karl Hillebrand hat in seinen von N. hochgeschätzten Zwölf Briefen eines ästhetischen Ketzers (vgl. N.s enthusiastisches Urteil in seinem Brief an Erwin Rohde vom 31. 12. 1873, KSB 4/KGB II 3, Nr. 338, S. 188, Z. 53–56) auf der ästhetischen Neutralität der Natur beharrt: „Die Natur ist neutral, sie ist weder schön noch häßlich, wie sie weder gut noch böse ist. Eigentlich schöne Formen existiren nicht, wohl aber mehr oder minder ausgeprägte Formen, das heißt solche, welche beredter als andere sind, Functionen und Wesen der verschiedenen Natur-Erscheinungen klarer durchblicken lassen. Sehe /97/ ich ein Menschengesicht, eine Landschaft, so bleiben in meinem Gedächtnisse nur die unterscheidenden Züge, die diesem Antlitz, dieser Gegend ihren ‚Charakter‘ verleihen. […] Da wird nun natürlich ‚Häßlich‘ und ‚Schön‘ ein ganz relativer Begriff“ ([Hillebrand] 1874b, 96 f.). 244, 16 A m h ä s s l i c h s t e n] Im Druckmanuskript D 11, 140 korrigiert aus: „Hässlichste Gegenden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,140). 244, 16 zu bezweifeln] Mp XIV 1, 325 hat stattdessen: „zu zweifeln“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,325).
321. MA I 321 bietet Ansätze zu einer schonungslosen Kritik des Mitleids. Hier wird eine Beobachtung zum Hebel der kritischen Analyse, dass nämlich die Mitleidigen „selten“ (244, 21) auch die Mitfreudigen seien: Wenn der Andere Freude erlebe,
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 320–322, KSA 2, S. 244–245
697
täten sie sich schwer, daran Anteil zu nehmen, weil sie dann nicht mehr die „Ueberlegenheit“ (244, 23) hätten, die ihnen offensichtlich das Mitleiden versüßt. Mitleid gerät so in den Verdacht, ein selbstsüchtiges Tun des Mitleidigen zu sein, der sich an seiner Privilegierung ergötzt, nicht in der bedauerlichen Bedürfnislage des Bemitleideten zu sein. MA I 499 wird dann argumentieren, „Mitfreude, nicht Mitleiden, macht den Freund“ (320, 13). Vgl. Ponton 2015, Abschnitte 20–22 zur Differenz der in MA I 321 obwaltenden Vorstellung von Mitfreude im Kontrast zu derjenigen Rées. Zu MA I 321 gibt es in Mp XIV 1, 212 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „S“ markiert, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,212). In N II 2, 6 lautet eine Bleistiftnotiz: „Die mitleidigen ˹helfenden˺ Naturen sind selten die sich mit freuenden: beim Glück haben sie nichts zu thun, sind wie [?] überflüssig“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,6). 244, 20 D i e M i t l e i d i g e n] Im Druckmanuskript D 11, 140 korrigiert aus: „Einseitig im Theilnehmen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,140).
322. MA I 322 bringt eine Beobachtung zur Sozialgeschichte des Suizids ein, ohne sich auf die alte philosophische Frage nach dessen Erlaubtsein einzulassen, nämlich die Beobachtung, dass Angehörige des Suizidanten es ihm nicht verzeihen, dass er sie mit seinem Tod kompromittiert. Der Suizid erscheint also nicht bloß als sozialer Makel dessen, der sich umgebracht hat, sondern auch seiner Nahwelt. Die Angehörigen erweisen sich als unempfänglich für die existenzielle Ausnahmesituation des „Selbstmörders“ (245, 2) und sind einzig auf die eigene soziale Reputation bedacht. Zu MA I 322 gibt es zwei im Wortlaut identische ‚Reinschriften‘ in Mp XIV 1, 257 und in Mp XIV 1, 324, beide von der Hand Albert Brenners und beide wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,257 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,324). Fast im späteren Wortlaut hat N. den Gedanken auch in U II 5, 67 notiert; statt „aus Rücksicht auf ihren Ruf“ (245, 3 f.) heißt es dort: „aus Rücksicht auf sie ˹und ihren Ruf˺“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,67). 245, 2–4 Verwandte eines Selbstmörders rechnen es ihm übel an, dass er nicht aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben geblieben ist.] Es geht also nicht um die „Rücksicht“ auf das Leben oder das Leiden der Hinterbliebenen, sondern um die „Rücksicht auf ihren Ruf“, also ihr soziales Ansehen, das der Suizidant beschädigt.
698
Menschliches, Allzumenschliches I
323. In die Kategorie der „K u n s t d e s S c h e n k e n s“ (MA I 297, KSA 2, 240, 2) gehört auch Abschnitt MA I 323, der nahelegt, kein großes Geschenk zu machen, weil der Schenkende keine Dankbarkeit fände, da der Empfänger mit dem Geschenk viel zu sehr belastet sei. Zu MA I 323 gibt es in Mp XIV 1, 334 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,334). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 39 findet sich eine abweichende Version: „Wenn man etwas ganz Großes schenkt, so findet man keine Dankbarkeit, denn man macht schon durch das Annehmen zu viel Last.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ M-I-1,39) Diesen Wortlaut hat N. auch in U II 5, 155 notiert (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,155). In EH Vorwort 4, KSA 6, 259, 15–17 wird N. ein Jahrzehnt später schreiben: „Innerhalb meiner Schriften steht für sich mein Z a r a t h u s t r a. Ich habe mit ihm der Menschheit das grösste Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist.“ Vielleicht hätte MA I 323 N. erklären können, weshalb sich die Menschheit mit seinem Geschenk schwergetan hat. 245, 6 U n d a n k v o r a u s z u s e h e n] Im Druckmanuskript D 11, 141 korrigiert aus: „Grosse Geschenke“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,141).
324. Was bedeutet es, wenn MA I 324 behauptet, es danke dem Geistreichen keiner „die Höflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht höflich ist, Geist zu zeigen“ (245, 11 f.)? Heißt dieses Sich-Gleichstellen, dass er seinen Geist verbirgt? Dass ihm niemand seine „Höflichkeit“ (245, 11) dankt, ist nicht verwunderlich, weil ja in der „g e i s t l o s e [ n ] G e s e l l s c h a f t“ (245, 10) wohl auch niemand Geist genug besäße, die Selbstcamouflage des Geistreichen überhaupt zu erkennen. Zu MA I 324 gibt es in Mp XIV 1, 330 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,330). In U II 5, 62 erhellt eine Bleistiftnotiz ein wenig den konkreten lebensgeschichtlichen Hintergrund des jungen Basler Professors, der in die bessere Gesellschaft eingeladen wird: „Gesellsch[aft] in Basel. / Niemand dankt dem geistreichen Menschen das Opfer das er bringt wenn er eine geistesarme Gesellschaft besucht (wo es nicht höflich ist Geist zu haben)“. Mit brauner Tinte hat N. dieses Notat zur späteren ‚Reinschrift‘-Version umgeformt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,62).
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 323–326, KSA 2, S. 245
699
245, 10 I n g e i s t l o s e r G e s e l l s c h a f t] Im Druckmanuskript D 11, 141 korrigiert aus: „Höflichkeit falsch angebracht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ D-11,141). Im eigentlichen Text von MA I 324 kommt „geistlos“ nicht weiter vor; es wird auch nicht behauptet, dass dort alle Menschen „geistlos“ seien, sondern nur, dass es „höflich“ sei, seinen „Geist“ zu verbergen – vielleicht, weil ein paar wenige Gäste „geistlos“ sind und man die nicht blamieren will. In U II 5, 62 ist auch nicht von „geistlos“, sondern von „geistesarm“ die Rede, wobei die Differenz zwischen Geistesreichtum und Geistesarmut graduell zu sein scheint, während das Verdikt der Geistlosigkeit einen absoluten Gegensatz suggeriert.
325. MA I 325 wirft einen illusionslosen Blick auf menschliche Heroismusbereitschaft: Wenn „[m]an“ (245, 14) vor anderen Menschen Heldenmut zeigen kann, die den nicht aufbringen, dann sei man doppelt bereit dazu, einen Ertrinkenden zu retten. Zu MA I 325 gibt es in Mp XIV 1, 42 eine ‚Reinschrift‘ in blassvioletter Tinte, der N. mit schwarzer Tinte die definitive Überschrift hinzugefügt hat (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,42). Die Frage, warum man einem nachspringt, der ins Wasser gefallen ist, erörtert auch M 133, KSA 3, 125–127 (vgl. die Vorarbeiten in KGW V 3, 118 f.). Dort wird unbewusstes Mitleid als Handlungsmovens zur Diskussion gestellt, während in MA I 325 der Handelnde sich auf der Bühne weiß, vor Zuschauern, die er bewusst beeindrucken will. Ohne Publikum findet Heldentum womöglich gar nicht statt; es ist eine Antwort auf eine Publikumserwartung.
326. Wie MA I 315, KSA 2, 243 behandelt MA I 326 die soziale Situation des Disputs, jetzt aber zur „Polemik“ (245, 19) verschärft: Wer eine solche als Adressat schweigend übergehe, provoziere bei sich selbst ebenso unangenehme Empfindungen wie beim Aggressor, der sich durch das Schweigen verachtet fühle. Zu MA I 326 gibt es in Mp XIV 1, 92 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift. Die hellere Tintenfarbe und die gedrängte Notation lassen die Vermutung zu, der Halbsatz „denn der Angreifende erklärt sich das Schweigen gewöhnlich als Zeichen der Verachtung“ sei erst nachträglich hinzugefügt worden (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,92). Die Vermutung wird bekräftigt durch die Bleistiftnotiz N II 2, 17: „Die für beide Parteien unangenehmste Polemik ist –
700
Menschliches, Allzumenschliches I
sich ärgern u. schweigen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,17). In der ursprünglichen Version war also das Sich-Ärgern und Schweigen selbst eine Form der Polemik, während es dann in der Ausarbeitung zur Reaktion darauf umerklärt wurde. Ob N.s eigene Erfahrungen als Polemiker beispielsweise gegen David Friedrich Strauß in UB I DS oder gegen Eduard von Hartmann in UB II HL in die Diagnose hineinspielen, steht dahin. 245, 18 S c h w e i g e n] Im Druckmanuskript D 11, 141 korrigiert aus: „Unangenehmste Art, eine Polemik zu erwiedern“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ D-11,141). 245, 19 erwidern] In Mp XIV 1, 92 und D 11, 141 stattdessen: „erwiedern“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,92 u. http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,141). Die Erstausgabe emendiert zu „erwidern“ (Nietzsche 1878, 250).
327. MA I 327 nimmt das Thema der Freundschaft (vgl. z. B. MA I 305, KSA 2, 241) wieder auf, aber nicht im Hinblick auf Vertrauen, sondern auf Verrat: Wenn es ihnen Dritten gegenüber an Gesprächsstoff mangle, seien die Meisten bereit, Geheimnisse ihrer Freunde preiszugeben. Zu MA I 327 gibt es in Mp XIV 1, 332 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,332). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 90 findet sich eine identische Version (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,90). In U II 5, 123 hat N. eine leicht abweichende Version notiert: „Es wird einige geben welche, verlegen um Stoff der Unterhaltung, nicht die geheimeren Angelegenheiten ihrer Freunde preisgeben.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,123) Inwiefern N. hier eigene biographische Erfahrungen, insbesondere mit Richard und Cosima Wagner, verarbeitet, mag die biographische Forschung erschließen. 245, 23 D a s G e h e i m n i s s d e s F r e u n d e s] Im Druckmanuskript D 11, 141 korrigiert aus: „Ausplaudern als Ersatz“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,141).
328. Behalte die „Berühmtheit[..] des Geistes“ (246, 4 f.) „Unrecht“ (246, 6) im Umgang mit Menschen, die nicht berühmt sind, zeige sich hierin ihre „Humanität“ (246, 4).
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 326–329, KSA 2, S. 245–246
701
Zu MA I 329 gibt es in Mp XIV 1, 343 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,343). In U II 5, 51 hat N. eine leicht abweichende Version notiert: „Die Humanität der Berühmtheiten des Geistes besteht darin, im Gespräche auf eine verbindliche Art Unrecht zu behalten.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,51) Dieses Notat steht unmittelbar vor dem mit dem Titel „D i e 1 0 G e b o t e d e s F r e i g e i s t e s“ (NL 1876, KSA 8, 19[77], 348, 8). Ob „Humanität“ und „Berühmtheiten“ ironisch gemeint sind, lässt MA I 328 offen, auch, ob an Persönlichkeiten wie Goethe (z. B. im Umgang mit den Romantikern oder mit Heinrich von Kleist) oder solche wie Wagner (z. B. im Umgang mit einem damals „Unberühmten“ wie N. – 246, 5) zu denken ist. Vgl. MA I 336, KSA 2, 247. 246, 4 H u m a n i t ä t] Im Druckmanuskript D 11, 141 korrigiert aus: „Humanität der Berühmtheiten des Geistes“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,141).
329. Ist MA I 301, KSA 2, 240 das Problem der Verlegenheit noch therapeutisch angegangen, beschreibt MA I 329, wie im sozialen Gefüge jemand, der unsicher ist, sich selbst schadlos halten zu können glaubt, nämlich auf Kosten Dritter, durch die Demonstration von Überlegenheit gegenüber näher Bekannten. Zu MA I 329 gibt es in Mp XIV 1, 331 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,331 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,332). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 91 findet sich eine fast identische Version, abweichend nur an einer Stelle: Statt „nicht sicher fühlen“ (246, 9) steht da: „nicht sehr sicher fühlen“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,91). In U II 5, 123 hat N. eine leicht abweichende Version notiert: „Leute, die sich gesellschaftl. nicht sehr sicher u. überlegen fühlen, benutzen jede Gelegenheit an einem Nahegestellten, dem sie überlegen sind, ihre Übermacht [?] zu zeigen, durch Neckereien usw.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,123) MA I 329 bedient das klassische Setting der Moralistik, nämlich scharfe Analysen konkreter gesellschaftlicher Interaktionen zu liefern. 246, 8 D e r B e f a n g e n e] Im Druckmanuskript D 11, 141 korrigiert aus: „Befangene, ihre Überlegenheit bezeigend“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,141).
702
Menschliches, Allzumenschliches I
330. MA I 330 versucht sich in einem feinen Wortspiel, um die Differenz einer „feine[n]“ und einer „grobe[n]“ „Seele“ vor Augen zu stellen: Ersterer missfalle, „sich Jemanden zum Dank verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem“ (246, 14 f.). Mit Hilfe des feinen Unterschieds von Akkusativ und Dativ soll sichtbar werden: Es erscheint als pöbelhaft, die Dankbarkeit, die man einem Dritten schuldet, als Belastung zu empfinden, während es vornehm anmutet, wenn man keinen Dritten haben möchte, der einem etwas schuldet, weil man vermutet, dass es diesen beschäme. Ausbuchstabiert wird das Thema – nun unter dem Rubrum der „V o r n e h m h e i t“ (256, 22) – in MA I 366, KSA 2, 256. Zu MA I 330 gibt es in Mp XIV 1, 137 eine ‚Reinschrift‘, die lautet: „Dank. / Eine feine Seele bedrückt es, ˹sich˺ jemanden sich zum Dank verpflichtet zu wissen; eine grobe, ˹sich˺ jemandem.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,137) Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 20 lautet: „Feine Seele bedrückt es, jemanden sich zu Dank verpflichtet zu wissen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II3,20). NL 1876/77, KSA 8, 21[20], 370, 7 f. spezifiziert: „Es verwundet, den Hochverehrten sich zum Dank verpflichten.“ Hier ist es also nur eine ganz bestimmte Art von Menschen, die man (nicht explizit der Feindseelige) nicht in Dankesschuld einem selbst gegenüber stehen haben will (im „Vorwort an Richard Wagner“ zur Erstausgabe von GT wird dieser als „mein hochverehrter Freund“ angesprochen – KSA 1, 23, 10). In der publizierten Form wird die Beobachtung von 21[20] generalisiert und die Blickrichtung geändert, nämlich auf die Seelenverfasstheit derjenigen, die da einen Widerwillen empfinden (oder eben nicht).
331. Der im Titel von MA I 331 in Anschlag gebrachte Entfremdungsbegriff ist nicht als allgemeine sozialphilosophische Kategorie gedacht, sondern soll lediglich beschreiben, was zwischen zwei Individuen geschieht, die einander gegenseitig ironisch begegnen können, ohne dass der Andere es jeweils merkt. Zu MA I 331 gibt es in Mp XIV 1, 198 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift, die mit dem Satz schließt: „Jeder ist auf einem andern Stern zu Hause“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,198). Auch im Druckmanuskript D 11, 141 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,141) und in den Korrekturbogen zur Erstauflage (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16487500 28/286/) steht der Satz noch; er scheint im Korrekturdurchgang gestrichen worden zu sein: In der Erstausgabe fehlt er (Nietzsche 1878, 251). In N II 2, 67 ist mit Bleistift notiert: „Das stärkste Anzeichen für ˹von˺ Entfremdung der Ansichten ist dies, dass
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 330–333, KSA 2, S. 246–247
703
man sich gegenseitig Einiges Ironische sagen, aber Keiner von beiden das Ironische daran fühlt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,67) Man mag Mutmaßungen darüber anstellen, ob N. solche Erfahrungen etwa bei Heinrich Romundt und Erwin Rohde selbst gemacht hat.
332. Hatte MA I 316, KSA 2, 243 Anmaßung noch als etwas Juveniles deklariert, das sich mit der Zeit und der Erfahrung auswächst, tritt sie nach MA I 332 offensichtlich auch unter Erwachsenen auf – bei solchen mit Verdienst beleidige sie noch mehr als bei solchen ohne, weil „schon das Verdienst beleidigt“ (246, 24). Wen oder warum, lässt MA I 1 332 offen. Geriert sich hier ein Professor als Bürgerschreck, dem nicht Verdienst ist, was die bürgerliche Gesellschaft gewöhnlich dafür hält? Zur Anmaßung vgl. auch MA I 358, KSA 2, 254 u. MA I 373, KSA 2, 260 f. Zu MA I 332 gibt es in Mp XIV 1, 342 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,342). In U II 5, 54 ist der Text bereits notiert (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,54).
333. Waren die vorangehenden Abschnitte mit Fremdwahrnehmung beschäftigt, stellt MA I 333 eine spezifische Selbsterfahrung ins Zentrum, die eine Selbstbefremdungs- und Selbstentfremdungserfahrung ist, und zwar nicht durch Begriffe, sondern durch ein akustisches Erleben: „[D]er Klang der eigenen Stimme“ (247, 3) könne so „verlegen“ machen, dass man Dinge sage, die gar nicht der eigenen Ansicht entsprächen. Zu MA I 333 gibt es in Mp XIV 1, 118 von N.s Hand eine ‚Reinschrift‘, der er die Überschrift nachträglich vorangestellt hat (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,118). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 86 – zwischen Zugfahrplandaten und Pendenzenliste – lautet: „Mitunter macht uns der Klang der eigen[en] Stimme verlegen u verleitet uns zu Meinungen die gar nicht uns angehen“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,86). 247, 4 unserer Meinung] In Mp XIV 1, 118 stattdessen: „unsern Meinungen“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,118).
704
Menschliches, Allzumenschliches I
334. MA I 334 ist ein weiterer Aphorismus zur Gesprächsführung, bei dem der ansonsten mitunter vorherrschende denunziatorische Unterton fehlt: Es sei eine Frage der Gewöhnung, ob man gesprächsweise seinem Gegenüber eher zustimmt oder widerspricht – „das Eine wie das Andere hat Sinn“ (247, 9). Inwiefern Sinn, sagt der Text aber nicht. Zu MA I 334 gibt es in Mp XIV 1, 136 von N.s Hand eine ‚Reinschrift‘, der er die Überschrift nachträglich vorangestellt hat (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,136). Der Text steht auch schon in der Bleistiftnotiz in N II 3, 83 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,83). 247, 8 Recht giebt oder Unrecht,] In Mp XIV 1, 136 u. N II 3, 83 stattdessen: „Recht giebt oder Unrecht giebt,“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,136 u. www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,83).
335. Statt von der Liebe zum Nächsten handelt MA I 335 von der „F u r c h t v o r d e m N ä c h s t e n“ (247, 11). Sie wird spezifiziert als Furcht vor dessen „feindselige[r] Stimmung“ (247, 12), könne er damit doch „unsere Heimlichkeiten“ (247, 13) entlarven. Zu MA I 335 gibt es in Mp XIV 1, 335 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,335). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 44 findet sich eine ausführlichere Version: „Wir fürchten die feindselige Stimmung des Nächsten, weil wir wissen, daß er durch diese Stimmung hinter unsere Heimlichkeiten kommt und uns zu geringzuschätzen lernt, wie wir uns selbst geringschätzen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I1,44) Diese Version geht auf ein Notat in U II 5b zurück, das als NL 1876, KSA 8, 17[14], 298, 18–21 publiziert worden ist: „Wir fürchten die feindselige Stimmung des Nächsten, weil wir wissen, daß er durch diese Stimmung hinter unsre Heimlichkeiten kommt und uns zu verachten lernt, wie wir uns selbst verachten.“ MA I 335 skizziert eine Hermeneutik des Verdachts, des Selbstverdachts, die N. selber anwendet – eine misstrauische Grundstimmung motiviert ihn zu seinem kritischen, später sogar zu seinem umwerterischen Tun. 247, 11 F u r c h t v o r d e m N ä c h s t e n] Im Druckmanuskript D 11, 141 korrigiert aus: „Feindselige Stimmung gefürchtet“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,141).
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 334–337, KSA 2, S. 247
705
336. Was in MA I 328, KSA 2, 246 die „Berühmtheiten“ (246, 4) waren, scheinen in MA I 336 die „[s]ehr angesehene[n] Personen“ (247, 15 f.) zu sein, deren „Tadel“ (247, 16) als Auszeichnung verstanden werden solle, nämlich als Zeichen dafür, dass sie sich überhaupt „mit uns beschäftigen“ (247, 18), so dass wir uns über den Tadel nicht grämen sollten. Zu MA I 336 gibt es in Mp XIV 1, 290 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,290). Mit identischem Wortlaut findet sich der Text in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 37 f. (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,37 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/ M-I-1,38). Er geht auf ein Notat in U II 5, 151 zurück, das lautet: „Angesehene Personen ertheilen ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen: es soll ein Zeichen ihrer persönl. Aufmerksamkeit sein. Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel als sachlich nehmen u. gegen sie uns vertheidigen: wir ärgern sie dadurch.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,151) Das sprechende ‚Wir‘ hier und in MA I 336 zählt sich augenscheinlich nicht zu diesen angesehenen Personen. N. ist ihnen in Gestalt von Wagner begegnet. Aber hat er sonst viel Erfahrung damit? MA I 336 spiegelt eine Weltgewandtheit vor, die dem historischen Subjekt N. durchaus nicht zwingend zukam. 247, 15 D u r c h T a d e l a u s z e i c h n e n] Im Druckmanuskript D 11, 142 korrigiert aus: „Auszeichnung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,142).
337. Statt des Tadels der angesehenen Personen in MA I 336 heischt jetzt das „W o h l w o l l e n A n d e r e r“ (247, 23) nach Erklärung, das wesentlich darauf gründe, wie oberflächlich „uns“ (247, 26) andere kennten, so dass uns dieses Wohlwollen überrasche und beleidige, „weil es zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt“ (248, 3 f.). Zu MA I 337 gibt es in Mp XIV 1, 92 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,92). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 16 lautet: „Wir irren uns in dem Grade in welchem wir uns gehasst, gefürchtet glauben, aus Eitelkeit / wichtig.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ N-II-2,16) 247, 25 f. weil wir selber zwar gut den Grad unserer Abweichung von einer Person, Richtung, Partei kennen] In Mp XIV 1, 92 stattdessen: „weil wir selber zwar gut
706
Menschliches, Allzumenschliches I
unsere Differenz mit einer Person Richtung Partei kennen“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,92). Die Korrektur erfolgte im Druckmanuskript D 11, 142 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,142). 248, 4 nicht wichtig genug nimmt] In Mp XIV 1, 92 stattdessen: „nicht wichtig nimmt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,92). Die Korrektur erfolgte im Druckmanuskript D 11, 142 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,142).
338. MA I 338 erörtert einmal mehr das klassische moralistische Motiv der Eitelkeit (vgl. z. B. MA I 313, KSA 2, 243), und zwar spezifischer ein Gleichgewicht der Eitelkeit, das dazu führe, dass bei der Begegnung gleichermaßen eitler Personen jede zunächst danach strebe, sich selbst möglichst eindrücklich zu machen und also mit sich so absorbiert ist, dass sie von der anderen Person überhaupt keinen Eindruck empfängt – „beide merken endlich, dass ihr Bemühen verfehlt ist und schieben je der andern die Schuld zu“ (248, 10–12). Das Gleichgewicht des Eitelkeitsschreckens wird demnach als unerquicklich empfunden. Zu MA I 338 gibt es in Mp XIV 1, 287 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, mit rotem „A“ markiert, wie üblich noch ohne Überschrift. Dabei ist die Genus-Wahl der grammatikalischen Femininität der „Person“ noch nicht angepasst: „Zwei sich begegnende Personen, deren Eitelkeit gleich gross ist, behalten hinterdrein von einander einen schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck beschäftigt war, den sie bei dem Andern hervorbringen wollte, dass der Andere auf ihn keinen Eindruck machte; beide merken endlich, dass ihr Bemühen verfehlt ist und schieben dem Andern die Schuld zu.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,287) Diese Version ist das Resultat der Umarbeitung eines Notats in U II 5, 75, das in seiner ersten Fassung lautete: „Zwei sich begegnende Personen, deren Eitelkeit gleich gross ist, machen auf einander einen schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck beschäftigt ist, den sie bei dem [?] andern hervorbringt, dass er sich nicht ˹der Andere˺ auf ihn keinen Eindruck machte; beide merkten endlich, dass ihr Bemühen verfehlt war u. schieben dem Andern die Schuld zu“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,75).
339. MA I 339 mimt die Sicht des „überlegene[n] Geist[es]“ (248, 14 f.), der es mit der Rüpelhaftigkeit, der Anmaßung (vgl. MA I 316) und der offenen Gegnerschaft „ehrgeiziger Jünglinge“ (248, 16) zu tun habe. Die seien wie unartige und ungestüme,
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 337–340, KSA 2, S. 247–248
707
noch nicht zugerittene Pferde, die aber doch bald ihn, den überlegenen Geist tragen würden. Zu MA I 339 gibt es in Mp XIV 1, 347 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,347). Der Text findet sich auch schon in U II 5, 67 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,67). Der Jungpferdvergleich ruft als mythologischen Subtext die Zähmung von Bukephalos durch den jungen makedonischen Prinzen Alexander und ihr nachmaliges symbiotisches Verhältnis auf (vgl. Plutarch: Vita Alexandri 6 u. 61, ferner Arrian von Nikomedien: Anabasis Alexandri V 19). 248, 18 so stolz sein werden] In Mp XIV 1, 347 und U II 5, 67 stattdessen: „so stolz sind“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,347 u. http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,67). Die Korrektur erfolgte im Druckmanuskript D 11, 142 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,142).
340. MA I 340 beginnt als lebenspraktischer Ratschlag, nämlich ungerechte „Anschuldigungen“ (248, 22) widerspruchslos zu erdulden, falls der Ankläger bei Widerspruch oder Widerlegung „darin ein noch grösseres Unrecht unsererseits sehen würde“ (248, 24 f.). Die Ratgeberperspektive weicht jetzt einem allgemeinen soziohistorischen Befund – nämlich, dass jemand, obwohl er eigentlich immer im Unrecht sei, da ihm aber niemand widerspreche, ein „Tyrann und Quälgeist“ (248, 28) werden könne – „und was vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft vorkommen“ (249, 1 f.). Zu MA I 340 gibt es in Mp XIV 1, 17 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, wie üblich noch ohne Titel. Es fehlt dort noch der letzte Satz nach dem Semikolon in 249, 1 f. und damit die politische Verallgemeinerung (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,17). Ein Notat in N II 3 lautet: „Man muss nicht zu viel Recht haben wollen, aber auch nicht zu wenig.“ (NL 1876/77, KSA 8, 21[25], 371, 1 f.) Das Motiv kehrt wieder in JGB 221, KSA 5, 156, 15 f.; es klingt das alte sokratische Thema an, dass es besser sei, Unrecht zu leiden, als es zu tun (vgl. Platon: Gorgias 468e–470c), wogegen die N. bei der Lektüre der einschlägigen Anthologie vielleicht untergekommene Spruchweisheit von Johann Buchlerus steht: „Wer Unrecht thut, vergißt es bald; / Wer Unrecht leid’t, der lang’ behalt.“ (Altdeutscher Witz 1877, 106) Bemerkenswert ist der Nachsatz, ohne den Mp XIV 1, 17 noch auskam: „was vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft vorkommen“ (249, 1 f.). Der handschriftliche Befund legt nahe, dass er im Druckmanuskript
708
Menschliches, Allzumenschliches I
D 11, 142 nachträglich hinzugefügt worden ist (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,142). Der Klassenbegriff kommt bei N. gelegentlich als Bezeichnung für verschiedene soziale Schichten vor, ohne dass er direkt marxistisch geprägt wäre; N. hat ihn beispielsweise bei Lecky 1873, 1, 82 gefunden (vgl. das Zitat in NK KSA 5, 80, 12–24). Dass die Klassen, auf die MA I 340 anspielt, die ‚niedrigen‘ sind, denen niemand bei ihren Unrechtsunterstellungen zu widersprechen wage, dürfte N.s Position im Streit um die Sozialdemokratie markieren. 1878 lancierte Bismarck vor dem Hintergrund zweier Attentate auf den Kaiser das Sozialistengesetz, das sozialdemokratische partei- und vereinspolitische Betätigung verbot. Vgl. auch MA I 235, KSA 2, 196 f.
341. Die Themenfelder Anmaßung und Eitelkeit werden in MA I 341 um die Stichworte der Einbildung und der erwarteten Ehrerbietung erweitert: Eingebildete, die sich zu wenig wertgeschätzt fühlen, versuchten zuerst als „spitzfindige Psychologiker“ (249, 7), im Verhalten des Gegenübers doch die vermisste Ehrerbietung ausfindig zu machen. Gelinge dies nicht, werde ihre Wut umso größer. Beispiele für solche Fälle gibt der Text nicht. Zu MA I 341 gibt es in Mp XIV 1, 71 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, wie üblich noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,71). 249, 7 Psychologiker] Das Wort ist bei N. ein Hapax legomenon und kommt auch sonst im Schrifttum des 19. Jahrhunderts nur an abgelegener Stelle vor; offensichtlich ist es hier abschätzig gemeint zur Unterscheidung von der in MA I öfter gerühmten, echten „p s y c h o l o g i s c h e n B e o b a c h t u n g“ (MA I 35, KSA 2, 57, 5 f.). Als „Psychologen“ bezeichnet N. sich oder die Seinen in diesem Werk auch noch nicht; erst die Vorrede von 1886 wird dies tun (MA I Vorrede 8, KSA 2, 22, 4 u. 7). 249, 8 doch] Fehlt in Mp XIV 1, 71. 249, 10 so geben sie sich einer um so grösseren Wuth hin] Im Druckmanuskript D 11, 142 steht stattdessen: „so geben sie sich nun um so grösserem Muthe ⎣Unmuthe⎦ hin“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,142). In den Korrekturbogen bleibt diese Fassung ebenso stehen wie in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 253) und in den Handexemplaren. KGW u. KSA emendieren (wie GoA) nach Mp XIV 1, 71 unter Berufung auf einen „Lesefehler von Gast“ (KGW IV 4, 216).
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 340–343, KSA 2, S. 249
709
342. MA I 342 findet im verbalen Kommunikationsverhalten jene archaischen Muster wieder, die Jahrtausende lang das Alltagsleben der Menschen geprägt haben: Männer verhielten sich im Gespräch oft so, als ob sie sich auf der Jagd oder im Krieg befänden, während Frauen so sprächen, als ob sie webten, nähten oder mit Kindern umgingen. Zu MA I 342 gibt es in Mp XIV 1, 69 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, wie üblich noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,69). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 108 lautet: „In der Art wie ein Mann seine Behauptung aufstellt, wird man häufig an Waffen erinnert / zielende Schützen, sausende Klingen polternde Knüttel“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,108). Die von N. wiederholt bemühte, ihm aus der anthropologisch-ethnographischen Literatur geläufige Gedankenfigur des Atavismus, des subkutanen Fortbestehens archaischer Verhaltensmuster – z. B. in MA I 43, KSA 2, 66 der Grausamkeit und in MA I 64, KSA 2, 79 des Aufbrausens – wird in MA I 342 einer kommunikationsanalytischen Anwendung unterzogen: Der Abschnitt bietet einen halbwegs ironischen Einblick in die evolutionäre Sozialgeschichte ‚unserer‘ scheinbar so modernen und aufgeklärten Diskurspraktiken.
343. In MA I 343 wird unterschieden zwischen zwei Erzählstrategien: Zum einen, wenn jemand am Gegenstand seiner Erzählung interessiert sei, oder zum anderen, wenn jemand durch die Erzählung interessieren wolle. Letzterer neige dann zu Übertreibungen und erzähle „gewöhnlich schlechter“ (249, 27). Zu MA I 343 gibt es in Mp XIV 1, 293 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit rotem „A“ und wie üblich noch ohne Überschrift (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,293). Mit geringen Abweichungen findet sich der Text in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 91 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,91). Er geht auf ein Notat in U II 5, 123 zurück, das lautet: „Wer erzählt, lässt leicht merken, ob ihn das Faktum interessirt oder er durch die Erzählung interessiren will.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,123) N. hat sich mit der Frage des faktischen Gehalts von Erzählungen beispielsweise in seiner Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈I und II〉 von 1874/75 im Abschnitt über die „h i s t o r i s c h e L i t t e r a t u r“ beschäftigt. Dort allerdings weiss er die „Kunst des Erzählens“ durchaus zu schätzen: „Gemeint ist eigentlich die erzählende und beschreibende Prosa, im Gegensatz zur reflektiren-
710
Menschliches, Allzumenschliches I
den und schließenden. Die Frage nach der größeren oder geringeren Wahrheit des Erzählten oder Beschriebenen, die Zunahme eines Wirklichkeitssinnes ist nicht zunächst unser Thema: das gehört in die Geschichte der Wissenschaft. Wir sehen auf die Kunst der Erzählung und Beschreibung, die Kraft der Darstellung, die Concentration des Ganzen u. dergl. Da ist es möglich, daß zwischen den wissenschaftl. Ansprüchen und unseren künstlerischen in Betreff eines bestimmten Historikers eine großer Kluft Gegensatz der Beurtheilung bleibt. Die erzählende Prosa setzt unmittelbar die erzählende Poesie fort; und da diese auf einer unerreichbaren Höhe schon zu Homers Zeit stand, so gehört die Geschichte der historischen Prosa im Allgemeinen in die Geschichte von dem Rückgange des erzählenden Talents der Griechen, während der Sinn für das Exakte zunimmt“ (KGW II 5, 224, 4–14 u. 225, 1–6). Faktuales Erzählen mit primärem Tatsacheninteresse steht also für den Literaturhistoriker N. keineswegs am Anfang der Entwicklung, sondern ist im antiken Griechenland ein kulturelles Spätprodukt. 249, 26 und Aehnliches thun] M I 1, 91 verzeichnet stattdessen: „u.s.w.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,91), Mp XIV 1, 293: „und dergleichen“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,293). Im Druckmanuskript D 11, 143 wird der schließliche Drucktext konstituiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,143). 249, 27 f. weil er nicht so sehr an die Sache, als an sich denkt] M I 1, 91 notiert stattdessen: „weil er nicht an die Sache, sondern an sich denkt“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,91), Mp XIV 1, 293: „weil er nicht so sehr an die Sache, sondern an sich denkt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,293). Im Druckmanuskript D 11, 143 wird dann das „sondern“ gestrichen und durch das „als“ ersetzt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,143).
344. Das Vorlesen kann gemäß MA I 344 dem Vorlesenden etwas über sich selbst verraten, nämlich, wenn er beim Vorlesen von Dramen entdeckt, dass ihm bestimmte „Stimmungen und Scenen“ (250, 4) besonders liegen, die er im Alltagsleben nie ausagieren konnte. Zu MA I 344 gibt es in Mp XIV 1, 11 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, wie üblich noch ohne Titel: „Wer dramatisch vorliest, macht Entdeckungen über seinen Charakter: er findet für gewisse ˹Empfindungen u Scenen˺ seine Stimme zB für Pathos natürlich, ˹z. B. für das Pathetische˺ als für andere, etwa für alles Pathetische oder für das Scurrile, während er vielleicht im gewöhnl. Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos zu zeigen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 343–345, KSA 2, S. 249–250
711
XIV-1,11) Tiefgreifend umgearbeitet zum schließlichen Drucktext wurde diese Fassung dann im Druckmanuskript D 11, 143 von Köselitz’ Hand (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,143). MA I 343 könnte durchaus die Lektüre(selbst)erfahrungen spiegeln, die Brenner, Meysenbug, N. und Rée in Sorrent beim gemeinsamen Vorlesen teilweise höchst pathetischer Literatur gemacht haben (vgl. z. B. Meysenbug 1898, 56 f.), aber auch ein Reflex des gemeinsamen Sainte-Beuve-Lesens N.s mit Ida und Franz Overbeck in Basel (siehe Sainte-Beuve 2014, 22 f.).
345. Eine Alltagsszene, die wie in einer Komödie anmute, aber „i m L e b e n“ (250, 9) vorkomme, beleuchtet MA I 345 – nämlich, wenn jemand, der eine lang schon ausgedachte Pointe anbringen wolle, die Unterhaltung in diese Richtung lenke – und ihm dann im letzten Augenblick ein anderer die Pointe wegnehme und sie ausspreche, anstatt dass er selbst zum Zuge komme. „Was wird er thun? Seiner eigenen Meinung opponiren?“ (250, 19 f.) Zu MA I 345 gibt es in Mp XIV 1, 156 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, und zwar bereits mit Titel sowie einigen Korrekturen versehen (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,156). Die Überarbeitung dieser Aufzeichnung (siehe Stellenkommentare) forciert die dramatische Zuspitzung und beglaubigt die Lustspiel-Parallele. Die Schlusswendung 250, 19 f. wird in einer Bleistiftnotiz N II 2, 29 präludiert: „er opponirt seiner eignen Meinung“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,29). 250, 9 f. w e l c h e i m L e b e n v o r k o m m t.] In Mp XIV 1, 156 nachträglich ergänzt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,156). 250, 12 Nun würde man im Lustspiel anhören und ansehen] In Mp XIV 1, 156 korrigiert aus: „Dann hört man ihn der Gesellschaft u. sieht“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,156). 250, 13 f. und die Gesellschaft dort einzuschiffen sucht] In Mp XIV 1, 156 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,156). 250, 15 f. gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt] In Mp XIV 1, 156 korrigiert aus: „gelegentl. verloren, wiedergewinnend das Terrain [?]“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,156). 250, 17 fast versagt ihm der Athem] In Mp XIV 1, 156 nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,156).
712
Menschliches, Allzumenschliches I
346. MA I 346 thematisiert einen weiteren Kommunikationsunfall und seine Folgen. Behandle jemand einen anderen unwillentlich unhöflich – etwa, weil er ihn zu grüßen versäume, weil er ihn nicht erkannt habe –, grämten ihn die möglichen Folgen. „Eitelkeit, Furcht oder Mitleid“ (250, 28 f.) könnten sich bei dem unabsichtlich unhöflich Behandelten einstellen. Zu MA I 346 gibt es in Mp XIV 1, 64 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, der der Titel „Wider Willen unhöflich“ nachträglich hinzugefügt wurde (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,64). 250, 24 obwohl] Mp XIV 1, 64 hat stattdessen: „obschon“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,64). 250, 26 erzeugt] Im Druckmanuskript D 11, 143 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,143) und in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 255) steht stattdessen: „erregt“, was auch in den Handexemplaren nicht korrigiert wird. KGW u. KSA ‚emendieren‘ (mit GoA) nach Mp XIV 1, 64 zu „erzeugt“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,64). 250, 27 f. schmerzt es, den Andern] Mp XIV 1, 64 hat stattdessen: „schmerzt den Andern“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,64).
347. Das moralistische Motiv von Verrat und Verschwörung wird in MA I 347 dahingehend ausbuchstabiert, dass derjenige, der einen Mitverschwörer des Verrats bezichtigt, diesen zwinge, sich loyal zu verhalten, während der Bezichtiger selbst gerade im Begriffe sei, Verrat zu üben und dafür nun freie Hand bekomme. Zu MA I 347 gibt es in Mp XIV 1, 289 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit rotem „A“ und wie üblich noch ohne Überschrift (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,289 u. http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,290). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 34 lautet eine frühere Fassung: „Den kränkenden Verdacht gegen den Mitverschworenen zu äussern, ob man nicht verrathen werde in dem Augenblicke, da man selbst Verrath übt, ist ein Meisterstück, weil es den Andern persönlich occupirt und ihn zwingt, eine Zeit lang ˹sich˺ sehr unverdächtig und offen zu benehmen, so dass der wirkliche Verräther sich freie Hand gemacht hat.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,34) Diese Version geht auf ein Notat in U II 5, 141 zurück, das lautet: „Den kränkenden Verdacht ˹gegen den Mitverschworenen˺ zu äussern ob man nicht verrathen werde, in dem Augen-
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 346–349, KSA 2, S. 250–251
713
blicke, wo man selbst Verrath übt, ist ein Meisterstück, weil es den Andern persönlich occupirt u. ihn zwingt, eine Zeit lang sehr unverdächtig u. offen sich zu benehmen: so dass der wirkliche Verräther sich den Aufpasser eskamotirt hat.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,141) In den Fassungen von M I 1, 34 u. U II 5, 141 steht zunächst nur allgemein der Verdacht des Verrats im Raum, noch nicht, dass der Mitverschwörer ihn begangen habe. 251, 2 Ve r r ä t h e r - M e i s t e r s t ü c k] Im Druckmanuskript D 11, 143 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,143) und im Korrekturbogenexemplar stattdessen: „V e r r ä t h e r - K u n s t g r i f f“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1648750028/291/). Das ist dann vor dem Druck noch korrigiert worden (Nietzsche 1878, 255 hat: „V e r r ä t h e r - M e i s t e r s t ü c k“).
348. MA I 348 lässt sich als Kontrafaktur der sokratischen Losung, dass es besser sei, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun (vgl. NK ÜK MA I 340), lesen: Es sei „angenehmer“ (251, 11), selbst jemanden zu beleidigen und danach um Entschuldigung zu bitten, als selbst beleidigt zu werden und dem Beleidiger zu verzeihen. Denn der Beleidiger gebe „ein Zeichen von Macht und nachher von Güte des Charakters“ (251, 13 f.), während der Beleidigte zur Verzeihung genötigt werde, „wenn er nicht als inhuman gelten will“ (251, 14 f.). Zu MA I 348 gibt es in Mp XIV 1, 126 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, der der Titel „Beleidigen u. Beleidigtwerden“ nachträglich hinzugefügt wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,126). Der Abschnitt fokussiert die Psychologie des kommunikativen Machtspiels und der daraus resultierenden Empfindung, des Machtgefühls (der Terminus kommt hier nicht vor, aber in anderen Passagen von MA I – siehe NK 101, 26–102, 4 – und dann besonders in M, vgl. Simonin 2022 u. 2024). 251, 15 f. der Genuss an der Demüthigung des Anderen ist dieser Nöthigung wegen gering] In Mp XIV 1, 126 stattdessen: „der Genuss der Demüthigung des Anderen ist gering wegen dieser Nöthigung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,126).
349. MA I 349 gibt eine Kurzanalyse, wie sich das eigene Überzeugungsgefüge „[ i ] m D i s p u t“ (251, 18) verschiebt: Wenn jemand einem anderen widerspreche und
714
Menschliches, Allzumenschliches I
zugleich seine eigene Ansicht entwickele, so geschehe dies in steter Beachtung der anderen Meinung, was die eigene Meinung wiederum verforme, „absichtlicher, schärfer, vielleicht etwas übertrieben“ (251, 21) wirken lasse. Zu MA I 349 gibt es in U II 5, 35 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem und mit blauem „A“ markiert, noch ohne Titel und mit starker Überarbeitung. Ursprünglich lautete der Text: „Wenn man einer Meinung widerspricht, entwickelt man meistens seine eigene Meinung falsch oder mindestens anders als man sie sonst entwickelte.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,35) In dieser Version tritt die Vorstellung, dass es eine initiale „eigene Meinung“ gibt, die geformt ist, bevor sie auf Meinungen anderer Menschen trifft, noch stärker in den Vordergrund als in der Druckfassung von MA I 349. Aber auch in der publizierten Version bleibt die Frage, ob es eine solche „eigene Meinung“ als etwas quasi Naturwüchsiges überhaupt gibt oder ob sie nicht stets ein Kommunikationsprodukt, das Resultat fortgesetzter Auseinandersetzungen ist (vgl. dazu MA I 286, wo jedem „eine eigene Meinung“ zugeschrieben wird „über jedes Ding, über welches Meinungen möglich sind“; 233, 7 f.). MA I 349 greift nur einen Augenblick der Meinungsgenese heraus und isoliert ihn künstlich.
350. MA I 350 hat wiederum kommunikationspragmatischen Ratschlagcharakter, könnte aber auch der Kriegsführung dienen: Wolle man ein schwieriges Unterfangen durchsetzen, müsse man die Sache so darlegen, als sei sie alternativlos, und sein Gegenüber durch Raschheit daran hindern, seine Einwände zu formulieren. Zu MA I 350 gibt es in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 36 eine mit blauem „A“ markierte ‚Reinschrift‘, der N. nachträglich den Titel „Kunstgriff“ hinzugefügt hat (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/M-I-1,36). Der Text beruht auf einem Notat in U II 5, 149: „Wer etwas Schwieriges von einem Andern erlangen will, muss die Sache nicht als Problem fassen, sondern schlicht seinen Plan hinlegen als die einzige Möglichkeit; er muss seinem Gegner keine Zeit geben u. schnell davon abgebrochen wissen.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,149) 251, 27 f. wenn im Auge des Gegners der Einwand, der Widerspruch dämmert] Von N. nachträglich in Köselitzens Manuskript M I 1, 36 eingefügt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,36).
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 349–352, KSA 2, S. 251–252
715
351. Soziales Unbehagen ist der Gegenstand von MA I 351, genauer das nachträgliche Unbehagen, in Gesellschaft das Falsche oder gar nichts gesagt zu haben – und sich damit so benommen zu haben, als würde man zu dieser Gesellschaft dazugehört haben. Zu MA I 351 gibt es in Mp XIV 1, 61 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ und blauem „x“ markiert, nachträglich mit der Überschrift „Gewissensbisse nach Gesellschaften“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,61). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 10 legt eine autobiographische Lesart nahe: „Warum habe ich nach Gesellschaften Gewissensbisse: 1 2 3 4 5 Gründe“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-3,10). Dieses Empfinden, nicht dazu zu gehören, dürfte für N.s Selbsterfahrungen als junger Professor im Basler Gesellschaftsleben durchaus nicht untypisch gewesen sein (vgl. zu N.s Basler Befremdungserfahrungen Sommer 2011b) und sich gelegentlich zu einem Ohnmachtsempfinden im sozialen Umgang aufgegipfelt haben, so dass MA I 351 sogar ausdrücklich von „Gewissensbisse[n]“ (252, 3) sprechen kann. Das bestimmende Motiv ist: in Gesellschaft sich selbst untreu werden. In NL 1876/77, KSA 8, 20[14], 365, 26 f. weicht das ‚Ich‘ dann wieder dem „Man“: „Man muss sehr flach sein, um aus den gewöhnlichen Gesellschaften nicht mit Gewissensbissen heimzukehren.“ 252, 7–9 , kurz weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als ob wir zu ihr gehörten] Diese Schlusswendung fehlt in Mp XIV 1, 61 und wurde auch im Druckmanuskript D 11, 144 erst nachträglich hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,144).
352. In MA I 352 kommt das schmerzhafte Verhältnis von Selbsterkenntnis und (Nicht-)Erkannt-Werden durch Dritte zur Sprache. Die therapeutische Abhilfe verspricht der erste Satz, dem zufolge man besser nicht genau hinhöre, wie andere uns beurteilten. Das Folgende ist ein erklärendes Corollarium: Die scheinbar Nächsten lägen in ihren Urteilen über „uns“ (252, 13) häufig daneben; Freunde seien mitunter verstimmt und wären womöglich gar nicht unsere Freunde, wenn sie uns wirklich kennen würden (vgl. MA I 376, KSA 2, 262 f.). Das Urteil von Unbeteiligten schmerze oft besonders, weil es so objektiv anmute. Und schließlich könnten wir es kaum ertragen, wenn uns feindlich Gesonnene an einer Stelle entlarvten, die wir ängstlich geheimgehalten hätten. Zu MA I 352 gibt es in Mp XIV 1, 137 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ und blauem „x“ markiert, nachträglich mit der Überschrift „Man wird falsch beurt-
716
Menschliches, Allzumenschliches I
heilt“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,137). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 22 lautet: „Wir werden falsch beurtheilt, der Ärger hört nicht auf, wenn man darüber nachdenkt. Noch schlimmer wenn man richtig beurtheilt wird“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,22). Das Motiv des Feindes, der einen besser kennt, als einem lieb sein kann, nimmt FW 211, KSA 3, 508 auf, siehe NK 3/2.1, S. 995 f.
353. Wer wie „Künstler und Staatsmänner“ (252, 23 f.) dazu tendiere, schnell aus wenigen Anhaltspunkten ein Bild einer Sache oder eines Menschen zu fertigen, verlangt nach MA I 353 ebenso häufig wie fälschlich, dass die fragliche Sache oder der fragliche Mensch in Wirklichkeit tatsächlich ihrem Bild gemäß seien. Zu MA I 353 gibt es in Mp XIV 1, 354 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit rotem „A“ und wie üblich noch ohne Überschrift (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,354 u. http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,355). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 45 lautet eine frühere Fassung: „Künstler und Staatsmänner, die schnell aus einzelnen Zügen das ganze Bild eines Menschen oder Ereignisses combiniren, sind am meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein verlangen, das Ereigniss oder der Mensch müsse wirklich so sein, wie sie es sich malten; so ungerecht, verschlagen, begabt u. s. w.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/M-I-1,45) Diese Version geht auf ein Notat in U II 5, 193 zurück, das lautet: „Künstler und Staatsmänner, die schnell aus einzelnen Zügen ein ganzes Bild combiniren, sind am meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein verlangen, das Ereigniss oder der Mensch müsse wirklich so sein, wie sie ihn sich malten; so ungerecht, verschlagen, begabt usw.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/UII-5,193) N. hatte zwar wenig persönliche Erfahrungen mit „Staatsmännern“, aber bei einem exemplarischen „Künstler“, nämlich Richard Wagner, könnte er den in MA I 353 geschilderten Mechanismus durchaus beobachtet haben (einerseits in Wagners öffentlichen Verlautbarungen wie z. B. dem Aufsatz Das Judenthum in der Musik, andererseits in dessen raschen privaten Urteilen, wie sie Cosima Wagners Tagebuch festhält, z. B. bei der Charakterisierung von Paul Rée – Wagner 1988, 2, 1012). Das Bilderverbot in 2. Mose 20, 4 kann also auch jenseits aller Theologie eine lebenspraktische Relevanz haben. 252, 29 wie er in ihrer Vorstellung lebt] In Mp XIV 1, 355 stattdessen: „wie ihre Vorstellung von ihm“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,355). Die Veränderung erfolgte als Korrektur im Druckmanuskript D 11, 144 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,144).
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 352–354, KSA 2, S. 252–253
717
354. In MA I 354 wird daran erinnert, dass die Griechen dem Problem der Freundschaft „tiefe, vielfache philosophische Erörterung“ (253, 4 f.) hätten zuteil werden lassen. Das ‚Ich‘, das hier zumindest im Dativpersonalpronomen „mir“ (253, 9) auftaucht, kann sich jedoch nicht erklären, weshalb diese Griechen für „die V e r w a n d t e n“ (253, 7) ein Wort gebraucht hätten, das „der Superlativ des Wortes ‚Freund‘ ist“ (253, 8). Vgl. auch NK ÜK MA I 499. Zu MA I 354 gibt es in Mp XIV 1, 194 eine ‚Reinschrift‘, mit blauem „A“ markiert, noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,194). Das Motiv, die antike Freundschaft und die Reflexion darüber wiederzubeleben, spricht sich etwa auch in N.s Brief an Franz Overbeck vom 11. 04. 1879 aus (KSB 5/ KGB II 5, Nr. 837, S. 405, Z. 1–6), mit dem N. auf die Zusendung von Overbecks Aufsatz Aus dem Briefwechsel des Augustinus mit Hieronymus antwortete, der die christliche Überformung des antiken Freundschaftsideals kritisierte (vgl. Sommer 1998a). Vgl. zu MA I 354 auch Kunnas 1982, 76; Kurt Tucholsky alias Peter Panther stellt in der Weltbühne vom 12. 01. 1923 (Nr. 2, S. 53) das Ende von MA I 354 als Motto seiner Glosse Die Familie voran (Tucholsky 1960, 1, 1081). 253, 2 D e r Ve r w a n d t e a l s d e r b e s t e F r e u n d.] N. hat den Titel nachträglich in das von Köselitz niedergeschriebene Druckmanuskript D 11, 144 eingetragen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,144). 253, 6–9 diese selben Griechen haben die Ve r w a n d t e n mit einem Ausdrucke bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes „Freund“ ist] Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 79 macht klar, welches Wort gemeint ist: „Φίλτατοι Verwandte!“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,79) Tatsächlich ist φίλτατος eine Superlativform des Adjektivs φίλος („lieb“, „befreundet“) – vgl. Passow 1841–1857, 2/2, 2283 –, das als Nomen „Freund“ bedeutet. Die Pluralform φίλτατοι benutzt N. auch in seinem Brief an Erwin Rohde vom 07. 07. 1872, aber dort – gesinnungsverwandte Philologen werden genannt – im Sinne von „die besten Freunde“ (vgl. KSB 4/KGB II 3, Nr. 236, S. 20, Z. 26 f.). Dass φίλτατοι „die nächsten Angehörigen, […] Verwandte“ bedeuten konnte, ist der einschlägigen philologischen Literatur zu entnehmen (Passow 1831, 2, 1341). 253, 9 Diess bleibt mir unerklärlich] In Mp XIV 1, 194 steht: „Dies bleibt uns unerklärlich“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,194). N. hat das „uns“ in Köselitzens Druckmanuskript D 11, 144 gestrichen und durch „mir“ ersetzt (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,144). Durch diese Änderung bekommt der Text eine autobiographische Note; das sich wundernde Autorsubjekt tritt aus dem philologisch beschlagenen ‚Wir‘ als Individuum heraus. Da N. zu seiner Verwandtschaft – namentlich zu seiner Mutter und seiner Schwester – ein ambivalentes
718
Menschliches, Allzumenschliches I
Verhältnis hatte und sie später partout nicht mehr als mit sich wirklich verwandt wissen wollte – siehe NK KSA 6, 268, 4–8 u. NK KSA 6, 268, 8–16 –, ist eine autobiographische Lesart nicht ganz abwegig.
355. Zitiert einer gesprächsweise sich selbst und weist das als Selbstzitat aus, ist das gemäß MA I 355 keineswegs zwingend ein Anzeichen von Anmaßung, sondern könne häufig gerade für Bescheidenheit, wenigstens für „Ehrlichkeit“ (253, 15) stehen, „welche den Augenblick nicht mit den Einfällen schmücken und herausputzen will, welche einem früheren Augenblicke angehören“ (253, 15–17). Diese Verfahrensweise stünde also für eine Form der Selbsthistorisierung. Zu MA I 355 gibt es in Mp XIV 1, 131 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,131). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 44 u. 43 lautet: „Wenn jem. ˹im Gespräche˺ sich selber citirt (‚ich sagte damals, ich pflege zu sagen[‘]) so macht dies den Eindruck der Anmaassung, geht aber häufig aus der entgegengesetzten Quelle hervor (mindestens aus Ehrlichkeit, welche dem Augenblick nicht mehr ˹den˺ Geist beilegen will, welcher einem früheren Augenblicke angehörte[)]“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/N-II-2,44 u. www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,43). 253, 15 f. nicht mit den Einfällen] In Mp XIV 1, 131 korrigiert aus: „nicht mit dem Geiste“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,131).
356. Das parasitische Dasein auf Kosten anderer analysiert MA I 356 als eines, das negative Affekte hervorrufe, nämlich gegen diejenigen, von denen der Parasit abhängig ist. Eine solche „Erbitterung“ (253, 22) komme „aus historischen Gründen“ (253, 24 f.) bei Frauen „viel häufiger“ (253, 23) vor als bei Männern – und sei auch „viel verzeihlicher“ (253, 24). Zu MA I 356 gibt es in Mp XIV 1, 179 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,179). Eine vorbereitende Bleistiftaufzeichnung findet sich in N II 2, 72 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,72). N. hatte sich auch die einschlägige zoologische Literatur zum Thema besorgt, namentlich Pierre Joseph van Benedens reich illustrierte Studie Die Schmarotzer des Thierreichs (Beneden 1876). Das Motiv des Parasiten kehrt in MA I 615, KSA 2, 348 wieder, das der dort als drohnenhaft charakterisierten Abhängigkeit der Frauen von angeblich sie fütternden Männern in MA I 412,
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 354–357, KSA 2, S. 253
719
272; der großen Individuen schadende Parasitismus ist dann ein wichtiges Motiv in Za, vgl. z. B. NK KSA 4, 260, 27–261, 8 (dennoch kommt N. in Michel Serres’ berühmtem Buch Le parasite von 1980 nicht vor). MA I 356 ist bestimmt von starken Spannungen: Zunächst wird – in geradezu idealtypisch bürgerlicher Weise – vornehme Gesinnung mit Erwerbsarbeit korreliert. Als Sozialtyp paradigmatisch „vornehm“ sind für N. ansonsten in MA I die Angehörigen von Ständen, die sich mit so etwas wie Erwerbsarbeit nicht abgeben, z. B. Herren im alten Griechenland (MA I 111, KSA 2, 116 u. MA I 114, KSA 2, 117 f.), die selbstverständlich Sklaven oder Bedienstete für sich arbeiten lassen können (MA I 64, KSA 2, 79, 17–20). Für Herrengestalten wäre Geldverdienen-Müssen zutiefst unvornehm. Sodann ist gar nicht klar, von welchem Sozialtypus in der Gegenwart von 1878 hier eigentlich die Rede ist. Wem entspricht – nach dem lang erloschenen Klientelwesen im alten Rom – nun noch der Parasit, bei dem auch nicht evident ist, woher seine „Erbitterung“ rühren soll, wenn er doch schließlich ausgehalten wird. Dass es überdies für die Frauen 1878 nicht gilt, dass sie „lieber in Abhängigkeit, auf Anderer Kosten“ (253, 20 f.) leben wollen, liegt auf der Hand, da ihnen die Sphären der Erwerbsarbeit jenseits proletarischer Ausbeutung weitgehend verwehrt waren. Immerhin reflektiert die schließliche Druckfassung im Unterschied zu N II 2, 72 (vgl. NK 253, 23–25) wenigstens in Klammern die historische Bedingtheit der parasitären Situation der Frauen, ihre „Hörigkeit“ (vgl. Mill 1872). MA I 356 lässt sich immerhin auch als Aufforderung zur Autonomie durch Autarkie lesen – sich durch finanzielle Unabhängigkeit auch intellektuell unabhängig zu machen. 253, 23–25 Eine solche Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als bei Männern, auch viel verzeihlicher (aus historischen Gründen).] In N II 2, 72 stand nur, noch ohne Rechtfertigungsschleife: „Eine solche Gesinnung ist aber viel häufiger bei Frauen als bei Männern.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,72)
357. Wie in MA I 350, KSA 2, 251 steht in MA I 357 der kommunikationspragmatische Ratschlagcharakter im Vordergrund: Mitunter müsse man jemanden, von dem man unbedingt etwas erlangen wolle, beleidigen, damit dieser, weil es ihm unerträglich werde, nun einen Feind zu haben, um jeden Preis eine „Versöhnung“ (254, 3) herbeiführen wolle und dafür bereit sei, das bis dahin eifersüchtig Gehütete und vom Beleidiger Begehrte diesem preiszugeben. Beispiele für diesen Fall bringt MA I 357 nicht bei. Zu MA I 357 gibt es in Mp XIV 1, 203 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,203).
720
Menschliches, Allzumenschliches I
254, 5 f. dass er sie um keinen Preis geben wollte] Mp XIV 1, 203 hat stattdessen: „dass er sie nicht geben wollte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,203).
358. MA I 358 zufolge gibt es Menschen, deren Anmaßung so weit geht, dass sie, nachdem sie in unmäßigen Zorn geraten sind, nicht nur Nachsicht und Verzeihen fordern, sondern auch, „dass man mit ihnen Mitleid habe“ (254, 11 f.), weil sie derart außer sich geraten können. Zu MA I 358 gibt es in Mp XIV 1, 154 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ und noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,154). Zum Begriff der Anmaßung mit anderen Akzentsetzungen siehe MA I 316, KSA 2, 243, MA I 332, KSA 2, 246 u. MA I 373, KSA 2, 260 f.; zur Interpretation von MA I 358 vgl. Tuncel 2022, 137. 254, 12 Paroxysmen] Ein Paroxysmus ist nach Petri 1861, 574 „ein (erneuter, stärkerer Krankheits-)Anfall, Schauer, Fieberschauer“. N. benutzt den Ausdruck nur hier und in GM II 22, jeweils im Plural. Besonders Lecky hatte eine Vorliebe für das Wort, siehe die Quellenauszüge in NK KSA 5, 332, 34. 254, 12 f. sind. So weit geht die menschliche Anmaassung] Mp XIV 1, 154 hat stattdessen: „sind: so weit geht die menschliche Anmaaßung.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,154) Die Hervorhebung wurde im Druckmanuskript D 11, 145 nachträglich getilgt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,145). Eine Notiz in N II 2, 40 lautet: „so weit geht Anmaassung“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/N-II-2,40).
359. Zwar habe nicht „[j]eder Mensch […] seinen Preis“ (254, 15), aber nach MA I 359 doch jeder seinen „Köder“ (254, 16), auf den er anspringe. Entsprechend müsse man, um manche zu überzeugen, einer Sache einen philanthropischen Anstrich geben. Andere seien mit anderem zu ködern. Zu MA I 359 gibt es in Mp XIV 1, 226 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert und noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,226). Eine schwer lesbare Bleistiftnotiz in N II 2, 98 beginnt mit den Worten: „Man kann jeder Sache einen Köder anhängen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II2,98). N. wird in EH JGB 1 behaupten, alle seine Schriften von JGB an seien „Angel-
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 357–360, KSA 2, S. 254
721
haken“ (KSA 6, 350, 13), um die Menschen zu ködern, vgl. NK KSA 6, 350, 12–14 u. Matthäus 4, 19, ferner NK ÜK MA I Vorrede u. NK 17, 28–31. 254, 15 „Jeder Mensch hat seinen Preis“] Die Sentenz ist zu N.s Zeit bereits ein geflügeltes Wort, nach Büchmann 1872, 220 stammt es von Sir Robert Walpole und „ist weit und breit bekannt“. 254, 17 Personen] So in Mp XIV 1, 226 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,226) sowie im Druckmanuskript D 11, 145 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,145). In der Erstausgabe steht stattdessen: „Person“ (Nietzsche 1878, 259). 254, 20 geben? – Es] In Mp XIV 1, 226 stattdessen: „geben! –: es“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,226). Die Korrektur erfolgte im Druckmanuskript D 11, 145 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,145).
360. MA I 360 behandelt die innere Lobresistenz einer „begabte[n] Natur“ (254, 23 f.), die sich aus Höflichkeit über das Lob erfreut zeige, aber doch letztlich dagegen unempfindlich sei. Zu MA I 360 gibt es in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 8 eine mit blauem „A“ markierte ‚Reinschrift‘, bereits mit dem späteren Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,8). In NL 1875, KSA 8, 5[184], 92, 3–10 heißt es: „Wenn gute Freunde usw. mich loben, so bin ich öfter aus Höflichkeit und Wohlwollen scheinbar erfreut und dankbar; aber in Wahrheit ist es mir gleichgültig. Mein eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und ist keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten wo es liegt herauszuwälzen. – Aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute.“ Während hier mit dem dezidiert aufgerufenen „Ich“ noch eine Selbsterfahrungsperspektive suggeriert ist, so wird aus diesem „Ich“ in MA I 360 die „begabte Natur“ (254, 23 f.) und damit das Thema auf eine vermeintlich allgemeine Erfahrungsebene gehoben. 254, 26–28 Ihr eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und um keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten, in dem sie liegt, herauszuwälzen] Mit der hier der „begabte[n] Natur“ (254, 23 f.) attestierten Trägheit entsteht ein wirkungsvoller rhetorischer Gegensatz, würde man ihr doch Aktivität und Selbstveränderungsbereitschaft zuschreiben. Man fühlt sich an die „Faulthiere“ (232, 16) in MA I 284 erinnert, während das Spiel mit Sonne und Schatten die AlexanderDiogenes-Anekdote evozieren mag, als der Kyniker vom Großkönig nur den
722
Menschliches, Allzumenschliches I
Wunsch erfüllt haben wollte, ihm aus der Sonne zu gehen (vgl. Marcus Tullius Cicero: Tusculanae disputationes V 92 u. Plutarch: Vita Alexandri 16).
361. Meisterschaft in einem Bereich führt nach MA I 361 „gewöhnlich“ (255, 5) dazu, dass man in den meisten anderen Bereichen stümperhaft bleibe, aber sich dennoch einbilde, auch da meisterliche Kompetenz zu haben, was bereits „Sokrates erfuhr“ (255, 7). Das erschwere den „Umgang mit Meistern“ (255, 8) ungemein. Zu MA I 361 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners auf zwei Blättern, die bei der Mappensortierung versehentlich getrennt wurden und nun in Mp XIV 1, 288 (entspricht 255, 4–6) und in Mp XIV 1, 347 (entspricht 255, 7–9) zu finden sind, mit rotem „A“ markiert und noch ohne Überschrift (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,288 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,347). In U II 5, 54 lautet eine frühere Fassung: „Wer in einer Sache Meister geworden, ist gewöhnlich eben dadurch in sehr vielen andern Sachen ein völliger Stümper: aber er urtheilt gerade umgekehrt. Deshalb ist der Umgang mit Meistern so unangenehm“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,54). In dieser Version ist es also nicht ein „man“ (255, 7), sondern der „Meister“ selbst, der sich in allen Belangen für meisterlich hält. Dass N. das Unangenehme im „Umgang mit Meistern“ persönlich nicht erspart geblieben ist, liegt auf der Hand: Der von ihm in seinen Briefen als „verehrtester Meister“ titulierte Richard Wagner steht exemplarisch für jemanden, der in einem Bereich – dem der Musik – genialische Meisterschaft entwickelt hat und sich daher Allkompetenz anmaßte – etwa im Bereich der Politik oder der Literatur –, über die er nicht verfügte. Sokrates (vgl. NK 255, 6 f.) kommt als Zeuge erst in Mp XIV 1, 347 in Spiel; ursprünglich hatte wohl N.s eigenes Zeugnis genügt. 255, 6 f. aber man urtheilt gerade umgekehrt, wie diess schon Sokrates erfuhr] Mit angemaßter, allseitiger Zuständigkeit von Spezialisten (wie solchen für die Rhetorik wie die Sophisten in Platons Dialogen Gorgias und Protagoras oder im Einleitungsdialog mit Thrasymachos im ersten Buch der Politeia, aber auch einem für Frömmigkeit wie im Euthyphron) ist Sokrates nach Platons Darstellung öfter konfrontiert. Man könnte etwa auch an den Dialog Laches denken, bei dem Sokrates mit vermeintlichen Fachleuten konfrontiert wird, die nicht verstehen (wollen), dass Tapferkeit Teil einer vieles umfassenden ἀρετή ist (vgl. Nietzsche 2019, 1242, Anm. 22 sowie N.s Zusammenfassung des Laches in KGW II 4, 144, 17–145, 2). Andererseits hat der „Gassen-Dialektiker“ (MA I 433, KSA 2, 282, 22) Sokrates selbst die Tendenz, überall seine eigene Meisterschaft vorzuführen – immerhin im Bewusstsein des eigenen Nichtwissens.
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 360–363, KSA 2, S. 254–255
723
362. Dummheit ist MA I 362 zufolge etwas, was selbst die Sanftmütigsten zu Handgreiflichkeiten hinreiße. So sehr die Dummen diese auch verdient haben mögen, sie litten darunter doch weniger als die Sanftmütigen an ihrem eigenen Gewaltausbruch. Zu MA I 362 gibt es in Mp XIV 1, 202 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert und bereits mit der schließlich gedruckten Überschrift (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,202). Dass mit der Dummheit „Götter selbst vergebens“ kämpfen, ist seit Schillers Die Jungfrau von Orleans (III 6) geflügeltes Wort. Zum Hintergrund von MA I 362 verweist Vivarelli 1994a, 98 auf Montaignes Essais III 8: „Die Thorheit ist eine böse Eigenschaft: allein, sie nicht vertragen können, sich darüber erzürnen und grämen, wie es mir begegnet, dieß ist eine andere Schwachheit, die nicht weniger beschwerlich, als die Thorheit, ist. Und dieses will ich gegenwärtig selbst bekennen.“ (Montaigne 1753–1754, 3, 51) 255, 13 vielleicht] Erst im Druckmanuskript D 11, 146 eingefügt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,146). 255, 14 f. denn an die dumme Stirn gehört, als Argument, von Rechtswegen die geballte Faust] Eine ähnlich drastisch-handgreifliche Maßnahme hatte Georg Christoph Lichtenberg in einer berühmten Sudelbuchaufzeichnung (E 147) empfohlen, und zwar als Antwort auf die Genieästhetik, die Asymmetrie als Bedingung geistiger Produktivität ausgerufen hatte: „Nachdem die Theorie von der Nothwendigkeit eines Mangels an Symmetrie, um original zu sein, ist gegeben worden, so kann gesagt werden: Ich hielte daher für rathsam, daß man den neugebornen Kindern einen sanften Schlag mit geballter Faust auf den Kopf gäbe, der ohne ihnen zu schaden, die Symmetrie des Gehirns etwas verrückte. Ich riethe ihn ja nicht gerade auf die Stirn, oder oben oder hinten hinzugeben, auch nicht auf die Seite, weil dieses die Symmetrie keineswegs afficiren würde.“ (Lichtenberg 1867, 2, 213) Der Stirnschlag wirkt in Lichtenbergs ironischem Ratschlag also nicht auf eine die Dummheit durch- und ausschüttelnde Weise, sondern bringt asymmetrisch versch(r)obene Genies hervor. Aber die Symmetriefrage hat den Verfasser von MA I 362 offensichtlich nicht umgetrieben.
363. MA I 363 bietet einen interessanten Erklärungsansatz für scheinbar altruistische Verhaltensweisen, die der „Pflicht“, dem „Mitleid[..]“ (255, 21 f.) oder gar der „Mutterliebe“ (255, 23) entsprungen zu sein scheinen: Womöglich verdanken sie sich
724
Menschliches, Allzumenschliches I
nur der „Neugierde“ (255, 19). Der Abschnitt unterstellt dem vermeintlichen Altruismus also keinen verborgenen Egoismus, wie in der moralistischen Tradition so häufig (vgl. NK 23, 24–26), sondern versucht, in der Neugierde quasi ein drittes treibendes Moment sozialer Interaktion dingfest zu machen. Zu MA I 363 gibt es in Mp XIV 1, 165 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,165). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 119 lautet: „Wenn die Neugierde nicht wäre, würde wenig für das Wohl Andrer gethan. Aber die Neugierde schleicht sich unter dem Namen der Pflicht ⎣u des Mitleides⎦ in das Haus des Unglücklichen u Bedürftigen.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,119) Der Nachsatz in MA I 363, der die „Mutterliebe“ ebenfalls der Neugierde entspringen sieht (255, 22–24), fehlt noch. 255, 22–24 Vielleicht ist selbst an der vielberühmten Mutterliebe ein gut Stück Neugierde.] Damit opponiert MA I 363 gegen die gängige Auffassung, Mutterliebe entspringe einem animalischen Instinkt, wie sie z. B. Schopenhauer formuliert hat: „Die ursprüngliche Mutterliebe ist, wie bei den Thieren, so auch im Menschen, rein instinktiv, hört daher mit der physischen Hülflosigkeit der Kinder auf. Von da an soll an ihre Stelle eine auf Gewohnheit und Vernunft gegründete treten, die aber oft ausbleibt, zumal wenn die Mutter den Vater nicht geliebt hat.“ (Schopenhauer 1873–1874, 6, 660; vgl. N.s Dühring-Exzerpt NL 1875, KSA 8, 9[1], 158, 8) Wenn Mutterliebe (siehe auch NK KSA 3, 430, 6–9 u. Stegmaier 2012, 193) mit Neugierde gekoppelt sein sollte, handelt es sich bei ihr um etwas ausgesprochen Intellektuelles. Das ist die genaue Kontrafaktur zu Schopenhauers These von der reinen Instinktivität und Animalität der Frauen. Von „Mutterliebe“ spricht N. übrigens nie in seinen Briefen an seine Mutter, wohl aber gegenüber Malwida von Meysenbug am 14. 04. 1876: „Eins der höchsten Motive, welches ich durch Sie erst geahnt habe, ist das der Mutterliebe ohne das physische Band von Mutter und Kind, es ist eine der herrlichsten Offenbarungen der caritas. Schenken Sie mir etwas von dieser Liebe, meine hochverehrte Freundin und sehen Sie in mir einen, der als Sohn einer solchen Mutter bedarf, ach so sehr bedarf!“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 518, S. 149, Z. 34–39) Auch hier ist offensichtlich nicht Schopenhauers Instinkt gemeint, sondern eine durchaus vergeistigte Fürsorgetugend, der sich N. augenscheinlich noch gerne ausliefert. Neugierde wiederum war Meysenbug nicht fremd.
364. MA I 364 listet verschiedene Möglichkeiten auf, wie sich jemand in Gesellschaft interessant machen könne – durch die Art und Weise, wie er urteilt, oder mit wem er bekannt ist, oder was er mag oder verachtet, oder wie er sich absondert.
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 363–365, KSA 2, S. 255
725
Aber diese Bemühungen um Aufmerksamkeit gingen letztlich ins Leere, denn der, um dessentwillen sie aufgeführt würden, sei doch nur an sich selbst interessiert. Zu MA I 364 gibt es in Mp XIV 1, 168 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,168). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 91 lautet: „Dieser wünscht interessant zu sein durch seine Urtheile, jener durch seine Neigungen u Abneigungen, ein Dritter durch seine Bekanntschaften, ein Vierter durch seine Einsamkeit – und sie verrechnen sich alle. Denn der, vor dem das Schauspiel aufgeführt wird, will selber allein das Schauspiel sein.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,91) Würde man MA I 364 streng beim Wort nehmen, käme Aufmerksamkeit für andere nie zustande: Wir würden den Anderen bestenfalls als unseren Spiegel wahrnehmen.
365. MA I 365 unterläuft bei der Behandlung des Themas „Duell“ die Publikumserwartung, die soziale Dimension der „Ehrenhändel“ (256, 8) zu erörtern und das Für und Wider solcher Praktiken zu erwägen, die ihrerseits etwas unterlaufen, was für die institutionell gefügten Gesellschaften im 19. Jahrhundert ein zentrales Anliegen ist, nämlich eine verlässliche Rechtsordnung, die Privatjustiz ausschließt. Der Abschnitt zehrt also von einer doppelten Figur des Unterlaufens, wenn er die soziale Dimension des Duells, d. h. in einer Gemeinschaft beispielsweise durch eine Beleidigung das Gesicht verloren zu haben und daher zur Satisfaktionsforderung gezwungen zu sein, ausblendet, um stattdessen die individuelle Reizbarkeit ins Zentrum zu stellen, die es entsprechend disponierten Personen verunmögliche, mit einer Kränkung zu leben, so dass ihnen nur dieser Ausweg offenstehe, mit letalem Risiko für sie selbst. Therapeutisch bringt MA I 365 einen „EhrenKanon“ ins Gespräch, „welcher Blut an Stelle des Todes gelten lässt“ (256, 15 f.), so dass eine hohe Anzahl finaler Opfer vermieden wäre. Der Schlusssatz lässt offen, ob hier das traditionell bestehende Duell auf Leben und Tod oder aber die nicht-letale Blutzollvariante gemeint ist: „So eine Institution erzieht übrigens die Menschen in Vorsicht auf ihre Aeusserungen und macht den Umgang mit ihnen möglich.“ (256, 18–20) Duelle oder ihre noch immer handgreiflichen Substitute sollen also eine abschreckende und disziplinierende Wirkung entfalten. Zu MA I 365 gibt es in Mp XIV 1, 39 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, bereits mit der Überschrift „Duell“ versehen (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,39). Dabei folgt dieser Text nach einem Gedankenstrich unmittelbar und in derselben Zeile auf einen Passus, den N. offensichtlich nicht publiziert sehen wollte und der erst im Rahmen des Nachlasses ediert wurde: „Die bittersten Leiden sind die, welche keine g r o ß e Erregung mit sich bringen – denn die hohe
726
Menschliches, Allzumenschliches I
Leidenschaft, sie sei welche sie wolle, hat ihr Glück in sich – sondern jene, welche nagen, wühlen und stechen: also namentlich die, welche durch rücksichtslose Menschen, welche ihre Art von Übermacht benutzen, uns zugefügt werden: etwa mit dem erschwerenden Umstande daß sie dabei von einer intimen Vertrautheit mit uns, durch einen Verrath der Freundschaft, Gebrauch machen. Das einzige große Gefühl, mit welchem man über solche Leiden hinwegflöge, wäre Haß mit der Aussicht auf Rache, auf Vernichtung des Andern. Aber gewöhnlich sagt sich der bessere Mensch, daß der Übelthäter gar nicht so boshaft war als er uns erscheint und daß manche Verdienste für ihn sprechen: so unterdrückt er den Gedanken an Wiedervergeltung, wird aber dabei nicht froh; er ist an die Zeit gewiesen, an das Schwächerwerden aller Erinnerungen. –“ (NL 1876/77, KSA 8, 23[28], 413, 28–414, 14) Ursprünglich also standen die Duell-Erwägungen im Kontext einer umfassenderen Psychologie des Leidens und der (missglückenden) Leidensbewältigung. Auch im schließlich veröffentlichten Text ist Reizbarkeit das Hauptthema, und zwar individualpsychologisch konturiert, nicht an einer vermeintlich objektiven Ehre ausgerichtet: Es geht um individuelle Empfindlichkeitsschwellen. Im zweiten, dann als MA I 365 veröffentlichten Teil des Notats Mp XIV 1, 39 wird eine andere Aufzeichnung aufgegriffen, die dem Blut eine läuternd-lösende Kraft zuschreibt: „Duell. Blut wischt ein übereiltes Wort weg, Blut giebt selbst einer zweideutigen Handlung hinterdrein die Achtung einer ehrlichen. – Selbstmord, bei Ajax um das überreizte Ehrgefühl zu befriedigen.“ (NL 1877, KSA 8, 22[60], 389, 10–13) Das Thema des Duells kommt auch in MA I 61 zum Tragen (vgl. NK 78, 18–20; dort Hinweise zu weiteren Duell-Stellen in N.s Werken). N. hat als Student übrigens dezidiert das Duell gesucht, obwohl seine Studentenverbindung Franconia der Mensur eher zurückhaltend gegenüberstand (vgl. zu den Details Scheuer 1923, 30 f.). Den einschlägigen Bericht von Elisabeth Förster-Nietzsche (Förster-Nietzsche 1895–1904, 1, 224) hat Karl Kraus mit den Ergänzungen von Scheuer 1923, 32 zum Duellgegner N.s, Wilhelm Delius, sowie dem Zeugnis von Paul Deussen (Deussen 1901, 22) 1925 in der Fackel zu einem Kompilat verdichtet: „Eines Tages machte er [sc. N.] […] einen Spaziergang mit einem Studiosus Delius; dieser gehörte einer anderen Burschenschaft, der ‚Allemannia‘ [sic] an, mit der Nietzsches Verbindung im sogenannten ‚Paukkomment‘ stand. Dabei fiel es Nietzsche, der offenbar schon eine Gelegenheit zu einer Mensur suchte, d e n n ein, daß er an diesem Kommilitonen einen besonders angenehmen Gegner haben würde. Ganz offenherzig, aber zugleich mit vollkommener Höflichkeit und Freundlichkeit, sprach er dies sogleich aus: ‚Sie gefallen mir so gut‘, sagte er, ‚könnten wir nicht miteinander losgehen?‘ ‚Ich denke‘, fuhr er fort, ‚wir lassen die sonst üblichen Präliminarien?‘ Der andere willigte auf die verbindlichste Art ein, und dann w e r d e n die beiden, die nun miteinander ‚hingen‘, einen schweren ‚Skandal‘ miteinander hatten und demnächst auf blanke Waffen gegeneinander antreten
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 365–366, KSA 2, S. 255–256
727
sollten, in aller Gemütlichkeit und Freundschaft ihren Spaziergang fortgesetzt und beendet haben. Hinterher soll allerdings Studiosus Delius seiner Überraschung o b d i e s e s Verfahrens, einen anderen vor seine Klinge zu ‚fordern‘, in r e c h t d r o l l i g e r Weise Ausdruck gegeben haben. Zu gegebener Zeit fand die Mensur dann statt. Nietzsche erhielt eine /119/ Tiefquart über den Nasenrücken und wurde, wohlverbunden, im Wagen in seine Wohnung und dort für einen oder einige Tage ins Bett befördert. Aber auch Nietzsches Gegner hat, wie e r s t i n d e n l e t z t e n J a h r e n b e k a n n t geworden ist, einen ‚B l u t i g e n‘ erhalten.“ (Kraus 1925, 118 f.) Tatsächlich hatte die Satzung von N.s Studentenverbindung festgelegt: „‚Die Franconia hält das Duell an und für sich nicht für ehrenreinigend, insofern sie nicht glauben kann, daß das Duell imstande sei, die innere Ehre eines Menschen zu reinigen. Sie gibt aber zu, daß es schwere Beleidigungen geben kann, wo man in der Meinung der Außenwelt ohne ein Duell nicht geachtet dastehen kann. In solchen Fällen gestattet die Verbindung das Duell‘. Über die Zulässigkeit des Duells entschied also im wesentlichen die Verbindung, bis im Wintersemester 1863/64 das Prinzip der ‚unbedingten Satisfaktion‘ eingeführt wurde. Darnach mußte in jedem Falle bei Beleidigungen Genugtuung mit der Waffe gegeben oder genommen werden; doch wurden grundlose Beleidigungen gerügt oder bestraft.“ (Scheuer 1923, 30) N. hat also – zumal man innerhalb seiner Verbindung sich nicht schlagen durfte – bewusst mit einem Angehörigen einer anderen Verbindung das Duell provoziert, ohne dass wirklich eine Beleidigung stattgefunden hätte. 256, 15 Ehren-Kanon] Mp XIV 1, 39 hat stattdessen: „Ehrenkanon“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,39). 256, 18 viele Menschenleben] Mp XIV 1, 39 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,39) und das Druckmanuskript D 11, 146 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,146) haben stattdessen: „fast alle Menschenleben“. In der Erstausgabe ist das dann zu „viele Menschenleben“ korrigiert (Nietzsche 1878, 261).
366. MA I 366 führt den unter dem Stichwort der Seelenfeinheit in MA I 330, KSA 2, 246 kurz skizzierten Gegensatz unter der Terminologie von „V o r n e h m h e i t u n d D a n k b a r k e i t“ (256, 22) breiter aus und benutzt ebenfalls wieder das Vokabular der „Seele“: Eine „vornehme“ (256, 22) habe keine Schwierigkeit, sich in Dankesschuld zu wissen, die sie dann auch „gelassen“ (256, 25) erweisen werde, während – jetzt vom Singular in den Plural wechselnd – „niedere Seelen“ (256, 26) entweder allen Zwang zur Dankbarkeit ängstlich vermieden oder es mit der De-
728
Menschliches, Allzumenschliches I
monstration der Dankbarkeit krass übertrieben. Während die Rede von der „Seele“ zunächst die soziale Dimension ausklammert, bringt der Schlusssatz diese zur Geltung: „Letzteres“, nämlich übersteigerte Dankbarkeit, „kommt übrigens auch bei Personen von niederer Herkunft oder gedrückter Stellung vor: eine Gunst, i h n e n erwiesen, deucht ihnen ein Wunder von Gnade“ (256, 29–31). Da hat der Sprecher das Feld der schlecht nachverfolgbaren Seelenintrospektion verlassen und nimmt wieder das empirisch beobachtbare soziale Feld in den Blick. Zu MA I 366 gibt es in Mp XIV 1, 178 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,178). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 87 lautet: „Eine vornehme Seele weiss sich gern jem[andem] [?] zur Dankbark. verpflichtet und ist wieder gelassen in den Aeusserungen der Dankbarkeit: niedere Seelen sträuben sich gegen alles Verpflichtet sein und sind übertrieben in ihrer Dankbarkeit“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/NII-2,87). MA I 44, KSA 2, 66 f. macht die Dankbarkeit anders fest. 256, 31 Wunder von Gnade] Diese Wendung, mit „Gnade“ in Anführungszeichen, nimmt AC 52 auf, vgl. NK KSA 6, 233, 29–33. „Wunder von Gnade“ oder „Wunder der Gnade“ gehört zum gängigen theologischen Erbauungsvokabular des 19. Jahrhunderts. Bei Christoph Lehmann konnte N. lesen: „Gnade hat kein Warum, hat Ebbe und Fluth.“ (Altdeutscher Witz 1877, 69)
367. MA I 367 stellt drei mögliche Konstellationen vor, in denen drei verschiedene Menschen bzw. „Gattung[en] von Menschen“ (257, 10 f.) gut reden können – erstens, weil jemand dabei ist, dem der Redner sich unterlegen weiß, zweitens, weil jemand dabei ist, dem er sich überlegen weiß, oder drittens, weil er sich im Wettstreit mit einem anderen wähnt. In den ersten beiden Fällen ist der Redner gut, weil er sich befreit und außer Konkurrenz fühlt. Davon ist der agonale, letzte Fall gänzlich unterschieden. Zu MA I 366 gibt es in Mp XIV 1, 182 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,182). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 61 lautet: „wer gut redet / wer von beiden / ist der Ehrgeizigere?“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,61) Die vermutbare Präferenz der Sprechinstanz für die agonale Variante lässt sich im Text schwerlich absichern. Er bleibt im Modus des Fragens: „Welche von beiden Gattungen ist die ehrgeizigere: die, welche aus erregter Ehrsucht gut, oder die, welche aus eben diesen Motiven schlecht oder gar nicht spricht?“ (257, 12–14) Diese Frage ist nicht rhetorisch – und man darf sich selbst wiederum fragen, ob die explizite Auszeichnung „Ehrsucht“ (statt z. B. „Ehrgeiz“, der immerhin im Adjektiv aufscheint) nicht
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 366–368, KSA 2, S. 256–257
729
beide Möglichkeiten negativ konnotiert (vgl. NK 240, 16–20 u. NK 273, 4–7). In N.s Darstellung der antiken Rhetorik vom Sommersemester 1874 heißt es über „das allgemeine Erforderniß vom ‚Schmuck der Rede‘“: „Dieser ist aus der a g o n a l e n Neigung der Alten zu erklären – alles öffentliche Auftreten des Individuums ist ein Wettkampf: dem Kämpfer aber geziemen nicht nur starke, sondern auch g l ä n z e n d e Waffen. Nicht nur angemessen, sondern schön muß man die Waffen handhaben nicht nur zu siegen, sondern ‚elegant‘ zu siegen ist Erforderniß bei einem agonalen Volke.“ (KGW II 4, 434, 16–22) Über die Wünschbarkeit derartiger rhetorischer Agonalität in der Sprechergegenwart verrät MA I 367 nichts. 257, 7 sans gêne] Französisch: „ohne Verlegenheit“, „ohne Befangenheit“, „ungeniert“. Die Wendung kommt bei N. nur an dieser Stelle vor. Die aus einfachsten Verhältnissen stammende Catherine Lefèbvre (1753–1835), Herzogin von Danzig, wurde wegen ihrer erfrischenden Unbefangenheit selbst gegenüber dem Kaiser „Madame Sans-Gêne“ genannt.
368. Das von MA I 296 bis MA I 376 im Sechsten Hauptstück wiederholt aufgegriffene Thema der Freundschaft wird hier zugespitzt auf besonders dazu talentierte Personen, wobei MA I 368 zwei Typen unterscheidet: Der erste findet den jeweils passenden Freund für jeden seiner Lebensabschnitte, was dazu führt, dass die Freunde untereinander sich nicht wirklich verstehen. Er sei „eine Leiter“ (257, 25). Der zweite hingegen, den man „einen K r e i s“ (257, 31) nennen könne, gewinnt seine Freunde nicht diachron, sondern er wirke so anziehend, dass gleichzeitig die unterschiedlichsten Personen sich ihm freundschaftlich näherten, die wiederum trotz ihrer Unterschiedlichkeit untereinander gute Freunde sein könnten. Der Nachsatz behauptet, dass manche viel begabter darin seien, „gute Freunde zu haben“ (258, 1) als selbst welche zu sein. Zu MA I 368 gibt es in Mp XIV 1, 285 f eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit rotem „A“ und drei blauen Strichen, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,285 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,286). In dieser Version fehlt der Schlusssatz der Druckfassung (258, 1–3), der erst im Druckmanuskript D 11, 147 nachträglich hinzugefügt wird (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,147). Mp XIV 1, 285 f. geht zurück auf ein Notat in U II 5, 59 f.: „Unter den Menschen, welche eine besondere Begabung zur Freundschaft haben, finde ich auch folgende zwei Typen. Der Eine ist in einem fortwährenden Aufsteigen und findet für jede Phase seiner Entwickelung einen genau zugehörigen Freund. Die Reihe von Freunden, welche auf diese Weise entsteht, ist unter sich selten im Zusammenhang, oft in Misshelligkeit u
730
Menschliches, Allzumenschliches I
Widerspruch: so wie die späteren Phasen ˹in der Entwickelung˺ selbst frühere Phasen vernichten [?] ˹aufheben˺ ˹oder˺ beeinträchtigen. Einen solchen Mensch nenne ich eine Leiter. Dann giebt es andere, welche eine Anziehungskraft auf sehr verschiedene Charaktere u. Begabungen ausüben, so dass sie einen ganzen Kreis von Freunden gewinnen: diese aber kommen dadurch selber unter einander in freundschaftl. Beziehung, trotz aller Verschiedenheit. Einen solchen Menschen nenne ich einen Kreis: denn in ihm muss jene Zusammenkettung so verschiedener Anlagen u. Naturen ˹irgendwie˺ vorgebildet sein.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/UII-5,59 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,60) In dieser Version wird das persönliche Erfahrungsmoment des sich emphatisch äußernden „Ich“ herausgestellt, während die Druckfassung – genauer: erst in der Korrektur des Druckmanuskripts D 11, 147 – auf unpersönlich-verallgemeinernde Formulierungen ausweicht, im Übrigen die „zwei Typen“ (257, 18) als die wesentlichen ausweist, während U II 5, 59 mit einem eingefügten „auch“ signalisiert, dass es noch (viel) mehr Typen geben könnte. Man mag darüber Mutmaßungen anstellen, ob N. sich selbst mit seinen leicht nach den Phasen Kindheit/Jugend, Studium, Professorenexistenz und Philosophenleben gruppierbaren Freunden, die zueinander oft nicht in harmonischem Verhältnis standen, dem „Leiter“-Typus zugeordnet hätte, während als Kandidatin für den „Kreis“-Typus etwa an Malwida von Meysenbug zu denken wäre. Der spät hinzugekommene Nachsatz, wonach mancher viel eher die „Gabe“ habe, „gute Freunde zu haben“ als „ein guter Freund zu sein“ (258, 1–3), könnte durchaus auf Richard Wagner gemünzt worden sein. Zur Metapher der Leiter vgl. MA I 20, KSA 2, 41 f., MA I 292, KSA 2, 236, 1 sowie MA I Vorrede 7, KSA 2, 21, 30. 257, 16 D a s T a l e n t z u r F r e u n d s c h a f t] Die erst im Druckmanuskript D 11, 147 hinzugekommene Wendung lässt sich bei N. nur hier sowie in MA I 378, KSA 5, 265, 11 nachweisen. Sie findet sich z. B. schon in Friedrich Schleiermachers Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde ([Schleiermacher] 1800, 114) und wird im 19. Jahrhundert häufiger bemüht. 257, 25 L e i t e r heissen] In U II 5, 59, Mp XIV 1, 285 u. D 11, 147 ist jeweils die „Leiter“ hervorgehoben, während es in der Erstausgabe stattdessen: „Leiter h e i s s e n“ heißt (Nietzsche 1878, 262). In beiden Handexemplaren N.s zur Erstausgabe C 4402 und zur Titelausgabe C 4412[1] wird dies aber korrigiert und die ursprüngliche Fassung wiederhergestellt (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1252332904/281 u. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1255106514/293/). 257, 31 Zusammengehörigkeit] Erst im Druckmanuskript D 11, 147 korrigiert aus: „Zusammenkettung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,147).
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 368–369, KSA 2, S. 257–258
731
258, 2 viel grösser] In beiden Handexemplaren N.s zur Erstausgabe C 4402 und zur Titelausgabe C 4412[1] wird das „viel“ gestrichen (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1252332904/281 u. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1255106514/293/).
369. Was unter der Überschrift „T a k t i k i m G e s p r ä c h“ (258, 5) – sie kam erst im Druckmanuskript D 11, 147 hinzu (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,147) – so klingen mag, als ob von diesem Abschnitt MA I 369 praktische Gesprächsführungshinweise zu erwarten wären – womöglich Klugheitsregeln im Stil von Baltasar Gracián –, erweist sich bei näherem Hinsehen als dichte Beschreibung, wie sich beidseits angewandte Klugheitsregeln gegenseitig neutralisieren können: Da einem ein Gesprächspartner nachträglich in bestem Licht erscheine, wenn der einem großzügig Gelegenheit gegeben hatte, selbst in der Unterhaltung zu glänzen, lege es ein kluger Kopf darauf an, dem anderen im Gespräch unentwegt Chancen einzuräumen, die es ihm erlauben, sich besonders geistreich zu zeigen – dann werde man selbst eben im besten Lichte erscheinen. Was nun aber, wenn zwei derart kluge Köpfe aufeinandertreffen und jeder sich nur darum bemüht, dass der andere sich geistvoll profilieren kann? „[D]as Gespräch“ werde „im Ganzen geistlos und unliebenswürdig“ (258, 15 f.) verlaufen. Zu MA I 369 gibt es in Mp XIV 1, 353 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit rotem „A“ und wie üblich noch ohne Überschrift (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,353 u. http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,354). Eine sehr ähnliche Version findet sich auch schon in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 94: „Nach einem Gespräch mit Jemandem ist man am besten auf den Mitunterredner zu sprechen, wenn man Gelegenheit hatte, seinen Geiste, seine Liebenswürdigkeit vor ihm im ganzen Glanze zu zeigen. Diess benutzen kluge Menschen, welche Jemanden sich günsitg stimmen wollen, indem sie bei der Unterredung ihm die bessten Gelegenheiten zu einem guten Witz und dergleichen zuschieben. Es wäre ein lustiges Gespräch zwischen zwei sehr Klugen zu denken, welche sich gegenseitig günstig stimmen wollen und sich desshalb die schönen Gelegenheiten im Gespräch zuwerfen, während Keiner sie annimmt: sodass das Gespräch im Ganzen geistlos und unliebenswürdig wird, weil Jeder dem Anderen die Gelegenheit zu Geist und Liebenswürdigkeit zuweist.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MI-1,94) Eine frühere Fassung in U II 5, 119 lautet: „Im Gespräch mit jemandem ist man am glücklichsten, wenn wir Gelegenheit haben unseren Geist unsere Liebenswürdigkeit leuchten zu lassen: Zwei Menschenkenner, die sich sprechen,
732
Menschliches, Allzumenschliches I
könnten sich gegenseitig die schöne Gelegenheit zu einem Witz hin u. herwerfen, weil jeder es dem andern gönnt, um selber den Vortheil der guten Stimmung des Anderen zu haben.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,119) Hier ist der Gedanke der schließlichen Neutralisierung, der die Pointe der Druckfassung ausmacht, noch nicht ausgesprochen – auch nicht die Option, dass einer der „zwei sehr Klugen“ (258, 12) so klug ist wie die beobachtende Sprechinstanz und deshalb um des Gesprächsklimas willen die ihm hingeworfene Möglichkeit, einen Witz zu machen, beherzt ergreift und ausnutzt, anstatt sie zurückzuspielen. Zu MA I 369 siehe z. B. Zittel 2016, 108, Zittel 2018, 95 f. u. Liebscher 2020, 136.
370. MA I 370 schildert, wie schwer es bei einem missglückten Unternehmen fällt, dieses Misslingen dem „Zufall“ (258, 21) zuzuschreiben. Stattdessen neige man dazu, eine Person und ihre Böswilligkeit dafür verantwortlich zu machen, denn an ihr könne man sich abreagieren. Zu MA I 370 gibt es in Mp XIV 1, 355 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit rotem „A“ und wie üblich noch ohne Überschrift (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,355). Eine sehr ähnliche Version findet sich bereits in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 48 f., dort allerdings bereits früher endend mit: „und im Interesse aller Höflinge gleichsam aufzuopfern“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I1,49). Andernorts wird die in MA I 370 thematisierte Personalisierung von ‚Schuld‘ auch ausgewiesen als Grund, weshalb die Menschen Religion erfunden haben – aus einem Bedürfnis nach persönlicher Zuschreibung. Vgl. zu MA I 370 auch Riccardi 2021, 36, Fn. 1 u. 39 f. 258, 25–30 Die Umgebung eines Fürsten pflegt desshalb, wenn diesem Etwas misslungen ist, einen einzelnen Menschen als angebliche Ursache ihm zu bezeichnen und im Interesse aller Höflinge aufzuopfern; denn der Missmuth des Fürsten würde sich sonst an ihnen Allen auslassen, da er ja an der Schicksalsgöttin selber keine Rache nehmen kann] Der letzte Halbsatz „da er ja an der Schicksalsgöttin selber keine Rache nehmen kann“ (258, 29 f.) fehlt noch in Mp XIV 1, 355; er wird auch im Druckmanuskript D 11, 148 erst nachträglich hinzugefügt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,148). N., denkbar weit entfernt von höfischem Innenleben, konnte das in 258, 25–30 Behauptete, zumal in der Verallgemeinerung, man „pfleg[e]“ dort wie beschrieben zu verfahren, nicht aus eigener Anschauung schöpfen. Ob ihm bei seiner Beispielwahl Historiker wie Tacitus, klassische Dramen von Shakespeare über Racine und Molière bis Schiller oder ätzender moralistischer Spott Inspiration lieferten, steht dahin: MA I 370 fügt sich jedenfalls ein
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 369–372, KSA 2, S. 258–259
733
in den sich seit der frühen Neuzeit stetig verbreiternden Strom der Kritik an Höflingsservilität und Fürstenspeichelleckerei (eine schöne Auswahl einschlägiger Zitate gibt Berg 1873, 1, 95–167).
371. MA I 371 versucht sich in einer Herkunftsgeschichte „unserer“ (259, 11) parteilichen Empfindungen, namentlich gegenüber Dritten. Wer im Umfeld von jemandem lebe, der starke Empfindungen hege, werde davon leicht angesteckt, denn erstens falle es in einem solchen Umfeld sehr schwer, auf ein Urteil zu verzichten, da dies schwach, ängstlich, unmännlich anmute. Und zweitens sei man sich in einem solchen Umfeld der Herausbildung starker Zu- und Abneigungen gar nicht bewusst, vielmehr nehme man allmählich diese Färbung an, weil es ja „angenehm“ (259, 17) sei, sich mit seinem Umfeld gut zu verstehen, was offensichtlich durch geteilte Empfindungen ermöglicht wird. MA I 371 wirft also einen entlarvenden Blick auf die Entstehung „unserer“ Urteile: Meist sind „wir“ Chamäleons, die „[ d ] i e F a r b e d e r U m g e b u n g a n n e h m e n“ (259, 2). Zu MA I 371 gibt es in Mp XIV 1, 161 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,161). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 140 lautet: „Warum ist Neigung u Abneigung so ansteckend? Weil die Enthaltung von Für u Wider so schwer und das Zustimmen so angenehm“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,140). Entsprechende Erfahrungen mit Stimmungsansteckung hatte N. beispielsweise in der Umgebung Wagners gemacht – etwa in deren ihn ansteckender Stimmung gegen David Friedrich Strauß. 259, 6 Enthaltung des Urtheils] Die Urteilsenthaltung, ἐποχή, ist das Hauptmittel der pyrrhonischen Skepsis, Seelenruhe herbeizuführen, vgl. NK KSA 5, 398, 30 und NK KSA 6, 233, 22. N. thematisiert etwa in JGB 208 auch ausführlich das Schwächungspotential skeptischer Reflexion, siehe NK 5/1, S. 570–582. 259, 10 f. Richtung unserer Umgebung] In Mp XIV 1, 161 korrigiert aus: „Neigung jener Person“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,161). 259, 18 dieser Umgebung] Im Druckmanuskript D 11, 148 korrigiert aus: „derselben“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,148).
372. MA I 372 lässt Ironie „nur als pädagogisches Mittel“ (259, 20) gelten, nämlich, indem ein Lehrer sein eigenes Wissen verhehle und seine Schüler zu immer
734
Menschliches, Allzumenschliches I
dreisteren Wissensansprüchen herausfordere, bevor er ihre Unwissenheit entlarve und diese Demütigung ihnen zur Selbsterkenntnis gereiche. Ansonsten jedoch sei Ironie unangebracht – ironische Schriftsteller zählten beispielsweise auf eine wenig erfreuliche Art von Menschen, die sich in anmaßender Weise „überlegen fühlen wollen“ (260, 4). Wer sich an Ironie gewöhne, verderbe sich seinen Charakter. Zu MA I 372 gibt es in Mp XIV 1, 180 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert sowie blau übertitelt: „Plato“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,180). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 117 lautet: „Ironie ein pädagog. Mittel des Lehrers (Socrates). Voraussetzung: dass sie eine Zeitlang als Bescheidenheit ernst genommen wird und die Anmaassung des Anderen auf einmal bloss stellt. / Sonst ist sie alberne Witzelei. / Sarkasmus ist die Eigenschaft bissiger Hunde am Menschengeiste: vom Menschen dazu gegeben schadenfrohes Lachen. / Man ruinirt sich, wenn man sich hierin ausbildet.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II2,117) Das Thema hinterlässt auch andere Spuren im Nachlass, so in NL 1877, KSA 8, 22[103], 398, 13–16: „Ironie gemein – ironische Kochkunst: unwissend stellen – um so schärfer unser Wissen hervortreten zu lassen. / Gegensatz der Bescheidenheit: unwissend fühlen, wo der Andere das Wissen und Können bewundert.“ NL 1876/77, KSA 8, 23[149], 457, 22–28 stellt den „S a r k a s m u s“ – es ist die einzige Stelle bei N., die außer MA I 372 und den Vorarbeiten das Wort überhaupt benutzt – in etwas anderes Licht: „Wir haben ein Vergnügen an der kleinen Bosheit, weil sie uns so wenig schadet z. B. am S a r k a s m u s; ja wenn wir uns völlig geschützt fühlen, so dient uns selbst die große Bosheit (etwa in dem giftigen Geifer eines Pamphletes) zum Behagen; denn sie schadet uns nicht und nähert sich dadurch der Wirkung des Komischen, – das überrascht, ein wenig erschreckt und doch nicht Schaden anstiftet.“ Im Unterschied zur Druckfassung von MA I 372 nennt N II 2, 117 die naheliegendste historische Referenz für den pädagogischen Gebrauch der Ironie, nämlich Sokrates. Diese Zuschreibung findet sich auch in N.s eigener akademischer Lehre, so in der Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen, derzufolge Sokrates „die naiven Vertreter der Bildung u. Wissenschaft, die Sophisten“ gehasst habe: „wenn die Einbildung der σοϕία gleich einer μανία ist, so sind die Lehrer einer solchen eingebildeten Weisheit gleichsam Wahnsinnigmachende. Im Kampf mit ihnen war er am unermüdlichsten. Hier hatte er die volle griechische Bildung gegen sich: höchst merkwürdig, wie er ihr gegenüber doch nie den Eindruck eines Pedanten macht. Seine Mittel sind einmal die Ironie in der Rolle eines Lernenden u. Fragenden, ein allmählich kunstvoll ausgebildetes Kunstmittel.“ (KGW II 4, 358, 23–31) MA I 372 bedenkt neben der pädagogischen Ironie zum Zwecke der SchülerSelbsterkenntnis nur noch die herablassende Ironie-Form, mit der – gerade von
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 372–373, KSA 2, S. 259–260
735
Schriftstellern angewandt – anmaßende Blasiertheit sich einnistet (vgl. dazu Zittel 2016, 107 f.). Alle anderen Formen der Ironie – im Übrigen auch von ihm andernorts gerade wegen ihrer Ironie geschätzte Autoren wie Lawrence Sterne (vgl. MA II VM 113, KSA 2, 425, 7) – werden stillschweigend ausgeblendet, während N. beispielsweise ausweislich seiner Darstellung der antiken Rhetorik vom Sommersemester 1874 aus Quintilians Institutio oratoria geläufig war, wie viele „Arten der Ironie“ man bereits im Altertum unterschieden hat (KGW II 4, 448 f.). Dass Ironie „ü b e r f l ü s s i g“ (KSA 2, 210, 23 f.) sei, hatte bereits MA I 252 behauptet, vgl. NK 210, 21–24. Man könnte geneigt sein, diese Behauptung in MA I 252 ebenso wie in MA I 372 für eine besonders ironische Volte zu halten – gerade in der radikal einseitigen Darstellung der Wirkung und der Wirkkraft von Ironie. 260, 8–10 man ist zuletzt einem bissigen Hunde gleich, der noch das Lachen gelernt hat, ausser dem Beissen] In Mp XIV 1, 180 korrigiert aus: „als ob Hunde auch dabei noch ⎣zu⎦ lachen verstünden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,180). Die bissigen Hunde spielen auf die antiken Kyniker an, die ihren Namen κύων, dem Hund, verdanken sollen und für ihren Sarkasmus berüchtigt waren, vgl. z. B. NK KSA 6, 43, 34–44, 2 u. NK KSA 6, 44, 3 sowie NK KSA 5, 44, 20–32.
373. Während MA I 316, KSA 2, 243 die Gefahr der Anmaßung noch für gering gehalten hat, wenn man sich in Gesellschaft verdienter Menschen bewege, hat bereits MA I 332, KSA 2, 246 davor gewarnt, sich anmaßend zu gebärden, wenn man tatsächlich Verdienste habe. MA I 373 schreitet nun zur Generalisierung fort und sieht Anmaßung in jedem Feld als schädlich an, obschon sie in einer Gesprächssituation einen Augenblickserfolg zeitigen möge, insofern die Beteiligten dem Anmaßenden zunächst die geforderte Achtung zugestünden – „aber sie nehmen eine schlimme Rache dafür, insofern sie ebensoviel, als er über das Maass forderte, von dem Werthe subtrahiren, den sie ihm bis jetzt beilegten“ (260, 24–27). So werde selbst sein echtes Verdienst verdunkelt. In Schopenhauers Gracián-Übersetzung heißt es entsprechend: „[D]ie Anmaaßenden sind zum Ekel“ (Gracián 1877, 74). Abschließend mahnt MA I 373 an, man solle auch seinen offenbar im Unterschied zur Anmaßung durchaus berechtigten Stolz nur im engsten Kreis von „Freunden und Gattinnen“ (261, 1) ausleben, werde der einem doch nur allzu leicht als Anmaßung ausgelegt. Zu MA I 373 gibt es in Mp XIV 1, 160 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert und noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,160). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 115 f. lautet: „Anmaassung in der Herzlichkeit,
736
Menschliches, Allzumenschliches I
im freundschaftl. Rathe, im Eingestehen von Fehlern, in dem Mitleid für Andere. Dieser böse Tropfen verdirbt alles / ‚Mehr bedeuten als man ist‘ / es liegt eine falsche Rechnung der Anmaassung zu Grunde. Der augenblickl. Vortheil hat sie durch eine Art Rache zu büssen, welche die üben, die an der Anmaassung gelitten haben. Vor nichts ist so zu warnen. Man kann sein grosses Verdienst völlig in den Staub drücken. / Demüthigung lassen sich die Menschen am höchsten bezahlen. Ein stolzes Benehmen selbst hat nur dort Sinn, wo wir sicher sind, nicht für anmaassend gehalten zu werden (Freunde Gattinnen)“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,115 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/NII-2,116). In N II 2, 135 heißt es: „Anmaassung in der Ehrenbezeigung, in der wohlwoll. Vertraulichkeit“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,135). Schließlich vermerkt NL 1877, KSA 8, 22[105], 399, 1 f.: „Die Klugheit gebietet, sich für das, w a s m a n g i l t, auch zu g e b e n oder vielleicht für etwas Geringeres.“ MA I 373 wirkt über weite Strecken konventionell ratgeberhaft und könnte in einem aufklärerischen Benimmbuch ebenso stehen wie in einem christlichen Katechismus, der vor der Hoffart warnt (mit Ausnahme des geänderten Schlusses, vgl. NK 261, 4). 260, 15 in der Ehrenbezeigung] In Mp XIV 1, 160 stattdessen: „in den Ehrenbezeigungen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,160). 260, 17 in dem Mitleid] In Mp XIV 1, 160 stattdessen: „in dem Mitleide[n?]“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,160). 260, 18 erwecken] In Mp XIV 1, 160 stattdessen: „erregen“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,160). 260, 19 f. Der Anmaassende, das heisst Der, welcher mehr bedeuten will als er ist o d e r g i l t] La Rochefoucauld hat in seiner Maxime 457 die Quintessenz von MA I 373 schon schlüssig vorweggenommen: „Nous gagnerions plus de nous laisser voir tels que nous sommes, que d’essayer de paroître ce que nous ne sommes pas.“ (La Rochefoucauld o. J., 88; vgl. Williams 1952, 47) 260, 23 zollen] In Mp XIV 1, 160 stattdessen: „geben“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,160). 260, 31 stolzes] In Mp XIV 1, 160: „stolzes“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,160). 261, 4 höflich zu lügen] In Mp XIV 1, 160 korrigiert aus: „höflich zu sein“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,160).
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 373–374, KSA 2, S. 260–261
737
374. MA I 374 arbeitet heraus, dass das „Zwiegespräch“, also das Gespräch zwischen nur zwei Beteiligten, „das vollkommene Gespräch“ (261, 6 f.) sei, weil diese Art des Gespräches stets Bezug und Rücksicht auf den andern nehme, sich auf ihn einstelle, mit ihm direkt interagiere – so wie dies auch in gelingender brieflicher, stets genau adressatenbezogener Kommunikation der Fall sei. Sobald jedoch mehrere an einem Gespräch beteiligt sind, sei ein solches Sich-Einstellen auf den anderen nicht mehr möglich, die Rücksichten durchkreuzten und negierten sich gegenseitig, so dass sich am Ende jeder auf seine eigenen Positionen zurückziehe und nur diese mehr oder weniger lautstark kundtue. Daher sei auch der Eindruck, den „geistreiche Frauen“ (261, 29) in größerer Gesellschaft machten, durchaus unvorteilhaft; erst im Zwiegespräch gewännen sie ihre „Anmuth“ (262, 4) zurück. Zu MA I 374 gibt es in Mp XIV 1, 163 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert und noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,163). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 106 lautet: „Zwiegespräch (Brief ) sonst bei vielen jeder: das bin ich, das sag’ ich, nun haltet davon was ihr wollt!“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,106) Gerade der Aspekt, dass der Brief in MA I 374 als privilegierte Mitteilungsform erscheint, die radikal empfängerbezogen ist, hat Interpreten an diesem Abschnitt besonders interessiert, siehe Zittel 2016, 109 f. Ob die hier gegebene Kurztheorie des Briefeschreibens N.s eigener briefstellerischer Praxis (vgl. dazu Enrico Müller (Hg.) 2021c) gerecht wird, steht dahin (zum guten Briefschreiber auch MA I 319, KSA 2, 244). Wenn in 261, 15 der „Spiegel“ bemüht wird, den man beim Zwiegespräch im anderen finde, erinnert das an die narzisstische Haltung des Briefschreibers N. (vgl. auch MA I 369, KSA 2, 258 zu der im Zwiegespräch stets gesuchten Möglichkeit, sich darzustellen). Eine gerechte Würdigung des Mehrgesprächs wird man in MA I 374 jedenfalls vermissen: Es könnte doch gerade, weil es das Individuelle und das Bilaterale zurückdrängt, für sachliche Auseinandersetzung über einen Gegenstand die womöglich bessere Kommunikationskonstellation sein – noch uneingerechnet die vielen Schweiger im Mehrgespräch, die ihre Meinung nicht einbringen. 261, 20 der Sinnesart des Andern gemäss] In Mp XIV 1, 163 stattdessen: „nach der Sinnesart des Anderen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,163). 261, 23 jenen spielenden Aether der Humanität] In der Literatur des 19. Jahrhunderts wird gelegentlich auf die von Adolf Stahr auf Lessings Nathan den Weisen gemünzte Wendung zurückgegriffen, dieser habe sich „aus dem beschränktesten aller religiösen Gebiete sich durch eigne Kraft, durch die Macht des Geistes in den reinen Aether der Humanität erhoben“ (Stahr 1869, 2, 303).
738
Menschliches, Allzumenschliches I
262, 2–4 während die selben Frauen im Zwiegespräche wieder zu Weibern werden und ihre geistige Anmuth wiederfinden] „Frau“ steht hier also für eine weibliche Person, die eingebunden und eingepfercht in ihre soziale Rolle ist, während „Weib“ dieselbe Person in einem ‚natürlichen‘, ‚authentischen‘ Zustand meint. Zur Semantik von „Weib“ und „Frau“ in MA I siehe Bauer 2021.
375. MA I 375 desillusioniert die Hoffnungen auf „N a c h r u h m“ (262, 6). Keineswegs könne man damit rechnen, dass das, was jetzt als groß und schön gelte, es auch künftig tue, denn das Urteil darüber sei menschheitsgeschichtlich sehr starken Wandlungen unterworfen. Es sei nicht zu erwarten, dass die Menschheit gerade jenen Weg einschlage, auf dem einer glaubt, ihr jetzt bereits voraus zu sein. Ein verkannter „Gelehrter“ (262, 14 f.), der Entdeckungen macht, werde von den nachfolgenden Forschergenerationen zwar Recht bekommen, aber „besten Falls“ (262, 17) werde ihm ein künftiger Historiker bescheinigen, er habe richtig gelegen, sich jedoch nicht durchsetzen können. „Nicht-anerkannt-werden wird von der Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt.“ (262, 19–21) Immerhin gebe es Ausnahmen, wird tröstend beschieden, aber es seien doch meist unsere eigenen Mängel, die unserer „Anerkennung“ (262, 24) – in der Gegenwart? – im Wege stünden. Zu MA I 375 gibt es in Mp XIV 1, 71 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert und noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,71). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 112 lautet: „Das Warten auf die Anerkennung der Zukunft hat nur Sinn, wenn die Menschheit unverändert bliebe. – So hiesse nur [?]: in seiner histor. Vereinsamung einmal begriffen werden.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,112) In diesem Notat klingt das eher wie eine skeptische Selbstbetrachtung, dazu auffordernd, nicht nach Nachruhm zu schielen. Die Druckversion verallgemeinert dies zu einem kulturphilosophischen Globalräsonnement. 262, 18 diess und jenes] So in Mp XIV 1, 71 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,71), während im Druckmanuskript D 11, 150 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,150), in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 267) sowie in den Handexemplaren „das und jenes“ steht. KGW, KSA u. GoA ‚emendieren‘ wegen eines angeblichen „Lesefehler[s] von Gast“ (KGW IV 4, 219) nach Mp XIV 1, 71 zu „diess und jenes“. 262, 19 seinem Satz] So in Mp XIV 1, 71 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,71), während im Druckmanuskript D 11, 150 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,150), in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 267) sowie in den
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 374–376, KSA 2, S. 262
739
Handexemplaren „seiner Sache“ steht. KGW, KSA u. GoA ‚emendieren‘ wegen eines angeblichen „Lesefehler[s] von Gast“ (KGW IV 4, 219) nach Mp XIV 1, 71 zu „seinem Satz“. 262, 23 zumeist] In Mp XIV 1, 71 stattdessen: „gew.“ [= „gewöhnlich“] (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,71). Hier folgen KGW u. KSA mit „zumeist“ dem Druckmanuskript D 11, 150 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,150) und der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 267) und machen keinen „Lesefehler“ Gasts geltend (vgl. NK 262, 18 u. NK 262, 19).
376. MA I 376 ist zugleich der Abschluss und der längste Text des Sechsten Hauptstücks, der zwar komplexer strukturiert ist als viele der vorangehenden Abschnitte, aber doch in starkem thematischem Zusammenhang mit ihnen steht und zudem den Übergang zum Siebenten Hauptstück bildet, wo das Thema der Freundschaft im Horizont des Geschlechterverhältnisses wiederkehrt (z. B. in MA I 378, KSA 2, 265 u. MA I 390, KSA 2, 267). Das Sechste Hauptstück begann in MA I 293 mit der These, im Umgang mit anderen sei „wohlwollende Verstellung“ (239, 5) angeraten, und endet in MA I 376 wesentlich auch mit der impliziten Empfehlung, menschliche Beziehungen dadurch aufrecht zu erhalten, dass man verhehlt, was man über den Anderen eigentlich weiß (vgl. 263, 15–18). Dieses Hauptstück ist damit ringkompositorisch angelegt. Dabei bringt MA I 376 das in diesem Werkteil erstmals in MA I 296 ausdrücklich angeführte Thema der Freundschaft zu einem vorläufigen Abschluss. Schon in MA I 352 wird die Möglichkeit in den Raum gestellt, dass Freunde vermutlich nicht mehr „unsere Freunde“ wären, wenn sie uns „genau kennten“ (252, 16 f.). MA I 376 scheint zunächst als ein Zwiegespräch angelegt, wobei fast unmittelbar davor MA I 374 es als Charakteristikum des Zwiegesprächs herausgestellt hat, dass da bei nur zwei Beteiligten eine stetige Rücksichtnahme auf die Bedürfnislage des Anderen stattfinde, was bei einem Gespräch mit mehreren Teilnehmern nicht mehr möglich sei, weswegen dieses Zwiegespräch als „das vollkommene Gespräch“ (261, 6 f.) anzusehen sei. Freilich handelt es sich um ein fiktives Zwiegespräch, das zwar wie im letzten Abschnitt des Fünften Hauptstücks (MA I 292, KSA 2, 235–237) ein „du“ adressiert, das in MA I 376 aber ausschließlich in der Rede der Sprechinstanz zu Wort kommt und den Lesenden ebenso meinen kann wie ein Alter Ego. Mit diesem „du“ scheint das selbst zu Beginn gar nicht explizit in Erscheinung tretende „ich“ im Modus der Selbstbetrachtung und selbstdistanzierenden Introspektion demonstrativ das Gespräch zu suchen, um sich im Fortgang in es hineinzuversetzen und in Form der erlebten Rede unmittelbar dessen Ge-
740
Menschliches, Allzumenschliches I
danken mitzuteilen (263, 3–5). Mit der Diagnose radikaler Vereinsamung löst sich die Sprechinstanz ab 263, 5 aus dem Modus der adressatenbezogenen Rede und stellt distanzierter in der dritten Person Vermutungen darüber an, zu welchen Resultaten ein fiktiver Anderer gelangen könne, der über Freundschaft und ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit nachdenkt. Wo dessen Gedanken zwischenzeitlich durch einen neuerlichen Wechsel in die Form der erlebten Rede vergegenwärtigt werden (263, 13–15), scheint der imaginierte Andere selbst in ein Zwiegespräch über „sie“, die Freunde, verstrickt. Ein deutlicher Bruch in der Sprechhaltung ist ab 263, 22 zu registrieren, denn von da an meldet sich ein „wir“ zu Wort, das aus dem eigenen Horizont heraus spricht und glaubt, sich durch Selbsterkenntnis ins „Gleichgewicht mit den Uebrigen“ (263, 25 f.) bringen zu können. Es handelt sich um ein inklusorisches „wir“ – „so wollen wir es mit einander aushalten“ (263, 28 f.) –, das am Ende vorgeblich „Jedem“ (263, 30) noch die Stimme leiht. Dieser „Jeder“ wird seine Stimme allerdings „vielleicht“ erst in der Zukunft einer „freudigere[n] Stunde“ (263, 29 f.) mit den vier paradoxalen Schlusszeilen erheben (263, 31–34), in denen zum ersten und einzigen Mal zitatartig ein „ich“ auftritt, und zwar als „der lebende Thor“ (263, 33 f.), der jener „Jeder“ sein solle. Gegenwärtig scheint „Jeder“ noch darauf angewiesen, dass die Sprechinstanz für ihn das künftig Seinige ausspricht. Am Ende aber oder in der Zukunft – mit dem Schluss-„ich“ in der zweitletzten Zeile – zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass all die sprechenden und angesprochenen Personen in eins fallen. Auf der inhaltlichen Ebene wird das „du“ zunächst daran erinnert, dass es selbst von allen anderen Individuen radikal verschieden sei (vgl. MA I 286, KSA 2, 233, 8–10) und sogar seine Freunde zu ganz vielen Dingen in einem ganz anderen Verhältnis stünden, so dass die Wahrscheinlichkeit des Missverstehens und der Entfremdung voneinander sehr groß sei (zur Hermeneutik des Missverstehens in MA I 376 siehe Hofmann 1994, 121). Diese Exposition nimmt in gewisser Weise vorweg, was man später N.s ‚Perspektivismus‘ nennen wird – die irreduzible Perspektivengebundenheit jedes Urteils und jedes Urteilenden. Eine paradoxe Spannung ist schon in dieser Exposition angelegt, denn wenn hier tatsächlich nicht bloß ein Alter Ego des Sprechers, sondern eine dritte Person, etwa der imaginäre Leser, adressiert wird, kann der Sprecher eigentlich nicht sagen, was er sagt, nämlich, dass das „du“ sagen müsse, man befände sich auf ganz unsicherem „Boden“ (263, 3) und sei „vereinsamt“ (263, 5). Es findet geradezu eine pädagogisierende Überwältigung dieses „du“ statt, das nicht wirklich nach seiner irreduzibel eigenen Meinung gefragt wird. Ob das „du“ tatsächlich so empfindet, wenn es das bei sich selbst bedenkt („[ü]berlege nur mit dir selber“ – 262, 27), kann der Sprecher schlicht nicht wissen, wenn seine These der absoluten Verschiedenheit stimmt – es sei denn, er oder das „du“ seien fähig, einen Metastandpunkt einzunehmen, von dem aus man die Verschiedenheit der einzelnen Individuen ab-
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 376, KSA 2, S. 262
741
schätzen kann. Dann aber gäbe es einen Standpunkt jenseits der Verschiedenheit. Das affiziert auch, wie Sebastian Kaufmann gesprächsweise betont, das angebliche Wissen der „vertrautesten Freunde“ (263, 21) über ihren Freund: Denn wie können sie hier etwas „wissen“ (263, 21), wenn alle „Empfindungen“ (262, 28) und „Meinungen“ (262, 30) der Menschen letztlich auseinandergehen und überall das „Missverstehen“ (263, 1) selbst unter den besten Freunden lauert? Das „du“ wird zunächst mit der Vereinsamungsthese sich selbst überlassen, und an seine Stelle tritt „Einer“ (263, 5), der all dies vom „du“ Verstandene auch verstehe und überdies zusätzlich noch, dass alle „Meinungen“ (263, 6) und „Handlungen“ (263, 8) der Menschen sowohl „nothwendig“ als auch „unverantwortlich“ (263, 7 f.) seien – damit wird das in MA I sehr prominente Motiv der Unverantwortlichkeit aufgenommen (vgl. z. B. MA I 39, KSA 2, 64, 17 u. MA I 107, KSA 2, 103, 20–24). Da „er“ dergestalt imstande sei, die „innere Nothwendigkeit der Meinungen aus der unlösbaren Verflechtung von Charakter, Beschäftigung, Talent, Umgebung“ (263, 9 f.), also ihre radikale Kontextdeterminiertheit einzusehen, könne er sich „vielleicht“ (263, 11) auch befreien von der bitteren Empfindung, mit der „jener Weise“ (263, 12) – gemeint ist Aristoteles – seine Freunde angerufen habe, um ihnen zu sagen, dass es keine Freunde gebe. „[V]ielmehr“ (263, 13) – also im Gegensatz zu dieser möglichen negativen Empfindung, aber auch im Gegensatz zur These, es gebe keine Freunde – werde er sich eingestehen, es gebe sehr wohl Freunde, die jedoch den Weg zu ihm – „er“ spricht nun von sich in der 2. Person Singular (263, 14) – nur gefunden hätten, weil sie sich über ihn täuschten. Und sie könnten nur Freunde bleiben, wenn sie zu schweigen verstünden, nämlich darüber, was sie eigentlich über ihn, den Freund wissen. Sebastian Kaufmann benennt hier auch einen deutungsbedürftigen Modus-Wechsel des Textes: Die Formulierung „so wird er vielleicht“ (263, 11) bezeichnet nur eine hypothetische Handlung bzw. Haltung – „vielleicht“ schließt bekanntlich immer ein: ‚vielleicht auch nicht‘ –, während der darauf aufbauende Beginn des nächsten Satzes („Er wird sich vielmehr eingestehen“ – 263, 13) ‚grammatologisch‘ zu Unrecht in den Modus einer indikativischen Feststellung wechselt, als sei die Möglichkeit des ‚vielleicht auch nicht‘ schon ausgeschaltet. Nach einem gliedernden Gedankenstrich schlüpft in 263, 22 das „wir“ in die Sprecherrolle, das jetzt die Erkenntnis über die „Mitmenschen“ (263, 7) mit ihrer jeweils radikal individuellen, zugleich notwendigen und unverantwortlichen Meinungs- und Handlungsdispositionsmischung auf sich selbst anwendet: Es müsse nun sein eigenes „Wesen“ (263, 22) als gleiches Mischmasch von „Meinungen und Stimmungen“ (263, 23) begreifen, was zu einer abgemilderten Selbstgeringschätzung führe, die „uns“ wieder „in’s Gleichgewicht mit den Uebrigen“ (263, 25) bringe: Man habe zwar „gute Gründe“, die anderen „gering zu achten“ (263, 26 f.), nämlich die Einsicht in ihr Wesen, könne dann aber sich selbst von dieser Gering-
742
Menschliches, Allzumenschliches I
achtung nicht ausnehmen. Daher sei es – wird mit einem adhortativen „Und so wollen wir es…“ (263, 28) nach einem weiteren Gedankenstrich gesagt – sinnvoll, sich auch mit den andern zu vertragen, da man sich mit sich selbst ja ebenso vertrage. Das Sechste Hauptstück schließt mit dem versöhnlichen Ausblick auf eine „freudigere Stunde“, wo „Jede[r]“ „vielleicht“ (263, 29 f.) den Ausruf des „sterbende[n] Weise[n]“ (263, 32), es gebe keine Freunde, als ‚Sterbensweisheit‘ beiseite stellen kann, um sich mit der vom „Thor[en]“ „ich“ (263, 33 f.) ausgesprochenen ‚Lebensweisheit‘ an die Adresse der „Feinde“ anzufreunden, es gebe „keinen Feind“ (263, 33). Der letzte Abschnitt des Fünften Hauptstücks, MA I 292, hatte dazu geraten, sich mit sich selbst abzufinden und anzufreunden, machte also ein Angebot zur Selbstversöhnung. Der letzte Abschnitt des Sechsten Abschnitts rät dazu, sich mit allen andern abzufinden und anzufreunden, macht ein Angebot in Weltversöhnung, wenngleich, wie Sebastian Kaufmann einwirft, der Text den Konzepten der Freund- und Feindschaft gleichermaßen eine Absage erteilt. Dem Weisen wird ja in dem Gedankenexperiment nicht widersprochen, sondern nur seine bittere Empfindung angesichts der Einsicht in die Nicht-Existenz von Freundschaft nicht geteilt. Erkauft ist das Weltversöhnungsangebot in MA I 376 allerdings mit einer radikalen Ernüchterung über das Selbst, das nicht mehr als ein Bündel kontingenter Erfahrungen ist, sowie einer ebenso radikalen Ernüchterung über die Möglichkeit und die Bedingungen von Freundschaft. Zu MA I 376 gibt es in Mp XIV 1, 155 eine ‚Reinschrift‘, mit durchgestrichenem rotem „B“ und blauem „A Schluss“ markiert, noch ohne Überschrift und mit einigen Korrekturen. Sie reicht bis zum späteren Drucktext in 263, 30 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,155); die Schlusszeilen finden sich dann in U II 5, 192, vgl. NK 263, 31–34. 263, 9 Nothwendigkeit der Meinungen] In Mp XIV 1, 155 unterstrichen (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,155). 263, 11 f. so wird er vielleicht die Bitterkeit und Schärfe jener Empfindung los, mit der jener Weise rief: „Freunde, es giebt keine Freunde!“] KGW, KSA u. GoA folgen mit „Bitterkeit und Schärfe jener Empfindung“ textlich Mp XIV 1, 155, während im Druckmanuskript D 11, 150 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,150), in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 268) sowie in N.s Handexemplaren stattdessen „Bitterkeit jener Schärfe der Empfindung“ steht. „[J]ener Weise“ ist gemäß der Überlieferung Aristoteles, in dessen Eudemischer Ethik (VII 12, 1245b20) freilich nur steht: „Es hat keinen Freund, wer viele Freunde hat“ (vgl. auch Nikomachische Ethik IX 10). Die eigentliche Überlieferung gründet auf dem N. wohlbekannten Werk von Diogenes Laertius, wo die fragliche Stelle – De vitis V 21 – in der von N. benutzten Übersetzung von Christian August Borheck lautet: „Favorin erzählt auch im 2. Buche seiner Denkwürdigkeiten, er [sc. Aristoteles] habe bei
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 376, KSA 2, S. 263
743
jeder Gelegenheit gesagt: Freunde, keiner ist Freund.“ (Diogenes Laertius 1807, 1, 295 – im Original: „Φησὶ δὲ Φαβωρῖνος ἐν τῷ δευτέρῳ τῶν Ἀπομνημονευμάτων ὡς ἑκάστοτε λέγοι, ‚ᾯ φίλοι οὐδεὶς φίλος‘.“ – Die wörtliche Übersetzung des Kernsatzes müsste lauten: „Wem Freunde kein Freund“.) Brandt 1999, 203 merkt dazu an: „Gabriel Cobet übersetzt korrekt: ‚Cui amici, amicus nemo‘. Die lateinische Ausgabe von Kraus aus dem Jahr 1769 hat jedoch: ‚amici, nemo amicus‘. In der Vorlage ist offenbar aus dem Dativ des Personalpronoms ‚wem‘ (ᾧ) das exklamative ‚O‘ (ὦ) geworden“ (vgl. auch Nehamas 2016, Kapitel 1, Anm. 25, der mit Giorgio Agamben die ᾧ-Emendation auf Casaubons Diogenes-Laertius-Edition von 1616 zurückführt, die Montaigne noch nicht gekannt haben konnte). Borhecks Übersetzung geht ebenfalls von einer im Griechischen wohl nicht gemeinten Ansprache der Freunde aus, die sich als kreative Fehllesung allerdings durch die Rezeptionsgeschichte zieht. Besonders bekannt geworden ist die Adaption in Michel de Montaignes Essai De l’amitié, und zwar an einer Stelle, die von den gewöhnlichen Freunden handelt: „à l’endroict desquelles il fault employer le mot qu’Aristote avoit tres familier: ‚О mes amis! il n’y a nul amy.‘“ (Montaigne 1864, 85) In der deutschen Übersetzung von Johann Daniel Tietz, die N. vermutlich intensiver studiert hat als das immerhin unter seinen Büchern erhaltene französische Original, liest sich das im etwas größeren Zusammenhang: „Bey diesen andern [sc. gemeinen] Freundschaften muß man allezeit den Zaum in der Hand behalten, und klug und vorsichtig gehen. Das Band ist nicht so verknüpft, daß man sich vollkommen daruf verlassen könnte. Liebe ihn, sagte Chilon, als wenn du ihn einmal /337/ hassen würdest: hasste ihn, als wenn du ihn dereinst lieben würdest. Diese Lehre, welche in dieser ächten und vollkommensten Freundschaft so abscheulich ist, ist sehr heilsam bey den gewöhnlichen und gemeinen Freundschaften. In Ansehung derer muß man sich der Worte bedienen, welche Aristoteles oft im Munde führte: Meine lieben Freunde, es gibt keine Freunde!“ (Montaigne 1753–1754, 1, 336 f.) Während also das Original in der Eudemischen Ethik und die apophthegmatische Zuspitzung von Diogenes Laertius einen Gegensatz zwischen der Singularität des (einen, wahren) Freundes und der vielen Freunde stipuliert, bleibt Montaigne auf Französisch zwar bei der falschen Diogenes Laertius-Lesart, die eine Ansprache der Freunde annimmt, setzt aber mit „nul amy“ den korrekten Singular, während die von N. gelesene Übersetzung sowohl die in der griechischen Vorlage eigentlich fehlende Freundesansprache brachte als auch den Plural statt des Singulars: „es gibt keine Freunde“ statt „es gibt keinen Freund“. Wohl wesentlich über Montaignes Vermittlung wurde im 18. Jahrhundert das Motiv gelegentlich aufgegriffen, und zwar in unterschiedlicher Weise: Die von Montinari in KSA 14, 144 u. KGW IV 4, 220 als Quelle für MA I 376 ins Spiel gebrachte Fabel Le lièvre, ses amis et les deux chevreuils von Jean-Pierre Claris de
744
Menschliches, Allzumenschliches I
Florian zitiert zwar auch die doppelt pluralische Form mit Freundesansprache: „Mes amis, il n’est point d’amis“ (Florian 1870, 108), aber zieht dann am Ende die aristotelische Moral heran, dass nicht viele Freunde brauche, wer einen wahren Freund habe (ebd., 110). Eine Bekanntschaft N.s mit Florians Fabeln ist nicht belegt und scheint wenig wahrscheinlich. Immanuel Kant wiederum benutzt in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht genau die Formulierung aus Tietz’ Montaigne-Übersetzung: „Meine lieben Freunde: es giebt keinen Freund!“ (AA VII, 152; dazu ausführlich Brandt 1999, 203 f.) Immerhin könnte eine andere Stelle in MA I 248 nahelegen, dass N. zur Entstehungszeit von MA I (in) Kants Anthropologie gelesen hat (vgl. NK 206, 29–32). Mit Sicherheit studiert hat er Claude Adrien Helvétius’ De l’esprit unter dem Titel Discurs über den Geist des Menschen, übersetzt von Johann Gabriel Forkert (1760; vgl. z. B. Venturelli 2003, 145, Fn. 109 sowie die Quellennachweise aus unterschiedlichen Schaffensphasen N.s bei Campioni 2009b, Arenas-Dolz 2010a und Morillas-Esteban 2011a). Und erst in der Adaption von Helvétius wird jene „Bitterkeit und Schärfe“ fühlbar, die der „Weise“ nach MA I 376 mit seinem Ausspruch verbunden haben soll: Während Aristoteles ganz gelassen den Freund gegen die Freunde ausspielte, was im originalen Diogenes Laertius noch greifbar ist, behält Montaigne seinen abschlägigen Bescheid allein den gemeinen und gewöhnlichen Freunden vor, ohne auch nur einen Augenblick lang an der prinzipiellen Möglichkeit von echter Freundschaft zu zweifeln. Es scheint so, als sei der eigentliche Widerpart, den 263, 11 f. evoziert, der düstere Blick, den Helvétius auf Freundschaft unter den Bedingungen einer hochgezüchteten Zivilisation wirft: „So wie man in alle Häuser tritt, wird man davon überführet: daß der Pracht und das, was man gesellschaftliches Wesen nennet, eine sehr große Menge Leute frey von der Bedürfniß der Freundschaft gemachet habe. Keine Bewegursache und kein Vortheil ist von der Wichtigkeit, daß er uns gegenwärtig die wesentlichen Mängel unserer Freunde erdulden ließe. Es giebt daher keine Freundschaft mehr: man verknüpft auch mit dem Worte Freund nicht mehr die vormaligen Begriffe; und man kann in diesem Zeitalter sehr wohl mit dem Aristoteles ausrufen: Meine lieben Freunde! es giebt keine Freunde mehr.“ (Helvetius 1760, 357) Dazu wird in der Fußnote r) noch ausgeführt: „Ein jeder bethet dem Aristoteles nach, es gebe keine Freunde; und dennoch behauptet jeder von sich, er sey ein guter Freund. Da solche Widersprüche behauptet werden, muß es in der Freundschaft viele Häuchler, und auch viele Leute geben, die sich selbst gar nicht kennen. Diese letztern werden sich, wie ich es bereits gesaget habe, wider einige Sätze dieses Capitels entrüsten. Sie von werden wider mich schreyen, und unglücklicher Weise wird die Erfahrung für mich Zeuge seyn.“ (Ebd., 357, Fn. r) Hier kommt jenes Motiv der Selbsterkenntnis zum Tragen, das auch in MA I 376 von 263, 22 an aufgerufen wird. Dabei setzt Helvétius einen gegenwartsdiagnostischen Akzent, besonders betont durch die Hinzufügung des
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 376, KSA 2, S. 263
745
„mehr“ und die damit einhergehende Suggestion, früher habe es einmal noch wirkliche Freundschaft gegeben. MA I 376 hingegen lässt einen solchen zeitlichen Index beiseite und verzichtet etwa auf die in MA I 354 anklingende Idealisierung antiker Freundschaften, um stattdessen aus der Individualität eine womöglich weitgehende Inkompatibilität der Freunde abzuleiten. Diesen anthropologischpessimistischen Verdacht auszuräumen, unternimmt MA I 376 ab 263, 13 – wobei dann für gelingende Freundschaft statt rückhaltloser Offenherzigkeit wesentlich (Ver-)Schweigen-Können als konstitutiv erscheint. In seinen Politiques de l’amitié stellt Jacques Derrida klar, dass die lange gängige Diogenes-Laertius-Übersetzung mit der Ansprache der Freunde philologisch wohl nicht haltbar ist (Derrida 1994, 219). Das ändert freilich nichts an der eminenten Wirkungsgeschichte der „О mes amis! il n’y a nul amy“-Version, die ihn vordringlich interessiert. Vgl. NK 263, 29 f. 263, 19–21 Giebt es Menschen, welche nicht tödtlich zu verletzen sind, wenn sie erführen, was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen wissen?] Das Wort „wissen“ (263, 21) ist in Mp XIV 1, 155 unterstrichen (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,155). Zur „tödtlichen Beleidigung“, die Wagner N. zugefügt haben soll, vgl. NK 240, 10–14 u. v. a. NK KSA 6, 11, 5–9. 263, 26 jeden] In Mp XIV 1, 155 unterstrichen (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,155). 263, 29 f. und vielleicht kommt Jedem auch einmal die freudigere Stunde, wo er sagt] In Mp XIV 1, 155 steht „ruft“ statt „sagt“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,155). Auf das „und vielleicht kommt“ legt Derrida (vgl. NK 263, 11 f.) ein Schwergewicht seiner Analyse: „peut-être viendra, il arrivera peut-être, l’événement de ce qui vient (und vielleicht kommt…), et ce sera l’heure de joie, une heure de naissance mais aussi de résurrection, en tout cas le passage du mourant au vivant“ (Derrida 1994, 45). In diesem „vielleicht“ drücke sich „vielleicht“ die Hoffnung auf Zukunftsfreundschaften aus und auf ein Befreundet-Sein mit der Zukunft: „Or la pensée du ‚peut-être‘ engage peut-être la seule pensée possible de l’événement. De l’amitié à venir et de l’amitié pour l’avenir.“ (Ebd., 46; vgl. auch Freregger 2016, 144) Dass diese „Stunde“ „vielleicht“ „Jedem“ kommen werde, gerät in dieser messianistischen Lesart aus dem Blick, ebenso mit der zumindest irreführenden Übersetzung „heure de joie“ (Derrida 1994, 45 u. 68) für „freudigere Stunde“ der Komparativ: Die fragliche Stunde ist keineswegs diejenige letzter Erfüllung oder gar der „résurrection“, der Auferstehung. Der Einleitungssatz für die paradoxierende Entgegensetzung in 263, 31–34 ist nüchtern gehalten: Weder stellt er ein Elysium noch einen elitären Erkenntniszustand der Wenigsten in Aussicht. Vielmehr kann „Jeder“ so weit kommen – und dann wird
746
Menschliches, Allzumenschliches I
es ihm „freudiger“ zu Mute sein, als wenn er sich mit der vermeintlichen Unmöglichkeit von Freundschaft grämt. Ein Himmelreich auf Erden wird das schwerlich sein. Die „freudigere Stunde“ der Zukunft scheint vorauszusetzen, dass es irgendwann einmal auch eine zumindest „freudige“ Stunde gegeben hat: Das könnte die Gegenwart des „wir“ sein, das sich mit sich selbst und seinen „Bekannten“ (263, 26) arrangieren zu können wähnt. Aber vielleicht – markiert durch die Wiederholung des „vielleicht“ in 263, 29, das schon in 263, 11 benutzt wurde – ist die fragliche Stunde diejenige, als „er“ einsah, er müsse die bittere Stimmung abstreifen, die den Satz, es gebe keine Freunde, einst begleitet hatte (263, 11 f.). 263, 31–34 „Freunde, es giebt keine Freunde!“ so rief der sterbende Weise; / „Feinde, es giebt keinen Feind!“ – ruf’ ich, der lebende Thor.] Im Druckmanuskript D 11, 150 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,150) und in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 269) fehlt das Komma nach dem „ich“ (263, 33), das KGW u. KSA mit der GoA nach U II 5, 192 ergänzen, wo es heißt: „‚Freunde, es giebt keine Freunde‘ so rief der / sterbende Weise; / ‚Freunde ˹Feinde˺, es giebt keinen Feind‘ / ruf’ ich, der lebende Thor. / 12 März 1877.“ (http://www.nietzschesource.org/U-II-5,192) Das fragliche Großoktavheft U II 5, das diverse Notate aus dem Umkreis von UB III SE, UB IV WB und MA I enthält, wird gemeinhin auf den Zeitraum von 1874 bis spätestens Dezember 1876 datiert (siehe http://www.nietzschesource.org/U-II-5). Zweifellos aber findet sich dort auf Seite 192 vertikal von unten nach oben über die Seite der zitierte Spruch, wobei weder auf den Seiten vorher noch auf den Seiten nachher weitere Vorarbeiten zu MA I 376 zu finden sind: Warum hat N. diesen Satz in ein sonst nicht mehr benutztes Notizbuch eingetragen – und was hat es mit der Datierung auf sich? CBT 396 f. vermeldet für den März 1877 keine besonderen Vorkommnisse, außer, dass die Gruppe der Freunde in Sorrent für N. Heiratspläne geschmiedet und nach einer möglichen Gattin Ausschau gehalten hätte, und dass man vor dem 4. März einen gemeinsamen Ausflug nach Pompeii unternommen habe. Immerhin schrieb N. am fraglichen 12. März 1877 eine Karte an Franziska und Elisabeth N., die sich über winterliches, windiges Regenwetter beklagt und über die Freunde Auskunft gibt: „In 2–3 Wochen reisen Dr Rée und Brenner ab. Seydlitz, mir s e h r befreundet, kommt um dieselbe Zeit hier an, mit seiner Frau. […] Gersdorff ist in die diplomat. Carrière eingetreten. Rohde verheirathet sich Pfingsten. Overbecks Mutter ist gestorben. – Mir geht es im Ganzen nicht besser, aber ich hoffe auf die bessere Jahreszeit.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 600, S. 225, Z. 5–11) Sind das die „Freunde“, über die N. an diesem Tag nachdenkt? Die vier Schlusszeilen lassen sich mit Kaufmann 2017, 11 als Epigramm verstehen, das durchaus den Charakter eines Gedichtes hat, was wiederum das „Ineins
Stellenkommentar MA I Sechstes Hauptstück 376, KSA 2, S. 263
747
von Philosophie und Dichtung“ demonstriert. Beglaubigt wird dieser formale Befund auch durch die Art der Notation im Heft U II 5, 192, die wie ein Albumblatt oder ein Widmungsepigramm anmutet. Dass der „Weise“, nämlich Aristoteles, „sterbend[.]“ (263, 31) gewesen sei, als er den Satz über die nicht existierenden Freunde an die Freunde adressierte, steht so weder in den antiken noch in den neuzeitlichen Quellen. Vielmehr wird etwa bei Diogenes Laertius darauf hingewiesen, dass Aristoteles das „bei jeder Gelegenheit“ gesagt habe, vgl. NK 263, 11 f. Das „sterbend“ passt aber zur „Bitterkeit und Schärfe der Empfindung“ (263, 11), die MA I 376 dem Satz unterlegt: Ein desillusionierter Weiser spricht sein letztes Urteil über die Menschen und segnet dann gramvoll das Zeitliche. Ganz neu hinzu kommt in MA I 376 der Gegen-Satz zu dieser Sterbensweisheit, nämlich die an die „Feinde“ gerichtete Lebensweisheit, wonach es keinen Feind gäbe. Denn wenn tatsächlich, wie es weiter oben im Text „er“ und „wir“ behaupten, niemand für sein Sein, seine Meinungen, Stimmungen und Handlungen verantwortlich ist, dann hätte auch Feindschaft gar keinen Sinn, und wer glaubte, Feind zu sein oder Feinde nötig zu haben, befände sich im Irrtum (ob Carl Schmitt sich mit dieser Stelle hätte anfreunden können?). Das Phantasma der Feindschaft löst sich dereinst womöglich auf in einem allgemeinen, vorsichtigen Wohlwollen gegenüber den „Mitmenschen“ (263, 7) – wenn man denn bereit ist, sich auf die Torheit des Toren, der hier „ich“ sagt, einzulassen (zur Ideengeschichte des Toren siehe Sommer 2010d) – was den Lesenden wiederum einige Selbstüberwindungskraft abnötigen dürfte. Der Gegensatz von Weisheit und Torheit steht vor dem Hintergrund der paulinischen Umkehrung, wonach die Weisheit dieser Welt bei Gott Torheit sei – und der inspirierte Tor der wahrhaft Weise sei (vgl. 1. Korinther 3, 18 f.). Das Ende von MA I 376 macht natürlich keine religiös-christlichen Angebote, eignet sich jedoch gegen den sterbenden Weisen die Figur des lebenden Toren an, der zwar ohne Legitimation und Gründe, vielleicht aber wahr spricht (vgl. auch Wagners mit der „reinen Thorheit“ belegte Parsifal-Figur, vgl. z. B. NK KSA 6, 130, 14–17). In N.s Œuvre werden Weisheit und Torheit oft und auf unterschiedliche Weise verschränkt, vgl. z. B. FW 107 und dazu NK KSA 3, 464, 27 f. u. NK KSA 3, 464, 32–465, 1 So kritisch sich N.s Sprechinstanzen wiederholt zur christlichen Lehre der Feindesliebe äußern (vgl. z. B. NK KSA 5, 104, 2, NK KSA 5, 152, 18–20 u. NK KSA 5, 282, 1 f.), so kann doch etwa GM I 10 dem liebe- und rücksichtsvollen Umgang mit Feinden durchaus auch für eine vornehme Moral etwas abgewinnen (vgl. NK KSA 5, 273, 26–33). Nach der Aussicht, die MA I 376 eröffnet, könnte sich Feindschaft dank hinreichender Selbstaufklärung der Menschheit eines Tages in einer „freudigeren Stunde“ von selbst erledigen – mit ihr freilich auch die Freundschaft.
748
Menschliches, Allzumenschliches I
Siebentes Hauptstück. Weib und Kind. Wie das Sechste Hauptstück beginnt auch das Siebente mit einer Anzahl von Kurzaphorismen. Von MA I 407 an wächst im Durchschnitt – bei Ausnahmen – der Umfang der Abschnitte. Trotz der Überschrift werden hier auch Familie, Elternschaft, Vaterschaft (z. B. MA I 381 u. 382) oder Männer (in MA I 384) thematisiert. Zur Deutung des Siebenten Hauptstücks ausführlich Marton 2017, Marton 2021, 44–60 und in ausgeweiteter Form Marton 2022, 47–70.
377. MA I 377 gibt die Tonlage für das Siebente Hauptstück vor, die zumindest den gegen N. stets im Raum stehenden Vorwurf der Misogynie nicht beglaubigt (vgl. schon Förster-Nietzsche 1922, 405): „Das vollkommene Weib“ (265, 4 f.) sei eine höherer Typus Mensch „als der vollkommene Mann“ (265, 5 f.), daher auch seltener. Die Zoologie bestätige dies. Der erste Satz 265, 4–6 ist apodiktisch formuliert. Erst der zweite, nachgeschobene Satz 265, 6–7 relativiert ihn, indem behauptet wird, die Naturwissenschaft mache ihn „wahrscheinlich“. Zu MA I 377 gibt es in Mp XIV 1, 339 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift. Den letzten Satz (vgl. NK 265, 6 f.) hat N. nachträglich hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,339 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,340). Diese Textfassung ohne den letzten Satz findet sich auch in N II 1, 196 (http://www.nietzschesource. org/DFGA/N-II-1,196) und U II 5, 97 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5, 97). Das Motiv des „vollkommenen Weibes“ kehrt in MA II VM 274, KSA 2, 495 und der Sache nach in FW 70 wieder, vgl. NK KSA 3, 428, 15–17, ironisch gebrochen in GD Sprüche und Pfeile 20, vgl. NK KSA 6, 62, 9–11. MA I 377 gibt keine Hinsichten an, nach denen der Grad von Vollkommenheit zu messen wäre – und der Vergleich mit den „Thiere[n]“ (265, 7) fehlte in den ursprünglichen Textversionen, so dass die Vollkommenheit nicht zwingend in der Zurückstellung des Menschen unter die Tiere, seiner Naturalisierung zu suchen ist (zum Thema global Sommer 2015g), also in der biologischen Überlegenheit der Frauen, beispielsweise ihrer Fähigkeit, Kinder gebären zu können. Worin diese Vollkommenheit aber sonst bestehen könnte, verrät MA I 377 nicht. 265, 6 f. Die Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz wahrscheinlich zu machen.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „Die Naturwissenschaft bietet ein Mittel, diesen Satz wahrscheinlich zu machen.“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16487 50028/309/) So hat N. es auch Brenners Druckmanuskript Mp XIV 1, 340 nachträglich hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,340).
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 377–378, KSA 2, S. 265
749
378. MA I 378 verquickt Freundschaft und Ehe: Der „beste Freund“ (265, 9) werde wohl auch die „beste Gattin“ (265, 10) abbekommen, weil das „Talent zur Freundschaft“ (265, 11) für eine gute Ehe konstitutiv sei. Zu MA I 378 gibt es in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 67 f. eine mit drei blauen Strichen markierte ‚Reinschrift‘, ohne späteren Titel. Sie ist aber ausführlicher als die spätere Druckfassung: „Der besste [sic] Freund wird wahrscheinlich die besste [sic] Gattin bekommen; einmal, weil in ihm der Instinct der Freundschaft sehr stark ist und sodann, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/M-I-1,67 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,68) Im Druckmanuskript D 11, 152 stammt der Text nicht wie gewöhnlich von Köselitzens, sondern von N.s Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,152). Das Thema wird auch im Nachlass gelegentlich umkreist, so in NL 1876, KSA 8, 18[37], 325, 1–5: „Das Beste an der Ehe ist die Freundschaft. Ist diese gross genug, so vermag sie selbst über das Aphrodisische mildernd hinwegzusehen und hinwegzukommen. Ohne Freundschaft macht die Ehe beide Theile gemein denkend und verachtungsvoll.“ Und dazu das negative Gegenstück in NL 1876/77, KSA 8, 23[72], 427, 5 f.: „Nicht die Abwesenheit der Liebe, sondern die Abwesenheit der Freundschaft macht die unglücklichen Ehen.“ MA I 378 blendet aus, worin denn die Bestheit eines Freundes besteht. Ist denn „bester Freund“ nicht ein zweistelliges Prädikat – man ist für jemanden der beste Freund, für andere aber nicht? Der Aphorismus suggeriert, „bester Freund“ zu sein, sei eine bezugsunabhängige Eigenschaft. Die Vorstellung, dass Freundschaft für Ehe konstitutiv sei, ist übrigens topisch, auch wenn die meisten Philosophen nicht so weit gegangen sind wie Johann Gottlieb Fichte in seinem System der Sittenlehre: „Es giebt Seiten des menschlichen Charakters, und gerade die edelsten desselben, die nur in der Ehe ausgebildet werden können: die hingebende Liebe des Weibes; die alles für seine Gesellin aufopfernde Grossmuth des Mannes; die Nothwendigkeit, ehrwürdig zu seyn, wenn man es nicht um sein Selbst willen wollte, um des Gatten willen; die wahre Freundschaft – Freundschaft ist nur in der Ehe möglich, da aber erfolgt sie nothwendig“ (Fichte 1845, 4, 332). Als Exempel für den „besten Freund“, der diese Bestheit auch in der Ehe bewährt, könnte N. Franz Overbeck vor Augen gestanden haben, der sich 1876 mit Ida Rothpletz verheiratete und mit ihr eine Ehe auf Augenhöhe führte (vgl. Ida Overbecks Selbstzeugnisse, ediert in Sainte-Beuve 2014, 54–75). Zu MA I 378 vgl. auch Stegmaier 2012, 426 f. sowie NK 3/2.1, S. 546–550 (zu FW 61). 265, 11 Talent zur Freundschaft] Vgl. NK 257, 16.
750
Menschliches, Allzumenschliches I
379. MA I 379 versucht sich in einer generationsübergreifenden Psychologie, wenn der Abschnitt die Behauptung starkmacht, „[d]ie unaufgelösten Dissonanzen im Verhältniss von Charakter und Gesinnung der Eltern“ (265, 13 f.) wirkten in den Kindern fort. Allerdings verrät der Text nicht, ob die jeweiligen inneren Dissonanzen der beiden Elternteile auf biologischem Weg vererben oder ob die ausgetragenen und spürbaren Dissonanzen zwischen den Eltern im Elternhaus sich – auf dem Weg der Prägung (‚unglückliche Kindheit‘) – auf die Kinder übertragen. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass durch die Mischung des väterlichen und mütterlichen Erbgutes in den Sprösslingen die Dissonanz der Eltern erst sichtbaren Ausdruck findet. Zu MA I 379 gibt es in Mp XIV 1, 335 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit zwei blauen Strichen und wie üblich noch ohne Überschrift, dafür mit abweichendem Wortlaut: „Die unaufgelösten Dissonanzen in Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,335 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,336) Eine andere Version findet sich in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 66: „Die unaufgelösten Dissonanzen in Charakter und Gesinnung der Aeltern werden sich in dem Kinde wieder finden, daraus wird seine innere Leidensgeschichte abzuleiten sein.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ M-I-1,66) Eine frühere Fassung in U II 5, 181 lautet: „Kinder müssen die unaufgelösten Dissonanzen zwischen den Eltern nachher in sich widerfinden [sic] u. an ihnen leiden.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,181) Heutige psychologischepigenetische Theorien der Traumavererbung werden hier präformiert.
380. MA I 380 thematisiert die mütterliche Prägung: „Jedermann[s]“ (265, 18) Verhältnis zu Frauen werde von seinem Mutterbild her bestimmt, von dem es abhänge, ob er die Frauen verehre, geringschätze oder sie ihm gleichgültig seien. Zu MA I 380 gibt es in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 70 eine Vorarbeit: „Männer lieben die Weiber, je nachdem sie das Bild des Weibes von ihrer Mutter her in sich tragen.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,70) Im Druckmanuskript D 11, 152 stammt der Text nicht wie gewöhnlich von Köselitzens, sondern von N.s Hand (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,152). Eine frühere Fassung in U II 5, 173 lautet: „Männer lieben die Weiber, je nach dem sie durch die Mutter das Bild des Weibes in sich tragen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,173)
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 379–382, KSA 2, S. 265–266
751
381. Hatte MA I 380 noch die unausweichliche Prägekraft des Mutterbildes hervorgehoben, scheint nach MA I 381 der Vater vollends austauschbar: Ist er schlecht, solle man sich selbst einen guten anschaffen. Zu MA I 381 gibt es in Mp XIV 1, 329 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,329). NL 1876, KSA 8, 19[13], 334, 15–18 ist noch ausführlicher: „Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen. Daß ein Sohn sich einen Vater adoptirt, ist vernünftiger als das Gegentheil: weil er sehr viel genauer weiß, was er braucht.“ Man könnte darüber zu spekulieren geneigt sein, wen denn N. in Ermangelung nicht nur eines „guten“, sondern überhaupt eines Vaters – N.s Vater starb 1849, als der Sohn noch keine fünf Jahre alt war – sich als Ersatzvater auserkoren hatte: Friedrich Ritschl? Richard Wagner? Jacob Burckhardt? Vgl. Hermann Pachnickes Briefe an N. vom 01. 05. 1879, KGB II 6/2, Nr. 1191, S. 1104–1107 und vom 3. 10. 1879, KGB II 6/2, Nr. 1236, S. 1179, sich auf MA I 381 berufend und N. zum Vater wählend. 266, 2 D i e N a t u r c o r r i g i r e n.] Im Druckmanuskript D 11, 152 korrigiert aus: „Ohne guten Vater“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,152). „Die Kunst dagegen soll die Natur corrigiren“, heißt es bei Julian Schmidt im Blick auf Ludwig Tieck (Schmidt 1855, 2, 402). In Jean-Jacques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse (Cinquière partie, lettre III) wird diskutiert, ob „Corriger la nature!“ (Rousseau 1875, 479) die richtige Devise für Erziehung sein könne.
382. MA I 382 ist paradoxal gegen die herrschende Meinung formuliert, es sei für einen Mann gut, möglichst (viele) Söhne zu haben: Väter hätten „viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Söhne haben“ (266, 5 f.). Warum, mögen sich die Lesenden fragen, muss man dies wieder gut machen – und wie macht man das „wieder gut“? Durch Erziehung? Oder indem man sich nicht um sie kümmert und sein eigenes Werk schafft? Ist hier eine pessimistische Grundhaltung angesprochen, wonach es besser wäre, nicht geboren zu sein und also Fortpflanzung immer schuldhaft ist (vgl. MA I 386, KSA 2, 266)? Warum wird nicht über Mütter und Töchter oder Eltern und Kinder gesprochen? Zu MA I 382 gibt es in Mp XIV 1, 339 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,339). NL 1876, KSA 8, 18[40], 325, 14–18 klärt den Kontext des Aper-
752
Menschliches, Allzumenschliches I
çus und deplausibilisiert manche Deutungen: „Für die Existenz braucht kein Sohn seinem Vater dankbar zu sein, vielleicht darf er ihm sogar wegen bestimmter vererbter Eigenschaften (Hang zu Jähzorn, Wollust) zürnen. Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Söhne haben.“ Der auf die Folgegeneration gerichtete Wiedergutmachungsgedanke wird in Za nicht lediglich aufgegriffen, sondern erhält dort programmatische Bedeutung im Sinne einer Verpflichtung auf die Zukunft: „An meinen Kindern will ich es gut machen, dass ich meiner Väter Kind bin: und an aller Zukunft – d i e s e Gegenwart!“ (Za II Vom Lande der Bildung, KSA 4, 155, 30 f.; vgl. auch KSA 4, 255, 26 f.) 266, 5 Vä t e r u n d S ö h n e.] Der Titel wird erst im Druckmanuskript D 11, 152 hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,152). N. hatte Iwan Turgenjews 1861 auf russisch, 1869 erstmals unter dem Titel Väter und Söhne auf deutsch erschienenen Roman Отцы и дети im Sommer 1873 erstmals gelesen (KSA 15, 50); er gewinnt für N.s spätere Nihilismus-Diagnose eine gewisse Bedeutung, vgl. NK KSA 5, 23, 8–12.
383. MA I 383 handelt von einem spezifischen sozialen Verblendungszusammenhang, nämlich demjenigen vornehmer Frauen, die die Existenz einer Sache negieren, bloß weil man von ihr „in der Gesellschaft“ (266, 10) nicht sprechen kann. Um Beispiele ist die Sentenz allerdings verlegen. Zu MA I 383 gibt es in Mp XIV 1, 325 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,325). Identisch ist die Fassung in U II 5, 69 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5, 69).
384. Nach MA I 384 sind Männer für „Selbstverachtung“ (266, 13) anfällig, wovon sie die Liebe einer klugen Frau aber kurieren könne. Zu MA I 384 gibt es in Mp XIV 1, 137 eine ‚Reinschrift‘, mit zwei blauen Strichen markiert und bereits mit der Überschrift „Eine Männer-Krankheit“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,137). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 15 lautet: „Gegen die Männer-Krankheit der Selbstverachtung ist das Heilmittel, von einem klugen Weib geliebt werden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II3,15). Psychopathologisierend wird die Selbstverachtung in NL 1876/77, KSA 8, 23[113], 443, 9–13 analysiert: „S e l b s t v e r a c h t u n g. – Jene heftige Neigung zur
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 382–386, KSA 2, S. 266
753
Selbstprüfung und -Verachtung, die man bei Sündern Büssern und Heiligen wahrnimmt, ist häufig auf eine allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (oder der Nerven) zurückzuführen, gegen welche sie auch die schmerzhaftesten Reizmittel anwenden.“ Ob N. in MA I 384 zu sich selbst spricht – als Freunde und Verwandte Heiratspläne für ihn schmiedeten? Marton 2021, 31 thematisiert die Schwierigkeiten, die eine autobiographische Deutung von MA I 384 aufwirft.
385. MA I 385 beschreibt eine besondere Art der Eifersucht, nämlich die von Müttern auf die Erfolge von Freunden ihrer Söhne. Erklärt wird dies damit, dass eine Mutter in ihrem Sohn sich selbst mehr liebe als ihn. Zu MA I 385 gibt es in Mp XIV 1, 212 eine Vorfassung, mit einem roten „S“ und zwei blauen Strichen markiert, noch ohne Überschrift: „Mütter sind ˹gewöhnl.˺ eifersüchtig auf die Freunde ihrer Söhne, wenn diese besondere Erfolge haben, Väter seltener“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,212). Im Druckmanuskript D 11, 152 wird zunächst in Köselitzens Handschrift diese Fassung übernommen, dann aber von N. „Väter seltener“ gestrichen und ergänzt: „Also liebt eine Mutter sich mehr in ihrem Sohne als den Sohn selber.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,152) Ob die Behauptung von MA I 385 beispielsweise auf Franziska Nietzsche zutraf, müsste man an ihrem Umgang mit N.s Freunden aus Briefen zu eruieren versuchen. 266, 16–18 Mütter sind leicht eifersüchtig auf die Freunde ihrer Söhne, wenn diese besondere Erfolge haben. Gewöhnlich liebt eine Mutter] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „Mütter sind gewöhnlich eifersüchtig auf die Freunde ihrer Söhne, wenn diese besondere Erfolge haben. Also liebt eine Mutter“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16487 50028/310/).
386. Ist jemand einmal reif geworden, so könne ihn, so MA I 386, das Gefühl überkommen, „dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen“ (266, 23). Zu MA I 386 gibt es in Mp XIV 1, 337 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,337). Eine andere Version findet sich in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 72: „In der Mitte des Lebens überkommt den Menschen das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeu-
754
Menschliches, Allzumenschliches I
gen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,72) Diese Fassung stammt aus U II 5, 197 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,197). MA I 386 könnte zum einen mit der „Selbstverachtung“ in MA I 384, KSA 2, 266, 13 korreliert und egodestruktiv gedeutet werden: Jemand empfindet sein eigenes Leben als misslungen und befindet deshalb, es wäre besser, nie gewesen zu sein. Zum anderen ließe sich MA I 386 auch als Ausdruck einer allgemeinen pessimistischen Einsicht verstehen: Es wäre überhaupt besser, wenn nichts entstünde, wie Goethes Mephisto bekanntlich meinte (Goethe: Faust I, V. 1341). Das behaupten Pessimisten vom Schlage Schopenhauers und Mainländers, vgl. auch die Weisheit des Silen in GT 3, dazu NK KSA 1, 35, 12–24. 266, 21 Ve r n ü n f t i g e U n v e r n u n f t.] Im Druckmanuskript D 11, 152 korrigiert aus: „Schwüle Empfindung des Daseins“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,152). „Vernünftige Unvernunft“ ist die Überschrift von Buch IX, Abschnitt 27 in der von Gotthold Ephraim Lessing und Karl Wilhelm Ramler neu herausgegebenen Sammlung Sinngedichte von Friedrich von Logau (Logau 1759, 260).
387. MA I 387 unterscheidet zwei Arten „[ m ] ü t t e r l i c h e [ r ] G ü t e“ (267, 2), wobei diese Güte eigentlich ironische Anführungszeichen verdiente, denn faktisch ist davon die Rede, was Mütter brauchen, manche nämlich „glückliche geehrte Kinder, manche unglückliche“ (267, 2 f.). Daraus folgen offensichtlich unterschiedliche Arten, die Güte auszuleben. Zu MA I 387 gibt es in Mp XIV 1, 42 eine ‚Reinschrift‘ in hellblauer Tinte, mit zwei blauen Strichen markiert und von N. mit dunkler Tinte bereits mit der Überschrift „Mütterliche Güte“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,42). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 56 lautet: „Manche Mütter brauchen glückliche geehrte Kinder, manche unglückliche: sonst kann sich ihre Güte nicht zeigen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,56). Zu MA I 387 und zu MA I 416, KSA 2, 274 siehe Marton 2014, 55–62 u. Marton 2021, 22. 267, 2 f. Manche Mutter braucht glückliche geehrte Kinder] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „Manche Mutter braucht glücklich geehrte Kinder“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/164 8750028/310/), jedoch wurde die Korrektur in der Erstausgabe nicht umgesetzt (Nietzsche 1878, 274: „glücklich geehrte“). Im Druckmanuskript D 11, 152 steht ebenfalls „glücklich geehrte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,152), während Mp XIV 1, 42 und N II 3, 56 „glückliche geehrte“ haben.
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 386–389, KSA 2, S. 266–267
755
388. MA I 388 ist auf einen eher billigen rhetorischen Effekt aus: Wenige Männer seien betrübt, dass ihre Frauen entführt wurden, viele hingegen darüber, dass sie es nicht werden. Zu MA I 388 gibt es in Mp XIV 1, 328 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, mit zwei blauen Strichen markiert und wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,328). Eine frühere Fassung in U II 5, 97, auf der folgenden Seite U II 5 98 mit „W u K“, also als für das spätere Hauptstück „Weib und Kind“ vorgesehen, markiert (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,98), lautet: „Viele Männer werden ˹seufzen˺ weniger über eine [?] Entführung ihrer Frauen als darüber dass sie nicht ˹niemand sie˺ entführen will.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,97) Gedanklich auch nicht berückender und ein (unfreiwilliges?) Zeugnis bedenklicher Romanlektüren ist eine Seitensprungvariante in NL 1876, KSA 8, 16[31], 292, 16–18: „Viele Männer sind über den Ehebruch ihrer Gattinnen für sich gar nicht ungehalten, vorausgesetzt, dass sie dieselben dadurch ohne Einbusse los werden.“ 267, 6 Ve r s c h i e d e n e S e u f z e r] Im Druckmanuskript D 11, 152 korrigiert aus: „Aus der Ehenstatistik“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,152).
389. Liebesheiraten werden in MA I 389 nicht als zivilisatorische Errungenschaft behandelt, sondern als ein nicht recht lebensfähiges Zwitterwesen, hätten sie doch „den Irrthum zum Vater und die Noth (das Bedürfniss) zur Mutter“ (267, 11 f.). Worin der Irrtum und die Not liegen, wird nicht erläutert. Darf man es sich so erklären, dass die Liebe ein Irrtum ist, angetrieben von einem Bedürfnis nach Liebe – oder einfach nur vom sexuellen Trieb? Zu MA I 389 gibt es in Mp XIV 1, 74 eine ‚Reinschrift‘, mit zwei blauen Strichen und rotem „S“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,74). Eine Bleistiftnotiz verzeichnet den Text bereits in N II 2, 21 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,21). In ganz anderem Kontext bemüht die Metaphorik vom väterlichen Irrtum und der mütterlichen Not NL 1877, KSA 8, 22[9], 380, 9–12: „Jene uns verborgene Welt viel bedeutungsleerer als die bekannte. Unwillkürlich nimmt man das Gegentheil an. Aber Noth als Mutter, Irrthum als Vater haben den Glauben geschaffen.“ Zu MA I 389 vgl. z. B. Skowron 2020, 151. 267, 11 (die sogenannten Liebesheirathen)] In Mp XIV 1, 74 wurde die Klammerbemerkung erst nachträglich eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-
756
Menschliches, Allzumenschliches I
XIV-1,74). 267, 11 ist (zusammen mit dem Abschnittstitel 267, 10) die einzige Stelle im publizierten Werk, an der sich N. des Kompositums bedient, das dann noch im Nachlass 1887/88 gelegentlich vorkommt. Obwohl z. B. Grimm 1854–1971 die „Liebesheirat“ mit keinem Wort erwähnt, kommt sie doch in der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oft vor, besonders häufig in Romanen von bescheidenem Anspruch. 267, 11 f. haben den Irrthum zum Vater und die Noth (das Bedürfniss) zur Mutter] Das ist eine Anspielung auf die Belehrung durch Diotima, von der Sokrates berichtet, wonach nämlich Eros gezeugt worden sei, als Poros, der Gott der Findigkeit und Fülle, sich an Aphrodites Geburtstag betrunken mit Penia, der verkörperten Not und Bedürftigkeit, eingelassen habe (Platon: Symposion 203b–d). In N.s eigener Rekapitulation aus der Einführung in das Studium der platonischen Dialoge liest sich das wie folgt: „So etwas muß zwischen Schön u. Häßlich Eros sein. So muß er auch ein Mittelding zwischen Sterblich u. Unsterblich sein: ein Dämon, ein Vermittler zwischen Göttern u. Menschen. Mythus über seinen Vater u. seine Mutter, von πόρος u. πενία, erzeugt am Geburtsfeste der Aphrodite. Jetzt wird sein Wesen beschrieben. Stets arm, nichts weniger als zart u. schön, abgehärtet schmutzig unbeschuht, ohne Behausung, liegt auf nacktem Boden vor den Thüren u. im Freien, seinem Vater nach ist er mannhaft u. keck, ein mächtiger Jäger mit vielen Kunstgriffen, der Weisheit nachstrebend, ein Zauberer u. Sophist. Desselben Tages blüht er bald, bald stirbt er dahin, lebt aber wieder auf.“ (KGW II 4, 108, 14–25) Nimmt man den Eros der Diotima zum Maßstab, wäre das Produkt aus sinnenverwirrter Findigkeit, also Irrtum und Not vielleicht doch nicht notwendig ein Debakel: Besteht für die „Liebesheirath“ noch Hoffnung?
390. Die in MA I 390 erörterte Freundschaft zwischen Frauen und Männern sei möglich – und zwar wird es aus der aktiven Perspektive der Frauen berichtet –, aber es müsse, damit diese Freundschaft bestehen bleibt, „wohl eine kleine physische Antipathie“ (267, 16 f.) auftreten. Zu MA I 390 gibt es in Mp XIV 1, 162 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „S“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,162). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 67 liegt ihr zugrunde (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,67). Will MA I 390 zum Ausdruck bringen, dass die sexuelle Attraktionskraft des Gegenübers nicht mehr empfunden werden darf, um eine Freundschaft zwischen Mann und Frau möglich zu machen? Immerhin ist mit „Antipathie“ (267, 16 f.) ein stärkerer Begriff im Spiel, der eine Aversion suggeriert und zur Frage führt, ob
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 389–392, KSA 2, S. 267
757
zwecks Freundschaft nicht Gleichgültigkeit reiche, also die Nichtempfindlichkeit für die sexuelle Anziehungskraft des Anderen. Was hat N. denn z. B. gegenüber Malwida von Meysenbug empfunden?
391. Nach MA I 391 empfänden viele – besonders Frauen – „die Langeweile nicht, weil sie niemals ordentlich arbeiten gelernt“ (267, 20 f.) hätten. Zu MA I 391 gibt es in Mp XIV 1, 342 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,342). Der Text findet sich auch schon in U II 5, 54 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,54). MA I 391 steht gegen ein landläufiges Vorverständnis von Langeweile, wonach die gerade auftrete, wenn ordentliche Arbeit fehle. Ihr Erscheinen wird stattdessen gerade daran geknüpft, dass man arbeiten könne. Tritt die Langeweile also dann bei der Arbeit selbst auf – angesichts ihrer Monotonie beispielsweise – oder in den Augenblicken, wo gerade keine Arbeit anfällt, in denen man dann der Muße nicht gewachsen ist? „Die Arbeit ist heilig; aber selig, wer sich davor hütet“ (Altdeutscher Witz 1877, 98). Zur Langeweile siehe auch NK ÜK MA I 611. 267, 19 L a n g e w e i l e] Im Druckmanuskript D 11, 152 korrigiert aus: „Langeweile nicht empfunden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,152).
392. MA I 392 behauptet schlicht, in jeder weiblichen Liebe sei auch ein Stück Mutterliebe enthalten. Zu MA I 392 gibt es in Mp XIV 1, 336 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit zwei blauen Strichen, wie üblich noch ohne Überschrift. Sie lautet in der Fassung letzter Hand: „In jeder Art der Liebe kommt auch Etwas von der mütterlichen Liebe zum Vorschein.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,336) Diese Fassung beschränkt die Beobachtung also ausdrücklich nicht auf die „weibliche[.] Liebe“ (267, 23 f.); das Wort „weiblichen“ ist erst eine Zutat des Druckmanuskripts D 11, 152 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,152). Ursprünglich lautete die unkorrigierte Version von Mp XIV 1, 336: „In jeder Art der Liebe ist das Mütterliche mit eingeschlossen, nicht aber das Väterliche.“ Diese Fassung findet sich auch schon in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 71 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,71) sowie in U II 5, 169 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-
758
Menschliches, Allzumenschliches I
5,169). Variiert wird das Thema in NL 1876, KSA 8, 16[17], 290, 20 f.: „Das Mütterliche ist in jeder Art Liebe: aber nicht das Väterliche.“ Im Laufe der Bearbeitung hat der schließliche Drucktext MA I 392 einen Prozess der Trivialisierung durchgemacht: Dass in „weibliche Liebe“ ein Moment von „mütterlicher Liebe“ hineinspiele, ist ein vulgärpsychologischer Gemeinplatz, während die ‚Zwischenidee‘, dass dieses Hineinspielen bei jeder Art von Liebe und nicht bloß bei der weiblichen gelte, schon eine originellere These ist, die noch übertroffen wird von der ‚Ursprungsidee‘, wonach das Väterliche im Unterschied zum Mütterlichen in dieser Liebe nicht präsent sei. Die Frage ist, was zu Verwässerung der ‚Ursprungsidee‘ Anlass gegeben hat: ein heteronormativer Anpassungsdruck? 267, 23 E i n E l e m e n t d e r L i e b e] Im Druckmanuskript D 11, 152 korrigiert aus: „Mütterliches in der Liebe“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,152).
393. Das Zusammenleben von Ehegatten, so MA I 393, sei der Ehe oft nicht zuträglich, so dass sich Getrennt-Leben empfehle. Zu MA I 393 gibt es in Mp XIV 1, 339 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit zwei blauen Strichen, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,339). Eine Vorarbeit in NL 1876, KSA 8, 18[38], 325, 6–8 lautet: „Das Beisammenleben der Ehegatten ist das Hauptmittel, um eine gute Ehe selten zu machen, denn selbst die besten Freundschaften vertragen diess nur selten.“ 268, 2 D i e E i n h e i t d e s O r t e s u n d d a s D r a m a.] Im Druckmanuskript D 11, 152 korrigiert aus: „Ehen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,152). Die Überschrift spielt auf die dritte der sogenannten aristotelischen Einheiten an, die man lange unter Berufung auf Aristoteles’ Poetik 5 f. u. 23 als normierende Vorgabe für das Drama meinte ansetzen zu müssen, nämlich die Einheit der Zeit, die Einheit der Handlung und die Einheit des Ortes. Gerade diese dritte Einheit aber findet sich in der Poetik so nicht explizit formuliert und ist eher eine Rückprojektion aus der Renaissance („Quant à l’unité de lieu je n’en trouve aucun précepte ni dans Aristote ni dans Horace“, heißt es in Pierre Corneilles Dicours des trois unités, d’action, de jour, et de lieu von 1660 – Corneille 1838, 4, 309). Insbesondere das französische Regeldrama steht dennoch unter dem Gebot auch der Einheit des Ortes und wirkt von da fort, woran der jugendliche N. in einer Abhandlung über Lord Byron Anstoß nimmt: „das Anhalten an französische Einheit des Ortes u. der Zeit verleitet den Dichter zu Mißgriffen“ (NL 1861/62, KGW I 2, 12[4], 345, 27 f.). Während für die Anhänger der traditionellen Auffassung also für das gute
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 392–394, KSA 2, S. 267–268
759
Drama auch die „Einheit des Ortes“ unerlässlich erscheint, bietet MA I 393 die ironische Kontrafaktur, funktioniere die Ehe doch, wenn die Partner sich an unterschiedlichen Orten aufhalten. Es bleibt dann ein tragisches Ehedrama aus (das Wort „Ehedrama“ ist zu N.s Zeit schon in regem Gebrauch – wenn auch nicht bei N. selbst, so doch z. B. in Byron-Übersetzungen).
394. MA I 394 schickt voraus, dass jede menschliche Kommunikation entweder hochhebe oder hinunterziehe. Männer würden daher, „wenn sie Frauen nehmen“ (268, 8), etwas nach unten gedrückt, Frauen hingegen erhoben. „Allzu geistige Männer“ (268, 9) seien auf die Ehe angewiesen, obgleich sie ihnen wie eine bittere Pille widerstrebe. Offenbar könnte sie die Ehe wieder erden. Zu MA I 394 gibt es in Mp XIV 1, 42 eine ‚Reinschrift‘ in hellblauer Tinte, mit zwei blauen Strichen markiert und von N. mit dunkler Tinte mit der Überschrift „Gewöhnliche Folge der Ehe“ versehen. Auch die Korrekturen erfolgten in derselben dunklen Tinte: „Jeder Umgang, der nicht hebt, zieht nieder, deshalb entarten ˹sinken˺ die Männer gewöhnlich ˹etwas˺, wenn sie Frauen nehmen ˹und die Frauen werden etwas gehoben˺. Eine Ausnahme: Allzu geistige Männer ˹oder Frauen˺ bedürfen eines niederziehenden Umgangs.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,42) Diese Version – mit dem Einschub „und umgekehrt“ (später 268, 7) – findet sich dann auch im Druckmanuskript D 11, 153 wieder (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,153). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 60 lautet: „Jeder Umgang der nicht hebt zieht nieder. – Aber viele Männer bedürfen eines niederziehenden Umgangs. Und die Gefahr der Neurose!“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-3,60; zum Begriff der Neurose, der im späten 19. Jahrhundert als Sammelbegriff für alle möglichen nervlichen Erkrankungen diente, siehe z. B. NK KSA 5, 67, 28) Während die ursprüngliche Notiz die männliche Perspektive in den Vordergrund rückt, bedenkt die letzte Version in Mp XIV 1, 42 „allzu geistige“ „Frauen“ explizit mit und verordnet ihnen ebenfalls erdende Gesellschaft. Viel deutlicher als in der Druckfassung wird hier auch benannt, dass dieses Bedürfnis nach Heruntergezogen-Werden bei diesen durchgeistigten Menschen eine Ausnahme darstelle – von „Ehe“ (268, 10) und „Medicin“ (268, 10 f.) ist noch keine Rede. Ob die Behauptung, dass „gewöhnlich“ (268, 7 f.) Männer durch die Ehe herunter-, Frauen hinaufgezogen würden, auf die konkrete soziale Stellung der Frauen im 19. Jahrhundert abzielt und nicht auf ihre biologische Disposition, steht dahin. Wären sie besser gebildet, könnten sie auch hochziehen? Vgl. auch MA I 421, KSA 2, 276 f.
760
Menschliches, Allzumenschliches I
268, 9–11 Allzu geistige Männer bedürfen eben so sehr der Ehe, als sie ihr wie einer widrigen Medicin widerstreben.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „Allzu geistige Männer oder Frauen bedürfen eines niederziehenden Umganges.“ (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/312/) Die schließliche Erwähnung der Ehe als einer womöglich bitteren Medizin lässt an eine Anpassung der ursprünglichen Überlegung an die Heiratspläne denken, mit denen sich N. zur Abfassungszeit von MA I trug (zur bitteren Kröte einer Verheiratung siehe NK KSA 3, 358, 7 f.).
395. MA I 395 zehrt von einer Umkehrung der landläufigen Erwartung: Den „Kinder[n] aus bescheidenen Familien“ (268, 13) solle man „das Befehlen“ (268, 14) anerziehen, anderen Kindern hingegen „das Gehorchen“ (268, 15). Bricht sich da ein sozialrevolutionärer Impetus Bahn, der Wunsch, die Klassengrenzen aufzuheben durch eine Erziehung, die gerade nicht das klassentypische Verhalten beibringt? Zu MA I 395 gibt es in Mp XIV 1, 74 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“ und vier blauen Strichen, wie üblich noch ohne Überschrift (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,74). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 20 lautet: „Kinder aus bescheidener Familie muss man zu dem Befehlen ebenso anleiten, wie and. Kinder zum Gehorchen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/NII-2,20) 268, 13 B e f e h l e n l e h r e n] Im Druckmanuskript D 11, 153 korrigiert aus: „Befehlen und Gehorchen lehren“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,153).
396. Bei Nützlichkeitsverlobungen bemühe sich nach MA I 396 das involvierte Paar, „verliebt zu w e r d e n“ (268, 18 f.), ebenso wie diejenigen, die aus Nützlichkeitserwägungen Christen geworden seien, ernstlich „fromm“ (268, 22) werden wollten – in beiden Fällen, um so den Eindruck des kalten Kalküls zum Verschwinden zu bringen. Zu MA I 396 gibt es in Mp XIV 1, 128 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“ und zwei blauen Strichen, auch schon mit der Überschrift versehen. Diese Version umfasst allerdings nur den Text 268, 17–20 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,128); erst im Druckmanuskript D 11, 153 kommt der Satz 268, 20–23 hinzu (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,153). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 1 lautet: „Die Verlobung aus [?] Convenienz bemüht einen Spuk
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 394–398, KSA 2, S. 268
761
[?], verliebt zu werden, um über den Vorwurf der kalten Nützlichkeit hinwegzukommen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,1) Bei La Rochefoucauld konnte N. aus Maxime 136 lernen, dass manche sich nur verlieben, weil sie davon gehört haben („Il y a des gens qui n’auroient jamais été amoureux, s’ils n’avoient jamais entendu parler de l’amour.“ – La Rochefoucauld o. J., 35).
397. MA I 397 meint, wer als Musiker „das langsame Tempo“ (268, 26) liebe, der werde „die selben Tonstücke immer langsamer nehmen. So giebt es in keiner Liebe ein Stillstehen.“ (268, 26–269, 2) Zu MA I 397 gibt es in Mp XIV 1, 63 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“, nachträglich mit der Überschrift „Kein Stillstand in der Liebe“ versehen. Diese Version lautet: „Ein Musiker, der das langsame Tempo liebt, wird dieselben Tonstücke (Stücke) immer langsamer nehmen: so giebt es keinen Stillstand in der Liebe.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,63) Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 27 lautet: „Ein Musiker, der das langsame Tempo liebt, wird dieselben Tonstücke immer langsamer nehmen: jede Liebe wächst.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-3,27) Die Aussage von MA I 397 ist verrätselt. Erstens ist nicht klar, wie die komparativische Fügung „immer langsamer“ zu verstehen ist: Wird der Musiker, wenn er das Stück spielt, jedes Mal langsamer im Vergleich zum letzten Mal, oder aber wird er an einer entsprechenden ritardando-Stelle jeweils langsamer, aber nicht langsamer als beim letzten Spielen? Zweitens würde er, sollte er tatsächlich jedes Mal das Stück langsamer spielen als bei der vorangegangenen Gelegenheit, irgendwann einmal tatsächlich stillstehen. Genau dies wird drittens aber ausgeschlossen – wobei überhaupt nicht klar ist, was das Bild vom Musiker und seinem Geschmack für die Langsamkeit mit der Liebe an sich zu tun hat und inwiefern seine Liebe für alle Lieben stehen kann.
398. MA I 398 klingt wieder sehr nach traditioneller Moralistik: Je schöner Frauen würden, desto schamhafter würden sie „im Allgemeinen“ (269, 5). Zu MA I 399 gibt es in Mp XIV 1, 121 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit zwei blauen Strichen, nachträglich mit der Überschrift „Schamhaftigkeit“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,121). Zum Komplex der Scham bei N. allgemein vgl. z. B. Planck 1998, Tongeren 2007 und Häubi 2019, zu MA I 398
762
Menschliches, Allzumenschliches I
im Kontext anderer positiver Urteile N.s über die Scham Ebersbach 2004, 138. Die Zusammenstellung von Schamhaftigkeit und Schönheit ist topisch, die von MA I 398 konterkarierte Klage alt, dass sie selten gemeinsame Sache machen, so Phorkyas in Goethe: Faust II, V. 8754–8756: „Alt ist das Wort, doch bleibet hoch und wahr der Sinn: / Daß Scham und Schönheit nie zusammen, Hand in Hand, / Den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad.“
399. MA I 399 unterbindet romantische Illusionen darüber, was den Bestand einer Ehe sichert: nämlich nicht, wie man erhoffen würde, das Gemeinsame, sondern vielmehr das Individuelle, Eigennützige, das man durch den Partner erreichen kann, „zum Beispiel wenn die Frau durch den Mann berühmt, der Mann durch die Frau beliebt werden“ (269, 9 f.) wolle. Zu MA I 399 gibt es in Mp XIV 1, 73 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“ und vier blauen Strichen, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,73). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 37 lautet: „Eine Ehe, in der jeder d jeder durch den Andern ein individuelles Ziel erreichen ˹will˺, hält sehr gut zusammen zB wenn die Frau durch den Mann berühmt, der Mann durch die Frau gbeliebt zu werden strebt.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,37) Dass die Ehe als Versorgungsgemeinschaft durchaus eine eigennützige Dimension haben kann, wurde erst im Zuge romantischer Idealisierungen problematisch, die MA I 399 wieder revozieren oder wenigstens reproblematisieren zu wollen scheint. 269, 7 f. Jedes durch das Andere] In Mp XIV 1, 73 stattdessen: „jeder durch den Andern“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,73).
400. MA I 400 thematisiert die angebliche Wandlungsfähigkeit der Frauen, nämlich „aus Liebe“ (269, 12) zu dem zu werden, was sie nach dem Wunschbild der sie liebenden Männer sind. Zu MA I 400 gibt es in Mp XIV 1, 336 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit zwei blauen Strichen, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,336). Diese Fassung findet sich auch schon in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 72. Dort freilich lautete die ursprüngliche, unkorrigierte Version: „Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in der Vorstellung der Män-
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 398–401, KSA 2, S. 269
763
ner, welche sie lieben, leben.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,72) Dies geht zurück auf U II 5, 143, wo es heißt: „Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in der Vorstellung der Männer leben, wie sie dies fühlen.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,143) MA I 400 nimmt das uralte misogyne Motiv von der angeblichen Wandlungsfähigkeit, sprich: Wankelmütigkeit der Frauen auf (‚così fan tutte‘) und wertet es um: Hier erscheint diese Wandlungsfähigkeit als eine Tugend „aus Liebe“ (269, 12), oder doch zumindest als eine evolutionäre Anpassungsfähigkeit zur Optimierung der Liebesbeziehung (und der Ehe?). 269, 12 P r o t e u s–N a t u r] Im Druckmanuskript D 11, 153 korrigiert aus: „Liebliche Metamorphose“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,153). Der Meeresgott Proteus kann sich bekanntlich unentwegt selbst verwandeln (vgl. Homer: Odyssee IV 349–570); spätestens seit Giovanni Pico della Mirandolas Oratio de hominis dignitate (1486) wird der Mensch an sich gerne als „Proteus“ verstanden (Pico della Mirandola 2001, 10), während der Philosoph im allgemeinen und Apollonios von Tyana im besonderen seit Alters her als Proteus gelten (Philostratos 1983, 17–19). Zum Proteus-Motiv bei N. siehe NK KSA 5, 147, 17 f., NK KSA 5, 168, 21–27 u. NK KSA 6, 22, 34–23, 2. Bauer 2021, 215 kommentiert zu Proteus in MA I 400: „Dieser besitzt die Fähigkeit, sich in verschiedene Formen zu verwandeln, welche im Verlauf des Aphorismus den Weibern zugeschrieben wird. Was im Aphorismus nicht zur Sprache kommt, ist Proteus’ Fähigkeit zur Weissagung, die er anstellt, wenn man ihn im Kampf bezwingt. Dieses Ungesagte erscheint jedoch für die Auffassung vom Weib entscheidend, das demnach die Zukunft voraussehen kann, jedoch bezwungen werden muss, um dieses Wissen zugänglich zu machen. Aus dem Vergleich mit Proteus ergibt sich ein Paradox: Einerseits wird dem Weib durch den Vergleich ein hohes Maß an Autonomie zugesprochen, da ihm die Fähigkeit der eigenständigen Verwandlung zugeschrieben wird. Andererseits wird aber der Prozess der Verwandlung als ein passiver beschrieben, das Weib verwandelt sich nicht aktiv, sondern wird zu etwas. Die Verwandlung geschieht nicht im Dienste des Weibes, sondern wirkt fremdbestimmt, dadurch, dass es sich der Vorstellung des Mannes anpasst. Die Proteus-Natur des Weibes steht also im Widerspruch zur antiken Figur des Proteus; es ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen dem göttlichen, höheren Wesen und dem zu bezwingenden, zu beherrschenden Wesen.“
401. MA I 401 stellt einen Zwiespalt jener Frauen zur Debatte, die „einen bedeutenden Mann“ (269, 16 f.) lieben: Einerseits wollten sie ihn ganz für sich haben, andererseits wollten sie, dass seine Bedeutung auch von der Außenwelt anerkannt werde.
764
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 401 gibt es in Mp XIV 1, 337 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit zwei blauen Strichen, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,337 u. http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,338). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 73 heißt es: „Frauen lieben einen bedeutenden Mann so, dass sie ihn allein wollen und ihn gern in Verschluss legen möchten; höchstens lässt ihre Eitelkeit es zu, dass er auch vor Anderen bedeutend erscheint.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,73) In der früheren Version U II 5, 201 steht: „Frauen lieben einen bedeutenden Mann so, dass sie ihn allein wollen u. ihn gern in Verschluß legen möchten. Das ist das Ekelhafte daran.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,201) Das dezidierte Werturteil, das die ursprüngliche Fassung formuliert, entfällt; stattdessen rückt das weibliche Eitelkeitsinteresse stärker in den Fokus. Man mag darüber spekulieren, welche (Ehe-)Frauen „bedeutender“ Männer N. da vor Augen standen: Findet sich das hier beschriebene Verhalten bei Cosima Wagner oder Sophie Ritschl wieder? Vgl. auch MA I 399, KSA 2, 269, MA I 407 u. MA I 410, KSA 2, 271 f. 269, 16 L i e b e n u n d b e s i t z e n] Im Druckmanuskript D 11, 153 korrigiert aus: „Eigenwilligkeit der Frauen bedeutender Männer“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,153).
402. Wenn MA I 402 „[d]ie Güte einer Ehe“ (269, 22) daran bemessen will, dass sie auch „einmal eine ‚Ausnahme‘“ (269, 23) vertrage, ist das dann als Freibrief für einen sexuellen Seitensprung zu verstehen? Oder was ist mit der Ausnahme gemeint? Zu MA I 402 gibt es in Mp XIV 1, 126 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“ und zwei blauen Strichen, bereits mit der Überschrift „Probe einer guten Ehe“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,126). Gleichlautend findet sich der Text schon in einer Bleistiftnotiz in N II 3, 52, wobei „verträgt“ dort unterstrichen ist (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,52). In Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg (3. Aufzug, 5. Szene) gibt Hans Sachs zum Besten: „Der Regel Güte daraus man erwägt, / daß sie auch ’mal ’ne Ausnahm’ verträgt.“ (Wagner 1871–1873, 7, 358) Dass alle Regeln eine Ausnahme hätten, ist alte Sprichwortweisheit, siehe zu den diversen Varianten Wander 1867– 1880, 3, 1574 f.
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 401–404, KSA 2, S. 269
765
403. MA I 403 formuliert eine immoralische Klugheitsregel, die auf Überrumpeln hinausläuft und von Frauen ebenso angewandt werde wie von „Diplomaten“ (270, 6), nämlich jemanden durch Beunruhigung, Verängstigung und Überlastung so sehr zu erschöpfen, dass er bei einer Sache eigentlich wider Willen nachgebe, wenn man ihr nur „den Schein des Complicirten“ (270, 5) gebe. Zu MA I 403 gibt es in Mp XIV 1, 289 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“, noch ohne Überschrift; statt „und die Weiber“ (270, 7) steht dort: „und die Frauen“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,289). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 5 ist der entsprechende Text fast identisch, jedoch fehlt „und die Frauen“/„Weiber“ noch und der Abschnitt trägt einen später nicht wieder aufgenommenen Titel: „Jeder persönliche Widerstand unmöglich“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,5). In der früheren Version U II 5, 191 ist dieser Titel mit Bleistift eingefügt; der Text endet mit „ihr nachgiebt“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,191).
404. Gerade nicht die „Hetären“ (270, 12 f.) sind nach MA I 404 unehrlich, sondern die scheinbar ehrbaren „Mädchen“ (270, 9), die nach nichts anderem trachten als danach, dank ihrer jugendlichen Attraktivität einen Versorger auf Lebzeiten zu finden. Zum wiederholten Male wird hier die Umkehrung des Erwartbaren praktiziert – allerdings durchaus im Anklang an Schopenhauers Ausführungen zur „weiblichen Sexualehre“ und zum „Konkubinat“ in den Aphorismen zur Lebensweisheit (Kap. IV: „Von dem, was einer vorstellt“ – Schopenhauer 1873–1874, 5, 387–391) – hier in der Absicht der Entlarvung sozialer Realitäten in der bürgerlichen Gesellschaft. Zu MA I 404 gibt es in Mp XIV 1, 293 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,293 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,294). Der identische Text findet sich in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 68 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,68). In der früheren Version U II 5, 181 heißt es: „Die Hetäre ist ehrlicher als das Mädchen, welches ihrem Jugendreiz die Versorgung fürs Leben verdanken will: ihrer Schlauheit suffliren die gewitzigtsten Mütter.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,181) Oppel 2005, 23 f. stellt MA I 404 mit FW 67 und der dort angeratenen Heuchelei zusammen, siehe NK 3/2.1, S. 557 f.
766
Menschliches, Allzumenschliches I
270, 12 f. Hetären] „Hetäre, f., gr., eig. Freundin, eine Genossin, Gesellin; im alten Griechenland, besonders in Athen, eine Buhlerin“ (Petri 1861, 373).
405. MA I 405 zufolge gebe es Frauen, die bloße „Masken“ (270, 16) seien, hinter denen sich „kein Inneres“ verberge. Wer sich auf sie einlasse, werde unglücklich, aber sie erregten doch heißestes Verlangen des Mannes: „er sucht nach ihrer Seele – und sucht immer fort“ (270, 20). Zu MA I 405 gibt es in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 72 eine mit blauem „A“ und zwei blauen Strichen markierte ‚Reinschrift‘, noch ohne Titel. Nach dem Doppelpunkt (später 270, 20) hat N. Köselitz’ Vorlage ergänzt: „Es giebt Frauen, ˹die˺, wo man auch immer nachsucht, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen, der sich mit solchen, fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen des Mannes auf das Stärkste zu erregen: er sucht fort u fort nach ihrer Seele – und sucht immer fort.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,72) In der Vorarbeit NL 1876, KSA 8, 17[13], 298, 15–17 aus U II 5b kommt das vampirische Moment noch stärker zum Tragen: „Es giebt Frauen, welche wo man auch gräbt, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind: fast gespenstische Wesen, blutsaugerisch, nie befriedigend.“ (Zum Thema Vampirismus bei N. siehe Sommer 2016d.) Diese Version macht den Zusammenhang mit dem in die Antike zurückreichenden, mannigfach variierten Motivkomplex der maskenhaft-seelenlosen, verführerischen und nach Blut durstigen Frau noch augenfälliger, wie sie etwa in der Gestalt der Empuse (die N. selbstverständlich kannte, siehe KGW II 1, 240, 15 f.) personifiziert wurde. Freilich steht MA I 405 auch für eine recht stereotype männliche Projektion, die seelenlose Männer völlig ausblendet. Marton 2021, 75, Fn. 37 stellt einen Bezug von MA I 405 zu MA I 218 und FW 119, KSA 3, 476 her. Allgemein und umfassend zur Maskenfrage bei N. siehe Schubert 2021.
406. MA I 406 will herausstellen, worauf es in einer lange währenden Ehe am meisten ankomme, nämlich darauf, dass man sich ein Leben lang „unterhalten“ (270, 24) zu können glaubt. „Alles Andere in der Ehe ist transitorisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an.“ (270, 24–26) Zu MA I 406 gibt es in Mp XIV 1, 293 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen, noch ohne
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 404–407, KSA 2, S. 270
767
Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,293). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 71 f. lautet der Text: „Ich würde mir beim Eingehen einer Ehe die Frage vorlegen: glaubt man sich mit dieser Frau bis in’s Alter hinein gut zu unterhalten? Alles Andere ist transitorisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,71 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/ M-I-1,72) Diese Fassung mit dem „Ich“ als Sprechinstanz lässt an N.s eigene Basler und Sorrenter Eheanbahnungsbestrebungen denken. Eine frühere Fassung in U II 5, 147 ist freilich ganz unpersönlich formuliert: „Die Frage beim Eingehen einer Ehe ist: glaubt man mit dieser Frau sich bis ins Alter hinein gut zu unterhalten? Alles Andere ist transitorisch. Aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,147). In allen Versionen treten sexuell-erotische Komponenten offensichtlich im Laufe eines langen gemeinsamen Weges in den Hintergrund, ebenso wie etwa ein in den Partner investiertes Bedürfnis, über ihn berühmt oder beliebt zu werden (vgl. MA I 399, KSA 2, 269). Vgl. zu MA I 406 und zum lebensklugen Vorschlag, Ehe als langes Gespräch zu verstehen, auch Smitmans-Vajda 1999, 126. In seinem Dankesbrief für die Zusendung von MA I schreibt Reinhart von Seydlitz an N. am 27. 04. 1878, unter Anspielung auf die jeweiligen Abschnitte des Werkes: „Der gute Briefschreiber No 319 bedankt sich für No 163, die Lehren des ernsten Denkwerkers; seine, des ersteren, Frau schaudert vor des Vormittagsphilosophen (No 638) Ansichten über die Wahrscheinlichkeit des Ledigbleibens eines Denkers; der Mann aber der sich effectiv vor 2½ Jahren die Frage in No 406 – das Aushalten eines lebenslangen Gesprächs mit der Frau – vorlegte und schüchtern-vertrauensvoll bejahte, entgegnete der Frau tröstend: / Dieser Septaccord auf H, der anscheinend nicht weit von der definitiven H(agestolzen)tonart entfernt ist, fällt ganz sicher einmal nach der E(he)tonart; möge das dur ihm moll sein! – Quod deus bene vertat. – Womit die schwergekränkte Frau sich beruhigen muß.“ (KGB II 6/2, Nr. 1060, S. 841, Z. 3–15) 270, 25 in der Ehe] Eingefügt erst im Druckmanuskript D 11, 154 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,154).
407. MA I 407 zehrt von einem Gegensatz zwischen „[u]nerfahrene[n] Mädchen“ (271, 2) und erfahrenen „Frauen“ (271, 7): Erstere meinten in ihrer Naivität, sie allein seien fähig, „einen Mann glücklich zu machen“ (271, 3 f.), würden jedoch später einsehen, dass es auf einer Geringschätzung des Mannes beruhe, sollte jemand glauben, allein ein Mädchen könne ihn glücklich machen. Die „Frauen“ wollten
768
Menschliches, Allzumenschliches I
demgegenüber in ihrer „Eitelkeit“, „dass ein Mann mehr sei, als ein glücklicher Gatte“ (271, 7 f.). Das schließt implizit an Überlegungen wie die in MA I 399 an, wonach manche Frauen durch ihren Mann „berühmt“ werden wollen (269, 9 f.), oder die in MA I 401, wonach es gerade die „Eitelkeit“ sei, die von einer Frau verlange, ihren Mann „auch vor Anderen bedeutend“ (269, 18 f.) erscheinen zu lassen. Der moralistische Motivzusammenhang von Eitelkeit und Ehe wird in MA I 407 einmal mehr aufgerufen. Zu MA I 407 gibt es in Mp XIV 1, 287 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,287 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,288). Fast gleichlautend ist schon die Fassung in U II 5, 102 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,102).
408. MA I 408 greift, ohne den Namen direkt auszusprechen, auf eine Beobachtung von Paul de Lagarde zurück, wonach die gegenwärtigen Deutschen eine „Mischung von Mephistopheles und Wagner“ (271, 12 f.) verkörperten, aber Faust weit hinter sich gelassen hätten, der noch für ihre „Grossväter“ (271, 14) den Leitstern abgegeben habe. MA I 408 spinnt Lagardes Gedanken fort, dass zu diesen gegenwärtigen Deutschen „aus zwei Gründen die G r e t c h e n nicht“ (271, 16) passten und deshalb, als nicht länger begehrte, ausstürben. Zu MA I 408 gibt es in Mp XIV 1, 131 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“ und noch ohne Überschrift, die lautet: „Nach der sehr einsichtigen Bemerkung eines Gelehrten ähneln wir (ich meine die gebildeten Männer des gegenwärt. Deutschlands) einer Mischung von Mephistopheles u. Wagner, aber durchaus nicht Fausten: welchen die Grossväter (in ihrer Jugend wenigstens) in sich rumoren fühlten. Zu uns passten also – das ist die Folge jener Bemerkung – aus zwei Gründen die Gretchen nicht. Und weil sie nicht mehr begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,131) Die Bleistiftnotiz in N II 2, 43 lautet nur: „Gretchen“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/N-II-2,43). Die „Bemerkung“ in Paul de Lagardes Ueber die gegenwärtige lage des deutschen reichs, auf die MA I 408 anspielt, folgt unmittelbar auf eine andere Stelle, die in MA I 38 anklingt, wo Goethes Faust als „zusammengeknetetes“ Werk aufgerufen wird, vgl. NK 62, 3 f. Der hier in Frage stehende Passus lautet: „ein halbes Jahrhundert hindurch haben alle von den fesseln der kirche nicht gebundenen Deutschen bekennen können, daß Faust und Gretchen sie selbst waren, nur befreit von allen zufälligkeiten individueller existenz, sie selbst im wesentlichen
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 407–408, KSA 2, S. 270–271
769
gesehen. /45/ es wäre geradezu komisch behaupten zu wollen, daß irgend eine nennenswerthe anzahl unter der jetzigen jugend beim anblicke von Faust und Gretchen das empfindet, was wir älteren empfunden haben: jedenfalls sind die es empfinden, in der jetzigen nation ohnmächtig. / sollten wir einmal bei dem textbuche bleiben, so würde eine mischung von Mephistopheles und Wagner einerseits, so würde andererseits Valentin als typus einer gewissen klasse von deutschen zeitgenossen dienen können. / aber diejenigen, welche sich als die vorzugsweise berufenen vertreter der jetzigen deutschen politik und des jetzigen deutschen reiches ansehen und ausgeben, haben ihr ideal ausdrücklich formuliert.“ (Lagarde 1876, 44 f.) Was bei Lagarde in einem politischen Kontext steht, wird in MA I 408, zumal im Zusammenhang der Betrachtungen über „Weib und Kind“, allgemein gesellschaftsdiagnostisch nivelliert. Bezeichnend ist, dass bei der Charakterisierung der gegenwärtigen Deutschen – mit denen die Sprechinstanz in der Version Mp XIV 1, 131 sich sogar ausdrücklich identifiziert – die ValentinFigur aus Goethes Drama und deren konventionalistisches Ehrgefühl ganz beiseite lässt und nur den kuriosen Zwitter Wagner-Mephisto erwähnt. Um den Aspekt, dass die beiden, zumal in ihrer Verschmelzung, nicht fähig wären, ein Gretchen zu begehren, ergänzt MA I 408 die Vorlage. Wodurch Gretchen im neuen Deutschland ersetzt worden ist, verraten weder Lagarde noch N.; in MA I 408 wird ihr Aussterben aber von der männlichen Unfähigkeit zum (faustischen) Begehren überhaupt abhängig gemacht. Um diese triebhafte Seite der faustischen Existenz geht es Lagarde kaum, der vor allem den Bindungsverlust ans klassische deutsche Kulturgut beklagen will. Demgegenüber benutzt N. die von Lagarde erfundene Allegorie für eine zu den Triebstrukturen reichende Kurzanalyse der gegenwärtigen Befindlichkeit. Symptomatisch ist überdies, dass N., wo Lagarde „wir älteren“ sagt, „die Grossväter (in ihrer Jugend wenigstens)“ (271, 14) setzt. Nichts könnte besser demonstrieren, wie sehr sich N. in MA I von den Idealen Lagardes und der von ihm versuchten Wiederbelebung angeblich alten Deutschtums entfernt hat. Lagarde erscheint ihm als Repräsentant einer vergangenen Ära, über deren faustische Anwandlungen man sich ein Lächeln nicht verkneifen kann. N.s Adaption der Lagarde-Stelle klingt dank der erotischen Zweideutigkeit wesentlich ironischer als die Quelle, wo aus dem Wagner-Mephisto-Vergleich ein bitterer Spott spricht, der sich jede leichtfüßige Ironie verbittet (nach Sommer 1998b, 184). 271, 15 f. um jenen Satz fortzusetzen] Noch in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht stattdessen unverändert wie im Druckmanuskript: „das ist die Folge jener Bemerkung“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648 750028/314/). Die Parenthese 271, 15 f. erscheint dann jedoch in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 278). 271, 16 aus zwei Gründen] Die beiden Gründe sind womöglich, dass weder Wagner noch Mephisto echt und ernstlich eine Frau begehren können.
770
Menschliches, Allzumenschliches I
409. MA I 409 wehrt sich dagegen, dass Mädchen die Gymnasien besuchen sollen, aber nicht, weil ihnen höhere Bildung verwehrt werden sollte, sondern weil die Gymnasien schon häufig genug die Jungs verdürben und sie zu „Abbilder[n] ihrer Lehrer“ (271, 20) machten. Zu MA I 409 gibt es in Mp XIV 1, 121 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen sowie bereits mit der Überschrift der Druckfassung (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,121). In N II 3, 30 lautet ein vorbereitendes Bleistiftnotat: „unsere Gymnasialerziehung, welche häufig aus wissbegierigen Knaben [?] feurigen Jungen Abbilder ihrer Lehrer macht – nur nicht noch auf Mädchen übertragen!“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II3,30) Man könnte das Argument von MA I 409, das darauf gründet, dass Gymnasiallehrer offensichtlich als eine widerwärtig verkopfte und verkümmerte Erscheinungsform des Menschseins angesehen werden, unter Verdacht nehmen, einen bloßen Vorwand zu liefern, Frauen höhere Bildung zu verweigern. Diese wurde in der zeitgenössischen Debatte gerade von Frauenseite dezidiert gefordert, so beispielsweise in der Denkschrift, betreffend eine gesetzliche Normierung der Organisation und Stellung des höheren Mädchenschulwesens. Den hohen deutschen Staats-Regierungen gewidmet von der ersten deutschen Haupt-Versammlung von Dirigenten und Lehrenden der höheren Mädchenschulen, wo 1873 verlangt wird: „Es gilt, dem Weibe eine der Geistesbildung des Mannes in der Allgemeinheit der Art und der Interessen ebenbürtige Bildung zu ermöglichen, damit der deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau an dem häuslichen Herde gelangweilt und in seiner Hingabe an höhere Interessen gelähmt werde, daß ihm vielmehr das Weib mit Verständniß dieser Interessen und der Wärme des Gefühles für dieselben zur Seite stehe.“ (Denkschrift 1873, 274) Realisiert wurden diese Vorstellungen erst Jahrzehnte später. Allerdings formuliert N. seine Fundamentalkritik am gymnasialen Unterricht (für Knaben) bereits in seinen Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten 1872 derart scharf (vgl. z. B. Frank 1973, 312–317), dass man das Ansinnen von MA I 409, die Mädchen davor zu bewahren, um sie schadlos zu halten, durchaus nicht für ganz abwegig halten muss. Auch Paul de Lagarde (vgl. NK ÜK MA I 408) äußert sich – selbst lange Jahre als Lehrer tätig – ausgesprochen kritisch zum Zustand der deutschen Gymnasien, die „als mädchen für alles benutzt werden“ (Lagarde 1878, 1, 168), aber augenscheinlich nicht über eine mögliche Gymnasialbildung für Mädchen.
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 409–411, KSA 2, S. 271
771
410. MA I 410 stellt „Frauen“ ohne bestimmten Artikel (271, 22) als durch und durch berechnende Wesen dar, die keine Konkurrenz duldeten: Wenn die „Leidenschaft“ (272, 1) des Mannes schon von anderen Zielen in Anspruch genommen ist – von Politik, Wissenschaft oder Kunst –, dann duldeten sie dies nicht, es sei denn, dass dieser Mann dadurch öffentlich „glänze“ (272, 2) und die ihn liebende Frau sich damit ausrechnet, selbst in diesem Glanz zu stehen. Zu MA I 410 gibt es in Mp XIV 1, 41 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen sowie bereits mit der Überschrift der Druckfassung (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,41). In N II 3, 37 lautet ein vorbereitendes Bleistiftnotat: „Frauen merken es einem Manne an, ob seine Seele schon in Besitz genommen ist: sie wollen ohne Nebenbuhl. geliebt sein u. verargen ihm seine Ziele Wissenschaften usw. Es sei denn, dass er durch diese glänzt: dann hoffen sie durch eine Liebesverbindung mit ihm zugleich einen Zuwachs ihres Glanzes – und so begünstigen sie solche Liebhaber.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-3,37) Schon MA I 399, KSA 2, 269 hat darüber spekuliert, dass eine Frau durch ihren Mann berühmt werden wolle, MA I 401, KSA 2, 269 darüber, dass die Eitelkeit Frauen daran hindere, ihren bedeutenden Mann ganz für sich allein haben zu wollen. Durch Wiederholung wird der Befund – ist es überhaupt ein Befund oder bloß misogyne Topik? – freilich nicht wahrer. 271, 25 seine politischen Aufgaben] Eingefügt von N. erst im Druckmanuskript D 11, 155 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,155).
411. MA I 411 hat es auf einen Vergleich weiblicher und männlicher Intellektualität und Leidenschaftlichkeit abgesehen. „Der Intellect der Weiber“ (272, 7 f.) sei gekennzeichnet von völliger Präsenz, Dominanz und Vorteilsorientierung. Sie vererbten diese Eigenschaften auf ihre Kinder, deren charakterliche „Melodie“ (272, 13) sie bestimmten, während der Vater mit seinem „Willen[.]“ nur „Rhythmus und Harmonie“ (272, 11 f.) dazugäbe. „Für Solche gesagt, welche Etwas sich zurecht zu legen wissen: die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüth und die Leidenschaft.“ (272, 14–16) Das ist die exakte Umkehrung der herkömmlichen Geschlechteranthropologie, lehnt sich aber an Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe an, wonach ein Kind den Intellekt (welcher physisch ist) von der Mutter und den Willen bzw. den Charakter (das Metaphysische) vom Vater erbt. MA I 411 spart nicht mit Erläuterungen: Zwar habe es der Mann mit seinem Verstande viel weiter gebracht, aber nur, weil dahinter sein mächtiger Wille stehe –
772
Menschliches, Allzumenschliches I
der Verstand sei hingegen „an sich etwas Passives“ (272, 19). Trotz der Umkehrung der traditionellen Geschlechteranthropologie, die dem Manne die Vernunft, der Frau das Gemüt zuschreibt, bleibt in MA I 411 die traditionelle Zuordnung von Passivität/Frau und Aktivität/Mann unverändert erhalten. Das wird freilich im Text nicht reflektiert, sondern es wird die Behauptung in den Raum gesetzt, dass Frauen „im Stillen“ (272, 20) – woher weiß der mutmaßlich männliche Sprecher das eigentlich? – darüber erstaunt seien, dass Männer sie wegen ihres Gemütes verehrten. Wenn nun ein Mann nach einer Frau mit tiefem Gemüt trachte, und eine Frau nach einem Mann mit herausragendem Verstand, so könne man daran doch erkennen, „wie der Mann nach dem idealisirten Manne, das Weib nach dem idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern nach Vollendung der eigenen Vorzüge“ (272, 25–27). Zu MA I 411 gibt es in Mp XIV 1, 281 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,281 u. http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,282). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 69 f. lautet eine frühere Version: „127. Es bleibt dabei: die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüth und die Leidenschaft, desshalb bringen es die Männer wegen ihrer tieferen, gewaltigeren Antriebe auch mit ihrem Verstande so viel weiter; aber an sich ist der Verstand etwas Passives. Die Weiber lachen im Stillen oft über die grosse Verehrung, welche die Männer ihrem Gemüthe zollen. Wenn die Männer vor Allem nach einem tiefen gemüthvollen Wesen, die Weiber aber nach einem klugen, geistesgegenwärtigen ˹und˺ glänzenden Wesen bei der Wahl eines Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde deutlich, wie der Mann nach dem idealisirten Mann, das Weib nach dem idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern nach Vollendung der eigenen Vorzüge.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,69 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,70) Im Pflugschar-Manuskript M I 1, 70 folgt nun unmittelbar als neuer Abschnitt eine Variante vom späteren Anfang des Drucktextes MA I 411; in der Pflugschar-Anordnung ist die Gedankenfolge also gerade umgekehrt: „128. Der Intellect der Weiber zeigt sich als vollkommene Beherrschung, Geistesgegenwart, Benutzung aller Vortheile. Sie vererben ihn, als ihre Grundeigenschaft, auf ihre Söhne, und der Vater giebt den dunkleren Willenshintergrund dazu. Sein Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit dem das neue Leben abgespielt werden soll.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,70) Die von N. selbst niedergeschriebene Vorlage für Pflugschar 128 findet sich in U II 5, 173: „Der Intellect der Weiber zeigt sich als Geistesgegenwart, Benutzung aller Vortheile usw. Sie vererben ihn auf die Söhne: u der Vater giebt den dunkleren Willens-Hintergrund dazu, den besseren oder schlimmeren.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,173) Eine von N. notierte,
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 411, KSA 2, S. 271–272
773
frühere Fassung des Pflugschar-Abschnittes 127 lautet in U II 5, 177: „Es bleibt dabei: die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüth u die Leidenschaft: deshalb bringen es die Männer, wegen ihrer tieferen Antriebe auch im Verstande so viel weiter. Aber an sich ist der Verstand etwas Passives. – Die Weiber lachen im Stillen über die grosse Verehrung, die welche die Männer ihrem Gemüthe zollen. Die Männer idealisiren die Weiber; das Weib nimmt den Mann flacher u. äusserlicher u. deshalb gefällt er ihr“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,177). Ein weiteres Notat eine Seite später, also in U II 5, 178, lautet: „Die Weiber Verstand u. wenig ἦϑος u Gemüth. Die Männer haben Gemüth u. kommen deshalb mit ihrem ˹Verstand weiter˺“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,178). Die Argumentation in MA I 411 ist spannungsreich, was auch mit der Zusammenstückelung zweier unterschiedlicher Vorlagen aus U II 5 zusammenhängt: Der Drucktext fasst Intellekt und Verstand auf der einen, Gemüt und Leidenschaft auf der anderen Seite zusammen und sieht diese beiden Paare als Gegensatz. Für das erste Paar wird eine prinzipielle Passivität behauptet, die in starkem Kontrast zur Bestimmungsmacht steht, mit der der weibliche Intellekt zu Beginn des Abschnittes gekennzeichnet wird und die darüber entscheidet, wer oder was der Nachwuchs wird. Es scheint, als ob die Passivität vor dem Hintergrund landläufiger Geschlechterstereotypen in den Begriff des Verstandes – der allerdings, im Unterschied zur Vernunft, in der deutschen Wortgeschichte schon länger im Geruche steht, unproduktiv, unschöpferisch, steril zu sein (wenngleich bei Kant der Verstand im Unterschied zur passiven Anschauung noch als aktiv galt) – eingeschrieben worden sei, um den Umstand zu erklären, weshalb Frauen sozial untergeordnet und zurückgesetzt sind. Durch essentialistische Festschreibungen dessen, was Männer und was Frauen im Kern ausmachen soll, wird trotz der Umkehrung der traditionellen Zuschreibungen von Verstand und Gemüt die historisch etablierte, patriarchale Gesellschaftsordnung nicht angekratzt, und bei der Hörigkeit der Frau kann für die Sprechinstanz alles beim Alten bleiben. Akzentuiert wird das in MA I 412 mit der Versicherung, eigentlich seien ja trotz des entgegengesetzten äußeren Anscheins die Frauen diejenigen, die das Sagen hätten. Vgl. Bauer 2021, 212, Fn. 18 und ihren Hinweis auf Derrida 2003, 220. 272, 7 D e r w e i b l i c h e I n t e l l e c t. –] Von N. nachträglich in das von Köselitz niedergeschriebene Druckmanuskript D 11, 155 eingefügt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,155). 272, 14 f. Für Solche gesagt, welche Etwas sich zurecht zu legen wissen:] Von N. nachträglich in das von Köselitz niedergeschriebene Druckmanuskript D 11, 155 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,155).
774
Menschliches, Allzumenschliches I
412. MA I 412 spinnt die Überlegung von MA I 411 fort und verwebt sie mit dem Motiv des Parasitismus aus MA I 356, KSA 2, 253, diesen aber nicht wie dort als unvornehm scheltend, sondern als Zeichen der Klugheit verstehend: Frauen würden sich, weil sie so klug sind, ernähren lassen „wie Drohnen“ (273, 1), wird unter Rückgriff auf Hesiods Theogonie 585–602 behauptet. Man solle darüber nachdenken, weshalb das so sei und nicht umgekehrt. Das sei, wird behauptet, so, weil die „Eitelkeit“ der Männer die „Klugheit“ der Frauen überwiege (273, 4 f.). In Wahrheit hätten die Frauen, obwohl sie untergeordnet schienen, die „Herrschaft“ (273, 7) inne. Und überhaupt erscheinen die Frauen als Virtuosinnen des Parasitismus: Das Sich-Kümmern um Kinder sei „ursprünglich“ (273, 8) womöglich nur ein kluger Vorwand der Frauen gewesen, um nicht wirklich arbeiten zu müssen. Auch jetzt verstünden sie es, von ihrem Tun „zum Beispiel als Haushälterinnen“ (273, 11) ein solches „Aufheben zu machen“ (273, 12), dass die Männer „das Verdienst“ (273, 13) dieses Tuns völlig überschätzten. Zu MA I 412 gibt es in Mp XIV 1, 7 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen, noch ohne Überschrift, dafür mit einigen Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,7). In N II 2, 89 lautet ein Bleistiftnotat: „Drohnen im Bienenkorbe der Menschheit“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/N-II-2,89). Zur Interpretation von MA I 412 siehe Ries 1995, 222 f., Marton 2021, 56 f. u. Marton 2022, 65. 272, 29 E i n U r t h e i l H e s i o d ’ s b e k r ä f t i g t.] Der Hinweis auf Hesiod, der im Druckmanuskript (siehe NK 273, 1–3) gestrichen worden ist, wird dann erst im Titel, den das Druckmanuskript hinzufügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ D-11,156), explizit wieder aufgenommen. Die fragliche Passage aus der Theogonie 585–602 lautet in der Übersetzung von Karl Uschner, die sich in N.s Bibliothek erhalten hat: „Als nun Zeus für das Gut [Fn. Uschner: „Zur Strafe dafür, daß Prometheus den Menschen diebischer Weise das nützliche Feuer verschafft hatte“] geschaffen das reizende Unheil, / Führt er sie [Fn. Uschner: „Die Pandora“] hin in den Kreis der anderen Götter und Menschen, / Prangend in Leuchtaugs Schmuck, der Tochter des mächtigen Vaters. / Staunen erfaßte die Götter und sterblich geborenen Menschen, / Als sie den jähen Betrug, das Unglück schauten der Menschen. /22/ (Denn es entstammen von ihr die zartgeschaffenen Frauen.) / Denn des Gebildes Geschlecht bringt Weh, und die Stämme der Frauen / Wohnen zu schrecklichem Leid im Kreise der sterblichen Männer, / Theilen mit ihnen die Füll’ und nicht die verderbliche Armuth. / Wie in den wölbigen Körben die Bienen ernähren die Dronen, / Sie die steten Genossen der übelberufenen Werke; / Durch die Dauer des Tags, bis niedergesunken die Sonne, / Müh’n sich jene beständig und schaffen die weißlichen Waben; / Diese dagegen, verharrend im Innern der
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 412, KSA 2, S. 272–273
775
wölbigen Körbe, Lesen den fremden Erwerb im eigenen Magen zusammen: / So auch stellte die Frau’n zum Weh der sterblichen Männer / Zeus, der Donnerer, auf als leidiger Werke Genossen / Und er gab für das Gut noch anderweitiges Wehsal.“ (Hesiod 1865, 21 f.) 272, 29–273, 2 Ein Zeichen für die Klugheit der Weiber ist es, dass sie es fast überall verstanden haben, sich ernähren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe.] In seinem Handexemplar hat sich Karl Jaspers unterstrichen: „dass sie es fast überall verstanden haben, sich ernähren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe“, und am Rand dazu notiert: „Irrthum / ursprünglich fast immer umgekehrt“ (Nietzsche 1906, 309). 273, 1–3 wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erwäge doch, was das aber ursprünglich bedeuten will] In Mp XIV 1, 7 heißt es: „wie Drohnen im Bienenkorbe (Hesiod) ˹im Bienenkorbe im Bienenkorbe.˺ Man muss nur erwägen, ˹Man erwäge doch˺ was das ˹aber˺ ursprünglich bedeuten wollte ˹will˺“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,7). 273, 4–7 Gewiss weil die männliche Eitelkeit und Ehrsucht grösser als die weibliche Klugheit ist; denn die Frauen haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch den überwiegenden Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern.] In Mp XIV 1, 7 heißt es: „˹(gewiss weil ihre Eitelkeit und Ehrsucht grösser als ihre Klugheit ist)˺ denn sie haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch einen Vortheil ˹den überwiegenden Vortheil˺, ja die Herrschaft zu sichern“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,7). In dieser Fassung ist nicht klar, ob sich das zweifache „ihre“ und das „sie“ auf die „Frauen“ oder die „Männer“ im vorangehenden Satz beziehen. Das Druckmanuskript D 11, 156 stellt dann mit weiteren Korrekturen die bekannte Druckfassung her. Dabei fällt auf, dass Köselitz in „männliche Eitelkeit“ korrigiert und zunächst auch in „männliche Klugheit“. Bei der „Klugheit“ wird das „männliche“ dann jedoch von N. selbst gestrichen und durch „weibliche“ ersetzt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,156). Diese Ersetzung ist semantisch offenkundig problematisch und womöglich ein Versehen, denn die „Klugheit der Weiber“ (272, 30) führt ja nach 273, 5–7 gerade dazu, sich durch den Anschein der „Unterordnung“ (273, 6; N. hat 1878 zum Thema Mill 1872 erworben) die Macht zu sichern. Nach dieser Argumentationslinie macht sich die „weibliche Klugheit“ die überbordende „männliche Eitelkeit und Ehrsucht“ gnadenlos zunutze – die wiederum größer ist als die „männliche Klugheit“, von der im Druckmanuskript zunächst die Rede war. Dass die Frauen insgeheim die Herrinnen der Herren, der Männer seien, ist im 18. und 19. Jahrhundert eine weitverbreitete Meinung – siehe die Belege in NK KSA 3, 428, 15 –, für die beispielsweise Schopenhauer Zeugnis ablegt: „Der Mann strebt in Allem eine d i r e k t e Herrschaft über die Dinge an, entweder
776
Menschliches, Allzumenschliches I
durch Verstehen, oder durch Bezwingen derselben. Aber das Weib ist immer und überall auf eine bloß i n d i r e k t e Herrschaft verwiesen, nämlich mittelst des Mannes, als welchen allein es direkt zu beherrschen hat.“ (Schopenhauer 1873– 1874, 6, 655) 273, 10–14 Auch jetzt noch verstehen sie, wenn sie wirklich thätig sind, zum Beispiel als Haushälterinnen, davon ein sinnverwirrendes Aufheben zu machen: so dass von den Männern das Verdienst ihrer Thätigkeit zehnfach überschätzt zu werden pflegt.] In Mp XIV 1, 7 nachträglich eingefügt. Nach „machen“ in 273, 12 setzen KSA u. KGW einen Doppelpunkt und folgen damit wie GoA dem Druckmanuskript D 11, 156 sowie Mp XIV 1, 7. Die Korrekturbogen, die Erstausgabe (Nietzsche 1878, 280) und die Handexemplare setzen hier stattdessen ein Komma. Ob N. bei „Haushälterinnen“ und ihrem angeblichen Gewese an seine Schwester Elisabeth dachte, die ihm in Basel einige Zeit den Haushalt führte, steht dahin. Jedenfalls ist die aus 273, 10–14 sprechende Geringschätzung von care work heutigen Lesenden schwer vermittelbar, ebenso wie übrigens die (spieß)bürgerliche Erwerbsarbeitsperspektive.
413. Ganz im Stil der Desillusionierungskunst der französischen Moralistik, insofern sie sich auf die Abspannung vermeintlich allererhabenster Gefühle bezog, nimmt MA I 413 das Verliebt-Sein ins Visier, dem man oft mit einer besseren Brille abhelfen könne – und wenn man es fertigbringe, die geliebte Person sich zwanzig Jahre älter vorzustellen. Zu MA I 413 gibt es in Mp XIV 1, 294 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“, noch ohne Überschrift (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,294). Der Text findet sich wortgleich auch schon in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 47 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,47). In N II 1, 201 hat N. mit Bleistift notiert: „Mitunter genügt schon eine starke Brille gegen Verliebtsein“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,201). Auch wer geneigt ist, für MA I 413 bei dem bekanntlich unter starker Kurzsichtigkeit leidenden N. ein autobiographisches Fundament zu suchen, sollte sich in Erinnerung rufen, dass ein topisches Motiv des Abstrahieren-Könnens den Gedanken grundiert, vgl. die in NK ÜK MA I 279 mitgeteilte Stelle aus Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA VII 131 f.). „Der berühmte Physiker [Hieronymus] Cardanus, der 1501 bis 1576 lebte, […], hat ganz vorzüglich die Leiden der Kurzsichtigen beschrieben; am Schlusse behauptet er in humoristischer Weise, daß die Kurzsichtigen besonders verliebt wären, da sie die körperlichen Fehler
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 412–415, KSA 2, S. 273–274
777
nicht bemerken und alle menschlichen Wesen für Engel halten.“ (Cohn 1895, 370) Zu einem möglichen Pascal-Bezug in MA I 413 Marton 2014, 64 f.
414. Frauen seien, so MA I 414, im Hass viel konsequenter als Männer, denn sie nähmen keine Rücksicht, seien mit ihrem „dolchspitze[n] Verstand“ (273, 29; vgl. MA I 411, KSA 2, 272) unerbittlich findig, wenn es darum geht, die Schwachstellen des Hassobjektes aufzuspüren, wogegen Männer angesichts von Verletzungen häufig von ihrem Grimm abließen. Zu MA I 414 gibt es in Mp XIV 1, 72 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,72). In N II 2, 104 lautet ein Bleistiftnotat: „Im Hass sind Frauen gefährlicher als Männer 1) weil sie durch keine Billigkeit in ihrem feindlichen Beginnen [?] aufgehalten werden 2) weil ihr dolchspitzer Verstand geübt ist wunde Stellen zu stechen (während die Männer bei dem Anblick v. Wunden fast immer versöhnl. u. großmüthig gestimmt werden[)]“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II2,104). In einer weiteren Aufzeichnung in N II 2, das eine Parallele zu MA I 416, KSA 2, 274 aufweist, heißt es: „Ich finde den Mangel an Gerechtigkeitssinn bei Frauen e m p ö r e n d. Wie sie mit ihrem dolchspitzen Verstand verdächtigen usw.“ (NL 1877, KSA 8, 22[63], 389, 22–390, 2) Eine solche „Ich“-Perspektive versagt sich MA I 414 ebenso wie lauthals artikulierte Empörung, bedient sich aber aus dem breiten kulturgeschichtlichen Motivstrom entfesselter weiblicher Grausamkeit von Euripides’ Medea bis zu Schillers Lied von der Glocke (Verse 371–374: „Da werden Weiber zu Hyänen / Und treiben mit Entsetzen Scherz, / Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, / Zerreissen sie des Feindes Herz.“). 273, 23 zuvörderst] In Mp XIV 1, 72, im Druckmanuskript D 11, 156 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,156) sowie in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht stattdessen „einmal“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/317), in der Erstausgabe aber dann „zuvörderst“ (Nietzsche 1878, 281).
415. Nach MA I 415 ist die Idealisierung der Liebe eine ursprüngliche Erfindung der Frauen, die in ihrer Klugheit – vgl. MA I 411 u. 412, KSA 2, 272 f. – die Männer an sich binden wollten. Mittlerweile hätten die Frauen diesen Ursprung der überhöhten Schätzung der Liebe längst vergessen und seien selbst die Opfer der von
778
Menschliches, Allzumenschliches I
ihnen erzeugten Illusion geworden. Sie litten daher – so sie dazu „Phantasie und Verstand genug“ (274, 12 f.) hätten – an der zwangsläufigen Enttäuschung der Liebeserwartungen. Zu MA I 415 gibt es in U II 9, 67 eine Vorlage, noch ohne Überschrift (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-9,67). Dem Abschnitt zufolge ist Liebe als Passion also nicht als etwas Naturgegebenes, sondern etwas kulturell Gemachtes – wofür N. übrigens bei Lubbock 1875, 59 f. diverse ethnologische Belege von Völkern finden konnte, die solche Liebesvorstellungen nicht gekannt haben sollen. Die Gedankenfigur, dass die ursprüngliche Entstehungsursache, der Grund oder die Herkunft einer Sache im Laufe der Geschichte vergessen worden sei, bestimmt auch Paul Rées Ursprung der moralischen Empfindungen. N. nimmt die Figur beispielsweise in MA I 92 auf, vgl. NK 90, 3–10. In MA I 415 wird dieses Verfahren, verborgene Ursprünge aufzudecken und ihre Verborgenheit mit der Idee des Vergessens zu begründen, am Beispiel der Liebe erprobt. Zu MA I 415 siehe auch Piazzesi 2011, 129 und Skowron 2020, 149. 274, 11 f. Enttäuschung, welche fast nothwendig im Leben jeder Frau eintreten wird] In U II 9, 67 stattdessen: „Enttäuschung, welche fast nothwendig in jedem Leben eintreten muss wird“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-9,67). Im Druckmanuskript wurde „in jedem Leben“ korrigiert in: „im Leben jeder Frau“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,156). 274, 12 f. – sofern sie überhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um getäuscht und enttäuscht werden zu können.] Fehlt in U II 9, 67.
416. Unter der Überschrift „Z u r E m a n c i p a t i o n d e r F r a u e n“ (274, 15) wird diskutiert, dass Frauen doch eigentlich gar nicht „gerecht“ (274, 16) zu sein verstünden, weil sie gewohnt seien, gleich Zuneigung oder Hass zu empfinden, so dass sie „seltener für Sachen, mehr für Personen eingenommen“ (274, 18) seien, und wenn sie sich doch für Sachen interessierten, dann wären sie sofort parteiisch, weswegen sie in Politik und Wissenschaft fehl am Platz zu sein scheinen. Entsprechend nährten Frauen eine „heimliche Geringschätzung“ (274, 25) gegenüber der Wissenschaft. Immerhin konzediert der letzte Satz, dass „diess Alles anders werden“ (274, 26 f.) könne; jetzt aber sei es noch so – anthropologisch festgeschrieben ist die weibliche Parteilichkeit also nicht. Zu MA I 416 gibt es in Mp XIV 1, 125 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen, bereits mit Überschrift: „Zur Emancipation der Frauen. – Können sie überhaupt gerecht sein, wenn sie so gewohnt sind zu
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 415–416, KSA 2, S. 274
779
lieben, gleich für oder wider zu empfinden? Daher sind sie auch seltener für Sachen, mehr für Personen eingenommen: sind sie es aber für Sachen, so werden sie sofort Parteigänger derselben. Es entsteht eine grosse ˹nicht geringe˺ Gefahr, wenn ihnen die Politik und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden (z. B. Geschichte). Ich habe noch keine Frau kennen gelernt ˹Denn was wäre seltener, als eine˺ [Frau], welche wirklich gewusst hätte ˹wüsste˺, was Wissenschaft ist?; die Besten nähren sogar im Busen eine heimliche Geringschätzung, als ob sie irgend wodurch ihr überlegen wären. Vielleicht kann diess Alles anders werden, einstweilen ist es so.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,125) Den letzten Satz (im Druck 274, 26 f.) hat N. später hinzugefügt. Eine Vorlage zu Mp XIV 1, 125 hat N. in der Bleistiftaufzeichnung N II 3, 1b zu Papier gebracht: „Frauenemancipation / Sie können nicht gerecht sein, weil sie gewohnt sind zu lieben, gleich für oder wider zu empfinden. Daher selten für Sachen, mehr für Personen / Sind sie sachlich, so doch parteilich. Grosse Gefahr, wenn ihnen Politik u Wissenschaft (Geschichte) anvertraut wird / Ich habe noch keine Frau kennen gelernt, welche wirklich gewusst hätte, was Wissenschaft ist: die besten nähren sogar im Busen eine heimliche Geringschätzung, als ob sie irgend wodurch ihr überlegen wären.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,1b) In N II 2, 90 lautet ein Bleistiftnotat, das auch für MA I 417 eine Motivvorlage liefert: „Frauen / liebende Männer interpretiren die Aussprüche ihrer Für- u. Gegenneigungen wie sibyll. Orakel u. machen sie noch stolz darauf / Gerade ihrer Ungerechtigkeit wegen muss man das grösste Misstrauen gegen ihre Emancipation haben“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,90). Vgl. auch die in NK ÜK MA I 414 mitgeteilte Aufzeichnung NL 1877, KSA 8, 22[63], 389 f. u. NK ÜK MA I 487. Das in MA I 416 Behauptete schließt zwar gut an MA I 415, KSA 2, 274 an, wonach die Frauen ihrer eigenen, ursprünglich kalt kalkulierten Liebesemotionalität auf den Leim gingen, steht aber in Spannung zu MA I 411, KSA 2, 272, wonach Frauen im Unterschied zu den gemüts- und leidenschaftsdominierten Männern von nüchternem Verstand bestimmt wären, selbst wenn der nach MA I 414 im Hass „dolchspitz[..]“ (273, 29) würde. MA I 415 hat geschildert, wie die Frauen ihrer eigenen, eigennützigen Liebesidealisierungsstrategie zum Opfer gefallen sind. Das lässt an ihrem Verstand zweifeln – und MA I 416 bestärkt diesen Zweifel, der dann in MA I 419, KSA 2, 275 f. in der Diagnose weiblicher Widersprüchlichkeit gipfelt. Künftige Veränderung der eingeschliffenen weiblichen Denk- und Fühlgewohnheiten ist immerhin eine kulturelle Möglichkeit, die der in Mp XIV 1, 125 nachträglich eingefügte Satz 274, 26 f. in Aussicht stellt. Dass N. Frauen nicht prinzipiell von der Wissenschaft fernhalten wollte, bewies er 1874 als Abteilungsdekan an der Philosophischen Fakultät Basel durch sein Eintreten für die Zulassung von Susanna Rubinstein (1847–1914) zur Promotion – während Jacob Burckhardt sich dagegen gewandt hatte (Sommer 2011b, 44 f.). Zu MA I 416 und zu MA I 387 siehe Marton 2014, 55–62.
780
Menschliches, Allzumenschliches I
274, 17 empfinden?] KSA u. KGW emendieren hier wie GoA mit dem Druckmanuskript D 11, 157, indem sie ein Fragezeichen statt eines Punkts setzen (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,157). In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht aber – entgegen der Angabe in KGW IV 4, 223 – das Fragezeichen noch (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/318). Es muss im Korrekturprozess durch einen Punkt ersetzt worden sein, der so in der Erstausgabe steht (Nietzsche 1878, 282). Ganz offensichtlich hat N. schließlich den Punkt gewollt.
417. Nach MA I 417 hätten namentlich die „liebenden Männer[.]“ (275, 4) die Neigung, die raschen Urteile von Frauen vor allem bei „persönliche[n] Beziehungen“ (275, 2) als Orakelsprüche zu verklären. Aber die vermeintliche Treffsicherheit dieser intuitiven Urteile rühre gerade daher, dass jede Sache, jede Person nicht nur eine, sondern viele Seiten habe, und dass damit die eine Seite, welche die intuitiven Urteile herausstellen, tatsächlich auch immer eine dieser Seiten sei, und daher die Frauen „immer Recht“ (275, 14) behielten. Zu MA I 417 gibt es in Mp XIV 1, 72 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,72). Das in NK ÜK MA I 416 mitgeteilte Bleistiftnotat N II 2, 90 ist eine Vorarbeit auch zu MA I 417. Eine weitere Aufzeichnung findet sich in N II 2, 103: „dass man sagen konnte, die Natur der Dinge ist so eingerichtet, dass die Frauen immer Recht behalten / Immer findet sich nachher ein Grund, weshalb eine Person zu meiden oder suchen war oder eine Sache eine Partei zu lieben oder zu h zu schätzen oder zu bekämpfen sei“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II2,103). MA I 417 ist über weite Strecken kein Aphorismus über Frauen, sondern über männliche Projektionen, der dem raschen, eindeutigen Urteil die Facette der Mehrdeutigkeit verleiht. Die Sprechinstanz distanziert sich ironisch von den liebenden Männern und ebenso von der Gassenweisheit, „dass die Frauen immer Recht behalten“ (275, 14). N. hat sie beispielsweise im fünften Kapitel des siebten Buches von Henry Fieldings Roman Tom Jones auflesen können, den N. 1876 gekauft hat und in den Urlaub mitnehmen wollte (vgl. KGW IV 4, 512, Fn. 24): „’S [sic] Weib hat immer Recht, und der Mann m u ß immer Unrecht hab’n.“ ([Fielding] 1786–1788, 3, 54) Lässt sich schließlich MA I 417 auch als freiwillige oder unfreiwillige Erhellung eines Verfahrens lesen, das viele Texte gerade des Siebten Hauptstücks zu fabrizieren half – nämlich des Verfahrens raschen, einseitigen Urteilens? Irgendetwas erwischen und treffen diese Texte stets, weil sie oft nur eine Seite des jeweils vielseitigen Phänomens herausgreifen.
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 416–418, KSA 2, S. 274–275
781
274, 30 plötzlichen Entscheidungen] Mp XIV 1, 72 hat stattdessen: „schnelle Entscheidungen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,72). 275, 5 alle Frauen] In Mp XIV 1, 72 korrigiert aus: „die Frauen“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,72). 275, 6–8 auch ohne den delphischen Kessel und die Lorbeerbinde: und ihre Aussprüche werden noch lange nachher wie sibyllinische Orakel interpretirt und zurechtgelegt] Davon, welche Rolle der (dem Apollon heilige) Lorbeer und der (mögliche) Kessel auf dem Dreifuß der Pythia gespielt haben, die in Delphi ihre Orakelsprüche formulierte, gab es in der Forschung des 19. Jahrhunderts recht unterschiedliche Vorstellungen. Karl Böttichers Werk Die Tektonik der Hellenen, das N. für seine Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen ausbeutete – siehe NK 97, 12 –, konnte N. folgende Beschreibung entnehmen: „Neben der Orakelkluft mit dem mantischen Dreifuße welchen die Pythia bestieg, stand ursprünglich der heilige L o r b e e r b a u m unter dessen Zweigen einst der vom Apollon auf den Tod verwundete Python endete; durch ihn bedingte sich im Adyton ursprünglich eine hypäthrische Einrichtung die gleichwohl einen von Außen unschaubaren Raum bildete, denkt man sich nun auch bei den spätern Zerstörungen und Umbauten des Heiligthumes den Baum verschwunden und die Ausstattung des Adyton statt dessen mit frischen Zweigen und Kränzen von Lorbeer bewirkt, wurde doch auf alle Fälle die Beleuchtung durch ein Opaion festgehalten. Neben dem mantischen Dreifuße befand sich das Grab des von den Titanen zerrissenen Dionysos Zagreus, dessen Reliquien Apollon gesammelt und hier beigefetzt hatte, nebst einem dem Dionysosdienste zugehörigen Handleuchter, Bakchos oder Phanos. Außer diesem Dionysosgrabe war der Kessel /311/ des mantischen Dreifußes selbst das Grab des Python, dessen Knochen und Zähne er aufnahm, dessen Haut sein Aeußeres bedekken sollte.“ (Bötticher 1852, 2/4, 310 f.)
418. MA I 418 versucht sich in einer Chemie der Liebe: Bei einer Paarbeziehung sei „gewöhnlich“ (275, 17) der/die eine der/die Liebende, der/die andere der/die Geliebte, worauf die Auffassung zurückzuführen sei, in einer Beziehung gebe es jeweils „ein gleichbleibendes Maass von Liebe“ (275, 19), so dass, je mehr auf der einen Seite sei, desto weniger auf der anderen Seite sich finden lasse. Da könne es passieren, dass dank „Eitelkeit“ (275, 21) jede/r nur der/die Geliebte sein wolle, was zu manchen „halb drollige[n], halb absurde[n] Scenen“ (275, 24 f.) führe. Zu MA I 418 gibt es in Mp XIV 1, 100 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem blauen „A“ und zwei blauen Strichen, noch ohne Überschrift, die ursprünglich
782
Menschliches, Allzumenschliches I
lautete: „Weil der Eine von zwei liebenden Personen gewöhnl. der Liebende, der Andere der Geliebte ist, so ist der Glaube entstanden, es gäbe in jedem Liebeshandel ein gleichbleibendes Maass von Liebe: je mehr einer davon an sich reisse, um so weniger bleibe für die andere Person übrig (Moreto der Gerichtsherr).“ In einer Überarbeitung mit dunklerer Tinte wird dann der schließliche Drucktext hergestellt und mit einem „+)“ oben an der Seite nach der Streichung der Klammer am Schluss der Satz hinzugefügt: „Ausnahmsweise kommt es vor, dass die Eitelkeit jede der beiden Personen überredet, sie sei die, welche geliebt werden müsse; so dass sich beide lieben lassen wollen: woraus sich namentl. in der Ehe mancherlei halb drollige, halb absurde Scenen ergeben.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,100) Der Hinweis auf die Quelle, nämlich Agustín Moreto y Cabañas (1618–1669) Komödie El valiente justiciero, y El ricohombre de Alcalá, entfällt in der Druckversion, wodurch die Suggestion entsteht, die Ausführungen in MA I 418 beruhten auf empirischen Beobachtungen, während sie doch auf einen Theaterlektüreneindruck zurückgehen. Malwida von Meysenbug berichtet in ihrem Brief aus Sorrent an Olga Monod vom 16. 01. 1877, sie habe eine „Sammlung der besten Stücke des Spanischen Theaters“ kommen lassen und gleich mit der gemeinsamen Lektüre begonnen (Schleicher 1920, 116). Gemeint ist die von Moriz Rapp, Hermann Kurz und Ludwig Braunfels herausgegebene Anthologie Spanisches Theater, wo im 7. Band Moretos Stück unter dem Titel Der gestrenge Gerichtsherr abgedruckt ist (Spanisches Theater o. J. [1870], 7, 7–98). In seiner Einleitung betont Rapp, wie sehr sich Moreto darin vorgenommen habe, „ein vergangenes, rauhes Zeitalter zu schildern“ (ebd., 9). Das Stück handelt vom grausamen Grundherrn Don Tello, der allen Frauen nachstellt, worauf der König Don Pedro, zu dem die Klagen gedrungen sind, sich verkleidet und unerkannt in Tellos Umfeld auftaucht, sich der Entrechteten annimmt und ihre Klagen gegen Tello führt, ihn zum Tode verurteilt, aber doch heimlich nachts aus dem Kerker lässt, um ihn dann im ehrlichen Zweikampf Mann gegen Mann zu besiegen. Ein Gespenst, eine Klostergründung und ein wieder in Gnaden aufgenommener, einst rebellischer Bruder des Königs komplettieren das Bild, so dass in der Schlussszene der König dem reumütigen Tello gebietet, sich mit der Klage führenden, von Tello einst um ihre Ehre gebrachten Donna Leonor zu vermählen. Von Liebe ist in dem Stück wenig die Rede, dafür umso mehr von Gerechtigkeit und Macht und den zwei Körpern des Königs als Individuum und als Amt. Offensichtlich spielt N.s gestrichener Hinweis auf eine Sequenz in der ersten Szene des ersten Aktes an, in der Leonor beschreibt, wie sie als naive junge Frau Tellos Werben erlegen sei: „Ihn hört’ ich einzig, dessen Lügenwort / Anfangs mir widerlich, doch durch Gewohnheit / Sich mir einschmeichelte; mit Gleißnerzunge / Wußt’ er mein unerfahren Herz zu stehlen. / […] Des Stolzes Eis verkehrte sich
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 418–419, KSA 2, S. 275–276
783
in Feuer, / Ich stürzte wild in seine Liebe mich. / Ich weiß nicht, war es Neigung, war’s Gewohnheit, / Oder angeborne Unterwürfigkeit, / Oder das alles nicht, – gewiß nur war, / Daß meine Leidenschaft im Wrack der Ehre / Erst mächtig seines Stolzes Segel schwellte; / Je mehr ich glühte, desto kühler ward er. / Mir kommt es vor, jegliche Liebe zeuge / Ein ihr gemäßes Maß von Leidenschaft, / Die, gleich vertheilt, nie aus den Schranken tritt; / Doch reißt der eine Theil mehr, als ihm zukommt, / An sich, alsbald tritt Mangel ein beim andern: / So treffen sich nie zwei gleich mächt’ge Flammen. / Ganz diese Wahrheit zeigt’ unser Verhältniß; / Je mehr ich Flamme ward, so mehr er Eis“ (Spanisches Theater o. J. [1870], 7, 25). Dies ist bis in die Wortwahl hinein genau jener „Glaube“, dem zufolge es „in jedem Liebeshandel ein gleichbleibendes Maass von Liebe“ gäbe: „je mehr eine davon an sich reisse, um so weniger bleibe für die andere Person übrig“ (275, 18–21). Erst der Schlusssatz, der nach der Streichung des Hinweises auf Moreto hinzugefügt wurde (275, 21–25), verlässt dieses Setting und hat mit El valiente justiciero nichts mehr zu tun.
419. MA I 419 nimmt den Faden von MA I 416, KSA 2, 274 wieder auf, der – im Kontrast zu MA I 411, KSA 2, 272 – den „Weiber[n]“ (275, 28) Unsachlichkeit unterstellt, die es ihnen wiederum ermögliche, „Richtungen“ (275, 29) in ihren Gedanken einzuschlagen, die zueinander „in Widerspruch“ (275, 30) stünden. So würden Frauen „für die Vertreter dieser Richtungen der Reihe nach“ (275, 30–276, 1) eingenommen und übernähmen deren jeweilige „Systeme“ (276, 2) ganz und gar. Wenn nun aber „eine neue Persönlichkeit“ (276, 3) in den Vordergrund trete, entstünde eine „todte Stelle“, so dass „die ganze Philosophie im Kopf einer alten Frau aus lauter solchen todten Stellen“ (276, 5 f.) bestehe. Zu MA I 419 gibt es in Mp XIV 1, 43 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen, bereits mit nachträglich eingefügter Überschrift: „Widersprüche in weibl. Köpfen. / Weil die Weiber so viel mehr persönlich als sachlich sind, vertragen sich in ihrem Gedankenkreise Richtungen, die logisch mit sich im Widerspruche sind: man hatte ˹sie pflegen˺ sich ˹eben˺ für ihre ˹die˺ Vertreter ˹dieser Richtungen der Reihe nach˺ ⎣zu⎦ begeistertn; man wird dort blind u. inconsequent ˹und nehmen deren Systeme˺ ⎣in Bausch und Bogen⎦ ˹an, doch so, dass überall dort eine todte Stelle entsteht˺, wo die ˹eine˺ neue Persönlichkeit ˹später˺ das Uebergewicht bekamommt.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,43) Ein Bleistiftnotat in N II 3, 25 lautet: „Persönl. bei den Weibern / deshalb begeistern sie sich für Dinge, welche logisch im Widerspruch sind. Inconsequent immer an dem Punct wo die neue Persönlichkeit – – –“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,25).
784
Menschliches, Allzumenschliches I
Die Argumentation von MA I 419 macht selbst einen widersprüchlichen Eindruck, unterstellt der Abschnitt eingangs doch, im Kopfe einer Frau könne wegen ihrer Orientierung an Persönlichem statt an Sachlichem logisch Widersprüchliches koexistieren. Die Suggestion ist die einer gleichzeitigen Koexistenz. Im Fortgang ist aber von einer zeitlichen Abfolge der durch Persönlichkeiten repräsentierten „Richtungen“ oder „Systeme“ die Rede. MA I 268 hatte – unter dem Leitvergleich des Generationenkonflikts von Vater und Sohn – die Entwicklung des (männlichen?) Individuums, „welches durch mehrere Culturen geht“ (222, 20 f.), in analoger Weise geschildert, nämlich als Abfolge einander widersprechender, unvereinbarer Positionen, die miteinander im Kampfe liegen. MA I 419 lässt bei den an „Persönlichkeiten“ interessierten Frauen einen solchen Kampf nicht aufkommen, sondern nur eine Wüstenei „todter Stellen“. Würde sich die Sprechinstanz zu einer Begründung aufraffen, könnte sie argumentieren, Frauen sei eben im Unterschied zu Männern nicht an einer sachlichen Auseinandersetzung gelegen, weshalb ihnen die Widersprüche gänzlich gleichgültig seien, so dass die abgelebte Position keines Blickes mehr gewürdigt werde und tot sei. Ob N. hier bestimmte Personen seines persönlichen Umfelds im Sinn hatte (sollte zumal der letzte, spät hinzugefügte Satz 276, 4–6 gar ein Seitenhieb auf Malwida von Meysenbug sein?) oder er wiederum wie in MA I 418 Angelesenes verarbeitet, steht dahin. Ebenso, ob die Lesenden daraus zum Verhältnis von Frauen und „Philosophie“ (276, 5) folgern sollen, Frauen könnten nur bereits Gedachtes übernehmen, nicht aber selbst „Systeme“ (276, 2) schaffen. 276, 4–6 Es kommt vielleicht vor, dass die ganze Philosophie im Kopf einer alten Frau aus lauter solchen todten Stellen besteht.] Erst im Druckmanuskript D 11, 157 von Köselitz’ Hand hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,157).
420. Mit den Folgen eines persönlichen Streits zwischen Mann und Frau beschäftigt sich MA I 420: „[D]er eine Theil“ (276, 10) leide dann darunter, den andern verletzt zu haben, während dieser andere Teil darunter leide, den andern nicht genügend verletzt zu haben, „wesshalb er sich bemüht, durch Thränen, Schluchzen und verstörte Mienen, ihm noch hinterdrein das Herz schwer zu machen“ (276, 13–15). Obwohl beide Subjekte grammatikalisch männlich sind (der „Theil“), macht doch die dem „andern“ Teil zugeschriebene Verhaltensweise – das ostentative Weinen – deutlich, dass unter sozialen Bedingungen, die Weinen als weibliches Verhalten bei Männern ächten, dieser andere Teil im Beziehungskonflikt vermutlich die Frau sein soll – die als hassend und rachsüchtig gilt. Aber woher soll die (männliche?) Sprechinstanz über die geheimen Motive hinter diesem Verhalten
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 419–421, KSA 2, S. 276
785
Bescheid wissen? „Thränen sind der Weiber Waffe“, glaubt ein zu N.s Zeit gängiges Sprichwort zu wissen (Wander 1867–1880, 4, 1165). Das von Köselitz niedergeschriebene Druckmanuskript D 11, 158 ist der früheste derzeit nachweisbare Textzeuge für MA I 420 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,158). Vgl. zu MA I 420 auch Smitmans-Vajda 1999, 116.
421. MA I 421 versucht sich in einer die landläufigen „Ansprüche der Sitte“ (276, 18) hintanstellenden Erwägung, ob sequenzielle Bi- oder Polygamie für einen Mann dienlich wäre, der in seinen Zwanzigern eine ältere, ihm überlegene Frau heiraten solle, die ihn durch die Irrungen und Wirrungen dieses Lebensjahrzehnts führe, bis er dann in seinen Dreißigern ein „ganz junge[s] Mädchen“ (276, 28 f.) heiraten würde, das er dann selber erziehen könne. „Die Ehe ist für die zwanziger Jahre ein nöthiges, für die dreissiger ein nützliches, aber nicht nöthiges Institut: für das spätere Leben wird sie oft schädlich und befördert die geistige Rückbildung des Mannes.“ (276, 30–277, 3) MA I 394, KSA 2, 268 hatte demgegenüber generell behauptet, dass die Männer durch die Ehe meist nicht gefördert würden, sondern zurückgebildet. Zu MA I 421 gibt es in Mp XIV 1, 276 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen, noch ohne Überschrift. In dieser Fassung, in der das spätere Ende 276, 30–277, 3 noch fehlt (N. hat es handschriftlich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 158 nachgetragen – http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,158), findet auch der im Drucktext 276, 25 vollzogene Übergang vom Indikativ in den Konjunktiv II – der erst in den Korrekturbogen erfolgt, vgl. NK 276, 29 f. – nicht statt: „Wenn man sich über die Ansprüche der Sitte einmal in Gedanken hinwegsetzt, so könnte man wohl erwägen, ob nicht Natur und Vernunft den Mann auf mehrfache Verheirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt, dass er zuerst im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein älteres Mädchen heiratet, das ihm geistig und sittlich überlegen ist und seine Führerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz, Hass, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe dieser tritt später ganz in das Mütterliche über, und sie erträgt es nicht nur, sondern fördert es auf die heilsamste Weise, wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Mädchen eine Verbindung eingeht, dessen Erziehung er selber in die Hand nimmt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,276 u. http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,277) Eine frühere Fassung findet sich in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 67, mit einem anderen Anfang: „Vielleicht weist die Natur den Mann auf mehrfache Verheirathung nach
786
Menschliches, Allzumenschliches I
einander an, etwan so, dass er zuerst im Alter von zweiundzwanzig Jahren ein älteres Mädchen heiratet, das ihm geistig und sittlich überlegen ist, und seine Führerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz, Hass, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe Dieser tritt später ganz in das Mütterliche über, und sie erträgt es nicht nur, sondern fördert es auf die heilsamste Weise, wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Mädchen eine Verbindung eingeht, dessen Erziehung er selber in die Hand nimmt.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,67) In Heft U II 5b gibt es eine Vorarbeit dazu, die noch einen mythologisch-literarischen Beleg für diese angeblich angeratene Haltung der ersten Frau beibringt: „Die Natur weist den Mann auf mehrfache Verheirathung nach einander an: zuerst ein älteres Mädchen. Übergang derselben später in’s Mütterliche. / ‚Alcestis will sterben für ihren Gatten‘, spendet ihm mütterliche Liebe: sie will eine zweite Verheirathung zulassen. Sie wird aus dem Hades zurückgeholt.“ (NL 1876, KSA 8, 17[29], 301, 20–25) Alkestis ist in der gleichnamigen Tragödie des Euripides für ihren Mann Admet in den Tod gegangen, um sein Leben zu retten. In GT 8 wird Admets Trauer (vgl. Euripides: Alkestis 1123–1125) thematisiert, vgl. NK KSA 1, 63, 31. Admet sollte für einen Frevel mit dem Leben bezahlen, es sei denn, ein anderer opfere sich, wozu dann nur seine Gattin bereit ist. Schließlich holt Herakles Alkestis aus dem Hades verschleiert zurück, aber Admet will sie, über ihre Identität im Unklaren, nicht anrühren, weil er seiner Frau treu bleibe. Erst als Herakles den Schleier zurückschlägt, erkennt Admet seine Alkestis. Eine zweite Gattin kommt nicht ins Spiel. In der Lehre hat N. die Alkestis im Sommersemester 1875 und im Sommersemester 1876 behandelt, siehe Janz 1974, 202. Der Abschnitt MA I 421 mag heute empörend wirken, weil er aus der Nützlichkeitsperspektive des Mannes zu operieren scheint – jene Perspektive übrigens, die Pheres seinem Sohn Admet in Euripides’ Alkestis gerade zum Vorwurf macht: Er, Admet, hätte sich opfern lassen und das Opfer seiner Frau Alkestis nicht zulassen sollen. Oder steht in MA I 421 vielmehr die Bildungsperspektive der jungen Menschen im Mittelpunkt, die jeweils von älteren, gegengeschlechtlichen Partnern unterwiesen werden sollen? In beide Richtungen versteht MA I 421 die Ehe jedenfalls als Bildungsanstalt und nimmt die heutige soziale Tatsache der sequentiellen Monogamie in mancher Hinsicht vorweg. Vgl. auch MA I 424, KSA 2, 278 f. 276, 29 f. eine Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in die Hand nähme] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „eine Verbindung eingeht, dessen Erziehung er selber in die Hand nimmt“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/320/).
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 421–422, KSA 2, S. 276–277
787
422. MA I 422 stellt Kindheitstragödien als lebensbestimmend heraus: Manch einer habe seine härtesten Kämpfe in seiner Jugend gegen Vater oder Mutter auszufechten gehabt. Dann werde man „sein Leben lang es nicht verschmerzen“ (277, 12 f.), dass diese(r) der „gefährlichste Feind“ (277, 13 f.) gewesen sei. Zu MA I 422 gibt es in Mp XIV 1, 202 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“ und bereits mit der Überschrift der Druckfassung: „Tragödie der Kindheit. – Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass edel und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit zu bestehen haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen eine niedrig denkende, dem Schein u der Lügnerei ergebene Mutter durchsetzen müssen. Hat man so etwas erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen zu wissen, wer ˹einem˺ eigentlich der grösste, sein ˹der˺ gefährlichster Feind gewesen ist.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,202) In der ursprünglichen Fassung sind also die in MA I 422 auf den „Vater“ gemünzten Passagen (277, 8 f.) an die Mutter adressiert; die Konkretion mit Byrons Mutter (vgl. NK 277, 10 f.) fehlte noch. Die Umstellung erfolgte in einer Korrektur, die N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 158 anbrachte (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,158). Bemerkenswert ist, dass diese „T r a g ö d i e“ (277, 5) offenbar besonders „edelund hochstrebende[n] Menschen“ (277, 6) widerfährt. Heißt das, dass ihr (späteres) Streben kausal von der verpatzten Kindheit abhängig ist, sie diese Kindheit zu solchem Streben erst befähigt? In der Sache nimmt MA I 422 das begrifflich 1878 noch nicht etablierte Kindheitstrauma vorweg, mit dem moderne Psychologie im Gefolge Sigmund Freuds zu operieren pflegt, vgl. auch Gasser 1997, 416. N. selbst ist es nicht erspart geblieben, dass jemand wie Miller 1991 sein ganzes Werk aus kindheitlichen Traumatisierungen erklärte. Zu MA I 422 siehe auch Skowron 2020, 147. 277, 10 f. oder fortwährend, wie Lord Byron, im Kampfe mit einer kindischen und zornwüthigen Mutter leben] Thatcher 1974, 141 behauptet, MA I 422 beziehe sich auf N.s Beziehung zu seiner Schwester: „Could it be that in Manfred’s incestuous or near-incestuous love for his sister, Astarte, Nietzsche recognized an attitude disturbingly close to his own highly ambivalent feelings towards Elisabeth? An aphorism in Menschliches, Allzumenschliches, entitled ‚Tragödie der Kindheit,‘ lends some credibility to this view. […] No figure in Nietzsche’s life was better qualified for the invidious role of ‚gefährlichste Feind‘ than Elisabeth“. Aber von einer Schwester ist in MA I 422 nicht die Rede, sondern, auch in der ursprünglichen Fassung, von der Mutter – und dann in der Druckversion ausdrücklich von Byrons Mutter, über die Thatchers Aufsatz keine Auskunft gibt, obwohl Byron und N. sein Gegenstand ist. In der Byron-Biographie- und Werkkompilation von
788
Menschliches, Allzumenschliches I
Ernst Ortlepp, die N. unter seinen Büchern hatte – vgl. Large 2019, 122 –, heißt es zu Byrons Mutter Catherine Gordon of Gight (1770–1811), sie sei „voll leidenschaftlicher Extreme“ gewesen, „Kummer und Neigung waren bei ihr eben so sehr der Ausdruck des Gefühls als der Heftigkeit ihres Charakters“ (Ortlepp o. J., 1, 19). Sie habe angesichts des Klumpfußes ihres Sohnes nicht davor zurückgeschreckt, sich „in unedlen Sarkasmen“ zu ergehen und „ihn in den Anfällen ihrer Leidenschaft einen lahmen Balg“ zu nennen (ebd., 23). Ähnlich erzählt es die „Biographische Notiz“, die dem ersten Band der Sämmtlichen Werke Byrons in der Übersetzung von Adolf Böttger beigegeben ist, die N. ebenfalls besaß: „Dagegen mag aber auch der schnelle Wechsel von mütterlicher übertrieben-ängstlicher Obhut und selbstüberlassener Ungebundenheit einen nachtheiligen Einfluß auf den Charakter Byron’s geübt, und Trotz, Eigensinn, Unfügsamkeit und Uebermuth in ihm geweckt haben. / Der auffallendste Zug in Byron’s Charakter zu dieser Zeit war seine außerordentliche Empfindsamkeit. Die Verhöhnungen in einer öffentlichen Schule, und die unedlen, unschicklichen Sarkasmen einer Mutter, welche in leidenschaftlichen Aufwallungen den Knaben seiner Lahmheit wegen verspottete, scheinen jene Empfindlichkeit sehr gesteigert und ihn gereizt zu haben, die Güte und Weisheit einer Vorsehung, welche ihn schon bei seinem Eintritt in die Welt mit einem Uebelstande belastet hatte, in Zweifel zu ziehen.“ (Byron 1864, 1, 6) Vgl. NK 183, 22–30.
423. Nach MA I 423 gehen die Eltern in ihren Gesamturteilen über ihre Kinder meisten fehl. Das könnte der Fall sein, weil Eltern der Blick aus der Ferne fehlt, wie ihn Reisende haben, bevor sie sich an das bereiste Land schon zu sehr gewöhnt haben. Oder sie sind einfach gewohnt, über das Nächstliegende gar nicht nachzudenken – und vertun sich, wenn sie darüber doch ein Urteil fällen sollen. Zu MA I 423 gibt es in Mp XIV 1, 264 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,264). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 73 f. findet sich eine zunächst mit Mp XIV 1, 264 textidentische Version, die allerdings am Schluss abweicht. Statt der schließlichen Druckversion 277, 28–278, 3 heißt es dort: „Eine ganz andere Erklärung wäre folgende: Die Menschen pflegen über das Nächste, was sie umgiebt, nicht mehr nachzudenken. Vielleicht ist die Gedankenlosigkeit der Aeltern der Grund, wesshalb sie, e schief urtheilen.“ N. hat dann nachträglich noch „einmal genöthigt, über ihre Kinder zu urtheilen, so“ eingefügt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,74). Die Keimzelle dieser Überlegungen findet sich
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 422–424, KSA 2, S. 277–278
789
in U II 5, 146: „Eltern kennen Kinder nicht: / die gröbsten Irrthümer in der Beurtheilung / 1) ? zu viel Erfahrungen? 2) Über das Nächste denkt man nicht nach –“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,146). Dass mit 277, 28 tatsächlich eine „ganz andere Erklärung“ beginnt, ist die Suggestion, die die Zweiteilung in U II 5, 146 skizziert. Näher besehen ist das dann von 277, 28 bis 278, 3 Folgende nur eine Variante des ersten Arguments: Zu große Nähe verschleiert den Blick. Zum Thema der Nähe, die Konturen verwischt, siehe auch MA I 428, KSA 2, 280. 277, 16 gröbsten] So Mp XIV 1, 264 und M I 1, 73, während im Druckmanuskript D 11, 158 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,158), in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 285) sowie in den Handexemplaren „grössten“ steht. KGW, KSA u. GoA ‚emendieren‘ wegen eines angeblichen „Lesefehler[s] von Gast“ (KGW IV 4, 224) nach Mp XIV 1, 71 zu „gröbsten“.
424. Wie MA I 421 überschreitet MA I 424 die Grenzen der bürgerlichen Sexualmoral: Man solle doch – direkt adressiert an die „edlen, freigesinnten Frauen, welche die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechtes sich zur Aufgabe stellen“ (278, 5–7) – erwägen, dass, wolle man die Ehe künftig als „Seelenfreundschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechts“ (278, 9 f.) gestalten, es tunlich sei, den Männern zur sexuellen Befriedigung auch noch eine Konkubine zu gestatten. Denn eine gute Ehefrau, die überdies noch „Freundin, Gehülfin, Gebärerin, Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Geschäft und Amte vorzustehen hat, kann nicht zugleich Concubine sein“ (278, 22–25). Zu MA I 424 gibt es in Mp XIV 1, 101 eine unübersichtliche ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“ und einem blauen „A“ sowie zwei blauen Strichen, noch ohne Überschrift, dafür mit vielen Überarbeitungsspuren (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,101). KGW IV 4, 224 verzeichnet N II 2, 32 als „Vs“, Vorstufe für MA I 424. Ein Bleistiftnotat auf diesem Blatt handelt von einer „Kopfund herzstärkende[n] geistig freien Geselligkeit“, ist aber als Ganzes nur schwer zu entziffern (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,32). Während MA I 424 für das Konkubinat plädiert, behauptet NL 1876/77, KSA 8, 23[79], 429 f. hinter dem Anschein der Monogamie eine faktische Polygamie. Inspiration konnte sich N. bei Schopenhauer 1873–1874, 6, 659 holen, der gegen die Monogamie und für das Konkubinat und die Polygamie plädiert: „In Hinsicht auf diese Seite unsrer monogamischen Einrichtung ist des T h o m a s i u s grundgelehrte Abhandlung de concubinatu höchst lesenswerth, indem man daraus ersieht, daß, unter allen gebildeten Völkern und zu allen Zeiten, bis auf die Lutherische Reformation herab, das Kon-
790
Menschliches, Allzumenschliches I
kubinat eine erlaubte, ja, in gewissem Grade sogar gesetzlich anerkannte und von keiner Unehre begleitete Einrichtung gewesen ist, welche von dieser Stufe bloß durch die Lutherische Reformation herabgestoßen wurde, als welche hierin ein Mittel mehr zur Rechtfertigung der Ehe der Geistlichen erkannte; worauf denn die katholische Seite auch darin nicht hat zurückbleiben dürfen. / Ueber P o l y g a m i e ist gar nicht zu s t r e i t e n, sondern sie ist als eine überall vorhandene Thatsache zu nehmen, deren bloße R e g u l i r u n g die Aufgabe ist.“ MA I 424 scheint die Perspektive vermeintlich notwendiger männlicher Bedürfnisbefriedigung in den Vordergrund zu stellen, was den Text für moderne Ohren empörend wirken lässt (vgl. Skowron 2020, 145). Andererseits soll der Vorschlag gerade die Ehefrau entlasten, sie sogar zu einem „eigenen Geschäft und Amte“ (278, 24) freistellen. Das Konkubinat käme auch der Ehefrau zu Gute – oder gar zur Hauptsache? –, indem es sie vom Sexualdruck des Mannes schützt. Wenn MA I 424 den Ehefrauen entsprechendes Gegenrecht einräumen würde, sich einen Beischläfer jenseits der Ehe anzuschaffen, wäre dann der Empörungsmakel von MA I 424 aus heutiger Perspektive geheilt – zumal in Anbetracht von MA I 425, wonach Frauen alles werden können? Immerhin analysiert MA I 424 die notorische Überforderung der exklusiven Paarbeziehung, hat jedoch nur eine Lösung im Sinn, zumal starker sexueller Trieb einseitig auf Seiten des Mannes angesiedelt bleibt. Zu N.s Eheideen im Abgleich mit Mill siehe auch Abbey 1997. 278, 8–10 die Ehe in ihrer höheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechts] Diese Stelle ist die einzige, an der in N.s Œuvre das Wort „Seelenfreundschaft“ vorkommt, das besonders in der protestantischen Erbauungsliteratur vielfach belegt ist. Mit „Ehe“ wird „Seelenfreundschaft“ gelegentlich in zeitgenössischer Belletristik zusammengedacht, so in der deutschen Version von Honoré de Balzacs Physiologie du mariage: „sie sagt Dir, daß sie Dich liebt, wie man einen Bruder liebe, – daß diese vernünftige Seelenfreundschaft die einzig wahre sei, und daß die Ehe keinen anderen Zweck habe, als jenes feierliche Bündniß zwischen zwei Gatten unumstößlich zu stiften“ (Balzac 1863, 162). 278, 14 besorgen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „besagen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1648750028/322/). 278, 19 angedeuteten] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand „angesetzten“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/322/). Das Wort ist mit Bleistift unterstrichen und am Rand mit Fragezeichen markiert. 278, 26–32 Somit könnte in Zukunft das Umgekehrte dessen eintreten, was zu Perikles’ Zeiten in Athen sich begab: die Männer, welche damals an ihren Eheweibern
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 424–425, KSA 2, S. 278–279
791
nicht viel mehr als Concubinen hatten, wandten sich nebenbei zu den Aspasien, weil sie nach den Reizen einer kopf- und herzbefreienden Geselligkeit verlangten, wie eine solche nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen zu schaffen vermag.] Aspasia von Milet (ca. 470–420) unterhielt in Athen einen philosophischen Gesprächskreis, war Rednerin und intellektuelle Gefährtin des Perikles (vgl. Plutarch: Perikles 24). Nach MA I 424 waren also im alten Athen die Ehefrauen nur Sexualobjekte, und zu geistigem Austausch verfügten sich die Männer zu Hetären. Künftig solle das umgekehrt sein. Vgl. zur Rolle der Frau im alten Athen auch NK KSA 5, 175, 12–25. 278, 32–279, 3 Alle menschlichen Institutionen, wie die Ehe, gestatten nur einen mässigen Grad von praktischer Idealisirung, widrigenfalls sofort grobe Remeduren nöthig werden.] Von N. nachträglich dem von Köselitz niedergeschriebenen Druckmanuskript D 11, 159 hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,159).
425. Man könne zwar, so MA I 425, die Frauen durch jahrhundertelange Erziehungsarbeit zu allem machen, was man wolle, sogar zu Männern, „freilich nicht in geschlechtlichem Sinne“ (279, 8 f.), wobei man gewärtigen müsse, dass sie mit den „Tugenden und Stärken“ (279, 10 f.) der Männer auch deren „Schwächen und Laster“ (279, 12) übernähmen. Nun sei aber mit einem „Zwischenzustand“ (279, 14) womöglich von Jahrhunderten zu rechnen, während dessen die alten Konditionierungen, „die weiblichen Narrheiten und Ungerechtigkeiten“ (279, 16) noch fortbestünden. „Zorn“ (279, 19) werde dann der bestimmende männliche Affekt sein, nämlich darüber, wie sich dann in allen Wissenschaften, Künsten und in der Politik „unerhörte[r] Dilettantismus“ (279, 20 f.) breitmache, offenbar, weil die Frauen sich da einmischen und außer Rand und Band geraten sind. Bislang seien sie die Hüterinnen „der alten Sitte“ (279, 24 f.; vgl. auch MA I 96, KSA 2, 92 f.) gewesen und hätten daraus ihre „Macht“ (279, 27) bezogen – „wonach werden sie greifen müssen, um eine ähnliche Fülle der Macht wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben haben?“ (279, 27–29) Zu MA I 425 gibt es in Mp XIV 1, 406 eine ‚Reinschrift‘ ohne Markierung, Rubrizierung oder Titel. Sie ist notiert auf die Rückseite einer gedruckten Geburtsanzeige: „Monsieur & Madame Alfred [& Louise] Ott ont l’honneur de vous faire part de la naissance de leur fils Fernand. / Paris, le 27 Octobre 1877“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,406a) und lautet: „Man kann aus den Frauen durch einige Jahrh. Erziehung Alles machen, was man will, freilich nicht Männer in geschlechtl. Sinne, aber Männer in jedem and. Sinne. Sie werden alle Tugenden u. Stärken der Männer derselben u. damit alle Schwächen u. Laster ebenfalls
792
Menschliches, Allzumenschliches I
annehmen u. man kann es erzwingen. Aber ein fast unerträgl. Zwischenzustand muss freilich dabei in den Kauf genommen werden u dieser kann leicht ein paar Jahrh. dauern u. während denen die weiblichen Narrheiten, Eitelkeit u Ungerechtigkeiten noch die Uebermacht über alles Hinzugewonnene haben“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,406). Der Sprecher in MA I 425 suggeriert, gar nicht Partei im sozialen Geschlechterkampf zu sein, sondern eine übergeschlechtliche und überzeitliche Vogelperspektive einzunehmen, die auch die Zukunft antizipieren zu können vorgibt. Die Unterscheidung von sozialem und biologischem Geschlecht ist in diesem Abschnitt schon impliziert: Das soziale Geschlecht scheint beliebig formbar zu sein. Empörend für heutigen Mainstream wirkt freilich nicht die Bildbarkeit der Frauen zu allem, sondern die Behauptung, dass sie ihre alte Konditionierung nicht einfach abwürfen, sondern durch das Mischmasch die etablierten Bereiche der Wissenschaft verdürben. 279, 5 S t u r m - u n d D r a n g p e r i o d e d e r F r a u e n.] Die Epochenbezeichnung „Sturm und Drang“ geht auf ein so betiteltes Drama von Friedrich Maximilian Klinger (1777) zurück. N. benutzt die Wendung gelegentlich, aber weniger, um die ‚Genieperiode‘ der deutschen Literatur (ca. 1770 bis 1780) zu thematisieren, sondern kollektive Erregungszustände, siehe NK KSA 5, 182, 31 mit weiteren Belegen. 279, 7 einige Jahrhunderte von Erziehung] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand „einige Jahrhunderte Erziehung“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/322/). Nach „Jahrhunderte“ wurde eine Einfügungsmarkierung angebracht, die am Rand wiederholt wird. 279, 26–29 Hatten nämlich die Frauen ihre grösste Macht i n der Sitte, wonach werden sie greifen müssen, um eine ähnliche Fülle der Macht wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben haben?] Vgl. zur Machtbasis der Frauen NK 273, 4–7, zu den Quellen dieser Überlegungen, namentlich zu der von Bogumil Goltz in seiner Abhandlung Zur Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen (1858) angestoßenen Diskussion, NK KSA 3, 428, 15.
426. MA I 426 legt nur eine Frage vor – ob nämlich ein (offensichtlich als prinzipiell männlich gedachter) Freigeist mit einer Frau zusammenleben könne. Das hier eigens in Erscheinung tretende „[I]ch“ (280, 1) glaubt es nicht: Wie antike Prophetenvögel müssten die heutigen „Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden“ (280, 2 f.) ihren Flug alleine bestreiten. Warum, sagt erst der folgende Abschnitt MA I 427.
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 425–426, KSA 2, S. 279–280
793
Die Abschnitte 426 bis 437 hat N. als eigenhändige Hinzufügung zum Druckmanuskript D 11, 160–164 niedergeschrieben und an den Verleger geschickt. Oben auf Seite D 11, 160 notierte er: „(Fortsetzung und Schluss des Hauptstückes ‚Weib und Kind‘)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,160). Zu MA I 426 gibt es in Mp XIV 1, 404 eine Vorarbeit: „Wie die Wahrsage-Vögel der Alten sind die Denker, die Wahrheit Sprechenden allein fliegende“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,404). Überlegungen wie diese haben N. nicht davon abgehalten, halb ernsthaft, halb ironisch, selbst in Absprache mit der mütterlichen Freundin Malwida von Meysenbug abenteuerliche Heiratspläne zu schmieden, um so dem Joch der Basler Professur zu entkommen, siehe N.s Brief an Elisabeth Nietzsche, 25. 04. 1877, KSB 5/KGB II 5, Nr. 609, S. 230 f. Allerdings hält er manche Frauen für durchaus der Freigeisterei gewachsen, vgl. z. B. N. an Louise Ott, 22. 09. 1876, KSB 5/KGB II 5, Nr. 552, S. 185 f. Vgl. auch Skowron 2015, 216. 280, 1–4 dass sie, gleich den wahrsagenden Vögeln des Alterthums, als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegenwart es vorziehen müssen, a l l e i n z u f l i e g e n] Der „Vogel Specht“ erscheint in den Idyllen aus Messina als wahrsagender Vogel und steht damit in antiker Tradition, vgl. NK KSA 3, 342, 9 und 342, 24 f. Über die „Vogelschau οἰωνιστική, οἰωνοσκοπίa“ lässt sich N. in seiner Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen vernehmen (KGW II 5, 480 f.) und beschreibt, wie der Vogelschauer sich auf einen „zur Umschau geeigneten Platz“ (480, 28) begibt und Ausschau hält, von wo die Vögel kommen. „Besonders wichtig die einzelnen fliegenden Raubvögel, die ältesten u. vornehmsten Boten des Zeus, οίωνοί (von οἶος allein? oder nach Curtius οϝι = avi mit amplifikat. Suffix.) Deshalb wird οἰωνὸς u. ὄρνις auch für alle Arten von Wahrzeichen gebraucht. Adler, Reiher (έρωδιός heiml. Unternehmungen günstig, die schönste Art ὄκνος), Habicht Falke Geier (letzt. namentl. οἰωνός genannt).“ (480, 32–481, 6) Die Raubvögel (und nicht die Spechte) sind es, die alleine fliegen – und die in MA I 426 gemeint sind. Die fragliche Passage in der Vorlesung ist übrigens ein Kompilat aus Georg Friedrich Schoemanns Griechischen Alterthümern, die in N.s Bibliothek erhalten sind: „Für vorzugsweise bedeutend galten die am höchsten und nicht in grosser Zahl sondern nur einzeln fliegenden Raubvögel, die eben weil sie nur einzeln zu erscheinen pflegen auch ihren Namen οίωνοί von οἶος haben, der dann aber als allgemeine Benennung für alle bedeutsamen Vögel, ja, ebenso wie ὄρνις, auch für andere Gattungen von Vorzeichen gebraucht wird. Der Adler, der vollkommenste oder der König der Vögel, ist auch des Götterkönigs schicksalverkündender Bote.“ (Schoemann 1863, 2, 272; Schoemanns Fußnote zu οἶος bringt dann auch noch die alternative Etymologie nach Curtius.)
794
Menschliches, Allzumenschliches I
427. MA I 427 liefert die Begründung nach, warum der Freigeist, wie in MA I 426 behauptet, nicht für die Ehe gemacht sei, nämlich, weil er alle Festlegung scheue, alle Gewohnheit, alles „Dauernde und Definitive“ (280, 12), das ihn am freien Denken hindern könnte. So müsse er alle Bindungen, so schmerzlich das auch sei, immer wieder von sich abreißen und das zu hassen lernen, was er bislang liebte – und umgekehrt. Zu MA I 427 gibt es in Mp XIV 1, 404 eine mit Bleistift notierte Vorarbeit: „Gegen das Behagen / der Freigeist muß das Spinnennetz der äußeren Existenz immer wieder zerreißen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,404). NL 1876/77, KSA 8, 23[20], 410, 27–411, 2 fokussiert darauf, dass „Männer mit starken geistigen Bedürfnissen“ sich leicht in einem sich zusammenziehenden Netz zu verfangen den Eindruck haben, wenn sie über ihre „Verbindung mit Frauen“ (ebd., 410, 27–30) nachdenken, vgl. Skowron 2020, 153. MA I 427 legt auch eine autobiographische Lesart im Blick auf N.s Umgang mit Wagner und seiner Familie nahe. 280, 6–10 Alles Gewohnte zieht ein immer fester werdendes Netz von Spinneweben um uns zusammen; und alsobald merken wir, dass die Fäden zu Stricken geworden sind und dass wir selber als Spinne in der Mitte sitzen, die sich hier gefangen hat und von ihrem eigenen Blute zehren muss.] Spinnenmetaphern kommen bei N. gelegentlich vor, vgl. z. B. NK KSA 4, NK 209, 31–33 u. NK KSA 5, 357, 26–30, zu der für das menschliche Spinnenwesen maßgebenden Schrift De arachnidis et hominibus von Lola Substantia ausführlich Sommer 2012h, 313–315. Auch das Motiv des sich zusammenziehenden Netzes kehrt bei N. wieder, siehe NK KSA 4, 343, 18–23. 280, 17–19 Ja es darf für ihn nichts Unmögliches sein, auf das selbe Feld Drachenzähne auszusäen, auf welches er vorher die Füllhörner seiner Güte ausströmen liess.] Die „Drachenzähne“, die schon in UB II HL 10 aufgetaucht waren (vgl. NK KSA 1, 329, 3) und in MA I 472, KSA 2, 304, 3 wiederkehren, spielen auf den mythischen Gründer von Theben, Kadmos, an, der in den Acker Drachenzähne gesät haben soll, aus denen dann ein ganzes Heer von Soldaten, die Σπαρτοί, erwachsen ist. Als Philologe kommt N. bei der Inhaltszusammenfassung von Apollonios von Rhodos’ Argonautika in der Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈I und II〉 auf das Motiv zu sprechen, und zwar in seiner argonautischen Adaption, hat doch der König von Kolchis, Aietes, einige Drachenzähne bekommen und stellt nun Iason, der das Goldene Vlies gewinnen will, „Bedingungen“, nämlich „die feuerspeienden Stiere ins Joch zu spannen, ein großes Feld umpflügen, Drachenzähne darin säen u. die daraus entsprossenen Krieger zu bekämpfen“ (KGW II 5, 65, 6–9). Iason überlistet Aietes, indem er die Krieger gegeneinander kämpfen lässt.
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 427–429, KSA 2, S. 280–281
795
428. Hat MA I 423 das mangelnde Urteilsvermögen von Eltern im Hinblick auf ihre Kinder konstatiert, weil sie ihnen zu nahe sind, stellt MA I 428 heraus, dass man einem Menschen so zu nahe kommen kann, dass sich seine „Seele“ (280, 26) wie durch häufiges Befingern abzunutzen scheint. Entsprechend verliere man durch „allzuvertraulichen Umgang mit Frauen und Freunden“ (280, 30 f.). Zu MA I 428 gibt es in Mp XIV 1, 404 ein vorbereitendes Bleistiftnotat: „allzunaher Verkehr von Freund zu Freund / die Bestialität muss sich offenbaren bei Sich Gehenlassen / wie Kupferstiche nicht mit bloßen Fingern anfassen – endlich behält man schlechtes Papier in der Hd.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,404) Zu Vertraulichkeit versus Vertrauen vgl. auch MA I 296, KSA 2, 239, MA I 304, KSA 2, 241 u. MA I 311, KSA 2, 242. 280, 23–26 so geht es uns so, wie wenn wir einen guten Kupferstich immer wieder mit blossen Fingern anfassen: eines Tages haben wir schlechtes beschmutztes Papier und Nichts weiter mehr in den Händen] Das erinnert an eine berühmte Stelle in Goethes Wahlverwandtschaften: „Wenn Sie wüßten, sagte er [sc. der Architekt], wie roh selbst gebildete Menschen sich gegen die schätzbarsten Kunstwerke verhalten, Sie würden mir verzeihen, wenn ich die meinigen nicht unter die Menge bringen mag. […] Ohne daran zu denken, daß man ein großes Blatt mit zwei Händen anfassen müsse, greifen sie mit Einer Hand nach einem unschätzbaren Kupferstich, einer unersetzlichen Zeichnung, wie ein anmaßlicher Politiker eine Zeitung faßt und durch das Zerknittern des Papiers schon im Voraus sein Urtheil über die Weltbegebenheiten zu erkennen giebt. Niemand denkt daran, daß wenn nur zwanzig Menschen mit einem Kunstwerke hintereinander eben so verführen, der Einundzwanzigste nicht mehr viel daran zu sehen hätte.“ (Goethe 1853–1858, 15, 202)
429. MA I 429 plädiert für die Abnabelung von der mütterlichen Fürsorge der „ihn umgebenden Frauen“ (281, 13), da diese Fürsorge zu leicht eine trägemachende Wirkung entfalte. KGW IV 4, 538, Fn. 40 erwägt, die Worte „das Unnöthige des Lebensluxus“ in Mp XIV 1 404 als ‚Vorstufe‘ zu MA I 429 zu verstehen (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,404). MA I 429 auf N.s eigene familiäre Situation zuerst in Röcken, dann in Naumburg zu beziehen, fällt nicht schwer. 281, 2 D i e g o l d e n e W i e g e.] Die goldene Wiege, die bei N. nur in MA I 429 vorkommt, ist ein mythologisch weitverbreitetes Motiv: „In den Sagen der Deut-
796
Menschliches, Allzumenschliches I
schen spielen g o l d e n e W i e g e n /73/ eine grosse Rolle. An vielen Orten soll eine goldene Wiege in der Erde stecken […]. Meist ist dabei in der Sage von einer versunkenen Burg, von weissen Frauen, einem Hunde, einer Sau, vom Glockengeläute aus der Tiefe, und vom Aufsteigen um Mittsommer die Rede, so dass offenbar, wie A. K u h n zeigte, die goldene Wiege in den Anschauungen von der Unterwelt einst eine bedeutsame Rolle spielte. K u h n weist dabei darauf hin, dass die deutsche Sage von der goldenen Wiege mit der griechischen Mythe vom Dionysos in der Wiege (Διόνυσος λικνίτης) in Verbindung steht, indem Dionysos in die Unterwelt hinabsteigt, wiedergeboren wird und als Neugeborener im λίκνον, d. h. der Getreideschwinge, liegt. Daher gebrauchten die alten Griechen die Getreideschwinge, das Symbol des Demetersegens, als Wiege, oder sie gaben den Wiegen eine solche Gestalt, wie es beim Kallimachus vom Jupiter heisst, dass ihn Adrastea in goldener Wiege in Schlummer bringe.“ (Ploss 1876, 2, 72 f.) 281, 9 f. der goldenen Wiege, des Pfauenschweif-Wedels und der drückenden Empfindung] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand „der goldnen Wiege, des seidenen Gängelbandes und der drückenden Empfindung“ (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/327/). N. hat mit Bleistift an den Rand geschrieben: „Pfauenschweif-Wedels“, aber das „seidene Gängelband“ nicht gestrichen. In der Erstausgabe wurde „goldnen“ schließlich zu „goldenen“ (Nietzsche 1878, 289). Entsprechende Wedel sollen beispielsweise bei indischen Frauen beliebt gewesen sein: „Man hat ferner längere Wedel aus Pfauenfedern, die namentlich zur Verscheuchung der Insecten dienen; sie sind nicht selten in kostbare Griffe gefaßt, oft auch ganz groß, wie ein natürlich entfalteter Pfauenschweif gestaltet und auf einer langen Stange befestigt.“ (Klemm 1859, 1, 274) 281, 12–14 Desshalb kann sich die Milch, welche die mütterliche Gesinnung der ihn umgebenden Frauen reicht, so leicht in Galle verwandeln.] Vgl. die berühmten Worte von Lady Macbeth: „Come to my woman’s breasts, / And take my milk for gall, you murdering ministers” (William Shakespeare: The Tragedy of Macbeth I 5, V. 397 f.). Galle steht freilich nicht nur symbolisch für Hass, Wut, Zorn und allerhand aufbrausende Leidenschaften, sondern hatte für N. eine handgreiflich physiologische Seite, gerade auch als Reaktion auf psychische Beeinträchtigungen, vgl. seinen Brief an Carl von Gersdorff, 17. 04. 1875: „Übrigens lag ich den nächsten Tag mit einem dreissigstündigen Kopfschmerz und vielem Galle-Erbrechen zu Bette.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 439, S. 41, Z. 41–43)
430. „[B]edeutende Frauen“ (281, 17) erleichterten nach MA I 430 ihren berühmten Männern das Leben vor allem dann, wenn sie bereit sind, all das Negative zu
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 429–431, KSA 2, S. 281
797
absorbieren, das das Publikum eigentlich auf die Männer gemünzt hat und nun an den Frauen als den „eigentliche[n] Opferthier[en]“ (281, 23) abreagiert. Man müsse als Mann freilich „Egoist genug“ (281, 27) sein, um sich „einen solchen freiwilligen Blitz-, Sturm- und Regenableiter“ (281, 28 f.) zu halten. Zu MA I 430 gibt es in Mp XIV 1, 404 ein vorbereitendes Notat: „Frauen, als Blitzableiter der öffentl. Ungunst“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,404). Welche Art Frau(en) N. konkret vor Augen stand, macht eine Marginalie deutlich, die Karl Jaspers in seinem Handexemplar zu MA I 430 notierte: „Cosima war hierüber empört“ (Nietzsche 1923, 318). Dennoch dürfte gerade Cosima Wagner diese Funktion für ihren Gatten erfüllt haben. In einer sogenannten „Urabschrift“ von Elisabeth Förster-Nietzsche ist ein Brief überliefert, den N. am 28. 05. 1887 an die Schwester in Paraguay geschrieben haben soll. Die Authentizität ist zweifelhaft. Jedenfalls heißt es dort, im Blick auf Elisabeths Verhältnis zu ihrem Gatten Bernhard Förster und auf ihr Engagement in der deutschen Kolonie Nueva Germania: „Dazu scheinst Du Dich durchaus zum ‚freiwilligen Opferthier‘ auszubilden und alle Unannehmlichkeiten auf Dich zu nehmen. Und mein Herr Schwager läßt sich diesen Blitzableiter gefallen? (Siehe Menschliches, Allzumenschliches! – Beian gesagt, warum hat Frau Wagner g e r a d e d i e s e n Aphorismus damals so übel genommen? Wagner’s wegen? Oder ihretwegen? Das war mir immer ein Räthsel.)“ (KGB III 7/3.1, Nr. 4 (851b), S. 22, Z. 87–S. 23, Z. 92) Zum freiwilligen Opfer vgl. z. B. auch M 215, KSA 3, 191 f. 281, 16 F r e i w i l l i g e s O p f e r t h i e r] Vgl. z. B. zu FW 220 NK 3/2.1, S. 1003. Dass alle Opfer auf der Freiwilligkeit der Opfernden beruhen, ist eine N. aus seinen religionshistorischen Studien wohlbekannte Einsicht, die er in seiner Vorlesung Encyclopaedie der klass. Philologie auch seinen Studenten weitervermittelt: „Eine solche Urvorstellung ist das O p f e r. Alles kann Opfer sein: die Entäußerung von einem Besitz, das freiwillige Schenken ist wohl die älteste Annahme. Dann wird vorausgesetzt, daß das Geopferte den Göttern angenehm, also auch wahrnehmbar ist.“ (KGW II 3, 420, 8–11) Wer sich selbst opfert, z. B. als Märtyrer, muss das natürlich auch freiwillig tun.
431. In der Fortsetzung von MA I 426 und 427 beschreibt MA I 431 die beschwichtigende, glättende Wirkung, die von Frauen und ihrer „Neigung“ „zu ruhigem, gleichmässigem, glücklich zusammenstimmendem Dasein“ (282, 1 f.) ausgehe. Sie wiederum sei dem Freigeist und seinem „heroischeren inneren Drange“ (282, 4) abträglich: Der Freigeist brauche das Widerständige. „Ohne dass sie es merken, handeln die Frauen so, als wenn man dem wandernden Mineralogen die Steine
798
Menschliches, Allzumenschliches I
vom Wege nimmt, damit sein Fuss nicht daran stosse, –während er gerade ausgezogen ist, u m daran zu stossen.“ (282, 5–8) Zu MA I 431 gibt es in Mp XIV 1, 404 ein vorbereitendes Notat: „das Conciliante der Frauen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,404). MA I 434, KSA 2, 282 f. nimmt das Thema wieder auf, während sich – siehe MA I 433, KSA 2, 282 – die Gattin des Sokrates, Xanthippe, also als geradezu ideale Frau des Philosophen erweist, weil sie ihrem Gatten wo immer möglich Steine in den Weg gelegt haben soll. 281, 31 A n g e n e h m e W i d e r s a c h e r] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand stattdessen „A n g e n e h m e r W i d e r s a c h e r“. Das erste „r“ wurde dann mit Bleistift gestrichen (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1648750028/328/). Auch N.s Druckmanuskript D 11, 162 hat die Plural-Form. 282, 3 auf dem Meere des Lebens] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht stattdessen „auf dem Menon des Lebens“ (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/328/). Dieser Fehler, der auf einer tatsächlich möglichen, aber keineswegs zwingenden Lesart des Druckmanuskripts D 11, 162 beruht (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,162), wurde zunächst in den Druck der Erstausgabe übernommen. Entsprechend schreibt N. an Schmeitzner am 02. 04. 1878: „Soeben meldet Hr. Köselitz einen greulichen Druckfehler: um Alles sehen Sie schnell zu ihn zu beseitigen! / p. 290 Zeile 5 v. oben (in Nr. 431) / Meere s t a t t Menon“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 705, S. 315, Z. 2–5). Schmeitzner kam der Aufforderung nach und ließ „enon“ mit einem Zettelchen überkleben, auf dem „eere“ gedruckt war. Dieses eingeklebte Zettelchen ist auch bei den (meisten) Exemplaren der Titelauflage von 1886 noch erhalten; dennoch schreibt N. in seinem Handexemplar C 4412[1] sicherheitshalber mit Bleistift noch einmal „Meere“ an den Rand (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1255106514/321/). Vgl. Parkhurst 2020, 240 f. und ausführlich Parkhurst 2021, 225–228, der allerdings fälschlich behauptet, „Menon“ habe eindeutig schon im Druckmanuskript gestanden und das Druckmanuskript stamme hier nicht von N., sondern von Köselitz. Das Gegenteil ist der Fall; N. hat die Niederschrift der Abschnitte 426 bis 437 im Unterschied zum sonstigen Druckmanuskript, das von Köselitz erstellt ist, selbst angefertigt, vgl. NK ÜK MA I 426.
432. MA I 432 fasst das in MA I 431 Gesagte zu einer dialektischen Sentenz zusammen, die alte Rollenstereotypen aufruft: „Die Frauen“ (282, 10) fänden ihre Erfüllung im Dienen, „der Freigeist“ (282, 11) hingegen darin, sich allem Bedient-Werden zu entziehen.
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 431–433, KSA 2, S. 281–282
799
282, 10 M i s s k l a n g z w e i e r C o n s o n a n z e n.] Im Vortrag Das griechische Musikdrama wandte N. sich gegen den „Aberglauben, in der griechischen Musik sei die große Terz als ein Mißklang empfunden worden“ (KSA 1, 529, 8 f.). Diesen „Aberglauben“ konnte N. philologisch gut belegt in Ambros’ Geschichte der Musik finden – die von Ambros zitierten Quellen sind Euklid und Nikomachos: „‚Consonanz ist die Vermischung eines höheren und tieferen Tones.‘ Durch den wohllautenden Zusammenklang dieser Mischung kommen in der Consonanz beide unter einander verschiedene Intervalle gleichartig und gleichberechtigt zur Geltung und bilden in ihrem Zusammentönen ein Drittes, das selbst wieder eine Art von Einheit vorstellt. ‚Dissonanz (διαφωνία) dagegen ist die Nichtvermischung zweier Töne, welche, indem sie der Vereinigung widerstreben, durch ihren Missklang das Ohr hart berühren,‘ bei denen das Melos entweder den höheren oder den tieferen Ton vorklingen lässt. Die kleinste und erste Consonanz war den Griechen die Quarte, ,was noch kleiner ist dissonirt,‘ folglich nicht allein die Secunde, sondern auch die Terz.“ (Ambros 1862, 1, 358) Für griechische Ohren sollen also – auch wenn N. das für die große Terz in Abrede stellt – kleine Tonhöhenabstände einen Missklang erzeugt haben. Die Pointe der Titelzeile von MA I 432 besteht vor diesem Hintergrund also darin, dass eigentlich durch den Abstand, das große Intervall zwischen „Frauen“ (282, 10; im Plural) und „Freigeist“ (282, 11; im Singular) ein Zusammenklang, eine Konsonanz da sein müsste, aber durch das dissonante Wollen von Frauen und Freigeist dennoch ein „Missklang“ entsteht.
433. Zwar hätte Sokrates – „so weit wäre auch der Heroismus dieses freien Geistes nicht gegangen“ (282, 16 f.) – eine Frau wie Xanthippe auch nicht gewählt, wenn er gewusst hätte, wie sie mit ihm umspringen würde, aber nach MA I 433 war sie doch die Frau, die er brauchte. Denn sie habe ihm sein Heim systematisch vergällt, ihn so auf die Straße getrieben und an all die Orte, wo er sich zum „grössten athenischen Gassen-Dialektiker“ (282, 22) entwickeln konnte. Eine direkte Vorarbeit zu MA I 433 lässt sich im Nachlass nicht belegen. In NL 1876/77, KSA 8, 23[121], 446, 3–5 heißt es: „E i n s o c r a t i s c h e s M i t t e l. – Socrates hat Recht: man soll, um vom Eros nicht ganz unterjocht zu werden, sich mit den weniger schönen Weibern einlassen.“ Zu Xanthippe bei N. (und in der damaligen Forschung) siehe NK KSA 5, 350, 28–351, 4; zur Interpretation von MA I 433 siehe auch Ponton 2007, 293, Marton 2021, 45 u. Marton 2022, 52. 282, 22 Gassen-Dialektiker aus: der sich] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit Bleistift korrigiert aus: „Gassen-Dialektiker aus, der sich“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/328/). „Gassen-Dialektiker“
800
Menschliches, Allzumenschliches I
klingt abschätzig; die Erfindung der Dialektik erscheint in MA I 433 fast nur als das Zufallsprodukt häuslicher Gewalt und privater Unbehaustheit. GD Das Problem des Sokrates will dann 1888 eine physiologisch vertiefte Antwort auf die Frage nach den Herkünften der Dialektik geben. 282, 22–25 der sich zuletzt selber mit einer zudringlichen Bremse vergleichen musste, welche dem schönen Pferde Athen von einem Gotte auf den Nacken gesetzt sei, um es nicht zur Ruhe kommen zu lassen] KGW u. KSA ‚emendieren‘ nach dem Druckmanuskript D 11, 163: „zudringlichen Bremse“ (282, 23). In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601, in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 290) sowie in N.s Handexemplaren fehlt hingegen „zudringlichen“. Die Bremsen-Stelle, auf die N. sich hier bezieht, steht in Platons Apologie 30e u. 20c–23c; sie wird wieder aufgenommen in MA II WS 72, KSA 2, 584, 29. In Übersetzung ausführlich zitiert und kommentiert wird die Platon-Passage und N.s Beschäftigung damit in NK KSA 5, 367, 10 f. u. in NK KSA 4, 237, 27–29. In der von N. rege benutzten, „für den Schulgebrauch“ mit Erläuterungen versehenen Ausgabe der Apologie von Christian Cron wird erklärt: „ὑπὸ μύωπος, μ. bedeutet sowohl B r e m s e als S p o r n , S t a c h e l.“ (Platon 1875, 80, Fn. 2) In seiner Einführung in das Studium der platonischen Dialoge gibt N. an: „Plato scheint durch die Apologie des Sokrates den entscheidenden Gedanken empfangen zu haben, wie ein Philosoph sich zu den Menschen zu verhalten habe: als ihr Arzt, als Bremse auf dem Nacken der Menschen.“ (KGW II 4, 155, 24–28; vgl. auch KGW II 4, 357, 5–8: „Bis zum Tode will er [sc. Sokrates] dabei verharren, sein Amt der Philosophie u. der Prüfung zu erfüllen, euer Warner zu sein, wie eine Bremse euch auf dem Nacken zu sitzen.“)
434. Das aus MA I 431 bekannte Motiv, wonach liebende Frauen ihre freigeistigen Männer dadurch in ihrer Freigeistigkeit behindern, dass sie ihnen Hindernisse aus dem Weg räumen, wird in MA I 434 variiert: Liebende Frauen von Männern mit hohen Ambitionen könnten es nicht ertragen, diese leiden zu sehen, während doch dieses Leiden dafür bürge, dass die fernen Ziele auch einmal erreicht würden. Eine direkte Vorarbeit zu MA I 434 lässt sich im Nachlass nicht belegen. Die Grundidee, wonach erst das Leiden schöpferisch mache, wird dann im 20. Jahrhundert gerne als hermeneutischer Generalschlüssel zum Verständnis künstlerischer Produktivität gebraucht, so in Walter Muschgs Tragischer Literaturgeschichte (1948). 283, 3 gar missachtet zu sehen] KGW u. KSA emendieren hier nach N.s Druckmanuskript D 11, 163, wobei dort das „gar“ wohl nachträglich hinzugefügt worden
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 433–435, KSA 2, S. 282–283
801
ist, so dass das Wort mit dem „missachtet“ verschmolz und vom Drucker so gelesen werden konnte, wie es geschah: In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/329) sowie in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 291) und in den Handexemplaren steht: „gemissachtet zu sehen“. 283, 7–10 Die Frauen intriguiren im Stillen immer gegen die höhere Seele ihrer Männer; sie wollen dieselbe um ihre Zukunft, zu Gunsten einer schmerzlosen, behaglichen Gegenwart, betrügen.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit Bleistift korrigiert aus: „Die Frauen intriguiren im Stillen immer gegen die höhere Seele ihrer Männer, sie wollen dieselben um ihre Zukunft, zu Gunsten einer schmerzlosen, behaglichen Gegenwart, betrügen.“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/329) Das Komma nach „Männer“ wird dann in der Erstausgabe durch ein Semikolon ersetzt (Nietzsche 1878, 291).
435. Frauen – die sich offensichtlich noch nicht in der von MA I 425 geschilderten Emanzipationsepoche einer Ablösung von ihrer herkömmlichen Sittenhörigkeit befinden – neigten MA I 435 zufolge dazu, die herrschenden Überzeugungen und Wertmaßstäbe hochzuhalten, so dass ihnen bei ihren Männern jeder Widerstand „gegen die öffentliche Macht“ (283, 17) ganz zuwider sei. Daher hemmten sie jedes freigeistige Streben. Eine direkte Vorarbeit zu MA I 435 lässt sich im Nachlass nicht belegen. 283, 19 f. Hemmschuh in die Räder eines freigeisterischen unabhängigen Strebens] Die Metapher vom „Hemmschuh“ benutzt N. gelegentlich, vgl. z. B. MA II WS 279, KSA 2, 674, 10 u. MA II WS 341, KSA 2, 700, 5 sowie zum Spätwerk NK KSA 6, 177, 3–5 sowie NK KSA 6, 360, 7 f. Beim Hemmschuh handelt es sich technisch um eine „Vorrichtung zur Verzögerung der Fahrgeschwindigkeit eines Fuhrwerks, bestehend aus einer schwach gekrümmten eisernen Platte, welche mittels einer hinlänglich starken Kette an dem Achsholz des Vorderwagens oder dem Langbaum befestigt und vor das zu hemmende Hinterrad gelegt wird. Dieses fährt auf den H. und ist nunmehr genötigt, mit demselben zu gleiten. Hierdurch wird der Widerstand beträchtlich gesteigert und die Fahrgeschwindigkeit vermindert. Der H. ist nur bei sehr steil abfallenden Straßen in Anwendung zu bringen, da er die Fahrbahn schnell ruiniert“ (Meyer 1885–1892, 8, 374). „Damit es des Hemmschuhs bedürfe, bedarf es vorerst des Rades. Die Guten sind der Hemmschuh: sie halten auf, sie erhalten.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1] 32, 191, 8–10)
802
Menschliches, Allzumenschliches I
283, 22–25 Die Mittel der Frauen missbilligen und grossmüthig die Motive dieser Mittel ehren, – das ist Männer-Art und oft genug Männer-Verzweiflung.] Das Motiv soll nach 283, 22 die „Liebe“ sein, aber die Eingangsexposition von MA I 435 legt einen anderen Verdacht nahe, nämlich dass das wahre Motiv die Hörigkeit der Frau – nämlich gegenüber den herkömmlichen Werten – sei.
436. MA I 436 gibt en passant nicht nur eine Definition des Philosophen und/oder des Freigeistes – beide Begriffe fallen freilich nicht – nämlich als derjenige, „welcher die allgemeinste Erkenntniss und die Abschätzung des gesammten Daseins zu seiner Aufgabe erkoren hat“ (284, 3–5), sondern behauptet auch, dass ein solcher von familiären, ehelichen Obliegenheiten nur von dieser seiner großen Aufgabe abgelenkt werde – es trübe seinen Blick. Der Vergleich freilich, woran dies deutlich gemacht werden soll, hinkt: Besitzlose sollen nicht bei der Frage des Erbrechtes mitreden dürfen, Kinderlose nicht bei der Zukunftsgesetzgebung – beides mit dem Argument, dass dies lächerlich sei, weil sie ja davon nicht betroffen seien. Der nach allgemeinster Erkenntnis Suchende will nun aber seinerseits gemäß dem antiken Autarkie-Ideal von gar nichts betroffen sein. Wie sollte er dann die Welt erkennen können? MA I beruht auf dem gestrichenen Ende einer ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 18, die schließlich MA I 455 zugrundegelegt werden sollte: „Es ist lächerlich, wenn eine Gesellschaft von Habenichtsen das Erbrecht wegdekretirt. Kinderlose sollten nicht alle polit. Rechte ausüben dürfen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,18) Im Hintergrund für den letzten Satz sowie für 283, 29–284, 2 steht (und wird in Mp XIV 1, 18 eingangs ursprünglich sogar direkt namhaft gemacht) der Epitaphios des Perikles nach Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges II 44, siehe NK ÜK MA I 455. Dass das in MA I 436 vermittelte Bild von Philosophie als (metaphysische) Weltübersichtsmacht unvereinbar ist mit demjenigen, das beispielsweise das Erste Hauptstück von MA I zeichnet, aber auch mit MA I 429, dem zufolge sich der „Freigeist“ der Welt gerade aussetzen müsse, anstatt sich von ihr abzusondern, liegt auf der Hand. 283, 27 C e t e r u m c e n s e o.] Lateinisch: „Im Übrigen bin ich der Meinung…“. Marcus Porcius Cato der Ältere (234–149 v. Chr.) soll seine Reden im Senat jeweils mit der Formel „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam“ („Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden müsse“ – Plutarch: Cato maior 27). N. bemüht den Satzanfang auch in UB II HL Vorwort, vgl. NK KSA 1, 245, 5. 283, 27–29 Es ist zum Lachen, wenn eine Gesellschaft von Habenichtsen die Abschaffung des Erbrechts decretirt] Das individuelle Erbrecht von Angehörigen
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 435–437, KSA 2, S. 283–284
803
wurde zu N.s Zeit von sozialistischer und anarchistischer Seite, also gerade von sozial Unterprivilegierten, problematisiert oder ganz in Abrede gestellt (zur Übersicht siehe Baron 1877 und Scheel 1877). Während N.s erstem Jahr als Professor in Basel fand dort vom 6. bis 11. September der IV. Kongress der Internationalen Arbeiter-Assoziation statt. Bortlik 2020, 243 folgert aus 283, 27–29, dass N. davon Kenntnis gehabt haben muss, denn „die Socialisten unserer Zeit“ haben „auf ihrem internationalen Arbeitercongreß in Basel 1869 neben der Abschaffung des Grundeigenthums auch die des Erbrechts beantragt.“ (Baron 1877, 30; Baron bespricht dann als deren Gewährsmann ausführlich den allerdings schon 1864 verstorbenen Ferdinand Lassalle) Aus erster Hand konnte N. zum Thema schöpfen aus dem Buch Die Arbeiterfrage von Friedrich Albert Lange, das er im Januar 1875 erworben hatte. „Eigenthum, Erbrecht und Bodenrente“ ist darin ein langes Kapitel gewidmet (Lange 1875, 263–335). Lange argumentiert dort, es stehe keineswegs „im Widerspruch mit dem Prinzip des Privateigenthums, das E r b r e c h t abzuschaffen oder zu beschränken. Wenn die Gesellschaft die Erwerbung von Gütern auf anderem Wege als auf dem der Arbeit für unmoralisch und gefährlich hält, so kann sie ganz wohl die Erwerbung durch Erbschaft verbieten, wie sie die Erwerbung durch Raub oder durch Lotteriegewinn aus gleichem Grunde verbieten kann. Daß die Erkenntniß der Schädlichkeit und Gefährlichkeit der Lotterie später kommt als die des Raubes und noch später die Erkenntniß der Schädlichkeit eines unbeschränkten Erbrechts hat mit dem Prinzip des Privateigenthums nicht das mindeste zu schaffen. Es könnte sogar in einer Gesellschaft ohne Erb-/279/recht der strengste Individualismus in einer Weise durchgeführt sein, wie sie bis jetzt noch nirgend besteht“ (ebd., 278 f.). 284, 9–11 So komme auch ich zu dem Satze, dass in den Angelegenheiten der höchsten philosophischen Art alle Verheiratheten verdächtig sind.] Diesen „Satz“ wird GM III 7 dann noch einmal auswalzen, siehe NK KSA 5, 350, 28–351, 4.
437. Mit „Z u l e t z t“ (284, 13) ist MA I 437 überschrieben, nicht nur, weil der Abschnitt das Siebente Hauptstück abschließt, sondern es mit Todesweisheit zu tun hat: Das „Schicksal“ (284, 14) habe jedem Freigeist eine Todesart zugedacht, vermeintlich als Strafe. Die Frauen würden dann in Wehklagen ausbrechen – „die Sonnenuntergangs-Ruhe des Denkers“ störend (284, 18) – weshalb Sokrates sie aus seinem Kerker habe wegführen lassen. Die in MA I 437 artikulierte Sterbenswahrheit des Freigeistes lässt ihn wie einen griechischen Philosophen erscheinen: todesmutig, todesheroisch. Ob das so ganz ins bisherige freigeistige Rollenprofil passt, wäre zu erörtern.
804
Menschliches, Allzumenschliches I
284, 13 mancherlei Arten von Schierling] Das ist nach der gängigen Klassifikation der Zeit auch botanisch und nicht nur metaphorisch korrekt: „Schierling. Diesen Namen führen drei einheimische Giftpflanzen aus der Familie der Doldengewächse, welche drei verschiedenen Gattungen dieser Familie angehören und sämmtlich weiße Blüten besitzen. er Familie angehören und sämmtlich weiße Blüten besitzen. Am bekanntesten ist der g e f l e c k t e S. (Conium maculatum L.), auch Wuth- und Stinkschierling, Tollförbel, Vogeltod, Kaßenpeterlein u. s. w. genannt, welcher an Wegen, Mauern, auf wüsten Plägen, Schutthaufen, auch auf bebautem Boden in Europa, zum Theil in Asien und jetzt auch in Amerika wächst […]. Die Blätter […] enthalten ein sehr giftiges Alkaloid (C o n i i n oder C i c u t i n), ein scharfes, ätherisches Oel, Harz, Eiweiß, einen färbenden Stoff und mehrere Salze, gehören zu den heftig wirkenden, scharf narkotischen Mitteln […]. Der G a r t e n s c h i e r l i n g oder die H u n d s p e t e r s i l i e, auch G l e i ß e genannt (Aethusa Cynapium L.), wächst häufig in Gemüsegärten, auf bebautem Boden und wüsten Plätzen. Er ist gleichfalls giftig, jedoch im geringern Grade als der vorige, wird aber den Menschen weit leichter schädlich, indem er mit der Petersilie verwechselt wird […]. Am giftigsten ist jedoch der Wa s s e r s c h i e r l i n g (Cicuta virosa L.), welcher sich durch seine Größe, durch sehr stark gewölbte Dolden, einen fünfzähnigen Kelch und rundliche, zweiknotige Früchte mit zehn flachen Rippen auszeichnet. Diese fast durch ganz Europa und Nordasien verbreitete Pflanze wächst in Sümpfen, Teichen, Gräben und auf überschwemmten Plätzen […]. Der Wasserschierling gehört zu den heftigsten scharf-narkotischen Giften, und die Verwechselung seines Wurzelstocks, welcher fast sellerieartig riecht und süßlich schmeckt, mit andern eßbaren Wurzeln hat oft /188/ genug den Tod von Menschen herbeigeführt. Schon in geringer Menge genossen, bewirkt er brennende Magenschmerzen, Würgen, Erbrechen, Schwindel, Verlust der Sprache, Schluchzen und unter Convulsionen den Tod. Auch er ist früher in der Heilkunde angewendet worden. Diese Pflanze besitzt zugleich ein histor. Interesse, indem aus ihrem Wurzelstocke der berüchtigte Schierlingstrank der alten Griechen bereitet wurde, den zum Tode verurtheilte Verbrecher trinken mußten (z. B. Sokrates).“ (Brockhaus 1875–1879, 13, 187 f.) Ob Sokrates, der 399 v. Chr. mit dem Schierlingsbecher hingerichtet wurde, dieses Schicksal zu Recht traf, fragt JGB Vorrede, vgl. NK KSA 5, 12, 26–30. Mathilde Maier nimmt das Schierlingsmotiv in ihrer Reaktion auf MA I auf (Brief an N. vom Juli 1878, KGB II 6/2, Nr. 1091, S. 911, Z. 36–43). 284, 17–20 Sie werden schreien und wehklagen und vielleicht die SonnenuntergangsRuhe des Denkers stören: wie sie es im Gefängniss von Athen thaten. „O Kriton, heisse doch Jemanden diese Weiber da fortführen!“ sagte endlich Sokrates. –] Siehe Platon: Phaidon 116b u. 117d. Am Abend seiner Hinrichtung soll Sokrates sich mit seinen Schülern über die Unsterblichkeit der Seele ausgetauscht haben, wenn man Platons Phaidon trauen darf.
Stellenkommentar MA I Siebentes Hauptstück 437–Achtes Hauptstück, KSA 2, S. 284
805
Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat. Der Titel des Achten Hauptstücks suggeriert Außenperspektive: Jemand, der nicht wirklich Teil des Staates ist, nicht auf Partizipation setzt, unterwirft ihn der Betrachtung und beansprucht mit einem bloßen „Blick“ keine politische Gesamtschau zu geben. Politik erscheint weder als Selbstzweck noch als Endzweck, sondern sie stellt (z. B. nach MA I 438) in ihrer Massenverträglichkeitsorientierung eher eine Gefahr für alle Abweichler dar. Dadurch, dass in MA I das Politische nicht mehr als einen „Blick“ wert ist, relativiert sich dessen Bedeutung (beispielsweise im Vergleich zu Platon oder Aristoteles, aber auch zu Hobbes). Auch der Staat wird (z. B. in MA I 472) relativiert: Vielleicht hört er, so ein Tenor des Hauptstückes, bald auf zu sein und Politik fände dann jenseits des Staates statt – falls es sie überhaupt noch braucht. In einer künftigen europäischen Vermischungskultur (z. B. in MA I 475 und MA I 481) gibt es für den herkömmlichen Nationalstaat womöglich keinen Platz mehr. Aber was ist mit dem Individuum? Darauf will – und es geschieht dann im Neunten Hauptstück – N. mehr als nur einen „Blick“ werfen. Es existiert ein bedeutsamer Nachlasstext, der wesentliche Motive des Achten Hauptstücks vorwegnimmt. Im Archiv ist er unter „Philologica“ einsortiert und (deshalb?) nie in der Kritischen Gesamtausgabe oder in der Studienausgabe von Colli und Montinari publiziert worden, obwohl er in früheren Ausgaben durchaus bekannt war (GoAK 10, 289 f. bzw. GoA 19, 388). N. hat ihn wohl Mitte der 1870er Jahre mit violetter Tinte in Heft P II 13a, 80 als saubere ‚Reinschrift‘ niedergelegt: „Zum ‚Staat‘. Welche Kräfte er jetzt verschlingt und in sich umsetzt. Zugleich ist er Mittel zum ungeheuersten Weltverkehr, zur Auflösung des Eigentlich-Volksthümlichen. Das Provinzielle, Städtische, schliesslich das Individuelle erlischt immer mehr. Endlich hält auch der nationale Staat nicht mehr fest: einstweilen braucht er Kriege, um Klüfte zu schaffen – schöne Aussicht! Ist aber durch unbegrenzte Freizügigkeit und Dreisprachigkeit die Menschheit präparirt, dann muss sie hin zum europäischen Universalstaat (auf Grund und mit der Grenze der europäischen alten Cultur). / Deshalb müssen Sekten entstehn, in welche die Bildung und das Individuum sich rettet, um den Preis, sich nicht mit Politik abzugeben. Hier giebt es keine nationalen Differenzen mehr. Während das allgemeine Niveau der europäischen Cultur immer mehr zurückgeht, kann hier, in der Secte, die Forderung und das Ziel immer höher gestellt werden. Die Kluft wird am grössten sein, dann wenn der atomistische Universalstaat aus lauter individualitätslosen Individuen sich bildet. – Die Sekten werden zu verschiedenen Zeiten verschieden verdächtigt werden, jetzt als Bundesgenossen, aber verkappte, der Ultramont. oder der Socialisten später als die Propheten des Universalstaates, zuletzt, wenn dieser da ist, als Reactionäre und verkappte Bundesgenossen der
806
Menschliches, Allzumenschliches I
alten nationalen zu Grunde gehenden Staaten: und alles dies mit Unrecht. / Wenn erst die Individuen beseitigt sind, dann ist der Gang der Geschichte zu errathen: denn der einzige irrationelle Factor ist beseitigt.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/P-II-13a,80)
438. MA I 438 und damit das ganze Achte Hauptstück setzt ein mit einem überaus skeptischen Blick auf „alle[.] politischen Parteien“ (285, 5 f.), die sich der Demagogie verschrieben hätten und auf Massenwirksamkeit (vgl. NK 314, 15 f.) abzielten, schreitet fort zur Verteidigung des Rechts für auserwählte Wenige, sich nicht an die allgemeinen Glücksvorstellungen anzupassen und sich aus der Politik heraushalten zu dürfen. Das gibt die Tonlage für das gesamte Hauptstück vor. An diesem demagogischen Massenwirksamkeitsinteresse der Parteien sei nichts zu ändern, man müsse sich darauf einstellen. „Politik“ (285, 16) wiederum wird bestimmt als das Bemühen, „möglichst Vielen das Leben erträglich zu machen“ (285, 17) – und da sollten dann auch möglichst viele „bestimmen, was sie unter einem erträglichen Leben verstehen“ (285, 18 f.) – zumal sie das auch wollten. Da zeigt sich eine gewisse Spannung zur Eingangsexposition, die suggerierte, die politischen Parteien mit ihrem Massenwirksamkeitsdrang hätten eine eigene Agenda, die sie den „Massen“ (285, 5) bloß aufdrückten, während in 285, 18–25 die Willensbildung von diesen Massen selbst ausgeht. Jedenfalls seien es nur wenige Begriffe, auf die sie ihr Glück bringen und mit denen sie es verwirklichen zu können glauben. Die Beschränktheit dieses Glückshorizonts stelle freilich eine Gefahr für diejenigen dar, die sich diesem „Maassstabe“ (286, 3) nicht fügen wollten, weshalb es „Einigen mehr als je“ (286, 4) gestattet sein müsse, sich aller Politik zu enthalten und ihrem eigenen Selbstbestimmungsbedürfnis zu gehorchen, das sein Glück offensichtlich nicht im Allerweltsglück finde. Sie setzten gelegentlich eine „ironische Miene“ (286, 12) auf, wenn es um das „Glück der Vielen“ (286, 10) zu tun sei. Aber sie schwiegen doch nicht immer, sondern hie und da gerieten sie in Versuchung, selbst laut zu werden: „dann rufen sie nämlich einander zu wie Verirrte in einem Walde, um sich einander zu erkennen zu geben und zu ermuthigen; wobei freilich Mancherlei laut wird, was den Ohren, für welche es nicht bestimmt ist, übel klingt“ (286, 19–23). Man könnte geneigt sein, MA I insgesamt oder wenigstens das Achte Hauptstück als ein solches Sich-vernehmbar-Machen der Wenigen zu interpretieren, das bei der Mehrheitsgesellschaft für erhebliche Irritation sorgt. Bald – so schließt MA I 438 – verstumme dieses Rufen aber wieder.
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 438, KSA 2, S. 284–285
807
Zu MA I 438 gibt es in Mp XIV 1, 241 f. eine ‚Reinschrift‘, die bereits den Titel „Um das Wort bitten“ trägt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,241). Nach zwei Kreuzen folgt in Mp XIV 1, 242 dann gestrichen jener Text, der als NL 1876/77, KSA 8, 23[193], 472 ediert wurde. Zur Demokratie in MA I 438 vgl. auch NK KSA 6, 140, 31 f. 285, 4 U m d a s Wo r t b i t t e n.] Wer um das Wort bittet, lässt MA I 438 in der Schwebe: Die „möglichst Vielen“ (285, 17), oder doch die Rückzugswilligen vom Ende des Abschnitts, die aber für sich gerade in Anspruch nehmen, „zu schweigen“ (286, 7 f.), wenn zu viele sprechen – oder alle beide? 285, 6–8 sie alle sind genöthigt, der genannten Absicht wegen, ihre Principien zu grossen Alfresco-Dummheiten umzuwandeln und sie so an die Wand zu malen] Die „Freskomalerei (Malerei a fresco, nicht al fresco), diejenige Art Malerei, welche mit Wasserfarben auf einer noch frischen (ital. fresco) Unterlage von Kalk an Wandflächen ausgeführt wird“ (Meyer 1885–1892, 6, 672), kommt bei N. nur sporadisch vor (u. a. im Nachlass 1880 u. 1885 sowie in WA, vgl. NK KSA 6, 28, 30). A fresco bedeutet: etwas schnell angepinselt, nicht sorgfältig, langsam, schichtweise ausgeführt. Aus Jacob Burckhardts Cultur der Renaissance in Italien konnte N. wissen, dass die Frescomalerei eine „bewußte Beschränkung der äußern Mittel im Vertrauen auf die Kraft des Inhaltes“ kennzeichnet, „indem auf die Farben verzichtet und bloß in einem hellern oder dunklern Ton gemalt wird“ (Burckhardt 1869b, 243). 285, 10–12 denn auf diesem Gebiete gilt, was Voltaire sagt: quand la populace se mêle de raisonner, tout est perdu.] Voltaires Satz – übersetzt: „wenn der Pöbel sich ins Räsonnieren einmischt, ist alles verloren“ – stammt aus seinem Brief an Étienne Noël Damilaville vom 01. 04. 1766. In der in N.s Besitz befindlichen und mit zahlreichen Lesespuren versehenen, zweibändigen Ausgabe von Voltaires Lettres choisies ist dieser Brief freilich nicht enthalten (Voltaire 1876), so dass die Vermutung naheliegt, N. sei das damals recht populäre Zitat aus zweiter Hand zugeflossen. In Frage kommt dafür insbesondere Hermann Hettners Geschichte der französischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, die N. seit spätestens 1863 besaß: „Am 1. April 1766 ([…]) schreibt er an Damilaville: ‚Ich glaube, in Hinsicht des Volks verstehen wir uns nicht; ich meine unter Volk die populace, den Pöbel, welcher nur seine Hände hat, um zu leben. Ich fürchte, daß dieser Menschenschlag niemals die Zeit und die Fähigkeit hat, sich zu unterrichten; ja es erscheint mir sogar nothwendig, daß es unwissende Teufel /209/ giebt. Sollten Sie wie ich das Land bebauen, so wären Sie sicher meiner Meinung; quand la populace se mêle de raisonner, tout est perdu.‘“ (Hettner 1860, 2, 208 f.) Vgl. zu diesem Zitat (jeweils ohne Quellennachweis) auch Heller 1972b, 284 u. Hémion 2009, 440 u. ausführlich Métayer 2011, 184–188; zur Voltaire-Rezeption über Hettner Morillas-Esteban 2011b u. NK 299, 26–30. Unmittel-
808
Menschliches, Allzumenschliches I
bar nach diesem Zitat verbreitet sich Hettner über den „aufgeklärten Despotismus“, vgl. NK 303, 23 f. 285, 14 f. und Umrisse der Bodengestalt] In Mp XIV 1, 241 nachträglich eingefügt. 285, 18 diese Möglichst-Vielen] Vgl. MA I 235, KSA 2, 196, 21 f.: „Die Socialisten begehren für möglichst Viele ein Wohlleben herzustellen.“ 285, 21 f. Sie w o l l e n nun einmal ihres Glückes und Unglückes eigene Schmiede sein] Die zugrundeliegende Sentenz ist schon lange vor Gottfried Kellers Novelle Der Schmied seines Glückes (1865) sprichwörtlich und wird gerne ironisch gebrochen, so z. B. bei Lichtenbergs ironisch-physiognomischer Deutung von James Cooks Gesicht: „In den mannigfaltigen Brüchen desselben erkannte man nicht undeutlich den Mann von früher Anstrengung und Erfahrung, der viele Hindernisse und viel Elend überstanden, der der Schmidt [sic] seines eignen Glückes war, und bei dieser heißen Arbeit oft was redliches geschwitzt haben mag“ (Lichtenberg 1867, 4, 176). 285, 23 Selbstbestimmung] Vgl. Sommer 2022b: War „Selbstbestimmung“ beim jungen N. explizit kein Thema, tritt sie in MA I 438 gleich in doppelter Gestalt auf, nämlich zum einen als jene „Selbstbestimmung“, die sich die „Vielen“ zutrauen und auf die sie per Volksherrschaft Anspruch erheben (285, 23). Zum andern steht ihr gegenüber das Bedürfnis nach „Selbstbestimmung“ jener Wenigen, die sich dem (utilitaristischen) Diktat, an Politik teilzuhaben und am größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl mitzuweben, nicht fügen wollen (286, 6). Nun sind die Volksmassen die demokratisch-politisch Handelnden. Das Individuum, das sich als freier Geist die Macht über das Eigene sichern will, muss gewaltige Anstrengungen unternehmen, um einer möglichen Tyrannei der Mehrheit zu entgehen. Die alte philosophische Option eines radikalen Rückzugs aus dem Weltgetriebe deutet sich hier an. Zum Thema der Selbstbestimmung umfassend Himmelmann 1996. 285, 23 der Stolz] In Mp XIV 1, 241 korrigiert aus: „das Vertrauen“. 285, 24 und zu Tage bringt] In Mp XIV 1, 241 nachträglich eingefügt. 286, 4 Einigen mehr als je] In Mp XIV 1, 241 nachträglich eingefügt. 286, 6 dazu treibt auch sie die Lust an der Selbstbestimmung] In Mp XIV 1, 241 korrigiert aus: „dies ist auch eine Kunst der Selbstbestimmung“. 286, 8 oder überhaupt nur Viele] In Mp XIV 1, 241 nachträglich eingefügt. 286, 20 wie Verirrte in einem Walde] In Mp XIV 1, 242 nachträglich eingefügt.
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 438–439, KSA 2, S. 285–287
809
439. MA I 439 konterkariert eingangs die resignative Stimmung, in die MA I 438 ausgelaufen war, und stellt der dort herausgestellten Unabweisbarkeit einer Massenglücksorientierung aller Politik das Ideal einer „höhere[n] Cultur“ (286, 28) gegenüber, für die es notwendig sei, dass es zwei „Kasten“ (286, 29) gebe, nämlich „die der Arbeitenden und die der Müssigen“ (286, 30). Die Müßigen freilich trieben keinen bloßen Müßiggang, sondern oblägen im Unterschied zur „Zwangs-Arbeit“ der unteren Kaste „der Frei-Arbeit“ (286, 32). Um Glücksverteilung gehe es – in scharfem Unterschied zu MA I 438 – dabei nicht; ohnehin sei die Behaglichkeit der Müßigen geringer, ihr Leiden, ihre Leidensfähigkeit größer. Wenn nun die Kasten nicht strikt getrennt blieben, sondern nach oben und nach unten Durchlässigkeit gegeben sei, so werde „ein Zustand erreicht, über den hinaus man nur noch das offene Meer unbestimmter Wünsche sieht“ (287, 9 f.) – also offenkundig ein weitgehend idealer Zustand im Horizont höherer Kultur. Nach einem Gedankenstrich wird im letzten Satz von MA I 439 diese Vision einer Zweikastengesellschaft im Dienst höherer Kultur freilich keineswegs als politisch-antitagespolitisches Bekenntnis der Sprechinstanz ausgewiesen, sondern als eine antike Vorstellung depotenziert, deren „verklingende Stimme“ (287, 10 f.) heute kaum mehr Gehör zu finden vermöge. Das freilich war nicht die erste Fassung des Textschlusses, siehe NK 287, 10–12. MA I 439 könnte als ein Beispiel für die plötzlich vernehmbaren Rufe jener Wenigen erscheinen, die sich nicht mit dem Allerweltsglück zufriedengeben, und die MA I 438 als so irritierend für die Mehrheitsgesellschaft herausgestellt hat (286, 19–23). Eine direkte Vorlage für MA I 439 lässt sich im Nachlass nicht nachweisen; NL 1876, KSA 8, 19[21], 335 stellt heraus, dass nicht nur die „Arbeiter“ „überarbeitet“ seien, sondern gleichermaßen die „Kaufleute[.] Gelehrten Beamten Militärs“ (KSA 8, 335, 17–19), wobei letztere nicht äußerlich dazu gezwungen würden, erstere hingegen schon. Das Thema der angeblich kulturnotwendigen Zwangsarbeit breitet N. bekanntlich in CV 3, KSA 1, 764–776 aus, vgl. zur Erziehungs- und Züchtungsidee in MA I 439 Knoll 2021a, 37; zum Mußeideal in diesem Abschnitt Gerhardt 2017, 237 f. 287, 4 ihre Aufgabe grösser] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 167 ist das eine spätere Hinzufügung N.s (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,167). In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht: „ihre Ansichten grösser“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/335). Am Rand ist das mit Fragezeichen markiert. In der Erstausgabe steht „Aufgabe“ (Nietzsche 1878, 297). 287, 10–12 So redet die verklingende Stimme der alten Zeit zu uns; aber wo sind noch Ohren, sie zu hören?] Im Druckmanuskript D 11, 167 stand ursprünglich statt-
810
Menschliches, Allzumenschliches I
dessen: „Wir sind in Deutschland noch sehr ferne von diesem Zustande.“ Köselitz hat diesen Satz gestrichen und durch den Text 287, 10–12 ersetzt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,167). Zunächst war das Textende also ganz auf die Gegenwart und die Zukunft bezogen und wies einen starken Aufforderungscharakter auf, während die Fassung letzter Hand elegisch in die Vergangenheit zurückblickt – man wird an entsprechende Motive von Theognis bis Platon denken – und keineswegs mehr eine Kastengesellschaft für die Gegenwart oder die Zukunft verheißt. Von radikal antiegalitären, politisch-programmatischen Forderungen schien N. schließlich Abstand zu nehmen.
440. Wer „von Geblüt“ (287, 14), also Angehöriger des Geburtsadels sei, hat nach MA I 440 „durch Vererbung“ (287, 16) zwei Künste perfektioniert, nämlich „die Kunst, befehlen zu können, und die Kunst des stolzen Gehorsams“ (287, 17 f.). In der bürgerlichen Gesellschaft, unter Kaufleuten und Industriellen, entstehe zwar „etwas Aehnliches“ (287, 20) – nämlich wohl eine neue Kunst des Befehlens –, jedoch werde sich die vornehme, aus der Feudalzeit stammende Kunst des Gehorsams nicht mehr einstellen. Zu MA I 440 gibt es in Mp XIV 1, 162 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel und markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,162). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 68 besagt: „Unter Geblüt versteht man die vererbte Kunst des Befehlens und des stolzen Gehorsam[s]“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,68). 287, 14 Vo n G e b l ü t.] Im Lemma „Geblüt“ erläutert das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm: „das blut gilt auch als der eigentliche träger der im geschlechte sich fortpflanzenden art des einzelnen wie seiner sippe, daher auch als eigentlicher träger der verwandtschaft. die bildung mit ge- gewinnt hier eine besondere wendung und kraft, es ist da eigentlich das blut einer mehrheit zusammen gedacht, als wäre es im grunde éins, éine masse geblieben vom stammvater her“ (Grimm 1854–1971, 4, 1796), besonders eben „adeliches, fürstliches geblüt“ (ebd., 1797). Dabei ist die Wendung gegen den Geblütsfetischismus schon in einem Sprichwort des 16. Jahrhunderts dokumentiert: „edel macht das gemüt, nit das geblüt, generositas virtus, non sanguis.“ (Ebd.) N. dürfte diese Sentenz in der Version von Christoph Lehmann aus der Anthologie Altdeutscher Witz und Verstand (vgl. z. B. NK 58, 2) geläufig gewesen sein: „Edel macht das Gemüth, / Nicht das Geblüt.“ (Altdeutscher Witz und Verstand 1877, 44) Vgl. auch NK KSA 5, 75, 26–76, 3 u. NK KSA 5, 148, 28–33. Die Pointe von MA I 440 besteht darin, dass der
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 439–441, KSA 2, S. 287
811
Abschnitt im Unterschied zur intellektuellen Geblütskritik an der biologischen Basis festhält und ausdrücklich von „Vererbung“ (287, 16) spricht, dabei aber gerade nicht von einer unveränderlichen Erbsubstanz ausgeht, sondern von der Vererbung erworbener Eigenschaften (konkret: der Befehls- und Gehorsamskompetenz), also von einer Art epigenetischem Lamarckismus, mit dem N. auch in späterer Zeit liebäugelt (vgl. z. B. NK ÜK JGB 199 u. NK ÜK JGB 264 sowie NK ÜK GM II 1). 287, 17 die Kunst, befehlen zu können] Von dieser Kunst ist dann im Spätwerk, namentlich in JGB ausgiebig die Rede, vgl. z. B. NK 5/1, S. 188–190, 499 u. 536–539. Die Kunst des Befehle-Gebens und die Kunst des Befehle-Empfangens als die zwei Seiten der Kunst des Befehlens werden ausführlich bereits in Platons Politikos erörtert. 287, 23 Cultur-Klima] Zur metaphorischen Verschränkung von Kultur und Klima siehe neben MA I 236, KSA 2, 197 f. v. a. NK KSA 3, 379, 17–27.
441. Die unbedingte Unterordnung, die „Subordination“ (287, 26) ist nach MA I 441 etwas Aussterbendes, so sehr sie bei Soldaten und Staatsbeamten noch immer eingefordert werde. Dadurch werde die Welt verarmen, habe sie doch „eine Menge der erstaunlichsten Wirkungen“ (287, 30–288, 1) hervorgebracht. Dieses Aussterben fraglosen Gehorsams sei unausweichlich, weil dafür die Grundlage, nämlich unbedingter Autoritäts- und Wahrheitsglauben weggebrochen sei. Gegenwärtig, unter „f r e i e r e n Verhältnissen“ (288, 6 f.) sei man nur noch zu bedingter Unterordnung bereit, nämlich im Rahmen eines „gegenseitigen Vertrages“ (288, 8), der wesentlich auch dem Gehorsamen zugute kommt, also „mit allen Vorbehalten des Eigennutzes“ (288, 8 f.). Zu MA I 441 gibt es in Mp XIV 1, 204 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne spätere Überschrift, aber markiert mit rotem „A“ und einer roten Rubrizierung. Diese Fassung lautet: „Die Subordination, welche im Militär- u Beamtenstaate so hoch geschätzt wird, wird uns bald ebenso unglaublich werden, wie die geschlossene Taktik der Jesuiten; ˹und wenn diese Subord. nicht mehr möglich ist, lässt sich˺ eine Menge der gewaltigsten Wirkungen lässt sich ??? dieser nicht mehr erreichen. Aber sie selber ruht auf der unbedingten Autorität, auf dem Glauben an die endgültige Wahrheit, ist religiös; selbst in Militärstaaten ist der physische Zwang nicht ausreichend, sie hervorzubringen, sondern die angeerbte Adoration vor dem Fürstlichen wie vor etwas Übermenschlichem. – In freieren Verhält-
812
Menschliches, Allzumenschliches I
nissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, in Folge gegenseitigen Vertrages.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,204) Die Umarbeiten zum endgültigen Text erfolgten im Druckmanuskript D 11, 167 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,167). Der ausdrückliche Bezug auf den „Eigennutz“ (288, 9) fehlte in dieser Fassung also noch, während der auf die politischen Theorien der frühen Neuzeit von Hobbes über Locke bis Rousseau zurückverweisende Kontraktualismus mit der Evokation eines „gegenseitigen Vertrages“ schon präsent ist. Thatcher 1983, 307 macht geltend, die Diagnose einer Abkehr vom blinden Autoritätsglauben in MA I 441 sei von Lubbock inspiriert, ohne das freilich an Lubbocks Werk zu konkretisieren. Vgl. zu MA I 441 auch Röttges 1972, 171. 287, 28 f. die geschlossene Taktik der Jesuiten] Zum Jesuitenorden und Jesuitismus siehe NK 74, 28–75, 1. Das Syntagma „Taktik der Jesuiten“ ist in der zeitgenössischen Publizistik weitverbreitet, aber doch ohne eine terminologisch feste Bedeutung. In 287, 28 f. steht wohl der berüchtigte, mit dem „Jesuitismus“ assoziierte Kadavergehorsam im Hintergrund (vgl. NK KSA 5, 13, 6). In den vom Ordensgründer Ignatius von Loyola verfassten Constitutiones Societatis Iesu (VI 1, 1) heißt es: „Et sibi quisque persuadeat, quòd qui sub Obedientia vivunt, se ferri ac regi a divina Providentia per Superiores suos sinere debent perinde, ac si cadaver essent“ („Und jeder möge sich davon überzeugen, dass diejenigen, die im Gehorsam leben, sich von der göttlichen Vorsehung durch ihre Vorgesetzten tragen und regieren lassen müssen, als wären sie Kadaver“). 288, 6 vor etwas Uebermenschlichem] Das Adjektiv „übermenschlich“ und auch seine neutralen Substantivierungen „etwas Uebermenschliches“ (MA I 164, KSA 2, 154, 31) oder „das Uebermenschliche“ (MA I 461, KSA 2, 298, 30) kommen bei N. längst vor, bevor er sich des Übermenschen in einem emphatischen Sinn annimmt, vgl. ausführlich NK KSA 3, 490, 23.
442. MA I 442 wendet sich gegen den Blutzoll, den kämpfende „V o l k s h e e r e“ (288, 11) auch noch in der europäischen Gegenwart wie schon bei den Griechen unter den „Höchstgebildeten“ (288, 19), den zivilisatorisch herausragenden Männern forderten. Der Abschnitt blendet aus, was der Krieg unter anderen Bevölkerungsgruppen an Verheerungen anrichtet, und beklagt nur, dass diese besonders zur Nachwuchszeugung geeigneten Männer sich gerne in der Schlacht hervortäten und daher am gefährdetsten seien (vgl. dazu im Gegensatz und im zivilen Kontext MA I 448). Man könne doch nicht mehr so grob patriotisch sein wie im Alten
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 441–442, KSA 2, S. 287–288
813
Rom, wo es jetzt viel „höhere Aufgaben“ (288, 24) zu bewältigen gäbe – als, soll der Leser hinzufügen, militärische Auseinandersetzungen. KGW IV 4, 225 u. 532 verweisen auf Mp XIV 1, 145 als ‚Reinschrift‘ für MA I 442. Auf dem fraglichen Blatt finden sich zu MA I 442 allerdings in der digitalen Reproduktion nur ganz unten auf der Seite die letzten Worte: „[ent]weder etwas Unehrliches oder ein Zeichen der Zurückgebliebenheit“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,145). Vgl. zu MA I 442 z. B. Del Caro 2004, 352 f. 288, 11 Vo l k s h e e r e.] Der Begriff des „Volksheers“ oder der „Volksbewaffnung“ ist im ausgehenden 19. Jahrhundert sehr geläufig: „Volksbewaffnung heißt die allgemeine Berechtigung und Verpflichtung des Volks zum Waffendienste in den innern und äußern Angelegenheiten des Staats. Am reinsten stellte sich dieselbe bei den Völkern im Urzustande dar, wo jeder waffenfähige Freie für die gemeinsamen Angelegenheiten stritt. […] Preußen hat das Princip der V.[olksbewaffnung], soweit sie in größern Staaten der Gegenwart durchzuführen ist, durch seine Organisation der Kriegsreserve, Landwehr ([…]) und des Landsturms am vollkommensten dargestellt, daher es auch gerechtfertigt ist, die preuß. Kriegsmacht, wie es oft geschieht, das Volk in Waffen zu nennen.“ (Brockhaus 1875– 1879, 15, 208) 288, 12–14 Menschen der höchsten Civilisation; nur durch die Gunst aller Verhältnisse giebt es deren überhaupt] Ist die „höchste Civilisation“ – superlativisch – deckungsgleich mit der „höheren Cultur“ – nur komparativisch – in MA I 439, KSA 2, 287, 2? Verzichtet MA I auf eine emphatische Unterscheidung von Kultur und Zivilisation, wie sie später in Deutschland typisch geworden ist, oder sind die „Menschen der höchsten Civilisation“ einfach die jeweils feinsten, bestausgebildeten, bestbestellten, so dass „Civilisation“ gar keinen Alternativbegriff für „Cultur“ darstellt, sondern die Entwicklungsstufe bestimmter Menschen innerhalb einer Kultur meint? Das „deren“ (288, 14) bezieht sich jedenfalls auf die „Menschen der höchsten Civilisation“. 288, 19 Höchstgebildeten] Damit sind kaum diejenigen gemeint, die höchste Bildung in höheren Bildungsanstalten genossen haben – auf die hat N. das Schlagwort der „Gebildetheit“ gemünzt (vgl. Sommer 2014c) –, sondern die am feinsten gestalteten, am besten ausgeprägten, vornehmsten Idealtypen einer Kultur, die freilich (warum eigentlich?) auch „eine reichliche und gute Nachkommenschaft verbürgen“ (288, 20 f.), also in einem sehr basalen Sinn die Zuchthengste ebendieser Kultur sein sollen. 288, 25 patria und honor] Lateinisch: „Vaterland“ und „Ehre“.
814
Menschliches, Allzumenschliches I
443. Der Befund der historischen Kontingenz sozialer Ordnungen steht zu Beginn des Abschnittes MA I 443: Auch die gegenwärtige werde vergehen im heißen Sonnenlicht neuer, glühender Meinungen. Wer dies freilich wünsche, würde Hoffnungen hegen – und hoffen dürfe man „vernünftigerweise nur“ (289, 3), wenn man sich und den in der Hoffnung Verbundenen „mehr Kraft in Herz und Kopf“ (289, 4) zuschreibe als denjenigen, die die bestehende Ordnung bewahren wollen. Diese Hoffnung werde daher „[g]ewöhnlich“ (289, 5) „eine A n m a a s s u n g, eine U e b e r s c h ä t z u n g sein“ (289, 6). Zu MA I 443 lässt sich keine ‚Reinschrift‘ im Nachlass belegen. Einerseits postuliert MA I 443 – als Beispiel für das ‚historische Philosophieren‘ nach MA I 1? – die Unausweichlichkeit des historischen Wandels gesellschaftlicher Gegebenheiten – keine dieser Gegebenheiten hat an sich oder ‚von Natur‘ ein Existenzrecht. Andererseits bestreitet der Abschnitt die fortschrittsoptimistische Sicht, dass das Neue und Andere prinzipiell immer recht habe und dem Bisherigen überlegen sei. Allerdings scheint es Fälle zu geben, wo die Hoffnung auf das Neue nicht anmaßend und selbstüberschätzend ist. Nimmt der Sprecher für sich eine solche berechtigte Neuerungskompetenz in Anspruch?
444. Der erste Satz von MA I 444 ist ein Echo der kriegskritischen Äußerungen zu Beginn der Ersten unzeitgemässen Betrachtung, wo der jüngst erfolgte preußischdeutsche Sieg im Krieg gegen Frankreich gerade nicht als Sieg der Kultur erschienen war (UB I DS 1, KSA 1, 159–164; vgl. auch N.s Brief an Rohde, 07. 11. 1870, KSB 3/KGB II 1, Nr. 107, S. 155, Z. 60–S. 156, Z. 73): Es lasse sich gegen den Krieg sagen, dass er den Sieger verdumme und den Besiegten „boshaft“ (289, 9) mache. Der zweite Satz hält dagegen, indem er diese beiden Kriegswirkungen zwar ausdrücklich als Barbarisierung beschreibt, die die Menschen aber auch wieder „natürlicher“ (289, 11) mache. Der Krieg erscheint so als „Schlaf oder Winterzeit“ (289, 11 f.), der zur Kräftigung beitrage – „zum Guten und Bösen“ (289, 12 f.). Zu MA I 444 gibt es in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 44 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Titel, dafür markiert mit rotem „A“. Darunter hat N. notiert: „hier: es ist Optimismus…“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,44). So begann eine Vorstufe von MA I 477, vgl. NK ÜK MA I 477, die offenbar hier angeschlossen werden sollte. Die Version in M I 1, 44 geht auf ein Notat von N.s Hand in U II 5, 189 zurück, das lautet: „Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger dumm, den Besieg-
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 443–445, KSA 2, S. 289
815
ten boshaft. Zu Gunsten des Krieges: er barbarisirt ˹in beiden genannten Wirkungen˺ u macht dadurch natürlicher; er ist ein Winterschlaf der Cultur: der Mensch kommt kräftiger zum Guten u. Bösen wieder heraus.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,189) Diese Formulierung vom Winterschlaf der Kultur sowie die Leitlinien von MA I 444 gehen zurück auf NL 1874, KSA 7, 32[62], 775 f. Dabei ist die Vorstellung vom kulturellen Winterschlaf bei Lichtenberg geborgt, der sie freilich nicht mit dem Krieg, sondern seiner Lieblingsfeindin, der Physiognomik assoziiert: „Das Vertrauen auf Physiognomik mußte also allerdings in einem Lande zunehmen, wie Deutschland, in welchem […] die Selbstbeobachtung und Kenntniß des Menschen in einem fast schimpflichen Verfall liegt, und in einer Entnervung schmachtet, aus welcher sie allein nur, sollte man denken, der stärkende Winterschlaf einer neuen Barbarei zu ziehen im Stande ist.“ (Lichtenberg 1867, 4, 28; vgl. Stingelin 1996, 99 u. zum Barbarischen Kaufmann/Winkler 2022) Norbert Elias hat MA I 444 exzerpiert und sich zu eigen gemacht, siehe Holzer 2010, 49 f. Eine Gegenthese zu MA I 444 hat N.s Freund Overbeck formuliert: „Das Beste was sich für den Krieg sagen lässt, ist dass man während des Friedens vergisst, dass der Krieg ein Unglück ist.“ (Overbeck ca. 1870/80, ediert in Sommer 1997, 132.)
445. Nach MA I 445 tue ein rücksichtslos agierender Politiker gut daran, nicht in eigenem Namen so zu agieren, sondern „für einen Fürsten sein Werk auszuführen“ (289, 17). Das gebe ihm den Anschein der „allgemeinen Uneigennützigkeit“ (289, 18), so dass das Publikum die „Tücken und Härten“ (289, 19) dieses Handelns übersehe. Zu MA I 445 gibt es in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 47 f. eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Titel, dafür markiert mit blauem „A“ und einigen Korrekturen N.s (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,47 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,48). In N II 1, 201 gibt es eine von N. mit Bleistift notierte Vorarbeit: „Ein Staatsmann wird, um völlig rücksichtslos zu sein, am besten thun, nicht für sich, sondern für einen Fürsten sein Werk zu thun: im Glanze dieser Uneigennützigkeit leuchten dann alle Laster Tücken u. Härten.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,201) Dass Reichskanzler Otto von Bismarck, der im Namen des Kaisers Wilhelm I. handelt, hier Modell steht, liegt auf der Hand. MA I 445 folgt der Tradition moralistisch-antimoralischer Politikberatung im Stil von Machiavelli, Gracián oder La Rochefoucauld.
816
Menschliches, Allzumenschliches I
446. Die Thematisierung des Sozialismus in MA I 446 spricht diesem das natürliche Recht ab, ein vermeintlich natürliches Unrecht der Unterdrückung großer Bevölkerungsmassen durch revolutionäre Umgestaltung zu beseitigen. Vielmehr wird im Horizont von Macht der Sozialismus als mögliches Mittel erwogen, einen „höheren Nutzen“ (289, 23) zu erzielen, indem man sich seiner bedient. Wer solche Absichten hege, werde nicht nach dem Recht fragen – die Frage „‚wie weit s o l l man seinen Forderungen nachgeben?‘“ sei „lächerlich[..]“ (289, 27 f.) –, sondern nach der Macht: „‚wie weit k a n n man seine Forderungen benutzen?‘“ (290, 1 f.) Statt als Naturrecht wird der Sozialismus wie eine „Naturmacht“ (290, 2) analog zu der des Dampfes betrachtet, die man mit geschickter Hand bändigen und dienstbar machen könne, „unter Umständen müsste man selbst Alles thun, ihn zu kräftigen“ (290, 10 f.). Nun wechselt das Subjekt: Anstelle der „Menschen, welche bei jeder Sache den höheren Nutzen in’s Auge fassen“ (289, 23 f.), ist jetzt „[d]ie Menschheit“ (290, 11) aufgerufen, sich auch diese große Kraft zum „Werkzeug ihrer Absichten zu machen“ (290, 12 f.) – als habe die Menschheit als ganze Ziele und Absichten. (Dieser Subjektwechsel liest sich wie eine Persiflage der sozialistischen Menschheitsrhetorik.) Nach einem Gedankenstrich wird gesagt, „[e]in Recht“ (290, 13) gewinne der Sozialismus erst, wenn es zwischen den „beiden Mächten“ (290, 14), nämlich den Bewahrern und den Erneuerern, „zum Kriege“ (290, 15) zu kommen scheine, den man aber befriede oder abwende, indem man auf beiden Seiten zu deren Selbsterhaltung das „Verlangen nach einem Vertrag“ (290, 17 f.) wecke. Aus dem Vertrag erst erwüchse das Recht. Bislang aber gebe es weder Krieg noch Vertrag, „also auch keine Rechte, kein ‚Sollen‘“ (290, 20). Zu MA I 446 gibt es in Mp XIV 1, 192 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne die spätere Überschrift, aber markiert mit blauem „A“ und mit einigen Korrekturen von N.s Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,192). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 130 lautet: „Einstweilen Erziehg der Masse zum klugen Egoism damit Verträge möglich / ‚Dampf‘ kein Recht – Hier bildet sich erst Recht auf Grund der Klarheit wie gross die Kraft ist / Der Socialismus ist gar kein Problem des Rechts (‚wie weit soll man seinen Forder. nachgeben?‘) sondern eine Frage der Macht (wie weit kann man seinen Forderungen ausweichen?[)]“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,130). MA I 446 verficht einen radikalen Rechtspositivismus, in dem es kein Naturrecht gibt, sondern alles Recht – vgl. auch MA I 441 – kontraktualistisch zustande kommt („Ohne Vertrag kein Recht.“ – 290, 18 f.). Die Stoßrichtung ist die, dem Sozialismus (vgl. auch MA I 235 u. 451) ein natürliches Recht abzusprechen, ohne aber seine Macht zu bestreiten, weswegen man den Abschnitt auch heute noch gerne für sozialistische Anliegen in Anspruch nimmt (vgl. Stephan 2020a). Seine ins Auge gefasste Stärkung ist freilich rein taktischer
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 446, KSA 2, S. 289–290
817
Natur und damit für alle Sozialisten, die an das universelle und natürliche Recht ihrer Anliegen glauben, eine Provokation. Allerdings hätte sich der Ratschlag (an Nicht-Sozialisten), sich den Sozialismus dienstbar zu machen, durchaus in die zeittypische Auseinandersetzung im jungen deutschen Kaiserreich eingefügt: Zunächst gab es dort zwei einschlägige Parteien, der von Ferdinand Lassalle initiierte und 1863 gegründete, reformistische Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die 1869 u. a. von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründete, revolutionäre Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Beide schlossen sich 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammen, die fortan eine entscheidende politische Rolle zu spielen gedachte – dies sehr zum Missfallen von Reichskanzler Bismarck, der repressive Wege einschlug. Zeitgleich zum Erscheinen von MA I – am 11. Mai 1878 – wurde ein Attentat auf den Kaiser verübt, dem am 2. Juni 1878 ein zweites folgte. Bismarck nutzte die Chance, um sein Sozialistengesetz durch den Reichstag zu bringen, das die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, ihr nahestehende Vereine und Gewerkschaften verbot und sozialistische Bestrebungen in den Untergrund drängte. Die Reichsregierung hat bis zur Aufhebung des Gesetzes 1890 also gerade nicht den Ratschlag von MA I 446 beherzigt und die Energie des Sozialismus für eigene Zwecke nutzbar gemacht. Vgl. zu MA I 446 z. B. Brose 1994, 196, Petersen 2008, 152 u. Emden 2010, 219. 289, 24–26 bei dem Socialismus, falls er w i r k l i c h die Erhebung der Jahrtausende lang Gedrückten, Niedergehaltenen gegen ihre Unterdrücker ist] Die Sperrung von „wirklich“ hat N. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 veranlasst (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/338). 289, 27 f. „wie weit s o l l man seinen Forderungen nachgeben?“] So stellt z. B. der Nationalökonom Hans von Scheel (1839–1901) in seiner Schrift über Eigenthum und Erbrecht nicht nur fest, dass „die gegenwärtig bei uns anerkannten Formen von Eigenthum und Erbrecht nicht nur keine zu allen Zeiten und überall anerkannten, sondern verhältnißmäßig junge, sowie auch wandelbare sind“, sondern auch, dass solche Einsichten „uns zugleich ein Urtheil ermöglichen, wo und wie weit wir sozialen Forderungen nachgeben dürfen“ (Scheel 1877, 6). 290, 2–6 wie bei einer Naturmacht, zum Beispiel dem Dampfe, welcher entweder von dem Menschen in seine Dienste, als Maschinengott, gezwungen wird, oder, bei Fehlern der Maschine, das heisst Fehlern der menschlichen Berechnung im Bau derselben, sie und den Menschen mit zertrümmert] Schon der jugendliche N. hatte in einer Aufzeichnung „Ueber den Gebrauch des Eisens“ festgehalten: „Die unsterbliche Erfindung der Dampfmaschine gab dem Eisen erst die volle Würde. Eisenbahnen, Dampfschiffe, Mühlen usw. waren die Folge dieser Erfindung.“ (NL 1858/59, KGW I 2, 5[6], 14, 4–7) Der revolutionäre Einschnitt, den die Erfindung
818
Menschliches, Allzumenschliches I
der Dampfmaschine bedeutet, war im 19. Jahrhundert allseits anerkannt, siehe z. B. Bernoulli 1865, 2 f.: „Die Dampfmaschine hat uns erst in den Stand gesetzt, eine anhaltende, fortdauernde Kraft selbst zu schaffen, wie sie die Industrie, und zwar im weitesten Sinne des Worts, bedarf. Sie ersteigt mit dieser /3/ Erfindung daher eine neue Stufe, und die Civilisation macht einen neuen Fortschritt, der dem eines Jägervolkes nicht unähnlich ist, das sich zu einem ackerbauenden erhebt.“ Zugleich räumt Bernoulli 1865, 6, Fn. 1 ein, dass „die vielen Unfälle“, „die sich jährlich ereignen“, „beklagenswerth“ seien.
447. MA I 447 beleuchtet einen Aspekt in der Funktionslogik des modernen Pressewesens, dessen Macht, so das erste Element der Analyse, gerade darauf beruhe, dass jeder seiner Vertreter „sich nur ganz wenig verpflichtet und verbunden“ (290, 23 f.) fühle. Die faktische Berufsethik des Journalismus, so lautet offensichtlich die Hintergrundannahme, entwickelt nicht dieselbe Bindungskraft, wie es beispielsweise das Beamtentum, das Militär oder vielleicht auch die Wissenschaft auspräge. Das zweite Element der Analyse besagt, dass jeder Journalist „für gewöhnlich“ (290, 25) seine eigene Meinung zu Papier bringe, aber manchmal tue er es auch nicht, um so seiner Partei, seinem Land oder sich selbst zu nützen. Diese „kleine[n] Vergehen der Unredlichkeit“ (290, 27) seien vermeintlich ganz geringfügig, summierten sich aber – drittes Element der Analyse – im Ganzen auf höchst bedenkliche Weise. Der Einzelne glaube sich gerechtfertigt, denn seine Abweichung vom journalistischen Gebot der Wahrhaftigkeit scheine „beinahe sittlich gleichgültig“ (291, 2). Nun, und das ist das vierte Element der funktionslogischen Pressewesensanalyse, könne ein Einflussreicher diese latente journalistische Manipulierbarkeit ausnützen und „jede Meinung zur öffentlichen machen“ (291, 5). Zu MA I 447 gibt es in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 5 f. eine ‚Reinschrift‘, bereits mit Titel und markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,5 u. http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,6). Ein vorbereitendes Notat von N.s Hand in U II 5, 191 lautet: „Die Verworfenheit der Presse besteht darin: jeder Einzelne fühlt sich nur gar so wenig verpflichtet u verbunden, er sagt seine Meinung oder sagt sie einmal nicht, er will seiner Sache nützen oder der Politik seines Landes. Das kleine Vergehen der Unredlichkeit oder unredl. Verschwiegenheit ist so unbedeu leicht zu tragen; nur sind die Folgen ungeheuer, weil diese kleinen Vergehen so summiert werden und dann – für so geringe Dienste besser leben, auskommen zu können! Für den Mangel dieser kleinen Rücksichten sich unmöglich zu machen! Wer viel
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 446–448, KSA 2, S. 290–291
819
Geld u Einfluß hat, biegt sich die Meinung zurecht, von der er will dass sie allein da sein solle. / Wer die Menschen kennt u. seine eigenen Zwecke durch sie erreichen will, ist jedenfalls auf bösen Wegen und immer ein gefährl. Mensch.“ Davor steht mit Bleistift zwischen den Zeilen eingefügt: „Benutzung der kleinsten Unredlichkeit (Macht)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,191). Von Wahrheit ist trotz implizitem Wahrhaftigkeitsideal in MA I 447 nicht die Rede, nur von der eigenen Meinung der Journalisten, die diese mitunter wider ihre eigentliche Überzeugung hintanstellten. Dass diese Meinungsorientierung statt Wahrheitsorientierung das eigentliche Problem sei, behauptet MA I 447 nicht. Der Meinung des Journalisten in 290, 25 steht die Meinung des einflussreichen Manipulators in 291, 5 entgegen, der sie gegen die eigentliche Meinung des Journalisten durchsetzen kann. Aber besteht das Problem nicht schon darin, dass der Journalist überhaupt auf Meinung statt auf Wahrheit setzt? N. hat sich schon früh gegen den zeitgenössischen Journalismus gewandt und sich auch mit entsprechender kritischer Literatur auseinandergesetzt. Er besaß beispielsweise Heinrich Wuttkes Buch Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung von 1875, das das kaiserzeitliche Pressewesen scharf attackierte, vgl. NK KSA 6, 145, 9 f. Vgl. zu MA I 447 auch Béland 2012, 172.
448. Mit MA I 447 verquickt ist die Analyse öffentlicher Meinungsbildung in MA I 448, auch wenn vom Pressewesen nicht explizit die Rede ist: Wolle man einen Notstand anprangern – „zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechlichkeit und Gunstwillkür in politischen oder gelehrten Körperschaften“ (291, 11–13) – tue man gut daran, den Sachverhalt möglichst zu übertreiben, auch wenn damit das Wohlwollen „bei den Einsichtigen“ (291, 14) verspielt werde. Bei den „Nichteinsichtigen“ (291, 15) sei die Wirkung aber umso größer. Da sie in der Mehrheit seien und zudem „stärkere Willenskräfte, ungestümere Lust zum Handeln“ (291, 17 f.) hätten – sehr im Gegensatz zur Behauptung in MA I 442, wonach die „Höchstgebildeten“ auch die Draufgängerischsten seien –, sei es, wolle man die Missstände abstellen, angeraten, sie zu aktivieren und daher zur Übertreibung zu greifen. Zu MA I 448 gibt es in Mp XIV 1, 179 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne die spätere Überschrift, markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,179). Sehr ähnlich lautet schon ein Bleistiftnotat in N II 2, 71 f. (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,71 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II2,72). MA I 448 gehört wie z. B. MA I 445 zur Gruppe der taktischen Aphorismen, die Politikberatung zu betreiben scheinen, woraus sich ein gewisser Widerspruch
820
Menschliches, Allzumenschliches I
zur propagierten Zurückgezogenheit von MA I 438 ergibt. Das implizite Wahrhaftigkeitsideal von MA I 447 ist in MA I 448 kassiert – es geht nur noch um die Wirkung und es wird nahegelegt, sich zwecks Notstandsbeseitigung jetzt genau jene Strategien zu eigen zu machen, die MA I 447 noch problematisiert hat. 291, 19 f. Untersuchungen, Bestrafungen, Versprechen, Reorganisationen] In Mp XIV 1, 179 stattdessen: „Untersuchungen Bestrafungen Versprechen und Reorganisationen“, in N II 2, 71 f.: „Untersuchungen, Erbitterungen ˹Verbesserungen˺ Reorganisationen usw“. 291, 21 übertrieben] In Mp XIV 1, 179 stattdessen: „übertreibend“ (in N II 2, 72: „übertrieben“).
449. MA I 449 analogisiert Meteorologen und Politiker: Ersteren schreibe „das Volk“ (291, 24) zu, das Wetter selbst zu machen, bloß weil sie es einigermaßen verlässlich am Vortag vorhersagen. Letzteren schrieben selbst „Gebildete und Gelehrte“ (291, 26) all die „wichtigen Veränderungen“ (219, 28) zu, die während ihrer Amtszeit geschehen, bloß weil diese „Staatsmänner[.]“ (219, 28) früher als andere davon Wind bekamen und sie auszunutzen verstanden. Die ernüchternde Suggestion von MA I 449 ist, dass es gar keine großen Individuen gibt, die das politische Schicksal in die Hand nehmen, sondern ausnahmslos alle Menschen diesem Schicksal ausgeliefert sind. Das verträgt sich schlecht mit der etwa in N.s Frühwerk prävalenten Genie-Helden-Rhetorik (vgl. Sommer 2019d). Zu MA I 449 gibt es in Mp XIV 1, 182 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne die spätere Überschrift, markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,182). 291, 24–26 Wie das Volk bei Dem, welcher sich auf das Wetter versteht und es um einen Tag voraussagt, im Stillen annimmt, dass er das Wetter mache] Dazu konnte sich N. in Hermann Joseph Kleins Streitschrift Die Wetterpropheten und die Wetterprophezeiungen kundig machen, die er andernorts ohne Quellennachweis zitiert, siehe NK 115, 9–16. „Lieber Leser! Aus dem Vorhergehenden wirst Du, wenn’s mir anders nicht an den allernothwendigsten Eigenschaften, mein Thema klar und deutlich darzulegen, gefehlt hat, leichtlich ersehen haben, daß es mit der Wettervorherverkündigung nichts, sondern die Meteoromantik in w i s s e n s c h a f t l i c h e m Sinne nur eine Art Schwindel ist.“ (Klein 1865, 58) Vgl. NK 334, 17–19.
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 448–450, KSA 2, S. 291–292
821
450. In MA I 450 werden zwei unterschiedliche Verhältnisbestimmungen von „Regierung und Volk“ (292, 7) miteinander konfrontiert: Die eine, herkömmliche, die durch ihren geschichtlichen Erfolg legitimiert scheint, versteht sie als ungleiche Mächte – die Regierung als stärkere, das Volk als schwächere Macht –, die dann einen Ausgleich, mit Bismarck unter konstitutionellen Bedingungen: einen „Compromiss“ (292, 13) finden müssten. Die andere Verhältnisbestimmung, die geschichtlich noch nicht beglaubigt, sondern eine reine Kopfgeburt sei, sehe die Regierung hingegen als bloßes „Organ des Volkes“ (292, 20). Die Sprechinstanz, die sich nicht explizit als ‚Ich‘ oder ‚Wir‘ zu erkennen gibt, rät nun dazu, größte Vorsicht bei der praktischen Umsetzung einer solchen immerhin „logischere[n]“ (292, 23) Verhältnisbestimmung walten zu lassen, da doch das Verhältnis von Regierung und Volk für diverse andere soziale Beziehungen – wie die pädagogische, die dienerschaftliche, die familiäre, die militärische, die meisterschaftliche – das Paradigma abgebe. All diese Verhältnisse seien bereits im Wandel; die Verfassungsgebundenheit der Regierung habe hier schon dazu geführt, dass Kompromisse vorherrschend würden. Was aber werde geschehen, wenn die angeblich neueste Theorie, also diejenige, die in der Regierung nur ein Organ des Volkes sieht, sich überall durchsetze? Das werde lange dauern und man sei gut beraten, „Vorsicht“ (293, 4) walten zu lassen. Zu MA I 450 gibt es in Mp XIV 1, 174 eine Vorarbeit, noch ohne die spätere Überschrift, markiert mit rotem „A“ und durchgestrichenem rotem „B“ sowie blau rubriziert „Mysterium“: „Zwischen Regierung u. Volk so zu scheiden als ob hier zwei getrennte Machtsphären miteinander verhandelten u sich vereinbarten, ist ein Stück vererbter polit. Empfindung: zB wenn Bismarck die constitutionelle Form bezeichnet als Compromiss zwischen Regierung u. Volk. Man muss das lernen, dass Regierung nichts als ein Organ des Volkes ist, nicht ein geheimnissvolles verehrungswürdiges ‚Oben‘ im Verhältniss zu einem demütigen ‚Unten‘. Wer diese Trennung nicht loswerden kann, wird in allen anderen Verhältnissen noch den alten Sklavensinn gegen den Herrn haben; es ist ein vorbildliches Verhältniss, das unwillk. übertragen wird, auf die Ehe, die Stellung zu den Dienstboten, den Arbeitern, den Parteigenossen, den Schülern eines Lehrers.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,174) In dieser Version scheint die Sprechinstanz die demokratische Umgestaltung der Verhältnisse gegen den „Sklavensinn“ noch uneingeschränkt zu begrüßen, ohne zu „Vorsicht“ zu mahnen (den letzten Satz der Druckversion: „Hierbei ist Nichts mehr zu wünschen, als Vorsicht und langsame Entwickelung.“ in 293, 3 f. hat N. ohnehin erst nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 170 ergänzt – http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,170). Erst die Fassung letzter Hand behauptet in 292, 17–20, beim „Princip“, „dass Regierung
822
Menschliches, Allzumenschliches I
Nichts als ein Organ des Volkes sei“, handle es sich um eine reine, geschichtlich noch unbeglaubigte Kopfgeburt, als wäre die zugrundeliegende Idee der Volkssouveränität zu N.s Zeiten nicht nur bereits ehrwürdigen Alters gewesen, sondern als hätte sie sich beispielsweise in den USA und im revolutionären Frankreich nicht schon seit einem Jahrhundert realpolitisch realisiert. Die Druckfassung von MA I 450 stellt eine gänzlich andere Szenerie vor Augen als MA I 438, wo demokratische, antihierarchische Verhältnisse schon etabliert schienen, während sie hier noch nach Zukunftsmusik klingen. 292, 11 f. den m e i s t e n Staaten] Die Sperrung von „meisten“ hat N. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 veranlasst (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/340). 292, 12–17 Wenn zum Beispiel Bismarck die constitutionelle Form als einen Compromiss zwischen Regierung und Volk bezeichnet, so redet er gemäss einem Princip, welches seine Vernunft in der Geschichte hat (ebendaher freilich auch den Beisatz von Unvernunft, ohne den nichts Menschliches existiren kann).] Dies ist die einzige Stelle in MA I, an der der Reichskanzler Otto von Bismarck namentlich genannt wird. Das fragliche oder vermeintliche Zitat hat N. aus der anonym publizierten Schrift Nationalliberale Partei, nationalliberale Presse und höheres Gentlemantum. Von einem Nichtreichsfeinde von Richard Reuter, die er sich von seiner Schwester hatte kommen lassen (N. an Elisabeth N., 20. 01. 1877, KSB 5/KGB II 5, Nr. 589, S. 216, Z. 4 f.: „Vielen Dank für […] Reuter’s Schrift (brave Gesinnung, guter Kopf, abscheuliche Darstellung)“). Dort heißt es: „In ein vollkommenes System gefaßt ist jene schiefe und unsittliche Auffassung von der Stellung der Regierung gegenüber dem Volke in jenem ‚geflügelten‘ Worte des Reichskanzlers, daß die parlamentarische Regierung ein Compromiß zwischen Volksvertretung und Regierung sei. Der sittliche Werth des Systems kann nicht besser gekennzeichnet werden, als durch dieses Wort; denn nichts ist falscher. Wie ein jeder weiß, der überhaupt von solchen Dingen etwas weiß, besteht die parlamentarische Regierung zwar in einem Compromiß verschiedener Parteien, oder kann wenigstens darin bestehen, nimmermehr aber in einem Compromiß zwischen Volk oder Volksvertretung und Regierung.“ ([Reuter] 1876, 16) Die Fügung „Vernunft in der Geschichte“ hat N. in einem längeren Exzerpt aus Hegels Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften aufgenommen: „dass überhaupt V e r n u n f t in der Geschichte sei, muss für sich selbst philosophisch und damit als an und für sich nothwendig ausgemacht werden“ (NL 1873, KSA 7, 29[72], 660, 27–30 nach Hegel 1870, 451). In MA I 450 ist die Fügung freilich nicht in diesem Sinne ambitioniert geschichtsphilosophisch gemeint, wie der Blick auf 292, 10 f. belegt. „Vernunft in der Geschichte“ zu haben, bedeutet hier, seine Rechtfertigung, raison aus der Geschichte zu gewinnen.
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 450–451, KSA 2, S. 292–293
823
451. Der Abschnitt MA I 451 diskutiert zwei unterschiedliche Sichtweisen auf die Rechtegleichheit aller Menschen: Zum einen könnten sozialistisch inspirierte, „wenn auch nicht gerade sehr einsichtsvolle“ (293, 7) Angehörige der dominierenden Schicht sich verpflichten, alle Menschen „als gleich“ (293, 9) zu behandeln. Das sei eine Betrachtungsweise, die „auf G e r e c h t i g k e i t“ (293, 11) beruhe – die Herrschenden übten Gerechtigkeit durch „Opfer und Verleugnungen“ (293, 13), durch Machtverzicht. Zum andern jedoch sei die Forderung nach Gleichbehandlung und Gleichheit, wenn sie von den „Socialisten der unterworfenen Kaste“ (293, 14 f.) erhoben werde, keineswegs aus „Gerechtigkeit“, sondern aus „Begehrlichkeit“ (293, 16) entstanden. Nach einem Gedankenstrich wird von einer „Bestie“ gesprochen, der man „blutige Fleischstücke“ (293, 17) vor die Nase halte, um sie ihr dann wieder zu entziehen, aber dann wohl nicht behaupten wolle, dass ihr Brüllen „Gerechtigkeit bedeute“ (293, 18 f.). Zwar wird der Vergleich der „Bestie“ mit den Unterjochten nicht explizit gemacht, aber doch unmittelbar nahegelegt. Zu MA I 451 lässt sich keine ‚Reinschrift‘ im Nachlass belegen. Der Abschnitt versucht, die Gerechtigkeitsansprüche der sozial Deklassierten zu delegitimieren. Die Frage ist, ob damit deren Gleichbehandlungsanprüchen ebenfalls die Legitimation verweigert wird. Das erscheint nicht zwingend. Setzt man MA I 451 zu MA I 446 ins Verhältnis, ließe sich argumentieren, der dort durchgespielte Rechtspositivismus gelte nicht nur für „Recht“, sondern eben auch für „Gerechtigkeit“: Es gebe sie nicht von Natur, sondern nur, wenn ein Vertrag zustande komme, der jedoch werde den Unterdrückten zunächst gerade vorenthalten. Aber wenn sie schon in Analogie zu Raubtieren gesehen werden, könnte es für sie ein Leichtes werden, ihn zu erzwingen. Allerdings wird die Gerechtigkeit bei den Herrschenden in MA I 451 nicht mit einem Vertrag in Verbindung gebracht; ihre Gerechtigkeit beruhe vielmehr auf „Opfer“ und Selbstverleugnung: Sie machen von Machtmöglichkeiten nicht Gebrauch, die ihnen zu Gebote stünden, nämlich die Unterdrückten weiter als ungleich zu be- oder misshandeln. Gerechtigkeit erscheint vielmehr als Billigkeit – man muss Macht haben, um gerecht sein zu können. Zu Billigkeit und Gerechtigkeit als Austausch zwischen ungefähr Gleichmächtigen vgl. NK ÜK MA I 92, zum Motiv der Gier in MA I 451 auch Safronov 2022, 69, zur Rechtsgleichheitsforderung NK KSA 6, 27, 25. 293, 6 G e r e c h t i g k e i t a l s P a r t e i e n - L o c k r u f] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „G e r e c h t i g k e i t a l s s c h ö n e s P a r t e i w o r t“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16 48750028/341).
824
Menschliches, Allzumenschliches I
293, 7 (wenn auch nicht gerade sehr einsichtsvolle)] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 170 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ D-11,170). 293, 7 f. Vertreter der herrschenden Classe] Im Druckmanuskript D 11, 170 wurde „Classe“ aus „Kaste“ korrigiert. Diese angepasste Redeweise gehört nicht nur zum landläufigen sozialistisch(-marxistisch)en Vokabular, sondern findet sich beispielsweise auch in der von N. benutzten Übersetzung von John Stuart Mills On Liberty: „Ueberall, wo es eine herrschende Classe gibt, stammt ein beträchtlicher Theil der dort geltenden Moral aus den Sonderinteressen und der Sonderstellung dieser Classe.“ (Mill 1869–1886, 1, 6; von N. mit drei Randstrichen markiert)
452. MA I 452 setzt die Diskussion über Sozialismus, Gerechtigkeit und gesellschaftliche Ungleichgewichte fort: Die Behauptung der Sozialisten – im Unterschied zu MA I 451 wird nicht spezifiziert, ob sie einer hohen oder niedrigen Schicht angehören –, dass die gegenwärtige Besitzverteilung die Folge „zahlloser Ungerechtigkeiten“ (293, 23) und sie daher als nicht begründet abzulehnen sei, verkürze die Wirklichkeit. Die ganze Kulturvergangenheit sei auf „Gewalt, Sclaverei, Betrug, Irrthum“ (293, 27) gegründet gewesen; „wir“ aber seien die Konsequenz dieser Vergangenheit und könnten weder sie insgesamt hinwegbefehlen, aber auch „nicht ein einzelnes Stück herausziehen“ (293, 30). Warum nicht, verrät MA I 452 nicht – zumal die „kritische Historie“ einst in UB II HL 3, KSA 1, 269 f. gerade zu einer solchen Abrechnung mit dem Vergangenen empfohlen war, um sich für die Gegenwart Handlungs- und Lebensfreiraum zu schaffen. MA I 452 fährt vielmehr fort, „[d]ie ungerechte Gesinnung“ (293, 30–294, 1) sei noch in den Besitzlosen wirksam; sie seien moralisch den Besitzenden nicht überlegen und hätten „kein moralisches Vorrecht, denn irgend wann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen“ (294, 3 f.). Diese Sicht bereitet dem Interpreten Schwierigkeiten: Abgesehen von der historischen Frage, ob das wirklich und in allen Fällen so war, folgt daraus nichts – das „denn“ suggeriert eine Begründung, die nicht gegeben wird. Aus dem Besitz oder Nicht-Besitz der Vorfahren ergeben sich keine Folgerungen für den moralischen Status der Nachfahren, weil sie ihr allfälliges „Vorrecht“ ja nicht aus der Armut des Ahnen, sondern aus ihrer eigenen Armut ableiten würden. Und was soll eine „ungerechte Gesinnung“ sein, wenn die Unterdrückten nach MA I 451 ohnehin nicht als gerechtigkeitsfähig gelten? Der Abschnitt schließt mit einem Vorschlag zur Güte, der sich gegen rabiat-revolutionäre Umverteilung richtet und einen allmählichen Wandel pro-
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 451–453, KSA 2, S. 293–294
825
pagiert, allerdings nicht explizit der Vermögensverteilung, sondern der „Umschaffungen des Sinnes“ (294, 5): Gerechtigkeit müsse wachsen, „der gewaltthätige Instinct“ (294, 6 f.) sich abschwächen. Wie allerdings die Gerechtigkeit wachsen kann, wenn laut MA I 451 die Möglichkeit dazu, nämlich Besitz und die Fähigkeit, verzichten zu können, wegen anhaltender Armut nicht gegeben ist, bleibt im Dunkeln. Zu MA I 451 gibt es in Mp XIV 1, 174 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne die spätere Überschrift, doppelt markiert mit rotem „A“ sowie blau rubriziert „Socialism“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,174). 293, 28 f. Concrescenzen] „Conscrescénz, f., l. eig. die Zusammenwachsung; Einverleibung, der Zusammenwuchs“ (Petri 1861, 189). 293, 30–294, 2 Die ungerechte Gesinnung steckt in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als die Besitzenden] Im Druckmanuskript D 11, 171 korrigiert aus: „Die ungerechte Gesinnung steckt in uns auch, wir sind nicht besser als die Besitzenden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,171). 294, 3 f. ihre Vorfahren] Im Druckmanuskript D 11, 171 korrigiert aus: „unsere Vorfahren“.
453. MA I 453 soll eine Analyse kluger politischer Indienstnahme von „öffentliche[n] Leidenschaften“ (294, 10) liefern: Ein berechnender Politiker stachle sie an, um starke „Gegenleidenschaft“ (294, 11) zu erzeugen, die seinen Zwecken dienstbar ist. Als Beispiel wird der antikatholische Kurs des Kulturkampfes genannt, der die Katholiken innerhalb Deutschlands zu einer politischen Gegenmacht mache, die sich wiederum mit Frankreich verbünde, das sich rekatholisiere und so sich nicht mehr mit Russland zusammentun könne, weil dies den Katholiken feindlich sei. Ein Bündnis von Frankreich und Russland sei aber die eigentliche Bedrohung Deutschlands, die so abgewendet werden könne. Ebenso könne man – zu ergänzen: als Monarchie – die Republik im Nachbarland (wohl ist wieder Frankreich gemeint) unterstützen, weil sie „das Volk“ (294, 33) schwäche. MA I 453 stellt den „Staatsmann“ (294, 10) als „S t e u e r m a n n d e r L e i d e n s c h a f t e n“ (294, 9), als Virtuosen der politischen Berechnung dar und damit als Herr von Entwicklungen, deren Beherrschung ihm MA I 449 gerade noch abgesprochen hat. Zu MA I 453 gibt es in Mp XIV 1, 277 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“, noch ohne Überschrift, nummeriert „18.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,277) In dieser Fassung wurde das Ende gestrichen, dessen ersten Satz wiederum Brenner niedergeschrieben und
826
Menschliches, Allzumenschliches I
dessen Schlusssatz N. handschriftlich ergänzt hat: „Diese Gesinnung mag der Wohlfahrt eines Staates nützlich sein: der Wohlfahrt der allgemeinen Cultur ist sie feindlich und schädlich. – Also ist die Existenz von ˹einzelnen˺ Staaten ˹überhaupt˺ (die miteinander nothwendig im ununterbrochenen bellum omnium contra omnes stehen) ein Hinderniß der Cultur.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,278; lateinisch: „Krieg aller gegen alle“, die berühmte Formel von Thomas Hobbes: De Cive Praefatio 14 für den Naturzustand, vgl. auch NK ÜK MA I 477.) In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 95 f. lautet eine frühere Fassung: „Der Staatsmann erzeugt öffentliche Leidenschaften, um den Gewinn von der dadurch erweckten Gegenleidenschaft zu haben. Um ein Beispiel zu nehmen: so weiss ein deutscher Staatsmann wohl, dass die katholische Kirche niemals mit Russland gleiche Pläne haben wird, ja sich viel lieber mit den Türken verbünden würde, als mit ihm; ebenso weiss er, dass Deutschland alle Gefahr von einem Bündnisse Frankreichs mit Russland droht – kann er es nun dazu bringen, Frankreich zum Herd und Hort der katholischen Kirche zu machen, so hat er diese Gefahr auf eine lange Zeit beseitigt, er hat demnach ein Interesse daran, Hass gegen die Katholiken zu zeigen und durch Feindseligkeiten aller Art die Bekenner dieser Religion in eine leidenschaftliche politische Macht zu verwandeln, welche der deutschen Politik feindlich ist und welche sich naturgemäss auf Frankreich als den Feind Deutschlands stützen wird.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,95 u. http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,96) Von N.s Hand gibt es dazu eine Vorarbeit in U II 5, 117 f. (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,117 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/ U-II-5,118), vgl. auch NL 1876, KSA 8, 17[95], 312. 294, 25–27 sein Ziel ist ebenso nothwendig die Katholisirung Frankreichs, als Mirabeau in der Dekatholisirung das Heil seines Vaterlandes sah.] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 171 hinzugefügt (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,171). Im Zuge der mit Franz und Ida Overbeck betriebenen Lektüre der Causeries von Charles-Augustin Sainte-Beuve ist N. dem Publizisten, Politiker und Wegbereiter der Französischen Revolution Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau (1749–1791) begegnet (Sainte-Beuve 1880, 263–265 = Sainte-Beuve 2014, 322–324), siehe zu N.s späterem Interesse an Mirabeau NK KSA 5, 273, 21–24. In 294, 26 f. wird auf ein berühmtes Diktum angespielt: „So wußte Mirabeau in kirchlichen wie in politischen Dingen den Schein vom Wesen zu scheiden, die aristokratische Hülle des Christenthums schien ihm um Nichts besser als die offene Irreligion, und ehe er zugab daß die katholische Kirche konstitutionelle Nationalkirche Frankreichs ward, konnte er ausrufen: Il faut décatholiser la France.“ (Mendelssohn-Bartholdy 1873, 393 – „Frankreich muss dekatholisiert werden.“)
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 453–455, KSA 2, S. 294–295
827
294, 31 le désordre organisé, wie Mérimée sagt] An seine „Unbekannte“ (Jenny Dacquin) schrieb Prosper Mérimée am 29. 08. 1870 mitten aus dem Deutsch-Französischen Krieg: „Tout le sang qui a coulé ou coulera est au profit de la République, c’est-à-dire du désordre organisé.“ (Mérimée o. J., 2, 372 – „Alles Blut, das vergossen wurde oder noch vergossen wird, kommt der Republik zugute, das heißt der organisierten Unordnung.“)
454. Große revolutionäre Gefahr geht nach MA I 454 nicht von den Aufrührern aus, die durch Umsturz für sich etwas erreichen wollten, sondern vielmehr von denjenigen, die für künftige Generationen agitierten und also keine persönlichen Interessen verfolgten. Sie könne man nicht durch Beschwichtigung und Lockungen ruhigstellen, hätten sie doch „das gute Gewissen der Uneigennützigkeit“ (295, 7) und könnten sich den von persönlichen Interessen bestimmten Bewahrern des Bestehenden moralisch „überlegen fühlen“ (295, 13). Zu MA I 454 gibt es in Mp XIV 1, 267 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“, noch ohne Überschrift, nummeriert „11.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,267 u. http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,268) Diese Fassung geht zurück auf eine von N. in U II 5, 91 niedergeschriebene Vorarbeit (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,91), die wiederum auf dem Bleistiftnotat N II 1, 197 beruht: „10. Man theile die Socialisten ein in solche, die für sich selbst und die welche für ihre Kinder und Enkel etwas erreichen wollen. Die letzteren sind die gefährlich. denn sie haben den Glauben der Uneigennützigkeit. Die anderen kann man abspeisen: dazu ist die herrschende Gesellschaft immer noch reich genug. Die Gefahr beginnt, sobald die Ziele unpersönlich, also die Revolutionäre des persönl. u. des unpersönlichem Interesses“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,197). MA I 454 zeigt ein fundamentales Legitimationsproblem der Verteidiger des Bestehenden und scheint den uneigennützigen Revolutionären bessere Karten zuzuteilen. Das steht in starker Spannung zu MA I 451 und 452, wo die Legitimation der Neuerungswilligen gerade gegen das angestammte Recht problematisch wirkte.
455. MA I 455 nimmt ein Motiv aus MA I 436 auf und erweitert die auf uneigennützige Revolutionäre beschränkte Sicht von MA I 454: Wer keine Söhne – von Töchtern
828
Menschliches, Allzumenschliches I
ist nicht die Rede – habe, solle politisch nicht voll mitbestimmen dürfen. Denn erst, wer das Wohlergehen seiner Nachkommen im Blick habe, könne sich von egoistischen Befangenheiten lösen und „Ziele über seine individuelle Lebenslänge hinaus mit Ernst verfolgen“ (295, 25 f.). Daran hänge „[d]ie Entwickelung der höhern Moral“ (295, 22 f.), auch wenn der Betreffende dadurch vielleicht nicht gerade „unegoistisch“ (295, 24) werde, aber doch seinen Egoismus über die eigene Lebenszeit hinaus verlängere. Dass dies gerade ein eminentes politisches Problem sein könnte – nämlich seiner eigenen Nachkommenschaft Privilegien zu sichern, die den Nicht-Nachkommen verwehrt bleiben –, blendet MA I 455 aus. Genetisch gehören MA I 455 und MA I 436 tatsächlich zusammen: Die ‚Reinschrift‘ zu MA I 455 – noch ohne spätere Überschrift, markiert mit rotem „A“ und zwei blauen Strichen – in Mp XIV 1, 18 endet mit zwei Sätzen, die die Keimzelle von MA I 436 bilden, vgl. NK ÜK MA I 436. In der ursprünglichen, später korrigierten und veränderten Fassung lautete dieser Text: „Wenn der Mensch keine Söhne hat, so hat er kein volles Recht, über Staat u Moral mitzureden, wie das Perikles in der Leichenrede sagt. Man muss auch[?] sein Liebstes geopfert haben; das bindet an den Staat fest; man muss das Glück seiner Nachkommen im Auge haben, um an allen Institutionen u deren Veränderung rechten Antheil zu nehmen. Die Entwickelung der höhern Moral hängt daran, dass einer Söhne hat; diess stimmt ihn unegoistisch u. lässt ihn Ziele über seine individ. Lebensdauer hinaus ins Auge fassen. Es ist lächerlich, wenn eine Gesellschaft von Habenichtsen das Erbrecht wegdekretirt. Kinderlose sollten nicht alle polit. Rechte ausüben dürfen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,18) Ähnliche Überlegungen artikuliert auch NL 1876, KSA 8, 19[104], 356. Die fragliche Stelle aus dem Epitaphios des Perikles findet sich in Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges II 44; sie lautet in der von N. benutzten Übersetzung von Adolf Wahrmund (vgl. z. B. auch NK 213, 10–13): „Deßhalb will ich euch Aeltern der Gefallenen […] nicht beklagen sondern vielmehr trösten. […] Ich weiß wohl, daß es schwer ist das Gemüth zu überreden, da ihr oft Anlaß zur Erinnerung an jene haben werdet, wenn ihr Andere in einem Glücke seht, dessen ihr euch selbst einst erfreutet. […] Aber auch in der Hoffnung auf andere Kinder sollen die ihr Gemüth aufrichten, die noch in dem Alter sind, Nachkommen zu erzielen; denn im eigenen Hause werden die Neugeborenen den Schmerz heilen um die, die nicht mehr sind, und dem Staate wird es doppelter Vortheil sein, nicht arm zu werden an Bürgern und an Sicherheit zuzunehmen. Denn es ist nicht möglich, daß Einer in recht gleicher Denkart mit den Andern an den Berathungen um das Gemeinwohl theilnehme, wenn er nicht wie die Andern Kinder daran zu wagen hat.“ (Thukydides 1861, 130)
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 455–457, KSA 2, S. 295–296
829
456. In MA I 456 wird eine seltsame säkulare Ahnenverehrung entworfen: Nur wer eine „ununterbrochene Reihe g u t e r A h n e n“ (295, 28 f.) habe, dürfe auf „Geburtsadel“ (296, 1) Anspruch erheben – ein einziger böser Ahne mache diesen Adel zunichte. Daher müsse man jeden fragen, der auf seinen Adel stolz sei, ob er nicht wenigstens einen üblen Vorfahren gehabt habe. Könne er guten Gewissens verneinen, bemühe man sich, sein Freund zu werden. Zu MA I 456 gibt es in Mp XIV 1, 266 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, doppelt markiert mit einem roten „A“, noch ohne Überschrift, nummeriert „10.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,266et267) Diese Fassung geht zurück auf eine von N. in U II 5, 93 niedergeschriebene Vorarbeit: „40. Adel der Abkunft: – auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zum Vater herauf darf man mit Recht stolz sein – nicht aber auf die Reihe; denn diese hat jeder. Aber eine einzige Unterbrechung in jener Kette, Ein böser Vorfahr also, hebt auch den Adel auf. Hast du keinen gewaltthätigen, habsüchtigen ausschweifenden boshaften grausamen Menschen unter deinen Vorfahren? soll man jeden fragen, welcher von seinem Adel redet.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ U-II-5,93) Vgl. auch NL 1876, KSA 8, 16[30], 292. In diesen beiden Fassungen ist noch keine Rede davon, dass man die Freundschaft eines angesichts seiner untadeligen Ahnen adligen Menschen suchen solle; die Zurückweisung allen Geburtsadelsdünkels ist noch unmissverständlich, während MA I 456 mit der Schlusswendung eine ironische Lesart nahelegt, denn wer weiß schon, ob er nicht doch auch zweifelhafte Ahnen gehabt hat – und bei den hocharistokratischen Dynastien, deren Ahnen allesamt bekannt sind, wird sich ohnehin stets ein schwarzes Schaf im Stammbaum finden. Schließlich ist nicht ausgemacht, ob der jetzige Vertreter der Familie, dessen Freundschaft man suchen solle, trotz all seiner vortrefflichen Vorfahren nicht selbst das erste schwarze Schaf ist. 296, 6 in gutem Wissen und Gewissen] Vgl. Paul Winkler: „Es ist besser Gewissen ohne Wissen, als Wissen ohne Gewissen.“ (Altdeutscher Witz 1877, 112)
457. War in MA I 283 behauptet worden, jeder, der nicht über den großen Teil seiner Zeit frei verfügen könne, sei ein Sklave, wendet sich MA I 457 gegen sprachliche Schönfärberei, die der „Befriedigung der Eitelkeit“ (296, 11) mehr diene als dem eigentlichen „Wohlbefinden“ (296, 11): Alle wollten die verabscheute Sklaverei aufheben, während „Jeder“ doch eingestehen müsse, „dass die Sclaven in allen
830
Menschliches, Allzumenschliches I
Beziehungen sicherer und glücklicher leben, als der moderne Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig Arbeit im Verhältniss zu der des ‚Arbeiters‘ ist“ (296, 16– 19). Wenn man nun gegen Sklaverei unter Berufung auf die Würde des Menschen protestiere, so doch nur aus einer „Eitelkeit“ (296, 21), die öffentliche Nicht-Gleichstellung als unerträglich empfinde. Für den antiken Kyniker – Beispiel Diogenes von Sinope – sei dieser Anschein der „Ehre“ (296, 24) gleichgültig gewesen. Zu MA I 457 gibt es in Mp XIV 1, 193 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne die spätere Überschrift, aber markiert mit blauem „A“ und mit einigen Korrekturen von N.s Hand. Ursprünglich lautete diese Fassung: „Dass wir mehr Werth auf Befriedigung der Eitelkeit als auf alles übrige Wohlbefinden (Sicherheit Unterkommen Vergnügen aller Art) [legen] zeigt sich in einem lächerl. Grade daran, dass jedermann (abgesehen von polit. Gründen) die Aufhebung der Sklaverei (, ebenso die Beseitigung der Prostitution) wünscht u. es auf’s ärgste verabscheut, Menschen in diese Lage zu bringen: während jeder sich sagen muss, dass die Sklaven (u. die Prostit.) in jeder Beziehung sicherer und glücklicher leben als der moderne Arbeiter, dass Sklavenarbeit sehr wenig Arbeit im Verhältniss zu der des ‚Arbeiters‘ ist. Man protestirt im Namen der ‚Menschenwürde‘: das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene liebe Eitelkeit, welche die Abhängigkeit von einem Anderen, die öffentl. Nichtexistenz, als das härteste Loos empfindet. – Der Cyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre verachtet: – und so war Diogenes Hauslehrer.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,193) Die Parallelsetzung von Sklaverei und Prostitution wurde erst nachträglich im Druckmanuskript D 11, 172 gestrichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,172). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 132 lautet: „Sclaven Huren befinden sich gar nicht schlecht: / was treibt uns zur Aufhebung?“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,132) Woher die Sprechinstanz von MA I 457 wissen will, dass Sklaverei weniger schlimm war/ist als das moderne (Industrie-)Proletarierdasein, verrät der Text nicht, der überdies explizit behauptet, dass Sklaven „sicherer und glücklicher leben“, nicht „lebten“, also das Präsens, nicht das Imperfekt benutzt. Stehen damit vor allem moderne Sklaven (wie etwa bis zur Abschaffung im 13. Zusatzartikel der Verfassung 1865 in den Südstaaten der USA) vor Augen, nicht antike Sklaven, auf die das Ende von MA I 457 Bezug nimmt? Es ist klar, dass von Sklaverei hier und an den anderen Stellen, die sie mehr oder weniger explizit befürworten, keineswegs in einem metaphorischen Sinn die Rede ist, sondern mit Blick auf deren sozial-ökonomische Realität (vgl. Sommer 2012d, 95 f.). Aber welche Realität das hier genau ist – und inwiefern MA I 457 den Vergleich von Arbeiterschaft und Sklavenschaft in provokatorischer Absicht einbringt –, bleibt offen. Vgl. auch NK KSA 1, 117, 15–25, NK KSA 6, 143, 8–10 sowie mit weiterführender Literatur NK 3/2.1, S. 385 f. (zu FW 18).
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 457, KSA 2, S. 296
831
296, 20 „Menschenwürde“] Von „Menschenwürde“ ist bei N. explizit erstmals in MA I 92, KSA 2, 90, 19 die Rede, dort zwar ohne Anführungszeichen, aber doch als Produkt des Vergessens ironisch negativierend umspielt. Als Illusionsprodukt menschlicher Selbstüberhebung erscheint sie in FW 115, KSA 3, 474, 24 f., vgl. NK ÜK FW 115. Der aus der humanistischen Tradition (Giovanni Pico della Mirandolas Oratio de hominis dignitate von 1486, vgl. NK KSA 5, 81, 20–23) in das Selbstverständnis der Aufklärung übergegangene Begriff musste sich insbesondere bei Schopenhauer in der Replik auf Kant eine harsche Zurückweisung gefallen lassen: „Allein dieser Ausdruck ‚W ü r d e d e s M e n s c h e n‘, ein Mal von K a n t ausgesprochen, wurde nachher das Schiboleth aller rath- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen, oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponirenden Ausdruck ‚W ü r d e d e s M e n s c h e n‘ versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angethan sehen und demnach damit zufrieden gestellt seyn würde. […] /167/ […] Ein u n v e r g l e i c h b a r e r, u n b e d i n g t e r, a b s o l u t e r W e r t h, dergleichen die Würde seyn soll, ist […], wie so Vieles in der Philosophie, die mit Worten gestellte Aufgabe zu einem Gedanken, der sich gar nicht denken läßt, so wenig wie die höchste Zahl, oder der größte Raum. / ‚Doch eben wo Begriffe fehlen, / Da stellt ein W o r t zu rechter Zeit sich ein.‘ / So war denn auch hier an der ‚Würde des Menschen‘ ein höchst willkommenes Wort auf die Bahn geworfen, an welchem nunmehr jede, durch alle Klassen der Pflichten und alle Fälle der Kasuistik ausgesponnene Moral ein breites Fundament fand, von welchem herab sie mit Behagen weiter predigen konnte.“ (Schopenhauer 1873–1874, 4/2, 166 f.) 296, 22 f. das Oeffentlich-niedriger-geschätzt-werden, als das härteste Loos empfindet.] Im Widerspruch zum Druckmanuskript D 11, 172, zu den Korrekturbogen, zur Erstausgabe und zu N.s Handexemplaren ‚emendieren‘ KGW u. KSA hier nach GoA. Der von N. autorisierte Text lautet: „das öffentlich Niedriger-geschätzt-werden als das härteste Loos empfindet“. In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 wurde das Komma mit „del[eatur]“ gestrichen (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/345/); die Korrektur wurde dann freilich (versehentlich?) nicht ausgeführt (Nietzsche 1878, 307). 296, 23–25 Der Cyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre verachtet: – und so war Diogenes eine Zeitlang Sclave und Hauslehrer.] Noch in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht nach Mp XIV 1, 193 u. D 11, 172: „Der Cyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre verachtet: – und so war Diogenes Hauslehrer.“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/345/) Die Episode, auf die N. hier anspielt, findet sich bei Diogenes Laertius: De vitis VI 2, 74 und lautet in der von N. benutzten Übersetzung Borhecks: „Seine Verkaufung ertrug
832
Menschliches, Allzumenschliches I
er [sc. Diogenes von Sinope] aufs edelgesinnteste, denn bei der Fahrt nach Aegina fiel er Seeräubern […] in die Hände, die ihn nach Kreta führten und verkauften. Als nun der Ausrufer [sc. auf dem Sklavenmarkt] ihn fragte, was er verstände, sagte er: Menschen beherrschen, und zeigte dabei auf einen schöngekleideten Korinthier, den oben schon genannten Xeniades, mit den Worten: diesem verkaufe mich, der hat einen Herrn nöthig. Xeniades kaufte ihn auch, nahm ihn mit nach Korinth, und gab ihm die Aufsicht über seine Kinder, wobei er ihm noch sein ganzes Haus anvertraute.“ (Diogenes Laertius 1807, 1, 374) Explizit als „Hauslehrer“ und „Sklave“ wird der kynische Philosoph im zweiten Band von Lorenz Grasbergers Werk Erziehung und Unterricht im klassischen Alterthum bezeichnet, das N. 1875 der Basler Universitätsbibliothek entliehen hat: „Von Diogenes aus Sinope wird berichtet, er habe sich als Hauslehrer und Sklave bei dem Korinthier Xeniades so zu führen gewusst, dass sein Herr überall erklärte, ein guter Genius habe in seinem Hause Einkehr genommen.“ (Grasberger 1875, 2, 165) Zum Kynismus in MA I 457 siehe auch Guo 2022, 67 f.
458. MA I 458 unterscheidet zwei Herrschaftsweisen, andere Menschen zu eigenen Zwecken einzuspannen: Die eine Gruppe der Herrschenden wähle sehr genau jene Personen aus, durch die sie agiert, und lasse ihnen dann viel Freiheit, weil sie darauf vertraue, dass sie sich in dieser Freiheit so entwickeln würden, wie es den anvisierten Zwecken dienlich sei. Die andere Gruppe hingegen wähle nicht sorgfältig aus, sondern nehme, was ihr zwischen die Finger komme, und forme diese Menschen auch gewaltsam. Diese zweite Gruppe sei misstrauisch und verachte die Menschen, aber ihr Herrschaftsmechanismus funktioniere gewöhnlich zuverlässiger. Eine ‚Reinschrift‘-Vorlage für MA I 458 ist nicht belegt, dafür ein vorbereitendes Bleistiftnotat in N II 5, 7 f.: „Wir sehen grosse Männer welche Menschen als Werkzeuge ihrer Pläne brauchen bald so bald so verfahren: entweder wählen sie sehr fein u sorgsam die zu ihren Zielen passenden Menschen aus u lassen ihnen dann verhältnissmässige grosse Freiheiten, weil sie wissen, dass deren Natur nothwendig sie eben dahin treibt, wohin der grosse Mann sie haben will / oder sie wählen schlecht, ja nehmen was ihnen unter ihre Hand kommt, formen aber aus jedem Thone etwas für ihre Zwecke Taugliches. Diese letzte Art ist die gewaltsamere, sie begehrt unterwürfigere Werkzeuge; als die erste Art; ihre Menschenkenntniss ist gew. viel geringer, ihre Menschenverachtung grösser, aber die Machine welche sie construiren arbeitet besser als die Maschine aus der Werkstätte der erstgenannten Geister.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-5,7et8)
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 457–459, KSA 2, S. 296–297
833
297, 5 f. formen aber aus jedem Thone etwas für ihre Zwecke Taugliches] Vgl. Römer 9, 20–23. 297, 10 f. die Maschine, welche sie construiren, arbeitet gemeinhin besser, als die Maschine aus der Werkstätte jener] Insbesondere der Staat ist spätestens seit dem Absolutismus gerne als Maschine gedacht worden (vgl. z. B. Stollberg-Rilinger 1986 u. Smid 1988), ohnehin spielt sie im philosophischen Metaphernhaushalt eine wichtige Rolle (siehe Remmele 2011). N. zeigt im Spätwerk eine stärkere Präferenz fürs Machinale, dazu NK KSA 5, 382, 12–14, die freilich auch schon in MA I 585, KSA 2, 337 aufscheint.
459. Auch MA I 459 geht von einer binären Unterscheidung aus, nämlich derjenigen zwischen einem vollständig durchdachten Recht wie dem römischen und einem leicht zu verstehenden, volkstümlichen wie dem germanischen. Gegenwärtig gebe es keine Herkommensbindung an ein ererbtes Recht mehr, daher müsse das Recht, da „wir“ (297, 23) seiner bedürften, nur befohlenes Zwangsrecht sein, das wiederum „W i l l k ü r s r e c h t[.]“ (297, 25) sei. Erklärt wird dieser Willkürverdacht am Ende des Abschnitts, sei doch „in jedem Falle die kleinste Maasseinheit im Verhältniss von Vergehen und Strafe willkürlich angesetzt“ (297, 28–30). Dabei sei das „logischste“ (297, 27) Recht seiner Unparteilichkeit wegen ohnehin vorzuziehen – womit klar plädiert ist für das Modell des römischen Rechts. Zu MA I 459 gibt es in U II 5, 33 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Titel und mit einigen Überarbeitungen. Der Schlusssatz (297, 28–30), der den Willkürlichkeitsverdacht zu begründen scheint, wurde dort erst nachträglich hinzugefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,33). Dieser Satz wiederum geht auf das Bleistiftnotat N II 2, 75 zurück: „Zugegeben dass die kleinste Maasseinheit der Strafe willkürlich angenommen ist“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,75). Die Entgegensetzung von elaboriertem, wissenschaftlich ausgefeiltem römischem Recht und naturwüchsigem, herkunftsgebundenem „Volksrecht“ ist in der zeitgenössischen juristischen Diskussion durchaus präsent. So argumentiert beispielsweise Rudolf von Ihering in seinem Werk Geist des römischen Rechts: „Ist nun schon die Jurisprudenz der großen Masse überall etwas Unverständliches, so erklärt es sich aus der eigenthümlichen zunftmäßigen Abgeschlossenheit, in der sie in Rom auftritt, sehr wohl, wie sie hier geradezu den Eindruck einer Geheimlehre machen konnte. / So tief das römische Volk diese Absperrung und die damit verbundene Entfremdung des Rechts empfinden mochte, so war
834
Menschliches, Allzumenschliches I
dieselbe doch für die technische Entwicklung des Rechts selbst von heilsamem Einfluß. Der Atmosphäre der Volksthümlichkeit bis /404/ zu einem gewissen Grade entrückt, hatte das Recht sich so zu sagen zurückgezogen an einen abgelegenen Ort, an dem es ungestört seine Schuljahre durchmachen konnte. Die Schule, in die es hier kam, war eine strenge; man merkt dem ältern Recht überall an, daß es nicht wild aufgewachsen ist, wie unser deutsches Recht, sondern daß es schon früh unter die Leitung eines fast pedantisch gestrengen, aber consequenten Zuchtmeisters gerathen ist. Allein gerade dieser Strenge verdankt das römische Recht im wesentlichen jene Solidität und Festigkeit seines Fundaments, jene Einfachheit und Consequenz seiner ganzen Anlage.“ (Ihering 1875, 2/2, 403 f.; vgl. auch Kerger 1988, 11–13) Zu MA I 459 vgl. auch Irti 2005 u. Petersen 2008, 82–85. 297, 18 f. Volksrechte, wie] In U II 5, 33 fehlen das „wie“ und das Komma; GoA folgt dieser Version.
460. In MA I 460 erhebt sich im Duktus von Machiavellis Principe die Frage, wer aus der Perspektive der „Masse“ als „grosse[r] Mann“ (298, 3) erscheint. Antwort: derjenige, der sich den Anschein zu geben verstehe, der Masse das zu verschaffen, was ihr besonders „angenehm“ (298, 5) ist – oder das, wovon er den Eindruck zu erwecken verstehe, dass es ihr besonders angenehm sei. Entscheidend sei nun, dass der Kandidat von massenkompatibler Größe vor aller Augen mit vermeintlich größter Willensanstrengung und schließlich sichtlich erfolgreich danach strebe, der Masse das Gewünschte zu verschaffen. Dann werde man seinen unbeugsamen Willen bewundern, den man selbst gerne hätte, um ihn, hätte man ihn, zu egoistischen Zwecken zu nutzen. Dies aber tue der große Mann aus Massensicht gerade nicht, sondern stelle vermeintlich seine Eigeninteressen den Masseninteressen hintan. Im Übrigen tue derjenige, der für die Masse groß sein wolle, gut daran, ihr möglichst gleich zu sein – auch in allen gemeinhin als schlecht qualifizierten Eigenschaften. Zu MA I 460 gibt es in Mp XIV 1, 190 eine ‚Reinschrift‘, blau markiert mit „A“, noch ohne die spätere Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,190). Braatz 1988, 149 argumentiert, MA I 460 sei wohl auf Bismarck gemünzt. Den Ratschlag in 298, 17–20 scheinen Politiker auch heute noch inbrünstig zu beherzigen.
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 459–461, KSA 2, S. 297
835
461. Im Umgang der „Menschen“ „mit ihren Fürsten“ (298, 22 f.) zeigt sich nach MA I 461 noch eine heilige Scheu und ein untertänigster Respekt, als repräsentiere der Fürst Gott selbst. Diese Art der Scham, die sich freilich schon stark abgeschwächt habe, zeige sich auch bei anderen mächtigen Persönlichkeiten und namentlich im Genie-Kult (dazu Sommer 2019d). Diese Überhöhung fordere freilich ihren Tribut: Überhöhe man Menschen ins „Uebermenschliche“ (298, 30), pflege man „ganze Schichten“ (298, 31) als viel niedriger stehend abzuwerten, als sie tatsächlich stünden. Zu MA I 461 gibt es in Mp XIV 1, 172 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert „Mysterien“. Sie lautet: „Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast unheiml. Stimmung von Verehrung u Angst u Scham ist viel schwächer geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet sich an mächtige Personen überhaupt. Der Cultus des Genius ist ein Nachklang dieser GötterFürsten-Verehrung. Dass einzelne Menschen so ausserordentl. über die anderen hervorragen, ist das Resultat der schnödesten Vernachlässigung des Volkes u der Bildung: weil das Niveau so niedrig ist, stehen jene so hoch.“ (http://www.nietz schesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,172) Die Umgestaltung des Textes erfolgte dann nachträglich im Druckmanuskript D 11, 173 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,173). Den historisch-ethnologischen Befund, der MA I 461 zugrunde liegt, konnte N. beispielsweise in Lubbocks Entstehung der Civilisation finden, der die „Thatsache“ betont, „daß die allmählich wachsende Macht der Häuptlinge und Könige das Gemüth an das Vorhandensein einer Macht gewöhnte, die größer als alle bisher geahnte war. So hat im westlichen Afrika der Sclavenhandel in hohem Grade zur Vermehrung des Reichthums und folglich auch der Macht der Häuptlinge oder Könige beigetragen, die große Pracht entfalteten und eine knechtische Huldigung verlangen. Niemand darf an ihrem Mahle theilnehmen, oder sich ihnen anders als auf den Knieen kriechend und mit einer Geberde von Furcht nahen, welche in den meisten Fällen gar wohl begründet sein mag. / Diese Ehrfurchtsbezeugungen tragen so sehr das Gepräge /298/ einer Anbetung, ‚daß die geringeren Leute sich gar leicht einreden Lassen, jene Macht (des Königs) beschränke sich nicht nur auf die Erde.‘ / Batel sagt: ‚der König von Loango werde von den Eingebornen geehrt als sei er ein Gott‘. Er ist so heilig, daß Niemand ihn essen oder trinken sehen darf. ‚Die Tyrannen von Natal,‘ erzählt Casalis, ‚beanspruchten eine fast göttliche Huldigung.‘ / In Peru ward der Ynka Uiraccocha noch bei seinen Lebzeiten. als Gott angebetet, ‚obgleich er selbst wünschte, die Indianer möchten ihn nicht so verehren‘. Auch auf Madagascar ward der regie-
836
Menschliches, Allzumenschliches I
rende Fürst fast als ein Gott betrachtet.“ (Lubbock 1875, 297 f.) Freilich galt noch zu N.s Zeit (sogar bis 1918) in protestantischen Staaten innerhalb des Deutschen Reiches das Summepiskopat: Der jeweilige Fürst verfügte über die bischöfliche Leitungsgewalt innerhalb ‚seiner‘ evangelischen Kirche und war somit cum grano salis noch der „Repräsentant“ Gottes auf Erden. 298, 28 Cultus des Genius’] Vgl. NK 152, 13–16 u. NK ÜK MA I 164 sowie NK ÜK MA I 230–233. 298, 30 das Uebermenschliche] Vgl. NK 288, 6.
462. MA I 462 steht unter der Überschrift „M e i n e U t o p i e“ (299, 2; vgl. zum Utopiebegriff bei N. Sommer 2019f, 211 f.), die freilich erst in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 173 von N.s Hand aus „Vertheilung der Last“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/D-11,173) korrigiert worden ist: Ohne, dass dann im Text noch ein ‚Ich‘ auftauchen müsste, plädiert der Abschnitt dafür, die schwerste Arbeit dem Stumpfsten, Leidenunanfälligsten aufzubürden und dann schrittweise die weitere Arbeit auf einer Skala zunehmender Leidensfähigkeit zu verteilen bis hinauf zu dem, der trotz aller Lebenserleichterung noch immer leidet. Eine ‚Reinschrift‘ zu MA I 462, markiert mit rotem „A“ und noch ohne Überschrift, findet sich in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen PflugscharManuskript M I 1, 94, in das teilweise von N.s Hand Korrekturen eingetragen sind. Ursprünglich lautete diese Fassung: „In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Noth des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten leidet, also dem Stumpfesten: und so schrittweise aufwärts bis zu Dem, welcher für die höchsten Gattungen des Leidens am empfindlichsten ist und desshalb schon bei der höchsten Erleichterung des Lebens leidet.“ (http://www.nietz schesource.org/DFGA/M-I-1,94) Eine Vorarbeit findet sich in U II 5, 125: „die Noth des Lebens ist dem zuzumessen, der am wenigsten durch sie leidet, also im Verhältniss der Stumpfheit. Die schwere Arbeit.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,125) Sowohl in den handschriftlichen Versionen als auch im Drucktext wird suggeriert, Leidensanfälligkeit sei etwas einfach so Gegebenes. Aber ist sie nicht wesentlich etwas Gemachtes? Versuchen nicht beispielsweise Philosophen seit der Antike, die menschliche Leidensanfälligkeit zu minimieren und menschliche Leidenstoleranz zu maximieren?
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 461–463, KSA 2, S. 298
837
463. MA I 463 erörtert das Verhältnis von Aufklärung und Revolution und bedient sich dazu antipodisch der Figuren von Rousseau und Voltaire: Es gebe Umsturzlüsterne, die glaubten, nach der Beseitigung der vorgeblich verabscheuungswürdigen bestehenden Verhältnisse werde sofort das gute und wahre Menschsein ans Licht kommen. Dabei säße man einem von Rousseau ererbten Irrtum auf, wonach die unverfälschte und reine Natur des Menschen wieder zum Vorschein käme, wenn die als verderblich empfundene Kultur beseitigt sei. Dagegen hält MA I 463 die „historischen Erfahrungen“ (299, 20), wonach Umstürze den gegenseitigen Effekt zeitigten, nämlich nicht, Ordnungen hervorzubringen. Sie könnten eine „Kraftquelle“ (299, 23) der „Menschheit“ (299, 24) sein, jedoch nicht die menschliche Natur ordnen und vollenden. Nicht Voltaires Maßhalten, sondern Rousseaus Maßlosigkeit habe den „optimistischen Geist der Revolution“ (299, 28 f.) – gemeint ist die Französische – hervorgerufen, den das in 299, 29 auftretende „ich“ vernichtet sehen möchte, und zwar um den „G e i s t d e r A u f k l ä r u n g u n d d e r f o r t s c h r e i t e n d e n E n t w i c k e l u n g“ (299, 30 f.) wiederzuerwecken – was das nun zum „wir“ (299, 32) vermehrte „ich“ offensichtlich möchte. Zu MA I 463 gibt es in Mp XIV 1, 214 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und mit einigen Korrekturen. Ursprünglich lautete diese Version: „Es giebt polit. u. sociale Phantasten, welche feurig u beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen auffordern, in dem Glauben dass dann sofort das sicherste Tempelhaus schönen Menschenthums gleichsam von selbst sich erheben werde. In diesem gefährl. Traum klingt noch der Aberglaube Rousseaus nochmals, welcher an das Gute der menschl. Natur glaubt u. den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft Staat Erziehung, alle Schuld der Verderbniss beimisst. Leider weiss man aus histor. Erfahrungen, dass jeder Umsturz die wildesten Energien, die längst begrabenen [– – –] Furchtbarkeiten u. Maasslosigkeiten von neuem zur Auferstehung bringt: dass also ein Umsturz wohl eine Kraftquelle sein kann, in einer matt geworden[en] Menschheit, nimmermehr aber ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschl. Natur.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,214) Die Passage nach dem Gedankenstrich 299, 26–33, die erst Voltaire ins Spiel bringt und gegen Rousseau positioniert, hat N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 173 f. hinzugefügt; freilich ist dort der Text nach „Ecrasez“ (299, 30) wohl nachträglich abgerissen worden (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,173). MA I 463 nimmt Partei für den Widmungsträger des ganzen Buches, Voltaire, und für eine nicht-revolutionäre Aufklärung, vgl. Ansell-Pearson 1991b, 31 f. Ob freilich die konservative Ordnungszerstörungskritik als Argument gegen den (angeblich) rousseauistischen, revolutionären Optimismus ausreicht, zumal der Text
838
Menschliches, Allzumenschliches I
einräumt, dass das Neue aus dem „Umsturz“ erwächst, und mit dem „Ecrasez“ selbst Zerstörungswut für sich in Anspruch nimmt, steht dahin. Zu N. und Rousseau auch NK ÜK MA I 617, Wuthenow 1989, Klaiber 2009, Franco 2021 sowie Wachendorff 2021, 185–209. 299, 15–19 der Aberglaube Rousseau’s nach, welcher an eine wundergleiche, ursprüngliche, aber gleichsam v e r s c h ü t t e t e Güte der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld jener Verschüttung beimisst] Dass Rousseau die Rückkehr zur Natur gepredigt habe, ist bildungsbürgerliches Gemeingut des 19. Jahrhunderts und kehrt bei N. in zahllosen Varianten wieder, siehe Armin Thomas Müller 2022b. Schon als Schüler war N. dieser Topos untergekommen, so beispielsweise bei der Lektüre von Hermann Hettners Geschichte der französischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert (vgl. NK 299, 26–30), in der es einerseits vom Émile heißt: „Wie ein reinigender Blitz in schwüler Gewitterluft durchzuckte die gesammte Menschheit das Bewußtsein, daß die Wiedergeburt und die Selbstverjüngung von innen heraus kommen müsse, daß die Rückkehr zur Einfalt der Natur und zu den natürlichen Grundbedingungen des Lebens vor Allem Noth thue.“ (Hettner 1860, 2, 429) Andererseits wird kritisch eingewandt: „Rousseau übernaturt die Natur. Rousseau’s Naturmensch ist der Wilde, wie er in den Wåldern umherirrt, ohne Thätigkeit, ohne Sprache, ohne Wohnung, ohne Kampf und ohne Freundschaft, ohne Hang nach anderen Menschen, sich selbst genügend; kurz, dumpfe trostlose Thierheit. ‚Wenn die Natur‘, sagt Rousseau, ‚uns bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich fast zu behaupten, daß der Stand der Reflexion ein Stand gegen die Natur, daß ein Mensch, welch-/ 421/er denkt, ein entartetes Wesen ist“ (ebd., 420 f.). 299, 26–30 Nicht Vo l t a i r e ’ s maassvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen zugeneigte Natur, sondern R o u s s e a u ’ s leidenschaftliche Thorheiten und Halblügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: „Ecrasez l’infame!“] Die Sperrung von „Voltaire’s“ und „Rousseau’s“ hat N. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 veranlasst (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/348/ u. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/349/). Die Formel „Écrasez l’infame“ („Vernichtet die Schändliche“), mit der Voltaire viele seiner Briefe zwischen 1759 und 1768 beschloss, war gegen die katholische Kirche gerichtet. N. evozierte sie in UB II HL 7, KSA 1, 296, 34, war ihr aber bereits vor einer allfälligen Lektüre von David Friedrich Strauß’ Voltaire (vgl. KGW III 5/2, 1461) begegnet, nämlich in Hermann Hettners Geschichte der französischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, zu der N. 1863 Exzerpte samt zweimaligem „Écrasez l’infâme“ angefertigt hatte (NL 1863, KGW I 2, 15A[2], 218 f. nach Hettner 1860, 2, 156 und 168). Zur HettnerVoltaire-Rezeption siehe NK 285, 10–12 u. NK 299, 15–19. N. konnte die Formel auch
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 463–466, KSA 2, S. 299–300
839
in Langes Geschichte des Materialismus wiederfinden (Lange 1866, 164 u. Lange 1887, 248; Nachweise nach Morillas Esteban 2011b, 306–308; vgl. NK KSA 6, 374, 29). 299, 32 f. sehen wir zu – ein Jeder bei sich selber – ob es möglich ist, ihn wieder zurückzurufen!] Den Einschub „– ein Jeder bei sich selber –“ hat N. mit Bleistift in die Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 eingetragen (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/348/).
464. MA I 464 ließe sich als nachgeschobene Rechtfertigung für die von der Sprechinstanz in MA I 463 artikulierte Sympathie für eine nicht-umstürzlerische, ja antirevolutionäre Aufklärung lesen: Wer ein entschiedener Freigeist sei, zeige sich im Handeln gemäßigt (um nicht zu sagen: gehemmt). Zum einen liege das daran, dass die geistige Tätigkeit sehr viel Energie absorbiere, zum anderen daran, dass die „Freigeisterei“ (300, 3) Einsicht in die Nutzlosigkeit plötzlicher Veränderungen gewähre. Nimmt man MA I 464 als Bekenntnistext, stellt sich ein Freigeist gesellschaftspolitisch also entweder konservativ oder vorsichtig reformerisch auf. Zu MA I 464 ist im Nachlass keine ‚Reinschrift‘ zu belegen. 300, 7 Veränderungen] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 174 korrigiert aus „Entschliessungen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,174).
465. Wenn ein Volk in politischer Bedrängnis sei, so sei es – legt MA I 465 nahe – da gerade der „Geist“ (300, 12), die „Cultur“ (300, 13), die davon profitierten. Eine Vorarbeit zu diesem Absatz liefert NL 1877, KSA 8, 24[6], 479, 17 f.: „Die politische Krankheit einer Nation ist gewöhnlich die Ursache ihrer geistigen Verjüngung und Macht.“ Gerhardt 2003, 28 f. sieht MA I 465 als „Punkt äußerster theoretischer Entfernung von der Politik“ (ähnlich Jaspers 2020, 223). Vgl. MA I 444 und 477 zu den kulturell heilsamen Wirkungen des Krieges; den Antagonismus von Kultur und Politik wird N. noch in GD Was den Deutschen abgeht 4 betonen, siehe NK KSA 6, 106, 12–31 u. NK KSA 6, 106, 15–17, ferner Prange 2013, 7–9.
466. MA I 466 stellt heraus, dass mit einer Veränderung der Meinungen noch keineswegs gleichzeitig eine Veränderung der Institutionen einhergehe, sondern dass
840
Menschliches, Allzumenschliches I
diese Meinungen lange im institutionellen Gehäuse der alten Meinungen lebten, „aus Wohnungsnoth“ (300, 20). Zu MA I 466 gibt es in Mp XIV 1, 352 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne die spätere Überschrift, nummeriert „24.“ und markiert mit rotem „S“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,352). Diese Fassung geht zurück auf N.s Notat U II 5, 63, das vor einigen Korrekturen gelautet hatte: „Dem Umsturz der Meinungen folgt der Umsturz der Institutionen nicht sofort nach: vielmehr wohnen die neuen Meinungen lange Zeit im Hause ihrer Vorgängerin zur Miethe, aus Wohnungsnoth.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,63) Als Anschauungsbeispiel hätte N. die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts bei gleichzeitiger langer institutioneller Beharrungskraft des Ancien Régime im Frankreich des 18. Jahrhunderts anführen können, etwa vor dem Hintergrund der einschlägigen Sainte-Beuve-Lektüren mit den Overbecks (Sainte-Beuve 2014). 300, 19 f. Vorgängerinnen] Mp XIV 1, 352 hat stattdessen: „Vorgängerin“.
467. Nach MA I 467 produzieren „grosse[.] Staaten“ (300, 22) mittelmäßige Schulen ebenso wie „grosse[.] Küchen“ (300, 24) mittelmäßiges Essen. Zu MA I 467 gibt es in Mp XIV 1, 183 eine ‚Reinschrift‘ noch ohne die spätere Überschrift, markiert mit rotem „S“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,183). Man darf vermuten, dass der „Grund[.]“ (300, 23), dessentwegen die Größe von Staaten oder Küchen über die Qualität der Produkte entscheidet, im weitverbreiteten Sprichwort „Viele Köche verderben den Brei“ auf den Punkt gebracht wird (vgl. die zahlreichen Varianten und Belege bei Wander 1867–1880, 2, 1447 f.) – wenngleich N. den Satz nie aufruft.
468. MA I 468 schließt an Abschnitte wie MA I 447 und 448 an, die über die Wirkungsweise von Presse und kritischer Öffentlichkeit reflektieren. MA I 468 sieht in Institutionen (beispielsweise akademischen), die sich „öffentliche[r] Kritik“ (300, 27) nicht ausgesetzt sehen, „unschuldige Corruption“ (301, 1) um sich greifen. Zu MA I 468 gibt es in Mp XIV 1, 92 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „S“. Vor der Korrektur lautete die erste Fassung: „In allen Instituten, in welche nicht die scharfe Luft der öffentl. Meinung hineinweht, wächst eine unschuldige Corruption auf, wie ein Pilz (also in gelehrten Körperschaften, Senaten).“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,92)
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 466–470, KSA 2, S. 300
841
Ursprünglich gehörte also auch die Vorarbeit zu MA I 468 zu jenen Texten, die die „öffentliche Meinung“ zum Gegenstand der Betrachtung (und der scharfen Kritik) machen, vgl. z. B. NK 86, 19–21, NK 217, 33–218, 7, NK ÜK MA I 269 u. NK ÜK MA I 482. Tatsächlich folgte im Druckmanuskript D 11, 174 nach MA I 468 ein schließlich durchgestrichener Aphorismus: „Öffentliche Meinungen. – Öffentliche Meinungen sind private Faulheiten.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,174) Er wurde als MA I 482 recycelt. Ein Bleistiftnotat in N II 2, 17 lautet: „Unschuldige Corruption in gelehrten Cörperschaften“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,17).
469. In MA I 469 geht es um die Rolle, die „G e l e h r t e a l s P o l i t i k e r“ (301, 4) spielen, nämlich zumeist eine „komische“ (301, 5): die, das Feigenblatt des „gute[n] Gewissen[s]“ (301, 6) zu sein. Zu MA I 469 gibt es in Mp XIV 1, 325 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift, nummeriert mit „9.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,325) In U II 5, 67 steht bereits der identische Text (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,67; die in KGW IV 4, 227 angeführte „Vs“-Variante „abzugeben“ statt „sein zu müssen“ (301, 6) lässt sich dort nicht belegen). MA I 469 dürfte Historiker wie Heinrich von Treitschke oder Theodor Mommsen als „Gelehrte“ vor Augen haben, die Reichstagsabgeordnete waren und ihrem jeweiligen (konträren) Parteistandpunkt die intellektuelle Weihe gaben. Ob politisch-publizistisch tätige Gelehrte wie Paul de Lagarde, die kein politisches Amt bekleideten, auch unter die Rubrik „Politiker“ nach MA I 469 fallen sollten, bleibt offen. Lagarde selbst agierte im politischen Feld eher als böses denn als „gutes Gewissen“.
470. Boten nach MA I 469 die Gelehrten der Politik ein zweifelhaftes gutes Gewissen, sind es in MA I 470 die wolfsgleichen Politiker, die aber nicht in den Stall einbrechen, um dort Schafe zu reißen, sondern um sich hinter dem „wolligen Rücken“ (301, 12 f.) eines Widders zu verstecken. Zu MA I 470 gibt es in Mp XIV 1, 162 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel und markiert mit rotem „S“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,162). Ein stark überarbeitetes Bleistiftnotat in N II 2, 58 u. 57 bildet eine Vorarbeit: „˹Mancher˺ Polit.˹ker˺ Parteien habent mitunter einen ehrl. Mann so nöthig,
842
Menschliches, Allzumenschliches I
dass sie ˹er˺ gleich ˹einem˺ heisshungr. Wölfen in einen Schafstall einzubrechen scheinen: aber sie wollen den nicht um dann den geraubten Widder zu fressen, sondern um sich hinter seinen breiten Rücken zu verstecken.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,57et58) In der ursprünglichen Fassung waren also nicht Politiker, sondern politische Parteien die Akteure, die offenbar der Rückendeckung duch ehrlich-schafige Personen bedürfen – seien diese nun Wähler, Experten/„Gelehrte“ oder aber selbst Politiker, die wie eine ‚ehrliche Haut‘ wirken und damit ihrer Partei als Feigenblatt dienen. In der letzten Fassung ist letzteres eher ausgeschlossen – die Politiker als Wölfe stehen den „Widdern“ gegenüber – wer immer die dann sein mögen.
471. MA I 471 tritt den Phantasmata andauernder, kollektiver Glückzustände entgegen: Die Idee eines „glückliche[n] Zeitalter[s]“ (301, 15) malten sich die Menschen zwar gerne aus, aber tatsächlich wollen würden sie es nicht, wisse doch jeder, dass er bei anhaltenden Tagen des Glücks „förmlich um Unruhe und Elend beten“ (301, 18) lerne. Schicksalhaft sei der Mensch auf „g l ü c k l i c h e A u g e n b l i c k e“ (301, 19 f.) gepolt, nicht aber auf „glückliche Zeiten“ (301, 21). Die Phantasie-Präferenz für anhaltende Glückseligkeitszustände führt MA I 471 auf die Stammesgeschichte der Menschheit zurück: Der Urmensch habe nach gewaltigen Jagd- und Kriegsanstrengungen in Entspannungs- und Erholungszeiten sein Abschlaffungsglück gefunden. Es sei aber ein Fehlschluss, daraus abzuleiten, dass man nach langen Zeiträumen der Entbehrung und der Not nun auch entsprechend lange Glückszeiträume genießen sollte. Zu MA I 471 gibt es in Mp XIV 1, 194 eine ‚Reinschrift‘, mit blauem „A“ markiert, noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,194). Ein Nachlassnotat beschränkt das Unglücksbedürfnis auf eine bestimmte Menschengruppe: „Die Dichter werden dann um Elend und Unordnung förmlich beten lernen.“ (NL 1877, KSA 8, 22[98], 398, 4 f.) MA I 471 bootet die in der eudaimonistischen Tradition der Philosophie seit der Antike übliche Fixierung auf Dauerglück entwicklungsgeschichtlich aus, aber nicht mit Kants deontologischen Argumenten, sondern unter Berufung auf empirische Anthropologie und die Frühgeschichte der menschlichen Spezies. Ob freilich für die ansonsten hauptberuflich mit „Jagd und Krieg“ (301, 26) Beschäftigten damals nicht auch kurze Phasen der Erholung ausgereicht hätten und ob sie wirklich auf ein anhaltendes Abschlaffungsglück sannen, ist nachträglich schwer zu eruieren. Unterbestimmt bleibt in MA I 471 auch das Verhältnis von Individualglück und Kollektivglück. Was ist überhaupt ein „glückliches Zeitalter“ (301, 15)? Eines, in dem möglichst viele Indi-
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 470–472, KSA 2, S. 300–301
843
viduen nach ihrer Façon glücklich werden können – oder vielmehr eines, in dem alle ein identisches Schweineglück genießen? MA I 471 ist schließlich eine Reverenz an Hegel: „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr; denn sie sind die Perioden der Zusammenstimmung, des fehlenden Gegensatzes.“ (Hegel 1848, 34) 301, 21 f. „das Jenseits der Berge“] KSA u. KGW emendieren hier nach Mp XIV 1, 194 und nach GoA. In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 174 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,174), in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/350/) und in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 312) steht stattdessen einhellig „‚das Jenseits den Bergen‘“. In N.s Handexemplar C 4412[1] ist die Stelle mit Bleistift korrigiert in „‚das Jenseits der Berge‘“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1255106514/343/), wobei fraglich ist, ob die Korrektur von N.s Hand stammt. Die im Hintergrund stehende, mythologische Vorstellung ist die des glückseligen Volkes der Hyperboreer, die dann MA II WS 265, KSA 2, 666 f. namhaft macht (vgl. auch NK KSA 6, 169, 2 f.), deren Name etymologisch damals entsprechend gedeutet wurde: „dass die Hyperboreer eigentlich ,Leute jenseits der Berge‘ waren, nämlich der Ῥιπαῖα ὄρη am Nordrande der Erdscheibe (Preller Gr. Myth. I2 199), hat viel Wahrscheinlichkeit“ (Curtius 1866, 423). 301, 23 Erbstück der Urväter] KSA u. KGW emendieren hier nach Mp XIV 1, 194 und nach GoA. In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 174 (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,174), in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/350/), in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 312) und in N.s Handexemplaren steht stattdessen einhellig „Erbstück der Vorzeiten“, nach KGW IV 4, 227 ein „Lesefehler von Gast“.
472. MA I 472 ist einer der längsten Abschnitte des gesamten Werkes und fügt sich kaum den Formerwartungen, die gemeinhin an einen „Aphorismus“ gestellt werden. Vielmehr handelt es sich um einen ausgewachsenen ‚politisch-theologischen Traktat‘, der ausgehend von dem je nach Gestalt der Herrschaftsform anderen Verhältnis zur Religion fortschreitet zur Aussicht auf eine Welt, die ohne Staat auskommen werde. Der Text hat die Form einer abstrakt gehaltenen Geschichtserzählung, die – trotz Präsens als Erzähltempus – in der Vergangenheit des absolutistischen oder zumindest autoritär regierten, hierarchisch strukturierten Staates beginnt, fortschreitet zur sich demokratisierenden oder bereits demokratischen Gegenwart, bevor die künftigen Jahrhunderte in den Blick genommen wer-
844
Menschliches, Allzumenschliches I
den, die nach dem Absterben der Religion auch ein Absterben des Staates nach sich zögen, weil der dann allmählich seine Bindungskraft verlöre. Dabei wird die Geschichte in einem doppelten Anlauf erzählt: 302, 6 bis 305, 34 bietet die Langversion, der sich 305, 34 bis 306, 12 nach einem Gedankenstrich eine resümierende Kurzversion anschließt. Nach einem weiteren Gedankenstrich wird von 306, 12 bis 307, 6 erörtert, dass das vorausgesagte Ende des Staates weder zur Anarchie führen werde (sondern andere Instanzen partiell seine Funktion übernähmen), noch, dass ein solches Absterben ohne Beispiel sei. Vielmehr gäbe es in der Geschichte der Menschheit hinlänglich Präzedenzfälle, etwa das Verschwinden der einst allseits bindenden „Geschlechtsgenossenschaft“ (306, 21) oder der altrömischen Familie. Einstweilen jedoch werde man mit dem Staat noch vorlieb nehmen müssen, wird den übereifrig anarchistisch Gesinnten am Ende beschieden, die jetzt schon die Abschaffung des Staates avisierten. Wenn, so beginnt MA I 472, eine Regierung, die ihre Aufgabe in der Bevormundung ihrer Untertanen sieht, sich frage, wie sie sich zur Religion stellen wolle, werde sie zum Schluss kommen, dass sich ein Bündnis mit der Religion für sie lohne, könne Religion doch gerade da wirken, wo die Regierung passen müsse, nämlich bei der „Linderung der seelischen Leiden des Privatmannes […]: ja selbst bei allgemeinen, unvermeidlichen und zunächst unabwendbaren Uebeln (Hungersnöthen, Geldkrisen, Kriegen) gewährt die Religion eine beruhigte, abwartende, vertrauende Haltung der Menge“ (302, 14–18). Das unaufgeklärte Volk werde bei allen möglichen Widerfahrnissen Regierungsversagen der göttlichen Macht zuschreiben, so dass die Regierenden und Priester in den meisten Fällen zu einem beiderseits gewinnbringenden Einvernehmen kämen. „So gehen absolute vormundschaftliche Regierung und sorgsame Erhaltung der Religion nothwendig mit einander.“ (303, 4–6) Das bedeute freilich nicht, dass die Regierenden auch glaubten, was die Religion lehre – eher im Gegenteil: im Überlegenheitsgefühl der Regierenden gegenüber der Religion habe „die Freigeisterei ihren Ursprung“ (303, 10 f.). Ganz anders, so nach einem Gedankenstrich, stelle sich die Situation in Demokratien dar, wo die Regierung nichts weiter sein solle als ein Instrument des souverän gedachten Volkswillens. Da müsse die Regierung die vom Volk der Religion gegenüber eingenommene Haltung sich zu eigen machen, was die Möglichkeit politischer Inanspruchnahme der Religion beeinträchtige. Könne sich der Staat der Religion nicht zu seinen eigenen Zwecken bedienen oder sei im Volk religiöse Pluralität vorherrschend, so biete sich nur die Möglichkeit, „Religion als Privatsache“ (303, 29) zu behandeln. Dadurch aber verstärke sich zunächst das religiöse Empfinden, weil jetzt bislang unterdrückte religiöse Bestrebungen und Empfindungen ungehindert hervorbrechen könnten. In der Folge kämen Sektenwesen und mannigfaltiger religiöser Zwist auf, so dass „alle[.] Schwächen religiö-
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 472, KSA 2, S. 301
845
ser Bekenntnisse“ (304, 5 f.) offen zutage träten, weshalb jeder Einsichtige sich der „Irreligiosität“ (304, 7) zuwenden werde. Diese Linie gewinne dann auch unter den Regierenden die Oberhand, die einen religionsfeindlichen Kurs zu fahren begännen, was wiederum die „noch religiös bewegten Menschen“ (304, 11 f.) gegen den von ihnen unter absolutistisch-vormundschaftlichen Bedingungen bedingungslos angebeteten Staat aufbringe und die regierungstreuen Irreligiösen wiederum zu einer eigentlichen Staatsvergötterung treibe. Nach diesen langwierigen Kämpfen werde man sehen, ob die Religiösen alte Zustände wieder restaurieren könnten oder ob die Irreligiösen sich durchsetzten, die dann der Religion namentlich durch das Schulwesen langfristig den Garaus machen würden. Dann aber werde auch die Begeisterung für den Staat, der seine weihevolle Aura verloren habe, nach und nach abnehmen. Man werde alles unter persönlichen Nützlichkeitserwägungen zu betrachten beginnen, so dass die Autorität des Staates schwinde. „Zuletzt – man kann es mit Sicherheit aussprechen – muss das Misstrauen gegen alles Regierende, die Einsicht in das Nutzlose und Aufreibende dieser kurzathmigen Kämpfe die Menschen zu einem ganz neuen Entschlusse drängen: zur Abschaffung des Staatsbegriffs, zur Aufhebung des Gegensatzes ‚privat und öffentlich‘.“ (305, 16–21) Private Gesellschaften übernähmen nach und nach staatliche Funktionen, bis hin zur basalen Sicherung der Individuen gegeneinander; die „Privatperson“ (305, 27) werde entfesselt werden. Es folgen die Rekapitulation und der Vergleich des Staates mit anderen, bereits verblichenen menschlichen Institutionen. Vorderhand freilich würden „Eigennutz“ und „Klugheit“ (307, 3) den Staat schon noch bestehen lassen. MA I 472 ist textgenetisch aus mehreren ‚Reinschriften‘ kompiliert. Der Beginn – noch ohne späteren Titel und markiert mit blauem „A“ – von 302, 6 bis 303, 6 des Drucktextes ist mit Abweichungen und Korrekturen zu finden in Mp XIV 1, 76 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,76). Die Fortsetzung von 303, 6 bis 304, 9 findet sich in Mp XIV 1, 91 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,91). Ein gänzlich anderes Schriftbild – flüchtig notierte, deutsche Kurrentschrift gegenüber sauberer lateinischer Antiqua in Mp XIV 1, 76 u. 91 – bietet die Fortsetzung in Mp XIV 1, 251 und Mp XIV 1, 250. Sie verzeichnet den Text von 304, 11 bis 305, 33 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,251 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,250). Für den Text 305, 34 bis 307, 32 gibt es keine ‚Reinschrift‘-Vorlage, vielmehr wird er dem Verleger Schmeitzner in Köselitz’ Handschrift und mit einer Bleistift-Vorbemerkung ebenfalls von Köselitz’ Hand nachträglich zugeschickt und findet sich jetzt in D 11, 178–179: „Das Folgende gehört an den längeren Aphorismus ‚Staat und Religion‘ (in dem Hauptstück ‚Blick auf den Staat‘). Sie werden, lieber Herr Schmeitzner, den Zusammenhang finden; das Folgende schließt unmittelbar an, ist also Fortsetzung jener Nr.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,178) Die Nummer 472 ist dann nachträglich mit blauem Farbstift ergänzt worden.
846
Menschliches, Allzumenschliches I
Als Vorarbeit zur Überlegung in 303, 6–11 lässt sich die Bleistiftnotiz N II 2, 62 verstehen: „So entsteht das was man aufgekl. Despoten nennt (Der Despot klärt nämlich nothwendigerweise sich selber auf )“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,62). Das Verhältnis von Religion und Staat im Vorgang zu MA I 472 entwickelt NL 1877, KSA 8, 22[12], 381; dort ist auch explizit von den spezifischen Interessen der Katholiken in der zeitgenössischen Kulturkampfsituation die Rede, während NL 1877, KSA 8, 22[16], 382 die Wissenschaft dem Staat zuordnet und die Religion ins Private verschiebt. KGW IV 4, 228 teilt schließlich noch eine Notiz N.s auf der Rückseite des Briefes von Franz Overbeck an N. vom 09. 03. 1878 mit: „Also – zum dritten Male gesagt – mit dem Verfall der Religion verfällt auch der Staat – aber dies ist nicht in jedem Betracht ein Unglück“. Die Zusammenstückelung verschiedener Textbausteine erschwert die Orientierung, auf welchen Zeitebenen man sich in MA I 472 bewegt, zumal die konkreten historischen Hinweise sehr spärlich bleiben (der Napoleon-Verweis 303, 3 f. ist erst in der letzten Überarbeitung hinzugekommen). Wo endet die Vergangenheitsbetrachtung – und welche Vergangenheitsräume werden überhaupt überblickt? Wo beginnt die Gegenwartsdiagnose? Wo setzt die Zukunftsprophezeiung ein, die, wie später dann der Anarchokapitalismus, nicht einmal mehr einen Minimalstaat für nötig erachtet – ohne aber die Staatsabschaffung bereits betreiben zu wollen? Renner 2020 arbeitet das anarchistische Potential von MA I 472 heraus und stellt es in die Traditionsgeschichte des Anarchismus (zu den Quellen von N.s Beschäftigung mit dem zeitgenössischen Anarchismus, allerdings ohne Bezug auf MA I 472, siehe Brobjer 2021); Hammond 2004, 363–365 amalgamiert MA I 472 mit Francis Fukuyamas The End of History. Zu MA I 472 ausführlich auch Stegmaier 2012, 323–325 und ebenfalls sehr differenziert Tongeren 2004 im Horizont der Demokratiefrage, vgl. Clark 2022, 138. 302, 22 Finger Gottes] Vgl. Exodus 8, 19 u. 31, 18, Deuteronomium 9, 10, Lukas 11, 20. Die Wendung kommt bei N. gelegentlich vor, siehe NK KSA 5, 127, 14 f. u. NK KSA 6, 233, 31 f. 302, 23 von O b e n] Die Sperrung hat N. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 veranlasst (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/ 351/). 302, 29–31 jene seltenen Fälle abgerechnet, wo eine Priesterschaft mit der Staatsgewalt sich über den Preis nicht einigen kann und in Kampf tritt] Historisch konkret macht der Text das nicht – man mag beispielsweise an den mittelalterlichen Investiturstreit und die anhaltende Konkurrenz von Papsttum und Kaisertum denken. 303, 3 f. Ohne Beihülfe der Priester kann auch jetzt noch keine Macht „legitim“ werden: wie Napoleon begriff.] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 472, KSA 2, S. 302–304
847
D 11, 175 eingefügt. Napoleon Bonaparte hatte mit dem Konkordat vom 15. Juli 1801 die antikirchliche Politik der Französischen Revolution endgültig beendet und für einen Ausgleich mit der katholischen Kirche gesorgt. 1804 vollzog er seine Kaiserkrönung in Notre-Dame de Paris unter Anwesenheit von Papst Pius VII. und unterstrich so seinen sakral ummantelten Herrschaftsanspruch. 303, 6 mit einander] In Mp XIV 1, 76 stattdessen: „zusammen“. 303, 10 f. : wesshalb hier die Freigeisterei ihren Ursprung hat] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 175 eingefügt. Diese Erklärung steht durchaus in Spannung zu anderen Herleitungen der Freigeisterei in MA I. 303, 12 f. wie sie in d e m o k r a t i s c h e n Staaten gelehrt wird] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „wie sie in d e m o k r a t i s c h e n Staaten herrscht“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/164 8750028/352/). 303, 14 f. Werkzeug des Volkswillen] Das ist in KSA u. KGW ein Druckfehler. Alle Textzeugen einschließlich der Erstausgabe haben korrekt: „Werkzeug des Volkswillens“ (Nietzsche 1878, 314). 303, 23 f. aufgeklärter Despotismus] Die Wendung „aufgeklärter Despotismus“, die in 304, 26 noch einmal wiederholt wird, kommt in N.s Werken nur hier vor (vgl. das in NK ÜK MA I 472 zitierte Notat N II 2, 62). N. hat sie aber schon 15 Jahre früher notiert, nämlich in seinem Hettner-Exzeprt NL 1863, KGW I 3, 15A[2], 221, 14. Eine einschlägige Stelle in Hettners Geschichte der französischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert steht unmittelbar nach dem in MA I 438 aufgerufenen Voltaire-Zitat, siehe NK 285, 10–12. Sie lautet: „In einem Briefe an Tabareau vom 3. Febr. 1769 ([…]) läßt er [sc. Voltaire] sich sogar zu der Aeußerung hinreißen: ‚Das Volk ist immer abgeschmackt und roh; es sind Ochsen, die ein Joch, einen Treiber und Futter bedürfen.‘ Voltaire erwartete alles Heil von jenen wohlwollenden Regierungsmaßregeln, welche man treffend den aufgeklärten Despotismus genannt hat.“ (Hettner 1860, 2, 209; die in 15A[2] exzerpierte Stelle ist die Kapitelüberschrift Hettner 1860, 2, 201.) Vgl. NK 307, 10. 304, 1 Extreme] In Mp XIV 1, 91 stattdessen: „Extrem“. 304, 3 Drachenzähnen] Vgl. NK 280, 17–19. 304, 11–22 Sobald diess eintritt, wandelt sich die Stimmung der noch religiös bewegten Menschen, welche früher den Staat als etwas Halb- oder Ganzheiliges adorirten, in eine entschieden s t a a t s f e i n d l i c h e um; sie lauern den Maassregeln der Regierung auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu beunruhigen, so viel sie können, und treiben dadurch die Gegenpartei, die irreligiöse, durch die Hitze ihres Widerspruchs in eine fast fanatische Begeisterung f ü r den Staat hinein; wobei im Stillen
848
Menschliches, Allzumenschliches I
noch mitwirkt, dass in diesen Kreisen die Gemüther seit der Trennung von der Religion eine Leere spüren und sich vorläufig durch die Hingebung an den Staat einen Ersatz, eine Art von Ausfüllung zu schaffen suchen.] In Mp XIV 1, 251 scheint statt „Gegenpartei, die irreligiöse“ der Plural „Gegenparteien, die irreligiösen“ verwendet worden zu sein. Die beiden Sperrungen bei „staatsfeindliche“ und „für“ hat N. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 veranlasst (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/353/). 304, 11–22 nimmt unmittelbar Bezug auf den preußischen Kulturkampf gegen den ultramontanen Katholizismus, der sich seinerseits unter dem staatlichen Druck radikalisierte, während die „irreligiöse“ Gegenpartei nun die Staatsvergottung betreibt. Letzteres hat N. scharf kritisiert in UB I DS anhand von David Friedrich Strauß’ „Bekenntniss“ Der alte und der neue Glaube (1872). 305, 8 einer Regierung] In N.s Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 316) von ihm mit Bleistift korrigiert in: „einer solchen Regierung“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1252332904/335/). 305, 11 f. Niemand fühlt eine andere Verpflichtung gegen ein Gesetz mehr] In Mp XIV 1, 251 stattdessen: „Niemand fühlt mehr eine andere Verpflichtung gegen ein Gesetz“. 305, 17 gegen alles Regierende] In N.s Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 317) von ihm mit Bleistift korrigiert in: „gegen alles dergestalt Regierende“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/336/). 305, 22–25 selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens übrigbleibt (jene Thätigkeit zum Beispiel welche die Privaten gegen die Privaten sicher stellen soll)] In Mp XIV 1, 250 stattdessen: „das noch ˹selbst der Rest, welcher˺ von Regierungsgeschäften (˹etwas als nöthige˺ Vertretung des Volkes in Bezug auf andere) übrig bleibt“. 305, 27 f. Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu sagen: des Individuums)] In Mp XIV 1, 250 stattdessen: „Entfesselung des Individuums (mindestens der Privatperson)“. Vgl. NK 199, 7 f. u. Jaspers 2020, 228. 306, 8 Isisschleier] Vgl. NK 50, 5 f. 306, 29 f. eine Vorstellung, an welche viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken können] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „eine Vorstellung, an welche viele Menschen der Gegenwart kaum sine ira et studio denken können“ (https://haab-digital.klas sik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/356/). Zudem soll nach dieser Korrektur „d e n k e n“ ausdrücklich gesperrt gesetzt werden – wohl parallel zu „a r b e i t e n“ (306, 31 f.) im nächsten Satz. Freilich wurde diese Korrektur in der Erstausgabe nicht ausgeführt (Nietzsche 1878, 318).
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 472–473, KSA 2, S. 304–307
849
306, 32 ein ander Ding] Vgl. NK KSA 6, 274, 2. 306, 19–24 Wie manche organisirende Gewalt hat die Menschheit schon absterben sehen, – zum Beispiel die der Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel mächtiger war, als die Gewalt der Familie, ja längst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete.] Den Begriff der „Geschlechtsgenossenschaft“ wird N. später unter dem Eindruck der Lektüre von Albert Hermann Post verwenden, so in GM II 19 (vgl. NK KSA 5, 327, 18–22) und in der Überarbeitung von MA I 96 (vgl. NK ÜK MA I 96) – eine Lektüre, die erst für die frühen 1880er Jahre sicher belegt ist. Posts schon im Titel einschlägiges Buch ist allerdings bereits 1875 erschienen: Die Geschlechtsgenossenschaft der Urzeit und die Entstehung der Ehe. Ohne dieses Werk (schon) studiert zu haben, könnte es N. beispielsweise in der von ihm gerne konsultierten Zeitschrift Das Ausland (vgl. Treiber 1996) untergekommen sein, wo es zusammen mit Lubbock 1875 von Friedrich von Hellwald besprochen worden ist: „Post nimmt ursprünglich Geschlechtsgenossenschaften, Sippen, an, in welchen natürlich der häßliche Hetärismus herrschte. Er gebraucht zwar nicht dieses Wort, spricht aber von Weiber-, Kinder- und Gütergemeinschaft, was ganz dasselbe ist. Der Uebergänge von diesem Zustande zu einer individuellen Ehe gibt es sehr viele; solche sind sowohl polygynische als polyandrische Verhältnisse. […] Die Entwickelung der individuellen Ehe pflegt mit dem Zerfall der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft in kleinere Verbände Hand in Hand zu gehen. An Stelle der Endogamie tritt das umgekehrte Princip der Exogamie.“ (H[ellwald] 1875b, 901; vgl. auch Hellwald 1876a–1877a, 1, 89–100) Das Wort „Geschlechtsgenossenschaft“ ist auch außerhalb historisch-anthropologischer Kontexte im Gebrauch, siehe z. B. Wagner 1871–1873, 3, 157. 307, 2–4 Vertrauen wir also „der Klugheit und dem Eigennutz der Menschen“] Das ist augenscheinlich kein Fremd-, sondern ein Selbstzitat, nämlich von 306, 14–16: „die Klugheit und der Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet“. Das Motiv selbst findet sich beispielsweise bei La Rochefoucauld, siehe NK KSA 3, 391, 6–8.
473. In MA I 473 wird ein illusionsloser Blick auf den Sozialismus geworfen, der als naher Verwandter des eigentlich schon fast abgestorbenen, absolutistischen „Despotismus“ (307, 10) erscheint, denn er wolle absolute Staatsmacht und strebe die „Vernichtung des Individuums“ (307, 14) an. Entsprechend suche er die Nähe dieses Despotismus, wie schon der „typische Socialist Plato“ (307, 19) mit seinem Versuch, sich dem Tyrannen von Syrakus anzudienen. Er setze auf „die allerunter-
850
Menschliches, Allzumenschliches I
thänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staate“ (307, 23–25). Da er aber – siehe MA I 472 – auf die alte Ehrfurcht gegenüber dem Staat nicht mehr zählen könne und auf die Abschaffung aller konkreten, bisher existierenden Staaten abziele, könne er sich nur kurzzeitig, „durch den äussersten Terrorismus“ (307, 30) verwirklichen. Deshalb ziele er auf ein Schreckensregiment und vernebele mit seiner Gerechtigkeitsrhetorik die Massen. Der Sozialismus hat nach MA I 473 immerhin einen positiven Effekt: Mit seiner terroristischen Gewalttätigkeit und dem Ruf nach möglichst viel Staat provoziere er Misstrauen dem Staat gegenüber – und die Reaktion: „‚s o w e n i g S t a a t w i e m ö g l i c h‘“ (308, 12). Zu MA I 473 gibt es in Mp XIV 1, 250 eine unübersichtliche ‚Reinschrift‘ mit zahlreichen Korrekturen, noch ohne den späteren Titel (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,250). Der Sozialismus wird auch in MA I 235, 446, 451, 452 und 480 kritisch beäugt. In MA I 473 steht seine Entzauberung als radikal „reactionär“ (307, 11) im Vordergrund. Vgl. Montinari 1982, 202, Ottmann 1999, 45, Petersen 2008, 157 f. u. Stegmaier 2020b, 176. 307, 10 des fast abgelebten Despotismus] In Mp XIV 1, 250 stattdessen: „˹fast überall sehr abgelebten sogenannten˺ aufgeklärten Despotismus“. Vgl. NK 303, 23 f. 307, 19 f. der alte typische Socialist Plato am Hofe des sicilischen Tyrannen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „der alte tyrannische Socialist Plato am Hofe des sicilischen Tyrannen“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/357/). Das „typische“ hatte N. schon in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 180 eingefügt; es wurde wohl vom Setzer fehlgelesen. Platons ‚Sozialismus‘ scheint dann auch noch einmal in MA I 474 auf sowie in MA II WS 285, KSA 2, 680, 31 f., wo „Plato’s utopistische Grundmelodie“ bemüht wird, „die jetzt noch von den Socialisten fortgesungen“ werde. Natürlich wird man dabei an die Idealstaatskonzeption in der Politeia denken, die Privateigentum überflüssig macht und nach der überdies Herrschaft den Beherrschten nutzen solle (Politeia 336a–340a), vgl. ausführlich NK KSA 3, 389, 18–21. In seiner Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen bemühte N. Grote 1850–1856, 4, 621 als einschlägigen Beleg: „Nach Grote waren die Sophisten der Klerus und Plato die Andersdenkenden – der Socialist, welcher die Sophisten angriff (wie er die Dichter u. Staatsmänner angriff ), nicht als eine besondere Sekte, sondern als einen der bestehenden Stände der Gesellschaft.“ (KGW II 4, 357, 33–358, 3) Inwiefern Platon Sozialist war, wurde in der zeitgenössischen Debatte – gerade unter Nicht-Fachleuten für Platons Philosophie – kontrovers und polemisch diskutiert, siehe z. B. Dühring 1875b, 229: „Wenn das Spielenlassen der Imagination in Angelegenheiten des Eigenthums und des Geschlechterverkehrs mit Hintansetzung der innern und äussern Nothwendigkeiten der wirklichen Gestaltungen Socialismus heissen soll, dann ist der letztere allerdings bei Plato und
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 473–474, KSA 2, S. 307
851
sogar schon bei früheren Schriftstellern aufzusuchen.“ Eine böse Pointe zum Zusammenhang von Sozialismus und Tyrannei bekommt die Stelle 307, 19 f. durch den Hinweis auf Platons dreimaligen Aufenthalt am Hof der Tyrannen von Syrakus – bei Dionysios I. im Jahr 388 v. Chr., bei Dionysios II. in den Jahren 366/65 und 361 v. Chr. Dabei gelang es dem Philosophen jeweils nicht, die Herrscher von der Realisierbarkeit seiner politischen Ideen zu überzeugen. Zum Thema Platon und Sozialismus bei N. allgemein siehe auch Bremer 1979, 42 und Ghedini 1999. 307, 26 für den Staat] In Mp XIV 1, 250 stattdessen: „gegen den Staat“.
474. MA I 474 setzt das in MA I 473 begonnene Desillusionierungswerk fort, wobei Platon das Bindeglied darstellt: Nun ist es nicht die Illusion des Sozialismus, sondern die des Philhellenismus, die erbarmungslos abgespannt wird, näherhin der philhellenistische Hauptsatz, wonach es im antiken Griechentum um die Bildung des Einzelnen, die Ausformung des Individuums gegangen sei. Das Gegenteil sei wahr: Die Polis sei der Bildung gegenüber misstrauisch gewesen; die staatlich verordnete Erziehung habe alle einbinden und konform machen wollen – das sei noch für Platons Politeia charakteristisch. Individuell habe man sich nur in der agonalen Anstrengung, herausragend sein zu wollen, gegen den staatlichen Konformitätsdruck bilden können. Der Epitaphios des Perikles sei dagegen nur ein „grosses optimistisches Trugbild“ (308, 29), der keineswegs das Gegenteil beweise. Thukydides habe ihn bewusst so in seinem Geschichtswerk, kurz bevor Athen im Chaos versinkt, platziert, um ihn so zu depotenzieren. Vgl. auch MA I 465. In MA I 259 gilt der Epitaphios demgegenüber als verlässliche Auskunftsquelle über griechisches Sozialleben, vgl. NK 213, 10–13. Zu MA I 474 gibt es eine ‚Reinschrift‘ in M I 1, 80 von Köselitz’ Hand, markiert mit rotem „A“ und noch ohne Überschrift, dafür mit zahlreichen Überarbeitungen von N.s Hand. In der ursprünglichen Version lautete dieser Text: „Die griechische Polis ist ausschliessend gegen die Bildung; ihr Grundtrieb zeigte sich fast nur lähmend und hemmend, es sollte keine Geschichte, kein Werden in der Bildung geben. Die in dem Staatsgesetz festgestellte Erziehung sollte alle Generationen verpflichten und bannen. So wollte es später auch Plato in seinem idealen Staat. Trotz der Polis entwickelte sich die Bildung und indirect sogar durch sie, weil die Ehrsucht des Individuums in der Polis auf’s Höchste gehoben wurde. Gerieth einmal ein solches ehrsüchtiges Individuum auf die Bahnen geistiger Ausbildung, so ging es fort bis in’s letzte Extrem. Dagegen ist die Rede des Perikles nur ein grosses optimistisches Trugbild, ein Trugbild über den nothwendigen Zusammenhang von Polis und Cultur; eine Abendröthe, bei der man den schlimmen Tag
852
Menschliches, Allzumenschliches I
vergisst, der ihr vorangieng.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,80) In dieser Version ist also von dem, was auf Perikles’ Epitaphios folgt (vgl. NK 308, 31 f.), noch nicht die Rede (nachträglich wird von N. eingefügt: „(die Pest und der Abbruch aller alten Tradition)“) – nur der vorangehende Schrecken des ersten Jahres des Peloponnesischen Krieges ist präsent. Vorbereitet ist M I 1, 80 in NL 1875, KSA 8, 5[197], 95 f. u. NL 1875, KSA 8, 5[200], 96. Vgl. zu MA I 47 auch Geuss 2022, 318 f. 308, 14 f. D i e E n t w i c k e l u n g d e s G e i s t e s , v o m S t a a t e g e f ü r c h t e t.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 wurde das Komma mit Bleistift gestrichen (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/358/). Dennoch blieb es auch in der Erstausgabe stehen (Nietzsche 1878, 320). 308, 31 f. (die Pest und der Abbruch der Tradition)] Gemeint ist die sogenannte Attische Seuche (430–426/25 v. Chr.), von der Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges II 47–54 berichtet und schildert, wie die athenische Gesellschaft in ἀνομία (II 53), Gesetzlosigkeit, fällt und tatsächlich die „Tradition“ abbricht. N. spricht in seiner Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge von der „Pestgeneration“ (KGW II 4, 39 u. 44). Ausführlich dazu Merker 2024. 308, 32–309, 1 verklärende Abendröthe] Vgl. NK 180, 9–13.
475. Wie die beiden vorangegangenen Abschnitte widmet sich MA I 475 zunächst der Desillusionierung eines verbreiteten Vorurteils, nämlich desjenigen des Nationalismus. Es sei angesichts der um sich greifenden, allgemeinen Mobilität, dem „Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer“ (309, 8), eine europäische „Mischrasse“ (309, 12) im Entstehen begriffen. Gegen diese Entwicklung werde zwar gegenwärtig wieder die Nation beschworen, aber letztlich stehe der Nationalismus auf verlorenem Posten gegen den „g u t e n E u r o p ä e r“ (309, 26 f.), der auf die „Verschmelzung der Nationen“ (309, 27 f.) hinarbeite. Das „Problem der J u d e n“ (309, 31) – und jetzt verlagert sich der Schwerpunkt von MA I 475 – trete nur innerhalb von Nationalstaaten auf, wo Juden durch ihre lange, durch Leiden erworbene Überlegenheit Neid und Hass erweckten und als „Sündenböcke“ (310, 6 f.) gälten. Wenn es hingegen um eine „kräftige[.] europäische[.] Mischrasse“ (310, 10) gehe, seien Juden wichtige Ingredienzien. Sie hätten wie alle anderen Nationen auch schlechte Eigenschaften, womöglich noch potenziert, seien jedoch trotz ihrer unvergleichlichen Leidensgeschichte – „nicht ohne unser Aller Schuld“ (310, 19 f.) – das Volk gewesen, „dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 474–475, KSA 2, S. 308
853
Welt“ (310, 21–23), also die Bibel und die Zehn Gebote, verdanke. Die Juden hätten das Mittelalter hindurch gegen die finster-verblendeten Christen „das Banner der Aufklärung“ (310, 26 f.) hochgehalten und für deren moderne Wiedergeburt gegen das finster-orientalisierende Christentum gesorgt, nämlich für eine moderne Fortsetzung der griechischen Geschichte. MA I 475 ist zusammengestückelt aus mehreren Vorlagen. Den Text 309, 5 bis 310, 12 liefert eine ‚Reinschrift‘ von N.s Hand in Mp XIV 1, 54, noch ohne spätere Überschrift, markiert mit rotem „A“ und blau rubriziert „Fortschritt“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,54). Mp XIV 1, 361 von Köselitz’ Hand liefert die Fortsetzung mit dem Text 310, 14 bis 310, 23 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,361; noch unter Weglassung des „wirkungsvollste[n] Sittengesetzes“ – 310, 23). Wieder von N.s Hand (aber mit von Mp XIV 1, 54 stark abweichendem Schriftbild) ist der Abschluss in Mp XIV 1, 405, der 310, 23 bis 311, 5 entspricht (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,405). In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 181 reichte der Text von MA I 475 ursprünglich nur bis 310, 23. Dann hat N. mit eigener Hand einen weiteren, auf das jüdische „Volk[.]“ (310, 19) bezogenen Relativsatz hinzugefügt: „welches überdiess den Ring der europäischen Cultur, durch den wir an das griechisch-römische Alterthum angebunden sind, in den dunkelsten Jahrhunderten des Mittelalters durch seine Freidenker, Ärzte und Philosophen unzerbrochen bewahrt hat – ein Verdienst und Geschenk ohne Gleichen!“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,181) Dieser Satz wurde dann gestrichen und von Köselitz’ Hand durch den Text 310, 23–311,5 ersetzt, der eben auf Mp XIV 1, 405 beruht. Das Verschmelzungsmotiv der Nationen, allerdings noch ohne Bezug auf die besondere Rolle, die das Judentum dabei spielen soll, bietet auch schon NL 1876, KSA 8, 18[19], 318 f. Vgl. auch den in NK ÜK MA Achtes Hauptstück edierten Nachlasstext P II 13a, 80. Das Thema der europäischen Vermischungskultur der Zukunft nimmt JGB 242 auf, setzt dort aber einen starken physiologischen Akzent, siehe NK KSA 5, 182, 15–27, ferner im Blick auf das angeblich nomadische Judentum NK KSA 5, 194, 20. Zeugen briefliche Äußerungen N.s aus der Studentenzeit von milieubedingtem, eher gedankenlosem Antisemitismus, zeigt sich in der frühen Basler Zeit eine starke Anbiederung an den offenen Antisemitismus der Wagners, der dadurch gezügelt wurde, dass sie ihre jüdischen Mäzene nicht verärgern wollten, weshalb sogar Cosima Wagner N. zur Mäßigung drängte (vgl. NK KSA 1, 68, 34–69, 8). In MA I 475 wird eine dezidierte Abkehr vom Antisemitismus à la Wagner offensiv betrieben. Allerdings bleibt es bei einer Stereotypisierung „der Juden“, die alle Klischees weiter transportiert – besonders eklatant bei der Evokation des „Börsen-Jude[n]“ als „widerlichste Erfindung des Menschengeschlechtes überhaupt“ (310, 16 f.; das diffamierende Wort ‚Börsenjude‘ ist in der zeitgenössischen Publi-
854
Menschliches, Allzumenschliches I
zistik weit verbreitet). Eine starke Pointe von MA I 475, wonach das Judentum der Antagonist des Christentums sei und gegen dessen Orientalisierungstendenz für das Okzidentale stehe, ja sogar das Griechische würde fortsetzen helfen, geht in N.s späteren Werken verloren: Schon im Umkreis von FW wird das Jüdische als Vorstufe des Christlichen mit dem Orient assoziiert und dem Griechentum polar entgegengesetzt, siehe NK KSA 3, 486, 13–17. In einem gemeinsamen, undatierten Brief (wohl von 1891/93) von Ola Hansson und seiner Frau Laura Marholm-Hansson an den ungarischen Schriftsteller Ödön Gerö schreibt der N.-Enthusiast Ola Hansson von „den neuen Individualitäten, die sich jetzt in den übernationalen Ring der Gegenwartsdichter stellen: die ‚guten Europäer‘ hat ja unser Vater und Apostel, Nietzsche, diesen neuesten, geheimnisvollsten, teuflischesten aller Freimaurerorden genannt“ (Hansson/Marholm-Hansson o. J. [ca. 1891/93], 2 [Ms.]). Zum Verschmelzungsmotiv siehe Brusotti 2024, zu der in MA I 475 artikulierten Abwehr von (Wagners) Antisemitismus z. B. Scholz 1994, 121, Haberich 2015, 508 f. u. Stegmaier 2020b, 181 f., zur Rezeption von MA I 475 und verwandter Texte in der deutsch-jüdischen Presse Irlbacher 2023, zum künftigen Europa auch die Beiträge in Goedert/Nussbaumer-Benz 2002 und in Bertot/De Corte/Leclercq/Wotling 2023, zum „guten Europäer“ im Horizont von Nietzsche und Goethe Venturelli 2024 sowie Meier 2024. Den zeitgeschichtlichen Kontext mit Bismarck und dem Kulturkampf hat für MA I 475 Silva 2017 im Blick. 309, 7 das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand: „das schnelle Wechseln von Ort und Gemeinde“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/359/). N. hat mit Bleistift „Ort“ gestrichen und durch „Haus“ ersetzt. In der Erstausgabe wird aus der Phrase dann: „das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft“ (Nietzsche 1878, 321). 309, 14 f. Erzeugung n a t i o n a l e r Feindseligkeiten] Die Sperrung hat N. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 veranlasst (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/359/). 309, 26 f. als g u t e n E u r o p ä e r] Die Sperrung hat N. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 veranlasst (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/359/). Zum überaus populär gewordenen Thema des „guten Europäers“ bei N. siehe mit weiterführender Literatur z. B. NK KSA 3, 600, 11–27, sodann zur Forschungsdiskussion Zellini 2023. 309, 27–29 durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft] Unterhalb dieser Passage ist auf dem unteren Seitenende 321 der Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N.s Hand notiert: „Die Henne diskutiert die Eier nicht sie brütet rein [?].“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/359/) Ob das „V“ am lin-
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 475, KSA 2, S. 309–310
855
ken oberen Blattrand der Folgeseite 322 anzeigt, dass nach „mitzuhelfen vermögen“ (309, 30) dieser Satz eingefügt werden soll, sei dahingestellt. 309, 28–30 wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, D o l m e t s c h e r u n d Ve r m i t t l e r d e r Vö l k e r zu sein, mitzuhelfen vermögen] Was sich vor dem Hintergrund des Krieges gegen Frankreich 1870/71 und der Erfahrung mit deutscher Großmachtspolitik (im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert) womöglich wie eine ironische Volte anhört, muss angesichts von Bismarcks internationalen Vermittlungs- und Ausgleichsbemühungen im Jahr 1878 nicht zwingend so gemeint gewesen sein (vgl. auch Rupschus 2013, 53). Schon August Wilhelm Schlegel hatte in seinen Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst (1802/ 03) argumentiert: „Diese Biegsamkeit scheint bey uns nur daher zu rühren, daß der Deutsche sich mehr bemüht die Regungen und Schwingungen des Gemüths, denen jene äußeren Successionen entsprechen, innerlich nachzumachen; die Bereitwilligkeit, welche im Deutschen National-Charakter liegt, sich in fremde Denkarten zu verseßen und ihnen ganz hinzugebe drückt sich /12/ so in unsrer Sprache aus, wodurch sie zur geschicktesten Dolmetscherin und Vermittlerin für alle übrigen wird.“ (Schlegel 1884, 2, 12 f.) 310, 8–10 Sobald es sich nicht mehr um Conservirung von Nationen, sondern um die Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse handelt] Von N. in seinem Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 322) mit Bleistift verändert in: „Sobald es sich nicht mehr um Conservirung (oder Errichtung) von Nationen, sondern um die Erzeugung u[nd] Züchtung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse handelt“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1252332904/341/). 310, 21 f. den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza)] Von N. in seinem Handexemplar C 4402 mit Bleistift verändert in: „den liebevollsten Menschen (Christus), den rechtschaffensten Weisen (Spinoza)“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/341/). Zu Spinoza vgl. z. B. NK KSA 3, 406, 10 f. 310, 23–34 Ueberdiess: in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Aerzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange festhielten und Europa gegen Asien vertheidigten; ihren Bemühungen ist es nicht am wenigsten zu danken, dass eine natürlichere, vernunftgemässere und jedenfalls unmythische Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb.] Das ist eine Paraphrase nach Leckys Geschichte
856
Menschliches, Allzumenschliches I
des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa: „Die Verfolgung kam über die Juden in den schrecklichsten Formen, doch umgeben von jeder Art kleinlicher Quälerei, die ihr das Grossartige nahm, und so blieb sie Jahrhunderte lang ihr dauerndes Theil. Aber trotz all dem schwang sich der Geist dieses wunderbaren Volkes empor. Während Die um sie her in Finsterniss und bethörter Unwissenheit herumkrochen, während täuschende Wunder und lügenhafte Reliquieen die Themata waren, über die fast ganz Europa verhandelte, während der Geist des Christenthums im Joche von grenzenlosem Aberglanben, in eine Todesstarre versunken war, und alle Liebe zur Untersuchung und alles Forschen nach Wahrheit aufgegeben waren, beharrten die Juden auf dem Pfade des Wissens, /224/ Kenntnisse sammelnd und den Fortschritt mit derselben unerschrockenen Ausdauer anspornend, die sie in ihrem Glauben an den Tag gelegt hatten. Sie waren die geschicktesten Aerzte, die befähigsten Financiers und zählten zu den tiefsten Philosophen, während sie nur in Pflege der Naturwissenschaften den Mauren nachstanden. Sie waren auch die Hauptdolmetscher der arabischen Wissenschaft für Westeuropa.“ (Lecky 1873, 2, 223 f.; N.s Unterstreichungen, von ihm mit mehreren Randstrichen markiert und auf S. 223 zwei Mal mit „gut“ quittiert.) Mp XIV 1, 405 verzeichnet statt „Gelehrte“ (310, 26) vielmehr „Philosophen“, was noch noch näher an Leckys Vorlage ist. 310, 34–311, 3 Wenn das Christenthum Alles gethan hat, um den Occident zu orientalisiren, so hat das Judenthum wesentlich mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren] Die Auffassung, dass das Christentum eine Orientalisierung Europas bewirkt habe, findet sich z. B. bei Ernest Renan, siehe NK KSA 6, 190, 4 f. N. breitet die These in JGB 46 aus, siehe NK 5/1, S. 317 f. (und auch NK KSA 3, 489, 21–23). Die Pointe ist hier im Unterschied zu N.s späteren Positionen aber gerade, dass nicht das jüdische Erbe im Christentum es zu einer morgenländischen Erscheinung macht. Das Aufklärerische der Juden steht gegen den finsteren Aberglauben (vgl. Lecky 1873, 2, 223), der (ganz zeittypisch) mit „Orient“ assoziiert wird. 311, 5 F o r t s e t z u n g d e r g r i e c h i s c h e n] Die Sperrung wurde in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 veranlasst (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/361/).
476. Wiederum schafft eine Motivüberschneidung den Bezug zum vorangehenden Abschnitt, nämlich das Mittelalter, in dem nach MA I 475 die Juden dem christlichen Obskurantismus Paroli geboten hätten. MA I 476 opponiert gegen die katholisch-
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 475–477, KSA 2, S. 310–311
857
romantische Idee einer „U e b e r l e g e n h e i t d e s M i t t e l a l t e r s“ (311, 7), die darin bestanden habe, dass damals die Menschheit insgesamt durch die Kirche einem universellen Ziel unterworfen worden sei, mit dem verglichen die heutigen nationalstaatlich bestimmten Ziele einen minderwertigen Eindruck machten. Dieses Urteil gehe aber fehl, denn die Bedürfnisse, die die Kirche zu befriedigen versprach, seien „auf Fictionen beruhende[.] Bedürfnisse[.]“ (311, 17) gewesen, die man den Menschen erst habe anerziehen müssen. In einer Klammer wird gesagt, woran da vor allem zu denken sei, nämlich an das vermeintliche Erlösungsbedürfnis der Menschen (dazu NK ÜK MA I 132 u. NK 125, 6 f.). Demgegenüber seien neuzeitliche Institutionen darauf ausgerichtet, tatsächliche Notstände zu beseitigen; und es werde eine Zeit kommen, wo Institutionen entstünden, die wirklich dazu dienten, „den gemeinsamen wahren Bedürfnissen aller Menschen zu dienen“ (311, 21 f.). Zu MA I 476 gibt es in Mp XIV 1, 122 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,122). Der Text operiert mit einer reichlich naiv anmutenden Unterscheidung von imaginären und echten Bedürfnissen, ohne Kriterien dafür anzugeben, wie man eine Unterscheidung zwischen beiden Bedürfnisgruppen trifft. Zudem blickt MA I 476 optimistisch in die Zukunft, während MA I 477 ursprünglich ausdrücklich den „Optimismus“, allerdings spezifisch im Blick auf eine unkriegerische Zukunft zurückweist, vgl. NK 311, 25 f. 311, 10 f. – vermeintlichen –] Von N. nachträglich in Mp XIV 1, 122 eingefügt. 311, 17 auf Fictionen beruhenden] Von N. nachträglich in Mp XIV 1, 122 eingefügt. 311, 21 den gemeinsamen wahren Bedürfnissen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand (wie in D 11, 182 u. Mp XIV 1, 122): „dem gemeinsamen wahren Bedürfnisse“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/ 361/). Das „m“ bei „dem“ ist mit Bleistift durchgestrichen und die Stelle mit zwei Randstrichen zur Korrektur markiert. 311, 22 f. und das phantastische Urbild, die katholische Kirche, in Schatten und Vergessenheit zu stellen] Von N. nachträglich in Mp XIV 1, 122 eingefügt.
477. Klang MA I 476 mit der optimistischen Aussicht auf künftige Institutionen aus, die allgemein menschliche Notstände beseitigen würden, erstickt der Beginn von MA I 477 die pazifistische Hoffnung im Keim, der Krieg sei ein solcher Notstand, mit dessen Abschaffung die Menschheit erst vorangebracht würde. Vielmehr sei
858
Menschliches, Allzumenschliches I
er für von Erschlaffung bedrohte Völker noch immer unverzichtbar, weil er Kräfte wecke, die sonst fehlten, die Kraft der Zerstörung, den Gleichmut, eigene und fremde Verluste hinzunehmen, das „dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele“ (312, 4). So viel dabei auch verloren gehe, könne doch „[d]ie Cultur“ „die Leidenschaften, Laster und Bosheiten“ (312, 10 f.) nicht entbehren. Obwohl der Abschnitt gleich in der Titelzeile die Unentbehrlichkeit des Krieges evoziert, zeigen die nach dem Gedankenstrich 312, 12 gegebenen Beispiele, dass eine Kultur sich durchaus auch andere Leidenschafts- und Energiequellen erschließen kann: Im kaiserzeitlichen Rom habe man sich auf Gladiatorenspiele, Tierhetzen und Christenverfolgungen kapriziert, im modernen Großbritannien auf Entdeckungsreisen und Kolonisierung. MA I 477 bezeichnet derlei Bemühungen als „Surrogate des Krieges“ (312, 22) und lässt sie in ihrer Eigenwertigkeit nicht recht gelten: Man müsse begreifen, dass die matt gewordenen Menschen, die heutigen Europäer der schlimmsten Kriege, „zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei“ (312, 26.f ) bedürften, „um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen“ (312, 27 f.). Zu MA I 477 gibt es in Mp XIV 1, 185 eine ‚Reinschrift‘ noch ohne Titel, aber mit einigen Korrekturen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,185). Eine Bleistiftnotiz N II 2, 107 lautet: „Es ist Optimism, von einer Menschheit noch viel zu erwarten, die keine Kriege führt. Der wilde Egoism, der Völkerhass, das bellum omnium ist wie das Meer und Wetter nothwendig, um Frühling Sommer und Herbst u Menschlichkeit zu bringen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ N-II-2,107; KGW IV 4, 229 liest: „bellum omnium contra omnes“; vgl. NK ÜK MA I 453). Dass Kriegsabstinenz eine Kultur bedeutungslos mache, will NL 1877, KSA 8, 22[90], 394, 9–11 anhand eines asiatischen Beispiels belegen: „Als der Buddaismus mit seiner milden Reisesser-Moral den Kriegen entgegen arbeitete, wurde Indien aus der Geschichte der Culturmächte gestrichen.“ Vgl. dazu NL 1887, KSA 8, 23[154], 461, 1–3 sowie Mattenklott 2008, 144 f. Vgl. zum Krieg MA I 444, KSA 2, 289, zu seinen negativen Seiten MA I 481, KSA 2, 314–316, zur Interpretation von MA I 477 Pearson 2016, 17–19, Winkler 2022, 28 u. Kern 2023, 174 f., zum Bellizismus bei N. Leonhard 2008, 771–775 sowie NK KSA 3, 610, 1–11. 311, 25 f. Schwärmerei] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 182 von N. aus „Optimismus“ korrigiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,182). 311, 26 Schönseelenthum] Den Ausdruck hat N. nachträglich in Mp XIV 1, 185 eingefügt, ihn gleich korrigierend aus einem anderen, unleserlichen Begriff, der mit „Schönseel“ begonnen hatte. Davor lässt sich das Substantiv „Schönseelenthum“ nirgends belegen. Zum Motiv der „schönen Seele“ NK 145, 7. 311, 30 tiefe unpersönliche Hass] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 182 „unpersönliche“ nachträglich ergänzt.
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 477–478, KSA 2, S. 311–312
859
312, 1 f. jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes] Von N. in Mp XIV 1, 185 korrigiert aus: „jene gemeinsame Gluth der Verbrüderung“. 312, 15–19 Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefährlichen Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen, zu wissenschaftlichen Zwecken] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen, so viel es bei ihnen steht, auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefährlichen Entdeckungsreisen, zu wissenschaftlichen Zwecken“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/362/). 312, 23 vielleicht durch sie] In Mp XIV 1, 185 stattdessen: „vielleicht gerade durch sie“. Die GoA übernimmt diese Version. 312, 24 f. wie die der jetzigen Europäer] In Mp XIV 1, 185 stattdessen: „wie die jetzige Europas“. Die GoA übernimmt diese Version. 312, 25 f. der grössten und furchtbarsten Kriege –] Im Druckmanuskript D 11, 182 danach gestrichen: „(vermuthlich der socialistischen)“. Z. B. Lange 1875, 157 spricht von den „Anfänge[n] des sozialen Krieges gegen die Besitzenden“. 312, 26–28 also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei – bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen] In Mp XIV 1, 185 korrigiert aus: „bedarf, um nicht aus Schwäche zu sterben, zu Barbaren zu werden“. In der ursprünglichen Version war die Barbarei also mit der „Schwäche“, der zivilisatorischen Mattigkeit assoziiert, während die finale Fassung die entsetzlichen „Kriege“ als Regression in die „Barbarei“ charakterisiert. Es zeigt, wie schwankend der Barbaren-Begriff hier (noch) ist.
478. Kultur ist das von MA I 478 mit MA I 477 geteilte Motiv, aber jetzt geht es um Kulturdifferenzen, nämlich um unterschiedliche Verständnisse von Fleiß. Der sei bei den Menschen des Südens nur punktuell und anlassbezogen: Werde bei einem Handwerker seine Tätigkeit nachgefragt, komme er der Nachfrage nach; bliebe sie aus, würde er nur „herumlungern“ (313, 4), zumal es im Süden wenig Aufwand mache, sich zu ernähren. Ganz anders der Fleiss „englischer Arbeiter“ (313, 7 f.), die „Erbwerbssinn“ (313, 8) ausgebildet hätten und zielbewusst agierten: mit dem Beisitz wollten sie Macht, „mit der Macht die grösstmögliche Freiheit und individuelle Vornehmheit“ (313, 10 f.).
860
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 478 gibt es in U II 5, 31 eine ‚Reinschrift‘, ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“. Diese Fassung weist Korrekturen und Überarbeitungen auf; die zunächst aufschlussreichste bezieht sich auf das „im Süden“ des späteren Drucktextes (312, 31 f.). Dort stand ursprünglich „hier“, bevor später „im Süden“ hineinkorrigiert wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,31). Die im ersten Teil über „[d]ie Handwerker im Süden“ (312, 31 f.) rapportierte Beobachtung scheint N. also selbst gemacht zu machen, nämlich „hier“ in Sorrent, wo die Aufzeichnung entstand (vgl. D’Iorio 2020, 82). Dass sich die Kultur(en) des Südens und des Nordens wesentlich aus klimatischen Gründen, die jeweils andersartige Habitus hervorbringen, voneinander unterscheiden, ist in der kulturphilosophischen Reflexion des 19. Jahrhunderts Gemeingut, vgl. z. B. NK KSA 5, 199, 33–200, 8 u. NK KSA 5, 212, 17–23. Den „englische[n] Arbeiter“ (313, 8) hat N. im Unterschied zum Sorrenter „Schmied“ (313, 3) jedenfalls nicht persönlich in Augenschein nehmen können, weil er nie in Großbritannien war. MA I 478 ist damit ein gutes Beispiel dafür, wie N. persönlich Erfahrenes mit Angelesenem kombiniert. Über die englische Arbeiterschaft hatte N. beispielsweise aus Langes Die Arbeiterfrage Einschlägiges erfahren können, wobei dort deren Schicksal sehr viel dunkler gemalt wird als in MA I 478: „Im Allgemeinen sind die Arbeiter auch in dem kampfgewohnten England nur zu leicht geneigt, ihr Recht auf dem bequemeren Wege der Entscheidung durch Staatsbeamte, Gerichtshöfe, oder auch durch private Schiedsgerichte zu erreichen, als durch jene Kämpfe der Arbeitseinstellungen, welche sie schon so oft mit heroischem Muthe und unglaublicher Aufopferungsfähigkeit durchgefochten haben. Sie wissen nicht, wie viel sie in ihrer eignen sittlichen Kraft und damit in ihrer ganzen sozialpolitischen Stellung diesen Kämpfen verdanken; denn sie kämpfen nicht, um sich zu üben und sich geistig zu erheben, sondern, wie natürlich, um ihren Zweck zu erreichen. Gleichwohl aber gewinnen sie durch den Kampf selbst etwas Wichtigeres als das nächste Ziel, nach welchem sie trachteten; und wenn sie es in England schon jezt erreicht haben, daß sie bei den Verhandlungen mit den Arbeitgebern nicht als eine tiefer stehende Kaste, sondern als gleichberechtigte Männer behandelt werden, so haben sie dies vor allen Dingen /376/ ihrer bewundrungswürdigen Haltung in den Lohnkämpfen zu verdanken.“ (Lange 1875, 375 f.; zur Freiheitsperspektive ebd., 390) Bemerkenswert ist, dass MA I 478 die Idee der Ermächtigung, die in N.s späteren Werken unter dem Schlagwort des „Willens zur Macht“ ausgeflaggt werden wird, ausgerechnet aus der Ökonomie, aus dem Typus des englischen Arbeiters heraus entwickelt. 313, 10 f. und individuelle Vornehmheit] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 182 hinzugefügt.
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 478–479, KSA 2, S. 313–314
861
479. Strebte der englische Arbeiter laut MA I 478 nach „Vornehmheit“ (313, 11), so stellt MA I 478 in Aussicht, dass Reichtum tatsächlich nach einigen Generationen für Vornehmheit, für eine „Aristokratie der Rasse“ (313, 14 f.) sorge, denn die Reichen könnten sich nicht nur die schönsten Frauen und die besten Lehrer leisten, sondern hielten sich auch von der abstumpfenden Wirkung körperlicher Arbeit fern. Reichtum mache Unabhängigkeit möglich; man sei etwa frei vom Zwang, sich gegenüber Brotgebern erniedrigen zu müssen. Dabei spiele die absolute Höhe des Reichtums keine Rolle mehr; habe man das Niveau erreicht, das einem die Unabhängigkeit sichert, bringt weitere Steigerung keinen nennenswerten Effekt mehr. Wer aber weniger habe, sei furchtbar dran, es sei denn, er finde sein Glück in der „Unterordnung unter Mächtige“ (314, 2) oder wolle Kirchenfürst werden. Zu MA I 479 gibt es in Mp XIV 1, 33 eine ‚Reinschrift‘ noch ohne Titel, markiert mit rotem „A“ und vier blauen Strichen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,33). „Rasse“ (313, 15) ist in MA I 479 offenkundig nichts biologisch Gegebenes und Festes, sondern etwas historisch Gewordenes – ein Produkt sozialer Konditionierung, vgl. Winkler 2021b. 313, 23 f. Gerade diese negativen Eigenschaften sind das reichste Angebinde des Glückes für einen jungen Menschen.] In Mp XIV 1, 33 korrigiert aus: „diese negativen Eigenschaften müssen da sein“. Gemeint ist mit diesen „negativen Eigenschaften“ das Fehlen einer Gebundenheit an die unmittelbar vorher genannten äußeren Zwänge. 313, 27–30 Dabei ist aber zu bedenken, dass der Reichthum fast die gleichen Wirkungen ausübt, wenn Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend jährlich verbrauchen darf] Mit der Einführung der Reichsmarkwährung 1871 entsprach der alte (Vereins-)Taler 3 Mark; es geht hier also um Summen zwischen 900 und 90 000 Reichsmark. So schwierig eine Umrechnung in heutige Währung auch ist, dürfte die Kaufkraft einer Mark von 1871 oder 1878 im Jahr 2024 zwischen 12 Euro und 18 Euro liegen. Die fraglichen Summen liegen also bei 10 800 bis 16 200 Euro bzw. bei 1 080 000 bis 1 620 000 Euro. 314, 4 f. (– Es lehrt, gebückt sich in die Höhlengänge der Gunst einzuschleichen.)] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 183 korrigiert aus: „(– Es lehrt, sich bückend Gunst zu erzwingen.)“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,183).
862
Menschliches, Allzumenschliches I
480. MA I 480 sieht in den modernen europäischen Staaten wesentlich zwei Parteien einander gegenüber stehen, die einander ähnlicher seien, als ihnen lieb und bewusst ist, nämlich die Sozialisten und die Nationalisten: Erstere wollten möglichst wenig mit den Händen arbeiten, letztere möglichst wenig mit dem Kopf. Erstere, die Sozialisten, seien vom Neid auf die äußerlich privilegierte Klasse erfüllt, deren Aufgabe eigentlich darin bestünde, die „höchsten Culturgüter“ (314, 18 f.) hervorzubringen, was ihnen das Leben innerlich furchtbar schwer mache. Letztere, die Nationalisten, hingegen treibe der Neid auf die ausscherenden Individuen, die sich nicht „zum Zwecke einer Massenwirkung“ (314, 16) unterordnen und uniformieren lassen wollten. Wenn sich die höheren Klassen nun diesem Massenwirkungsdiktat unterwürfen und gleichförmig würden, hätten die Sozialisten jedes Recht, wenn sie auch äußerlich, also sozialökonomisch die Gleichstellung und Nivellierung forderten. Nach einem Gedankenstrich werden dann die „höhere[n] Menschen“ (314, 25) direkt in der zweiten Person Plural angesprochen und aufgefordert, „die Thaten der höheren Cultur“ (314, 25 f.) zu vollbringen. Dann werde ihre Vormachtstellung von niemandem in Frage gestellt. Zu MA I 480 gibt es in Mp XIV 1, 403 und Mp XIV 1, 402 eine ‚Reinschrift‘ bereits mit dem späteren Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,403 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,402). Diese Fassung reicht nur bis 314, 24 des späteren Drucktextes; es fehlt eine Vorlage für die direkte Adressierung der Leser „als höhere Menschen“ (314, 25), wie sie 314, 25–28 des Drucktextes bietet. Das adhortative Element kommt also erst in der endgültigen Fassung hinzu – wobei völlig offen bleibt, was denn die „Thaten der höheren Cultur“ sein mögen –, während es die ursprüngliche Version bei der Diagnose beließ. Auch war die ursprüngliche Fassung politisch erheblich konkreter, und zwar auf die Situation im deutschen Kaiserreich bezogen. Der erste Satz lautete noch in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 183 zunächst: „Die beiden gegnerischen Parteien, die socialistische und nationalliberale sind einander würdig.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,183) Den Einschub 314, 9 f. („– oder wie die Namen in den verschiedenen Ländern Europa’s lauten mögen –“) hat N. ebenso wie die Kürzung von „nationalliberale“ zu „nationale“ nachträglich vorgenommen und damit auch den geographisch-politischen Horizont erweitert. Statt von „jene[m] Geist der Massenwirkung“ (314, 20) war in D 11, 183 von „diese[m] nationalliberalen Geist“ die Rede; die Umstellung von N.s Hand erfolgte unter Hinzufügung der „Massenwirkung“, die auch in 314, 16 erst nachträglich hinzugekommen ist. Die Nationalliberale Partei, auf die der Text ursprünglich gemünzt ist, war 1866/67 aus der Deutschen Fortschrittspartei erwachsen, die auf die Reichseinigung in Zusammenarbeit mit Bismarck hinwirkte. Von der Reichstagswahl 1871
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 480–481, KSA 2, S. 314
863
bis 1878 war die Nationalliberale Partei die stärkste Kraft im Reichstag, auf die sich Bismarck im Kulturkampf gegen den Katholizismus und bei der antisozialistischen Gesetzgebung verlassen konnte. 314, 15 f. welche sich nicht gutwillig in Reih und Glied zum Zwecke einer Massenwirkung stellen lassen] Von N. nachträglich im Druckmanuskript D 11, 183 hinzugefügt. Dass die gegenwärtigen Parteien auf Massenwirksamkeit abzielten, ist schon die Eingangsbehauptung des Achten Hauptstücks in MA I 438 (KSA 2, 285, 3–5). Das Wort „Massenwirkung“ selbst benutzt MA I 261, KSA 2, 218, 15; es kommt in N.s Werken nur in MA I vor (vgl. NL 1875, KSA 8, 5[109], 69, 10). Der zunächst in der Chemie und der Physik geläufige Begriff der Massenwirkung hat sich zu N.s Zeit längst universalisiert. So moniert Paul de Lagarde: „denn da so schon unser zeitalter ein zeitalter der massenwirkungen ist, so ist es nicht wohlgetan, die einzelnen zum anschlusse an eine kleinere oder größere masse zu veranlassen“ (Lagarde 1878, 202), während Georg Brandes zu Protokoll gibt: „man will einen großen Staat und eine große Gesellschaft gründen und fordert Resignation von dem Einzelnen zum Besten der Massenwirkung. Massenwirkung! Diese findet man überall in den bedeutendsten Phänomenen des Zeitalters. Es ist der Glaube an sie, welcher der Organisation Bismarck’s und der Agitation Lassalle’s, der Kriegskunst Moltke’s und der Musik Wagner’s zu Grunde liegt.“ (Brandes 1873, 2, 28; vgl. zur möglichen frühen Brandes-Lektüre auch NK 138, 28–33.)
481. Der später von N. durchaus affirmativ gebrauchte Begriff der „G r o s s e [ n ] P o l i t i k“ (314, 30) wird in MA I 481 zum ersten Mal in einem Werk N.s prominent verwendet, jedoch keineswegs in zustimmender Absicht. Ebenso wie einem Volk, das in ständiger Kriegsbereitschaft lebe oder Krieg führe, weniger durch die bereits immensen direkten Kosten – Rüstungsausgaben, Gefallene, Beeinträchtigung des Handels –, sondern durch indirekte Kosten, nämlich den Ausfall einer Heerschar junger Männer für zivile produktive Tätigkeiten, gewaltige Einbußen drohten, erginge es auch Staaten, die „grosse Politik“ trieben, also im Konzert der einflussreichen Nationen mitspielen wollten. Abgesehen von den Heerscharen an politischen Akteuren, die benötigt würden, bestehe das eigentliche Problem darin, dass die Idee des Politischen die Bürger vollständig absorbiere. Der politische Erfolg einer Nation sei erkauft mit der individuellen geistigen Verarmung. Ob sich diese Investition in die „grobe[.] und buntschillernde[.] Blume der Nation“ (316, 3) lohne, wird am Ende von MA I 481 ketzerisch gefragt. Zu MA I 481 gibt es in Mp XIV 1, 252 eine ‚Reinschrift‘, der N. nachträglich bereits den späteren Titel vorangestellt hat (http://www.nietzschesource.org/
864
Menschliches, Allzumenschliches I
DFGA/Mp-XIV-1,252). In NL 1876, KSA 8, 17[94], 311, 18 f. hat N. notiert: „Ein Volk, welches anfängt Politik zu treiben, muß sehr reich sein, um daran nicht zu Grunde zu gehen.“ MA I 481 blendet die in MA I 477 ja so betonte, positive Seite des Krieges vollständig aus und macht nur die Kostenseite geltend. Zur Interpretation von MA I 481 siehe z. B. Drochon 2022, 371 f. 314, 30 G r o s s e P o l i t i k u n d i h r e E i n b u s s e n] Zu N.s späterem Begriff „großer Politik“ vgl. z. B. NK KSA 5, 140, 11–13. Namentlich Bismarck hat sich seiner bedient, siehe den Nachweis in NK KSA 5, 181, 15. Da sich MA I 481 gegen die umfassende Politisierung des Menschen wendet und eine Verteidigung des Individuums gegen das Politische anstrebt, ist der Begriff hier negativ konnotiert. Vgl. z. B. Drochon 2016, 156 f. 315, 2 mit sich bringen] Mp XIV 1, 252 hat stattdessen: „mit sich bringt“, was die GoA übernimmt. 315, 5–7 wo acht Staaten Europa’s jährlich die Summe von zwei bis drei Milliarden darauf verwenden] Dieser Einschub mit der Summe fehlt in Mp XIV 1, 252. Dafür nennt ein Bleistiftnotat in Mp XIV 1, 255 die Summe: „in 8 europ. Staaten / 2184 Millionen / jährlich“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,255; vgl. NK 316, 1–2). Diese Summe wird von N. dann nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 184 eingefügt: „wo acht Staaten Europa’s jährlich die Summe von 2184 Millionen darauf verwenden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,184). So steht es dann auch noch in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/365/); die gerundete Summe wurde offensichtlich im Korrekturdurchgang eingefügt. In seinem Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 327) hat N. die Summe weiter nach oben in „fünf Milliarden“ korrigiert (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/ 346/). Die ursprüngliche Summe geht zurück auf Eduard Pfeiffers Vergleichende Zusammenstellung der Europäischen Staatsausgaben, wo es eine Zusammenstellung aller „Ausgaben für das Heer“ (noch ohne die immensen Flottenkosten!) gibt, bei der sich die Gesamtbilanz der acht Staaten (in dieser Reihenfolge) Russland, Deutsches Reich, Frankreich, Österreich-Ungarn, Großbritannien und Irland, Italien, Belgien, Schweiz auf die Summe von 2,184 Milliarden Mark beläuft (Pfeiffer 1877, 107). Freilich müsste der Leser hier selbst die einzelnen Summen addieren, so dass es wahrscheinlicher ist, dass N. nicht Pfeiffers Originalwerk in Händen hielt, sondern vielmehr einen der zahlreichen Zeitungsberichte verarbeitete, die Pfeiffers Werk exzerpiert hatten und für ihr Publikum auch die Summe zogen. So stellt beispielsweise das Wochenblatt Die Sociale Frage im Lichte des Christenthums in einem nicht gezeichneten Artikel „Die Ausgaben der europäischen Staaten für Staatsschulden und Landesverteidigung“ Pfeiffers Zahlen zusammen und resümiert: „Das macht zusammen für diese acht Staaten jährlich 2184 Millionen.“ (Die
Stellenkommentar MA I Achtes Hauptstück 481, KSA 2, S. 314–316
865
Sociale Frage im Lichte des Christenthums, Nr. 3, 19. Januar 1878, 19) Die höhere Summe in der Druckfassung entspricht hingegen eher Pfeiffers Gesamtrechnung: „Heute übersteigen die Staatsausgaben, welche in Europa für die Heere und Flotte jährlich gemacht werden, 3 Milliarden! Wenn man bedenkt, daß diese 3 Milliarden ganz unproductiv verschlungen werden, so hat man alle Ursache ernstlich nachzudenken über unser heutiges Militärsystem und über Alles, was damit verbunden ist. Wie ganz anders wäre es mit unsrer Cultur bestellt, wenn nur die Hälfte dieser Summe jährlich auf Volkserziehung, auf Förderung von Kunst und Wissenschaft und auf Hebung des Gewerbefleißes verwandt würde!“ (Pfeiffer 1877, 123) 315, 15 „Altar des Vaterlandes“] Die Wendung kommt bei N. nur hier vor, ist aber sehr gängig, vgl. z. B. Gustav Schönberg an N., 18. 12. 1870, KGB II 2 Nr. 140, S. 284, Z. 9. Ladendorf 1906, 4 findet Belege ab 1778 und führt aus, „Altar des Vaterlandes“ werde „im Jahre 1813 zur Schlagwortformel […] zur Bezeichnung der opferfreudigen Spenden, die damals so zahlreich von Patrioten und Patriotinnen dargeboten wurden“. Zugleich macht er geltend, dass „durch allzu häufige Verwendung dieser Ausdruck schon bald nach den Befreiungskriegen einen ironischen Beigeschmack bekam, der sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte noch erheblich verstärkte.“ 315, 19 Hekatomben] „Hekatombe, f., gr., ein Hundertopfer, eine Opferung von hundert Thieren“ (Petri 1861, 366). 315, 33 l o h n t] Die Sperrung wurde in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 veranlasst (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16487500 28/366/). 315, 33 all diese Blüthe] Mp XIV 1, 252 hat stattdessen: „alle diese Blüthe“, was die GoA übernimmt. 316, 1 f. als dem Auslande abgerungene Begünstigung der nationalen Handels- und Verkehrs-Wohlfahrt] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 184 korrigiert aus: „als erzwungene Begünstigung des äusseren Wohlstandes“. Die neue Formulierung findet sich als Bleistiftnotat wie die Vorlage für 315, 5–7 in Mp XIV 1, 255. Von „Verkehrswohlfahrt“ war damals in der Tagespolitik, wie die Stenographischen Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags belegen, häufiger die Rede. Sie bestand offenbar in möglichst guten Mobilitätsbedingungen. N. hat sich zum Thema Handel und Verkehr in Dührings Kritischer Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus über den amerikanischen Nationalökonomen Henry Charles Carey und seine „Unterscheidung zwischen Verkehr und Handel“ sowie über „die am meisten gelungene Anschauung von der Rolle /414/ der Entfernungen und Transporthindernisse“ belesen (Dühring 1875b, 413 f.): „Der Verkehr ist der Austausch zwischen den ursprünglichen oder eigentlichen Produ-
866
Menschliches, Allzumenschliches I
centen und den letzten oder eigentlichen Consumenten. Der Handel, als Gruppe von Personen und Zurüstungen, ist, wo er seine Verrichtungen normal erfüllt, nur das dienstbare Werkzeug jenes Verkehrs.“ (Ebd., 414; N.s Unterstreichung, zwei Randmarkierungen mit Bleistift.)
482. Der sehr kurze, das Achte Hauptstück abschließende Absatz ist wieder sentenzenhaft verknappt und suggeriert mit der Überschrift „U n d n o c h m a l s g e s a g t“ eine Wiederholung, eine wiederholende Einschärfung: „Oeffentliche Meinungen – private Faulheiten“ (316, 8 f.). MA I 482 fordert zur individuellen Selbstbehauptung gegen den Staat, das öffentlich für wahr Gehaltene auf. Zu MA I 482 gibt es in Mp XIV 1, 346 eine ‚Reinschrift‘: „104. / Öffentliche Meinungen sind private Faulheiten.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,346) Mit nachträglich eingefügtem „sind“ gibt es diese Version auch in U II 5, 63 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,63). Ausführlicher ist NL 1876, KSA 8, 19[64], 345, 1–3: „112. Die öffentlichen Meinungen gehen aus den privaten Faulheiten hervor. Aber was geht aus den privaten Meinungen hervor? – Die öffentlichen Leidenschaften.“ Der Wortlaut von MA I 482 spielt auf den Titel von Bernard de Mandevilles (1670–1733) berühmter The Fable of The Bees: or, Private Vices, Publick Benefits von 1714 an (vgl. auch MA II VM 334 und dazu KGW IV 4, 297). In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 184, mit dem das Achte Hauptstück abschließt, fehlt MA I 482; MA I 481 ist dort der letzte Text. Wie in NK ÜK MA I 468 dargelegt, folgte jedoch in D 11, 174 ursprünglich ein schließlich durchgestrichener, fast wie MA I 482 lautender Aphorismus (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,174). Das „U n d n o c h m a l s g e s a g t“ (316, 8) könnte die Annahme nahelegen, dass der Aphorismus in geringer Variation einst tatsächlich an zwei Stellen hätte erscheinen sollen. Aber es handelt sich vor allem um ein Selbstzitat N.s aus einem anderen Werk, nämlich aus UB III SE 1: „Und wenn man mit Recht vom Faulen sagt, er tödte die Zeit, so muss man von einer Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heisst auf die privaten Faulheiten setzt, ernstlich besorgen, dass eine solche Zeit wirklich einmal getödtet wird“ (KSA 1, 338, 26–30; vgl. NK KSA 1, 159, 2). Den Hintergrund der Auseinandersetzung mit der „öffentlichen Meinung“ bildet Karl Hillebrand, vgl. NK ÜK MA I 269 (zur öffentlichen Meinung ferner NK 86, 19–21 u. NK 217, 33–218, 7): Eine herrschende öffentliche Meinung führt dazu, dass das Individuum faul wird und sich eine eigene Meinung spart. Mit dem Einspruch dagegen wird der Übergang zum nächsten Hauptstück bewerkstelligt, in dem „Der Mensch mit sich allein“ (317, 2) steht. Zu MA I 482 siehe Stegmaier 2020b, 159.
Stellenkommentar MA I Achtes HS 481–Neuntes HS 483, KSA 2, S. 316–317
867
Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein. Wie zu Beginn des Sechsten und des Siebenten Hauptstücks dominieren zunächst sehr kurze Aphorismen, wodurch sich ein wirkungsvoller Gegensatz zu den Langtexten am Ende des Achten Hauptstücks einstellt. Das Neunte Hauptstück enthält die größte Anzahl von Abschnitten aller Hauptstücke (auch wenn das Zweite noch etwas umfangreicher ist). Inhaltlich wird es seinem Titel aber nur bedingt gerecht, weil es über weite Strecken ein Sammelsurium darstellt – nämlich von Texten, die den Menschen gerade nicht mit sich allein lassen, sondern im Verhältnis mit anderen zeigen. Die Sozialobservation verdrängt die eigentlich titelgemäße Selbstbespiegelung, der sich die Sprechinstanz gerne entzieht. Positiv gewendet, könnte man sagen: Das Neunte Hauptstück zeigt gerade, dass der Mensch nie wirklich mit sich allein sein kann. Er ist ein relationales Wesen, immer relativ zu anderen und anderem – selbst, wenn er sich über alle anderen und alles andere erhaben dünkt. Insofern wäre das Neunte Hauptstück eine Schule der Selbstrelativierung, ähnlich wie Mark Aurels Selbstbetrachtungen. Zur Interpretation siehe v. a. Gödde 2020b.
483. MA I 483 gibt die Tonlage für das gesamte Hauptstück vor: „Ueberzeugungen“ (317, 4) werden als wahrheitsgefährdend herausgestellt – und zwar mehr noch als „Lügen“ (317, 5). Somit verbietet sich auch jene Form der Selbstdogmatisierung, die seit Descartes’ Cogito-Argument für die neuzeitliche Subjektphilosophie richtungweisend war – nämlich, dass man im eigenen denkenden ‚Ich‘ ein unerschütterliches Fundament findet, mag sonst auch alles unsicher sein. Wer gehofft haben sollte, nach der Desillusionierung im Mitmenschlichen und im Politischen, also nach der Lektüre der vorangehenden Hauptstücke, jetzt wenigstens „mit sich allein“ (317, 2) letzte Gewissheiten zu erlangen, tut gut daran, seine Hoffnungen zu begraben. Zu MA I 483 gibt es in Mp XIV 1, 345 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel und ohne Komma vor „als Lügen“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,345). Textidentisch mit Bleistift ist der Satz auch notiert in N II 3, 1a (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,1a). Das Thema der Überzeugungen wird dann breit verhandelt in MA I 629 bis 637, vgl. auch MA I 511; zu den verschiedenen Aspekten von Überzeugung im Neunten Hauptstück siehe die Zusammenstellung bei Huffman 2020. 317, 4 f. Ueberzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen.] Das Motiv zitiert N. immer wieder, vgl. NL 1883, 12[1], KSA 10, 383, 10 f., KGW IX 8,
868
Menschliches, Allzumenschliches I
W II 5, 46, 1 u. 45–51 (NL 1888, KSA 13, 14[159], 343, 16–20) sowie AC 55, KSA 6, 237, 22–25, ausführlich dazu NK KSA 3, 627, 19 f. In AC 54, KSA 6, 236, 6 f. heißt es lapidar: „Überzeugungen sind Gefängnisse.“ Dass „Ueberzeugungen“ tatsächlich für die Wahrheit noch gefährlicher sind als „Lügen“, hängt wohl daran, dass sich Lügner der Wahrheit noch sehr wohl bewusst sind, während sie sie verbergen oder verdrehen, wohingegen den Überzeugungstätern das Bewusstsein der (ihren Überzeugungen womöglich widersprechenden) Wahrheit schon abhanden gekommen ist. Überzeugungen verleiten auch dazu, zu glauben, man habe eine Wahrheit, die es womöglich überhaupt nicht gibt. Zur populärkulturellen Nutzung von MA I 483 siehe Mortzfeld 2019, 266 f.
484. MA I 484 setzt das in MA I 483 intonierte Verunsicherungsgeschäft unerbittlich fort: Man solle einen „Denker“ (317, 7) kritisieren, der einem Angenehmes sagt, nicht, wie man es gemeinhin tue, denjenigen, der Unangenehmes sagt. Zu MA I 484 gibt es in Mp XIV 1, 344 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,344). Sehr ähnlich hat N. den Text schon in U II 5, 40 notiert (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,40). Dass Philosophen Unangenehmes sagen, gehört spätestens seit Sokrates zum Rollenverständnis. Vgl. auch NK KSA 6, 13, 3, zur Interpretation von MA I 484 z. B. Gwozdz 2017, 182. 317, 7 Ve r k e h r t e We l t.] Siehe NK KSA 5, 371, 6.
485. In MA I 485 wird direkt umgesetzt, was sich aus MA I 484 als philosophisches Programm ergibt, nämlich ein „unangenehme[r] Satz“ (317, 8) postuliert. Er besagt, dass – wenigstens „weit häufiger“ (317, 13) – den Charakter nicht intellektuelle Prinzipientreue, sondern das „Temperament[.]“ (317, 13) prägt. Demnach wäre der eigene Charakter gewöhnlich nichts, was man selbst und frei bestimmen kann. MA I 485 lässt offen, in welchen selteneren Fällen dies doch möglich ist – und ob dem Erscheinen der Charakterstärke („Charaktervoll erscheint“ – 317, 12) auch deren Wirklichkeit entspricht. Zu MA I 485 gibt es in Mp XIV 1, 116 eine ‚Reinschrift‘, zu der der Titel „Charaktervoll“ von N. nachträglich hinzugefügt worden ist (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,116).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 483–487, KSA 2, S. 317–318
869
486. Nach den drei Eingangssentenzen des Neunten Hauptstücks wartet MA I 486 mit leichter Entspannung auf: Entweder müsse „man“ (317, 16) einen „erleichterten Sinn“ (317, 18) einfach schon haben oder den „Sinn“ sich „durch Kunst und Wissen“ (317, 17 f.) wenigstens erleichtern. Zu MA I 486 gibt es in Mp XIV 1, 63 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“, nachträglich mit der Überschrift „Was Das Eine was Noth thut“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,63). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 27 lautet: „17 entweder durch Natur leichten Sinn oder durch Wissen erleichterten Sinn – eins muss man haben.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,27) Durch die Hinzufügung von „Kunst“ in der Druckfassung stellt sich die Assoziation zu der von N. anderswo bemühten Xenie Goethes „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt“ ein, vgl. NK 48, 21–26. Zur Deutung von MA I 486 vgl. Steiner 2020 im Abgleich mit MA I 29 u. MA I 222. 317, 16 D a s E i n e , w a s N o t h t h u t.] Eine von N. öfter variierte Anspielung auf Lukas 10, 42, vgl. z. B. NK KSA 6, 32, 16 u. NK KSA 6, 217, 17. 317, 18 erleichterten Sinn] In Mp XIV 1, 63 sind beide Worte unterstrichen.
487. MA I 487 übt sich in moralistischer Beobachtung: Wessen „Leidenschaft“ (318, 2 f.) für „Sachen“ (318, 3) brenne, dessen „Leidenschaft für Personen“ (318, 4) erkalte. Zu MA I 487 gibt es in Mp XIV 1, 127 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“, nachträglich mit der Überschrift des Drucktextes versehen (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,127). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 26 lautet: „14 Die Leidenschaft für Sachen entzieht der Leidenschaft für Personen (selbst die Vertreter der Sachen) viel Feuer.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II3,26) MA I 416 hat behauptet, Frauen seien „seltener für Sachen, mehr für Personen eingenommen“ (274, 17 f.). 318, 4 Künste] Fehlt in Mp XIV 1, 127, in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 186 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,186) sowie in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16487500 28/369) und ist in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 331) erstmals belegt. 318, 5–7 (selbst wenn sie Vertreter jener Sachen sind, wie Staatsmänner, Philosophen, Künstler Vertreter ihrer Schöpfungen sind)] In Mp XIV 1, 127 korrigiert aus: „(selbst wenn sie Vertreter jener Sachen sind wie Philosophen für ihre Systeme usw)“.
870
Menschliches, Allzumenschliches I
488. Nach MA I 488 ist der „grosse Mensch“ (318, 10 f.) bei der Ausführung seiner Taten viel ruhiger, „als seine stürmische Begierde vor der That es erwarten liess“ (318, 11 f.). Zu MA I 488 gibt es in Mp XIV 1, 128 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“, nachträglich mit der Überschrift des Drucktextes versehen (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,128). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 6 lautet: „Wasserfall langsam fallend / grosser Mann – stürmischer Jugendtrieb“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,6). 318, 9 f. Wie ein Wasserfall im Sturz langsamer und schwebender wird] Anders gewendet wird das Motiv des Wasserfalls in MA I 106, vgl. NK 103, 1–6. N. hat noch am 04. 03. 1878 seiner Schwester vom berühmten Geroldsauer Wasserfall bei Baden-Baden vorgeschwärmt, auf den die Beschreibung „langsam fallend“ (N II 3, 6, zitiert in NK ÜK MA I 488) zutreffen dürfte: „In Geroldsau: herrlich! Welche Labung!“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 683, S. 303, Z. 3) Zu diesem Zeitpunkt war freilich bereits längst die Fahnenkorrektur von MA I im Gange. Die WasserfallMetaphorik von MA I 488 ist vielleicht auch weniger dem direkten Naturerleben geschuldet als vielmehr ein Widerhall von Nikolaus Lenaus berühmtem Gedicht See und Wasserfall mit der Schlussstrophe: „Du sollst, gleich jenem Teich, / Betrachtend dich verschließen, / Dann kühn, dem Bache gleich, / Zur Tat hinunterschießen.“ (Lenau 1869, 172) „Nietzsche kannte Lenaus Texte seit frühester Jugend“ (Armin Thomas Müller 2017, 60). 318, 10 f. der grosse Mensch der That mit m e h r Ruhe] In Mp XIV 1, 128 korrigiert aus: „der grosse Mensch mit grösserer Ruhe“.
489. MA I 489 will plausibel machen, dass tiefe Erkenntnis einer Sache ihr untreu werden lässt, habe man doch mit dem Blick in die Tiefe all das „Schlimme[.]“ (318, 16) gesehen, was sich dort verberge. Zu MA I 489 gibt es in Mp XIV 1, 219 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“, nachträglich mit der Überschrift des Drucktextes versehen (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,219). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 28 lautet bereits: „Personen welche eine Sache in aller Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,28). Man könnte argumentieren, N. münze das später – namentlich in JGB und GM – operativ um,
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 488–491, KSA 2, S. 318
871
indem er die Tiefen der Moral aufdeckt, um ihrer überdrüssig zu machen, statt wie bisher sie zu legitimieren. Liessmann 2021, 162 stellt einen Bezug von MA I 489 zu Freud her.
490. Idealismus erscheint in MA I 490 als Selbstverblendung, wenn der Idealist das, wofür er sich einsetzt, für allen anderen Dingen überlegen halte und übersehe, dass es in der Welt auf die gleiche üble Weise gefördert werden muss wie „alle anderen menschlichen Unternehmungen“ (318, 23 f.) auch. Zu MA I 490 gibt es in Mp XIV 1, 69 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „S“ markiert, noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,69). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 105 lautet: „Idealisten bilden sich ein, die Sache die sie vertreten, sei besser, als andere Sachen u wollen nicht glauben, dass, wenn diese Sache überhaupt gedeihen soll, sie genau denselben Dünger braucht wie alle anderen menschlich. Unternehmungen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,105). In dieser frühen Fassung gilt der „Dünger“ noch nicht explizit als „übel riechend[..]“ (318, 23); auch fehlt der in der Druckfassung irritierende Wechsel vom Plural der von den „Idealisten“ vertretenen „Sachen“ in 318, 19 f. zum Singular in 318, 22. Ob MA I 490 sich auch gegen die 1876 erschienenen Memoiren einer Idealistin von N.s Freundin Malwida von Meysenbug richtet, steht dahin; zu N.s späterer, expliziter Meysenbug- und Idealismus-Kritik vgl. u. a. NK KSA 6, 300, 11–25.
491. MA I 491 enthält eine Breitseite gegen den seit der Antike in der Philosophie vorherrschenden Selbsterkenntnisdünkel: Man sei gar nicht in der Lage, von sich selbst mehr als die äußere Fassade zu erkennen – es sei denn, andere, „Freunde und Feinde“ (319, 5), würden einem die eigenen Abgründe vor Augen führen. Zu MA I 491 gibt es in Mp XIV 1, 192 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „S“ markiert und bereits mit dem Titel „Selbstbeobachtung“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,192). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 148 lautet: „der M. ist gegen seine eigne Auskundschaft. sehr gut vertheidigt / er entdeckt Aussenwerke – / Fr. u Feinde verrathen Festung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,148). Die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit einer aus sich selbst gewonnenen Selbsterkenntnis ist auch später bei N. ein bestimmendes Thema, vgl. z. B. FW 335, KSA 3, 560, 18–21 u. NK ÜK JGB 281. Immerhin räumt MA I 491 ein, dass sie unter Zuhilfenahme Dritter möglich ist (was sich dann später die Psychoanalyse mittels Gesprächs-
872
Menschliches, Allzumenschliches I
therapie zunutze machen will). Im Unterschied zu vulgären Ausprägungen neuzeitlicher Subjektphilosophie ist nach MA I 491 unmittelbare Selbsttransparenz nicht gegeben: Sobald das ‚Ich‘ sich selbst zum Objekt macht, kann es sich selbst nicht erklären, sondern bedarf des Blickes von außen. Das mag erklären, warum im Neunten Hauptstück trotz des Titels „Der Mensch mit sich allein“ viel vom Verkehr mit anderen gehandelt wird: Weil das ‚Ich‘ sich ohne andere über sich selbst nicht aufzuklären vermag. 319, 3 f. Die eigentliche Festung ist ihm unzugänglich, selbst unsichtbar] Militärische Metaphorik ist seit der Antike fester Bestandteil des philosophischen Vokabulars, vgl. Sommer 2011d. Dabei wird namentlich in der Stoa der Gedanke einer inneren, uneinnehmbaren Festung gepflegt, vgl. Hadot 1992. Für den Welterkenntnisprozess, der auch ein Selbsterkenntnisprozess ist, benutzt auch Schopenhauer die Allegorie von Festung und Verrat: „Daß wir zum Dinge an sich selbst, d. i. dem überhaupt auch außer der Vorstellung Existirenden, nicht auf dem Wege der Vorstellung gelangen können, sondern dazu einen ganz andern, durch das Innere der Dinge führenden Weg, der uns gleichsam durch Verrath die Festung öffnet, einschlagen müssen, habe ich durch mein Hauptwerk dargethan.“ (Schopenhauer 1873–1874, 1/1, 83) Hier sind aber nicht außenstehende Menschen die Verräter wie in 319, 5, sondern der „Verrath“ besteht darin, dass nicht über die Vorstellungswelt deren Wesen entschlüsselt wird, sondern durch den Umweg der Introspektion, die das Ding an sich als Willen entschleiert. Gerade die Offenheit dieses Umwegs und damit den privilegierten Selbstzugang bestreitet MA I 491.
492. MA I 492 hätte auch im Siebenten Hauptstück unterkommen können: Männer könnten es in ihrem Beruf eigentlich nur aushalten, wenn sie überzeugt seien, er sei „wichtiger, als alle anderen“ (319, 10) Berufe. Frauen verführen so bei „ihren Liebhabern“ (319, 11). Zu MA I 492 gibt es in Mp XIV 1, 121 eine ‚Reinschrift‘ mit dem Titel „Beruf“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,121). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 30 lautet: „Männer halten selten einen Beruf aus, von dem sie nicht glauben er sei wichtiger als alle andern / ebenso m denken die Frauen von den Liebhabern“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,30). 319, 10 f. mit ihren Liebhabern] In Mp XIV 1, 121 stattdessen: „mit ihrem Liebhaber“.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 491–495, KSA 2, S. 319
873
493. „Adel der Gesinnung“ (319, 13) ist in der Beleuchtung von MA I 493 wenig mehr als Naivität, nämlich „Gutmüthigkeit und Mangel an Misstrauen“ (319, 14 f.) – also das, was die in der Welt Erfolgreichen gerne verspotten. Zu MA I 493 gibt es in Mp XIV 1, 260 eine ‚Reinschrift‘ von Albert Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,260) sowie eine Vorarbeit in M I 1, 43 von Heinrich Köselitz’ Hand. Sie lautet: „Der Adel der Gesinnung besteht zu einem grossen Theile aus Gutmüthigkeit und Mangel an Zutrauen, und ist also gerade Das, worüber sich die gewinnsüchtigen und erfolgreichen Menschen so gern in Ueberlegenheit und Spott ergehen.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/M-I-1,43) Die von N. selbst in U II 5, 187 notierte Version hat wie Mp XIV 1, 260 sowie die Druckfassung „Misstrauen“ statt „Zutrauen“ (ein Lesefehler von Gast?) und die Präposition „mit“ statt „in“ wie M I 1, 43 („mit Spott und Überlegenheit“ – http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,187). MA I 493 steht im Dunstkreis der Idealismuskritik von MA I 490. 319, 13 A d e l d e r G e s i n n u n g] Zur Geschichte dieser Wendung vgl. NK KSA 6, 218, 15 f. Sie gehört im 19. Jahrhundert bereits zum gängigen Sprichwortschatz, vgl. Wander 1867–1880, 1, 29.
494. Hartnäckigkeit beziehe sich, so MA I 494, oft nicht auf das Ziel, sondern auf den Weg. Zu MA I 494 gibt es in Mp XIV 1, 119 eine ‚Reinschrift‘, in die der Titel „Ziel und Wege“ von N. nachträglich eingefügt wurde, statt „Wenige“ (319, 20) steht „Wenigere“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,119). Ein Bleistiftnotat am Seitenrand von N II 3, 32 lautet: „Manche sind hartnäckig in Bez auf die eingeschl. Wege“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,32). Ob, anstatt das Ziel im Auge zu behalten, diese Hartnäckigkeit in der Wegtreue der Kraft der Trägheit geschuldet ist, verrät weder die Notat- noch die Druckversion (zur vis inertiae vgl. NK KSA 5, 257, 16).
495. Wer eine „i n d i v i d u e l l e [ . ] L e b e n s a r t“ (319, 22 f.) pflegt, zieht nach MA I 495 Widerstand und Widerwillen der nicht individuell Lebenden auf sich – weil sie
874
Menschliches, Allzumenschliches I
selbst sich zurückgesetzt fühlten, da sie der „aussergewöhnliche[n] Behandlung“ (319, 25) nicht teilhaftig würden, die der Individualist mit sich selbst pflege. Zu MA I 495 gibt es in Mp XIV 1, 119 eine ‚Reinschrift‘, in die der Titel „Das Empörende an einer sehr individuellen Lebensart.“ von N. nachträglich eingefügt wurde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,119). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 32 lautet nach einigen Korrekturen schließlich: „Alle sehr individuellen Maassregeln des Lebens werden von fast allen Mitmenschen als unpractisch bezeichnet – sie würden es für sie auch sein“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ N-II-3,32). Zu N. als „militantem Individualist“ (Marcuse 1975, 48 f.) siehe die Dissertation von Ludwig Marcuse Die Individualität als Wert und die Philosophie Friedrich Nietzsches (1917). Dass stark ausgeprägte Individuen es schwer haben mögen, ist eine Binsenwahrheit. Interessanter ist die Begründung, die MA I 495 leistet: Jeder will als außergewöhnlich, als Individuum angesehen und behandelt werden, was der Individualist aber bei andern nicht zu tun vermag, da er mit seiner Selbstgestaltung beschäftigt ist. 319, 22 f. D a s E m p ö r e n d e a n e i n e r i n d i v i d u e l l e n L e b e n s a r t.] Die Fügung „individuelle Lebensart“ kommt bei N. nur hier und zu seinen Zeiten nur selten vor, jedoch hat er sie nicht geprägt. Beispielsweise ist in der deutschen Übersetzung von Ernest Renans Vie de Jésus in der 1864er-Ausgabe für „grand public“ von „unserer abgesonderten und individuellen Lebensart“ die Rede (Renan 1864, 8). N. kannte dieses Werk schon früh und spielte es gegen David Friedrich Strauß aus, vgl. NL 1873, KSA 7, 27[1], 586, 12 f.
496. Nach MA I 496 könne ein großer Mensch mit Geringfügigem jemanden beglücken. Zu MA I 496 gibt es in Mp XIV 1, 345 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,345). In NL 1876/77, KSA 8, 23[92], 436, 7 f. heißt es: „Es ist ein Zeichen von G r ö ß e, mit g e r i n g e n G a b e n hoch beglücken zu können.“ Zwei Deutungsrichtungen liegen nahe. Erstens: Die Größe der gebenden Person ist allgemein sozial anerkannt, sie gilt beispielsweise als bedeutender Staatsmann oder berühmter Dichter. Wer von Goethe oder von Bismarck en passant etwas bekommen kann, eine Widmungszeile in einem Buch, ein Markstück als Trinkgeld für eine Dienstleistung, wird noch den Enkeln davon mit leuchtenden Augen erzählen. Zweitens: Die Größe der gebenden Person ist kein soziales Phänomen, sondern macht ihre Natur aus, unabhängig von der äußeren Anerkennung. Was eine solche Person gibt, kann aus ihrer Sicht gering sein, weil sie aus der Fülle gibt, während die Gabe für den Empfangenden von
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 495–498, KSA 2, S. 319–320
875
großer, beglückender Bedeutung ist, vgl. auch MA I 497. So dürfte sich N. 1878, noch fernab von breiter öffentlicher Wertschätzung, für einen großen Menschen gehalten haben, der mit seinen Gedanken anderen viel zu geben hat, ohne dass ihn das doch verausgabt. Vgl. auch Alberts 2022, 94. 320, 2 Vo r r e c h t d e r G r ö s s e.] Das „Vorrecht der Grösse“ ist eine Wendung aus einem bekannten Aphorismus von Moritz Gottlieb Saphir: „Thränen e r p r e s s e n ist das Vorrecht des Schicksals und der Menschen, Thränen v e r g i e ß e n das Vorrecht des Unglücks, Thränen t r o c k n e n das Vorrecht der Menschlichkeit, Thränen v e r h e h l e n das Vorrecht der Größe!“ (Saphir 1867, 81)
497. „[U]nwillkürlich vornehm“ (320, 6) verhalte sich, so MA I 497, derjenige, der von den Menschen selbst nichts zu wollen und ihnen nur zu geben pflege. Zu MA I 497 gibt es in Mp XIV 1, 330 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,330 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,331). Nach KGW IV 4, 230 existiert eine ‚Vorstufe‘ in N II 3, 18. Das fragliche Blatt scheint freilich aus dem entsprechenden Notizbuch herausgerissen worden zu sein, siehe http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,18.
498. In MA I 498 scheint ironisches Augenzwinkern nicht fern: Wolle einer Held werden – „B e d i n g u n g d e s H e r o e n t h u m s“ (320, 9) –, müsse „die Schlange vorher zum Drachen geworden sein“ (320, 10 f.). Denn er brauche ja einen ernstzunehmenden „Feind“ (320, 11). Man könnte hinzufügen, dass Adam im Paradies nur die Schlange hatte und es also nicht zum Helden hat bringen können. In NL 1877, KSA 8, 24[8], 479, 23 heißt es lapidar: „Damit Held – Drache.“ Das Drachenbekämpfen gehört zum gängigen Heldenrepertoire, keineswegs nur bei Siegfried im Nibelungendunst. In NL 1870/71, KSA 7, 7[119], 167, 1 f. hat sich N. als Motto für eine geplante Abhandlung „Ursprung und Ziel der Tragoedie“ notiert: „Serpens nisi serpentem comederit, non fit draco.“ Und in NL 1870/71, KSA 7, 7[160], 201, 1 f. unternimmt N. dann auch eine Nutzanwendung der lateinischen Sentenz: „Der Genius ist die sich selbst vernichtende Erscheinung. Serpens nisi serpentem comederit non fit draco.“ Der Spruch wird in Francis Bacons Essay 40: Of Fortune zitiert, N. dürfte ihm aber bei Schopenhauer begegnet sein: „aus dem Streit niedrigerer Erscheinungen geht die höhere, sie alle verschlingende, aber
876
Menschliches, Allzumenschliches I
auch das Streben aller in höherm Grade verwirklichende hervor. – Es herrscht demnach schon hier das Gesetz: serpens, nisi serpentem comederit, non fit draco.“ (Schopenhauer 1873–1874, 2, 173) Übersetzt bedeutet es: „Die Schlange wird, außer sie verschlingt eine Schlange, kein Drache.“ MA I 498 formuliert eine klare Einsicht in die Kontingenzabhängigkeit und den Konstruktionscharakter von Heldentum: Was, wenn kein Drache auftauchen will, man sich aber gerne als Held sähe? Man macht es z. B. so wie N. in seiner Ersten unzeitgemässen Betrachtung und sein Freund Franz Overbeck in seiner Christlichkeit unserer heutigen Theologie, konstruiert sich nämlich einen übermäßig groß wirkenden Feind. Nur folgerichtig ist deshalb N.s Widmung zu UB I DS und Overbecks Christlichkeit: „Ein Zwillingspaar aus einem Haus / gieng muthig in die Welt hinaus, / Welt-Drachen zu zerreissen“ (NL 1873, KSA 7, 17[10], 410, 23– 25; dazu Sommer 1997, 112). Vgl. auch NK KSA 5, 98, 19–21.
499. Nach MA I 499 mache nicht „Mitleiden“, sondern „Mitfreude“ (320, 13) den Freund aus. Zu MA I 499, einem der kürzesten Aphorismen im gesamten Werk MA I, gibt es in Mp XIV 1, 342 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift, dafür mit vier blauen Strichen und abweichendem, noch längerem Text: „Mitfreude macht den Freund, Mitleid den Leidensgefährten.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,342) Explikativ ausladend ist sodann NL 1876, KSA 8, 19[9], 333, 21–25: „14. Die welche sich mit uns freuen können, stehen höher und uns näher als die welche mit uns leiden. Mitfreude macht den ‚Freund‘ (den Mitfreuenden), Mitleid den Leidensgefährten. – Eine Ethik des Mitleidens braucht eine Ergänzung durch die noch höhere Ethik der Freundschaft.“ Hier wird auch die Oppositionsstellung deutlich, nämlich gegen Schopenhauers Mitleidsethik (womöglich auf der Grundlage von antiken Philosophen, von Montaigne und Emerson) eine Ethik der Freundschaft zu setzen, vgl. auch NK ÜK MA I 354, Köselitz’ Brief an N. vom 1.–2. Oktober 1879, in dem er MA I 499 kommentiert (KGB II 6/2, S. 1175), u. Brusotti 1997, 151, Anm. 269 sowie Zavatta 2008, 517. N. attestiert übrigens seinem Freund Carl von Gersdorff in seinem Brief vom 13. 12. 1875 ausdrücklich „die herrliche Fähigkeit zur M i t f r e u d e; ich meine, sie ist selbst seltener und edler als die des Mitleidens.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 495, S. 129, Z. 71–73) Siehe ausführlich zur Entgegensetzung von Mitleiden und Mitfreude NK KSA 3, 568, 19–21 sowie Ponton 2010 u. Ponton 2015.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 498–501, KSA 2, S. 320
877
500. Im Dienste der Erkenntnis müsse man sich, formuliert MA I 500 als Ratschlag, die inneren Gezeiten zunutze machen, die einen zu einer Sache hin-, aber auch wieder von ihr fortzögen. Zu MA I 500 gibt es in Mp XIV 1, 42 eine ‚Reinschrift‘ in blassvioletter Tinte, der N. mit schwarzer Tinte die definitive Überschrift „Ebbe und Fluth zu benutzen“ später hinzugefügt hat. Statt „von der Sache fortzieht“ (320, 18) heißt es dort unmissverständlicher: „von derselben Sache fortzieht“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/Mp-XIV-1,42). Die Gezeitenmetapher, die ja erst mit der nachträglich hinzugefügten Überschrift explizit gemacht wird, wird in NL 1876/77, KSA 8, 21[47], 373, 17–19 bemüht: „Inhaltsreiche Menschen haben in Bezug auf die selben Dinge Ebbe und Fluth, Zuneigung und Abneigung. Man muss jede dieser verschiedenen Strömungen – – –“. Die metaphorische Vorlage liefert Schopenhauer: „In höherm Sinne sind sogar die Stunden der Begeisterung, mit ihren Augenblicken der Erleuchtung und eigentlichen Konception, nur die lucida intervalla des Genies. Demnach könnte man sagen, das Genie wohne nur ein Stockwerk höher, als der Wahnsinn. Aber wirkt doch sogar die Vernunft des Vernünft-/54/igen eigentlich nur in lucidis intervallis: denn er ist es auch nicht immer. Auch der Kluge ist es nicht jederzeit; selbst der bloß Gelehrte ist es nicht jeden Augenblick: denn bisweilen wird er die ihm geläufigsten Dinge nicht sich zurückrufen und ordentlich zusammenbringen können. Kurzum, nemo omnibus horis sapit. Alles Dieses scheint auf eine gewisse Fluth und Ebbe der Säfte des Gehirns, oder Spannung und Abspannung der Fibern desselben, hinzudeuten.“ (Schopenhauer 1873–1874, 6, 53 f.)
501. Was man „‚Freude an der Sache‘“ (320, 20) nenne, sei, so MA I 501, in Wahrheit Selbstgenuss, eine „Freude an sich vermittelst einer Sache“ (320, 21). Zu MA I 501 gibt es keine ‚Reinschrift‘; im sonst von Köselitz niedergeschriebenen Druckmanuskript D 11, 187 stammt der Text dieses Abschnitts von N.s Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,187). Auch hier wird Schopenhauer pointiert: „Jeder nämlich fühlt, daß Freude und Wohlgefallen an einer Sache eigentlich nur aus ihrem Verhältniß zu unserm Willen, oder, wie man es gern ausdrückt, zu unsern Zwecken, entspringen kann; so daß eine Freude ohne Anregung des Willens ein Widerspruch zu seyn scheint.“ (Schopenhauer 1873–1874, 6, 447) Zum Selbstgenuss siehe auch MA I 89, KSA 2, 88 sowie MA I 545, KSA 2, 329 u. MA I 487 zur „L e i d e n s c h a f t f ü r S a c h e n“ (KSA 2, 318, 2)
878
Menschliches, Allzumenschliches I
320, 20 „Freude an der Sache“] Die Wendung ist eine im 18. und 19. Jahrhundert sehr verbreitete Redensart. Bemerkenswert, gerade im Blick auf den Selbstgenuss, ist Goethes Gebrauch der Formel zu Beginn seiner Italiänischen Reise, als er in Regensburg weilt und die Theateraufführung am dortigen Jesuitenkolleg lobt: „es ist eine Freude an der Sache dabei, ein Mit- und Selbstgenuß, wie er aus dem Gebrauche des Lebens entspringt“ (Goethe 1853–1858, 23, 3).
502. Bescheidenheit gegenüber Menschen impliziere, behauptet MA I 502, eine umso stärkere Anmaßung gegenüber Sachen. Zu MA I 502 gibt es in Mp XIV 1, 219 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“, nachträglich mit der Überschrift „Der Bescheidene“ versehen (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,219). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 28 lautet bereits: „Wer gegen Personen bescheiden ist, zeigt gegen Sachen um so stärker seine Anmaassung.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,28) 321, 3 f. Menschheit] Fehlt noch in Mp XIV 1, 219, im Druckmanuskript D 11, 187 sowie in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/372/).
503. Nach MA I 503 seien „Neid und Eifersucht“ (321, 6) „die Schamtheile der menschlichen Seele“ (321, 7). Und man könne diesen Vergleich „vielleicht“ (321, 8) weiterführen. Zu MA I 503 gibt es eine ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 325 von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,325). Ein Notat in U II 5, 71 lautet: „87 Neid und Eifersucht sind die Schamtheile der menschlichen Seele. – Der Satz erlaubt vielleicht eine Fortsetzung“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,71). Auf der gegenüberliegenden Seite notiert N. mit Bleistift ergänzend dazu: „Auch giebt es keine Gebärden: der Leib verschweigt sie“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,72). Neid und Eifersucht wären demnach etwas natürlicherweise Vorhandenes wie eben die Genitalien, das man aber verberge, wenn man ein zivilisierter Mensch ist. Für Kastration plädiert MA I 503 nicht. Zum Thema des Neides in MA I 503 Tuncel 2022, 144.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 501–506, KSA 2, S. 320–321
879
504. Gar nicht von sich selbst zu reden, klassifiziert MA I 504 nicht als überaus wünschenswerte Bescheidenheit, sondern als „vornehme Heuchelei“ (321, 11). Zu MA I 504 gibt es in Mp XIV 1, 342 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,342). Eine identische Fassung, ebenfalls von Brenners Hand, gibt es in U II 5, 53 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,53). Dieses Nicht-vonsich-selbst-Reden ist programmatisch für eine starke Strömung in der neuzeitlichen Philosophie: Francis Bacon erhebt in der Vorrede seiner Instauratio magna die Forderung, die Immanuel Kant dann als Motto zur Kritik der reinen Vernunft übernimmt: „De nobis ipsis silemus“ (AA III 2 – „Von uns selbst wollen wir schweigen“). Weshalb die „Heuchelei“, nicht von sich selbst zu sprechen, „sehr vornehm[.]“ (321, 11) sein soll, bleibt offen – die Sprechinstanz von MA I 504 suggeriert jedenfalls, dass es unredlich sei, nicht von sich zu sprechen. Vgl. zur Vornehmheit auch MA I 497, KSA 2, 320. Köselitz hat in der von ihm verantworteten MA-Ausgabe den Wortlaut von MA I 504 verändert, siehe Eichberg 2009, 122.
505. MA I 505 will „Verdruss“ als „körperliche Krankheit“ (321, 13 f.) verstanden wissen, die nicht einfach dadurch beseitigt wird, dass ihre Ursache sich erledigt hat. Zu MA I 505 gibt es in Mp XIV 1, 328 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,328). N.s Aufzeichnung in U II 5, 99 lautet: „Ein Verdruss ist eine körperliche Krankheit welche keineswegs dadurch ˹schon˺ gehoben ist, dass die Ursache des Verdrusses hinterdrein beseitigt wird.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/UII-5,99) Offensichtlich wächst sich die punktuelle negative Erfahrung leicht ins Chronisch-Depressive aus.
506. MA I 506 exponiert einen Gegensatz von Langeweile und Gefahr: Man sei eher bereit, die Wahrheit auszusprechen, „wenn es gefährlich ist“ (321, 17 f.), als „wenn es langweilig ist“ (321, 19). Zu MA I 506 gibt es in Mp XIV 1, 345 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne den späteren Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,345). Eine textidentische Fassung von N.s Hand findet sich in U II 5, 40 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,40). Noch im Spätwerk kritisiert N. diejeni-
880
Menschliches, Allzumenschliches I
gen, die von der Wahrheit verlangen, sie solle einen pittoresken Effekt zeitigen und einen Reiz auf die Phantasie ausüben, vgl. AC 13 u. NK KSA 6, 179, 27–29. 321, 17 Ve r t r e t e r d e r W a h r h e i t.] Vgl. NK ÜK MA I 633.
507. Wiederum geht es in MA I 507 nicht um den „Menschen mit sich allein“, wie das Hauptstück es vorgibt, sondern um den Menschen im Verkehr, nämlich mit denjenigen, deren „sympathische[s] Verhalten“ (321, 22) „uns“ (321, 23) einerseits fraglich vorkomme, denen „wir“ (321, 22) andererseits aber unsere Sympathie schenken müssten, weil wir ihnen verpflichtet sind. Diese Personengruppe beschäftige „unsere Phantasie“ (322, 1 f.) viel ärger als ausgemachte Feinde. Zu MA I 507 gibt es in Mp XIV 1, 129 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel und mit rotem „S“ markiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,129). In N II 2, 151 lautet eine Bleistiftaufzeichnung: „Die Personen von deren Sympathie wir nicht immer [?] überzeugt sind, während irgend ein Grund [?] uns verpflichtet den Anschein der völligen Sympathie aufrecht zu erhalten, quälen unsere Phantasie viel mehr, als unsere Feinde.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,151) Der Abschnitt illustriert exemplarisch die Unsicherheit in den normalen, nicht eindeutig nach Freund-Feind-Kategorien sortierten Fällen des zwischenmenschlichen Umgangs, weshalb sich „unsere Phantasie“ daran festbeißt: „wir“ wissen nicht, wie „wir“ unser Verhältnis zu diesen Menschen festschreiben, klären können. Diese Unsicherheit fehlt im Umgang mit Feinden: Sie sind sicher und verlässlich – Feinde. 321, 21 B e s c h w e r l i c h e r n o c h , a l s F e i n d e.] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 187 korrigiert aus: „Beschwerlich fallende Nächste.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,187) 322, 1 Sympathie] MA I 507 benutzt das Wort im Sinn von „Mitempfinden“, „Mitgefühl“, „Seelenverwandtschaft“, „Neigung“ (Petri 1861, 756).
508. „Wir“ (322, 4) würden uns so gerne „in der freien Natur“ (322, 4 f.) aufhalten, sagt MA I 508, weil sie „keine Meinung über uns“ (322, 5) habe. Zu MA I 508 gibt es in Mp XIV 1, 41 eine ‚Reinschrift‘, von N. nachträglich bereits mit der Überschrift der Druckfassung versehen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,41). In N II 3, 30 lautet ein vorbereitendes Bleistiftnotat:
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 506–509, KSA 2, S. 321–322
881
„Wir sind so gern in der Natur, weil sie keine Meinung über uns hat.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,30) Aus Rosenlauibad berichtet N. Paul Rée in der zweiten Junihälfte 1877, er habe neben Mark Twain und Platons Nomoi nur gerade Rées Werk, also den Ursprung der moralischen Empfindungen, zur Lektüre „in der Nähe der Gletscher“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 627, S. 246, Z. 6) dabei: „und ich kann Ihnen sagen, das ist der rechte Ort, wo man überschaut das menschliche Wesen mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung (sich selbst s e h r einbegriffen) gemischt mit Mitleiden über die vielfältige Qual des Lebens; und mit dieser doppelten Resonanz gelesen, wirkt Ihr Buch sehr stark. / Es ist so viel ü b e r f l ü s s i g e Noth im Leben, man sollte doch am Schmerz schon genug haben. Da kommt aber alles Leidwesen noch hinzu, welches die M e i n u n g e n mit sich bringen. – Weshalb fühlt man sich so wohl in der freien Natur? Weil diese keine Meinung über uns hat. –“ (Ebd., Z. 6–17) Vergleichbare Überlegungen zum Empfinden in freier Natur stellt Rée 1877 nicht an, aber sie werden offensichtlich durch die Lektüre in der berneroberländischen Alpeneinsamkeit provoziert und mit der stoischen Idee verknüpft, dass wir uns von den Meinungen über die Dinge nicht beeindrucken lassen sollten, vgl. NK 136, 11–14. Das im Zuge des Erhabenheitsdiskurses schon des 18. Jahrhunderts artikulierte Motiv, dass der übermächtigen Natur die Menschen völlig gleichgültig sein könnten und dies seitens der Menschen Ängste, Schrecken und Verlorenheitsempfindungen provoziert, wird in MA I 508 umgewertet: Es ist befreiend, dass die Natur mit uns nichts will, keine Meinung zu uns hat. Man könnte es so pointieren: Freiheit ist eingeschränkt durch die Meinungen der anderen. Gleichgültigkeit befreit.
509. Auch MA I 509 sieht den Einzelnen wieder im Verhältnis zu seinen Mitmenschen: Jeder könne sich „[i]n civilisirten Verhältnissen“ (322, 7 f.) jedem anderen in einer Hinsicht überlegen wähnen. Das wiederum bestärke seine Gewissheit, dass er ja gegebenenfalls in seiner speziellen Überlegenheit seinen Mitmenschen helfen könnte, so dass er auch selbst im Bedarfsfall guten Gewissens ihre Hilfe annehmen dürfe. Zu MA I 509 gibt es in Mp XIV 1, 44 eine ‚Reinschrift‘ in hellblauer Tinte, von N. mit dunkler Tinte mit der Überschrift „Jeder in Einer Sache überlegen“ versehen. Sie lautet: „In civilisirten Verhältnissen fühlt sich Jeder Jedem Andern in Einer Sache wenigstens überlegen: darauf beruht das allgemeine Wohlwollen, insofern jeder einer ist, der helfen und sich überlegen zeigen kann.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,44) Welche historische Epoche und welche Verhältnisse als zivilisiert anzusehen sind, verrät auch diese Fassung nicht.
882
Menschliches, Allzumenschliches I
510. MA I 510 behandelt unseren Umgang mit dem Tod eines anderen: Man brauche „Trostgründe“ (322, 14), aber nicht, weil der Schmerz so groß sei, sondern „um zu entschuldigen, dass man sich so leicht getröstet fühlt“ (322, 15 f.). Zu MA I 510 gibt es in Mp XIV 1, 346 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne die erst nachträglich ins Druckmanuskript D 11, 187 eingetragene Überschrift: „105. / Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgründe, nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu erklären ˹entschuldigen˺, warum ˹dass˺ wir uns so leicht getröstet fühlen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,346) In Mp XIV 1, 17 steht auch bereits die Fassung mit „erklären, warum“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,17). 322, 13 T r o s t g r ü n d e.] „TROSTGRUND, m., ein erst in der zweiten hälfte des 17. jhs. aufkommendes und dann (nicht ohne inneren grund) mit der aufklärung besonders häufig werdendes compositum, das gegenüber dem simplex einen allgemeineren, meistens unbestimmteren charakter trägt, auch nur gelegentlich die ganz prägnante, betonte bedeutung ‚ursache eines trostes‘ zeigt. seine sonderstellung gegenüber dem einfachen trost besteht in der möglichkeit der pluralbildung, so dasz es geradezu die aufgaben des plurals für trost zu erfüllen hat und daher auch weit überwiegend in der mehrzahl begegnet.“ (Grimm 1854–1971, 22, 999) Bei N. kommt nur der Plural vor, und zwar einzig hier sowie in NL 1883, KSA 10, 16[64], 522, 1. 322, 13–16 Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgründe, nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu entschuldigen, dass man sich so leicht getröstet fühlt.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. korrigiert aus: „Bei einem Todesfall brauche man zumeist Trostgründe, nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu entschuldigen, dass wir uns so leicht getröstet fühlen.“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/373/)
511. Hatte MA I 483 die Wahrheitsfeindlichkeit von Überzeugungen herausgestellt, betont MA I 511, dass es für Vielbeschäftigte normal sei, auf den einmal bezogenen Positionen zu beharren, ebenso wie der Propagandist einer Idee sich hüte, diese zur Diskussion, gar zur Disposition zu stellen. Man könnte resümieren: Überzeugungen sind Ausgeburten der Bequemlichkeit. Zu MA I 511 gibt es in Mp XIV 1, 92 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,92). Ein Bleistiftnotat in N II 2,
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 510–513, KSA 2, S. 322
883
16 lautet: „Wer viel zu thun hat, behält seine allgemeinen Ansichten fast unverändert“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,16). 322, 18 D i e U e b e r z e u g u n g s t r e u e n] Im Druckmanuskript D 11, 187 korrigiert aus: „Stillstand im Wachsthum ˹Steigern˺ der Einsicht“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,187).
512. Oft bestehe „höhere Moralität“ (323, 2 f.) einer Person im Vergleich mit einer anderen nur darin, dass sie sich mit „quantitativ“ (323, 4) größeren Zielen beschäftige, während die andere im Kleineren befangen bleibe. Zu MA I 512 gibt es in Mp XIV 1, 67 eine ‚Reinschrift‘, der N. den Titel „Moralität u Quantitäte[n]“ nachträglich hinzugefügt hat (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,67). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 12 bereitet das vor: „die höhere Moralität liegt in der Quantität der Ziele“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-3,12). Die Frage nach der Quantifizierung stellt sich moralphilosophisch traditionell im Horizont des Utilitarismus, der Glücksquanten gegeneinander aufrechnet. Bei MA I 512 vermutet Winkler 2021a, 243 f., der die spezifische Rhetorik des Aphorismus untersucht, „eine Replik auf eine Sentenz, die La Rochefoucauld nach der Erstausgabe der Maximes ausgeschieden hat“, aber sich in der von N. benutzten Ausgabe im Supplément als Nummer XXXI sehr wohl findet: „Les grandes âmes ne sont pas celles qui ont moins de passions et plus de vertu que les âmes communes, mais celles seulement qui ont de plus grands desseins.“ (La Rochefoucauld o. J., 112; die Übersetzung bei Winkler: „Die großen Gemüter sind nicht diejenigen, die weniger Leidenschaften und mehr Tugend haben als die gewöhnlichen, sondern es sind allein diejenigen, die größere Pläne haben.“)
513. Wissenschaftliche Objektivität erscheint in MA I 513 als unerreichbar: Wie objektiv sich jemand auch vorkomme und in seinem Erkennen sich fortgeschritten wähne, bleibe doch nur sein eigenes Leben, seine Biographie. Zu MA I 513 gibt es in Mp XIV 1, 206 eine ‚Reinschrift‘, mit zwei roten „S“ und einem blauen Kreuz markiert, noch ohne Überschrift. Die ursprüngliche, viel längere Fassung, vor einigen Korrektureingriffen, lautete: „Der Mensch mag sich noch so weit ausrecken, zuletzt trägt er doch nichts davon als seine eigne Biographie. Aber erstaunlich erleichtert wird das Leben durch eine solche Befreiung des Geistes, welche versuchsweise einmal an allen den Vorstellungen rüttelt, wel-
884
Menschliches, Allzumenschliches I
che das Leben so belastet, so unerträglich machen: so daß man seine Freude in dieser Entlastung hat u das einfachste Leben vorzieht, welches uns diese Freude gewährt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,206) In dieser Fassung lag der Fokus also noch gar nicht auf Erkenntnis, sondern darauf, dass bei aller Anstrengung niemand dem eigenen Sein, dem eigenen Herkommen entgehen kann. Und dennoch wird eine geistige Therapie empfohlen, die epikureische Anklänge hat und radikale Bedürfnisreduktion mit der Befreiung von belastenden „Vorstellungen“ verbindet. N. hat sich dann entschlossen, nur den Eingang für die Druckfassung zu benutzen; den längeren Schlussteil hat er leicht umgearbeitet (er wurde ediert in NL 1876/77, KSA 8, 23[157], 462, zitiert oben im Überblickskommentar, Abschnitt 3). Zum Thema der Biographie siehe auch NL 1878, KSA 8, 32[31], 563.
514. An „eherne Nothwendigkeit“ (323, 12 f.) zu glauben, versagt den Lesern MA I 514: Weder Notwendigkeit walte, noch sei sie ehern. Und das lernten die Menschen im Verlaufe der Geschichte. Zu MA I 514 gibt es in Mp XIV 1, 334 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,334). Identisch findet sich der Text in der Handschrift von Köselitz auch in M I 1, 40 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,40). N. wird die Sentenz aus 323, 12–14 dann gekürzt anführen in einer Sammlung „‚B ö s e W e i s h e i t.‘ Sprüche und Sprüchwörtliches“ in NL 1883, KSA 10, 12[1]9, 384, 7 f.: „Die eherne Nothwendigkeit, von der die Menschen reden, ist gewöhnlich weder ehern, noch nothwendig.“ Vgl. auch FW 46 u. NK KSA 3, 411, 27–412, 7. Köselitz hat in der von ihm verantworteten MA-Ausgabe den Wortlaut von MA I 514 verändert, siehe Eichberg 2009, 122 f. Wie sich die Auflösung der Vorstellung eherner, eben zwingender Notwendigkeit im geschichtlichen Verlauf mit dem strengen Determinismus verträgt, den insbesondere die ersten beiden Hauptstücke von MA I erproben, steht dahin. 323, 12 D i e e h e r n e N o t h w e n d i g k e i t.] „Eiserne“ oder „eherne Notwendigkeit“ ist eine im späten 18. und 19. Jahrhundert sehr häufig verwendete, sprichwörtlich gewordene Fügung („eisern“ etwa bei Klopstock und Chamisso). „Ehern“ ist in von N. gelesenen Büchern die Notwendigkeit beispielsweise in Hölderlins Gedicht „Das Schicksal“ (Hölderlin 1874, 68), in Dührings Cursus der Philosophie (Dühring 1875a, 34 u. 249) oder in Meysenbugs Memoiren einer Idealistin ([Meysenbug] 1876, 1, 80). Westerdale 2013, 41 diskutiert MA I 514 vor dem Hintergrund Hölderlins.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 513–516, KSA 2, S. 323
885
515. Der Titel „A u s d e r E r f a h r u n g“ (323, 16) behauptet in MA I 515 eine empirische Basis für die These, dass es nicht gegen das Sein einer Sache spreche, wenn sie unvernünftig sei. Im Gegenteil sei „Unvernunft“ (323, 16) gerade eine ihrer Existenzbedingungen. Für MA I 515 lässt sich eine (‚Reinschrift‘-)Vorlage im Nachlass nachweisen. In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 188 gibt es eine Korrektur von Köselitz’ Hand, ursprünglich hieß es: „Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen das Dasein derselben“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,188). Winkler 2021a, 244 f. deutet MA I 515 vor dem Hintergrund von La Rochefoucaulds wiederholten Bezugnahmen auf die (menschliche) Unvernunft in den Leidenschaften, vgl. auch MA I 450, KSA 2, 292, 16 f., wonach „nichts Menschliches“ ohne „Beisatz von Unvernunft“ existieren könne (ferner NL 1875, KSA 8, 5[20], 45). In einem globaleren Sinne könnte man mit Schopenhauer sagen, dass alles, was ist, aus der Unvernunft des blinden Willens entstanden sei. Welche „Unvernunft“ in MA I 515 gemeint ist, bleibt in der Schwebe. Vgl. zu MA I 515 auch Krause 2020a, 67.
516. Nach MA I 516 sind Wahrheiten „jetzt“ (323, 20) nicht mehr tödlich, weil es „zu viele Gegengifte“ (323, 21) gebe. Zu MA I 516 gibt es in Mp XIV 1, 126 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „S“ und blauem Kreuz markiert; es fehlen Titel und Nachsatz: „Niemand stirbt an tödtlichen Wahrheiten.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,126) In dieser Fassung fehlt nicht nur der Hinweis auf die „Gegengifte“, sondern vor allem auch der zeitliche Index: Das „jetzt“ der Druckfassung suggeriert, dass es früher einmal anders gewesen ist. Zur Rezeptionsgeschichte von MA I 516 siehe Sommer 2019f, 221 f. 323, 20 f. Niemand stirbt jetzt an tödtlichen Wahrheiten: es giebt zu viele Gegengifte.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 hieß es zunächst nur: „Niemand stirbt an tödtlichen Wahrheiten.“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/374/) Mit Bleistift ist über das „an“ ein „V“ als Einfügungszeichen geschrieben worden, das am Rand wiederholt wird – ohne Angabe jedoch, was eingefügt werden soll. Das „jetzt“ und der Nachsatz über die „Gegengifte“ stehen dann in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 336). Welche diese „Gegengifte“ sind, verrät der Text nicht. Ist es der Zweifel, der den Glauben an eine potentiell todbringende Wahrheit verhindert? Und sind „tödtliche Wahrheiten“ solche, für die jemand sein Leben zu lassen bereit sein soll – und an die „jetzt“
886
Menschliches, Allzumenschliches I
niemand mehr glaubt? Oder sind es vielmehr Wahrheiten, die die Menschen derart aus der Bahn werfen, dass sie nicht mehr leben wollen, beispielsweise die narzisstische Kränkung, nur ein Tier unter Tieren zu sein und nicht mehr im Mittelpunkt eines göttlich dirigierten Universums zu stehen? In diese Deutungsrichtung weist der im Druck nachfolgende Abschnitt MA I 517. Dann könnte ein „Gegengift“ gerade das Gegenteil des Zweifels sein, nämlich eine Ideologie oder Religion, die über die unerträgliche Wahrheit hinwegtäuscht – ein Palliativ der Wahrheit.
517. MA I 517 ist prominent als „G r u n d e i n s i c h t“ (323, 23) ausgewiesen. Sie besteht darin, dass das aufklärerische Band zwischen Wahrheitssuche und Menschheitswohl zerrissen wird: Zwischen beiden bestehe kein vorherbestimmtes, notwendiges Zusammenspiel. Zu MA I 517 gibt es in Mp XIV 1, 346 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne die spätere Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,346). Die aphoristische Pointierung entstammt ursprünglich einer Klammerbemerkung in einer viel längeren Aufzeichnung, nämlich NL 1876/77, KSA 8, 23[82], 432, 23–433, 6: „Wenn jemand die Wissenschaft zum Schaden der Menschheit fördert (– nämlich es giebt keine prästabilirte Harmonie zwischen der Förderung der Wissenschaft und der Menschheit) so kann man ihm sagen: willst du zu deinem Vergnügen die Menschheit deiner Erkenntniß opfern, so wollen wir dich dem allgemeinen Wohlbefinden opfern, hier heiligt der gute Zweck das Mittel. Wer die Menschheit eines Experimentes wegen vergiften wollte, würde von uns wie ein ganz gefährliches Subjekt in Banden gelegt werden; wir fordern: das Wohl der Menschheit muß der Grenzgesichtspunkt im Bereich der Forschung nach Wahrheit sein (nicht der leitende Gedanke, aber der, welcher gewisse Grenzen zieht). Freilich ist da die Inquisition in der Nähe; denn das Wohl aller war der Gesichtspunkt, nach dem man die Ketzer verfolgte. In gewissem Sinne ist also eine I n q u i s i t i o n s - C e n s u r nothwendig, die Mittel freilich werden immer humaner werden.“ In diesem Text ist aber nicht die „Förderung der Wahrheit“, sondern die „Förderung der Wissenschaft“ dem Wohl oder der Förderung der „Menschheit“ entgegengesetzt. Wer das „wir“ ist, das in 23[82] fordert, dass das „Wohl der Menschheit“ Vorrang haben müsse, steht dahin. Ure 2013 sieht in MA I 517 das Grunddilemma von MA I ausgesprochen, nämlich das zwischen einer Philosophie, die nach antikem Muster dem Glück und der weisen Lebensführung dienen will, und einer Philosophie, die auf der Desillusionierungskraft der modernen Wissenschaften gründet und damit alle Glückshoffnungen zerstört.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 516–519, KSA 2, S. 323
887
Ansell-Pearson 2017, 225–228 diskutiert Ures Ansatz kritisch, stimmt ihm aber in der Dilemma-Diagnose zu (hält es gar für das „central dilemma“ in MA I – ebd., 225). Vgl. zu MA I 517 auch Navratil 2017, 69 u. Kiesel 2020a, 175. 323, 23 f. prästabilirte Harmonie] Zu N.s Gebrauch von Leibniz’ Begriff der „prästabilierten Harmonie“ – hier, in GT 21, KSA 1, 137, 27 und in AC 50, KSA 6, 230, 6 f. – siehe NK KSA 6, 230, 3–9.
518. MA I 518 stellt der menschlichen Urteilsfähigkeit ein radikal skeptisches Zeugnis aus: Wer „tiefer“ (324, 2) denke – worauf bezieht sich der Komparativ? –, wisse, dass er stets „Unrecht“ (324, 3) habe, egal, was er tue oder wie er urteile. Zu MA I 518 gibt es in Mp XIV 1, 335 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,335). Eine andere Version findet sich in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 44 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,44), und zwar im geringfügig abweichenden Wortlaut von N.s eigenhändiger Aufzeichnung U II 5, 193: „Wer tiefer denkt, weiss, dass er immer Unrecht hat, er mag handeln, urtheilen wie er will.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,193) Würde man das „immer“ streng auslegen, begäbe sich ein dogmatischer Skeptizismus hier in einen Selbstwiderspruch: Wenn „er“ wortwörtlich „immer“ Unrecht hat, dann auch in diesem Urteil, immer Unrecht zu haben. MA I 518 formuliert wohl eher einen pyrrhonischen Vorbehalt, der das „immer“ nicht wortwörtlich verstanden wissen will, um Erkenntnisunsicherheit im Offenen zu halten.
519. MA I 519 amalgamiert Homer und Darwin: Der Titel ruft die Zauberin Kirke auf, die die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt hat (Homer: Odyssee X; vgl. NK KSA 6, 20, 34–21, 1 u. NK KSA 6, 305, 21 f.), und identifiziert sie mit der Wahrheit, die die Menschen wieder in Tiere verwandeln könne, nachdem der Irrtum einst Menschen aus Tieren gemacht habe. Zu MA I 519 lässt sich im Nachlass keine (‚Reinschrift‘-)Vorlage nachweisen. Der „Irrthum“ scheint (in metaphysisch und christlich kontaminierten Epochen) darin bestanden zu haben, zu glauben, als Mensch mehr und besser als bloße Tiere zu sein – während nun im Sinne der Evolutionstheorie der Mensch wieder unter die Tiere zurückgestellt wird. Dieses Motiv zieht sich bei N. bis ins Spätwerk
888
Menschliches, Allzumenschliches I
durch, vgl. AC 14 u. NK KSA 6, 180, 2 f. sowie NK KSA 6, 180, 3–9; zur Geschichte der anthropologischen Desillusionierung im 19. Jahrhundert Sommer 2015g. Anders werden Wahrheit und Tierwerdung in MA I 247, KSA 2, 205 f. konfiguriert. Montaigne 1753–1754, 3, 369 bemüht die „Gewohnheit“ als der „der Circe Trank“, die die Natur verändere – eine von N. wohl in der Entstehungszeit von MA I markierte Stelle, vgl. dazu Krause 2024.
520. Die Kultur der Gegenwart, so MA I 520, laufe Gefahr, „an den Mitteln der Cultur zu Grunde zu gehen“ (324, 10 f.). Zu MA I 520 gibt es in Mp XIV 1, 332 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift. Diese Fassung lautete ursprünglich: „Wir gehören einer Zeit an, deren Cultur an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht.“ N. hat dann „in Gefahr ist“ eingefügt, ohne aber das „geht“ in „zu gehen“ zu emendieren (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,332). In U II 5, 185 hat N. eine erweiterte Version notiert: „Wir gehören einer Zeit an, deren Cultur an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht, oder gar nicht entstehen kann.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,185) Was N. konkret im Blick hat, erhellt NL 1876, KSA 8, 18[2], 314, 8–21, wo es im Pflugschar-Kontext heißt: „1.2. Alle öffentlichen Schulen sind auf die mittelmässigen Naturen eingerichtet, also auf Die, deren Früchte nicht sehr in Betracht kommen, wenn sie reif werden. Ihnen werden die höheren Geister und Gemüther zum Opfer gebracht, auf deren Reifwerden und Früchtetragen eigentlich Alles ankommt. Auch darin zeigen wir uns als einer Zeit angehörig, deren Cultur an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht. Freilich die begabte Natur weiss sich zu helfen: ihre erfinderische Kraft zeigt sich namentlich darin, wie sie, trotz dem schlechten Boden, in den man sie setzt, trotz der schlechten Umgebung, der man sie anpassen will, trotz der schlechten Nahrung, mit der man sie auffüttert, sich bei Kräften zu erhalten weiss. Darin liegt aber keine Rechtfertigung für die Dummheit Derer, welche sie in diese Lage versetzen.“ MA I 477, KSA 2, 311 f. hat dann Kriege und Kriegsanaloges als Remedien gegen den kulturellen Niedergang empfohlen. NL 1876, KSA 8, 19[65], 345, 4–17 bietet schließlich eine lange Liste, die freilich nicht ausschließlich Niedergangssymptome aufzuführen scheint, sondern eher charakteristische kulturelle Gegenwartsphänomene, die dann vertieft betrachtet werden müssten: „118) w i r l e b e n i n e i n e r C u l t u r, w e l c h e a n d e n M i t t e l n d e r C u l t u r z u G r u n d e g e h t. / Aufhebung der Nationen – der europäische Mensch. / Enthaltung von Politik. / Beiseiteziehen der Talente. / Verachtung der Presse. / Religion und Kunst nur als Heilmittel. / Schlichtes Leben. / Geringschätzung der gesellschaftlichen
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 519–522, KSA 2, S. 323–324
889
Unterschiede. / Höheres Tribunal für die Wissenschaften. / Befreiung der Frauen. / Die Freundschaften – verschlungene Kreise. / Organisation der Oekonomie des Geistes. / Die Institutionen folgen den Meinungen von selbst.“
521. In MA I 521 wird eine scharfe Wendung gegen ein Verständnis menschlicher Größe vollzogen, das diese darin sieht, Schöpfer ihrer selbst zu sein. Vielmehr wird der Große mit einem Fluss verglichen, der von überall her gespeist wird (man könnte N.s Umgang mit seinen Quellen als Beispiel anführen, vgl. Sommer 2000b). Entscheidend sei nur, dass man die Richtung bestimme, in die all das Zusammengeflossene fließen solle. Zu MA I 521 gibt es in Mp XIV 1, 198 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne späteren Titel, dafür mit roter Markierung „S“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,198). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 65 diente als Vorarbeit und lautet: „Kein Strom ist durch sich selber gross: sondern dass er viele Nebenflüsse hat macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grössen des Geistes.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,65) 324, 13 G r ö s s e h e i s s t: R i c h t u n g - g e b e n] In Köselitz’ Druckmanuskript wird: „Grösse im Richtung-Angeben“ korrigiert zu „Grösse heisst: Richtung-Geben“. So steht es auch noch in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/375/). In der Erstausgabe steht dann: „G r ö s s e h e i s s t : R i c h t u n g - g e b e n“ (Nietzsche 1878, 337). Die Überschrift und der in Mp XIV 1, 198 hinzugefügte Schlusssatz 324, 16–19 stehen in einer gewissen Spannung zur Flussallegorie, denn ein großer Fluss gibt nicht selbst vor, wohin er fließt, sondern ist das Produkt seiner Zuflüsse, der kontingenten physikalischen, topographischen und meteorologischen Gegebenheiten. Vgl. zum Genie, das Richtung gibt, MA I 162, KSA 2, 152, 4–6. 324, 14 f. viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das macht ihn dazu] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „viele Nebenflüsse aufnimmt, das macht ihn dazu“ (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/375/).
522. Wer von seiner eigenen Menschheitsbedeutung überzeugt sei, nehme es nach MA I 522 mit bürgerlichen Tugenden wie Vertragstreue und Versprechenserfüllung nicht so ernst.
890
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 522 gibt es in Mp XIV 1, 338 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,338). In Köselitz’ Handschrift steht in M I 1, 46: „Menschen, welche einem höheren Ziele nachgehen, haben, in Bezug auf gemeine bürgerliche Rechtlichkeit, im Halten von Verträgen, Versprechungen häufig ein schwaches Gewissen.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,46) In N.s Handschrift heißt es schließlich in U II 5,197: „Ideale Menschen haben in der gemeinen bürgerlichen Rechtlichkeit, im Halten von Verträgen Versprechungen ein schwaches Gewissen.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,197) Ob N. hier an bestimmte Politiker oder an Richard Wagner denkt, verraten weder die Druckfassung noch die Vorstufen.
523. Es sei, so MA I 523, anmaßend, zu fordern, geliebt zu werden. Zu MA I 523 gibt es in Mp XIV 1, 336 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,336). Eine leicht abweichende Fassung findet sich in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 71: „Die Forderung, geliebt zu werden, ist die grösste Anmaassung.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I1,71) Die von N. niedergeschriebene Fassung in U II 5, 169 hat hingegen wie die ‚Reinschrift‘ und die Druckfassung „die grösste der Anmaassungen“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,169). Identisch damit ist schließlich das Bleistiftnotat in N II 1, 221 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,221).
524. In impliziter Anspielung auf die Selbstzweckformel von Kants Kategorischem Imperativ bucht es MA I 524 als Zeichen von Menschenverachtung ab, wenn man jeden anderen entweder nur als Mittel zu seinen eigenen Zwecken ansehe oder ihn gänzlich ausblende. Zu MA I 524 gibt es in Mp XIV 1, 182 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „S“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,182). Das beruht auf einer fast gleichlautenden Bleistiftnotiz in N II 2, 58 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,58). In Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt es: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (AA IV, 429; vgl. NK ÜK MA I 25) Gebraucht MA I 524 Kant als ein Mittel zu eigenen Zwecken?
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 522–527, KSA 2, S. 324
891
525. Nach MA I 525 kann es geradezu nützlich sein, wenn man Menschen gegen sich aufbringe, weil man damit sich auch eine Partei zu seinen eigenen Gunsten sichere – wohl, es wird nicht ausgeführt, diejenige, die prinzipiell gegen Oppositionen opponiere. Zu MA I 525 gibt es in Mp XIV 1, 332 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,332). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 4 findet sich eine abweichende Version: „Der Vortheil in der Feindseligkeit Anderer: – wer die Menschen zur Raserei und zum Wildsein gegen sich gebracht hat, hat sich auch immer eine Partei zu seinen Gunsten erworben.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,4) In U II 5, 187 findet sich dafür die von N. notierte Vorlage – wobei die Überschrift „Vortheil bei von feindseligen Parteien“ nachträglich mit Bleistift ergänzt worden ist (http://www.nietzschesource.org/DFGA/UII-5,187).
526. Denken, so legt MA I 526 es nahe, ziehe ab von den Erlebnissen und den Erinnerungen daran: Sachorientierte Vieldenker vergäßen ihre Erlebnisse, aber nicht die dadurch hervorgerufenen Gedanken. Zu MA I 526 gibt es in Mp XIV 1, 42 eine ‚Reinschrift‘ in hellblauer Tinte, von N. mit dunkler Tinte bereits mit der Überschrift „Erlebnisse vergessen“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,42). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 17 lautet: „Wer viel an Sachen denkt, vergisst seine eignen Erlebnisse; aber nicht seine Gedanken“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,17). In dieser Fassung ist noch deutlicher, dass hier das mit „Sachen“ beschäftigte Denken gemeint ist – während man „sachlich“ (325, 15) in der Druckversion als Synonym für ‚objektiv‘ missverstehen könnte.
527. Was in MA I 483 „Ueberzeugung“ heißt, wird in MA I 527 unter dem Stichwort der „Meinung“ gefasst: Mancher halte unerbittlich daran fest, weil er sie selbst gefunden zu haben wähnt, manch anderer, weil er sie unter Anstrengungen angeeignet hat. In beiden Fällen sei die „Eitelkeit“ (325, 22) das bestimmende Motiv. Dass es mitnichten um die Wahrheit oder die Wirklichkeitsangemessenheit einer Mei-
892
Menschliches, Allzumenschliches I
nung geht, wenn jemand sie aufrechterhält, muss nicht eigens explizit gemacht werden. Zu MA I 527 gibt es in Mp XIV 1, 73 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,73). Ein Notat in N II 2, 34 lautet: „Der Eine hält eine Meinung fest, weil er sich einbildet von selber auf sie gekommen zu sein, der Andere, weil er sie mit Mühe gelernt hat u. stolz ist sie begriffen zu haben, beide also aus Eitelkeit.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,34) Im Unterschied zu MA I 494 ist es also nicht die Kraft der Trägheit, die Meinungsbeharrlichkeit provoziert.
528. MA I 528 behauptet, wer eine gute Tat vollbringe, vermeide das Licht öffentlicher Wahrnehmung ebenso wie derjenige, der Übles tue: Letzterer fürchte den Schmerz der Strafe, ersterer hingegen die Verunreinigung seiner lauteren Lust, seines ungestörten Selbstgenusses bei seinem Tun durch die sich beigesellende Eitelkeit. Zu MA I 528 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand mit N.s starken Veränderungen in Mp XIV 1, 323, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,323). In U II 5, 58 hat N. notiert: „Die gute That scheut ebenso ängstlich das Licht als die böse That: diese fürchtet ˹den Schmerz˺ der Strafe, jene ˹den Verlust des inneren Glücks durch˺ die Befriedigung der Eitelkeit denn Eitelkeit ist das Scheidewasser, welches eine gute That, nachdem sie gethan ist, wegfrißt, als ob sie nie gethan wäre.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,58) Darauf beruht eine Fassung von Brenners Hand in Mp XIV 1, 256, die streng die Entgegensetzung von „Unlust“ und „Lust“ exerziert: „Die gute That scheut ebenso ängstlich das Licht als die böse That: diese fürchtet die Unlust der Strafe, jene das Verschwinden der ˹reinen˺ Lust, wenn eine Befriedigung der Eitelkeit durch Bekanntwerden der guten That hinzutritt.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,256) Diese Version hatte Brenner noch einmal abgeschrieben in Mp XIV 1, 323, bevor N. dort durch Korrekturen den endgültigen Text konstituierte, der insofern überrascht, als, obwohl doch sehr häufig im Gefolge der Moralistik von der Eitelkeitsbestimmtheit menschlichen Lebens, ja sogar vom „S e l b s t g e n u s s i n d e r E i t e l k e i t“ (MA I 545, KSA 2, 329, 6) die Rede ist, hier nun an einen Selbstgenuss gedacht wird, an den die Eitelkeit wie etwas Fremdes heranträte. Propagiert MA I 528 eine reine, uneitle Freude am Wohltun, einen sich selbst genießenden Altruismus, oder werden hier doch nur zwei Topoi, nämlich erstens, dass Verbrechen im Verborgenen geschehen, und zweitens, dass man – siehe Matthäus 6, 1–4 – nach neutestamentlicher Auffassung das Gute im Verborgenen tun solle, lustvoll miteinander kombiniert und ad absurdum geführt? Mit dem Kalkül von Schmerz und Lust operiert z. B. auch Rée 1877, 2 f.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 527–530, KSA 2, S. 324–326
893
325, 24 D a s L i c h t s c h e u e n] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 188 korrigiert aus: „Verborgen sein wollen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,188). 326, 2 f. Lust an sich selbst] Zu diesem Begriff ausführlich NK KSA 4, 238, 30–239, 2. Namentlich der N. spätestens seit 1865 bekannte (vgl. NL 1865, KGW I 4, 28[1], 50, 18) Karl Fortlage hat in seinem System der Psychologie als empirischer Wissenschaft (1855) behauptet: „Das Selbst ist an und für sich reine Lust.“ (Fortlage 1855, 1, 309) Fortlage zufolge werde bei der „Lust an sich selbst“ „der Eingriff der fremden Sache als ein Unbehagen empfunden“ (Fortlage 1855, 310). Genau dies würde für die „Eitelkeit“ (326, 4) gelten. Zum Selbstgenuss vgl. auch MA I 501, KSA 2, 320 u. MA I 545, KSA 2, 329.
529. MA I 529 ist eine Nebenbemerkung zur Phänomenologie der Zeit: Ihre Länge hänge von ihrer Ausgestaltung ab. Ein Tag könne „hundert Taschen“ (326, 7) haben, müsse man viel hineinstecken. Zu MA I 529 gibt es in Mp XIV 1, 344 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,344). Identisch ist der von N. notierte Wortlaut in U II 5, 42 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,42). 326, 6 D i e L ä n g e d e s T a g e s] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 188 aus: „Je nach der Erndte“ korrigiert in: „Die Länge des Tags“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,188). Auch in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht noch „Tags“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/376/); erst die Erstausgabe hat „Tages“ (Nietzsche 1878, 338).
530. Ein tyrannisch veranlagter Wille, sich durchzusetzen, könne, so MA I 530, jede noch so „geringe Begabung“ (326, 11 f.) kompensieren und sich zu einer „unwiderstehlichen Naturgewalt“ (326, 13) auswachsen. Zu MA I 530 gibt es in Mp XIV 1, 73 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „S“ und blauem Strich (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,73). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 37 liegt dem zugrunde (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,37). 326, 9 T y r a n n e n g e n i e] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 188 korrigiert aus: „Durchgreifender Charakter“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,188).
894
Menschliches, Allzumenschliches I
531. MA I 531 macht deutlich, dass derjenige, der von der Feindschaft „lebt“ (326, 15), darauf angewiesen ist, seinen Feind am Leben zu lassen. Zu MA I 531 gibt es in Mp XIV 1, 137 eine ‚Reinschrift‘, mit einer dann nicht benutzten Überschrift: „Der Feind muss leben bleiben“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,137). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 20 lautet: „Wer davon lebt einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, dass der Feind bestehen [?] bleibe“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,20).
532. MA I 532 handelt von Wahrnehmungsverzerrung, nämlich dem Bias, etwas Dunkles, Ungeklärtes für bedeutsamer zu halten als etwas Helles, Aufgeklärtes. Zu MA I 532 gibt es in Mp XIV 1, 11 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Titel, aber markiert mit blauem „S“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,11). NL 1876, KSA 8, 19[108], 356, 23–357, 2 ist ausführlicher: „Die d u n k l e S a c h e gilt als wichtiger gefährlicher als die helle. Die Angst wohnt im Innersten der menschlichen Phantasie. Die letzte Form des Religiösen besteht darin, daß man überhaupt dunkle unerklärliche Gebiete zugesteht; in diesen aber, meint man, müsse das Welträthsel stecken.“ MA I 532 kann sich darüber ausschweigen, dass diese beschriebene Wahrnehmungsverzerrung das Erfolgsrezept aller Romantik ist. Vgl. zur „Phantasie der Angst“ NK ÜK MA I 535. 326, 19 dunkle Sache] KGW u. KSA emendieren wie GoA nach Mp XIV 1, 11. In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 189 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,189) sowie in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht: „deutliche Sache“, dort mit einem „V“ am Rand zur Korrektur ausgewiesen (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/377/). In der Erstausgabe steht dann korrigiert: „undeutliche Sache“ (Nietzsche 1878, 339), wie es offensichtlich N.s letztem Eingriff entsprach.
533. Wenn jemand „uns“ zu Diensten sei, so bewerten „wir“ (326, 23) dies MA I 533 zufolge nach dem Maßstab, den der Dienstleistende anlegt, nicht nach unserem eigenen.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 531–535, KSA 2, S. 326
895
Zu MA I 533 gibt es in Mp XIV 1, 136 eine ‚Reinschrift‘ in heller Tinte, der N. die Überschrift mit dunkler Tinte nachträglich hinzugefügt hat (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,136). Als Faktenbehauptung ist MA I 533 wenig plausibel. Formuliert sie ein Sollen?
534. Beim Glück sei einem nach MA I 534 derart unbehaglich zumute, dass „man“ (327, 5) dagegen protestiere, werde es einem zugeschrieben, während man das „Unglück“ als „Auszeichnung“ (327, 2) begreife. Zu MA I 534 gibt es in Mp XIV 1, 129 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel und mit rotem „S“ markiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,129). In N II 2, 142 bildet ein Bleistiftnotat dafür die Vorlage (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,142). Wenn sich N. in MA I 534 in der Filiation antiken eudaimonistischen Philosophierens auf die Seite der Glücksbefürworter schlägt, werden damit glücksverachtende Deontologen ebenso zurückgewiesen wie tragikversessene Romantiker.
535. Nach MA I 535 scheint die von existenzieller Angst hervorgebrachte Einbildungskraft dazu angetan, die ohnehin niederdrückende Bürde des Ängstlichen noch erheblich zu vermehren. Zu MA I 535 gibt es in Mp XIV 1, 194 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „S“ markiert, noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,194). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 100 lautet: „Die Phantasie dieser Kobold von Affe, der dem Mensch. gerade dann noch auf den Rücken springt wenn er am schwerst – – –“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,100). Bemerkenswert ist, dass in der ursprünglichen Version noch keineswegs spezifisch von „Phantasie der Angst“ die Rede ist, sondern allgemein von Phantasie, die sich alles Mögliche ausdenken kann. Die Fügung „Phantasie der Angst“ kommt im 19. Jahrhundert gelegentlich in der Unterhaltungsliteratur vor (z. B. bei August Friedrich Ernst Langbein). Dass die Angst im Innersten der Phantasie wohne, behauptet auch NL 1876, KSA 8, 19[108], 356 f., zitiert in NK ÜK MA I 532. Der „Kobold von Affe“ von N II 2, 10 kehrt in Mp XIV 1, 194 wieder, dort auch bereits „böse“; der „äffische Kobold“ (327, 9) ist er erst in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 189 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,189). Seggern 2002, 275 sieht diesen Kobold in der Zwergen-Figur in Za III Vom Geist der Schwere, KSA 4, 241–245 wiederkehren.
896
Menschliches, Allzumenschliches I
536. Mitunter seien es, so MA I 536, die Gegner einer Sache, die dazu führten, dass man dieser Sache treu bleibe: Weil man deren Gegner eben so „abgeschmackt“ (327, 15) finde. Zu MA I 536 gibt es in Mp XIV 1, 128 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „S“, bereits mit der Überschrift „Werth abgeschmackter Gegner“ versehen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,128). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 82 lautet: „Man bleibt mitunter einer Sache nur treu, weil ihre Gegner gar zu abgeschmackt sind.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,82) Das adjektivisch gebrauchte, alte Perfektpartizip „des seltnen verbums abschmecken, den geschmack verlieren, widrig schmecken“ (Grimm 1854–1971, 1, 48) „abgeschmackt“ kommt hier zum ersten Mal in einem Werk N.s vor.
537. Schenkt man MA I 537 Glauben, so dient ein Beruf vor allem dazu, jemanden „gedankenlos“ (327, 17 f.) zu machen, ihn nämlich davon abzuhalten, „Bedenken und Sorgen allgemeiner Art“ (327, 19 f.) anzustellen. Zu MA I 537 gibt es in Mp XIV 1, 41 eine ‚Reinschrift‘, von N. nachträglich bereits mit der Überschrift der Druckfassung versehen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,41). In N II 3, 30 lautet ein vorbereitendes Bleistiftnotat: „Ein Beruf macht gedankenlos – das ist sein grösster Segen“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-3,30). N. könnte dies – siehe NK ÜK MA I 508 – im Juni 1877 während seines Aufenthalts in Rosenlauibad notiert haben. Damals beschäftigte N. die Frage seiner beruflichen Zukunft an der Universität und am Pädagogium in Basel, siehe z. B. N.s Brief an Overbeck vom 17. Juni 1877, KSB 5/KGB II 5, Nr. 646, S. 245, Z. 2–8. Immerhin hätte die in MA I 537 beschriebene Schutz- und Entlastungsfunktion des Berufslebens N. auch zum Verbleib im Basler Lehramt motivieren können, vgl. auch MA I 575, KSA 2, 334. 327, 18 f. Denn er ist eine Schutzwehr] In Mp XIV 1, 41 stattdessen: „Man hat eine Schutzwehr“.
538. Die Größe eines Talents werde gelegentlich zu gering veranschlagt, gibt MA I 538 zu bedenken, was daran liege, dass die Aufgabe, die sich der damit Begabte gestellt habe, einfach zu groß sei.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 536–539, KSA 2, S. 327
897
Zu MA I 538 gibt es zwei im Wortlaut identische ‚Reinschriften‘ in Mp XIV 1, 256 und in Mp XIV 1, 323, beide von der Hand Albert Brenners und beide wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,256 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,323). In U II 5, 58 heißt es ohne Einschränkung auf „manche[.]“ (327, 23): „Das Talent eines Menschen erscheint geringer als es ist, desshalb weil er sich immer zu grosse Aufgaben gestellt hat.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,58) Das klingt fast so, als wäre diese Selbstüberforderung die ausnahmslose Regel. Zum Talent MA I 263, KSA 2, 219 u. MA I 560, KSA 2, 332. 327, 23 T a l e n t] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 189 korrigiert aus: „Täuschung über das Talent“ zu „Das Talent“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ D-11,189). Bereits in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 ist der bestimmte Artikel entfallen (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/ 378/).
539. Jugend sei, so wird in MA I 539 pauschal beschieden, „unangenehm“ (328, 2), weil während dieser Zeit produktiv zu sein entweder unmöglich oder unvernünftig sei. Zu MA I 539 gibt es in Mp XIV 1, 337 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,337). Etwas ausführlicher begründet NL 1876, KSA 8, 18[42], 326, 1– 5 den Kasus: „130. Der Mensch ist dazu bestimmt entweder Vater oder Mutter zu sein, in irgend welchem Sinne. Ohne Productivität ist das Leben grässlich, desshalb mache ich mir aus der Jugend nichts, denn in ihr ist es nicht möglich oder nicht vernünftig, zu produciren.“ Dass das Leben ohne Produktivität sinnlos sei, führt dann NL 1876, KSA 8, 18[8], 316 weiter aus. Auch in U II 5, 173 ist der Gedanke nur leicht anders formuliert, wortgleich mit N II 1, 160: „Das Leben ist ohne Produktivität grässlich, desshalb mache ich mir aus der Jugend nichts.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,173 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,160; die Vater-Mutter-Analogie auch in U II 5, 171.) NL 1876, KSA 8, 19[66], 345, 24–27 passt, offensichtlich als Materialgruppierung zur Publikation, das Argument in ein Entwicklungsschema: „Ohne Produktivität unmöglich – also Freigeist. / Seufzer über frühere Jugend. / Vater oder Mutter. / Erzeugung des Genius. Mitte des Wegs.“ MA I 539 steht quer zur Vergötzung der Jugend und zur landläufigen Behauptung, diese sei so wundersam kreativ, bevor sie durch Zivilisierung verderbt werde.
898
Menschliches, Allzumenschliches I
540. MA I 540 legt Zurückhaltung bei der öffentlichen Kundgabe großer Ziele nahe. Denn müsse man einsehen, dass sie sich nicht verwirklichen lassen, fehle dann oft auch die „Kraft“ (328, 8), ihnen öffentlich abzuschwören, so dass man notgedrungen zum „Heuchler“ (328, 10) werde. Zu MA I 540 gibt es in Mp XIV 1, 182 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „S“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,182). In N II 2, 61 hat N. diese Überlegung bereits notiert (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,61). 328, 6 Z u g r o s s e Z i e l e] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 189 korrigiert aus: „Heuchler aus Nothdrang“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,189). 328, 8 hat gewöhnlich auch nicht Kraft genug] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit Bleistift korrigiert aus: „hat gewöhnlich auch noch nicht Kraft genug“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/378/).
541. „[S]tarke Geister“ (328, 13) wirkten nach MA I 541 wie starke Wasserströme, also flurbereinigend: Sie rissen ganz viel Minderwertiges mit sich. Zu MA I 541 gibt es in Mp XIV 1, 138 eine ‚Reinschrift‘ in blaßvioletter Tinte, die ursprünglich nur lautete: „Starke Wasser führen viel Gestein und Gestrüpp mit sich –“. Mit schwarzer Tinte hat N. daraus dann die schließlich publizierte Fassung erstellt und mit dem Titel „Fortgerissen“ versehen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,138), der im Druckmanuskript D 11, 189 nicht mehr erscheint (dort stattdessen schon: „Im Strome“ – http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,189). In N II 3, 23 hat N. mit Bleistift notiert: „Starke Wasser führen viel Gestein Gestrüpp im Bett mit sich“. (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II3,23). Der zweite Teil oder die Nutzung der Gewässer-Beobachtung als Analogie für die „starken Geister“ fehlt also in den ursprünglichen Textversionen. Bei der Ausführung der Analogie bleibt offen, ob die Dummen, die die „starken Geister“ mit sich fortrissen, von den Fluten verschlungen und beseitigt werden – oder aber, ob sie (wie im Falle Richard Wagners) ewig mitgeführt werden und an der Oberfläche bleiben.
542. MA I 542 evaluiert Risiken und Nebenwirkungen intellektueller Selbstbefreiung: Sie könnte „Leidenschaften und Begierden“ (328, 18) freisetzen.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 540–544, KSA 2, S. 328
899
Zu MA I 542 gibt es in Mp XIV 1, 121 eine ‚Reinschrift‘, in die N. den Titel „Gefahren der geistigen Befreiung“ nachträglich eingefügt hat (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,121). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 36 hat vor N.s Anpassungen an den dann in der ‚Reinschrift‘ dokumentierten Text gelautet: „Bei einer ernstl. geistigen Befreiung hoffen im Stillen auch seine Leidenschaften ihren Vortheil dabei zu ersehen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,36). Ob das mit den „Leidenschaften“ gut oder schlecht für den Verlauf der „Befreiung“ ist, steht dahin.
543. Nach MA I 543 prägen sich Denken und Klugheit nicht nur im Gesicht, sondern im ganzen Körper aus. Zu MA I 543 gibt es in Mp XIV 1, 341 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,341). In U II 5, 77 f. wird der Gedanke weitergeführt: „Wenn einer viel u klug denkt, so bekommt nicht nur sein Gesicht, sondern sein Körper ein kluges Aussehen. Aber sind nicht die Gelehrten als ungeschickt u. tölpelhaft bekannt? – So muß der Satz falsch sein. –“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ U-II-5,77 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,78) Im Tiefenhintergrund mag die N. durchaus bekannte Kritik Lichtenbergs an Lavaters Physiognomik gestanden haben (vgl. allgemein Stingelin 1996); die ironische reductio ad absurdum ist in der Vorstufe direkt ausgeführt, in der Druckfassung nur angedeutet. 328, 21 Ve r k ö r p e r u n g d e s G e i s t e s] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 189 korrigiert aus: „Körperliche Wirkung geistiger Regsamkeit“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,189).
544. Schlecht-Hören und Schlecht-Sehen unterscheiden sich laut MA I 544: Während der schlecht Sehende stets weniger sehe, höre der schlecht Hörende immer mehr, als tatsächlich gesagt wird. Zu MA I 544 gibt es in Mp XIV 1, 41 eine ‚Reinschrift‘, von N. nachträglich bereits mit der Überschrift der Druckfassung versehen: „Schlecht sehen u. schlecht hören / Wer wenig sieht, sieht immer weniger. Wer schlecht hört, hört immer einiges ˹noch˺ Schlechte dazu.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,41) Ein Bleistiftnotat in N II 3, 30 lautet lapidar: „Wer wenig sieht, sieht immer weniger.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,30) Man mag hier
900
Menschliches, Allzumenschliches I
eine ironische Anspielung auf Denis Diderots Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient (1749) heraushören, die anhand der Blinden herausstellen will, wie sehr Metaphysik und Moral von der jeweiligen Sinnesausstattung abhängen (vgl. zu Diderots paralleler Lettre sur les sourds et muets von 1751 auch NK KSA 1, 884, 18 f.). Diderot-Lektüre wurde wohl in Sorrent getrieben, siehe N. an Marie Baumgartner, 27. 01. 1877, KSB 5/KGB II 5, Nr. 590, S. 216, Z. 10.
545. MA I 545 stellt wieder einmal das moralistische Leib- und Magenthema der Eitelkeit ins Zentrum: Wirklich hervorragend sein wolle der Eitle gar nicht, sondern nur sich so fühlen, weswegen er auch vor keinem „Selbstbetrug[..]“ (329, 8) zurückschrecke. Überhaupt erscheint das Verhalten des Eitlen hochgradig selbstbezüglich: Ihn interessiere eigentlich nicht, was die andern meinten, „sondern seine Meinung von Deren Meinung“ (329, 9 f.). MA I 89 stellt das Gegenstück zu MA I 545 dar. Noch ohne das Reizwort der Eitelkeit prominent in den Vordergrund zu rücken, wird die Überlegung von MA I 545 vorweggenommen in NL 1876/77, KSA 8, 20[6], 362, 6–14: „Mancher will sich durch Lob, Bewunderung, Neid Anderer von seinem eignen Werthe überzeugen oder überreden; daran liegt ihm viel mehr als an allem Uebrigen und er gebraucht jedes Mittel, sogar das der Selbstüberlistung und Selbstberauschung. Ja er zieht es hundertmal vor, sich lieber zu bewundern als sich zu nützen und liebt sich viel mehr als ihm vortheilhaft ist. An ihm ist die Eitelkeit nur das Mittel der Selbstgefälligkeit. Er will nicht sowohl hervorragen als sich hervorragend fühlen, gleichgültig ob er es ist.“ Dazu gibt es eine Variante in U II 5, 81 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,81). Vgl. zu 20[6] auch NK ÜK MA I 89. 329, 6 S e l b s t g e n u s s i n d e r E i t e l k e i t] MA I 50 spricht vom „Selbstgenuss“ des Leidenden, der diesen in seiner Macht, anderen Schmerz zu bereiten, indem er ihr Mitleiden anstachelt, erfahre, vgl. NK 71, 7–12. Wenn MA I 545 demgegenüber Selbstgenuss, der an die „Freude an sich“ in MA I 501, KSA 2, 320, 21 und die „reine Lust an sich selbst“ in MA I 528, KSA 2, 326, 2 f. anschließt, mit der Eitelkeit assoziiert, dann erscheint der Eitle hier als ein Solipsist, der tatsächlich nur an sich selbst interessiert ist und also auch keine Mitwelt braucht, so dass er selbstgenügsam, autark in antikem Sinne wäre.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 544–547, KSA 2, S. 329
901
546. Im Unterschied zum habituell Eitlen in MA I 545 bedürfe der an sich Selbstgenügsame nur des lobenden und rühmenden Zuspruchs anderer, wenn er physisch leidet. Wenn er an sich nicht genug hat, sondern sich abhanden kommt, versucht er sich durch Rückversicherung bei anderen selbst zu vergewissern. Das läuft dann unter der Überschrift: „A u s n a h m s w e i s e e i t e l“ (329, 12). Zu MA I 546 gibt es in Mp XIV 1, 351 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne die spätere Überschrift und markiert mit rotem „S“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,351). Diese Fassung umfasst nur den ersten Satz von MA I 546, also 329, 12–14. Den zweiten Satz, 329, 14–16, hat N. eigenhändig in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 189 ergänzt (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,189). U II 5, 78 deckt ebenfalls nur den ersten Teil der späteren Druckversion ab: „Der für gewöhnl. Selbstgenügs. empfindet es wenn er eitel wird wie einen Krankheits-Anfall; er ärgert sich darüber, aber schämt sich nicht – In der That ist er besonders für Ruhm u. Lobsprüche empfänglich, wenn er körperlich krank ist.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,78) Praktiziert N. hier Fremd- oder Selbstbeobachtung? In NL 1876, KSA 8, 19[43], 341 u. NL 1876, KSA 8, 19[44], 341 wird die Eitelkeit von Selbstgenügsamen noch anders ausgeleuchtet. 329, 12 A u s n a h m s w e i s e e i t e l] Im Druckmanuskript D 11, 189 korrigiert aus: „Der Selbstgenugsame eitel“. 329, 12 f. Selbstgenügsame] KGW u. KSA ‚emendieren‘ hier nach der ‚Vorstufe‘ U II 5, 78, obwohl die ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 351, das Druckmanuskript D 11, 189, die Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601, die Erstausgabe (Nietzsche 1878, 341) sowie N.s Handexemplare unisono „Selbstgenugsame“ haben. Die ‚Emendation‘ steht auf dünner editorischer Grundlage.
547. Der habe keinen Geist, wer ihn suchen müsse, sagt MA I 547 lapidar. Zu MA I 547 gibt es in Mp XIV 1, 340 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,340). Eine Variante in U II 5, 75 lautet: „Man zeigt sich ˹immer˺ als geistlos wenn man den Geist sucht, wie der wahre Musiker eher der Musik entflieht, als ihr nachläuft.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,75) 329, 18 D i e „Ge i s t r e i c h e n“] Im Druckmanuskript D 11, 189 korrigiert aus: „Geistesarm“. Die Anführungszeichen signalisieren, dass es sich eben nicht wirklich um „Geistreiche“ handelt.
902
Menschliches, Allzumenschliches I
548. MA I 548 kommt als Rezept für Parteistrategen daher: Bringe man die Menschen dazu, sich öffentlich zu einer Sache zu bekennen, so habe man sie auch meist schon dazu motiviert, sich innerlich dieser Sache zuzuwenden, wollten sie doch als „consequent“ (329, 24) gelten. Zu MA I 548 gibt es in Mp XIV 1, 333 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,333). Mit Titel, allerdings nicht dem definitiven, und mit leichter Textabweichung heißt es in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen PflugscharManuskript M I 1, 5: „7. Werth öffentlicher Bekenntnisse: – Wenn man die Leute dazu treiben kann, sich öffentlich für Etwas zu erklären, so hat man sie meistens auch dazu gebracht, für sich und innerlich ˹sich˺ dafür zu erklären; sie wollen fürderhin als consequent erfunden werden.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,5) Mit geringfügigen Abweichungen findet sich der Text, von N. notiert, auch schon in U II 5, 191 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,191). Während in MA I und auch schon bei den französischen Moralisten häufig von der Diskrepanz zwischen innen und außen die Rede ist, wird hier die Kongruenz von beidem als natürliches menschliches Strebensziel behauptet – als ob die Leute ihre Inkonsequenz tatsächlich stören würde. 329, 21 W i n k f ü r P a r t e i h ä u p t e r] Im Druckmanuskript D 11, 189 korrigiert aus: „Consequent gemacht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,189).
549. Wer von anderen verachtet werde, empfinde dies, so MA I 549, „empfindlicher“ (330, 3), als wenn er sich selbst verachte. Genetisch bildet der spätere Text MA I 549 in den Aufzeichnungen U II 5, 200 und M I 1, 56 f. eine Einheit mit dem späteren Text MA I 117, vgl. NK ÜK MA I 117. Zu MA I 549 gibt es in Mp XIV 1, 339 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,339). Siehe auch NL 1876, KSA 8, 17[15], 299, 1 f.: „Wie kommt es, daß wir mehr von der Verachtung Anderer als von der eignen leiden? Sie ist uns schädlicher.“ 330, 2 Ve r a c h t u n g] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Fremde und eigene Verachtung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,190).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 548–551, KSA 2, S. 329–330
903
550. Nach MA I 550 trieben manche sklavischen Gemüter ihre Dankbarkeit bis zur Selbstaufgabe – bis „sie sich mit der Schnur der Dankbarkeit selbst erdrosseln“ (330, 7 f.). Zu MA I 550 gibt es in Mp XIV 1, 163 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „S“ markiert und noch ohne Überschrift. Ursprünglich stand dort statt „Erkenntlichkeit“ (330, 6) „Dankbarkeit“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,163). In NL 1877, KSA 8, 22[99], 398, 6 f. werden Perspektive und Material gewechselt: „Ich bin gewiss nicht undankbar, aber ich sehe keine Pflicht, mich mit dem Strick der Dankbarkeit zu erdrosseln.“ „Strick der Dankbarkeit“ oder wie dann im Drucktext „S c h n u r d e r D a n k b a r k e i t“ (330, 5) sind ironische Variationen zur altväterlichen Redewendung „Bande der Dankbarkeit“, die sich im 19. Jahrhundert einiger Beliebtheit erfreute. Übersetzt man die Bande in etwas modernere Terminologie, sind es Seile, Stricke oder Schnüre, die sich eben leicht zum Erhängen oder Erdrosseln eignen. 330, 5 S c h n u r d e r D a n k b a r k e i t] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Übertrieben dankbar“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,190).
551. Wolle man das künftige Verhalten von Durchschnittsmenschen voraussagen, ist nach MA I 551 die Annahme tunlich, sie würden den minimalst-möglichen intellektuellen Aufwand betreiben, um aus einer schwierigen Situation herauszukommen. Zu MA I 551 gibt es in Mp XIV 1, 335 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,335). Textidentisch ist bereits die Version in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 48 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/M-I-1,48). 330, 10 K u n s t g r i f f d e s P r o p h e t e n] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Zum Vorhersagen wie Menschen handeln werden“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,190). Vorhersagekunst wäre nach MA I 551 nur ein Verfahren geschickter Berechnung, die wahrscheinlichsten, nämlich geistfernsten Handlungsmuster herauszufinden. Wie genau man allerdings den Minimalaufwand an Geist feststellen kann, bleibt offen.
904
Menschliches, Allzumenschliches I
552. MA I 552 beschreibt in illusionslosem Ton die Alternative, entweder das „Herkömmliche[.]“ (530, 15 f.) aufzugeben und damit „das Opfer des Aussergewöhnlichen“ (530, 16) zu werden – was heißt das? –, oder aber beim Herkömmlichen zu verharren und damit sein Sklave zu bleiben. Man werde auf jeden Fall zugrunde gerichtet. Zu MA I 552 gibt es in Mp XIV 1, 334 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,334 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,335). Textidentisch ist auch die Version im Pflugschar-Manuskript M I 1, 45 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,45). In U II 5, 197 lautet N.s vorbereitendes Notat in leichter Variation: „Wer vom Herkömml. abweicht, ist das Opfer des Aussergewöhnl., wer im Herkömml. bleibt, ist der Sklave desselben; zu Grunde gerichtet wird man durch beides.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,197) 330, 15 D a s e i n z i g e M e n s c h e n r e c h t.] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Aussergewöhnlich oder herkömmlich lebend“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,190). Explizit über „Menschenrechte“ spricht N. nur sehr selten, vgl. NK KSA 5, 103, 14 f. In NL 1877, KSA 8, 25[1], 482, 18 f. notiert er: „Menschenrechte giebt es nicht.“ Nach MA I 552 besteht offenbar das „Menschenrecht“ nur darin, auf unterschiedliche Weise zugrunde zu gehen.
553. Mit einem wiehernden Lachen übertreffe der Mensch „alle Thiere durch seine Gemeinheit“ (330, 21), behauptet MA I 553. Zu MA I 553 gibt es in Mp XIV 1, 329 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,329). N. hat denselben Wortlaut schon in U II 5, 112 notiert (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,112). In U II 5, 111 lautet eine andere Fassung: „Ich kenne keinen thierischeren ˹widerlicheren˺ Überrest ursprünglicher Bestialität als ˹lautes u˺ wieherndes [Lachen] ˹Gelächter˺.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/UII-5,111) ‚Wieherndes Lachen‘ ist als Redewendung zu N.s Zeit verbreitet. 330, 20 U n t e r d a s T h i e r h i n a b] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Unthierischstes, gemeiner als das Thier“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,190).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 552–555, KSA 2, S. 330
905
554. Nach MA I 554 empfinde jemand, der eine Fremdsprache nur rudimentär beherrsche, „mehr Freude“ (330, 24) als der, der sie gut könne – vermutlich, weil er wesentlich auch um seine Mängel weiß. Der zweite und letzte Satz des Aphorismus muss nicht nur für Sprachkompetenz gelten: „Das Vergnügen ist bei den Halbwissenden.“ (330, 25) Zu MA I 554 gibt es in Mp XIV 1, 341 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,341). In U II 5, 77 wird der Gedanke weitergeführt: „74. Der welcher eine fremde Sprache wenig spricht, ˹hat mehr Freude daran˺, als der, welcher sie gut spricht. Denn er fühlt wie sehr er sich gegen die Alle, welche sie nicht verstehen, abhebt; jener merkt dagegen schon wie er mit denen, welche sie sehr gut sprechen, sich nicht vergleichen darf. – So steht es auch sonst; das Vergnügen ist bei den Halbwissenden.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,77) 330, 23 H a l b w i s s e n] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Vergnügen im Halbwissen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,190). Durch die Korrektur entsteht eine Titeldoppelung zu MA I 578, KSA 2, 335, 14, wo „Halbwissen“ schon der ursprüngliche Titel im Druckmanuskript war (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,191). Zum Begriff des Halbwissens siehe NK 335, 14.
555. Manche Menschen seien, so MA I 555, darauf aus, anderen das Leben schwer zu machen, um ihnen danach vermeintliche Heilmittel zur Lebenserleichterung, etwa ihr Christentum, schmackhaft zu machen. Zu MA I 555 gibt es in Mp XIV 1, 337 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,337). Eine andere Version findet sich in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 50, dort unter der Kapitelüberschrift „Das leichte Leben“: „102. Es giebt Leute, welche das Leben den Menschen erschweren wollen, aus keinem andern Grunde, als um ihnen hinterdrein ihre höchsten Recepte der Lebenskunst anzubieten.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,50) Das im 21. Jahrhundert auf N.s Spuren dann inflationär gebrauchte Wort „Lebenskunst“ (vgl. zum Konzeptionellen Gödde/Loukidelis/Zirfas 2016), das in N.s Werken nur in MA II VM 365, KSA 2, 524, 8 sowie in MA II WS 266, KSA 2, 667, 23 vorkommt, steht also in der Ursprungsfassung anstelle des Christentums. Das Motiv, dass das Christentum die Probleme erst schaffe, für die es eine Lösung zu sein beansprucht, kehrt noch in AC 62 wieder und wird dort generali-
906
Menschliches, Allzumenschliches I
siert, siehe NK KSA 6, 252, 19–22. Den Gedanken von MA I 555 etwas ausführlicher entwickelt NL 1876, KSA 8, 16[7], 288, 11–19: „Jeder Mensch hat seine R e c e p t e, um das Leben zu ertragen (theils es leicht zu erhalten, theils es leicht zu machen, wenn es einmal sich schwer gezeigt hat), auch der Verbrecher. Diese überall angewandte Lebenskunst ist zusammenzustellen. Zu erklären, was die Recepte der R e l i g i o n eigentlich zu Stande bringen. / Nicht das Leben zu e rleichtern sondern leicht zu nehmen. / Viele wollen es e r s c h w e r e n, um hinterdrein i h r e h ö c h s t e n R e c e p t e (Kunst Ascese usw.) anzubieten.“ Unmittelbar darauf beschwört NL 1876, KSA 8, 16[8], 288, 20 f. „‚d a s l e i c h t e L e b e n‘ / (ῥεῖα ζώοντες)“, offenbar als Kapitelüberschrift, wie dann im Pflugschar-Manuskript M I 1, 50, wobei die gelehrte Klammer die „θεοὶ ῥεῖα ζώοντες“, die ohne Mühe und Sorge lebenden Götter aus Homer: Ilias VI 138 u. Odyssee IV 805, aufruft. 331, 2 G e f ä h r l i c h e H ü l f b e r e i t s c h a f t] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Vermeintlich wohlwollend auf Umwegen“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,190).
556. Während gewöhnlich Fleiß und Gewissenhaftigkeit ein harmonisches Tugendpaar bilden, hält MA I 556 dagegen: Sie bildeten vielmehr einen Gegensatz, wolle der Fleißige doch vor der Reife ernten, der Gewissenhafte hingegen mit der Ernte so lange zuwarten, bis die Früchte verdorben sind. Zu MA I 556 gibt es in Mp XIV 1, 347 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift, markiert mit durchgestrichenem rotem „A“ und rotem „S“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,347 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,348). N.s Notat in U II 5, 69, das die Vorstufe bildet, operiert mit einem anderen Antagonismus: „98 Fleiss u Geist sind oftmals dadurch Antagonisten, dass der Fleiss die Früchte sauer vom Baume nehmen will, der Geist sie aber zu lange hängen lässt, bis sie herabfallen u sich zerschlagen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,69) Über dem ersten „Geist“ hat N. nachträglich „Gewissenhaftigkeit“ notiert, ohne aber „Geist“ an der ersten oder zweiten Stelle seines Auftretens zu streichen. Der behauptete Gegensatz ist also durchaus instabil und bei genau identischem Metaphernhaushalt austauschbar. 331, 8 F l e i s s u n d G e w i s s e n h a f t i g k e i t] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Fleiss und Gewissenhaftigkeit zugleich“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,190).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 555–558, KSA 2, S. 331
907
557. Aus Antipathie werde Verdacht, konstatiert MA I 557. Verdächtig mache man sich gegenüber demjenigen, den man ohnehin schon nicht möge. Verdacht funktioniert also als nachgeschobene, scheinbar rationale Begründung der eigenen Antipathie. Zu MA I 557 gibt es in Mp XIV 1, 326 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,326). Identisch ist der Wortlaut in N.s Aufzeichnung U II 5, 71 (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,71). 331, 14 Ve r d ä c h t i g e n] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Gegen Unbeliebte“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,190).
558. MA I 558 erinnert wieder einmal an die Kontingenzbedingtheit menschlichen Daseins: Manche warteten „ihr Leben lang“ (331, 18), um auf ihre eigene Weise gut sein zu können. Zu MA I 558 gibt es in Mp XIV 1, 343 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,343). Der jetzt sentenzenhaft verdichtete Satz steht in NL 1876, KSA 8, 19[37], 338, 19–339, 6 ganz am Ende einer längeren Überlegung zur Handlungslogik: „55. Moralität wird allein dadurch verbreitet, daß was den Intellekt aufhellt möglichst viel neue und höhere Möglichkeiten des Handelns kennen lehrt und damit eine Menge neuer Motive des Handelns zur Auswahl darbietet, sodann daß man Gelegenheiten giebt. Der Mensch wird von einem niederen Motiv sehr häufig nur deshalb ergriffen, weil er ein höheres nicht kannte, und er bleibt mittelmäßig und niedrig in seinen Handlungen, weil ihm keine Gelegenheit geboten wurde, seine größeren und reineren Instinkte hervorzukehren. – Viele Menschen warten ihr Lebenlang auf die Gelegenheit, auf i h r e Art gut zu sein.“ In dieser Version wäre es moralisch also geboten, den Menschen möglichst viele Möglichkeiten zu eröffnen, damit sie ihr Handlungsoptimum finden können – Aufklärung als Gestaltungsraumeröffnung. 331, 17 D i e U m s t ä n d e f e h l e n] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Unentschlossenste Saumseligkeit“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,190). 331, 18 auf die Gelegenheit] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 ist oberhalb der Zeile noch eingefügt: „und Umstände“. Die beiden Worte wurden nachträglich gestrichen.
908
Menschliches, Allzumenschliches I
559. Habe jemand keine Freunde, sei dies ein Indiz für „Neid oder Anmaassung“ (331, 21). Und mancher könne sich aus dem zufälligen Umstand glücklich schätzen, Freunde zu haben – nämlich, weil „er keinen Anlass zum Neide hat“ (331, 22 f.). Heißt das, dass seine Freunde ihm keinen solchen Anlass bieten, weil sie selbst in einer wenig beneidenswerten Situation sind? Zu MA I 559 gibt es in Mp XIV 1, 342 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift, markiert mit drei blauen Strichen (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,342). In U II 5, 53 ist eine ebenfalls von Brenner niedergeschriebene Version notiert, die N. eigenhändig zur ‚Reinschrift‘ hin korrigiert hat. Ursprünglich lautete sie: „Der Mangel von Freunden lässt auf Neid und Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur der glücklichen Gabe, Neid und Anmaassung versteckt zu halten.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,53) In dieser Fassung gründet die Freundschaft also auf der Kunst des Verbergens – die darin besteht, seinen wahren Charakter verhehlen zu können.
560. Es sei oft besser, ein Talent weniger als eines mehr zu haben, behauptet MA I 560 – weil dieses Mehr hier verunsichere. Freilich nennt der Aphorismus keine TalenteMinimalzahl, aber nimmt man ihn beim Wort, wäre am trittfestesten, wer nur ein einziges Talent besitzt. Er oder sie wäre keinen Augenblick verunsichert, in welche Richtung das eigene Leben gehen soll. Zu MA I 560 gibt es in Mp XIV 1, 326 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,326). Dies geht zurück auf N.s gleichlautende Aufzeichnung U II 5, 75 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,75). Ob N. an seine eigenen konkurrierenden dichterischen, philosophischen und musikalischen Talente dachte, steht dahin (zum Thema des Talents auch NK ÜK MA I 263 u. NK ÜK MA I 538). Am 10. 05. 1878 bedankt sich Paul Rée für die Zusendung von MA I u. a. mit den Worten: „Darf ich etwas unverschämt sein, so lassen Sie mich sagen: was sind Sie für ein Mensch, – eben nicht Ein Mensch, sondern ein Konglomerat von Menschen: während jeder Ihrer so verschieden angelegten Freunde sich quält, das Talent – das eine, welches er gerade hat – aufzustutzen und ihm Ansehen zu geben, und hierzu seine ganze Kraft gebraucht, haben Sie alle diese verschiedenen Talente theils besser, theils ebenso gut, wie jeder einzelne von den andern.“ (KGB II 6/2, Nr. 1066, S. 853, Z. 16– 23)
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 559–563, KSA 2, S. 331–332
909
332, 2 G e f a h r i n d e r V i e l h e i t] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Vorzug der Einengung“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,190).
561. MA I 561 erörtert die pragmatische Ökonomie des Beispiel-Gebens: Wer das wolle, solle „seiner Tugend“ (332, 7) ein wenig „Narrheit“ beimischen. Das Publikum ahme dann nach und könne sich zugleich über den halbwegs närrischen Nachgeahmten erhaben dünken. Zu MA I 561 gibt es wie schon zu MA I 560 in Mp XIV 1, 326 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,326). Dies geht zurück auf N.s Aufzeichnung U II 5, 71 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,71). In der von N. gelesenen Anthologie Altdeutscher Witz und Verstand findet sich von Paul Winkler der Spruch: „Der ist nicht ganz weise, der nicht einmal ein Narr sein kann.“ (Altdeutscher Witz 1877, 115). Zum Idiot als Exempel vgl. Sommer 2010d. 332, 7 einen Gran Narrheit] In U II 5, 71 stattdessen: „ein Gran Narrheit oder Schelmerei“.
562. Scheinbar gegen „uns“ (332, 12) gerichtete Verbalattacken seien nach MA I 562 häufig gar nicht gegen uns adressiert, sondern verdankten sich ganz anderen Ursachen. Zu MA I 562 gibt es in Mp XIV 1, 344 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,344). Ähnlich hat N. den Text schon in U II 5, 40 notiert (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,40). 332, 11 Z i e l s c h e i b e s e i n] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Irrthum über Lästerzungen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,190). 332, 13 f. aus ganz anderen Gründen] In U II 5, 40 stattdessen: „von ganz anderer Ursache“.
563. Ist einem die Erfüllung von Wünschen versagt geblieben, so helfe es, die Fähigkeit entwickelt zu haben, „die Vergangenheit zu verhässlichen“ (332, 17 f.).
910
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 563 gibt es in Mp XIV 1, 331 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift. N. hat mit eigenhändigen Korrekturen die Druckfassung konstituiert, ursprünglich lautete der von Brenner niedergeschriebene Text: „Man leidet wenig an versagten Wünschen, wenn man eine Phantasie hat, welche die Vergangenheit verhässlicht.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,331) Eine Bleistiftaufzeichnung N.s in N II 3, 2 lautet: „Menschen mit verhäßlichender Phantasie nach rückwärts“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-3,2). Die Negativierung der Vergangenheit, um sich von ihr frei zu machen, ist auch das Programm der „kritischen Historie“ in UB II HL. Das Motiv der Verhässlichung, das MA I 137, KSA 2, 131, 19 und ausführlicher MA I 247 (vgl. NK 206, 1–5) ebenfalls aufrufen, kehrt auch in N.s späteren Werken wieder, vgl. z. B. NK KSA 5, 156, 25–29 u. NK KSA 6, 242, 33–243, 2. 332, 16 L e i c h t r e s i g n i r t] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Gelassener durch entstellendes Erinnern“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,190).
564. Auch MA I 564 wäre für das Sechste Hauptstück über den „Menschen im Verkehr“ wortwörtlich und im übertragenen Sinne passend gewesen: Das Risiko, überfahren zu werden, sei gerade dann am größten, „wenn man eben einem Wagen ausgewichen ist“ (332, 21). Zu MA I 564 gibt es in Mp XIV 1, 344 f. eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, wie üblich ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,344 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,345). Die von N. in U II 5, 40 notierte Fassung lautet: „Wenn man eben einem Wagen ausgewichen ist, ist man am meisten in Gefahr von überfahren zu werden.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,40) Natürlich sind noch Pferdewagen in einem weitgehend unregulierten Verkehr gemeint. Die Unfallraten gerade in den Städten mit fatalem Ausgang waren damals sehr hoch: Beispielsweise für New York sind 1867 pro Woche durchschnittlich vier durch Pferdewagen getötete und 40 verletzte Fußgänger zu verzeichnen (Lay 1994, 150). Wohl zielt MA I 564 aber nicht auf die Verbesserung des Straßenverkehrs, sondern des allgemeinen zwischenmenschlichen Umgangs, für den das Gesagte in Analogie gilt: Ausweichmanöver können tödlich enden. 332, 20 I n G e f a h r] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 190 korrigiert aus: „Erhöhtes Aufmerken“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,190).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 563–566, KSA 2, S. 332
911
565. MA I 565 stellt eine Korrelation von Stimme und Aussage her – im ersten Satz im Blick auf die Lautstärke, dass nämlich derjenige, der lauter als üblich reden müsse, auch inhaltlich zu Übertreibungen neige; im zweiten Satz im Blick auf die natürliche Stimmdisposition, dass nämlich ein Flüsterer auch leicht zum Verschwörer und Ränkeschmied werde. Zu MA I 565 gibt es in Mp XIV 1, 211 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne Überschrift, mit rotem „S“ markiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,211). In N II 2, 50 ist mit Bleistift notiert: „Wer gezwungen ist lauter zu reden als er gezw gewohnt ist, übertreibt gew. die Dinge die er mittheilen will“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,50). MA I 565 kehrt das übliche Verständnis um, dass Stimmlage, -art und -lautstärke von der Aussage und dem Auszusagenden bestimmt werden. 332, 23 J e n a c h d e r S t i m m e d i e R o l l e.] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 191 lautete die Überschrift zunächst: „Nach der Stimme richtet sich die Rolle“. Dies wurde zunächst korrigiert in: „Die Stimme tyrannisirt die Rolle“. Schließlich wurde beides gestrichen und von Köselitz die neue Überschrift notiert (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,191). 332, 24 f. vor einem Halb-Tauben] In Mp XIV 1, 211 stattdessen: „vor einem Tauben“. Das „Halb-“ wurde erst nachträglich im Druckmanuskript D 11, 191 eingefügt.
566. In MA I 566 werden zwei gängige Redewendungen variiert und metaphorisch potenziert: Gemeinhin heißt es, Liebe mache und Haß sei blind. Sie seien aber nicht blind, sondern nur geblendet vom eigenen Feuer. MA I 566 operiert also mit einer Rückanwendung der für die Affekte Liebe und Hass allgemein gebräuchlichen Intensitätsmetapher, nämlich des Feuers, auf diese Affekte selbst, um die beiden Ursprungsmetaphern der Affektblindheit zu modifizieren. Das Resultat ist aber eigentlich dasselbe: Wer sich der (Tortur der) Blendung unterwerfen muss, erblindet. Zu MA I 566 gibt es in Mp XIV 1, 117 eine ‚Reinschrift‘, bereits mit dem Titel „Liebe u Hass“ und markiert mit rotem „S“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,117). In NL 1876/77, KSA 8, 21[40], 373, 1 heißt es: „Liebe und Hass blödsichtig einäugig, ebenso ‚Wille‘.“ Die Blindheit der Leidenschaften ist ein konstantes Thema bei La Rochefoucauld, worauf Winkler 2021a, 244 f. hinweist und zu MA I 566 bemerkt: „Hier wird mit der Figura etymologica ‚blind – geblen-
912
Menschliches, Allzumenschliches I
det‘ die Klischee-Metapher von der Blindheit der Leidenschaften geistreich nuanciert: Die Leidenschaften enthalten das Feuer, das Kultur ermöglicht (auch eine Anspielung auf den für die Aufklärung emblematischen Prometheus-Mythos)“ (ebd., 245). 333, 6 Feuer] In Mp XIV 1, 117 steht stattdessen: „Lichte“, darüber in Klammern „Feuer“.
567. MA I 567 gehört erneut zu den Texten über zwischenmenschliche Interaktion: Wer andere nicht von seinen Verdiensten überzeugen könne, suche sich Feinde, die dann dafür verantwortlich gemacht würden, dass die Würdigung ihrer Verdienste ausbleibe. Auch andere kämen zu diesem Schluss, was tatsächlich den Geltungsbedürftigen die ersehnte Anerkennung verschaffen könne. Zu MA I 567 gibt es in Mp XIV 1, 192 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „S“ markiert, noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,192). 333, 8 M i t Vo r t h e i l a n g e f e i n d e t] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 191 korrigiert aus: „Sich als Ketzer hinstellen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ D-11,191).
568. Das Institut der Beichte – im formalen oder im freieren Sinn – helfe dem Schuldigen zwar, seine Schuld zu vergessen. Derjenige, der die Beichte abnimmt, vergesse sie jedoch nicht. Zu MA I 568 gibt es in Mp XIV 1, 331 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,331). In dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 91 findet sich eine andere Version: „164. Die katholische Kirche hat, durch die Institution der Beichte, ein Ohr geschaffen, in welches man sein Geheimniss ohne gefährliche Folgen ausplaudern kann. Diess war eine grosse Erleichterung des Lebens, denn man vergisst seine Schuld von dem Augenblick an, wo man sie weitererzählt hat, aber gewöhnlich vergessen die Anderen sie nicht.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,92, ediert in NL 1876, KSA 8, 18[56], 330) Hier ist also explizit das katholische Bußsakrament als „Beichte“ adressiert, während die Druckfassung auch eine etwas offenere Deutung erlauben würde: „Beichte“ im alltagssprachlichen Sinn als Schuldeingeständnis gegenüber Dritten. Das Menschenbild der Beichtiger könnte
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 566–569, KSA 2, S. 333
913
angesichts der bei ihnen abgeladenen Schuld in beiden Fällen eingetrübt sein. Sie könnten ihr Wissen um die Schuld in erpresserischer und konspirativer Absicht einsetzen. Die Erleichterungsfunktion der Beichte gehört zur religiösen Topik, selbst bei einem protestantischen Theologen wie Martensen 1878, 371: Es „bietet sich eine Erleichterung in der Beichte, indem der Leidende sein Geheimniß in die Brust eines anderen Menschen niederlegt, mag dieses nun ein Diener der Kirche sein, oder ein treuer Freund.“ In NL 1883, KSA 10, 12[1] 71, 389, 8 f. hat N. den Gedanken von MA I 568 wieder aufgenommen: „Man vergißt seine Schuld, wenn man sie einem Anderen gebeichtet hat.“ Danach wurde gestrichen: „: aber wehe!, der Andere vergißt sie nicht“ (KGW VII 4/1, 220). Das wiederum bietet Köselitz Anlass, in der später von ihm verantworteten MA-Ausgabe den Wortlaut von MA I 568 wie folgt zu verändern: „Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern gebeichtet hat, aber wehe! der Andere vergisst sie nicht.“ (Zitiert nach Eichberg 2009, 123 u. 183.) 333, 15 B e i c h t e] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 191 korrigiert aus: „Seine Schuld vergessen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,191).
569. Der Selbstgenügsame sei zwar gegen Schläge gefeit, behauptet MA I 569, feine Stiche hingegen empfinde er schmerzlich. Zu MA I 569 gibt es in Mp XIV 1, 327 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,327). N.s Aufzeichnung in U II 5, 75 lautete ursprünglich: „Die Selbstgenügsamkeit schützt gegen Prügel, aber nicht gegen Nadelstiche“. „Das goldene Vliess“ wurde von ihm nachträglich eingefügt und der Artikel vor der „Selbstgenügsamkeit“ in das Genitiv-„der“ geändert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,75). 333, 19 f. Das goldene Vliess der Selbstgenügsamkeit] Mit „Selbstgenügsamkeit“ pflegt das Goldene Vlies der griechischen Mythologie nicht in Verbindung gebracht zu werden, N. tut es auch in seiner Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈I und II〉 nicht, wo er bei der Inhaltsübersicht zu Apollonios von Rhodos’ Argonautika auf die berühmte Trophäe, das Χρυσόμαλλον Δέρας, das Fell eines sprechenden und fliegenden goldenen Widders, zu sprechen kommt, das Iason in Kolchis rauben will (KGW II 5, 64 f.). Franz Grillparzer widmet dem Stoff 1819 die Dramen-Trilogie Das goldene Vließ. Der metaphorische Gebrauch in MA I 569 meint wohl, dass Selbstgenügsamkeit so schmückt wie das Goldene Vlies.
914
Menschliches, Allzumenschliches I
570. Sich selbst strahle „[d]ie Flamme“ (333, 23), so MA I 570, nie so „hell“ (333, 24) wie anderen – das soll namentlich für den „Weise[n]“ (333, 25) gelten. Wie zu MA I 569 findet sich auch zu MA I 570, das thematisch anschließt, in Mp XIV 1, 327 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Überschrift (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,327). Eine fast gleichlautende Aufzeichnung (dort „selbst“ statt „selber – 333, 24) von N.s Hand findet sich in U II 5, 89 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,89). Ein vorangehendes Bleistiftnotat in N II 1, 185 lässt die Nutzanwendung auf den „Weisen“ noch weg: „die Flamme ist sich selbst nicht so hell als den andern denen sie leuchtet“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,185). Vgl. zum Motiv der Flamme z. B. auch FW „Scherz, List und Rache“ 62 u. NK 3/2.1, S. 243–245. 333, 23 S c h a t t e n i n d e r F l a m m e] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 191 korrigiert aus: „Mit sich unzufrieden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,191).
571. Nach MA I 571 verstecken sich tatsächlich „[ e ] i g e n e M e i n u n g e n“ (334, 2) gut, jedenfalls lägen sie nicht offen zutage und fielen „uns“ (334, 3) nicht gleich auf Anhieb ein, wenn wir gefragt würden. Da lägen die Allerweltsmeinungen, die Meinungen des sozialen Kontextes viel näher. Zu MA I 571 gibt es in Mp XIV 1, 118 eine ‚Reinschrift‘, der N. die Überschrift „Eigene Meinungen“ nachträglich hinzugefügt hat (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,118). In N II 3, 81 lautet ein Bleistiftnotat: „Die erste Meinung welche uns einfällt ist gewöhnlich nicht unsere Meinung, sondern die landläufige / die eignen schwimmen nicht oben auf“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-3,81). Immerhin setzt MA I 571 voraus, dass es eine eigene Meinung überhaupt gibt, auch wenn es viel einfacher ist, innerhalb der jeweiligen Kommunikationssituation mit der dort vorherrschenden Meinung zu operieren – die eigene Meinung ist mühsam und aufwändig zu artikulieren. MA I 605, KSA 2, 344 rechnet ihre Kosten vor.
572. Nach MA I 572 ist Heldenmut Blindheit: Wer die Gefahr nicht sehe, dem falle es leicht, sich heldenhaft zu gerieren. Und der Held habe seine empfindlichste Stelle außer Sicht auf dem Rücken.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 570–573, KSA 2, S. 333–334
915
Zu MA I 572 gibt es in Mp XIV 1, 341 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,341). In U II 5, 75 stand zunächst nur: „80 die verwundbare Stelle hat der Held auf dem Rücken, also dort, wo er die ˹keine˺ Augen hat.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,75) Nachträglich hat N. zwischen den Zeilen in U II 5, 75 f. noch vorangestellt: „Der Gewöhnl. ist muthig u. unverwundbar wie ein Held wenn er die Gefahr nicht sieht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,75 u. http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,76). Bekanntlich soll Siegfried laut der Nibelungen-Sagen im Blut des von ihm erschlagenen Drachen gebadet haben, um unverletzlich zu werden, wobei ihm jedoch ein Lindenblatt auf den Rücken fiel, wo er fortan seine Schwachstelle hatte. Im Zweiten Aufzug von Richard Wagners Götterdämmerung schmieden Gunther, Brünnhilde und Hagen ihr Mordkomplott gegen Siegfried. Auf Hagens Frage, ob denn keine Waffe Siegfried schaden könnte, gibt Brünnhild zurück: „Im Kampfe nicht! – doch: – / träf’st du im Rücken ihn. / Niemals – das wußt’ ich – / wich’ er dem Feind, / nie reicht’ er ihm fliehend den Rücken: / an ihm d’rum spart’ ich den Segen“. Worauf Hagen erwidert: „Und dort trifft ihn mein Speer!“ (Wagner 1871–1873, 6, 326) 334, 8 H e r k u n f t d e s M u t h e s] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 191 korrigiert aus: „Der gewöhnliche Mensch und der Held“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,191). 334, 10 für sie keine Augen hat. Umgekehrt:] Von N. nachträglich in Brenners ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 341 eingetragen.
573. In MA I 573 erhält die topische Medizinkritik eine existenzielle Wendung: Der Patient muss passgenau für den Arzt, für ihn „geboren sein“ (334, 14 f.), um nicht an ihm zu sterben. Zu MA I 573 gibt es in Mp XIV 1, 329 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,329). N. hat denselben Wortlaut schon in U II 5, 103 notiert (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,103). Nach MA I 573 kann der Arzt also nur diejenigen kurieren, die auch zu seinen Fähigkeiten passen. Damit steht der Aphorismus dezidiert gegen das sich im 19. Jahrhundert etablierende, technisch-moderne Verständnis von Medizin, dem zufolge es um die apparativ-neutrale Applikation optimaler Heilmethoden geht und die applizierende Person keine Rolle spielt. Zur Medizinkritik und ihrer Tradition siehe auch NK ÜK MA I 306. Bei MA I 573 könnte es sich auch um eine spielerische Umwendung des bekannten Goethe-Zitats handeln:
916
Menschliches, Allzumenschliches I
„Man muß tüchtig geboren seyn, um ohne Kränklichkeit auf sein Inneres zurück zu gehen.“ (Goethe 1853–1858, 40, 403) 334, 14 G e f a h r i m A r z t e] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 191 korrigiert aus: „Beziehung zu seinem Arzt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,191).
574. Hatte MA I 573 noch eine wundersame Personalbeziehung zwischen Arzt und Patient für nötig erachtet, diagnostiziert MA I 574, man sei geneigt, an das Wundersame zu glauben, wenn es der eigenen Eitelkeit entgegenkommt, etwa, weil man sich selbst eine „Prophetengabe“ (334, 19) zuschreibt. Zu MA I 574 gibt es in Mp XIV 1, 68 eine ‚Reinschrift‘, mit dem nachträglich von N. hinzugefügten Titel „Wunderliche Eitelkeit“, markiert mit rotem „S“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,68). Im Notizheft N II 3, 45 hat N. mit Bleistift notiert: „Wer 3 mal mit Dreistigkeit das Wetter prophezeit hat und mit Erfolg, der glaubt ein bisschen an seine Prophetengabe.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-3,45) 334, 17–19 Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein Wenig an seine Prophetengabe.] Wie in MA I 111 (vgl. NK 115, 9–16) und MA I 449 (vgl. NK 291, 24–26) sowie in MA II WS 330, KSA 2, 697 dürfte im Hintergrund die Lektüre von Hermann Joseph Kleins Büchlein Die Wetterpropheten und die Wetterprophezeiungen gestanden haben, wo entsprechende Figuren, die an ihre eigene Wetterprophetengabe glauben, vorgeführt und der Lächerlichkeit preisgegeben werden. „Wenden wir uns nun zu den eigentlichen Wetterpropheten, den Leuten, die da ausrufen: ‚Seht her! wir sagen euch die Witterung voraus, für Morgen, für Uebermorgen, für alle Tag im Jahr, und im Schaltjahr auch für den 29. Februar!‘ und die sich ein Messingschild über die Thüre hängen mit der Aufschrift: ‚Hier wird Wetter vorhergesagt,‘ ähnlich wie andere ehrsame Leute sich über’s Haus schreiben: ‚Hier wird geschröpft und barbirt.‘ /32/ Nein, lieber Leser, das Letztere thun die Wetterpropheten nun zwar doch nicht; sie lassen sich kein Aushängeschild über die Thüre machen. Dieses Amt übernehmen gewisse Zeitungsblätter, deren Schreiber ebenso wenig von der Politik, wie von der Wissenschaft und ebenso viel von der Wissenschaft, wie von der Politik verstehen. Diese Leute gehen hin und schlagen Lärm über eine Sache, von der sie Nichts verstehen und von der überhaupt sie nur sprechen, weil sie ihren Lesern nichts Besseres aufzutischen wissen.“ (Klein 1865, 31 f.)
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 573–577, KSA 2, S. 334–335
917
575. Nach MA I 575 – einem der kürzesten Aphorismen im ganzen Werk – sei „[e]in Beruf“ „das Rückgrat des Lebens“ (334, 23). Zu MA I 575 gibt es in Mp XIV 1, 137 eine ‚Reinschrift‘, bereits mit der Überschrift „Berufe“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,137). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 20 ist textidentisch (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II3,20). N. ist gerade dabei, dieses „Rückgrat“ des Berufes aufzugeben, denn wie sich Brotberuf und Freigeisterei vertragen könnten, ist offen. Vgl. auch NK ÜK MA I 537.
576. Auch MA I 576 handelt nicht vom Menschen „mit sich allein“, sondern mit anderen, wenn der Abschnitt einem Einflussreichen dazu rät, jemanden, der stark unter diesem Einfluss steht, möglichst weite Freiheitsspielräume zu lassen, um ihn sich nicht zum späteren Feind zu machen. Offensichtlich besteht – ohne dass MA I 576 dies ausführte – eine akute Gefahr, dass man das Joch des starken Einflusses abschütteln will und sich dann resolut gegen den Einflussnehmer wendet. Zu MA I 576 gibt es in Mp XIV 1, 138 eine ‚Reinschrift‘, bereits mit der Überschrift „Gefahr persönlichen Einflusses“ versehen (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,138). In N II 3, 45 lautet ein Bleistiftnotat: „Personen auf welche man einen starken Einfluss ausübt, muss man gewähren lassen: sonst macht man sie sich unvermeidlich einmal zu Feinden“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-3,45). 335, 5 und selbst herbeiführen] Fehlt in Mp XIV 1, 138.
577. Der mit dem Nachleben in Anderen beschäftigte Abschnitt MA I 577 argumentiert, man solle sich, um selbstbegründetes „Grosses in selbstloser Gesinnung“ (335, 8 f.) weiterbestehen zu lassen, seine Erben „erziehen“ (335, 10), anstatt in ihnen Gegner zu sehen. Das soll nach der Überschrift wohl vor allem heißen: „E r b e n g e l t e n l a s s e n“ (335, 8). Zu MA I 577 gibt es in Mp XIV 1, 261 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,261) sowie eine textidentische Version in M I 1, 43 von Köselitz’ Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I1,43). Die von N. selbst in U II 5, 185 niedergeschriebene Fassung hat einen anderen
918
Menschliches, Allzumenschliches I
Wortlaut: „Wer etwas Edles unter Menschen gegründet hat, sorge dass er edle Erben habe; es ist das Zeichen einer tyrannischen u unedlen Natur, in allen möglichen Erben ˹seines Werkes˺ seine Gegner zu sehen u. um sich herum eine Einöde zu machen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,185) In der Druckfassung weicht die Aufforderungs- und Wunschversion „sorge“ im Konjunktiv der Zustandsbeschreibung „sorgt“ (335, 9) im Indikativ.
578. MA I 578 ist ein ironisches Lob des „Halbwissen[s]“ (335, 14), das erfolgreicher sei als „Ganzwissen“ (335, 15), denn es mache alles leichter fasslich. Zu MA I 578 gibt es in Mp XIV 1, 136 von N.s Hand eine ‚Reinschrift‘, der er die Überschrift nachträglich vorangestellt hat (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,136). Der Text steht wohl auch schon in der Bleistiftnotiz in N II 3, 84, wo allerdings das Blatt teilweise abgerissen ist (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/N-II-3,84). Das (Handlungs-)Subjekt in MA I 578 ist das Halbwissen. Ist es siegreich bei jenen, die es haben, oder bei jenen, die davon überzeugt, damit überredet werden? Vgl. MA I 597, KSA 2, 341, wo noch der Zweifel am eigenen Recht-Haben verunsichere und mit umso lautstärkerer Leidenschaft übertönt werde. 335, 14 H a l b w i s s e n.] In MA I 554, KSA 2, 330, 23 wird „Halbwissen“ im Druckmanuskript als Titelwort nachträglich eingetragen. Bei N. kommen das Wort „Halbwissen“ und seine Ableitungsformen „Halbwisser“ und „Halbwissende“ nur in MA I (nämlich noch in MA I 472, KSA 2, 307, 6 u. MA I 630, KSA 2, 356, 19: „halbwissenschaftlich“) sowie an vereinzelten Nachlassstellen 1876/77 vor. Das Kompositum „Halbwissen“ ist freilich lange vor N. belegt (beispielsweise bei Eichendorff und Lichtenberg), ebenso wie das Adjektiv „halbwissend“ (bei Goethe, siehe Grimm 1854–1971, 10, 221). N.s spezifische Präferenz für „Halbwissen“ Mitte der 1870er-Jahre ist vielleicht aber eher als eine Klassiker-Referenz das Echo auf eine publizistische Debatte, von der z. B. Virchow 1877, 13 berichtet und sich zugleich positioniert: „Ich scheue dabei auch gar nicht vor dem Vorwurfe zurück, der zu meinem Erstaunen […] in meinem preussischen Vaterlande grossen Rumor gemacht hat, vor dem Vorwurfe des H a l b w i s s e n s. Merkwürdigerweise hat eine unserer sogenannten liberalen Zeitungen die Frage aufgeworfen, ob nicht der grosse Schaden dieser Zeit und der Socialismus insbesondere auf der Ausbreitung des Halbwissens beruhe. In dieser Beziehung möchte ich doch […] constatiren, dass alles menschliche Wissen Stückwerk ist. Wir Alle, die wir uns Naturforscher nennen, besitzen nur Stücke von der Naturwissenschaft; keiner von uns kann hierhertreten und mit gleicher Berechtigung jede Disciplin vertreten und an einer
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 577–580, KSA 2, S. 335
919
Discussion in jeder Disciplin theilnehmen. Im Gegentheile, wir schätzen die einzelnen Gelehrten gerade deshalb so sehr, weil sie in einer gewissen einseitigen Richtung sich entwickelt haben. Auf anderen Gebieten befinden wir uns Alle im Halbwissen. Könnten wir nur dahinkommen, dieses Halbwissen mehr zu verbreiten […]. Viel weiter kommen wir ja auch nicht.“ 335, 15 Ganzwissen] In Mp XIV 1, 136 stattdessen: „ganze Wissen“.
579. Dass der viel und selbst Denkende sich nicht zum „Parteimann“ (335, 19) eigne, stellt MA I 579 plakativ heraus – nicht gerade eine überraschende Erkenntnis nach der bisherigen Freigeisterei-Werbung. Zu MA I 579 gibt es in Mp XIV 1, 138 eine ‚Reinschrift‘, von N. mit blassbrauner Tinte geschrieben, von ihm nachträglich mit dunkler Tinte um den Titel „Nicht geeignet zum Parteimann“ ergänzt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,138). In N II 3, 17 lautet eine vom späteren Drucktext nur geringfügig abweichende Bleistiftvorarbeit: „Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann / er denkt sich zu bald durch die Partei durch“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ N-II-3,17). Zum Parteienwesen vgl. auch MA I 73, KSA 2, 83, MA I 194, KSA 2, 165, MA I 298, KSA 2, 240 u. MA I 438, KSA 2, 285 f.
580. Es sei, so MA I 580, der Vorzug schlechten Erinnerungsvermögens, dass man immer wieder Gutes zum ersten Mal zu genießen wähne. Zu MA I 580 gibt es in Mp XIV 1, 334 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,334). Textidentisch, wenngleich nicht orthographisch identisch sind die Versionen im Pflugschar-Manuskript M I 1, 37 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MI-1,37) und in N.s Notat U II 5, 151 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,151). Das Vergessen als aktive, lebensermöglichende Kraft ist ein Motiv, das sich in UB II HL 1, KSA 1, 250 bereits abzeichnet und in GM II 1, KSA 5, 291 f. (vgl. NK 5/2, S. 223) weiter kulturanalytisch fruchtbar gemacht wird (siehe auch Sommer 2013b). Zum Thema Gedächtnis und Vergessen in MA I und MA II siehe Hughes 1998. 335, 22 S c h l e c h t e s G e d ä c h t n i s s] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 191 korrigiert aus: „Vortheil des schlechten Gedächtnisses“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/D-11,191).
920
Menschliches, Allzumenschliches I
335, 23 ist,] KSA u. KGW setzen das Komma nach dem Druckmanuskript D 11, 191, das auch in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/385/). Im Erstdruck ist es dann gestrichen (Nietzsche 1878, 347) und auch in N.s Handexemplaren C 4402 und C 4412[1] nicht wieder eingefügt.
581. Rücksichtsloses Denken ist nach MA I 581 ein Indiz für inneren Unfrieden, der betäubt werden wolle. Die Überschrift beschreibt den Weg: „S i c h S c h m e r z e n m a c h e n“ (336, 2). Zu MA I 581 gibt es in Mp XIV 1, 332 eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,332). In dem von Köselitz nach N.s Diktat niedergeschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 7 lautet eine ausführlichere Fassung: „12. Werth einer gedrückten Stimmung: – Menschen, welche unter einem inneren Drucke leben, neigen zu Ausschweifungen, – auch des Gedankens. Grausamkeit ist häufig ein Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt; ebenso eine gewisse grausame Rücksichtslosigkeit des Denkens.“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/M-I-1,7, ediert in NL 1876, KSA 8, 18[6], 315; dort „Druck“ statt „Drucke“.) Ob N. hier sich selbst oder jemanden in unmittelbarer Umgebung (z. B. Paul Rée) oder schließlich einen Überdenker wie Schopenhauer vor Augen hatte, steht dahin. N.s Freund Franz Overbeck hatte dem Kirchenvater Augustinus attestiert, nach „betäubende[m] Rausch“ zu gieren, siehe NK 118, 10 f.
582. Wer „Jünger eines Märtyrers“ (336, 6) sei, leide nach MA I 582 mehr als dieser selbst. Der Satz ist die Kontrafaktur der christlichen Auffassung, dass Jesus das Leiden dieser Welt gänzlich auf sich genommen habe und sein Leiden unendlich viel schwerer wiege als das von allen (zum Bedürfnis von Jesu Jüngern, dessen Leiden umzudeuten, siehe AC 40, KSA 6, 213 f.) Zu MA I 582 gibt es in Mp XIV 1, 337 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,337). Der Text geht zurück auf den letzten Satz eines von Heinrich Köselitz nach N.s Diktat niedergeschriebenen Aphorismus in M I 1, 49 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,49), der dann als MA I 46 seine Publikationsform findet und vom Mitleiden handelt, das gelegentlich stärker sei als das Leiden, vgl. NK ÜK MA I 46. Der
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 580–584, KSA 2, S. 335
921
letzte Teil dieses Satzes ist in MA I 46 dann entfallen und wird nun in MA I 582 wiederverwertet, vgl. NK 68, 21–25.
583. „Eitelkeit“ (336, 9) erscheint in MA I 583 als biographischer Atavismus, wenn Menschen von ihr befallen sind, die ihrer nicht mehr bedürften: Sie stamme noch aus einer Zeit, als diese Menschen noch nicht auf sich selbst vertrauen konnten und daher nach dem Applaus der anderen gierten. Zu MA I 583 gibt es in Mp XIV 1, 351 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne die spätere Überschrift und markiert mit rotem „A“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,351). In NL 1876, KSA 8, 19[45], 341, 6–12 heißt es: „73. Es läßt keinen Schluß auf die Begabung zu, ob jemand vorwiegend eitel oder selbstgenügsam ist: das größte Genie ist mitunter eitel gleich einem jungen Mädchen und wäre im Stande sich die Haare zu färben. Diese Eitelkeit ist vielleicht die übriggebliebene und großgewachsene Gewohnheit, aus der Zeit her, wo er noch kein Recht hatte, an sich zu glauben und diesen Glauben erst von anderen Menschen in kleinen Münzen einbettelte.“ Vgl. auch MA I 546, KSA 2, 329 u. im Kontrast MA I 593, KSA 2, 339.
584. MA I 584 gehört ins Feld der „C h e m i e d e r [ … ] E m p f i n d u n g e n“ (KSA 2, 23, 5), von denen MA I 1 gehandelt hat: Der Abschnitt stellt die Entwicklung eines starken Affekts wie Zorn oder Liebe als ein sich füllendes Gefäß dar, das freilich erst überlaufe und sich manifestiere, wenn ein „Wille zur Leidenschaft“ (336, 19) hinzukomme. Zu MA I 584 gibt es in Mp XIV 1, 292 f. eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, markiert mit rotem „A“ und noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,292 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,293). Mit geringen Abweichungen findet sich der Text in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 95 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-I-1,95). Er geht auf ein Notat in U II 5, 119 zurück, das lautet: „Wer in Zorn geräth, in Leidenschaft der Liebe entbrennt, erreicht einen Punct, wo das Gefäss voll ist: aber ein Wassertropfen des Willens der Leidenschaft muss noch hinzu kommen, dann läuft das Gefäss über.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/U-II-5,119) Aus dem „Willen der Leidenschaft“ wird in den Fassungen ab M I 1, 95 ein „Wille zur Leidenschaft“, der in FW 105 wiederkehrt, siehe NK KSA 3,
922
Menschliches, Allzumenschliches I
462, 31–33. Die Suggestion von MA I 584 ist die einer Kontrollierbarkeit der Affekte, einer willentlichen Kontrollinstanz, die offenbar vom in MA I früher beschriebenen, strengen psychophysischen Determinismus ausgenommen ist. 336, 15 P u n c t u m s a l i e n s] Lateinisch, „der Hüpfpunkt, Brüt oder Thierpunkt (in Eiern); Lebenspunkt, Hauptpunkt (von dem nämlich alles abhängt“ (Petri 1861, 647). N. benutzt den „springenden Punkt“ in der lateinischen Originalversion nur hier – Schopenhauer tut es öfters (vgl. z. B. NK KSA 1, 293, 2–3).
585. Der erste Teil von MA I 585 bis zum Gedankenstrich in 337, 2 behauptet, die Menschen müssten wie Kohlemeiler ausgeglüht sein – ihrer jugendlichen Leidenschaften entledigt –, bevor sie nützlich werden können. Der zweite Teil fragt hingegen, wozu das alles gut sei: Zwar verwende „[d]ie Menschheit“ (337, 2) das Menschenmaterial „zum Heizen ihrer grossen Maschinen“ (337, 3), aber weshalb und zu welchem Zwecke, wenn doch die Menschheit selbst nichts weiter sei, als die Summe all der Einzelnen, die da verheizt werden? Es frage sich, ob die Maschinen also Selbstzweck seien. Zu MA I 585 gibt es in Mp XIV 1, 184 eine ‚Reinschrift, noch ohne Titel, markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,184). Ein vorbereitendes Bleistiftnotat N II 2, 141 lautet: „Es ist wie bei den Meilern im Walde: erst wenn wir ausgeglüht haben, verkohlt sind, werden wir nützlich. So lange es dampft u. raucht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,141). MA I 585 scheint es auf eine Fundamentalkritik am machinalen Dasein der Menschen (zur Maschinenmetapher NK 297, 10 f.) in der Gegenwart und damit an kapitalistischen Produktionsformen abgesehen zu haben (zur natürlichen menschlichen Thermik ohne Verkohlung siehe aber MA I 604, KSA 2, 343, zum Durchglühen der „wir“ MA I 637, KSA 2, 362). 336, 23 mit den Menschen] In Mp XIV 1, 184 nachträglich eingefügt. 337, 2 f. jeden Einzelnen als Material] In Mp XIV 1, 184 korrigiert aus: „jeden Einzelnen als Werkzeug, Mittel, Material“. 337, 6 umana commedia] In Mp XIV 1, 184 korrigiert aus: „humana comoedia“. Honoré de Balzac hat bekanntlich sein gewaltiges Romanpanorama der Gegenwartsgesellschaft 1842 als La Comédie humaine betitelt, in Anspielung auf Dante Alighieris Divina Commedia. Der Wechsel von der lateinischen zur italienischen Form in Mp XIV 1, 184 sollte seinerseits den Dante-Bezug noch deutlicher machen, zumal sich die irdische Welt, in der die Menschen verheizt werden, als womöglich
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 584–586, KSA 2, S. 336–337
923
noch höllischer darstellt als Dantes Inferno. Vgl. NK 180, 20 sowie NL 1885/86, KGW IX 2, N VII 2, 75, 16, wo die lateinische Form wiederkehrt.
586. In MA I 586 wird eine Philosophie des Kairos skizziert, wonach es einzelne herausgehobene, glückende Augenblicke des Daseins sind, die höchste Bedeutung haben, während alle anderen Augenblicke quasi als Begleit- und Echomusik dahinplätschern. „[V]iele Menschen“ (337, 14) würden solcher kairotischen Augenblicke gar nie teilhaftig. Zu MA I 586 gibt es in Mp XIV 1, 263 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Überschrift. Diese Version reicht nur bis „ganz zum Herzen“ in 337, 13 des späteren Drucktextes (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,263); den Schluss des Textes 337, 13–16 und damit auch die Polemik gegen diejenigen, die „jene Momente gar nicht“ haben (337, 14), hat N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 192 eingetragen (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,192). Die Version im Pflugschar-Manuskript M I 1, 41 von Köselitz’ Hand lautet: „Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns die Schattenbilder jener Momente umgeben. Der Frühling, jede schöne Melodie, alles redet nur Ein Mal ganz zum Herzen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,41) Die von N. in U II 5, 173 notierte Version lautet: „Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit; der erste Frühling, die Melodie, alles spricht nur einmal ganz zum Herzen. Alles Übrige ist Intervall, Schattenbild.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,173) In U II 5, 178 schließlich heißt es: „Einzelne Erlebnisse zb. der Frühling, eine Melodie haben nur einmal im Leben die volle Bedeutsamkeit – alles andere ist Wiederholung, oft nur Schattenbild.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,178) MA I 586 dient D’Iorio 2020, 107 als Ausgangspunkt für seine Überlegungen zum Begriff der Epiphanie(n). 337, 8 Vo m S t u n d e n z e i g e r d e s L e b e n s.] Von N. nachträglich ins Druckmanuskript D 11, 192 eingetragen. Die Wendung ist übrigens keine Erfindung N.s, sondern findet sich schon beim katholischen Wunderheiler und Bischof Alexander zu Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst (1794–1849), und zwar anlässlich der beredten Geißelung des irdischen statt gottseligen Lebenswandels angeblicher Christen: „Der Geist sieht zwar wohl auch diesen äußerlichen Stundenzeiger des Lebens; doch er selbst weist bei dem Anblick alles Vergänglichen auf eine Ewigkeit hin, für die allein er erschaffen ward.“ (Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst 1839, 89) In MA I 586 ist offenbar gedacht, dass die herausgehobenen einzelnen Augenblicke eine Stundenschlagfunktion im Leben haben sollen – dem
924
Menschliches, Allzumenschliches I
Erlebenden sagen, was es nun geschlagen hat. Skowron 2017 nimmt die Titelmetapher von MA I 586 zum Ausgangspunkt von Überlegungen zur Ewigen Wiederkunft. 337, 10 besten Falls] Von N. im Druckmanuskript D 11, 192 korrigiert aus: „höchstens“. 337, 11 f. Die Liebe, der Frühling] „Die Liebe“ hat N. nachträglich ins Druckmanuskript D 11, 192 eingefügt; sie stand ursprünglich nach der „Melodie“ (337, 12). In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht: „Die Lieben der Frühling“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/386/). N. hat am Rand einen Strich mit Bleistift zur Korrekturmarkierung angebracht. 337, 12 der Mond, das Meer] Von N. nachträglich ins Druckmanuskript D 11, 192 eingefügt. 337, 13 f. Alles redet nur einmal ganz zum Herzen: wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht: „Alles redet nur einmal ganz von Herzen: wenn es überhaupt ja ganz zu Worte.“ (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/386/) N. hat am Rand Striche mit Bleistift zur Korrekturmarkierung angebracht.
587. „Wir“ (337, 18) sind nach MA I 587 gerne geneigt, in einer „Richtung“, „Partei oder Zeit“ (337, 19) das Minderwertige zu sehen und sie dann in Bausch und Bogen zu verdammen, anstatt die starken Seiten zu sehen und die dann noch zu stärken. Zu MA I 587 gibt es in Mp XIV 1, 28 eine ‚Reinschrift‘, ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“. In dieser Fassung folgte am Ende nach dem Satz, der mit „zu verleugnen“ (337, 29 im Drucktext) endet, ein von N. schließlich gestrichener Passus: „So habe ich alles Recht zu meiner Kritik des Bildungsphilisters u. der historischen Krankheit: aber besser wäre es, deshalb die moderne Welt zu fördern, sie nicht im Stich zu lassen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,28) Dieser direkte Bezug auf UB I DS und UB II HL entfällt in der Druckfassung ebenso wie die Selbstermahnung, an der „modernen Welt“ aktiv gestaltend teilzuhaben. Montinari nimmt auf diese von ihm entdeckte Passage Bezug in seinem Brief an Delio Cantimori vom 19. 08. 1963, ediert in Campioni 2007, 67. 337, 18 A n g r e i f e n o d e r e i n g r e i f e n] Im Druckmanuskript D 11, 192 korrigiert aus: „Angreifen und eingreifen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D11,192).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 586–588, KSA 2, S. 337–338
925
337, 21 f. „Fehler ihrer Tugenden“] KGW IV 4, 236 verweist, ohne genauen Nachweis, als Quelle auf George Sand: „chacun a les défauts de ses vertus“. Dieser Bezug scheint aber keineswegs zwingend; die Wendung „Fehler ihrer Tugenden“ ist auf Deutsch im 19. Jahrhundert ziemlich verbreitet und lässt sich beispielsweise bei Emil Du Bois-Reymond, Julius Frauenstädt, Carl Justi oder im Staats-Lexikon von Karl von Rotteck und Karl Welcker belegen. 337, 28 in seiner Unvollkommenheit] In Mp XIV 1, 28 von N. korrigiert aus: „als unvollkommen“.
588. MA I 588 widmet sich der Bescheidenheit und stellt heraus, dass die „wahre“ (338, 2) in der Einsicht liege, dass „wir“ uns nicht selbst erschaffen haben – Stichwort: „völlige[.] Unverantwortlichkeit“ (338, 5; vgl. NK ÜK MA I 17 u. ö.) –, während der (vermeintlich) Große oft unbescheiden agiere, weil er seine Kraft erst in der Gewaltausübung spüre, was einen „Mangel an sicherem Gefühl der Kraft“ (338, 10 f.) anzeigen könne. Die Klugheit rate entsprechend von Unbescheidenheit ab. Zu Beginn der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 34 steht der Satz „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden – das ist der Lauf der Welt ˹Sinn der gewöhnlichen Bescheidenheit˺“, der dann insgesamt durchgestrichen wurde. Danach geht es mit „Trotzdem giebt es“ weiter (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,34) und dem Text, der im Druck in 338, 2–11 folgt. Der gestrichene Eingangssatz wurde dann zu einem eigenständigen Abschnitt, nämlich MA I 87, vgl. NK 87, 17 f. u. NL 1876/77, KSA 8, 21[52], 374. In Mp XIV 1, 114 gibt es eine weitere Fassung in Mp XIV 1, 114, ebenfalls ohne Überschrift, markiert mit rotem „A“. In dieser Fassung steht statt des späteren Drucktextes 388, 10–13: „Diese Unart macht häufig die M. an seiner Grösse zweifeln, weil es [?] eben ˹zu unverhohlen [?] scheint dass ihm˺ ein sicheres Gefühl der Kraft und Macht fehlt.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,114) 338, 3 unsere eigenen Werke] In Mp XIV 1, 34 u. Mp XIV 1, 114 stattdessen: „unser eigenes Werk“. 338, 6–10 Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht, insofern er seine Kraft fühlt, sondern weil er seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es aushalten.] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand, dem Druckmanuskript D 11, 193 folgend: „Uebrigens hasst man nicht, dass der Grosse seine Kraft fühlt, sondern dass er seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es aushalten.“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/387/) N. hat das mit Tinte korrigiert
926
Menschliches, Allzumenschliches I
in: „Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht, weil er seine Kraft fühlt, sondern weil er seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es aushalten.“ In der Erstausgabe ist dann das erste „weil“ durch ein „insofern“ ersetzt (Nietzsche 1878, 349). Das „erfahren“ in 338, 8 ist in Mp XIV 1, 114 unterstrichen.
589. MA I 589 gibt eine Tageslosung aus, wonach man jeweils „beim Erwachen“ (338, 16) darauf sinnen sollte, „wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude“ (338, 17 f.) zu bereiten. Das könne an die Stelle des Gebets treten und hätte immerhin positive Effekte für die Mitmenschen. Die erste Spur des wenig aufregenden Gedankens findet sich in N.s Brief an Malwida von Meysenbug, geschrieben kurz nach dem 20. 03. 1875, der um das Thema der Freundschaft kreist und in dem N. zunächst berichtet, dass ihm ein „hiesiger Patrizier“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 436, S. 36, Z. 47), nämlich Adolf VischerSarasin, ein Originalblatt von Albrecht Dürers berühmtem Kupferstich Ritter, Tod und Teufel (vgl. z. B. NK KSA 5, 345, 17 f.) geschenkt habe, was N. wie folgt kommentiert: „So Gutes erlebe ich. Ich wünschte ich könnte andern Menschen täglich etwas Gutes erweisen. Diesen Herbst nahm ich’s mir vor, jeden Morgen damit zu beginnen, dass ich mich fragte: Giebt es Keinen, dem Du heute etwas zu Gute thun könntest? Mitunter glückt es etwas zu finden. Mit meinen Schriften mache ich zu vielen Menschen Verdruss, als dass ich nicht versuchen müsste, es irgend wodurch wieder gut zu machen.“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 436, S. 36, Z. 54–60) Daran schließen sich Notate an wie NL 1876, KSA 8, 16[13], 290, 5: „Jeden Tag eine Freude machen – ‚Freund‘.“ (vgl. NL 1876, KSA 8, 19[9], 333, zitiert in NK ÜK MA I 499) Schon durchformuliert ist der Gedanke dann in U II 5, 107, dort allerdings mit einem abweichenden Schlusssatz, vgl. NK 338, 18–20. Eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „A“, ist in Mp XIV 1, 349 überliefert. Als Aphorismus krankt MA I 589 daran, dass ihm der Haken, der Widerhaken fehlt – entsprechend konnte sich die Benediktinerabtei Maria Laach seiner ungeniert bedienen, wie eine dort produzierte, moderne Postkarte zeigt, siehe Mortzfeld 2019, 260 – wenn auch unter Weglassen von 338, 18–20. Vgl. auch Ponton 2015, § 18 u. 31. 338, 18–20 Wenn diess als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vortheil bei dieser Aenderung.] In U II 5, 107 stattdessen: „Zugleich ein Ersatz gegen˹für˺ die religiöse Gewöhnung
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 588–591, KSA 2, S. 338
927
des Gebetes, bei dem die ˹Mit˺Menschen ˹den˺ Gewinn haben.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,107) In Mp XIV 1, 349 lautet der letzte Halbsatz: „so hätten die Mitmenschen den Vortheil von dieser Aenderung“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,349). Die Korrekturen von „den“ in „einen“ und von „von“ zu „bei“ erfolgten im Druckmanuskript D 11, 193 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/D-11,193).
590. Die Vorstellung, dass ein Unglück, ein Mangel oder ein Leiden entweder eine Prüfung oder eine Strafe für frühere Verfehlungen sei, erscheint in MA I 590 als eine „A n m a a s s u n g“ (338, 22), als eine Überhebung über seine Mitmenschen: Der „stolze Sünder“ (338, 28) sei unter Christen weit verbreitet. Zu MA I 590 gibt es in Mp XIV 1, 89 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ und blauem „x“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,89). Ein Notat in N II 2, 7 lautet: „Man legt sein Unglück, seine intellek. Mängel, sein Laster sich so zurecht legt, dass man hierin ein Schicksal sieht oder eine Rache für Vergangenes oder eine Prüfung, dann macht man sich selber dadurch interessant u. erhebt sich über die Mitmenschen.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,7) 338, 23 f. seine Krankheit] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht wie im Druckmanuskript D 11, 193: „sein Laster“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,193 bzw. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/16487500 28/387/ u. https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/388/). N. hat das mit zwei Randstrichen zur Korrektur markiert. 338, 28 f. Der stolze Sünder ist eine bekannte Figur in allen kirchlichen Secten.] N. dürfte beispielsweise das lutherische Kirchenlied Zürne nicht auf stolze Sünder (eine Adaption von Psalm 37) von Johann Adam Lehmus bekannt gewesen sein. Tatsächlich ist das Motiv des „stolzen Sünders“ als Schreckbild interkonfessionell geläufig; es dürfte N. auch bei der Lektüre von Ludwig Tiecks Cervantes-Übersetzung untergekommen sein (Cervantes 1860, 2, 311).
591. In MA I 591 kommt die Nähe von Glück und Unglück zur Sprache, und zwar in einer Analogisierung von Unglück mit Vulkanen und Glück mit auf vulkanischem Boden angelegten Gärten. Das suggeriert erstens, dass das Leiden vor allem etwas
928
Menschliches, Allzumenschliches I
Plötzlich-Ingressives ist, eben wie ein Vulkanausbruch, und zweitens, dass das Glück nur in davon abgeleiteter Form vorkommt, sei es als Erkenntnisglück, als Resignationsglück oder als Überwindungsglück – und zwar je näher am Unglück, desto intensiver. Dennoch erwachse aus dem möglichen Glück keine Rechtfertigung des Leidens – eine Pathodizee wird abgewiesen. Zu MA I 591 gibt es eine ‚Reinschrift‘ von Köselitz’ Hand in M I 1, 56, also im Diktatmanuskript der Pflugschar, mit grundlegenden Korrekturen von N.s Hand, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“. Die ursprünglich von Köselitz niedergeschriebene Version lautet: „Das Wehe in der Welt hat die Menschen veranlasst, daraus sich noch eine Art Glück zu saugen; ob man das Leben mit dem Blicke Dessen betrachtet, der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt und resignirt, oder Dessen, der ruht, – überall wird er auch ein wenig Glück mit aufgesprosst finden, nur wäre es lächerlich, zu sagen, dass mit diesem Glück das Leiden selbst gerechtfertigt sei.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/M-I-1,56) In der ursprünglichen Fassung fehlt also die Leitmetaphorik des späteren Textes mit den Vulkanausbrüchen, die wenigstens kurzzeitig für das Glück fruchtbaren Boden bereiten, noch vollständig (dass vulkanische Böden fruchtbar sind, dürfte N. spätestens mit dem Sorrent-Aufenthalt in der Nähe des Vesuvs unmittelbar vor Augen gestanden haben). Zum Thema von M I 1, 56 siehe hingegen NK ÜK MA I 292, zum Glück und zur Philosophie auch NK ÜK MA I 7. Die in der Schlusswendung von MA I 591 (339, 9–11) formulierte Zurückweisung aller Pathodizee – kein (flüchtiges) Glück kann je das Leiden rechtfertigen – erinnert an Schopenhauers Abweisung aller Theodizee- und Kosmodizeebemühungen (vgl. z. B. NK ÜK MA I 33; prominent wird die Frage nach der Sinngebung des Leidens dann in GM III). MA I 591 scheint der einzige Abschnitt in MA I zu sein, wo überhaupt von „gerechtfertigt“ die Rede ist. „Rechtfertigung“ kommt gar nicht vor – sehr im Unterschied zu GT und UB II–IV wo das sehr protestantische Vokabular der Rechtfertigung sehr oft bemüht wird. Das Rechtfertigungsproblem, das GT von Luther, von Schopenhauer und von Wagner her in Bann geschlagen hat, tritt in MA I kaum mehr auf – ein markantes Zeichen für N.s intellektuelle und zugleich emotionale Emanzipation: Der Rechtfertigungsalbdruck ist gewichen. 339, 4 seine kleinen Gärten des Glückes] Das erinnert an den κῆπος, den Garten Epikurs, vgl. NK KSA 4, 271, 30–272, 2, zum Garten-Gott Epikur NK KSA 5, 21, 12–17.
592. MA I 592 ist angelegt als Voraberläuterung eines (angeblichen) Sprichworts (339, 18 f.), dessen Trefflichkeit erwiesen werden soll: Es sei „vernünftig“ (339, 13), wenn jemand in die Fußstapfen seines Vaters trete, der ein Handwerk schon ordentlich
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 591–593, KSA 2, S. 339
929
und mit viel Mühe ausgeübt habe, um sich selbst darin zu perfektionieren. Lasse er sich auf etwas anderes ein, werde er es nie zur Vollkommenheit bringen. Zu MA I 592 gibt es in Mp XIV 1, 109 eine ‚Reinschrift‘ mit Korrekturen von N.s Hand und markiert mit blauem „A“ und vier blauen Strichen, aber noch ohne die spätere Überschrift. Vor N.s Korrekturen lautete die erste Fassung: „Es ist vernünftig, wenn Jemand das Talent, auf welches sein Vater oder Grossvater Mühe verwendet hat, weiter ausbildet u. nicht zu etwas ganz Neuem umschlägt; er nimmt sich sonst die Möglichkeit, zur Vollkommenheit in irgend einem Dinge zu gelangen. Das sollten junge Männer bedenken!“ (http://www.nietzschesour ce.org/DFGA/Mp-XIV-1,109) Erst mit der Korrektur fügt N. das „Sprüchwort“ ein, das dann am Ende des Drucktextes steht und auf das alles zuzulaufen scheint (338, 18 f.). Das „Talent“ ist ein häufiges Thema in MA I, vgl. z. B. NK ÜK MA I 163 und zur Zeit und Arbeit, die die Söhne brauchen, bis sie auf dem Niveau des Vaters sind, NK ÜK MA I 272. 339, 17 zum Vollkommenen] Im Druckmanuskript D 11, 193 nachträglich korrigiert aus „zur Vollkommenheit“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,193). 339, 17 Handwerk] Im Druckmanuskript D 11, 193 nachträglich korrigiert aus „Dinge“. 339, 18 f. Desshalb sagt das Sprüchwort: „Welche Strasse sollst du reiten? – die deiner Vorfahren.“] Bislang ließ sich ein solches Sprichwort nicht nachweisen. In der Übersetzung von Walter Scotts Roman Anne of Geierstein, or The Maiden of the Mist (1829), den der eifrige Scott-Leser N. (vgl. NK ÜK MA I 107 u. NK ÜK MA I 163) gekannt haben dürfte (zumal Basel darin eine wichtige Rolle spielt), heißt es freilich über den Protagonisten Arthur: „Seine Vorfahren haben ihm gezeigt, welchen Weg er einzuschlagen hat.“ (Scott 1862, 18, 434) Hat N. das „Sprüchwort“ nur fingiert?
593. In MA I 583 war die Eitelkeit als Überbleibsel früherer Entwicklungsstufen problematisiert worden, in MA I 593 ist sie hingegen ein Erziehungsmittel, wenn jemand bereits durch Ehrgeiz es so weit gebracht hat, ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein. Sei jemand allgemein nützlich geworden, könne sich „die Eitelkeit“ (339, 25) einstellen, die ihn – der jetzt „wie eine Maschine“ (339, 24 f.) am allgemein Besten arbeite – menschlicher erscheinen lasse. Zu MA I 593 gibt es in Mp XIV 1, 198 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne späteren Titel und mit rotem „A“ markiert (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-
930
Menschliches, Allzumenschliches I
1,198). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 66 lautet: „So lange Einer noch nicht zum Werkzeug des allg. menschl. Nutzens geworden ist, so lange quält ihn der Ehrgeiz: hat er dies Ziel erreicht, so quält ihn die Eitelkeit: sie wird ihn im Kleinen vermenschlichen, geselliger erträglicher ˹nachsichtiger˺ machen, dann, wenn der Ehrgeiz die grobe Arbeit, ihn nützlich zu machen, an ihm vollendet hat.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,66) Diese Version stellt den Unterschied von Ehrgeiz und Eitelkeit noch schärfer heraus – als für die Allgemeinheit nützliche Laster erscheinen sie beide gleichermaßen. Ehrgeiz und Eitelkeit sind klassische Reflexionsobjekte der französischen Moralistik.
594. MA I 594 spricht von der euphorisierenden Erfahrung, die jemand macht, der sich zum ersten Mal die „Weisheit eines Philosophen“ (340, 2 f.) angeeignet hat: Sie komme ihm wie eine Offenbarung vor – und all diejenigen, die sie nicht kennen, wie unwissende Toren. Man wähne sich nun groß und fühle sich als Richter, weil man ein Gesetz anerkenne. Zu MA I 594 gibt es in Mp XIV 1, 206 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift und mit einigen Korrekturen N.s (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,206). Eine Vorarbeit ist NL 1877, KSA 8, 22[6], 379, 11– 14: „Unwissende Menschen, welche mit einer Philosophie bekannt geworden sind, haben den Eindruck, als ob sie jetzt allen anderen Wissenschaften überlegen wären und als ob sie in allem mitsprechen könnten – nichts irrthümlicher.“ Die in MA I 594 geschilderte Erfahrung hat N. mit sich selbst gemacht, nachdem er 1865 in einem Leipziger Antiquariat Schopenhauers Hauptwerk entdeckt hatte. Bereits in zweijährigem Abstand betrachtete N. dieses Bekehrungserlebnis schon mit distanzierter Ironie (NL 1867, KGW I 4, 60[1], 513; dazu Sommer 2021f, 8 f.).
595. In einer psychologischen Analyse der Dialektik von Missfallen und Gefallen ist in MA I 595 eine anthropologische Machtanalyse verschränkt (die schon auf spätere Überlegungen im Umkreis der Idee eines „Willens zur Macht“ vorauszuweisen scheint): Während es Leute gebe, die durch Nicht-Auffallen gefallen wollten, gäbe es solche, die mit dem Auffallen auch das allgemeine Missfallen einkalkulierten, aber nicht, um dabei stehen zu bleiben, sondern um am Ende so viel Macht gewonnen zu haben, dass das Gefallen unausweichlich werde. Wer die Macht schließlich errungen habe, gefalle – wohl weil er die Macht hat. Bei Gläubigen
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 593–596, KSA 2, S. 339–340
931
und Freigeistern verhalte es sich gleich: Sie nähmen selbst Leiden, ja das Martyrium in Kauf, weil sie sich an der Überzeugung weiden, ihre Lehre werde sich durch dieses Schicksal tief ins Gedächtnis der Menschheit einbrennen, worin sie ihr Mittel zur Macht und zum Gefallen finden. Zu MA I 595 gibt es in Mp XIV 1, 268 f. eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, mit rotem „A“ markiert und noch ohne die spätere Überschrift (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,268 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,269). Eine Vorarbeit in U II 5, 89 f. von N.s Hand weist viele Überarbeitungen und Korrekturen auf (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,89et90). Vgl. auch NL 1876, KSA 8, 16[25], 291, 15–17: „Das mächtige Nachleben des Freigeistes – er betrachtet sich als eine Lehre welche der Menschheit eingebrannt ist. / Freigeist aus Selbstvertheidigung, aus Machtverlangen.“ Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa führt vielfach einschlägige Anekdoten zum Thema vor Augen. 340, 18 f. fast in Allem] In die Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 hat N. das „fast“ mit Bleistift eingetragen (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/389/). 340, 22 f. übeles Schicksal, Verfolgung, Kerker, Hinrichtung] In die Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 hat N. „Verfolgung“ mit Bleistift eingetragen (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/389/) und dafür „Scheiterhaufen“ gestrichen, der auf „Hinrichtung“ folgte (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/390/).
596. MA I 596 handelt von einem Fürsten, der einen Krieg vom Zaun brechen wolle und dafür ein kriegsauslösendes, kriegsprovozierendes Ereignis brauche, den „casus belli“ (341, 1). Er verfahre also wie jemand, der seinem Kind eine Mutter unterschieben wolle, die fortan und öffentlich die Mutter spielen solle. Der letzte Satz öffnet den Horizont auf menschliche Handlungen überhaupt: „Und sind nicht fast alle öffentlich bekannt gemachten Motive unserer Handlungen solche untergeschobene Mütter?“ (341, 3 f.) Zu MA I 596 gibt es in Mp XIV 1, 286 eine ‚Reinschrift‘ von Albert Brenners Hand, markiert mit rotem „A“, noch ohne die spätere Überschrift (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,286). Eine Vorarbeit von N.s Hand in U II 5, 70 lautet: „Der Fürst welcher ˹zu˺ dem gefassten Entschlusse Krieg zu führen, einen casus belli unterschiebt ˹ausfindig macht˺, gleich [sic] dem Vater, der seinem unverst[– – –] Kinde eine verst[– – –] Mutter unterschiebt. Und sind nicht fast alle
932
Menschliches, Allzumenschliches I
öffentl. bekannt werdenden Motive unserer Handlungen solche untergeschobene Mütter?“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,70) In NL 1876, KSA 8, 19[54], 342, 13–17 heißt es: „100. Kein Fürst, der Krieg führen wollte, war je um einen casus belli verlegen. Aber alle Motive, welche wir öffentlich zu erkennen geben, zeigen, daß wir Alle nie um einen casus belli verlegen sind. Jede Handlung wird aus Motiven gethan und aus einem angeblichen Motive.“ Der „casus belli“, also „die Veranlassung oder der Grund zum Kriege“ (Petri 1861, 150), ist in dieser Version noch nicht an den Vergleich mit der untergeschobenen Mutter gekoppelt. Der Vergleich mutet ohnehin absurd an, da man gemeinhin allenfalls das Umgekehrte tut: ein Kind einer falschen Mutter unterschieben – oder, weil leichter zu bewerkstelligen, ein Kind einem falschen Vater. Eine „untergeschobene Mutter“ gibt es mythologisch immerhin im equestrischen Fach: Vergil berichtet von feuerschnaubenden Rennpferden, die Aeneas geschenkt bekommen habe: „semine ab aetherio spirantis naribus ignem, / illorum de gente patri quos daedala Circe / supposita de matre nothos furata creavit“ („Feuerschnaubende Gaule, gezeugt aus ätherischem Samen, / Jenen entstammt, die Circe dereinst, die verschlagne, dem Vater / Heimlich erschuf, Bastarde von untergeschobener Mutter“ – Publius Vergilius Maro: Aeneis VII 281–283 = Virgilius Maro 1862, 3, 10). Aber vielleicht soll die Idee der untergeschobenen Mutter gerade so absurd wirken, wie es die vorgeschobenen Kriegsgründe meist sind. Dass der eigentliche Kriegsgrund oft nicht mit dem öffentlich vorgegebenen übereinstimmt, ist spätestens seit Thukydides Geschichte des Peloponnesischen Krieges kriegsanalytisches Gemeingut.
597. Nach MA I 597 gehen „L e i d e n s c h a f t u n d R e c h t“ (341, 6) eine nicht unproblematische Liaison ein: Derjenige, der mit größter Leidenschaft sein Recht einfordere, zweifle insgeheim daran, dass er es hat, und wolle mit der Lautstärke seiner Leidenschaft „den Verstand und dessen Zweifel“ (341, 9 f.) übertönen. Auch die Mitmenschen ließen sich davon einlullen. Zu MA I 597 gibt es in Mp XIV 1, 349 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, noch ohne die spätere Überschrift und markiert mit rotem „A“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,349). In U II 5, 101 findet sich von N.s Hand eine Vorarbeit mit einigen zahlreichen Korrekturen (http://www.nietzschesource. org/DFGA/U-II-5,101). Ein Bleistiftnotat in N II 1, 200 lautet: „15. Niemand spricht leidenschaftlicher von seinem Rechte, als wer im Grunde seiner Seele einen Zweifel an diesem Rechte hat. Er zieht die Leidenschaft herbei, damit sie seinen Verstand betäube“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,200).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 596–599, KSA 2, S. 340–341
933
598. MA I 598 beleuchtet Strategien der Entsagung, die wesentlich darin bestünden, das kleinzureden, dem man entsage – wie der zölibatäre katholische Priester die Ehe schlechtrede oder der auf Nachruhm Spekulierende die Ehre, die er einem Zeitgenossen erweisen kann. Zugleich aber könnte der, der auf das Große verzichtet, durchaus für „kleine[.] Eitelkeiten“ (341, 22) empfänglich bleiben. Zu MA I 598 gibt es in Mp XIV 1, 288 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, markiert mit einem roten „A“ und zwei blauen Strichen, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,288). Die Fassung von N.s Hand in U II 5, 105 besteht aus zwei aneinander gereihten Aphorismen: „16. Wer gegen die Ehe protestirt nach Art der katholischen Geistlichkeit, wird ihre niedrigste, gemeinste Auffassung fast allein noch im Kopfe haben. Ebenso wer die Ehre bei den Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig fassen; so erleichtert er sich die Entbehrung u. den Kampf dagegen. / x / 17. Wer sich im Ganzen viel versagt, wird sich im Kleinen leicht Indulgenz geben. So hat es viell. keinen Stand gegeben, welche[r] unter dem Erotischen so sehr allein Ausschweifungen verstand, wie den katholischen Priesterstand, welcher der Liebe entsagte. Dafür erlaubte er sich die gelegentl. Lust.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,105) Der zweite Teil wurde aus dem Nachlass separat publiziert in NL 1876, KSA 8, 19[11], 334. Vorbereitende Bleistiftnotizen gibt es dazu in N II 1, 169 f. (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-1,169et170). Zu den „Eitelkeiten“ (341, 22) vgl. auch NK ÜK MA I 583 u. NK ÜK MA I 593, dort jeweils im Singular. 341, 14 Art der katholischen Priester] In die Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „Art der katholischen Kirche“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/390/). 341, 19 f. Indulgenz] „[D]ie Nachsicht, Vergünstigung, der Ablaß“ (Petri 1861, 406).
599. Anmaßung gilt in MA I 599 als typische Untugend einer bestimmten Lebensphase, nämlich der zwischen 26 und 30 Jahren, in der man für seine Leistung Anerkennung fordert, aber sie einem gewöhnlich versagt bleibt. In allen Werken dieser Lebensphase könne man den Geruch der Anmaßung wahrnehmen. Später blicke man gemeinhin milde auf diese Lebensphase, wo man mit dem Schicksal gehadert hat, mehr zu sein, als man schien – während man sich später – wenn man nicht ein „Narr der Eitelkeit“ (342, 11) bleibe – bewusst werde, mehr zu scheinen, als man ist.
934
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 599 gibt es in Mp XIV 1, 70 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,70). Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 114 lautet: „Zwischen 26 u. 30 Jahren will die erste Reife sich durch Anmaassung äussern. Manche behalten den Ausdruck der Anmaassung bei. Man erkennt sie immer, man lächelt, sie gehört der Jugend (auch dem Genius). Gegen nichts sind alte Menschen so fein!“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-2,114) In NL 1877, KSA 8, 22[47], 387, 6 f. wird der Gedanke anscheinend autobiographisch akzentuiert: „Geist der Jugendlichkeit, der Vorrechte, selbst zu einigen Unarten hat, – diess fehlt mir jetzt.“ MA I 599 zehrt vom alten Topos eines Gegensatzes von Sein und Schein, der hier lebensgeschichtlich durchbuchstabiert wird. Zu den Lebensaltern vgl. auch NK ÜK MA I 609, zur jugendlichen Anmaßung NK ÜK MA I 316. 342, 9 mehr] In Mp XIV 1, 70 unterstrichen. 342, 10 man hat den guten Glauben verloren] In Mp XIV 1, 70 stattdessen: „man ist ˹hat˺ nicht mehr überzeugt ˹vielleicht den guten Glauben verloren˺“.
600. In der Jugend bedürfe man, so MA I 600, eines Geländers, das freilich, wie ein Geländer bei einem Balken über einem Abgrund, im Ernstfall das Gewicht dessen, der sich darauf abstützt, nicht trage. „Väter, Lehrer, Freunde“ (342, 23) hätten die Funktion eines solchen Geländers, das im Ernstfall nicht halte. Aber der Glaube, die Fiktion des Gehalten-Werdens, scheint schon auszureichen. Zu MA I 600 gibt es in Mp XIV 1, 194 eine ‚Reinschrift‘, mit blauem „A“ markiert, noch ohne Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,194). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 78 lautet: „Väter Lehrer gelten als Geländer (wenn sie auch nicht Stand halten, beruhigen sie den Blick“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,78). In dem von Köselitz’ geschriebenen, großteils aus den einzelnen Aphorismen zusammengeklebten Druckmanuskript von MA I steht auf Blatt D 11, 195 zwischen den schließlich als MA I 599 und MA I 600 nummerierten Texten noch ein weiterer, der schließlich durchgestrichen und von N. nie veröffentlicht wurde. Er lautet: „Verkleinerungssucht als nützlich. – / Nicht wenige Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern. Indem ihr ˹wir˺ alle den Vortheil jener Tüchtigkeit haben, müssen wir das nothwendige Werkzeug dazu, den Neid und die Verkleinerungs-
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 599–602, KSA 2, S. 342
935
sucht, wohl oder übel gutheissen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,195, ediert als NL 1876, KSA 8, 26[1], 486) Dieser Text hat Ähnlichkeit mit MA I 63, weswegen er schließlich wohl entfallen konnte, siehe NK ÜK MA I 63. 342, 14 einem Abgrund] In Mp XIV 1, 194 steht: „einen tiefen Abgrund“; auch im Druckmanuskript D 11, 195 stand ursprünglich „tiefen“, bevor das Wort gestrichen wurde. 342, 18 erwecken] KSA u. KGW ‚emendieren‘ mit GoA nach Mp XIV 1, 194, wo „erwecken“ steht. In dem von Köselitz niedergeschriebenen Druckmanuskript D 11, 195, in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 353) und in den Handexemplaren steht hingegen stets „erwerben“. Angeblich handelt es sich hier um einen übersehenen „Lesefehler“ von Köselitz.
601. MA I 601 empfiehlt, das Lieben und das Gütig-Sein „von Jugend auf“ (342, 26) zu lernen; wer es nicht gelernt habe, vertrockne innerlich. Bis hierher ginge der Abschnitt auch als kirchlicher Kalenderspruch durch – nicht aber mit dem Nachsatz, dass auch das Hassen gelernt werden müsse, wolle einer „ein tüchtiger Hasser“ (343, 1) werden – ansonsten würde das Potential des Hasses versiegen. Zu MA I 601 gibt es in Mp XIV 1, 127 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“, nachträglich mit der Überschrift des Drucktextes und zahlreichen Korrekturen versehen. Der Text lautete ursprünglich: „Man muss lieben, gütig sein lernen, von Jugend auf; Gelegenheit zur Uebung haben oder sich verschaffen, sonst wird man trocken und ungeschickt zu jenen zarten Erfindungen liebender Seele. Ebenso muss der Hass gelernt werden; sonst wird auch der Keim dazu allmählich erstickt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,127) Ein Bleistiftnotat in N II 3, 26 lautet: „13 Man muss lieben lernen von Jugend auf. Der Hass kann ausgewurzelt werden, wenn er nicht geübt wird.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-3,26) Das Lieben-Lernen wird später das Thema von FW 334, dazu ausführlich NK 3/2.2, S. 1231–1233.
602. Folgt man MA I 602, behalte derjenige, der sich stark und häufig geistig wandle, auch manche Auffassungen aus seinen früheren Denkphasen bei, die nun wie Ruinen sichtbar blieben. Aber da wirken sie nicht wie ein lästiger, hässlicher Fremdkörper, sondern „oft zur Zierde der ganzen Gegend“ (343, 8 f.). Sie sind also ästhetisch gerechtfertigt.
936
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 602 gibt es in Mp XIV 1, 348 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, wie üblich noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „A“ und „+“. (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,348et349). Der Text findet sich mit leichter Abweichung (vgl. NK 343, 8 f.) auch schon in U II 5, 77 (http://www. nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,77). MA I 602 ist eine ironische Übertragung des romantischen Ruinen-Topos auf die intellektuelle Individualentwicklung (vgl. auch Constantin François Volneys Hauptwerk Les Ruines, ou Méditations sur les révolutions des empires von 1791, das die Ruinen früherer Reiche als Zeugnisse allgemeiner Gleichheit vor Augen stellt). Die einschlägige Landschafts- und Parkarchitektur des frühen 19. Jahrhunderts kam bekanntlich nicht ohne eine pittoreske, künstliche Ruine aus. 343, 8 f. oft zur Zierde der ganzen Gegend] In U II 5, 77 stattdessen: „oft zur Zierde der Gegend“.
603. Nach MA I 603 gehen Liebe und Ehre nicht zusammen: Man könne nicht gleichzeitig von derselben Person geliebt und geehrt werden, denn die Ehre beruhe auf Furcht, „Ehr-furcht“ (343, 15), die der Ehrende vor der Macht des Verehrten hege, während die Liebe keine Macht anerkenne, „[n]ichts was trennt, abhebt, überund unterordnet“ (343, 16 f.). Wer ehrsüchtig sei, wolle sich dem Geliebtwerden entziehen. Zu MA I 603 gibt es in Mp XIV 1, 120 eine ‚Reinschrift‘, dort schon mit dem Titel „Liebe und Ehre“, markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,120). Bei Christoph Lehmann konnte N. lesen: „Lieben ist nicht ehren.“ (Altdeutscher Witz 1877, 60) Zur distanzierenden Kraft der Ehrfurcht vgl. z. B. NK KSA 5, 273, 26–33 u. NK KSA 5, 277, 9–13. Bei der Charakterisierung des „Typus des Erlösers“ in AC 29–31 wirkt der Gedanke von MA I 603 noch nach, dass Liebe alle Distanz und alle Hierarchie aufgeben wolle, siehe z. B. NK KSA 6, 200, 31–201, 2. 343, 13 wenigstens in dem selben Zeitraume] Fehlt in Mp XIV 1, 120.
604. Menschen, die sich rasch für etwas erwärmen und begeistern, erkalteten, so MA I 604, auch rasch wieder, weshalb auf sie kein Verlass sei. Demgegenüber gälten Menschen, die immer kalt seien oder zu sein schienen, als besonders zu-
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 602–605, KSA 2, S. 343
937
verlässig, da man sie mit denen verwechsle, die sich nur langsam für etwas erwärmten, aber dann auch dabei blieben. Wie zu MA I 603 gibt es zu MA I 604 in Mp XIV 1, 120 eine ‚Reinschrift‘, dort bereits mit dem finalen Titel „Vorurtheil für die kalten Menschen“ und markiert mit rotem „A“. Vor Einfügungen, die den schließlichen Drucktext konstituierten, lautete der Text: „Menschen, welche rasch Feuer fangen, werden schnell kalt. Deshalb giebt es für alle die, welche immer kalt sind, das günstige Vorurtheil, dass es vertrauenswerthe zuverlässige Menschen seien: man verwechselt sie mit denen, welche langsam Feuer fangen u. es lange festhalten.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,120) Vgl. auch NK ÜK MA I 38 und zur thermischen Metaphorik NK ÜK MA I 585. 343, 24 sich so] KSA u. KGW folgen hier der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 355); in Mp XIV 1, 120, im Druckmanuskript D 11, 196 (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,196) und in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht: „so sich“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/393/).
605. MA I 605 liest sich wie eine Bemerkung aus einem Handbuch restaurativer Unterdrückung: Freie Meinungen seien gefährlich, weil sie einen Reiz auslösten, der einem Jucken vergleichbar sei, was zu einem Kratzen und schließlich zu einer offenen Wunde führe. Die freie Meinung beginne „uns in unserer Lebensstellung, unsern menschlichen Beziehungen zu stören, zu quälen“ (344, 6 f.). Zu MA I 605 gibt es in Mp XIV 1, 115 eine ‚Reinschrift‘, bereits mit dem Titel „Das Gefährliche an freien Meinungen“ und markiert mit rotem „A“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,115). Eine Bleistiftvorarbeit in N II 3, 74 lautet: „man empfindet bei freien Meinungen ein Jucken, das zum Reiben reizt, bis eine offne schmerzende Wunde entsteht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II3,74). Man könnte geneigt sein, in MA I 605 eine Absage an das Ideal der freien Geister hineinzulesen, scheinen die „freien Meinungen“ doch die individuelle und kollektive Gesundheit nachhaltig zu schädigen. Freilich scheint sich die Verwundung im menschlichen Entwicklungsprozess nicht umgehen zu lassen – sie ist, wie das Bild in MA I 224 pomologisch gewendet wird, notwendig, um etwas Neues wachsen zu lassen (vgl. NK 187, 24–188, 1). Organverkrüppelungen können nach MA I 231 ein anderes Organ besser machen (vgl. NK 194, 14–19). MA I 605 fordert keineswegs, sich freier, eigener Meinungen (dazu auch NK ÜK MA I 571) zu enthalten, sondern nur, sich die dafür anfallenden Kosten bewusst zu machen.
938
Menschliches, Allzumenschliches I
344, 2 D a s G e f ä h r l i c h e a n f r e i e n M e i n u n g e n] KGW u. KSA folgen hier (wie GoA) Mp XIV 1, 115 u. dem Druckmanuskript D 11, 196 (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,196). In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/393/) und in der Erstausgabe steht hingegen: „D a s G e f ä h r l i c h e a n f r e i e n M e i n u n g e n“ (Nietzsche 1878, 355).
606. Auch wenn eine starke Leidenschaft verraucht sei, bleibt nach MA I 606 eine „dunkle Sehnsucht“ (344, 11) nach dieser Gefühlsintensität zurück, die „mässigere Empfindungen“ (344, 14 f.) fad erscheinen lasse. Man wolle augenscheinlich lieber „heftigere Unlust“ als „matte Lust“ (344, 16). Zu MA I 606 gibt es in Mp XIV 1, 291 eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, markiert mit rotem „A“ und noch ohne die spätere Überschrift: „36. / Die Leidenschaft, wenn sie vorüber ist, lässt eine dunkle Sehnsucht nach sich selber wie als ihren Schweif zurück. Es muss doch eine Art von Lust gewährt haben, mit ihrer Geissel geschlagen worden zu sein. Die mässigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will, wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte Lust.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,291) Mit Abweichungen findet sich der Text in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 35: „53. Die Leidenschaft, wenn sie vorüber ist, lässt eine dunkele Sehnsucht nach sich selber zurück. Es muss doch eine Art Lust gewährt haben, mit ihrer Geissel geschlagen worden zu sein. Die mässigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will, wie es scheint, die heftigere Unlust noch lieber, als die mässige Lust.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ M-I-1,35) Er geht auf ein Notat in U II 5, 147 zurück, das lautet: „Die Leidenschaft, wenn sie vorüber ist, lässt eine dunkle Sehnsucht zurück, mit feurigen SpitzenGeißeln gepeinigt zu werden hat doch Lust gemacht; die mäßigeren Empfindungen sind dagegen schaal. Man will die heftigere Unlust lieber als die mässige Lust.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,147) Im Anschluss an MA I 605 ist MA I 606 wirkungsvoll platziert: War dort von den Verletzungen die Rede, die freies Meinen mit sich bringe, wird jetzt die Lust an der Unlust, wenn sie nur heftig genug ist, als anthropologisches Faktum suggeriert. Dabei steht der Abschnitt gegen die klassische philosophische Leidenschaftsabwehr im Allgemeinen ebenso wie gegen Epikurs Lehre von der mäßigen Lust im Besonderen: Die Unterstellung ist, dass diese Lust niemand wolle, wenn man stattdessen heftigere, wenngleich unlustaffine Gemütsbewegungen haben könne. Die Ursprungsvariante U II 5, 147 ist geradezu eine idealtypische Analyse des Masochismus, nahelegend, dieser sei eine menschlich universelle Disposition.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 605–608, KSA 2, S. 344
939
344, 11–13 nach sich selber zurück und wirft im Verschwinden noch einen verführerischen Blick zu] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 196 korrigiert aus: „nach sich selber wie als ihren Schweif zurück“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ D-11,196).
607. Man lasse – so MA I 607 – häufig seinen Verdruss an anderen aus, den man eigentlich über sich selbst empfinde, und wolle sich damit von sich selbst ablenken. Fromme sähen zwar ihre Sünden, hielten aber die Menschheit für noch sündiger. Zu MA I 607 gibt es in Mp XIV 1, 28 eine ‚Reinschrift‘, ohne den späteren Titel, markiert mit blauem „A“. Diese Version endete nach dem Hinweis auf Buddha (im Druck: 344, 27–30) mit dem schließlich gestrichenen Satz: „Christus sagt dagegen (Matth) ‚lasst eure guten Thaten vor den Leuten sehen‘“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,28). Gemeint ist Matthäus 5, 16: „Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure gute [sic] Werke sehen, und euren Vater im Himmel preisen.“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 7; vgl. 1. Petrus 2, 12.) 344, 22 die Versehen] „im sinne von erwartung, zuversicht“ (Grimm 1854–1971, 25, 1257). 344, 27 die Tugenden vorbehält] Im Druckmanuskript D 11, 196 danach gestrichen: „und nur diese sucht“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,196). 344, 27–30 ebensowenig wie Jener, welcher nach Buddha’s Vorschrift sein Gutes vor den Leuten verbirgt und ihnen sein Böses allein sehen lässt] Vgl. NL 1875, KSA 8, 3[1], 14, 4–7: „Gehet hin und verbergt eure guten / Werke und bekennt vor den Leuten / die Sünden, die ihr begangen. / Buddha“. Der Spruch war einst als Motto der unvollendeten Unzeitgemässen Betrachtung „Wir Philologen“ gedacht (siehe Cancik 1994, 81) und wird später aufgenommen in M 558, KSA 3, 325, 20 f. Er stammt aus Max Müllers Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, die N. am 22. 10. 1875 der Basler Universitätsbibliothek entliehen hatte (Crescenzi 1994, 435): „Und was war das Wunder, welches Buddha von seinen Jüngern forderte? ‚Gehet hin‘, sagt er, ‚und verbergt eure guten Werke, und bekennt vor den Leuten eure Sünden, die ihr begangen‘. Das ist das wahre Wunder.“ (Max Müller 1874, 26; vgl. NK KSA 3, 325, 11 mit dem Zitatnachweis in größerem Kontext.)
608. Im Umgang mit Prinzipien und „Lehrmeinungen“ (345, 3) unterliegen „[w]ir“ (345, 2) MA I 608 zufolge „unbewusst“ einer Verwechslung von Ursachen und Wirkun-
940
Menschliches, Allzumenschliches I
gen: ‚Wir‘ wählten diejenigen, die unserem Charakter entsprächen, während wir uns einbildeten, sie hätten unseren Charakter erst hervorgebracht. „Trägheit“, „Bequemlichkeit“ und „Eitelkeit“ (345, 11–13) seien die Ursachen dieser Verwechslung, heißt es ganz im moralistischen Stil. Zu MA I 608 gibt es in Mp XIV 1, 225 eine ‚Reinschrift‘, wie üblich noch ohne Überschrift, markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,225). 345, 6 Halt und Sicherheit] KSA u. KGW ‚emendieren‘ mit GoA nach Mp XIV 1, 225, wo allerdings nicht „Halt und Sicherheit“ steht, sondern eine Zeichenfolge, die man sowohl als „Haltu. Sicherheit“ als auch als „haltv. Sicherheit“ entziffern kann. In dem von Köselitz niedergeschriebenen Druckmanuskript D 11, 197 (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,197), in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 356) und in den Handexemplaren steht hingegen stets „haltvolle Sicherheit“. Angeblich handelt es sich hier um einen übersehenen „Lesefehler“ von Köselitz.
609. Nach MA I 609 verändert sich je nach Lebensalter die Einstellung zur Wahrheit: Junge Menschen würden „das Interessante und Absonderliche“ (345, 18) lieben, egal, ob es wahr ist, reifere immerhin schon das Interessante und Absonderliche an der Wahrheit, während „[a]usgereifte Köpfe“ (345, 20) die Wahrheit in ihrer Schlichtheit und Einfältigkeit liebten. Zu MA I 609 gibt es in Mp XIV 1, 259 eine ‚Reinschrift‘ von Albert Brenners Hand, noch ohne spätere Überschrift, markiert mit rotem „A“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,259). In dem von Köselitz niedergeschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 96 findet sich eine leicht abweichende Version: „175. Junge Leute lieben das Interessante und Absonderliche, gleichgültig wie wahr oder falsch es ist. Reifere Geister lieben Das an der Wahrheit, was an ihr interessant und absonderlich ist. Reife Köpfe endlich lieben die Wahrheit auch in Dem, wo sie schlicht und einfältig erscheint und den Leuten Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit mit der Miene der Einfalt das Höchste an Geist, was sie besitzt, zu sagen pflegt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,96) Die von N. selbst in U II 5, 115 zu Papier gebrachte Fassung lautet: „Junge Leute lieben das Interessante u Absonderl., gleichgültig wie wahr oder falsch es ist, reifere Geister lieben das an der Wahrheit, was an ihr interessant u absonderlich ist, reife Köpfe endlich lieben die Wahrheit dort, wo sie schlicht u einfältig ist u. so den Menschen Langeweile macht. Es gehört viel Geist dazu, um die schlichte Wahrheit zu lieben; aber deshalb, weil die Leute dies ahnen, heucheln sie so oft
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 608–610, KSA 2, S. 345
941
diese Liebe zu den Werken der Griechen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ U-II-5,115) In U II 5, 123 hat N. schließlich notiert: „der schlichte Charakter des Guten – als langweilig empfunden. Jünglinge begehren das Sonderbare –“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,123). In der Fassung U II 5, 115 wird mit dem Hinweis auf die „Griechen“ noch ein Bezug zu Johann Joachim Winckelmanns Schlagwort von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ der Griechen hergestellt, das N. im Frühwerk aufgegriffen hat (vgl. NK KSA 1, 155, 27–156, 3), um ihn später zu ironisieren (vgl. NK KSA 6, 157, 2–4; dort auch das einschlägige WinckelmannOriginalzitat). Den expliziten Griechen-Bezug lässt die Druckfassung MA I 609 ganz fallen und vermeidet damit die ursprüngliche Suggestion, in der griechischen Kultur habe sich die Wahrheit einfach und schlicht ausgesprochen. Dass die Wahrheit einfach sei, ist ohnehin keine stabile Position in MA I – z. B. in MA I 578 ist es vielmehr das Nichtwissen. Ein Jahrzehnt später bricht sich der Spott gegenüber der Anmaßung, Wahrheit sei einfach, Bahn, siehe NK KSA 6, 59, 13 f. Zur Lebensalterdifferenz siehe auch NK ÜK MA I 599. 345, 20 Ausgereifte Köpfe] Im Druckmanuskript D 11, 197 korrigiert aus: „Reife Köpfe“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,197).
610. Menschen in ihrer zweiten Lebenshälfte seien geneigt, wie schlechte Dichter auf die erste Hälfte einen Reim zu machen, damit es nach äußerer Harmonie ausschaue, aber ihr Leben sei „nicht mehr von einem starken Gedanken“ (346, 2) bestimmt, sondern es gehe nur noch um die äußere Passung. Zu MA I 610 gibt es in Mp XIV 1, 116 eine ‚Reinschrift‘ in hellblauer Titnte, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“. Später hat N. diesen Text mit dunkler Tinte korrigiert. Ursprünglich lautete er: „So wie schlechte Dichter im zweiten Theil des Verses zum Reime den Gedanken suchen, so pflegen die Menschen in der zweiten Hälfte des Lebens, ängstlicher geworden, die Handlungen, Stellungen, Verhältnisse zu suchen, welche denen ihres früheren Lebens entsprechen, so dass äusserlich Alles wohl zusammenklingt: ihr Leben ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht und getragen [?], sondern das Leben herrscht über den Gedanken.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,116) Ein Bleistiftnotat in N II 3, 23 ist noch knapper: „So wie schlechte Dichter im 2ten Theil des Verses den Gedanken zum Reime suchen, so Menschen in der 2ten Hälfte des Lebens – dass äusserlich alles zusammenklingt. Der zwingende gemeinsame Gedanke fehlt“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,23). MA I 610 bietet einen wirkungsvollen Kontrast zu MA I 609, der mit der Metaphorik der Reife den Eindruck erzeugt, Lebensalterzuwachs bedeute Weisheitszuwachs. Das ist im Licht von MA I 610 offenkundig nicht so.
942
Menschliches, Allzumenschliches I
611. MA I 611 beginnt mit Arbeit als Notwendigkeit zur Bedürfnisbefriedigung und endet mit dem Ausblick auf einen „dritten Zustand“ (346, 20), nämlich „die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück“ (346, 23 f.). Der Arbeitsertrag stille das Bedürfnis, das jedoch bald wieder aufkomme und uns erneut zur Arbeit zwinge. Während die Bedürfnisse ruhten, würden wir von Langeweile heimgesucht, umso stärker, je mehr man zu arbeiten gewohnt sei, die Arbeit selbst zum Bedürfnis geworden sei, und man „vielleicht“ (346, 14) an den Bedürfnissen gelitten habe. Daher habe der Mensch das Spiel erfunden – auch eine Form von Arbeit, die nur ein Bedürfnis erfülle, nämlich das Bedürfnis nach Arbeit. Des Spieles überdrüssig und ohne neue Bedürfnisse, werde manch einer überfallen vom „Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält, wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit“ (346, 21–23). Zu MA I 611 gibt es in Mp XIV 1, 265 f. eine ‚Reinschrift‘ von der Hand Albert Brenners, markiert mit einem roten „A“, noch ohne Überschrift, nummeriert „8.“ sowie ohne „Tanzen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,265 u. http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,266; zum Fehlen des Tanzens NK 346, 20–22). In U II 5, 109 u. 107 lautet ein Notat von N.s Hand: „Die Noth ˹Bedürfnisse˺ gewöhnt [sic] uns an die Arbeit. Sind die Bedürfnisse aber einmal gestillt wird, so überfällt uns die Langeweile. Was ist diese? Die Gewöhnung an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues Bedürfniss geltend macht: um so stärker wird sie sein, je intensiver jemand gearbeitet hat, vielleicht sogar je intensiver jemand am Bedürfniss gelitten hat. In diesem Zustand erfindet der Mensch entweder die Arbeit über das Bedürfniss oder das Spiel dh. die Arbeit ohne den Zweck, ein anderes Bedürfniss zu stillen, als das nach Arbeit. / Wem das Spiel über geworden ist u. keinen Grund zur Arbeit hat, den überfällt vielleicht die Sehnsucht nach einem dritten Zustand, welcher sich zur [sic] Langeweile ˹Spiel˺ verhält, wie Schweben zu Gehen, nach einer seligen ruhigen Bewegtheit: die Vision der Künstler u. Philosophen von dem Glück.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II5,109 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,107) In NL 1876, KSA 8, 17[103], 313, 4–10, ebenfalls ediert aus U II 5, wird weiter ausgeführt, wie man sich aus Langeweile „neue Leidenschaften“ und Bedürfnisse erschaffe und sie zu Gewohnheiten umforme, etwa „das Tabakrauchen“. In NL 1876/77, KSA 8, 23[81], 431 f. schließlich, aus Mp XIV 1 ediert, wird über den „U r s p r u n g [ . ] d e r K u n s t“ (431, 28) nachgedacht, dabei das „S p i e l“ als „Arbeit ohne Mühe“ (432, 10) definiert und dann festgehalten: „Der Tanz ist Bewegung ohne Zweck; Flucht vor der Langeweile ist die Mutter der Künste.“ (432, 14–16) Der Tanz kehrt schließlich in der Druckfassung von MA I 611 wieder – ein Text, der im Übrigen nicht
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 611–612, KSA 2, S. 345–346
943
nur durch die späte Hinzufügung des Tanzes verumständlicht und stellenweise verunklart, was die Fassung U II 109 u. 107 noch unmissverständlicher formuliert hat – so etwa die schöne Definition des Spiels als „Arbeit ohne den Zweck, ein anderes Bedürfniss zu stillen, als das nach Arbeit“. Dieser ludosophische Ansatz steht quer zu den handelsüblichen Spielästhetiken (etwa im Gefolge Schillers), indem er das Spiel nicht als Gegenstück zur Fron und Medium der Freiheit begreift, sondern als Fron mit anderen Mitteln, uns selbst auferlegt, nur um der Langeweile zu entgehen. Das zugrundeliegende Schema, zwischen Langeweile und Not hin und her gerissen zu sein (in U II 5, 109 war ja zunächst auch ausdrücklich von „Noth“ die Rede), stammt von Schopenhauer, der es öfters aufruft: „Und betrachtet man dann […] das Daseyn und Leben selbst; so findet man einige Zwischenräume schmerzloser Existenz, auf welche sogleich die Langeweile Angriff macht, und welche neue Noth schnell beendigt. – / Daß hinter der N o t h sogleich die L a n g e w e i l e liegt, welche sogar die klügeren Thiere befällt, ist eine Folge davon, daß das Leben keinen w a h r e n ä c h t e n G e h a l t hat, sondern bloß durch Bedürfniß und Illusion in B e w e g u n g erhalten wird: sobald aber diese stockt, tritt die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseyns zu Tage.“ (Schopenhauer 1873–1874, 6, 311) Auf derlei metaphysische Schlussfolgerungen kann N. in MA I 611 hingegen völlig verzichten, vielmehr visioniert er zusammen mit „Künstler[n]“ (346, 23) und „Philosophen“ (346, 24) noch einen „dritten Zustand“ (346, 21) oder vielmehr einen fünften: eine ruhig-bewegte Glückseligkeit jenseits von Bedürfnis, Arbeit, Langeweile und Spiel. Die „selige[.], ruhige[.] Bewegtheit“ (346, 23) dieses Zustandes erinnert an antike philosophische Glückskonzeptionen, etwa bei Aristoteles oder Epikur. Zum Spiel siehe auch NK ÜK MA I 628, zur Langeweile NK ÜK MA I 391. 346, 20–22 das Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält, wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen.] In Mp XIV 1, 265 stattdessen: „das Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält, wie Schweben zu gehen [sic]“. Die Erweiterung erfolgt erst als spätere Einfügung im Druckmanuskript D 11, 197 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ D-11,197).
612. Wer Bilder von sich betrachte, stelle nach MA I 612 fest, dass der erwachsene Mann dem Kind ähnlicher sei als dem Jüngling. Bei dem sei auch in geistiger Hinsicht eine Entfremdung von der ursprünglichen Natur sichtbar, die dann später trotz aller Eindrücke aus der Jünglingszeit im Mannesalter wieder zum Durchbruch komme.
944
Menschliches, Allzumenschliches I
Zu MA I 612 gibt es in Mp XIV 1, 193 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne die spätere Überschrift, markiert mit blauem „A“ und mit nachträglichen Ergänzungen von N.s Hand (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,193). Ein Bleistiftnotat in N II 2, 133 lautet: „Photogr. der Kindheit u des Mannes ähnlich. So kommt auch unser Denken in eine Phase, welche unser Kindheitswesen neu schreibt, die starken Einwirkungen sind auf ein Maass zurückgeführt.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/N-II-2,133; KGW IV 5, 238 liest „umschreibt“ statt „neu schreibt“.) Das in MA I 612 behauptete Hervortreten kindlicher Züge im Mann lässt sich anhand des überlieferten photographischen Materials bei N. selbst nicht verifizieren: Das früheste von ihm bekannte Photo stammt aus dem Jahr 1861, vgl. Erbsmehl 2017. 346, 26 f. Bilder] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 198 von N. nachträglich korrigiert aus: „Photographien“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,198). 346, 30 also, wahrscheinlich] In Mp XIV 1, 193: „also ˹wahrsch.,˺. In der GoA wird daraus: „also wahrscheinlich,“ (KGW IV 4, 238). 347, 1 zeitweilige] Im Druckmanuskript D 11, 198 nachträglich eingefügt. 347, 8 f. doch die Uebermacht] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht stattdessen: „seiue Wurzeln hineingesenkt“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/396/). In „seiue“ wurde das „u“ durchgestrichen, um durch ein „n“ ersetzt zu werden – im Druckmanuskript D 11, 198 steht: „seine Wurzeln hineingesenkt“ –, zugleich steht am Rand eine Wellenlinie, um offenbar noch die weitere Umstellung zu markieren. In Nietzsche 1878, 358 heißt es dann: „doch die Uebermacht“.
613. Die in MA I 609 begonnene Beschäftigung mit den Lebensaltern setzt MA I 613 mit ähnlich kritischem Akzent wie in MA I 612 fort: Aus der Perspektive des fortgeschrittenen Alters nähmen sich die Verlautbarungen der Jünglinge hohl, missklingend und „dumpf“ (347, 18) aus, „wie der Ton in einem Gewölbe“ (347, 19) – weil sie eben nur Nachklang, Echo seien und keine „Gründe“ (347, 25 u. 28) für das Verlautbarte hätten. Erwachsene klängen wohlartikulierter, tragender, Alte „verzuckert“, manchmal „versäuert“ (347, 32 f.). Zu MA I 613 gibt es in Mp XIV 1, 183 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den auch im Druckmanuskript D 11, 198 erst nachträglich eingefügten Titel, markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,183). NL 1876, KSA 8, 19[30], 337, 21 bescheidet lapidar: „Ton der Jugend zu laut.“ Die Pointe von MA I 613 besteht darin, dass der Abschnitt selbst keine „Gründe“ beibringt, die Ältere bei der Jugend so sehr vermissten, sondern das Gesagte
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 612–614, KSA 2, S. 346–348
945
als empirische Beobachtung verschiedener Generationen ausgibt. Zugleich ist das Reden von Klang und Stimme jedoch nur eine Metapher für ein ganzes Bündel von Handlungen und Haltungen – es geht ja keineswegs um die faktischen vokalen Artikulationsdifferenzen, sondern um die jeweilige Generationen-Gesamterscheinung. Die empirische Beobachtung ist also bloß schöner Schein.
614. In MA I 614 werden „[ z ] u r ü c k g e b l i e b e n e u n d v o r w e g n e h m e n d e M e n s c h e n“ (348, 2 f.) einander gegenübergestellt. Unangenehm fallen die Unbotmäßig-Gewalttätigen, die Unkontrollierten und Neidischen auf, die nichts weiter seien als die Verkörperungen früherer Stadien der menschlichen Kultur, die noch von Gewalttätigkeit geprägt war. Vorwegnehmend, nämlich künftige Hochund Höchststände der Kultur, seien hingegen diejenigen, die sich allen gegenüber großzügig gäben, „liebevoll“ (348, 12) empfänden, sich an der Freude anderer erfreuten und nicht beanspruchten, die Wahrheit exklusiv erkannt zu haben. Sie wohnten schon in den höheren Etagen der Kultur, „möglichst entfernt von dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der Cultur, eingeschlossen wüthet und heult“ (348, 19–22). Zu MA I 614 gibt es in Mp XIV 1, 31 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit zwei roten „A“ und mit Bleistift rubriziert „Höhere Cultur“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,31). MA I 614 scheint eine recht naive Fortschrittsgeschichte zu erzählen, die konventionell das Leutselige positiv wertet – es sei denn, man nimmt die Metapher von den „Fundamenten“ beim Wort: Auf Fundamente und das Darunterliegende kann kein Gebäude verzichten – und damit die menschliche Kultur auch nicht auf das dort eingekerkerte Wilde. Will MA I andeuten, dass es ohne das Frühere, Zurückgebliebene nicht geht? Vgl. NL 1876/77, KSA 8, 23[184], 469, zitiert in NK ÜK MA I 26. Zum Motiv empathischer Großzügigkeit in MA I 614 siehe Özen 2021, 269 f., zur Mitfreude NK ÜK MA I 499. 348, 7 Ueberbleibsel] Vgl. NK 186, 19–23. 348, 7–9 denn die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende für die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters] Im Druckmanuskript D 11, 198 korrigiert aus: „denn so, wie er mit den Menschen verkehrt, ist die rechte Manier für Zustände des Faustrechts“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/D-11,198). Zum Begriff des „Faustrechts“ bei N. siehe NK KSA 3, 426, 26 f. Eine zurückgebliebene Kultur, die an einmal gefassten Überzeugungen festhält, thematisiert MA I 632.
946
Menschliches, Allzumenschliches I
348, 12 f. alle Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst] Wie im Druckmanuskript D 11, 198 steht in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601: „alle Ehre und Erfolg bei Anderen mitgeniesst“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/398/). N. hat das mit einem Randstrich zur Korrektur markiert. 348, 14 f. voll eines bescheidenen Misstrauens ist] Wie im Druckmanuskript D 11, 198 steht in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601: „nur gegen sich misstrauisch“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/398/).
615. Ein zu „hypochondrische[r] Selbstquälerei“ (348, 25) neigender, großer Denker werde, so MA I 615, sich trösten mit der Erkenntnis, dass es seine „grosse Kraft“ (348, 26 f.) sei, die für die Intensität seines Leidens verantwortlich sei, so wie ein „Staatsmann“ (348, 29), der in seinen Amtsgeschäften für die „die Stimmung“ (348, 30) des Krieges aller gegen alle, nämlich zwischen Nationalstaaten prädisponiert sei, sich darüber trösten müsse, dass diese Stimmung auch in seine privatesten Verhältnisse eindringe. Zu MA I 615 gibt es in Mp XIV 1, 124 eine ‚Reinschrift‘, die mit blauem „A“ markiert ist, noch ohne den späteren Titel (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,124). Ein Bleistiftnotiz in N II 2, 135 lautet: „Wenn ein grosser Denker hypochondrischer Selbstquälerei unterworfen ist, so mag er sich zum Troste sagen: es ist deine grosse Kraft, welche diesen Parasiten ˹so˺ gross zieht. Wäre sie geringer, würdest du nicht so an dir leiden“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,135). Der zweite Teil über den „Staatsmann“ fehlt hier also noch. Ohnehin passt dieser Fall nicht recht zum ersten. Die Analogie zwischen beiden Beispielen ist eher rhetorisch erschlichen als sachlich gegeben – es sei denn, die „grosse Kraft“ sei das unausgesprochene tertium comparationis und der „Staatsmann“ habe sie auch. 348, 30 bellum omnium contra omnes] Vgl. NK 96, 16–24.
616. MA I 616 gibt ein Anschauungsbeispiel für die Zweckdienlichkeit „historischen Philosophierens“ nach MA I 2: Es sei überaus nützlich, der Gegenwart gelegentlich abhanden zu kommen und in die Vergangenheit abzutauchen, um so das Ganze der Gegenwart distanziert überblicken und beurteilen zu können. Zu MA I 616 gibt es in Mp XIV 1, 74 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,74). Eine
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 614–617, KSA 2, S. 348–349
947
Bleistiftnotiz in N II 2, 20 lautet: „Es hat grosse Vortheile vom Ufer abgetrieben zu werden“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-2,20). Gegenwartsentfremdung erscheint zur Gegenwartsbeurteilung unerlässlich. Und dazu hilft die Geschichte. 349, 3 seiner Zeit sich einmal in stärkerem Maasse zu entfremden] In Mp XIV 1, 74 korrigiert aus: „seiner Zeit einmal in stärkerem Maasse entfremdet zu werden“. 349, 5 getrieben] Im Druckmanuskript D 11, 199 korrigiert aus: „zurückgetrieben“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,199).
617. MA I 617 steht insofern ziemlich singulär im Neunten Hauptstück, als hier direkt eine historische Person unzimperlich angegangen wird, nämlich Jean-Jacques Rousseau. Er gehöre zu jenen Menschen, die ihre eigenen charakterlichen Schwächen zur Förderung ihres Talentes nutzen. Er habe, als er die Verdorbenheit der Gegenwartskultur angeprangert habe, damit eigentlich nur seine persönlichen Erfahrungen artikuliert, die wiederum seiner Kritik die giftige Schärfe gegeben hätten. Zugleich habe er sich dadurch als Individuum zu entlasten versucht und mit der Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse „indirect“ (349, 20) auch seine persönliche Situation zu verbessern gehofft. Zu MA I 617 gibt es in Mp XIV 1, 16 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „A“ sowie blau rubriziert: „Aristophanes“ (durchgestrichen), wie üblich noch ohne Titel, dafür mit einigen Umarbeitungen. Ursprünglich lautete der Text: „Solche Leute wie Rousseau verstehen es, ihre Schwächen Lücken Laster gleichsam als Dünger ihres Talentes zu benutzen. Wenn er die Verdorbenheit u Entartung der Gesellschaft jene vermöge der Cultur beklagt, so ist hier zu Grunde eine persönliche Erfahrung; deren Bitterkeit giebt ihm die Schärfe seiner allgem. Verurtheilung; er entlastet sich als Individuum und denkt ein Heilmittel zu suchen, das direct der Gesellschaft und indirect auch ihm zu Nutze ist.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,16) Die landwirtschaftliche Metapher, die bereits der Titel von MA I 617 aufruft: „A u f p e r s ö n l i c h e n M ä n g e l n s ä e n u n d e r n t e n“ (349, 11 f.), wird in NL 1878, KSA 8, 28[36], 508, 16 grundgelegt: „Auf seine Fehler säen“. Eigentlich passt die Exposition nicht recht zum Beispiel: Denn die persönlichen Erfahrungen, die Rousseau machte, sind ja nicht seine charakterlichen Schwächen, sondern Leidenserfahrungen, aus denen heraus wohl jeder spricht – N. eingeschlossen –, der Missstände geißelt. Zu N. und Rousseau siehe auch NK ÜK MA I 463 und die dortigen Stellenkommentare sowie z. B. NK KSA 6, 111, 4 f. Welchen Bezug, den die Farbstift-Rubrizierung herstellt, die Fassung Mp XIV 1, 16 zum athenischen Komödiendichter Aristophanes aufweisen soll, wird nicht
948
Menschliches, Allzumenschliches I
namhaft gemacht und entfällt in der Druckfassung. N.s Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈I und II〉 (1874/75) stellt allerdings deutlich heraus, dass Aristophanes dem (in der Vorlesung nicht genannten) Rousseau, wie ihn MA I 617 zeichnet, charakterlich nicht ganz fern steht: „Überhaupt thut man dem Dichter [sc. Aristophanes] sehr Unrecht, wenn man immer darnach fragt, ob er ein Recht hatte, anzugreifen und zu spotten und Partei zu nehmen. Er hatte nie Recht dazu, denn ihm fehlte die politische Einsicht, um von über Politik zu urtheilen, der tiefe sittliche Sinn um Charaktere zu verurtheilen, die wissenschaftl. Bildung, um den neuen Geist überhaupt zu verstehen, selbst im litterarischen Kampfe ist er beschränkt u. kleinlich, in summa: Wissen und Charakter, um der Kritiker seiner Zeit zu sein. Aber die Macht und Polyphonie seiner komischen Erfindungen ist so groß, die Kraft, vom höchsten Erhabenen bis zum tiefsten Schmutz die ganze Tonleiter abzusingen, so einzig, und dann eine gewisse instinktive Schnellkraft, die dunklen Punkte einer Zeit, einer Richtung zu errathen und so oftmals Recht zu haben, ohne zwar Rechenschaft geben zu können, warum? oder falsche Rechenschaft gebend: mit alledem ist er die wunderlichste Karikatur eines Reformators u. Kritikers, die es gegeben hat, ein gesteigerter Archilochos, ein Ausbruch der ungeheuren Schmähsucht, die im griechischen Wesen lag, verklärt durch alle Künste und Talente, die nur ein griechischer Lyriker Musiker Tragiker Komiker ge-habt hat: denn er konnte alles, was er wollte, machen.“ (KGW II 5, 169, 4–24) Auch hier sind es persönliche Mängel, die Frucht bringen. Zu Aristophanes in N.s Frühwerk siehe Canfora 2018. 349, 11 f. A u f p e r s ö n l i c h e n M ä n g e l n s ä e n u n d e r n t e n.] Wie im Druckmanuskript D 11, 199 steht in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601: „A u f p e r s ö n l i c h e n M ä n g e l n s ä e n u n d p f l a n z e n.“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/399/) N. hat „pflügen“ an den Rand geschrieben, aber weder „säen“ noch „pflanzen“ gestrichen. Die Erstausgabe bringt dann die Kombination von „s ä e n u n d e r n t e n“ (Nietzsche 1878, 361).
618. MA I 618 stellt gegen das, was gemeinhin als philosophische Gesinnung gilt, nämlich unter allen Umständen „e i n e Haltung des Gemüthes, e i n e Gattung von Ansichten“ (349, 24 f.) zu kultivieren und eisern daran festzuhalten, ein Plädoyer für Vielstimmigkeit, für Vielsicht: Es sei im Interesse der Erkenntnis, sich jeder geistigen und lebenspraktischen Uniformierung zu entziehen, sich selbst „nicht als starres, beständiges, Eines Individuum“ (349, 32) zu behandeln, stattdessen als etwas für Vieles offenes Vielfältiges. Philosophie erscheint in MA I 618 – einem
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 617–619, KSA 2, S. 349
949
kurzen, zentralen Text für die Selbstverständigung des Autorsubjekts in MA I – als Pluralitätsoffenheit und als Pluralitätsbereitschaft. Zu MA I 618 gibt es in Mp XIV 1, 68 eine ‚Reinschrift‘, mit dem nachträglich von N. hinzugefügten Titel „Philosophisch gesinnt sein“, markiert mit blauem „A“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,68). Im Notizheft N II 3, 43 hat N. mit Bleistift notiert: „Gewöhnl. strebt man für alle Lebenslage [sic] eine Haltung, eine Gattung von Ansichten. Das mag nützlich sein – aber für den Erkennenden ist es besser, aus allen Lebenslagen Stimmungen die Ansichten wirken [?] zu lassen. So nimmt man am Leben vieler Menschen Antheil.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-II-3,43) In dieser Fassung fehlt noch die Kritik an der in der Druckversion als vermeintlich „philosophisch“ ausgewiesenen Gesinnungskonstanz sowie an Konzepten festgefrorener Individualität. MA I 618 verdeutlicht das in MA I insgesamt angewandte Verfahren: Die stete Veränderung des Standpunktes und damit der Perspektiven gibt dem Erkennen jeweils ein anderes Profil, eine andere Färbung. Der Abschnitt reflektiert die Situativität des Denkens. Zu MA I 618 auch Wachendorff 2021, 227, zum Thema der Haltung im impliziten Ausgang von MA I 618 Politycki/Sommer 2019. 349, 23 P h i l o s o p h i s c h g e s i n n t s e i n.] In 349, 26 wird die Wendung wiederholt, nachdem sie erklärt worden ist. In N.s Werken und Nachlass kommt sie nur hier vor. N. dürfte sie etwa in Denis Diderots Dialog Rameaus Neffe untergekommen sein, den er in Goethes Übersetzung gut kannte (vgl. Porter 2024). Dort ätzt der Neffe: „denkt Euch, die Welt wäre weise und philosophisch gesinnt, gesteht nur, verteufelt /245/ traurig würde sie sein“ (Goethe 1853–1858, 29, 244 f.). 349, 28 f. die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen] Vgl. dazu NK 3/2.1, S. 999 f.
619. In MA I 619 gilt es als Zeichen für geistige Emanzipation, wenn man Meinungen zu äußern wagt, die als verwerflich angesehen werden, so dass auch die Nächsten sich vom Emanzipierten furchtsam zu distanzieren begännen. Nach dieser Feuerprüfung gehöre man noch stärker sich selbst. Zu MA I 619 gibt es in Mp XIV 1, 291 f eine ‚Reinschrift‘ von Brenners Hand, markiert mit rotem „A“ und noch ohne die spätere Überschrift (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,291 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,292). Mit Abweichungen findet sich der Text in dem von Köselitz nach N.s Diktat geschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 8: „15. Vortheil im Verachtetwerden: – Es ist ein neuer Schritt zum Selbständigwerden, wenn man erst
950
Menschliches, Allzumenschliches I
Ansichten zu äussern wagt, die als schmählich für Den gelten, welcher sie hegt. Da pflegen auch die Freunde und Bekannten scheu und ängstlich zu werden; auch durch dieses Feuer muss die begabte Natur hindurch. Sie gehört sich hinterdrein noch vielmehr sich selber an.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I1,8 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,9) In NL 1875, KSA 8, 5[190], 94, 17–21 ist es ein ‚Ich‘, das die in MA I 619 verallgemeinerte Erfahrung in der Zukunft selbst machen will – und es liegt hier nahe, eine autobiographische Lesart zu wählen: „Es steht mir noch bevor, Ansichten zu äußern, welche als s c h m ä h l i c h für den g e l t e n, welcher sie hegt; da werden auch die Freunde und Bekannten scheu und ängstlich werden. Auch durch dies Feuer muß ich hindurch. Ich gehöre mir dann immer mehr. –“ NL 1876, KSA 8, 17[34], 303, 10–12 reflektiert die Freiheitspotentiale, die das „Verachtetwerden“ biete. In all diesen Texten wird Sich-selbst-Gehören zur Zielvorgabe, das durch Abgrenzung von anderen sich vollzieht. Zu den eigenen Meinungen siehe auch NK ÜK MA I 571.
620. Habe man die Wahl, ziehe man, so MA I 620, das große Opfer dem kleinen vor, denn für eine große Opferbereitschaft könne man sich mit „Selbstbewunderung entschädigen“ (350, 11). Zu MA I 620 gibt es in Mp XIV 1, 202 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit einem roten „A“ und bereits mit der Überschrift der Druckfassung (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,202). Die wenig überraschende Pointe von MA I 620 besagt: Selbstopfer sind keineswegs selbstlos, sie zielen auf emotionalen Gewinn, hier konkret durch das Hochgefühl der „Selbstbewunderung“. Zum Thema des Opfers und des Martyriums siehe oben NK 73, 10–13 sowie unten NK ÜK MA I 630.
621. MA I 621 plädiert für „Liebe“ (350, 16) aus Erkenntnisinteresse: Wolle man etwas Unbekanntes wirklich ergründen, sei man gut beraten, sich ihm mit Liebe zu nähern und alle kritischen Einwände, alles, was einem widerstrebt und widerwärtig daran erscheint, ganz auszublenden. Denn so könne man zum Kern des Gegenstandes vordringen. Danach sei es dem „Verstand“ (350, 24) dann immer noch möglich, seine Vorbehalte anzumelden und alles vorsichtig gegeneinander abzuwägen.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 619–622, KSA 2, S. 349
951
Zu MA I 621 gibt es in Mp XIV 1, 130 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit blauem „A“ und noch ohne die spätere Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,130). Eine Vorarbeit findet sich in U II 5, 36: „Man thut gut etwas Neues mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, das Feindlich-Anstößige fast zu übersehen u. dem Verfasser einen Vorsprung zu geben u. seine Kritik einmal auszuhängen. Da kommt man bis in’s Herz des Neuen, Menschen oder Buches. Hinterdrein macht der Verstand seine Restriktionen gegen diese Überschätzung: man hat einem Dinge mit ihr die Seele aus dem Leibe gezogen.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/U-II-5,36) Die in MA I 622 und U II 5, 36 propagierte „Liebe“ ist nicht einfach Ausdruck eines hermeneutischen „principle of charity“ (dazu im Blick auf N. allgemein Stern 2016), das den jeweiligen Gegenstand – Text, Kunstwerk – möglichst wohlwollend interpretiert, um ihn zu seinem größtmöglichen Recht kommen zu lassen. Vielmehr ist die Liebe radikal instrumentell: Sie wird benutzt, um dem Gegenstand und seinem Urheber möglichst nahe zu kommen und ihn dann zu durchschauen, womöglich zu demaskieren. Liebe ist keineswegs das letzte Wort, sondern vielmehr bloß das erste – auf der Suche nach Erkenntnis, der die Liebe klaglos zu dienen hat.
622. In MA I 622 wird das geheime Lustkalkül von Wertvorurteilen thematisiert. Wer die Dinge zu gut oder zu schlecht einschätze, habe in beiden Fällen einen Lustgewinn: im ersten, weil er „mehr Süssigkeit in die Dinge (Erlebnisse)“ (351, 6) hineinprojiziere, als sie tatsächlich enthielten; im zweiten, weil er vom doch Lustvollen, das in diesen Dingen liege, positiv überrascht würde. Der Nachsatz freilich behauptet, „[e]in finsteres Temperament“ (351, 10) werde jeweils eine „umgekehrte Erfahrung machen“ (351, 11 f.). Heißt das, dass ein solches Temperament gerade keine Lust empfindet und dass damit die verallgemeinerte vorangehende vorurteilspsychologische Hypothese falsifiziert ist? Zu MA I 622 gibt es in Mp XIV 1, 67 eine ‚Reinschrift‘, mit dem (wohl nachträglich von N. hinzugefügten) späteren Titel, markiert mit rotem „A“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,67). Ein Bleistiftnotat in N II 3, 1c lautet: „Einer vorgefasste gute Meinung giebt den Erlebnissen mehr als sie eigentl. enthalten, eine vorgefasste schlechte Meinung verursacht eine angenehme Enttäuschung. Ob man zu gut oder zu schlecht von den Dingen denkt, immer haben wir den Vortheil der höheren Lust dabei“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II3,1c). In dieser Version fehlt also noch der Nachsatz (351, 10–12) über das „finstere Temperament“ und der Satz der Luststeigerung scheint ausnahmslos zu gelten.
952
Menschliches, Allzumenschliches I
623. Sogenannte „[ t ] i e f e M e n s c h e n“ (351, 14) haben nach MA I 623 ihre Tiefe in der „Vertiefung der Eindrücke“ (351, 15), weswegen sie plötzlichen, neuen Erfahrungen gegenüber ziemlich resistent seien, da die eben noch nicht in die Tiefe reichten. Hingegen gingen ihnen lange „erwartete Dinge oder Personen“ (351, 19) im Vorfeld bereits sehr nahe, so dass sie im Augenblick der Begegnung kaum mehr geistesgegenwärtig zu sein vermöchten. Zu MA I 623 gibt es in Mp XIV 1, 286 f. eine ‚Reinschrift‘ von Albert Brenners Hand, markiert mit rotem „A“, noch ohne die spätere Überschrift (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,286et287). Eine Vorarbeit von N.s Hand in U II 5, 73 lautet: „85 Wer seine Stärke in der Vertiefung der Eindrücke kennt [?] – man nennt solche Menschen tiefe Menschen – sind [?] bei allem Plötzlichen verhältnissmässig gefasst u. entschlossen: denn im ersten Augenblick war der Eindruck verhältniss. ˹noch˺ flach ˹er wird dann erst tief˺. Lange vorhergesehene, erwartete Dinge o. Personen regen aber solche Naturen am meisten auf u. machen sie fast unfähig, bei dem endlichen Eintritt derselben noch Geistesgegenwart zu haben“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/U-II-5,73).
624. MA I 624 handelt vom an guten Tagen sichtbaren „h ö h e r e n S e l b s t“ (351, 24), nach dem man einen Menschen beurteilen solle statt nach seiner alltäglichen Form und Fron. Wie die Menschen mit diesem „höheren Selbst“ umgingen, sei wiederum sehr unterschiedlich: Manche versuchten es schauspielerisch immer wieder zu imitieren, andere wollten es verleugnen, weil ihnen die Ansprüche, die es stellt, zu „anspruchsvoll“ (352, 5 f.) erschienen. Es stelle sich ohnehin ein, wann und wie es wolle, weshalb es oft für „eine Gabe der Götter“ (352, 8) gehalten werde. In Wahrheit sei aber alles Sonstige eine Göttergabe, sprich: ein Zufallsprodukt, während das „höhere Selbst“ „der Mensch selber“ (352, 9 f.) sei. Zu MA I 609 gibt es in Mp XIV 1, 259 f. eine ‚Reinschrift‘ von Albert Brenners Hand, noch ohne die spätere Überschrift, markiert mit rotem „A“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,259 u. http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,260). In dem von Köselitz niedergeschriebenen Pflugschar-Manuskript M I 1, 42 findet sich eine Version, die N. nachträglich korrigiert hat und die vor den die Druckfassung konstituierenden Korrekturen lautete: „76. Der Verkehr mit dem Ideal: – Ein Jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst findet; es ist Humanität, Jemanden nach diesem Zustand zu schätzen – zum Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er darzustellen vermochte. Viele Men-
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 623–625, KSA 2, S. 349–352
953
schen sind ihre eigenen Schauspieler, insofern sie das, was sie in jenen Momenten sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth davor: sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit, zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird desswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles Andere Gaben der Götter (des Zufalls) ist; jenes aber ist der Mensch selber.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-I-1,42) Die von N. selbst in U II 5, 179 zu Papier gebrachte Fassung weicht nicht nur am Schluss ab: „Der Verkehr mit dem Ideal. Ein Jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst findet. Humanität ist, jemanden nach diesem Zustande zu taxieren, zB. einen Maler nach seiner höchsten Vision. Aber manche machen das später als Schauspieler nach, was sie in jenem Momente sind. Manche leben in Scheu davor davor u. Demuth. Manche fürchten es als die anspruchsvollsten Momente. Es ist kein Verlaß darauf; Gabe der Götter, so scheint es, während eigentlich alles andere Gaben der Götter (Zufall usw) ist: jenes aber ist der Mensch selbst.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ U-II-5,179) In all diesen Fassungen scheint eine substantialistische Vorstellung vom „höheren Selbst“ vorzuherrschen – als ob die Pluralismuspräferenz von MA I 618 vergessen wäre. Vgl. zu früheren, ähnlichen Passagen bei N. Katsafanas 2016, 200. 351, 24 Ve r k e h r m i t d e m h ö h e r e n S e l b s t.] N. hat den Titel nachträglich in Köselitz’ Niederschrift des Druckmanuskripts D 11, 201 hinzugefügt (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,201). 352, 8 Gabe der Götter] In N.s Werken kommt die Fügung ansonsten nirgends vor; in seiner Lehrveranstaltung Einführung in das Studium der platonischen Dialoge (1871–1875) erinnert er daran, dass Platon im Philebos 16B „die Dialektik ‚die höchste Gabe der Götter, das wahre Feuer des Prometheus‘“ genannt habe (KGW II 4, 159, 24 f.). Nach Euripides: Medea 635 ist die Besonnenheit das schönste Geschenk der Götter. Das Motiv aber, dass die menschliche Vortrefflichkeit selbst ein Geschenk der Götter sei, ist beispielsweise bei Pindar: Isthmische Ode III 4 f. präsent. Aristoteles: Nikomachische Ethik I 10, 1099b u. X 10, 1179b erwägt, inwiefern die glückliche Natur ein Geschenk der Götter sei.
625. MA I 625 handelt von Einsamkeit – von jenen Menschen, die an ihr „Alleinsein“ so sehr „gewöhnt“ (352, 13) seien, dass sie im Monolog mit sich selbst eigentlich ihr Genügen fänden und sich gar nicht vergleichend ins Verhältnis zu andern setzten. Nötige man sie dazu, neigten sie dazu, sich selbst im Vergleich mit den anderen herabzusetzen, so dass sie erst wieder von andern eine gerechte Mei-
954
Menschliches, Allzumenschliches I
nung über sich selbst erlernen müssten. Der Abschnitt schließt mit der Aufforderung, diesen Menschen ihre Einsamkeit zu lassen und sie mit seinem Bedauern zu verschonen. Zu MA I 625 gibt es in Mp XIV 1, 179 eine ‚Reinschrift‘, mit rotem „A“ markiert, noch ohne Überschrift (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,179). Die in MA I 625 verallgemeinerte Beobachtung spricht in NL 1877, KSA 8, 22[73], 391, 11– 15 ein ‚Ich‘ aus, so dass sich eine autobiographische Lesart nahelegt: „Die gute Meinung über mich habe ich von Anderen erst gelernt und subtrahire fortwährend davon ab, mit Grübelei, wenn ich krank bin. / Ein ruhiges freudiges Alleinsein mit mir, in guten Gedanken und Lachen – wie ich auch bin –“. Die Vorbemerkung zur Erstausgabe wies MA I insgesamt als „monologisches Buch“ aus, siehe NK 10, 1–6 – und das Neunte und letzte Hauptstück will dezidiert den „Mensch[en] mit sich allein“ (317, 2) betrachten. Winkler 2021a, 253 argumentiert im Blick darauf: „Offenkundig kann Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches das Erbe der französischen Moralisten glaubwürdig nur antreten, wenn er die Distanz markiert, die seinen monologisch-‘einsamen’ Schreibhorizont von ihrem dialogischgeselligen trennt – raumzeitlich und strukturell.“ Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die Arbeit an MA in Sorrent ja durchaus im tatsächlichen Dialogkontext vorangebracht wurde, so dass das (angebliche) Monologisieren vielleicht weniger der tatsächlichen Produktionsrealität als vielmehr einem Distinktionsbedürfnis entsprang. MA I 491 hatte jedenfalls betont, dass man zur tiefdringenden Selbsterkenntnis des Anderen bedürfe. 352, 21 abziehen und abhandeln wollen] In Mp XIV 1, 179 stattdessen: „subtrahiren“. Die Korrektur erfolgte nachträglich im Druckmanuskript D 11, 201.
626. Hatte sich MA I 625 mit den Einsamen auseinandergesetzt, stehen jetzt die in sich Ruhenden im Brennpunkt. Es seien die, welche eine völlige seelische Harmonie ausgebildet hätten, so dass sie keine Ziele mehr bräuchten, nichts mehr werden und nichts mehr erreichen wollten – Menschen „aus lauter langgezogenen harmonischen Accorden“ (352, 30), ohne jeden Anflug einer „Melodie“ (353, 2), bei jeder äußeren Irritation gleich wieder in diesen melodieabstinenten Wohlklang zurücksinkend. In die Moderne passe dieser Menschentypus nicht mehr; dass er nichts werden wolle, errege vielmehr äußerste Ungeduld bei den Strebsamen, immer schon auf das Andere, Künftige, noch nicht Erreichte hin Agierenden. Dieser Menschentyp, der in sich ruht, konfrontiere einen mit der „Frage: wozu überhaupt Melodie?“ (353, 9) Warum reiche es „uns“ nicht, „wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See spiegelt?“ (353, 10) Im Mittelalter jedenfalls habe es
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 625–626, KSA 2, S. 352
955
mehr solche Menschen gegeben, und auch heute könne man sie gelegentlich noch antreffen. Aber die Frage nach dem Wozu der Melodie, nach dem Wozu der Rastlosigkeit – vgl. MA I 585 – bleibt in MA I 626 offen. Zu MA I 626 gibt es in Mp XIV 1, 70 eine ‚Reinschrift‘, noch ohne den späteren Titel, markiert mit rotem „A“. N. hat sie zur späteren Druckfassung mit einigen Eingriffen umgearbeitet; ursprünglich lautete sie: „Es giebt Menschen, in denen das Beruhen auf sich selbst und ein harmonisches Sichzurechtlegen aller Fähigkeit, jeder zielesetzende[n] Thätigkeit widerstrebt, so dass sie einer Musik gleichen, welche aus lauter langgezogenen harmon. Akkorden besteht, ohne dass je auch nur der Ansatz zu einer gegliederten bewegten Melodie sich zeigte. Alle Bewegung dient nur, dem Kahne sofort wieder sein Gleichgewicht auf dem See harmon. Wohlklangs zu geben. Moderne Menschen werden gewöhnlich auf’s äusserste ungeduldig, wenn sie solche[n] Naturen begegnen, aus denen nichts wird, ohne dass man an ihnen sagen dürfte, dass sie nichts sind. Aber in einzelnen Stimmungen erregt ihr Anblick jene ungewöhnliche Frage: wozu überhaupt Melodie? Genügt es nicht, wenn das Leben sich in einem tiefen See spiegelt? – Das Mittelalter war reicher an solchen Naturen, als unsere Zeit.“ (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,70) Eine Bleistiftnotiz in N II 2, 113 f. lautet: „Es giebt Menschen mit der Faulheit der Harmonie: es will sich durchaus keine Melodie gestalten, sondern alle Bewegung bringt nur eine andre Lage der Harmonie mit sich. Naturen des Mittelalters. / Sie machen ungeduldig langweilen: aber in gewisser Stimmung spiegelt sich das ganze Leben wie in einem tiefen See: mit der Frage: wozu wohin Melodie? –“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II2,113et114) Die „Bewegung“, von der hier und in Mp XIV 1, 70 die Rede ist und die aus dem Gleichgewicht bringen könnte, ist hier im Unterschied zur Druckfassung von MA I 626 keine äußere, sondern eine innere. Das Resultat der sich immer wieder einstellenden „Harmonie“ ist freilich dasselbe. Mit dem Gegensatz von Harmonie und Melodie hat N. schon in NL 1869, KGW III 3, 1[41], 21, 8–11 operiert: „Furchtbarer Kampf der Melodie und Harmonie: letztere drang in das Volk und verbreitete überall den mehrstimmigen Gesang, so daß der einstimmige ganz verloren gieng: damit zugleich die Melodie.“ Das ganze Notat ist – wie im Übrigen auch die folgenden Notate – nicht, wie man bislang glaubte, bei Georg Gottfried Gervinus abgekupfert, sondern vielmehr ein Exzerpt aus Franz Brendels Geschichte der Musik. Die hier relevante Stelle handelt vom 15. und 16. Jahrhundert: „Die Harmonie wurde Gegenstand des feinen Tones in der vornehmen Welt, Gegenstand der Mode; die Melodie trat immer mehr zurück, wurde vernachlässigt und gerieth bald gänzlich in Vergessenheit. Um der immer gesteigerten Nachfrage des Publicums zu genügen, bildete sich eine grosse Anzahl von Sängern für den vierstimmigen Gesang aus. […] Der Kampf der Harmonie und Melodie endigte mit einer völligen Unterdrückung der /68/ letzteren; sie ge-
956
Menschliches, Allzumenschliches I
rieth gänzlich in Vergessenheit, und der einstimmige Gesang musste, so unglaublich dies klingt, um das Jahr 1600 in der That neu erfunden werden. Wenn früher der Contrapunct auf den Kreis der Schule beschränkt gewesen war und in der Welt allein die Melodie sich Geltung erworben hatte, so finden wir im 15ten und 16ten Jahrhundert gerade das Umgekehrte. Die Melodie geht verloren, oder ist auf ganz unbemerkte, untergeordnete Kreise beschränkt, während die Harmonie in den weitesten Kreisen Eingang gewinnt und, alle Herrschaft an sich reissend, der kunstvollen, weltlichen Musik Ursprung und Entstehung giebt.“ (Brendel 1867, 67 f.) Aus seinen musikhistorischen Studien stand N. also deutlich vor Augen, dass „Harmonie“ und „Melodie“ historisch oft getrennte Wege gegangen sind. Das macht er sich in N II 2, 113 f., Mp XIV 1, 70 und MA I 626 bei der Anwendung der musikalischen Analogie auf menschliche „Naturen“ (353, 6) zunutze, indem er manche als rein harmonieorientiert beschreibt. Dass im „Mittelalter“ solche „Naturen“ (351, 11) aufgetreten seien, passt übrigens auch zu Brendels musikhistorischem Befund einer Harmoniedominanz zumindest im Herbst des Mittelalters. 353, 6 f. ohne dass man ihnen sagen dürfte] Das ist ein Druckfehler in KGW u. KSA: Mp XIV 1, 70 (dort korrigiert „von ihnen“ aus „an ihnen“), das Druckmanuskript D 11, 201 und die Erstausgabe haben unisono: „ohne dass man von ihnen sagen dürfte“ (Nietzsche 1878, 365). Der semantisch entstellende Druckfehler ist in diverse von KGW u. KSA abhängige Editionen und Übersetzungen eingewandert. 353, 12–16 Wie selten trifft man noch auf einen, der so recht friedlich und froh mit sich auch im Gedränge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe: „das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse, und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können.“] N. hat diesen Passus nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 201 hinzugefügt (http://www.nietzsche source.org/DFGA/D-11,201), aber statt „friedlich und froh“ (353, 12 f.) „still-innerlich“ geschrieben. In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand das zunächst auch, bis es (von Köselitz?) mit Tinte gestrichen und stattdessen „froh und friedlich“ an den Rand geschrieben wurde (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/403/). In der Erstausgabe heißt es dann „friedlich und froh“ (Nietzsche 1878, 365). In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 sowie in der Erstausgabe steht statt „mir mit“ (353, 15) nur „mit“ (Nietzsche 1878, 365). KGW u. KSA emendieren nach dem Druckmanuskript. Die fragliche Goethe-Stelle stammt aus dessen Tagebuch vom 13. Mai 1780; N. konnte sie der Auswahl-Ausgabe Goethe’s Tagebuch aus den Jahren 1776–1782 entnehmen, die er seit 1875 besaß (NPB 258), wo sie sogar zweimal erscheint – einerseits in den „Vorbemerkungen“ (Goethe 1875, 52), andererseits in der Edition (ebd., 224).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 626–628, KSA 2, S. 353
957
627. MA I 627 versucht sich in einer Zweiteilung der Menschheit, nämlich in eine kleine Minderheit, die aus sehr wenigen Eindrücken sehr viel zu machen wisse, und in eine große Mehrheit, die auch mit vielen Eindrücken nichts anzustellen wisse, sondern ihnen ausgeliefert bleibe „wie Kork“ (353, 25) auf den Wellen. Ja, es gebe, heißt es sarkastisch, die „umgekehrten Hexenmeister“ (353, 29), die, anstatt wie der Schöpfergott aus dem Nichts die Welt zu erschaffen, „aus der Welt ein Nichts schaffen“ (353, 30 f.). Zu MA I 627 gibt es in Mp XIV 1, 249 eine ‚Reinschrift‘, der mit Bleistift nachträglich bereits der Titel „Leben und Erleben“ vorangestellt worden ist (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,249). In Köselitz’ Druckmanuskript steht der Text von MA I 627 auf einem separaten Blatt D 11, 202; auf den eigentlichen Text in schwarzer Tinte folgt weiter von Köselitz’ Hand eine Bemerkung für den Verleger Schmeitzner mit Bleistift: „NB: die letzten Blätter des ganzen Buches ˹Manuscriptes˺ sind Quartblätter; diese 2 Nummern hier rücken vor diesen jenen Quartblättern ein und sind dem [?] entsprechend zu nummeriren.“ Mit den „letzten Blättern“ sind die Vorlagen für die schließlich als MA I 628 bis MA I 637 nummerierten Abschnitte gemeint (D 11, 203–214), wobei der Abschnitt 628 (D 11, 213 f.) ursprünglich als „Epilog“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,213) den Schluss des Gesamtwerkes hätte bilden sollen (vgl. NK ÜK MA I 628). Mit „diesen 2 Nummern“ in Köselitz’ Hinweis für den Verleger ist zum einen MA I 627, also D 11, 202 selbst gemeint, zum anderen aber D 11, 215, jenes Blatt, das den Drucktext des schließlich letzten Abschnitts von MA I, nämlich MA I 638, enthält. Dieser Text sollte nach der nachträglich an Schmeitzner geschickten Anweisung direkt an MA I 627 anschließen, also MA I 628 sein. Ganz zum Schluss hat N. dann MA I 628 und MA I 638 ausgetauscht. MA I 627 und MA I 638 sind die letzten Texte, die N. für die Erstausgabe von MA I fertiggestellt hat. Auf welcher Seite sich die Sprechinstanz in MA I 627 verortet, scheint ziemlich klar zu sein: Offensichtlich kann sie aus Wenigem sehr viel machen. Offen bleibt indes, ob der Text appellativ oder konstativ gemeint ist. 353, 30 f. welche, anstatt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen] In Mp XIV 1, 249 stand vor N.s Korrekturen ursprünglich: „welche, anstatt aus Nichts etwas, aus dem Etwas ein Nichts schaffen“.
628 MA I 628 ist eine Erlebnisvignette, die zeigen soll, was das sprechende ‚Ich‘ aus einem Eindruck machen kann. Dieses beglaubigt so seine Zugehörigkeit zu jener
958
Menschliches, Allzumenschliches I
in MA I 627 thematisierten, verschwindenden Minderheit, die etwas aus einem alltäglichen Erlebnis zu machen vermag, hier nämlich aus einem „Glockenspiel“ (354, 3 f.) in Genua, das in der Dämmerung abends lange von einem Turm her ertönte, „so schauerlich, so kindisch zugleich, so wehmuthsvoll“ (354, 6 f.). Das führt das ‚Ich‘ dann ebenso weit fort, wie der Glockenschall erklingt, und lässt es mit Platon darauf verfallen, dass „a l l e s M e n s c h l i c h e“ „d e s g r o ß e n E r n s t e s n i c h t w e r t h“ (354, 8 f.) sei – um dann nach einem Semikolon ein trotziges „t r o t z d e m“ (354, 9 f.) mit zwei Gedankenstrichen hinterherzuschicken. Die Allerweltserfahrung eines Kirchenglockengeläuts hatte schon MA I 113, KSA 2, 116 f. aufgeboten – dort jeder Ortsspezifikation entkleidet, die in einer vorbereitenden Notiz noch auf das Berner Oberland verwiesen hatte (vgl. D’Iorio 2020, 115). Das geschah an jener Stelle zur Demonstration, wie fremd den Jetztzeitmenschen das Christentum als antikes, jeder Glaubwürdigkeit beraubtes Relikt geworden sei, obwohl es noch hörbar in die Gegenwart hineinrage. In MA I 628 hingegen wird die Allerweltserfahrung zeitlich und örtlich individualisiert – scheinbar wenigstens, denn weder erfahren die Leser, von welchem Turm Genuas die Glocken erklangen (war es wirklich ein Kirchturm?), noch, an welchem Tag sich das abenddämmerliche Ohrenspiel zutrug. Das ‚Ich‘ dieses Textes behauptet immerhin, es sei ihm just in diesem Augenblick Platon in den Sinn gekommen, mit dem Gedanken, das Menschliche sei des großen Ernstes nicht wert (vgl. Nomoi 803a–c und Politeia 604c). Das Göttliche, das bei Platon im Unterschied zum Menschlichen des Ernstes wert ist, wird in MA I 628 nicht explizit entgegengesetzt; man mag es im „Glockenspiel“ alludiert sehen; dieses aber sei nicht nur „schauerlich“, oder gar feierlich und erhaben, sondern vor allem „kindisch“. Für das ‚Ich‘ bietet ein Göttliches im Unterschied zu Platon jedenfalls keine Fluchtperspektive mehr; an Göttliches zu glauben, wäre kindisch. Vom göttlichen Ernst befreit zu sein, ist befreiend – und noch befreiender ist es womöglich, auch dem Menschlichen keinen letzten Ernst zubilligen zu müssen und in skeptischer Reserve gegen alle Ernstüberlastungen zu bleiben. MA I 628 hat eine verwickelte Textgeschichte: Der Abschnitt geht ursprünglich zurück auf eine Notiz in N II 2, 4, die N. wohl am 11. Mai 1877 auf der Rückreise von Sorrent in Genua zu Papier gebracht hat und in der Platon und die Glocken bereits zusammen erklangen: „Glockenspiel Abends in Genua – wehmütig schauerlich kindisch. Plato: nichts Sterbliches ist grossen Ernstes würdig.“ (KGW IV 4, 240; siehe das Faksimile bei D’Iorio 2020, 104, dort falsch datiert auf den 11. März 1877) Platons Nomoi hat die kleine Denkgemeinschaft in Sorrent übrigens im Winter 1876/77 gelesen (Salerno 2021, 52). In einem anderen in Sorrent benutzten Heft hat N. notiert: „Alles Menschliche insgesamt ist keines grossen Ernstes werth“ (N II 3, 64; vgl. D’Iorio 2020, 114 f., wo auch noch einschlägige Notate mit dem Platon-Bezug von 1875 mitgeteilt werden), in einer Variante schon in U II 5b vom
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 628, KSA 2, S. 353
959
Sommer 1876: „Das Leben verlohnt sich nicht mit aller der Mühe“ (NL 1876, KSA 8, 17[8], 298, 1). Dieser pessimistische Zungenschlag, der auch Leopardi und Schopenhauer anklingen lässt, kehrt an einigen Stellen wieder (zu N. und Leopardi auch Vivarelli 2019b, 33–47). Das N. schon von Heraklit her bekannte und von ihm häufig durchgespielte Motiv, dass die Menschen ein Spielzeug in göttlicher Hand seien (vgl. z. B. NK KSA 1, 153, 11–17, NK KSA 5, 323, 31–34 u. NK KSA 6, 208, 18–21), dürfte N. auch in christlicher Verbrämung untergekommen sein, so in einem Luther zugeschriebenen Spruch: „Die Menschen sind unsres Herrgotts Kartenspiel“ (Altdeutscher Witz 1877, 6). Die Genueser Glockenepisode konnte in anderen Verarbeitungsstufen – so in einer nach dem Genueser Aufenthalt in Rosenlauibad gedichteten Version (NL 1877, KSA 8, 22[45], 386) – Platon und das Verdikt über das Menschliche, des großen Ernstes nicht wert zu sein, ganz ausblenden. Den einschlägigen Satz aus Platon: Politeia 604c hatte sich N. in der griechischen Ausgabe des Textes sogar unterstrichen – in einem Band, wo es sonst fast gar keine Lesespuren gibt: „οὔτε τι τῶν ἀνθρωπίνων ἄξιον ὂν μεγάλης σποuδῆς“ (Plato 1852, 4, 298). Als Platon und mit ihm die ganze metaphysische Tradition, die das Hier und Jetzt des Menschen abwertete, wiederum in die Glockenerinnerung zurückkehrten, fehlte noch immer das „t r o t z d e m“, mit dem das sprechende ‚Ich‘ dem platonischen Nichtigkeitsverdacht die Stirn bietet. In einer Fassung, die N. in Mp XIV 1, 222 vermerkt hat, heißt es: „Alles Menschliche insgesammt. Ich hörte Abends in Genua ein Glockenspiel von einem Kirchthurm herab: es war etwas so Wehmüthiges Schauerliches Kindisches darin, dass ich empfand, was Plato sagte: ‚Alles Menschliche insgesammt ist keines großen Ernstes werth.‘ / Sehnsucht nach dem Tode. – Wie der Seekranke vom Schiff in erstem Morgengrauen nach der Küste zu späht, so sehnt man sich oft nach dem Tode – man weiss, dass man den Gang und die Richtung seines Schiffes nicht verändern kann.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,222) Dieser zweite Teil entfällt dann ganz, und in der Version in Mp XIV 1, 114 ist man der schließlichen Druckfassung bereits ziemlich nah: „Trotzdem. – In Genua hörte ich, zur Zeit der Abenddämmerung, von einem Thurme her ein langes Glockenspiel: das wollte nicht enden und klang, wie unersättlich an sich selber, über das Geräusch der Gassen in den Abendhimmel und die Meerluft hinaus, so schauerlich, so kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. Da gedachte ich der Worte Plato’s und fühlte sie auf einmal im Herzen: Alles Menschliche insgesamt ist des grossen Ernstes nicht werth; trotzdem – –“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,114). Das „trotzdem“ kam also erst gegen Ende der Textentstehung ins Spiel und zum Strahlen – und verschaffte der freigeistigen Fundamentalopposition gegen das denkerische Herkommen – gegen den Platonismus und seine Diesseitsverächtlichmachung – mit nur einem einzigen Wort gewaltigen Nachhall, zumal Abschnitt 628 zunächst das Ende des gesamten Werkes
960
Menschliches, Allzumenschliches I
MA I hätte bilden sollen. In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 ist Abschnitt 628 (Seite 366 f.) noch „D e r Wa n d e r e r“, mit dem als Abschnitt 638 in der Erstausgabe MA I dann abgeschlossen werden wird (Nietzsche 1878, 376 f.), während umgekehrt der nachmalige Abschnitt 628 als Abschnitt 638 in den Korrekturbogen unter dem Titel „E p i l o g“ (statt „Trotzdem“ wie in Mp XIV 1, 114) den Schluss gebildet hat (vgl. NK ÜK MA I 627). Mit Bleistift wird dann die Neunummerierung vermerkt (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/164 8750028/325/). Zum Hintergrund der Glockenbildlichkeit siehe auch NK KSA 4, 285, 3–8. Glockenspiel und Wehmut hat N. bereits in einem frühen Notat über die Kirchenglocken in seinem Geburtsort Röcken zu einem Motiv verschränkt, siehe NL 1858, KGW I 1, 4[77], 283; es wird auch im sogenannten Mitternachtslied von Za III wiederkehren (vgl. NK 4/2, S. 381–390 sowie z. B. Liessmann 2021, 289–291). MA I 628 hat – gerade auch, weil es der ursprüngliche Schluss des gesamten Werkes war – in der Forschung einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen, siehe z. B. Perkins 1977, D’Iorio 2000, D’Iorio 2005, Ponton 2007, 46–81, D’Iorio 2011, Pestalozzi 2013 (2015); umfassend aufgearbeitet ist der Genueser Glockenkomplex mit seinen Herkünften und seinen Abkömmlingen bei D’Iorio 2020, bes. 104–122. Das Genua-Motiv wird bei N. auch später Funken schlagen, so beispielsweise in FW 291, dazu NK 3/ 2.2, S. 1103–1111 sowie Sommer 2022g. 354, 2 E r n s t i m S p i e l e] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand ursprünglich (wie im Druckmanuskript D 11, 213): „E p i l o g“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/325/). N. hat diesen Titel durchgestrichen und am Rand mit Bleistift notiert: „Spiel und Ernst“, dies wiederum mit brauner Tinte durchgestrichen und den endgültigen Titel „Ernst im Spiele“ vermerkt – „in Anlehnung an die Tatsache, dass in dem Aphorismus ein Glockenspiel ertönt – und indem er das Wortspiel dann weiter verfolgt, findet er den endgültigen Titel: Ernst im Spiele“ (D’Iorio 2020, 120). In der ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1, 114 stand stattdessen noch „Trotzdem“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/MpXIV-1,114). Das „Trotzdem“, mit dem MA I 628 dann immerhin endet, markiert einen unaufhebbaren Widerspruch zur christlichen (Glockengeläut) und platonischen Einheitsfront. Der Lesende muss selbst sagen, was dann kommen soll – Ernst, Heiterkeit oder „Ernst im Spiele“. 354, 4 f. das wollte nicht enden und klang, wie unersättlich an sich selber] Es ist dies der entscheidende Punkt, an dem der „Ernst“ Einlass findet: Die subjektive Wahrnehmung – in ihrem Projektionscharakter erkennbar an der Subjektivierung der Zeiterfahrung und dem Vergleichspartikel „wie“ – verwandelt das Hören des Glockenspiels in das momenthafte Totalerlebnis eines rein selbstbezüglichen Lebens, wie es schon in UB II HL 3 als „jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht“ (KSA 1, 269, 21) ausgewiesen wird.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 628–629, KSA 2, S. 354
961
354, 5 Geräusch der Gassen] Zum Genueser Lärm und Gassengewirr NK KSA 3, 523, 2–6. 354, 9 f. t r o t z d e m – –] „1885 fasst Nietzsche den Plan, Menschliches, Allzumenschliches im Rahmen einer Ausgabe seiner gesammelten Schriften neu zu schreiben. Der Plan wird zwar nicht ausgeführt, aber Spuren in seinen Notizheften zeugen von den Vorarbeiten. In einer der Aufzeichnungen listet Nietzsche die Hauptthemen von Menschliches, Allzumenschliches auf und schließt mit dem Ausruf: ‚IV Schluß: In G e n u a: Oh meine Freunde. versteht ihr dieß ‚Trotzdem‘? – –‘ [NL 1885, KSA 11, 42[3], 695, 10 f.] Damit beweist er, dass ihm vollkommen klar ist, dass Aphorismus 628 der eigentliche Schluss des Buches ist und die Bedeutung dieser Schrift gerade in dieser Kampfansage liegt, in diesem trotzdem, mit dem der Autor nach der Epiphanie von Genua die gesamte Geschichte der platonischen Philosophie herausfordert.“ (D’Iorio 2020, 132) Dazu auch Schwab 2011, 613, Fn. 159.
629. MA I 629 bildet den Auftakt zu einer längeren Aphorismenkette, die bis MA I 637 und damit bis zum zweitletzten Abschnitt des gesamten Werkes reicht. Im Fokus steht ein Thema, das der allererste Abschnitt des Neunten Hauptstücks, MA I 483, vorgegeben hatte, nämlich Überzeugungen als Feinde der Wahrheit. MA I 629 setzt ein mit den Leidenschaften, die die Menschen zu etwas hinrissen, was sie nachher bereuten. Die „S c h ä t z u n g d e r L e i d e n s c h a f t e n“ (354, 21 f.) sei den Künstlern zu verdanken, die auch deren schreckliche Folgen zu verherrlichen pflegten und damit die „Neugierde nach den Leidenschaften“ (354, 27) lebendig hielten. Nach einem Gedankenstrich in 354, 29 tritt das Problem der Leidenschaften in den Hintergrund und die Frage nach der Bindungsverpflichtung einmal gelobter Treue in den Vordergrund, egal, wem auch immer diese Treue geschworen worden ist. Aus der leidenschaftlichen Anfangsverblendung erwacht, frage man sich, ob man dem ursprünglichen Versprechen treu sein müsse. Das wird entschieden verneint, nicht nur, weil man es als ein „hypothetisches Versprechen“ (335, 4) ansehen könnte, nämlich unter der Voraussetzung, dass das einst Angebetete tatsächlich ist, was es damals zu sein schien (was es aber nicht ist). Es gebe überhaupt keine Verpflichtung, Ideale nicht wieder aufgeben zu dürfen, vielmehr müssten „wir „Verräther“ werden, „Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben“ (355, 10–12). Womöglich sei auch der Schmerz über den Verlust alter Überzeugungen und den Übergang zu neuen gar nicht angemessen. Überzeugungswechsel seien notwendig, und die landläufige Bewunderung für diejenigen, die ihren Überzeugungen zeitlebens treu blieben, beruhe auf dem Glauben, dass
962
Menschliches, Allzumenschliches I
niemand seine Überzeugungen wechsle, solange sie ihm nützten. Wäre dem aber so, würde das der „i n t e l l e c t u e l l e [n] Bedeutung aller Ueberzeugungen“ (355, 28 f.) ein verheerendes Zeugnis ausstellen. Daher sei zu untersuchen, „wie Ueberzeugungen entstehen“ (355, 29 f.), ob man sie nicht überschätze, ob man den Überzeugungswechsel nicht ganz falsch beurteile und ob das Leiden daran überflüssig sei. Zu MA I 629 gibt es zwei ‚Reinschriften‘, die beide viele nachträgliche Korrekturen N.s aufweisen: Zum einen umfasst Mp XIV 1, 38 (markiert – jeweils durchgestrichen – mit rotem „A“, rotem „B“ und „AA I“) grosso modo den späteren Drucktext 354, 13 bis 355, 16 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,38), zum anderen Mp XIV 1, 222 (mit durchgestrichenem rotem „AA“ markiert) den Drucktext 355, 17 bis 355, 33 (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,222). Eine Bleistiftnotiz in N II 3, 80 lautet: „Man bewundert den, welcher für seine Überzeugungen leidet u stirbt, man verachtet den, welcher sie aufgiebt; aus Furcht vor Nachtheil, Schande oder aus Hartnäckigkeit bleibt man dabei.“ Quer über demselben Blatt oben steht: „Überzeugung ist Erkenntniss vers.[?] mit Willensimpulsen“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,80). Thematisch einschlägig sind auch NL 1876/77, KSA 8, 23[38], 417 (vgl. NK 73, 10–13) u. NL 1876/77, KSA 8, 23[101], 439, 23–440, 7 im Blick auf die „Künstler“ als „A d v o k a t e n d e r L e i d e n s c h a f t“ (439, 23 f.). „G e r e c h t i g k e i t“ wird in der Überschrift 354, 12 f. (die erst im Druckmanuskript D 11, 202 erscheint) prominent aufgerufen, explizit und verbatim thematisiert wird sie erst in MA I 636 und MA I 637. Die Überschrift „V o n d e r U e b e r z e u g u n g u n d d e r G e r e c h t i g k e i t“ (354, 12 f.) soll offensichtlich nicht nur für MA I 629 gelten, sondern für sämtliche Abschnitte bis und mit MA I 637, die allesamt keine eigenen Überschriften tragen. Damit wird die Zusammengehörigkeit dieser Texte unterstrichen, die freilich aus unterschiedlichen Entstehungskontexten stammen und nachträglich zusammengestellt worden sind. Der hier propagierte Abschied von einengenden Überzeugungen korrespondiert mit der in MA I 618 geforderten Blickfreiheit und Beweglichkeit des Erkenntnisdurstigen. 354, 16–18 Folgen des Zornes, der aufflammenden Rache, der begeisterten Hingebung in alle Zukunft hin] In Mp XIV 1, 38 von N. korrigiert aus: „Consequenzen des Zornes des Geschlechtstriebes“. 354, 21 f. S c h ä t z u n g d e r L e i d e n s c h a f t e n] Die Sperrung hat N. in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 veranlasst (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/405/). 354, 26 f. Jedenfalls: halten sie] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte korrigiert aus: „Immerhin: sie halten“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/405/).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 629, KSA 2, S. 354–355
963
354, 30 f. weil man sein Herz hingegeben hat] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte korrigiert aus: „weil man Eide gegeben hat“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/406/). 354, 32 einem Künstler, einem Denker,] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte hinzugefügt (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/406/). 355, 1 jene Wesen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte korrigiert aus: „jenen Fürsten, Weib, Orden, Partei“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/406/). 355, 2–4 ist man nun unentrinnbar fest gebunden? Ja haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit Bleistift korrigiert aus: „ist man nun unentrinnbar fest gebunden, ja haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen?, war es“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/406/). 355, 9 diese Treue an unserem höheren Selbst] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte korrigiert aus: „diese Treue an uns und Andern“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/406/). 355, 11 Verräther] In Mp XIV 1, 38 stattdessen: „Verräther“. 355, 11 f. unsere Ideale immer wieder] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte korrigiert aus: „die Ideale unserer Jugend“ (https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/406/). 355, 14–17 Wäre es nöthig, dass wir uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer Empfindung hüten müssten? Würde dann die Welt nicht zu öde, zu gespenstisch für uns werden?] In Mp XIV 1, 38 stattdessen: „Es wäre traurig, wenn wir uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor unseren Aufwallungen der Empfindung fürderhin hüten wollten.“ Ursprünglich stand da, von N. gestrichen: „Allmählich hüten wir uns vor unseren Aufwallungen der Empfindung; auch taxiren wir Untreue Anderer an uns milde, als ˹denn sie ist˺ nothwendig.“ Darauf folgt, auf die Folgeseite Mp XIV 1, 39 ausgreifend, halb gestrichen, hab nicht: „Müssen wir einmal Verräther sein, dann wenigstens edle Verräther“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,38et39). Das Thema des „edlen Verräthers“ kehrt dann in MA I 637 wieder; es reicht zurück zu NL 1876, KSA 8, 17[66], 308, 3: „Es leben die edlen Verräther!“ 355, 16 hüten müssten? Würde dann die Welt] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit brauner Tinte korrigiert aus: „hüten müssten?, würde die Welt“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/406/).
964
Menschliches, Allzumenschliches I
355, 18–20 Ueberzeugung n o t h w e n d i g sind oder ob sie nicht von einer i r r t h ü m l i c h e n Meinung] Die Sperrungen wurden in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit Bleistift und mit brauner Tinte veranlasst (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/406/). 355, 23 f. dass nur Motive gemeineren Vortheils oder persönlicher Angst] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit brauner Tinte korrigiert aus: „dass nur Motive persönlichen Vortheils oder der Besorgniss“ (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/406/). 355, 25 Grunde,] KGW u. KSA setzen hier gemäß dem Druckmanuskript D 11, 204 (wie GoA) ein Komma, das freilich in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 sowie in der Erstausgabe selbst fehlt (Nietzsche 1878, 368). 355, 29 Bedeutung aller Ueberzeugungen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „Bedeutung solcher Ueberzeugungen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/407/). In Mp XIV 1, 222 folgen nach „Überzeugungen“ ein Punkt und ein Gedankenstrich sowie der dann gestrichene, ursprüngliche Schlusssatz: „Eine Überzeugung ist ein aus Willens-Impulsen hervorgegangenes Stück ˹unreiner˺ Erkenntniss.“ Vgl. das in NK ÜK MA I 629 mitgeteilte Notat aus N II 3, 80. 355, 32 We c h s e l] Die Sperrung wurde in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte veranlasst (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/407/). 355, 33 f. dass wir bisher zu viel an diesem Wechsel zu leiden pflegten] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „dass wir zu viel an diesem Wechsel leiden“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/407/). Zugleich hat N. angewiesen, „zu viel“ gesperrt zu setzen. In der Erstausgabe wurde diese Korrektur aber nicht berücksichtigt (Nietzsche 1878, 368).
630. MA I 630 beginnt mit einer präzisen Bestimmung dessen, was eine Überzeugung ausmacht, nämlich der Glaube, „im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein“ (356, 3). Die wiederum setze drei Dinge voraus, nämlich erstens, dass es unbedingte Wahrheiten gebe, zweitens, dass man über die „vollkommenen Methoden“ (356, 5) verfüge, um diese Wahrheiten zu erkennen, sowie drittens, dass jeder, der Überzeugungen habe, auch diese Methoden anwende. Man sehe daran sofort, dass Überzeugungen und Wissenschaft in einem unauflöslichen Gegensatz stün-
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 629–630, KSA 2, S. 355
965
den und es sich bei Überzeugungen um kindische Relikte aus der Vergangenheit handle, die freilich während Jahrtausenden das Geschick der Menschheit bestimmt hätten. Zahllose Menschen hätten für ihre Überzeugungen, ihre eingebildeten Wahrheiten das Martyrium auf sich genommen; man habe mit Zähnen und Klauen an seinen Überzeugungen festgehalten, weil mitunter die „ewige Seligkeit“ (356, 22) daran zu hängen schien. Entsprechend habe man entweder den Verstand dem Wollen untergeordnet oder die Erkenntniskraft des Verstandes ganz in Abrede gestellt. „Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthätig gemacht hat, sondern der Kampf des Glaubens an die Meinungen, das heisst der Ueberzeugungen.“ (356, 29–32) Hätten all die Überzeugungsbewegten ihre Kraft in die kritische Analyse ihrer Überzeugungen investiert, wäre die Menschheitsgeschichte viel friedlicher verlaufen: Inquisitoren hätten sich selbst und ihr Fürwahrhalten inquiriert und vorgebliche Ketzer hätten ihre eigenen, so schlecht begründeten Überzeugungen leichthin preisgegeben. Zu MA I 630 gibt es zwei ‚Reinschriften‘: Zum einen umfasst Mp XIV 1, 113 (markiert mit schwarzem „A“) die Vorlage für den späteren Drucktext 356, 2 bis 356, 14 und lautet: „Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Punkte der Erkenntniss im Besitz der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gäbe; ebenfalls dass es eine vollkommene Methode gäbe, um zu ihnen zu gelangen. Beide Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Ueberzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftl. Denkens ist, er steht im Alter der ˹theoret.˺ Unschuld vor uns und ist ein Kind, wie erwachsen er auch sein mag. Ist Ganze Jahrtausende haben in jenen Voraussetzungen gelebt: aus ihnen sind die mächtigsten Kraftquellen der Menschheit hervorgeströmt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,113) In dieser Fassung sind es also im Unterschied zum Drucktext nur zwei und nicht „drei Aufstellungen“ (356, 8), die als konstitutiv für die Überzeugungsmenschen geltend gemacht werden. Der dritte Punkt ist ohnehin weder zwingend noch besonders schlüssig: Der Überzeugungsgläubige muss keineswegs voraussetzen, dass „Jeder, der Ueberzeugungen habe“ (356, 6 f.), auf methodisch gesichertem Grund agiere. Vielmehr wird er wohl allen, die nicht seine eigenen Überzeugungen teilen, sondern andere haben, diese Methodensicherheit gerade absprechen – so wie der Inquisitor, der am Ende von MA I 630 ins Spiel kommt, den Ketzern. Zum anderen gibt es in Mp XIV 1, 107 eine ‚Reinschrift‘ (markiert mit rotem „B“, rotem „AA 33“ und rotem „Dep. [?] 333“), die einen anderen Anfang hat, bevor sie den schließlichen Drucktext 356, 14 bis 356, 32 bringt, aber über weite Strecken als umfassende Umarbeitung eines ursprünglich anderslautenden Textes. Dieser ursprüngliche Text lautete im Zusammenhang: „Weil eine starke Empfindung uns das Objekt derselben sehr eindringlich spüren lässt, so macht man die Verwechslung zu glauben, sie beweise die Wahrheit einer Thatsache: wäh-
966
Menschliches, Allzumenschliches I
rend sie doch nur sich selbst oder eine als Grund vorgestellte Sache beweist. Die starke Empfindung beweist die Stärke einer Vorstellung, nicht die Wahrheit des Vorgestellten. Jene zahllosen Menschen, welche sich für ihre Ueberzeugungen opferten, meinten es für die ‚Wahrheit‘ zu thun: sie alle hatten Unrecht darin, wahrscheinlich hat noch nie ein Mensch sich für die ‚Wahrheit‘ geopfert; mindestens war der dogmat. Ausdruck seines Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftl. Man will sich durch kein Mittel seinen Glauben entreißen lassen dh. stat pro ratione voluntas, man will recht haben: weshalb es bei den Disputat. der Ketzer aller Art nicht streng wissenschaftl. zugeht, sie haben gar nicht die Kälte u Skepsis des theoret. Menschen, denn sie meinen, ihre Seligkeit hänge davon ab, sie kämpfen für das Fundament ihrer Seligkeit u. glauben nicht widerlegt werden zu können: sind die Gegengründe sehr stark, so bleibt ihnen noch übrig, die Vernunft überhaupt zu verlästern u. vielleicht gar das credo quia absurdum est als Fahne des äussersten Fanatismus aufzupflanzen. – Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthätig macht, sondern der Kampf des Glaubens an die Meinungen dh. so vieler fast unbelehrbarer Parteien Individuen mit zugestopften Ohren, welche immer dasselbe schreien.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,107) Die erste lateinische Wendung, die dann nicht zum Druck kam, nämlich „stat pro ratione voluntas“, ist eine Abwandlung aus: Decimus Iunius Iuvenalis: Satiren VI 223: „Hoc volo, sic iubeo: sit pro ratione voluntas“ („Dies will ich, so befehle ich es: statt des Grundes gelte der Wille“). Bei N. steht nun der Indikativ von „stare“ anstelle des Konjunktivs von „esse“: „der Wille steht an Stelle des Grundes/der Vernunft“. Auch diese Umstellung ist bereits ein geflügeltes Wort. Für den Schlussteil von MA I 630, also 356, 32 bis 357, 13, ist keine ‚Reinschrift‘Vorlage belegt, thematisch jedoch vorbereitend sind NL 1876/77, KSA 8, 23[156], 461, 16–462, 21 – dort als Entwurf einer „Vorrede“ – sowie NL 1876/77, KSA 8, 21[61], 375. Thematisch stehen die ganzen Ausführungen über die Ketzer im Horizont der Lektüre von Hartpole Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung. Dass Martyrien nichts beweisen, bleibt bei N. ein stetes Motiv, vgl. oben NK 73, 10–13. MA I 630 erinnert an positivistische Erkenntnisstufenleitern, die im Stile von Auguste Comte Überzeugungen als minder aufgeklärte Form des Fürwahrhaltens deklarieren und gegen die (platonisierend-)christliche Priorisierung von oben kommender, metaphysischer Erkenntnisse opponieren. Aus der Perspektive von MA I 630 ist das nur eine kindliche, naive Vorstellung (vgl. zum Motiv des naiven Kindes den „kindisch[en]“ (354, 6) Glockenklang in MA I 628). Zugleich räumt MA I 630 ein, dass diese blinden Überzeugungen kulturell über Jahrtausende kraftspendend gewesen seien – ein Motiv, das unter dem Stichwort der „Spannung“ in der Vorrede zu JGB wiederkehrt, vgl. NK 5/1, S. 65–74. Zu MA I 630 vgl. auch Emden 2014a, 57.
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 630–631, KSA 2, S. 355–356
967
356, 13 f. Kraftquellen der Menschheit] Von N. in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 205 korrigiert aus: „Kraftquellen der menschlichen Hervorbringungen“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,205). 356, 16 Unrecht darin: wahrscheinlich] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit Bleistift korrigiert aus: „Unrecht darin, wahrscheinlich“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/407/). 356, 20 meinte,] Im Druckmanuskript D 11, 205, in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 369) und in N.s Handexemplaren fehlt das Komma nach „meinte“. KGW u. KSA ‚emendieren‘ nach GoA. 356, 28 „credo quia absurdum est“] „Ich glaube, weil es widersinnig ist“. Die lateinische Sentenz hat man dem altkirchlichen Schriftsteller Tertullian zugeschrieben, bei dem es ihn in dieser Prägnanz nicht gibt, siehe ausgiebig NK KSA 3, 15, 13 u. NK KSA 6, 229, 27 f. 356, 30 f. sondern der Kampf des Glaubens an die Meinungen] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 von N. mit brauner Tinte korrigiert aus: „sondern der Glaube an die Meinungen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1648750028/408/).
631. MA I 631 folgert (vermeintlich aus dem in MA I 630 Gesagten), dass alle Skepsis und jeder Relativismus den Zeitaltern felsenfester Überzeugungen als hassenswert erschienen seien. Man habe die Überzeugungen vielmehr mit allen Mitteln abzusichern versucht. Allmählich aber bilde sich ein wissenschaftlicher Geist heraus, für den die (pyrrhonische) Urteilsenthaltung charakteristisch sei, und zwar nicht nur in praktischen, sondern auch in theoretischen Belangen. Dem unwissenschaftlichen Menschen wie Tasso in Goethes gleichnamigem Drama bleibe dies zwar fremd, aber der wissenschaftliche Mensch habe seinerseits wiederum kein Recht, jenen zu tadeln, er übersehe ihn einfach und wisse überdies, dass in bestimmten Fällen jener sich noch an ihn klammern werde, „so wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut“ (358, 5). Zu MA I 631 gibt es in Mp XIV 1, 29 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit rotem „B“, rotem „AA“, braunem „B“ und roter „4“. Diese Version weist zahlreiche Überarbeitungen auf (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,29). In Goethes berühmtem Drama Torquato Tasso, auf das N. immer wieder zurückkommt (vgl. z. B. NK KSA 1, 457, 27–29, NK KSA 5, 5, 354, 15–17 u. NK KSA 6, 287, 3–6), fühlt sich der Titelheld und schwärmerische Dichter Tasso in Konkurrenz zum diplomatisch
968
Menschliches, Allzumenschliches I
geschickten und vernünftig-entspannten Staatssekretär Antonio Montecatino und gerät ganz von Sinnen, bevor er in Antonio doch einen Freundesfelsen erkennt (vgl. NK 358, 3–5). Zu Tasso und Antonio in MA I 631 Heller 1972b, 437, Fn. 9, Barbera 2004, 55, Piazzesi 2010b, 360, Fn. 25, Pestalozzi 2012, 26 u. Venturelli 2021, 109, vgl. zu MA I 631 auch Babich 2021, 207. 357, 17 M i s s b e h a g e n] Die Sperrung wurde in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte veranlasst (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1648750028/409/). 357, 19–21 man zieht meistens vor, sich einer Ueberzeugung, welche Personen von Autorität haben (Väter, Freunde, Lehrer, Fürsten), auf Gnade oder Ungnade zu ergeben] In Mp XIV 1, 29 von N. korrigiert aus: „man zieht meistens vor, sich einer Metaphysik, sei es selbst die des Materialismus auf Gnade oder Ungnade zu ergeben“. Im Druckmanuskript D 11, 207, in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 370) und in N.s Handexemplaren fehlt das Komma nach der Klammer. KGW u. KSA ‚emendieren‘ nach GoA. 357, 26 Tugend der v o r s i c h t i g e n E n t h a l t u n g] Gemeint ist die skeptische ἐποχή, vgl. z. B. NK ÜK MA I 21 u. NK 259, 6. 357, 30 als einen Gegenstand] Im Druckmanuskript D 11, 207, in der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 370) und in N.s Handexemplaren steht: „als ein Gegenstand“. KGW u. KSA ‚emendieren‘ nach GoA. 357, 32 Mensch der Ueberzeugung] In Mp XIV 1, 29 hat N. „Mensch der Überzeugungen“ korrigiert aus „Künstler“. In D 11, 207 wird daraus „Mensch der Überzeugung“. Diese Formulierung nimmt N. dann, ohne sie als Selbstzitat zu kennzeichnen, in AC 54 auf: „Erwägt man, wie nothwendig den Allermeisten ein Regulativ ist, das sie von aussen her bindet und festmacht, wie der Zwang, in einem höheren Sinn die S k l a v e r e i, die einzige und letzte Bedingung ist, unter der der willensschwächere Mensch, zumal das Weib, gedeiht: so versteht man auch die Überzeugung, den ‚Glauben‘. Der Mensch der Überzeugung hat in ihr sein Rückgrat.“ (KSA 6, 236, 33–237, 5) 358, 3–5 weiss ausserdem, im bestimmten Falle, dass Jener sich an ihn noch anklammern wird, so wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut] In Mp XIV 1, 29 folgt danach noch: „Vor Allem sieht er ein, dass der M d. Üb. nützlich ist.“ Tassos letzte Worte in Goethes Drama (5. Akt, 5. Auftritt) sind an Antonio gerichtet, der ihn bei der Hand genommen hat: „Berstend reißt / Der Boden unter meinen Füßen auf! Ich fasse dich mit beiden Armen an! / So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“ (Goethe 1853–1858, 13, 226)
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 631–633, KSA 2, S. 357–358
969
632. Wer nicht die Fähigkeit hat, sich von einmal gefassten Überzeugungen zu lösen, bleibt MA I 632 zufolge ein fanatischer, blind rechthaberischer Vertreter „z u r ü c k g e b l i e b e n e r Culturen“ (358, 10 f.). Ein solcher Geist könne zwar in einer erschlafften Kultur eine „Kraftquelle“ (358, 16) sein und „heilsam“ (358, 17) werden, aber nur dadurch, dass er Gegenreaktionen provoziert, namentlich eine Kulturerneuerung, die sich im Kampf mit ihm stähle. Zu MA I 632 gibt es in Mp XIV 1, 29 eine ‚Reinschrift‘ mit einigen Überarbeitungen, die unmittelbar auf die ‚Reinschrift‘ zu MA I 631 folgt (http://www. nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,29). Als Prototyp für einen solchen zurückgebliebenen, fanatischen Überzeugungstäter macht MA I 237 Martin Luther namhaft. Auch in MA I 633 folgt dann gleich das Thema der Reformation. Vgl. zu den Zurückgebliebenen auch NK ÜK MA I 614. 358, 10 z u r ü c k g e b l i e b e n e r] Die Sperrung wurde in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte veranlasst (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/410/). 358, 11 f. Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt)] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 hat N. mit Bleistift „Bildbarkeit“ an Stelle von „Wandelbarkeit“ gesetzt (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/410/). Demgegenüber steht das beim frühen N. benutzte, polemische Schlagwort der „Gebildetheit“, die keine weitere Bildbarkeit mehr zulässt, dazu ausführlich Sommer 2014c. 358, 19 das zartere Gebilde der neuen Cultur] In Mp XIV 1, 29 stattdessen: „die höhere fortschreitende Cultur“.
633. MA I 633 beginnt damit, „uns“ Gegenwartsmenschen in den Horizont der Reformationszeit einzuordnen: Zwar seien wir „im Wesentlichen noch dieselben Menschen“ (358, 22), hätten uns aber doch kulturell schon entscheidend fortentwickelt. Die reformationszeitliche Praxis, Meinungen „mit Verdächtigungen, mit Wuthausbrüchen“ (358, 28) niederzuringen, verrate heute, dass jemand das Ketzer-Verbrennen und die Inquisition nicht verschmähte, würde er wirklich in der Reformationszeit leben. Die Inquisition sei damals „vernünftig“ (359, 3) gewesen, habe sie doch für die Verteidigung im „Belagerungszustand“ (359, 4) gedient, in dem sich die katholische Kirche befunden habe. Man habe zu den äußersten Mitteln greifen müssen, im Bewusstsein, als Kirche allein die Wahrheit zu haben
970
Menschliches, Allzumenschliches I
und sie um des allgemeinen Heiles willen bewahren zu müssen. In der Sprechgegenwart hingegen glaube niemand mehr wirklich, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein; die Methoden wissenschaftlicher Forschung hätten da vorsichtig und misstrauisch gestimmt, gegenüber gewaltbereiten Meinungsverfechtern allemal. Das „Pathos“ (359, 16), die Wahrheit zu besitzen, sei dem „Pathos des WahrheitSuchens“ (359, 18) gewichen, das immer wieder umzulernen bereit sei. Zu MA I 633 gibt es in Mp XIV 1, 30 eine ‚Reinschrift‘ mit einigen Überarbeitungen, die auf die ‚Reinschriften‘ zu MA I 631 und MA I 632 folgt, mit rotem „B“ und „I 6“ markiert. Sie trägt den Titel „Mißtrauen gegen pathetische u gewaltsame Vertreter der ‚Wahrheit‘“. Zudem ist diese Version länger – nach dem Schlusssatz der Druckversion (359, 16–19) folgt dann noch: „Welche Ironie liegt darin, daß Goethe in der Farbenlehre, daß Schopenhauer mit allen seinen metaphysischen Ansichten Unrecht hatten u. daß ihr Stolz darauf ˹jedenfalls˺ unberechtigt war! Es lehrt Bescheidenheit ˹mindestens Vorsicht˺; zudem, wenn keiner für seine Thaten verantwortlich ist, dann auch nicht für seine guten Leistungen, er darf nicht Lob in Anspruch nehmen, ja nicht einmal dass man sich an ihm erfreue ˹darf er fordern. Er muß warten u. sich hüten˺ ˹den Menschen – welche immer unschuldig handeln˺ Vorwürfe zu machen.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV1,30; vgl. NL 1877, KSA 8, 22[32], 385, 6 f.: „Es lehrt wenn nicht Bescheidenheit so doch Vorsicht. Schopenhauer Goethe.“) Dass Goethes Farbenlehre unhaltbar sei, war N. schon früh bewusst, siehe ausführlich dazu Venturelli 1994, 293–298, ferner NK KSA 5, 92, 10–12. Eine vorbereitende Bleistiftnotiz zu MA I 633 in N II 3, 53 lautet: „Wer jetzt seinen Gegner niederbrach [?] würde ihn unter anderen Verhältnissen verbrannt haben.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,53) Die „Vertreter der Wahrheiten“ erscheinen schon im Titel von MA I 506, KSA 2, 321, 17; zur Inquisition in MA I 633 vgl. Lecky 1873, 2, 1–75 u. Gemes 2023, 5, Fn. 6, ferner MA I 101. 358, 24 nicht mehr] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 wurde mit brauner Tinte die Sperrung von „nicht mehr“ veranlasst (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/410/). In der Erstausgabe wurde diese Korrektur aber nicht berücksichtigt (Nietzsche 1878, 371). 359, 10 zum Heile der Menschheit] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 210 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,210). Es steht allerdings auch schon in Mp XIV 1, 30. 359, 14 Meinungen vertritt, als ein Feind] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit Bleistift korrigiert aus: „Meinungen vertritt: als ein Feind“ (https:// haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/411).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 633–634, KSA 2, S. 358–359
971
634. Das in MA I 633 herausgestellte Suchen der Wahrheit als modernitätstypische Praxis der Wissenschaft führt MA I 634 auf dieselben Zeiten zurück, von denen dort schon die Rede war: die frühe Neuzeit mit ihrem allseitigen Krieg der Überzeugungen: Jeder wollte an seiner Überzeugung, die er für die Wahrheit ansah, festhalten, so dass er sie gegen andere Überzeugungen ins Feld führen und verteidigen musste. Daraus entstanden dann nach und nach die wissenschaftlichen Methoden – Methoden der Meinungsprüfung anhand von Prinzipien. Zuerst habe man Autoritäten gegeneinander ausgespielt, danach die jeweils andere Auffassung der Kritik unterzogen. „D e r p e r s ö n l i c h e K a m p f d e r D e n k e r hat schliesslich die Methoden so verschärft, dass wirklich Wahrheiten entdeckt werden konnten“ (360, 4–7). Zu MA I 634 gibt es in Mp XIV 1, 110 eine ‚Reinschrift‘, markiert mit schließlich durchgestrichenem „AA 7“ und mit einigen Korrekturen (http://www.nietzsche source.org/DFGA/Mp-XIV-1,110). MA I 634 steht also nicht im selben Entstehungskontext wie MA I 631 bis 633; der Zusammenhang wurde von N. erst bei der Schlusskomposition von MA I hergestellt. Eine Vorarbeit in N II 2, 123 macht den gedanklichen Zusammenhang mit MA I 252 klar (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/N-II-2,123), zitiert in NK ÜK MA I 252. 359, 21–23 Uebrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit selber das Resultat jener Zeiten, in denen die Ueberzeugungen mit einander in Fehde lagen.] Von N. nachträglich in Mp XIV 1, 110 eingetragen, gestrichen wurde dafür die folgende Passage: „Der Glaube an den Werth der Wahrheit ist viel älter als die Sicherheit der Methode im Finden der Wahrheit; ‚ich habe Recht so zu denken‘ das bezeichnet das Moralische daran, es heißt ‚ich habe ein gutes Recht dazu‘, aber Rechte sind nicht immer Gründe.“ 359, 23 Einzelnen] In Mp XIV 1, 110 korrigiert aus: „Individuum“. 359, 25 so gebe es] KGW u. KSA folgen hier der Erstausgabe (Nietzsche 1878, 372). Grammatikalisch korrekt und sowohl in Mp XIV 1, 110 als auch im Druckmanuskript D 11, 210 heißt es: „so gäbe es“. Der Druckfehler ist bei der Fahnenkorrektur offensichtlich übersehen worden (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/411). 359, 25 Methode der Forschung] In Mp XIV 1, 110 korrigiert aus: „Wahrheit“. 359, 26 f. Einzelner auf unbedingte Wahrheit] In Mp XIV 1, 110 korrigiert aus: „Individ.“ 359, 31 Wege und Mittel] In Mp XIV 1, 110 korrigiert aus: „Methoden“.
972
Menschliches, Allzumenschliches I
359, 32 worden war] In Mp XIV 1, 110 korrigiert aus: „ist“. 359, 32 gab] In Mp XIV 1, 110 korrigiert aus: „giebt“. 360, 1 des gegnerischen Satzes zog] In Mp XIV 1, 110 korrigiert aus: „des Gegners [– – –]“. 360, 1 f. und vielleicht sie als schädlich und unglücklich machend erfand] In Mp XIV 1, 110 ursprünglich: „u. sie unnütz, schädlich, unglücklich machend fand“. 360, 2–4 woraus dann sich für Jedermanns Urtheil ergeben sollte, dass die Ueberzeugung des Gegners einen Irrthum enthalte] In Mp XIV 1, 110 nachträglich hinzugefügt; „für Jedermanns Urtheil“ ist erst im Druckmanuskript D 11, 209 belegt. 360, 7 f. konnten und dass die Irrgänge früherer Methoden vor Jedermanns Blicken blosgelegt sind] Fehlt in Mp XIV 1, 110 und ist erst in D 11, 209 belegt.
635. „Methoden“ (360, 10) gelten nach MA I 635 als die eigentliche Errungenschaft der Wissenschaft, sie seien ebenso wichtig wie irgendein anderes Ergebnis. Und wenn die Methoden verloren gingen, wäre schnell dem Aberglauben Tür und Tor geöffnet. Was immer man an wissenschaftlichen Ergebnissen lernt – wenn sich ein unwissenschaftlicher Mensch die Methoden nicht angeeignet habe, verfalle er auf die erstbeste Hypothese und versuche die dann, mit manchmal fatalen Folgen, namentlich in der Politik, um jeden Preis durchzusetzen. Jeder – und namentlich auch die Frauen – solle eine Wissenschaft wirklich erlernen, um so das methodische Misstrauen auszubilden, das zentral sei. Jedoch wollten die meisten auch der sogenannten „Gebildeten“ (361, 6) auch gegenwärtig nur Überzeugungen, weil man aus ihnen Kraft schöpfen könne, während es nur den wenigsten um „G e w i s s h e i t“ (361, 8) gehe. Viele himmelten das „G e n i e“ (361, 14) an, das unbedingte „Autorität“ (361, 15) fordere und eigentlich gegen den vorsichtig-forschenden Geist der Wissenschaft eingestellt sei: Dieses Genie erweise sich als „Feind der Wahrheit“ (361, 18), möge es sich noch so sehr als deren „Freier“ (361, 19) aufspielen. MA I 635 ist zusammengesetzt aus drei unabhängig voneinander niedergeschriebenen ‚Reinschriften‘, die im zweiten und dritten Fall stark überarbeitet wurden. Zunächst entspricht dem gedruckten Text 360, 10 bis 360, 22 ungefähr Mp XIV 1, 148, markiert mit rotem „AA 8“. Diese ‚Reinschrift‘ weist keine Überarbeitungsspuren auf und lautet: „Im Ganzen sind die wissenschaftl. Methoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein Resul-
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 634–635, KSA 2, S. 359–360
973
tat: denn in der Einsicht in die Methode ruht der wissenschaftl. Geist: die Resultate ohne jene Methoden könnten könnten ein Ueberhandnehmen des Aberglaubens, des Unsinns nicht verhüten. Es mögen gebildete Leute an Resultaten der Wissenschaft lernen was sie wollen; man merkt es ihren Hypothesen an, ob ihnen der wissenschaftl. Geist fehlt: sie haben nicht jenes instinktive Misstrauen gegen die Abwege, welches als Resultat langer Übung an strenges Denken jeden wissenschaftl. Menschen immunisirt.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,148) Sodann umfasst Mp XIV 1, 210, markiert mit rotem „AA 9“, grosso modo den Drucktext 360, 22 bis 361, 5 und ist von N. stark verändert worden. Die ursprüngliche Version lautete vor diesen Eingriffen: „Unwissenschaftl. Menschen genügt es, über eine Sache eine Hypothese zu finden, dann sind sie Feuer u. Flamme für u. meinen, damit sei es gethan. Eine Meinung haben heisst bei ihnen schon: dafür sich fanatisiren So wirkten ehemals Religionen; daher stammt die Gewohnheit. Es stehen im Kopf des unwissenschaftl Menschen gegenüber unerklärten Dingen die erklärten: aber hier genügt das Dürftigste u Roheste. – Desshalb sollte man Eine Wissenschaft gründlich kennen gelernt haben: so weiss man doch wenigstens die Methode u. ihre Herkunft [?]. Namentlich ist den Frauen dies anzurathen: diese sind jetzt rettungslos die Opfer aller Hypothesen, namentlich wenn diese geistreich sind.“ (http://www.nietzschesource. org/DFGA/Mp-XIV-1,210) Schließlich ist der Drucktext 361, 5 bis 361, 20 abgedeckt von Mp XIV 1, 195, markiert mit rotem „A 10“. Auch diesen Text hat N. nachträglich vollständig revidiert; ursprünglich hatte er folgenden Wortlaut: „Die eine Klasse von Menschen begehrt von einem Denker Überzeugungen, die andere Gewissheit die einen wollen stark fortgerissen werden, um dadurch selber einen Kraftzuwachs zu haben (Rhetorik), die anderen haben jenes sachl. Interesse, welches von persönl. Vortheilen (auch von dem des Kraftzuwachses) absieht. Überall wo der Autor sich als Genie benimmt, also wie ein höheres Wesen dreinschaut, wird Autorität verlangt und an jene Naturen appellirt, welche Überzeugungen, starke Antriebe des Willens nach bestimmten Richtungen hin, begehren.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/Mp-XIV-1,195) Dass als wissenschaftsfeindliches „Genie“ N. Richard Wagner vor Augen gestanden hat, darf man vermuten. Dass die „Methoden“ das Zentrale an Wissenschaft seien, betont N. noch in AC 13, vgl. NK 6/2, S. 79–81. „G e w i s s h e i t“ (361, 8) will MA I 635 wiederum nicht als definitive dogmatische Wahrheit, als unerschütterliches Überzeugtsein verstanden wissen, sondern als möglichst weitgehende Absicherung von Erkenntnisansprüchen. Vollständig wird sie nie gegeben sein. Zu MA I 635 und zur Methode Marton 2021, 69 sowie allgemein zum Methodenproblem Denat 2010. 360, 16 geistreiche] Im Druckmanuskript D 11, 209 korrigiert aus: „gebildete“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,209).
974
Menschliches, Allzumenschliches I
360, 26 f. dafür sich fanatisiren und sie als Ueberzeugung fürderhin sich an’s Herz legen] In seinem Handexemplar C 4402 (Nietzsche 1878, 373) hat N. diesen Halbsatz mit Bleistift korrigiert in: „sofort auch sich für sie fanatisiren und sie endlich als Überzeugung sich an’s Herz legen“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/ viewer/image/1252332904/392/). 361, 7–9 Nichts als Ueberzeugungen begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit G e w i s s h e i t will] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 wurde mit Bleistift die Sperrung von „Gewissheit“ veranlasst (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/413/). Unterstrichen und damit zur Sperrung vorgesehen wurde auch „Ueberzeugungen“. In der Erstausgabe ist dies aber nicht berücksichtigt (Nietzsche 1878, 374). 361, 14 G e n i e] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 wurde mit Bleistift die Sperrung veranlasst (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/ 1648750028/413/). 361, 19 Freier] Zum Freier der Wahrheit NK 215, 31–216, 1.
636. Es gebe, wird im Anschluss an die Genie-Kritik in MA I 635 nun in MA I 636 festgehalten, noch eine andere Art der Genialität, die der „philosophische[n], politische[n] oder künstlerische[n] Genialität“ (361, 24 f.) gleichberechtigt zur Seite gestellt werden kann, nämlich die der „Gerechtigkeit“ (361, 23). Sie liegt im unbedingten Willen, allem Anschein aus dem Wege zu gehen, allem, was das Urteil trübt – insofern ist sie „eine G e g n e r i n d e r U e b e r z e u g u n g“ (361, 28). Ihre Gerechtigkeit bestehe darin, jedem das Seine zu geben, weshalb sie es möglichst rein erkennen müsse. Zu MA I 636 gibt es in Mp XIV 1, 113 eine ‚Reinschrift‘, die einige Korrekturen aufweist. Die ursprüngliche Fassung lautete: „Es giebt übrigens auch eine Genialität der Gerechtigkeit; und ich wüsste nicht weshalb sie nicht die gleiche Schätzung verdiente wie irgend eine polit. od. künstl. Genialität. Ihre Gesinnung geht mit herzlichem Unwillen allem aus dem Wege, was das Urtheil über die Dinge blendet u. verwirrt: sie ist folgl. eine Gegnerin der Ueberzeugungen denn sie will Jedem sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben – und dazu muss sie es rein erkennen. Sie steht höher als die Liebe [– – –] sie stellt jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen ‚Überzeugung‘ (wie Männer sagen: – die Weiber nennen es ‚Glaube‘) geben, was
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 635–637, KSA 2, S. 360–361
975
der Überzeugung ist, um der Wahrheit willen.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Mp-XIV-1,113) In Schönschrift hat N. in Mp XIV 1, 127 niedergeschrieben: „Gerechtigkeit / Es giebt auch eine Genialität der Gerechtigkeit, und ich kann mich durchaus nicht entschliessen dieselbe niedriger zu schätzen als irgend eine politische oder künstlerische Genialität.“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/ Mp-XIV-1,127) Annähernd gleichlautend findet sich diese Bemerkung schon als Bleistiftnotiz in N II 3, 26, nur dass dort auch „Genialität“ unterstrichen ist (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-II-3,26). Die Pointe von MA I 636 besteht darin, den antiken Gerechtigkeitsbegriff, wonach jeder das Seine tun solle (vgl. Platon: Politeia 433a) und jedem das Seine zukommen solle (vgl. Marcus Tullius Cicero: De legibus I 6 19 u. De officiis I 15), auf den N. immer wieder gern zurückkommt (siehe NK 102, 8–11), auf Erkenntnisprozesse anzuwenden: Es ist gerecht, im Erkennen jedem Gegenstand das Seine, die ihm gebührende Aufmerksamkeit und Gewichtung zukommen zu lassen. Es sind aber dann doch eher Juristen als Erkenntnistheoretiker gewesen, die das Schlagwort von der „Genialität der Gerechtigkeit“ aufgenommen haben, siehe Petersen 2008. Zur Interpretation von MA I 636 siehe auch Cristy 2019. 361, 22 f. Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialität, die der Gerechtigkeit;] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 fehlte wie im Druckmanuskript D 11, 212 „die der Gerechtigkeit“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1648750028/413/). Das Fehlen wurde mit einem „V“ als Einfügungszeichen markiert. In Mp XIV 1, 113 wurde freilich der Beginn ausdrücklich aus der in NK ÜK MA I 636 zitierten Ursprungsfassung korrigiert in: „Es giebt freilich auch eine ganz andere Art der Genialität, die der Gerechtigkeit“. Offenbar hat Köselitz bei der Niederschrift des Druckmanuskripts das Fehlen von „die der Gerechtigkeit“ übersehen – und auch N. bei der Durchsicht, als er eigenhändig „Art“ durch „Gattung“ ersetzte (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,212). 361, 28 G e g n e r i n d e r U e b e r z e u g u n g e n] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 wurde mit Bleistift die Sperrung veranlasst (https://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/413/).
637. Der Eingangssatz von MA I 637 greift auf den Beginn der Aphorismenkette über Überzeugungen zurück, nämlich auf das Problem der Leidenschaften in MA I 629: Aus ihnen erwüchsen Meinungen, die die „T r ä g h e i t d e s G e i s t e s“ (362, 5) zu Überzeugungen versteinern ließem. Dem könne man nur entgehen, wenn man
976
Menschliches, Allzumenschliches I
in ununterbrochener geistiger Bewegung bleibe, man in seinem Kopf keine Meinungen, aber „Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten“ (362, 10) zulasse. Nach einem Gedankenstrich in 362, 11 kommt das überraschende Eingeständnis, dass „wir gemischten Wesens sind“ (362, 11 f.) und zwar der Göttin der Gerechtigkeit, deren Genialität ja MA I 636 beschworen hatte, huldigen möchten, aber immer wieder von einem „Feuer“ (der Leidenschaften?) befallen werden, das uns „ungerecht“ und „unrein“ macht (362, 12–16). „D e r G e i s t“ (362, 20) jedoch könne „uns“ retten, dass „wir nicht ganz verglühen und verkohlen“ (362, 21). Dann hätte eine Erlösung vom Feuer statt, und wir könnten von „Meinung zu Meinung“ (362, 24 f.) fortschreiten, alle Dinge verraten und uns dennoch schuldlos fühlen. Diese Zukunftsvision ist die Antwort auf die in MA I 629 gestellte Frage, ob man den Verrat an früheren Überzeugungen zwingend als Schuld empfinden müsse. Nein, ist die Antwort, ganz im Gegenteil. Zu MA I 637 gibt es keine ‚Reinschrift‘ in Mp XIV 1. Mit der Evokation von „beständige[m] Wechsel“ (362, 7) wird in MA I 637 ein Bauprinzip von MA I insgesamt offengelegt und zugleich begründet: Der Wechsel ist auch im schriftstellerisch-philosophischen Verfahren anzuwenden, um sich nicht im Überzeugungskorsett, in der „Trägheit des Geistes“ abzuschnüren (was N. selbst in GT widerfahren ist). Dass die „L e i d e n s c h a f t e n“ „Meinungen“ (362, 4) hervortreiben, wäre wohl auch schon Platon plausibel erschienen und ebenso – siehe den Eros im Symposion –, dass wir ihr „F e u e r“ (362, 14) nicht entbehren können, weil Menschen naturgedrungen ungerecht-unlogische Mischwesen sind (vgl. NK ÜK MA I 32) – offenbar ist die zu Beginn von MA I 637 erzeugte Vorstellung, es gebe als distinkte Menschengruppen auch die rein von Leidenschaften Getriebenen und die reinen, kalten Geistesmenschen, nur ein falscher erster Anschein. Wie freilich die thermische Metaphorik mit dem „Geist“ zusammengeht, ist nicht recht klar: Einerseits steht er ganz für die Kälte (vgl. 362, 8 f. u. 12 f.) und sorgt dafür, dass „wir“ nicht am Feuer verbrennen (362, 20–23; vgl. zum Verkohlen auch MA I 585). Andererseits führen eingangs die „Leidenschaften“ über „Meinungen“ und „Überzeugungen“ zu „Erstarrung“ (362, 7), was wenig feurig klingt, auch wenn vom Feuer des Fanatismus in den vorangegangenen Abschnitten wiederholt die Rede war. Der „Geist“ wiederum bringt seine Dynamisierungswirkung gerade nicht durch Befeuerung hervor, sondern durch Eiseskälte. Die thermische Metaphorik scheint genau entgegengesetzt zur physikalischen Thermodynamik zu funktionieren. Zum Motiv des „edle[n] V e r r ä t h e r [ s ]“ siehe NK 355, 14–17, zu MA I 637 insgesamt Thönges 1993, 146, Vivarelli 1998, 65, Reginster 2003, 62, Piazzesi 2010b, 361 f. u. Westerdale 2013, 53. 362, 4–6 Aus den L e i d e n s c h a f t e n wachsen die Meinungen; die T r ä g h e i t d e s G e i s t e s lässt diese zu U e b e r z e u g u n g e n erstarren.] In den Korrekturbogen
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 637, KSA 2, S. 362
977
zur Erstausgabe C 4601 wurden mit brauner Tinte die Sperrungen veranlasst (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/15/). 362, 5 T r ä g h e i t d e s G e i s t e s] Die Wendung, die N. nur hier benutzt, ist die übliche deutsche Umschreibung der christlichen Todsünde der acedia, die N. später in MA I Vorrede 2 ausdrücklich beim Namen nennt, vgl. NK 15, 11. Von „Trägheit des Geistes“ ist in der religiösen Literatur des 19. Jahrhunderts fast unausgesetzt die Rede; hier wird sie säkular umgepolt. 362, 6 f. rastlos lebendigen] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 213 eingefügt (http://www.nietzschesource.org/DFGA/D-11,213). 362, 8 f. denkender Schneeballen] Von N. nachträglich in Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 213 korrigiert aus: „denkender Eisklumpen“. 362, 10 und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten] Im Druckmanuskript D 11, 213 wurde das nachträglich eingefügt. In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand vor „genau“ ein Anführungszeichen, auch in D 11, 213 – oder dort doch eher ein Komma? Mit brauner Tinte wurde ein Abführungszeichen nach „Wahrscheinlichkeiten“ eingefügt (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/15/). Diese Korrektur – ist sie am Rande des Korrekturbogens mit zwei Bleistiftstrichen wieder aufgehoben? – wurde in der Erstausgabe nicht berücksichtigt (Nietzsche 1878, 375). Die „genau bemessene[n] Wahrscheinlichkeiten“ lassen sich bislang jedenfalls nicht als Zitat nachweisen. 362, 12 f. bald vom Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte korrigiert aus: „halb vom Feuer durchglüht, halb vom Geiste durchkältet“ (https://haab-digital.klassik-stiftung. de/viewer/image/1648750028/15/). So steht es auch im Druckmanuskript D 11, 213. 362, 13 f. wollen vor der Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Göttin, welche wir über uns anerkennen] Dass die Göttin der Gerechtigkeit, nämlich die Dike, für die Erkenntnissuchenden zuständig sein soll, war bereits im Lehrgedicht Περὶ φύσεως von Parmenides so, siehe z. B. Sommer 2019i. Das war N., wie seine Vorlesung Geschichte der griechischen Litteratur 〈I und II〉 belegt, sehr wohl bewusst, wenn er Parmenides zitiert: „Keine μοῖρα κακή hat mich geleitet, sondern θέμις τε δίκη τε, die jungfräul. Töchter des Helios.“ (KGW II 5, 191, 3 f.) 362, 18 verhüllte Isis unsers Lebens] Vgl. NK 50, 5 f. 362, 18–20 beschämt bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das Feuer uns brennt und verzehren will] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand wie in D 11, 213 stattdessen: „indem wir brennen, entzünden und leiden, bringen wir ihr unser Opfer“. Mit brauner Tinte wurde dann „entzünden und leiden“ gestrichen und durch: „oder den Brand Anderer schüren“ ersetzt
978
Menschliches, Allzumenschliches I
(https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/15/). In der Erstausgabe steht dann der Wortlaut von 362, 18–20 (Nietzsche 1878, 375). 362, 22 hier und da] In Köselitz’ Druckmanuskript D 11, 213 wurde das „r“ bei „hier“ gestrichen; in den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 steht daher „hie und da“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/15/). Anschließend ist das wieder korrigiert worden, die Erstausgabe hat „hier und da“ (Nietzsche 1878, 375). 362, 23 Gespinnst aus Asbest] Ansonsten ist bei N. nie von Asbest die Rede. Das von N. 1875 erworbene und studierte Buch der Natur von Friedrich Schoedler gibt dazu folgende Auskunft: „Der A s b e s t, A m i a n t h und der B e r g k o r k sind als Arten von Hornblende zu betrachten, die in außerordentlich feinen Nadeln krystallisirt sind. Man vermischt die biegsamsten Arten des Asbests mit Flachs, verfertigt daraus Gespinnste und Zeuge, aus welchen nachher der Flachs ausgebrannt wird. Es sind dies die sogenannten unverbrennlichen Zeuge, deren man sich bei Feuersgefahr bedienen kann. Im Alterthume wurden die Leichname der Reichen in solche Zeuge gehüllt und verbrannt, wodurch ihre Asche gesondert blieb.“ (Schoedler 1875, 2, 53) 362, 25 f. Ve r r ä t h e r] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 wurde mit Bleistift die Sperrung veranlasst (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/ image/1648750028/325/).
638. Der letzte Abschnitt von MA I stellt eine emblematische Figur ins Zentrum, den „Wa n d e r e r“ (362, 29), der dann ja 1880 im zweiten Nachfolgebuch von MA I, nämlich MA II WS, sogar im Titel, zusammen mit seinem Schatten, in Szene gesetzt wird. Auch MA I 638 ist eine Szene, eine Szenerie der Wanderschaft, die keine Pilgerschaft und kein Reisen mit gegebenem Ziel darstellt – eine Szenerie, die keineswegs nur idyllisch ist, sondern „böse Nächte“ (363, 8) kennt, geschlossene Stadttore, Winde, Raubtiere und immer wieder die „Wüste“ (363, 10, 14 u. 18) nennt. Es ist der erste Ansatz zu einem narrativen Philosophieren, wie N. es in Za I–IV habitualisieren wird. Das Wandern ist aus der Not geboren, der Not, bei keiner Überzeugung mehr verweilen zu dürfen. Zugleich aber sind andere „freie[.] Geister“ (363, 27) draußen, in der Überzeugungsunbehaustheit unterwegs, die auf manche gemeinsamen Wege hoffen lassen. Und sie haben, schließt MA I 638 versöhnlich, ein irgendwie gemeinsames Ansinnen: „sie suchen die P h i l o s o p h i e d e s V o r m i t t a g e s“ (363, 33 f.).
Stellenkommentar MA I Neuntes Hauptstück 637–638, KSA 2, S. 362–363
979
Zu MA I 638 gibt es in Mp XIV 1 keine ‚Reinschrift‘. Die Druckvorlage D 11, 215 zu diesem Abschnitt, wie üblich von Köselitz’ Hand, ist nach Abgabe des Hauptmanuskripts nachträglich an den Verleger Schmeitzner geschickt worden – siehe NK ÜK MA I 627 –, hätte darin aber eine andre Position einnehmen sollen, nämlich als Abschnitt 628. In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 sind die Abschnitte 638 und 628 dementsprechend noch vertauscht, siehe NK ÜK MA I 628. Ein Grund für die schließlich erfolgte Umstellung dürfte in der völlig anderen Stimmungslage beider Texte gelegen haben: MA I 628 taucht mit den Lesern in die Abenddämmerung ein und schlägt einen melancholischen Ton an. MA I 638 macht sich dagegen den Vormittag und den Aufbruch zunutze, ein hurtiges Vorwärts vertreibt die Schwere. Offensichtlich sollte der Schlussakkord des gesamten Buches nicht elegisch, gar resignativ tönen, sondern jugendfrisch und zukunftsfreudig. Das „Glockenspiel“ „zur Zeit der Abenddämmerung“ (MA I 628, KSA 2, 354, 2–4) weicht den „Geheimnissen der Frühe“, dem „Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockenschlage“ (MA I 638, KSA 2, 363, 30–32). Die wanderlustigen „freien Geister“ (363, 27) „suchen“ erst „die P h i l o s o p h i e d e s V o r m i t t a g e s“ (363, 33 f.). Sie haben sie offenbar noch nicht gefunden. Zum Motiv des Wanderers vgl. neben NK 2/3, Titel auch NK KSA 4, 341, 9 f., ferner Zittel 1996 zum Gedicht „Es geht ein Wandrer durch die Nacht“ (NL 1876, KSA 8, 17[31], 302, 7–303, 2), das Jakof 2020 mit MA I 638 in Verbindung bringt. 362, 29–363, 2 Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, – wenn auch nicht als Reisender n a c h einem letzten Ziele] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 stand ursprünglich zu Beginn: „Wer nur einigermaassen zur Vernunft gekommen ist“ (https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/ 404/). N. hat mit einem „V“ am Rand die Korrekturbedürftigkeit markiert. In seinem Handexemplar C 4402 hat N. den Drucktext 362, 29–363, 2 mit Bleistift korrigiert in: „Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft kommen will, darf sich auf Erden lange Zeit nicht anders fühlen, denn als Wanderer, – und nicht einmal als Reisender n a c h einem letzten Ziele“ (https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1252332904/395/). Die futurische Dimension tritt damit noch stärker zutage; ob „Freiheit der Vernunft“ als Genitivus subiectivus oder als Genitivus obiectivus zu verstehen ist, bleibt jedoch offen. 363, 27 aller jener freien Geister] In den Korrekturbogen zur Erstausgabe C 4601 mit brauner Tinte korrigiert aus: „aller jener guten Geister“ (ps://haab-digital. klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/405/). 363, 32 f. durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht] Vgl. NK 180, 9–13.
980
Menschliches, Allzumenschliches I
Unter Freunden. Ein Nachspiel. Das Schlussgedicht wurde erst der Titelauflage des Buches von 1886 am Ende auf unpaginierten Seiten beigegeben (Nietzsche, 1886a, [379]–[382]), nachdem N. längst als (Gelegenheits-)Lyriker öffentlich in Erscheinung getreten war – in IM ebenso wie in Za. Ursprünglich war es keineswegs für diesen Zweck vorgesehen. Es spielt mit den Motiven des Schweigens und des Närrisch-Seins und umfasst zwei nummerierte und analog gebaute Teile mit jeweils drei Strophen zu sechs, fünf und zwei Versen, also insgesamt zwei Mal 13 Verse, alle in vierhebigen Trochäen. Das lyrische ‚Ich‘, das im ersten Vers der zweiten Strophe des ersten Gedichtteils erstmals auftritt (365, 10) will das, was es gemacht hat, dem Schweigen anheimstellen, wenn es gut gemacht sei – es aber, wenn es „schlimm“ (365, 11) gemacht sei, dem Lachen preisgeben. Die vorangegangene erste Strophe hatte das Lachen für schöner befunden als das Schweigen, unter freiem Himmel und unter Freunden, die sich die „Zähne zeigen“ (365, 9). Wenn das mit „’s“ (365, 10 u. 11), dem weitestmöglich verkürzten „es“, Gemeinte – es mag naheliegen, „es“ im Druckkontext mit dem vorliegenden, nun abgeschlossenen Werk MA I zu identifizieren – nun also schlimm sei, ergeht an die „wir“ in 365, 11 die Aufforderung, „es“ noch schlimmer zu machen: „Schlimmer machen, schlimmer lachen“ (365, 13), und zwar bis zum Ende des Lebens (365, 14). Der erste Teil schließt mit der Frage an die „Freunde“: „Soll’s geschehen?“ (365, 15), um gleich emphatisch-biblisch zu antworten: „Amen!“ und hinzuzufügen: „Und auf Wiedersehn!“ Das lyrische Ich macht also nicht nur seine Freunde zu Komplizen des Schlimmer-Machens, sondern setzt sich leichthin auch über den Gedanken an den Tod (in 365, 14) hinweg, indem es ein „Wiedersehen“ (365, 16) in Aussicht stellt. Der zweite Teil des „Nachspiels“ – so der Untertitel des Gedichts – hat dann eine offensiv poetologische Ausrichtung: Er verbietet schon in den ersten beiden Zeilen (366, 2 f.) jedem „Frohen“ das „Verzeihen“ und zwar das Verzeihen des Buches – und fällt es der Sprechinstanz nicht ein, ihrereits um Verzeichung zu bitten. „Unvernunft“ (366, 7), so das lyrische Ich, das sich als Autorsubjekt zu erkennen gibt, sei ihm Heimstatt geworden. In der zweiten Strophe fragt es weiter, ob das von ihm Gesuchte „je in einem Buche“ (366, 9) gestanden habe und fordert die weiter angesprochenen ‚Ihr‘ dazu auf, in ihm den Narren zu ehren und „aus diesem Narrenbuche“ (366, 11) doch zu lernen – und zwar, wie Vernunft „‚zur Vernunft‘“ (366, 12) komme. Damit wird das Band von Vernunft und Narrheit sehr eng geknüpft. Ein wenig zaghafter als die Schlussstrophe des 1. Teils beginnt die des 2. Teils: „Also, Freunde, soll’s geschehn?“ (366, 13), um wieder gleichlautend wie in 365, 16 mit dem „Amen! Und auf Wiedersehn!“ (366, 14) zu replizieren. Die vermeintlich burlesk-überdrehte Selbstherabsetzung von Werk und Autor-Ich ist also keineswegs durchgehend, sondern die Unvernunft erweist sich als der
Stellenkommentar MA I Unter Freunden, KSA 2, S. 363
981
einzige Weg, der Vernunft auf die Spur zu kommen und auf die Sprünge zu helfen. Das klingt wie ein offenes philosophisches Zukunftsprogramm. Das Gedicht liegt in zwei ‚Reinschriften‘ in Z II 6, 86 und Z II 6, 62 vor, die dokumentieren, dass hier nicht nur zwei ursprünglich voneinander unabhängige Gedichte vorliegen, sondern auch, dass diese ursprünglich nichts mit MA I oder mit seiner allfälligen Neuauflage zu tun hatten. Die ‚Reinschriften‘ stammen aus dem Herbst 1884, als N. noch keine MA-Neuausgabe plante – und überdies handelt es sich dabei um Bearbeitungen von zwei Gedichten aus dem Sommer 1882. Die mit Bleistift niedergeschriebene Vorlage für den späteren ersten Teil findet sich in M III 6, 33: „Epilog. / Schön ist’s, mit einander schweigen: / Schöner, mit einander lachen / Und die weissen Zähne zeigen. / Macht’ ich’s schlecht so wollen wir ˹habt ihr˺ zu lachen so woll’n wir schweigen! / Macht’ ich’s gut – will’s besser machen so woll’n wir lachen / Und ich selbst will’s es immer besser machen / Eh’ Bis wir in die Grube steigen! / Freunde! Ja! So soll’s geschehn? / Amen! – Und Amen auf Wiedersehn!“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-III-6,33) Für den späteren zweiten Teil lautet in M III 3, 38 die ebenfalls mit Bleistift notierte Version auf einem mit Tinte revidierten Blatt: „An meine Freunde. / Schenkt ˹Gönnt˺ dem unvernünft’gen Buche / Ohr und Herz und Unterkunft! / Wahrlich, Freunde, nicht zum Fluche / Ward mir meine Unvernunft! / Ja, ich fand, was längst ich suche, / Glück – das Glück der Narren-Zunft! / Messina, im Sommer 1882 / Glück – erst bei der Narren-Zunft. / Lernt aus diesem Narren-Buche, / Wie Vernunft kam – ‚zur Vernunft!‘ / X X X / Messina, im Sommer 1882“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/M-III-3,38; vgl. dann auch eine weitere Version auf der Seite daneben, M III 3, 39, mit einer Variante zu 366, 8–10: Mag, ihr Hellen Herzensfreien / Mag sie Euch auch nicht geworden! / Fand ich doch, was längst ich suche / Sonderlich aus keinem Buche – / Glück erst bei der Narren-Zunft“ – http://www.nietzschesource.org/DFGA/M-III-3,39). Dazu kommen, ebenfalls aus dem Sommer 1882, einschlägige, vorbereitende Notate, so in N V 8, 160: „Ja! Vernunft ists was ich suche / Was ich finde, ist Unvernunft – / Fürchten war bisher der Weisen Lehren / Fürchten war Gesetz u Zucht / Ernst im Leben, ernst im Buche / War bisher der Weisen Zucht [?] / Nicht zur Segnung, nicht zum Fluche / Gab ich euch Grund u Vernunft: / Doch ˹Und so gebt˺ Gebt dem unvernünftigen Buche / Für ein Stündchen Unterkunft / Zwar! Vernunft ist’s, was ich suche / Was ich finde, ist Unvernunft.“ (http://www.nietzsche source.org/DFGA/N-V-8,160) Das burlesk-selbstironische Moment, das dann die Druckfassung am Ende von MA I erhält, fehlt hier oder wird jedenfalls nicht so dick aufgetragen wie später. In N V 8, 167 liest man: „Gebt ˹Schenkt˺ auch diesem lust’gen ˹Wander˺-Buche / Gruß u Dach Gastfreundschaft und Unterkunft / A Nimmer fand ich, was ich suche: / Letzte Weisheit u Vernunft / Hebt mir nicht die Hand zum Fluche / Auch, ihr Brüder von der Zunft / Ja Vernunft ist’s was ich suche /
982
Menschliches, Allzumenschliches I
Was ich finde ist Unvernunft“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-V-8,167). Womöglich als Titel für das auf der linken Seite stehende Gedicht ist auf der rechten Seite N V 8, 169 notiert: „Unter Freunden / Ein Nachspiel“, dann links auf N V 8, 168: „Schenkt dem unvernünftigen Buche / Für ein Stündchen Unterkunft! / Wahrlich, Freunde, nicht zum Fluche / Wird euch Ward mir meine Unvernunft! / Denn ich fand, was längst ich suche, / Glück – das Glück der Narren-Zunft.“ (http:// www.nietzschesource.org/DFGA/N-V-8,168et169) Darunter werden auf N V 8, 168 ein paar Zeilen noch einmal wiederholt. Schließlich scheint auch der Zweizeiler N V 8, 2 ins Gedichtformationskonvolut zu gehören: „Also, Freunde!, Ssolls geschehn! / Amen! – Und auf Wiedersehn!“ (http://www.nietzschesource.org/DFGA/N-V-8,2) Das Buch, von dem hier überall die Rede ist, und das so nie publiziert wurde, aber aus dem dann immerhin FW „Scherz, List und Rache“ geformt wurde, hat in M III 3, 40 einen pompös gemalten Titel bekommen: „NARREN=BUCH. / Lieder und Sinnsprüche / Von / Friedrich Nietzsche.“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/M-III-3,40) Die beiden schließlich miteinander kombinierten und zu einem Gedicht verbundenen Entwürfe waren eben nicht für MA I bestimmt, sondern vielmehr für ein projektiertes Werk von allem Anschein nach vollständig anderem Charakter. Trotzdem hat N. sie bei der Finalisierung der MA I-Titelausgabe aufgegriffen und damit Texte kontaminiert, die aus ganz anderen Entstehungszusammenhängen herrühren. Das erste Gedicht lautet in der ‚Reinschrift‘-Fassung von Z II 6, 86: „Unter Narren Freunden / Epilog / Nachspiel. / Schön ist’s, mit einander schweigen, / Schöner mit einander lachen, / Unter seidenem Himmels-Tuche / Hingelehnt zu Moos und Buche / Lieblich-laut mit Freunden lachen / Und sich weisse Zähne zeigen. // Macht’ ich’s schlecht ˹gut˺, so woll’n wir schweigen – / Macht, ich’s gut ˹schlecht˺ –, so wollen wir lachen / Und es immer ˹fürder˺ besser machen / Besser machen, besser lachen, / Bis wir in die Grube steigen – // Freunde! Ja! So solls geschehn? /Amen! – Und auf Wiedersehn!“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Z-II-6,86) Die Verse des zweiten Gedichts hat N. in der ‚Reinschrift‘-Fassung von Z II 6, 62 zuerst in anderer Reihenfolge notiert und dann durch vorangestellte Zeilennummerierung die Reihenfolge neu organisiert. Diese neue Reihenfolge entspricht aber auch nicht durchgehend dem späteren Drucktext: „1a Was entschuld’gen? Was verzeihen? Kein Entschuld’gen! Kein Verzeihen! / 4 Gönnt, ihr Hellen! Herzensfreien! / 5 Diesem unvernünft’gen Buche / 6 Ohr und Herz und Unterkunft! / 8 Was ich finde, was ich suche, / 9 Stand das je in einem Buche? // 1b Heil der edlen ˹Ehrt in mir die˺ Narren-Zunft! / 2 Wahrlich ˹Glaubt mir˺, Freunde, nicht zum Fluche / 3 Ward mir ˹euch˺,mir meine Unvernunft! / 10 Lernt aus diesem Narren-Buche, / 11 Wie Vernunft kam kommt – ‚zur Vernunft‘! // Also, Freunde, soll’s geschehn? – / Amen! Und auf Wiedersehn!“ (http://www.nietzschesource.org/ DFGA/Z-II-6,62; „Kein Entschuld’gen! Kein Verzeihen!“ wurde zunächst auch ge-
Stellenkommentar MA I Unter Freunden, KSA 2, S. 363–366
983
strichen, aber durch Unterpunkte wiederhergestellt.) Am Ende des von N. niedergeschriebenen Druckmanuskripts D 11a, das die neue Vorrede von 1886 zu MA I enthält, findet sich das Druckmanuskript des nun kumulierten Gedichtes (D 11a, 21 bis D 11a, 25), das dem Drucktext entspricht. Sehr eingehend analysiert das Gedicht in seinen alten und neuen Kontexten Dellinger 2017. 365, 4 Schön ist’s, mit einander schweigen] Die ebenfalls erst 1886 hinzugekommene Vorrede endet ebenfalls mit dem Schweigen (MA I Vorrede 8; siehe NK 22, 25–28). Das Schweigen umspannt also das gesamte, nun mit Vorrede und Gedicht neu gerahmte Werk. 365, 9 Und sich weisse Zähne zeigen] Dass man (sich gegenseitig) sowohl beim drohenden Zähne-Fletschen als auch beim Lachen die Zähne zeigt, ist gemeinmenschliche Praxis. Im kulturhistorischen Hintergrund von 365, 9 steht Gaius Valerius Catullus: Carmina 39. Catull erzählt von Egnatius, der stets strahlend lacht („renidet“), weil er seine „weißen Zähne“ („candidos […] dentes“) zeigen will, egal, ob er vor Gericht steht oder an einer Bestattungsfeierlichkeit teilnimmt. 365, 15 f. Freunde! Ja! So soll’s geschehn? – / Amen! Und auf Wiedersehn!] Das hebräische, als Bekräftigung gemeinte Wort ן, Amen, wird in der Septuaginta oft mit „γένοιτο“ übersetzt: „so soll es geschehen“, „so sei es“. 366, 9 Stand] Das sprechende ‚Ich‘ selbst hat in der Vergangenheit nichts in einem Buch gefunden, was es sucht. Es erwartet aber von den Angesprochenen, dass sie in der Gegenwart und in der Zukunft aus einem Buch, nämlich dem vorliegenden, etwas lernen sollen (366, 11). 366, 11 Narrenbuche] Ein „Narren-Buch“ ist nach Grimm 1854–1971, 13, 370 ein „buch in welchem narren verzeichnet sind, das von narren oder thorheiten handelt“. Vgl. die weiteren Belege bei Dellinger 2017, 102, Fn. 6; zum Narrenmotiv allgemein Sommer 2010d. 366, 12 „zur Vernunft“!] Heinrich Köselitz meldet N. am 25. 07. 1884: „E n d l i c h in Sils-Maria! Endlich Rückkehr zur – Vernunft! Inzwischen nämlich gieng es um mich zu unvernünftig zu (ich war wie unter K ü h e n); aber d a ß ich mich so lange in diesen Niederungen und Kuhställen aufhielt, war selber die größte Unvernunft.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 522, S. 515, Z. 11–15) Die Redensart „zur Vernunft kommen“ im Sinn von „einsehen“, „zur Besinnung kommen“ findet sich bereits in Luthers Bibelübersetzung, siehe Daniel 4, 31: „Nach dieser Zeit hob ich, Nebucad Nezar, meine Augen auf gen Himmel, und kam wieder zur Vernunft, und lobte den Höchsten.“ (Die Bibel: Altes Testament 1818, 859) Die Pointe von 366, 12 ist, dass der Weg zur Vernunft über die Unvernunft oder die Narrheit führt. Vgl. auch Dellinger 2017, 107 und in MA I 638, KSA 2, 362, 29 f. die „Freiheit der Vernunft“.
Literaturverzeichnis Druckmanuskripte im Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar Druckmanuskript zu Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister [Bd. 1]. Eigenhändig von Heinrich Köselitz mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen N.s. Mette-Signatur D 11, Signatur GSA 71/14.1–14.9, digital unter http:// www.nietzschesource.org/DFGA/D-11, letzter Abruf 30. 07. 2024. Druckmanuskript zur Vorrede [von MA I] und zu Unter Freunden. Ein Nachspiel. Eigenhändig von N. Mette-Signatur D 11a, Signatur GSA 71/15, digital unter http://www.nietzschesource.org/DFGA/ D-11a, letzter Abruf 30. 07. 2024.
Quellen und zeitgenössische Literatur Albrecht, J[ohann] F[riedrich] E[rnst]: Die Kopfschmerzen, ihre schnelle Linderung und gänzliche Heilung. Ein Hülfsbuch für Alle, die Anfällen von Kopfweh unterworfen sind, als: Von dem Kopfschmerz, wo das Blut nach dem Kopfe tritt. Von dem Kopfschmerz aus mangelhafter Verdauung. Siebente, von einem praktischen Arzt verbesserte Auflage, Quedlinburg und Leipzig (NPB 108). Altdeutscher Witz und Verstand. Reime und Sprüche aus dem sechszehnten und siebenzehnten Jahrhundert. Für Liebhaber eines triftigen Sinnes in ungekünstelten Worten. Zweite Auflage, Bielefeld/Leipzig 1877 (nicht in NPB). Ambros, August Wilhelm: Geschichte der Musik, Bd. 1, Breslau 1862 (nicht in NPB). Ambros, August Wilhelm: Geschichte der Musik, Bd. 4: Geschichte der Musik im Zeitalter der Renaissance von Palestrina an. Fragment, Leipzig 1878 (nicht in NPB). Andersen, H[ans] C[hristian]: Sämmtliche Märchen. Einzige vollständige vom Verfasser besorgte Ausgabe. Sechszehnte vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig o. J. (nicht in NPB). Aristoteles: Werke. VI. Schriften zur praktischen Philosophie. Drittes Bändchen. Nikomachische Ethik. Übersetzt von J. Rieckher. Buch VII–X, Stuttgart 1856 (NPB 123). Aristoteles: Drei Bücher der Redekunst. Übersetzt von Adolf Stahr, Stuttgart 1862 (NPB 125). Arnobius: Sieben Bücher wider die Heiden. Aus dem Lateinischen übersetzt und erläutert von Franz Anton von Besnard, Landshut 1842 (NPB 126 f.). Athenaios aus Naukratis: Deipnosophistae. E recognitione Augusti Meineke, Leipzig 1858–1859 (NPB: 128). Athenaios aus Naukratis: Das Gelehrtenmahl. Eingeleitet und übersetzt von Claus Friedrich. Kommentiert von Thomas Nothers. Buch IX–XV, Bd. 2: Buch XIV und XV, Stuttgart 2001. Avenarius, Richard: Philosophie als Denken der Welt gemäss dem Princip des kleinsten Kraftmasses. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung, Leipzig 1876 (NPB 716: von N. 1876 an den Buchhändler retourniert). Bacon, Francis: Neues Organ der Wissenschaften. Aus dem Lateinischen übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen begleitet von Anton Theobald Brück, Leipzig 1830 (NPB 129). Bacon, Francis: The Works. Collected and Edited by James Spedding, Robert Leslie Ellis and Douglas Denon Heath. Volume VIII, Boston 1881. Baedeker, K[arl]: Italien. Handbuch für Reisende. 3. Theil: Unter-Italien und Sicilien. Leipzig 1876 (nicht in NPB). https://doi.org/10.1515/9783110292954-003
986
Literaturverzeichnis
Baer, Karl Ernst von: Nachrichten über Leben und Schriften des Herrn Geheimrathes Dr. Karl Ernst von Baer, mitgetheilt von ihm selbst. Veröffentlicht bei Gelegenheit seines fünfzigjährigen Doctor-Jubiläums am 29. August 1864 von der Ritterschaft Ehstlands, St. Petersburg 1865 (nicht in NPB). Bagehot, Walter: Der Ursprung der Nationen. Betrachtungen über den Einfluss der natürlichen Zuchtwahl und der Vererbung auf die Bildung politischer Gemeinwesen. Autorisirte Ausgabe, Leipzig 1874 (NPB 129 f.). Bahnsen, Julius: Beiträge zur Charakterologie. Mit besonderer Berücksichtigung pädagogischer Fragen, 2 Bde., Leipzig 1867 (NPB 130). Bahnsen, Julius: Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestalt des Metaphysischen. Monographien aus den Grenzgebieten der Realdialektik, Lauenburg i. P. 1877 (nicht in NPB). Bain, Alexander: Geist und Körper. Die Theorien über ihre gegenseitigen Beziehungen. Autorisirte Ausgabe, Leipzig 1874 (NPB 131). Balzac, H[onoré] de: Physiologie der Ehe. Übersetzt aus dem Französischen von Dr. Le Petit. Zweite Auflage. Drei Theile in einem Band, Quedlinburg 1863 (nicht in NPB). Baron, Julius: Angriffe auf das Erbrecht. Mit einer Nachschrift über die social-democratischen Wahlen, Berlin 1877 (nicht in NPB). Baumann, J[ohann] J[ulius]: Philosophie als Orientirung über die Welt, Leipzig 1872 (nicht in NPB). Beneden, P[ierre] J[oseph van]: Die Schmarotzer des Thierreichs. Mit 83 Abbildungen in Holzschnitt, Leipzig 1876 (NPB 139). Benfey, Theodor: Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen Philologie in Deutschland seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts mit einem Rückblick auf die früheren Zeiten. Auf Veranlassung und mit Unterstützung seiner Majestät des Königs von Bayern Maximilian II. hg. durch die Historische Commission bei der Königl. Academie der Wissenschaften, München 1869 (nicht in NPB, von N. am 03. 11. 1869 der Basler UB entliehen – Crescenzi 1994, 390). Berg, Egon [Pseudonym für Leopold Auspitz]: Buch der Bücher. Sterne vom Denker- und Dichterhimmel aller Zeiten und Völker, in: Aphorismen der Welt-Literatur, gesammelt und geordnet, Bd. 1: Geist und Welt, Teschen 1873 (nicht in NPB). Bernays, Jacob: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie. [Separatum aus:] Abhandlungen der Historisch-Philosophischen Gesellschaft in Breslau, Bd. 1, Breslau 1857, S. 135–202 (nicht in NPB, von N. am 09. 05. 1872 der UB Basel entliehen – Crescenzi 1994, 406). Bernays, Jacob: Aristoteles’ Elegie an Eudemos, in: Rheinisches Museum für Philologie. Neue Folge 33 (1878), S. 232–237 (dieser Band des Rheinischen Museums nicht in NPB, von N. am 20. 01. 1879 der UB Basel entliehen – Crescenzi 1994, 442). Bernhardy, G[ottfried]: Grundriß der Griechischen Litteratur; mit einem vergleichenden Ueberblick der Römischen. Erster Theil, Halle 1836 (NPB 140). Bernoulli, [Christoph]: Dampfmaschinenlehre. Fünfte Auflage gänzlich umgearbeitet und stark vermehrt durch E[duard] Th[eodor] Böttcher, Stuttgart 1865 (keine Auflage in NPB). Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des alten und neuen Testaments, nach der deutschen Uebersetzung D. Martin Luthers. 127. Auflage, Halle 1818 (darin mit neuer Paginierung: Das Neue Testament unsers HErrn und Heilandes JEsu CHristi, verdeutscht von D. Martin Luther, Halle 1818) (NPB 669–672). Biedermann, Karl: Frauen-Brevier. Kulturgeschichtliche Vorlesungen, Leipzig 1856. Bock, Carl Ernst: Das Buch vom gesunden und kranken Menschen. Achte, bedeutend vermehrte Auflage, Leipzig 1870 (NPB 144 f.).
Literaturverzeichnis
987
Bötticher, Karl: Die Tektonik der Hellenen, Bd. 2, Buch 4: Der Hellenische Tempel in seiner Raumanlage für Zwekke des Kultus, Potsdam 1852 (nicht in NPB, von N. 1875 der Basler UB entliehen – Crescenzi 1994, 434). Bötticher, Carl: Der Baumkultus der Hellenen. Nach den gottesdienstlichen Gebräuchen und den überlieferten Bildwerken dargestellt, Berlin 1856 (nicht in NPB, von N. 1875 der Basler UB entliehen – Crescenzi 1994, 432 f.) Brandes, G[eorg]: Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Vorlesungen, gehalten an der Kopenhagener Universität. Uebersetzt und eingeleitet von Adolf Strodtmann, Bd. 2: Die romantische Schule in Deutschland, Berlin 1873 (Fassung von 1887 in NPB 149 u. 153). Brendel, Franz: Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich. Von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart. Fünfundzwanzig Vorlesungen gehalten zu Leipzig. Vierte neu durchgesehene und vermehrte Auflage, Leipzig 1867 (keine Ausgabe in NPB). Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. Zwölfte umgearbeitete, verbesserte und vermehrte Auflage, 15 Bde., Leipzig 1875–1879 (nicht in NPB). Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. Dreizehnte vollständig umgearbeitete Auflage, 16 Bde. + 1 Supplement, Leipzig 1882–1887 (nicht in NPB). Brockhaus’ Konversations-Lexikon. Vierzehnte vollständig neubearbeitete Auflage, 16 Bde., Berlin/ Wien 1894–1896 (nicht in NPB). Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volks. Siebente verbesserte und vermehrte Auflage, Berlin 1872 (nicht in NPB). Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volks. Zehnte verbesserte und vermehrte Auflage, Berlin 1877 (nicht in NPB). Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volkes. Dreizehnte vermehrte und umgearbeitete Auflage, Berlin 1882 (nicht in NPB). Burckhardt, Jacob: Die Zeit Constantin’s des Großen, Basel 1853 (nicht in NPB). Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Zweite Auflage. Unter Mitwirkung von mehreren Fachgenossen bearbeitet von A. von Zahn, Bd. 1: Architektur, Bd. 2: Sculptur, Bd. 3: Malerei, Leipzig 1869 (a) (NPB 161 f.). Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Zweite durchgesehene Auflage, Leipzig 1869 (b) (NPB 162 f.: zwei Exemplare vorhanden). Burckhardt, Jacob: Griechische Culturgeschichte. [N. gewidmete, handschriftliche Nachschrift von N.s Vorlesung, angefertigt von Louis Kelterborn], Mai 1875 (NPB 163). Burckhardt, Jacob: Briefe. Vollständige und kritische Ausgabe, hg. von Max Burckhardt, Bd. 6, Basel 1966. Burckhardt, Jacob: Aesthetik der bildenden Kunst. Über das Studium der Geschichte. Mit dem Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ in der Fassung von 1905. Aus dem Nachlaß hg. von Peter Ganz = Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10, München/Basel 2000. Byron, [George Noël Gordon] Lord: Sämmtliche Werke. Uebersetzt von Adolf Böttger. Sechste, revidirte und verbesserte Auflage, 8 Bde., Leipzig 1864 (NPB 165, heute verloren). Carey, Henry Charles: Lehrbuch der Volkswirtschaft und Socialwissenschaft. Autorisirte deutsche Ausgabe von Karl Adler. Zweite verbesserte und vom Verfasser mit einem Vorwort versehene Auflage, Wien 1870 (NPB 166 f.). Carneri, B[artholomäus]: Sittlichkeit und Darwinismus. Drei Bücher Ethik. Wien 1871 (nicht in NPB). Carriere, Moriz: Aesthetik. Die Idee des Schönen und ihre Verwirklichung im Leben und in der Kunst. Zweite neu bearbeitete Auflage. Erster Theil: Die Schönheit. Die Welt. Die Phantasie, Leipzig 1873 (nicht in NPB).
988
Literaturverzeichnis
Caspari, Otto: Die Thomson’sche Hypothese von der endlichen Temperaturausgleichung im Weltall, beleuchtet vom philosophischen Gesichtspunkte, Stuttgart 1874 (NPB 168). Caspari, Otto: Die Urgeschichte der Menschheit mit Rücksicht auf die natürliche Entwickelung des frühesten Geisteslebens. Zweite durchgesehene und vermehrte Auflage, 2 Bde., Leipzig 1877 (NPB 168, heute verloren). Cervantes Saavedra, Miguel de: Leben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Übersetzt von Ludwig Tieck, Bd. 2. Vierte Auflage, Berlin 1860 (keine CervantesAusgabe in NPB). Chamfort, Sébastian Roch Nicolas: Pensées – maximes – anecdotes – dialogues précédés de l’histoire de Chamfort par P. J. Stahl. Nouvelle édition revue et augmentée, contenant des pensées complètement inédites et suivie des lettres de Mirabeau à Chamfort, Paris o. J. [1856] (NPB 169). Chatauvillard [Louis Alfred Le Blanc Comte de]: Duell-Codex. Aus dem Französischen (Ausgabe von 1836) übersetzt von C. von L*******., Lahr 1864 (nicht in NPB). Cooke, Josiah P[arson]: Die Chemie der Gegenwart. Mit 31 Abbildungen in Holzschnitt. Autorisirte Ausgabe, Leipzig 1875 (NPB 172). Corneille, P[ierre]: Oeuvres complètes, suivies des œuvres choisies de Th. Corneille avec les notes de tous les meilleurs commentateurs, Bd. 4, Paris 1838 (nicht in NPB, wo nur einige Dramen Corneilles in deutschen Übersetzungen überliefert sind). Creuzer, Friedrich: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, 4 Theile. Dritte verbesserte Ausgabe = Deutsche Schriften, neue und verbesserte. 1. Abt., Bde. 1–4, Leipzig/Darmstadt 1836–1843 (NPB 174 f.). Curtius, Georg: Grundzüge der griechischen Etymologie. Zweite erweiterte Auflage, Leipzig 1866 (nicht in NPB, von N. in dieser Auflage zwischen 1870 und 1874 mehrfach aus der Basler UB entliehen, siehe Crescenzi 1994, 396, 399, 404, 423 u. 426). Dahn, Felix: Ein Kampf um Rom [1876], 3 Bde., 53. Auflage, Leipzig 1908 (keine Ausgabe in NPB). Darwin, Charles: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage, 2 Bde., Stuttgart 1875 (nicht in NPB). Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. 3. Auflage, Stuttgart 1877 (nicht in NPB). Denkschrift, betreffend eine gesetzliche Normierung der Organisation und Stellung des höheren Mädchenschulwesens. Den hohen deutschen Staats-Regierungen gewidmet von der ersten deutschen Haupt-Versammlung von Dirigenten und Lehrenden der höheren Mädchenschulen, in: Pädagogisches Archiv. Centralorgan für Erziehung und Unterricht in Gymnasien, Realschulen und höheren Bürgerschulen 15 (1873), S. 266–285 (nicht in NPB). Descartes, René: Œuvres. Publiées par Charles Adam et Paul Tannery, Bd. 6: Discours de la méthode / Essais, Paris 1902 (keine Descartes-Ausgabe in NPB). Deussen, Paul: Die Elemente der Metaphysik. Als Leitfaden zum Gebrauche bei Vorlesungen sowie zum Selbststudium zusammengestellt, Aachen 1877 (NPB 185). Diogenes Laertius: Von den Leben und den Meinungen berühmter Philosophen. Aus dem Griechischen von C[hristian] Aug[ust] Borheck, 2 Bde., Wien/Prag 1807 (NPB 195). Diogenes Laertius: De vitis, dogmatis et apophthegmatis clarorum philosophorum libri decem. Graeca emendatiora edidit, notatione emendationum, latina Ambrosii interpretatione castigata, appendice critica atque indicibus instruxit Henricus Gustavus Huebnerus Lipsiensis, 2 Bde., Leipzig 1828–1831 (NPB 194 f.). Dobrizhoffer, Martin: An Account of the Abipones, an Equestrian People of Paraguay. From the Latin, Bd. 2, London 1822 (nicht in NPB).
Literaturverzeichnis
989
Doudan, X[iménès]: Mélanges et lettres. Avec une introduction par M. le Comte d’Haussonville et des notices par MM. de Sacy, Cuvillier-Fleury. Nouvelle édition, Bde. 1–2, Paris 1878 (NPB 196 f.: Widmungsexemplare N.s für Elisabeth Nietzsche). Draper, John William: Geschichte der geistigen Entwickelung Europas. Aus dem Englischen von A. Bartels. Zweite durchgesehene und verbesserte Auflage, Leipzig 1871 (NPB 198). Draper, John William: Geschichte der Conflicte zwischen Religion und Wissenschaft. Autorisirte Ausgabe, Leipzig 1875 (NPB 197 f.). Drossbach, Maximilian: Über die verschiedenen Grade der Intelligenz und der Sittlichkeit in der Natur, Berlin 1873 (nicht in NPB). Dubois, Jean-Antoine: Description of the Character, Manners, and Customs of the People of India; and of their Institutions, Religious and Civil. Translated from the French Manuscript, London 1817 (nicht in NPB). Du Bois-Reymond, Emil: Über eine Akademie der deutschen Sprache – Über Geschichte der Wissenschaft. Zwei Festreden in öffentlichen Sitzungen der Königl. Akademie zu Berlin, Berlin 1874 (NPB 199 u. 201). Du Bois-Reymond, E[mil]: La Mettrie. Rede in der öffentlichen Sitzung der Kgl. Preuss. Akademie der Wissenschaften zur Gedächtnissfeier Friedrich’s II. am 28. Januar 1875, Berlin 1875 (nicht in NPB). Dühring, Eugen: Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung, Breslau 1865 (NPB 202). Dühring, Eugen: Kritische Grundlegung der Volkswirthschaftslehre, Berlin 1866 (nicht in NPB). Dühring, Eugen: Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus, Berlin 1871 (diese Ausgabe nicht in NPB). Dühring, Eugen: Kritische Geschichte der allgemeinen Principien der Mechanik, Berlin 1873 (a) (NPB 202). Dühring, E[ugen]: Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Zweite vermehrte Auflage, Berlin 1873 (b) (NPB 203). Dühring, E[ugen]: Cursus der National- und Socialökonomie, einschliesslich der Hauptpunkte der Finanzpolitik, Berlin 1873 (c) (NPB 201). Dühring, Eugen: Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, Leipzig 1875 (a) (NPB 201 f.) Dühring, Eugen: Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus. Zweite, theilweise umgearbeitete Auflage, Leipzig 1875 (b) (NPB 202 f.). Dühring, Eugen: Der Werth des Lebens populär dargestellt. Zweite, völlig umgearbeitete und bedeutend vermehrte Auflage, Leipzig 1877 (nicht in NPB). Dumont, Léon: Vergnügen und Schmerz. Zur Lehre von den Gefühlen. Autorisirte Ausgabe, Leipzig 1876 (NPB 204 f.). Eberle, Chr[istian] G[ottlieb]: Luthers Episteln-Auslegung. Ein Commentar zur Apostelgeschichte, den apostolischen Briefen und der Offenbarung. Aus seinen homiletischen und exegetischen Werken für Schriftforscher, Prediger und erbauungsuchende Leser herausgegeben, Stutgart 1866 (nicht in NPB). Eberty, Felix: Walter Scott. Ein Lebensbild. Zweite verbesserte Auflage, 2 Bde., Leipzig 1871. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. 3 Theile, Leipzig 1868 (NPB 206: Theil 1, heute vermisst). Ellis, William: Polynesian Researches. During a Residence of Nearly Six Years in the South Sea Islands. Including Descriptions of the Natural History and Scenery of the Islands, Bd. 2, London 1829 (nicht in NPB). Elze, Karl: Abhandlungen zu Shakespeare, Halle 1877 (nicht in NPB).
990
Literaturverzeichnis
Emerson, Ralph Waldo: Versuche. (Essays.) Übersetzt aus dem Englischen von G. Fabricius, Hannover 1858 (NPB 211–213 u. 215). Emerson, Ralph Waldo: Die Führung des Lebens. Gedanken und Studien. Ins Deutsche übertragen von E. S. von Mühlberg. 2. Auflage, Leipzig 1862 (NPB 210: von N. 1876 gebunden, heute vermisst). Emerson, Ralph Waldo: Die Natur. Ein Essay. Aus dem Englischen von Adolph Holtermann, Hannover 1868 (nicht in NPB). Engel, Eduard: Lord Byron. Eine Autobiographie nach Tagebüchern und Briefen. Mit Einleitung und Erläuterungen. Ergänzungsband zu Byrons Werken, Berlin 1876 (nicht in NPB). Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, bearbeitet von einer Anzahl Schulmänner und Gelehrten, hg. von K. A. Schmid, Bd. 6, Gotha 1867 (nicht in NPB). Epiktetos: Handbuch. Aus dem Griechischen. Mit erläuternden Anmerkungen von Gottlieb Christian Karl Link, Nürnberg 1783 (NPB 214). Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Narrheit. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen, St. Gallen 1839 (NPB 218). Feuerbach, Ludwig: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit = Sämmtliche Werke, Bd. 3, Leipzig 1847 (von N. in NL 1861, KGW I 2, 11[24], 307 zum Geburtstag gewünscht, in NPB nicht vorhanden). Fichte, Johann Gottlieb: Sämmtliche Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 4, Berlin 1845 (keine Fichte-Ausgabe in NPB). [Fielding, Henry]: Geschichte des Thomas Jones eines Findelkindes. Aus dem Englischen, 6 Bde., Leipzig 1786–1788 (NPB 224 f.: von N. gekauft am 10. 02. 1876). Fischer, Kuno: Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 1: Descartes und seine Schule. 1. Theil: Allgemeine Einleitung. René Descartes. 2. Theil: Descartes’ Schule. Geulinx. Malebranche. Baruch Spinoza. Zweite völlig umgearbeitete Auflage, Mannheim 1865 (nicht in NPB). Fischer, Kuno: Ueber die Entstehung und die Entwicklungsformen des Witzes. Zwei Vorträge gehalten in der Rose zu Jena im Februar 1871, Heidelberg 1871 (nicht in NPB). Florian, [Jean-Pierre Claris de]: Fables. Illustrées de 72 gravures par W.-H. Freeman et Philippoteaux, avec des notes par M. de Suckau. Suivies d’un choix de fables de Lamothe et de l’Abbé Aubert, Paris 1870 (keine Florian-Ausgabe in NPB). Fontenelle, Bernard Le Bovier de: Dialogues des morts, suivis de Jugement de Pluton, Paris 1876 (NPB 228 f.). Fortlage, System der Psychologie als empirischer Wissenschaft aus der Beobachtung des innern Sinnes. Erster Theil, Leipzig 1855 (nicht in NPB). Frauenstädt, Julius: Das sittliche Leben. Ethische Studien, Leipzig 1866 (nicht in NPB). Freytag, Gustav: Dramatische Werke. Die Brautfahrt. Der Gelehrte. Die Valentine. Graf Waldemar. Die Journalisten, Leipzig 1858 (nicht in NPB). Friedländer, [Ludwig]: Kant in seiner Stellung zur Politik, in: Deutsche Rundschau 9 (1876), S. 241– 256 (nicht in NPB). [Funke, Carl Philipp]: Leben und Charakter Friedrichs II., Königs von Preussen. Nebst einem zweckmäßigen Auszuge aus dessen sämtlichen Werken, mit Zusätzen und eignen Anmerkungen hg. von J. C. Freier, Berlin 1795 (nicht in NPB). Gautier, Théophile: Poésies nouvelles. Émaux et Camées. Théatre. Poésies diverses, Paris 1863 (nicht in NPB). Gerber, Gustav: Die Sprache als Kunst, 2 Bde., Bromberg 1871–1874 (nicht in NPB, der erste Band von N. am 28. 09. 1872 der Basler UB entliehen – Crescenzi 1994, 418). Gervinus, G[eorg] G[ottfried]: Shakespeare, Bd. 3, Leipzig 1849 (nicht in NPB).
Literaturverzeichnis
991
Gneist, Rudolf: Die Denkschriften des Freiherrn vom Stein, in: Preußische Jahrbücher 37 (1876), S. 257–280. Goethe, Johann Wolfgang von: Sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Vollständige, neugeordnete Ausgabe, Stuttgart/Augsburg 1853–1858 (NPB 247–257). Goethe, Johann Wolfgang von: Goethe’s Tagebuch aus den Jahren 1776–1782. Mitgetheilt von Robert Keil = Vor hundert Jahren. Mittheilungen über Weimar, Goethe und Corona Schröter aus den Tagen der Genie-Periode. Festgabe zur Säkularfeier von Goethe’s Eintritt in Weimar (7. November 1775) von Robert Keil, Bd. 1, Leipzig 1875 (NPB 258: von N. am 18. 08. 1875 erworben, gebunden am 29. 01. 1876, heute vermisst). Göll, Hermann: Griechische Privatalterthümer, in: Brockhaus, Hermann (Hg.): Griechenland geographisch, geschichtlich und culturhistorisch von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart in Monographien dargestellt. Separatausgabe aus der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste von Ersch und Gruber, Bd. 4, Leipzig 1870, S. 115–158 (nicht in NPB). Goncourt, Edmond Huot de/Jules Huot de: La femme au dix-huitième siècle. Nouvelle édition, revue et augmentée, Paris 1878 (NPB 261). Gracián, Balthazar: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von Don Vincencio Juan de Lastanosa, und aus dem spanischen Original treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer. Dritte unveränderte Auflage, Leipzig 1877 (NPB 265, heute verloren). Grasberger, Lorenz: Erziehung und Unterricht im klassischen Alterthum nach den Quellen dargestellt, Theil 2, Würzburg 1875 (nicht in NPB, von N. am 22. 10. 1875 der UB Basel entliehen – Crescenzi 1994, 435). Grimm, Herman: Goethe. Vorlesungen gehalten an der Kgl. Universität zu Berlin, Bd. 1, Berlin 1877 (nicht in NPB). Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854–1971 (nicht in NPB, 1, Bd. von N. teilweise exzerpiert in NL 1874, KSA 7, 37[1], 825–828). Grote, George: Geschichte Griechenlands. Nach der zweiten Auflage aus dem Englischen übertragen von N. N. W. Meißner, 6 Bde., Leipzig 1850–1856 (NPB 267 f.). Grün, Karl: Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlass sowie in seiner Philosophischen Characterentwicklung dargestellt, Bd. 1: Sein Briefwechsel und Nachlass 1820–1850, Leipzig/Heidelberg 1874 (nicht in NPB). Gsell-Fels, Th[eodor]: Italien in sechzig Tagen. 2. Auflage, Leipzig 1878 (a) (NPB 269). Gsell-Fels, Th[eodor]: Süd-Frankreich, nebst den Kurorten der Riviera di Ponente, Corsica und Algier, 2. Auflage, Leipzig 1878 (b) (NPB 269 f.). Guhl, Ernst/Koner, Wilhelm: Das Leben der Griechen und Römer nach antiken Bildwerken dargestellt. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage, Berlin 1864 (NPB 270, heute verloren). Gwinner, Wilhelm: Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgange dargestellt. Ein Blick auf sein Leben, seinen Charakter und seine Lehre, Leipzig 1862 (nicht in NPB). Haeckel, Ernst: Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Keimes- und Stammesgeschichte. Zweite unveränderte Auflage, Leipzig 1874 (nicht in NPB). Haeckel, Ernst: Die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesammtwissenschaft. Vortrag, in der ersten öffentlichen Sitzung der fünfzigsten Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu München am 18. September 1877 gehalten, Stuttgart 1877 (nicht in NPB). Hagenbach, K[arl] R[udolf]: Vorlesungen über Wesen und Geschichte der Reformation. Erster und zweiter Theil: Geschichte der Reformation in Deutschland und in der Schweiz, Leipzig 1851 (nicht in NPB).
992
Literaturverzeichnis
Hagenbach, K[arl] R[udolf]: Geschichte der Reformation, vorzüglich in Deutschland und der Schweiz. In Vorlesungen. Vierte umgearbeitete Auflage = ders.: Kirchengeschichte von der ältesten Zeit bis zum 19. Jahrhundert. In Vorlesungen. Neue, durchgängig überarbeitete Gesammtausgabe. Dritter Band, Leipzig 1870 (nicht in NPB). Hammer, Joseph von: Geschichte des Osmanischen Reiches, großentheils aus bisher unbenützten Handschriften und Archiven. Zweyte verbesserte Ausgabe, Bd. 2, Pesth 1834 (nicht in NPB). Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst. Dritte verbesserte Auflage, Leipzig 1865 (NPB 275). Hansson, Ola/Marholm-Hansson, Laura: Brief ohne Datum [ca. 1891/93] an den ungarischen Schriftsteller Ödön Gerö, angeboten auf Ebay, 29. November 2021, jetzt wohl Privatbesitz (gespeichert unter https://web.archive.org/save/https://www.ebay.de/itm/115117067177). Hartmann, Eduard von: Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung, Berlin 1869 (NPB 276: von N. 1875 verkauft). Hartmann, Eduard von: Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie. Eine kritische Beleuchtung des naturphilosophischen Theils der Philosophie des Unbewussten aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, Berlin 1872 (NPB 275). Hartmann, Eduard von: Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine kritische Darstellung der organischen Entwicklungstheorie, Leipzig 1875 (NPB 278). Hartmann, Eduard von: Philosophie des Unbewussten. Siebente, erweiterte Auflage, Bd. 2: Metaphysik des Unbewussten, Berlin 1876 (diese Ausgabe nicht in NPB). Hartsen, F[rederik] A[nton] v[on]: Die Moral des Pessimismus, nach Veranlassung von Dr. Taubert’s Schrift „Der Pessimismus und seine Gegner“, geprüft, Nordhausen 1874 (NPB 278). Hartsen, F[rederik] A[nton] v[on]: Grundzüge der Psychologie. Zweite gänzlich umgearbeitete und beträchtlich vermehrte Auflage, Halle 1877 (NPB 278). Hausegger, Friedrich von, Richard Wagner und Schopenhauer. Eine Darlegung der philosophischen Anschauungen R. Wagners an der Hand seiner Werke, Leipzig 1878 (NPB 278). Haym, Rudolf: Arthur Schopenhauer [1864], in: ders.: Gesammelte Aufsätze, Berlin 1903, S. 239–355 (keine Ausgabe in NPB). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hg. von Eduard Gans. Dritte Auflage, besorgt von Karl Hegel = Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Bd. 9, Berlin 1848 (keine Ausgabe in NPB). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen, mit Einleitung und Erläuterungen hg. von Karl Rosenkranz, Berlin 1870 (NPB 281: bereits 1875 verkauft). Hellwald, Friedrich von: Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart, Augsburg 1875 (a) (nicht in NPB, aber N. bittet Franz Overbeck in der Postkarte vom 08. 07. 1881, ihm das Werk zu schicken, KSB 6/KGB III 1, Nr. 123, S. 100 f., Z. 6–11). H[ellwald], F[riedrich] v[on]: Neue culturgeschichtliche Schriften, in: Das Ausland, 8. November 1875, Nr. 45, S. 899–902 (b) (nicht in NPB). Hellwald, Friedrich von: Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart. Zweite neu bearbeitete und sehr vermehrte Auflage, 2 Bde., Augsburg 1876 (a)–1877 (a) (nicht in NPB). Hellwald, Friedrich von: Die Erde und ihre Völker. Ein Geographisches Hausbuch, 2 Bde., Stuttgart 1877 (b)–1878 (NPB 284, heute verloren). Helmholtz, H[ermann]: Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig 1867 (nicht in NPB, fehlt bei Crescenzi 1994, nach Treiber 1994, 11 am 05. 04. 1873 von N. der Basler UB entliehen). Helvétius, Claude Adrien: Discurs über den Geist des Menschen. Aus dem Französischen des Herrn Helvetius [übersetzt von Johann Gabriel Forkert]. Mit einer Vorrede Johann Christoph
Literaturverzeichnis
993
Gottscheds, Leipzig und Liegnitz 1760 (NPB 284 f.: das überlieferte Exemplar zugeschrieben, aber nicht mit letzter Sicherheit identifiziert, verfügbar hier: https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/epnresolver?id=1235171221). Helvétius, Claude Adrien: Œuvres complètes, Bd. 9, Paris 1795 (nicht in NPB). Henne am Rhyn, Otto: Kulturgeschichte der neuern Zeit vom Wiederaufleben der Wissenschaften bis auf die Gegenwart, Bd. 3: Kulturgeschichte der neuesten Zeit, Leipzig 1872 (nicht in NPB). Hermann, Ludimar: Grundriss der Physiologie des Menschen. Fünfte vermehrte und verbesserte Auflage. Mit in den Text eingedruckten Holzschnitten, Berlin 1874 (NPB 287). Herodot: Geschichte, übersetzt von Adolf Schöll. Unter Theilnahme des Verfassers neu durchgesehen von Reinhold Köhler. Siebentes Bändchen. Fünfte Auflage, Stuttgart 1871 (NPB 289 f.). Herzen, A[lexandre]: Physiologie de la volonté. Traduit de l’italien par le docteur Ch[arles] Letourneau, Paris 1874 (nicht in NPB). Hesiod: Carmina. Recensuit et commentariis instruxit Carolus Goettlingius. Editio Altera, Gotha 1843 (NPB 293). Hesiod: Gedichte. Im Versmaße der Urschrift übersetzt von Karl Uschner, Berlin 1865 (NPB 295). Hettner, Hermann: Geschichte der französischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert = Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. In drei Theilen. Zweiter Theil. Die französische Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Braunschweig 1860 (NPB 296: 1863 gebunden, heute verloren). Hillebrand, Karl: Frankreich und die Franzosen in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts. Eindrücke und Erfahrungen von Karl Hillebrand. Zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage = Zeiten, Völker und Menschen, Bd. 1, Berlin 1874 (a) (NPB 296 f.). [Hillebrand, Karl:] Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers, Berlin 1874 (b) (NPB 298: heute verloren). Hillebrand, Karl: Wälsches und Deutsches = Zeiten, Völker und Menschen, Bd. 2, Berlin 1875 (NPB 297). His, Wilhelm: Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung. Briefe an einen befreundeten Naturforscher, Leipzig 1874 (NPB 299 f.). Hobbes, Thomas: Elementa philosophica de cive, Amsterdam 1657 (keine Hobbes-Ausgabe in NPB). Hoffmann, E[rnst] T[heodor] A[madeus]: Ausgewählte Novellen, 2 Bde., Berlin 1853 (NPB 301). Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst, Alexander Fürst von: Über das heilige Sacrament der Buße. Vorgetragen in sechs Kanzelreden an den sechs Sonntagen der heiligen Fastenzeit, Regensburg 1839 (nicht in NPB). Hölderlin, Friedrich. Mit Portrait = Moderne Klassiker. Deutsche Literaturgeschichte der neueren Zeit in Biographien, Kritiken und Proben, Bd. 22, Cassel 1853 (in NPB die weitgehend identische Ausgabe Hölderlin 1859). Hölderlin, Friedrich. Moderne Klassiker, Heft 65 und Heft 66. Fünfte bearbeitete Auflage, Leipzig 1859 (NPB 302 f.; es fehlen die Hefte 64 und 67). Hölderlin, Friedrich: Ausgewählte Werke, hg. von Christoph Theodor Schwab, Stuttgart 1874 (NPB 302). Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Empedokles. Aufsätze. Übersetzungen, hg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz, Frankfurt am Main 2008. Honegger, J[ohann] J[akob]: Kritische Geschichte der französischen Cultureinflüsse in den letzten Jahrhunderten, Berlin 1875 (NPB 307, heute verloren). Huber, Johannes: Studien. Philosophische Schriften, München 1867 (nicht in NPB). Hugo, Victor: Sämmtliche Werke, übersetzt von Mehreren, Bd. 13 = Oden und Balladen I, übersetzt von Heinrich Elsner, Stuttgart 1841 (nicht in NPB).
994
Literaturverzeichnis
Ihering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, zweite Abteilung. Dritte, verbesserte Auflage, Leipzig 1875 (nicht in NPB). Ihering, Rudolf von: Der Zweck im Recht, 2 Bde., Leipzig 1877 u. 1883 (nicht in NPB). Ihering, Rudolf von: Der Zweck im Recht. Zweite umgearbeitete Auflage, 2 Bde., Leipzig 1884 u. 1886 (nicht in NPB). Janssen, Johannes: Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 1: Die allgemeinen Zustände des deutschen Volkes beim Ausgang des Mittelalters, Freiburg im Breisgau 1878 (NPB 320: Am 23. 07. 1878 von N. gekauft, nicht erhalten). Janssen, Johannes: Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 2: Zustände des deutschen Volkes seit dem Beginn der politisch-kirchlichen Revolution bis zum Ausgang der socialen Revolution von 1525, Freiburg im Breisgau 1879 (nicht in NPB, die NPB 320 genannte Buchhändlerrechnung vom 8. Mai 1879 wird aber wohl nicht Janssens Ausgabe von Böhmer’s Leben und Anschauungen von 1869, sondern den zweiten Band der Geschichte des deutschen Volkes betreffen. N.s Brief an Köselitz vom 5. 10. 1879 ist zu entnehmen, dass N. diesen zweiten Band besaß, KSB 5/KGB II 5, Nr. 889, S. 451). Janssen, Johannes: An meine Kritiker. Nebst Ergänzungen und Erläuterungen zu den drei ersten Bänden meiner Geschichte des deutschen Volkes. 8. Tausend, Freiburg im Breisgau 1882 (NPB 319 f.). Jonston [sic], Arthur: Psalmorum Davidis paraphrasis poetica, nunc demum castigatius edita, Amsterdam 1706 (nicht in NPB). Keil, Carl Friedrich: Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen und apokryphischen Schriften des Alten Testamentes. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage, Frankfurt am Main 1873 (nicht in NPB). Kinkelin, Friedrich: Ueber Ernährung. Vortrag, gehalten an der Jahresversammlung der Aargauischen Naturforschenden Gesellschaft zu Zofingen, Basel 1872 (NPB 330 f.). Klaczko, Julian: Zwei Kanzler. Fürst Gortschakow und Fürst Bismarck, Basel 1877 (NPB 331). Klausen, Rudolf Heinrich: Aeneas und die Penaten. Die italischen Volksreligionen unter dem Einfluß der griechischen dargestellt, Bd. 1, Hamburg 1839 (nicht in NPB). Klein, Herm[ann] J[oseph]: Die Wetterpropheten und die Wetterprophezeiungen, oder: Ist die Kunst, das Wetter vorherzubestimmen, entdeckt oder nicht? Zur Verständigung für Jeden, der sich über diesen Punkt ein selbstständiges Urtheil verschaffen will, Neuwied/Leipzig 1865 (nicht in NPB). Klemm, Gustav: Die Frauen. Culturgeschichtliche Schilderungen des Zustandes und Einflusses der Frauen in den verschiedenen Zonen und Zeitaltern, Bd. 1, Dresden 1859 (nicht in NPB). Koberstein, August: Grundriss der Geschichte der deutschen National-Litteratur. Vierte, durchgängig verbesserte und zum größten Theil völlig umgearbeitete Ausgabe, Bd. 2, Leipzig 1856 (nicht in NPB). Koberstein, August: Grundriss der Geschichte der deutschen National-Litteratur. Vierte, durchgängig verbesserte und zum größten Theil völlig umgearbeitete Ausgabe, Bd. 3, Leipzig 1866 (nicht in NPB). Krug, Wilhelm Traugott: System der praktischen Philosophie. Dritter und letzter Theil: Religionslehre, Königsberg 1819 (nicht in NPB). Lagarde, Paul de: Ueber die gegenwärtige lage des deutschen reichs. Ein bericht, Göttingen 1876 (NPB 337). Lagarde, Paul de: Deutsche Schriften, [Bd. 1], Göttingen 1878 (nicht in NPB). Landor, Walter Savage: Männer und Frauen des Wortes und der That, im Gespräch zusammengeführt. Auswahl und Uebersetzung aus den Imaginary Conversations of Literary
Literaturverzeichnis
995
Men and Statesmen durch Eugen Oswald von Heidelberg, Paderborn 1878 (NPB 337: von N. 1879 gekauft, heute verloren). Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1866 (diese Ausgabe nicht [mehr?] in NPB. N. schaffte sich später die von Hermann Cohen herausgegebene Ausgabe von 1887 an). Lange, Friedrich Albert. Die Arbeiterfrage. Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft. Dritte umgearbeitete und vermehrte Auflage, Winterthur 1875 (NPB 337: von N. 1875 gekauft, heute verloren). Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Mit dem Portrait des Verfassers nebst Angaben über sein Leben. Dritte Auflage, 2 Bde., Iserlohn 1876–1877 (diese Ausgabe nicht in NPB). Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Wohlfeile Ausgabe. Zweites Tausend. Besorgt und mit biographischem Vorwort versehen von Hermann Cohen, Iserlohn/Leipzig 1887 (NPB 338). Laplace, [Pierre-Simon] Marquis de: Essai philosophique sur les probabilités. Cinquième édition revue et augmentée par l’auteur, Paris 1825 (nicht in NPB). La Rochefoucauld [auf dem Titelblatt: De la Rochefoucault], [François de]: Sätze aus der höhern Welt- und Menschenkunde. Deutsch hg. von Friedrich Schulz, Breslau 1793 (NPB 338 u. 340, heute vermisst). [La Rochefoucauld, François de:] Réflexions ou sentences et maximes morales, Paris 1665 [diese Ausgabe nicht in NPB]. La Rochefoucauld, François de: Réflexions, sentences et maximes morales. Précédées d’une Notice par M. Sainte-Beuve. Œuvres choisies de Vauvenargues avec un choix de notes de Voltaire, Morellet, Fortia, etc. et précédées d’une Notice par Suard. Nouvelle édition revue avec grand soin sur les meilleurs textes, Paris o. J. (NPB 338). Lecky, William Edward Hartpole: Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa. Deutsch von Dr. H. Jolowicz. Zweite rechtmässige, sorgfältig durchgesehene und verbesserte Auflage, 2 Bde., Leipzig/Heidelberg 1873 (NPB 341–344). Lehmann, Rudolf: Kant’s Lehre vom Ding an sich. Ein Beitrag zur Kantphilologie. InauguralDissertation zur Erlangung der Philosophischen Doctorwürde an der Georg-AugustsUniversität zu Göttingen, Berlin 1878 (NPB 346). Lehmann, Rudolf: Friedrich Nietzsche. Eine Studie, in: Internationale Monatsschrift. Zeitschrift für allgemeine und nationale Kultur und deren Literatur 1 (1882), S. 253–261, 269–275 u. 306–322 (dieser Band der Internationalen Monatsschrift offenbar nicht in NPB), auch abgedruckt in Reich 2013, 772–792. Lehndorff, Georg Graf: Hippodromos. Einiges über Pferde und Pferderennen im griechischen Alterthum, Berlin 1876 (nicht in NPB). Lenau, Nicolaus: Gedichte, Stuttgart 1869 (keine Lenau-Ausgabe in NPB). Leopardi, Giacomo: Opere. Tomo II, Leipzig 1861 (NPB 348). Leopardi, Giacomo: Gedichte von Giacomo Leopardi. Verdeutscht in den Versmaßen des Originals von Robert Hamerling, Hildburghausen 1866 (NPB 348). Leopardi, Giacomo: Giacomo Leopardi. Deutsch von Paul Heyse. Erster Theil: Nerina – Gedichte, Berlin 1878 (NPB 348 f.). Leopardi, Giacomo: Giacomo Leopardi. Deutsch von Paul Heyse. Zweiter Theil: Leopardi’s Weltanschauung. – Geschichte des Menschengeschlechts. – Gespräche. – Gedanken, Berlin 1878 (NPB 349). Lessing, Gotthold Ephraim: Werke, 10 Bde., Leipzig 1867 (NPB 351–353).
996
Literaturverzeichnis
Lichtenberg, Georg Christoph: Vermischte Schriften. Neue Original-Ausgabe, 8 Bde., Göttingen 1867 (NPB 354–356). Liebig, Hermann von: Die Ernaehrungsgesetze Liebig’s in neuester Fassung und neue Nährmittel Malto-Leguminose. Ein Nachtrag zu den Chemischen Briefen, Kempten 1878 (NPB 356). Liebmann, Otto: Ueber subjective, objective und absolute Zeit, in: Philosophische Monatshefte 7 (1871/72), S. 463–480 (nicht in NPB). Littré, É[mile]: La science au point de vue philosophique. Quatrième édition, Paris 1876 (NPB 361). Logau, Friedrich von (Hg.): Friedrich von Logau: Sinngedichte. Zwölf Bücher. Mit Anmerkungen über die Sprache des Dichters hg. von C[arl] W[ilhelm] Ramler und G[otthold] E[phraim] Lessing, Leipzig 1759 (nicht in NPB). Lubbock, John: Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Leben der Wilden. Autorisirte Ausgabe für Deutschland. Nach der dritten vermehrten Auflage aus dem Englischen von A. Passow. Nebst einleitendem Vorwort von Rudolf Virchow, Jena 1875 (NPB 364). Lübke, Wilhelm: Geschichte der Plastik von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Zweite stark vermehrte und verbesserte Auflage, Bd. 2, Leipzig 1871 (nicht in NPB). Lucian [Lukianos von Samosata]: Werke, übersetzt von August Pauly, 15 Bändchen, Stuttgart 1827– 1832 (NPB 368–373). Lüdemann, Hermann: Die Anthropologie des Apostels Paulus und ihre Stellung innerhalb seiner Heilslehre. Nach den vier Hauptbriefen dargestellt, Kiel 1872 (nicht in NPB). Mach, Ernst: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886 (NPB 374 f.). Machiavel, Nicolas [Machiavelli, Niccolò]: Le prince. Nouvelle traduction précédée de quelques notes sur l’auteur par C. Ferrari, Paris 1873 (NPB 375). Mainländer, Philipp [Pseudonym für Philipp Batz]: Die Philosophie der Erlösung, [Bd. 1], Berlin 1876 (NPB 375: gekauft 1876, in NPB jedoch nicht erhalten). Mantegazza, Paul: Die Physiologie der Liebe. Einzige vom Verfasser autorisirte deutsche Ausgabe. Nach der zweiten Auflage aus dem Italienischen von Eduard Engel, Jena 1877 (NPB 376). Mark Aurel: Selbstgespräche. Uebersetzt und erläutert von C. Cleß, Stuttgart 1866 (NPB 377). Martensen, H[ans Lassen]: Die Christliche Ethik. Allgemeiner Theil. Deutsche vom Verfasser veranstalte Ausgabe. Zweite verbesserte Auflage, Gotha 1873 (nicht in NPB, ist aber nach KSB 6/KGB III 1, Nr. 18, S. 13 vorhanden gewesen). Martensen, H[ans Lassen]: Die Christliche Ethik. Specieller Theil, 1. Abtheilung: Die individuelle Ethik. Deutsche vom Verfasser veranstalte Ausgabe, Gotha 1878 (nicht in NPB, ist aber nach KSB 6/KGB III 1, Nr. 18, S. 13 vorhanden gewesen). Marx, Adolf Bernhard: Ludwig van Beethoven. Leben und Schaffen. In zwei Theilen, mit Beilagen und Bemerkungen über den Vortrag Beethovenscher Werke, Berlin 1859 (nicht in NPB, aber von N. in dieser oder der Ausgabe von 1863 im Jahr 1865 gelesen, vgl. KGB I 2, Nr. 467, S. 56, Z. [10]3 f.). Marx, Adolf Bernhard: Ludwig van Beethoven. Leben und Schaffen. In zwei Theilen mit autobiographischen Beilagen. Zweite, völlig umgearbeitete, vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin 1863 (vgl. zur Ausgabe 1859). Maudsley, Henry: Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken, Leipzig 1875 (NPB 378). Maury, L.-F.-Alfred: La magie et l’astrologie dans l’Antiquité et au Moyen Âge ou études sur les superstitions païennes qui se sont perpétuées jusqu’à nos jours, Paris 1860 (nicht in NPB). Mayer, J[ulius] R[obert]: Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel. Ein Beitrag zur Naturkunde, Heilbronn 1845 (NPB 378). Mendelssohn-Bartholdy, K[arl]: Mirabeau, in: Preußische Jahrbücher 31 (1873), S. 361–412 (nicht in NPB).
Literaturverzeichnis
997
Mercklin, Ludwig: Die Talos-Sage und das sardonische Lachen. Ein Beitrag zur Geschichte griechischer Sage und Kunst. (Aus den Mémoires des savants étrangers, Tome VII besonders abgedruckt), St. Petersburg 1851 (nicht in NPB). Mérimée, Prosper: Dernières nouvelles. Lokis – Il viccolo [sic] di Madama Lucrezia – La chambre bleue – Djoumane – Le coup de pistolet – Federigo – Les sorcières espagnoles. Septième édition, Paris 1874 (NPB 380). Mérimée, Prosper: Lettres à une autre inconnue. Avant-propos par H. Blaze de Bury. Deuxième édition, Paris 1875 (NPB 381). Mérimée, Prosper: Lettres à une inconnue [Jenny Dacquin]. Précédées d’une étude sur Mérimée par H. Taine, 3 Bde., Paris o. J. (nicht in NPB). Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Dritte, gänzlich umgearbeitete Auflage, 15 + 2 Bde., Leipzig 1874–1884 (nicht in NPB). Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage, Leipzig/Wien 1885–1892 (nicht in NPB). [Meysenbug, Malwida von]: Memoiren einer Idealistin, 3 Bde., Stuttgart 1876 (NPB 382). Meysenbug, Malwida von: Der Lebensabend einer Idealistin, Berlin 1898. Meysenbug, Malwida von: Der Lebensabend einer Idealistin. Fünfte Auflage, Berlin 1903. Meysenbug, Malwida von: Memoiren einer Idealistin. Und ihr Nachtrag: Der Lebensabend einer Idealistin. 42. u. 43. Auflage, Berlin/Leipzig 1927. Michelet, Carl Ludwig: Die Geschichte der Menschheit in ihrem Entwickelungsgange seit 1775 bis auf die neuesten Zeiten. Erster Theil, Berlin 1859 (nicht in NPB). Mill, John Stuart: Gesammelte Werke. Autorisirte Uebersetzung unter Redaction von Theodor Gomperz, 12 Bände, Leipzig 1869–1886 (NPB 383–390: erhalten sind die Bde. 1 u. 9–12). Mill, John Stuart: Die Hörigkeit der Frau. Aus dem Englischen übersetzt von Jenny Hirsch. Zweite Auflage. Nebst einem Vorbericht enthaltend eine kurze Uebersicht über den gegenwärtigen Stand der Frauenfrage von der Uebersetzerin, Berlin 1872 (NPB 390: von N. wohl 1878 erworben, heute in seiner Bibliothek nicht mehr erhalten). Mohr, Wilhelm: Das Gründerthum in der Musik. Ein Epilog zur Bayreuther Grundsteinlegung, Köln 1872 (nicht in NPB). Moltke, Helmuth von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Zweite Auflage, Berlin 1876 (nicht in NPB). Montaigne, Michel de [Auf dem Titelblatt: Michaels Herrn von Montagne]: Versuche, nebst des Verfassers Leben, nach der neuesten Ausgabe des Herrn Peter Coste ins Deutsche übersetzt [von Johann Daniel Tietz], 3 Theile, Leipzig 1753–1754 (NPB 393 f.). Montaigne, Michel de: Essais. Avec les notes de tous les commentateurs. Édition revue sur les textes originaux, Paris 1864 (NPB 393). Müller, Johannes: Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung mit einer physiologischen Urkunde des Aristoteles über den Traum, den Philosophen und Aerzten gewidmet, Coblenz 1826 (nicht in NPB). Müller, Max: Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache. Für das deutsche Publikum bearbeitet von Carl Böttger. [I. Serie], Leipzig 1863 (nicht in NPB, von N. am 17. 11. 1869 der Basler UB entliehen – Crescenzi 1994, 383). Müller, Max: Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache. Für das deutsche Publikum bearbeitet von Carl Böttger. II. Serie von 12 Vorlesungen, Leipzig 1866 (nicht in NPB, von N. am 17. 11. 1869 der Basler UB entliehen – Crescenzi 1994, 383). Müller, Max: Essays, Bd. 1: Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft. Nach der zweiten englischen Ausgabe mit Autorisation des Verfassers ins Deutsche übertragen, Leipzig 1869 (nicht in NPB).
998
Literaturverzeichnis
Müller, F[riedrich] Max: Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft. Vier Vorlesungen im Jahre MDCCCLXX an der Royal Institution in London gehalten, nebst zwei Essays „Über falsche Analogien“ und „Über Philosophie der Mythologie“, Straßburg 1874 (nicht in NPB, von N. am 22. 10. 1875 der Basler UB entliehen – Crescenzi 1994, 435). Nicolai, Friedrich (Hg.): Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen, und von einigen Personen, die um Ihn waren, nebst Berichtigung einiger schon gedruckten Anekdoten. Drittes Heft, Berlin/Stettin 1789 (nicht in NPB). [Nicole, Pierre]: Essais des Morale. Contenus En divers Traités sur plusieurs devoirs importans. Troisième édition, Bd. 3, Paris 1693 (nicht in NPB). Niebuhr, Barthold Georg: Historische und philologische Vorträge, an der Universität Bonn gehalten. Dritte Abtheilung, Berlin 1851 (nicht in NPB). Nietzsche, Carl Ludwig/Schenk, Emil Julius: Briefwechsel, hg. und kommentiert von Martin Pernet, Berlin 2020. Nissen, Heinrich: Das Templum. Antiquarische Untersuchungen, Berlin 1869 (nicht in NPB; von N. am 15. 1. 1870 u. am 20. 10. 1875 der Basler UB entliehen – Crescenzi 1994, 396 u. 435). Nissen, Heinrich: Über Tempel-Orientierung. Erster Artikel. In: Rheinisches Museum für Philologie 28 (1873), S. 513–557 (nicht in NPB). [N. N.]: Von den Indianern Nordamerika’s II, in: Das Ausland, 30. März 1874, Nr. 13, S. 246–251 (nicht in NPB). [N. N.]: Der „Sonnenstich“ im Heere, in: Neue Freie Presse, 18. August 1877, Abendblatt, Nr. 4662, S. 2 (nicht in NPB). [Noack, Ludwig]: Das Buch der Weltweisheit oder die Lehren der bedeutendsten Philosophen aller Zeiten, dargestellt für die Gebildeten des deutschen Volkes, 2 Bde., Leipzig 1851 (nicht in NPB). Noiré, Ludwig: Die Welt als Entwicklung des Geistes: Bausteine zu einer monistischen Weltanschauung, Leipzig 1874 (nicht in NPB). Noiré, Ludwig: Der Ursprung der Sprache, Mainz 1877 (nicht in NPB). Novalis [Georg Philipp Friedrich von Hardenberg]: Schriften, hg. von Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel. Zweiter Theil. Dritte Auflage, Berlin 1815 (keine Novalis-Ausgabe in NPB). Novalis [Georg Philipp Friedrich von Hardenberg]: Schriften. Im Verein mit Richard Samuel hg. von Paul Kluckhohn. Nach den Handschriften ergänzte und neugeordnete Ausgabe, Bd. 3, Leipzig [1928]. Oncken, Wilhelm: Die Staatslehre des Aristoteles in historisch-politischen Umrissen. Ein Beitrag zur Geschichte der hellenischen Staatsidee und zur Einführung in die aristotelische Politik, 2 Hälften, Leipzig 1870 u. 1875 (NPB 427). Ortlepp, Ernst: Lord Byron’s Vermischte Schriften, Briefwechsel und Lebensgeschichte nach Lytton Bulwer, Thomas Moore, Medwin und Dallas, 3 Bde., Stuttgart o. J. (NPB 165 f.). Overbeck, Franz: Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Streit- und Friedensschrift, Leipzig 1873 (NPB 429). Overbeck, Franz: Studien zur Geschichte der alten Kirche, Schloss-Chemnitz 1875 (nicht in NPB). Overbeck, Franz: Aus dem Briefwechsel des Augustin mit Hieronymus, in: Historische Zeitschrift 42 / NF 6 (1879), S. 222–259 (NPB 428 f.). Overbeck, Franz: Werke und Nachlass, Bd. 1: Schriften bis 1873. In Zusammenarbeit mit Marianne Stauffacher-Schaub hg. von Ekkehard W. Stegemann und Niklaus Peter, Stuttgart/Weimar 1994 (a). Overbeck, Franz: Werke und Nachlass, Bd. 2: Schriften bis 1880. In Zusammenarbeit mit Marianne Stauffacher-Schaub hg. von Ekkehard W. Stegemann und Rudolf Brändle, Stuttgart/Weimar 1994 (b).
Literaturverzeichnis
999
Overbeck, Franz: Werke und Nachlass, Bde. 4 und 5: Kirchenlexicon. Artikel A–I bzw. J–Z. In Zusammenarbeit mit Marianne Stauffacher-Schaub hg. von Barbara von Reibnitz, Stuttgart/ Weimar 1995. Overbeck, Franz: Werke und Nachlass, Bd. 7/2: Autobiographisches. „Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde“, hg. von Barbara von Reibnitz und Marianne Stauffacher-Schaub, Stuttgart 1999. Overbeck, Franz: Werke und Nachlass, Bd. 8: Briefe. Unter Mitarbeit von Andreas Urs Sommer ausgewählt, hg. und kommentiert von Niklaus Peter und Frank Bestebreurtje, Stuttgart/ Weimar 2008. Overbeck, Franz/Köselitz, Heinrich [Peter Gast]: Briefwechsel, hg. und kommentiert von David Marc Hoffmann, Niklaus Peter und Theo Salfinger, Berlin/New York 1998. Overbeck, Franz/Rohde, Erwin: Briefwechsel, hg. und kommentiert von Andreas Patzer. Mit einer Einführung von Uvo Hölscher, Berlin/New York 1990. Pascal, Blaise: Gedanken, Fragmente und Briefe. Aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten Abschnitten vermehrten Ausgabe P. Faugère’s. Deutsch von C. F. Schwartz, 2 Theile. Zweite Auflage, Leipzig 1865 (NPB 430 f.). Passow, Franz: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Vierte durchgängig verbesserte und vielfach vermehrte Auflage, Bd. 2, Leipzig 1831 (diese Auflage nicht in NPB). Passow, Franz: Handwörterbuch der griechischen Sprache, begründet von Franz Passow, neu bearbeitet und zeitgemäss umgestaltet von Val. Chr. Fr. Rost, Friedr. Palm und Otto Kreussler. Des ursprünglichen Werkes fünfte Auflage, 2 Bände in vier Abtheilungen, Leipzig 1841–1857 (NPB 431 f.). Peipers, David: Untersuchungen über das System Plato’s. Erster Theil: Die Erkenntnisstheorie Plato’s mit besonderer Rücksicht auf den Theätet untersucht, Leipzig 1874 (nicht in NPB). Petri, Friedrich Erdmann (Hg.): Handbuch der Fremdwörter in der deutschen Schrift- und Umgangsprache zum Verstehen und Vermeiden jener, mehr oder weniger entbehrlichen Einmischungen mit einem eingefügten Namendeuter und Verzeichniss fremder Wortkürzungen, nebst den Zeichen der Scheidekunst und der Sternenkunde. Elfte Auflage, von neuem durchgearbeitet und tausendfältig bereichert von Wilhelm Hoffmann, Leipzig 1861 (NPB 437). Pettigrew, J[ames] Bell: Die Ortsbewegung der Thiere. Nebst Bemerkungen über Luftschifffahrt, Leipzig 1875 (NPB 437 f.). Pfeiffer, Eduard: Vergleichende Zusammenstellung der Europäischen Staatsausgaben. Zweite wesentlich vermehrte Auflage, Stuttgart 1877 (nicht in NPB). Phillips, George: Englische Reichs- und Rechtsgeschichte seit der Ankunft der Normannen im Jahre 1066 nach Christi Geburt, 2 Bde., Berlin 1827–1828 (nicht in NPB). Philostratos: Das Leben des Apollonios von Tyana. Griechisch-Deutsch. Hg., übersetzt und erläutert von Vroni Mumprecht, München/Zürich 1983 (andere Ausgabe in NPB 438 f.). Pico della Mirandola, Giovanni: Oratio de hominis dignitate / Rede über die Würde des Menschen. Lateinisch/Deutsch. Auf der Textgrundlage der Editio princeps hg. und übersetzt von Gerd von der Gönna, Stuttgart 2001 (keine Ausgabe in NPB). Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart. Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Vierte, umgearbeitete und stark vermehrte Auflage, 19 Bde., Altenburg 1857–1865 (nicht in NPB). Pierers Universal-Conversations-Lexikon. Neuestes encyklopädisches Wörterbuch aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Sechste, vollständig umgearbeitete Auflage, 18 Bde., Oberhausen/Leipzig 1875–1879 (nicht in NPB).
1000
Literaturverzeichnis
Platon: Sämmtliche Werke. Übersetzt von Hieronymus Müller, mit Einleitungen begleitet von Karl Steinhart, Bd. 2, Leipzig 1851 (nicht in NPB). Platon: Dialogi Secundum Thrasylli tetralogias dispositi. Ex recognitione Caroli Friderici Hermanni, Bd. 4, Leipzig 1852 (NPB 441 f.). Platon: Werke. Übersetzt von L[udwig] Georgii u. a., 40 Bde. in V Gruppen, Stuttgart 1853–1874 [z. T. verschiedene Auflagen] (NPB 442–459). Platon: Sämmtliche Werke. Übersetzt von Hieronymus Müller, mit Einleitungen begleitet von Karl Steinhart, Bd. 7/1, Leipzig 1859 (nicht in NPB). Platon: Kratylos, in: Dialoge, Bd. 1, hg. von Karl Friedrich Hermann, Leipzig 1861, S. 157–236 (NPB 440–441). Platon: Verteidigungsrede des Sokrates und Kriton. Für den Schulgebrauch. Erklärt von Christian Cron. Sechste Auflage, Leipzig 1875 (NPB 460). Ploss, Hermann Heinrich: Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. Anthropologische Studien, 2 Bde., Stuttgart 1876 (nicht in NPB). Plutarch: Vita Solonis. Recognovit et commentariis suis illustravit Antonius Westermann, Braunschweig/London 1840 (diese Ausgabe nicht in NPB). Poe, Edgar Allan: Ausgewählte Werke. Aus dem Englischen von Wm. E. Drugulin, 3 Bde., Leipzig 1853–1854 (NPB 482). Poesche, Theodor: Die Arier. Ein Beitrag zur historischen Anthropologie, Jena 1878 (NPB 482). Porges, Heinrich: Die Aufführung von Beethoven’s Neunter Symphonie unter Richard Wagner in Bayreuth (22. Mai 1872), Leipzig 1872 (NPB 483). Post, Albert Hermann: Die Geschlechtsgenossenschaft der Urzeit und die Entstehung der Ehe. Ein Beitrag zu einer allgemeinen vergleichenden Staats- und Rechtswissenschaft, Oldenburg 1875 (nicht in NPB). Prantl, K[arl]: Uebersicht der griechisch-römischen Philosophie, Stuttgart 1854 (NPB 484). Preller, Ludwig: Griechische Mythologie, 2 Bde., Leipzig 1854 (nicht in NPB, von N. mehrfach oder anhaltend aus der UB Basel entliehen, vgl. Crescenzi 1994, 393, 402, 423 u. 433 f.). Proctor, Richard Anthony: Unser Standpunkt im Weltall. Autorisierte deutsche Ausgabe von Richard A. Proctor’s „Our Place Among Infinities“. Hg. und mit Anmerkungen versehen von Wilhelm Schur, Heilbronn 1877 (NPB 485). Prokop: Gotenkriege. Griechisch – deutsch, hg. von Otto Veh, München 1978 (keine ProkopAusgabe in NPB). Raabe, Wilhelm: Ferne Stimmen. Erzählungen, Berlin 1865 (nicht in NPB). Radestock, Paul: Schlaf und Traum. Eine physiologisch-psychologische Untersuchung, Leipzig 1879 (nicht in NPB). [Rée, Paul:] Psychologische Beobachtungen. Aus dem Nachlass von ***, Berlin 1875 (NPB 491, heute verloren). Rée, Paul: Der Ursprung der moralischen Empfindungen, Chemnitz 1877 (NPB 491). Rée, Paul: Gesammelte Werke 1875–1885. Hg., eingeleitet und erläutert von Hubert Treiber, Berlin/ New York 2004. Reich, Eduard: System der Hygieine, 2 Bde., Leipzig 1870–1871 (NPB 491 f.: gekauft 1878, heute nicht mehr vorhanden). Rémusat, Charles de: Abélard. Drame inédit. Publié avec une préface et des notes par Paul de Rémusat son fils, Paris 1877 (nicht in NPB). Renan, Ernest: Das Leben Jesu. Für das Volk neu bearbeitet, übersetzt von J. D. Zweite Auflage, Berlin 1864 (nicht in NPB). Reuter, Hermann: Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter vom Ende des achten Jahrhunderts bis zum Anfange des vierzehnten, 2 Bde., Berlin 1875 u. 1877 (NPB 496: nur Bd. 1).
Literaturverzeichnis
1001
[Reuter, Richard:] Nationalliberale Partei, nationalliberale Presse und höheres Gentlemantum. Von einem Nichtreichsfeinde. Vierte Auflage, Berlin 1876 (NPB 496: Zweite Auflage 1876, wohl seitenidentisch mit der vierten, heute in N.s Bibliothek nicht mehr vorhanden?). Ritter, Heinrich: Geschichte der Philosophie. Dritter Theil = Geschichte der Philosophie alter Zeit. Dritter Theil. Zweite verbesserte Auflage, Hamburg 1837 (NPB 499: N. verkaufte „Ritter (Manuskript) Geschichte der alten Philosophie 1855“ am 16. 06. 1875 an C. Detloff’s Buchhandlung, Basel). [Rohde, Erwin]: Afterphilologie. Zur Beleuchtung des von dem Dr. phil. Ulrich von WilamowitzMöllendorff herausgegebenen Pamphlets: „Zukunftsphilologie!“. Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner, Leipzig 1872 (NPB 501 u. 503). Rohde, Erwin: Die Quellen des Jamblichus in seiner Biographie des Pythagoras, 2 Tle., Frankfurt am Main 1871 [Sonderdruck aus: Rheinisches Museum für Philologie, Neue Folge, Bd. 26, S. 554– 576 u, Bd. 27, S. 23–61] (NPB 503 f.). Rohde, Erwin: Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig 1876 (NPB 504). Rohde, Erwin: Der Tod des Aischylos, in: Jahrbücher für Classische Philologie 26 (1880), S. 22–24 (nicht in NPB). Roller, Franz Anton: Systematisches Lehrbuch der bildenden Tanzkunst und körperlichen Ausbildung von der Geburt an bis zum vollendeten Wachsthume des Menschen, ausgearbeitet für das gebildete Publikum, zur Belehrung bei der körperlichen Erziehung und als Unterricht für Diejenigen, welche sich zu ausübenden Künstlern und zu nützlichen Lehrern dieser Kunst bilden wollen, und herausgegeben bei Gelegenheit des dreihundertjährigen Jubiläums der Königl. Preuss. Landesschule Pforta, Weimar 1843 (nicht in NPB). Romundt, Heinrich: Die menschliche Erkenntnis und das Wesen der Dinge, Basel 1872 (NPB 506). Roscoe, Henry Enfield: Chemie. Deutsche Ausgabe besorgt von J. Rose. Zweite, verbesserte durch einen Anhang von Fragen und Aufgaben vermehrte Auflage, Straßburg 1878 (NPB 506 f.). Rosenkranz, Karl: Neue Studien, Bd. 2: Studien zur Literaturgeschichte, Leipzig 1875 (nicht in NPB). Roßbach, Johann Joseph: Vom Geiste der Geschichte = Geschichte der Gesellschaft, VIII. Theil, Würburg 1875 (nicht in NPB). Rößler, Constantin: Das deutsche Reich und die kirchliche Frage, Leipzig 1876 (nicht in NPB). Rotteck, Karl von/Hermann von: Geschichte der neuesten Zeit, enthaltend die Jahre 1815–1840. Nach Karl von Rotteck’s hinterlassenen Vorarbeiten und Materialien verfaßt und hg. von seinem Sohne Hermann von Rotteck. Zweiter Theil = Rotteck, Karl von: Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten. Elfter Band. Zweiter Theil, Pforzheim 1843 (nicht in NPB). Rousseau, Jean-Jacques: Julie ou la Nouvelle Héloïse. Lettres de deux amants, Paris 1875 (keine Ausgabe in NPB). [Ruffini, Giovanni:] Lorenzo Benoni, Scenen aus dem Leben eines Italieners. Hg. von einem Freunde. Aus dem Englischen, 4 Bde., Wurzen 1854 (NPB 511 f.). Sainte-Beuve, Charles-Augustin: Les Cahiers de Sainte-Beuve suivis de quelques pages de littérature antique, Paris 1876 (NPB 514). Sainte-Beuve, [Charles-Augustin]: Menschen des XVIII. Jahrhunderts nach den Causeries du Lundi, [übersetzt von Ida Overbeck], Chemnitz 1880 (NPB 514, heute verloren, vgl. NPB 736). Sainte-Beuve, Charles-Augustin: Menschen des XVIII. Jahrhunderts. Übersetzt von Ida Overbeck, initiiert von Friedrich Nietzsche. Mit frisch entdeckten Aufzeichnungen von Ida Overbeck neu ediert von Andreas Urs Sommer, Berlin 2014. Saint-Ogan, Lefebvre: Essai sur l’influence française. Deuxième édition, Paris 1885 (NPB 345). Saphir, M[oritz] G[ottlieb]: Ernster und heiterer Conversations-Saal, Bd. 1. Dritte Auflage = Ausgewählte Schriften, Bd. 7, Brünn 1867 (nicht in NPB).
1002
Literaturverzeichnis
Schäffle, Albert: Bau und Leben des socialen Körpers. Encyclopädischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft mit besonderer Rücksicht auf die Volkswirthschaft als socialen Stoffwechsel. Zweiter Theil: Das Gesez [sic] der socialen Entwickelung, Tübingen 1878 (nicht in NPB). Scheel, H[ans] v[on]: Eigenthum und Erbrecht, Berlin 1877 (nicht in NPB). Scheffel, Joseph Victor: Ekkehard. Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert. Sechste vom Verfasser durchgesehene Auflage, Stuttgart 1874 (nicht in NPB). Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Sämmtlich Werke 1811–1815 = Sämmtliche Werke. Erste Abteilung, Bd. 8, Stuttgart/Augsburg 1861 (nicht in NPB). Schenkel, Daniel: Christenthum und Kirche im Einklange mit der Culturentwicklung. Zwanzig Betrachtungen. Erste Abtheilung: Religion und Bibel, Wiesbaden 1867 (nicht in NPB). Schenkel, Daniel: Friedrich Schleiermacher. Eine akademische Rede, am 21. November 1868 gehalten, Heidelberg 1868 (nicht in NPB). Schiller, Friedrich: Sämmtliche Werke in zehn Bänden, Stuttgart/Tübingen 1844 (NPB 527–529, von N. 1875 erworben). Schiller, Friedrich von/Goethe, Johann Wolfgang von: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Dritte Ausgabe, 2 Bde., Stuttgart 1870 (NPB 529 f.). Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Zweiter Teil (1802–1803): Geschichte der klassischen Litteratur, Heilbronn 1884 (nicht in NPB). Schleicher, Berta (Hg.): Briefe von und an Malwida von Meysenbug, Berlin 1920. [Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst]: Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, Lübeck/ Leipzig 1800 (keine Schleiermacher-Ausgabe in NPB). Schleiermacher, Friedrich [Daniel Ernst]: Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Fünfte unveränderte Auflage, 2 Bde., Berlin 1861 (keine Schleiermacher-Ausgabe in NPB). [Schmeitzner, Ernst:] Soeben erschienen! Ein neues Werk von Friedrich Nietzsche, in: Bayreuther Blätter 1, Nr. 4 (April 1878), loses Blatt. [Schmeitzner, Ernst:] Ein neues Werk von Friedr. Nietzsche, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die mit ihm verwandten Geschäftszweige 89, 16. 04. 1878, S. 11 (https:// digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/291678/11#). Schmid, Rudolf: Die Darwin’schen Theorien und ihre Stellung zur Philosophie, Religion und Moral, Stuttgart 1876 (nicht in NPB). Schmidt, Eduard: Umrisse der Geschichte zur Philosophie, Berlin 1839 (nicht in NPB). Schmidt, Julian: Geschichte der Deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert. Zweite, durchaus umgearbeitete, um einen Band vermehrte Auflage, Bd. 2: Das Zeitalter der Restauration, Leipzig/London/Paris 1855 (diese Ausgabe nicht in NPB). Schmidt, Julian: Bilder aus dem Geistigen Leben unserer Zeit, Leipzig 1870 (nicht in NPB). Schmidt, Oscar: Descendenzlehre und Darwinismus, Leipzig 1873 (NPB 532). Schoedler, Friedrich: Das Buch der Natur, die Lehren der Physik, Astronomie, Chemie, Mineralogie, Geologie, Botanik, Zoologie und Physiologie umfassend. Zwanzigste verbesserte Auflage. In zwei Theilen. Mit über 1000 in den Text eingedruckten Holzstichen, Sternkarten, Mondkarte, Spectraltafel und einer geognostischen Tafel in Farbendruck, Braunschweig 1875 (NPB 534 f.). Schoemann, G[eorg] F[riedrich]: Griechische Alterthümer. Zweiter Band: Die internationalen Verhältnisse und das Religionswesen, Berlin 1859 (diese Auflage nicht in NPB). Schoemann, G[eorg] F[riedrich]: Griechische Alterthümer. Erster Band: Das Staatwesen. Zweite Auflage. Zweiter Band: Die internationalen Verhältnisse und das Religionswesen. Zweite Auflage, Berlin 1861 u. 1863 (NPB 535 f.).
Literaturverzeichnis
1003
Schoemann, G[eorg] F[riedrich]: Die Hesiodische Theogonie ausgelegt und beurtheilt, Berlin 1868 (NPB 535). Schopenhauer, Arthur: Von ihm. Ueber ihn. Ein Wort der Vertheidigung von Ernst Otto Lindner und Memorabilien, Briefe und Nachlassstücke von Julius Frauenstädt, Berlin 1863 (nicht in NPB). Schopenhauer, Arthur: Aus Arthur Schopenhauer’s handschriftlichem Nachlaß. Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen und Fragmente, hg. von Julius Frauenstädt, Leipzig 1864 (NPB 543). Schopenhauer, Arthur: Sämmtliche Werke, hg. von Julius Frauenstädt, 6 Bde., Leipzig 1873–1874 (NPB 538–543, von N. 1875 erworben). Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Aerztliche Zimmergymnastik oder System der ohne Geräth und Beistand überall ausführbaren heilgymnastischen Freiübungen als Mittel der Gesundheit und Lebenstüchtigkeit für beide Geschlechter, jedes Alter und alle Gebrauchszwecke entworfen. 15. Auflage, Leipzig 1877 (NPB 543 f.). Schröer, Karl Julius: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren bedeutenderen Erscheinungen. Populäre Vorlesungen, Leipzig 1875 (NPB 544: von N. 1875 gekauft, fehlt heute in NPB). Schulze, Gottlob Ernst: Kritik der theoretischen Philosophie, 2 Bde., Hamburg 1801 (nicht in NPB). Schwegler, F[riedrich] C[arl] A[lbert]: Der Montanismus und die christliche Kirche des zweiten Jahrhunderts, Tübingen 1841 (nicht in NPB). Scott, Walter: Biographische Werke. Aus dem Englischen. Leben des Napoleon Buonaparte, Kaisers der Franzosen: Nebst einem einleitenden Ueberblick der französischen Revolution. Aus dem Englischen übersetzt von Georg Nicolaus Bärmann. Achter Theil, Zwickau 1827 (NPB 546: von N. am 10. 02. 1876 erworben, heute nicht mehr erhalten). Scott, Walter: Anna von Geierstein, oder: Die Tochter des Nebels. Ein Roman. Neu übersetzt von Ernst Elsenhans = ders.: Sämmtliche Werke, neu übersetzt. Dritte Auflage, Bd. 18, Stuttgart 1862 (NPB 546: eine Scott-Werkausgabe am 16. 02. 1876 von N. erworben, heute nicht mehr erhalten). Secchi, Angelo: Die Einheit der Naturkräfte. Ein Beitrag zur Naturphilosophie. Autorisirte Übersetzung von L. Rud. Schulze, Bd. 1, Leipzig 1876 (NPB 719: Laut Bescheinigung vom 5. Juli 1875 [sic!] von N. an C. Detloff’s Buchhandlung, Basel zurückgegeben). Shak[e]speare, [William]: Dramatische Werke übersetzt von August Wilhelm von Schlegel und Ludwig Tieck. Neue Ausgabe in neun Bänden, Berlin 1853–1855 (NPB 555–557). Siebeck, H[ermann]: Das Traumleben der Seele. Vortrag gehalten im Museum zu Basel, Berlin 1877 (nicht in NPB). Sigismund, Berthold: Kind und Welt. Vätern, Müttern und Kinderfreunden gewidmet. I. Die fünf ersten Perioden des Kindesalters, Braunschweig 1856 (nicht in NPB). Simplikios: Commentar zu Epiktetos Handbuch. Aus dem Griechischen in das Deutsche übertragen von K[arl Maria] Enk [von der Burg], Wien 1867 (NPB 558 f.). Simplikios: In Aristotelis physicorum libros quattuor posteriores commentaria. Consilio et auctoritate academniae litterarum regiae borussicae, edidit Hermannus Diels, Berlin 1895 (keine Ausgabe in NPB). Smiles, Samuel: Character, London 1871 (nicht in NPB). Smith, Edward: Die Nahrungsmittel. 2 Bde., Leipzig 1874 (NPB 559 f.). Die Sociale Frage im Lichte des Christenthums. Wochenblatt für das deutsche Volk, Jg. 3, Nr. 3, 19. Januar 1878, S. 19 (nicht in NPB). Sophokles: Werke. Griechisch mit metrischer Uebersetzung und prüfenden und erklärenden Anmerkungen von J. A. Hartung. Drittes Bändchen: Rasender Aias, Leipzig 1851 (andere Bände dieser Ausgabe in NPB, Aias fehlt).
1004
Literaturverzeichnis
[Souverain, Matthieu:] Versuch über den Platonismus der Kirchenväter. Oder Untersuchung über den Einfluß der platonischen Philosophie auf die Dreyeinigkeitslehre in den ersten Jahrhunderten, o. O. 1782 (nicht in NPB). Spanisches Theater, hg. von Moriz Rapp, Hermann Kurz, Ludwig Braunfels, Bd. 7: Die letzten Blüthen der altspanischen Bühne aus dem siebzehnten Jahrhundert. Uebersetzt von Moriz Rapp, Leipzig/Wien o. J. [1870] (nicht in NPB). Spencer, Herbert: Einleitung in das Studium der Sociologie. Nach der zweiten Auflage des Originals herausgegeben von Heinrich Marquardsen. Autorisirte Ausgabe, 2 Theile, Leipzig 1875 (NPB 566). Spiegel, Fr[iedrich]: Erânische Alterthumskunde, Bd. 2: Religion. Geschichte bis zum Tode Alexanders des Großen, Leipzig 1873 (nicht in NPB). Spiller, Philipp: Die Urkraft des Weltalls nach ihrem Wesen und Wirken auf allen Naturgebieten. Für Gebildete jeden Standes. Mit im Text angebrachten Holzschnitten, Berlin 1876 (NPB 567). S[pinoza], B[aruch] d[e]: Opera posthuma, [Amsterdam] 1677 (nicht in NPB). Spinoza, Baruch de: Sämmtliche Werke. Aus dem Lateinischen mit dem Leben Spinoza’s von Berthold Auerbach, Bd. 4, Stuttgart 1841 (nicht in NPB). Spir, Afrikan: Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie. Zweite, umgearbeitete Auflage, 2 Bde., Leipzig 1877 (NPB 567 u. 570). Stahr, Adolf: Ein Jahr in Italien, [Bd.] 2, Oldenburg 1848 (nicht in NPB). Stahr, Adolf: Herbstmonate in Oberitalien. Supplement zu des Verfassers „Ein Jahr in Italien“, Oldenburg 1860 (NPB 571: von N. gekauft am 17. Juni 1878, heute verloren). Stahr, Adolf: G. E. Lessing. Sein Leben und seine Werke. Vermehrte und besserte Ausgabe. Sechste Auflage. Zweiter Theil, Berlin 1869 (nicht in NPB). Steffensen, Karl: Gesammelte Aufsätze. Mit einem Vorwort von Rudolf Eucken, Basel 1890 (kein Titel von Steffensen in NPB). Stein, Heinrich von: Sieben Bücher zur Geschichte des Platonismus. Untersuchungen über das System des Platon und sein Verhältniss zur späteren Theologie und Philosophie, 3 Theile, Göttingen 1862, 1864 u. 1875 (nicht in NPB; von N. 1871 u. 1872 der Basler UB entliehen – Crescenzi 1994, 412 u. 416). Steinthal, H[eymann]: Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, mit besonderer Rücksicht auf die Logik, Berlin 1863 (von N. 1869 der Basler UB entliehen – Crescenzi 1994, 391). Stendhal [Henri Beyle]: Racine et Shakspeare. Études sur le romantisme. Nouvelle édition entièrement revue et considérablement augmentée, Paris 1854 (a) (NPB 576). Stendhal [Henri Beyle]: Rome, Naples et Florence. Seule édition complète entièrement revue et considérablement augmentée, Paris 1854 (b) (NPB 574). Stendhal [Henri Beyle]: Armance. Précédé d’une notice biographique par R. Colomb, Paris 1877 (a) (NPB 574 f.) Stendhal [Henri Beyle]: Mémoires d’un touriste. Nouvelle Édition revue et augmentée d’une grande partie entièrement inédite, Paris 1877 (b) (NPB 573 f.). Stern, Adolf: Katechismus der Allgemeinen Literaturgeschichte. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1876 (nicht in NPB). Stewart, Balfour: Die Erhaltung der Energie, das Grundgesetz der heutigen Naturlehre gemeinfasslich dargestellt, Leipzig 1875 (NPB 576). Stöber, Adolf: Drei Männer auf dem Dampfboot, in: Lyrische Blätter, Ulm 1847, S. 184–185 (nicht in NPB). Stolz, Alban: Das Vaterunser und die zehn Gebote ausgelegt, Frankfurt am Main 1851 (nicht in NPB).
Literaturverzeichnis
1005
Strauß, David Friedrich: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß, Leipzig 1872 (NPB 580). Struve, Gustav: Weltgeschichte in neun Büchern. Siebente bis auf die neueste Zeit fortgeführte Stereotypausgabe. Drittes Buch: Alte Geschichte. Von 146 vor bis 476 nach Christus, Coburg 1865 (nicht in NPB). Swift, Jonathan, Humoristische Werke. Aus dem Englischen übersetzt und mit der Geschichte seines Lebens und Wirkens bereichert von Franz Kottenkamp, Bd. 2: Das Märchen als Tonne – Aphorismen – Gedichte – Biographie, Stuttgart 1844 (NPB 583: von N. am 10. 02. 1876 gekauft, heute verloren). Swift, Jonathan: Das Swift-Büchlein, oder Auswahl aus Dr. Jonathan Swift’s Dechanten von S. Patricius und seiner nächsten Freunde Aeußerungen von 1691 bis 1740 in chronologischbiologischer Folge gesammelt und deutsch herausgegeben von Gottlob Regis, Berlin 1847 (NPB 582). Tacitus, [Publius Cornelius]. Uebersetzt von Carl Friedrich Bahrdt, 2 Theyle = Sammlung der klassischen Römischen und Griechischen Geschichtschreiber, Bd. 1 und 2, Halle 1781 (NPB 586). Taine, Hippolyte: Geschichte der englischen Literatur. Autorisirte deutsche Ausgabe, Bd. 1: Die Anfänge und die Renaissance-Zeit der englischen Literatur. Bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Leopold Katscher, Leipzig 1878, Bd. 2: Das klassische Zeitalter der englischen Literatur. Bearbeitet von Gustav Gerth, Leipzig 1878, Bd. 3: Die Neuzeit der englischen Literatur. Bearbeitet von Gustav Gerth, Leipzig 1880 (NPB 587 f.). Terentianus Maurus: De litteris, syllabis, pedibus et metris e recensione et cum notis Laurentii Santenii. Opus Santenii morte interruptum absolvit David Jacobus van Lennep, Utrecht/ London 1825 (nicht in NPB; von N. am 19. 11. 1870 der UB Basel entliehen – Crescenzi 1994, 404). Theologia deutsch: Die leret gar manchen lieblichen underscheit gotlicher warheit und seit gar hohe und gar schone ding von einem volkomen leben. Nach der einzigen bis jetzt bekannten Handschrift herausgegeben von Franz Pfeiffer. Zweite verbesserte und mit einer neudeutschen Übersetzung vermehrte Auflage, Stuttgart 1855 (nicht in NPB). Thorvaldsens Museum. Handkatalog für die Besuchenden, Kopenhagen 1875 (nicht in NPB). Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Übersetzt von Adolf Wahrmund. Zweites Buch, Stuttgart 1861 (NPB 595). Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Übersetzt von Adolf Wahrmund. Fünftes Buch, Stuttgart 1864 (NPB 597). Treitschke, Heinrich von: Politik. Vorlesungen, gehalten an der Universität zu Berlin, hg. von Max Cornicelius. Zweite, durchgesehene Auflage, Bd. 1, Leipzig 1899 (von Treitschke 1863/64 erstmals gehalten, nicht in NPB). Tschudi, Iwan: Der Tourist in der Schweiz und dem angrenzenden Süd-Deutschland, Ober-Italien und Savoyen. Reisetaschenbuch. Mit einer Karte der Schweiz, 54 Eisenbahnkärtchen, vielen Gebirgsprofilen und Stadtplänen. 12., genau revidirte, compendiöse Auflage des „Schweizerführers“, St. Gallen 1874 (NPB 599: von N. am 21. Juni 1875 erworben, heute verloren). Twain, Mark: Jim Smileys berühmter Springfrosch und dergleichen wunderliche Käuze mehr. Im Silberland Nevada, ins Deutsche übertragen von Moritz Busch = Amerikanische Humoristen, Bd. 2, Leipzig 1874 (NPB 626). Twain, Mark: Die Arglosen auf Reisen, übersetzt von Moritz Busch = Amerikanische Humoristen, Bd. 4, Leipzig 1875 (a) (NPB 626: von N. am 21. 12. 1875 erworben, heute nicht mehr erhalten).
1006
Literaturverzeichnis
Twain, Mark: Die neue Pilgefahrt, ins Deutsche übertragen von Moritz Busch = Amerikanische Humoristen, Bd. 5, Leipzig 1875 (b) (NPB 626: von N. am 21. 12. 1875 erworben, heute nicht mehr erhalten). Twain, Mark/Warner, Charles Dudley: Das vergoldete Zeitalter. Roman, ins Deutsche übertragen von Moritz Busch, 2 Bde. = Amerikanische Humoristen, Bd. 6 u. 7, Leipzig 1876 (NPB 626 f.). Tylor, Edward B[urnett]: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Unter Mitwirkung des Verfassers ins Deutsche übertragen von J. W. Spengel und Fr. Poske, 2 Bde., Leipzig 1873 (nicht in NPB; von N. am 29. 06. 1875 der UB Basel entliehen – Crescenzi 1994, 432). Tyndall, John: Das Wasser in seinen Formen als Wolken und Flüsse, Eis und Gletscher. Mit 26 Abbildungen im Holzschnitt. Autorisirte Ausgabe, Leipzig 1873 (NPB 627). Ueberweg, Friedrich: Grundriß der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart. Erster Theil: Das Alterthum. Dritte, berichtigte und ergänzte Auflage, Berlin 1867 (NPN 627 f.). Ueberweg, Friedrich: Grundriß der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart. Zweiter Theil: Die patristische und scholastische Zeit. Dritte, berichtigte und ergänzte Auflage, Berlin 1866 (a) (NPB 628). Ueberweg, Friedrich: Grundriß der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart. Dritter Theil: Die Neuzeit, Berlin 1866 (b) (NPB 628). Ullmann, C[arl]: Über die Sündlosigkeit Jesu. Eine apologetische Betrachtung. Siebte umgearbeitete Auflage, Gotha 1863 (nicht in NPB erhalten, aber gemäß N.s Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 24./25. 10. 1864, KGB I 2, Nr. 449, S. 15, Z. 64 f. vorhanden gewesen). Ulrici, Hermann: Gott und der Mensch. Leib und Seele. Grundzüge einer Psychologie des Menschen. Erster, physiologischer Theil. 2. Auflage. Leipzig 1874 (nicht in NPB). Ulrici, Hermann: Gott und der Mensch. Leib und Seele. Grundzüge einer Psychologie des Menschen. Zweiter, psychologischer Theil. 2. Auflage. Leipzig 1874 (nicht in NPB). Vauvenargues, Luc de Clapiers de: Œuvres choisies, Paris 1870 (NPB 630). Vilmar, A[ugust] F[riedrich] C[hristian]: Vorlesungen über die Geschichte der deutschen NationalLiteratur, Marburg/Leipzig 1845 (nicht in NPB). Virchow, Rudolf: Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat. Rede gehalten in der dritten allgemeinen Sitzung der fünfzigsten Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu München am 22. September 1877, Berlin 1877 (nicht in NPB). Virgilius Maro, Publius: [Werke]. Deutsch in der Versweise der Urschrift von Wilhelm Binder. Dritter Band: Aeneis. VII–XII. Zweite durchaus umgearbeitete und verbesserte Auflage, Stuttgart 1862 (keine Vergil-Ausgabe in NPB). Vischer, Wilhelm: Kleine Schriften, Bd. 1: Historische Schriften, hg. von Heinrich Gelzer, Leipzig 1877 (nicht in NPB). Vogel, Emil Ferdinand: Interpres, Interpretation, interpretiren, in: Ersch, J[ohann] S[amuel]/Gruber, J[ohann] G[ottfried] (Hg.): Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge. Zweite Section, hg. von A. G. Hoffmann, 19. Theil, Leipzig 1841, S. 365– 406 (nicht in NPB). Vogt, Carl: Ueber Vulkane, Basel 1875 (NPB 632 f.). Vogt, Johannes Gustav: Die Kraft. Eine real-monistische Weltanschauung. Erstes Buch. Die Contraktionsenergie, die letztursächlich einheitliche mechanische Wirkungsform des Weltsubstrates, Leipzig 1878 (NPB 633). Vogt, Karl: Altes und Neues aus Thier- und Menschenleben, 2 Bde., Frankfurt am Main 1859 (nicht in NPB). Volkmann, Richard: Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht, Berlin 1872 (nicht in NPB; von N. 1872 der UB Basel entliehen – Crescenzi 1994, 419).
Literaturverzeichnis
1007
Voltaire: Lettres choisies. Avec le Traité de la connaissance des beautés et des défauts de la poésie et De l’éloquence dans la langue française, précédées d’une notice et accompagnées de notes explicatives sur les faits et sur les personnages du temps par Louis Moland, Paris 1876 (NPB 633). Wackernagel, Jacob: Ueber den Ursprung des Brahmanismus. Vortrag, gehalten zu Basel am 17. November 1876, Basel 1877 (NPB 636). Wackernagel, Wilhelm: Kleinere Schriften: Erster Band: Abhandlungen zur deutschen Alterthumskunde und Kunstgeschichte, Leipzig 1872 (NPB 636). Wackernagel, Wilhelm: Kleinere Schriften. Zweiter Band: Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte, Leipzig 1873 (NPB 637). Wagner, Cosima: Die Tagebücher. Ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack. Durchgesehene und im Anhang revidierte Neuausgabe, München/Zürich 1988 (nicht in NPB). Wagner, Richard: Beethoven, Leipzig 1870 (NPB 642, heute verloren). Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen, 9 Bde., Leipzig 1871–1873 (NPB 638–642). Wagner, Richard: Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel, Mainz 1877 (NPB 642). Wagner, Richard: Publikum und Popularität, in: Bayreuther Blätter 1 (1878), Stück 8, S. 213–222 (NPB 667: Der entsprechende Band der Bayreuther Blätter von N. am 30. 09. 1878 erworben; heute nicht mehr vorhanden). Wagner, Richard: Wollen wir hoffen?, in: Bayreuther Blätter 2 (1879), Stück 5, S. 121–135 (dieser Band nicht in NPB). Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen, 10 Bde., Leipzig 1907. Wagner, Richard: Mein Leben, 2 Bde., München 1911 (der von N. bei der Drucklegung überwachte Privatdruck nicht in NPB). Wahrmund, Adolf: Die Geschichtsschreibung der Griechen, Stuttgart 1859 (NPB 643). Wander, Karl Friedrich Wilhelm: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, 5 Bde., Leipzig 1867–1880 (nicht in NPB). [Weber, Carl Julius]: Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. Von dem Verfasser der „Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen“. Achte, sorgfältig erläuterte Original-Stereotyp-Ausgabe, 12 Bde., Stuttgart 1868 (NPB 645–648). Weber, Georg: Die Geschichte der deutschen Literatur nach ihrer organischen Entwickelung, in einem leicht überschaulichen Grundriß bearbeitet. Zweite bis auf die Gegenwart fortgeführte Ausgabe, Leipzig 1850 (nicht in NPB). Weber, Georg: Lehrbuch der Weltgeschichte mit besonderer Rücksicht auf Cultur, Literatur- und Religionswesen, Bd. 2. Siebenzehnte Auflage, durchgängig revidirt und bis zum Jahr 1875 fortgeführt, Leipzig 1876 (nicht in NPB). Weygoldt, G[eorg] P[eter]: Kritik des philosophischen Pessimismus der neuesten Zeit. Eine von der Haager Gesellschaft zur Vertheidigung der christlichen Religion gekrönte Preisschrift, Leiden 1875 (nicht in NPB). Wiel, Josef: Diätetisches Koch-Buch mit besonderer Rücksicht auf den Tisch für Magenkranke, Freiburg im Breisgau 1873 (NPB 654). Wiel, Josef: Tisch für Magenkranke, Karlsbad 1875 (NPB 654). Wirth, Max: Die sociale Frage, Berlin 1872 (nicht in NPB). Wiener, Christian: Die Grundzüge der Weltordnung. Zweites und drittes Buch. Die geistige Welt. Das Wesen und der Ursprung der Dinge. Zweite Ausgabe, Leipzig/Heidelberg 1869 (nicht in NPB). Wurm, Paul: Geschichte der indischen Religion im Umriss dargestellt, Basel 1874 (nicht in NPB).
1008
Literaturverzeichnis
Wuttke, Heinrich: Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung. Ein Beitrag zur Geschichte des Zeitungswesens, Hamburg 1866 (2. Auflage einst in NPB). Wuttke, Heinrich: Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung. Ein Beitrag zur Geschichte des Zeitungswesens. Zweite bis auf die Gegenwart fortgeführte Auflage, Leipzig 1875 (NPB 657: von N. 1875 gekauft, heute verloren). Xenophon: Werke. Zehnter Band: Hiero, oder Von der Zwingherrschaft, und Lobschrift auf Agesilaus. Auf’s neue übersetzt und durch Anmerkungen erläutert von Christian Heinrich Dörner, Stuttgart 1869 (NPB 658). Zeller, Eduard: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Bd. 1: Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philosophie, 3. Auflage, Leipzig 1869 (NPB 661). Zeller, Eduard: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt. Zweiter Theil, Erste Abtheilung: Sokrates und die Sokratiker, Plato und die Alte Akademie. Dritte Auflage, Leipzig 1875 (nicht in NPB). Zincgref, Julius Wilhelm: Teutscher Nation Klug-außgesprochene Weißheit / Das ist Deren auß Teutschen Landen erwehlten und erbornen Päpst / Bischoff / Keyser / König / Chur und Fürsten / Grafen und Herrn Edlen, Gelehrten und jedes Stands wolbenahmter Personen Lehrreiche Sprüch / geschwinde außschläg / artige Hoffreden denckwürdige Schertz/Fragen antworten / gleichnussen / und was dem allem gleichförmig von Griechen Apophthegmata genant ist / Sampt einem […] weiser Spruchreden der uhralten Teutschen und deren zugewandten Völcker / Teuthonen / Cimbern / Scythen / Gothen / Wandelen oder Wenden u. Auß allerhand Schrifften zusammen getragen, Straßburg 1626 (NPB 662 f.: Das gestochene Titelblatt mit der Orts- und Jahresangabe fehlt). Zöllner, Johann Carl Friedrich: Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Zweite unveränderte Auflage, Leipzig 1872 (NPB 663).
Benutzte Nietzsche-Ausgaben und -Übersetzungen (außer KGW/KSA und den weiteren im Siglenverzeichnis genannten Ausgaben, in chronologischer Reihenfolge) Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Dem Andenken Voltaire’s geweiht zur Gedächtniss-Feier seines Todestages, des 30. Mai 1778, Chemnitz 1878 (N.s Handexemplar [= KGW/KSA: He1]: NPB 418 u. 420, Signatur HAAB: C 4402, https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1252332904/3/. N.s Korrekturbogen: Signatur HAAB: C 4601, https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1648750028/2/). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche, Chemnitz 1879. Nietzsche, Friedrich: Der Wanderer und sein Schatten, Chemnitz 1880. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, Chemnitz 1882. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede, Leipzig 1886 (a) (N.s erstes Handexemplar dieser Ausgabe [= KGW/KSA: He2]: NPB 420 f., Signatur HAAB: C 4412[1], https://haab-digital.klassikstiftung.de/viewer/image/1255106514/3/LOG_0003/. N.s (?) zweites Handexemplar dieser Ausgabe: NPB 420, Signatur HAAB: C 4413). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band. Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede. [Vorrede. Erste Abtheilung: Vermischte Meinungen und Sprüche], Leipzig 1886 (b) (N.s Handexemplar: NPB 421, Signatur HAAB: C 4412[2]).
Literaturverzeichnis
1009
Nietzsche, Friedrich: [Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band. Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede.] Zweite Abtheilung: Der Wanderer und sein Schatten, [Leipzig 1886] (c) (N.s Handexemplar: NPB 421, Signatur HAAB: C 4412[3]). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. Mit einem Brieffacsimile des Autors und einem Vorwort des Herausgebers. Zweite Auflage [z. T. mit Vortitel: Nietzsche’s Werke. Dritter Band], Leipzig 1894. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister = N.’s Werke. Erste Abtheilung, Bd. 2, Leipzig 1895. Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Erste Fassung = GoA 15, Leipzig 1901 (= WzM1). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches I. Aus dem Nachlaß 1874–1877. 15.–24. Tausend = Nietzsche’s Werke. Taschen-Ausgabe, Bd. III, Leipzig 1906 (Handexemplar von Karl Jaspers, Karl-Jaspers-Bibliothek, Oldenburg, Signatur KJ 3875). Nietzsche, Friedrich: Human, All Too Human. A Book for Free Spirits, translated by Alexander Harvey, Chicago 1908. Nietzsche, Friedrich: Human, All-Too-Human. A Book for Free Spirits, translated by Helen Zimmern, Edinburgh/London 1909. Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Zweite Fassung = GoA, Bde. 15 und 16, Leipzig 1911 (= WzM2). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister = N.’s Werke. Erste Abtheilung, Bd. 2, Leipzig 1917. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band = Nietzsche’s Werke. Erste Abtheilung, Bd. II, Leipzig 1923 (Handexemplar von Karl Jaspers, Karl-Jaspers-Bibliothek, Oldenburg, Signatur KJ 3907). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches = Friedrich Nietzsches Werke in sieben Teilen, hg. mit Lebensbild, Einleitungen und Anmerkungen versehen von Walther Linden, Dritter Teil, Berlin/Leipzig o. J. [1931] (Anmerkungen zu MA im Vierten Teil, Berlin/Leipzig o. J. [1931], S. 245 f.). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches I. Ein Buch für freie Geister, Leipzig 1939. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. Ungekürzte Ausgabe, bearbeitet von Leo Winter, München 1960. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Mit einem Nachwort von Alfred Baeumler, Stuttgart 1964. Nietzsche, Friedrich: Werke in fünf Bänden, hg. von Karl Schlechta, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1972. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Nachwort, Zeittafel, Anmerkungen und bibliographische Hinweisen von Peter Pütz, 2. Auflage, München 1982. Nietzsche, Friedrich: Human, All Too Human: A Book for Free Spirits, translated by Marion Faber and Stephen Lehmann, Lincoln 1984. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, hg. sowie mit einem Nachwort, einer Zeittafel und Kommentaren versehen von Jost Perfahl = Nietzsche, Friedrich: Das Hauptwerk, Bd. 1, München 1990. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Nietzsche, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen hg. von Peter Pütz, 4. Auflage, München 1994. Nietzsche, Friedrich: Human, All Too Human. Translated, with an Afterword, by Gary Handwerk (= The Complete Works of Friedrich Nietzsche. First organized in English by Ernst Behler, Bd. 3), Stanford 1995.
1010
Literaturverzeichnis
Nietzsche, Friedrich: Human, All Too Human. Translated by R. J. Hollingdale. With an Introduction by Richard Schacht, Cambridge 1996. Nietzsche, Friedrich: Humain, trop humain. Un livre pour esprits libres I. Fragments posthumes (1876–1878). Textes et variantes établis par Giorgio Colli et Mazzino Montinari, traduit de l’allemand par Robert Rovini = Œuvres philosophiques complètes, Bd. 3/1, Paris 1998. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden und 1 Indexband, hg. von Karl Schlechta, München 1999. Nietzsche, Friedrich: Menschliches. Aphorismen, hg. von Kai Sina, Stuttgart 2013. Nietzsche, Friedrich: Human, All-Too-Human. Parts 1 and 2. Beyond Good and Evil. Translated by Helen Zimmern and Paul V. Cohn. With an Introduction by Ray Furness, Ware, Hertfordshire 2014. Nietzsche, Friedrich: Œuvres. Édition publiée sous la direction de Marc de Launay, avec la collaboration de Dorian Astor, Bd. 2: Humain, trop humain. Aurore. Le Gai Savoir. Traduits par Robert Rovini, Julien Hervier et Pierre Klossowski. Chronologie par Pierre Rusch (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 2019. Nietzsche, Friedrich: The Case of Wagner / Twilight of the Idols / The Antichrist / Ecce Homo / Dionysos Dithyrambs / Nietzsche Contra Wagner. With an Afterword by Andreas Urs Sommer (= The Complete Works of Friedrich Nietzsche, hg. von Alan D. Schrift, Duncan Large and Adrian Del Caro, Bd. 9). Translated by Adrian Del Caro, Carol Diethe, Duncan Large, George H. Leiner, Paul S. Loeb, Alan D. Schrift, David F. Tinsley, and Mirko Wittwar. Stanford, CA, 2021 (a). Nietzsche, Friedrich: Histoire de la littérature grecque. Traduction par Marc de Launay du texte établi d’après les manuscrits par Carlotta Santini. Présentation et notes par Carlotta Santini, Péronnas 2021 (b). Nietzsche, Friedrich: Epistolario 1885–1889. Versione di Vivetta Vivarelli. Notizie e note di Giuliano Campioni e Maria Cristina Fornari. Prima edizione digitale, Milano 2023. Nietzsche, Friedrich: La joute d’Homère et Hésiode. Établissement des textes, traductions de l’allemand, du grec et du latin, présentations et notes par Anne Merker, Paris 2024.
Forschungsliteratur, Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, Hilfsmittel und allgemeine Literatur Abbey, Ruth: Odd Bedfellows. Nietzsche and Mill on Marriage, in: History of European Ideas 23 (1997), S. 81–104. Abbey, Ruth: Nietzsche’s Middle Period, Oxford 2000. Abbey, Ruth: Human, All Too Human. A Book for Free Spirits, in: Bishop, Paul (Hg.): A Companion to Friedrich Nietzsche. Life and Works, Rochester NY 2012, S. 114–134. Abbey, Ruth: Skilled Marksman and Strict Self-Examination. Nietzsche on La Rochefoucauld, in: Bamford, Rebecca (Hg.): Nietzsche’s Free Spirit Philosophy, London/New York 2015, S. 13–32. Abel, Günter: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. 2, um ein Vorwort erweiterte Auflage, Berlin/New York 1998. Acampora, Christa Davis/Acampora, Ralph R. (Hg.): A Nietzschean Bestiary. Becoming Animal Beyond Docile and Brutal, Lanham/Boulder/New York/Toronto/Oxford 2004. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Berlin/Frankfurt am Main 1951. Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, Bd. 1, hg. von Rudolf zur Lippe, Frankfurt am Main 1973.
Literaturverzeichnis
1011
Aichele, Alexander: Philosophie als Spiel. Platon – Kant – Nietzsche, Berlin 2000. Ajouri, Philip/Rahden, Wolfert von/Sommer, Andreas Urs: Zum Thema, in: Das Dorf = Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft IX/2, Sommer 2015, S. 4. Alberts, Benjamin: Nietzsches Problem der Rangordnung, Berlin/Boston 2022. Alfano, Mark: A Schooling in Contempt. Emotions and the Pathos of Distance, in: Katsafanas, Paul (Hg.): The Nietzschean Mind, London/New York 2018, S. 121–139. Allison, David B.: Resolution and Autocritique in the Late Prefaces, in: Hicks, Steven V./Rosenberg, Alan (Hg.): Reading Nietzsche at the Margins, West Lafayette 2008, S. 13–33. Almeida, Rogério Miranda de: Nietzsche et le paradoxe, Strasbourg 1999. Almeida, Rogério Miranda de: Nietzsche e a questão da sublimação, in: Revista de Filosofia Aurora (Curitiba) 20 (2008), Nr. 27, S. 261–278 (online unter: http://www2.pucpr.br/reol/pb/index.php/ rf?dd1=2421&dd99=view&dd98=pb). A. [= Altherr, Alfred]: Menschliches, Allzumenschliches [Besprechung von MA I], in: Basler Protestantenblatt, hg. von A. Altherr und Emman. Linder, Jg. 2, Nr. 15, 12. April 1879, S. 121–124 u. Nr. 16, 19. April 1879, S. 128–132. Anderson, R. Lanier: On the Nobility of Nietzsche’s Priests, in: May, Simon (Hg.): Nietzsche’s On the Genealogy of Morality. A Critical Guide, Cambridge 2011, S. 24–55. Andler, Charles: Nietzsche, sa vie et sa pensée, Bd. 4: Nietzsche et le transformisme intellectualiste. La philosophie de sa période française, Paris 1922. Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in: Vossische Zeitung, Nr. 17, 11. Januar 1891, Sonntagsbeilage 2, S. 7–10, und Nr. 41, 25. Januar 1891, Sonntagsbeilage 4, S. 7–10. Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894. Angehrn, Emil: Hermeneutik und Kritik. In: Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt am Main, S. 319–338. Anschütz, Hans-Peter: Cicero in Nietzsches Bibliothek, in: ders./Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/ Boston 2021, S. 157–177. Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021. Ansell-Pearson, Keith J.: Nietzsche’s Overcoming of Kant and Metaphysics. From Tragedy to Nihilism, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 310–339. Ansell-Pearson, Keith (Hg): Nietzsche and Modern German Thought, London/New York 1991 (a). Ansell-Pearson, Keith: Nietzsche Contra Rousseau. A Study of Nietzsche’s Moral and Political Thought, Cambridge 1991 (b). Ansell-Pearson, Keith: Nietzsche’s Brave New World of Force. On Nietzsche’s „Time Atom Theory“ Fragment and the Matter of Boscovich’s Influence on Nietzsche, in: The Journal of Nietzsche Studies 20 (2000), S. 5–33. Ansell-Pearson, Keith (Hg.): A Companion to Nietzsche, Oxford 2006. Ansell-Pearson, Keith: True to the Earth: Nietzsche’s Epicurean Care of Self and World, in: Hutter, Horst/Friedland, Eli (Hg.): Nietzsche’s Therapeutic Teaching. For Individuals and Culture, London/New Dehli/New York/Sidney 2013, S. 97–116. Ansell-Pearson, Keith: Heroic-Idyllic. Nietzsche on Philosophy and the Philosopher in Human, All Too Human, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 219–241. Ansell-Pearson, Keith: Nietzsche on Enlightenment and Fanaticism. On the Middle Writings, in: Katsafanas, Paul (Hg.): The Nietzschean Mind, London/New York 2018, S. 11–24 (a). Ansell-Pearson, Keith: Nietzsche’s Search for Philosophy. On the Middle Writings, London/New York 2018 (b).
1012
Literaturverzeichnis
Ansell-Pearson, Keith: An Epicurean Nietzsche?, in: New Nietzsche Studies. The Journal of the Nietzsche Society 11 (2019/2020), S. 77–87. Ansell-Pearson, Keith/Serini, Lorenzo: Friedrich Nietzsche: Cheerful Thinker and Writer. A Contribution to the Debate on Nietzsche’s Cheerfulness, in: Nietzsche-Studien 51 (2022), S. 1–33. Apollonio, Simona: Die Geburt des Philologen aus dem Geiste der Schopenhauerschen Philosophie. Nietzsches Antrittsvorlesung Über die Persönlichkeit Homers, in: Nietzsche-Studien 51 (2022), S. 154–178. Arburg, Hans-Georg von: „Freier Faltenwurf des Gemüths“. Zu einem Stilideal in der Architekturästhetik Gottfried Sempers und Friedrich Nietzsches, in: Schneider, Sabine/ Brüggemann, Heinz (Hg.): Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne, München 2011, S. 105–124. Arenas-Dolz, Francisco: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweis aus Claude Adrien Helvétius, Discurs über den Geist des Menschen (1760), in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 493 (a). Arenas-Dolz, Francisco: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweis aus John William Draper, Geschichte der Conflicte zwischen Religion und Wissenschaft (1875), in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 543 (b). Arenas-Dolz, Francisco: Nietzsche und Don Quixote, in: Häfner, Ralph/Kaufmann, Sebastian/ Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Literaturen, Berlin/Boston 2019, S. 189–216. Argy, Anne-Gaëlle: Ascétisme et formation de soi dans Humain, trop humain, in: Denat, Céline/ Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 265–281. Aschheim, Steven E.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Aus dem Englischen von Klaus Laermann, Stuttgart/Weimar 2000. Astor, Dorian (Hg.): Dictionnaire Nietzsche, Paris 2017. Aurenque, Diana: Die medizinische Moralkritik Friedrich Nietzsches. Genese, Bedeutung und Wirkung, Wiesbaden 2018. Babich, Babette E.: The Metaphor of Woman as Truth in Nietzsche. The Dogmatist’s Reverse Logic or Rückschluß, in: Journal of Nietzsche Studies 12 (1996), S. 27–39. Babich, Babette: Nietzsches Antike. Beiträge zur Altphilologie und Musik, Baden-Baden 2020. Babich, Babette: Nietzsches Plastik. Ästhetische Phänomenologie im Spiegel des Lebens. Vorträge und Aufsätze, Oxford/Bern/Berlin/Bruxelles/New York/Wien 2021. Baeumler, Alfred: Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931. Barbarić, Damir: Wiederholungen. Philosophiegeschichtliche Studien, Tübingen 2015. Barbera, Sandro: Ein Sinn und unzählige Hieroglyphen. Einige Motive von Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer in der Basler Zeit, in: Borsche, Tilman/Gerratana, Federico/Venturelli, Aldo (Hg.): „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, S. 217–233. Barbera, Sandro: Eine Quelle der frühen Schopenhauer-Kritik Nietzsches: Rudolf Hayms Aufsatz ‘Arthur Schopenhauer’, in: Nietzsche-Studien 24 (1995), S. 124–136. Barbera, Sandro: Goethe versus Wagner. Le changement de fonction de l’art dans Choses humaines, trop humaines, in: D’Iorio, Paolo/Ponton, Olivier (Hg.): Nietzsche. Philosophie de l’esprit libre. Études sur la genèse de Choses humaines, trop humaines, Paris 2004, S. 37–60. Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970. Barros, Roberto de Almeida Pereira de: Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche. Von Menschliches, Allzumenschliches bis zu Also sprach Zarathustra, Berlin 2007.
Literaturverzeichnis
1013
Barros, Roberto de Almeida Pereira de: Humano, demasiado humano e a prefiguração da gaia ciência, in: Estudos Nietzsche 9 (2017), No. 2, S. 8–19. Bauer, Clara: „Eheweib“ und „Frauenfreundschaft“. Weib und Frau im Siebten Hauptstück von Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 28 (2021), S. 207–217. Bayertz, Kurt/Gerhard, Myriam/Jaeschke, Walter (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit, Hamburg 2007. Beetz, Verena: Wie werden die Subjekte ‚Frau‘ und ‚Weib‘ verwendet? Eine qualitative Inhaltsanalyse der Akteurinnen im siebten Hauptstück von Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I. Hausarbeit im Interpretationskurs Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Sommersemester 2020. Behler, Diana I.: Nietzsche and Lessing. Kindred Thought, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 157–181. Behler, Ernst: Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche, in: Borsche, Tilman/Gerratana, Federico/ Venturelli, Aldo (Hg.): „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, S. 99–111. Beiser, Frederick C.: Weltschmerz. Pessimism in German Philosophy, 1860–1900, Oxford 2016. Béland, Martine: Nietzsche avant Brandes: Une étude de réception germanophone (1872–1889), in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 551–572. Béland, Martine: Kulturkritik et philosophie thérapeutique chez le jeune Nietzsche, Montreal 2012. Béland, Martine: Les préfaces de Nietzsche. Invitation à la philosophie comme expérience, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 139 (2014), Nr. 4, S. 495–512. Béland, Martine (Hg.): Lectures nietzschéennes. Sources et réceptions, Montréal 2015. Benne, Christian: Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin/New York 2005. Benne, Christian/Santini, Carlotta: Nietzsche und die Philologie, in: Heit, Helmut/Heller, Lisa (Hg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin/Boston 2014, S. 173–200. Benoit, Blaise: Nietzsche: da crítica da lógica do direito penal ao problema da concepção de um novo direito penal?, in: Dissertatio. Revista de filosofia 19 (2013), Nr. 38, S. 11–36, auch unter http://www2.ufpel.edu.br/isp/dissertatio/revistas/38/1.pdf. Benoit, Blaise: Humain, trop humain et l’origine de la justice, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 51– 78. Bernauer, Jochen: Unser Nietzsche. Ein beiträglein zur demontage seines ruhmes anläßlich seines 120. geburtstages von einem enttäuschten ja angewiderten leser der aphorismen ‚menschliches − allzumenschliches‘ erster band, der kritisierte wie der kritisierende autor standen beim verfassen ihrer redseligkeit im alter von zweiunddreißig jahren, Darmstadt [1963] (Typoskript in: Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, Signatur 283586 – B). Bernoulli, Carl Albrecht: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft. Nach ungedruckten Quellen und im Zusammenhang mit der bisherigen Forschung dargestellt, 2 Bde., Jena 1908. Berry, Jessica N.: Nietzsche and the Ancient Skeptical Tradition, Oxford 2011. Berti, Maria Christina: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweise aus Léon Dumont, Vergnügen und Schmerz. Zur Lehre von den Gefühlen (1876), in: Nietzsche-Studien 26 (1997), S. 580–581. Berti, Cristina/D’Iorio, Paolo/Fornari, Maria Cristina/Simonetta, Marcello: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweise aus Léon Dumont, Friedrich Anton von Hellwald, Hermann Helmholtz, Otto Liebmann, John Stuart Mill, Charles-Augustin de Sainte-Beuve, Arthur Schopenhauer und Stendhal, in: Nietzsche-Studien 22 (1993), S. 395–402.
1014
Literaturverzeichnis
Bertino, Andrea Christian: Sprache und Instinkt bei Herder und Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 70–99. Bertino, Andrea Christian: „Vernatürlichung“. Ursprünge von Friedrich Nietzsches Entidealisierung des Menschen, seiner Sprache und seiner Geschichte bei Johann Gottfried Herder, Berlin/ Boston 2011. Bertino, Andrea: Lichtmetaphorik und Schatten Gottes in Nietzsches neuer Aufklärung, in: Archiv für Begriffsgeschichte 57 (2015), S. 197–216. Bertino, Andrea/Stegmaier, Werner: Nietzsches Anthropologiekritik, in: Rölli, Marc (Hg.): Fines Hominis? Zur Geschichte der philosophischen Anthropologiekritik, Bielefeld 2015, S. 65–80. Bertot, Clément/De Corte, P./Leclercq, Jean/Wotling, Patrick (Hg.): Nietzsche et l’Europe, Löwen 2023. Beßlich, Barbara: Nero und Napoleon in Nietzsches Nachlass. Herrscherbilder und Handlungsporträts von Schauspielern, Verbrechern und Spätzeittyrannen, in: Beßlich, Barbara/ D’Iorio, Paolo/Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Nachlass. Probleme und Perspektiven der Edition und Kommentierung, Berlin/Boston 2023, S. 133–148. Beßlich, Barbara/D’Iorio, Paolo/Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs: Nietzsches Nachlass. Edition und Kommentar, in: Beßlich, Barbara/D’Iorio, Paolo/Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Nachlass. Probleme und Perspektiven der Edition und Kommentierung, Berlin/Boston 2023, S. 1–30. Beßlich, Barbara/D’Iorio, Paolo/Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Nachlass. Probleme und Perspektiven der Edition und Kommentierung, Berlin/ Boston 2023. Betschart, Alfred/Sommer, Andreas Urs/Stephan, Paul (Hg.): Nietzsche und der französische Existenzialismus, Berlin/Boston 2022. Bianchi, Sarah: Einander nötig sein. Existentielle Anerkennung bei Nietzsche, Paderborn 2016. Bianchi, Sarah: „Maschinen-Cultur“ und Anerkennung. Zu Nietzsches Verständnis von sozialer Individualität, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 25 (2018), S. 435– 446. Bianchi, Sarah: Mikropolitiken und Aufklärung. Sozialontologische Perspektiven nach Nietzsche und Foucault, in: Ruehl, Martin A./Schubert, Corinna (Hg.): Nietzsches Perspektiven des Politischen, Berlin/Boston 2022, S. 73–87. Bickenbach, Matthias: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens. Tübingen 1999. Bidmon, Agnes: Denkmodelle der Hoffnung in Philosophie und Literatur. Eine typologische Annäherung, Berlin/Boston 2016. Biebuyck, Benjamin/Hemelsoet, Koenraad/Praet, Danny: „Jene durchaus verschleierte apollinische Mysterienordnung“. Zur Funktion und Bedeutung der antiken Mysterien in Nietzsches frühen Schriften, in: Nietzsche-Studien 35 (2006), S. 1–28. Bierl, Josephina: Das archaisch-griechische Modell für Nietzsches Verständnis von ‚Rasse‘ und ‚Barbarei‘, in: Kaufmann, Sebastian/Winkler, Markus (Hg.): Nietzsche, das ‚Barbarische‘ und die ‚Rasse‘, Berlin/Boston 2022, S. 53–67. Bilate, Danilo: Le cas Napoléon, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), S. 121–140. Birnbacher, Dieter/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche, Würzburg 2013. Bishop, Paul (Hg.): Nietzsche and Antiquity. His Reaction and Response to the Classical Tradition, Rochester NY 2004.
Literaturverzeichnis
1015
Bishop, Paul: Transforming Ourselves from a Moral into a Wise Humankind. Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen, in: Brock, Eike/Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020, S. 45–64. Bitsch, Annette: Physiologische Ästhetik. Nietzsches Konzeption des Körpers als Medium, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 15 (2008), S. 167–188. Blackburn, Simon: Truth. A Guide for the Perplexed, London 2005. Blue, Daniel: The Making of Friedrich Nietzsche. The Quest for Identity, 1844–1869, Cambridge 2018. Bluhm, Heinz: Nietzsche’s Idea of Luther in Menschliches, Allzumenschliches, in: Publications of the Modern Language Association of America 65 (1950), Nr. 6, S. 1053–1068. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1979. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. 3. Auflage, Frankfurt am Main 1993. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. 6. Auflage, Frankfurt am Main 2001. Böhler, Arno: Philosophy AS [sic] Artistic Research. Artist Philosophers, in: Assis, Paulo de/D’Errico, Lucia (Hg.): Artistic Research: Charting a Field in Expansion, London/New York 2019, S. 236– 247. Bohrer, Karl Heinz: Nietzsches Aufklärung als Theorie der Ironie, in: Sinn und Form 46 (1994), Heft 5, S. 713–730. Bollinger, Andrea/Trenkle, Franziska: Nietzsche in Basel. Mit einem Geleitwort von Curt Paul Janz, Basel 2000. Borchmeyer, Dieter: Nietzsche, das Klassische und die Moderne, in: Valk, Thorsten (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne, Berlin/New York 2009, S. 21–39. Bormuth, Matthias: Ambivalenz der Freiheit. Suizidales Denken im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008. Bormuth, Matthias: Genie und Wahnsinn. Nietzsche im Lichte der Psychiatrie, in: ders.: Krankheit und Erkenntnis. Von Hölderlin bis Weber. Karl Jaspers als Pathograph, Stuttgart-Bad Canstatt 2021, S. 47–63. Born, Marcus Andreas: Vorbemerkungen zur Lektüre von Aphorismen, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 19 (2012), S. 297–306. Bornedal, Peter: The Surface and the Abyss. Nietzsche as Philosopher of Mind and Knowledge, Berlin/New York 2010. Borsche, Tilman: System und Aphorismus, in: Djurić, Mihailo (Hg.): Nietzsche und Hegel, Würzburg 1992, S. 48–64. Borsche, Tilman: Natur-Sprache. Herder – Humboldt – Nietzsche, in: Borsche, Tilman/Gerratana, Federico/Venturelli, Aldo (Hg.): „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, S. 112–131. Borsche, Tilman: Wozu Wissenschaft? Überlegungen zu Fragen der Rangordnung im Wissenschaftsdiskurs nach Nietzsche, in: Heit, Helmut/Abel, Günter/Brusotti, Marco (Hg.): Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, Berlin/New York 2012, S. 465–480. Bortlik, Wolfgang: Allzumenschliches. Friedrich Nietzsche ermittelt, Meßkirch 2020. Braatz, Kurt: Friedrich Nietzsche. Eine Studie zur Theorie der Öffentlichen Meinung, Berlin/New York 1988. Brandes, Georg: Aristokratischer Radicalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche, in: Deutsche Rundschau 16 (1890), Heft 7, S. 52–89, auch abgedruckt in Reich 2013, 901–942.
1016
Literaturverzeichnis
Brandes, Georg: Forelæsninger om Friedrich Nietzsche (1888). Vorlesungen über Friedrich Nietzsche (1888). Aristokratisk Radikalisme (1889). Aristokratischer Radicalismus (1890). Dansktysk paralleludgave. Dänisch-deutsche Parallelausgabe. Efter forelæsningsmanuskriptet og førstetrykkene udgivet og kommenteret for Det Danske Sprog- og Litteraturselskab af Per Dahl og Gert Posselt Im Auftrag der Gesellschaft für Dänische Sprache und Literatur nach dem Vorlesungsmanuskript und den Erstdrucken herausgegeben und kommentiert von Per Dahl und Gert Posselt, Basel 2021. Brandt, Hartwin. Am Ende des Lebens. Alter, Tod und Suizid in der Antike, München 2010. Brandt, Reinhard: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Hamburg 1999. Breidbach, Olaf: Lesen, in: Konersmann, Ralf (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. 3., erweiterte Auflage, Darmstadt 2011, S. 199–211. Bremer, Dieter: Platonisches, Antiplatonisches. Aspekte der Platon-Rezeption in Nietzsches Versuch einer Wiederherstellung des frühgriechischen Daseinsverständnisses, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 39–103. Brobjer, Thomas H.: Nietzsche’s Ethics of Character. A Study of Nietzsche’s Ethics and its Place in the History of Moral Thinking, Uppsala 1995. Brobjer, Thomas H.: Nietzsche’s Education at the Naumburg Domgymnasium 1855–1858, in: Nietzsche-Studien 28 (1999), S. 302–322. Brobjer, Thomas H.: A Discussion and Source of Hölderlin’s Influence on Nietzsche. Nietzsche’s Use of William Neumann’s Hölderlin, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), S. 397–412. Brobjer, Thomas H.: Nietzsche’s Knowledge of Marx and Marxism, in: Nietzsche-Studien 31 (2002), S. 298–313. Brobjer, Thomas H.: Nietzsche’s Reading and Knowledge of Natural Science. An Overview, in: Moore, Gregory/Brobjer, Thomas H. (Hg.): Nietzsche and Science, Aldershot/Burlington, VT 2004, S. 21–50. Brobjer, Thomas H.: Nietzsches Reading about China and Japan, in: Nietzsche-Studien 34 (2005), S. 329–336 (a). Brobjer, Thomas H.: Nietzsche’s Relation to the Greek Sophists, in: Nietzsche-Studien 34 (2005), S. 256–277 (b). Brobjer, Thomas H.: Nietzsche and the „English“. The Influence of British and American Thinking on His Philosophy. Foreword by Kathleen Marie Higgins, Amherst NY 2008 (a). Brobjer, Thomas H.: Nietzsche’s Philosophical Context. An Intellectual Biography, Urbana/Chicago 2008 (b). Brobjer, Thomas H.: Nietzsche, Voltaire and French Philosophy, in: Pornschlegel, Clemens/Stingelin, Martin (Hg.): Nietzsche und Frankreich, Berlin/New York 2009, S. 13–31. Brobjer, Thomas H.: Nietzsche and Economics, in: Heit, Helmut/Heller, Lisa (Hg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin/Boston 2014, S. 307–321. Brobjer, Thomas H.: Sources of Nietzsche’s Knowledge and Critique of Anarchism, in: NietzscheStudien 50 (2021), S. 300–310. Brock, Eike/Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020. Brock, Eike/Gödde, Günter/Zirfas, Jörg (Hg.): Das Leuchten der Morgenröthe. Friedrich Nietzsche und die Kunst zu leben, Berlin 2022. Broese, Konstantin: Nietzsche und die antike Aufklärung. Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit Demokrit in seiner Leipziger Studienzeit vor dem Hintergrund seiner Lange-Rezeption, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 11 (2004), S. 231–240.
Literaturverzeichnis
1017
Brohm, Holger: ‚Die verklärte Welt des Auges‘. Der Traum als Medium des Selbst, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 15 (2008), S. 157–165. Brose, Karl: Sklavenmoral. Nietzsches Sozialphilosophie, Bonn 1990. Brose, Karl: Nietzsche: Geschichtsphilosoph, Politiker und Soziologe, Essen 1994. Brücker, Tobias: Auf dem Weg zur Philosophie. Friedrich Nietzsche schreibt „Der Wanderer und sein Schatten“, München 2019, DOI: https://doi.org/10.30965/9783846764053 Brücker, Tobias: Privatbibliotheken, Lesespuren und die Autorvorstellungen ihrer Interpreten, in: Bulletin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 27/3 (2021): Edieren. Geisteswissenschaften im digitalen Wandel, S. 72–75, DOI: https://doi.org/10.5281/ zenodo.5567329. Brüggen, Ernst von der: Polens Auflösung. Kulturgeschichtliche Skizzen aus den letzten Jahrzehnten der polnischen Selbständigkeit, Leipzig 1878 (nicht in NPB). Brusotti, Marco: Opfer und Macht. Zu Nietzsches Lektüre von Jacob Wackernagels Über den Ursprung des Brahmanismus, in: Nietzsche-Studien 22 (1993), S. 222–242. Brusotti, Marco: Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997. Brusotti, Marco: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweise zu Quellen der Morgenröthe und nachgelassenen Aufzeichnungen aus der Zeit der Morgenröthe, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), S. 422–434. Brusotti, Marco: Wittgensteins Nietzsche. Mit vergleichenden Betrachtungen zur NietzscheRezeption im Wiener Kreis, in: Nietzsche-Studien 38 (2009), S. 335–362. Brusotti, Marco: „Werde, der du bist!“. Selbsterkenntnis, Handeln und Selbstgestaltung bei Nietzsche in einem Ineditum von Georges Canguilhelm, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), S. 181–216. Brusotti, Marco: Nietzsche, die Vereinigung Europas und die „Verschmelzung der Nationen“, in: Aurnhammer, Achim/Crescenzi, Luca/Venturelli, Aldo/Zanucchi, Mario (Hg.): Europa in der deutschen Literatur der Moderne (1880–1933), Rom 2024, S. 69–92. Buchheim, Thomas: Gorgianische Figuren, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 1025–1030. Buddensieg, Tilmann: Nietzsches Italien. Städte, Gärten und Paläste, Berlin 2002. Burckhardt, Carl J.: Memorabilien. Erinnerungen und Begegnungen, München 1977. Burnett, Henry: Humano, demasiado humano, livro 1. Nice, primavera de 1886, in: Cadernos Nietzsche 8 (2000), S. 55–88. Burnett, Henry: Cinco prefácios para cinco livros escritos. Uma autobiografia filosófica de Nietzsche, Belo Horizonte 2008. Burnett, Henry: O silêncio das musas. A música em Humano, demasiado humano, in: Estudos Nietzsche (Curitiba, Paraná) 1 (2010), Nr. 2, S. 311–326. Cabanas, Edgar/Illouz, Eva: Das Glücksdiktat. Und wie es unser Leben beherrscht. Aus dem Französischen von Michael Adrian, Berlin 2019. Campioni, Giuliano: Von der Auflösung der Gemeinschaft zur Bejahung des ‚Freigeistes‘, in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 83–112. Campioni, Giuliano: Beiträge zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 401–407. Campioni, Giuliano: Les lectures françaises de Nietzsche. Traduit de l’italien par Christel LavigneMouilleron, Paris 2001 (a). Campioni, Giuliano: Nietzsche, Descartes und der französische Geist, in: Reschke, Renate (Hg.): Zeitenwende – Wertewende. Internationaler Kongreß der Nietzsche-Gesellschaft zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches vom 24.–27. August 2000 in Naumburg, Berlin 2001, S. 49– 64 (b).
1018
Literaturverzeichnis
Campioni, Giuliano (Hg.): „Der Karren unserer Arbeit …“. Sechzehn Briefe von Mazzino Montinari an Delio Cantimori. Aus dem Italienischen von Leonie Schröder, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), S. 48–79. Campioni, Giuliano: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweis aus Hermann Kopp, Geschichte der Chemie (1844), in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 272–273 (a). Campioni, Giuliano: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweis aus Samuel Smiles, Character (1871), in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 296 (b). Campioni, Giuliano: Der französische Nietzsche. Aus dem Italienischen von Renate Müller-Buck und Leonie Schröder, Berlin/New York 2009 (a). Campioni, Giuliano: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweise aus Claude Adrien Helvétius, Discurs über den Geist des Menschen (1760), in: Nietzsche-Studien 38 (2009), S. 310–311 (b). Campioni, Giuliano/D’Iorio, Paolo/Fornari, Maria Cristina/Fronterotta, Francesco/Orsucci, Andrea (Hg.), unter Mitarbeit von Renate Müller-Buck: Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin/New York 2003 (= NPB). Cancik, Hubert: „Philologie als Beruf“. Zu Formengeschichte, Thema und Tradition der unvollendeten vierten Unzeitgemäßen Friedrich Nietzsches, in: Borsche, Tilman/Gerratana, Federico/Venturelli, Aldo (Hg.): „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, S. 81–96. Cancik, Hubert: Nietzsches Antike. Vorlesung. Zweite, durchgesehene Auflage, mit einem Nachwort, Stuttgart/Weimar 2000. Canfora, Luciano: Nietzsches Aristophanes, in: Nietzsche-Studien 47 (2018), S. 314–325. Cantoni, Remo: La figura del ‚Freigeist‘ nella filosofia di Nietzsche, in: Archivio di filosofia 1953, Nr. 2, S. 209–240. Castellari, Marco: Hölderlin und das Theater. Produktion – Rezeption – Transformation, Berlin/ Boston 2018. Caysa, Volker: Ein Versuch, Nietzsches Affektenlehre systematisch zu verstehen, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 15 (2008), S. 191–197. Choque-Aliaga, Osman: Literatur des Autors, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 30 (2023), S. 313–316. Choque-Aliaga, Osman/Prøhl-Hansen, Peter: Nietzsches Denken als Irritationspotential, Kulturphilosophie und Wagnis, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 29 (2022), S. 359–361. Chow, Tszki: Werturteil und Kausalprinzip bei Nietzsche. Die ‚Logik‘ der Grundwertung und Handlungsdeutung im menschlichen Bewusstsein, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 30 (2023), S. 215–227. Claesges, Ulrich: Der maskierte Gedanke. Nietzsches Aphorismenreihe Von den ersten und letzten Dingen. Text und Rekonstruktion, Würzburg 1999. Clancett, Manuel: „‚Die wahre und die scheinbare Welt‘ – dieser Gegensatz wird […] zurückgeführt auf Werthverhältnisse“. Zur dialektischen Wertkritik bei Friedrich Nietzsche, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 30 (2023), S. 229–240. Clark, Maudemarie: Nietzsche on Truth and Philosophy, Cambridge 1990. Clark, Maudemarie: Nietzsche on Ethics and Politics, Oxford/New York 2015. Clark, Maudemarie: Nietzsche on Democracy and Culture, in: Ruehl, Martin A./Schubert, Corinna (Hg.): Nietzsches Perspektiven des Politischen, Berlin/Boston 2022, S. 133–160. Cohen, Jonathan R.: Science, Culture, and Free Spirits. A Study of Nietzsche’s Human, All-Too-Human. Diss. phil., University of Pennsylvania, Philadelphia 1991. Cohen, Jonathan R.: Science, Culture, and Free Spirits. A Study of Nietzsche’s Human, All-Too-Human, Amherst, NY 2010.
Literaturverzeichnis
1019
Cohen, Jonathan R.: Nietzsche’s Fling with Positivism, in: Babich, Babette E. (Hg.) in Kooperation mit Robert S. Cohen: Nietzsche, Epistemology, and Philosophy of Science. Nietzsche and the sciences, Bd. 2, Dordrecht/Boston 1999, S. 101–107. Cohen, Jonathan R.: Nietzsche’s Second Turning, in: Pli 25 (2014), S. 35–54, auch unter https:// philpapers.org/archive/COHNST.pdf. Cohn, Hermann: Zur Geschichte der Brillen, in: Die Gartenlaube 1895, Heft 22, S. 367–368 u. 370– 371. Conill-Sancho, Jesús: Crítica genealógica de la cultura política moderna y sus implicaciones para el futuro de la democracia, a partir de Humano, demasiado humano, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 197–216. Constâncio, João: Struggles for Recognition and Will to Power. Probing an Affinity between Hegel and Nietzsche, in: Hay, Katia/Ribeiro dos Santos, Leonel (Hg.): Nietzsche, German Idealism and Its Critics. International Conference on Nietzsche and German Idealism 2012 Lissabon, Berlin/Boston 2015, S. 66–99. Conway, Daniel W.: Annunciation and Rebirth. The Prefaces of 1886, in: Lippitt, John (Hg.): Nietzsche’s Future, Houndmills/London 1999, S. 30–47. Corbanezi, Eder: Perspectivismo e Relativismo na Filosofia de Nietzsche, São Paulo 2021. Corngold, Stanley: Nietzsche’s Moods, in: Studies in Romanticism 29/1 (1990), S. 67–90. Corti, Walter Robert: Die Mythopoesie des „Werdenden Gottes“, in: Koktanek, Anton Mirko (Hg.): Schelling-Studien, Festgabe für Manfred Schröterm, München/Wien 1965, S. 83–112. Crawford, Claudia: The Beginnings of Nietzsche’s Theory of Language, Berlin/New York 1988. Crescenzi, Luca: Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in entliehenen Bücher (1869–1879), in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 388–442. Crescenzi, Luca/Gentili, Carlo/Venturelli, Aldo: Alla ricerca dei „buoni europei“. Riflessioni su Nietzsche, Bologna 2017. Cristy, Rachel: „Being Just is Always a Positive Attitude“. Justice in Nietzsche’s Virtue Epistemology, in: The Journal of Nietzsche Studies 50/1 (2019), S. 33–57. Cuevas Salazar, Josafat: Arte y ciencia en el ‚periodo ilustrado‘ de Nietzsche in: Casa del tiempo 8:82/83 (1989), S. 97–99. Curtis, Paul C.: Nietzsche’s Will to Power: A Naturalistic Account of Metaethics Based on Evolutionary Principles and Thermodynamic Laws, Diss. phil. Bangor University 2021. Dahlkvist, Tobias: Nietzsche and the Philosophy of Pessimism. A Study of Nietzsche’s Relation to the Pessimistic Tradition: Schopenhauer, Hartmann, Leopardi, Uppsala 2007. Dahlkvist, Tobias: Nietzsche and Medicine, in: Heit, Helmut/Heller, Lisa (Hg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin/Boston 2014, S. 138–154. Daigle, Christine: Nietzsche’s Notion of Embodied Self. Proto-Phenomenology at Work?, in: Nietzsche-Studien 40 (2011), S. 226–243. Daigle, Christine: The Intentional Encounter with „The World“, in: Boublil, Élodie/Daigle, Christine (Hg.): Nietzsche and Phenomenology. Power, Life, and Subjectivity, Bloomington 2013, S. 28– 43. Daigle, Christine: The Subject as Ambiguous Multiplicity. Embodying the Dividuum, in: Benne, Christian/Müller, Enrico (Hg.): Ohnmacht des Subjekts – Macht der Persönlichkeit, Basel 2014, S. 153–166. Daigle, Christine: The Ethical Ideal of the Free Spirit in Human, All Too Human, in: Bamford, Rebecca (Hg.): Nietzsche’s Free Spirit Philosophy, London/New York 2015, S. 33–48. Dalfert, Ingolf U.: Hoffnung, Berlin/Boston 2016.
1020
Literaturverzeichnis
Danto, Arthur C.: Nietzsche as Philosopher. An Original Study, New York 1965. Danto, Arthur C.: Beginning to be Nietzsche: On Human, All Too Human, in: Nietzsche, Friedrich: Human, All Too Human: A Book for Free Spirits, translated by Marion Faber and Stephen Lehmann, Lincoln 1996, S. ix–xix. Danto, Arthur C.: Nietzsche as Philosopher. Expanded Edition, New York 2005. Därmann, Iris: Missverhältnisse. Nietzsche und die Sklaverei, in: Nietzsche-Studien 48 (2019), S. 49– 67. Del Caro, Adrian: Grounding the Nietzsche Rhetoric of Earth, Berlin/New York 2004. Deleuze, Gilles: Nietzsche et la philosophie, Paris 1973. Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Hamburg 1991. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972–1990. Aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt am Main 1993. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Aus dem Französischen von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt am Main 1996. Dellinger, Jakob: „Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen“. Zum Problem des Perspektivischen in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches I, in: Nietzsche-Studien 44 (2015), S. 340–379 (a). Dellinger, Jakob: Situationen der Selbstbezüglichkeit. Studien zur Reflexivität kritischer Denk- und Schreibformen bei Friedrich Nietzsche, Diss. phil. Universität Wien 2015 (b). Dellinger, Jakob: Unter Gespenstern? Überlegungen zum „Nachspiel“ von Menschliches, Allzumenschliches I, in: Benne, Christian/Zittel, Claus (Hg.): Nietzsche und die Lyrik. Ein Kompendium, Stuttgart 2017, S. 101–112. Dellinger, Jakob: Perspektivierungen des ‚Perspektivismus‘ in Werk und Nachlass: Methodenfragen der textnahen Nietzscheforschung, in: Beßlich, Barbara/D’Iorio, Paolo/Grätz, Katharina/ Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Nachlass. Probleme und Perspektiven der Edition und Kommentierung, Berlin/Boston 2023, S. 267–301. Denat, Céline: „Les découvertes les plus précieuses, ce sont les méthodes“. Nietzsche, ou la recherche d’une méthode sans méthodologie, in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 282–308. Denat, Céline: „Mes livres de voyage“. Humain, trop humain ou l’avènement d’une „nouvelle philosophie“, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 7–35. Denat, Céline: Nietzsche, penseur de l’histoire. Du „sens historique“ à l’exigence généalogique, in: Nietzsche. Le projet de la Généalogie de la morale. Textes réunis par Emmanuel Salanskis & Anne Merker = Les cahiers philosophiques de Strasbourg 51 (2022), S. 85–113. Denat, Céline/Wotling, Patrick: Dictionnaire Nietzsche, Paris 2013. Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017. Derrida, Jacques: Éperons. Les styles de Nietzsche, Paris 1978. Derrida, Jacques: Politiques de l’amitié suivi de l’oreille de Heidegger, Paris 1994. Derrida, Jacques: Sporen. Die Stile Nietzsches, in: Hamacher, Werner (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, Berlin/Wien 2003, S. 183–224. Detering, Heinrich, im Gespräch mit Andreas Urs Sommer: Nietzsche, Luther und die Geschichte Jesu von Nazareth, in: Heit, Helmut/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche und die Reformation, Berlin/Boston 2020, S. 1–19. Deussen, Paul: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901. Devreese, Daniel/Biebuyck, Benjamin: „Il Polacco“. Überlegungen zu Nietzsches polnischer Legende im Lichte einer neuen Quelle. Ernst von der Brüggens Polens Auflösung, in: NietzscheStudien 35 (2006), S. 263–270.
Literaturverzeichnis
1021
Diels, Hermann/Kranz, Walther (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. 9. Auflage, Berlin 1959– 1960. Dietzsch, Steffen: Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 11 (2004), S. 13–27. D’Iorio, Paolo: La superstition des philosophes critiques. Nietzsche et Afrikan Spir, in: NietzscheStudien 22 (1993), S. 257–294. D’Iorio, Paolo: L’image des philosophes préplatoniciens chez le jeune Nietzsche, in: Borsche, Tilman/Gerratana, Federico/Venturelli, Aldo (Hg.): „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, S. 381–417. D’Iorio, Paolo: Aucune des choses humaines n’est digne du grand sérieux. Notes sur la genèse de l’aphorisme 628 de Choses humaines, trop humaines de Friedrich Nietzsche, in: Oeuvres et critique 25/1 (2000), S. 107–123. D’Iorio, Paolo: Système, phases, chemins, strates. Modèles et outils pour l’étude d’une philosophie en devenir, in: D’Iorio, Paolo/Ponton, Olivier (Hg.): Nietzsche. Philosophie de l’esprit libre. Études sur la genèse de Choses humaines, trop humaines, Paris 2004, S. 21–36. D’Iorio, Paolo: Les cloches du nihilisme et l’éternel retour du même, in: Mattéi, Jean-François (Hg.): Nietzsche et le temps des nihilismes, Paris 2005, S. 191–208. D’Iorio, Paolo: Le campane di Genova e le epifanie nietzscheane, in: Giuliano Campioni, Leonardo Pica Ciamarra, Marco Segala (Hg.): Goethe, Schopenhauer, Nietzsche. Saggi in memoria di Sandro Barbera, Pisa 2011, S. 195–227. D’Iorio, Paolo: Friedrich Nietzsche in Sorrent. Aus dem Französischen von Renate Müller-Buck und mit einem Vorwort von Andreas Urs Sommer, Stuttgart 2020. D’Iorio, Paolo/Ponton, Olivier (Hg.): Nietzsche. Philosophie de l’esprit libre. Études sur la genèse de Choses humaines, trop humaines, Paris 2004. Djurić, Mihailo: Das nihilistische Gedankenexperiment mit dem Handeln, in: Nietzsche-Studien 9 (1980), S. 142–173. Djurić, Mihailo: Nietzsche und die Metaphysik, Berlin/New York 1985. Dod, Elmar: Der unheimlichste Gast wird heimisch. Die Philosophie des Nihilismus. Evidenzen der Einbildungskraft, Baden-Baden 2019. Dod, Elmar: Nihilismus in Aktion. Ein philosophischer Leitfaden, Würzburg 2021. Donnellan, Brendan: Nietzsche and the French Moralists, 2 Bde., Diss. phil. State University of New York at Buffalo 1975. Donnellan, Brendan: Nietzsche and La Rochefoucauld, in: The German Quarterly 52 (1979), S. 303– 318 (a). Donnellan, Brendan: Nietzsche and Pascal, in: The Germanic Review 54 (1979), S. 89–97 (b). Donnellan, Brendan: Friedrich Nietzsche and Paul Rée. Cooperation and Conflict, in: Journal of the History of Ideas 43 (1982), S. 595–612 (a). Donnellan, Brendan: Nietzsche and the French Moralists, Bonn 1982 (b). Donnellan, Brendan: Nietzsche and Chamfort, in: Comparative Literature Studies 20 (1983), S. 363– 375. Donnellan, Brendan: Nietzsche and Montaigne, in: Colloquia Germanica 19 (1986), Nr. 1, S. 1–20. Dorschel, Andreas: Polemik und Schadenfreude, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft XIII/3: Widerstand, Herbst 2019, S. 117–122. Dries, Manuel (Hg.): Nietzsche on Time and History, Berlin/New York 2008. Driever, Ralph: Ästhetik und Artistik. Untersuchungen zum Kunstbegriff Friedrich Nietzsches, Diss. phil. Universität Bochum 1986. Drochon, Hugo: Nietzsche’s Great Politics, Princeton NJ 2016.
1022
Literaturverzeichnis
Drochon, Hugo: Nietzsche’s ‚Great Politics‘ in the Context of the Kaiserreich, in: Ruehl, Martin A./ Schubert, Corinna (Hg.): Nietzsches Perspektiven des Politischen, Berlin/Boston 2022, S. 369– 383. Dufour, Éric: L’esthetique musicale formaliste de Humain trop humain, in: Nietzsche-Studien 28 (1999), S. 215–233. Düsing, Edith: Jesu Kreuzesschrei. Nietzsches Deutung im Horizont seines ‚Duells‘ mit David F. Strauß, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 27 (2020) = Formen und Funktionen religiöser Erfahrung bei Nietzsche, hg. von Friederike Felicitas Günther und Enrico Müller, Berlin 2020, S. 129–155. Ebersbach, Volker: „Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt es keinen nothwendigen Gegeensatz“. Friedrich Nietzsche und die Verleumdungen des Erotischen in der Liebe, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 11: Antike und Romantik bei Nietzsche, Berlin 2004, S. 129–141. Eger, Manfred: Nietzsches Bayreuther Passion, Freiburg im Breisgau 2001. Eichberg, Ralf: Freunde, Jünger und Herausgeber. Zur Geschichte der ersten Nietzsche-Editionen, Frankfurt am Main/Berlin/Bern 2009. Eichberg, Ralf: Peter Gast als Nietzsche-Interpret, in: Vogel, Beatrix/Gerdes, Nikolaus (Hg.): Grenzen der Rationalität. Teilbd. 2: Vorträge 2006–2009 des Nietzsche-Forums München, Regensburg 2010, S. 157–184. Elberfeld, Rolf: Der Durchbruch zum Plural. Der Begriff der „Kulturen“ bei Nietzsche, in: NietzscheStudien 37 (2008), S. 115–142. Elgat, Guy: Nietzsche’s Critique of Pure Altruism. Developing an Argument from Human, All Too Human, in: Inquiry 58 (2015), Nr. 3, S. 308–326. Ellis, Havelock: Affirmations [1898], London 1926. Emden, Christian J.: Friedrich Nietzsche and the Politics of History [2008], Cambridge/New York 2010. Emden, Christian J.: Nietzsche’s Naturalism. Philosophy and the Life Sciences in the Nineteenth Century, Cambridge 2014 (a). Emden, Christian J.: Political Realism Naturalized: Nietzsche on the State, Morality, and Human Nature, in: Knoll, Manuel/Stocker, Barry (Hg.): Nietzsche as Political Philosopher, Berlin/Boston 2014, S. 313–344 (b). Erbsmehl, Hansdieter: „Habt Ihr noch eine Photographie von mir?“ Friedrich Nietzsche in seinen fotografischen Bildnissen, Wiesbaden 2017. Esmez, Laurent: Les rêveries de la logique. Le rêve et l’art comme modèles d’intelligibilité dans Humain, trop humain, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 79–98. Essen, Gesa von: Nietzsche erzählen. Zur Aktualität eines „Ausstrahlungsphänomen[s]“ in der Literatur der Gegenwart, in: Häfner, Ralph/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Literaturen, Berlin/Boston 2019, S. 423–454. Estadieu, Louisa: „Vom unfreien Willen“? Nietzsches Fabel von der intelligibelen Freiheit (MA I 39) vor dem Hintergrund von Luthers Disput mit Erasmus von Rotterdam, in: Heit, Helmut/ Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche und die Reformation, Berlin/Boston 2020, S. 37–51. Faber, Marion: The Metamorphosis of the French Aphorism. La Rochefoucauld and Nietzsche, in: Comparative Literature Studies 23 (1986), Nr. 3, S. 205–217. Faustino, Marta: A ‘grande libertação’ e a doutrina nietzschiana da saúde. A ‘grande saúde’ nos prefácios a Humano, demasiado humano, in: Estudos Nietzsche 9, Nr. 2, Vitória, ES 2017, S. 20– 39 (a), auch unter http://periodicos.ufes.br/estudosnietzsche/article/view/17992/12964.
Literaturverzeichnis
1023
Faustino, Marta: Philosophy and the „Great health“. Nietzsche’s „Gesundheitslehre“ and the Sickness as a Fish-Hook of Knowledge, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 243–264 (b). Felsch, Philipp: The Italian Job – Jagd nach der Wahrheit. Nietzsche, Colli, Montinari, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft XIII/4, Winter 2019: Unverhoffte Begegnungen, S. 95–108. Felsch, Philipp: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung, München 2022. Fenge, Hilmar: Unterschiedliche Vorstellungen von Elpis in mythologischer, philosophischer und literarischer Hinsicht, in: Germelmann, Claas Friedrich (Hg.): Innovative Teaching in European Legal Education. International Conference within the Framework of the 2019 ELPIS Network Meeting, Baden-Baden 2021, S. 15–22. Ferraro, Gianfranco: A Fé de Nietzsche. Crítica da metafísica e exercícios de subjectivação, in: Estudos Nietzsche 9 (2017), Nr. 2, S. 40–60, auch unter https://periodicos.ufes.br/ estudosnietzsche/article/view/17994/12965. Fetscher, Iring: Zur kritischen Theorie der Sozialwissenschaften in Adornos „Minima Moralia“ in: Honneth, Axel/Welmmer, Albrecht (Hg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen. Referate eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 10.–15. Dezember 1984 in Ludwigsburg, Berlin/New York 1986, S. 223–245. Fiebig, Nils: Nietzsche und das Geld. Die Banalität des Alltäglichen, Würzburg 2019. Figal, Günter: Nietzsche. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 1999. Figl, Johann: Nietzsche-Meditationen. Das Kloster, das Meer und die „neue“ Unendlichkeit, Wien/ Berlin 2007 (a). Figl, Johann: Nietzsche und die Religionen. Transkulturelle Perspektiven seines Bildungs- und Denkweges, Berlin/New York 2007 (b). Figl, Johann: Transkulturelles Denken. Nietzsches frühe Kenntnisse anderer Religionen und Kulturen, in: Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin/New York 2008, S. 285–303. Filek, Jacek: Das Drama der Verantwortung bei Friedrich Nietzsche, in: Archiv für Begriffsgeschichte 43 (2001), S. 113–147. Fillon, Alexandre: Les meilleurs effets de l’art. L’émergence de la théorie du style dans Humain, trop humain, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 285–311. Fillon, Alexandre: „Le mensonge est la puissance …“ Nietzsche et les figures du mensonge, in: Simonin, David (Hg.): Figures de la puissance dans la philosophie de Nietzsche. Préface de Paolo D’Iorio, Paris 2023, S. 113–127. Fink, Eugen: Nietzsches Philosophie [1960], 5. Auflage, Stuttgart 1986. Fink, Eugen: Nietzsches Philosophie [1960], 6. Auflage, Stuttgart 1992. Finken, Bryan: Nietzsche versus Genetic Fallacy, in: The Journal of Nietzsche Studies 43 (2012), Nr. 2, S. 283–303. Flake, Otto: Nietzsches zweite Periode in: Allgemeine Zeitung, Nr. 260, 12. November 1902, Beilage, S. 281–284, auch unter https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb00085667_00293_ u001/1. Fornari, Maria Cristina: Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“, in: NietzscheStudien 34 (2005), S. 310–328. Fornari, Maria Cristina: Die Entwicklung der Herdenmoral. Nietzsche liest Spencer und Mill. Aus dem Italienischen übersetzt von Leonie Schröder, Wiesbaden 2009. Fornari, Maria Cristina: Social Ties and the Emergence of the Individual. Nietzsche and the English Perspective, in: Constâncio, João/Mayer Branco, Maria João/Ryan, Bartholomew (Hg.): Nietzsche and the Problem of Subjectivity, Berlin/Boston 2015, S. 234–253.
1024
Literaturverzeichnis
Förster-Nietzsche, Elisabeth: Das Leben Friedrich Nietzsche’s, Bd. 1, Leipzig 1895, Bd. 2, 1. Abth., Leipzig 1897, Bd. 2, 2. Abth., Leipzig 1904. Förster-Nietzsche, Elisabeth: Wagner und Nietzsche zur Zeit ihrer Freundschaft, München 1915. Förster-Nietzsche, Elisabeth: Der einsame Nietzsche [1913]. 11.–15. Tausend, Leipzig 1922. Franco, Paul: Nietzsche’s Enlightenment. The Free-Spirit Trilogy of the Middle Period, Chicago/ London 2011. Franco, Paul: Rousseau, Nietzsche, and the Image of the Human, Chicago/London 2021. Frank, Horst Joachim: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945, München 1973. Freregger, Sandra Yvonne: Nietzsches Denken der Freundschaft und das Politische, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 23 (2016), S. 139–147. Freregger, Sandra Yvonne: Nietzsches Handexemplar von Emersons Versuchen. Annotation, Exzerpte, Philologie, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021, S. 421–447. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930. Frezzati, Wilson Antonio: Le développement de la culture dans Humain, trop humain, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 179–196. Frühauf, Tina: Music in the Philosophical Imagination. Deconstructing Friedrich Nietzsche’s Human, All Too Human, in: Sousa Correa, Delia da (Hg.): Phrase and Subject. Studies in Literature and Music, London 2006, S. 34–44. Fürnkäs, Josef: Sprüche. Nietzsches aphoristische Kurzprosa, in: Neue Beiträge zur Germanistik 11/1 (2012), S. 47–70. Gabathuler, Matthäus/Staehelin, Ernst (Hg.): Overbeckiana. Übersicht über den Franz-OverbeckNachlaß der Universitätsbibliothek Basel. I. Teil. Die Korrespondenz Franz Overbecks. Verzeichnisse, Regesten und Texte, Basel, 1962. Gasser, Reinhard: Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997. Gast, Peter [Pseudonym für Heinrich Köselitz], Vorwort des Herausgebers zur 2. Auflage, in: Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. Mit einem Brieffacsimile des Autors und einem Vorwort des Herausgebers. Zweite Auflage, Leipzig 1894, S. I–XLVIII. Gemes, Ken: Who are Nietzsche’s Christians?, in: Inquiry. An Interdisciplinary Journal of Philosophy 2023, auch unter https://doi.org/10.1080/0020174X.2022.2164050. Gemes, Ken/Richardson, John (Hg.): The Oxford Handbook of Nietzsche, Oxford 2013. Gentili, Carlo: Nietzsches Kulturkritik zwischen Philologie und Philosophie. Aus dem Italienischen von Leonie Schröder, Basel 2010. Gentili, Carlo: Kant, Nietzsche und die ‚Philosophie des Als-Ob‘, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 20 (2013), S. 103–116. Georg, Jutta: Das Monument einer Krise. Das Tragische Die Vorreden zu Menschliches, Allzumenschliches von 1886, in: Brock, Eike/Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020, S. 9–25. Gerhardt, Volker: Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretation, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 193–209, Diskussion S. 210–221. Gerhardt, Volker: Das „Princip des Gleichgewichts“. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 111–133.
Literaturverzeichnis
1025
Gerhardt, Volker: „Experimental-Philosophie“, in: Djurić, Mihailo/Simon, Josef (Hg.): Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Würzburg 1986, S. 45–61. Gerhardt, Volker: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 1996. Gerhardt, Volker: Nietzsche und die Politik, in: Vogl, Joseph (Hg.): Gesetz und Urteil, Weimar 2003, S. 11–33. Gerhardt, Volker: Die Funken des freien Geistes. Neuere Aufsätze zu Nietzsches Philosophie der Zukunft, hg. von Jan-Christoph Heilinger und Nikolaos Loukidelis, Berlin/New York 2011. Gerhardt, Volker: Der freie Geist und die Muße. Zur Anthropologie der Theorie bei Nietzsche, in: Jürgasch, Thomas/Keiling, Tobias (Hg.): Anthropologie der Theorie, Tübingen 2017, S. 225–246. Gerlach, Hans-Martin: „Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen …“. Friedrich Nietzsche und die europäische Aufklärung, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 14 (2007), S. 35–43. Geuss, Raymond: Kultur als Vorbild und als Schranke, in: Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin/New York 2008, S. 31–45. Geuss, Raymond: Die Nietzsche-Vorlesung, in: Häfner, Ralph/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Literaturen, Berlin/Boston 2019, S. 83–102. Geuss, Raymond: Politik und Wert, in: Ruehl, Martin A./Schubert, Corinna (Hg.): Nietzsches Perspektiven des Politischen, Berlin/Boston 2022, S. 313–329. Ghedini, Francesco: Il Platone di Nietzsche. Genesi e motivi di un simbolo controverso (1864–1879), Napoli 1999. Giacoia Junior, Oswaldo: Staat, Demokratie und Rechtssubjekt. Eine Kritik zeitgenössischer Politik, in: Bertino, Andrea/Poljakova, Ekaterina/Rupschus, Andreas/Alberts, Benjamin (Hg.): Zur Philosophie der Orientierung. Festschrift für Werner Stegmaier zum 70. Geburtstag, Berlin/ Boston 2016, S. 275–290. Giacoia Junior, Oswaldo: Freigeisterei und Selbsterkenntnis, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 26 (2019), S. 85–100. Gilman, Sander L. (Hg.) unter Mitwirkung von Ingeborg Reichenbach: Begegnungen mit Nietzsche. Nachdruck der zweiten Auflage, Bonn 1987. Gilman, Sander L. (Hg.): Otto Eiser and Nietzsches Illness. A Hitherto Unpublished Text, in: Nietzsche-Studien 38 (2009), S. 396–409. Glatzeder, Britta: Perspektiven der Wünschbarkeit. Nietzsches frühe Metaphysikkritik, Berlin 2000. Gleiter, Jörg H.: Die Cyklopenbauten und Saturnalien der Maschine. Nietzsche und die Wiederkehr des Gleichen, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 21 (2014), S. 141– 148. Gluth, Sophia: Der apokryphe Nietzsche. Auf den Spuren des Denkens von Friedrich Nietzsche in Rechtsphilosophie und -theorie, Tübingen 2021. Gödde, Günter: Nietzsches Perspektivierung des Unbewußten, in: Nietzsche-Studien 31 (2002), S. 154–194. Gödde, Günter: Der Wert der Muße und ihre Beziehung zur Lebenskunst, in: Gödde, Günter/ Loukidelis, Nikolaos/Zirfas, Jörg (Hg.): Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophischpsychologisches Kompendium, Stuttgart 2016, S. 143–155. Gödde, Günter: Die Wechselbeziehung zwischen Lebenskunst und Unbewusstem bei Nietzsche und Freud, in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 39: Nietzsche, hg. von Dominic Angeloch, Joachim Küchenhoff und Joachim Pfeiffer, Würzburg 2020, S. 147–182 (a). Gödde, Günter: Nietzsches Hoffnungen auf ein „höheres Selbst“ und eine „höhere Cultur“. Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein. Unter Freunden. Ein Nachspiel, in: Brock,
1026
Literaturverzeichnis
Eike/Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020, S. 185–204 (b). Gödde, Günter: Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit Schopenhauers Mitleidsethik, in: Brock, Eike/Gödde, Günter/Zirfas, Jörg (Hg.): Das Leuchten der Morgenröthe. Friedrich Nietzsche und die Kunst zu leben, Berlin 2022, S. 107–120. Gödde, Günter/Loukidelis, Nikolaos/Zirfas, Jörg (Hg.): Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophisch-psychologisches Kompendium, Stuttgart 2016. Goebel, Eckart: Jenseits des Unbehagens. „Sublimierung“ von Goethe bis Lacan, Bielefeld 2009. Goedert, Georges: Nietzsche der Überwinder Schopenhauers und des Mitleids, Amsterdam/ Würzburg 1988. Goedert, Georges/Nussbaumer-Benz, Uschi (Hg.): Nietzsche und die Kultur – ein Beitrag zu Europa?, Hildesheim/Zürich/New York 2002. Gori, Pietro: La visione dinamica del mondo. Nietzsche e la filosofia naturale di Boscovich, Neapel 2007. Gori, Pietro: „Sounding Out Idols“. Knowledge, History and Metaphysics in Human, All Too Human and Twilight of the Idols, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 16 (2009), S. 239–247. Gori, Pietro: Linguaggio e cultura del senso comune in Umano, troppo umano, in: Denat, Céline/ Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 331–353. Görner, Rüdiger: „Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum“. Nietzsches musikalisiertes Denken, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 13 (2006), S. 13–23. Görner, Rüdiger: Hat man mich verstanden? Denkästhetische Untersuchungen zu Nietzsches (Selbst-)Wahrnehmungen, Basel 2017, S. 50–65. Göttert, Karl-Heinz: Kunst der Sentenzen-Schleiferei. Zu Nietzsches Rückgriff auf die europäische Moralistik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), S. 717–728. García-Granero, Marina: La presencia del nietzscheanismo en la biopolítca contemporánea, in: Enrahonar. An International Journal of Theoretical and Practical Reason 68 (2022), S. 91–117. Grätz, Katharina: „doch sehen wir sein Sprechen nur“. Nietzsches Gedicht Um Mittag/Am Gletscher und die Lesbarkeit der Natur, in: Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian (Hg.) unter redaktioneller Mitarbeit von Armin Thomas Müller/Milan Wenner: Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetologie – Rezeption, Berlin/Boston 2017, S. 79–94. Grätz, Katharina: Kommentar zu Nietzsches Also sprach Zarathustra = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bde. 4/1 u. 4/2, Berlin/Boston 2024 (a) (= NK 4/1 u. NK 4/2) Grätz, Katharina: Einführung: in: Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Neu hg.und mit einer Einleitung von Katharina Grätz. 12., vollständig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2024, S. VII–XLIII (b). Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian (Hg.): Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Von der Fröhlichen Wissenschaft zu Also sprach Zarathustra, Heidelberg 2016. Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian (Hg.) unter redaktioneller Mitarbeit von Armin Thomas Müller/Milan Wenner: Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetologie – Rezeption, Berlin/Boston 2017. Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs: „alles Menschliche insgesammt ist des grossen Ernstes nicht werth; trotzdem – –“. Einleitung zur Werkstatt, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 28 (2021), S. 173–175.
Literaturverzeichnis
1027
Grau, Gerd-Günther: Ideologie und Wille zur Macht Zeitgemäße Betrachtungen über Nietzsche, Berlin/New York 1984. Green, Michael S.: Nietzsche and the Transcendental Tradition. Urbana/Chicago 2002. Greiner, Bernhard: Friedrich Nietzsche. Versuch und Versuchung in seinen Aphorismen, München 1972. Groddeck, Wolfram: Die „neue Ausgabe“ der „Fröhlichen Wissenschaft“. Überlegungen zu Paratextualität und Werkkomposition in Nietzsches Schriften nach „Zarathustra“, in: Nietzsche-Studien 26 (1997), S. 184–198. Groddeck, Wolfram/Morgenthaler, Walter: Nietzsches Begegnung mit Gottfried Keller. Dokumente und Lektüren, in: Hoffmann, David Marc (Hg.): Nietzsche und die Schweiz, Zürich 1994, S. 102– 121. Grünbein, Durs: Poesie, Philosophie und ihre Peripetien, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XVII/1, Frühjahr 2023: Das Kleingedruckte, S. 115–119. Gschwend, Lukas: Nietzsche und die Kriminalwissenschaften. Eine rechtshistorische Untersuchung der strafrechtsphilosophischen und kriminologischen Aspekte in Nietzsches Werk unter besonderer Berücksichtigung der Nietzsche-Rezeption in der deutschen Rechtswissenschaft, Zürich 1999. Gschwend, Lukas: Nietzsche und die Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Seelmann, Kurt (Hg.): Nietzsche und das Recht = Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 77 (2001), S. 127–150. Guerreschi, Luca: Antinaturalistische Strategien in Jenseits von Gut und Böse, in: Nietzsche-Studien 52 (2023), S. 124–147. Günther, Friederike Felicitas: Kultur als Faltenwurf. Nietzsches Blick auf die Textur von Antike und Moderne, in: Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin/New York 2008, S. 437–442 (a). Günther, Friederike Felicitas: Rhythmus beim frühen Nietzsche, Berlin/New York 2008 (b). Günzel, Stephan: Geophilosophie. Nietzsches philosophische Geographie, Berlin 2001 (a). Günzel, Stephan: Nietzsche verbrennen. Einführung in die Ausstellung „Ecce homo“ von Darrin Morgan (New Castle/Australien) zur Eröffnung am 25. August 2000 im Nietzsche-Haus Naumburg, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 8 (2001), S. 361– 366 (b). Guo, Cheng: Cynismus bei Nietzsche. Eine systematische Auslegung seiner Umwertung aller Werte, Berlin/Boston 2022. Gutjahr, Ortrud: Philosophische Durchdringung. Psychologische (Selbst-)Analyse. Lou AndreasSalomés Pionierstudie Friedrich Nietzsche in seinen Werken und ihr Kontext, in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 39: Nietzsche, hg. von Dominic Angeloch, Joachim Küchenhoff und Joachim Pfeiffer, Würzburg 2020, S. 183–221. Gutzwiller, Hans: Friedrich Nietzsches Lehrtätigkeit am Basler Pädagogium 1869–1876, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 50 (1951), S. 148–224. Gwozdz, Patricia A.: Vom „Kurz-Gesagten“ im „Lang-Gedachten“. Friedrich Nietzsches AphorismusKataloge als zyklisch-serielles Erzählnetzwerk, in: Gamper, Michael/Mayer, Ruth (Hg.): Kurz & Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2017, S. 161–184. Haberich, Max: Friedrich Nietzsche and Jakob Wassermann: Brothers in Spirit?, in: NietzscheStudien 44 (2015), S. 500–515. Haberkamp, Günter: Triebgeschehen und Wille zur Macht. Nietzsche – zwischen Philosophie und Psychologie, Würzburg 2000.
1028
Literaturverzeichnis
Hadot, Pierre: La citadelle intérieure. Introduction aux pensées de Marc Aurèle, Paris 1992. Häfner, Ralph: Die Weisheit des Silen. Heinrich Heine und die Kritik des Lebens, Berlin/New York 2006. Häfner, Ralph: Nietzsche, Paul Winckler und die Figuration des Narren. Aphoristische Lektüren im Vorgriff auf Menschliches, Allzumenschliches, in: Berner, Hannah/Reidy, Julian/Rohner, Melanie/ Wagner, Moritz (Hg.): Narren, Götter und Barbaren. Ästhetische Paradigmen und Figuren der Alterität in komparatistischer Perspektive, Bielefeld 2020, S. 145–154. Häfner, Ralph/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Literaturen, Berlin/ Boston 2019. Hahn, Henning: Platons Kratylos-Dialog in der Sprachkritik Nietzsches, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 7 (2000), S. 177–186. Hamacher, Werner: ‚Disgregation des Willens‘. Nietzsche über Individuum und Individualität, in: Nietzsche-Studien 15 (1986), S. 306–336. Hammond, Mark: Nietzsche’s Remarks on the Classical Tradition. A Prognosis for Western Democracy in the Twenty-first Century, in: Bishop, Paul (Hg.): Nietzsche and Antiquity. His Reaction and Response to the Classical Tradition, Rochester NY 2004, S. 361–370. Häntzschel-Schlotke, Hiltrud: Der Aphorismus als Stilform bei Nietzsche, Diss. phil. Heidelberg 1967. Hartmann, Leon: „Barbarische Avantagen“. Verhältnisse von Kunst und Barbarei in Abschnitt 223 von Menschliches, Allzumenschliches I, in: Kaufmann, Sebastian/Winkler, Markus (Hg.): Nietzsche, das ‚Barbarische‘ und die ‚Rasse‘, Berlin/Boston 2022, S. 85–113. Hartmann, Martin: Vertrauen. Die unsichtbare Macht, Frankfurt am Main 2020. Hartmann Cavalcanti, Anna: Nietzsche als Leser. Seine frühen Quellen und die Lektüre von Eduard Hanslick, in: Knoche, Michael/Ulbricht, Justus H./Weber, Jürgen (Hg.): Zur unterirdischen Wirkung mit Dynamit. Vom Umgang Nietzsches mit Büchern zum Umgang mit Nietzsches Büchern, Wiesbaden 2006, S. 47–69. Hatab, Lawrence J.: Breaking the Contract Theory. The individual and the law in Nietzsche’s Genealogy, in: Siemens, Herman W./Roodt, Vasti (Hg.): Nietzsche, Power and Politics. Rethinking Nietzsche’s Legacy for Political Thought, Berlin/New York 2008, S. 169–188. Häubi, Florian: Scham und Würde. Eine thematische Untersuchung zu Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, Basel 2019. Havemann, Daniel: Der Apostel der Rache. Nietzsches Paulusdeutung, Berlin/New York 2002. Hayman, Ronald: Nietzsche. A Critical Life, London 1980. Hayoun, Maurice-Ruben: Nietzsches Zarathustra und die Bibel, in: Stegmaier, Werner/Krochmalnik, Daniel (Hg.): Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin/New York 1997, S. 327–344. Heckman, Peter: The Role of Science in Nietzsche’s Human-All-Too-Human, in: Man and World 26 (1993) Nr. 2, S. 147–160. Heidegger, Martin: Nietzsche [1936/61], 2 Bde., 5. Auflage, Pfullingen 1989. Heidegger, Martin: Nietzsche [1936/61] = ders.: Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 6/1 und 6/2, hg. von Brigitte Schillbach, Frankfurt am Main 1996 u. 1997. Heidemann, Ingeborg: Nietzsches Kritik der Moral, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 95–137 [die übliche Zuschreibung an „Ingeborg Heidehann“ ist falsch]. Heinrich, Johannes: Nietzsche und die Medizin, in: Nietzsche-Studien 51 (2022), S. 351–370. Heit, Helmut: Nietzsches Philosophie und das „Age of Science“, in: ders./Heller, Lisa (Hg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin/Boston 2014. Heit, Helmut: Angloamerikanische Antworten auf Grundfragen der Nietzsche-Forschung, in: Nietzsche-Studien 45 (2016), S. 280–301.
Literaturverzeichnis
1029
Heit, Helmut: Humano, demasiado humano, ultrahumano. El desafío de Nietzsche al humanismo, in: Cuestiones de Filosofía 6 (2020), Nr. 26, S. 99–125 (a), auch unter https://revistas.uptc. edu.co/index.php/cuestiones_filosofia/article/view/11249/9610. Heit, Helmut: Vom Kult zum Kapital. Nietzsches Weg zum philosophischen Weltereignis, in: Lorenz, Ulrike/Valk, Thorsten (Hg.): Kult – Kunst – Kapital. Das Nietzsche-Archiv und die Moderne um 1900. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2020, Göttingen 2020, S. 19–40 (b). Heit, Helmut: Quellenforschung als positive Wissenschaft? Nutzen und Nachteile im Umgang mit Nietzsches Autorenbibliothek, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/ Boston 2021, S. 29–48. Heit, Helmut/Heller, Lisa (Hg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin/Boston 2014. Heit, Helmut/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche und die Reformation, Berlin/Boston 2020. Heit, Helmut/Sommer, Andreas Urs: Vorwort: 500 Jahre ‚Entrüstung der Einfalt‘?, in: Heit, Helmut/ Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche und die Reformation, Berlin/Boston 2020, S. XI–XIII. Heller, Erich: Nietzsche. The Teacher of ‚Free Spirits‘, in: ders.: The Importance of Nietzsche. Ten Essays, Chicago/London 1988, S. 55–69. Heller, Peter: „Chemie der Begriffe und der Empfindungen“. Studie zum 1. Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches I, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 210–233 (a). Heller, Peter: „Von den ersten und letzten Dingen“. Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche, Berlin/New York 1972 (b). Heller, Peter: Mitromanie. Zur Erstveröffentlichung von Nietzsches „Memorabilia“, in: Germanic Notes 4 (1973), Nr. 3, S. 18–21. Heller, Peter: Historical Sense and Dionysian Sensibility. An Essay on Nietzsche, in: German Life and Letters 27 (1973/74), Nr. 3, S. 204–220. Hémion, Jean-Marc: Science du Désastre et Démocratie, in: Pornschlegel, Clemens/Stingelin, Martin (Hg.): Nietzsche und Frankreich, Berlin/New York 2009, S. 429–447. Hermens, Janske: „und so […] nenne ich Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens“. On Ecce homo and Nietzsche’s Ideal of the ‚Grosse Gesundheit‘, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 12 (2005), S. 201–207. Hertlein, Alexandra: ‚Am Eingangstor der hellenischen Ethik‘. Nietzsche liest Hesiod, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021, S. 111–129. Heuler-Neuhaus, Werner: Wert und Werte, Schulden und Schuld, Rache und Ressentiment. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 30 (2023), S. 181–190. Hildebrandt, Kurt: Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Plato, Dresden 1922. Hilgers, Jan F.: Der ‚freie Geist‘, das ‚Problem der Rangordnung‘ und die ‚grosse Gesundheit‘. Zur Darstellung des Problems des Perspektivischen in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches I, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 25 (2018), S. 299–312. Hill, R. K.: Nietzsche. A Guide for the Perplexed, London 2007. Hillebrand, Bruno (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 1: Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873–1963, Bd. 2: Forschungsergebnisse, Tübingen 1978. Himmelmann, Beatrix: Freiheit und Selbstbestimmung. Zu Nietzsches Philosophie der Subjektivität, Freiburg/München 1996. Himmelmann, Beatrix: Nietzsches Anthropologie des produktiven Antagonismus, in: Internationales Jahrbuch für philosophische Anthropologie 7 (2017), S. 3–16.
1030
Literaturverzeichnis
Hoche Hans-Ulrich: Regel, goldene II: Die goldene Regel seit Kant, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter† und Karlfried Gründer, Bd. 8, Basel 1992, Sp. 457–464. Hödl, Hans Gerald: Zur Funktion der Religion. Anmerkungen zu Nietzsches Einfluss auf Max Weber und zur Antizipation von religionssoziologischen Fragestellungen in MenschlichesAllzumenschliches in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 14 (2007), S. 147–158. Hödl, Hans Gerald: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik, Berlin/ New York 2009. Hödl, Hans Gerald: Friedrich Wilhelm Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, in: Pöhlmann, Ferdinand (Hg.): Philosophie. Werke aus drei Jahrtausenden, Stuttgart 2016, S. 492–493. Höffe, Otfried: Gerechtigkeit als Tausch? Zum politischen Projekt der Moderne, Baden-Baden 1991. Höffe, Otfried (Hg.): Nietzsche as German Philosopher. Translated by Robert Norton, Cambridge/ New York 2021. Hofmann, Johann Nepomuk: Wahrheit, Perspektive, Interpretation. Nietzsche und die philosophische Hermeneutik, Berlin/New York 1994. Hofmiller, Josef: Nietzsche, in: Süddeutsche Monatshefte 29, November 1931, S. 73–131. Hofmiller, Josef: Friedrich Nietzsche, Hamburg o. J. [1947]. Hollingdale, R. J.: Nietzsche. The Man and his Philosophy, Cambridge 1990. Holub, Robert C.: Nietzsche’s Jewish Problem. Between Anti-Semitism and Anti-Judaism, Princeton NJ/Oxford 2016. Holub, Robert C.: Nietzsche in the Nineteenth Century: Social Questions and Philosophical and Philosophical Interventions, Philadelphia 2018. Holzer, Angela: ‚Nietzsche Caesar‘. The Turn against Dynastic Succession and Caesarism in Nietzsche’s Late Works, in: Siemens, Herman W./Roodt, Vasti (Hg.): Nietzsche, Power and Politics. Rethinking Nietzsche’s Legacy for Political Thought, Berlin/New York 2008, S. 371–391. Holzer, Angela: Philosoph der Kultur und des Krieges. Zur Nietzsche-Rezeption von Norbert Elias, in: Günther, Friederike/Holzer, Angela/Müller, Enrico (Hg.): Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses. Friedrich Nietzsche und Norbert Elias, Berlin/New York 2010, S. 21–60. Hörisch, Jochen/Sommer, Andreas Urs: Nietzsche, Friedrich (Wilhelm), in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage, hg. von Wilhelm Kühlmann, Bd. 8, Berlin/New York 2010, S. 593–600. Hoyer, Timo: Nietzsche und die Pädagogik. Werk, Biographie und Rezeption, Würzburg 2002. Huang, Jing: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweis aus Platon, „Phaidros“ (1853), in: NietzscheStudien 48 (2019), S. 314–317. Huang, Jing: Nietzsche als Leser des Aristoteles, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/ Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021, S. 131–155. Hübner, Hans: Nietzsche und das Neue Testament, Tübingen 2000. Huffman, Sarah: Die scheinbare Wahrheit. Wie Überzeugungen unser Weltbild trügen. Eine Untersuchung ausgewählter Aphorismen des neunten Hauptstückes [von Menschliches, Allzumenschliches I]. Hausarbeit im Interpretationskurs Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Sommersemester 2020. Hughes, Fiona: Forgetful All Too Forgetful. Nietzsche and the Question of Measure, in: The Journal of the British Society for Phenomenology 29 (1998), Nr. 3, S. 252–267.
Literaturverzeichnis
1031
Hunziker, J[akob]: Nachklänge zur hundertjährigen Gedenkfeier von Voltaire und Rousseau V. [Besprechung von MA I], in: Neue Zürcher Zeitung, 16. August 1879, Nr. 381, S. 1–2 (digital unter www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=NZZ18790816-01.2.4.1). Hussain, Nadeem J. Z.: Nietzsche’s Positivism, in: European Journal of Philosophy 12 (2004), Nr. 3, S. 326–368. Hütig, Andreas: Zwischen Barbarisierung und Vergeistigung. Nietzsches Theorie der Moderne und seine These vom Ende der Kunst, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 10 (2003), S. 181–191. Imasaki, Takahide: Die Person zwischen Macht- und Schamgefühl in der Philosophie Friedrich Nietzsches, in: Georg, Jutta/Zittel, Claus (Hg.): Nietzsches Philosophie des Unbewussten, Berlin/Boston 2012, S. 273–280. Imasaki, Takahide: Nietzsches Philosophie der Masken. Seine Lehre über den Menschen, Berlin 2020. Immel, Oliver: „Wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden“. Nietzsches Hinwendung zur „psychologischen Beobachtung“ und deren Bedeutung für einen interkulturellen philosophischen Dialog, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 10 (2003), S. 149–156. Ingenkamp, Heinz Gerd: Der Höhepunkt der deutschen Plutarchrezeption. Plutarch bei Nietzsche, in: Illinois Classical Studies 13 (1988), Nr. 2, S. 505–529. Inkpin, Andrew: Mit oder ohne die Anderen? Beauvoir contra Nietzsche über Freiheit, in: Betschart, Alfred/Sommer, Andreas Urs/Stephan, Paul (Hg.): Nietzsche und der französische Existenzialismus, Berlin/Boston 2022, S. 161–174. Irlbacher, Simon: Die Nietzsche-Rezeption in der deutsch-jüdischen Presse von 1892 bis 1918, in: Nietzsche-Studien 52 (2023), S. 289–306. Irti, Natalino: Nichilismo e concetti giuridici. Intorno all’aforisma 459 di „Umano, troppo umano“, Neapel 2005. Itaparica, André Luís Mota: Nietzsche e Paul Rée. O projeto de naturalização da moral em Humano, demasiado humano, in: Dissertatio. Revista de filosofia 19 (2013), Nr. 38, S. 57–77, auch unter http://www2.ufpel.edu.br/isp/dissertatio/revistas/38/3.pdf. Itoda, Soichiro: Nietzsches literarisches Schaffen. Eine stilistische und prosodische Studie im Spannungsfeld zwischen Prosa und Lyrik, in: The Journal of Humanities, Meiji University, Bd. 24, Tokyo 2018, S. 35–46. Jaggard, Dylan: Dionysus versus Dionysus, in: Bishop, Paul (Hg.): Nietzsche and Antiquity. His Reaction and Response to the Classical Tradition, Rochester NY 2004, S. 277–294. Jakof, Lena: Ein Vergleich des Wanderer-Motivs in Nietzsches Gedicht Es geht ein Wandrer durch die Nacht und Aphorismus MA 638. Hausarbeit im Interpretationskurs Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Sommersemester 2020. Janaway, Christopher (Hg.): Willing and Nothingness. Schopenhauer as Nietzsche’s Educator. Oxford 1998. Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsches akademische Lehrtätigkeit in Basel 1869–1879, in: NietzscheStudien 3 (1974), S. 192–203. Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Biographie, 3 Bde., München/Wien 1978. Jaspers, Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens [1936], 2. Auflage, Berlin 1947. Jaspers, Karl: Nietzsche, hg. von Dominic Kaegi und Andreas Urs Sommer = Jaspers, Karl: Gesamtausgabe, hg. im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. I. Abteilung: Werke, Bd. 18, Basel 2020.
1032
Literaturverzeichnis
Jaspers, Kristina: Friedrich Nietzsche: Leben als Experiment, in: Gödde, Günter/Loukidelis, Nikolaos/ Zirfas, Jörg (Hg.): Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophisch-psychologisches Kompendium, Stuttgart 2016, S. 38–46. Jauslin, Kurt: Als-ob gegen An-sich. Etwas über den Zusammenhang von Ästhetik und Kontingenz im Denken Friedrich Nietzsches, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 9 (2002), S. 69–81. Jensen, Anthony K.: Nietzsche’s Philosophy of History, Cambridge u. a. 2013. Jensen, Anthony K.: Helmholtz, Lange, and the Unconscious Symbols of the Self, in: Constâncio, João/Mayer Branco, Maria João/Ryan, Bartholomew (Hg.): Nietzsche and the Problem of Subjectivity, Berlin/Boston 2015, S. 196–218. Jensen, Anthony K.: A Heretical Studien in the Schopenhauerian School, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), S. 47–69. Joël, Karl: Nietzsche und die Romantik, Jena/Leipzig 1905. Johnson, Dirk R.: Nietzsche and Literature, in: Nietzsche-Studien 51 (2022), S. 371–386. Joisten, Karen: Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, Würzburg 1994. Joisten, Karen: Wieviel Nietzsche verträgt der Interpret? oder Der Weg vom Verstehen über das Verstehen hinaus, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 11 (2004), S. 193–202. Jong, Johan de: The Senses of Nietzsche’s „Complete Irresponsibility“, in: Nietzsche-Studien 53 (2024), S. 67–105. Jordan, Wolfgang: Friedrich Nietzsches Naturbegriff zwischen Neuromantik und positivistischer Entzauberung, Würzburg 2006. Juhász, Anikó/Csejtei, Dezső: Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 12 (2005), S. 295–311. Kabermann, Friedrich: Fragezeichen für Solche, die Antwort haben. Zu Nietzsches „historischer Philosophie“ und der historischen Philosophie über Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 75–115. Kang, Yong-Soo: Nietzsches Kulturphilosophie, Würzburg 2003. Kann, Christoph: Zeichen, Ordnung, Gesetz: Zum Naturverständnis in der mittelalterlichen Philosophie, in: Dilg, Peter (Hg.): Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen, Berlin 2003, S. 33–49. Karlowa, Oskar: Nietzschestudien, Pless 1906. Katsafanas, Paul: The Nietzschean Self. Moral Psychology, Agency, and the Unconscious, Oxford 2016. Katsafanas, Paul (Hg.): The Nietzschean Mind, London/New York 2018. Kattel, Rainer: Justice and Economy from Human, All Too Human to Thus Spake Zarathustra, in: Backhaus, Jürgen G./Drechsler, Wolfgang (Hg.): Friedrich Nietzsche (1844–1900). Economy and Society, New York 2006, S. 209–227. Kaufmann, Sebastian: Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches, in: Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian (Hg.): Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetologie – Rezeption, Berlin/Boston 2017, S. 7–23. Kaufmann, Sebastian: Nietzsche und die Neue Rechte. Auch eine Fortführung der Konservativen Revolution, in: Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche und die Konservative Revolution, Berlin/Boston 2018, S. 591–620. Kaufmann, Sebastian: Ästhetik des ‚Wilden‘. Zur Verschränkung von Ethno-Anthropologie und ästhetischer Theorie 1750–1850, Basel 2019 (a). Kaufmann, Sebastian: Weltgenie – Psychiatrie: Gottfried Benns lyrisches Nietzsche-Porträt Turin (1935), in: Häfner, Ralph/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Literaturen, Berlin/Boston 2019, S. 391–422 (b).
Literaturverzeichnis
1033
Kaufmann, Sebastian: Das Genie im Schaffen Nietzsches, in: German Life and Letters 75 (2022), Nr. 3, S. 394–409 (a). Kaufmann, Sebastian: Kommentar zu Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“) = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 3/2, Berlin/Boston 2022 (b) (= NK 3/2.1 u. NK 3/2.2). Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche und die Konservative Revolution, Berlin/Boston 2018. Kaufmann, Sebastian/Winkler, Markus (Hg.): Nietzsche, das ‚Barbarische‘ und die ‚Rasse‘, Berlin/ Boston 2022. Kaufmann, Walter: Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist [1950], Princeton 1974. Kaufmann, Walter: Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jörg Salaquarda, Darmstadt 1982 (a). Kaufmann, Walter: Nietzsches Philosophie der Masken, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1982), S. 111– 131 (b). Kaulbach, Friedrich: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien 1980. Kaulbach, Friedrich: Nietzsches Interpretation der Natur, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 442–464. Kerger, Henry: Autorität und Recht im Denken Nietzsches, Berlin 1988. Kerger, Henry: Utopien des Übergangs. Don Quixote und Zarathustra, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), 141–180. Kerkmann, Jan: Die Zeit des Willens und das Ende der Metaphysik. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und Schelling, Berlin/Boston 2020. Kerkmann, Jan: Das Ethos der Gerechtigkeit in Nietzsches Schrift Menschliches, Allzumenschliches, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2022, Nr. 3: Friedrich Nietzsche, hg. von Vanessa Albus und Ralf Glitza, Bamberg 2022, S. 22–31. Kern, Udo: Friedrich Nietzsche – der Philosoph mit dem Hammer, Berlin 2023. Kersting, Charlotte: Ironie als Entmenschlichung. Stellungsnahmen zu Ironie in Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches. Hausarbeit im Interpretationskurs Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Sommersemester 2020. Kersting, Wolfgang (Hg.): Gerechtigkeit als Tausch? Auseinandersetzungen mit der politischen Philosophie Otfried Höffes, Frankfurt am Main 1997. Kessler, Mathieu: La critique des idéaux dans Choses humaines, trop humaines, in: D’Iorio, Paolo/ Ponton, Olivier (Hg.): Nietzsche. Philosophie de l’esprit libre. Études sur la genèse de Choses humaines, trop humaines, Paris 2004, S. 143–151. Kiesel, Dagmar: „[I]ch bin […] der Antichrist …“? „Christliche“ Elemente in der Philosophie Nietzsches, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 27 (2020), S. 157– 180 (a). Kiesel, Dagmar: Vernunftirrtum als Beseligung und Krankheit. Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben, in: Brock, Eike/Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020, S. 65– 88 (b). Kimmerle, Heinz: Wo liegt Nietzsches Über-Europa? Das ambivalente Verhältnis Nietzsches zu primär mündlich kommunizierenden Kulturen, in: Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin/New York 2008, S. 499–517. Kissel, Katja: Kampf der Gegensätze. Nietzsche und die griechische Antike, Würzburg 2021.
1034
Literaturverzeichnis
Klaiber, Thilo: „Ich hasse Rousseau …“ Typus, Antitypus und das Motiv für Nietzsches Wahlfeindschaft“, in: Pornschlegel, Clemens/Stingelin, Martin (Hg.): Nietzsche und Frankreich, Berlin/New York 2009, S. 47–62. Klass, Tobias Nikolaus: Veredelnde Inoculation. Nietzsche und das Essen, in: Därmann, Iris/Lemke, Harald (Hg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Bielefeld 2008, S. 131–155 (a). Klass, Tobias Nikolaus: Wie man wird, was man isst. Nietzsches Diätetik, in: Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin/New York 2008, S. 411–421 (b). Kleffmann, Tom: Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth, Tübingen 2003. Kleinert, Markus: Andere Klarheit. Versuch über die Verklärung in Kunst, Religion und Philosophie, Göttingen 2021. Kloss, Oliver: Politische Ökonomie in kosmoästhetischer Absicht. Nietzsches Bedürfnis-Konzept in Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 10 (2003), S. 157–170. Knoll, Manuel: Nietzsches Kritik am wissenschaftlichen Willen zur Wahrheit und die intellektuelle Tugend der Redlichkeit, in: Heit, Helmut/Abel, Günter/Brusotti, Marco (Hg.): Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, Berlin/New York 2012, S. 257–270. Knoll, Manuel: Nietzsche and Transhumanism: The Case of the Overhuman (Übermensch), in: Deliberatio: Studies in Contemporary Philosophical Challenges 1 (2021), S. 33–44 (a). Knoll, Manuel: Nietzsche’s Perspectivism as an Epistemological and Meta-Ethical Position, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 28 (2021), S. 263–287 (b). Kolb, Martina: Nietzsche, Freud, Benn, and the Azure Spell of Liguria, Toronto/Buffalo/London 2013. Konersmann, Ralf: Welt ohne Maß, Frankfurt am Main 2021. König, Christoph: Zweite Autorschaft. Philologie, Poesie und Philosophie in Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘ und ‚Dionysos-Dithyramben‘, Göttingen 2021. Kővári, Sarolta: Wie Nietzsche Eduard von Hartmann gelesen hat, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021, S. 201–221. Kraus, Karl: Als ob, in: Die Fackel, Nr. 697–705, Oktober 1925, S. 115–119. Krause, Robert: Muße und Müßiggang im Zeitalter der Arbeit. Zu einer Problemkonstellation der deutschen und französischen Literatur, Kultur und Gesellschaft im ‚langen‘ 19. Jahrhundert, Berlin 2021. Krause, Robert: Lese- und Lebenserfahrung. Versuch über Montaigne und Nietzsche in komparatistischer und rezeptionsgeschichtlicher Perspektive, in: Fellner, Isabelle/Schaefer, Christina (Hg.): Facetten der experientia. Zum Rekurs auf Erfahrung und Erfahrungswissen in der frühneuzeitlichen Romania, Wiesbaden 2022, S. 53–72 (a). Krause, Robert: Wild auf Arbeit. Nietzsches Palliative gegen die Ansteckung des alten Europa durch „das eigentliche Laster der neuen Welt“, in: Kaufmann, Sebastian/Winkler, Markus (Hg.): Nietzsche, das ‚Barbarische‘ und die ‚Rasse‘, Berlin/Boston 2022, S. 115–129 (b). Krause, Robert: Erlesene Lebenskunst? Nietzsches Annotationen und Aneignungen von Montaignes Essais (im Druck 2024). Kremer-Marietti, Angèle: Menschliches-Allzumenschliches: Nietzsches Positivismus?, in: NietzscheStudien 26 (1997), S. 260–275. Krummel, Richard Frank: Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867–1945, 4 Bde., Berlin/New York 1998–2006 (= Kr I–IV).
Literaturverzeichnis
1035
Kuhn, Elisabeth: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin/New York 1992. Kunnas, Tarmo: Nietzsches Lachen. Eine Studie über das Komische in Nietzsches Werken, München 1982. Kunnas, Tarmo: Nietzsches Lachen. Eine Studie über das Komische in Nietzsches Werken, 2., erweiterte und durchgesehene Auflage, Achenmühle 2017. Kytzler, Bernhard: Horaz. Eine Einführung. München 1985. Labhart, Lukas: „Meine Art Natur“. Individualität, Landschaft, Stil bei Friedrich Nietzsche, Basel 2006. Ladendorf, Otto: Historisches Schlagwörterbuch. Ein Versuch, Straßburg/Berlin 1906. Landerer, Christoph/Schuster, Marc-Oliver: Nietzsches Vorstudien zur Geburt der Tragödie in ihrer Beziehung zur Musikasthetik Eduard Hanslicks, in: Nietzsche-Studien 31 (2002), S. 114–133. Landgraf, Edgar: Nietzsche’s Entomology. Insect Sociality and the Concept of the Will, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), S. 275–299. Langer, Daniela: Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, München 2005. Langone, Laura: Nietzsche. Filosofo della libertà, Pisa 2019. Large, Duncan: „Geschaffene Menschen“. The Necessity of the Literary Self in Nietzsche, Musil and Proust, in: Neohelicon 17 (1990), S. 43–60. Large, Duncan: Chemical Solutions. Scientific Paradigms in Nietzsche and Proust, in: Shaffer, Elinor S. (Hg.): The Third Culture. Literature and Science, Berlin/New York 1998, S. 217–236. Large, Duncan: Nietzsche’s Conceptual Chemistry, in: Moore, Gregory/Brobjer, Thomas H. (Hg.): Nietzsche and Science, Aldershot/Burlington, VT 2004, S. 189–196 (a). Large, Duncan: Nietzsche’s ‚Deaf Spot‘. The Music of the Renaissance in Italy, in: Bejahende Erkenntnis. Festschrift für T. J. Reed zu seiner Emeritierung am 30. September 2004, hg. von Kevin F. Hilliard, Ray Ockenden und Nigel F. Palmer, Tübingen 2004, S. 105–116 (b). Large, Duncan: Nietzsches Renaissance-Gestalten. Shakespeare, Kopernikus, Luther, Weimar 2009. Large, Duncan: Nietzsche’s Orientalism, in: Nietzsche-Studien 42 (2013), S. 178–203. Large, Duncan: Nietzsche’s Helmbrecht, or: How to Philosophise with a Ploughshare, in: Studia Nietzscheana. Nietzsche Source (2014), Volltext unter http://www.nietzschesource.org/SN/ large-2014. Large, Duncan: Nietzsche und die englische Literatur, in: Häfner, Ralph/Kaufmann, Sebastian/ Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Literaturen, Berlin/Boston 2019, S. 115–125. Laudien, Karsten: Wahrheit, ewige, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter†, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 141–146. Lawtoo, Nidesh: Das Phantom vom Ego. Nietzsche, Modernismus und das mimetische Unbewusste, Berlin 2024. Lay, Maxwell G.: Die Geschichte der Straße. Vom Trampelpfad zur Autobahn, Frankfurt am Main/ New York 1994. Lebeau-Henry, Charles: Nietzsche’s Artistic Ideal in Human, All Too Human and the Case of Music, in: Moura, Vítor/Vaughan, Connell (Hg.): Proceedings of the European Society for Aesthetics, Bd. 12, Fribourg 2020, S. 66–83, auch unter https://www.eurosa.org/wp-content/uploads/2020Lebeau-Henry_ESA.pdf. Lebeau-Henry, Charles: Nietzsche contre ses génies. Sur la redéfinition du rôle de l’art et de l’artiste dans Humain, trop humain et Opinions et sentences mêlées, in: Revue Philosophique de Louvain 119 (2022), Nr. 3, S. 385–413. Lebeau-Henry, Charles: Forme, matière, symbole. Sur la place de la forme dans la reflexion sur la musique d’Humain, trop Humain de Nietzsche, in: Camilleri, Sylvain/Dépré, Olivier (Hg.):
1036
Literaturverzeichnis
Phénoménologie, esthétique, politique. Mélanges offerts à Danielle Lories, Louvain 2023, S. 199–223. Lebreton, Lucie: Pascal et la „preuve par la force“. L’examen nietzschéen d’une conscience intellectuelle „blessée“, in: Nietzsche-Studien 47 (2018), S. 217–239. Lee, Bang-Youn: Der Spielbegriff bei Nietzsche und bei Heidegger, Diss. phil. Albert-LudwigsUniversität Freiburg im Breisgau, 2018. Lefèvre, Eckard: Die Unfähigkeit, sich zu erkennen. Sophokles’ Tragödien, Leiden 2001. Legrand, Camille: Nietzsches Sinn für das Kleine. Eine Kritik des Mitleids, in: Caysa, Volker/ Schwarzwald, Konstanze (Hg.): Nietzsche – Macht – Größe. Nietzsche – Philosoph der Größe der Macht oder der Macht der Größe, Berlin/Boston 2012, S. 287–298. Lehmann, Robert: Ins Wahre enttäuschen. Nietzsche und die Nicht-Zweiheit, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 27 (2020): Formen und Funktionen religiöser Erfahrung bei Nietzsche, S. 75–93. Lehmann, Rudolf: Friedrich Nietzsche. Eine Studie, in: Schmeitzner’s internationale Monatsschrift 1 (1882), S. 253–261, 269–275 u. 306–322. Lein, Edgar: Ars aeraria. Die Kunst des Bronzegießens und die Bedeutung von Bronze in der florentinischen Renaissance, Mainz 2004. Leiter, Brian: Nietzsche on Morality, London/New York 2002. Leiter, Brian/Sinhababu, Neil (Hg.): Nietzsche and Morality, Oxford/New York 2007. Lemm, Vanessa: What We Can Learn from Plants about the Creation of Values, in: NietzscheStudien 44 (2015), S. 78–87. Lemm, Vanessa: Truth, Embodiment, and Probity (Redlichkeit) in Nietzsche, in: Dries, Manuel (Hg.): Nietzsche on Consciousness and the Embodied Mind, Berlin/Boston 2018, S. 289–307. Leonhard, Jörn: Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914, München 2008. Leonhardt, Rudolf Walter: Friedrich Nietzsche. Menschliches, Allzumenschliches, in: Raffatz, Fritz J. (Hg.): Die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher, Frankfurt am Main 1980, S. 295–298. Lessing, Theodor: Nietzsche [1925], München 1985. Liebsch, Burkhard/Stegmaier, Werner: Orientierung und Ander(s)heit. Spielräume und Grenzen des Unterscheidens, Hamburg 2022. Liebscher, Martin: Wohlwollende Verstellung von Bayreuth bis Sorrent. Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr, in: Brock, Eike/Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020, S. 127–140. Liessmann, Konrad Paul: Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen, Wien 2021. Loeb, Paul S.: Suicide, Meaning, and Redemption, in: Dries, Manuel (Hg.): Nietzsche on Time and History, Berlin/New York 2008, S. 163–190. Loeb, Paul S.: The Priestly Slave Revolt in Morality, in: Nietzsche-Studien 47 (2018), S. 100–139. Loukidelis, Nikolaos: Quellen von Nietzsches Verständnis und Kritik des cartesischen Cogito, ergo sum, in: Nietzsche-Studien 34 (2005), S. 300–309. Love, Frederick R.: Prelude to a Desperate Friendship. Nietzsche and Peter Gast in Basel, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 261–285. Love, Frederick R.: Nietzsche’s Saint Peter. Genesis and Cultivation of an Illusion, Berlin/New York 1981. Löwith, Karl: Nietzsche = ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 6, Stuttgart 1987. Löwith, Karl: Von Hegel bis Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts [1941/50], in: ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 4, Stuttgart 1988, S. 1–490. Lutz, Jakob Leonhard/Stahl, Joshua: „Aber begreiflich ist es und verzeihlich“. Über die frühe Rezeption der nachträglichen Vorreden von 1886, in: Kaufmann, Sebastian/Schwab, Philipp/ Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Philosophien, Berlin/Boston 2024, S. 275–297.
Literaturverzeichnis
1037
Mann, Joel E.: Nietzsche’s Interest and Enthusiasm for the Greek Sophists, in: Nietzsche-Studien 32 (2003), S. 406–428. Mann, Joel E./Lustila, Getty L.: A Model Sophist: Nietzsche on Protagoras and Thucydides, in: Journal of Nietzsche Studies 42 (2011), S. 51–72. Mannheim, Karl: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingeleitet und hg. von Kurt H. Wolf, Berlin/Neuwied 1964. Magnus, Bernd/Higgins, Kathleen M. (Hg.): The Cambridge Companion to Nietzsche, Cambridge 2007. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen [1918], in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 12, Frankfurt am Main 1990, S. 9–592. Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde [1947] = ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 6, Frankfurt am Main 1990. Manser, Katja: Evolutionismus: Basis für das „Zeitalter der Vergleichung“ und die „Möglichkeit des Fortschritts“? Detaillierte Analyse der Aphorismen 23 und 24 in MA 1 mit ethnologischem Hintergrund. Hausarbeit im Interpretationskurs Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Sommersemester 2020. Marchand, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge/New York 2009. Marcio Cid, Ignacio: El cuidado anímico en Nietzsche: Sócrates y Epicuro, in: Enrahonar. An International Journal of Theoretical and Practical Reason 68 (2022), S. 119–144. Marcuse, Ludwig: Die Individualität als Wert und die Philosophie Friedrich Nietzsches, Diss. phil. Berlin 1917. Marcuse, Ludwig: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie [1960], Zürich 1975. Marinucci, Angelo: O uso da física e da matemática em Humano, demasiado humano: interpretação do aforismo 106, in: Estudos Nietzsche 8/2 (2017), S. 61–76. Marsden, Jill: The Wanderer’s Promise: Nietzsche’s Philosophy of the „Nearest Things“, in: Nietzsche-Studien 48 (2019), S. 117–133. Marti, Urs: „Der grosse Pöbel- und Sklavenaufstand“. Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie, Stuttgart 1993. Marton, Scarlett: Nietzsche e a arte de decifrar enigmas. Treze conferêcias europeias, São Paulo 2014. Marton, Scarlett: Nietzsche et la condition des femmes. Une analyse des configurations du féminin dans Humain, trop humain, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 435–464. Marton, Scarlett: Les ambivalences de Nietzsche. Types, images et figures féminines, Paris 2021. Marton, Scarlett: Nietzsche e as mulheres. Figuras, imagens e tipos femininos, Belo Horizonte/São Paulo 2022. Mattenklott, Gert: Der „werdende Europäer“ als Nomade. Völker, Vaterländer und Europa, in: Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur (en)?, Berlin/New York 2008, S. 125–148. Mayer Branco, Maria João: „Wachs in den Ohren“. Nietzsches Deutung der philosophischen Furcht vor der Musik in der Moderne, in: Nietzsche-Studien 45 (2016), S. 132–142. Medrado, Alice: Ciência como continuação da arte em Humano, demasiado humano, in: Cadernos Nietzsche 29 (2011), Nr. 2, S. 293–308, auch unter https://periodicos.unifesp.br/index.php/ cniet/article/view/7758/5299.
1038
Literaturverzeichnis
Meier, Albert: Einheit in der Vielfalt. Bemerkungen zu Goethes ‘Weltliteratur’ und Nietzsches ‘gutem Europäer’ (Replik auf Aldo Venturelli), in: Aurnhammer, Achim/Crescenzi, Luca/ Venturelli, Aldo/Zanucchi, Mario (Hg.): Europa in der deutschen Literatur der Moderne (1880– 1933), Rom 2024, S. 31–37. Meier, Heinrich: Was ist Nietzsches Zarathustra? Eine philosophische Auseinandersetzung, München 2017. Meier, Heinrich: Nietzsches Vermächtnis. Ecce homo und Der Antichrist. Zwei Bücher über Natur und Politik, München 2019. Meléndez, Germán: „L’approfondissement du pessimisme“ comme clé de la formation de la pensée de Nietzsche, in: D’Iorio, Paolo/Ponton, Olivier (Hg.): Nietzsche. Philosophie de l’esprit libre. Études sur la genèse de Choses humaines, trop humaines, Paris 2004, S. 61–78. Meléndez, Germán: Primeros revuelos en la esuela de la sospecha. El ingreso a la obra de Nietzsche desde el prólogo a Humano demasiado humano, in: Instantes y azares. Escrituras nietzscheanas, Año 11 = Nr. 9, Buenos Aires 2011, S. 15–34 (a). Meléndez, Germán: Primeiros sobrevoos pela escola da suspeita. Uma leitura ociosa de Humano, demasiado humano I, Prefácio, § 1, in: Silva Júnior, Ivo da (Hg.): Filosofia e cultura. Festschrift em homenagem a Scarlett Marton, São Paulo 2011, S. 137–164 (b). Meléndez, German: „Vertiefung des Pessimismus“ als Schlüssel zur Entwicklung von Nietzsches Denken, in: Studia Nietzscheana. Nietzsche Source. Paris 2015, Online-Volltext: http:// www.nietzschesource.org/SN/melendez-2015. Mendonça, Adriany Ferreira de: De Humano, demasiado humano à Gaia ciência. Nietzsche e sua declarção de guerra à metafísica, in: Revista trágica 5 (2012), Nr. 1, S. 1–17, auch unter https:// revistas.ufrj.br/index.php/tragica/article/view/25917/13963. Meredith, Thomas R.: Bound Sovereignty. The Origins of Moral Conscience in Nietzsche’s „Sovereign Individual“, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), S. 217–243. Merker, Anne: Nietzsche und die Pest. Thukydides versus Platon, in: Kaufmann, Sebastian/Schwab, Philipp/Sommer, Andreas Urs Sommer: Nietzsches Philosophien, Berlin/Boston 2024, S. 145– 162. Métayer, Guillaume: Leçon esthétique et lacune philosophique. Nietzsche lecteur du Mahomet de Voltaire, in: Revue Voltaire 7 (2007), S. 53–88. Métayer, Guillaume: Nietzsche et Voltaire. De la liberté de l’esprit et de la civilisation. Préface de Marc Fumaroli, Paris 2011. Meyer, Anne-Rose: Homo dolorosus. Körper – Schmerz – Ästhetik, München 2011. Meyer, Matthew H.: Menschliches, Allzumenschliches und der musiktreibende Sokrates, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 10 (2003), S. 129–137. Meyer, Matthew H.: Die drei Verwandlungen der Aufklärung von Menschliches, Allzumenschliches bis zur Fröhlichen Wissenschaft, in: Reschke, Renate (Hg.): Nietzsche: Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle Mainz und der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen vom 15.–17. Mai 2003 in Weimar, Berlin 2004, S. 239–246 (a). Meyer, Matthew H.: Die Einheit der Gegensätze als tragisches Prinzip, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 11 (2004), S. 205–212 (b). Meyer, Matthew: Reading Nietzsche through the Ancients. An Analysis of Becoming, Perspectivism, and the Principle of Non-Contradiction, Berlin/Boston 2014. Meyer, Matthew: Nietzsche’s Free Spirit Works. A Dialectical Reading, Cambridge 2019. Meyer, Richard M.: Nietzsche. Sein Leben und seine Werke, München 1913. Meyer, Theo: Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen/Basel 1991. Meyer, Theo: Nietzsche und die Kunst, Tübingen/Basel 1993.
Literaturverzeichnis
1039
Meyer-Sickendiek, Burkhard: Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann – Keller – Nietzsche, Tübingen/Basel 2001. Meyer-Sickendiek, Burkhard: Mit Stifter gegen Wagner. Nietzsches Ästhetik der Langsamkeit in Menschliches, Allzumenschliches, in: Röhnert, Jan (Hg.): Technische Beschleunigung – ästhetische Verlangsamung? Mobile Inszenierung in Literatur, Film, Musik, Alltag und Politik, Köln/Weimar 2015, S. 275–291. Meysenbug, Malwida von: Stimmungsbilder. 4. Auflage. Berlin/Leipzig 1905. Middell, Eike: Nicht abgegoltene Antithesen. Zur Stellung von Richard Wagners Auseinandersetzung mit Menschliches, Allzumenschliches von Friedrich Nietzsche im Prozeß der Erberezeption, in: Metscher, Thomas/Marzahn, Christian (Hg.): Kulturelles Erbe zwischen Tradition und Avantgarde. Ein Bremer Symposium, Köln/Weimar 1991, S. 353–361. Miller, Alice: Das ungelebte Leben und das Werk eines Lebensphilosophen (Friedrich Nietzsche), in: dies.: Der gemiedene Schlüssel, Frankfurt am Main 1991, S. 9–78. Mills, Philip: La „Sprachkritik“ comme „Kulturkritik“. Une lecture du § 11 de Humain, trop humain, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 313–329. Mirelli, Raffaele: Friedrich Nietzsches renovatio philosophiae. Neue Formen akademischen Denkens?, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 21 (2014), S. 149–167. Mittasch, Alwin: Friedrich Nietzsches Stellung zur Chemie, Berlin 1944. Montinari, Mazzino: Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982. Montinari, Mazzino: Nietzsche – Hillebrand, in: Borghese, Lucia (Hg.): Karl Hillebrand, eretico d’Europa. Atti del seminario (1–2 novembre 1984), Firenze 1986, S. 197–205, auch unter http:// www.nietzschesource.org/SN/montinari-2014,13. Montinari, Mazzino: Nietzsche – Wagner im Sommer 1878, in: Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 13–21. Montinari, Mazzino: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung. Aus dem Italienischen übersetzt von Renate Müller-Buck, Berlin/New York 1991. Moraes Barros, Fernando R. de: „Man vergillt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt“. Ein neuer Blick auf Gasts Verhältnis zu Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 47 (2018), S. 340–363. Morillas, Jordi: Consideraciones acerca de la filosofía experimental de Friedrich Nietzsche. A propósito de la obra Nietzsche und die Folgen de Andreas Urs Sommer, in: Daimon. Revista Internacional de Filosofía 76 (2019), S. 207–214. Morillas-Esteban, Antonio: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweis aus Claude Adrien Helvétius, Discurs über den Geist des Menschen (1760), in: Nietzsche-Studien 40 (2011), S. 300 (a). Morillas-Esteban, Antonio: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweise aus Hermann Hettner, Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts in drei Theilen (1860), in: Nietzsche-Studien 40 (2011), S. 306–308 (b). Morrisson, Iain: Nietzsche’s Genealogy of Morality in the Human, All Too Human Series, in: British Journal for the History of Philosophy 11/4 (2003), S. 657–669. Mortzfeld, Benjamin (Hg.) für das Historische Museum Basel: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019. Müller, Armin Thomas: Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871, in: Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian (Hg.) unter redaktioneller Mitarbeit von Armin Thomas Müller/Milan Wenner: Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetologie – Rezeption, Berlin/Boston 2017, S. 47–77. Müller, Armin Thomas: Vom Leser zum Autor. Nietzsches Adaptionsstrategien am Beispiel seiner Lubbock-Lektüre, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié,
1040
Literaturverzeichnis
Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021, S. 271–285. Müller, Armin Thomas: Der lyrische Nachlass des jungen Nietzsche. Mit einer Edition des Manuskripthefts Mp I 22. Diss. phil. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2022 (a). Müller, Armin Thomas: „Rückkehr zur Natur“. Nietzsches Transposition eines primitivistischen Topos im Ausgang von Rousseau, in: Kaufmann, Sebastian/Winkler, Markus (Hg.): Nietzsche, das ‚Barbarische‘ und die ‚Rasse‘, Berlin/Boston 2022, S. 131–147 (b). Müller, Armin Thomas: Der lyrische Nachlass des jungen Nietzsche. Mit einer Edition des Manuskripthefts Mp I 22, Berlin/Boston 2024. Müller, Enrico: Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin/New York 2005. Müller, Enrico: Nietzsche-Lexikon, Paderborn 2020. Müller, Enrico: „Basler Professor“ oder „Gott“. Zum Briefwechsel zwischen Nietzsche und Burckhardt, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 28 (2021), S. 151– 170 (a). Müller, Enrico: Impersonalität, Sprache und Maske im Denken Nietzsches, in: Lehmann, Robert (Hg.): Philosophische Dimensionen des Impersonalen, Baden-Baden 2021, S. 327–347 (b). Müller, Enrico (Hg.): Nietzsche als Briefschreiber = Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 28 (2021) (c). Müller, Enrico: Überlebenskunst und „Selbstaufhebung der Moral“. Zur Vorrede der Morgenröthe, in: Brock, Eike/Gödde, Günter/Zirfas, Jörg (Hg.): Das Leuchten der Morgenröthe. Friedrich Nietzsche und die Kunst zu leben, Berlin 2022, S. 145–158 (a). Müller, Enrico: Zur Politik des Individuums. Nietzsche im „Zeitalter der Vergleichung“, in: Ruehl, Martin A./Schubert, Corinna (Hg.): Nietzsches Perspektiven des Politischen, Berlin/Boston 2022, S. 53–72 (b). Müller, Gerhard: Platons Dichterkritik und seine Dialogkunst, in: Philosophisches Jahrbuch 82 (1975), S. 285–308. Müller, Jörn: Zwischen Porträt und Karikatur. Das Platon-Bild Friedrich Nietzsches, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 28 (2021), S. 289–310. Müller, Reinhard G.: Perspektivischer Kosmopolitismus: Lessing und Nietzsche, in: Lessing Yearbook/Jahrbuch 45 (2018), S. 133–153. Müller-Buck, Renate: „Immer wieder kommt einer zur Gemeine hinzu“. Nietzsches junger Basler Freund und Schüler Albert Brenner. Mit einem unveröffentlichten Brief Friedrich Nietzsches, in: Borsche, Tilman/Gerratana, Federico/Venturelli, Aldo (Hg.): „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, S. 418– 432. Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971. Müller-Lauter, Wolfgang: Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/ New York 1999 (a). Müller-Lauter, Wolfgang: Über Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen II, Berlin/New York 1999 (b). Mullin, Amy: Nietzsche’s Free Spirit, in: Journal of the History of Philosophy 38 (2000), S. 383–405. Münkler, Herfried: Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch, Berlin 2021. Muriel Martín, Víctor: Nietzsche, ¿un organicista? Sobre la crítica de Nietzsche a la teoría social de Herbert Spencer, in: Daimon Revista Internacional de Filosofia 89 (2023), S. 179–195. Murray, Peter Durno: Nietzsche’s Sorrentino Politics, in: Nietzsche-Studien 53 (2024), S. 155–181. Muschg, Walter: Tragische Literaturgeschichte, München 51983.
Literaturverzeichnis
1041
Naji, Lina: Nietzsches Kritik der Willensfreiheit in Menschliches, Allzumenschliches I. Nietzsches Fabel von der intelligibelen Freiheit vor dem Hintergrund von Schopenhauers Freiheitskonzeption. Hausarbeit im Interpretationskurs Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Sommersemester 2020. Nasser, Eduardo: Nietzsche und die Zeitschrift „Mind“. Der ‚Philosoph des Lebens‘ und die neuen Weichenstellungen der akademischen Philosophie, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 99–127. Navratil, Michael: „Einige Sprossen zurück“. Metaphysikkritik, Perspektivismus und die Gültigkeit der Perspektiven in Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche-Studien 46 (2017), S. 58–81. Nehamas, Alexander: Nietzsche. Life as Literature [1985], 9. Auflage, Cambridge (Mass.)/London 1994. Nehamas, Alexander: On Friendship, New York 2016. Neumeyer, Fritz: Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen, Berlin 2001. Neymeyr, Barbara: Abenteuer-Reisen in „eine tiefere Welt der Einsicht“. Der Psychologe Nietzsche als „Freund der grossen Jagd“, in: Caysa, Volker/Schwarzwald, Konstanze (Hg.): Nietzsche – Macht – Größe. Nietzsche – Philosoph der Größe der Macht oder der Macht der Größe, Berlin/Boston 2012, S. 101–130. Neymeyr, Barbara: Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen. I: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller. II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 1/2, Berlin/Boston 2020 (= NK 1/2) Neymeyr, Barbara: Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen. III: Schopenhauer als Erzieher. IV: Richard Wagner in Bayreuth = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 1/4, Berlin/ Boston 2020 (= NK 1/4). Neymeyr, Barbara/Schmidt, Jochen/Sommer, Andreas Urs: The Nietzsche Commentary of the Heidelberg Academy of Sciences and Humanities. Translated by Lisa Marie Anderson, in: Journal of Nietzsche Studies 42 (2011), S. 100–104. Neymeyr, Barbara/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche als Philosoph der Moderne, Heidelberg 2012. Nicodemo, Nicola: Nietzsches „dichtende Vernunft“, in: Heit, Helmut/Abel, Günter/Brusotti, Marco (Hg.): Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, Berlin/ New York 2012, S. 225–237. Nicodemo, Nicola: Die moralische Aufgabe der „guten Europäer“ und die „zukünftigen Europäer), in: Dietzsch, Steffen/Terne, Claudia (Hg.): Nietzsches Perspektiven. Denken und Dichten in der Moderne, Berlin/Boston 2014, S. 385–406. Nicodemo, Nicola: Erkenntnis und Leben als sinnerzeugender Verklärungsprozess. Über dichtende Vernunft, Kunst und Perspektivismus bei Nietzsche, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 23 (2016), S. 245–270 (a) Nicodemo, Nicola: Nietzsches Loslösung von Wagner und Schopenhauer als Bedingung seiner philosophischen Aufgabe einer Überwindung aller Werte, in: Georg, Jutta/Reschke, Renate (Hg.): Nietzsche und Wagner. Perspektiven ihrer Auseinandersetzung, Berlin/Boston 2016, S. 160–170 (b). Nicodemo, Nicola: Nietzsches Herausforderung an sich selbst und an die Menschheit, Berlin/ Boston 2021. Niehues-Pröbsting, Heinrich: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, München 1979.
1042
Literaturverzeichnis
Niehues-Pröbsting, Heinrich: „Welthistorischer Cynismus“?, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 12 (2005), S. 171–182. Niemeyer, Christian: Nietzsches andere Vernunft. Psychologische Aspekte in Biographie und Werk, Darmstadt 1998. Niemeyer, Christian: „Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen.“ Anmerkungen zu Nietzsches Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches (1878) aus pädagogischer Perspektive, in: Lauermann, Karin/Heimgartner, Arno (Hg.): Soziale Arbeit und Kultur, Klagenfurt 2006, S. 75–96. Niemeyer, Christian (Hg.): Nietzsche-Lexikon, Darmstadt 2009 (= NLex). Niemeyer, Christian: Nietzsche verstehen. Eine Gebrauchsanweisung, Darmstadt 2011 (a). Niemeyer, Christian (Hg.): Nietzsche-Lexikon, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Darmstadt 2011 (b) (= NLex2). Niemeyer, Christian: „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens, Freiburg im Breisgau/München 2019. Niemeyer, Christian: Nietzsches Syphilis – und die der Anderen. Eine Spurensuche, Freiburg im Breisgau/München 2020. Niemeyer, Christian: Nietzsche, New School. Alles, was man von diesem Genie wissen muss, um ob seiner dunklen Seiten nicht zu verzweifeln, Baden-Baden 2023. Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter Leitung von Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens (Hg.): Nietzsche-Wörterbuch, Berlin/New York 2004 ff. (= NWB). [N. N.]: Verschiedenes [zu MA I 70], in: Geschäftsblatt für den oberen Teil des Kantons Bern, Bd. 28, Nr. 94, 23. November 1881, Beilage, S. 34, auch unter www.e-newspaperarchives.ch/ ?a=d&d=GBL18811123-01.2.10.1. Nobis, Heribert Maria: Buch der Natur, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 957–959. [Oehler, Max]: Nietzsches Bibliothek = Vierzehnte Jahresgabe der Freunde des Nietzsche-Archivs, Weimar 1942 (= BN). O’Flaherty, James C./Sellner, Timothy F./Helm, Robert M. (Hg.): Studies in Nietzsche and the Classical Tradition, Chapel Hill, NC 1976. O’Flaherty, James C./Sellner, Timothy F./Helm, Robert M. (Hg.): Studies in Nietzsche and the JudaeoChristian Tradition, Chapel Hill, NC/London 1985. Oliveira, Jelson Roberto de: A religão como má interpretação do sofrimento no Humano, demasiado humano de Nietzsche, in: Dissertatio. Revista de filosofia 19 (2013), Nr. 38, S. 97–120 (a), auch unter http://www2.ufpel.edu.br/isp/dissertatio/revistas/38/5.pdf. Oliveira, Jelson Roberto de: Ascetismo e inocência. A questão da religião no Humano, demasiado humano de Nietzsche, in: Cadernos Nietzsche 33 (2013), S. 215–244 (b), auch unter https:// www.scielo.br/j/cniet/a/qLtjf4YxTPRjGxDy37zmcSh/. Ommeln, Miriam: Perspektiven eines Doppelgehirns – ein wegweisendes Gebot für die Kultur(en), in: Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur (en)?, Berlin/New York 2008, S. 423–431. Oppel, Frances Nesbitt: Nietzsche on Gender. Beyond Man and Woman, Charlottesville/London 2005. Orsucci, Andrea: Beiträge zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 443–479. Orsucci, Andrea: Beiträge zur Quellenforschung. Nachweise aus H. Nissen, E. B. Tylor, K. Boetticher und G. F. Schömann, in: Nietzsche-Studien 24 (1995), S. 358–399. Orsucci, Andrea: Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin/New York 1996.
Literaturverzeichnis
1043
Orsucci, Andrea: Nietzsche, Spengler, Heidegger. Kulturphilosophie und historiographische Forschung, in: Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur (en)?, Berlin/New York 2008, S. 47–60. Osten, Manfred: „Alles veloziferisch“ oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit. Zur Modernität eines Klassikers im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main/Leipzig 2003. Osterkamp, Ernst: Felix Dahn oder Der Professor als Held, München 2019. Ottmann, Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche. 2. verbesserte und erweiterte Auflage, Berlin/New York 1999. Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000 (= NH). Overbeck, Ida: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, in: Bernoulli, Carl Albrecht: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft, Bd. 1, Jena 1908, S. 234–251. Özen, Vasfi O.: Nietzsche’s Compassion, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), S. 244–274. Parkhurst, William A. B.: Does Nietzsche Have a „Nachlass“?, in: Nietzsche-Studien 49 (2020), S. 216–257. Parkhurst, William A. B.: Human, All-Too-Human. Genesis and the Archive, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 28 (2021), S. 219–233. Pearson, James: On Catharsis, Conflict and the Coherence of Nietzsche’s Agonism, in: NietzscheStudien 45 (2016), S. 3–32. Peil, Dietmar: „Im selben Boot“. Variationen über ein metaphorisches Argument, in: Archiv für Kulturgschichte 68 (1986), S. 269–293. Pellarin, Luca: Franz C. Overbeck. Beyond Theology, Within Limits. Diss. phil. Universität Erfurt u. Karl-Franzens-Universität Graz (Cotutelle), Erfurt 2022, auch unter https://unipub.uni-graz.at/ obvugrhs/content/titleinfo/8586597/full.pdf. Perkins, Richard: MA 628. Preliminary Analysis of the Aphorism and its Precursors, in: NietzscheStudien 6 (1977), S. 205–239. Pernet, Martin: Friedrich Nietzsche und das „Fromme Basel“, Basel 2014. Pestalozzi, Karl: Die Bindungen des ‚freien Geistes‘ in Menschliches, Allzumenschliches, in: Studi Germanici 39 (2001), Nr. 1, S. 109–121. Pestalozzi, Karl: „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“. Nietzsche liest Goethe, in: NietzscheStudien 41 (2012), S. 17–42. Pestalozzi, Karl: Rintocchi di campane in F. Nietzsche, G. Keller, F. Overbeck, in: Il ponte. Rivista di politica economia e cultura 69 (2013), Nr. 8/9, S. 119–131, auch in Studia Nietzscheana. Nietzsche Source. Paris 2015, http://www.nietzschesource.org/SN/pestalozzi-2015. Petersdorff, Dirk von: Nietzsche und die romantische Ironie, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 11 (2004), S. 29–43. Petersen, Jens: Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, Berlin/New York 2008. Petrowskaja, Katja: Wenn der Nebel sich senkt, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 44, 5. November 2023, S. 234. Pfeiffer, Thomas: Nietzsche in Nizza, in: Nietzsche-Studien 27 (1998), S. 517–525. Pfeuffer, Silvio: Die „mittleren“ Werke Nietzsches – müssen sie neu entdeckt werden?, in: Nietzsche-Studien, Bd. 41 (2012). Berlin, Boston 2013. S. 436–446. Phillips, Luke: Sublimation and the Übermensch, in: Journal of Nietzsche Studies 46/3 (Autumn 2015), S. 349–366. Piazzesi, Chiara: Die soziale Verinnerlichung von Machtverhältnissen. Über die produktiven Aspekte der Selbstdisziplinierung und der Affektkontrolle bei Nietzsche und Elias, in: Günther, Friederike/Holzer, Angela/Müller, Enrico (Hg.): Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses. Friedrich Nietzsche und Norbert Elias, Berlin/New York 2010, S. 193–216 (a).
1044
Literaturverzeichnis
Piazzesi, Chiara: Liebe und Gerechtigkeit. Eine Ethik der Erkenntnis, in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 352–381 (b). Piazzesi, Chiara: Nietzsche, die Gerechtigkeit und das Recht, in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 652–662 (c). Piazzesi, Chiara: Greed and Love. Genealogy, Dissolution and Therapeutic Effects of a Linguistic Distinction in FW 14, in: Constâncio, João/Mayer Branco, Maria João (Hg.): Nietzsche on Instinct and Language, Berlin/Boston 2011, S. 117–164. Pichler, Axel: Nietzsches Spiel mit dem Paratext. Literarische Techniken der Leserlenkung und -irritation in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches I und die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 19 (2012), S. 307–315. Pichler, Axel: Philosophie als Text. Zur Darstellungsform der Götzen-Dämmerung, Berlin/Boston 2014. Pichler, Axel: Präsumtionen und Praktiken textnaher Forschung. Eine exemplarische Lektüre von JGB 27, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 27 (2020), S. 281–302. Pieniążek, Paweł: Geschichte, Kultur und Lebenskunst in Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 10 (2003), S. 139–148. Pinezi, Gabriel/Weber, José Fernandes: Riso e autocrítica em Nietzsche. Persurso de uma filosofia tragicômica, in: Revista trágica 10 (2017), Nr. 2, S. 86–102, auch unter https://revistas.ufrj.br/ index.php/tragica/article/view/27156/pdf. Planckh, Marcus: Scham als Thema im Denken Friedrich Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 27 (1998), S. 214–237. Podach, Erich F. (Hg.): Der kranke Nietzsche. Briefe seiner Mutter an Franz Overbeck, Wien 1937. Poellner, Peter: Der frühe Nietzsche und die Verklärung der Natur, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 3 (1995), S. 279–291. Politycki, Matthias: Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches, Berlin/New York 1989. Politycki, Matthias/Sommer, Andreas Urs: Haltung finden. Weshalb wir sie brauchen und trotzdem nie haben werden, Stuttgart 2019. Poljakova, Ekaterina: Differente Plausibilitäten. Kant und Nietzsche, Tolstoi und Dostojewski über Vernunft, Moral und Kunst, Berlin/Boston 2013. Ponomareff, Constantin V.: The Spiritual Geography of Modern Writing. Essays on Dehumanization, Human Isolation and Transcendence, Amsterdam 1997. Ponte, Carlos Roger: Notas sobre a arte e o crepúsculo da arte, in: Estudos Nietzsche 7 (2016), Nr. 2, S. 46–59, auch unter https://periodicos.ufes.br/estudosnietzsche/article/view/14289/ 11475. Ponton, Olivier: „L’allègement de la vie“. Genèse d’un titre de Nietzsche, in: Genesis (ManuscritsRecherche-Invention) 22 (2003), S. 69–90. Ponton, Olivier: „Les esprits libres sont les ‚dieux à la vie facile‘“, in: D’Iorio, Paolo/Ponton, Olivier (Hg.): Nietzsche. Philosophie de l’esprit libre. Études sur la genèse de Choses humaines, trop humaines, Paris 2004, S. 167–182. Ponton, Olivier: L’inhumaine humanité des Grecs ou comment surmonter le dégoût de l’homme, in: Noesis 10 (2006): Nietzsche et l’humanisme, Nizza 2006, S. 29–47, auch unter https:// journals.openedition.org/noesis/402. Ponton, Olivier: Nietzsche. Philosophie de la légèreté, Berlin/New York 2007. Ponton, Olivier: „Mitfreude“. O projeto nietzschiano de uma „ética da amizade“ em Humano, demasiado humano, in: Estudos Nietzsche (Curitiba, Paraná) 1 (2010), S. 145–160, OnlineVolltext: http://www2.pucpr.br/reol/index.php/ESTUDOSNIETZSCHE?dd1=4335&dd99=view.
Literaturverzeichnis
1045
Ponton, Olivier: „Mitfreude“. Le projet nietzschéen d’une „éthique de l’amitié“ dans Choses humaines, trop humaines, in: Studia Nietzscheana. Nietzsche Source, Paris 2015, Online-Volltext: http://www.nietzschesource.org/SN/ponton-2015. Porter, James I.: Nietzsche Ludens. Subversions of Literature and Philosophy in the Later Writings, in: Porter, James I. (Hg.): Nietzsche and Literary Studies, Cambridge 2024, S. 142–165. Posani Löwenstein, Manfred: Burckhardt’s Silence and Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), S. 25–46. Posselt, Gerald: Aufklärung als historische und rhetorische Kritik in Nietzsches Zur Genealogie der Moral, in: Reschke, Renate (Hg.): Nietzsche: Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der KantForschungsstelle Mainz und der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen vom 15.–17. Mai 2003 in Weimar, Berlin 2004, S. 279–286. Pourgouris, Marinos C.: Nietzsche contra Lukács. Politics of History and Epic Conceptions, in: Nietzsche-Studien 31 (2002), S. 241–252. Prange, Martine: Nietzsche, Wagner, Europe, Berlin/Boston 2013. Prideaux, Sue: Ich bin Dynamit. Das Leben des Friedrich Nietzsche. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Pfeiffer und Hans-Peter Remmler, Stuttgart 2020. Quérini, Nicolas: De la connaissance de soi au devenir soi. Platon, Pindare et Nietzsche, Paris 2023(a). Quérini, Nicolas: Le sentiment de puissance éprouvé à l’occasion du dépassement de soi, in: Simonin, David (Hg.): Figures de la puissance dans la philosophie de Nietzsche. Préface de Paolo D’Iorio, Paris 2023, S. 81–95 (b). Radkau, Joachim: Malwida von Meysenbug. Revolutionärin, Dichterin, Freundin. Eine Frau im 19. Jahrhundert, München 2022. Rahden, Wolfert von: Eduard von Hartmann ‚und‘ Nietzsche. Zur Strategie der verzögerten Konterkritik Hartmanns an Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 481–502. Rappe, Guido: Nietzsche und der Leib. Aktuelle und historische Perspektiven, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 5/6 (2000), S. 135–150. Ratsch-Heitmann, Rüdiger/Sommer, Andreas Urs: Beiträge zur Quellenforschung. Register zu den Bänden 17–30, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), S. 435–473. Rauh, Raphael Benjamin: Modulationen der Einsamkeit. Theorien der Ausnahme als Moralkritik bei Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche, Freiburg im Breisgau/München 2016. Rayman, Joshua: Nietzsche’s Heraclitus: Historical Figure and Personal-Philosophical Archetype, in: Nietzsche-Studien 52 (2023), S. 40–76. Reckermann, Alfons: Lesarten der Philosophie Nietzsches. Ihre Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt 1960–2000, Berlin/New York 2003. Reginster, Bernard: Nietzsche on Ressentiment and Valuation, in: Philosophy and Phenomenological Research 57 (1997), S. 281–305. Reginster, Bernard: What is a Free Spirit? Nietzsche on Fanaticism, in: Archiv für die Geschichte der Philosophie 85 (2003), Nr. 1, S. 51–85. Reibnitz, Barbara von: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, (Kap. 1–12), Stuttgart/Weimar 1992. Reich, Hauke: Nietzsche-Zeitgenossenlexikon. Verwandte und Vorfahren, Freunde und Feinde, Verehrer und Kritiker von Friedrich Nietzsche, Basel 2004. Reich, Hauke (Hg.): Rezensionen und Reaktionen zu Nietzsches Werken 1872–1889, Berlin/Boston 2013. Remmele, Bernd: Maschine, in: Konersmann, Ralf (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. 3., erweiterte Auflage, Darmstadt 2011, S. 227–240.
1046
Literaturverzeichnis
Renner, Maximilian: Das anarchistische Potenzial des Aphorismus „Religion und Regierung“. Hausarbeit im Interpretationskurs Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Sommersemester 2020. Renzi, Luca: Das Ohr-Motiv als Metapher des Stils und der „Zugänglichkeit“. Eine Lektüre der Aphorismen 246 und 247 von Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, in: Nietzsche-Studien 26 (1997), S. 331–349. Reschke, Renate: Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000. Reschke, Renate: Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil: Friedrich Nietzsche über Religion und Kunst in der Moderne, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 10 (2003), S. 269–286. Reschke, Renate: Aufklärung ohne und mit Dionysos. Friedrich Nietzsches Kritik am aufklärerischen Klassizismus Johann Joachim Winckelmanns, in: Reschke, Renate (Hg.): Nietzsche: Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? Internationale Tagung der NietzscheGesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle Mainz und der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen vom 15.–17. Mai 2003 in Weimar, Berlin 2004, S. 143–153. Reschke, Renate: Es ist notwendig, „um das Ende der Bahn herumzubiegen“ (MenschlichAllzumenschliches, Aph. 20) oder Warum der Philologe Philosoph sein (werden) musste, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 19 (2012), S. 405–409. Reschke, Renate: Zehn Thesen für eine Nietzsche-Lektüre (1999). Eine Relektüre aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts (2014), in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 21 (2014), S. 25–40. Reschke, Renate: Der Journalist, die Presse, der informierte Leser. Nietzsche über Wertegeber, Werte und ihre Vermittlung im Medienzeitalter, in: Nietzsche-Studien 44 (2015), S. 44–53 (a). Reschke, Renate: Wie politische Interessen meinungsgesteuerte Werte werden. Nietzsches Kritik an massenmedialer Wertevermittlung im Kontext zeitgenössischer und aktueller Stimmen, in: Nietzsche-Studien 44 (2015), S. 163–169 (b). Reschke, Renate: Ein Deutsch-Aufsatz und seine Folgen. Was Friedrich Nietzsche an Hölderlin interessierte, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 27 (2020), S. 303– 322 (a). Reschke, Renate: Von Schriftstellern und Künstlerseelen in der modernen Kultur oder Was von der Kunst bleibt. Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller, in: Brock, Eike/ Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020, S. 89–109 (b). Rethy, Robert Aaron: The Descartes Motto to the First Edition of Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 288–297. Rettenwander, Susanne: Friedrich Nietzsche: Dynamit, aber zugleich doch auch Mensch?, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 27 (2020), S. 351–356. Reuter, Sören: Reiz – Bild – unbewusste Anschauung. Nietzsches Auseinandersetzung mit Hermann Helmholtz’ Theorie der unbewussten Schlüsse in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Nietzsche-Studien 33 (2004), S. 351–372. Reuter, Sören: Nietzsche und die Sinnesphysiologie und Erkenntniskritik, in: Heit, Helmut/Heller, Lisa (Hg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin/Boston 2014, S. 79–106. Ricard, Marie-Andrée: De Descartes à l’esprit libre. La question du cheminement philosophique et son but dans Humain, trop humain, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 389–413.
Literaturverzeichnis
1047
Riccardi, Mattia: „Der faule Fleck des Kantischen Kriticismus“. Erscheinung und Ding an sich bei Nietzsche, Basel 2009. Riccardi, Mattia: Nietzsche’s Critique of Kant’s Thing in Itself, in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 333–351. Riccardi, Mattia: Nietzsche’s Philosophical Psychology, Oxford 2021. Richter, Alexandra/Alac, Patrick/Badiou, Bertrand (Hg.): Paul Celan. La Bibliotheque philosophique. Die philosophische Bibliothek. Catalogue raisonné des annotations, Paris 2004. Ries, Wiebrecht: Nietzsches Beiträge zu einer „Phänomenologie der Liebe“, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 3 (1995), S. 221–232. Roch, Eckhard: Antik – modern. Der logische Schematismus in Friedrich Nietzsches Wagner-Kritik, in: Steiert, Thomas (Hg): „Der Fall Wagner“. Ursprünge und Folgen von Nietzsches WagnerKritik, Laaber 1991, S. 49–80. Roethe, Anna L.: Denken an Schnittstellen. Neurophilosophische Kulturmodelle bei Friedrich Nietzsche, in: Friedrich, Orsolya/Aurenque, Diana/Assadi, Galia/Schleidgen, Sebastian (Hg.): Nietzsche, Foucault und die Medizin. Philosophische Impulse für die Medizinethik, Bielefeld 2016, S. 269–291 Roggenbuck, Philipp M. J.: Platon als Sozialist. Eine tiefere Betrachtung des 473. Aphorismus in Menschliches, Allzumenschliches I. Hausarbeit im Interpretationskurs Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Sommersemester 2020. Rose, Dirk: Polemische Moderne. Stationen einer literarischen Kommunikationsform vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Göttingen 2020. Ross, Werner: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart 1989. Rothacker, Erich: Das Buch der Natur. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte. Aus dem Nachlass hg. und bearbeitet von Wilhelm Perpeet, Bonn 1979. Rotter, Hannah Maria: Selbsterhaltung und Wille zur Macht. Nietzsches Spinoza-Rezeption, Berlin/ Boston 2019. Röttges, Heinz: Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung, Berlin/New York 1972. Rottmann, Mike: Verstehendes Entziffern eines ›historisierten‹ Papierarbeiters. Methodische und responsive Reflexionen zur Erschließung, Edition und Kommentierung von Friedrich Nietzsches nachgelassener Bibliothek, in: Jaspers, Anke/Kilcher, Andreas B. (Hg.): Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2020, S. 110–136. Rottmann, Mike: Knoten im Netz der guten Leser. ‚Empfangen‘ und ‚Weitergeben‘ bei Friedrich Nietzsche, Thomas Mann und Karl Löwith, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/ Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021, S. 67–108. Rubik, Margarete: Die Furcht der Kritiker vor der Revolution. Der englische Sensationsroman im Spiegel deutscher Rezensionen in den Blättern für literarische Unterhaltung und im Magazin für die Literatur des Auslandes, in: Bachleitner, Norbert (Hg.): Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Amsterdam 2000, S. 119–136. Ruckenbauer, Hans-Walter: Moralität zwischen Evolution und Normen. Eine Kritik biologistischer Ansätze in der Ethik, Würzburg 2002. Ruehl, Martin: Politeia 1871. Young Nietzsche on the Greek State, in: Bishop, Paul (Hg.): Nietzsche and Antiquity. His Reaction and Response to the Classical Tradition, Rochester, NY 2004, S. 79–97.
1048
Literaturverzeichnis
Ruehl, Martin A.: The Italian Renaissance in the German Historical Imagination, 1860–1930, Cambridge 2015. Ruehl, Martin A./Schubert, Corinna (Hg.): Nietzsches Perspektiven des Politischen, Berlin/Boston 2022. Rupschus, Andreas: Nietzsches Problem mit den Deutschen. Wagners Deutschtum und Nietzsches Philosophie, Berlin/Boston 2013. Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main/New York 2007. Saarinen, Sampsa Andrei: The Death of God and the Moods of the Future. A Study of Friedrich Nietzsche’s Criticism of Religion in the Light of his Communication of Mood, Diss. phil. (Religionswissenschaft), Universität Wien 2017. Saarinen, Sampsa: Nietzsche, Religion, and Mood, Berlin/Boston 2019. Saarinen, Sampsa Andrei: Is Nietzsche’s Ideal Mood Religious?, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 27 (2020), S. 41–53. Safronov, Dmitri: Nietzsche, Plato and Aristotle on Priests and Moneymakers, in: NietzscheStudien 51 (2022), S. 56–87. Salanskis, Emmanuel: Moralistes darwiniens. Les psychologies évolutionnistes de Nietzsche et Paul Rée, in: Nietzsche-Studien 42 (2013), S. 44–66. Salanskis, Emmanuel: Nietzsche, Paris 2015. Salanskis, Emmanuel: La question du progrès dans Humain, trop humain, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 161–178. Salanskis, Emmanuel: Nietzsche, Darwin e a questão do progresso evolutivo, in: Discurso, 48/2 (2018), S. 95–107, auch unter https://doi.org/10.11606/issn.2318-8863.discurso.2018.150910. Salanskis, Emmanuel: „Anti-Darwin“. Le dernier Nietzsche face à la théorie de l’évolution darwinienne, in: Archives de Philosophie 84/1 (2021), S. 133–144. Salanskis, Emmanuel: Un compagnon généalogiste de Nietzsche: Walter Bagehot, in: Nietzsche. Le projet de la Généalogie de la morale. Textes réunis par Emmanuel Salanskis & Anne Merker = Les cahiers philosophiques de Strasbourg 51 (2022), S. 177–203. Salanskis, Emmanuel: Pourquoi une Généalogie de la Morale? Le projet de Nietzsche, ses sources et son horizon, Paris 2023. Salaquarda, Jörg: Nietzsche und Lange. Aneignung und Umwandlung, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 236–253. Salaquarda, Jörg: Friedrich Nietzsche und die Bibel unter besonderer Berücksichtigung von Also sprach Zarathustra, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 7 (2000), S. 323–333. Salerno, Rachele: Les lectures de Nietzsche à Sorrente, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021, S. 49–65. Salerno, Rachele: La liberté de l’esprit entre force et faiblesse, in: Simonin, David (Hg.): Figures de la puissance dans la philosophie de Nietzsche. Préface de Paolo D’Iorio, Paris 2023, S. 49–62. Sales da Ponte, Carlos Roger: Arte e saúde em Nietzsche, in: Revista trágica 10 (2017), Nr. 1, S. 42– 59, auch unter https://revistas.ufrj.br/index.php/tragica/article/view/27123. Salin, Edgar: Jakob Burckhardt und Nietzsche, Basel 1938. Sánchez Méca, Diego: Généalogie et critique de la philologie aux sources de Choses humaines, trop humaines, in: D’Iorio, Paolo/Ponton, Olivier (Hg.): Nietzsche. Philosophie de l’esprit libre. Études sur la genèse de Choses humaines, trop humaines, Paris 2004, S. 79–95.
Literaturverzeichnis
1049
Sánchez Meca, Diego: Moralidad en immoralidad en Humano, demasiado humano, in: Denat, Céline/ Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 41–50. Sánchez, Sergio: „En sueños sobre el lomo de un tigre“, in: Cragnolini, Mónica B. (Hg.): Entre Nietzsche y Derrida. Vida, muerte, sobrevida, Lanús 2013, S. 79–109. Sandvoss, E[rnst]: Sokrates und Nietzsche, Leiden 1966. Santana, Bruno Wagner: Dos prefácios de 1886, in: Revista trágica (Rio de Janeiro) 6 (2013), Nr. 2, S. 85–96. Santini, Carlotta: Gegen eine Theorie der Musik als „Sprache des Gefühles“, in: Georg, Jutta/ Reschke, Renate (Hg.): Nietzsche und Wagner. Perspektiven ihrer Auseinandersetzung, Berlin/ Boston 2016, S. 278–288. Saße, Günter: Auswandern in die Moderne. Tradition und Innovation in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, Berlin/New York 2010. Scandella, Maurizio: Did Nietzsche Read Spinoza? Some Preliminary Notes on the NietzscheSpinoza-Problem, Kuno Fischer and Other Sources, in: Nietzsche-Studien 41 (2012), S. 308–332. Schaberg, William H.: Nietzsches Werke. Eine Publikationsgeschichte und kommentierte Bibliographie. Aus dem Amerikanischen von Michael Leuenberger, Basel 2002. Schacht, Richard: Introduction, in: Nietzsche, Friedrich: Human, All Too Human, translated by R. J. Hollingdale, Cambridge 1996, S. vii–xxiii. Schacht, Richard: Nietzsche: Human, All Too Human, in: Pippin, Robert B. (Hg.): Introductions to Nietzsche, Cambridge/New York 2012, S. 91–111. Schacht, Richard: Nietzsche on Cultur: Menschlich, Allzumenschlich, and Höher. Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Cultur, in: Brock, Eike/Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020, S. 111–125. Schäfer, Eckart: Das Staatsschiff. Zur Präzision eines Topos. In: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung, Frankfurt am Main 1972, S. 259–292. Schank, Gerd: „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, Berlin/New York 2000. Scheibenberger, Sarah: Kommentar zu Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 1/3, Berlin/Boston 2016 (= NK 1/3). Scheier, Claus-Artur: Einleitung, in: Nietzsche, Friedrich: Ecce auctor. Die Vorreden von 1886, hg. und eingeleitet von Claus-Artur Scheier, Hamburg 1990, S. VII–CXXIII. Schellong, Dieter: „Was würde der ernstgemeinte Parsifal sein?“ Zur Verlegenheit mit der Erlösungsoper, in: Steiert, Thomas (Hg): „Der Fall Wagner“. Ursprünge und Folgen von Nietzsches Wagner-Kritik, Laaber 1991, S. 147–232. Scheuer, O[skar] F[ranz]: Friedrich Nietzsche als Student, Bonn 1923. Schlesier, Renate: Eine Ellipse. Wie Nietzsche etwas über die Entstehung eines Kunstwerks sagt, ohne etwas dazu zu sagen, in: Adamowsky, Natascha/Matussek, Peter (Hg.): [Auslassungen]. Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft. Festschrift Hartmut Böhme, Würzburg, 2004, S. 221–230. Schmid, Carlo: Erinnerungen, Bern/München/Wien 1980. Schmidt, Hermann Josef: Nietzsche und Sokrates. Philosophische Untersuchungen zu Nietzsches Sokratesbild, Meisenheim am Glan 1969. Schmidt, Hermann Josef: Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. I. Kindheit, 3 Teilbände, Berlin/Aschaffenburg 1991. Schmidt, Hermann Josef: Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend, 1. Teilband 1858–1861, Berlin/Aschaffenburg 1993.
1050
Literaturverzeichnis
Schmidt, Hermann Josef: Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend. Interniert in der Gelehrtenschule: Pforta, 2. Teilband 1862–1864, Berlin/Aschaffenburg 1994. Schmidt, Jochen: Kommentar zu Nietzsches Geburt der Tragödie = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 1/1, Berlin/Boston 2012 (= NK 1/1). Schmidt, Jochen: Kommentar zu Nietzsches Morgenröthe. Kaufmann, Sebastian: Kommentar zu Nietzsches Idyllen aus Messina = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 3/1, Berlin/ Boston 2015 (= NK 3/1). Schmidt, Rüdiger: Auf der Suche nach dem Humanum. Elemente der frühen Kulturkritik Friedrich Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 129–155. Schmidt, Rüdiger: „Ein Text ohne Ende für den Denkenden“. Zum Verhältnis von Philosophie und Kulturkritik im frühen Werk Friedrich Nietzsches. 2., um vier Studien erweiterte Auflage, Frankfurt am Main 1989. Schmidt-Biggemann: Der Dämon des 19. Jahrhunderts. Anatomie eines überforderten Säkulums, Stuttgart-Bad Cannstatt 2021. Schneider, Ursula: Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche, Berlin/New York 1983. Schoeck, Helmut: Nietzsches Philosophie des „Menschlich-Allzumenschlichen“. Kritische Darstellung der Aphorismen-Welt der mittleren Schaffenszeit als Versuch einer Neuorientierung des Gesamtbildes, Tübingen 1948. Scholz, Danilo: Ein preußischer Schulstaat. Die Landesschule Pforta und ihre Zöglinge, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XV/2 (Sommer 2021), S. 69–94. Scholz, Dieter David: Friedrich Nietzsche, Richard Wagner und der Antisemitismus, in: Bayreuther Festspiele 1994, Bayreuth 1994, S. 120–121. Schrift, Alan D.: Between Perspectivism and Philology. Genealogy as Hermeneutic, in: NietzscheStudien 16 (1987), S. 91–111. Schröder, Winfried: Verteilung der Beweislast, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter†, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 955–958. Schröder, Winfried: Moralischer Nihilismus. Radikale Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche, Stuttgart 2005. Schubert, Corinna: Masken denken – in Masken denken. Figur und Fiktion bei Friedrich Nietzsche, Bielefeld 2021. Schulte, Natalie: Neue Arbeiten zum Selbst bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 46 (2017), S. 344– 357. Schulte, Natalie: Gefährlich Leben – Gefährlich Denken. Eine Untersuchung von Nietzsches Philosophie, Diss. phil. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, 2021. Schulte, Natalie: Gefährlich Leben – Gefährlich Denken. Eine Untersuchung von Nietzsches Philosophie, Berlin 2023. Schuster, Sören E.: Ökonomie im griechischen Staat. Nietzsches Oncken-Lektüre und die Gewinnkonzeption des „allgemeinen Genius“, in: De Gennaro, Ivo/Schäfer, Georg N./Schuster, Sören E. (Hg.): Geld und Gewinn. Zur Erweiterung monetär-ökonomischer Logiken, BadenBaden 2023, S. 229–256. Schütte, Jens-Peter: Nietzsche und das Ende der Musik. Zum Verhältnis von Musik und Religion in Menschliches, Allzumenschliches, in: Barth, Roderich (Hg.): Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. Festschrift für Ulrich Barth, Frankfurt a. M. 2005, S. 315–325. Schütte, Jens-Peter: Zur Genealogie der Musik. Nietzsches antimetaphysische Musikästhetik in Menschliches, Allzumenschliches, in: Musik und kulturelle Identität, Bd. 2, hg. von Detlef Altenburg und Rainer Bayreuther, Kassel 2012, S. 433–440.
Literaturverzeichnis
1051
Schütza, Ole: Nietzsche und Thukydides. Thukydides’ Herleitung des „Allgemein-Menschlichen“ aus dem Besonderen seiner Geschichtsschreibung und deren Rezeption durch Nietzsche, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 11 (2004), S. 223–229. Schwab, Philipp: Die tragische Überwindung des Nihilismus. Nietzsche ‚Philosophie des Tragischen‘ von der Geburt der Tragödie bis zum Spätwerk, in: Hühn, Lore/Schwab, Philipp (Hg.): Die Philosophie des Tragischen. Schopenhauer – Schelling – Nietzsche, Berlin/Boston 2011, S. 575–621. Schwab, Philipp: Critique of ‘The System’ and Experimental Philosophy. Nietzsche and Kierkegaard, in: Hay, Katia/Ribeiro dos Santos, Leonel (Hg.): Nietzsche, German Idealism and Its Critics. International Conference on Nietzsche and German Idealism 2012 Lissabon, Berlin/Boston 2015, S. 223–245. Schwab, Philipp: ‚Rück- und vorsichtig lesen‘: Nietzsches ‚aphoristische‘ Denkform, in: Häfner, Ralph/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Literaturen, Berlin/Boston 2019, S. 49–82. Schweppe, Walter: Der Aphorismus Nietzsches in Menschliches, Allzumenschliches, Band I, in: Filosofia oggi 6 (1983), Nr. 1, S. 21–44. Sedgwick, Peter R.: Nietzsche’s Economy. Modernity, Normativity and Futurity, Houndmills/New York 2007. Seggern, Hans-Gerd von: Allen Tinten-Fischen feind. Metaphern der Melancholie Nietzsches Also sprach Zarathustra, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 9 (2002), S. 263–276. Seggern, Hans-Gerd von: Nietzsche als Leser, in: Nietzsche-Studien 51 (2022), S. 387–393. Serres, Michel: Le parasite, Paris 1980. Sieg, Ulrich: Die Macht des Willens. Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Welt, München 2019. Siemens, Herman W.: Agonal Perspectives on Nietzsche’s Philosophy of Critical Transvaluation, Berlin/Boston 2021. Siemens, Herman W./Roodt, Vasti (Hg.): Nietzsche, Power and Politics. Rethinking Nietzsche’s Legacy for Political Thought, Berlin/New York 2008. Silenzi, Marina: Eine psychophysiologische Lektüre der Vorreden von 1886/87. Genese und Bedeutung von „Krankheit“ und „Gesundheit“ in Nietzsches Spätphilosophie, in: NietzscheStudien 49 (2020), S. 1–28. Silenzi, Marina: „Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden. Der Leib als Entstehungsort der Sprache“, in: Nietzsche-Studien 52 (2023), S. 99–123. Silva, Ivo da: As posições políticas de Nietzsche em Humano, demasiado humano. Um pensador das Luzes?, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 381–388. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1995, S. 116–131. Simonin, David: Le Sentiment de puissance dans la philosophie de Friedrich Nietzsche, Paris 2022. Simonin, David (Hg.): Figures de la puissance dans la philosophie de Nietzsche. Préface de Paolo D’Iorio, Paris 2023. Simonin, David: „Aurore“ de Nietzsche. La performativité de l’illusion, Berlin/Boston 2024. Simson, Wojciech: Beobachtungen zur Typographie in Nietzsches Vorreden von 1886/87, in: Nietzsche-Studien 24 (1995), S. 204–222. Skowron, Michael: Nietzsches weltliche Religiosität und ihre Paradoxien, in: Nietzsche-Studien 31 (2002), S. 1–39. Skowron, Michael: Nietzsches „Anti-Darwinismus“, in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 160–194.
1052
Literaturverzeichnis
Skowron, Michael: Die Moral eines freien Geistes, in: Nietzsche-Studien 44 (2015), S. 200–230. Skowron, Michael: Vom Stundenzeiger des Lebens. Die Symphonie des Lebens und die ewige Wiederkunft des Gleichen, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 24 (2017), S. 377–388. Skowron, Michael: Nietzsche, Weib und Kind, eine „disharmonia praestabilita“? Siebtes Hauptstück. Weib und Kind, in: Brock, Eike/Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020, S. 141–156. Slama, Paul: Nietzsche’s Don Quixote between Zarathustra and Christ. Laughter, Ressentiment, and Transcendental Pain, in: Nietzsche-Studien 51 (2022), S. 218–250. Sloterdijk, Peter: Sphären. Plurale Sphärologie, Bd. 3: Schäume, Frankfurt am Main 2004. Small, Robin: Nietzsche in Context, Aldershot/Burlington 2001. Small, Robin: Nietzsche and Rée. A Star Friendship. Oxford 2005. Smid, Stefan: Recht und Staat als „Maschine“. Zur Bedeutung einer Metapher, in: Der Staat 27/3 (1988), S. 325–350. Smitmans-Vajda, Barbara: Melancholie, Eros, Muße. Das Frauenbild in Nietzsches Philosophie, Würzburg 1999. Sommer, Andreas Urs: Gott als Knecht der Geschichte. Hans Jonas’ „Gottesbegriff nach Auschwitz“. Eine Widerrede, in: Theologische Zeitschrift, hg. von der Theologischen Fakultät der Universität Basel 51 (1995), S. 340–356. Sommer, Andreas Urs: „Wenn die Welt ein Ding ist, das besser nicht wäre, ei so ist ja auch das Denken des Philosophen, das ein Stück dieser Welt bildet, ein Denken, das besser nicht dächte.“ Zur Karriere eines polemischen Argumentes gegen Schopenhauer, in: SchopenhauerJahrbuch 77 (1996), S. 199–210. Sommer, Andreas Urs: Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur „Waffengenossenschaft“ von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Mit einem Anhang unveröffentlichter Texte aus Overbecks „Kirchenlexicon“, Berlin 1997. Sommer, Andreas Urs: Augustinus bei Franz Overbeck. Ein Rekonstruktionsversuch, in: Theologische Zeitschrift, hg. von der Theologischen Fakultät der Universität Basel 54 (1998), S. 125–150 (a). Sommer, Andreas Urs: Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „Hoher Politik“. Friedrich Nietzsche und Paul de Lagarde, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 4 (1998), S. 169–194 (b). Sommer, Andreas Urs: Ex oriente lux? Zur vermeintlichen ‚Ostorientierung‘ in Nietzsches Antichrist, in: Nietzsche-Studien 28 (1999), S. 194–214. Sommer, Andreas Urs: Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000 (a). Sommer, Andreas Urs: Vom Nutzen und Nachteil kritischer Quellenforschung. Einige Überlegungen zum Fall Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 29 (2000), S. 302–316 (b) (auch in: Niemeyer, Christian/Stopinski, Sigmar/Eisold, Caroline/Werner, Sven/Wesenberg, Sandra (Hg.): Friedrich Nietzsche. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2014, S. 146–162). Sommer, Andreas Urs: Weltentsagung, Skepsis und Modernitätskritik. Arthur Schopenhauer und Franz Overbeck, in: Philosophisches Jahrbuch, Bd. 107/1 (2000), S. 192–206 (c). Sommer, Andreas Urs: „Wisset ihr nicht, dass wir über die Engel richten werden?“. Nietzsches antichristlicher Schauprozess, in: Seelmann, Kurt (Hg.): Nietzsche und das Recht = Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 77 (2001), S. 93–106. Sommer, Andreas Urs: Geschichte als Trost. Isaak Iselins Geschichtsphilosophie, Basel 2002 (a). Sommer, Andreas Urs: Geschichte und Praxis bei Gottfried Arnold, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 54 (2002), S. 210–243 (b).
Literaturverzeichnis
1053
Sommer, Andreas Urs: Ursprung und Kultur. Friedrich Nietzsches und Franz Overbecks genealogische Reflexionen, in: Goedert, Georges/Nussbaumer-Benz, Uschi (Hg.): Nietzsche und die Kultur – ein Beitrag zu Europa?, Hildesheim/Zürich/New York 2002, S. 246–262 (c). Sommer, Andreas Urs: On the Genealogy of the Genealogical Method: Overbeck, Nietzsche, and the Search for Origins, in: Gildenhard, Ingo/Ruehl, Martin (Hg.): Out of Arcadia. Classics and Politics in Germany in the Age of Burckhardt, Nietzsche and Wilamowitz = Bulletin of the Institute of Classical Studies, Supplement 79, London 2003, S. 87–103. Sommer, Andreas Urs: Das Ende der antiken Anthropologie als Bewährungsfall kontextualistischer Philosophiegeschichtsschreibung: Julian von Eclanum und Augustin von Hippo, in: Zeitschrift für Religion- und Geistesgeschichte 57 (2005), S. 1–28 (a). Sommer, Andreas Urs: Sieben Thesen zur Geschichtsphilosophie bei Kant und Nietzsche, in: Himmelmann, Beatrix (Hg.): Kant und Nietzsche im Widerstreit. Internationale Konferenz der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Gesellschaft, Naumburg an der Saale, 26.–29. August 2004, Berlin/New York 2005, S. 217–225 (b). Sommer, Andreas Urs: Nihilism and Skepticism in Nietzsche, in: Ansell-Pearson, Keith (Hg.): A Companion to Nietzsche, Oxford/Malden MA 2006, S. 250–269 (a). Sommer, Andreas Urs: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006 (b). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche und die Bibel. Forschungen und Desiderate, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 40 (2008), Heft 1, S. 49–64 (a). Sommer, Andreas Urs: Was heißt und zu welchem Ende schreibt man Philosophiegeschichte?, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 12 (2008), S. 267–293 (b). Sommer, Andreas Urs: Der Kommentar und die Philosophie, in: Bandini, Ditte/Kronauer, Ulrich (Hg.): 100 Jahre Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Früchte vom Baum des Wissens. Eine Festschrift der wissenschaftlichen Mitarbeiter, Heidelberg 2009, S. 115–120. Sommer, Andreas Urs: Das Sterben denken. Zur Möglichkeit einer ars moriendi nach Nietzsche und Elias, in: Günther, Friederike/Holzer, Angela/Müller, Enrico (Hg.): Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses. Friedrich Nietzsche und Norbert Elias, Berlin/New York 2010, S. 159– 174 (a). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche mit und gegen Darwin in den Schriften von 1888, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 17 (2010), S. 31–44 (b). Sommer, Andreas Urs: Religions- und Weltanschauungskonstrukte bei Paul de Lagarde, Friedrich Nietzsche und Karl May, in: Pyta, Wolfram (Hg.): Karl May: Brückenbauer zwischen den Kulturen (= Kultur und Technik, Bd. 17), Berlin 2010, S. 149–167 (c). Sommer, Andreas Urs: Kurze Geistesgeschichte des Idioten, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft IV/2, Sommer 2010, S. 5–19 (d). Sommer, Andreas Urs: Gott – Nihilismus – Skepsis. Aspekte der Religions- und Zeitkritik bei Nietzsche, in: Gentili, Carlo/Nielsen, Cathrin (Hg.): Der Tod Gottes und die Wissenschaft. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches, Berlin/New York 2010, S. 17–29 (e). Sommer, Andreas Urs: Bildungsunbehagen, Zweifel und Freiheit, in: Maaser, Michael/Walther, Gerrit (Hg.): Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure, Stuttgart/ Weimar 2011, S. 344–348 (a). Sommer, Andreas Urs: Friedrich Nietzsche als Basler Philosoph, in: Angehrn, Emil/Rother, Wolfgang (Hg.): Philosophie in Basel. Prominente Denker des 19. und 20. Jahrhunderts, Basel 2011, S. 32–60 (b). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche, das Genie und die Zucht großer Menschen, in: Wellner, Klaus (Hg.): Nietzsche – sein Denken und dessen Entwicklungspotentiale, [Bd. 1], Neu-Isenburg 2011, S. 190–219 (c).
1054
Literaturverzeichnis
Sommer, Andreas Urs: Streiten, in: Konersmann, Ralf (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. 3., erweiterte Auflage, Darmstadt 2011, S. 437–449 (d). Sommer, Andreas Urs: Judentum und Christentum bei Paul de Lagarde und Friedrich Nietzsche, in: Roderich Barth/Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener (Hg.): Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 = Schleiermacher-Archiv, Bd. 24, Berlin/Boston 2012, S. 549–560 (a) Sommer, Andreas Urs: Nietzsche’s Readings on Spinoza. A Contextualist Study, Particularly on the Reception of Kuno Fischer, in: Journal of Nietzsche Studies 43/2 (2012), S. 156–184 (b). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche katalytisch. Philosophische Nietzsche-Lektüren im 20. Jahrhundert, in: Brusotti, Marco/Reschke, Renate (Hg.): „Einige werden posthum geboren“. Friedrich Nietzsches Wirkungen, Berlin/Boston 2012, S. 21–50 (c). Sommer, Andreas Urs: Friedrich Nietzsche [als Kulturphilosoph], in: Konersmann, Ralf (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart/Weimar 2012, S. 93–100 (d). Sommer, Andreas Urs: Inwiefern ist Ernährung ein philosophisches Problem? Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche als Relativierungsdenker, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch, Bd. 38 (2012), S. 319–342 (e). Sommer, Andreas Urs: Kommentar zu Nietzsches Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 6/1, Berlin/Boston 2012 (f) (zitiert NK 6/1). Sommer, Andreas Urs: Lexikon der imaginären philosophischen Werke, Berlin 2012 (h). Sommer, Andreas Urs: Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 6/2, Berlin/Boston 2013 (a) (zitiert NK 6/2). Sommer, Andreas Urs: Vergessen-Dürfen und Erinnern-Wollen. Über unser Verhältnis zur kulturellen Vergangenheit, in: Mierke, Gesine/Fasbender, Christoph (Hg.): Wissenspaläste. Räume des Wissens in der Vormoderne, Würzburg 2013, S. 238–254 (b). Sommer, Andreas Urs: Philosophie als Wagnis. Festrede aus Anlass der Verleihung des FriedrichNietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 13. Oktober 2013, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 20 (2013), S. 19–27 (c). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche, Friedrich, in: The Oxford Guide to the Historical Reception of Augustine. Edited by Karla Pollmann in collaboration with Willemien Otten and others, Bd. 3, Oxford 2013, S. 1450–1452 (d). Sommer, Andreas Urs: Religionsverzicht. Ein Memorandum, in: Information Philosophie, Jg. 41, Heft 2, Juni 2013, S. 8–14 (e). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche und die Religionswissenschaft, in: Heit, Helmut/Heller, Lisa (Hg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin/Boston 2014, S. 290–304 (a). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche, Wagner und die Dekadenz, in: Drehmel, Jan/Jaspers, Kristina/ Vogt, Steffen (Hg.): Richard Wagner und das Kino der Dekadenz, Wien/Berlin 2014, S. 10– 19 (b). Sommer, Andreas Urs: „Gebildetheit“ als kulturkritischer Kampfbegriff. Nietzsche liest Wagner (à rebours), in: Dietzsch, Steffen/Terne, Claudia (Hg.): Nietzsches Perspektiven. Denken und Dichten in der Moderne, Berlin/Boston 2014, S. 219–237 (c). Sommer, Andreas Urs: Philosophen und philosophische Arbeiter. Das sechste Hauptstück: „wir Gelehrten“, in: Born, Marcus Andreas (Hg.): Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Berlin/Boston 2014, S. 131–145 (d).
Literaturverzeichnis
1055
Sommer, Andreas Urs: Restgibbonianismus. Nietzsche und Gibbon, in: Berghahn, Cord-Friedrich/ Kinzel, Till (Hg.): Edward Gibbon im deutschen Sprachraum. Bausteine einer Rezeptionsgeschichte, Heidelberg 2015, S. 359–380 (a). Sommer, Andreas Urs: The History of Philosophy as Counter-History: Strategies of PhilosophicoHistoriographical Dissidence, in: Hartung, Gerald/Pluder, Valentin (Hg.): From Hegel to Windelband. Historiography of Philosophy in the 19th Century, Berlin/Boston 2015, S. 159– 179 (b). Sommer, Andreas Urs: Von der Dringlichkeit eines neuen Historismus. Philosophiegeschichte als Provokation, in: Langthaler, Rudolf/Hofer, Michael (Hg.): Geschichtsphilosophie. Stellenwerte und Aufgaben in der Gegenwart. Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. XLVI/2014, Wien 2015, S. 107–120 (c). Sommer, Andreas Urs: Nietzsches Abbrucharchitekturen, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 22 (2015), S. 17–28 (d). Sommer, Andreas Urs: Is There a Free Spirit in Nietzsche’s Late Writings?, in: Bamford, Rebecca (Hg.): Nietzsche’s Free Spirit Philosophy, London/New York 2015, S. 253–265 (e). Sommer, Andreas Urs: Symposion und Smalltalk, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft IX/4, Winter 2015: Die Party, S. 12–19 (f). Sommer, Andreas Urs: Der Mensch, das Tier und die Geschichte. Zur anthropologischen Desillusionierung im 19. Jahrhunderts, in: Müller, Oliver/Maio, Giovanni (Hg.): Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015, S. 92–109 (g). Sommer, Andreas Urs: Die Kunst des Pathologisierens. Nietzsche – Wagner – Sokrates – Jesus – Nietzsche, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Nietzsche. Les textes sur Wagner (Collection „Langage et pensée“ 7), Reims 2015, S. 135–161 (h). Sommer, Andreas Urs: Kommentar zu Nietzsches Jenseits von Gut und Böse = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 5/1, Berlin/Boston 2016 (a) (zitiert NK 5/1). Sommer, Andreas Urs: Wie man mit dem Holzhammer philosophiert. Die Gespenster des neuen Realismus: Maurizio Ferraris glaubt, mit Nietzsche ein Hühnchen rupfen zu müssen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. September 2016, Nr. 214, S. 10 (b). Sommer, Andreas Urs: Philosophisches Leben als Schelmenroman. Thomas Ziegler und Friedrich Nietzsche, in: Die F. N.-Schlaufe. Ernstes und Heiteres aus dem Leben des fabelhaften Friedrich Nietzsche. Ein Bilderbuch von Thomas Ziegler. Mit einem Vorwort von Andreas Urs Sommer, Naumburg 2016, S. [VII–IX] (c). Sommer, Andreas Urs: „Moral als Vampyrismus“. Leben und Blutsaugen bei Friedrich Nietzsche, in: Breyer, Thiemo/Müller, Oliver (Hg.): Funktionen des Lebendigen, Berlin/Boston 2016, S. 193– 213 (d). Sommer, Andreas Urs: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart 2016 (e). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche als Drehscheibe in ‚die‘ Moderne? Heideggers Nietzsche in den Schwarzen Heften und die Rolle des Philosophen, in: Gander, Hans-Helmuth/Striet, Magnus (Hg.): Heideggers Weg in die Moderne. Eine Verortung der „Schwarzen Hefte“, Frankfurt am Main 2017, S. 71–94 (a). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche und die Folgen, Stuttgart 2017 (b). Sommer, Andreas Urs: Nietzsches Luther. Zum umwerterischen Umgang mit Erich Schmidt, Friedrich von Hellwald, Jacob Burckhardt, Johannes Janssen und Hippolyte Taine als Quellen zur Geschichte der frühen Neuzeit, in: Faber, Richard/Puschner, Uwe (Hg.): Luther zeitgenössisch, historisch, kontrovers, Frankfurt am Main/Bern/Bruxelles 2017, S. 591–604 (c).
1056
Literaturverzeichnis
Sommer, Andreas Urs: Menschenrechte gebrauchen. Zur philosophischen Relevanz ihrer Historizität, in: Seelmann, Kurt (Hg.): Menschenrechte. Begründung – Universalisierbarkeit – Genese = Colloquia Raurica, Bd. 15, Berlin/Boston 2017, S. 126–141 (d). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche, kulturphilosophisch, in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 218, Dezember 2017, S. 49–59 (e). Sommer, Andreas Urs: Wo geht’s hier zum Abgrund? Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Wir leben in der besten aller möglichen Kulturwelten, in: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 238, 19. Juli 2017, S. 33 (f). Sommer, Andreas Urs: Friedrich Nietzsche, in: Machuca, Diego E./Reed, Baron (Hg.): Skepticism from Antiquity to the Present, London/Oxford/New York/New Delhi/Sidney 2018, S. 442– 453 (a). Sommer, Andreas Urs: Was bleibt von Nietzsches Philosophie?, Berlin 2018 (b). Sommer, Andreas Urs: O que Nietzsche leu e o que não leu [übersetzt von Saulo Krieger], in: Cadernos Nietzsche 40 (2019), Heft 1, S. 9–43 (a). Sommer, Andreas Urs: What Nietzsche Did and Did Not Read, in: Stern, Tom (Hg.): The New Cambridge Companion to Nietzsche, Cambridge 2019, S. 25–48 (b). Sommer, Andreas Urs: Kommentar zu Nietzsches Zur Genealogie der Moral = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 5/2, Berlin/Boston 2019 (c) (zitiert NK 5/2). Sommer, Andreas Urs: Genie (Nietzsche), in: Compendium heroicum, hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 09. 09. 2019, DOI: 10.6094/heroicum/gd1. 0. 20190909 (d). Sommer, Andreas Urs: Textisten und Inhaltisten – oder: Was bleibt von Nietzsches Philosophie?, in: Häfner, Ralph/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Literaturen, Berlin/ Boston 2019, S. 103–112 (e). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche und die Folgen. 2., erweiterte Auflage, Stuttgart 2019 (f). Sommer, Andreas Urs: Freiheitstänze mit Ketten und Schwertern? Eine metaphorologische Disgression zu Nietzsche, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 26 (2019), S. 145–154 (g). Sommer, Andreas Urs: An Nietzsche wachsen. Eine Einleitung, in: Mortzfeld, Benjamin (Hg.) für das Historische Museum Basel: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019, S. 6–7 (h). Sommer, Andreas Urs: Wie kommt die Idee zum Philosophen? Kleine Universalgeschichte der Inspiration, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft XIII/4, Winter 2019: Unverhoffte Begegnungen, S. 126–131 (i). Sommer, Andreas Urs: Friedrich Nietzsche liest Sigmund Freud. John Stuart Mill und Harriet Taylor Mill als Selbstmodellierungsgehilfen, in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 39: Nietzsche, hg. von Dominic Angeloch, Joachim Küchenhoff und Joachim Pfeiffer, Würzburg 2020, S. 267–297 (a). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche in Erz. Philosophie und Leben im Medium der Medaille. Mit einem Katalog der Nietzsche-Prägungen bis 1945, in: Lorenz, Ulrike/Valk, Thorsten (Hg.): Kult – Kunst – Kapital. Das Nietzsche-Archiv und die Moderne um 1900. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2020, Göttingen 2020, S. 297–324 (b). Sommer, Andreas Urs: „Grosse Geister sind Skeptiker“. Friedrich Nietzsche als Lehrer des Zweifels, in: der blaue reiter. Journal für Philosophie, Nr. 45, April 2020: Der Kunst des Zweifelns, S. 6–9 (c).
Literaturverzeichnis
1057
Sommer, Andreas Urs: Nietzsche als Pathologe und Therapeut in Jenseits von Gut und Böse, in: Wienand, Isabelle/Wotling, Patrick (Hg.) unter Mitarbeit von Florian Häubi und Philip Mills: Die Frage der Medizin in Nietzsches Philosophie / La question de la médecine dans la philosophie de Nietzsche. IX. Internationale GIRN-Tagung / IXe Congrès International du GIRN, Basel 2020, S. 91–108 (d). Sommer, Andreas Urs: Erschließer erdichteter Kontinente. Zum Tod des Germanisten, Gedankenhistorikers und Genieforschers Jochen Schmidt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Mai 2020, Nr. 123, S. 12 (e). Sommer, Andreas Urs: Die Sprache, die Politik, das Netz. Wider das wohlfeile Kulturverfallsgeschwätz, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 14 (2020), Heft 1: Entfesselte Sprache?, S. 27–37 (f). Sommer, Andreas Urs: „Grösse heisst: Richtung-geben.“ Ein Vorwort, in: D’Iorio, Paolo: Friedrich Nietzsche in Sorrent. Aus dem Französischen von Renate Müller-Buck und mit einem Vorwort von Andreas Urs Sommer, Stuttgart 2020, S. VII–IX (g). Sommer, Andreas Urs: Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist. Sue Prideaux macht Nietzsche filmreif, und Heinrich Meier beugt sich über das letzte Schaffensjahr des Philosophen, um ihn als Neuerfinder einer Lebensform zu erweisen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Juni 2020, Nr. 149, S. 10 (h). Sommer, Andreas Urs: Wissenschaft und Askese beim späten Nietzsche. Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung, Abschnitte 23 bis 28, in: Ipseitas, São Carlos (Brasilien), Bd. 6, Nr. 1 (Januar–Juni 2020), S. 21–30, auch unter http://www.revistaipseitas.ufscar.br/index.php/ ipseitas/article/view/372 (i). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche, Spinoza e la teleologia [übersetzt von Giovanni Cerro], in: Altini, Carlo (Hg.): La fortuna di Spinoza in età moderna e contemporanea, Bd. 2: Tra Ottocento e Novecento, Pisa 2020, S. 135–154 (j). Sommer, Andreas Urs: 1883. Nietzsches Also sprach Zarathustra I erscheint – Der Staat als Gott oder als Ungeheuer?, in: Fahrmeir, Andreas (Hg.): Deutschland. Globalgeschichte einer Nation, München 2020, S. 410–414 (k). Sommer, Andreas Urs: 尼采对达尔文的认同与敌对 [Nietzsche’s Approval and Disapproval for Darwin, übersetzt von HAN Wangwei], in: 清华西方哲学研究 [Tsinghua Studies in Western Philosophy] 6/1 (Sommer 2020), S. 140–159 (l). Sommer, Andreas Urs: „Herr werden“ – Nietzsches philosophische Lebensformen, in: Offener Horizont. Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft 6 (2019/20), hg. von Matthias Bormuth, Göttingen 2020, S. 178–195 (m). Sommer, Andreas Urs: Sich entziehen können. Zum Tod des Nietzsche-Preisträgers Ludger Lütkehaus, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 27 (2020), S. 23–24 (n). Sommer, Andreas Urs: Franz Overbeck. ¿Sobre la teoría y práctica de un humanismo antifundamentalista y anti-cristiano?, in: Cuestiones de Filosofía, Bd. 6, Nr. 27 (Juli–Dezember 2020), S. 17–33 (o) (auch unter doi: 10.19053/01235095.v6.n27.2020.11653). Sommer, Andreas Urs: Atheismus mit und nach Nietzsche, in: Smiljanić, Damir (Hg.): Gotteshinterfragungen. Philosophische Beiträge zur Religionskritik, Aschaffenburg 2020, S. 149–162 (p). Sommer, Andreas Urs: Afterword, in: Nietzsche, Friedrich: The Complete Works of Friedrich Nietzsche, hg. von Alan D. Schrift, Duncan Large and Adrian Del Caro, Bd. 9: The Case of Wagner / Twilight of the Idols / The Antichrist / Ecce Homo / Dionysos Dithyrambs / Nietzsche Contra Wagner. Translated by Adrian Del Caro, Carol Diethe, Duncan Large, George H. Leiner, Paul S. Loeb, Alan D. Schrift, David F. Tinsley, and Mirko Wittwar, Stanford, CA, 2021, S. 661–715 (a).
1058
Literaturverzeichnis
Sommer, Andreas Urs: Ran an die existenziellen Fragen nach Leid und Lust. Bloß keine Eindeutigkeiten: Konrad Paul Liessmann denkt mit Nietzsche über die Gegenwart und das Leben nach, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Juni 2021, Nr. 141, S. 12 (b). Sommer, Andreas Urs: Mens habitat molem. John Locke, uneasiness und Denkerheldentum im Medium der Medaille, in: Mähl, Nikolai (Hg.): Was Bilder zu denken geben. Kulturphilosophische Essays. Zu Ehren von Ralf Konersmann = Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 22, Hamburg 2021, S. 252–260 (c). Sommer, Andreas Urs: Jochen Schmidt (14. 12. 1938–18. 5. 2020), in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Jahrbuch 2020, Heidelberg 2021, S. 134–137 (d). Sommer, Andreas Urs: Religion als Opium des Volkes. Als Halluzinogen oder als Narkotikum?, in: Kempter, Gerhard (Hg.): Zeitlupe. Eine Sammlung, Band XVIII – 2020: R. Freiburg im Breisgau 2021, S. 45 Gerhard 46 (e). Sommer, Andreas Urs: Was Nietzsche las und nicht las, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021, S. 7–28 (f). Sommer, Andreas Urs: Das Loch über der Wappenkrone. Umwertungsgeschichten einer Silbermünze aus dem Ancien Régime, in: Falschmünzer, hg. von Martin Mulsow, Wolfert von Rahden und Andreas Urs Sommer = Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft XV/4, Winter 2021, München 2021, S. 85–92 (g). Sommer, Andreas Urs: Nietzsches kulturschöpferische Barbaren: Beobachtungen zu blonden und anderen Bestien in Genealogie der Moral I 11, nebst einer unwissenschaftlichen Nachschrift, in: Kaufmann, Sebastian/Winkler, Markus (Hg.): Nietzsche, das ‚Barbarische‘ und die ‚Rasse‘, Berlin/Boston 2022, S. 163–179 (a). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche und die Selbstbestimmung, in: Philosophie Magazin, Nr. 2/2022, S. 68–73 (b). Sommer, Andreas Urs: Politischer Fiktionalismus. Zur direkten Zukunft der Demokratie, in: Liessmann, Konrad Paul (Hg.): Als ob! Die Kraft der Fiktion, Wien 2022, S. 108–122 (c). Sommer, Andreas Urs: Nietzsche und die Bergpredigt, in: Junginger, Horst/Faber, Richard (Hg.): Religions- und kulturhistorische Religionskritik. Von europäischem Christentum über arabischen Islam und chinesischen Konfuzianismus bis zu weltweitem Buddhismus = Religionskritik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, Würzburg 2022, S. 169–189 (d). Sommer, Andreas Urs: ¿El Estado como Dios o como monstruo? El Zaratustra de Nietzsche, presupuestos, entorno, consecuencias, in: Enrahonar. An International Journal of Theoretical and Practical Reason 68 (2022), S. 241–247 (e). Sommer, Andreas Urs: Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert. Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört, Freiburg im Breisgau 2022 (f). Sommer, Andreas Urs: Erlesene Lauerräume. Nietzsches Ligurien, in: Zeitschrift für Ideengeschichte Heft XVI/2, Sommer 2022: Der ligurische Komplex, S. 59–64 (g). Sommer, Andreas Urs: Une vue d’ensemble sur la Généalogie de la morale [übersetzt von Emmanuel Salanskis], in: Nietzsche. Le projet de la Généalogie de la morale. Textes réunis par Emmanuel Salanskis & Anne Merker = Les cahiers philosophiques de Strasbourg 51 (2022), S. 49–83 (h). Sommer, Andreas Urs: Gott geht uns nichts an, in: Herder Korrespondenz Spezial: G*tt. Mehr als eine Frage, Freiburg im Breisgau 2022, S. 40–41 (i). Sommer, Andreas Urs: Der Philosoph als Außenseiter und als Selbstbefreiungsheld. Der Fall Nietzsche(s), in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 16/2 (2022), S. 25–35 (j). Sommer, Andreas Urs: Von der Existenzphilosophie zur lebensweltgesättigten Experimentalphilosophie. [Laudatio auf Volker Gerhardt], in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Jahrbuch 2022, Heidelberg 2023, S. 151–158 (a).
Literaturverzeichnis
1059
Sommer, Andreas Urs: Kultur und Möglichkeiten. Kulturphilosophie heute, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Bd. 17 (2023), Heft 1, S. 103–111 (b). Sommer, Andreas Urs: Note 2 [Schreibdenker im erzernen Bild], in: Giuriato, Davide/Morgenroth, Claas/Zanetti, Sandro (Hg.): Noten zum „Schreiben“. Für Martin Stingelin zum 60. Geburtstag, Paderborn 2023, S. 11–18 (c). Sommer, Andreas Urs: Entscheide dich! Der Krieg und die Demokratie, Freiburg im Breisgau 2023 (d). Sommer, Andreas Urs: Philosophisches Erzählen? Narrative Kommunikationsformen in Philosophiegeschichte, Geschichtsphilosophie und philosophischer Skepsis, in: Barbagallo, Ettore/Gerhartz, Ingo Werner/Thiemer, Nicole (Hg.): Erzählhorizonte. Inter- und transdisziplinäre Herausforderungen einer narrativen Ethik, Berlin 2024, S. 101–117. Sonderegger, Stefan: Friedrich Nietzsche und die Sprache. Eine sprachwissenschaftliche Skizze, in: Nietzsche-Studien 2 (1973), S. 1–30. Sooväli, Jaanus: From Responsibility to Great Responsibility of Innocence. Nietzsche, Sartre, and Existentialism, in: Betschart, Alfred/Sommer, Andreas Urs/Stephan, Paul (Hg.): Nietzsche und der französische Existenzialismus, Berlin/Boston 2022, S. 191–202. Söring, Jürgen: Nietzsches Empedokles-Plan, in: Nietzsche-Studien 19 (1990) S. 176–211. Souladié, Yannick: Der „logische Christ“ und der „unmögliche Mönch“, in: Heit, Helmut/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche und die Reformation, Berlin/Boston 2020, S. 103–116. Spiekermann, Klaus: Naturwissenschaft als subjektlose Macht? Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte, Berlin/New York 1992. Stack, George J.: Lange and Nietzsche, Berlin/New York 1983. Stauber, Carla: „Der Mensch mit sich allein“ – eine Absurdität? Untersuchung des neunten Hauptstücks von Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches in Bezug zu dessen Titel. Hausarbeit im Interpretationskurs Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Sommersemester 2020. Stegmaier, Werner: Glück bei Nietzsche. Abenteuer des Erkennens, in: Thomä, Dieter/Henning, Christoph/Mitscherlich-Schönherr, Olivia (Hg.): Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2011, S. 210–214. Stegmaier, Werner: Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, Berlin/Boston 2012. Stegmaier, Werner: Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche, Berlin/Boston 2016. Stegmaier, Werner: Nietzsches Religionsprojekt. Seine Kritik, Analyse und Funktionalisierung der Religion, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 27 (2020), S. 55–74 (a). Stegmaier, Werner: Politik für Europa. Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat, in: Brock, Eike/ Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020, S. 157–183 (b). Stegmaier, Werner: Formen philosophischer Schriften zur Einführung, Hamburg 2021 (a). Stegmaier, Werner: Die „Magie des Extrems“ in philosophischen Neuorientierungen. Nietzsches neue extreme Problemstellungen und -lösungen und das alte Beispiel des Sokrates, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), S. 1–24 (b). Stegmaier, Werner: Nietzsche an der Arbeit. Das Gewicht seiner nachgelassenen Aufzeichnungen für sein Philosophieren, Berlin/Boston 2022. Stegmaier, Werner: Nietzsche im Orientierungsprozess. Methoden zur Erschließung des Gewichts seiner nachgelassenen Aufzeichnungen für sein Philosophieren, in: Beßlich, Barbara/D’Iorio, Paolo/Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian/Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsches Nachlass. Probleme und Perspektiven der Edition und Kommentierung, Berlin/Boston 2023, S. 205–266.
1060
Literaturverzeichnis
Steinbeiß, Simon Martin: Friedrich Nietzsche und die frühe Religionswissenschaft. Diplomarbeit Universität Wien 2009, auch unter https://core.ac.uk/download/pdf/11587442.pdf. Steiner, Vincent: Eine Deutung zur Kunst in „Menschliches, Allzumenschliches I“. Hausarbeit im Interpretationskurs Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Sommersemester 2020. Stekeler-Weithofer, Pirmin: Nietzsches ontologiekritische Sprachpragmatik, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 7 (2000), S. 111–125. Stellino, Paolo: Nietzsche on Suicide, in: Nietzsche-Studien 42 (2013), S. 151–177. Stellino, Paolo: „Un Argus aux cent yeux“. Connaissance de soi et généalogie dans Humain, trop humain, in: Denat, Céline/Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 415–433. Stellino, Paolo: Philosophical Perspectives on Suicide. Kant, Schopenhauer, Nietzsche, and Wittgenstein, Cham 2020. Stellino, Paolo: François de La Rochefoucauld, in: Arenas-Dolz, Francisco/Caramelli, Eleanora/ Cattaneo, Francesco/Garelli, Gianluca (Hg.): Nietzsche’s Philosophers. A Handbook, Berlin/ Boston 2024 (in Vorbereitung). Stephan, Paul: Anarchist, Antisemit, Aufklärer? Vier Beiträge zum Verhältnis von Nietzsches Philosophie und Politik, in: Nietzsche-Studien 48 (2019), S. 296–311 (a). Stephan, Paul: Die Linke neu leben. Thesen für einen linken Nietzsche heute, Berlin 2019 (b). Stephan, Paul: Links-Nietzscheanismus. Eine Einführung, Bd. 1: Nietzsche selbst, Bd. 2: Aneignungen Nietzsches, Stuttgart 2020 (a). Stephan, Paul: Bedeutende Bärte. Eine Philosophie der Gesichtsbehaarung, Berlin 2020 (b). Stern, Tom: „Some Third Thing“. Nietzsche’s Words and the Principle of Charity, in: Journal of Nietzsche Studies 47 (2016), Nr. 2, S. 287–302. Stern, Tom: Must We Choose between Real Nietzsche and Good Philosophy? A Streitschrift, in: Journal of Nietzsche Studies 49 (2018), Nr. 2, S. 277–283. Stern, Tom (Hg.): The New Cambridge Companion to Nietzsche, Cambridge 2019. Stern, Thomas [= Tom]: Nietzsche’s Ethics, Cambridge/New York 2020. Stierle, Karlheinz: Friedrich Nietzsche und die klassische Moralistik in Frankreich, in: SchmitzEmans, Monika/Schmitt, Claudia/Winterhalter, Christian: (Hg.): Komparatistik als Humanwissenschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Schmeling, Würzburg 2008, S. 85–91. Stingelin, Martin: „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“. Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie), München 1996. Stollberg-Rilinger, Barbara: Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986. Strobel, Eva: Das „Pathos der Distanz“. Nietzsches Entscheidung für den Aphorismenstil, Würzburg 1998. Tandyanto, Yulius: Reinterpreting Nietzsche. An Introduction to the Textists’ Approach, in: Jurnal Filsafat 33 (2023), Nr. 1, S. 154–177. Tauber, Christine: „Uomo universale“ oder „Uomo virtuoso“? Zum Menschenbild der Renaissance, in: Ansorge, Dirk/Geuenich, Dieter/Loth, Wilfried (Hg.): Wegmarken europäischer Zivilisation, Göttingen 2001, S. 178–203. Taylor, Charles: A Secular Age, Cambridge/London 32018. Thatcher, David S.: Nietzsche and Byron, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 130–151. Thatcher, David S.: Nietzsche’s Debt to Lubbock, in: Journal of the History of Ideas 44 (1983), Nr. 2, S. 293–309.
Literaturverzeichnis
1061
Theißen, Gerd: Friedrich Nietzsche (1844–1900). Revolution der Kultur, in: ders.: Religionskritik als Religionsdiskurs, Stuttgart 2020, S. 27–34. Theißen, Gerd: Urchristliches Ethos – ein „Sklavenaufstand in der Moral“? Überlegungen zur Analyse des Urchristentums bei F. Nietzsche, in: Eisen, Ute E./Mader, Heidrun Elisabeth (Hg.): Talking God in Society. Multidisciplinary (Re)constructions of Ancient (Con)texts. Festschrift for Peter Lampe, Bd. 1: Theories and Applications Talking God in Society, Göttingen 2021, S. 175– 192. Thomä, Dieter: Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016. Thönges, Bernd: Das Genie des Herzens. Über das Verhältnis von aphoristischem Stil und dionysischer Philosophie in Nietzsches Werken, Stuttgart 1993. Thüring, Hubert: Beiträge zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 480–489. Tietz, Udo: Aufstieg, Größe und Fall. Überlegungen über den historischen Fortschritt im Anschluss an Nietzsche, in: Caysa, Volker/Schwarzwald, Konstanze (Hg.): Nietzsche – Macht – Größe. Nietzsche – Philosoph der Größe der Macht oder der Macht der Größe, Berlin/Boston 2012, S. 319–353. Toledo, Ricardo Oliveira: As leituras de Nietzsche sobre Comte, in: Estudos Nietzsche 7 (2016), Nr. 2, S. 102–119, auch unter https://periodicos.ufes.br/estudosnietzsche/article/view/14426/11476. Tongeren, Paul van: Esprit libre et démocratie, in: D’Iorio, Paolo/Ponton, Olivier (Hg.): Nietzsche. Philosophie de l’esprit libre. Études sur la genèse de Choses humaines, trop humaines, Paris 2004, S. 153–166. Tongeren, Paul van: Nietzsches Hermeneutik der Scham, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), S. 131– 154. Tongeren, Paul van: „‚Ich‘ bin darin […] ego ipsissimus […], ego ipsissimum“. Nietzsches philosophische Experimente mit der literarischen Form der Vorrede, in: Nietzsche-Studien 41 (2012), S. 1–16. Treccani, Irene: Nietzsche und die Astronomie, in: Heit, Helmut/Heller, Lisa (Hg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin/Boston 2014, S. 155–169. Treccani, Irene: Menschliches, Allzumenschliches. Eine astronomische Operation der Entmenschlichung. Überlegungen zu Der Wanderer und sein Schatten 14, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 28 (2021), S. 177–188. Treiber, Hubert: Wahlverwandtschaften zwischen Nietzsches Idee eines „Klosters für freiere Geister“ und Webers Idealtypus der puritanischen Sekte. Mit einem Streifzug durch Nietzsches „ideale Bibliothek“, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 326–362. Treiber, Hubert: Zur Genealogie einer „science positive de la morale en Allemagne“. Die Geburt der „r(é)ealistischen Moralwissenschaft“ aus der Idee einer monistischen Naturkonzeption, in: Nietzsche-Studien 22 (1993), S. 165–221. Treiber, Hubert: Zur „Logik des Traumes“ bei Nietzsche. Anmerkungen zu den Traum-Aphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 1–41. Treiber, Hubert: „Das Ausland“ – die „reichste und gediegenste Registratur“ naturwissenschaftlichphilosophischer Titel in Nietzsches „idealer Bibliothek“, in: Nietzsche-Studien 25 (1996), S. 394–412. Treiber, Hubert: Zur Physiologie des Rechts oder der Muskel als Scharnierbegriff, in: Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998, S. 170–203. Treiber, Hubert: Ausgewählte Aspekte zu Paul Rées Straftheorie, in: Seelmann, Kurt (Hg.): Nietzsche und das Recht = Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 77 (2001), S. 151–167.
1062
Literaturverzeichnis
Treiber, Hubert: L’aforisma nietzscheano Origine della giustizia nella prosettiva della teoria dei giochi, in: D’Iorio, Paolo/Fornari, Maria Cristina/Lupo, Luca/Piazzesi, Chiara (Hg.) Prospettive. Omaggio a Giuliano Campioni, Pisa 2015, S. 127–131. Treiber, Hubert: Paul Rée und Nietzsches „Réealismus“, in: Mortzfeld, Benjamin (Hg.) für das Historische Museum Basel: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019, S. 47–49. Treiber, Hubert: Macht – ein soziologischer Grundbegriff, in: Gostmann, Peter/Merz-Benz, PeterUlrich (Hg.): Macht und Herrschaft. Zur Revision zweier soziologischer Grundbegriffe, Wiesbaden 22021, S. 91–106. Treiber, Hubert: Nietzsches Aphorismus Ursprung der Gerechtigkeit (MA I, 92) – aus spieltheoretischer und rechtsethnologischer Sicht, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 30 (2023), S. 275–287. Tucholsky, Kurt: Gesammelte Werke, hg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Bd. 3: 1929–1932, Zürich 1960. Tuncel, Yunus: Nietzsche and La Rochefoucauld: The Art of Concise and Polemical Writing, in: The Agonist 9/1–2 (2015/2016), S. 1–11. Tuncel, Yunus: Nietzsche on Human Emotions, Basel 2022. Ulmer, Karl: Nietzsches Philosophie in ihrer Bedeutung für die Gestaltung der Weltgesellschaft. Der Ausbruch aus der Universitätsphilosophie II, hg. von Werner Stegmaier, in: NietzscheStudien 12 (1983), S. 51–79. Ungeheuer, Gerold: Nietzsche über Sprache und Sprechen, über Wahrheit und Traum, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 134–213. Ungern-Sternberg, Isabelle, Freifrau von, geb. Freiin von der Pahlen: Nietzsche im Spiegelbilde seiner Schrift, Leipzig o. J. [1902]. Ure, Michael: Stoic Comedians. Nietzsche and Freud on the Art of Arranging One’s Humours, in: Nietzsche-Studien 34 (2005), S. 186–216. Ure, Michael: Nietzsche’s Therapy. Self-Cultivation in the Middle Works, Lanham/Boulder 2008. Ure, Michael: Nietzsche’s Free Spirit Trilogy and Stoic Therapy, in: Journal of Nietzsche Studies 38 (2009), S. 60–84. Ure, Michael: Nietzsche’s „View from Above“, in: Hutter, Horst/Friedland, Eli (Hg.): Nietzsche’s Therapeutic Teaching. For Individuals and Culture, London/New Dehli/New York/Sidney 2013, S. 117–139. Van De Putte, Frederik: Rechtvaardigheid jegens een wordende God. Eindverhandeling voor de opleiding Wijsbegeerte aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte van de Universiteit Gent, Diss. phil. Universität Gent 2008, auch unter https://libstore.ugent.be/fulltxt/RUG01/001/413/ 970/RUG01-001413970_2010_0001_AC.pdf. Vattimo, Gianni: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung. Aus dem Italienischen von Klaus Laermann, Stuttgart 1992. Venturelli, Aldo: Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring, in: Nietzsche-Studien 15 (1986), S. 107–139. Venturelli, Aldo: Quellenforschung und Deutungsperspektive. Einige Beispiele, in: Borsche, Tilman/ Gerratana, Federico/Venturelli, Aldo (Hg.): „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, S. 292–305. Venturelli, Aldo: Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Quellenkritische Untersuchungen, Berlin/New York 2003. Venturelli, Aldo: Das Bild eines „europäischen Goethe“ in Nietzsches Götzen-Dämmerung. Einige Bemerkungen, in: Nietzsche-Studien 50 (2021), S. 102–120.
Literaturverzeichnis
1063
Venturelli, Aldo: Nietzsches ‘guter Europäer’ als ideelle Fortsetzung von Goethes ‘Weltliteratur’, in: Aurnhammer, Achim/Crescenzi, Luca/Venturelli, Aldo/Zanucchi, Mario (Hg.): Europa in der deutschen Literatur der Moderne (1880–1933), Rom 2024, S. 17–30. Verkerk, Willow: Nietzsche’s Joyful Friendship. Epicurean Elements in the Middle Works, in: The Agonist 10 (2017), Nr. 2, S. 25–40, auch unter http://agonist.nietzschecircle.com/wp/nietzschesjoyful-friendship-epicurean-elements-in-the-middle-works. Vietta, Silvio: Novalis und Nietzsche. Analogien und Differenzen zweier Dichter-Denker, in: Nietzsche-Studien 52 (2023), S. 261–287. Villamil Lozano, Harol David: Anzeichen einer diagnostischen und therapeutischen Philosophie in Menschliches, Allzumenschliches I, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 28 (2021), S. 189–205. Vinzens, Albert: Friedrich Nietzsches Instinktverwandlung, Basel 1999. Vivarelli, Vivetta: Empedokles und Zarathustra. Verschwendeter Reichtum und Wollust am Untergang, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 509–536. Vivarelli, Vivetta: Montaigne und der „Freie Geist“. Nietzsche im Übergang, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 79–101 (a). Vivarelli, Vivetta: Nietzsche, Goethe und der historische Sinn, in: Borsche, Tilman/Gerratana, Federico/Venturelli, Aldo (Hg.): „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, S. 276–291 (b). Vivarelli, Vivetta: Nietzsche und die Masken des freien Geistes: Montaigne, Pascal und Sterne, Würzburg 1998. Vivarelli, Vivetta: Der freie Geist und Pascals Seiltänzer, in: Schirmer, Andreas/Schmidt, Rüdiger (Hg.): Entdecken und Verraten. Zu Leben und Werk Friedrich Nietzsches, Weimar 1999, S. 179– 190. Vivarelli, Vivetta: Il pensiero in cantene. Nietzsche tra Voltaire e l’abate Galiani, in: Gentili, Carlo/ Gerhardt, Volker/Venturelli, Aldo (Hg.): Nietzsche, illuminismo, modernità, Florenz 2003, S. 191–208. Vivarelli, Vivetta: Der freie Geist, die amerikanische Rastlosigkeit und die Verschmelzung der Kulturen, in: Sommer, Andreas Urs (Hg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur (en)?, Berlin/New York 2008, S. 529–544. Vivarelli, Vivetta: Humor, Witz und Ironie als Waffen und Therapie in Nietzsches Werken und Briefen, in: Gödde, Günter/Loukidelis, Nikolaos/Zirfas, Jörg (Hg.): Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophisch-psychologisches Kompendium, Stuttgart 2016, S. 47–54. Vivarelli, Vivetta: Der Nietzsche der radikalen Aufklärung. Leben und Denken als ‚freier Geist‘, in: Mortzfeld, Benjamin (Hg.) für das Historische Museum Basel: Übermensch. Friedrich Nietzsche und die Folgen, Basel 2019, S. 80–83 (a). Vivarelli, Vivetta: Literarische Bilder und Vorbilder der Ewigen Wiederkunft, Macerata 2019 (b). Vivarelli, Vivetta: Die historische Philosophie und das Abenteuer des versuchenden Denkens Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen, in: Brock, Eike/Georg, Jutta (Hg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches = Klassiker Auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 72, Berlin 2020, S. 27–43. Vivarelli, Vivetta: Le poids du temps et les „pensées qui sont nées en marchant“. Nietzsche et Montaigne, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021, S. 359–382. Vivarelli, Vivetta: „Come nobili traditori di tutte le cose“. Nietzsche, Montaigne e la libertà del dubbio, in: Dianoia 37 (2023), S. 55–67. Volkelt, Johannes: Arthur Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, sein Glaube, Stuttgart 1900.
1064
Literaturverzeichnis
Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Die metaphysische Rescendenz im Denken Nietzsches, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 7 (1981), S. 133–145. Volz, Pia Daniela: Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würzburg 1990. Volz, Pia Daniela: „Mein Träumen und mein Hoffen?“. Narzißtische Traumstimmung und Traumdichtung beim jungen Nietzsche, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der NietzscheGesellschaft 5/6 (2000), S. 383–404. Wachendorff, Elke Angelika: Ein Wanderer und sein Schatten. Friedrich Nietzsches GedankenGänge in St. Moritz, Basel 2021. Wahrig, Bettina: Derrida hat Nietzsches Regenschirm verloren. Zu Philipp Felschs Buch Wie Nietzsche aus der Kälte kam, in: Nietzsche-Studien 52 (2023), S. 307–336. Weeda, Konrad: Horaz und sein umgestürzter Baum. Die Möglichkeit einer lyrischen Philosophie?, in: Benne, Christian/Zittel, Claus (Hg.): Nietzsche und die Lyrik. Ein Kompendium, Stuttgart 2017, S. 452–465. Weimarer Nietzsche-Bibliographie, hg. von der Stiftung Weimarer Klassik, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, bearbeitet von Susanne Jung, Frank Simon-Ritz, Clemens Wahle, Erdmann von Wilamowitz-Moellendorff und Wolfram Wojtecki, 5 Bde., Stuttgart/Weimar 2000–2002 (= WNB), fortgeführt digital unter https://opac.lbs-weimar.gbv.de/DB=4.4/. Wein, Hermann: Nietzsche ohne Zarathustra. Die Entkitschung Nietzsches: der kritische Aufklärer, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 359–379. Weinstock, Stefan: Die platonische Homerkritik und ihre Nachwirkungen in: Philologus 82 (Neue Folge 36) (1927), S. 121–153. Weiß, Johannes: Das frühromantische Fragment. Eine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, Paderborn 2015. Wenner, Milan: „Nach neuen Meeren“. Nietzsches Abenteuerlyrik vor dem Hintergrund der Fröhlichen Wissenschaft, in: Grätz, Katharina/Kaufmann, Sebastian (Hg.) unter redaktioneller Mitarbeit von Armin Thomas Müller/Milan Wenner: Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetologie – Rezeption, Berlin/Boston 2017, S. 121–152. Wenner, Milan: Spannungsvolle Nähe. Oswald Spengler und das Nietzsche-Archiv im Kontext der Konservativen Revolution, in: Lorenz, Ulrike/Valk, Thorsten (Hg.): Kult – Kunst – Kapital. Das Nietzsche-Archiv und die Moderne um 1900. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2020, Göttingen 2020, S. 133–151. Wenner, Milan: Von gelehrten Langweilern und tragischen Griechen. Nietzsche liest Eduard Zeller, in: Anschütz, Hans-Peter/Müller, Armin Thomas/Rottmann, Mike/Souladié, Yannick (Hg.) unter Mitarbeit von Louisa Estadieu: Nietzsche als Leser, Berlin/Boston 2021, S. 223–238. Westerdale, Joel: Nietzsche’s Aphoristic Challenge, Berlin/Boston 2013. Whitlock, Greg: Examining Nietzsche’s „Time Atom Theory“ Fragment from 1873, in: NietzscheStudien 26 (1997), S. 350–360. Whitlock, Greg: Roger J. Boscovich and Friedrich Nietzsche. A Re-Examination, in: Babich, Babette E./Cohen, Robert S. (Hg.): Nietzsche, Epistemology, and Philosophy of Science. Nietzsche and the Sciences, Bd. 2, Dordrecht/Boston u. a. 1999, S. 187–201. Wienand, Isabelle: Significations de la mort de Dieu chez Nietzsche d’Humain, trop humain à Ainsi parlait Zarathoustra, Bern/Berlin/Frankfurt am Main/New York 2006. Wienand, Isabelle: Writing from a First-Person Perspective. Nietzsche’s Use of the Cartesian Model, in: Constâncio, João/Mayer Branco, Maria João/Ryan, Bartholomew (Hg.): Nietzsche and the Problem of Subjectivity, Berlin/Boston 2015, S. 49–64. Wienand, Isabelle/Wotling, Patrick (Hg.) unter Mitarbeit von Florian Häubi und Philip Mills: Die Frage der Medizin in Nietzsches Philosophie / La question de la médecine dans la philosophie
Literaturverzeichnis
1065
de Nietzsche. IX. Internationale GIRN-Tagung / IXe Congrès International du GIRN, Basel 2020. Wilamowitz-Moellendorff, Erdmann von: Philologisches, Allzuphilologisches. Zum editorischen Umgang mit Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches durch Peter Gast (d. i. Heinrich Köselitz), in: Knoche, Michael/Ulbricht, Justus H./Weber, Jürgen (Hg.): Zur unterirdischen Wirkung mit Dynamit. Vom Umgang Nietzsches mit Büchern zum Umgang mit Nietzsches Büchern, Wiesbaden 2006, S. 155–173. Williams, W[illiam] D.: Nietzsche and the French. A Study of the Influence of Nietzsche’s French Reading on his Thought and Writing, Oxford 1952. Wilson, John Elbert: Schelling und Nietzsche. Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 1996. Winkler, Markus: „Helligkeit“, „zierliche Bestimmtheit“ und „Witz des Ausdrucks“: Das Erbe der französischen Moralisten in Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 28 (2021), S. 235–259 (a). Winkler, Markus: Arbeit an der „Rasse“: Nietzsches Genealogien eines europäischen Konzepts. Abschiedsvorlesung Universität Genf, 10. November 2021, https://www.youtube.com/watch?v= rhAyMNEmwb4 (b). Winkler, Markus: Nietzsches Begriff des Barbarischen. Von der Rhetorik zur Genealogie, in: Kaufmann, Sebastian/Winkler, Markus (Hg.): Nietzsche, das ‚Barbarische‘ und die ‚Rasse‘, Berlin/Boston 2022, S. 19–51. Wisser, Richard: Nietzsches Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld jedermannes, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 147–172. Wissing, Jörg: Wohlwollen, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter†, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 1005–1014. Wittgenstein, Ludwig: Logisch-Philosophische Abhandlung, in: Annalen der Naturphilosophie 14 (1921), S. 185–262. Wolf, Jean-Claude: Skeptische Lebensform, unmögliche Verständigung. Überlegungen zur mittleren Periode in Nietzsches Schriften, in: Schopenhauer-Jahrbuch 83 (2002), S. 223–254. Wollek, Christian: „Odi profanum vulgus et arceo“. Zwei lateinische Oden des Schülers Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 49 (2020), S. 258–275. Woodford, Peter J.: The Moral Meaning of Nature. Nietzsche’s Darwinian Religion and Its Critics, Chicago/London 2018. Woodruff, Martha Kendal: Nietzsche on Moods, Passions, and Styles. Greek Inspirations, in: The Agonist 13/1–2 (2019/2020), S. 114–130. Wotling, Patrick: Nietzsche et le problème de la civilisation, Paris 1995. Wotling, Patrick: La culture comme probleme. La redetermination nietzscheenne du questionnement philosophique, in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 1–50. Wotling, Patrick: Befehlen und Gehorchen. La réalité comme jeu de commandement et d’obéissance selon Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 39–54. Wotling, Patrick: L’émergence du schème axiologique dans Humain, trop humain, in: Denat, Céline/ Wotling, Patrick (Hg.): Humain, trop humain et les débuts de la réforme de la philosophie, Reims 2017, S. 141–160. Wuthenow, Ralph-Rainer: Die große Inversion. Jean-Jacques Rousseau im Denken Nietzsches, in: Neue Hefte für Philosophie 29 (1989), S. 60–79. Xago [Pseudonym für Rolf Xago Schröder]: Nietzsches erste und letzte Grillen mit Zwischenrufen von Renate Reschke, Berlin 2000. Xia, Yi-Ping: Die Wertschätzung der Triebe. Zu Nietzsches Physio-Soziologie des Triebes, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 30 (2023), S. 191–201.
1066
Literaturverzeichnis
Xia, Yi-Ping: Der Mensch als „das noch nicht festgestellte Thier“: Eine philosophisch-historische Untersuchung zu Nietzsches Subjektivitätskritik. Diss. phil. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2024. Yhee, Jean: Konfliktfähig: Die politische Streitkultur in Nietzsches Spinoza-Rezeption, Hamburg 2022. Young, Julian: Friedrich Nietzsche. A Philosophical Biography, New York 2010. Zaborowski, Holger: From Modesty to Dynamite, from Socrates to Dionysus. Friedrich Nietzsche on „Intellectual honesty“, in: American Catholic Philosophical Quarterly 84 (2010), Nr. 2, S. 337– 356. Zachriat, Wolf Gorch: Die Ambivalenz des Fortschritts. Friedrich Nietzsches Kulturkritik, Berlin 2001. Zavatta, Benedetta: Nietzsche and Emerson on Friendship and its Ethical-political Implications, in: Siemens, Herman W./Roodt, Vasti (Hg.): Nietzsche, Power and Politics. Rethinking Nietzsche’s Legacy for Political Thought, Berlin/New York 2008, S. 511–540. Zavatta, Benedetta: Die in der Sprache versteckte Mythologie und ihre Folgen fürs Denken. Einige Quellen von Nietzsche: Max Müller, Gustav Gerber und Ludwig Noiré, in: Nietzsche-Studien 38 (2009), S. 269–298. Zavatta, Benedetta: Nietzsche and Linguistics, in: Heit, Helmut/Heller, Lisa (Hg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin/Boston 2014, S. 265–289. Zavatta, Benedetta: Individuality and Beyond. Nietzsche Reads Emerson, Oxford/New York 2019. Zellini, Susanna: Nietzsche und der lange Flug des „guten Europäers“, in: Nietzsche-Studien 52 (2023), S. 391–401. Zhavoronkov, Alexey: Nietzsche und Homer. Tradition der klassischen Philologie und philosophischer Kontext, Berlin/Boston 2021. Zibis, Alexander-Maria: Die Tugend des Mutes. Nietzsches Lehre von der Tapferkeit, Würzburg 2007. Zichy, Michael: „… aber die Wahrheit ist sehr, sehr complizirt“. Der Begriff der Wahrheit im mittleren Werk Friedrich Nietzsches, Berlin 2002. Zimmer, Robert: Nietzsche und die Tradition der Moralistik, in: Gödde, Günter/Loukidelis, Nikolaos/ Zirfas, Jörg (Hg.): Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophisch-psychologisches Kompendium, Stuttgart 2016, S. 156–164. Zimmer, Robert: Die Rezeption der Moralistik in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts: Schopenhauer, Ree und Nietzsche, in: ders.: Weltklugheit. Die Tradition der europäischen Moralistik, Basel 2020, S. 103–124. Zimmer, Robert: Die „Morgenröte“ – ein moralistisches Projekt?, in: Brock, Eike/Gödde, Günter/ Zirfas, Jörg (Hg.): Das Leuchten der Morgenröthe. Friedrich Nietzsche und die Kunst zu leben, Berlin 2022, S. 95–105. Zittel, Claus: Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, Würzburg 1995. Zittel, Claus: Abschied von der Romantik im Gedicht Friedrich Nietzsches Es geht ein Wandrer durch die Nacht, in: Nietzscheforschung. Ein Jahrbuch 3 (1996), S. 193–206. Zittel, Claus: Der Dialog als philosophische Form bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 45 (2016), S. 81–112. Zittel, Claus: „Gespräche mit Dionysos“. Nietzsches Rätselspiele, in: Nietzsche-Studien 47 (2018), S.70–99.
Sach- und Begriffsregister abendländisch, Abendland 186, 299, 648 Aberglaube 151, 316, 392, 410, 562, 602, 639, 799, 837–838, 856, 972–973 Abgrund 24, 56, 239, 483, 490, 536, 669, 871, 934–935 Adel, adlig 398, 482, 501, 592, 659, 810, 829, 873 Affekt, affektiv 31, 126, 136, 146, 194, 200, 205, 208, 220–221, 226, 252, 288, 299, 337, 430–431, 502, 517, 536, 667, 678, 718, 791, 911, 921–922 Afrika 94, 355, 835 agonal, Agonalität 345, 485–486, 614, 694, 728–729, 851 Ahistorizität, ahistorisch 80, 133 Alter Ego 740 Altes Testament 439, 983 altruistisch, Altruist, Altruismus 67–68, 239, 277, 300, 345, 430, 723–724, 892 amerikanisch, Amerika 113, 318, 348, 634, 662– 663, 804, 865 anarchistisch, Anarchie, Anarchismus 33, 803, 844, 846 Anarchokapitalismus 846 animalisch, Animalität 144, 184, 192, 528, 724 anthropologisch, Anthropologie 18, 36, 40, 78, 92, 104, 146–147, 189, 206, 235, 242, 273, 277, 287, 312, 366, 384, 398, 404, 418–419, 484, 588, 590–591, 651, 690, 709, 744–745, 771–772, 776, 778, 842, 849, 888, 930, 938 anthropozentrisch, Anthropozentrismus 91, 695 antichristlich 694 antideutsch 233 Antike 61, 66, 102, 130, 137, 155–157, 165, 169, 179, 185, 193, 200, 206, 211, 221, 227, 266, 302, 315, 321, 324, 360, 383, 392–393, 398–401, 407, 412–414, 432, 436, 438, 441, 469–470, 498, 501, 529–533, 535, 540, 584, 587, 595, 602, 608, 612, 615, 618, 630, 645–646, 659, 681, 687, 694, 710, 717, 729, 735, 745, 747, 763, 766, 792–793, 802, 809, 830, 836, 842, 851, 871–872, 876, 886, 895, 900, 943, 958, 975 antimaterialistisch 150 antimetaphysisch 62–63, 71, 151, 214 antimoralisch 815 https://doi.org/10.1515/9783110292954-004
Antinomie 202 antisemitisch, Antisemitismus 402, 853–854 antisozialistisch 863 Aphorismus, Aphorismen, Aphoristik, aphoristisch VII, 5, 13, 15–19, 22, 25, 29–30, 32– 37, 60–61, 63, 79, 81, 167, 181, 209, 234, 238, 313, 342, 351, 384, 390, 394, 404, 426, 494, 497–500, 533, 574, 641, 647, 659, 677, 679, 681, 687, 704, 748–749, 763, 765, 780, 787, 797, 819, 841, 843, 845, 866–867, 875, 883, 886, 905, 908, 915, 917, 920, 926, 933–934, 960–961, 975 apodiktisch 17, 76, 254, 326, 546, 748 apollinisch 92, 169 Arbeit, arbeiten, Arbeiter 368, 377, 394–395, 404, 464–465, 486, 719, 757, 776, 803, 809, 817, 821, 830, 832–833, 836, 859–862, 942–943 archaisch 93–94, 148, 165, 448, 524, 709 Aristokrat, Aristokratie, aristokratisch 33, 42, 236, 277, 287, 516, 583, 592, 622, 826, 829, 861 aristotelisch 250, 316, 744, 758 Arkadien 179 Arzt, ärztlich 3–4, 176, 279–280, 366, 579, 598, 682, 686, 800, 853, 855–856, 915–916 asiatisch, Asiat, Asien 183–184, 401, 431, 590, 627, 629, 662–664, 804, 855, 858 asketisch, Askese, Asket 67, 86, 99, 159, 183– 186, 202, 221, 227, 244, 253, 295, 297, 324– 325, 426–431, 433–435, 442–443, 445, 542 ästhetisch, Ästhetik, Ästhetiker 64–65, 67, 74– 76, 85–87, 90–91, 132, 162–166, 198, 202, 210, 340, 386, 417, 448, 450, 454, 456, 461, 465, 474–475, 479, 483–484, 491, 494–495, 522, 544, 587, 595, 695–696, 935, 943 Astrologie 90–92, 561, 582 Asymmetrie 723 atavistisch, Atavismus 117, 120, 271 atheistisch, Atheist, Atheismus 105, 291, 389, 622 Athen, Athener, athenisch 194, 308, 321, 342– 343, 346, 364, 402, 469–470, 501, 503, 506, 518, 608–610, 616–617, 679, 766, 790–791, 799–800, 804, 851–852, 947
1068
Sach- und Begriffsregister
auferstehen, Auferstehung 106, 183, 412, 745, 837 aufklärerisch, Aufklärer, Aufklärung VII, 17, 29, 35–38, 41–42, 91, 103, 108, 117–118, 133, 140, 151–152, 167–168, 178, 180, 182, 185– 187, 239, 293, 296–297, 329, 368, 380, 382, 387, 390, 408, 414, 425–426, 431, 452, 456, 467, 508, 561, 573, 618, 696, 736, 747, 831, 837, 839–840, 853, 855–856, 882, 886, 907, 912, 931, 966 Ausbeutung 719 Autarkie 719, 802, 900 autobiographisch, Autobiographie 223, 443, 507, 511, 541, 606, 640–641, 668, 717–718, 753, 776, 794, 934, 950, 954 Autonomie, autonom 28, 303, 349, 434, 719, 763 autoritativ, autoritär, Autorität 12, 42, 169, 245, 294–296, 300, 336, 420, 443, 552, 557, 561, 572, 626, 811–812, 843, 845, 968, 971–973 barbarisch, Barbar, Barbarei 266, 348–349, 401, 407, 441, 509, 527–528, 539–540, 545, 566–567, 587, 592, 594–596, 624, 662–663, 814–815, 858–859 Barock 439, 473, 530–532 Basel, Basler VII, IX, 3–5, 8, 10, 12–14, 20, 22, 38–39, 64, 66, 78, 93, 104, 114, 123–124, 135, 149, 166, 178–179, 208, 274, 291, 302, 308, 320, 330, 379, 389, 411, 443–444, 480, 517, 521, 528–529, 623, 632, 640, 663, 668, 679, 685, 698, 711, 715, 767, 776, 779, 793, 803, 832, 853, 896, 929, 939 Baukunst 414, 530 Baum der Erkenntnis 626 Bergpredigt 430, 441 Bettler, betteln 486, 679 Bevölkerung 659, 812, 816 Bewusstsein, Bewusstheit 48, 58, 77, 82, 107, 110, 112, 117–118, 131, 138, 145–146, 150– 151, 166, 169, 171, 184, 212, 214, 216, 219, 253, 260, 276, 308, 345, 384, 401, 405, 420, 444, 447, 473, 477, 486, 566, 574, 596, 645, 722, 807, 838, 868, 969 Bibel 102–103, 175, 317, 335, 391, 408, 410, 422, 439, 445, 498, 593, 623–625, 675, 853, 939, 983
Bibliothek IX, 9–10, 44, 64, 66, 75, 78, 93, 122, 135, 149, 252, 274, 279, 291, 293, 302, 320, 343, 379, 382, 411, 439, 443, 464, 512, 529, 538, 564, 583–584, 608, 610, 619, 632, 640, 774, 793, 832, 939 Bigamie 555–556 Bildung 151–152, 154, 162, 169–170, 187, 290, 310, 316, 431, 509, 571, 586, 600–601, 608, 612, 623, 628–629, 631–632, 639, 679, 734, 770, 786, 805, 810, 813, 835, 851, 924, 948, 969 Bildungsbürgertum, bildungsbürgerlich 12, 233, 314, 577, 838 Biographie, biographisch 16, 31, 36, 78, 240, 311, 408, 477, 481, 489, 516, 589, 610–611, 700, 883–884, 921 biologisch, Biologie 36, 160, 271, 546–548, 608, 627, 748, 750, 759, 792, 811, 861 Böse, böse, Bosheit 15, 17, 92, 99, 170, 173, 176, 179, 195, 198, 222, 253–254, 257–258, 274– 276, 287, 289–290, 292, 297–299, 312, 355, 359–361, 369–372, 374–375, 380, 396, 402, 405, 410, 427, 437, 492, 556, 566, 573–574, 584, 590–591, 611, 656, 665–666, 679, 689–690, 696, 723, 736, 814–815, 819, 829, 841, 851, 884, 892, 895, 939, 978 buddhistisch, Buddhist, Buddhismus 184, 446– 447 Chauvinismus 593 Chemie, chemisch 24, 26–27, 61–65, 75–76, 101, 107, 110, 126, 381, 426, 511, 514, 582, 781, 863, 921 chinesisch, China 347, 396 Christentum, Christlichkeit, christlich 8, 32, 42, 53, 70, 81, 84, 102, 106, 108–109, 137, 160, 165, 174, 176, 180–189, 191–192, 202, 215, 217, 250, 252, 266, 275, 279, 281, 287, 291, 293, 296, 298–299, 315–316, 321, 327, 329, 335–336, 348, 356, 367–369, 384, 387, 389–390, 392, 399–410, 413, 418–420, 422, 424–427, 431, 433, 435–436, 438–441, 444–447, 501, 534, 555–557, 572, 577, 580– 581, 587, 610, 617, 627, 672, 681, 683, 687, 689, 717, 736, 747, 760, 826, 853–854, 856, 858, 864–865, 876, 887, 905, 920, 923, 927, 958–960, 966, 977
Sach- und Begriffsregister
dämonisch, Dämon 155, 378, 383, 411, 435, 438, 440, 469, 480, 640, 756 Dampfmaschine 594–595, 817–818 darwinistisch, Darwinismus 29, 32, 67, 77–78, 165, 190, 203–204, 325, 358, 373, 548, 550–552, 586, 641 Dekadenz 446, 609 demokratisch, Demokratie, Demokrat 19, 173, 405, 482, 616, 807–808, 821–822, 843–844, 846–847 deontologisch 67, 842, 895 desillusionieren, Desillusionierung 199, 202, 244, 248–249, 273, 380, 384, 450, 463, 521, 524, 738, 747, 776, 851–852, 867, 886, 888 despotisch, Despotismus, Despot 27, 808, 846– 847, 849–850 deterministisch, Determinismus, Determinist 27, 55, 254, 259, 265, 336, 378–380, 382–383, 424–425, 446, 602, 604, 884, 922 deutsch, Deutschland 7, 11, 21, 29, 31–32, 34, 38, 45–46, 48–50, 53, 59–60, 73, 80–81, 83, 87, 137, 151, 172–173, 180, 182, 186–187, 204, 226, 229–230, 232–236, 238, 240–242, 252, 291, 294, 296, 311, 318, 341, 348, 358, 368, 373, 389, 420, 434, 471, 475, 488, 490, 509, 512, 516, 537, 539, 546–550, 555–556, 572, 581, 591–593, 600, 602, 610, 618, 630, 636, 642, 674, 680–681, 693, 707, 728, 757, 768–770, 773, 792, 796–797, 810, 813–815, 817, 819, 825–827, 829, 834, 836, 839, 845, 854–855, 862, 864–865, 909, 925, 936, 959, 977 dialektisch, Dialektik 34, 100, 192, 202, 210, 286, 498, 722, 798–800, 930, 953 dialogisch, Dialog 15–16, 112, 200, 229, 343, 370, 392, 481, 540, 609, 643, 652, 661, 722, 756, 800, 852, 949, 953–954 diätetisch, Diätetik 160–161 dichten, dichterisch, Dichter, Dichtung 34, 50, 89, 200, 212, 215, 220, 251–252, 307, 345, 385, 390, 393, 410–412, 436, 439–440, 448, 450, 453–454, 457–458, 461–462, 464, 470–471, 477, 479, 481, 484, 492, 499, 504– 505, 512–513, 518, 523, 526, 531, 534, 536– 537, 540–541, 567, 580, 611, 619, 624, 629, 640, 648, 747, 758, 842, 850, 854, 874, 908, 941, 947–948, 967 Dilettantismus 791
1069
Ding an sich 61, 68–70, 72, 90, 99, 107–109, 132–135, 137, 199–200, 202, 219, 262, 417, 522, 872 dionysisch, Dionysisches 92, 169, 617, 670 disharmonisch, Disharmonie 208–209, 211 dogmatisch, Dogma 69, 81, 88, 103, 111, 135, 183, 185, 296, 317, 384, 387, 391–392, 399, 416, 420, 437, 456, 530, 867, 887, 966, 973 dualistisch 648 Duell 306–307, 309, 725–727 egoistisch, Egoismus, Egoist 24, 61–62, 66–68, 73, 110, 174–176, 212, 215, 218, 258, 263– 264, 268, 271, 277–278, 281, 283–284, 288– 289, 300, 333, 337, 341–342, 345, 351–353, 359–360, 369–370, 372, 421, 430, 628, 692, 724, 797, 816, 828, 834, 858 Ehe 363–364, 557, 575–576, 609–610, 612, 749, 755, 758–760, 762–764, 766–768, 782, 785– 786, 789–791, 794, 821, 849, 933 Ehebruch 447, 755 Ehrgefühl 309, 339, 377, 726, 769 Einfachheit 86, 502–503, 523, 834 einsam, Einsamkeit, Vereinsamung 21, 28, 49, 53–56, 58, 75, 143, 187, 222, 281, 308, 364, 396, 461, 600, 611, 656, 673, 679, 725, 738, 740–741, 881, 953–954 eitel, Eitelkeit 8, 90, 245, 288, 306–307, 311, 323–324, 327, 331, 336–339, 349, 377, 382, 428, 451, 472, 474–475, 485–486, 499, 601, 605, 691, 705–706, 708, 712, 764, 768, 771, 774–775, 781–782, 792, 829–830, 891–893, 900–901, 916, 921, 929–930, 933, 940 eklektisch 12 ekstatisch 399 emanzipatorisch, Emanzipation 19, 100, 164, 251, 325, 524, 582, 591, 801, 928, 949 Empathie 369 Empirismus 31 England, Engländer, englisch 29, 33, 35, 37, 87, 171, 180, 182, 187, 281, 312, 388, 478, 504, 546, 556, 564, 572, 600, 634, 639, 859–861 Entartung, entarten 468–469, 517, 548–551, 759, 838, 947 Entfremdung 47, 222, 656, 702–703, 740, 833, 943, 947 entropisch 214
1070
Sach- und Begriffsregister
entsagen, Entsagung 80, 170, 432, 438, 459, 586, 933 Entstehungsgeschichte 5, 73–74, 81, 134, 140, 144, 499, 606 Epidemie 281, 520–521 epigenetisch 750, 811 epikureisch, Epikureer 224, 240, 316, 619, 621, 645–646, 653, 884 Erdregierung, Regierung der Erde 172, 581–583 erhaben, Erhabenes, Erhabenheit 61, 85–86, 111, 202, 237, 367, 417, 454, 456, 458, 461, 529, 597–599, 611, 693, 776, 867, 881, 909, 948, 958 Erkenntnis 27, 31, 33, 45, 48, 56–58, 65, 68, 70– 72, 79, 81–86, 95–99, 104–109, 111–112, 114, 120, 129–131, 136, 139, 142–146, 148, 151, 154, 191, 194, 196, 199–201, 205–212, 216, 220–221, 223–224, 226, 231, 239, 241–242, 244–248, 254–256, 259, 261, 288, 297–299, 362, 376, 380, 382–383, 386, 388–389, 391, 409, 417, 426, 440, 447, 451, 466, 468, 471, 476, 479, 497, 502, 505, 507, 514, 520, 522, 554, 560, 566, 587, 594–595, 597–598, 600–601, 603–604, 615, 617, 626–627, 635, 652, 657, 662, 665–675, 677, 741, 745, 802– 803, 870, 872, 877, 884, 886–887, 903, 919, 928, 946, 948, 950–951, 962, 964–966, 973, 975, 977 erotisch 440–441, 609–610, 767, 769, 933 Erzieher, Erziehung, erziehen 3, 18, 46, 69, 83, 169, 171, 176–177, 306, 318, 351, 381, 387, 389–390, 504, 547–550, 557–559, 576–578, 589–590, 609–610, 612, 725, 751, 760, 770, 785–786, 789, 791–792, 809, 832, 837–838, 851, 865, 917, 929 ethisch, Ethik 30, 67, 83, 91, 141, 165, 173–174, 176, 202, 218, 243, 245–246, 255–256, 265, 281, 305, 324, 351, 376, 421, 467, 504–505, 604, 639, 742–743, 818, 876, 953 Ethos 287, 637 Eudämonismus 324 eugenisch 169, 579, 664 Europäer, gute 10, 48–49, 852, 854 europäisch, Europa 33, 78, 80, 103, 164–165, 171, 178, 186, 201, 229, 234–236, 248, 251, 347, 368, 414, 431, 538, 551–552, 561, 573, 580–581, 627–629, 632, 662–664, 804–805,
812, 852–856, 858–859, 862, 864–865, 888, 931 evangelisch 104, 836 Evangelium 301, 380, 416–417, 620 Evolution, evolutionär 4, 67, 77, 82, 96, 110, 113, 115, 120, 133, 139–140, 144, 206, 264–265, 269, 271, 349, 354, 373, 485, 547–548, 585–586, 601, 709, 763, 887 ewig, Ewigkeit, verewigen 27, 49, 55, 72, 77, 79, 82–84, 111, 137, 143, 157, 159–160, 166, 188, 217, 227, 292–294, 303, 337, 367, 389, 404, 413, 418–419, 437, 440, 460–461, 473, 514, 516, 522, 543, 571, 643, 898, 923, 965 Ewige Wiederkunft des Gleichen 14–15, 924 Fabrik 26, 219 faktisch 93, 337, 448, 659, 709, 754, 789, 818, 945 Falsifikation 139 Fanatiker, fanatisch, Fanatismus 33, 36, 38, 181, 183, 187, 538–539, 600, 681, 847, 966, 969, 973–974, 976 fatalistisch, Fatalismus 256, 481 Fatum 570 Feind, feindlich, Feindschaft 26, 50, 52, 156, 167, 176, 186, 189, 220, 223, 275, 303, 307, 309, 314, 327, 354, 432, 437, 441, 486, 505, 528, 590, 617, 619, 626, 704, 715–716, 719, 742, 746–747, 777, 787, 815, 822, 825–826, 845, 847–848, 854, 859, 867, 871, 875–876, 880, 882, 891, 894, 912, 915, 917, 951, 961, 970, 972–973 fern, Ferne 3, 7, 28, 119, 147, 194, 270, 355–356, 400, 412, 449, 453–454, 460, 475, 492, 632, 651, 675, 788, 800, 810, 861 Fetischismus 810 Flamme 191, 783, 914, 973 fortpflanzen, Fortpflanzung 275, 579, 751, 810 Fortschritt 27, 42, 166, 168–173, 180–181, 201, 257, 269–270, 284, 355, 380, 385, 387, 431, 458, 523, 544, 547, 549–550, 553, 570–571, 575, 578, 580, 582, 585, 588–589, 591, 639, 814, 818, 853, 856, 862, 945 Frankreich, französisch VII, 14, 23, 28, 33–34, 40–41, 44, 87, 172, 180, 187, 197, 226, 229, 235–237, 316, 332, 341, 366, 430, 474, 482, 488, 510, 534–535, 537–540, 561–562, 581, 590–591, 593, 600, 632, 634, 729, 743, 758,
Sach- und Begriffsregister
776, 807, 814, 822, 825–827, 837–838, 840, 847, 855, 864, 902, 930, 954 Freigeist, freigeistig, freier Geist, Freigeisterei 4–8, 10, 18–19, 31, 37, 40–42, 47, 49, 53–58, 151, 203, 222–223, 416, 448, 459, 511–512, 548, 550, 553–555, 557–563, 569– 571, 595, 616, 653, 656–657, 662, 669–671, 701, 792–794, 797–803, 808, 839, 844, 847, 897, 917, 919, 931, 937, 959, 979 Freiheit 19, 80, 181, 221–222, 253–257, 259–263, 269, 304, 314, 355, 360, 378, 382–383, 393, 403, 418, 425, 434, 511–512, 520, 537, 548, 550, 552–553, 623, 627, 645, 664–667, 832, 859–860, 881, 917, 943, 950, 953, 962, 979, 983 Freundschaft, freundschaftlich 24–25, 27, 36– 37, 50, 52, 505, 540, 609, 665, 675, 679– 682, 685–686, 700, 717, 726–727, 729–730, 736, 739, 742–747, 749, 756–758, 789–790, 829, 838, 876, 889, 908, 926 Frömmigkeit, fromm 16, 106, 126, 192, 281, 291, 406, 411, 428, 447, 532, 557, 611, 722, 760, 939 Furcht, Furchtsamkeit, furchtsam, furchtbar 49, 55, 145, 155, 194, 217, 221, 247, 254–256, 258, 264, 271, 280–281, 288, 294, 311, 316, 323–324, 342, 373, 376, 382, 391, 411, 417, 435, 479, 490, 517–518, 566, 601, 606, 616, 692, 704, 712, 835, 837, 859, 861–862, 936, 949, 955, 962 furchtlos 221–222, 227, 296 Gedankenexperiment 157, 742 Gedicht 8–9, 15, 58, 60, 156, 201, 238, 450, 460, 475, 543, 581, 585, 615, 618, 623, 679, 746, 754, 870, 884, 977, 979–983 Geduld, geduldig 586 gefährlich, Gefahr 24, 47–48, 55, 107, 153, 155, 167, 172, 191–193, 245–246, 281, 319, 353, 358, 362, 367, 373, 386–387, 429, 435, 438, 459, 469, 484, 502, 507, 548, 552, 558, 580, 585, 607, 615, 617, 686–688, 735, 759, 777, 779, 785–787, 803, 805–806, 826–827, 859, 867–868, 879, 886, 888, 894, 899, 906, 909–910, 912, 914–917, 937–938, 978 Gefühl 32, 57, 77, 90–91, 123, 126–131, 141–143, 145–146, 161–162, 166–167, 182, 202, 208, 211–212, 260–261, 263–264, 271, 305–306,
1071
311, 326, 329, 337–338, 371, 376, 381, 384, 398–399, 402–403, 414–416, 418–419, 424, 426, 431, 438, 443, 446, 456–457, 459, 489, 502–503, 509, 511, 521, 523–524, 530, 542– 543, 561, 566, 576, 580, 591, 644, 647, 652, 682, 694, 726, 753, 770, 776, 788, 925, 938 Geheimnis 242, 443, 514, 579–580, 621, 700, 912 Gehorsam 351–353, 360, 408, 433–434, 447, 810–812 geistig, Geist 7, 10, 13, 18–20, 25, 28–31, 34, 39, 41–44, 46–48, 54–55, 62, 65, 67, 81–82, 85–86, 89, 91–95, 97, 100, 103–104, 106, 110, 118–121, 123–124, 132, 135, 152, 160, 168–169, 171, 173, 176, 179–183, 186, 190– 191, 201, 207, 222–223, 227–229, 232–233, 235–236, 240, 242, 245–246, 248, 252, 263, 269–270, 279–281, 286–287, 290, 296–297, 302, 311–312, 327, 330, 367–368, 377, 379, 384, 388–389, 395–397, 402, 408, 412, 419–420, 430, 438, 441, 444, 449, 452, 459–461, 465, 467, 470, 478, 486, 490, 494–496, 500, 504, 515–516, 518, 521, 530, 534, 537, 548–561, 567, 569–573, 577, 579– 582, 589, 593–595, 598, 607–608, 611–612, 614, 616–617, 619–620, 622–623, 626, 630– 632, 634, 637, 640, 642, 644–645, 655, 660–661, 663, 668, 671, 692, 695, 698–701, 706–707, 718, 723–724, 731, 734, 737–738, 744, 759–760, 770, 772, 785–786, 789–791, 794, 832–833, 837–839, 851–852, 855–856, 860, 862–863, 883–884, 888–889, 895, 898–899, 901, 903, 906, 923, 933–934, 940, 943, 948–949 Geld 301, 377, 515, 625, 659, 719, 819, 844, 874 gelehrt, Gelehrte 3–4, 22, 26, 33, 36, 102, 167– 169, 233, 392, 401, 420, 531, 574, 592, 595, 597–598, 611, 626, 655–657, 659–661, 738, 768, 789, 809, 819–820, 840–842, 855– 856, 877, 899, 919 genealogisch, Genealogie 7, 14, 37–38, 63, 82, 87, 275, 402, 625, 715 Genie VII, 27, 32, 45, 201, 411, 448, 451, 465– 468, 474–480, 484–486, 560, 562–563, 565–566, 568–569, 576–578, 597–598, 600–601, 606, 608, 611, 613, 616, 619–620, 642, 656, 658, 671–672, 686, 792, 820, 832,
1072
Sach- und Begriffsregister
835–836, 875, 877, 889, 893, 897, 921, 934, 972–974 Genieästhetik 465, 476, 723 Genua 40–41, 237, 400, 561, 958–961 gerecht, Gerechtigkeit 66–67, 108, 180–181, 183–185, 209–210, 225, 266, 268, 271, 292– 294, 305–306, 317, 329, 341–347, 354, 365–366, 373, 375–376, 400, 440, 466, 571, 636, 671–672, 692, 737, 777–779, 782, 823– 825, 850, 867, 953, 962, 974–977 Geschichte, Geschichtlichkeit, geschichtlich 4–5, 7, 13, 18, 32, 36–37, 39, 41, 44, 55, 62–63, 65, 69, 71, 73–74, 77–83, 86, 88, 91, 93–96, 98, 100–101, 103, 106, 108, 110–111, 113– 117, 120, 129, 132–134, 142–144, 151–152, 159–160, 163–165, 168–174, 176–179, 182, 186, 192, 197, 201, 211–212, 214–215, 217, 228, 231, 233, 235, 240, 243–244, 246, 251–254, 257–259, 266–268, 270, 272, 274– 275, 279, 291–292, 299, 302, 308, 312–313, 315, 320, 322, 324, 333, 340–342, 344, 351–352, 354, 364, 366, 368, 375, 379–380, 382–384, 386, 398, 401–403, 410–411, 414, 427, 431, 437, 444, 452, 467, 469–470, 473, 484, 487, 490, 496, 499, 503–504, 506, 508–509, 512, 518, 523–525, 530–531, 536–538, 546, 548, 552, 561, 565–566, 572–575, 577, 581–582, 585, 587, 592–593, 596, 602, 607–608, 610, 615, 617–622, 624– 625, 633–635, 642–644, 646–647, 654, 663–664, 672, 679, 686, 694, 697–698, 709–710, 733, 738, 743, 747, 750, 773, 777– 779, 792, 794, 799–800, 802, 806–807, 821–822, 828, 838–839, 842–844, 846– 847, 851–855, 858, 865, 873, 884–885, 888, 913, 931–932, 934, 945, 947–948, 955, 958, 961, 965–966, 977 geschichtsphilosophisch, Geschichtsphilosophie 71, 121, 165, 168, 173, 176–178, 201, 212, 215, 219, 257, 292, 298, 350, 380, 385, 387, 452, 508, 565–566, 570, 585, 602, 627, 822 Geschmack 42, 87, 106, 414, 483, 506, 508, 540, 593, 761, 896 gesellig, Geselligkeit 39, 229, 231, 789, 791, 930, 954 Gesetz, gesetzlich 68, 90–91, 109–110, 112, 127, 142, 144, 148, 150–151, 175, 177–178, 191,
202, 210, 222, 227, 256, 301, 318–319, 346, 349, 352–353, 355–356, 373, 394, 403, 414, 416, 433–434, 467, 473, 494, 501, 522, 548, 550, 586, 618, 790, 817, 848, 876, 930, 981 Gesetzgebung, Gesetzgeber, gesetzgebend 112, 186, 348–349, 362, 465, 501, 610, 618, 621– 622, 656, 802, 863 Gesundheit, gesund 4, 25, 48, 55–56, 80, 159– 160, 169, 222–223, 248, 253, 269, 437–438, 442, 444, 547, 549, 562, 579–581, 594, 607, 658, 662, 664–665, 668, 681, 838, 937 Gewalt 57, 132, 134, 173, 180, 191, 201, 265, 277, 290, 315, 341, 351, 360, 362, 365, 373, 395, 397, 429, 431, 478, 525–526, 545, 556, 565, 568–569, 576–577, 581–582, 584, 605–606, 610, 616, 619, 650, 656, 723, 800, 824–825, 829, 832, 836, 846, 849–850, 882, 893, 925, 945, 965–966, 970 Gewerkschaft 817 Gewissen 62–63, 80, 110, 182, 352, 367–368, 387, 389–390, 559, 661, 827, 829, 841, 881, 890 Gewohnheit 51, 134, 167, 220, 264, 306, 345, 352, 355–357, 382, 448, 546, 555–556, 613, 653, 724, 779, 782–783, 794, 888, 921, 942, 973 Glaube, glauben, Gläubigkeit, Gläubige, gläubig 17–18, 28, 33–34, 40, 49, 55, 69, 77, 81, 83, 86–88, 90–92, 94, 98, 103, 107, 111, 114–115, 117, 121, 123, 129, 131–132, 137, 143–145, 149, 159, 166, 168–169, 171, 173, 177, 183–184, 187, 189–191, 195, 197–198, 207, 213, 215–218, 226, 239, 241, 252, 255– 256, 281, 284, 291–293, 295, 308, 310, 320, 337–338, 343–345, 347, 356, 360–361, 367–368, 381–382, 386–387, 391, 394, 400, 407–408, 410, 413–414, 416, 420, 422–423, 425, 445, 447, 451, 455, 460, 462, 464, 469, 476, 479–482, 492, 495, 502, 515, 521, 533, 540, 549, 551, 554–558, 571–572, 575, 578, 580–581, 585, 591, 615–617, 628–629, 665, 671, 681, 690, 705, 727, 755, 767, 782–783, 806–807, 811, 817–818, 827, 837, 848, 856, 863, 868, 871–872, 884–885, 887, 896, 916, 921, 930, 934, 958, 961, 964–968, 970–971, 974 Gleichgültigkeit, gleichgültig 104–105, 107–108, 147, 156–157, 278, 339, 351–353, 435, 486,
Sach- und Begriffsregister
607, 721, 750, 757, 784, 818, 830, 881, 900, 940 Gleichheit 49–50, 111, 115, 148, 157, 341–342, 344, 391, 548, 682, 823, 936 Gnade 404, 424–425, 463–464, 602, 728, 782, 968 gnadenlos 154, 775 Gnostizismus, Gnostiker 437 Göttin 55, 309, 485, 609, 658, 732, 976–977 göttlich, Gott, Götter 14, 38–40, 52, 89–90, 92, 94, 102–106, 108, 114, 123, 137, 140, 143, 162, 173–174, 176, 184, 190, 193, 195–198, 214, 216, 239, 248, 260, 263, 276, 282, 288, 291, 294, 302, 306, 309, 317, 320–321, 342– 343, 345, 347, 352–354, 362–364, 367, 381, 386–387, 393–394, 396–402, 404, 408, 410–413, 418–419, 421–425, 428, 430, 433, 436, 444–446, 448–449, 460–463, 467, 469, 476, 479–481, 487, 520, 529, 551, 556, 571, 573–575, 577–578, 581, 585, 602–603, 606, 626, 639, 642–643, 653, 675, 679, 683, 690, 723, 747, 756, 763, 774, 781, 793, 797, 800, 812, 817, 835–836, 844–846, 848, 886, 906, 915, 923, 928, 952–953, 957–959 grausam, Grausamkeit 171, 246, 270–273, 336, 349, 360–361, 365–366, 368–369, 372, 374, 436–437, 442–444, 462, 486, 501, 635, 709, 777, 782, 829, 920 grenzenlos 273, 615, 856 griechisch, Grieche, Griechenland 4, 13, 39–40, 50, 69, 89, 94, 100, 102, 113, 118, 129–130, 154–155, 162, 165–166, 169–170, 179, 191, 193, 217, 227, 240, 251, 254, 266, 268, 274, 276, 279, 302, 306, 308, 315, 320, 327–328, 330, 353, 356, 363, 366, 394, 397–402, 410–411, 414, 439, 441, 449, 457, 461–463, 468–471, 473, 482, 485–486, 490, 499, 502–503, 505–506, 509, 514, 520–521, 526, 534–536, 538–540, 544–546, 551, 570–571, 584, 595, 602, 608–609, 611–617, 619–621, 623–624, 627, 630–631, 645, 659, 672, 686, 694, 709–710, 717, 719, 734, 743, 766, 781, 793–794, 796, 799, 803–804, 812, 851, 853–856, 913, 941, 948, 959, 977 Hades 786 Harmonie, harmonisch 86, 126–128, 177–179, 196, 209, 251, 341, 455, 467, 527–528, 730, 771–772, 886–887, 906, 941, 954–956
1073
hart, Härte 7, 48, 123, 238, 246–247, 257, 265, 361, 366, 368–369, 379, 422–423, 446, 545, 615, 647, 787, 799, 815, 830–831, 855 Hartnäckigkeit, hartnäckig 281, 873, 962 hegelianisch, Hegelianer 67, 201, 215 Heiterkeit, heiter 60, 200, 207, 223, 279, 417, 476, 484, 489, 512, 611, 960 Hermeneutik, hermeneutisch VII, 14, 51–52, 287, 391, 704, 800, 951 heroisch, Heroismus, Heroisierung, Held VIII, 73, 155, 217, 239–241, 307–308, 313, 322, 367, 381, 387–388, 424, 431, 504, 537, 607, 609, 614–616, 622, 669, 699, 797, 799, 803, 820, 860, 875–876, 914–915 hierarchisch, Hierarchie 19, 128, 268–269, 312, 822, 843, 936 himmlisch, Himmel 25, 48, 90–91, 139, 309, 317, 330, 335, 455, 460, 463–465, 533, 582, 607, 746, 939, 959, 980, 982–983 Hinduismus 184 historisch, Historie, Historiker 7, 12, 27, 30, 32, 36–37, 39, 53, 55, 61–64, 69–74, 76–81, 83–84, 90–92, 97, 99, 104, 107–108, 111, 115–116, 120, 134, 140–142, 151–152, 154, 158, 167, 169–170, 180, 185, 188, 195, 197, 206, 219, 233, 235, 246–247, 253–255, 258, 266, 268–269, 273, 275, 277, 282–283, 308, 316, 326, 333, 350, 354, 363, 365, 384, 391–392, 394, 411, 415, 444, 449–450, 491, 523, 536–537, 542, 545, 566, 573–575, 582, 587, 591, 602, 604–605, 607–611, 614, 618– 619, 625, 636, 638, 642–646, 656, 659, 673, 679, 681, 685, 687, 689, 705, 707, 709–710, 718–719, 732, 734, 738, 773, 797, 814, 824, 835, 837, 841, 846, 849, 861, 881, 910, 924, 946–947, 956, 983 Hoffnung, hoffnungsvoll 11, 106, 201, 212, 320– 321, 380, 416–417, 439–440, 580–581, 588, 600–601, 633–634, 675, 738, 745, 756, 814, 828, 857, 867, 886 hoffnungslos 182, 338, 346, 407 höflich, Höflichkeit 237, 282–283, 698–699, 721, 726, 736 Höhenluft 571 Hölle 150, 182, 298–299, 367, 404 homo homini deus 362 homo homini lupus 362
1074
Sach- und Begriffsregister
Horizont 17, 39, 60, 106, 109, 113, 118, 146, 151, 159, 163, 165, 173, 181, 189, 197, 223, 229, 332, 351, 382, 421, 434, 449, 458, 463, 465, 471, 512, 556, 566, 582, 588, 619, 626, 644, 668–669, 694, 739, 806, 809, 816, 846, 862, 883, 931, 954, 966, 969 humanistisch, Humanismus, Humanist 167, 186–187, 831 Humanität 32, 187, 217, 319, 584–585, 700–701, 737, 952–953 Hund 145, 222, 227, 251, 271, 396–397, 734–735, 796 hymnisch, Hymne 460, 531 Hyperboreer 843 hypochondrisch, Hypochondrie, Hypochonder 29, 279–281, 946 Idealismus, Idealist, idealistisch 29, 37, 70, 83, 151, 173, 207, 269, 542, 607, 651, 871, 873, 884 ideologisch, Ideologie 17, 25, 35, 75, 195, 454, 570, 668, 886 idyllisch, Idylle 56, 668, 793, 978 Illusion 40, 84, 86, 90, 114–115, 170, 207, 213, 277, 282, 345, 377, 426, 448, 450–451, 478, 545, 575, 594–595, 652, 662, 762, 778, 831, 851, 943 illusionslos 98, 579, 699, 849, 904 immanent 139, 353, 574 immoralisch, Immoralist 51, 765 individuell, Individuation, Individuum, Individuen 33, 47, 72, 94, 101, 107, 130–131, 138– 139, 141, 159, 161, 171, 173, 178, 202, 212, 214, 216–218, 220, 224, 240, 253, 260, 262– 263, 267, 271–272, 302–303, 311, 333, 347– 351, 353, 360, 362–363, 368, 374–375, 379, 382, 405, 420, 445, 461, 466–467, 472, 475, 495–496, 516, 525, 541, 547–549, 560, 568–569, 572–574, 577–578, 580, 614–615, 634–635, 640–641, 647–649, 658–659, 664–665, 668, 673, 702, 717, 719, 725–726, 729, 737, 740–741, 745, 762, 768, 782, 784, 802–803, 805–806, 808, 820, 828, 842– 843, 845, 848–849, 851, 854, 859–860, 862–864, 866, 873–874, 936–937, 947–949, 958, 966, 971 industriell, Industrie 431, 577, 659, 810, 818, 830
Insekt 329–330, 359, 514, 633–634, 663, 796 Inspiration 45, 88–89, 103, 108, 463–465, 468, 474, 476, 541, 732, 789 Instinkt, instinktiv 31, 79, 113, 167, 352, 358– 359, 366, 438, 456, 476, 559, 614, 662, 724, 907, 948, 973 intellektuell, Intellekt, Intellektualismus, Intellektualität 14, 16–17, 30–31, 33, 70, 72, 87, 94, 96, 126–127, 132–134, 137–138, 145, 173, 182, 227, 281, 283, 293, 311, 313, 345, 387, 391, 416, 431, 451, 467, 505, 527–528, 554– 555, 557, 566, 568, 571, 601, 613, 618, 663, 668, 719, 724, 771, 773, 791, 811, 841, 868, 898, 903, 907, 928, 936, 962 intelligible Freiheit 254, 260, 262–263 international 59, 803, 855 Introspektion 80, 130, 728, 872 Intuition, intuitiv 45, 82, 262, 476, 479, 574, 780 ironisch, ironisieren, Ironie 43, 76, 87, 106, 164, 215, 229, 233, 248, 282, 311, 361, 380, 395, 404, 425, 434, 459, 502, 515, 532, 544, 579, 587, 593, 597–599, 611, 615, 656, 661, 684, 701–703, 709, 733–735, 748, 754, 759, 769, 780, 793, 806, 808, 829, 831, 855, 865, 875, 899–900, 903, 918, 930, 936, 941, 970, 981 irrational, Irrationalität 506, 595 irreligiös, Irreligiosität 384, 411, 826, 845, 847– 848 Irrtum 61–62, 64, 66–67, 71, 80, 85–87, 98, 104–105, 107, 111–112, 122, 126, 133–136, 138–139, 143–144, 146–148, 150–152, 166, 189, 199–200, 205, 213, 218, 220, 223, 239, 245–246, 253–254, 256–257, 259–262, 264, 271, 293, 296, 355, 360–361, 367, 381, 388, 408, 410, 416, 419–420, 422, 455–456, 475, 497–498, 533, 564, 582, 591, 604–605, 652, 693, 747, 755–756, 775, 789, 824, 837, 887, 909, 930, 964, 972 Islam 291, 539 Israel 600 italienisch, Italien 3, 41, 52, 182, 240, 368, 374, 401, 449, 473, 531–532, 544–545, 572, 600, 807, 864, 922 jesuitisch, Jesuiten, Jesuitismus 149, 186, 197, 295–297, 434, 487, 811–812, 878
Sach- und Begriffsregister
jüdisch, Jude, Judentum 103, 291, 356, 367, 399, 402, 716, 852–856 jugendlich, Jugend 13, 34, 48, 121, 125, 140–141, 181, 184, 187, 264, 271, 295, 306, 324, 333, 388, 396, 453, 508, 512, 544, 596, 599, 604–605, 641, 649, 695, 730, 758, 765, 768–769, 787, 817, 870, 897, 922, 934–935, 944, 963, 979 kämpfen, kämpferisch, Kämpfer, Kampf 63, 91, 162, 164, 191, 194, 198, 207, 216–217, 241, 265–266, 293, 296, 299, 310, 338, 342–343, 373–374, 381, 385, 402, 432, 434–435, 438, 441–442, 469, 491, 536, 549, 551–552, 568, 583, 591, 612, 615–616, 623–624, 634–635, 641, 657, 663, 667, 674, 694, 723, 729, 734, 763, 780, 782, 784, 787, 792, 794, 812, 825, 838, 845–846, 848, 854, 860, 863, 875, 894, 915, 933, 948, 955, 961, 965–967, 969, 971 kantianisch, Kantianer 67, 79, 105, 108, 133–134, 174–175, 254, 305, 315, 319, 324 kapitalistisch 922 Kaste 80, 83, 274–277, 312, 398, 583, 809–810, 823–824, 860 kategorischer Imperativ 174–175, 177, 319, 353, 890 kathartisch, Katharsis 288, 520 katholisch, Katholik, Katholisierung, Katholizismus 26, 165, 198, 233, 281, 295–296, 397, 413–414, 425, 434, 530, 539, 602, 790, 825–826, 838, 846–848, 856–857, 863, 912, 923, 933, 969 kausal, Kausalität 33, 79, 83, 120, 124–125, 127, 135, 143, 147, 261, 357, 377, 393, 514, 571, 601–602, 644, 787 kirchlich, Kirche 39, 102–103, 165, 176, 189, 191, 266, 282, 291, 295–296, 311, 316, 325, 359, 363, 368, 392, 399, 403, 406, 409, 413–414, 420, 434, 437, 446, 457, 530, 539, 557, 575–577, 602, 622, 679, 685, 768, 826, 836, 838, 847, 857, 861, 912–913, 920, 927, 933, 935, 958–960, 969 Klage 287, 462, 631, 657–658, 762, 782 Klassizismus 29 klimatisch, klimatologisch, Klima 281, 570–571, 732, 811, 860 Klischee 853, 912
1075
kollektiv 58, 112, 792, 842, 937 kolonial 30, 627, 663 Komödie 526, 711, 782, 947 Konkubinat 765, 789–791 konservativ, Konservatismus 29, 162, 494, 837, 839 kontraktualistisch, Kontraktualismus 812, 816 Korinther 103, 317, 407, 421, 747, 832 körperlich, Körper 22, 75, 93–94, 106, 119, 121, 123, 160, 226, 279–281, 331, 367, 377, 379, 395–396, 412, 436–438, 491, 526, 549, 593, 598, 611, 618, 652, 782, 861, 879, 899, 901 Kraft, Kräfte, kräftig 16, 18, 22, 45, 67, 74, 85, 89–90, 97–98, 105, 110–111, 114, 117, 121, 150, 152, 163, 171, 174–175, 178, 181, 183, 198–199, 222, 226–228, 241, 263–264, 275, 277, 282, 286, 298–299, 303–304, 311, 314, 338, 355, 358, 377, 379, 381–382, 385, 391–392, 396–397, 400, 407–408, 425, 428, 438, 442, 449, 463–465, 467–468, 472, 474–475, 477–479, 489–490, 506, 514, 522, 540, 544, 546, 549–551, 557, 560, 562, 566–568, 574, 578, 583–584, 587, 589, 591, 594–598, 606–607, 610, 613, 616–617, 629, 639–640, 642–645, 647–648, 650–651, 660, 667–668, 671, 674, 693–694, 699, 710, 726, 730, 735, 737–738, 747, 751, 756–757, 774, 805, 807, 810, 814–816, 818–819, 837, 840, 844, 852, 855, 858–861, 863, 873, 886, 888, 892, 895, 898, 908, 919, 925–926, 936, 946, 948, 965–967, 969, 972–973, 983 krank, krankhaft, Krankheit 3, 7, 16, 24–25, 29, 31, 34, 54, 56–57, 135, 161, 222, 248, 253, 279–281, 287, 309, 314, 327, 411–412, 437, 444, 446, 454, 520, 571, 573, 620, 658, 667–668, 673, 675, 681–682, 720, 752, 759, 839, 879, 901, 924, 926–927, 954, 959 kreuzigen, Kreuz 9, 399–400, 410, 540, 807, 847, 883, 885 Krieg, Krieger 189, 266, 276, 299, 308, 330, 338, 342, 347, 362, 403, 435, 506–507, 545, 589, 593, 608, 611, 616, 620, 634–635, 670, 709, 714, 794, 802, 805, 812–816, 826–828, 839, 842, 844, 852, 855, 857–859, 863–865, 888, 931–932, 946, 971 kritisch, Kritik, Kritiker VII–VIII, XI, 3, 13, 26–27, 31, 34, 36–37, 43, 51, 57, 60–61, 63, 65, 67–68, 74, 81–84, 86, 88–90, 95–97, 99,
1076
Sach- und Begriffsregister
101–102, 105–106, 110, 115, 120, 129, 134, 136, 144, 148, 150, 152, 154, 158, 162, 167, 171–172, 174, 178, 182, 184, 186, 192, 195– 197, 199, 203, 206, 208, 210–212, 225, 234, 243, 254, 257, 265–266, 270, 274–277, 282, 286–287, 289, 291, 309, 319, 326, 330, 334, 348, 354, 371–373, 392, 401, 403, 414, 430, 450–451, 454, 456, 462, 464, 470, 475, 478, 482, 490, 499, 501, 510–511, 518, 542, 550, 552, 554–555, 562, 570–572, 587, 591–593, 595, 604, 610, 614, 623–624, 627–630, 637, 639, 642, 648, 651–652, 656, 658, 660, 662, 666, 686–687, 696, 704, 733, 747, 770, 805, 811, 814, 819, 824, 837–838, 840–841, 850, 865, 871, 873, 879, 887, 899, 910, 915, 922, 924, 944, 947–951, 965, 971, 974 Kultur, kulturell VII–VIII, 3, 13, 16, 18, 24, 30, 38–39, 46, 52, 70, 73, 75, 78, 80, 82–83, 85–87, 89, 92–94, 102, 111, 113–115, 117, 120, 154, 156, 162–165, 167–174, 176, 186, 198, 220, 229, 234–235, 243, 251, 255, 265, 268–270, 282, 289, 296, 308, 312, 315, 356–357, 394, 397–398, 400, 427, 432, 434, 441, 445, 454, 461, 467, 469, 486, 501–504, 509, 520, 530, 534, 538, 547–548, 551–553, 570–573, 575–578, 580–585, 587–596, 601–602, 605–606, 608–610, 613–614, 617, 622–625, 627–631, 634–636, 640–642, 644–645, 647–651, 654–659, 662–664, 669, 673, 675, 694, 710, 769, 777–779, 784, 805, 807, 809, 811, 813–815, 824–826, 837–839, 846, 848, 851, 853–855, 858–860, 862– 863, 865, 868, 888, 912, 919, 941, 945, 947, 966, 969, 983 kulturphilosophisch 115, 167, 581, 738, 860 künstlerisch, Künstler, Kunst 16–18, 22, 24, 28– 30, 33–34, 36–37, 39, 47–48, 53, 59, 65, 70, 75, 85–89, 91–92, 95, 97–99, 101, 104, 106, 108–109, 113, 120, 126–127, 138, 154, 161–162, 164, 166, 169, 176, 181, 187–188, 193–194, 205–206, 216–217, 222, 228–233, 235, 237–238, 242, 248, 251, 267, 290, 295, 340, 364, 374, 381, 384–386, 393, 396–397, 402–403, 409, 414, 416–417, 427, 445, 448–454, 456–459, 461–466, 468–473, 475–477, 479–488, 490–491, 493–495, 498, 502, 506, 509–510, 515–520, 522–523, 527– 547, 552–553, 567, 570–571, 575–576, 578–
580, 586, 594–595, 597–598, 601, 607, 612, 626, 637–643, 647, 650, 652–653, 655, 663, 670, 672–673, 675, 677, 680, 686, 698, 710, 716, 734, 751, 771, 776, 795, 800, 808, 810– 811, 837, 855, 863, 865, 869, 888, 903, 905–906, 908, 942–943, 951, 961–963, 968, 974–975 kynisch, Kyniker 100, 619, 645–647, 721, 735, 830, 832 Lamarckismus 811 Landschaft 124, 668, 696, 854, 936 Langeweile, langweilig 232, 433, 435, 491, 600– 601, 605, 626, 639, 757, 879, 940–943 Leben 13, 18–20, 30–31, 33–34, 36, 38–39, 42– 43, 47, 49, 51, 55–56, 58–59, 61–62, 64, 66–67, 69, 75, 77, 84–85, 87, 90, 93–95, 97, 99, 101, 104, 110, 120, 123, 132, 139–143, 145, 155, 159–163, 166–167, 169–171, 174, 182–184, 187, 190–191, 194–196, 198, 200, 203, 205–221, 223–228, 230, 232–234, 240, 255–256, 263, 267–269, 274, 280, 284, 287, 289–290, 293, 295, 297, 299, 301, 305, 307, 309, 313, 321, 324, 327, 329, 336, 358–359, 367, 374, 381–384, 388, 394, 399, 403, 405, 407, 413–414, 417, 427, 430–431, 433–436, 440, 442, 447, 453–458, 461–463, 473, 477, 487–489, 509, 513, 516, 539, 542–544, 548, 561, 567–571, 575–576, 584, 593, 598, 600– 602, 607, 612, 614–616, 619, 621, 626, 635, 647, 651, 653–654, 656–657, 660–661, 663, 665–670, 672–675, 679, 688, 698, 707, 710– 711, 716, 742, 747, 753–755, 765, 772, 787, 795, 798, 806, 828, 830, 836, 838, 851– 852, 862, 870, 873–874, 878, 881, 883–886, 888, 894, 897, 904–906, 912, 917, 919, 923, 928, 937, 941, 943, 948–949, 955, 957, 959 Lebensweise 160, 280, 357, 644, 742, 747, 765 leer 76, 107, 133, 163, 200, 239, 245, 251, 375, 403, 465, 482, 515, 525, 571, 725, 755, 843, 848, 943 Legitimation, legitimieren 141, 163, 206, 235, 352, 556, 747, 821, 823, 827, 846, 871 Lehrgedicht 977 Leib, leiblich, leibhaft 27, 49, 92–93, 106, 161– 162, 269, 305–306, 330, 332, 343, 373, 417, 432, 471, 490, 515, 539, 590, 647, 878, 900, 951
Sach- und Begriffsregister
Leid, Leidende, leidend 3, 28, 48, 58, 60, 66, 82, 110, 163, 166–167, 204, 212–216, 218– 219, 223–224, 229, 277–281, 283–290, 292, 305–306, 329, 331, 343, 357, 361, 365, 367, 369, 371–372, 382, 385–387, 417–418, 430, 440–441, 445–446, 460, 462–463, 466–467, 490, 548, 550, 565, 591, 648–649, 657–658, 667, 683, 694, 697, 707, 725–726, 750, 774, 776, 784, 800, 809, 836, 844, 852, 900– 902, 910, 913, 920, 927–928, 931, 946, 962, 964, 977 Leidenschaft der Erkenntnis 45 leidenschaftlich, Leidenschaft 36, 42, 45, 104– 105, 107, 126, 132, 182, 194, 205, 225, 236, 241, 252, 285–286, 298–299, 306–307, 309, 321–322, 324, 331, 433–434, 437, 453–454, 460–462, 474, 491–492, 511, 516–517, 569, 594, 656, 663, 670, 675, 726, 771–773, 779, 783, 785–786, 788, 796, 825–826, 838, 858, 866, 869, 877, 883, 885, 898–899, 911–912, 918, 921–922, 932, 938, 942, 961–962, 975– 976 Leipzig IX, 129, 577, 610, 624, 930 Leitmotiv 56, 210, 299, 330, 354, 653 Liberalismus, liberal 296, 350, 822, 862–863, 918 Licht 9, 66, 72, 103, 120, 122, 124–125, 142, 144, 173, 191, 201, 316, 319, 338, 399, 408, 414, 444, 453, 461, 469, 471, 478, 480, 533, 540, 544, 576, 614, 617, 675, 731, 734, 837, 892– 893, 939, 974 Liebe, lieben 38, 49, 127, 140, 174–175, 187, 225, 232, 237, 257, 265–266, 277–278, 280–281, 283–284, 294, 296, 300, 303–304, 311, 317, 321, 325, 335, 339–340, 344, 354, 358–359, 381–382, 387, 413, 421–423, 425, 438, 440, 444, 447, 460, 467, 473, 481, 518, 539, 609–612, 618, 662, 665–666, 669, 671, 675, 704, 723–724, 743, 747, 749–750, 752–753, 755–758, 761–764, 771, 777–783, 785–786, 790, 800, 856, 911, 921, 924, 933, 935–936, 940–941, 945, 950–951, 974 Lied 393, 395, 461, 474, 522, 525, 581, 777, 982 Literatur 12–14, 16, 29, 32, 47, 56, 81–82, 92, 113, 146, 156–157, 165, 167, 179, 182, 217, 221, 233, 235–236, 277, 281, 292, 309, 312, 320, 332, 341, 356, 359, 362, 368, 402, 434, 444, 488, 492, 495, 502, 504, 511–512,
1077
525–526, 530, 537–538, 572–573, 577, 593, 596, 609–610, 622, 624, 636, 640, 652, 666, 709–711, 717–718, 722, 737, 756, 790, 792, 800, 807, 819, 830, 838, 847, 854, 895, 977 Lob, loben 22, 30–31, 204, 218, 220, 227, 232, 236, 256, 297, 306, 327, 334–335, 339, 345, 350, 377, 381, 432, 477, 485, 503, 506–507, 609, 683, 721, 878, 900–901, 918, 970, 983 Logik, logisch 33, 36, 61–62, 65, 67–68, 84–85, 91, 98–100, 106, 111–112, 115–117, 132, 134– 135, 138, 142, 144–145, 148–149, 153, 200, 202–203, 205–209, 416–417, 446–447, 539– 540, 586, 670, 690, 783–784 Lüge, lügnerisch, lügenhaft 57, 112, 119, 131, 185, 215, 223, 265, 294–295, 371, 373, 381, 386, 461–462, 498, 509, 567, 624, 629, 736, 782, 787, 856, 867–868 lutherisch 233, 789–790, 927 Luxus 663, 795 lyrisch, Lyrik 46, 160, 192, 399, 463, 499, 948, 980 Macht, mächtig 53, 57, 97, 112, 114, 169, 174, 181–183, 240–241, 273–277, 285–288, 296– 298, 305–306, 311, 327, 338, 341–344, 346–347, 360–362, 365, 367, 371–374, 385, 397–398, 402, 406, 409, 414, 420, 428, 430, 443, 452, 456, 460, 467, 473–474, 480–481, 489, 499, 506, 522, 536, 539, 544–545, 556, 563–564, 573, 577–578, 584, 612–614, 616–617, 621–623, 628, 647–648, 682, 691, 693–694, 701, 713, 726, 737, 756, 771, 774–775, 782–783, 791–792, 801, 808, 813, 816–819, 821, 823, 825–826, 835, 839, 844, 846, 849, 852, 855, 859–861, 881, 900, 925, 930–931, 936, 944, 948, 965 malerisch, Malerei, Maler 22, 239, 471–472, 488, 490, 511, 522, 527–528, 531–532, 534, 602, 644, 651–653, 807, 952–953 Männlichkeit 86, 579, 608 Märtyrer 183, 279, 322–323, 797, 920 marxistisch 708, 824 Maschinerie, Maschine 319, 394, 542, 582, 595, 620, 634, 817, 832–833, 922, 929 Maß 39, 83, 593, 763, 783 Masse 127, 130, 132, 188, 191, 296, 310, 349, 391, 474, 593, 606–607, 622, 633–634, 663,
1078
Sach- und Begriffsregister
669, 690, 805–806, 808–809, 816, 833– 834, 850, 862–863 maßlos, Maßlosigkeit 460, 837 materialistisch, Materialist, Materialismus 65, 106, 129, 132, 251, 263, 315–316, 581, 839, 968 medizinisch, Medizin 19, 56, 98, 161, 226, 279– 280, 385, 437, 517, 579–580, 596, 682, 686, 760, 915 Meer 18, 107, 155, 201, 282, 308, 340, 364, 378, 402, 417, 449, 455, 506, 546, 564, 583, 763, 798, 809, 858, 924, 959 melancholisch, Melancholie 7, 53, 187, 226, 469–470, 533, 648, 979 Melodie 126, 128, 461, 464, 523, 578, 771, 850, 923–924, 954–956 Melos 342–343 Menschenrechte 904 Menschentum, Menschheit 13, 19, 40, 61, 69, 74, 76–77, 85, 91–93, 116–121, 123, 139, 146, 151–152, 154, 156–157, 168, 171–174, 176–177, 179, 189, 191, 199–201, 211–212, 214–219, 239, 244, 246–247, 249, 254, 257– 258, 271, 275, 287, 290, 311, 348–349, 352, 380, 383, 385, 387–392, 394, 425, 430, 438–439, 442, 452–453, 466–467, 472, 508, 524, 544, 565–569, 573, 575, 577, 579, 582, 586–587, 591, 594, 608, 625, 634, 638, 640, 642, 644, 647, 662, 673, 698, 738, 747, 774, 805, 816, 837–838, 842, 844, 849, 857–858, 878, 886, 889–890, 922, 931, 939, 957, 965, 967, 970 Metapher, Metaphorik, metaphorisch 19, 44, 51, 54, 57–58, 65, 102, 130, 132, 152–154, 156, 162, 178–179, 197–201, 225, 227, 231, 238, 248, 252–253, 305–306, 421, 465, 474, 480, 494, 497, 501, 511–512, 514, 516, 533, 545, 548, 571, 573, 581–582, 584, 588, 590, 594–596, 617, 629, 635, 640, 642, 647–648, 650, 653–654, 657, 663, 668, 673–674, 692–693, 730, 755, 794, 801, 804, 811, 830, 833, 870, 872, 877, 906, 911–913, 922, 924, 928, 937, 941, 945, 947, 976 Metaphysik, Metaphysiker, metaphysisch 13, 18, 27, 29–30, 32–33, 36–37, 39, 42, 45, 60– 63, 65–66, 68–71, 73, 76–77, 81, 83, 85–88, 92, 94–98, 101–102, 104–109, 114, 120, 127, 131, 134–137, 139–144, 147, 150–159, 161–
164, 166, 174–177, 181, 183–186, 188–189, 191–197, 199–200, 202, 206, 210, 224, 234, 243–248, 267, 294, 298–299, 301, 332, 354, 382, 385–387, 393, 416, 426–428, 441, 457, 459, 481, 522, 533–534, 542–543, 570–571, 573–574, 581, 594–595, 622, 628, 640, 642–643, 647, 650, 673, 771, 802, 887, 890, 900 Methodologie, methodologisch 84, 249 Mexiko 590 militärisch, Militär 330, 342, 346, 369, 402, 589–590, 611, 616, 657, 809, 811, 813, 818, 821, 865, 872 misanthropisch 588, 590 Misogynie, misogyn 748, 763, 771 Mitleid, mitleiden, mitleidig 52, 54, 73–74, 194, 218, 277–278, 281–289, 304, 330, 352–354, 360–361, 371–372, 374, 382, 461, 468, 517– 518, 584, 649–650, 670, 696–697, 699, 712, 720, 723–724, 736, 876, 881, 900, 920 Mittelalter, mittelalterlich 165, 183, 186, 233, 315–316, 367, 379, 400, 438, 501–502, 534, 572–573, 627, 663, 846, 853, 855–857, 954–956 moderner Mensch 159, 161–162, 345, 399, 532, 955 Moira 394 monarchisch, Monarchie 363, 662, 825 Monismus 358 Monogamie 363, 555–556, 786, 789 monotheistisch 386 Moral, Moralist, Moralistik, Moralität, moralisch 4, 13, 18, 25, 30–34, 40–41, 45–46, 50, 61–65, 73–77, 87, 90–92, 96, 105, 108– 109, 112, 126–129, 132, 156, 159, 162–164, 166–169, 173–178, 182, 184, 192, 194–195, 201–202, 204, 218, 220–221, 223–225, 228– 230, 232, 234–236, 238–248, 253–261, 263–265, 268–270, 274–278, 282–284, 287, 293–295, 297–298, 301–305, 311, 314–315, 318–319, 322–324, 326, 329, 332–334, 336–337, 339–341, 348–354, 356, 359–360, 362–363, 365, 368–369, 371–375, 379–383, 385, 387, 393, 398, 401–402, 411, 414–417, 421, 423, 427–428, 430–433, 443, 451–452, 456, 459, 464, 466–467, 469, 475, 479, 485–486, 512, 518–519, 543, 547–548, 553–554, 584, 595, 598, 601, 604, 610–611,
Sach- und Begriffsregister
625, 639, 656–658, 673, 677, 684, 688–689, 691–694, 701, 706, 712, 724, 732, 744, 747, 761, 768, 776, 778, 789, 803, 815, 824, 827– 828, 831, 858, 869, 871, 881, 883, 892, 900, 902, 907, 930, 940, 954, 971 Morgenröthe 34, 41, 46, 693 Motto 45, 150, 223, 225, 241–242, 244, 717, 875, 879, 939 müde, ermüden 10, 20, 72, 119, 246, 389, 458– 461, 593, 639 Musik, Musiker, musikalisch 22, 37, 53, 59, 89, 126–128, 395, 415–416, 449, 455, 459, 461, 469, 477, 487–489, 493, 506–507, 521–532, 534, 536, 543, 548, 550, 580, 616, 624–625, 672, 674, 716, 722, 761, 799, 822, 863, 901, 908, 923, 948, 955–956 Müßiggang 49, 809 Mysterium 191, 351, 363–364, 399, 821, 835 mystisch, Mystik 31, 36, 45, 104, 131, 133, 137, 192, 216, 479, 574 Mythologie, Mythos, mythologisch 89, 102, 106, 117–119, 189, 243, 245–246, 320, 340, 390, 394, 399, 411, 430, 451, 572, 576–577, 584, 606, 614–615, 617, 621, 638–640, 707, 786, 795–796, 843, 912–913, 932 Narkotikum, Narkotisierung, narkotisch 385– 386, 804 Narr 293, 388, 393, 501–502, 693, 909, 933, 980–983 nationalistisch, National, Nationalismus 9, 172, 177–180, 233, 252, 404, 434, 537, 556, 602, 616, 628, 805–806, 817, 822, 826, 852, 854–855, 857, 862, 865, 946 nationalliberal 822, 862–863 Nationalsozialismus 34 Natur 32–33, 60, 64, 69–70, 76, 78, 82, 86, 91, 94, 98, 101–104, 108, 110–113, 115, 127, 129–130, 138, 145, 148–151, 174, 176, 178, 181, 184, 190, 197, 205–206, 210, 212, 216, 219–221, 226–227, 231, 239, 245, 248–252, 256, 265–266, 269–270, 284, 290, 297–298, 301, 310–311, 316, 322, 326, 346–347, 353, 359, 362, 364, 369, 378–379, 381, 393, 395, 397–398, 402, 410, 417–418, 425, 427, 438– 439, 443, 451, 463, 468–469, 475, 477, 492, 496, 504, 536–537, 539, 543, 548–552, 562–563, 565–566, 569, 571, 574, 579, 586,
1079
590–591, 595, 598, 600–602, 608, 611, 613–614, 616, 621–623, 625–626, 629, 631, 634, 637–638, 642, 665, 670, 673, 696–697, 714, 721, 730, 748, 751, 763, 778, 780, 785– 786, 792, 814, 816–817, 823, 826, 832–833, 837–838, 869–870, 874, 880–881, 888, 893, 918, 943, 950, 952–953, 955–956, 973, 976, 978 Naturalismus 447, 537, 574 Naturrecht 346, 362, 816 naturwissenschaftlich, Naturwissenschaft 27– 28, 32, 61, 63–64, 70–72, 82, 101–102, 136, 148, 210, 250, 316, 379, 428, 628, 631, 642– 643, 748, 856, 918 Naumburg IX, 4, 795 Nerven 107, 124, 279, 370, 372, 435, 443–444, 489, 520–521, 526, 528, 668, 753 Nervensystem 280, 329, 501, 580, 663 nervös 280, 412 Neues Testament 13, 103, 175, 317, 335, 408, 410, 422, 498, 593, 675, 939 Neukantianer 177, 205 Neuplatoniker 437 Nibelungen 875, 915 nihilistisch, Nihilismus 34, 167, 181, 200, 221, 752 Nomoi 39, 268, 376, 648, 881, 958 normativ 18, 164, 169–170, 173, 227, 336, 394, 434, 453, 608, 758 Noumenon 137, 417 Nützlichkeit, nützlich 62, 74, 96, 98, 120, 152, 158, 174, 176, 178, 185, 188, 203–204, 239, 249, 252–253, 255, 257–258, 276, 282, 294, 297, 342–343, 345, 348–350, 352–357, 369–370, 382, 403, 423, 478, 486, 548, 550, 591, 632, 663, 760–761, 774, 785–786, 826, 845, 891, 922, 929–930, 934, 946, 949, 968 objektiv, Objektivität 107, 130, 138, 228, 347, 466, 664, 715, 726, 883, 891 Objektivation 127, 184, 522 Obskurantismus 8, 856 Ohnmacht, ohnmächtig 141, 273–274, 285, 715, 769 Ontogenie, Ontogenese 272, 485, 641, 649 Ontologisierung, ontologisch 128, 206 Oper 55, 128, 522–523, 525, 607
1080
Sach- und Begriffsregister
opfern, Opfer, Opferung, Aufopferung 79, 95, 137, 241–242, 282, 292–293, 300–301, 325, 351–352, 354, 364, 367, 381–382, 394, 396, 400, 421, 433, 475, 479–480, 506, 559–560, 602, 690, 698, 725, 732, 749, 777, 779, 786, 797, 823, 828, 860, 865, 886, 888, 904, 950, 966, 973, 977 Opium 386 optimistisch, Optimismus 22, 95, 97–99, 109, 194–197, 202, 239, 294, 380, 382, 425, 485, 570, 575, 582, 609, 620, 633, 672, 674, 814, 837–838, 851, 857–858 Orakel 297, 306–307, 309, 411–412, 779–781 orientalisch, Orientalismus, Orientalisierung 401, 528, 629, 853–854, 856 Originalität 31, 49, 113, 172, 197 österreichisch, Österreich 318, 611, 864 pädagogisch, Pädagogik 525, 577, 601, 610, 627–628, 631, 733–734, 740, 821 panhellenisch 623–624 Pantheismus 267, 642–643 paradox, Paradoxie 288, 436, 439, 496–497, 519, 620, 687, 740, 745, 751, 763 parasitisch, Parasit 195, 718–719, 774, 946 parlamentarisch 180, 822 Parodie 487 Partei 28, 322–323, 368, 501–502, 635, 638, 681, 699, 705–706, 708, 733, 778–780, 792, 806, 817–818, 821–823, 841–842, 847–848, 862–863, 891, 902, 919, 963, 966 Partizipation 805 pathologisch 462, 474, 682, 752 patriotisch, Patriot 311, 327–328, 812, 865 pazifistisch 857 Peripatetiker 619 perspektivisch, Perspektive, Perspektivierung, Perspektivismus 17, 36, 43, 47, 50, 57, 62– 63, 80, 90, 112, 115–116, 173–174, 184, 192, 195, 200, 211, 214, 218, 227, 242, 251, 268, 275, 277, 282, 376, 384, 406, 409, 432, 448, 474, 484, 492, 506, 508, 512, 547, 569–570, 581, 587–588, 595, 604, 652, 658, 664, 667, 707, 721, 740, 756, 759, 776–777, 786, 790, 805, 834, 860, 903, 944, 949, 958, 966 pessimistisch, Pessimismus, Pessimist 29, 99, 141, 186, 194–196, 198, 202, 207, 209, 213,
219, 222, 257, 382, 435, 588, 745, 751, 754, 959 Pflicht, Verpflichtung, verpflichten 3, 33, 54, 105, 168, 173–175, 224, 268–269, 273, 283, 299, 324, 349, 352, 467, 540, 657–658, 690, 702, 723–724, 728, 813, 818, 823, 831, 848, 851, 880, 903, 961 Phaidon 66–67, 804 Phaidros 412, 480 Phänomenologie, phänomenologisch 412, 893 Phantasie, phantasieren 86, 109, 122, 124–125, 132–133, 139, 172, 179, 198, 212, 214, 216, 218, 260, 262, 287, 357, 361, 368–369, 425–426, 437–438, 451, 462–464, 501, 506, 581, 614, 629, 778, 842, 857, 880, 894–895, 910 philologisch, Philologie VIII, 3, 10, 12, 14, 24, 26–27, 29, 36, 39, 78, 101–102, 104, 112, 155, 166, 176, 233, 316, 320–321, 384, 443, 462, 505, 507, 509, 545, 605, 609, 623– 624, 632, 637–638, 645, 668, 679, 717, 745, 794, 797, 799, 805, 939 philosophiegeschichtlich, Philosophiegeschichte 99, 618 philosophisch, Philosophie, Philosoph 3, 6, 8, 12–14, 16–17, 19–20, 24, 26–28, 30, 32–38, 40, 43–46, 51, 59–74, 76–84, 87, 90–93, 95–101, 106–107, 109–111, 113, 115–117, 120–121, 123, 126, 129–132, 134–136, 138– 141, 144, 149–150, 153–154, 157, 161–162, 165, 167–169, 171, 173–174, 176–178, 184– 186, 188–195, 197–198, 200–202, 205–207, 209, 211–212, 215, 219–221, 223–225, 227, 229, 231, 234–235, 240, 243–247, 251–253, 255–257, 259–260, 262–263, 266–269, 283–284, 287, 290, 292, 297–299, 302, 309, 315–316, 318–319, 321, 326–329, 331, 334, 342, 350, 352, 359–361, 371–372, 378, 380, 384–387, 390, 392–393, 415–416, 424–425, 427–429, 431, 437, 439–440, 449, 451–452, 465, 474, 476, 486, 492–494, 498, 507–508, 522, 533, 542, 548, 555, 565–566, 570–571, 573–575, 580–581, 583, 585, 588, 590–591, 597–599, 601–602, 610–611, 613–623, 627– 628, 639, 642–643, 645–647, 653, 656, 661, 666–667, 671, 686, 688, 692, 697, 702, 717, 730, 734, 738, 747, 749, 763, 767, 779, 783– 784, 791, 798, 800, 802–803, 808, 814, 822,
Sach- und Begriffsregister
831–833, 836, 842, 850–851, 853, 856, 860, 867–869, 871–872, 874, 876, 879, 883–884, 886, 895, 908, 923, 928, 930, 938, 942–943, 946, 948–949, 961, 974, 976, 978, 981 Phylogenese 485, 641, 649 Physik, physikalisch 26–27, 70, 77, 101, 110, 160, 179, 189, 243, 245–246, 620, 863, 889, 976 physiologisch, Physiologie 13, 25, 56, 64, 87, 106, 108, 110, 122–124, 133, 139–140, 270, 375, 411, 465, 519, 588, 590, 594–596, 790, 796, 800, 853 pietistisch, Pietismus 192, 281, 406, 444, 489, 529–530 platonisch, platonisieren, Platonismus 113, 251, 282, 370, 411, 456, 481, 609, 652, 756, 800, 852, 953, 959–961, 966 pluralisch, Pluralismus, Pluralisierung 164, 420, 744, 953 poetisch, Poesie 126, 154, 160, 215, 300, 399, 417, 481, 490, 499, 505, 511, 517, 521–523, 540–541, 611, 650, 663, 666, 710 polemisch, Polemik 27, 29, 68–69, 73, 78, 109, 171, 185, 197, 272, 340, 358, 404, 408, 412, 416, 472, 475, 486, 524, 527, 530, 561, 593, 620, 637, 653, 659, 694, 699–700, 850, 923 Polis 571, 851 Politeia 39, 83, 287, 299, 376, 518, 599, 624, 648, 722, 850–851, 958–959, 975 politisch, Politik 17–18, 73, 79, 83, 87, 169, 172, 178, 180–181, 187, 266, 296, 318, 342, 346– 347, 368, 402, 405, 434, 443, 456–457, 469, 478, 482, 502–503, 517, 579, 591, 616, 618, 622, 632, 648, 656, 661, 664, 681, 684, 690, 707–708, 722, 745, 769, 771, 778–779, 791, 795, 805–806, 808–812, 815, 817–820, 822, 825–826, 828, 834, 839, 841–844, 847, 851, 855, 860, 862–865, 867, 888, 890, 916, 948, 972, 974–975 Polygamie 785, 789–790 Polytheismus 302 populär 71, 150, 190, 198, 209, 233, 272, 280, 341, 364, 437, 446, 459, 467, 483, 516, 622, 632, 807, 854, 868 Positivismus, positivistisch 30–32, 34, 36–37, 64, 86, 88, 134, 151, 171, 362, 816, 823, 966 postmodern 164
1081
Presse 365, 504, 586, 589, 622, 818–819, 822, 840, 854, 888 preußisch, Preußen 180, 187, 197, 296, 539, 588–590, 611, 813–814, 848, 918 primitiv 93, 258, 272, 638 principium individuationis 107, 110, 476 proletarisch, Proletariat 465, 659, 719, 830 Prosa, prosaisch 15–16, 46, 341, 458, 499, 535– 537, 709–710 protestantisch, Protestant, Protestantismus 182, 192, 233, 281, 296, 366, 425, 529–530, 572, 790, 836, 913, 928 Psychoanalyse 75, 128, 871 psychologisch, Psychologie, Psychologe 3, 7, 30, 33, 35–37, 59, 62–63, 75, 110, 140–141, 146–147, 151, 154, 194, 228–230, 232–235, 238–239, 242–246, 248–250, 253, 261, 273, 277, 293–294, 310, 323, 360, 384, 407–408, 412, 418–420, 425–426, 430–431, 435, 446, 484, 492, 503–504, 634, 668, 677, 681–684, 691, 708, 713, 726, 750, 758, 787, 893, 930, 951 psychophysisch 922 pyrrhonisch 157, 211, 733, 887, 967 Pythagoreer 622 Rabe 251 Rache 256, 273–274, 305–306, 308–310, 319, 341, 344, 353–354, 360, 371, 382, 431, 612, 726, 732, 735–736, 927, 962, 982 Rang, Rangordnung 9, 49, 57–58, 94, 268–269 Rasse 80, 93, 551–552, 583, 590, 662, 664, 861 rational, rationalistisch, Rationalität 100, 205– 206, 318, 426, 431, 456, 461, 476, 627, 907 Rätsel, rätselhaft 48, 57, 146, 313, 326, 470, 481, 618, 621, 797 Raubtier 54, 362, 823, 978 Rausch, rauschen 45, 87, 92, 403, 567, 646, 920 Reaktion 8, 22–25, 28, 96, 121, 180–182, 233, 306, 431, 545, 587, 659, 700, 796, 804, 850, 969 realistisch, Realist 192, 504 Rechtsgeschichte, rechtsgeschichtlich 344, 375 rechtsphilosophisch 318 Redlichkeit, redlich 17, 72, 311, 387, 451, 553, 808 Reformation, Reformator 39, 181–182, 187, 233, 296, 314, 366, 431, 529–530, 572, 642, 789–790, 948, 969
1082
Sach- und Begriffsregister
Reiseführer 545 Relativierung, relativieren 8, 17, 30, 47, 144, 212, 239, 282, 294, 297, 329, 610, 748, 805, 867 Relativismus, relativistisch 167, 195, 675, 967 Religion, Religiosität, religiös 4, 18, 24, 32–33, 39, 60–62, 64–65, 69–70, 75–76, 79–80, 83, 86–88, 90, 93–95, 104–105, 108–109, 117, 126–128, 132, 138, 151–152, 154–155, 157, 159–160, 163–165, 182–183, 188–194, 199, 202, 205–206, 220–221, 223–224, 234, 243, 245–246, 248, 257, 281, 291–293, 296, 298, 312, 316, 327, 329, 352, 359, 363, 368, 375, 380, 384–387, 390–394, 398–404, 406– 420, 423–427, 430, 436–437, 441, 443–444, 446, 448, 450–451, 454, 456–457, 459, 474, 478, 480–481, 504, 518, 522, 530, 533, 539, 542–543, 547–548, 550, 555–557, 566, 571, 573, 575, 577, 579, 581, 594–595, 602, 608, 612, 624, 626–628, 638, 640–643, 647, 650, 654–655, 662, 672–673, 675, 732, 737, 747, 797, 811, 826, 843–848, 886, 888, 894, 906, 913, 926, 939, 973, 977 Reminiszenz 482 Renaissance 39, 52, 180–183, 185–187, 490, 530–532, 534, 572–573, 580–581, 686, 758, 807 Republik 825, 827 Revolution, revolutionär 30, 187, 236, 482, 541, 553, 583, 671, 681, 760, 816–817, 822, 824, 826–827, 837–839, 847 Rezeption 12, 28, 33, 37, 50, 59, 111, 149, 236, 240, 393, 396, 448, 474–475, 481–483, 493–496, 503, 515, 538–539, 545, 600, 607, 664, 678, 743, 807, 838, 854, 885 Röcken 795, 960 romantisch, Romantik 13, 31–32, 45, 50, 89–90, 168, 170–172, 238, 317, 389–390, 444, 464, 494, 502, 540, 701, 762, 857, 894–895, 936 römisch, Rom 154–155, 182, 187, 240, 248, 252, 266, 302, 316, 327–328, 343, 368, 400–404, 410, 432, 434, 439, 468–469, 474, 486, 520, 530, 540, 545–546, 548, 585, 587, 607, 622, 686, 719, 813, 833–834, 858 Ruhm 296, 453, 477, 487, 600–601, 609, 636, 738, 901, 933 russisch, Russland 11, 234, 437, 600, 662–664, 752, 825–826, 864
Sage 470, 480, 796 Sänger, singen, Gesang 370, 450, 460, 463, 478, 486, 532, 581, 948, 955–956 satirisch, Satire 213, 300, 966 Schatten 11, 16, 20, 41, 72, 106, 156, 169, 182, 186, 216, 218, 245–246, 251, 264, 299, 457, 471, 487, 522, 549, 634, 721, 857, 914, 923, 978 Schauspieler 222, 289–290, 686, 952–953 Schein 92, 98, 110, 150, 196, 202, 239, 271, 286, 289–290, 304, 323, 338, 536–537, 575, 765, 787, 826, 934, 945 Scherz, scherzen, scherzhaft 64, 463, 485, 497, 576, 586, 777, 982 Schicksal 46, 793, 804, 820, 842, 860, 875, 884, 927, 931, 933 Schlaf 15, 93–94, 116, 121, 123, 125, 137, 280, 332–333 schmerzlich, Schmerz 3, 24, 58, 60, 74, 126, 138, 142, 144–146, 203, 224, 255–256, 277–278, 280, 285, 287, 289, 327, 331, 359–361, 371– 372, 374, 385, 387–389, 413, 435, 441, 462, 467, 485, 489, 491, 524–525, 532–533, 549, 663, 712, 715, 753, 794, 796, 801, 804, 828, 881–882, 892, 900, 913, 920, 937, 943, 961, 963, 977 Scholastik 296 Schönheit, Schönes 13, 23, 31, 48, 61, 66–67, 74, 85–86, 88, 92, 96, 105, 110, 143, 190, 205, 321, 332, 343, 381, 385–386, 388, 403, 417, 437, 454–459, 472, 529, 546, 584, 646, 650, 652, 696, 762 schopenhauerisch, Schopenhauerianer 67, 133, 301 Schöpfer, schöpferisch 32, 92, 112, 125, 196, 368, 478, 571, 584, 606, 668, 773, 800, 889, 957 Schöpfungsgeschichte 190, 675 Schuld, schuldig 134, 138, 175, 215, 236, 255, 261, 263, 276, 279, 300, 318–319, 322, 331, 367, 379, 397, 418–419, 424, 436, 439–440, 587, 702, 706, 751, 837–838, 852, 912–913, 976 schwärmerisch, Schwärmer 170, 277, 858, 967 Schweigen, schweigen, verschweigen 8–9, 21, 25, 32, 46, 59–60, 105, 119, 142, 152, 167, 195, 201, 297, 315, 396, 430, 448, 482,
Sach- und Begriffsregister
630–631, 683, 699–700, 735, 737, 741, 745, 807, 878–879, 980–983 Schweiz, Schweizer 22, 187, 318, 404, 528, 593, 642, 864 Selbsterkenntnis 57, 297, 417, 715, 734, 744, 871–872, 954 Selbstkritik 46, 194 Selbstopfer 950 Selbstwiderspruch 887 sexuell, Sexualität 363, 436, 465, 517, 520, 611, 755–757, 764–765, 767, 789–791 Sils-Maria 983 Skepsis, Skeptizismus, Skeptiker, skeptisch 17, 27, 29, 61, 76–77, 81, 86, 112, 127, 153–154, 156–158, 160, 211, 216, 402, 466, 475, 512, 580–581, 601, 614, 619, 622, 624, 733, 738, 806, 887, 958, 966–968 Sklave, Sklaverei 264, 266, 275, 277, 343, 366, 401–402, 434, 501, 520, 658–660, 670, 719, 821, 829–830, 832, 904, 968 sokratisch, Sokratismus, Sokratiker 98, 100–101, 380, 385, 426, 503, 621, 674, 707, 713 Solipsist 900 Sonne, Sonnenlicht 10, 57, 255, 264, 308, 317, 378–379, 499, 545–546, 555, 563–565, 670, 721–722, 774, 803–804, 814 sophistisch, Sophist 36, 198, 535, 571, 652, 686, 722, 734, 756, 850 Sorrent 3–8, 12–13, 15, 21–23, 42–43, 53, 64, 110, 122, 137, 161, 237, 259, 283, 330, 344, 375, 439, 449, 455, 494, 538, 562, 614, 645–647, 668, 711, 746, 767, 782, 860, 900, 928, 954, 958 souverän, Souveranität 22, 296, 694, 822, 844 sozialdemokratisch, Sozialdemokratie 708, 817 Sozialismus, Sozialist, sozialistisch 172, 178, 368, 454, 568, 570, 708, 803, 805, 808, 816–817, 823–825, 827, 849–851, 859, 862, 865, 918 soziologisch, Soziologie 30, 85, 119, 176, 227, 287, 550, 613, 622 spanisch 436, 439–440, 532, 782–783 Sparta, Spartaner 342, 469, 609, 616 Staat, staatlich 18, 26, 33, 39, 179–180, 201, 217, 256, 266, 294, 310, 318, 351–352, 359–363, 366, 368, 371, 375–377, 397, 402, 406, 420, 433–434, 539, 548, 552–553, 557–558, 566–569, 573, 586, 593, 604, 608–609, 628, 648, 659, 662–663, 716, 770, 805–806,
1083
811, 813, 815, 820, 822, 825–826, 828, 830, 833, 836–838, 840, 843–852, 857, 860, 862–866, 869, 874, 925, 946, 968 stilkritisch 510 Stoa, Stoizismus, Stoiker, stoisch 24, 205–206, 221, 224, 227, 236, 252, 299–300, 327, 619, 621, 667, 670, 872, 881 Strafrecht 263, 336 Sturm und Drang 792 Sublimierung 61, 75, 360, 520, 580, 618 Suizid 138, 223, 307–309, 327–328, 336, 697 Sünde, sündhaft, Sündhaftigkeit 77, 81, 182, 186, 298–299, 314, 317, 335, 376, 401, 404– 406, 410, 419, 421, 424–425, 435–436, 439–440, 444, 447, 571, 672, 753, 927, 939, 977 Sündlosigkeit, sündlos 410, 446–447 supranaturalistisch, Supranaturalist 106 Syllogismen 115–116 System, systematisch 12, 16, 29, 33–34, 70, 72, 81–82, 84, 90–91, 93, 103, 106–107, 113, 175, 188, 212, 272, 293, 296, 299, 316, 324, 331, 347, 380, 392, 397, 404, 411, 431, 437, 489, 494, 498, 527–529, 541, 548, 550, 553, 589, 598, 644, 650, 652, 686, 690, 749, 783–784, 799, 822, 865, 869, 893 Tanz, tanzen 399, 455–456, 466, 474, 511, 525, 536, 650, 942–943 technisch, Technik 157, 169, 302, 384, 450, 489, 498, 504, 529, 590, 594, 633, 656, 678, 801, 834, 915 Teleologie, teleologisch 7, 47, 79–80, 203, 223, 250, 574, 602 terroristisch, Terrorismus 17, 850 Teufel, teuflisch 52, 198, 218, 292, 371, 438, 440, 487, 561–562, 807, 854, 926 Theater 372, 378, 414, 492, 613, 782–783, 878 theologisch 60, 69, 83, 88, 94, 103–104, 108– 109, 137–138, 177, 182, 185, 195, 197–198, 202, 233, 268, 282, 291, 296, 302, 317, 366, 384, 392, 400, 404, 419–420, 425, 446–447, 666, 716, 728, 843, 876, 913 tierisch, Tier, Tierheit 74, 76–77, 106–107, 110– 112, 114, 125, 133, 143, 146–147, 184, 201, 224, 251, 263–266, 269, 271–272, 299, 329, 348–349, 357–361, 368, 374, 438, 442, 458, 525, 548, 550, 552, 562, 586–587, 633–634,
1084
Sach- und Begriffsregister
641, 660, 662, 718, 721, 724, 748, 797, 838, 858, 865, 886–888, 904, 922, 943, 945 Tod 7, 30, 38, 41–42, 58, 62, 65, 67, 77–78, 93– 95, 106, 139, 182, 184, 223, 236, 280, 289, 293, 313, 318–319, 322, 327–329, 336, 348, 364, 366–367, 375, 400, 410, 412, 420, 437, 452, 470, 484, 488, 492, 514, 600, 606–607, 610, 673, 675, 679, 697, 725, 781–784, 786, 800, 803–804, 856, 882, 885, 926, 959, 974, 977 traditionell, Tradition VII, 18–19, 37, 60, 63, 74, 83–84, 88, 90, 97, 104, 127, 141, 149, 189, 206, 224, 229, 238–239, 242, 244–245, 253, 265, 283, 289, 298, 316, 320, 324, 326, 336, 391, 461, 466, 538, 592, 628–629, 668, 695, 724–725, 758, 761, 772–773, 793, 815, 831, 842, 846, 852, 883, 915, 959 Tragödie, tragisch 3, 12, 16, 35, 41, 47, 51, 89, 92, 98–99, 102, 169–170, 187, 194, 200, 202, 220, 225, 254, 288, 307–309, 341, 371–372, 374, 385–387, 458, 461–462, 466, 476, 482, 484–485, 517–518, 521, 533–534, 537–539, 541, 570, 595, 612, 616, 620, 759, 786–787, 800 Traum, träumen 86, 92–95, 114, 116–125, 148, 281, 316, 410, 417, 452, 456, 459–461, 514, 542–543, 571, 616, 633, 746, 837 Traumatisierung, Trauma 182, 322–323, 345, 750, 787 Trieb 74–75, 96, 105, 119, 141, 205, 208–209, 211–212, 214–215, 218, 227, 239, 251, 282, 284, 303, 305, 337, 339, 344, 352, 360–361, 370, 373, 437–438, 440, 460, 517–518, 520, 525, 598, 600, 616, 655, 755, 769, 790, 851, 962 trösten, Trost 24, 28, 139, 212, 215–216, 219– 221, 292, 308, 380–383, 386–387, 425, 459, 462, 476, 573–574, 588–591, 738, 767, 828, 838, 882, 946 Tugend, tugendhaft 16, 51, 57, 77, 79, 83–86, 99, 101, 181, 238–239, 241, 282, 298–299, 306, 314, 321, 324–325, 332–333, 353, 356, 360, 367, 404, 438, 465, 467, 476, 503–504, 590, 609–610, 661, 667, 681, 683–684, 689, 692, 724, 763, 791, 883, 889, 906, 909, 925, 939, 968 Turin 11, 340 Typologisierung 384
Typus 38, 181, 237, 342, 349, 384, 446, 507, 521, 543, 549, 567–569, 614, 616, 621–622, 663, 668, 719, 729–730, 748, 769, 773, 798, 813, 860, 936, 954 tyrannisch, tyrannisieren, Tyrann, Tyrannei 62, 98–99, 244, 297, 355, 430, 539, 612, 614– 621, 623–625, 707, 808, 835, 849–851, 893, 911, 918 übermenschlich, Übermensch 15, 208, 264, 445, 479, 811–812, 835–836 ukrainisch 38 Umwertung aller Werte 54, 63, 167, 275, 587, 688 unbewusst, Unbewusstheit 95, 113, 124, 138, 143, 165, 169–171, 184, 207, 290, 516, 574, 663, 699, 939 unegoistisch 61–62, 73–75, 204, 214, 218, 239, 243, 245–246, 256, 258, 277–279, 282–284, 300, 341, 345, 351–354, 358, 419, 421–422, 828 Unendlichkeit 137 Ungeduld, ungeduldig 48, 954–955 Ungerechtigkeit, ungerecht 366, 481–482, 635, 707, 716, 779, 791–792, 824 Ungleichheit 490 unhistorisch 79–80, 185, 298 unhöflich 712 universalistisch, Universalismus 71, 121, 165, 168, 173–174, 215, 219, 257, 329, 380, 452, 508, 565 unredlich, Unredlichkeit 330, 415, 498, 818–819, 879 unreligiös 410–411 unschuldig, Unschuld 43, 294–295, 360–361, 369, 371–372, 380, 400, 461–462, 557, 840–841, 965, 970 Unsterblichkeit, unsterblich 14, 67, 94, 106, 191, 260, 368, 459–460, 513, 642–643, 756, 804, 817 Unterwelt 796 unverantwortlich, Unverantwortlichkeit 55, 140– 142, 254, 256–257, 260, 263, 270–271, 318, 323, 340, 360–361, 369, 376–377, 379–381, 424–425, 446, 478, 514, 741, 925 unvernünftig, Unvernunft 256, 365, 439, 659, 754, 822, 885, 897, 980–983 unvornehm 401, 719, 774
Sach- und Begriffsregister
Unwahrheit 87, 220–221, 223–226, 264, 292, 381, 387, 554, 595 unzeitgemäß 3, 5–6, 12, 73, 170, 234, 328, 511, 561, 605, 657, 660, 814, 876, 939 urgeschichtlich, Urgeschichte 146, 397, 644 Ursache 11, 29, 85, 119–124, 126, 134–135, 138, 189, 203–204, 216, 247, 253, 257–258, 260, 267, 280, 308, 328, 331, 355, 378, 385–386, 417, 461, 481, 563, 587, 590, 622, 732, 744, 778, 839, 865, 879, 882, 909, 939–940 Ursprung 4, 19, 31, 62–63, 68–71, 73–74, 82, 91–92, 96, 103, 113, 126, 170, 178, 182, 228, 243, 245–247, 257–258, 263, 278, 284, 306, 312, 326, 329, 341–342, 344–347, 351, 353– 354, 365, 368–369, 384, 391–392, 394, 414, 423, 431, 443, 467, 480, 486, 521, 524, 550, 561, 584, 587, 629, 663, 684, 758, 777–778, 844, 847, 856, 875, 881, 905, 911, 931, 938, 942, 956, 966, 975 utilitaristisch, Utilitarismus 29, 96, 139, 174, 204, 224, 269, 351, 358, 808, 883 Utopie 281, 380, 836, 850 Venedig 493 Verbrecher 175, 313–314, 318–319, 322, 336, 349, 804, 906 Verdauung 120 Verfassung 179, 211, 469, 821, 830 vergänglich 923 verklären, Verklärung 238, 533, 642–643, 780, 852, 948, 979 Vernunft, vernünftig, Vernünftigkeit 43, 48, 61– 62, 65, 67–69, 71, 80–81, 84, 90, 111, 117, 120, 123, 137, 144, 150, 152, 158, 171, 174, 184, 192, 205–206, 255–256, 260, 262–263, 285–286, 298, 307, 328, 334, 342, 348, 351, 353, 370, 391, 407, 410, 417, 419, 422, 426– 427, 432, 438, 474, 501, 527, 540, 556, 616–617, 627, 629, 674, 683, 724, 751, 754, 772–773, 785, 790, 814, 822, 855, 877, 879, 897, 928–929, 966, 968–969, 979–983 Verstand 60, 68, 120, 124, 148, 150–151, 192, 196–197, 209, 236, 294, 296, 334, 378–379, 401, 414, 422, 426, 461–462, 528, 540, 581, 603, 771–773, 777–779, 810, 909, 932, 950– 951, 965 Verzweiflung 72, 151, 212, 216, 386, 461, 802 vita contemplativa 250, 657–658
1085
Vogel 10, 50–51, 104, 222, 480, 595, 633–634, 792–793, 804 Vogelperspektive 792 vorgeschichtlich, Vorgeschichte 37, 143, 274– 276, 514 vornehm, Vornehmheit 42, 72, 143, 147, 215, 217, 235–236, 274–276, 306, 311, 353–354, 398, 415, 474, 500, 515, 556, 580–581, 702, 719, 727–728, 747, 752, 793, 810, 813, 859– 861, 875, 879, 955 Vorschrift 161, 256, 266, 434, 939 vorsokratisch, Vorsokratik 13, 61, 66, 614, 617, 622 Vorurteil 41, 61, 150, 209, 269, 319, 359, 516, 582, 603, 613, 662, 696, 852, 937, 951 Wahnsinn 276, 309, 364, 367, 411–412, 435, 443, 478, 480–481, 521, 580, 662, 734, 877 wahrhaft, Wahrhaftigkeit 34, 98, 199, 238, 288, 292, 334, 341, 373, 434, 501, 636, 747, 818– 820 Wahrheit 29, 43, 61–62, 66–67, 69–70, 76–77, 79, 82–89, 96–98, 109, 111–112, 122–123, 129, 131–132, 137, 143, 145, 147, 154, 158– 161, 166, 184, 190–192, 199, 207, 220–221, 223–225, 236, 239–241, 244, 250, 255–257, 260, 264–265, 271, 286, 292–295, 315, 317, 319, 338, 341, 369, 376, 381, 384, 386–388, 390–392, 408, 416–417, 424, 438, 447, 451, 461, 464, 471, 474, 498, 522, 537, 553–554, 556–558, 580–582, 594, 604–605, 614–615, 617–619, 622, 625–626, 629, 693, 710, 721, 774, 783, 792–793, 803, 811, 819, 856, 867– 868, 874, 877, 879–880, 882, 885–888, 891, 940–941, 945, 952, 961, 964–966, 969–975 wandern, Wanderer, Wanderung 11, 16, 20, 41, 48, 72, 187, 222, 284, 360, 456, 460, 480, 600, 642, 797, 960, 978–979, 981 Weib, weiblich 18, 23, 32, 37, 39, 66, 87, 245, 330, 358, 364, 399, 438, 504, 605, 609, 612, 616, 626, 635, 738, 748–750, 752, 755, 757–758, 762–765, 769–773, 775–780, 783– 784, 789, 791–793, 799, 804, 849, 963, 968, 974 weise, Weisheit 100, 138, 283, 298, 306, 376, 388, 393, 400, 408, 536, 549, 569, 622,
1086
Sach- und Begriffsregister
655, 672–673, 693, 737, 741–742, 746–747, 785–786, 852, 855, 886, 909, 949, 981 weltlich, Welt 7, 9, 12, 17–18, 22, 27, 35, 41, 49, 53, 60–61, 66, 69–73, 79, 83–84, 86, 89– 94, 98, 101–111, 113–116, 127, 129–141, 143, 146, 148–151, 154, 156–157, 159, 162, 164, 166, 168, 173–174, 176, 178–179, 181, 183– 188, 190, 193–202, 204, 206–207, 209, 212– 219, 221–222, 224, 236, 240–241, 243, 245– 248, 252, 254, 261, 265, 267, 284, 286, 288–289, 294, 296, 299, 301–302, 315–316, 326, 333, 335, 341, 347, 356, 365, 367–368, 377–380, 382–383, 385–386, 392, 395, 400, 402, 404, 408–410, 413, 417, 420, 422, 430, 440, 444–445, 450, 460–461, 464, 466–468, 474–475, 477, 479, 485–486, 490, 496, 498, 503–504, 513, 518–519, 522, 524, 527–528, 536, 539, 542–544, 547, 556, 560–561, 566, 572–573, 578, 583, 593, 599–602, 612, 615–618, 622, 624, 628, 632, 634, 641, 646, 648–649, 657, 662–663, 667, 669, 671, 679, 685, 689, 693, 705, 717, 742, 747, 755, 788, 795, 802, 805–806, 808, 811, 843, 853, 855, 868, 871–873, 876, 894, 900, 920, 922, 924–925, 928, 949, 955–957, 963 Weltliteratur 306 Wert, Wertung 11, 18, 24, 32, 34, 39–40, 50, 54–55, 62–63, 80, 100, 104–105, 107, 139, 157, 167, 190, 195–196, 205–206, 208–219, 221, 224, 231, 244, 255, 268, 275, 281, 287, 294, 298, 303, 305, 322, 325, 341, 347, 352, 354, 390, 409, 449, 454, 457, 468, 509, 512, 541, 543, 551–553, 567–570, 587, 599, 630, 634, 662, 665, 672, 683, 685, 688, 735, 802, 805, 822, 830–831, 874, 900, 902, 920, 951, 958–959, 971 Wertschätzung 51, 164, 211, 213, 268, 341, 352, 354, 683, 875 Widerspruch, widersprüchlich, Widersprüchlichkeit 7, 21, 80, 100, 148–149, 209, 211, 302– 303, 324, 422, 459, 470–471, 624, 628, 707, 714, 730, 744, 763, 779, 783–784, 803, 819, 831, 847, 877, 960 Wilde, Wildheit, wild 18, 55, 93–94, 117–119, 222, 257, 264–265, 299, 311–312, 355, 396, 429, 565–569, 580–581, 584, 629, 638, 640, 644, 783, 834, 837–838, 858, 891, 945
Wille 26, 35, 50, 55–56, 69, 71, 83, 87, 97, 107, 109, 126–127, 133, 137–139, 141, 158–159, 170, 183–185, 190–191, 198, 207, 219, 222, 254–255, 259, 261–262, 287, 289, 299, 301, 308–309, 323, 334, 337, 349, 361, 363, 371, 382, 394, 417, 427, 433–436, 445, 459, 462, 496, 521–522, 524, 565–568, 599, 612, 633, 639, 712, 765, 771–772, 806, 819, 834, 844, 847, 872–873, 877, 885, 893, 911, 921, 962, 964, 966, 973–974 Wille zur Macht 15, 35, 430, 613, 694, 860, 930 willensfrei, Willensfreiheit, Freiheit des Willens 55, 141, 143–144, 147–148, 253, 255, 257, 259–260, 262–263, 271, 303, 340, 360–361, 369, 375, 377–379 Willensunfreiheit, Unfreiheit des Willens 259– 260, 263, 379 Wirklichkeit 16, 33, 63, 90, 94–95, 101, 105, 112– 113, 115–116, 120, 127, 132–133, 135, 144, 151, 157, 195, 207, 209, 219, 243, 251, 293, 315, 365, 386, 393, 417, 425, 457–458, 461– 462, 478, 488, 519–520, 541, 576, 646, 687, 710, 716, 868, 891 Wirkungsgeschichte IX, 8–9, 20, 492, 675, 745 Wissenschaft, Wissenschaftler, wissenschaftlich VII–IX, 3, 12–13, 15–17, 27–28, 30, 32– 34, 36–37, 41, 46, 50–51, 61, 63–65, 68, 70–71, 73, 75–76, 79–82, 85–89, 91, 95– 104, 108–111, 113–118, 120, 129–130, 133– 134, 136, 138–143, 147–149, 151, 156, 158– 161, 164–165, 174, 181, 183, 185, 188–189, 191–194, 199–201, 204, 210, 226, 228–231, 239, 242–246, 248–252, 272, 302, 315–316, 351, 362–363, 379, 384–385, 387, 390–392, 398, 411, 413, 416, 420, 423, 425–428, 446– 451, 456–457, 469, 475, 477, 479, 495–496, 498, 540, 542, 545, 572, 580–582, 586, 589, 594–597, 601, 603–605, 615, 620–624, 626, 628–629, 631–634, 637–643, 647–648, 655–657, 661, 664, 672–674, 710, 734, 748, 771, 778–779, 791–792, 818, 820, 822, 833, 846, 856, 859, 865, 869, 883, 886, 889, 893, 916, 918, 930, 939, 948, 964–967, 970–973 Wüste 54–55, 292, 600, 784, 978 zeitlos 366, 445, 449, 625 Zeitschrift 341, 348, 404, 622, 819, 849
Sach- und Begriffsregister
Zeitung 29, 31, 637, 795, 864, 916, 918 Zivilisation, zivilisatorisch 55, 78, 87, 93, 119, 182, 265, 271, 355, 396, 412, 550, 580, 584, 633, 638, 644, 662, 755, 812–813, 818, 835, 859 zoologisch, Zoologie 64, 359, 662, 718, 748 Zorn 309, 332, 354, 444, 720, 791, 796, 921, 962 Züchtung, züchten 126, 552, 567, 578, 744, 809, 855 zufällig, Zufall 7, 12, 19, 21, 49, 80, 109, 165, 168–169, 171, 176, 258, 294, 316, 353, 355, 364, 383, 397, 442, 472, 488, 574, 602, 637, 644, 768, 800, 908, 952–953 zukünftig, Zukunft 18–19, 21, 25, 28, 30, 51, 53, 84, 86, 94, 109, 142–143, 158–159, 162–166, 169, 173–174, 179, 182, 225, 245, 247, 296, 312, 318, 349–350, 363, 376–377, 379–380,
1087
383, 385, 425, 467, 480, 525, 534, 542, 546–547, 566–567, 579, 588, 591–592, 594, 614, 617, 621–622, 632, 636, 644, 650, 656, 662, 675, 679, 686, 738, 740, 745–746, 763, 770, 790, 792, 801–802, 810, 822, 846, 853, 857, 896, 950, 962, 976, 979, 981, 983 Zweck 57, 65, 75, 77, 174, 212, 214, 223, 248– 250, 252–253, 268–269, 271, 284, 318–319, 344–345, 353, 360–361, 376, 437, 444, 447, 449, 452, 472, 535, 560, 569, 574, 576, 601, 603–604, 621, 628, 630, 659, 671, 690, 734, 790, 817, 819, 825, 832–834, 844, 859–860, 862–863, 877, 886, 890, 922, 942–943, 946, 980 zwecklos, Zwecklosigkeit 171, 214, 250, 574 Zyklop 584–585
Personenregister Abbey, Ruth 25, 35, 37–38, 235, 790 Achill(es) 308, 516–517, 620 Adam (Bibel) 410, 626, 875 Adam, Charles 44 Adorno, Theodor W. 225 Agamben, Giorgio 743 Agamemnon 612, 308 Aichele, Alexander 486 Aigisthos 612 Aischylos/Aeschylus 4, 307, 410–411, 469–470, 484, 619 Ajax 307–309, 726 Ajouri, Philip 668 Alac, Patrick 628, 678 Alberts, Benjamin 875 Alexander der Große 503, 707, 721 Alfano, Mark 430 Allison, David B. 47 Almeida, Rogério Miranda de 75 Altherr, Alfred 387, 392, 447 Ambros, August Wilhelm 531, 799 Anaxagoras 328 Anaximander 66, 618 Andersen, Hans Christian 332–333 Anderson, R. Lanier 276 Andler, Charles 33, 40 Andreas-Salomé, Lou 8, 30–31, 47 Angehrn, Emil 52 Ansell-Pearson, Keith J. 33, 38, 149, 181, 303, 580, 645, 837, 887 Anselm von Canterbury 400 Antigone 308, 612 Antisthenes 100 Apelt, Otto 671 Apollo(n) 240, 781 Apollonio, Simona 623 Apollonios von Rhodos 794, 913 Apollonios von Tyana 763 Arburg, Hans-Georg 529 Archilochos 398–399, 948 Arenas-Dolz, Francisco 424, 744 Argy, Anne-Gaëlle 427 Aristippos von Kyrene 100 Aristophanes 201, 410–411, 947–948 Aristoteles 66, 100, 112, 128, 130, 194, 251, 266, 283, 288, 316, 327–328, 371, 376, 393, 505, https://doi.org/10.1515/9783110292954-005
517–518, 520, 620–622, 625–626, 659, 741– 744, 747, 758, 805, 943, 953 Arnold, Gottfried 406 Aspasia von Milet 791 Athanasius 438 Athenaios aus Naukratis 545–546 Athene 308–309, 364 Atticus, Titus Pomponius 329 Attolini, Rossella IX Augustinus von Hippo, Aurelius 102, 299, 367, 413, 717, 920 Aurenque, Diana 579 Babich, Babette E. 605, 645, 440, 968 Bach, Johann Sebastian 529–530 Bacon, Francis 81, 97, 143, 603, 879 Badiou, Bertrand 628, 678 Baedeker, Karl 545 Baer, Karl Ernst von 14, 267–268, 598, 627–632, 639 Baeumler, Alfred 34 Bagehot, Walter 71, 154, 170, 312, 550, 659– 660, 663–664 Bahnsen, Julius 73–74, 202 Balzac, Honoré de 297, 790, 922 Barbarić, Damir 321 Barbera, Sandro 37, 102, 479, 542, 596, 648, 674, 968 Barner, Wilfried 530 Baron, Julius 803 Barros, Roberto de Almeida Pereira de 37 Bast, Rainer A. IX Bastiat, Frédéric 179 Bauer, Clara VIII, 37, 738, 763, 773 Baumann, Johann Julius 97 Baumgartner, Marie 10, 23, 636, 900 Bayertz, Kurt 428 Beauvoir, Simone de 554 Beccaria, Cesare 318 Beck, Johann Tobias 104 Beethoven, Ludwig van 449, 455, 460–461, 464–465, 474, 486, 488–489, 523, 532 Beetz, Verena 37 Behler, Diana I. 537 Behler, Ernst 113
1090
Personenregister
Beiser, Frederick C. 73 Béland, Martine 47, 819 Beneden, Pierre Joseph van 718 Benfey, Theodor 113 Benne, Christian 78, 82, 102, 104, 637 Benoit, Blaise 210, 342 Berg, Egon (Pseudonym für Leopold Auspitz) 733 Berlioz, Hector 607 Bernays, Jacob 100, 288, 517, 520 Bernhard von Clairvaux 430, 691 Bernhardy, Gottfried 526 Bernini, Lorenzo 473, 530, 532 Bernoulli, Christoph 818 Bernoulli, Carl Albrecht 9 Berry, Jessica N. 157, 622 Berti, Cristina 268 Bertino, Andrea 82, 102, 113, 167, 186, 250, 264, 479, 577, 596, 617 Bertot, Clément 854 Besnard, Franz Anton von 401 Beßlich, Barbara 481 Bianchi, Sarah 303, 342, 346, 154 Bickenbach, Matthias 525 Bidmon, Agnes 321 Biebuyck, Benjamin 186, 399 Biedermann, Karl 577 Bierl, Josephina 659 Bilate, Danilo 478 Bishop, Paul 276, 301, 303, 321, 360, 377 Bismarck, Otto von 23, 368, 708, 815, 817, 821– 822, 834, 854–855, 862–864, 874 Bitsch, Annette 520, 360 Blackburn, Simon 83 Bluhm, Heinz 182 Blumenberg, Hans 102, 114, 201 Bock, Carl Ernst 438, 596 Boethius, Anicius Manlius Severinus 59 Bonaparte, Napoléon 478–479, 481, 678, 846– 847 Borchmeyer, Dieter 162, 167, 535 Borgia, Cesare 182 Borheck, Christian August 671, 742–743, 831 Bormuth, Matthias IX, 56, 328 Born, Marcus Andreas 15, 37 Bornedal, Peter 303 Borsche, Tilman 15, 113, 637 Bortlik, Wolfgang 803
Boscovich, Ruggiero Giuseppe/Bošković, Rugjer Josip 149–150 Böttger, Adolf 388, 788 Bötticher, Karl 364, 480, 602, 781 Braatz, Kurt 327, 331, 834 Braddon, Mary E. 504 Brandes, Georg 13, 30–31, 42, 364, 444, 863 Brandt, Hartwin 328 Brandt, Reinhard 743–744 Braunfels, Ludwig 782 Brehm, Alfred 74, 358 Breidbach, Olaf 102 Bremer, Dieter 851 Brendel, Franz 955–956 Brenner, Albert 3–5, 8, 122, 203, 255, 273, 276, 278, 281, 304, 314, 321, 323–324, 328, 331– 336, 340, 380–381, 406–409, 413, 455, 468, 483, 495–500, 515, 535, 538, 547, 554–555, 557–560, 562, 565–566, 568, 647, 657–658, 660–667, 669, 678–680, 685–686, 688– 690, 694, 696–698, 700–701, 703–707, 709, 711–712, 716, 722, 729, 731–732, 746, 748, 750–753, 755, 757–758, 762, 764–766, 768, 772, 776, 785, 788, 825, 827, 829, 840–841, 868, 873, 875–876, 878–879, 884, 887–888, 890–893, 897, 899, 901–910, 912–915, 917, 919–921, 923, 926, 931–933, 936, 938, 940, 942, 949, 952 Brobjer, Thomas H. 13, 37, 42, 64, 83, 178, 333, 538, 610–611, 846 Brock, Eike 38 Broese, Konstantin 129 Brohm, Holger 121 Bronn, Heinrich Georg 551 Brose, Karl 101, 817 Brucker, Johann Jakob 618 Brücker, Tobias 514, 598 Brüggen, Ernst von der 186 Brünner, Carl 22 Brünnhilde (Wagner) 915 Brusotti, Marco 60, 104, 257, 300, 347, 389, 404, 446, 464, 526, 596, 625, 653, 854, 876 Buchheim, Thomas 536 Buchlerus, Johann 707 Büchmann, Georg 314, 488, 590, 721 Buckle, Henry Thomas 171 Buddensieg, Tilmann 449, 450 Buddha (Siddharta Gautama) 939
Personenregister
Bülow, Hans von 10, 23, 26, 295 Burckhardt, Jacob 9–10, 13, 22–23, 28, 52, 78, 84, 165, 176, 182, 187, 449–450, 473, 490– 491, 494, 529–530, 542, 572, 587, 607, 622, 662–663 Burnett, Henry 37, 47, 449 Busch, Paul IX Byron, [George Noël Gordon] Lord 387–388, 534–535, 541, 758–759, 787–788 Cabanas, Edgar 101 Caetano da Rosa, Catarina IX Calderón de la Barca, Pedro 13, 436, 439–440, 540 Campioni, Giuliano 37, 45, 54–55, 63, 64, 82, 182, 186–187, 240, 574, 744, 924 Cancik, Hubert 939 Canfora, Luciano 948 Cantimori, Delio 37, 63, 574, 924 Cantoni, Remo 37 Cardanus, Hieronymus 776 Carducci, Giosuè 186 Carey, Henry Charles 88, 178, 865 Carlyle, Thomas 87 Carneri, Bartholomäus 325, 444 Carracci, Annibale 532 Carriere, Moriz 467, 746 Caspari, Otto 146–147 Castellari, Marco 612 Castellio, Sebastian 366 Cato, Marcus Porcius der Ältere 802 Cato, Marcus Porcius der Jüngere 328 Catullus, Gaius Valerius 983 Caysa, Volker 596 Celan, Paul 628, 678 Cellini, Benvenuto 606–607 Cerna Solis, Jorge Luis VII Chamfort, Sébastian Roch Nicolas 15, 235–236 Chatauvillard, Louis Alfred Le Blanc Comte de 309–310 Cicero, Marcus Tullius 329, 393, 474, 512, 602, 290, 686, 722, 975 Claesges, Ulrich 63, 90, 101, 134, 143, 154 Clancett, Manuel 47 Clark, Maudemarie 846 Claudius Aelianus 618 Cobet, Gabriel 743 Cohen, Jonathan Reuben 37–38, 134
1091
Cohn, Hermann 777 Colli, Giorgio 36, 516, 568 Comte, Auguste 88, 91, 171, 190, 581, 966 Conill Sancho, Jesús 596 Constâncio, João 303 Conway, Daniel W. 47 Cook, James 808 Cooke, Josiah Parson 64, 75 Corbanezi, Eder 113 Corneille, Pierre 758 Corngold, Stanley 126 Corti, Walter Robert 574 Cosimo I. von Medici 606 Courcelles, Etienne de 44 Crawford, Claudia 113 Crescenzi, Luca 78, 124, 135, 149, 302, 529, 939 Creuzer, Friedrich 89 Cristy, Rachel 975 Csejtei, Dezső 514 Cuevas Salazar, Josafat 37 Curtis, Paul C. 285 Curtius, Georg 624, 793, 843 D’Iorio, Paolo VIII, 4, 6, 13–14, 38–41, 64, 78, 121–122, 135, 137, 144, 268, 296, 400, 418, 440, 554, 646, 653, 658, 670, 860, 923, 958, 960–961 Dacquin, Jenny 289, 827 Dahlkvist, Tobias 386, 479, 499, 579 Dahn, Felix 432 Daigle, Christine 37, 105, 134, 151 Dalfert, Ingolf U. 321 Damilaville, Étienne Noël 807 Dante Alighieri 58, 533, 922–923 Danto, Arthur C. 35 Därmann, Iris 266 Darwin, Charles 27, 29, 74, 169, 247, 251, 354, 358, 525, 547, 550–552, 586, 887 Daudet, Alphonse 13 De Corte, P. 854 Del Caro, Adrian 156, 551, 583, 813 Deleuze, Gilles 303 Dellinger, Jakob 42, 47, 54, 57, 983 Demokrit 112, 129–130, 225, 310, 316, 328, 621 Demosthenes 502–503, 535, 619 Denat, Céline 33, 37, 63, 973 Derrida, Jacques 605, 745, 773
1092
Personenregister
Descartes, René (Renatus Cartesius) 42–45, 223, 225, 244, 283, 316, 561, 867 Deussen, Paul 10, 13, 69–70, 74, 292, 301–302, 361, 726 Devreese, Daniel 186 Dickens, Charles 297, 313 Diderot, Denis 13, 340–341, 900, 949 Diels, Hermann 83, 112, 383, 440, 624, 671 Dietzsch, Steffen 238 Diogenes Laertius 129, 211, 225, 328, 618–619, 645, 671 Diogenes von Sinope 100, 619, 645 Dionysios von Alexandria 302 Dionysios von Halikarnassos 535 Dionysios I. von Syrakus 851 Dionysios II. von Syrakus 851 Dionysos 399, 521, 796 Dionysos Zagreus 781 Diotima 756 Djurić, Mihailo 143, 378, 457 Dobrizhoffer, Martin 639 Domitian (Kaiser) 240 Donnellan, Brendan 235, 691 Drakon (Athen) 501 Draper, John William 171, 366, 392, 550, 552– 553 Driever, Ralph 101 Drochon, Hugo 864 Drossbach, Maximilian 359 Du Bois-Reymond, Emil 82, 379, 428, 925 Dubois, Jean-Antoine 394–395 Dufour, Éric 37, 523 Dühring, Eugen 12–13, 82, 172, 178–179, 190, 192, 195–198, 207–210, 215–216, 223, 227, 296, 305, 344, 353–354, 402, 497, 569, 570, 665, 724, 850, 865, 884 Dürer, Albrecht 926 Düsing, Edith 568 Eberle, Christian Gottlieb 317 Ebersbach, Volker 762 Eberty, Felix 477 Eckermann, Johann Peter 22, 477–478, 482, 541, 596, 641 Eeden, Frederik Willem van 30 Eger, Manfred 682 Eichberg, Ralf IX, 5, 73, 582, 879, 884, 913 Eichendorff, Joseph von 918
Eiser, Otto 4, 10, 22, 682 Elberfeld, Rolf 167 Elgat, Guy 301 Elias, Norbert 550, 580, 589, 592–593, 597, 815 Eliot, George 504 Ellis, Havelock 32 Ellis, William 396 Elsner, Heinrich 201 Elze, Karl 493 Emden, Christian J. 63, 113, 134, 233, 250, 817, 966 Emerson, Ralph Waldo 12–13, 637, 655, 674, 876 Empedokles 328, 436, 440, 610, 618 Engel, Eduard 541 Epiktet (Epiktetos) 299–300, 441 Epikur 106, 129–130, 315–317, 645, 667, 928, 938, 943 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 185–187, 257, 633, 686 Erbsmehl, Hansdieter 944 Ersch, Johann Samuel 104 Esmez, Laurent 121 Estadieu, Louisa 257 Euklid von Megara 100, 799 Euripides 521, 537, 671, 777, 786, 953 Eva (Bibel) 626 Faber, Marion 13, 35 Faustino, Marta 56 Fenge, Hilmar 321 Ferraro, Gianfranco 554 Fetscher, Iring 225 Feuerbach, Ludwig 40, 106–107, 302, 430, 581 Fichte, Johann Gottlieb 749 Fielding, Henry 313, 780 Figal, Günter 101 Figl, Johann 82, 94, 165, 455, 539, 624 Filek, Jacek 257 Fillon, Alexandre 223, 448 Fink, Eugen 36 Finken, Bryan 105 Fischer, Kuno 44, 97, 484–485 Flake, Otto 32–33 Florian, Jean-Pierre Claris de 743–744 Fontenelle, Bernard Le Bovier de 236 Forkert, Johann Gabriel 744
Personenregister
Fornari, Maria Cristina 134, 140, 268, 301–302, 360, 375, 432 Förster-Nietzsche, Elisabeth 8–9, 21, 31–32, 42, 726, 748, 797 Fortlage, Karl 893 Franco, Paul 37–38, 838 Frank, Horst Joachim 770 Franz von Assisi 217 Frauenstädt, Julius 68, 202, 262, 268–269, 476, 574, 925 Freiligrath, Ferdinand 623 Freregger, Sandra Yvonne 13, 745 Freud, Sigmund 52, 75, 118, 545, 788, 871 Freytag, Gustav 331 Frezzati, Wilson Antonio 88, 169, 550 Friedländer, Ludwig 591 Friedrich II., König von Preußen 291, 539, 588– 590 Fries, Jakob Friedrich 110, 588 Fritzsch, Ernst Wilhelm 11, 46 Frühauf, Tina 416 Fuchs, Carl 10, 23, 28, 227, 685 Fukuyama, Francis 846 Funke, Carl Philipp 589 Fürnkäs, Josef 15 Fürstenberger-Vischer, (Johann) Georg 10 Gabathuler, Matthäus 23 Gassendi, Pierre 316 Gasser, Reinhard 65, 95, 787 Gast, Peter siehe Köselitz, Heinrich Gautier, Théophile 238, 450 Gelzer, Heinrich 24 Gemes, Ken IX, 401, 468, 970 Gentili, Carlo 151, 156, 186 Georg, Jutta 38, 47 Gerber, Gustav 113, 115 Gerhard, Myriam 428 Gerhardt, Volker VIII, 54, 143, 156, 250, 303, 331, 342–344, 346–347, 809, 839 Gerlach, Hans-Martin 186 Gerö, Ödön 854 Gersdorff, Carl von 10, 187, 464, 746, 796, 876 Gervinus, Georg Gottfried 307, 955 Geuss, Raymond 606, 637, 852 Ghedini, Francesco 113, 851 Giacoia Junior, Oswaldo 47, 346 Gibbon, Edward 587
1093
Gilman, Sander L. 15, 682 Glasenapp, Carl Friedrich 397 Glatzeder, Britta 60, 66, 101 Gleiter, Jörg H. 584, 589 Gluth, Sophia 167 Gneist, Rudolf 180 Gödde, Günter 285, 303, 327, 670, 867, 905 Goebel, Eckart 75 Goedert, Georges 360, 854 Goethe, Johann Wolfgang von 22, 187, 193, 217, 238, 284, 302, 341, 393, 395, 404, 410–411, 430, 443, 449, 458–459, 463, 475–478, 482, 509, 530, 534–535, 538–543, 596, 606–607, 629, 640–642, 651, 653, 678, 701, 754, 762, 768–769, 795, 854, 869, 874, 878, 915–916, 918, 949, 956, 967–968, 970 Göll, Hermann 609–610 Goltz, Bogumil 792 Gordon of Gight, Catherine 788 Gorgias von Leontinoi 534–536 Gori, Pietro 82, 113, 150 Görner, Rüdiger 47, 387, 457 Göttert, Karl-Heinz 235 Göttling, Karl Wilhelm 320 Goya, Francisco de 333 Gracián, Baltasar 13, 297, 306–307, 677, 691, 731, 735, 815 Granier, Raimund 388 Grasberger, Lorenz 832 Grätz, Katharina IX, 19, 393, 585 Grau, Gerd-Günther 82, 143, 156, 370 Graues, Georg Heinrich 29 Green, Michael S. 144 Grillparzer, Franz 913 Grimm, Herman 341 Grimm, Jacob und Wilhelm 52, 81, 170, 204, 314, 469, 497, 546, 680, 688, 756, 810, 882, 896, 918, 939, 983 Groddeck, Wolfram 47, 51 Grote, George 850 Gruber, Johann Gottfried 104 Grün, Karl 302 Grünbein, Durs 45 Gschwend, Lukas 143, 343 Guerreschi, Luca 51 Guhl, Ernst 155 Gunther (Wagner) 915 Günther, Friederike Felicitas 458, 506, 529
1094
Personenregister
Günzel, Stephan 156, 166 Guo, Cheng 646, 832 Gutzwiller, Hans 4 Gwinner, Wilhelm 600 Gwozdz, Patricia A. 868 Haberich, Max 854 Haberkamp, Günter 331 Hadot, Pierre 872 Haeckel, Ernst 190, 272, 236, 358–359, 379, 547, 550, 641 Häfner, Ralph IX, 236, 340, 552 Hagen (Wagner) 915 Hagenbach, Karl Rudolf 39, 685–686 Hahn, Henning 112–113 Hamacher, Werner 303 Hamlet (Shakespeare) 492, 540, 560 Hammer-Purgstall, Joseph von 364 Hammond, Mark 846 Han, Byung-Chul 656 Hanslick, Eduard 523 Hansson, Ola 854 Häntzschel-Schlotke, Hiltrud 15 Hartmann Cavalcanti, Anna 523 Hartmann, Eduard von 12, 113, 138, 145, 184, 206–207, 574, 700 Hartmann, Leon IX, 544, 546 Hartmann, Martin 685 Hartsen, Frederik Anton von 293 Harvey, Alexander 35 Hatab, Lawrence J. 303 Häubi, Florian 333, 761 Havemann, Daniel 404 Haym, Rudolf 479 Hayman, Ronald 37 Hayoun, Maurice-Ruben 102 Heckman, Peter 37 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 71, 80–81, 106, 138, 174, 217, 292, 544, 574, 822, 843 Hegesias von Magnesia 473–474 Heidegger, Martin 34, 73 Heidemann, Ingeborg 169 Heine, Heinrich 238, 340 Heinrich, Johannes 56 Heinze, Max 10 Heit, Helmut 28, 82, 182 Heller, Erich 37
Heller, Peter 37, 60, 62–66, 69, 76, 84, 88, 90, 101–102, 107, 113, 117, 121, 134, 140, 143, 154, 160, 162, 165, 176–177, 182, 192, 196, 200, 204, 223, 238, 250, 440, 448, 520, 596, 637, 641, 648 Hellwald, Friedrich Anton von 165, 265, 362, 397–398, 423, 849 Helmholtz, Hermann 123–124 Helvétius, Claude-Adrien 283–284, 744 Hemelsoet, Koenraad 399 Hémion, Jean-Marc 807 Henne am Rhyn, Otto 82 Herakles/Hercules 306, 576, 786 Heraklit 13, 66, 383, 624, 671, 959 Herder, Johann Gottfried 71, 113, 138, 172 Hermens, Janske 551 Hermes 577 Herodot 13, 330 Herrig, Hans 28 Hertlein, Alexandra 321, 486 Herzen, Alexandre 13, 110–111, 259, 375–376 Hesiod 54, 320–321, 485–486, 536, 624, 774– 775 Hettner, Hermann 538, 807–808, 838, 847 Heuler-Neuhaus, Werner 209 Hildebrandt, Kurt 101 Hilgers, Jan F. 47 Hill, R. K. 37 Hillebrand, Bruno 32 Hillebrand, Karl 10, 29, 186–187, 636–637, 696, 866 Himmelmann, Beatrix 315, 346, 401, 808 His, Wilhelm 596 Hobbes, Thomas 265, 316, 347, 362, 805, 812, 826 Hoche, Hans-Ulrich 175 Hödl, Hans Gerald 15, 384, 391, 404, 431, 521, 583 Höffe, Otfried VIII, 38, 342 Höfler, Alois 26 Hofmann, Johann Nepomuk 740 Hofmiller, Josef 34, 389–390 Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst, Alexander Fürst von 923 Holbein, Hans 186–187 Hölderlin, Friedrich 610–612, 884 Hollingdale, R. J. 25, 35 Holub, Robert C. 26, 550, 628
Personenregister
Holzer, Angela 550–551, 580, 589, 592–593, 597, 815 Homer 140, 276, 320, 410–411, 461–462, 469– 470, 499, 507, 516–517, 536, 584, 596, 623–625, 652, 679, 710, 763, 887, 906 Honegger, Johann Jakob 593 Horaz (Horatius Flaccus, Quintus) 160, 387, 389, 512 Hoyer, Timo 650 Huang, Jing 463, 517 Huber, Johannes 577 Hübner, Hans 134 Huffman, Sarah 867 Hughes, Fiona 919 Hugo, Victor 87, 201 Hume, David 33, 210 Hunziker, Jakob 29 Hus, Jan 314, 573 Hussain, Nadeem J. Z. 37 Hütig, Andreas 501, 520 Huxley, Thomas Henry 586 Iason 794, 913 Ignatius von Loyola 281, 812 Ihering, Rudolf von 344, 833–834 Illouz, Eva 101 Imasaki, Takahide 132, 289, 303, 327, 331, 363 Immel, Oliver 82, 177, 350, 648 Ingenhousz, Jan 617 Ingenkamp, Heinz Gerd 240 Inkpin, Andrew 554 Irlbacher, Simon 854 Irti, Natalino 834 Iselin, Isaak 71, 117, 121, 452 Itaparica, André Luís Mota 4 Iuvenalis, Decimus Iunius 966 Jaeschke, Walter 428 Jaggard, Dylan 181 Jakof, Lena 979 Janaway, Christopher Janssen, Johannes 232–233 Janz, Curt Paul 4, 14, 23, 25, 27, 42, 786 Jaspers, Karl IX, 34, 50, 68, 128, 277, 552, 563, 589, 645, 775, 797, 839 Jaspers, Kristina 685 Jauslin, Kurt 151 Jensen, Anthony K. 107, 124
1095
Jesus 54, 182, 291–292, 313, 335, 433, 446–447, 568, 655, 920 Joël, Karl 238 Johannes der Täufer 53 Johnston (Jonstin), Arthur 666 Joisten, Karen 264, 303 Jong, Johan de 257 Jonson, Ben 492 Jordan, Wolfgang 250 Juhász, Anikó 514 Kabermann, Friedrich 73, 171, 177 Kaegi, Dominic 645 Kang, Yong-Soo 596 Kann, Christoph 102 Kant, Immanuel 68, 70, 72, 74, 90, 109, 146, 148–152, 158, 173–178, 192, 259, 261–262, 265, 298–299, 319, 329, 334, 349, 371, 465, 590–591, 651, 653, 744, 773, 776, 831, 842, 879, 890 Karlowa, Oskar 33 Kaschube, Roland IX Katsafanas, Paul 55, 78, 113, 210, 556, 953 Kaufmann, Sebastian IX, 340, 393, 475, 528, 595, 650, 696, 741–742, 746, 815 Kaufmann, Walter 34–35, 81 Kaulbach, Friedrich 395 Kebes 66–67 Keil, Carl Friedrich 103 Keller, Gottfried 51, 622, 808 Kelterborn, Louis 13, 22 Kempis, Thomas a 281 Kepler, Johannes 466–467 Kerger, Henry 257, 834 Kerkmann, Jan 342, 383 Kern, Udo 858 Kersting, Wolfgang 342 Kessler, Mathieu 37 Kiesel, Dagmar 276, 402, 887 Kiesow, Karl-Friedrich 65, 370 Kimmerle, Heinz 82 Kinkelin, Friedrich 160 Kissel, Katja 272, 584, 617 Klaiber, Thilo 838 Klass, Tobias Nikolaus 551 Klausen, Rudolf Heinrich 520 Kleanthes 328 Kleffmann, Tom 264
1096
Personenregister
Klein, Hermann Joseph 396–397, 820, 916 Kleinert, Markus 533 Kleist, Heinrich von 701 Klemm, Gustav 796 Klindworth, Karl 26 Klinger, Friedrich Maximilian 792 Klopstock, Friedrich Gottlieb 884 Kloss, Oliver 42, 645 Klytaimnestra 612 Knoll, Manuel 57, 451, 809 Koberstein, August 537–540 Kohler, Joseph 167 Koner, Wilhelm 155 Konersmann, Ralf 535 Köselitz, Heinrich (alias Peter Gast) 5–6, 8–10, 13–14, 22–23, 28, 31, 42, 58, 72–73, 149– 150, 205, 208, 216–220, 233–236, 238, 247, 250, 252, 278, 290, 298, 302, 304, 329, 333, 342, 344, 347, 349, 351, 364–370, 372–374, 377, 381, 387, 389–390, 401, 403, 406–407, 409–410, 415, 425, 427, 438–439, 443–444, 453, 455, 457–458, 462, 466, 468, 470–471, 474, 477, 484, 456, 490, 501–502, 507, 509, 511, 515–516, 518–520, 522–523, 527–528, 531, 534–539, 542, 544, 548, 552, 554–555, 557–559, 565–566, 569–570, 582–583, 587–589, 592, 608, 623, 629, 636, 646, 651, 653–655, 657, 659, 661–662, 664–667, 669, 671–672, 682, 688–690, 698, 700–701, 704– 705, 708–709, 711–712, 714, 716–717, 721, 731–732, 738–739, 749–750, 753, 757, 762, 764–767, 772–773, 775–776, 784–785, 787– 789, 791, 798, 809–810, 814–815, 818, 821, 824, 826, 836–837, 839, 843, 845–847, 850–851, 853, 858, 860–862, 864–866, 869, 873, 876–877, 879–880, 884–885, 887, 889–891, 893–895, 897–899, 901–907, 909–917, 919–921, 923, 928, 934–935, 938– 940, 944, 949, 952–953, 956–957, 967, 970, 975, 977, 978–979, 983 Kővári, Sarolta 138 Kranz, Walther 83, 112, 383, 440, 624, 671 Kraus, Karl 726–727, 743 Krause, Karl Christian Friedrich 588 Krause, Robert 59, 227, 657, 660, 662–663, 885, 888 Kremer-Marietti, Angèle 37 Kreon 612
Krug, Wilhelm Traugott 181 Kuhn, Elisabeth 156 Kunnas, Tarmo 484, 717 Kurz, Hermann 782 Kytzler, Bernhard 389 La Chaussée, Pierre-Claude Nivelle de 341 Ladendorf, Otto 865 Lagarde, Paul de 252, 420, 768–769, 770, 841, 863 La Mettrie, Julien Offray de 82 Landerer, Christoph 523 Landgraf, Edgar 663 Langbein, August Friedrich Ernst 895 Lange, Friedrich Albert 12, 65, 82, 91, 100, 105– 106, 129–130, 132, 149, 151, 156, 251, 302, 315–317, 362, 581–582, 803, 839, 859–860, 952 Langer, Daniela 324 Laokoon 490 Laplace, Pierre-Simon 378–379, 383 Large, Duncan 5, 64, 181, 382, 471, 530, 629, 788 La Rochefoucauld, Francois VI., Duc de 13, 18, 229–230, 232, 234–237, 239, 241–243, 277, 285–288, 323, 326, 331, 334, 339, 382, 422–423, 658, 677, 691, 694–695, 736, 761, 815, 849, 883, 885, 911 Lassalle, Ferdinand 803, 817, 863 Laudien, Karsten 83 Laussot, Jessie 23 Lawtoo, Nidesh 286 Lay, Maxwell G. 910 Lebeau-Henry, Charles 449, 472, 479, 523 Lebreton, Lucie 408 Lecky, William Edward Hartpole 12, 91, 103, 109, 178, 182–183, 291, 296–297, 366–368, 414, 427, 431, 436, 438, 443, 467, 544, 561, 708, 720, 855–856, 931, 966, 970 Leclercq, Jean 854 Lefèbvre, Catherine 729 Lefèvre, Eckard 309 Legrand, Camille 301 Lehmann, Christoph 728, 810, 936 Lehmann, Robert 200 Lehmann, Rudolf 29, 80, 170 Lehmus, Johann Adam 927 Lehndorff, Georg Graf 155
Personenregister
Leibniz, Gottfried Wilhelm 195–198, 632, 887 Lein, Edgar 607 Lemm, Vanessa 383, 551 Lenau, Nikolaus 870 Leonhard, Jörn 858 Leopardi, Giacomo 959 Lespinasse, Julie de 695 Lessing, Gotthold Ephraim 176–177, 341, 408, 488, 490, 511, 537, 737, 754 Lessing, Theodor 33 Leverkühn, Adrian 464 Lichtenberg, Georg Christoph 13, 30, 290, 300– 301, 422–423, 497, 657, 723, 808, 815, 899, 918 Liebmann, Otto 267–268 Liebsch, Burkhard 687 Liebscher, Martin 297, 439, 677, 691, 732 Liessmann, Konrad Paul 118, 146, 332–333, 372, 545, 871, 960 Lipiner, Siegfried 10 Littré, Émile 171 Locke, John 132, 812 Loeb, Paul S. 276, 328 Logau, Friedrich von 754 Lotario dei Conti di Segni (später Papst Innozenz III.) 331 Loukidelis, Nikolaos 44, 905 Love, Frederick R. 390 Löwenstein, Posani 10 Löwith, Karl 34–35 Lubbock, John 78, 91–95, 109, 119, 165, 271–272, 352, 355–356, 394–396, 412, 423, 450, 571, 580, 638–639, 640, 644, 778, 812, 835–836, 849 Lübke, Wilhelm 491 Lucanus, Marcus Annaeus 329 Lüdemann, Hermann 104 Luhmann, Niklas 167 Lustila, Getty L. 83 Luther, Martin 103, 180–182, 186–187, 233, 257, 317, 480, 572, 642, 655, 928, 959, 967, 983 Lutz, Jakob Leonhard IX, 47 Macchiavelli, Niccolò 552 Mach, Ernst 122, 149 Maier, Mathilde 10, 804 Mainländer, Philipp 13, 137–138, 149–151, 188, 190–192, 194, 213, 223, 331, 427, 445, 754
1097
Mandeville, Bernard de 350, 866 Mann, Joel E. 83 Mann, Thomas 181, 187, 464 Mannheim, Karl 227 Marchand, Suzanne L. 401 Marcio Cid, Ignacio 645–646 Marcuse, Ludwig 874 Marholm-Hansson, Laura 854 Marinucci, Angelo 378 Mark Aurel 299–300, 674, 867 Maro, Publius Vergilius 932 Marsden, Jill 75 Martensen, Hans Lassen 425, 913 Marton, Scarlett 37, 42, 748, 753, 754, 766, 774, 777, 779, 799, 973 Marx, Adolf Bernhard 464, 489 Marx, Karl 52, 386 Massini, Rudolf 10 Mattenklott, Gert 858 Matthäus (Bibel) 54, 175, 263, 292, 317, 366, 400–401, 430, 498, 533, 570, 593, 625, 721, 892, 939 Maury, L.-F.-Alfred 561 Mausolos von Karien 162 Mauss, Marcel 690 Mayer, Julius Robert 526 Mayer Branco, Maria João 523, 527 Medrado, Alice 543 Meier, Albert 854 Melanchthon, Philipp 366 Meléndez, Germán 51, 53–54 Mendelssohn-Bartholdy, Karl 826 Mendonça, Adriany Ferreira de 37, 63 Menelaus 308 Mephisto(pheles) 449, 754, 768–769 Mercklin, Ludwig 520 Meredith, Thomas R. 338 Mérimée, Prosper 289, 827 Merker, Anne IX, 852 Métayer, Guillaume 42, 539, 807 Meyer, Anne-Rose 386 Meyer, Matthew H. 37, 45, 60, 66, 83, 97 Meyer-Sickendiek, Burkhard 454 Meysenbug, Malwida von 3, 8, 10, 13, 21, 22– 25, 42, 64, 313, 455, 494, 647, 711, 724, 730, 757, 782, 784, 793, 871, 884, 926 Miaskowski, August von 178
1098
Personenregister
Michelangelo/Michel Angelo Buonarroti 530, 534 Michelet, Carl Ludwig 13, 201 Mill, John Stuart 33, 88, 96, 145, 204, 269–270, 719, 775, 790, 824 Miller, Alice 787 Mills, Philip 113 Mirabeau, Honoré Gabriel Victor de Riqueti Marquis de 826 Mirelli, Raffaele 82 Mittasch, Alwin 64 Mohr, Wilhelm 530 Moltke, Helmuth von 364–365, 863 Monod, Gabriel 10, 22, 42 Mont, Emerich du 10, 492 Montaigne, Michel de 227, 319, 491–493, 556, 559–561, 602, 626, 653, 657–660, 667, 670, 678, 723, 743–744, 876, 888 Montecatino, Antonio (Goethe) 968 Montinari, Mazzino 29, 37, 63, 82, 186, 255, 344, 471, 475, 516, 527, 541–542, 561, 568, 574, 636–637, 649, 743, 805, 850, 924 Moreto y Cabaña, Agustín 13, 782–783 Morgenthaler, Walter 51 Morillas-Esteban, Antonio 744, 807, 839 Morrisson, Iain 37 Mortzfeld, Benjamin 868, 926 Moses (Bibel) 291, 294 Müller, Armin Thomas 92, 395–396, 838, 870 Müller, Enrico 16, 23, 37, 57, 63, 167, 185, 343, 402, 463, 486, 617, 623, 695, 737 Müller, Gerhard 624 Müller, Johannes 125 Müller, Jörn 113 Müller, Max 447, 633, 640, 939 Müller, Reinhard G. 177 Müller-Buck, Renate 276, 647 Müller-Lauter, Wolfgang 143, 151, 257, 331, 583, 596 Mullin, Amy 37 Muriel Martín, Víctor IX, 85 Murillo, Bartolomé Esteban 531–532 Murray, John 541 Murray, Peter Durno 13, 570 Muschg, Walter 800 Nasser, Eduardo 77, 233 Nathan der Weise 737
Navratil, Michael 37, 151, 154, 200 Nehamas, Alexander 743 Neri, Filippo 430 Neumann, William 611 Neumeyer, Fritz 529 Neymeyr, Barbara 82 Nicodemo, Nicola 146, 177, 186, 250, 359, 637, 648 Nicolai, Friedrich 590 Nicole, Pierre 382 Niebuhr, Barthold Georg 545–546 Niehues-Pröbsting, Heinrich 101, 340, 646 Niemeyer, Christian 31, 37, 42, 340, 543, 579 Nietzsche, Franziska 446, 528, 581, 596, 746, 753 Nikomachos 799 Nissen, Heinrich 397–398, 403, 551 Noack, Ludwig 622 Nobis, Heribert Maria 102 Noiré, Ludwig 112, 201 Novalis (alias Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 442–444 Nussbaumer-Benz, Uschi 854 Odysseus 308, 584, 596, 887 Oliveira, Jelson Roberto de 387, 419 Ommeln, Miriam 596 Oncken, Wilhelm 659 Oppel, Frances Nesbitt 765 Orestes 612 Origines 103 Orsucci, Andrea 82, 91, 94, 165, 177, 233, 272, 274, 354–356, 364, 397, 401, 484, 546, 551, 582, 589, 602, 641 Ortlepp, Ernst 541, 788 Osten, Manfred 395 Osterkamp, Ernst 432 Ott, Louise 42, 695, 791, 793 Ottmann, Henning 343, 347, 502, 850 Overbeck, Franz 4, 9–10, 13–14, 16, 23–25, 27, 30, 46, 50, 78, 84, 108–109, 137, 161, 172, 185, 189, 202, 233, 235–236, 241, 266, 388, 392, 400, 403, 406, 510, 538, 711, 717, 749, 815, 826, 840, 846, 876, 896, 920 Overbeck, Ida 4, 13–14, 23, 235, 332, 510, 695, 711, 749, 826, 840 Ovid (Publius Ovidius Naso) 532 Özen, Vasfi O. 945
Personenregister
Pachnicke, Hermann 751 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 530–531 Pandora 320–321, 774 Parkhurst, William A. B. 7, 26, 798 Parmenides 66, 69, 153, 499, 618, 977 Parsifal (Wagner) 747 Pascal, Blaise 186, 237, 296, 382, 404, 408, 556, 658, 777 Passow, Franz 274, 717 Paulus 104, 182, 299, 317, 404 Pearson, James 134, 858 Peil, Dietmar 201 Peipers, David 652–653 Pellarin, Luca 23 Perikles 608–609, 790–791, 802, 828, 851–852 Perkins, Richard 37, 960 Pernet, Martin 14 Perrault, Charles 332 Perseus 606–607 Pestalozzi, Karl 37, 960, 968 Petersdorff, Dirk von 171 Petersen, Jens 281, 319, 817, 834, 850, 975 Petrarca, Francesco 185–187 Petri, Friedrich Erdmann 75, 176 Petrowskaja, Katja 38 Pettigrew, James Bell 633–634 Pfeiffer, Eduard 864–865 Pfeiffer, Thomas 60 Pfeuffer, Silvio 14, 37, 402 Phillips, George 344 Phillips, Luke 75 Philostratos 763 Phorkyas (Goethe) 762 Piazzesi, Chiara 303, 382, 778, 968, 976 Pichler, Axel 47, 84 Pico della Mirandola, Giovanni 763, 831 Pieniążek, Paweł 589 Pindar 499, 616, 619, 625, 953 Pinder, Wilhelm 611 Pius VII., Papst 847 Planckh, Marcus 331, 363 Platon 13, 39–40, 66–67, 69, 72, 83, 89, 99–101, 105, 112, 153, 215, 251, 262, 268, 287, 299, 327, 369–370, 376–377, 383, 412, 459, 470, 480, 494, 517–518, 555, 599, 609, 614, 624, 647–648, 652–653, 667 Ploss, Hermann Heinrich 796
1099
Plutarch 202, 239–241, 618, 657–658, 707, 722, 791, 802 Podach, Erich F. 4 Poellner, Peter 301 Poesche, Theodor 583 Politycki, Matthias 186, 200, 233, 482, 949 Pollak, Adrian IX Polybios 403, 618 Polyneikes 612 Ponte, Carlos Roger 543 Ponton, Olivier 37–38, 40, 296, 402, 454, 457, 463, 577, 653, 697, 799, 876, 926, 960 Porges, Heinrich 460–461 Porter, James I. 949 Posani Löwenstein, Manfred 10 Posselt, Gerald 156 Post, Albert Hermann 167, 344, 849 Pourgouris, Marinos C. 276 Pozzi, Catherine 332 Praet, Danny 399 Prange, Martine 839 Preller, Ludwig 843 Priestley, Joseph 617 Prokopios von Caesarea 432 Prometheus 54, 320, 576, 774, 912, 953 Protagoras 83, 210 Proteus 763 Purkyně, Jan Evangelista 125 Pyrrhon von Elis 211 Pythagoras 112, 328, 618, 655 Pythia 781 Pythios 330 Quérini, Nicolas 47, 625 Quintilian 686, 735 Raabe, Wilhelm 661 Rabutin-Chantal, Marie de 695 Radestock, Paul 125 Radkau, Joachim 13 Rahden, Wolfert von 514, 668 Raphael/Raffael 530, 533 Rapp, Moriz 782 Rappe, Guido 610 Rauh, Raphael Benjamin 143 Rayman, Joshua 66 Reckermann, Alfons 596
1100
Personenregister
Rée, Paul 3–4, 8, 10, 14, 22, 24–25, 28–31, 45, 64, 73–75, 96–98, 141, 174, 201, 204, 218, 228, 230, 232, 234, 239, 242–244, 246–248, 253, 257–264, 270–271, 273, 277–278, 283– 284, 294, 301, 305–306, 309, 313, 325–327, 337, 339, 344–345, 350, 354, 358, 365– 366, 374–377, 388, 422–423, 443–444, 451, 455, 486, 494, 501, 584, 601, 647, 677–678, 681–684, 691, 693, 697, 711, 716, 746, 778, 881, 892, 908, 920 Reemtsma, Jan Philipp VIII Reginster, Bernard 37, 276, 554, 976 Reibnitz, Barbara von 521 Reich, Hauke 24, 28–29, 51, 59, 81, 528, 577 Reid, Thomas 145 Remmele, Bernd 833 Rémusat, Charles de 13, 562 Renan, Ernest 13, 663, 856, 874 Renner, Maximilian 846 Renzi, Luca 412 Reschke, Renate 82, 156, 331, 457, 463, 479, 485, 490, 535, 610–612 Rethy, Robert Aaron 43–45, 561 Reuter, Richard 822 Reuter, Sören 124 Ribbeck, Otto 24 Ricard, Marie-Andrée 37, 45 Riccardi, Mattia 69, 134, 301, 732 Richter, Alexandra 628, 678 Ricœur, Paul 51 Ries, Wiebrecht 65, 370, 774 Ritschl, Friedrich 78, 113, 751 Ritschl, Sophie 78, 764 Ritter, Heinrich 266 Robertson, George Croom 10 Roch, Eckhard 37 Roethe, Anna L. 596 Rohde, Erwin 4, 10, 24, 47, 64, 160, 470, 474, 611, 618, 695–696, 703, 717, 746, 814 Roller, Franz Anton 650 Röllin, Beat IX Romundt, Heinrich 10, 24, 78, 124, 703 Rosa, Hartmut 656 Roscoe, Henry Enfield 64, 75 Rose, Dirk 694 Rosenkranz, Karl 495 Roßbach, Johann Joseph 577 Rößler, Constantin 292–293
Rothacker, Erich 102 Rothpletz, Louise 10 Rotteck, Hermann von 180 Rotteck, Karl von 180, 925 Rotter, Hannah Maria 303, 346–347, 466 Röttges, Heinz 177, 200, 292, 582, 589, 812 Rottmann, Mike 14, 301 Rousseau, Jean-Jacques 29, 187, 283, 591, 751, 812, 837–838, 947–948 Rubik, Margarete 504 Rubinstein, Susanna 779 Ruckenbauer, Hans-Walter 4, 495 Ruehl, Martin A. 659 Ruffini, Giovanni 13 Rupschus, Andreas 855 Saarinen, Sampsa Andrei 184, 250, 387 Sachs, Hans 764 Sachs, Julius von 617 Safronov, Dmitri 823 Sainte-Beuve, Charles-Augustin de 14, 42, 235, 241, 510, 695, 711, 749, 826, 840 Saint-Ogan, Lefebvre 54 Salanskis, Emmanuel 71, 154, 156, 169, 170–171, 180, 229, 272, 301, 550 Salaquarda, Jörg 132, 386 Salerno, Rachele 13, 42, 111, 259, 330, 344, 353, 375, 538, 560, 562, 958 Sales da Ponte, Carlos Roger 56 Sánchez Méca, Diego 37, 382, 402 Sand, George 925 Sandvoss, Ernst 412 Santana, Bruno Wagner 47 Santini, Carlotta 523 Saphir, Moritz Gottlieb 875 Scandella, Maurizio 347 Schaberg, William H. 5–6, 8, 10–11, 41–42 Schacht, Richard 28, 35, 547, 574 Schäfer, Georg N. 201 Schäffle, Albert 495 Scheel, Hans von 803, 817 Scheffel, Joseph Victor von 514 Scheffer, Thassilo von 486 Scheier, Claus-Artur 47 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 71, 81, 106, 574 Schenkel, Daniel 420, 577 Scheuer, Oskar Franz 726–727
Personenregister
Schieß, Heinrich 3 Schiess-Gemuseus, Heinrich 10 Schiller, Friedrich 156, 202, 425, 458–459, 460– 461, 482, 492, 530, 538–540, 581, 617, 723, 732, 777, 943 Schlechta, Karl 35, 675 Schlegel, August Wilhelm 58, 855 Schlegel, Friedrich 443 Schleicher, Berta 782 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 90, 418– 420, 446–447, 730 Schlesier, Renate 449 Schmeitzner, Ernst 5–8, 10–11, 21, 23, 26–29, 40, 72–73, 88, 182, 187, 798, 845, 957, 979 Schmid, Rudolf 190 Schmidt, Eduard 645 Schmidt, Hermann Josef 412, 610 Schmidt, Julian 479–480, 751 Schmidt, Oskar 170, 272, 586–587, 641 Schmidt, Rüdiger 143, 156, 388 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 53 Schmitt, Carl 747 Schneider, Ursula 101 Schoeck, Helmut 34, 574 Schoedler, Friedrich 64, 75, 102, 110, 514, 978 Schoemann, Georg Friedrich 320, 364, 469, 793 Scholz, Dieter David 854 Schönberg, Gustav Friedrich 178, 865 Schopenhauer, Arthur VII, 12, 17, 20, 27–28, 30– 31, 40, 49, 50, 52, 64, 67–74, 77, 81, 83–84, 86, 89, 92, 99, 101–102, 106–107, 109–110, 120, 124, 126–128, 130–134, 136–138, 140– 141, 143, 149–150, 158, 169–170, 175–176, 180–181, 183–186, 188–191, 194–195, 197– 198, 202, 207, 213, 219, 235, 253–254, 256, 259–262, 265, 267–268, 285, 287, 289–290, 293–294, 297–299, 301, 305, 309, 311, 318– 319, 329, 334, 347, 359–361, 371, 373, 376– 378, 382–383, 390–392, 416–417, 427, 429, 432, 439–441, 445, 458, 472, 476, 479, 496–497, 511, 519, 521–522, 525, 542, 556, 570–571, 573–575, 577, 598–600, 618, 623, 638–639, 665, 692, 694, 724, 735, 754, 765, 771, 775–776, 789, 831, 872, 875–877, 885, 920, 922, 928, 930, 943, 959, 970 Schreber, Daniel Gottlob Moritz 598 Schrift, Alan D. 637 Schröder, Winfried 105
1101
Schubert, Corinna 597, 766 Schulte, Natalie 47, 56, 285, 688 Schulze, Gottlob Ernst (alias Aenesidemus-Schulze) 81–82 Schuster, Marc-Oliver 523 Schuster, Sören E. 659 Schütte, Jens-Peter 37, 523 Schütza, Ole 343 Schwab, Philipp 52, 228, 961 Schwegler, Friedrich Carl Albert 672 Schweppe, Walter 37 Scott, Walter 381–382, 477–478, 481, 929 Sedgwick, Peter R. 178 Seggern, Hans-Gerd von 895 Semper, Gottfried 529 Seneca, Lucius Annaeus 328, 376, 393, 658, 661 Serini, Lorenzo 580 Serres, Michel 719 Servet, Michael 366 Sextus Empiricus 211 Seydlitz, Reinhart von 4, 10, 15, 21–22, 24–26, 340, 584, 646, 695, 746, 767 Shakespeare, William 307, 410, 475, 491–493, 537, 540–541, 560, 678, 732, 796 Siebeck, Hermann 123 Sieg, Ulrich 42 Siegfried (Wagner) 875, 915 Siemens, Herman W. 486 Sigismund, Berthold 525 Silenzi, Marina 56, 525 Silva Júnior, Ivo da 854 Simmel, Georg 668 Simonetta, Marcello 268 Simonides von Keos 462–463, 616 Simonin, David 178, 301, 327, 374, 443, 713 Simplikios 299, 383, 441 Simson, Wojciech 47 Skowron, Michael 303, 551, 755, 778, 787, 790, 792, 794, 924 Slama, Paul 424 Sloterdijk, Peter 596 Small, Robin 4, 8, 25 Smid, Stefan 833 Smiles, Samuel 240 Smith, Adam 178, 350 Smith, Edward 160 Smitmans-Vajda, Barbara 767, 785
1102
Personenregister
Sokrates 66, 98–101, 112, 269, 290, 299, 313, 369–370, 382, 411–412, 480, 555, 612, 614, 616, 620, 655, 667, 671, 679, 722, 734, 756, 798–800, 803–804, 868 Sonderegger, Stefan 632 Sooväli, Jaanus 257 Sophokles 307–309, 469, 492, 537, 612 Sorel, Julien (Stendhal) 313 Söring, Jürgen 440, 618 Souladié, Yannick 404 Souverain, Matthieu 282 Spencer, Herbert 85, 119, 140, 176 Speusippos 328 Spiegel, Friedrich 672 Spiekermann, Klaus 148, 250 Spinoza, Baruch de 197, 283, 346–347, 466– 467, 852, 855 Spir, Afrikan 13, 106, 109, 115–116, 132, 135–137, 142–146, 202, 224, 416–418 Sproat, Gilbert Malcolm 119 Stack, George J. 151 Staehelin, Ernst 23 Stahl, Joshua IX, 47 Stahr, Adolf 368, 430, 737 Statius, Publius Papinius 392 Steffensen, Karl 14 Stegmaier, Werner 9, 51, 54, 58, 101, 157, 167, 177, 235, 264, 384, 445, 479, 583, 610, 617, 632, 687, 724, 749, 846, 850, 854, 866 Steiger, Edgar 14 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr von und zum 180 Stein, Heinrich von 23, 411 Steinbeiß, Simon Martin 396 Steiner, Vincent 543, 869 Steinhart, Karl 251, 268 Steinthal, Heymann 302 Stekeler-Weithofer, Pirmin 151 Stellino, Paolo 235, 328 Stendhal (Henri Beyle) 232, 235, 313, 456 Stephan, Paul IX, 9, 816 Stern, Adolf 573 Stern, Tom IX, 57, 951 Sterne, Laurence 596–597, 735 Stierle, Karlheinz 239 Stingelin, Martin 300, 423, 657, 815, 899 Stöber, Adolf 201
Stollberg-Rilinger, Barbara 833 Stolz, Alban 332 Strabon 584 Strauß, David Friedrich 17, 190, 195, 430, 460, 548, 550, 700, 733, 838, 848, 874 Strobel, Eva 16 Struve, Gustav 583 Sulzer, Johann Georg 590–591 Sutor, Andreas 471 Svoboda-Baas, Dieta IX Swift, Jonathan 274, 295 Tacitus, Publius Cornelius 547, 732 Taine, Hippolyte 182, 302, 572 Tannery, Paul 44 Tasso (Goethe) 967–968 Tauber, Christine 607 Taylor, Charles 303 Teichmüller, Gustav 149 Tekmessa 308 Terentianus Maurus 514 Teukros 308 Thatcher, David S. 78, 93, 95, 109, 119, 272, 353, 355, 388, 395, 412, 571, 580, 587, 638, 644, 787, 812 Theißen, Gerd VIII Theognis von Megara 274, 609, 810 Theokrit 469 Theon, Ailios 463 Thönges, Bernd 193, 395, 976 Thorvaldsen, Bertel 672 Thukydides 13, 342–344, 346, 506, 608–609, 619, 802, 828, 851–852, 932 Thüring, Hubert 113 Tieck, Ludwig 424, 443, 751, 927 Tietz, Johann Daniel 743, 744 Tietz, Udo 196 Toledo, Ricardo Oliveira 88 Tongeren, Paul van 37, 47, 51, 56, 363, 761, 846 Treccani, Irene 91 Treiber, Hubert 78, 92, 94, 118–119, 122–125, 342, 344, 348, 444, 590, 847, 849 Treitschke, Heinrich von 172, 841 Tucholsky, Kurt alias Peter Panther 717 Tuncel, Yunus 235, 359, 720, 878 Turgenjew, Iwan 479, 752 Twain, Mark 663, 881
Personenregister
Tylor, Edward Burnett 78, 91–94, 165, 272, 312, 356, 450, 546, 603, 690 Tyndall, John 564–565, 584 Ueberweg, Friedrich 44 Ullmann, Carl 446–447 Ulmer, Karl 157 Ulrici, Hermann 123, 149 Ungeheuer, Gerold 92 Unger, Kristina 9 Ungern-Sternberg, Isabelle, Freifrau von (geb. Freiin von der Pahlen) 40–41, 237–238, 561 Ure, Michael 38, 307, 886 Urslingen, Werner von 52 Uschner, Karl 774 Valdek, Rudolf 586–587 Valladão Silva, Gabriel IX Vattimo, Gianni 301, 596 Vauvenargues, Luc de Clapiers de 235–237, 241 Venturelli, Aldo 186, 196, 200, 209, 223, 227, 542, 617, 744, 854, 968, 970 Verkerk, Willow 37 Vietta, Silvio 444 Villamil Lozano, Harol David 56, 65 Villon, François 313 Vilmar, August Friedrich Christian 232–233 Vinzens, Albert 75 Virchow, Rudolf 918 Virgilius Maro, Publius 932 Virilio, Paul 656 Vischer, Wilhelm 179, 180, 186 Vischer-Sarasin, Adolf 926 Vivarelli, Vivetta VIII, 37, 82, 102, 165, 177, 186, 227, 238, 319, 449, 493, 535, 550, 556, 559, 560, 588, 596, 602, 612, 626, 641, 653, 659–660, 662–664, 667, 670, 723, 959, 976 Vogel, Emil Ferdinand 104 Vogt, Carl/Karl 263 Volkelt, Johannes 189 Volkmann, Richard 686 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 37 Volney, Constantin François 936 Voltaire IX, 7, 10, 13, 29, 31, 41–43, 45, 118, 137, 151, 185, 186–187, 197, 241, 534, 538–539, 576, 807, 837–838, 847 Volz, Pia Daniela 3, 121
1103
Wachendorff, Elke Angelika 838, 949 Wackernagel, Jacob 291, 379 Wagner, Cosima 4, 10, 20, 25–27, 187, 295, 700, 764, 797, 853 Wagner, Richard VII, 3, 7–10, 12, 20, 25–28, 30– 31, 34, 36, 42, 49, 55, 74, 87, 120, 128, 187– 188, 295, 308, 386, 390, 411, 455, 460–461, 469, 473, 475–476, 487, 488–489, 511, 522– 524, 527, 530, 536, 571, 642, 682, 686, 700–702, 705, 716, 722, 730, 745, 751, 764, 768–769, 794, 797, 849, 853, 890, 915, 928, 973 Wahrmund, Adolf 343, 608, 828 Walpole, Robert 721 Wander, Karl Friedrich Wilhelm 325, 480, 643, 661, 840, 873 Weber, Alfred 227 Weber, Carl Julius 310, 596, 633 Weber, Georg 504, 512, 530 Wein, Hermann 196 Weinstock, Stefan 624 Weiß, Johannes 171 Welcker, Karl 925 Wenner, Milan IX, 42, 130, 589 Werner, Oskar 463 Werner, Schallum IX Westerdale, Joel 16, 884, 976 Weygoldt, Georg Peter 495 Whitlock, Greg 149 Widemann, Paul 6, 10 Wiel, Josef 160–161 Wieland, Christoph Martin 511–512 Wienand, Isabelle 38, 45, 579 Wiener, Christian 204 Wilamowitz-Moellendorff, Erdmann von 5 Wilberforce, Samuel 586 Wild, Jonathan 313 Wilhelm I., deutscher Kaiser 368, 815 Wilkens, Luise IX Wilkins, John 632 Williams, William D. 331, 334, 677, 736 Wilson, John Elbert 574 Winckler/Winkler, Paul IX, 236, 293, 693, 829, 909 Winkelried, Arnold von 301, 432 Winkler, Markus IX, 13, 16, 228–229, 234–235, 239, 243, 264, 286, 382, 528, 535, 595, 815, 858, 861, 883, 885, 911, 954
1104
Personenregister
Wirth, Max 495 Wisser, Richard 250, 257, 340 Wissing, Jörg 283 Wittgenstein, Ludwig 464, 153 Wolf, Friedrich August 104 Wolf, Jean-Claude 17 Wölfflin, Heinrich 450 Wollek, Christian 389 Woodruff, Martha Kendal 126 Wotling, Patrick 37, 82, 168, 210, 579, 854 Wundt, Wilhelm 360 Wurm, Paul 434 Wuthenow, Ralph-Rainer 838 Wuttke, Heinrich 819 Xeniades 832 Xenophon 412, 535, 619 Xerxes 330, 369 Xia, Yi-Ping IX, 144, 257
Yhee, Jean 466 Young, Julian 25, 37 Zaborowski, Holger 451 Zachriat, Wolf Gorch 156, 301 Zavatta, Benedetta 13, 112, 257, 302, 876 Zeller, Eduard 100, 129–130, 686 Zenon von Elea 620 Zenon von Kition 328 Zeus 54, 320, 411, 774, 793 Zhavoronkov, Alexey 410, 486, 623, 679 Zibis, Alexander-Maria 324 Zichy, Michael 101 Zimmer, Robert 13, 242 Zimmern, Helen 35 Zirfas, Jörg 905 Zittel, Claus 343, 395, 732, 735, 737, 979