Kommentar zu Nietzsches Also sprach Zarathustra I und II [1. ed.] 9783110293050, 9783110293319, 9783110381849

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Kommentar zu Nietzsches Also sprach Zarathustra I und II [1. ed.]
 9783110293050, 9783110293319, 9783110381849

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Hinweise zur Benutzung
Siglenverzeichnis
Editorische Zeichen
Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen
Überblickskommentar
Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Erster Theil
Der Titel
Zarathustraʼs Vorrede Überblicks- und Stellenkommentare
Die Reden Zarathustraʼs Überblicks- und Stellenkommentare
Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Zweiter Theil
Überblickskommentar
Überblickskommentare und Stellenkommentare zu den Kapiteln
Literaturverzeichnis
Sach- und Begriffsregister
Personenregister

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Nietzsche-Kommentar Band 4/1

Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken

Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Band 4/1

Katharina Grätz

Kommentar zu Nietzsches Also sprach Zarathustra I und II

DE GRUYTER

Dieser Band wurde im Rahmen der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern im Akademienprogramm mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Baden-Württemberg erarbeitet.

ISBN 978-3-11-029305-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-029331-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038184-9 Library of Congress Control Number: 2023940161 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort

IX

Hinweise zur Benutzung Siglenverzeichnis Editorische Zeichen

XIII

XV XXI

Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen Überblickskommentar 3 3 1 Entstehungs-, Text- und Editionsgeschichte 2 Historischer Zarathustra, Zoroastrismus und die Frage nach N.s 11 Quellen 20 3 Weitere Quellen und Prätexte 26 4 Sprache und Stil 30 5 Gattungszugehörigkeit 34 6 Narrative Struktur und Komposition 39 7 Leitgedanken 45 8 N.s werkspezifische Äußerungen 51 9 Wirkungsgeschichte 65 10 Philosophische und wissenschaftliche Rezeption

Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Erster Theil Der Titel

73

Zarathustraʼs Vorrede Überblicks- und Stellenkommentare

77

Die Reden Zarathustraʼs 221 Überblicks- und Stellenkommentare 224 Von den drei Verwandlungen. Von den Lehrstühlen der Tugend. 250 Von den Hinterweltlern. 259

VI

Inhalt

Von den Verächtern des Leibes. 271 Von den Freuden- und Leidenschaften. 291 Vom bleichen Verbrecher. 303 Vom Lesen und Schreiben. 320 Vom Baum am Berge. 328 Von den Predigern des Todes. 335 Vom Krieg und Kriegsvolke. 343 Vom neuen Götzen. 355 Von den Fliegen des Marktes. 370 Von der Keuschheit. Vom Freunde. 376 Von tausend und Einem Ziele. 387 Von der Nächstenliebe. 399 Vom Wege des Schaffenden. 407 Von alten und jungen Weiblein. 418 Vom Biss der Natter. 436 Von Kind und Ehe. 443 Vom freien Tode. 457 Von der schenkenden Tugend. 468

284

Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Zweiter Theil Überblickskommentar

499

Überblickskommentare und Stellenkommentare zu den Kapiteln Das Kind mit dem Spiegel. 505 Auf den glückseligen Inseln. 517 Von den Mitleidigen. 539 Von den Priestern. 553 Von den Tugendhaften. 564 Vom Gesindel. 580 Von den Taranteln. 592 Von den berühmten Weisen. 609 Das Nachtlied. 618 Das Tanzlied. 631 Das Grablied. 643 Von der Selbst-Ueberwindung. 655 Von den Erhabenen. 678

505

Inhalt

696 Vom Lande der Bildung. 705 Von der unbefleckten Erkenntniss. 724 Von den Gelehrten. 736 Von den Dichtern. 758 Von grossen Ereignissen. 784 Der Wahrsager. 803 Von der Erlösung. 823 Von der Menschen-Klugheit. 831 Die stillste Stunde. 843 Literaturverzeichnis 843 Quellen und zeitgenössische Literatur Zitierte Nietzsche-Ausgaben und -Übersetzungen (außer KGW/KSA und den weiteren im Siglenverzeichnis genannten Ausgaben, 867 in chronologischer Reihenfolge) Forschungsliteratur, Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, Hilfsmittel 867 und allgemeine Literatur Sach- und Begriffsregister Personenregister

957

949

VII

Vorwort Von allen Werken N.s erzielte Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen nicht nur mit Abstand die größte Breitenwirkung, sondern zugleich wurden die Verständnisbarrieren von früh an als besonders hoch empfunden. Zarathustra, so Karl Knortz 1906, 48, gebe „dem philosophischen Laien doch zu harte Nüsse zum Knacken auf“. Bis heute wird Also sprach Zarathustra vielfach als das am schwersten zugängliche von N.s Werken angesehen. Immer wieder hat man von der Rätselhaftigkeit und Dunkelheit dieses Texts gesprochen, der sich durch seinen narrativen Charakter und die Ausrichtung auf eine zentrale Figur von den anderen Werken N.s unterscheidet und sich durch einen gattungsmischenden Hybridcharakter allen Klassifikationsversuchen widersetzt. So entstand mit der ab 1890 rasch und breit einsetzenden Zarathustra-Rezeption auch ein großes Bedürfnis nach Erläuterung und Kommentierung und zugleich wurden die entstehenden Erläuterungs- und Kommentierungsversuche mit Skepsis aufgenommen. Bereits 1906 glaubte der Germanist Richard M. Meyer warnen zu müssen „vor der massenhaften Makulatur populärer Erläuterungsschriften“ (Meyer 1906, 684), die den Leser bloß irreführen würden, indem sie ihm ein einfaches Verständnis des Werks vorgaukelten. Einerseits ging von Nietzsches Zarathustra eine starke Sogwirkung aus, andererseits wurde das Werk als rätselhaft, dunkel und hermetisch empfunden. Man schrieb ihm eine besondere Aura zu und befürchtete, dass diese durch Erläuterung und Kommentierung zerstört werden könnte. Vor allem die kunstvolle und bildreiche Sprache übte großen Reiz aus und gerade sie wurde als kaum zu überwindendes Hindernis für die kommentierende Erschließung wahrgenommen. August Messer, der 1922 ein Büchlein mit Erlaeuterungen zu Nietzsches Zarathustra vorlegte, gab als Leitfaden für die Kommentierung aus, die Gedanken N.s nicht „ihres dichterischen Gewandes“ zu entkleiden und in „nüchterne Prosa“ zu übersetzen, sondern dem Kunstcharakter des Zarathustra-Werks Rechnung zu tragen (Messer 1922, V). Dass das ein gut gemeinter, aber schwer einzulösender Rat war, zeigt Messers eigene Schrift, die die Kapitel des Werks auf recht dürre Zusammenfassungen reduziert. Auch Gustav Naumann äußerte skeptische Vorbehalte gegenüber einer Kommentierung: „Das Zarathustrabuch zu commentieren, ist ein Einfall, welcher zwar nahe liegt, aber deshalb nicht ohne Weiteres gut zu heißen ist; viel, sehr viel spricht dagegen.“ (Naumann 1899–1901, 2, 3) Das konnte Naumann selbst allerdings nicht davon abhalten, zwischen 1899 und 1901 in vier Bänden den ersten Zarathustra-Kommentar vorzulegen, der bis heute seinen Wert behält, weil er die autobiographischen Entstehungskontexte der Kapitel beleuchtet und zahlreiche Parallel- und Referenzstellen in N.s Gesamtwerk aufweist. https://doi.org/10.1515/9783110293319-203

X

Vorwort

Weitere Kommentierungsunternehmungen folgten nach. So kann der hier vorgelegte Kommentar auf eine ganze Reihe von Vorläufern und Wegbereitern zurückgreifen. Zu nennen sind neben Naumann (1899–1901) vor allem Gramzow (1907); Weichelt (1922); Messer (1922); Lampert (1986), Whitlock (1990), Rosen (1995), Pieper (2010), Niemeyer (2007), Burnham/Jesinghausen (2010). Obwohl sich die genannten Werke explizit als Erläuterungen oder Kommentare zu Zarathustra bzw. einzelnen seiner Teile verstehen, unterscheiden sie sich grundlegend von dem hier vorgelegten Kommentar. Ihr Bestreben konzentriert sich in erster Linie auf zusammenfassende oder auch breiter paraphrasierende Einführungen in die einzelnen Zarathustra-Kapitel, die auf thematische Schwerpunkte und Deutungsprobleme aufmerksam machen oder auch auf Parallelstellen innerhalb von N.s Werk verweisen. Sie alle liefern keine Einzelstellenkommentare, weisen eher selten auf Quellen und intertextuelle Bezüge hin und vermerken Vorstufen und Varianten entweder gar nicht oder doch nur äußerst sporadisch. Damit lassen sie das aus, was zu den zentralen Anliegen des hier vorgelegten Kommentars gehört. Er bietet den Benutzer*innen neben den einführenden Überblickskommentaren zu jedem einzelnen Kapitel eine ausführliche Einzelstellenkommentierung, die Quellen, Prätexte und mögliche Anregungen anführt, des Weiteren Parallelstellen in N.s Werk aufzeigt und vor allem Entwürfe und Vorstufen deutend heranzieht und damit Einblick in die Textgenese vermittelt. Für die Einzelstellenkommentierung erwiesen sich die Angaben in KSA 14 sowie in dem von Marie-Luise Haase herausgegebenen Nachbericht zum ersten Band der sechsten Abteilung der KGW (= KGW VI 4) als hilfreich. Besonders wertvoll war der kritische Apparat dieses Nachberichtsbands, den ich herangezogen habe, um den umfangreichen Zarathustra-Nachlass für die kommentierende Erschließung des Werks nutzbar zu machen. Wegen der großen Menge des vorliegenden Materials musste ich dabei selektiver verfahren als die anderen Bände des Nietzsche-Kommentars. Allen Nutzer*innen, die genaueren Aufschluß über die Textgenese wünschen, sei der Nachbericht ans Herz gelegt, der in der Nietzsche-Forschung leider viel zu selten herangezogen wird. Mit dem schon in den ersten Kommentaren und Erläuterungen angemerkten Zwiespalt hat indes auch der vorliegende Kommentar zu kämpfen: Obwohl oder gerade weil Zarathustra in besonderem Maß kommentierungsbedürftig erscheint, beschwört das Werk zugleich besondere Kommentierungsprobleme herauf. So lassen sich insbesondere die Vielzahl vager Allusionen sowie der musikalische und sprachspielerische Charakter des Textes nur annäherungsweise kommentierend erschließen. Der vorliegende Kommentar ist sich seiner Grenzen bewusst, gleichwohl hat er den Anspruch, den Benutzer*innen Aufschluss zu vermitteln über die Vielschichtigkeit des Zarathustra-Werks in seiner Zwischenstellung zwischen Literatur und Philosophie.

Vorwort

XI

Das Kommentar-Projekt wäre für mich nicht realisierbar gewesen ohne die vielfältigen Hinweise und Anregungen, die ich durch Seminare, Workshops und bei Vorträgen erfahren habe. Ausdrücklich erwähnen möchte ich Werner Stegmaier, der den einführenden Überblickskommentar einer kritischen Gegenlektüre unterzogen hat. Auch mein privates Umfeld wurde vom Zarathustra-Wahn in Mitleidenschaft gezogen; geholfen haben mir insbesondere meine Schwester Angelika Grätz und mein Mann Cornel Rümmele. Gerd Theißen hat als Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission der Heidelberger Akademie die Kommentierungs-Arbeit über die Jahre hinweg mit außergewöhnlichem Engagement begleitet und unterstützt. Großen Dank schulde ich Jochen Schmidt, dem mittlerweile verstorbenen Begründer des Nietzsche-Kommentars, der mich allererst auf die Nietzsche-Spur gebracht hat. Immens profitiert hat der Kommentar von meinen Mitarbeiter*innen. Natalie Schulte und Philipp Rupf haben in den Anfängen dazu beigetragen, dass die Arbeit auf die Gleise kam. Lina Naji hat sich vor allem um die Bibelnachweise gekümmert. Víctor Muriel Martín verdanke ich wertvolle Hinweise zur spanischsprachigen Zarathustra-Forschung. Louisa Estadieu hat die französische Forschung gesichtet und fast alle Kommentarteile zu Za II Korrektur gelesen. Besonders verpflichtet bin ich Milan Wenner und Guillaume Broillet, die beide den Kommentar entscheidend mitgetragen haben. Milan Wenner hat die Vorstufen zu Za III und Za IV sondiert und überdies diese beiden Kommentarteile einer eingehenden Korrekturlektüre unterzogen. Ihm verdanke ich eine Reihe von Ergänzungen und entschlackende stilistische Korrekturen. Guillaume Broillet hat zahlreiche und insbesondere die griechischen Quellen sorgsam nachgewiesen. Er hat die KGW IX-Zitate zitierfähig gemacht, den Kommentar zur Vorrede einer akribischen Gegenlektüre unterzogen und bei der Schlussredaktion dafür gesorgt, dass notwendige formale Dinge nicht auf der Strecke geblieben sind. Schließlich und vor allem danke ich meinen beiden Kollegen, Andreas Urs Sommer und Sebastian Kaufmann, von deren geballter Nietzsche-Expertise (Andreas Urs Sommer hat die Kommentar-Manuskripte zu Za III und Za IV mit zahlreichen hilfreichen Anmerkungen versehen) mein Kommentar erheblich profitiert hat. Nicht zuletzt waren beide in ihrer unermüdlichen Energie und Begeisterung so ansteckend, dass auch ich mich gerne habe vom Nietzsche-Virus infizieren lassen.

Hinweise zur Benutzung Der Aufbau des Kommentars zu jeder einzelnen Schrift ist prinzipiell gleich: Ein Überblickskommentar klärt die Entstehung und die Quellenlage, er analysiert Konzeption und Struktur des jeweiligen Werkes sowie den Stellenwert im Gesamtwerk, schließlich bietet er einen Ausblick auf die Wirkungsgeschichte. Der Einzelstellenkommentar ist lemmatisiert und beginnt mit der Seiten- und Zeilenangabe der jeweils zu kommentierenden Stelle nach der Kritischen Studienausgabe (KSA), darauf folgt das Text-Zitat in Kursivschrift und dann der Kommentar. Die KSABandnummer entspricht der Bandnummer des Kommentars. Nietzsches Name wird mit N. abgekürzt. Querverweise innerhalb des Kommentars werden mit dem Kürzel NK (für Nietzsche-Kommentar) angezeigt (z. B. innerhalb des Kommentars zu Za: NK 304, 10–13). Den Querverweisen auf andere Kommentarbände ist die jeweilige Kommentar-Bandnummer beigefügt, die sich zugleich an der KSA-Bandzählung orientiert, es folgen Seiten- und Zeilenangaben (z. B.: NK 3/2, 481, 15). Wird auf eine Textpassage statt auf ein einzelnes Lemma in einem anderen Kommentarband verwiesen, dann geschieht dies mit Angabe der Seitenzahl „S.“ des Kommentarbandes (z. B. vgl NK 3/1, S. 142 f.). Das Kürzel ÜK verweist auf Überblickskommentare zum Werk, den Werkteilen und den einzelnen Kapiteln. N.s Werke sind ebenso wie andere häufig zitierte Quellen nach dem jedem Band beigegebenen Siglenverzeichnis ausgewiesen. Notate aus dem Nachlass sind mit der in KGW / KSA fixierten Nummer versehen, nach dem Schema: NL Jahr, KSA-Bandzahl, Notatnummer, KSA-Seitenzahl, KSA-Zeilenzahl (z. B.: NL 1882/83, KSA 10, 4[162], 160, 8; ggf. mit N.s Nummerierung innerhalb der Sentenzensammlung, angefügt unmittelbar nach der eckigen Klammer: NL 1882, KSA 10, 5[1]144, 203, 5 f.). Briefe werden zitiert: X an Y, Datum, KSB- oder KGB-Band, Briefnummer (mit Nr.), Seitenzahl (mit S.), ggf. Zeilenzahl (z. B.: N. an Franziska Nietzsche, 22. 08. 1888, KSB 8/KGB III 5, Nr. 1093, S. 395, Z. 4). Um trotz der Zahlenhäufung klare Zuordnungen zu ermöglichen, werden bei den Briefen die Abkürzungen „Nr.“, „S.“ und „Z.“ beibehalten. Soweit Forschungsliteratur und Quellen aus Platzgründen nur abgekürzt (Autornachname Erscheinungsjahr, Seite) zitiert werden, ist im Literaturverzeichnis am Ende des Bandes der jeweilige Titel leicht zu identifizieren.

https://doi.org/10.1515/9783110293319-204

Siglenverzeichnis AA

AC BAW

BN BNO CBT

CV D 17 DD DFGA

DW DWB EH eKGBW

FW

Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abtheilung: Werke, 9 Bde., Berlin 1902–1923 (keine Kant-Ausgabe in NPB). Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum [1888], in: KSA 6, S. 165–254. Nietzsche, Friedrich: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe: Werke, 5 Bde. [Jugendschriften 1854–1869], München 1933–1940. [Oehler, Max:] Nietzsches Bibliothek = Vierzehnte Jahresgabe der Freunde des Nietzsche-Archivs, Weimar 1942. Nietzsche, Friedrich: Briefwechsel mit Franz Overbeck, hg. von Oehler und Carl Albrecht Bernoulli, Leipzig 1916. Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik zusammengestellt von Raymond J. Benders und Stephan Oettermann unter Mitarbeit von Hauke Reich und Sibylle Spiegel, München / Wien 2000. Nietzsche, Friedrich: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, in: KSA 1, S. 753–792. Druckmanuskript zu Za IV, in: DFGA. Nietzsche, Friedrich: Dionysos-Dithyramben [1888], in: KSA 6, S. 375–411. Nietzsche, Friedrich: Digitale Faksimile Gesamtausgabe nach den Originalmanuskripten und Originaldrucken der Bestände der Klassik Stiftung Weimar, hg. von Paolo D’Iorio, unter http:// www.nietzschesource.org/DFGA. Nietzsche, Friedrich: Die dionysische Weltanschauung, in: KSA 1, S. 551–577. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. in 32 Teilbänden, nebst einem Quellenverzeichnis, Leipzig 1854–1971. Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1888], in: KSA 6, S. 255–374. Friedrich Nietzsche: Digitale Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken und Briefen (= elektronische Version von KGW und KGB), hg. Von Paolo DʼIorio, http://www.nietzschesource.org/ #eKGWB. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“) [1882/87], in: KSA 3, S. 343–651.

https://doi.org/10.1515/9783110293319-205

XVI

Siglenverzeichnis

GD GM GMD GoA GoAK GSA GSD GT GTG GWC HkP HGA

HN IM JGB KGB KGW KGW IX

Kr I–IV

Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt [1888], in: KSA 6, S. 55–161. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887], in: KSA 5, S. 245–412. Nietzsche, Friedrich: Das griechische Musikdrama, in: KSA 1, S. 515– 532. Nietzsche’s Werke. Leipzig 1894–1911 u. ö. [Großoktav-Ausgabe]. Nietzsche’s Werke [Großoktav-Ausgabe, soweit von Fritz Koegel ediert], Leipzig 1894–1897. Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 10 Bände, Leipzig 1907. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872], in: KSA 1, S. 9–156. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt des tragischen Gedankens, in: KSA 1, S. 579–599. Nietzsche, Friedrich: Gesetz wider das Christenthum [1888], in: KSA 6, S. 254 [angehängt an AC]. Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. EinVortrag [1869], in: KGW II 1, S. 247–269. Heidegger, Martin: Gesamtausgabe, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann u. a., 102 Bde. in 4 Abteilungen, Frankfurt am Main 1975 ff. Heidegger, Martin: Nietzsche, 6. Aufl., 2 Bde., Stuttgart 1998. Nietzsche, Friedrich: Idyllen aus Messina [1882], in: KSA 3, S. 333– 342. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], in: KSA 5, S. 9–243. Nietzsche, Friedrich: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York 1975 ff. Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York 1967 ff. Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Neunte Abteilung: Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription, hg. von Marie-Luise Haase, Michael Kohlenbach und Martin Stingelin, Berlin / New York 2001 ff. Krummel, Richard Frank: Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein

Siglenverzeichnis

KSA

KSA 14 KSB

MA I–II M MD Mp … NH NJ NK

NL NLex NLex2 NPB

NV… NW NWB

PHG

XVII

Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867–1945, 4 Bde., Berlin / New York 1998–2006. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 3. Auflage, München / Berlin / New York 1999. Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino: Friedrich Nietzsche. Kommentar zu den Bänden 1–13 [der KSA]. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Auflage, München / Berlin / New York 2003. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister [1878/86] = KSA 2. Nietzsche, Friedrich: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile [1881], in: KSA 3, S. 9–331. Nietzsche, Friedrich: Mahnruf an die Deutschen, in: KSA 1, S. 891– 897. Mappen N.s, in: DFGA. Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk ‒ Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000. Nietzsche, Friedrich: Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift „Im neuen Reich“, in: KSA 1, S. 793–797. Der vorliegende Nietzsche-Kommentar. Querverweise innerhalb eines Werk-Kommentars werden mit dem Kürzel NK ohne Bandangabe angezeigt. Nietzsche, Friedrich: Nachlass, zitiert nach KSA oder KGW. Niemeyer, Christian (Hg.): Nietzsche-Lexikon. Darmstadt 2009. Niemeyer, Christian (Hg.): Nietzsche-Lexikon. 2. Durchgesehene und erweiterte Auflage, Darmstadt 2011. Campioni, Giuliano / D’Iorio, Paolo / Fornari, Maria Cristina / Fronterotta, Francesco / Orsucci, Andrea (Hg.), unter Mitarbeit von Müller-Buck, Renate: Nietzsches persönliche Bibliothek. Berlin / New York 2003. Notizbücher N.s., in: DFGA. Nietzsche Friedrich: Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen [1888], in: KSA 6, S. 413–445. Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter Leitung von Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens (Hg.): NietzscheWörterbuch, Berlin / New York 2004 ff. Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen [1873], in: KSA 1, S. 799–872.

XVIII

Siglenverzeichnis

PP RE

SA I-IV

SGT ST TA UB I DS

UB II HL

UB III SE UB IV WB ÜK VM W… WA WL WNB

WS

Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen herausgegeben von Georg Wissowa, fortgeführt von Wilhelm Kroll und Karl Mittelhaus, Stuttgart 1890–1978. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden und 1 Indexband, hg. von Karl Schlechta, München 1954–1965 u. ö. [zitiert nach der Ausgabe München 1999, Indexband München 1984]. Nietzsche, Friedrich: Sokrates und die griechische Tragoedie, in: KSA 1, S. 601–640. Nietzsche, Friedrich: Socrates und die Tragoedie, in: KSA 1,S. 533– 549. Nietzsches Werke. Taschen-Ausgabe, 11 Bde., Leipzig o. J. [1906–1912 u. ö.]. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller [1873], in: KSA 1, S. 157–242. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874], in: KSA 1, S. 243–334. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher [1874], in: KSA 1, S. 335–427. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth [1876], in: KSA 1, S. 429–510. Übersichtskommentar innerhalb von NK (danach Werksigle oder Za-Kapiteltitel). Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche [1879], in: MA II. Hefte N.s, in: DFGA. Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: KSA 6, S. 9–53. Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873], in: KSA 1, S. 873–890. Weimarer Nietzsche-Bibliographie, hg. von der Stiftung Weimarer Klassik, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, bearbeitet von Susanne Jung / Frank Sion-Ritz / Clemens Wahle / Erdmann von WilamowitzMoellendorff / Wolfram Wojtecki, 5 Bde., Stuttgart / Weimar 2000– 2002. Nietzsche, Friedrich: Der Wanderer und sein Schatten [1880], in: MA II.

Siglenverzeichnis

WWV Z II … Za ZB

XIX

Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Notizbücher N.s, in: DFGA Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883/85] = KSA 4. Nietzsche, Friedrich: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge [1872], in: KSA 1, S. 641–752.

Editorische Zeichen [.] […] [xyz] 〈xyz〉 ˻xyz˼ ˹xyz˺ xyz xyz xyz xyz ...... xyz {xyz} / // /Zahl/ × ×× ××× +++

Auslassung eines oder mehrerer Buchstaben durch die Kommentatorin Auslassung eines Wortes oder mehrerer Wörter durch die Kommentatorin Hinzufügung durch die Kommentatorin Hinzufügung der Herausgeber*in (Colli/Montinari, Haase) im zitierten Text Tilgung durch die Herausgeber*in (Colli/Montinari, Haase) Einfügung N.s von N. durchgestrichener Text; in KGW VI 4 mit […] gekennzeichnet von N. doppelt durchgestrichener Text von N. unterstrichener und durchgestrichener Text rückgängig gemachte Tilgung von N. doppelt unterstrichener Text unsichere Entzifferung; in KGW VI 4 mit * gekennzeichnet Vers-, Zeilenwechsel in einem Zitat Strophen- oder Abschnittwechsel in einem zitierten Gedicht bzw. Text Seitenwechsel in einem Zitat nicht entzifferter Buchstabe oder Wortansatz in Manuskripten (in KGW VI 4) nicht entziffertes Wort in Manuskripten (in KGW VI 4) mehrere nicht entzifferte Wörter in Manuskripten (in KGW VI 4) Leerstelle in Manuskripten (in KGW IX)

Komplexe Variantenverhältnisse werden entsprechend der Variantendarstellung des Nachberichts in KGW VI 4 durch Zeichenfolgen „(1), (2), (3) …, (a), (b), (c) …“ dargestellt, wobei jeweils eine folgende Auszeichnung die vorhergehende derselben Ordnung aufhebt. So steht beispielsweise „Mit dir zerbrach ich (1) Bilder (2) Verehrungen (3) was ich ˻je˼ mein Herz einst ˹je˺ verehrte (1.2.3) (a) rückte Nachts die engen ˹alle˺ Grenzsteine; (b) warf alle Grenzsteine und Götter ˻um˼ ˹warf ich um˺“ für folgende sechs Varianten: 1. „Mit dir zerbrach ich Bilder rückte Nachts die engen ˹alle˺ Grenzsteine;“ 2. „Mit dir zerbrach ich Bilder warf alle Grenzsteine und Götter ˻um˼ ˹warf ich um˺“ 3. „Mit dir zerbrach ich Verehrungen rückte Nachts die engen ˹alle˺ Grenzsteine;“ https://doi.org/10.1515/9783110293319-206

XXII 4. 5. 6.

Editorische Zeichen

„Mit dir zerbrach ich Verehrungen warf alle Grenzsteine und Götter ˻um˼ ˹warf ich um˺“ „Mit dir zerbrach ich was ich ˻je˼ mein Herz einst ˹je˺ verehrte rückte Nachts die engen ˹alle˺ Grenzsteine;“ „Mit dir zerbrach ich was ich ˻je˼ mein Herz einst ˹je˺ verehrte warf alle Grenzsteine und Götter ˻um˼ ˹warf ich um˺“.

Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen

Überblickskommentar 1 Entstehungs-, Text- und Editionsgeschichte Za, so wie er heute als vierteiliges Werk vorliegt, entstand in mehreren Etappen. Dabei veränderte der Gesamtplan sich fortwährend. Zunächst wollte N. es wohl bei dem einen Band bewenden lassen, der heute den ersten Teil des Werks vorstellt. Doch nach und nach fügte er drei weitere Teile hinzu; zwischenzeitlich ist sogar von einem „unvermeidlichen fünften und sechsten Theile“ (Brief an Elisabeth Nietzsche, 15. 11. 1884, KSB 6/KGB III 1, Nr. 556, S. 557, Z. 34 f.) die Rede. Wie andere Werke N.s entstand also auch Za als work in progress; die Konzeption unterlag beständigen Modifikationen und wurde immer wieder veränderten Intentionen angepasst. Überhaupt ist die Werkgenese, obzwar Za in mancher Hinsicht ein Sonderstatus unter N.s Werken zukommt, durchaus typisch für N.s Arbeitsweise. Auch Za weist die für N. charakteristischen offenen Textgrenzen zu anderen Werken auf, und auch dieses Werk zeugt von der Schwierigkeit einen Abschluss zu finden. Wieder zehrt N. von eigenen Vorarbeiten, von Notizen und Listen von Kurznotaten. Er hält sich dieses Material ‚warm‘, indem es immer wieder bearbeitet, seine Notate aphoristisch zuspitzt, umgruppiert und neu zusammenstellt. Auf diese Weise schafft er sich kleine Stoffsammlungen, die schon für sich genommen Werkcharakter besitzen. So arbeitet er in Za I eine ausformulierte Sentenzensammlung ein, die er im Juli/August 1882 für Lou von Salomé zusammengestellt hatte (N V 9a, N VI 1a, KSA 10, 9–42). Und zur wichtigen Textgrundlage für Za II wird ein Konvolut von Sprüchen und Kurznotaten, das in Z I 4 mit der an einen Werktitel gemahnenden Überschrift „Z a r a t h u s t r a ’ s / H e i l i g e G e l ä c h t e r“ (NL 1883, KSA 10, 13[1], 415–444) überschrieben ist. Unmittelbar nach Abschluss des Manuskripts der Fröhlichen Wissenschaft erklärt N. gegenüber Lou von Salomé in einem Brief vom 3. Juli 1882, damit sei nun zugleich „das Werk von 6 Jahren (1876–1882), meine ganze ‚Freigeisterei‘!“ (KSB 6/ KGB III 1, Nr. 256, S. 217, Z. 9 f.) zum Abschluss gekommen. Trotz dieser Betonung der werkgeschichtlichen Zäsur ist der Übergang zu Za ein durchaus gleitender. Darauf verweist insbesondere die enge textgenetische Verzahnung beider Werke, wie sie in Vorstufen zur Fröhlichen Wissenschaft dokumentiert ist, in denen ein Protagonist mit Namen Zarathustra seine ersten Auftritte hat. Bereits im Herbst 1881 setzt N. Zarathustra in einer Reihe von Hefteinträgen als fiktive Figur in Szene, der er Rede und Handlung zuschreibt (vgl. dazu Montinari 1982, 84–91 u. Venturelli 2003, 110). Einer dieser Entwürfe bildet die Vorstufe zu dem unter der Überschrift „D e r t o l l e M e n s c h“ in FW eingegangenen Abschnitt 125 – im Entwurf in Heft M III 4 ist es noch Zarathustra, der sich anstelle des „tollen Menschen“ mit der Laterne auf Gottsuche begibt: „Einmal zündete Z[arathustra] https://doi.org/10.1515/9783110293319-001

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am hellen Vormittage eine Laterne an, lief auf den Markt und schrie: ich suche Gott! ich suche Gott!“ (Textedition in NK 3/2 FW 125 u. bei Montinari 1982, 87). N. hat die Zarathustra-Figur dann aber doch aus der Fröhlichen Wissenschaft herausgehalten und für das Za-Werk aufgespart – mit einer wesentlichen Ausnahme, dem Schlussabschnitt von FW unter dem Titel „I n c i p i t t r a g o e d i a“ (KSA 3, 571, 2). Dieser Schlussabschnitt 342 bietet einen Vorausblick auf Za und streicht den Zusammenhang der beiden Werke ostentativ heraus. Denn nicht nur erlebt die Figur des Zarathustra in ihm ihren ersten Auftritt innerhalb von N.s publiziertem Werk, sondern überdies wird der Abschnitt „I n c i p i t t r a g o e d i a“ nahezu textidentisch am Beginn von Za wiederholt: Als letzter Abschnitt beschließt er die Erstfassung von FW und als erster Abschnitt von „Zarathustra’s Vorrede“ eröffnet er das neue Werk. Derart kündigt das Vorgängerwerk (FW) das Folgewerk (Za) nicht nur an, sondern liefert zum Vorgeschmack bereits einen ersten Appetithappen des neuen Werks. Kaum zu übersehen ist, dass das vierte Buch von FW damit in neue Geleise einlenkt, indem es nachdrücklich auf das Gattungsmuster der Tragödie hinweist und einen Protagonisten auftreten lässt, dessen tragischer Untergang angekündigt, allerdings nicht mehr dramatisch oder narrativ entfaltet wird: „Also begann Zarathustra’s Untergang“ (KSA 3, 571, 28 f.) lauten die letzten Worte des vierten Buchs von FW – man darf auf die Fortsetzung gespannt sein! Von dem im Juli 1882 in mehreren Briefen verkündeten Entschluss, nach dem Erscheinen von FW schriftstellerisch enthaltsam zu leben und vorerst keine neuen Bücher mehr zu veröffentlichen, hat sich N. sehr rasch wieder verabschiedet. Stattdessen erklärt er das vierte Buch von FW, das er nach dem Monat seiner Entstehung „Sanctus Januarius“ nannte, zur Öffnung neuer Horizonte. So schreibt er Franz Overbeck am 9. September 1882: „Wenn Du den Sanctus Januarius gelesen hast, so wirst du gemerkt haben, daß ich einen W e n d e k r e i s überschritten habe. Alles liegt neu vor mir […]“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 301, S. 255, Z. 16–18). Erstmals erwähnt er den neuen Werkplan zu einem „Zarathustra“ schon am 20. August 1882, dem Erscheinungstag von FW (an Köselitz, KSB 6/KGB III 1, Nr. 282, S. 238, Z. 26). Ein halbes Jahr später, am 1. Februar 1883, verkündet er Köselitz, es gelte, das Beste seiner Bücher „zu schreiben und druckfertig zu machen“, „ein ganz kleines Buch – hundert Druckseiten etwa“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 370, S. 321, Z. 8 f.). Im selben Brief skizziert er das Titelblatt des neuen Werks: „Also sprach Zarathustra. / Ein Buch für Alle und Keinen. / Von / F. N.“ (Ebd., S. 321, Z. 36–39) In einem weiteren Brief vom 6. Dezember 1883 stellt er Overbeck FW selbstzufrieden als gelungene Einübung in die „Fröhlichkeit des Erkennens“ vor, die freilich erst eine Art Vorspiel abgebe und auf ihre Überbietung durch das neue, der Figur des Zarathustra gewidmete Werk angelegt sei: „Nur muß ich jetzt, mit meinem Sohne Zarathustra zusammen, zu einer v i e l h ö h e r e n Fröhlichkeit h i n a u f, als ich sie je bisher in Worten darstellen konnte. Das Glück, welches ich in der

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‚fröhlichen Wissenschaft‘ darstellte, ist wesentlich das Glück eines Menschen, der sich endlich r e i f zu fühlen beginnt für eine ganz große Aufgabe, und dem die Zweifel über sein Recht d a z u zu schwinden anfangen.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 476, S. 460, Z. 18–24) Die eigentliche Arbeit an Za hat N. am Ende des Jahres 1882 aufgenommen. Die Niederschrift der vier Teile fällt in die Zeit von November 1882 bis Februar 1885 und erfolgt jeweils in einer kurzen Zeitspanne höchst angespannter und produktiver Tätigkeit. Die erste Arbeitsphase in Rapallo reicht vom 23. November 1882 bis zum Abschluss des Druckmanuskripts von Za I im Februar 1883. Bereits am 13. Februar 1883 teilt N. seinem Verleger Schmeitzner mit, er habe ein „kleines Werk (kaum hundert Druckseiten)“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 375, S. 327, Z. 8) zur Publikation vorbereitet. Für den Druck verlangt er die Berücksichtigung von zwei „Äußerlichkeiten“: ein stärkeres Velinpapier und „eine schwarze Linie, welche den Text jeder Seite einfaßt“, denn so sei es „einer Dichtung würdiger“ (ebd., S. 328, Z. 26–31). Wenige Tage später, am 19. Februar 1883, berichtet N. Heinrich Köselitz von einem fürchterlichen Druck, der sich in einem eruptiven Produktionsprozess entladen habe: „und aus dem plötzlichen L o s w e r d e n von dieser Last, in Folge von 10 absolut heitern und frischen Januartagen, die es gab, ist mein ‚Zarathustra‘ entstanden, das l o s g e b u n d e n s t e meiner Erzeugnisse“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 381, S. 333, Z. 13–16). In einem Brief vom 17. April 1883 weist N. seinem Za dann therapeutische Funktion zu, bezeichnet die Entstehung als eine „Art A d e r l a ß“, dem er es zu verdanken habe, „nicht erstickt“ zu sein (an Heinrich Köselitz, KSB 6/KGB III 1, Nr. 402, S. 361, Z. 57 f.). Wie glaubwürdig N.s Angaben zum Arbeits- und Entstehungsprozess sind, lässt sich nicht zweifelsfrei klären. Unverkennbar tritt in seinen Aussagen ein Hang zur Stilisierung hervor. Etwa wenn er immer wieder die zehntägige Textentstehung hervorhebt: „Es war etwas Plötzliches, die Sache von 10 Tagen.“ (Brief an Heinrich Köselitz vom 17. 04. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 402, S. 361, Z. 58 f.; vgl. auch KSB 6/KGB III 1, Nr. 373, S. 326, Z. 38 f.) Auch für den zweiten und dritten Teil will er jeweils zehn Tage benötigt haben; so erklärt er aus der Retrospektive von EH: „Zehn Tage genügten; ich habe in keinem Falle, weder beim ersten, noch beim dritten und letzten mehr gebraucht. Im Winter darauf, unter dem halkyonischen Himmel Nizza’s, der damals zum ersten Male in mein Leben hineinglänzte, fand ich den dritten Zarathustra – und war fertig.“ (EH Za 4, KSA 6, 341, 12–16) Die vorgebliche Genese als dreifaches Zehntagewerk betont das Moment der Inspiration – N. will das Werk keineswegs entworfen und ‚erschrieben‘, sondern ‚gefunden‘ haben. Ziegler 1900, 121 verweist auf die Strukturanalogie zu Giovanni Boccaccios Novellenzyklus Il Decamerone, in dem an zehn Tagen jeweils zehn Novellen erzählt werden. Doch nicht nur dem Zeitraum der Entstehung, sondern auch dem Datum der Fertigstellung weist N. symbolische Bedeutung zu, betont er doch eine Koin-

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zidenz zwischen der Vollendung des Manuskripts und der Todesstunde Richard Wagners, derart, „daß in der Stunde, in der ich den ersten Zarath〈ustra〉 im DruckManuscript vollendete – Wagner gestorben ist“ (an Heinrich Köselitz, 16. 08. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 452, S. 429, Z. 19 f.). In die Reihe der Symbolisierungen und Stilisierungen fügt sich schließlich auch der projektierte Erscheinungstermin ein, der ebenfalls davon zeugt, dass N. kräftig am eigenen Mythos strickt. Mehrfach erklärt er in Briefen, wie wichtig ihm der Gedanke gewesen sei, seinen Freunden Za zu Ostern 1883 als Buch in die Hand geben zu können (vgl. etwa KSB 6/KGB III 1, Nr. 431; KSB 6/KGB III 1, Nr. 432; KSB 6/KGB III 1, Nr. 438). Dahinter scheint der Anspruch auf, mit seinem Za die Nachfolge der christlichen Erlösungsgeschichte anzutreten, oder wohl viel eher noch: ihr die selbst entworfene entgegen zu setzen. Allerdings machte die verspätete Drucklegung die Oster-Symbolik zunichte. Zwar vermeldet N. noch im Februar Heinrich Köselitz, dass sich sein Za im Druck befinde („es wird bereits gedruckt!“; 22. 02. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 383, S. 336, Z. 5 f.), dass dies aber nicht mehr war als ein frommer Wunsch, zeigt ein erboster Brief an Schmeitzner vom 25. März: „Werther Herr Verleger, / ich bin Gift und Galle gegen Sie oder Teubner oder die ganze verfluchte Druckerei. Man soll halten, was man verspricht, oder n i c h t versprechen. / Der Druck s o l l t e beendet sein – ich sandte das M〈anu〉s〈kript〉 am 14 Februar ab. Und ich habe noch keinen Bogen!“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 395, S. 351, Z. 2–7) Tatsächlich dürfte der Druck erst im Mai oder Juni 1883 erfolgt sein und die Auslieferung erfolgte dann wohl Ende August 1883 (vgl. Schaberg 2002, 124 u. Villwock 2001, 10). Ursache für die Verzögerung war ein anderer großer Druckauftrag, den Teubner zu bewältigen hatte, wie N. dem Freund Overbeck durchaus mit Sinn für die Ironie dieser Konvergenz vermeldete: „Übrigens – was stand diesem meinem Zarathustra im Wege? Eine halbe Million christlicher Gesangbücher!“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 398, S. 354, Z. 26–28). Nachdem das Werk unter dem Titel Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen erschienen war, das die Vorrede und 22 Reden Zarathustras enthielt, schien das Za-Projekt beendet und es gab zunächst keine Hinweise auf eine geplante Fortsetzung. Wann diese Idee aufkam, lässt sich nicht genau rekonstruieren. Als einen Hinweis auf den Fortsetzungsgedanken kann man N.s Aussage in einem Brief vom Ende Juni 1883 verstehen, in dem er den zu diesem Zeitpunkt druckfrischen ersten Teil – der somit „eigentlich erst dann zum ‚ersten Teil‘“ wurde, „als der zweite erschien“ (KGW VII/1, V07, Fn. 7) – als einen „Anfang“ bezeichnet, „mich zu erkennen zu geben“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 427, S. 386, Z. 29). Zu diesem Zeitpunkt dürfte er die Arbeit am zweiten Teil schon begonnen haben, den er im Zeitraum von Ende Juni bis Mitte Juli 1883 in rasantem Tempo in Sils Maria niederschreibt. Am 6. Juli beteuert er gegenüber Elisabeth, „daß besagter 2ter Theil wirklich existirt“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 430, S. 392, Z. 51 f.) und vier Tage später kündigt er ihr die „A b s e n d u n g d e s d r u c k f e r t i g e n M a n u s c r i p t e s“ an

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(KSB 6/KGB III 1, Nr. 432, S. 394, Z. 4). Am 13. Juli 1883 vermeldet er dann auch Köselitz den unmittelbar bevorstehenden Abschluss des Druckmanuskripts und bittet um Unterstützung bei seiner Korrektur: „Dies ist eine allgemeine Wahrheit: ‚der zweite Vers ist schwerer, als der erste Vers‘. / Nun, ich habe den zweiten Vers hinter mir – und jetzt wo er fertig ist, schaudert mir bei der Schwierigkeit, über die ich hinweg bin, ohne an sie gedacht zu haben. / Seit meinem letzten Briefe gieng es mir besser und muthiger, und mit Einem Male hatte ich die Conception zum zweiten Theile Zarathustra – und nach der Conception auch die Geburt: Alles mit der größten Vehemenz. / (Dabei ist mir der Gedanke gekommen, daß ich wahrscheinlich an einer solchen Gefühls-Explosion und -Expansion einmal sterben werde: hol’ mich der Teufel!) / Das Manuscript für die Druckerei wird übermorgen fertig sein, es fehlen nur noch die letzten 5 Abschnitte; und meine Augen ziehn meinem ‚Fleiße‘ Grenzen.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 433, S. 397, Z. 18–32) Auch bei der Drucklegung von Za II kommt es zu zeitlicher Verzögerung im Verlag. Hatte vormals „‚das c h r i s t l i c h e Hinderniß‘ (die 500 000 Gesangbücher […])“ (an Franz Overbeck, 09. 07. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 431, S. 393, Z. 7 f.) den Druck hinausgezögert, so beschwert N. sich nun über „das j u d e n f e i n d l i c h e Hinderniß“ (ebd., S. 393, Z. 9), denn Schmeitzner hätte ihn wissen lassen, so teilt er Franz Overbeck mit, dass seine verlegerische Tätigkeit wegen wichtiger antisemitischer Aktivitäten zurückstehen müsse. N. reagiert ungehalten: „wer erlöst mich von einem Verleger, der die antisemitische Agitation wichtiger nimmt als die Verbreitung m e i n e r Gedanken?“ (Ebd., S. 393, Z. 14–16) Nicht zuletzt durch die Vermittlung der Schwester, die sich brieflich an Schmeitzner wandte, scheint dann Bewegung in die Angelegenheit gekommen zu sein. Ende Juli hält N. den ersten Druckbogen in Händen und am 3. September kann er vermelden, der zweite Teil sei „fertig gedruckt“ (an Köselitz, KSB 6/KGB III 1, Nr. 461, S. 445, Z. 56). Unmittelbar nach Fertigstellung des zweiten Teils macht er sich an die Fortsetzung und den (vermeintlichen) Abschluss des Za-Werks. Ein Brief vom Juli 1883 legt den Schluss nahe, dass mit der Entscheidung für die Fortsetzung für ihn nicht nur der zweite, sondern gleich auch schon der dritte Teil beschlossene Sache war. Dort berichtet er Köselitz von der fast vollständigen Fertigstellung des Druckmanuskripts von Za II und eilt in Gedanken schon zum dritten Teil voraus, der den ‚Stufenbau‘ des Werks vervollständigen solle: „In der Hauptsache galt es, sich auf die zweite Stufe zu schwingen, – um von dort aus noch die dritte zu erreichen (deren Name ist: ‚Mittag und Ewigkeit‘: das sagte ich Ihnen schon einmal? Aber ich bitte Sie inständig, davon gegen Jedermann zu schweigen! Für den dritten Theil will ich mir Zeit lassen, vielleicht Jahre –)“ (13. 07. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 433, S. 397, Z. 42–47). Jahre sollten es nicht werden, vielmehr wird N. im Gegenteil nur wenige Monate benötigen, um von den Vorarbeiten, die er gleich

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im Sommer 1883 aufnimmt, zum Abschluss des dritten Teils im Januar 1884 zu gelangen. Die Briefe aus dieser Zeit zeugen davon, dass N. die Arbeit am dritten Teil als besondere Herausforderung und Bürde empfunden hat; „fast schwindeln“ mache ihn der Gedanke an den Werkschluss, schreibt er im August 1883 aus Sils Maria an Elisabeth Nietzsche und setzt hinzu: „die Aufgabe ist ungeheuer schwer und e i n s t w e i l e n weit über das Maaß meiner Kräfte gehend“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 453, S. 431, Z. 36–40; vgl. dazu auch ÜK Za III). Nicht in Sils Maria, sondern in Nizza erfolgt dann im Januar 1884 die Niederschrift von Za III. Bereits am 18. Januar teilt N. seinem Verleger Schmeitzner die Fertigstellung mit und damit den vermeintlich endgültigen Abschluss seines Za-Werks: „eine gute Nachricht! Oder vielmehr die Beste, die es, von mir aus gesehn, geben kann: mein Zarathustra ist f e r t i g: – es bedarf der Abschrift – es bedarf des D r u c k s. Ich hatte im vergangenen Jahr nicht daran mehr gedacht, daß die ungeheure Sache, den Schluß zu diesen beiden ersten Theilen zu finden, mir schon in diesem Winter (in ein paar Wochen, die Wahrheit zu sagen –) gelingen werde. Ich bin glücklich und, wie schon oft in meinem Leben, von mir selber über mich selber ‚überrascht‘.“ (KSB 6/ KGB III 1, Nr. 479, S. 465, Z. 3–11) Obwohl N. noch am 9. November 1883 in einem Brief an Overbeck von einer vierteiligen Anlage des Werks gesprochen hat (vgl. KSB 6/KGB III 1, Nr. 473, S. 455, Z. 20), betrachtet er es zu diesem Zeitpunkt als vollendet und betont wiederum die kurze Zeit der Textentstehung: „Seit vorigem Freitage ist ‚Also sprach Zarathustra‘ vollkommen f e r t i g – und ich bin mitten im Abschreiben. Das Ganze ist somit genau im Verlaufe e i n e s Jahrs entstanden: im strengeren Sinne sogar im Verlaufe von 3 × 2 Wochen.“ (N. an Overbeck, 25. 01. 1884, KSB 6/KGB III 1, Nr. 480, S. 466, Z. 4–8) Obwohl N. damit die frühere Einstufung als 10 Tage-Werk nur leicht modifiziert, macht er diese doch als eine Stilisierung kenntlich. Im selben Brief lässt er den Freund wissen, dass er sich bereits mit einem neuen Projekt trage, nämlich einem „große[n] Front-Angriff auf alle Arten des j e t z i g e n deutschen Obscurantismus (unter dem Titel ‚Neue Obscuranten‘)“, das zunächst einmal der eigenen „Erholung“ (ebd., 467, 22–24) dienen solle. Ende Februar trifft der erste Druckbogen ein, von da an und den ganzen März über lesen N. und Köselitz Korrektur; im April 1884 erscheint Za III bei Schmeitzner. 1885 lässt N. dann noch einen vierten Za folgen, dessen Ausarbeitung die Zeit vom Herbst 1884 bis zum Februar 1885 in Anspruch nehmen wird und dem als Privatdruck, der in geringer Auflage erscheint, ein editorischer Sonderstatus zukommt (vgl. dazu ÜK Za IV). Selbst nach Abschluss dieses vierten Teils war das Pläne-Schmieden in Sachen Za keineswegs abgeschlossen; noch im August/ September 1885 notiert N. einen umfassenden Entwurf zu einem fünften Za. Dieser kündigt einen gänzlich veränderten äußeren Schauplatz an: „Auf einer

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alten F e s t u n g die Trommeln der Herolde. / (Finale) des Nachts wie am Rialto.“ (NL 1885, KSA 11, 39[3], 620, 3 f.) Vor allem aber schlägt dieser späte Entwurf einen neuen Ton an, indem er politische Fragen der Rangordnung und Herrschaft ins Zentrum rückt und die Idee einer neuen Herrschaftsordnung skizziert, in der eine asketisch lebende Herrscherkaste für das Wohlergehen der Beherrschten Sorge trägt: „Zarathustra glücklich darüber, daß der Kampf der Stände v o r ü b e r ist, und jetzt endlich Zeit ist für eine Rangordnung der Individuen. / Haß auf das demokratische Nivellirungs-system ist nur i m V o r d e r g r u n d: eigentlich ist er sehr froh, daß dies s o w e i t i s t. Nun kann er seine Aufgabe lösen. – / S e i n e Lehren waren bisher nur an die zukünftige Herrscher-Kaste g e r i c h t e t. Diese Herren der Erde sollen nun G o t t ersetzen, und das tiefe unbedingte Vertrauen der Beherrschten sich schaffen. Vorerst: i h r e n e u e H e i l i g k e i t, ihre V e r z i c h t l e i s t u n g auf G l ü c k u n d B e h a g e n. Sie geben den N i e d r i g s t e n die Anwartschaft auf Glück, nicht s i c h. Sie erlösen die Mißrathenen durch die Lehre vom „schnellen Tode“, sie bieten Religionen und Systeme an, je nach der Rangordnung.“ (NL 1885, KSA 11, 39[3], 620, 18–32; zu den Fortsetzungsplänen vgl. auch ÜK Za IV 1.) Fünf Monate nach Erscheinen von Za III teilte Schmeitzer N. mit, das Werk, das in seinen drei Teilen jeweils in einer Auflage von 1000 Exemplaren gedruckt worden war, verkaufe sich (noch) schlechter als die früheren Bücher N.s: „Der ‚Zarathustra‘ findet seine – Leser (ob ‚Gläubigen‘ weiß ich ja nicht) recht langsam. Es ist gar nicht mehr wie zur Zeit der ‚Betrachtungen‘, [gemeint sind die Unzeitgemäßen Betrachtungen] damals griff Ihr Leserkreis sofort zu während es jetzt so zaghaft geht. Die Zeit der Aphorismen-Bände hat Ihre Gemeinde zerstreut und nur langsam holt ‚Zarathustra‘ sie wieder zusammen und dies geschieht um so langsamer als die große Marktglocke, unsere Tagespresse, nur für ihre Cliquen läutet nicht aber für den stolzen Einsiedler. / Bei den ‚Betrachtungen‘ waren im ersten Jahre 200–250 Exemplare sofort verkauft und dann gingen jährlich noch 30–50 Exemplare weg, jetzt consumirt das erste Jahr 100 Exemplare und nur spärlich kommen die weiteren Bestellungen; es steht ganz untrüglich fest, daß sich der Absatz Ihrer Bücher nicht gebessert sondern verschlechtert hat.“ (23. 09. 1884, KGB III/2, Nr. 240, S. 450 f., Z. 12–25) Nicht nur die zu leise bimmelnde „Marktglocke“ der Zeitungen, sondern wohl auch Schmeitzners eigene „mangelhafte Aufmerksamkeit für das Verlagsgeschäft“ (Schaberg 2002, 151) dürften für den schleppenden Absatz mit verantwortlich gewesen sein. N., der 1885 wegen Geldforderungen einen Prozess gegen Schmeitzner anstellte, und dabei auch versuchte, sich die Restbestände seiner Bücher zu sichern, erkennt die Situation in einem Brief an Overbeck von Anfang Dezember 1885 für gänzlich verfahren: „meine Schriften liegen vollständig v e r g r a b e n und u n a u s g r a b b a r in diesem Antisemiten-Loch“ (KSB 7/KGB III 3, Nr. 649, S. 117, Z. 48–50). Er wirft Schmeitzner vor,

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dieser erachte seine „Bücher jetzt für Blei“ und habe von Za noch nicht einmal „hundert Exemplare verkauft (und diese fast nur an Wagnerianer und Antisemiten!!)“ (ebd., S. 117 f., Z. 69 f. u. 74 f.). Am 14. Juli 1886 spricht er gegenüber Overbeck sogar von nur „je 60–70“ verkauften Exemplaren der drei Teile von Za (KSB 7/KGB III 3, Nr. 721, S. 208, Z. 77). Die erste, noch von N. verantwortete Za-‚Gesamtausgabe‘ konnte 1886 erscheinen, nachdem der Verleger Fritzsch die Herausgabe von N.s Werken übernommen hatte und die über 900 unverkauften Exemplare der ersten drei Bände im Zuge einer ‚Resteverwertung‘ zusammenbinden ließ (vgl. Schaberg 2002, 286–288). 1893 legte Heinrich Köselitz dann eine erste, nun alle vier Teile umfassende Gesamtausgabe vor. Danach war es gängige editorische Praxis, Za mit allen vier Teilen zu edieren, ohne den Sonderstatus von Za IV eigens zu markieren. Einen anderen Weg beschreitet die von Ludger Lütkehaus und David Marc Hoffmann 2013 herausgegebene Basler Ausgabe, die den Privatdruck als Faksimile wiedergibt und für ihn einen eigenen Werkstatus reklamiert, was sich in der separaten Publikation niederschlägt: Za I, II, III erscheinen im Rahmen der Basler Ausgabe gemeinsam in einem Band, Za IV erhält davon separiert einen eigenen Band. Nicht in Vergessenheit sollte geraten, dass für die Verbreitung und Popularität von Za nicht die großen und eher kostspieligen N-Ausgaben, sondern eine Vielzahl von bis heute immer wieder neu herausgegebenen Leseausgaben verantwortlich ist, die häufig mit Einleitung oder Nachwort versehen sind, mitunter auch mit Erläuterungen. Besondere Konjunktur erfuhr Za während der beiden Weltkriege, wo das Werk Auflagenspitzen erreichte. Im Ersten Weltkrieg sollen „150.000 Exemplare einer (gekürzten) Feldausgabe des Zarathustra an die Soldaten verteilt und mehr als noch einmal so viel zwischen 1914 und 1919 verkauft“ (Niemeyer 2013, 72) worden sein. Peters 1983, 280 errechnet für denselben Zeitraum die niedriger liegende, aber immer noch stattliche Anzahl von 165.000 verkauften Exemplaren. N.s Schwester Elisabeth war mit ihrem Nachwort zur Kriegsausgabe von 1918 darum bemüht, die kriegsertüchtigende Wirkung durch entsprechende Zitate herauszustreichen: „Da wir das fünfte Kriegsjahr beginnen, und die vorliegende neue Kriegsausgabe wiederum hauptsächlich für unser herrliches tapferes Heer bestimmt ist, so habe ich auch wieder einige Nietzsche-Worte für Krieg und Frieden zur Stärkung und Trost ausgewählt und vorangestellt.“ (Nietzsche 1918, 477 f.) Ob N.s Za aber tatsächlich zu einer der zentralen Durchhaltelektüren des Frontsoldaten avancierte, erscheint nach Christian Niemeyer fraglich: „Empirische Belege für die These, ‚der‘ Frontsoldat habe im nennenswerten Umfang den Zarathustra gelesen, stehen aus. Daran vermögen auch Beschwörungen von Zeitgenossen, wonach Nietzsche zu den Lieblingsschriftstellern gehöre, ‚welche in den Schützengräben gelesen werden‘, nichts zu ändern.“ (Niemeyer 2013, 72) Von ähnlichen Bedenken zeugt schon ein Aphorismus, den Karl Kraus

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1915 in der Fackel veröffentlicht und der die Schützengraben-Lektüre von Za zur bildungsbürgerlichen Wunschphantasie erklärt: „Für die Kultur eines Volkes dürfte die Anzahl der Zarathustra-Exemplare, die seine Soldaten im Tornister führen, schwerlich ein verläßlicher Maßstab sein. Eher schon der Umstand, daß den Soldaten mehr Zarathustra-Exemplare nachgerühmt werden, als im Felddienst tatsächlich zur Verwendung gelangen, und daß es jene hören wollen, die daheim ihren Zarathustra lesen und ihre Zeitung.“ (Die Fackel 17/406–412 (1915), 99)

2 Historischer Zarathustra, Zoroastrismus und die Frage nach N.s Quellen Unter den nachgelassenen Notaten aus der Entstehungszeit von Za I findet sich die folgende Aufzeichnung: „Ich habe von allen Europäern, die leben und gelebt haben, die u m f ä n g l i c h s t e Seele: Plato Voltaire – – – es hängt von Zuständen ab, die nicht ganz bei mir stehen, sondern beim ‚Wesen der Dinge‘ – ich könnte der Buddha Europas werden: was freilich ein Gegenstück zum indischen wäre.“ (NL 1882, KSA 10, 4[2], 109, 5–9) Offenkundig ist, dass hier jemand spricht, der gewohnt ist, sich Fremdes einzuverleiben, der sich selbst als Brennspiegel der Kulturen begreift und bereit dazu ist, die Horizonte miteinander zu verschmelzen. Horizontverschmelzung ist dann auch ein entscheidendes Merkmal von Za, der sich insofern als das Werk eines „Buddha[s] Europas“ begreifen lässt, als er in synkretistischer Manier europäische und fernöstliche Vorstellungen miteinander verschränkt, freilich unter Dominanz des eurozentrischen Blicks. Zarathustra selbst ist, wie Michael Stausberg betont, aufgrund seiner europäischen Rezeptionsgeschichte „eine Figur ost-westlicher kultureller Spiegelungen par excellence“ (Stausberg 2019, 11), die N. dazu nutzte, Alternativen zu abendländischen religiösen und philosophischen Konzepten auszuloten. Grundsätzlich steht das Za-Werk im Horizont der europäischen Faszination durch fernöstliche Religionen und den Buddhismus, die in der Romantik entscheidenden Auftrieb erhielt (hierzu Zotz 2000). Nachdem sich Johann Gottfried Herder in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784/91) um eine erste Würdigung des Buddhismus bemüht hatte, setzte im 19. Jahrhundert eine breitere, auch wissenschaftliche Beschäftigung mit der indischen Geschichte, Religion und Sprache ein. Eine Schlüsselrolle kam dabei Friedrich Schlegel zu, der sich ab 1803 intensiv dem Studium des Sanskrit widmete und mit seiner Studie Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde (1808) den Grundstein der deutschen Indologie legte (hierzu TzorefAshkenazi 2009). Der Indien-Diskurs der Romantik war geprägt von der Idealisierung Indiens als dem Land einer ursprünglichen Einheit und Harmonie im Ge-

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gensatz zum zerrissenen, unter dem Diktat der Vernunft stehenden Europa. Im Falle des zum Katholizismus konvertierenden Friedrich Schlegel mündeten die indologischen Studien freilich in eine desillusionierte Abkehr von der indischen Religion, insbesondere vom Buddhismus, den Schlegel als Lehre einer Auflösung des Ich ins Nichts kritisierte (so Zotz 2000, 65 f.). Ähnlich schreibt N. dann später in der Genealogie der Moral mit Bezug auf Schopenhauer von einem „EuropäerBuddhismus“, der möglicherweise direkt zum „N i h i l i s m u s“ (GM Vorrede 5, KSA 5, 252, 21) führe. Auch wenn von einer kontinuierlichen und systematischen Auseinandersetzung N.s mit indischer Philosophie und Religion nicht gesprochen werden kann, ist doch bei ihm von früh an ein deutliches und immer wieder neu aufflackerndes Interesse nachweisbar, das Brobjer 2004 eindrücklich anhand von N.s Bücherkäufen, Ausleihen und Exzerpten rekonstruiert hat. Die Übersicht zeigt, dass N. schon vor Za an dem zeitgenössischen Diskurs über indische Religion und Philosophie partizipierte. Einen noch früheren Kontakt mit dem indischen Denken hat Figl 1989 auf der Grundlage unveröffentlichter Kollegnachschriften N.s zur Vorlesung Allgemeine Geschichte der Philosophie von Carl Schaarschmidt nachgewiesen, die N. 1865 in Bonn besuchte. Weiterhin sind folgende Stationen von N.s indischen Lektüren zu rekonstruieren: 1870 entlieh er aus der Basler Universitätsbibliothek Carl Friedrich Koeppens 1857 und 1859 in zwei Bänden erschienenes Werk Die Religion des Buddha und ihre Entstehung (vgl. Crescenzi 1994, S. 401, Nr. 141). 1875 schenkte Gersdorff ihm Otto Böhtlingks dreibändige Sammlung indischer Spruchweisheit mit dem Titel Indische Sprüche. In seinem Antwort- und Dankesbrief vom 13. Dezember 1875 ließ N. ihn wissen, er habe sich „mit einer Art von wachsendem Durst […] gerade in den 2 letzten Monaten nach Indien“ (KSB 5/KGB II 5, Nr. 495, S. 127, Z. 9 f.) umgesehen und überdies von einem Freund Schmeitzners „die englische Übersetzung der Sutta Nipáta, etwas aus den heiligen Büchern der Buddhaisten“ (ebd., S. 128, Z. 1–3) entliehen, womit er wohl anspielt auf die 1874 von Coomára Swámy besorgte Übersetzung Sutta Nipáta, or Dialogues and Discourses of Gotama Buddha (siehe hierzu NK 31, 16 f.). 1878 entlieh N. aus der Basler Universitätsbibliothek das Werk Brahma und die Brahmanen (1871) des Sanskrit-Experten Martin Haug. Nachgewiesen ist überdies die Lektüre von Jacob Wackernagels Ueber den Ursprung des Brahmanismus (1877) im Jahr 1880. Außerdem kannte N. das Standardwerk von Hermann Oldenberg Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde (1881). Dieses Buch, das er gleich nach Erscheinen erwarb, hat Spuren in Za hinterlassen (vgl. insbes. NK 78, 24–29). N.s Interesse an indischer Philosophie und am Buddhismus wurde durch Einflüsse aus seinem unmittelbaren geistigen Umfeld bestärkt. Als Anreger dürfte insbesondere Schopenhauer gewirkt haben, der sich intensiv mit indischen Religionen und Philosophien auseinandersetzte (dazu etwa App 1998; Barua/Gerhard/

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Koßler 2013; Cross 2013) und um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland als zentrale Vermittlerfigur einer zustimmenden und aneignenden Rezeption des Buddhismus fungierte. Schopenhauer, der zum Zeichen der Verwandtschaft mit dem eigenen philosophischen Denken demonstrativ eine Buddhastatue in seiner Wohnung aufstellte, verfolgte eingehend die wissenschaftlichen Fortschritte in der zeitgenössischen Indologie, wobei sein ausgeprägtes Interesse buddhistischen Quellen galt. So rezipierte er die Studien der zu seiner Zeit führenden Fachvertreter wie Isaac Jacob Schmidt, George Turnour und Alexander Csoma de Körös. Zu seinem „Lieblingsbuch“ (App 2018, 186) aber avancierte die lateinische Upanischadenübersetzung Oupnek’hat, bei der es sich um eine vom Übersetzer Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron eingehend kommentierte lateinische Übertragung von 50 Upanischaden (einem Bestandteil des Veda) handelt, die nicht direkt auf den Sanskrit-Texten, sondern auf einer 1656 entstandenen persischen Übersetzung fußt. Eindrücklich bezeugt Schopenhauers Werk den großen Kenntniszuwachs in der Erforschung des Buddhismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Kann er in der ersten Auflage von Über den Willen in der Natur (1836) nur drei Arbeiten zur Erforschung des Buddhismus angeben, so enthält die zweite Auflage von 1854 bereits 23 Hinweise (so Zotz 2000, 75). Verstärkend kam bei N. der Austausch mit Richard Wagner dazu, der, ebenfalls angeregt durch Schopenhauer sowie durch Eugène Burnoufs grundlegendes Werk Introduction à l’histoire du buddhisme indien (1844), den Plan zu einer Buddha-Oper hegte, die den Titel Die Sieger (1856) tragen sollte (zu Wagners Affizierung durch den Buddhismus vgl. Mertens 2007; Buschinger 2017). Außerdem erhielt N. durch seinen Freund Paul Deussen, den er in der Genealogie der Moral als den „ersten wirklichen K e n n e r der indischen Philosophie in Europa“ (GM III 17, KSA 5, 381, 6 f.) lobt, Einblicke in die indische Kultur und den Buddhismus. Deussen hatte Sanskrit studiert und habilitierte sich 1881 in Berlin mit einer Arbeit über Das System des Vedânta (1883). N. liest und annotiert Deussens Buch im Frühjahr 1883, also zeitgleich zu den Abschlussarbeiten von Za I, und zeigt sich beeindruckt. „Deussens Vedanta-Werk ist a u s g e z e i c h n e t“, lässt er Overbeck am 6. März 1883 wissen (KSB 6/KGB III 1, Nr. 386, S. 339, Z. 51), und gegenüber Deussen selbst lobt er zehn Tage später die große Leistung, die „Vedanta-Lehre uns Europäern“ (16. 03. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 389, S. 342, Z. 6) zu offenbaren und erklärt sich zum dankbarsten Leser überhaupt, dem es „großes Vergnügen“ bereite, „einmal den klassischen Ausdruck der mir fremdesten Denkweise kennen zu lernen“ (ebd., S. 342, Z. 15 f.). Wo schon Deussen sich in seiner Darstellung eigener Urteile nicht ganz enthält – „Vergleiche mit occidentalischen Philosophemen und Beurteilungen von eigenem Standpunkte aus glaubte ich mir hin und wieder nicht versagen zu sollen“, erklärt Deussen 1883, VI – bewertet auch N. den Buddhismus strikt aus dem

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Horizont seiner Zeit und fragt nach der Bedeutung, die er für die europäische Gegenwart entfalten könne. Zu einem einheitlichen Urteil gelangt er dabei keineswegs, wohl aber ruft er den Buddhismus wiederholt als positive Kontrastfolie zum Christentum auf, als eine, wie es in Antichrist Abschnitt 20 dezidiert heißt, Religion, die ohne den Begriff ‚Gott‘ auskomme und „hundert Mal realistischer“ sei als das Christentum (KSA 6, 186, 9 f.). Bereits M 96 präsentiert Buddha als „Lehrer der R e l i g i o n d e r S e l b s t e r l ö s u n g“ (KSA 3, 87, 22), und ein Notat von 1880 spricht der buddhistischen Religion das Potential zu, für eine kommende „Zeit der Wildheit und Kraftverjüngung“ und für eine Erneuerung des Menschen zu sorgen: „die religiösen Kräfte könnten immer noch stark genug sein zu einer atheistischen R e l i g i o n à la Buddha, welche über die Unterschiede der Confession hinweg striche, und die Wissenschaft hätte nichts gegen ein neues Ideal. Aber allgemeine Menschenliebe wird es nicht sein! Ein neuer Mensch muß sich zeigen.“ (NL 1880, KSA 9, 7[111], 341, 5–10) N., der Buddha und Zarathustra in einem nachgelassenen Notat vom Herbst 1881 als Begründer eigener „Moralsysteme“ (NL 1881, KSA 9, 15[8], 636, 9) in einem Atemzug mit Jesus und Epiktet nennt, konzipiert dann auch seine eigene Zarathustra-Figur als Künder eines neuen Menschen. Der Name, den N. dem Protagonisten seines Werks gegeben hat, verweist auf den altiranischen Propheten und Religionsstifter Zarathustra, griechisch Zoroaster, der eine der ältesten Religionen, nämlich den nach ihm benannten Zoroastrismus oder Parsismus begründete, und um den sich im Lauf der Zeit viele Legenden rankten. Verstärkt wurde der Zarathustra-Mythos außerdem durch den persischen Religionsstifter Mani, der im dritten Jahrhundert v. Chr. den Manichäismus begründete und sich dabei neben Buddha und Jesus auch auf Zarathustra als prophetischen Vorgänger berief (vgl. Stausberg 2005, 11). Wie Michael Stausberg herausgestellt hat, steht N.s literarisch-philosophische Aneignung Zarathustras in einer langen, bis in die griechische Antike zurückreichenden „Tradition imaginärer Konstruktionen bzw. Perzeptionen, die zumindest partiell das entfernte Echo historischer Begegnungen zwischen Griechen und Persern seit der Expansion des Achaimenidenreiches im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung“ vorstellen (Stausberg 2019, 11; zu den europäischen Aneignungen Zarathustras vgl. auch Rose 2000). Im Hellenismus nahm Zarathustra immer phantastischere Züge an; er „verwandelte sich in den Lehrer des Pythagoras; in den Urheber der Chaldäischen Orakel; in den Großmeister aller orientalischen Magier, Sterndeuter, Alchimisten und Schwarzkünstler“ (Hinz 1961, 12). Ausläufer dieser europäischen Wirkungsgeschichte reichen bis ins 19. Jahrhundert, wo Zarathustra/Zoroaster bereits vor N. präsent ist, nicht zuletzt als Figur in Drama und Oper: Gotthold Ephraim Lessing widmete dem Zoroastrismus im Drama Nathan der Weise die Figur des Al-Hafi, zu der er ursprünglich auch noch eine Nachschrift unter dem Titel Derwisch verfassen wollte. Nach der Text-

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vorlage des Dramas Zoroastre von Louis de Cahusac (von Giacomo Casanova ins Deutsche übersetzt) schuf Jean-Philippe Rameau eine Tragédie lyrique, die nach der Hauptfigur den Titel Zoroastre erhielt (uraufgeführt 1749). In zwei weiteren Opern treten Figuren auf, die sich an die Zarathustra-Rezeption anlehnen. In Georg Friedrich Händels 1733 uraufgeführtem Dramma per musica Orlando (die Handlung beruht auf dem Epos Orlando furioso von Ariost) tritt ein Magier namens Zoroastro auf. Die prominenteste Zarathustra-Gestalt der Oper hat wohl Wolfgang Amadeus Mozart 1791 mit dem weisen Fürsten Sarastro in der Zauberflöte geschaffen (vgl. dazu Schaeder 1970, 101; Stausberg 2019, 24). Im Zuge des neu entstehenden wissenschaftlichen Interesses an der Geschichte indischer Philosophie und Religion erhielt auch die Erforschung von Zarathustras Leben und Lehre Auftrieb. Die im 18. Jahrhundert beginnende ZarathustraForschung befasst sich unter anderem mit der Tradition des Parsismus und der Verbindung von Zarathustras Lehre mit dem jüdischen und christlichen Monotheismus. In der gelehrten Welt des 18. Jahrhunderts war es eine große Streitfrage, ob Zarathustra Monotheist (Thomas Hyde) oder radikaler Dualist (Pierre Bayle, Gottfried Wilhelm Leibniz) gewesen sei. Allerdings gab und gibt es bis heute zum Leben des historischen Zarathustra nur wenige gesicherte Erkenntnisse, da weder Texte noch archäologische Fundstücke überliefert sind (so Frye 1994, 53); umstritten sind Geburtsort, Wirkungsstätte und auch die Lebensdaten des historischen Zarathustra. Konsensfähig erscheint nach heutigem Forschungsstand, dass Zarathustra zwischen 1500 und 600 v. Chr. im östlichen Iran gelebt hat, wobei die Provinz Sitan im südöstlichen Iran, genauer das Gebiet Khursrasan, das alte Bakra und Aserbeidschan und dort besonders die Gegend rund um den Urmia-See (der im Nachlass N.s Erwähnung findet) als Geburtsort und Lehrgebiet in Betracht gezogen werden. Nach parsistischer Überlieferung erlebte Zarathustra im Alter von 30 Jahren (nach zehnjähriger Wanderschaft) seine Berufung zum Propheten des ‚Ahura Mazda‘, des weisen Schöpfergottes (mittelpersisch Hormozd, Ormuz oder auch Ormuzd) und verkündete fortan dessen Botschaft. Da er der altiranischen Religion kritisch gegenüberstand (insbesondere lehnte er Opferrituale ab), wurde er zunehmend angefeindet, konnte aber – ebenso wie N.s Zarathustra – einen Kreis von Schülern um sich sammeln. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schritt die Erforschung der Zoroastrischen Religion deutlich voran, insbesondere durch die zahlreichen Arbeiten von Friedrich Spiegel (Erân, Leipzig 1863; Erânische Altertumskunde, Leipzig 1871– 78, 3 Bde.), Friedrich Heinrich Hugo Windischmann (Zoroastrische Studien, Berlin 1863) und Martin Haug (Die Gâthâs des Zarathustra, Leipzig 1858–60, 2 Bde.; Essays on the sacred writings etc. of the Parsees, 2. Aufl., London 1878). Von keiner dieser Schriften allerdings ist nachzuweisen, dass N. sie kannte. So stellt sich die Frage, auf welches Wissen über den historischen Zarathustra N. bauen konnte?

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Welche Quellen hat er gekannt? Die Forschung beurteilt N.s Kenntnisstand von früh an höchst kontrovers; die einen betrachten die Wahl des iranischen Religionsstifters zum Protagonisten seines Werks als bloße Kulisse, eine Maskierung, um sich umso freimütiger selbst aussprechen zu können. So meint Theobald Ziegler aus Indizien schließen zu dürfen, dass N. in der Religionsgeschichte „schwerlich sonderlich versiert“ (Ziegler 1900, 125) gewesen sei. Demgegenüber insistiert Otto Gramzow 1907, 73: „Nur wenn wir gewisse religionsgeschichtliche Studien Nietzsches voraussetzten, wird uns sein Zarathustra ganz verständlich.“ Die Kontroverse setzt sich bis heute fort. Während Mehregan 1979 Parallelen zwischen N.s Zarathustra-Figur und dem historischen Zarathustra aufzeigen will, gelangt Aiken 2003 zu dem Schluss, N. habe kaum etwas von dem altiranischen Religionsstifter gewusst. Skowron 2002, 24–31 sucht von Gemeinsamkeiten und Differenzen zu überzeugen, während Mariani 2020 wiederum intensive Quellenstudien N.s stark macht, die auch Niederschlag in Za gefunden hätten. Zarathustra begegnet in N.s Niederschriften schon lange vor der Konzeption des Za-Werks. Erstmals taucht der Name in der griechischen Form Zoroaster in einem Exzerpt aus den Essays des Orientalisten Max Müller aus der Zeit zwischen September 1870 und Januar 1871 auf: „Die Religion des Zoroaster hätte, wenn Darius nicht überwunden wäre, Griechenland beherrscht.“ (NL 1870, KSA 7, 5[54], 106, 19 f.) Offenkundig interessierte N. sich gedankenspielerisch für die Folgen, die ein Sieg der Perser über die Griechen für deren religiöse Entwicklung gehabt hätte. Diese Überlegung, die er freilich nicht weiter ausführt, gehört in den Kontext seiner Auseinandersetzung mit den Griechen in der entscheidenden Phase vor und nach den Perserkriegen (vgl. Montinari 1982, 79). Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen führt Zoroaster dann 1873 als einen möglichen „Lehrer“ (PHG 1, KSA 1, 806, 6) der griechischen Philosophen an, deren besondere Fähigkeit nicht zuletzt darin bestanden hätte, „fruchtbar zu lernen“ (ebd., 806, 22). Woher aber erhält N. den Impuls, Zarathustra zur Hauptfigur eines eigenen Werks zu machen? Als die „nächstliegende Quelle“ für die Übernahme führt KSA 14, 279 die Lektüre von Ralph Waldo Emersons Versuchen an, mit denen sich N. 1882 intensiv beschäftigte. Emerson präsentiert Zarathustra als Exemplum eines ‚großen Mannes‘, der allein durch seine äußere Erscheinung und sein Auftreten Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit ausgestrahlt habe: „Wir verlangen, daß ein Mensch so groß und säulenförmig in der Landschaft dastehe, daß es berichtet zu werden verdiente, wenn er aufstünde und seine Lenden gürtete und einem andern solchen Ort zueilte. Die glaubwürdigsten Bilder scheinen uns die von großen Menschen zu sein, die bei ihrem ersten Erscheinen schon die Oberhand hatten und die Sinne überführten; wie es dem morgenländischen Weisen erging, der gesandt war, die Verdienste des Zarathustra oder Zoroaster zu erproben. Als der Weise von Yunnan in Balk ankam, so erzählen uns die Perser, setzte Gustasp

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einen Tag an, an dem die Mobeds eines jeden Landes sich versammeln sollten, und ein goldener Stuhl wurde für den Weisen aus Yunnan in Bereitschaft gehalten. Darauf trat der allgemein geliebte Yezdam, der Prophet Zarathustra in die Mitte der Versammlung. Der Weise von Yunnan sagte, als er jenes Oberhaupt erblickte: ‚Diese Gestalt und dieser Gang und Haltung können nicht lügen, und nichts als Wahrheit kann daraus hervorgehen‘.“ (Emerson 1858, 351; falsche Seitenangabe in KSA) N. strich diese Textstelle in seinem Leseexemplar mehrfach an und vermerkte überdies am Rand „Das ist es!“. Die erste Nennung einer Figur mit Namen Zarathustra findet sich im Nachlass aus dem August 1881. Unter der Überschrift „M i t t a g u n d E w i g k e i t . F i n g e r z e i g e z u e i n e m n e u e n L e b e n“ steht folgendes Notat, das wohl die Keimzelle von Za vorstellt: „Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta“ (NL 1881, 11[195], KSA 9, 519, 14–17). Es handelt sich hierbei, wie Paolo D’Iorio nachgewiesen hat (D’Iorio 1993, 395 f.), um ein Exzerpt aus Friedrich Anton Heller von Hellwalds Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart (vgl. dazu NK 11, 3–8). Zwar hat N. nie ein Werk unter dem Titel „Mittag und Ewigkeit“ verfasst, doch Zarathustra taucht nicht erst in Za, sondern schon in Entwürfen und Vorstufen zur Fröhlichen Wissenschaft erstmals als Protagonist auf. 1882 schreibt N. dann ausgehend von dem Hellwald-Exzerpt den Schlussabschnitt der ersten Fassung der Fröhlichen Wissenschaft (vgl. hierzu NK 3/2 571, 2–6), den er nahezu identisch als Eröffnungsabschnitt in „Zarathustra’s Vorrede“ übernimmt (vgl. hierzu NK 11, 3–12, 10). Von dem Zeitpunkt an, ab dem die Zarathustra-Figur in N.s eigenen Plänen eine Rolle spielt, verwendet N. nicht mehr die griechische Bezeichnung Zoroaster, sondern konsequent den Namen Zarathustra. Dass dem eine bewusste Entscheidung zugrunde liegt, legt ein Brief an Heinrich Köselitz vom Mai 1883 nahe, in dem er diesen wissen lässt: „‚Zarathustra‘ ist die ächte unverderbte Form des Namens Zoroaster, also ein p e r s i s c h e s Wort.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 418, S. 378, Z. 10 f.) Die Bedeutung des Namens Zoroaster/Zarathustra zählte zu den Aspekten, die trotz der intensiven Forschungen zu Zarathustras Leben und seiner Religion umstritten blieben und zu gelehrten Kontroversen Anlass gaben. Am 23. April 1883, rund zwei Monate nachdem N. das Druckmanuskript von Za I fertiggestellt hatte, notiert er in einer Postkarte an Heinrich Köselitz: „Heute lernte ich zufällig, was ‚Zarathustra‘ bedeutet: nämlich ‚Gold-Stern‘. Dieser Zufall machte mich glücklich. Man könnte meinen, die ganze Conception meines Büchleins habe in dieser Etymologie ihre Wurzel: aber ich wußte bis heute nichts davon.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 406, S. 366, Z. 2–6) Der Übersetzungsvorschlag ‚Goldstern‘, der N. so glücklich macht und der auf den Indologen Christian Lassen zurückgeht, steht etymologisch jedoch auf

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wackligen Beinen. Bereits Friedrich Heinrich Hugo Windischmann, der in Bonn bei Lassen studierte, gelangt zu dem Schluss: „Sonach ist die Erklärung Goldstern höchst problematisch.“ (Windischmann 1863, 47) Und eigentlich hätte auch N. in der von ihm genutzten Culturgeschichte Hellwalds diese Übersetzung als „längst widerlegt“ (Hellwald 1876, 169, Fn. 2) ausgewiesen finden können. Die neuere Forschung gibt Windischmann und Hellwald Recht. Als gesichert gilt, dass der zweite Wortbestandteil von Zara-thustra Kamel bedeutet; vorgeschlagene Übersetzungen des Namens Zarathustra lauten: „Besitzer goldfarbener Kamele“ (Altheim 1970 [1952], 179) oder „der Kamele leitet“ (Frye 1994, 53) – und zu N.s Zeit hatte Friedrich Müller „muthige Kamele besitzend“ (Müller 1862, 635) als Übersetzung vorgeschlagen. Wie bereits angedeutet, ist in der N.-Forschung umstritten, was N. an der Figur des historischen Zarathustra faszinierte und ob und inwieweit er an die ihr zugeschriebenen philosophischen und religiösen Vorstellungen anknüpfte. Häufiger wird hingewiesen auf die durch den historischen Zarathustra begründete dualistische Weltsicht, auf die Einführung des Gegensatzes von Gut und Böse als weltbeherrschendes Prinzip. Die grundlegende religiöse Erneuerung Zarathustras bestand, was zu N.s Zeit gängiger Wissensstand war, in der Ersetzung der bis dahin herrschenden Göttervielfalt durch den einen weisen Gott Ahura Mazda. Ergänzt bzw. durchkreuzt wurde diese monotheistische Grundkonzeption jedoch durch die Annahme eines Zwillingsgeists, wonach dem Ahura Mazda der böse Geist Angra Mainyu gegenübersteht. So etablierte die von Zarathustra verkündete Botschaft einen ethisch ausgerichteten Dualismus (vgl. Rudolph 1970, 305; Frye 1994, 58), demzufolge zwei prinzipielle, einander entgegengesetzte kosmische Bestrebungen, eine gute und eine böse Kraft, einander von Urbeginn an befeindeten. Wenn Simon 2000, 173 entsprechend bemerkt, N. habe Zarathustra als den „erste[n] entschiedene[n] Morallehrer der Geschichte“ wahrgenommen, so scheinen Ausführungen in EH dies zu bestätigen. Dort nämlich wird die „ungeheure Einzigkeit jenes Persers in der Geschichte“ (KSA 6, 367, 5) darauf zurückgeführt, dass er als der Erste „im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn“ habe (KSA 6, 367, 6–8). Der historische Zarathustra sei, so die Behauptung, die dann direkt auf N.s eigene Zarathustra-Figur hinweist, nicht nur erster Lehrer der Moral gewesen, sondern zugleich auch ihr erster Kritiker: „Zarathustra s c h u f diesen verhängnissvollsten Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn e r k e n n t.“ (KSA 6, 367, 10–12) Auf den Dualismus von Gut und Böse als eines agonalen Prinzips spielt schon Hellwald an mit der Bemerkung, Zarathustra habe die Welt als „einen grossen Kampfplatz“ verstanden, „auf dem Jeder mitzukämpfen berufen“ sei (Hellwald 1876, 171). Insbesondere Mehregan 1979 schlägt von dort die Brücke zu N.s Zarathustra und hebt Widerstreit, Kampf und das Drängen nach Umwertung als

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Grundbestrebungen hervor, die N.s Protagonisten mit dem iranischen Religionsstifter verbinden. Weitere in der Forschung genannte Übereinstimmungen werden in der symbolischen Ausrichtung auf Sonne und Feuer gesehen (Skowron 2002, 28 f.) sowie in der starken Gegnerschaft, die sich dem Wirken beider entgegenstemmt (so Mehregan 1979, 296–300). Sowohl die Verehrung von „Feuer und Sonne […] als Symbole Gottes“ als auch die „viele[n] Gegner, namentlich in den Priestern der alten Religion“, führt bereits Hellwald 1876, 169 für den historischen Zarathustra an – und zwar im unmittelbaren Anschluss an die von N. exzerpierte Stelle. Eine Notiz N.s aus dem Frühjahr 1884, die auf der Übersetzung eines Renan-Exzerpts fußt (dazu NK 4/2, 298, 10–16), profiliert hingegen das geschichtsphilosophisch dimensionierte Denken des historischen Zarathustra als eines persischen Propheten: „Ich mußte Zarathustra, einem P e r s er, die Ehre geben: Perser haben zuerst Geschichte im Ganzen Großen g e d a c h t. Eine Abfolge von Entwicklungen, jeder präsidirt ein Prophet. Jeder Prophet hat sein h a z a r, sein Reich von tausend Jahren.“ (NL 1884, KSA 11, 25[148], 53, 7–11) Verschiedentlich vermutet (vgl. Shakhovudinov 2010, 107 f.), nicht aber belegt, ist N.s Kenntnis des Avesta, das die Hauptquelle zu Zarathustras Lehre und seinem Wirken abgibt. Das Avesta ist eine Sammlung heiliger Texte, die zwischen dem 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. entstand, wobei nur rund ein Viertel des ursprünglichen Textes erhalten ist. Zentraler Bestandteil des Avesta sind die Gathas, 17 oder auch 16 – die Echtheit des 17. Textes wird bezweifelt – kurze metrische Texte (‚Lieder‘), die sowohl inhaltlich als auch sprachlich vom restlichen Avesta abweichen. Sie gelten als sein ältester Teil, stammen möglicherweise von Zarathustra selbst und bilden als einzige überlieferte historische Quelle den Ausgangspunkt jeder Untersuchung zu dem iranischen Propheten. Allerdings gehören sie „zum Unzugänglichsten der alten Literaturen“ (Altheim 1952, 169) und geben viele Rätsel auf; bis heute ist es nicht gelungen, auch nur eine allgemein akzeptierte Übersetzung des Avesta zu erstellen. Neuerdings hat sich Mariani 2020, 284 f. nachdrücklich für N.s Kenntnis des Avesta ausgesprochen, wobei seine Argumentation allerdings wesentlich auf der irrtümlichen Annahme beruht, dass N. die geographische Herkunft Zarathustras vom „See Urmi“ (FW 342, KSA 3, 571, 2) nicht aus der als Quelle nachgewiesenen Culturgeschichte Hellwalds bezogen haben könne, da dieser den See Urmi gar nicht erwähne, und dieses Wissen daher aus einer der kursierenden Übersetzungen des Avesta entnommen haben müsse. Tatsächlich verweist Hellwald jedoch auf Zarathustras Geburt „in der Stadt Urmia am gleichnamigen See“ (Hellwald 1876, 169; vgl. NK 11, 3–8). Trotzdem ist es natürlich nicht auszuschließen, dass N. mit einer der Übersetzungen in Berührung kam, die im Ausgang von der europäischen Ausgabe des Avesta von AnquetilDuperron und der darauf basierenden ersten deutschsprachigen Übersetzung von Johann Friedrich Kleuker von 1777 kursierten.

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Kein Zweifel kann allerdings daran bestehen, dass N. es bei der Gestaltung seiner Zarathustra-Figur nicht darauf anlegte, sich möglichst eng am zeitgenössischen Wissen über den historischen Zarathustra zu orientieren. Zu sehr verschleiert er die von Hellwald bezogenen historischen Fakten, zu eigenmächtig gestaltet er die Geschichte seines Protagonisten und zu sehr macht er ihn zur synkretistischen Figur, indem er ihn mit antikem und christlichem Gedankengut belädt, aber doch auch als Sprachrohr moderner Religions- und Kulturkritik inszeniert. Markant hervor tritt die synkretistische Signatur an einem Zarathustra in den Mund gelegten Zitat aus Hölderlins Empedokles-Tragödie „Es ist die Zeit der Könige nicht mehr“ (263, 1; vgl. NK 4/2, 262, 30–263, 5). Obwohl also N. keineswegs verbirgt, dass er mit seiner Zarathustra-Figur frei schaltet, soll sein Werk trotzdem laut Strohm 2014, 17 seinerseits der Zarathustra-Forschung Auftrieb gegeben haben. Unbestreitbar ist, dass N.s Za bis heute entscheidend dazu beiträgt, dass der Name des persischen Religionsstifters nicht nur im europäischen Kulturkreis nicht in Vergessenheit gerät, sondern etwa auch in Lateinamerika, China und Japan präsent ist.

3 Weitere Quellen und Prätexte Vielfach wurde angemerkt, dass sich das Za-Werk in besonderer Intensität aus dem Fundus der Überlieferung speise, es geradezu übersättigt sei von Bezügen, Zitaten und Allusionen. Es gäbe, so merkt etwa Zittel 2000b, 282 an, „kaum eine Zeile, in welcher nicht auf gleich mehrere literarische oder philosophische Texte oder topoi angespielt“ würde. Und Pelloni/Schiffermüller 2015, 4 charakterisieren Za als eine Art Gedächtnis der Kultur, das die „religiöse, philosophische, ästhetische und literarische Tradition in einer riesigen, eigentümlichen Synthese“ verdichte. In spannungsvollem Verhältnis zu diesen Befunden steht freilich der Umstand, dass die Zahl der konkret nachgewiesenen Quellenbezüge durchaus überschaubar ist und keineswegs die von FW oder JGB übersteigt. Ist die Rede von dem besonderen Anspielungsreichtum von Za also eine Übertreibung? Um darauf eine angemessene Antwort zu finden, sind spezifische Züge des ZaTexts in Betracht zu ziehen. Tatsächlich weist Za im Vergleich zu den vorausgehenden und nachfolgenden Werken N.s nur sehr wenige markierte, also etwa durch Autorname, Werktitel oder Anführungszeichen gekennzeichnete, Zitate bzw. Übernahmen auf. Das hängt zusammen mit der eigentümlichen Faktur des Za-Textes, die sich nicht zuletzt in der radikalen Verweigerung von Eigennamen zeigt. Während man mit den in FW aufgerufenen Denkern, Dichtern und historischen Persönlichkeiten ganze Namenskataloge bestücken könnte (erwähnt werden dort, um nur einige prominente Beispiele anzuführen, Plato, Epikur, Rousseau,

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Kant, Schopenhauer, Hegel, Darwin, Dante, Shakespeare, Goethe, Luther, Napoleon, Bismarck), begegnet in Za neben dem Eigennamen ‚Zarathustra‘ nur noch ein weiterer Name – ein einziges Mal wird „der Hebräer Jesus“ (95, 7 f.) genannt. An allen anderen Stellen, an denen auf Jesus Bezug genommen wird (und das sind nicht wenige), geschieht dies in indirekter Weise. Das ist symptomatisch für Za und seine grundlegende Textstrategie des verhüllenden Sprechens. Hand in Hand damit gehen die Vermeidung alles Konkreten und das nahezu vollständige Ausblenden identifizierbarer zeitgeschichtlicher Kontexte, was den Eindruck schürt, als sei die Handlung in einem zeitlosen Nirgendwo situiert. Entsprechend sind Anspielungen, Bezugnahmen und Übernahmen aus anderen Texten nicht selten bis zur Unkenntlichkeit verschleiert, so dass sich die Provenienz einer Aussage oder Formulierung oft nur schwer und nicht mit Sicherheit identifizieren lässt. Mitunter hilft das Zurückgehen auf die – im Fall von Za besonders reich erhaltenen – Entwürfe und Vorstufen aus N.s Nachlass, weil diese bisweilen Exzerptcharakter besitzen und dann dem originalen Wortlaut eines Prätextes näherstehen. Beispielhaft für einen solchen durch eine Vorstufe ermöglichten Nachweis ist das im vorhergehenden Abschnitt bereits erwähnte, von D’Iorio 1993, 395 f. aufgewiesene Exzerpt aus Friedrich Anton Heller von Hellwalds Culturgeschichte, das die Grundlage abgibt für den Auftakt zur Geschichte Zarathustras in FW 342 und Za I Vorrede 1. Auf seine Spur führt das Notat NL 1881, 11[195], KSA 9, 519, 14–17, das detaillierte Übereinstimmungen mit Hellwald aufweist, die aus den beiden publizierten Textfassungen eliminiert wurden (dazu NK 11, 3–8). Weil der Quellenfund in diesem Fall eine Abhängigkeit dort zutage fördert, wo man die (dichterische) Erfindungskraft des Autors am Werk glaubte, trägt er bei zu einer veränderten Wahrnehmung des Za-Werks. Er setzt ein Ausrufezeichen, das darauf vorbereitet, dass auch für dieses Werk, das N. in seinen Briefen und insbesondere in EH als ein Produkt seiner Inspiration vorstellt, Lektüren und auf ihnen beruhende intertextuelle Verfahrensweisen prägend sind. Der folgende Stellenkommentar belegt, dass N. durch Texte unterschiedlichster Art, Thematik und Herkunft – durch philosophische, religionswissenschaftliche, kulturgeschichtliche Schriften und nicht zuletzt auch durch Dichtungen – sowohl gedankliche Anregung als auch konkrete Formulierungen findet, die dann in Za Widerhall erfahren. In der Forschung gibt es unterschiedliche Einschätzungen, was die Tragweite und Funktion der Bezugnahmen auf andere Texte anbelangt: Während Pelloni/ Schiffermüller 2015 die kulturelle Gedächtnisfunktion des Za-Werks betonen, hebt Vivarelli 2016a, 400 die „Intentionalität von Nietzsches Anspielungen“ hervor, die darauf ausgerichtet seien, dass der zeitgenössische Leser sie identifiziere. Mag das für einen nicht geringen Teil von Anspielungen und Bezügen (insbesondere für die zahlreichen verfremdeten Bibel-Zitate) gelten, so deckt das jedoch keineswegs die ganze Palette der intertextuellen Referenzen ab. Offenkundig ist etwa

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der Hellwald-Bezug nicht auf Identifizierbarkeit angelegt, sondern umgekehrt auf Verschleierung. Ebenfalls nicht auf einen Wiedererkennungseffekt zielt die Anlehnung an ein fiktives Schiffsjournal aus dem frühen 19. Jahrhundert, dessen Wortlaut Za II Von grossen Ereignissen bis in einzelne Wendungen hinein folgt und aus dem N. dabei merkwürdig kontingent anmutende Details entnimmt. Carl Gustav Jung, der die entlegene Quelle ausfindig gemacht hat, erläutert dies als einen Fall von Kryptomnesie, also eine Textproduktion, die auf einer vergessenen, assoziativ aus einer verschütteten Erinnerung heraufgerufenen Lektüre fußt und die die Grenze zwischen Nachschaffen und eigenem Schaffen verwischt (vgl. NK 167, 9–23). Quellenbezüge folgen in Za keinem bestimmten Muster, sondern realisieren sich auf höchst unterschiedliche Weise, wobei das Spektrum vom direkten Zitat bis hin zum bloßen Anklang reicht. N. zitiert seine Quellen nicht bloß, sondern er arbeitet mit ihnen, verändert sie, passt sie an eigene Aussageintentionen an, integriert sie in neue Kontexte. Seine Übernahmen aktualisieren das Übernommene jeweils neu und weisen ihm damit auch neue Bedeutung zu. Dabei ist, wie Zittel 2017 an Za II Von den Dichtern eindrücklich herausstellt, das kunstvolle Spiel mit den Prätexten (dort in erster Linie mit Zitaten aus Goethes Faust und Platon-Bezügen) mit der traditionellen Herangehensweise der Quellen- und Einflussforschung nicht adäquat zu erfassen. Nicht der Traditionsbezug als ‚einfache‘ Abhängigkeit von einer Quelle ist entscheidend, vielmehr betreibt N. im DichterKapitel ein Spiel mit Zitaten, das diese in ein ironisches Verhältnis zueinander setzt. Für das Textverständnis ist es daher mit dem bloßen Nachweis der Abhängigkeit von Quellen nicht getan, vielmehr ist für die kommentierende Erschließung wesentlich, wie N. mit seinen Quellen verfährt, wie er seine Lesefunde bearbeitet, sie in den eigenen Text integriert und wie sich deren Bedeutung dabei verändert. Welche Prä- und Intertexte erfahren nun in Za Resonanz? Aufgewiesen wurden Anklänge an Mythen und Märchen (z. B. Märchen aus Tausendundeiner Nacht) sowie an dichterische Werke der Weltliteratur. Insbesondere auf Homer, Shakespeare, Goethe und Hölderlin wird angespielt und mitunter auch in Form von klar identifizierbaren Zitaten verwiesen. Charakteristisch ist eine ‚Inselbildung‘, insofern es in einzelnen Kapiteln zu Ballungen solcher Verweise kommt: Das gilt, wie bereits erwähnt, für Za II Von den Dichtern, wo N. Zitate aus Goethes Faust als strukturierende Elemente nutzt, das gilt auch für Za II Von grossen Ereignissen, wo die Hölderlin-Anklänge besonders intensiv ausfallen. Zitate und Allusionen sind dabei auf artistische Weise in den jeweiligen Kontext eingefügt. Ein weiteres wichtiges Reservoir, auf das N. bei der Arbeit an Za immer wieder aktualisierend zurückgreift, bilden die altphilologischen Kenntnisse, die er sich schon früh während des Studiums und seiner Basler Lehr- und Forschungs-

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tätigkeit als Professor der klassischen Philologie erworben hat. Neben der antiken Literatur ist es vor allem die antike Philosophie, die ihre Spuren in Za hinterlassen hat. Insbesondere finden sich Reminiszenzen an Aristoteles und Epikur, wichtiger noch sind die Bezüge auf Heraklit und Platon, mit dessen Dialogen N. durch seine philologische Lehr- und Forschungstätigkeit vertraut war. Daneben führt N. auch in Za seine Auseinandersetzung mit den ‚üblichen Verdächtigen‘ weiter, wenngleich diese nicht namentlich genannt werden: Es finden sich Anspielungen auf Schopenhauer, polemische Seitenhiebe auf Kant und die englischen Utilitaristen sowie zahlreiche Anklänge an Ralph Waldo Emerson. N.s Beschäftigung mit dem Werk des amerikanischen Dichters und Philosophen erreichte unmittelbar vor und während der Entstehungszeit von Za einen Höhepunkt. Nach Vivarelli geben Emersons Versuche und Essays die „Hauptquelle für ‚bejahende‘ Bilder“ in Za ab (NLex 85; vgl. ausführlich Vivarelli 1987). Aber auch hier gilt, dass Zitate und Allusionen nicht selten im Dienst des Andeutens und der Verrätselung stehen und immer wieder auch parodistisch gewendet werden. Viele Zitate und Intertexte von Za sind nicht mit affirmativer Absicht eingearbeitet, sondern rufen im Gegenteil Positionen auf, gegen die sich Zarathustra mit seinen ‚Lehren‘ in Stellung bringt. Die primäre Zielscheibe ist das Christentum mit seiner Ausrichtung auf das Jenseits und die Mitleidsethik. Immer wieder zielt die Kritik aber auch auf die ethischen Vorstellungen der vorchristlichen Antike, auf die Pflichtethik Kants sowie auf die sich auf das Gefühl des Mitleids berufende Grundlegung der Moral bei Schopenhauer. Das bedeutet nicht, dass die philosophischen Konzepte dieser Autoren eingehend verhandelt würden, vielmehr werden Grundvorstellungen ihrer Philosophien in häufig plakativer Weise aufgerufen und abgewehrt. Ebenso wie N. im Fall der Vorgängerwerke M und FW, mit denen Za durch vielfache thematische und motivische Kontinuitäten verknüpft ist, aus seiner Lektüre zahlreiche Anregungen bezog, dürfte er auch das Unterfutter für die Lehrmonologe Zarathustras aus der Auseinandersetzung mit philosophischen, kulturgeschichtlichen, religions- und moralkritischen Studien bezogen haben. Mehrheitlich wohl aus Werken, von deren Anregungen er schon früher profitierte; etwa aus William Edward Hartpole Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa (1873), aus der bereits genannten Culturgeschichte (1876) Friedrich Anton Heller von Hellwalds oder Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten. Tatsächlich nachweisen lassen sich die Einflüsse aber nur punktuell. Denn sind die Quellenbezüge schon in M und FW mitunter so verdeckt, dass sie sich nur mühsam aufspüren lassen, ist die Integration des Quellenmaterials in Za noch eine Stufe weiter vorangeschritten. Das trägt dem poetisch-zeitenthobenen Charakter des Werks Rechnung, das den Anschluss an aktuelle Diskurse möglichst übertüncht und wissenschaftliches Vokabular weitgehend vermeidet. Nachweislich hat sich N. in der Zeit von Frühjahr bis Herbst 1883 intensiv mit Schriften des Philosophen Gustav Teichmüller beschäftigt. Mindestens zwei

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von Teichmüllers Werken hat er in diesem Zeitraum (erneut) gelesen, zum einen Die wirkliche und die scheinbare Welt (1882), zum andern die Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe (1876–1879). Doch auch hier gilt, dass sich nur wenige Spuren dieser Lektüren in Za nachweisen lassen (vgl. NK 147, 34–148, 2). Umso bemerkenswerter ist eine Äußerung N.s in einer Postkarte an Franz Overbeck vom Oktober 1883, in der er davon spricht, dass seine Teichmüller-Lektüre auf das eigene Verständnis von Za zurückwirke: „Lieber alter Freund, beim Lesen Teichmüllers bin ich immer mehr starr vor Verwunderung, wie w e n i g ich Plato kenne und wie sehr Zarathustra πλατωνίζει [platonisiert]“ (22. 10. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 469, S. 449, Z. 2–4). Bezeugt scheint damit ein dialogisches Wechselverhältnis von Lektüre und eigener Hervorbringung: Nach eigenem Bekunden erweitert N. durch Teichmüller seine Platon-Kenntnisse und wird dabei zugleich gewahr, wie stark er sich mit seinem eigenen Schaffen unbewusst in platonischen Bahnen bewegt (vgl. dazu NK 4/2, 240, 7 f.). Auch für die naturwissenschaftlichen Werke zu Biologie, Zoologie, Evolutionstheorie oder Kosmologie, von denen bekannt ist, dass N. sie zur Zeit der Entstehung von Za intensiv rezipierte, gilt, dass sie zweifellos auf die Arbeit an Za ausstrahlen, es jedoch eher selten gelingt, ihren Einfluss in konkreten Zitaten und Referenzen dingfest zu machen. So hat N. etwa während der Entstehungszeit von Za II im Frühjahr/Sommer 1883 ausgiebig Exzerpte angefertigt aus dem Buch des Entwicklungsbiologen Wilhelm Roux Der Kampf der Theile im Organismus (1881), wobei ihn insbesondere das Verständnis der Natur als eines Macht- und Herrschaftsgefüges interessierte (vgl. zu N.s Roux-Lektüre Müller-Lauter 1978). Da analoge Überlegungen in Za II Von der Selbst-Ueberwindung eine wichtige Rolle spielen, liegt die Annahme nahe, dass diese auf den Einfluss Roux‘ zurückgehen. Konkrete Abhängigkeiten ließen sich jedoch nicht nachweisen. Hingegen sind in Za I Vorrede 2 und Za I Von den Verächtern des Leibes die Spuren von Roux‘ Kampf der Theile im Organismus deutlich zu erkennen (vgl. NK 12, 28–30 u. NK 39, 10 f.). Grundsätzlich kann man sagen, dass die Sichtbarkeit der literarischen Quellen in Za größer ist als die der (natur-)wissenschaftlichen, die noch stärker unter die Oberfläche gedrängt sind. An vielen Stellen von Za scheinen Prätexte und Quellen anzuklingen und dennoch lassen sich keine ‚handfesten‘ Zitate nachweisen. Doch gerade das Spiel mit Anklängen bildet die zentrale Textstrategie. Za setzt Eindeutigkeit außer Kraft und arbeitet verstärkt mit Ähnlichkeiten und Allusionen. Die dadurch geschaffenen Polyvalenzen eröffnen dem Leser eine Vielzahl von Assoziations- und Konnotationsmöglichkeiten. Einen Prätext freilich gibt es, der unverschleiert und nachdrücklich die Textoberfläche von Za prägt: die Bibel. Das Alte und vor allem das Neue Testament bilden nicht nur die wichtigste Quelle für die Bilder und Gleichnisse von Za, sondern sie bestimmen maßgeblich auch dessen prophetischen Ton (vgl. Hayoun

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1997, Salaquarda 2000b). Die Vorbildfunktion der Lutherbibel zeigt sich auf verschiedenen Ebenen, sie reicht von zentralen Bildern und Motiven über einzelne Redewendungen bis hinein in die Wortwahl, in die grammatischen Formen und syntaktischen Strukturen (vgl. dazu auch die Ausführungen zu Sprache und Stil im Folgeabschnitt ÜK 4). Zarathustra redet in Gleichnissen und Sprüchen, wie es von Jesus überliefert ist – allerdings tut er das zumeist unter verkehrtem Vorzeichen. Die für Za zentrale Textstrategie der aneignenden Umcodierung von überliefertem, kulturell besonders mit Bedeutung aufgeladenem ‚Textmaterial‘, tritt deshalb im Umgang mit der Bibel besonders evident hervor. Wo es etwa in Matthäus 5, 7 heißt, „Selig sind die Barmherzigen“ (Die Bibel NT 1818, 6), bekennt Zarathustra, „Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind in ihrem Mitleiden“ (113, 15 f.). Einzelne Bibelverse werden dabei auf recht rabiate Weise umgedeutet. Aus „Wahrlich, ich sage euch: Es sey denn, daß ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Matthäus 18, 3; Die Bibel NT 1818, 24), wird: „So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich.“ (334, 14 f.) Und aus „Der Mensch lebet nicht vom Brodt allein; sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes gehet“ (Matthäus 4, 4; Die Bibel NT 1818, 5), macht Zarathustra: „Aber der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern auch vom Fleische guter Lämmer“ (354, 8 f.). Während die Bibelstelle auf den Kontrast zwischen leiblichen und spirituellen Bedürfnissen abhebt (Brot vs. Gottes Wort), blendet Zarathustra die spirituelle Dimension gerade aus und konzentriert sich auf den leiblichen Genuss. Damit formt er den Bibelspruch um zum Baustein seiner eigenen, auf den Leib und auf das Diesseits bezogenen Botschaft. In analoger Weise funktionalisiert er Bibelzitate häufig um zur polemischen Kritik und Abwehr des Christentums. Das Verhältnis zur Bibel ist damit ein spannungsvolles: Obwohl sich Za die Aura der Bibel anzueignen sucht, macht er den Bibeltext zugleich zum Gegenstand ironischer und parodistischer Brechungen. Auch für die Bibel-Referenzen gilt, dass sie keinem einheitlichen Muster folgen, sondern ein weites Spektrum abdecken. So finden sich in Zarathustras Reden durchaus auch Bezugnahmen, die sich nicht parodistisch, sondern eher affirmativ zum Bibeltext verhalten. Überwiegend freilich vollzieht sich der Umgang mit der Bibel als ein spielerisches Umbesetzen, Umschreiben und parodistisches Anverwandeln biblischer Sprüche und Sentenzen, für das eine große Variationsbreite kennzeichnend ist. Nicht selten zitiert Zarathustra wörtlich oder nahezu wörtlich, in anderen Fällen sinngemäß. Hinzu kommt eine Vielzahl von Stellen, in denen ein biblisches Bild, ein Motiv oder ein biblischer Ausdruck lediglich anklingen. Es handelt sich in solchen Fällen nicht um verifizierbare Quellenbezüge, sondern um bloße Ähnlichkeitsrelationen. Schon Hans Weichelt versieht deshalb seine Synopse von Bibelzitaten mit der Einschränkung: „Allerdings soll nicht von jeder

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Parallele behauptet werden, daß Nietzsche sich ihrer bewußt war oder sie direkt beabsichtigt hat. Gelegentlich mag das Zusammentreffen Zufall sein.“ (Weichelt 1922, 308) Und Marie-Luise Haase, die Herausgeberin des Nachberichts der KGW, erklärt eine Zusammenstellung aller Bibel-Anklänge zu einem geradezu „uferlose[n] Unterfangen“ (Haase 1994, 504) und entscheidet sich entsprechend dafür, den Nachbericht auf „eindeutig erkennbare Zitate, Exzerpte, Reminiszenzen“ (KGW VI 4, 7) zu beschränken. Bezeichnenderweise lässt sich aber über nicht wenige der in KGW VI 4 als „eindeutig“ angeführten Bibelnachweise durchaus streiten. Auch was die Bibelreferenzen angeht, erweist sich somit das Außer-KraftSetzen von Eindeutigkeit und Entscheidbarkeit als zentrale Textstrategie von Za.

4 Sprache und Stil „Die mächtigste Kraft zum Gleichniss, die bisher da war, ist arm und Spielerei gegen diese Rückkehr der Sprache zur Natur der Bildlichkeit“ (EH Za 6, KSA 6, 344, 2–5), lobte N. selbst rückblickend die sprachliche Ausdruckskraft seines Za. Bis heute scheiden sich gerade an der Beurteilung von Stil und Sprache die Geister. Auf der einen Seite erfährt die künstlerisch-poetische Form von Za noch immer große Wertschätzung, auf der anderen Seite provoziert sie harsch ablehnende Urteile. Dabei wird dem Text zumeist gerade das zum Vorwurf gemacht, was seine Eigenheit ausmacht – der rhetorisch-ornamentale Stil mit seiner barocken Fülle von Redefiguren, der Hang zum Überbordenden, Bombastischen und Grellen, die Lust an Stilbrüchen und Dissonanzen. Untersuchungen zur sprachlichen Gestalt verzeichnen eine „monströse Rhetorik“ (Morawa 1958, 68), „kühne[.] Wortkomplexionen“ (Landmann 1944, 281) und das sprachliche Feuerwerk einer in „Nuancen explodierenden Rede“ (Martini 1954, 24). Tatsächlich kommt dem Werk in sprachlicher und stilistischer Hinsicht eine exzeptionelle Rolle zu, sowohl im Gesamtwerk N.s wie auch im Kontext seiner Zeit. Es strotzt vor rhetorischen Tropen und Figuren, verwendet geballt Ausrufe und rhetorische Fragen, arbeitet extensiv mit Metaphern, Personifikationen, Allegorien, Anaphern, Parallelismen und Antithesen. Häufig hat man die Doppelbödigkeit des Textes übersehen, der selbstreflexiv und selbstparodistisch seine sprachlichen Manierismen zur Schau stellt, etwa wenn in Za III Vom Vorübergehen ein Narr auftritt, der Zarathustra in zerrspiegelhaft übersteigerter Form mit stilistischen Eigentümlichkeiten seiner eigenen Redeweise konfrontiert (dazu ÜK Za III Vom Vorübergehen). Artistisch und sprachbewusst knüpft N. an vorgeprägte Formulierungen und Wendungen an, um sie dann aber abzuwandeln und ihnen eine eigene, originelle Prägung zu geben. Zarathustras Sprache, die weitgehend auch die Sprache des Werks ist (nicht nur, weil er die

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dominant als Redner hervortretende Figur ist, sondern vor allem, weil die Figuren keine individuell ausgeprägten eigenen Stimmen besitzen und überdies Erzählerund Figurenstimme gegeneinander durchlässig sind), ist experimentell, insofern sie kreativ mit einer Vielfalt rhetorischer Mittel umgeht. Treibend erscheint der Versuch, der Sprache neue Ausdrucksmöglichkeiten abzuringen, und zwar paradoxerweise gerade auch im Rückgriff auf traditionelle und konventionelle Sprachformen, insbesondere in der Anknüpfung an Stil und Sprache der Lutherbibel, in der Umcodierung gebräuchlicher Metaphern und formelhafter Redewendungen. Ein charakteristischer Zug von Zarathustras Rede liegt in ihrem Hang zum Sentenzhaften und Sprichwörtlichen. Dabei greift er gängige Redensarten und Sprichwörter nicht einfach auf, sondern wandelt sie ab und prägt sie um (vgl. dazu Mieder 2014). Mitunter ist in der neuen Formulierung die alte unmittelbar präsent, wie etwa in den Wendungen „den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken“ (37, 1) oder „auch das schlimmste Ding hat zwei gute Kehrseiten“ (367, 2 f.). N. legt seinem Protagonisten aber vor allem zahlreiche neugeprägte phraseologische Wendungen und sprichwörtliche ‚Weisheiten‘ in den Mund, die er situativ anpasst: „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt.“ (101, 18 f.) „Man soll sein Herz festhalten; denn lässt man es gehn, wie bald geht Einem da der Kopf durch!“ (115, 22 f.) „Man ist nur für das eigene Kind schwanger.“ (362, 2 f.) „[N]ur wo Gräber sind, giebt es Auferstehungen.“ (145, 12) „Nicht die Höhe: der Abhang ist das Furchtbare!“ (183, 2) „Grosses vollführen ist schwer: aber das Schwerere ist, Grosses befehlen.“ (189, 10 f.) „An Unheilbarem soll man nicht Arzt sein wollen“ (259, 23). „Wahrlich, besser noch bös gethan, als klein gedacht!“ (114, 26 f.) „Besser aber noch närrisch sein vor Glücke als närrisch vor Unglücke, besser plump tanzen als lahm gehn.“ (366, 26–367, 2) Der Rückgriff auf vertraute sprichwörtliche Redemuster hat den Effekt, dass Zarathustras ‚Lehren‘ und Umwertungen ihrerseits vertraut klingen. Indem sie in gängiger sprichwörtlicher Münze vorgebracht werden, schleichen sie sich als vermeintliche Volksweisheiten ins Gedächtnis der Rezipient*innen ein und bestärken so das Bild des Lehrers und Propheten, der dem Volk auf den Mund schaut – „Mein Mundwerk – ist des Volks“ (241, 3), behauptet Zarathustra von sich. Freilich eignet der Sprichwörtlichkeit von Zarathustras Rede ein parodistischer Kippeffekt, führt sie doch durch ihre verdrehenden und nicht selten komischen Umbesetzungen auch die Phrasenhaftigkeit des sprichwörtlichen ‚Weisheitsschatzes‘ selbst vor Augen. In Za IV ist die Ironie greifbar, wenn sich der Erzähler zitierend auf das „Sprichwort Zarathustra’s“ beruft und damit den alle Bedeutung nivellierenden Ausspruch „was liegt daran!“ (396, 26) meint. Insgesamt verdankt sich der charakteristische Za-Sound zwei konträren Grundbewegungen, nämlich einerseits dem Rekurs auf anachronistische Sprachformen, insbesondere durch die Imitation des Stils der Lutherbibel, und anderer-

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seits einem artistischen, spielerischen und innovativen Umgang mit Sprache (vgl. dazu Landmann 1944, Vitens 1951, Martini 1954, Finke-Lecaudey 1991 u. 1992; zum ‚dithyrambischen‘ Prosastil: Ortlieb 2001, 230–240). Der Text ist durchzogen von Sprachspielen, Neologismen, eigenwilligen Komposita und von einer Vielzahl ungewöhnlicher Metaphern. Starke Spannungen, schroffe Kontraste und hyperbolische Redeformen kennzeichnen Sprache und Stil. Häufig sind Begriffsbildungen, die Abstraktes mit Konkretem kombinieren, z. B. die Wendungen „Ohren des Geistes“ (39, 23) oder „Bauch des Seins“ (36, 16), die Zarathustras Forderung nach dem Primat des Leibs Ausdruck geben. Ein auffälliges Stilmerkmal ist die ausgeprägte Neigung zum Spiel mit etymologisch verwandten oder gleich klingenden Wörtern: „fasse mich, wer mich fassen kann!“ (47, 17 f.), „Trauer-Spiele und TrauerErnste“ (49, 7), „Speichel-Leckerei, Schmeichel-Bäckerei“ (223, 18). Häufiger anzutreffen ist auch das poetische Verfahren der Paronomasie, das zwei ähnlich klingende Wörter aneinanderreiht: „Lecker- und Schmeckerlinge“ (354, 13 f.). Zudem sind Wortverbindungen mit Bindestrich charakteristisch für die Za-Sprache, etwa 600 listet der Index von Anuschewski 1983, 349–356 auf. Dabei sind in der Verwendung von Bindestrichformen zahlreiche Unregelmäßigkeiten zu beobachten: Wortsyntagmen, die aus den gleichen Konstituenten bestehen, sind mal mit und mal ohne Bindestrich geschrieben (z. B. „Augen-Blick“/„Augenblick“). Zumeist fungieren Bindestrich-Fügungen als Verfahren der Wortneubildung („Wort-Spülicht“, „Ehrgeiz-Gezappel“, „Bleitropfen-Gedanken“), mitunter werden aber auch vertraute Komposita durch die Schreibung mit Bindestrich auf ihre Wortbestandteile zurückgeführt, wodurch deren verblasste semantische Bedeutung neu in den Blick gerückt wird („Menschen-Liebe“). Eine wesentliche Rolle spielt die musikalische Qualität der Sprache; häufig scheint die Wortwahl nicht durch den semantischen Gehalt, sondern durch Klang und rhythmische Eigenschaften gesteuert zu sein. Wo bereits Michael Landmann 1944, 279 in Za einen „Durchbruch neuer sprachmusikalischer Möglichkeiten“ realisiert sieht, deklariert Ferruccio Masini die Sprache von Za zu einer „metasemantische[n]“. Leitend für ihn ist die Annahme, dass in Za „die Worte über sich selbst hinaus“ (Masini 1973, 280) wiesen und ihre Unzulänglichkeit überwänden, indem sie sich von ihren begrifflichen Fesseln freimachten, womit das „musikalische Gewebe ‚hinter‘ dem Wort“ (ebd., 281) als eigentlich Bedeutendes in den Vordergrund träte. Nach Masini gründet derart der Stil von Za in der „Voraussetzung, daß das in Wortform Unübersetzbare das ‚Verständlichste‘ wird“ (ebd.). Ähnlich spricht Felicitas Günther von einer musikalischen Sprache, „die die Worte hinter sich lässt“ (Günther 2015, 330). Nicht nur zu traditionellen philosophischen Schreibweisen, auch zur zeitgenössischen ‚schönen Literatur‘ zeichnet sich damit eine deutliche Differenz ab: Während die Literatur des poetischen Realismus zu einer auf den ersten Blick eher schlicht wirkenden Sprache tendiert, rückt N. die kunst-

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voll-überbordende rhetorische Sprachgestalt seines Za immer wieder selbstreflexiv in den Vordergrund. Indem die Za-Sprache den Eigenwert der sprachlichen Form, der Bilder und des Klangs betont, unterscheidet sie sich markant sowohl von den literarischen als auch von den philosophischen Schreibstilen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und erscheint seltsam unzeitgemäß. Zarathustras Reden sind überwiegend vom Pathos des Verkünders getragen und enthalten ein dichtes Geflecht von inhaltlichen und stilistischen Anspielungen auf religiöse Bücher, insbesondere auf die Lutherbibel. Sie gibt stilistisch die maßgebliche Orientierungsfolie ab; aus ihr übernimmt N. einzelne Wörter, ganze Redewendungen, und auch an die Form biblischer Gleichnisse lehnt er sich imitierend an. Charakteristische, aus der Bibel bezogene Stilelemente sind, wie Salaquarda 2000b gezeigt hat, etwa die dem Gesagten Nachdruck verleihende Beteuerungspartikel „wahrlich“, das archaisierende „also“ für „so“, die Anrede „Brüder“ oder „Bruder“. An die Bibelsprache erinnert zudem der Gebrauch des Genitivus partitivus („er genoß seines Geistes“), auch lehnen sich die Anfänge der erzählenden Partien mitunter an die epischen Einleitungsformeln des Neuen Testaments an („um jene Zeit nun“, „als Zarathustra … geschah es, daß“). Darüber hinaus finden sich im Za-Text zahlreiche Entlehnungen aus der deutschen Sprache des 16. Jahrhunderts, Archaismen, die zu N.s Zeit längst nicht mehr geläufig waren und die veralteten Wortbildungsmustern folgen. Dazu zählen Substantive mit der Nachsilbe -ling (z. B. „Düsterling“, „Klügling“ oder das Gegensatzpaar „Erstling“/ „Letztling“) sowie Adjektive, die auf das veraltete Suffix -icht enden, das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durch das Wortbildungsmorphem -ig ersetzt ist, z. B. „bauchicht“, „schaumicht“, „höhlicht“, „wurmicht“, „lockicht“, „schaficht“, „zackicht“. In der Regel finden diese Adjektive in Za nur ein Mal Verwendung, sind also als Hapax legomena einzustufen. An einigen im Nachlass überlieferten Vorstufen und Varianten lässt sich verfolgen, wie N. den charakteristischen Ton seines Za-Werks durch gezielte sprachliche und stilistische Veränderungen erzeugt. So passt er etwa das reinschriftliche „Und es giebt viele böse Thiere bei mir“ (Z II 8,34, KGW VI 4, 568) stilistisch der Bibelsprache an: „Und wahrlich, es giebt viele böse Thiere bei mir.“ (303, 13 f.) Der Sinn solcher Stilzitate liegt auf der Hand: Sie verleihen dem Verkündeten Dignität und reihen Za auf sprachlicher Ebene in die Tradition der Heiligen Bücher ein. Soll das Werk nach N.s Willen einer neuen Bibel, einem „fünfte[n] ‚Evangelium‘“ (an Ernst Schmeitzner, 13. 02. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 375, S. 327, Z. 12) gleichen, so sucht er diesen Anspruch, der ja einen gesteigerten Wahrheitsanspruch einschließt, damit zu legitimieren, dass er sich an Stil und Sprache der biblischen Offenbarung anlehnt. Freilich werden die biblischen Ausdrucksformen nicht bloß aufgegriffen bzw. imitiert, sondern auch abgewandelt und parodiert. Sprachlich-stilistisch erschöpft sich Za keineswegs in der Nachbildung einer veralteten Sprachform. Der Text verwendet nicht lediglich Anachronismen, son-

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dern schafft nach Maßgabe veralteter Wortbildungsmuster neue Wörter, die in keinem Wörterbuch verzeichnet sind; so wird etwa „rundäugicht[.]“ (220, 17 f.) durch das im Mittelalter gebräuchliche Suffix -icht gebildet (vgl. Finke-Lecaudey 1992, 48). Der Anspruch auf sprachliche Neuheit und Innovation wird im Text selbst thematisiert, spricht Zarathustra doch von „schöpferischen neuen Worten“ (289, 1 f.), die er den Menschen geben möchte. Überhaupt ist Zarathustra ein sprachbewusster Sprecher, der in seiner Rede den kritischen Bezug auf die Sprache als permanente Reflexionsspur mitführt (vgl. dazu Grätz 2019b). Dabei gelangt er zu einem paradoxen Befund, denn seiner Einschätzung nach versagt die Sprache gerade dort, wo es auf ihre kommunikative Funktion besonders ankommen würde, nämlich als Medium zwischenmenschlicher Verständigung: „Da unten aber – da ist alles Reden umsonst! Da ist Vergessen und Vorübergehn die beste Weisheit“ (232, 32 f.). Ist nach Zarathustra alle Rede „unten“, in den Niederungen der menschlichen Gesellschaft, zum Scheitern verurteilt, erfährt er umgekehrt die Einsamkeit als Ort idealer und inspirierter Rede: „Hier springen mir alle Seins Worte und WortSchreine auf: alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will hier von mir reden lernen.“ (232, 29–31) Seinem Bekenntnis zu einer Sprache der Einsamkeit entspricht ein markanter stilistischer Umschwung, der sich über die ersten drei Teile hinweg sukzessive vollzieht. Wenn Bennholdt-Thomsen 1974, 189 diesen Stilwandel, der von einem polemisch-demagogischen Redestil hin zu poetischer Ausdrucksweise führt, als Ausfluss „von zunehmender Erkenntnis und zunehmendem Sprachvermögen“ Zarathustras einschätzt, dann ist allerdings zu ergänzen, dass mit ihm zugleich ein wachsendes Ungenügen an zwischenmenschlicher Kommunikation einhergeht und er eine Wende einläutet zu einem adressatenlos-selbstbezogenen Sprechen. Zarathustras Weg führt, wie Günther 2015, 394 zu Recht anmerkt, „in die Sprachlosigkeit“ – er spricht am Ende von Za III nur noch zu sich selbst (vgl. dazu ÜK Za III Von der grossen Sehnsucht).

5 Gattungszugehörigkeit Wie die anderen Werke N.s bildet auch Za keine systematische Abhandlung, die ein geschlossenes philosophisches Gedankengebäude entwerfen würde. Dennoch gilt es zwei Differenzen zu den aphoristischen Werken zu beachten, die Za einen Sonderstatus unter den Werken N.s zuweisen. Die erste Differenz ist von prinzipieller und die zweite von gradueller Art. Erstens setzt sich Za – anders als die beiden Vorgängerwerke, M und FW – nicht aus einer Abfolge unverbundener Aphorismen bzw. Abschnitte zusammen, sondern weist eine übergreifende narrative Struktur auf. In deren Mittelpunkt steht mit Zarathustra eine einende Zentralfigur und die Geschichte ihres Wirkens. Umstritten ist freilich, ob es sich hierbei ledig-

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lich um eine äußerliche Klammer, „ein Gefäß für tausend Inspirationsmomente“ (Bertram 1920, 233) handelt oder um den „fiktionalen Kern des Werks“ (so dezidiert Fricke 1984, 120). Zweitens ist Za noch stärker durch das Moment der Gattungsmischung bestimmt als dies für andere Werke N.s gilt. Der Text präsentiert sich als ein hybrides Gebilde, das unterschiedliche Textsorten und Stillagen zusammenführt und sich damit jeder Zuordnung entzieht. Die Singularität betonte Alfred Baeumler, nach dessen Worten Za eine Gattung begründe, „die nur ein einziges Exemplar“ (Baeumler 1930, 409) aufweise. Für diese Form gibt es also kein Vorbild, sie oszilliert nicht nur zwischen Philosophie und Dichtung, Lehre und Fiktion, sondern auch zwischen den drei Großgattungen Epik, Lyrik und Dramatik. Überdies vereint der Text in sich verschiedene Kleingattungen: Fabel und Gleichnis, Sentenz und Aphorismus, Gedicht und Dithyrambus. Za II und III enthalten Passagen, die explizit als Lieder bezeichnet werden und/oder in Vers- und Strophenform dargeboten sind. Und Za IV schließlich integriert drei Gedichte, die N. Jahre später in überarbeiteter Form in den im Sommer 1888 zur Publikation vorbereiteten Zyklus der Dionysos-Dithyramben aufnahm: „Wer wärmt mich, wer liebt mich noch?“ (später als DD Klage der Ariadne), „Bei abgehellter Luft …“ (später als DD Nur Narr! nur Dichter!) und „Die Wüste wächst …“ (später als DD Unter Töchtern der Wüste). Derart wird die Grenzziehung zwischen Prosa und Lyrik in Za verunmöglicht. Zarathustras Rede nähert sich an vielen Stellen der Lyrik an und erscheint am Ende von Za III explizit ins „[S]ingen“ (275, 16) gewendet. Mit dieser Aufhebung der Dichotomie von Prosa und Poesie wurde N. zum „große[n] moderne[n] Vorbild für eine gelungene Fusionierung von Vers und Prosa im Stil erhabener Sprache“ (Bunzel 2005, 352). Der Za-Text spielt mit dem Gattungsbewusstsein und dem Erwartungshorizont seiner Leser. Ist es in der Regel der Autor selbst, der eine eindeutige Gattungsbestimmung seiner Werke vornimmt und sie damit zugleich in eine Tradition einordnet, die den Rahmen abgibt für ihr Verständnis, so verhält sich dies im Fall von Za anders. N. bezeichnet sein Werk abwechselnd als einen dithyrambischen Gesang (vgl. KSA 6, 305, 5), eine Symphonie, ein neues heiliges Buch, eine „Bibel der Zukunft“ (KSA 15, 188) oder auch als Dichtung. Kurz nach Abschluss des ersten Teils schreibt er am 2. April 1883 an Heinrich Köselitz: „Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser ‚Zarathustra‘? Ich glaube beinahe, unter die ‚Symphonien‘.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 397, S. 353, Z. 39–41) Und nach Fertigstellung des dritten Teils fordert er am 6. Februar 1884 von seinem Verleger Ernst Schmeitzner bevorzugte Drucklegung, denn schließlich handle es sich „um das Finale“ seiner „Symphonie“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 485, S. 474, Z. 13). Hingegen hatte er Schmeitzner in einem Schreiben vom Februar 1883 noch wissen lassen: „Es ist eine ‚Dichtung‘, oder ein fünftes ‚Evangelium‘ oder irgend Etwas, für das es noch keinen Namen giebt: bei weitem das Ernsteste und auch Heiterste meiner Erzeugnisse, und Je-

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dermann zugänglich.“ (An Ernst Schmeitzner, 13. 02. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 375, S. 327, Z. 12–15) Auch wenn Gattungen historisch wandlungsfähige Systeme darstellen, kommt der Gattungszuordnung eine wichtige Orientierungsfunktion zu für den Umgang mit (literarischen) Texten. Sie eicht das Rezeptionsbewusstsein, indem sie die Spielregeln vorgibt, die für die literarische Kommunikation wesentlich sind. N.s eigene Kommentare haben wesentlich dazu beigetragen, dass diese Spielregeln im Fall von Za undeutlich und flimmernd erscheinen. Die Forschung hat auf die Verunsicherung der Gattungszuordnung mit disparaten Klassifikationsversuchen reagiert, aber auch mit zahlreichen Zwitterkonstruktionen. So ordnet Wilhelm Dilthey Za einer Gattung des „philosophischen Romans“ in der Nachfolge von Hölderlins Hyperion zu (Dilthey 1922 [1906], 396); Rüdiger Görner spricht von einem „hybriden Entwicklungsroman“ (Görner 2015, 39). Karl Löwith will in Za ein „durchdachtes System von Gleichnissen“ sehen, das „Nietzsches ganze Philosophie“ (Löwith 1987, 175) enthält. Für Fritz Martini ist der Zarathustra eine „neue Form der Gedankendichtung“ (Martini 1954, 7), für Hans-Georg Gadamer eine „lange Abfolge vielfältiger Parodien“ (Gadamer 1986, 3) und für Werner Stegmaier eine „episch-dramatisch-lyrische Lehrdichtung“ (Stegmaier 2011, 160). Winfried Happ spricht von einer „moderne[n] Tragödie“ (Happ 1984 90), Christian Niemeyer von einer „verquere[n], versponnene[n] Erzählung“ (Niemeyer 2009, 401), und Curt Paul Janz nimmt die von N. selbst befeuerten musikalischen Struktur-Assoziationen auf und erklärt Za zu einer Symphonie in vier Sätzen (vgl. Janz 1978, 2, 211–244; dazu auch Parkes 2008). Za konfrontiert seine Leser*innen durch die Annäherung an wechselnde Gattungsmuster mit den wechselnden Rezeptionsanforderungen dieser Gattungen und fordert dazu heraus, die Strategie im Umgang mit dem Text beständig zu ändern. Zittel 2021, 331 spricht davon, dass unterschiedliche Erzählelemente unterschiedliche Gattungserwartungen evozieren und derart „Einheitsfiktionen erzeugen, die sich wechselseitig wieder vernichten“. Als experimentelles „Form-Hybrid“ (Müller 2020, 71) erweist sich Za auch durch den Einbezug nicht-sprachliche Ausdrucksformen wie Gesang und Tanz. Damit zielt das Werk nicht bloß auf eine Transgression der literarischen Gattungsgrenzen, sondern sucht über die Grenzen der Sprache hinaus zu gelangen oder operiert doch wenigstens an ihren Grenzen. Als Metadichtung, die eine Vielzahl von Gattungen in sich aufhebt und von einem souveränen Verfügen über das Arsenal der Formen zeugt, löst Za auf formaler Ebene den Anspruch seines Autors auf Überbietung aller bisherigen Literatur ein. Völlig allein steht der Text damit jedoch nicht, vielmehr erinnert er in seiner gattungsmischenden Struktur an die romantische Universalpoesie und auch an Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks, das verschiedene Künste zur integralen Einheit zusammenführen wollte. Fricke 1984, 120 spricht deshalb gera-

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dezu von „Nietzsches Antwort auf Bayreuth“. Freilich gilt es zu bedenken, dass diese Antwort nicht nur inhaltlich, sondern auch der Form nach dann doch sehr verschieden ausfällt. Wagner forderte in Das Kunstwerk der Zukunft (1849) von dem „große[n] Gesammtkunstwerk“ nicht nur, dass es „alle Gattungen der Kunst zu umfassen“ habe, sondern auch, dass es seine Anstrengungen darauf richten müsse, „jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes aller“ (Wagner 1872, 3, 74). Ihm schwebte also die Zusammenführung der Künste zur integralen Einheit vor, wofür sich die Eigenständigkeit der einzelnen „Gattungen“ im synthetisierenden Gesamtkunstwerk auflösen sollte. Das aber entspricht gerade nicht dem gattungsmischenden Prinzip von N.s Za, das nicht darauf ausgerichtet scheint, die einzelnen Bausteine und Textelemente fugenlos miteinander zu verschmelzen, sondern im Gegenteil die Nahtstellen zwischen ihnen deutlich sichtbar hält. Die aufgerufenen Darstellungsformen und Gattungsmuster werden meist sehr schnell wieder ad acta gelegt, wodurch sie kenntlich werden als geborgte Formen, als Masken oder gar als parodistische Anverwandlungen. Insofern entspricht der Umgang mit den Gattungen und Genremustern formal dem Umgang mit den Quellen (vgl. ÜK 4), denn auch hier bilden Imitation und Brechung charakteristische Darstellungsverfahren. Hinzu kommt, dass auf unterschiedlichen Ebenen des Textes auch noch selbstreflexive und selbstaufhebende Strukturen eingebaut sind: Za bietet Reflexionen zur Dichtung (Za II Von den Dichtern), Gattungsreflexionen (über die Tragödie, über die Wirkung von Gleichnissen, über die Publikumswirksamkeit von Liedvorträgen) und Sprachreflexionen, die den Wahrheitsgehalt von Sprache grundsätzlich in Zweifel ziehen: „Wie lieblich ist es“, heißt es etwa am Ende von Za III, „dass Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und ScheinBrücken zwischen Ewig-Geschiedenem?“ (272, 13–15) Sogar die Frage nach der angemessenen Rezeption wird im Werk selbstreflexiv aufgeworfen und auch das in unterschiedlicher Weise. Wenn Zarathustra in Za I Vom Lesen und Schreiben erklärt, wer in „Blut und Sprüchen“ schreibe, der wolle „nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden“ (48, 13 f.), so liegt es nahe, darin eine Rezeptionsvorgabe für das Za-Werk selbst zu sehen. Eine fehlgehende Rezeption wird hingegen in Za IV vorgeführt, wo die höheren Menschen sich an Teilaspekte von Zarathustras Lehre klammern, die sie zitierend wiedergeben und in vereinseitigender Weise zur eigenen Lebensmaxime machen. Indem der Text seine Erzählweise und Darstellungsverfahren ausstellt, sie reflektiert und ihren Aussagewert in Zweifel rückt, erscheint er als ein höchst vielschichtiges, ja labyrinthisches Gebilde, dem keine klare Botschaft abzuringen ist. Als ein Werk, das es darauf anlegt, sich allen Festlegungen und Klassifikationsbestrebungen zu entwinden, fordert Za vielmehr dazu heraus, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet zu

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werden. Der Text unterliegt keinem festen Koordinatensystem, er entwirft keine stabile literarisch-fiktionale Welt, sondern das Bezugssystem erscheint schwankend und der integrale Werkzusammenhang fragwürdig. Das wiederum hat den Effekt, dass einzelne Bausteine sich aus dem Gesamtzusammenhang herauslösen lassen; das einzelne Kapitel, die einzelne Sentenz, das einzelne Sprachbild erhalten Eigengewicht. So entsteht, was Ernst Bertram als ein „flimmerndes Mosaikbild“ (Bertram 1920, 233) wahrnahm und mit dem Stempel „Dekadenzstil[.]“ versah: „das Ganze lebt überhaupt nicht mehr, es ist zusammengesetzt, künstlich, ein Artefakt“ (Bertram 1920, 232). Bestätigung scheint diese Einschätzung durch eine gängige Rezeptionspraxis zu erfahren, die sich auf kleine Textsegmente und einzelne Äußerungen kapriziert. So haben bestimmte Aussprüche Zarathustras herausgelöst aus dem Werkkontext eine erstaunliche Karriere erlebt, indem sie zu redensartlicher Münze wurden und bis heute in unterschiedlichsten Kontexten Verwendung finden. Das gilt etwa für den Ausspruch, „man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“ (19, 18 f.), der zum beliebten Motiv für Tassen und T-Shirts geworden ist; das gilt auch für den beschwörenden Hinweis auf die auf lautlosen „Taubenfüssen“ (189, 18) daherkommenden und die Welt lenkenden Gedanken; und nicht zuletzt gilt das für die berühmt-berüchtigte ‚Empfehlung‘ „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ (86, 18). Befördert wird eine solche auf den aus dem Kontext herausgelösten Ausspruch gerichtete Rezeptionsweise durch die Struktur zahlreicher Einzelkapitel, die sich (am stärksten ausgeprägt in Za I) aus Sentenzen bzw. Sprüchen konstituieren, die sich locker um einen gedanklichen Kern gruppieren, deren Verbindung untereinander aber oft assoziativ und sprunghaft ist. Deshalb hat man Za immer wieder N.s aphoristischem Werk zugeschlagen (vgl. Greiner 1972, 9 f.). Und das obwohl N. selbst darauf insistierte, dass es sich um eine „Dichtung und keine Aphorismen-Sammlung“ handle (an Franz Overbeck, 10. 02. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 373, S. 326, Z. 41 f.) und obwohl Za einen integrativ wirkenden narrativen Rahmen aufweist. Mit Blick auf die Gesamtstruktur von Za ist somit von einem Zusammenspiel integrierender und desintegrierender Tendenzen zu sprechen. Durch diese strukturelle Besonderheit, die Za von den anderen Werken N.s unterscheidet, ergeben sich Deutungszugänge auf unterschiedlichen Ebenen: ansetzend etwa bei einzelnen Textsegmenten und Kapiteln, aber auch bei werkintern übergreifenden Zusammenhängen.

6 Narrative Struktur und Komposition Die übergreifende narrative Struktur von Za stellt ein Kohärenz stiftendes formales Merkmal vor, das eine deutlich sichtbare Differenz zu N.s ‚aphoristischen‘ Werken markiert (zur Komposition vgl. Ottmann 2000). Ins Auge freilich sticht

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zunächst die Dominanz der Figurenrede. Denn Zarathustra tritt weniger als handelnde, sondern als sprechende Figur hervor; seine Reden stehen im Zentrum des Werks. Einem Nachlassnotat zufolge hat N. zunächst daran gedacht, Zarathustra seine Reden selbst aufzeichnen zu lassen, womit er das literarische Gedächtnis des eigenen Wirkens gestiftet hätte: „So oft ihn sein Geist trieb, gieng Zarathustra auf einen Berg und schrieb unterwegs seine Sprüche auf.“ (NL 1882/ 83, KSA 10, 4[204], 168, 10 f.) Im autorisierten Werk ist diese Idee dann fallen gelassen und überhaupt wird der Aspekt der Verschriftlichung bzw. Schriftlichkeit weitgehend verdrängt. Nur noch der Untertitel weist darauf hin, indem er vom Medium „Buch“ spricht, und nur indirekt erinnert eine Vielzahl poetologischer Äußerungen an den literarischen (und fiktionalen) Charakter des Werks. Tatsächlich vermittelt nicht Zarathustra selbst seine Geschichte, sondern eine Erzählerinstanz übernimmt diese Aufgabe und lässt ihn als Sprechenden hervortreten (zu Erzähler und Erzählweise siehe Pettey 1992, Zittel 2002 u. 2021). Derart schließt ein Erzählrahmen die einzelnen Kapitel zur narrativen Einheit zusammen und verleiht dem Text trotz seiner thematischen Vielfalt den Charakter eines geschlossenen fiktionalen Werks, indem er eine einende Klammer schafft, die Kapitel von höchst unterschiedlicher Thematik und Faktur miteinander verknüpft. Allerdings macht der Erzähler sich über weite Partien unsichtbar und scheint die Fäden aus der Hand zu geben. In den Vordergrund rückt dann die szenische Darstellung, und es dominieren dialogische, vor allem aber monologische Partien, die gestaltet sind als adressatenbezogene Reden oder als Selbstgespräche. So erklären sich die unterschiedlichen Gewichtungen in der Forschung, die wechselweise die narrative Geschlossenheit oder aber die ‚aphoristische‘ Offenheit des Za-Werks betonen. Ein weiteres wichtiges Stilmittel zur Erzeugung von Textkohärenz stellt die virtuos gehandhabte Leitmotivtechnik vor. Der Text konstituiert sich aus einem dichten Netz von Motiven, die über die vier Teile hinweg wiederholt und variiert, mitunter auch intensiviert und gesteigert werden. Bezeichnend dafür ist das Zentralmotiv des großen Mittags, auf das sich Zarathustra im Verlauf der Handlung immer wieder bezieht, wobei er den Eindruck vermittelt, der große Mittag rücke immer näher heran. Die herausragende Bedeutung des Strukturprinzips der Wiederholung betonte bereits Martini 1954. Harst 2017, 345 spricht von „obsessive[n] Wiederholungen“ und nach Ortlieb 2001, 236 lässt sich gar „der gesamte Text als Radikalisierung des Prinzips der Wiederholung auf unterschiedlichen Ebenen lesen“. Den Wiederaufnahmen kommt zunächst eine affirmative und suggestive Funktion zu; sie verleihen Zarathustras Lehren Nachdruck. Zu beobachten ist aber auch, wie Variation und Neukontextualisierung der Motive zu Bedeutungsverschiebungen führen, so dass ihnen kein fester Sinngehalt eignet, sondern ihre Bedeutung im jeweiligen Kontext neu zu bestimmen ist. Schließlich kommt es immer wieder vor, dass Textpartien unterschiedlicher und im Text weit voneinander ent-

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fernter Kapitel aufeinander Bezug nehmen und sich gegenseitig beleuchten. Bezeichnend dafür sind die beiden Tanzlieder, Za II Das Tanzlied/Za III Das andere Tanzlied, die schon allein durch die variierte Wiederaufnahme der Titelformulierung in einen Zusammenhang gerückt werden. Von strukturprägender und Zusammenhang stiftender Bedeutung ist nicht zuletzt die werkintern entfaltete Topographie, die der Handlung ein äußeres Gerüst vorgibt. Wo die Erzählerrede auf der Ebene der Narration als einende Klammer wirkt, bietet der Weg des Protagonisten auf der Handlungsebene einen roten Faden, der die verschiedenen Stationen von Zarathustras Wirken episodisch zusammenbindet (dazu Himmelmann 2000). Man mag hierbei an die Gattung des Bildungsromans denken (zu Za als Bildungsroman siehe Higgins 1987, 104) – schließlich gehören mit Gottfried Kellers Grünem Heinrich und Adalbert Stifters Nachsommer zwei prominente Vertreter dieses Genres zu N.s Lieblingslektüren –, und im Bildungsroman gibt der Weg, den der auf Wanderschaft befindliche Protagonist zurücklegt, ganz wie in Za, das zentrale Strukturmuster ab. Aber auch hier ist anzumerken, dass die Übereinstimmung nicht weit trägt. Denn während in den Romanen Kellers und Stifters die räumliche und gegenständliche Umwelt akribisch verzeichnet wird, belässt N. es bei der Nennung einzelner topischer Elemente. Za entwirft keine realistisch wirkenden Schauplätze, sondern symbolische Landschaften, die sinnerschließende Funktion erhalten im Hinblick auf Zarathustra und die Geschichte seines Wirkens. Dabei spielt die Gebirgslandschaft, die N. in Briefen als Inspirationsquell des Za-Werks aufruft (vgl. KSB 6/KGB III 1, Nr. 453; KSB 6/KGB III 1, Nr. 461), auch im Text eine wichtige Rolle. Sie gibt die Kulisse ab für Zarathustras Wirken, das ausgespannt ist zwischen den Bergeshöhen und den Niederungen der Täler, zwischen dem einsamen Eremitendasein in der Höhle und einem Leben inmitten der Menschen. Als weiterer wichtiger Handlungsort kommen die ins Utopisch-Unwirkliche entrückten „glückseligen Inseln“ hinzu, die den Schauplatz von Za II abgeben (hierzu NK 109, 1–9) und die die fiktive Topographie erweitern um Inseln und Meer sowie um das Motiv der Seefahrt, für das N. eine Vorliebe hegte. Obwohl mit dem Meer ein Symbol des Offenen ins Spiel kommt, entwirft Za eine geschlossene Welt, in der Zarathustra in zyklischer Wiederkehr die immer gleichen Schauplätze durchläuft und in der er am Beginn seine Einsiedlerhöhle verlässt, um am Ende von Za III wohl endgültig wieder zu ihr zurückzukehren. Dieser märchenhaft-mythisch abgezirkelten Welt entspricht die den zyklischen Wechsel betonende Zeit. Za spannt ein Netz aus von tages- und jahreszeitlichen Bildern und Erfahrungen, denen weniger eine konkrete als vielmehr eine symbolische Bedeutung zukommt. Durch sie werden Zarathustras Existenz und sein Handeln eingebettet in den Zusammenhang von Natur und kosmischem Geschehen und analogisierend mit dem Lauf der Gestirne und insbesondere der Sonne verknüpft. Der Sonnenlauf, der schon seit je in der Vorstellungskraft des Menschen

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eine beherrschende Rolle spielt (und auch der historische Zarathustra ist ja der Sonnensymbolik eng verbunden), bietet sich mit seinen wiederkehrenden Wendepunkten als Modell an für ein Dasein, das zyklischem Wechsel unterliegt. In diesem Sinne spricht Za von den Auf- und Untergängen Zarathustras, die in wechselndem Rhythmus Phasen seines Lebens als Einsiedler und solche seines Daseins unter den Menschen einleiten. Von Beginn an wird Zarathustras Existenz und seinem Wirken durch die Bindung an Tages- und Jahreszeiten eine zyklische Zeitstruktur unterlegt, was der freilich erst später ausdrücklich in das Werk eingeführten Denkfigur der ewigen Wiederkunft korrespondiert. Allerdings verschränkt der Text die zyklischen Strukturen in spannungsvoller Weise immer wieder auch mit teleologischen Denkund Argumentationsmustern, die für Zarathustras (prophetisches) Wirken zentrale Bedeutung erhalten, da sie ein Ziel zu entwerfen scheinen, auf welches er zusteuert. Neben der Idee des Übermenschen ist hier vor allem die Vision des großen Mittags zu nennen (vgl. dazu NK 102, 6–10), die für den exzeptionellen Moment einer Existenzwende einsteht und sowohl als feierlicher Höhepunkt als auch als apokalyptische Vision entworfen wird. Es dürfte deutlich geworden sein, wie schwierig die Frage nach der Gesamtkomposition des Za-Werks zu beantworten ist. Zahlensymbolische Überlegungen zur Bauform, wie sie Scheier 1985, 167–170 angestellt hat (vgl. dazu auch Ottmann 2000, 41), kranken prinzipiell daran, dass sich die Bauform von Za beständig gewandelt und verschoben hat. Die fortwährenden Veränderungen und Erweiterungen, denen N. den ‚Gesamtplan‘ von Za unterwarf, der sich zunächst lediglich auf das im Februar 1883 veröffentlichte Werk (Za I) beschränkte, lassen nicht erwarten, dass Za in seinen vier Teilen eine geschlossene konzeptionelle Einheit vorstellt. Jedoch deuten die zahlreichen Anknüpfungen und Wiederaufnahmen, welche die vier Teile miteinander verklammern, darauf hin, dass N. den Werkzusammenhang nie aus den Augen verlor und sich bei seinen Erweiterungen zugleich auch um kompositorische Rundung bemühte. So weist das Ende von Za IV mit dem Motiv der „Morgensonne“ (408, 22) zurück auf den Beginn des Werks, auf die Apostrophe der Sonne im ersten Abschnitt von „Zarathustra’s Vorrede“, wodurch, wie schon Gustav Naumann bemerkte, „das Ganze, obwohl Torso, der Form nach doch einen abrundenden Abschluß erhalten hat, eine Art R i n g bildet“ (Naumann 1899–1901, 1, 93). In einem Brief an Heinrich Köselitz hob N. selbst die Kreisstruktur und ringkompositorische Anlage von Za I und Za II hervor: „Daß der erste Theil einen Ring von Gefühlen umfaßt, der für den Ring von Gefühlen, die den zweiten Theil ausmachen, eine V o r a u s s e t z u n g ist – auch das erscheint mir leicht erkennbar und ‚g u t gemacht‘, um wie ein Tischlermeister zu reden.“ (Ende August 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 460, S. 442, Z. 35–38) Im Übrigen gilt auch für einige der Einzelkapitel, dass sie Geschlossenheit erlangen durch eine zyklische Anlage, derart, dass sie eingangs geäußerte Gedanken oder Formulierungen

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abschließend nochmals aufnehmen (das gilt etwa für Za II Von grossen Ereignissen und insbesondere für die lyrische Anlage von Za III Die sieben Siegel, wo jeder Abschnitt refrainartig mit demselben Vers endet). Anzumerken ist aber auch hier die große Bandbreite: Während einige der Kapitel durch kunstvoll gebaute Rahmenkonstruktionen geprägt sind, folgen andere einem eher schlichten Reihungsprinzip. Resümierend lässt sich festhalten, dass Za in seinen vier Teilen, abgesehen von der Ausrichtung auf die einende Zentralfigur Zarathustra, eine ganze Reihe strukturierender Momente aufweist, die eine einheitliche Komposition des Werks suggerieren. Dazu gehören insbesondere das die vier Teile überspannende Geflecht von Leitmotiven, die erwähnten ringkompositorischen Strukturelemente und die topographische Geschlossenheit des Handlungsraums. Trotzdem lässt sich das über verschiedene Entstehungsphasen hinweg gewachsene Za-Werk schwerlich auf eine einheitliche Gesamtkonzeption beziehen. Das gilt auch dann, wenn man den vierten Teil außen vorlässt, dem in vieler Hinsicht eine Sonderrolle zukommt und dem einige Interpreten daher einen autonomen Werkstatus zuerkennen (vgl. dazu NK 4/2, S. 422 f.). Schon die ersten drei Teile sind stilistisch und konzeptionell durch Dynamik und Veränderlichkeit geprägt. Stil und Darbietungsweise wandeln sich bis zum Ende von Za III in eklatanter Weise, und es gehen damit deutliche inhaltliche Umakzentuierungen einher, die sich nachdrücklich im konzeptionellen Wandel von Zarathustras Rolle manifestieren. Erprobt sich Zarathustra in Za I zunächst als ein Lehrer des Volks, später dann als ein neuer oder ‚verkehrter‘ Jesus, der seine Botschaft im Kreis seiner Jünger an den Mann zu bringen sucht, so wendet er sich am Ende von Za III von aller menschlichen Gesellschaft ab und gibt in lyrisch hochgestimmter Form Auskunft über sein eigenes Verhältnis zum Dasein. Aus dem Redner und demagogischen Volksaufrührer ist dann ein Sänger geworden. Somit stellt Za den interessanten Fall eines Werks vor, das über seine Entstehung hinweg fortwährenden und gravierenden konzeptionellen Verschiebungen unterliegt. Fast alle wesentlichen werkkonstituierenden Parameter erscheinen dem Wandel unterworfen: Das betrifft Stil und Darbietungsform ebenso wie die Funktion des Erzählers und die Rolle des Protagonisten. Zu erinnern sind hierbei die Entstehungsumstände und vor allem N.s eigentümliche Produktionsweise, da er, während er an Za arbeitet, nicht nur immer wieder Aufzeichnungen zu anderen Werkplänen macht, sondern das Za-Werk offen hält für neue Einfälle und sich wandelnde Aussageintentionen. Der Nachlass bietet nicht allein Einblick in die Vielfalt der erwogenen Optionen zur Weiterführung des Werks (wobei insbesondere der Tod Zarathustras immer wieder skizziert wird), sondern ermöglicht auch nachzuverfolgen, wie N. wichtige Veränderungen erst unmittelbar vor der Erstellung des Druckmanuskripts vornimmt (so etwa, wenn er das Wiederkunfts-Bekenntnis in Za III Der Genesende nicht von Zarathustra

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sprechen lässt, sondern es kurzentschlossen Zarathustras Tieren in den Mund legt; vgl. NK 4/2, 276, 26–277, 5). So korrespondiert, um es pointiert zu formulieren, N.s Festhalten am Za-Werk dessen nicht festgelegter Charakter.

7 Leitgedanken In den der Arbeit an Za vorausgehenden sechs Jahren von 1876 bis 1882 verfasste N. seine großen ‚Aphorismenbücher‘, in den nachfolgenden sechs Jahren von 1883 bis 1889 legte er neben den erweiterten Neuauflagen früherer Werke jene Spätschriften vor, die Podach 1961 unter dem Titel Nietzsches Werke des Zusammenbruchs publizierte. Tatsächlich bietet der Za-Text einerseits die radikalisierende Weiterentwicklung wesentlicher Gedanken von N.s bisheriger Philosophie und stellt andererseits neue Konzepte leitend heraus. Anknüpfend an M und FW führt Za das Programm einer Umwertung der Werte fort. Indem das Werk die Relativität der nur scheinbar zeitlos gültigen moralischen Werte Gut und Böse nachdrücklich herausstellt, bildet es einen wichtigen Baustein in N.s Kritik der Moral, die über M und FW bis ins Spätwerk reicht. Zielscheiben von Zarathustras Reden sind Platon und Kant, das zentrale Feindbild jedoch ist das als leib- und sinnenfeindlich geschmähte Christentum und die metaphysische Verankerung der Moral im christlichen Glauben. In einem Brief vom 26. August 1883 betont N. die Stoßrichtung gegen das Christentum und bezeichnet Za als den „längst verheißenen ‚Antichrist‘, als ein „A t t e n t a t gegen das Christenthum“, wie es seit Voltaire nicht mehr vorgekommen sei (an Franz Overbeck, KSB 6/KGB III 1, Nr. 458, S. 438, Z. 33–35). Mit dem Tod Gottes nimmt Za einen Gedanken auf, dem bereits in FW und auch schon in M wichtige Bedeutung zukommt. Und bereits dort erscheinen Glaubensverlust und Negation Gottes in zeitliche Distanz gerückt, indem sie als Gegenstand einer historisch verfahrenden Religionskritik in den Blick geraten: „Ehemals suchte man zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, – heute zeigt man, wie der Glaube, dass es einen Gott gebe, e n t s t e h e n konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat: dadurch wird ein Gegenbeweis, dass es keinen Gott gebe, überflüssig“ (KSA 3, 86, 24–28). Während FW 125, „D e r t o l l e M e n s c h“, die Loslösung von dem alten Gottesglauben auf die Formel „Gott ist todt“ (KSA 3, 481, 15) verdichtet, begegnet Zarathustra, der sich anschickt, den Menschen die Botschaft des Übermenschen als Ersatz für den toten Gott zu überbringen, gleich auf der ersten Station seines Weges einem alten Einsiedler, der in seiner anachronistischen Existenz „noch Nichts davon gehört“ hat, „dass G o t t t o d t ist!“ (14, 6 f.). Doch Za ist nicht nur durch gedankliche Kontinuitäten, durch wiederkehrende Leitbegriffe und Grundvorstellungen mit N.s mittlerer Werkphase verknüpft, sondern es treten zugleich auch Leitkonzepte und -begriffe neu ins Licht oder

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erfahren erstmals eine eingehendere Bestimmung. Wesentlich für die Popularität von Za ist die verbreitete Auffassung, wonach dieses Werk in gedrängter Form die vermeintlichen Hauptlehren N.s enthält. Gemeint sind damit in erster Linie der Gedanke des Übermenschen und die Vorstellung der ewigen Wiederkunft, ferner auch die ‚Lehre‘ vom Willen zur Macht. Freilich bedeuten diese Ideen keinen prinzipiellen gedanklichen Neuansatz, sondern reichen, wie der Nachlass zeigt, entstehungsgeschichtlich in die Zeit vor Za zurück. Die ewige Wiederkunft tritt überdies bereits in FW 341 ins Zentrum, erhält in Za dann jedoch werkübergreifende und werkstrukturierende Bedeutung, indem sie unmittelbar mit der Geschichte des Protagonisten verflochten wird. Dass diese drei ‚Lehren‘ – Übermensch, ewige Wiederkunft, Wille zur Macht –, denen in Za eine jeweils ganz verschiedene Rolle und Tragweite zukommt, eine neue Phase in N.s Philosophie einläuten, ist in der Forschung unumstritten, allerdings existieren unterschiedliche Vorschläge, was ihre Gewichtung und Relationierung betrifft. Und auch wenn Zarathustra selbstbewusst als Lehrer des Übermenschen und punktuell auch als Beschwörer der ewigen Wiederkunft auftritt – die Form der textuellen Darbietung versieht diese ‚Lehren‘ mit Fragezeichen. Im Mittelpunkt von Za steht Zarathustra als ein Lehrer und prophetischer Verkünder, der in seinem Wirken hinterfragt wird und sich in seiner Vermittlungsfunktion immer wieder selbstkritisch reflektiert. In diesem Sinn betont Josef Simon, das Za-Werk enthalte „dem Inhalt nach in den vier Teilen zwar die sogenannten ‚Lehren‘, die Lehre vom ‚Willen zur Macht‘, von der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘, vom ‚Übermenschen‘ und vom ‚Tode Gottes‘, aber es relativiert sie als Zarathustras Lehren‘“ (Simon 2000, 247). Werner Stegmaier spricht gar von „Anti-Lehren“, von „Lehren gegen das Lehren, […] die die Unmöglichkeit des Lehrens über die Distanz des Verstehens hinweg deutlich machen“ (Stegmaier 2000a, 194). Und für Christian Klein 2014, 164 kann Zarathustra schon deshalb „kein philosophischer Lehrer im engeren Sinne sein“, weil seine Lehre nicht systematisch und fixierbar sei, sondern auf plötzlichen Eingebungen, insbesondere auf dem „aufblitzenden Gedanken“ (ebd., 165) der ewigen Wiederkunft fuße. Nicht vergessen sollte man, dass Zarathustra nicht nur als Künder der drei ‚Großlehren‘ auftritt, sondern die Rolle des Lehrers in ganz unterschiedlichen Kontexten beansprucht. So lehrt er etwa „den Freund“ (78, 24), den Tod zur „rechten Zeit“ (93, 3), die „Lehre von Wille und Freiheit“ (111, 16 f.), die „Lehre vom Leben“ (129, 32); er lehrt den Zufall und die Unmöglichkeit der Vernunft (vgl. 209, 12–23) und nicht zuletzt will er die Menschen das Fliegen lehren (vgl. 244, 27–29). Gemeinsam ist allen diesen ‚Lehren‘, dass sie auf Veränderung abzielen, dass sie Impulse vermitteln wollen für eine Neuordnung der Gesellschaft und eine neue Form des Menschseins – doch auf einen Nenner bringen lassen sie sich nicht. Viel eher lassen sie Zarathustra als einen „widerspenstige[n], inkonsequente[n]

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Lehrer“ (Mahlmann-Bauer 2021, 60) erscheinen, der fortwährend neue Lehren verkündet und sich dabei implizit, mitunter auch explizit von den früher geäußerten distanziert. Das gilt in unterschiedlicher Weise auch für die drei ihm von großen Teilen der Forschung zuerkannten ‚Hauptlehren‘. Der Übermensch: N.s eigentümliche Schaffensweise hat dazu geführt, dass die Grenzen zwischen den Einzeltexten durchlässig erscheinen. Entsprechend sind auch seine zentralen Konzepte und Ideen in der Regel nicht an ein einzelnes Werk gebunden, sondern greifen aus über verschiedene Werke oder Textgruppen. Der Idee des Übermenschen kommt in dieser Hinsicht insofern ein Sonderstatus zu, als sie stärker auf ein bestimmtes Werk zentriert ist als das sonst bei N. zumeist der Fall ist. Die Überlegungen zum Übermenschen gehören nämlich überwiegend dem Entstehungsumkreis von Za an; sie finden sich im Werk selbst sowie den im Za-Nachlass überlieferten Skizzen und Vorstufen (vgl. hierzu ÜK Za I Vorrede 3 u. Haase 1984). Schon gleich in „Zarathustra’s Vorrede“ stehen die einzigen zusammenhängenden Ausführungen zum Übermenschen innerhalb von N.s Werk. Die Vorrede bildet die Schlüsselpartie und den Ausgangspunkt für die so populär gewordene Idee, deren Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart reicht. Durch ihre Aufnahme in den Werkkontext von Za werden diese Passagen zum integralen Bestandteil der fiktiven Handlung. Sie sind Zarathustra als einheitlicher Sprechinstanz zugeschrieben, der sich den auf dem Marktplatz versammelten Menschen als Lehrer des Übermenschen präsentiert und sie mit seinen Reden für seine Vision zu gewinnen sucht. Dabei ruft er mit dem Übermenschen keine konkrete Utopie eines neuen Menschen aus, sondern fordert den Aufbruch zu einer gesteigerten Form des Daseins, die den Menschen der Gegenwart überwinden will und auf einen offenen Horizont, einen unbegrenzten Möglichkeitsraum zielt. Zarathustras Entwurf des Übermenschen ist gekennzeichnet durch eine Prozesshaftigkeit, die in den Blick genommen wird als ein unablässiges Überwinden, das auf kein konkretes Ziel, auf keinen Endzweck zuläuft, sondern sich realisiert als permanentes Progredieren (vgl. zum Übermenschen ÜK Za I Vorrede 3 u. NK 14, 13). Zu dieser Offenheit und Unbestimmtheit kommt noch hinzu, dass die ‚philosophische Lehre‘ vom Übermenschen von Anfang an in starker Brechung erscheint, tritt doch Zarathustra in der Vorrede nicht bloß als Verkünder und Lehrer des Übermenschen auf, sondern als jemand, der in dieser Rolle scheitert, da er kein Gehör findet. Überdies dokumentiert der Za-Text über die verschiedenen Teile hinweg das Erkalten von N.s Interesse am Übermenschen, der zwar bis in Za IV erinnert wird, aber dort längst nicht mehr im Zentrum steht. Bereits Za II Von den Dichtern beleuchtet die Idee des Übermenschen aus selbstreflexiver ironischer Distanz (vgl. dazu NK 164, 30–34). Der Gedanke der ewigen Wiederkunft: Auf die herausragende Bedeutung der ewigen Wiederkunft – der Vorstellung einer endlosen zyklischen Wiederkehr

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nicht nur aller Dinge, sondern auch aller Einzelleben – für Konzeption und Struktur seines Za weist N. selbst nachdrücklich hin. Aus der Retrospektive von EH erklärt er die Idee der ewigen Wiederkunft zur „Grundconception“ (EH Za 1, KSA 6, 335, 5) und zum „Grundgedanken des Zarathustra“ (ebd., 336, 9 f.). Als Ursprung von Za erinnert er dort ein an die Gebirgslandschaft von Sils Maria gebundenes Inspirationsmoment, das ihm den Gedanken der ewigen Wiederkunft vermittelt habe: „Die Grundconception des Werks, der E w i g e - W i e d e r k u n f t s G e d a n k e, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: ‚6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit.‘ Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.“ (KSA 6, 335, 4–12) Gestützt wird die retrospektive Schilderung der WiederkunftsEingebung durch eine erhaltene Aufzeichnung, bei der es sich um eben das „Blatt“ handeln dürfte, von dem EH spricht, denn es trägt die Unterschrift: „Anfang August 1881 in Sils-Maria, / 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen / menschlichen Dingen!“ (NL 1881, KSA 9, 11[141], 494, 19–21) Auf dieser Manuskriptseite findet sich zum ersten und einzigen Mal in N.s gesamtem Werk die so populär gewordene Formel von der (ewigen) „Wiederkunft des Gleichen“, die festgehalten ist als Titel für ein projektiertes Werk (siehe NL 1881, KSA 9, 11[141], 494, 1), das N. dort auch sogleich in fünf Punkten skizziert. Zwar hat er diesen Plan nicht realisiert und überhaupt nie eine eigene Schrift über die ewige Wiederkunft verfasst, dennoch hat das dort zur Wiederkunft Notierte deutliche Spuren in zwei seiner publizierten Werke hinterlassen, nämlich in FW 341 und in Za. Das gilt vor allem für den fünften und letzten Teil des Entwurfs von 1881, der festhält: „Das neue S c h w e r g e w i c h t : d i e e w i g e W i e d e r k u n f t d e s G l e i c h e n. Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen’s, Irren’s, unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste unseres Lebens – wir, die wir den grössten Theil desselben in der wesentlichsten Unwissenheit verbracht haben? Wir l e h r e n d i e L e h r e – es ist das stärkste Mittel, sie uns selber e i n z u v e r l e i b e n. Unsre Art Seligkeit, als Lehrer der grössten Lehre.“ (Ebd., 494, 10–18) Deutlich erkennbar legt die Skizze den Schwerpunkt nicht auf den Wiederkunftsgedanken selbst, sondern auf seine Bedeutung für die menschliche Existenz. Das erweist sich als maßgeblich für die Thematisierung der Wiederkunft in FW und in Za: Erwägt schon FW 341 die ewige Wiederkunft als Herausforderung und Bürde für das menschliche Dasein, so ist es in Za Zarathustra selbst, der sich dem Gedanken der ewigen Wiederkunft aussetzt, an ihm leidet, ihn aber auch herausfordert und zu bewältigen versucht. Und auch die Vorstellung, dass die Wiederkunftslehre am besten anzueignen wäre, indem man als ihr Lehrer, als

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„Lehrer der grössten Lehre“ (ebd., 494, 18) auftritt, hat in Za einen Reflex erfahren, rufen doch Zarathustras Tiere ihm in Za III Der Genesende zu: „du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft“ (275, 29 f.) – eine Rolle, die er jedoch an keiner Stelle aktiv ausfüllt und von der überdies ungewiss ist, ob er selbst sie sich überhaupt zurechnet, was in der Forschung zu anhaltenden Kontroversen Anlass gegeben hat (vgl. dazu NK 4/2, 275, 28–30). Im Spannungsverhältnis zur großen Bedeutung, die der ewigen Wiederkunft sowohl von N. selbst als auch von der Forschung für das Za-Werk zugeschrieben wird, steht zudem der Befund, dass der vermeintliche „Grundgedanke“ im Text eine weitaus geringere Präsenz erhält als das Konzept des Übermenschen. So ist der Terminus „ewige Wiederkunft“ in Za ganz im Gegensatz zu dem des „Übermenschen“ nur sporadisch und insulär anzutreffen. Um es in nackten Zahlen auszudrücken: 48 Okkurrenzen des „Übermenschen“ stehen nur vier der „ewigen Wiederkunft“ gegenüber, die sich noch dazu alle im selben Kapitel, in Za III Der Genesende finden (siehe dazu NK 4/2, 274, 32–34). Handelt es sich bei der Ausrufung der Wiederkunft zur „Grundconception“ des Werks also womöglich um eine gewaltsame retrospektive Umdeutung N.s? Dass der Terminus in Za nicht einmal eine Handvoll Erwähnungen findet, ist für sich genommen noch kein hinreichendes Indiz für seine untergeordnete Rolle. Zu bedenken ist vielmehr der eigentümlich verhüllende Umgang, der Begriff und Idee der ewigen Wiederkunft im Text zuteilwird (vgl. dazu NK 4/2, 199, 18–20). Während der Übermensch gleich in der Vorrede zum anzustrebenden Ziel ausgerufen wird und in den späteren Partien dann eher in den Hintergrund tritt, gilt für die Idee der ewigen Wiederkehr, dass sie in den ersten beiden Teilen von Za lediglich subkutan präsent ist. Explizite Hinweise auf sie finden sich erst in Za III, aber auch da überwiegend in geheimnisvoller Verschleierung oder im Kontext (alp-)traumartiger Visionen. Präsentiert wird der Gedanke der Wiederkunft in Za nicht als theoretisches Konzept oder Lehre, wie man das von einem philosophischen Werk erwarten würde, sondern in dichterischer Form und immer schon in perspektivischer Brechung. Ähnlich umstritten wie die Frage, ob die ewige Wiederkunft tatsächlich den konzeptionellen Mittelpunkt von Za abgibt, ist die nach ihrer Vereinbarkeit mit der Idee des Übermenschen; auch hierzu gibt es von der frühen Rezeption an unterschiedliche Auffassungen. Einen geradezu zwingenden Zusammenhang zwischen der ewigen Wiederkunft und der Entwicklung des Menschen zum Übermenschen wollte Ernst Horneffer ausmachen. Für ihn sind Übermensch und ewige Wiederkunft „keine Gegensätze“, sondern „notwendige Gedanken e i n e s Menschen, e i n e r Philosophie. Sie bedingen einander“, denn, so Horneffers Argument: „Nur der vergrösserte Mensch, der Übermensch kann die ewige Wiederkunft wünschen, nur auf den Übermenschen können die Wirkungen der Lehre von der ewigen Wiederkunft hinauslaufen.“ (Horneffer 1900, 24) In diesem Sinn ließe sich

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ein Notat aus der Entstehungszeit von Za III verstehen, das den Wiederkunftsgedanken zum (menschenbildenden) Hammer erklärt: „Schluß von Zarathustra 3 ‚Herauf abgründlicher Gedanke! Jetzt bin ich dir gewachsen! ‚S t e i n - h a r t - m a c h e n. Du bist mein Hammer! –“ (NL 1883, KSA 10, 17[69], 559, 16–18) Der Übermensch wäre demnach das Ziel, und die Auseinandersetzung mit dem Gedanken der Wiederkunft diente der notwendigen Abhärtung, um dieses Ziel zu erreichen. Zu bedenken ist allerdings, dass es sich um strukturell kaum miteinander zu vereinbarende Denkmodelle handelt, die dem Menschen jeweils einen anderen Ort zuweisen: Während der Übermensch das Telos einer ersehnten menschlichen Entwicklung bezeichnet, legt die ewige Wiederkunft die menschliche Existenz auf einen deterministischen Kreislauf fest, aus dem es kein Entrinnen gibt (vgl. dazu NK 4/2, 276, 26–34). Der Wille zur Macht: In Za wird die Idee eines ‚Willens zur Macht‘ zum ersten Mal in einem von N. publizierten Werk sowohl erwähnt als auch eingehender expliziert. Dem so überaus wirkungs- und folgenreichen Konzept (vgl. Schmidt 2016) kommt allerdings im Werkzusammenhang von Za ein deutlich geringerer Stellenwert zu als dem Übermenschen und der ewigen Wiederkunft. Das zeigt sich schon daran, dass sich die Ausführungen zum Willen zur Macht im Wesentlichen auf ein einzelnes Kapitel konzentrieren, nämlich auf Za II Von der SelbstUeberwindung. Zwar findet sich die Formel vom „Willen zur Macht“ schon in früher entstandenen Nachlassnotaten und erwähnt wird sie auch in Za I Von tausend und Einem Ziele, doch erst „Von der Selbst-Ueberwindung“ stellt ihre Bedeutung als Zentraltrieb alles Seins nachdrücklich heraus. Erst dort präsentiert N. das Prinzip des Willens zur Macht, den Zarathustra, flankierend zu der zentralen Idee einer fortwährenden Selbstüberwindung des schaffenden Lebens, als „zeugende[n] Lebenswille[n]“ (147, 6) entwirft, der die Selbstüberwindung in Gang hält (vgl. NK 146, 11–13). Alle Moral und alle Wertschätzungen sind nach Zarathustra Ausfluss dieses Willens zur Macht und damit Ausdruck von Herrschaftsbestrebungen. Der besondere Dreh seiner Argumentation liegt darin, dass durch den Willen zur Macht letztlich alle Moral und alle Wertschätzungen auch wieder außer Kraft gesetzt würden, gehe doch mit ihm notwendig ein andauerndes Infragestellen und Neuentwerfen der Werte einher. Der Wille zur Macht ist also in Za II Von der Selbst-Ueberwindung als ein dynamisches Prinzip entworfen, das Stillstand verhindert und die permanente Schaffung neuer Werte gewährleistet. Im Fortgang seiner Reden kommt Zarathustra allerdings nicht mehr explizit auf dieses Prinzip zurück und unternimmt folglich auch keinerlei Anstrengung, den Willen zur Macht zu Übermensch und ewiger Wiederkunft in Relation zu setzen. Eine ganze Reihe von Interpreten allerdings trägt überall dort, wo vom Willen die Rede ist (zum Zentralbegriff des Willens und seiner Bedeutungsbreite vgl. NK 37, 4–7), den Willen zur Macht ein und entsprechend erkennen sie im Willen zur Macht eine den gesamten Za durchwaltende Grundvorstellung.

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8 N.s werkspezifische Äußerungen N. selbst lieferte zahlreiche Deutungen zu Za. Er hat das Werk und seine Hauptfigur geradezu mit Selbstaussagen umstellt und durch paratextuelle Kommentare nicht nur dafür gesorgt, dass es in vielfältiger Weise mit seinem gesamten Œuvre verflochten erscheint, sondern es immer wieder zum Zentrum seines Schaffens erklärt: „Innerhalb meiner Schriften steht für sich mein Z a r a t h u s t r a“ (EH Vorwort 4, KSA 6, 259, 15 f.). Nachdrücklich und beharrlich stellt N. bis in seine späten Aufzeichnungen hinein den besonderen Status und die Einzigartigkeit seines Za heraus und spart dabei nicht mit Superlativen. Er erklärt Za zum „ersten Buch[.] aller Jahrtausende“ (KSB 8/KGB III 5, Nr. 1158, S. 490, Z. 16 f.), zum „erste[n] Buch aller Bücher“ (KSB 8/KGB III 5, Nr. 1226, S. 563, Z. 9), zu seinem „grösste[n] Geschenk“ an die Menschheit (EH Za 4, KSA 6, 259, 19) und zu deren „tiefste[m] Buch“ (GD Streifzüge 51, KSA 6, 153, 16). Za sei das „entscheidendste Werk, das es giebt“ (KSB 8/KGB III 5, Nr. 1156, S. 488, Z. 67 f.), „ein non plus ultra“ (KSB 8/KGB III 5, Nr. 1181, S. 513, Z. 25). Gegenüber dem Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch, der in Schmeitzners Nachfolge die Rechte an Za erhalten hatte, wertete er es zu einer Art Stein des Weisen auf, zu einem Werk, das alle Erwartungen universalistisch zufriedenstelle – eine Lobeshymne, die in ihrer Verstiegenheit und angesichts der bis zu diesem Zeitpunkt gänzlichen Erfolglosigkeit und Unverkäuflichkeit von Za geradezu komisch wirkt: „ein Ereigniß o h n e G l e i c h e n in der Litteratur u n d Philosophie u n d Poesie u n d Moral usw. usw. Sie dürfen mir’s glauben, Sie glücklicher Besitzer dieses Wunderthiers!“ (KSB 7/KGB III 3, Nr. 740, S. 237, Z. 25–28) Wenn N. sich im Nachhinein an die Anfänge von Za erinnert, kommt er häufig auf die enge Gebundenheit an die Orte der Entstehung zu sprechen. Er betont dann die Inspiration durch die Gebirgswelt und hebt die zentrale Rolle des Engadins als „Geburtsstätte“ (an Heinrich Köselitz, 03. 09. 1883, KSB 6, Nr. 461, S. 444, Z. 22) seines „Höhenluft-Buch[s]“ (EH Za 4, KSA 6, 259, 19) hervor, dessen Leitgedanke ihm „Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen“ (ebd., S. 444, Z. 24–26) zuteil geworden sei. Za I und II, die in Genua und im Engadin entstanden, erklärt er zu „Licht- und heitererHimmel-Ausgeburten“ (an Elisabeth Nietzsche, Mitte August 1883 KSB 6/KGB III 1, Nr. 453, S. 431, Z. 18 f.). Auch spricht er Za wiederholt therapeutische Funktion zu und knüpft an die Entstehung des ‚Höhenluftbuchs‘ den eigenen psychischen wie physischen Aufschwung. Tatsächlich hatte die Arbeit an Za für N. kompensatorische Bedeutung, mit ihr verarbeitete er Erfahrungen von Isolation und Einsamkeit, sowie die Konflikte mit Schwester und Mutter, die das Scheitern seiner Freundschaft mit Paul Rée und insbesondere seiner Beziehung zu Lou Salomé begleiteten. In einem Briefentwurf an seine Schwester, die an der Trennung nicht ganz unbeteiligt war, notiert N. im Januar/Februar 1884: „von allen Bekanntschaften, die ich

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gemacht habe, ist eine der werthvollsten und ergebnißreichsten die mit L〈ou〉. Erst seit diesem Verkehre war ich reif zu meinem Z〈arathustra〉.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 481, S. 467, Z. 7–10) Überhaupt weist N. selbst immer wieder auf das autobiographische Substrat des Werks hin, das ja tatsächlich an nicht wenigen Stellen im Text durchschimmert. So schreibt er Heinrich Köselitz Ende August 1883: „Im Einzelnen ist unglaublich Vieles persönlich Erlebte und Erlittne darin, das nur mir verständlich ist“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 460, S. 443, Z. 54 f.). Elisabeth Nietzsche erklärt er am 29. August 1883: „fast hinter jedem Wort steht ein persönliches Erlebniß, eine SelbstÜberwindung ersten Ranges“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 459, S.439, Z. 26–28). Und Overbeck lässt er wissen, dass Za „deshalb ein u n v e r s t ä n d l i c h e s Buch ist, weil er auf lauter Erlebnisse zurückgeht, die ich mit Niemandem theile“ (05. 08. 1886, KSB 7/KGB III 3, Nr. 729, S. 223, Z. 23–25). Die Zweifel an der Verständlichkeit seines Werks haben für N. aber noch eine andere Dimension. Was ihn in seinen Kommentaren zu Za immer wieder beschäftigt, ist die Frage, ob und wie dieses Werk überhaupt angemessen aufgenommen werden könne. In der Genealogie der Moral will er niemanden als seinen „Kenner“ gelten lassen, „den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat“ (KSA 5, 255, 20 f.). An wen aber denkt er dabei? Er scheint keinen realen, sondern einen idealen Leser vor Augen zu haben, einen, der tief empfindend Za förmlich durchlebt und sich damit das Vorrecht erwirbt, „an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewissheit ehrfürchtig Antheil zu haben“ (KSA 5, 255, 22–25; vgl. dazu auch NK 5/2, 255, 18–25). Demnach führt die zunächst emotional aufwühlende, dann aber klärend und erweiternd wirkende Lektüre zurück auf den „halkyonisch“-windstillen Ursprung des Werks und ermöglicht es, an ihm teilzuhaben – der griechischen Mythologie zufolge lässt der Windgott Äolos zu Ehren seiner ertrunkenen und in einen Eisvogel verwandelten Tochter Halkyone während der Brutzeit der Eisvögel alle Winde ruhen. Will man jedoch der in EH festgehaltenen Leseerfahrung Glauben schenken, dann dringt N. selbst als Leser von Za nicht unbedingt zur inneren halkyonischen Windstille vor; dort nämlich bekennt er: „Wenn ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen Krampf von Schluchzen Herr zu werden.“ (KSA 6, 287, 6–9) Die Rezeptionsmodi, die N. für Za ausmalt und einfordert, sind für ein philosophisches Werk unkonventionell. In EH setzt er Verstehen und Erleben nicht allein in betonter Weise in eins, sondern charakterisiert Za als ein Werk, das den Verstehens- und Erlebenshorizont gegenwärtiger Leser übersteige und daher vielleicht gar nicht angemessen zu rezipieren sei: „Als sich einmal der Doktor Heinrich von Stein ehrlich darüber beklagte, kein Wort aus meinem Zarathustra zu verstehn, sagte ich ihm, das sei in Ordnung: sechs Sätze daraus verstanden, das heisst:

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e r l e b t haben, hebe auf eine höhere Stufe der Sterblichen hinauf als ‚moderne‘ Menschen erreichen könnten.“ (EH, KSA 6, 298, 25–299, 5) N. will die Lektüre seines Za als ein Privileg begreifen und sein Verständnis als eine ungeheure Auszeichnung. In diesem Sinn schreibt er am 18. Juli 1888 an Carl Fuchs: „Ich habe den Menschen das tiefste Buch gegeben, das sie besitzen, meinen Zarathustra: ein Buch, das dermaßen auszeichnet, daß wer sagen kann ‚ich habe sechs Sätze davon verstanden, das heißt erlebt‘ damit zu einer höheren Ordnung der Sterblichen gehört. – Aber wie man das büßen muß! abzahlen muß! es verdirbt beinahe den Charakter! Die Kluft ist zu groß geworden. Ich treibe seitdem eigentlich nur Possenreißerei, um über eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit Herr zu bleiben.‘“ (KSB 8/KGB III 5, Nr. 1064, S. 359, Z. 15–23) N. stilisiert Za zur Scheidemarke und erklärt seine Unverständlichkeit zum Indiz dafür, dass dieses Werk seiner Zeit voraus sei. Dieses Argumentationsmuster greift er im Vorwort seines AC nochmal auf, den er paradoxerweise denselben „Wenigsten“ oder vielleicht auch noch gar nicht existenten Leser*innen zueignet, die auch Zarathustra verstehen könnten: „Dies Buch gehört den Wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch Keiner von ihnen. Es mögen die sein, welche meinen Zarathustra verstehn: wie d ü r f t e ich mich mit denen verwechseln, für welche heute schon Ohren wachsen? – Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthu〈m〉 geboren.“ (KSA 6, 167, 2–6) Wie sein Protagonist Zarathustra begreift auch N. sich als Sänger im leeren Haus (vgl. 241, 22) und versucht die aktuelle Resonanzlosigkeit umzumünzen in ein Zeichen grandioser Zukünftigkeit. N. charakterisiert das Verhältnis von Za zu seinem übrigen Werk, indem er wiederholt auf zwei Metaphern zurückgreift, die, obzwar er sie in unmittelbarem Zusammenhang verwendet, in einem eher spannungsvollen Verhältnis zueinanderstehen: Zum einen deklariert er die übrigen Schriften in Bezug auf Za zum „Commentar“ und zum andern kürt er Za in architektonischer Bildlichkeit zur „Vorhalle“ seiner zukünftigen Philosophie. Diese Metaphorik wird in der späteren Za-Rezeption vielfach aufgenommen und dann ihrerseits unterschiedlichen Ausdeutungen unterzogen. Durch die Einstufung als Vorhalle zu einem erst noch zu errichtenden Hauptbau – man darf hier vielleicht an das repräsentative Vestibül herrschaftlicher Häuser denken – wird Za Schwellencharakter zugeschrieben und die Bedeutung, erster Vorklang des eigentlich Erstrebten zu sein. In diesem Sinn erklärt N. Malwida von Meysenbug Ende März 1884: „Haben Sie davon gehört, daß mein Zarathustra fertig ist? (in 3 Theilen – Sie kennen den ersten davon) Eine V o r h a l l e zu meiner Philosophie – für mich gebaut, m i r Muth zu machen.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 498, S. 490, Z. 42–44) Anfang Mai kommt er darauf zurück, indem er Meysenbug wissen lässt: „und jetzt, nachdem ich mir diese Vorhalle meiner Philosophie gebaut habe, muß ich die Hand wieder anlegen und nicht müde werden, bis auch der Haupt-Bau fertig vor mir steht“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 509, S. 499,

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Z. 19–22). Bereits rund drei Wochen zuvor skizzierte N. in einem Brief an Overbeck ein grobes Arbeitsprogramm für den ‚Bau‘ einer neuen Philosophie, die offenkundig interdisziplinär fundiert sein sollte: „Ich muß jetzt Schritt für Schritt durch eine ganze Reihe von Disciplinen hindurch, denn ich habe mich nunmehr entschlossen, die nächsten fünf Jahre zur Ausarbeitung meiner ‚Philosophie‘ zu verwenden, für welche ich mir, durch meinen Zarathustra, eine Vorhalle gebaut habe.“ (07. 04. 1884, KSB 6/KGB III 1, Nr. 504, S. 496, Z. 74–77) Im selben Brief betont N. aber nicht nur den Zäsur- und Übergangscharakter von Za als einer „Vorhalle“ zu Neuem, sondern exponiert auch die gedankliche Kontinuität mit den Werken der ‚freigeistigen‘ Periode, die sich einleitend, vorbereitend und kommentierend zu ihm verhielten: „Beim Durchlesen von ‚Morgenröthe‘ und ‚fröhlicher Wissenschaft‘ fand ich übrigens, daß darin fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathustra dienen kann. Es ist eine T h a t s a c h e, daß ich den Commentar v o r dem T e x t gemacht habe – –“ (ebd., S. 496, Z. 78–82). Wenige Wochen später, Anfang Mai, legt er Resa von Schirnhofer die Lektüre von Morgenröthe und Fröhlicher Wissenschaft ans Herz und setzt hinzu: „beide Bücher sind überdies Einleitungen und Commentare zu meinem Zarathustra“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 510, S. 502, Z. 13–15). Diese Metaphorik, die in irritierender Weise die Abfolge von Text und Kommentar auf den Kopf stellt, ist alles andere als selbsterklärend. Was also ist gemeint? Festhalten kann man zunächst, dass N. damit sowohl die unauflösbare Zusammengehörigkeit dieser Texte signalisiert als auch ihre qualitative Differenz: Wenn er den früheren Werken den Status von Kommentaren zuweist, die Za erläuternd vorbereiten, dann erkennt er letzterem eine höhere Dignität zu – so wie der Heiligen Schrift eine höhere Dignität zukommt als den vielen, ihr erläuternd gewidmeten Kommentaren. Zugleich darf man davon ausgehen, dass N. dem Handwerk des Kommentierens als Altphilologe eine gewisse Wertschätzung entgegenbrachte. Davon zeugt auch ein früher Brief, in dem er den „Commentar zur Apostelgeschichte“ als gelehrtes „Hauptwerk“ seines Freundes Franz Overbeck anpreist, der eine Professur für neutestamentliche Exegese und ältere Kirchengeschichte an der Universität Basel bekleidete (26. 04. 1873, an R. Wagner, KSB 4/KGB II 3, Nr. 305, S. 147, Z. 41 f.). Weshalb aber sollte unter N.s Werken gerade Za in besonderer Weise kommentierungsbedürftig sein? Nahe liegt hier der Gedanke an die poetische Faktur des Textes, an seine Symbol- und Gleichnissprache, die eine besondere Herausforderung für die Rezeption darstellt. In diese Richtung weist auch Heinrich Köselitz, der Za eine „Hieroglyphe“ nennt, „welcher von der flachen Weisheit des Tages her nicht beizukommen“ sei, woraus Köselitz dann die Empfehlung ableitet, „von Nietzsches Büchern den Zarathustra als letztes in die Hand zu nehmen“ (Gast 1930, 392). Nach Köselitz verhalten sich zu Za „alle vorhergehenden und nachfolgenden Schriften Nietzsches w i e K o m m e n t a r e z u m T e x t“ (ebd., 370).

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Überspitzt erscheint allerdings die Vorstellung einer nicht nur höheren, sondern alleinigen Erläuterungsbedürftigkeit von Za, für die N. einzutreten scheint. Er liefert damit eine recht gewaltsame Deutung des chronologischen Zusammenhangs seiner Werke, bei der er nachdrücklich die Priorität des Za-Werks zugrunde legt. In dem Moment, in dem er Za zum Gegenstand von Kommentierung erklärt, scheinen die anderen Werke in seinen Augen nicht nur selbst nicht kommentierungsbedürftig zu sein, sondern er ordnet sie funktional dem Dienst an Za unter. Man sollte dies freilich nicht für bare Münze nehmen und jedenfalls nicht zum Leitfaden der Interpretation machen, sondern als eine – aus der besonderen Hochschätzung von Za geborene – Möglichkeit auffassen, die Relation der eigenen Werke gedankenspielerisch in den Blick zu nehmen. Dass N.s experimentelles Denken auch vor der Deutung seiner eigenen Werke und ihren werkchronologischen Konstellationen nicht Halt macht, zeigt sich daran, dass er diese immer wieder neu und anders in den Blick nimmt. Von der Intention, die chronologische Zusammengehörigkeit der eigenen Werke aus origineller Perspektive pointiert zu beleuchten, zeugt die Inversion der eigentlichen Entstehungsabfolge von Werk und zugehörigem Kommentar, die N. bereits ein Jahr zuvor in einem Brief an Malwida von Meysenbug herausstreicht: „In der That habe ich das Kunststück (und die Thorheit) ‚begangen‘, die C o m m e n t a r e eher zu schreiben als den Text.“ (20. 04. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 404, S. 364, Z. 20–22) N. erhebt also den Anspruch, Schöpfer des auslegungsbedürftigen Werks und Auslegender in einer Person zu sein. Die Doppelrolle lässt es dann auch möglich erscheinen, den Kommentar dem Werk voran zu stellen – denn schließlich liegt beides in der Hand desselben Autors. Wenn N. schließlich auch noch JGB zum Za-Kommentar erklärt, scheint die ‚richtige‘ zeitliche Abfolge von Kommentar und zu kommentierendem Werk zwar wiederhergestellt, dafür erklärt er dann aber in verrätselnder Weise das Verständnis des Autors zur unabdingbaren Voraussetzung für das Verständnis dieses Kommentars: „Es ist eine Art von Commentar zu meinem ‚Zarathustra‘. Aber wie gut müßte man mich verstehn, um zu verstehn, in w i e f e r n es zu ihm ein Commentar ist!“ (an Reinhart von Seydlitz, 26. 10. 1886, KSB 7/KGB III 3, Nr. 768, S. 270 f., Z. 12–15) Diese Rückbindung des Verstehens an die für unhintergehbar erklärte Autorinstanz ist durchaus charakteristisch für N.s Bestreben, seine Werke nicht freizugeben, sie nicht der Deutungshoheit der Rezipienten auszuliefern. Vielmehr sucht er selbst die deutende Hand auf ihnen liegen zu lassen, indem er sie immer wieder in seine Einflusssphäre zurückholt und neu an seine Autorschaft anbindet: Er schreibt fort, schreibt um, überzieht das Geschriebene mit eigenen Interpretationen – und beansprucht derart Schaffender, Kommentierender und Auslegender in Personalunion zu sein. Beispielhaft zeigt sich dieses Bestreben, wenn er in EH seine eigenen Werke kommentiert. Besonders ausgiebig beschäftigt er sich dort mit Za, dem er eine

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werkgeschichtlich exzeptionelle Rolle zuweist. Auch bei diesen Passagen, die gerne zur Deutung von Za herangezogen werden, ist es geraten, sie nicht unreflektiert aufzugreifen, sondern sich ihre Deutungsstrategie bewusst zu machen. EH erzählt die „Geschichte des Zarathustra“ (KSA 6, 335, 4) in acht Abschnitten in einem Mix aus Autobiographisch-Entstehungsgeschichtlichem und einer Werkdeutung, die gespickt ist mit umfangreicheren Zitaten. Die Auswahl der Zitate zeugt von einem einseitig-selektiven Zugriff auf das Za-Werk. Sie ignoriert Za I mit der Ausrufung des Übermenschen und den Lehrmonologen und lässt auch den parodistischen vierten Teil links liegen, dessen Existenz EH zur Gänze verschweigt: „unter dem halkyonischen Himmel Nizza’s […] fand ich den dritten Zarathustra – und war fertig“ (KSA 6, 341, 14–16). Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf Za II und Za III und hier besonders auf Passagen, die Zarathustra als Einsamen und einsam Schaffenden zeigen und die Spannweite seines Empfindens und seine weltgestaltende Potenz ins Zentrum rücken. Umfangreich zitiert wird Za II Das Nachtlied, außerdem Partien aus Za II Von der Erlösung, aus Za II Auf den glückseligen Inseln sowie aus Za III Von alten und neuen Tafeln und Za III Die Heimkehr. Die Za werkgeschichtlich zugewiesene Bedeutung erscheint in EH noch gesteigert: So wird FW jetzt nicht mehr als Kommentar zu Za verstanden, sondern als Vorausdeutung auf die nahende Heraufkunft von „etwas Unvergleichlichem“ (KSA 6, 336, 7); und Za selbst wird nicht als „Vorhalle“ für Zukünftiges perspektiviert, sondern als ein tatsächlicher Gipfelpunkt von N.s Schaffen in den Blick genommen. Dabei ist die Verbundenheit von Autor und Werk durch die Leitmetapher von „Schwangerschaft“ (KSA 6, 336, 3) und Geburt bzw. „Niederkunft“ (KSA 6, 335, 25) als geradezu symbiotisch ausgewiesen. Zeugung und Geburt werden in EH auf ein Inspirationserlebnis bezogen, über das das Autor-Ich keine Gewalt zu haben erklärt: „Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt.“ (KSA 6, 339, 18–21) Derart erscheint die Werkentstehung nicht als aktiver Schaffensprozess, sondern ist vorgestellt als ein plötzliches Okkupiert-Werden durch den „Blitz des Zarathustra-Gedankens“ (KSA 6, 341, 10 f.), bei dem das hervorbringende Autor-Ich passiv bleibt. Za wird EH zufolge nicht geschrieben, sondern gefunden (vgl. 341, 11), oder nimmt gar überfallartig Besitz von seinem Erzeuger (vgl. KSA 6, 337, 15). Das so geschaffene Werk, das der Autor gebärend aus sich hervorgebracht haben will, ist als ein vorbehaltlos jasagendes, das Leben unbedingt akzeptierendes und begrüßendes charakterisiert, eine Lichtgeburt im Zeichen von Helligkeit, Südlichkeit, Leichtigkeit, inspiriert durch die Liebe zu Musik und Tanz. Und sein Protagonist, der nicht als Ausnahmegestalt, sondern als „Typus“ (KSA 6, 337, 15 u. 17) gefasst ist, wird zum Repräsentanten der „g r o ß e [ n ] G e s u n d h e it“ (KSA 6, 337, 19) erklärt, zu einem Produkt der Selbstüber-

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windung, abgetrotzt der Situation eines „Nothstand[s] ohne gleichen“ (KSA 6, 341, 32 f.) und in die Welt gesetzt als ein „‚trotzdem‘“, das sich über die „Ungunst der Verhältnisse“ (KSA 6, 337, 2 f.) erhebt. Beherrschende Züge von Za und seinem Protagonisten sind in dieser Selbstdeutung durchaus wiederzuerkennen, allerdings in verklärter und vereinseitigter Form. Die Gloriole des unbedingt Ja-Sagenden trägt Zarathustra im Werk nicht oder doch nur für einzelne Momente, stattdessen hadert er immer wieder mit seiner prophetischen Rolle und durchlebt tiefgreifende Krisen. In Za II Der Wahrsager muss sein Lieblingsjünger dem von Alpträumen geplagten Verkünder auf die Beine helfen und in Za III Der Genesende pflegen ihn seine Tiere – und nicht nur das: Lieblingsjünger und Tiere ergreifen in Zarathustras Namen das Wort und schwingen sich auf zu Sprachrohren ‚seiner‘ Botschaft, die derart nur aus ihrem Mund zu vernehmen ist. Und auch das große hymnische Ja-Sagen am Ende von Za III ist keineswegs ungebrochen, sondern steht unter dem Vorbehalt des Hypothetischen. Wie absichtsvoll EH am Bild des großen Bejahenden feilt, zeigt ein ‚kosmetischer‘ Eingriff in ein Zitat aus Za III Von alten und neuen Tafeln 19. Die zitierten Partien sind in EH zwar weitgehend wortgetreu wiedergegeben (vgl. KSA 6, 344, 19–32), sie lassen aber wegfallen, was sich in das intendierte Bild nicht fügen will, nämlich die Gefährdungen, von denen die „umfänglichste Seele“ laut Zarathustras Rede in „Von alten und neuen Tafeln“ bedroht ist. So blendet EH die von Zarathustra in grellen Farben ausgemalte Gefahr des Schmarotzer-Befalls aus, die in Za das eigentliche Zentrum des Redeabschnitts ausmacht (vgl. dazu NK 4/2, 261, 12–26).

9 Wirkungsgeschichte Der Philosoph Heinrich Rickert, der 1920 befand, Za werde „hauptsächlich von Deutschen gelesen“ und sei „wohl unübersetzbar“ (Rickert 1920, 25), griff mit dieser Einschätzung gründlich daneben. Za ist zweifellos dasjenige Werk N.s mit der stärksten internationalen Wirkung und es zählt zu den wenigen weltweit verbreiteten Texten der deutschen Philosophie und Dichtung (so schon Meyer 1906, 387). Eine unüberschaubare Vielzahl von Übersetzungen in Sprachen der ganzen Welt ermöglicht die immense Wirkung und legt gleichzeitig von ihr Zeugnis ab. 1920, als Rickert sein Unübersetzbarkeits-Diktum fällt, ist die Übersetzungsmaschinerie schon längst in vollem Gang. Erste Übersetzungsbemühungen setzen noch vor der Jahrhundertwende ein. In vielen Sprachen ist Za das erste Werk N.s, das durch Übersetzung zugänglich gemacht wurde. So in Frankreich, wo Za als EröffnungsWerk 1898 im Rahmen einer geplanten N.-Gesamtausgabe erschien, übersetzt von dem Elsässer Germanisten Henri Albert unter dem Titel Ainsi parlait Zarathoustra

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(vgl. Albrecht/Plack 2018, 212 f.). Ein italienischer Za erblickte unter dem Titel Cosi parlò Zarathustra 1899 das Licht der Welt (vgl. Fazio 2006, 115); in Spanien erschien 1900 die von Juan Fernández erstellte Übersetzung Así hablaba Zaratustra. Un libro para todos y para nadie; die erste englische Übersetzung legte Alexander Tille schon 1896 als achten Band seiner englischsprachigen Werkausgabe unter dem Titel Thus spake Zarathustra. A a book for all and none vor. Nach der Jahrhundertwende sprießen Übersetzungen in europäische Sprachen wie Pilze aus dem Boden. Die erste finnische Übersetzung stammt von 1907, was bemerkenswert erscheint, wenn man sich vor Augen hält, dass Kant erst ab 1922 ins Finnische übertragen wurde (siehe Kunnas 1987, 83). Man hat Za aber nicht nur ins Englische, Italienische, Französische, Spanische, Portugiesische, Niederländische, Russische und Polnische übersetzt (vgl. dazu die Einträge der Weimarer N.-Bibliographie), sondern alsbald auch in Sprachen anderer Kontinente, vornehmlich ins Arabische, Chinesische, Japanische, Koreanische und Iranische. Gerade auch im Iran als dem Herkunftsland des historischen Zarathustra fand Za starkes Interesse (vgl. dazu Ashouri 2006, 77–79). Die von Rickert angesprochenen großen Übersetzungshürden, die Stil und Sprache ja tatsächlich aufwerfen, wirkten sich also keineswegs lähmend aus, sondern gaben im Gegenteil Anlass zur Reflexion dieser Schwierigkeiten (vgl. dazu etwa Finke-Lecaudey 1993 u. Lewicka 1997) – und zu immer wieder neuen Anläufen sie zu überwinden. Allein für das Türkische sind zwischen 1934 und 2008 acht verschiedene Übersetzungen nachgewiesen (vgl. Sert 2008), und insbesondere werden bis heute immer wieder neue Übertragungen ins Englische unternommen, die dem Za-Stil auf unterschiedliche Weise gerecht zu werden versuchen. So tritt etwa die ambitionierte ‚poetische‘ Übersetzung von Thomas Wayne (2003) gegen die etablierte Übertragung von Walter Kaufmann (1954) an und setzt sich zum Ziel, rhetorisch-stilistischen Eigentümlichkeiten von Za und nicht zuletzt dem altertümlichlutherdeutschen Sprachstil ein adäquates englischsprachiges Äquivalent zu bieten. Erwähnenswert ist auch die mit einer umfangreicheren Einleitung zu Entstehung und Wirkungsgeschichte versehene französische Übersetzung Ainsi parlait Zarathoustra, die der französische Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt 1972 mit der Intention publizierte, das Werk von seiner ideologischen Inanspruchnahme und insbesondere von den nationalsozialistischen Zurichtungen zu befreien. Der Vergleich der vielen Za-Übersetzungen wäre eine große, nur im Verbund zu leistende Forschungsaufgabe, die nicht allein dem sprachvergleichenden Komparatisten reichhaltiges Anschauungsmaterial böte, sondern insbesondere in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht höchst aufschlussreich wäre, bilden die Übersetzungsleistungen doch die entscheidenden Ausgangspunkte für die weltweit sich vollziehende Aneignung von Za in unterschiedlichsten kulturellen Kontexten. Im Ausgang von den verschiedenen Übersetzungen und ihren Rezeptionen eröffnen sich spannende

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Fragen des Kulturtransfers, zumal es sich ja schon bei Za selbst um einen synkretistischen, Kulturen verschmelzenden Text handelt, dem aber gleichwohl die deutscheuropäische Perspektive N.s einbeschrieben ist. Mehr als jeder andere von N.s Texten war Za in der Rezeption wechselnden Zeitströmungen und Moden unterworfen. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass gerade das Werk, an das N. wohl am stärksten den Anspruch auf überzeitliche Geltung knüpfte, in der Rezeptionsgeschichte die größten Schwankungen erlebte und widersprüchlichste Echos hervorrief. Zahlreiche Intellektuelle zog das Werk in den Bann, einige von ihnen haben Za mit gänzlich unterschiedlichen Motiven zum Ausgangspunkt eigener Bestrebungen gemacht. Erinnert sei an die „großen Nietzsche-Exerzitien“ (Pornschlegel 2009, 223), denen sich Georges Bataille zwischen 1936 und 1945 unterzog und die sich gegen den herkömmlichen Umgang mit N. wandten, den Bataille als abtötendes Sektionshandwerk verachtete. Seine Absicht war es, N.s Werk von seiner faschistischen Vereinnahmung zu befreien, es lebendig zu halten und weiterzuführen. Ein aus heutiger Sicht befremdliches Dokument dieses Unterfangens ist Batailles Nietzsche-Memorandum (Mémorandum. Maximes et textes recueillis et présentés par Georges Bataille; in: Bataille 1999a, 9– 135), eine inmitten der Wirren des Kriegsendes entstandene ‚Gedenkschrift‘ zum 100. Geburtstag N.s am 15. Oktober 1944, die aus einer nur spärlich kommentierten Collage von N.-Zitaten besteht, die überwiegend Za entnommen sind und in neuer Gruppierung zur Lektüre dargeboten werden. Erinnert sei auch an Carl Gustav Jung, der sich schon als Student für N. begeisterte und aus der Beschäftigung mit seinen Schriften Unterfutter für seine analytische Psychologie bezog. Den Gipfelpunkt von Jungs Auseinandersetzung mit N. bildet das legendäre Seminar zu Za, das er in den Jahren 1934 bis 1939 mit jeweils ungefähr 50 Teilnehmern im Psychologischen Club Zürich abhielt (Jung 1989). Grundlegend für Jung ist ein Verständnis von Za als einer visionären Kunstschöpfung, in der er nicht (nur) ein Produkt des individuellen Schaffenstriebs sieht, sondern einen Ausdruck unbewusster kollektiver Erfahrung – Jung spricht von ‚Archetypen‘ (so Liebscher 2002, 235 f.; zu Jungs Za-Deutung vgl. auch Bishop 2017b, Domenici 2019). Jungs Za-Lektüren forschen also nicht nach philosophischer Erkenntnis, sondern suchen Residuen des kollektiven Unterbewussten in analytischen Interpretationen aufzuschlüsseln. Za wurden nicht nur gänzlich unterschiedliche Zugangsweisen zuteil, sondern es gingen mit ihnen jeweils auch ganz unterschiedliche Wertungen einher. Sie bewegen sich zwischen schwärmerischer Identifikation, der Anerkennung als einem literarisch-ästhetischen Werk von exzeptionellem Rang, philosophischer Wertschätzung, weltanschaulicher Inanspruchnahme – und schroffer Ablehnung. Als einer der schärfsten und öffentlichkeitswirksamsten Kritiker ist Thomas Mann aufgetreten, der N.s „Geschenk“ an die Menschheit (EH Za 4, KSA 6, 259, 19)

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in seinem Essay Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947) als künstlerisch misslungenes Produkt klappernder Rhetorik verspottet und seinen Protagonisten zu einem Produkt versagender dichterischer Gestaltungskraft erklärt, einem „gesichts- und gestaltlose[n] Unhold und Flügelmann“ (Mann 1948, 15). Manns Urteil ist nicht ohne Nachfolge geblieben, und so ist Za bis heute ein Werk, das polarisiert und in besonderem Maß zu Zu- und Abneigungsbekundungen herausfordert. N. selbst zeigte sich unmittelbar nach Abschluss von Za I durchaus unsicher über den Wert des Geschaffenen. Franz Overbeck sendet er am 22. März 1883 einen Brief aus Genua, in dem er, niedergeschmettert und in desolater Verfassung, seine ganze Existenz anzweifelt und auch sein jüngstes Produkt in die Tirade einbeschließt: „Aber das Schlimmste ist: ich begreife gar nicht mehr, w o z u ich auch nur ein halbes Jahr leben soll, Alles ist langweilig schmerzhaft degoutant. Ich entbehre und leide zu viel und habe einen Begriff von der Unvollkommenheit, den Fehlgriffen und den eigentlichen Unglücksfällen meiner ganzen g e i s t i g e n Vergangenheit, der über alle Begriffe ist. Es ist Nichts mehr gut zu machen; ich werde nichts Gutes mehr machen. Wozu noch etwas machen! – / Das erinnert mich an meine letzte Thorheit, ich meine den ‚Zarathustra‘ (Ist es jetzt deutlich zu lesen? Ich schreibe wie ein Schwein) Es passirt mir alle Paar Tage, daß ich es vergesse; ich bin neugierig, ob es i r g e n d e i n e n Werth hat – ich selber bin in diesem Winter unfähig des Unheils und könnte mich im allergröbsten Sinne über Werth und Unwerth täuschen.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 393, S. 348, Z. 10–23) Wie Balsam dürfte in dieser Verfassung das überschwängliche Lob von Heinrich Köselitz gewirkt haben, der zehn Tage später, am 2. April 1883, in seiner Antwort den sprachlichen und gedanklichen Reichtum des neuen Werks in höchsten Tönen preist und ihm die „Verbreitung der Bibel“ wünscht, zugleich aber auf die astronomische Langsamkeit von Rezeptionsprozessen hinweist: „Sie machen es mir mit jedem neuen Buch schwerer, nur auf die Ordnung der Buchstaben zu sehen! / Die prachtvolle Wendung Ihres Geistes, die Kraft Ihrer Sprache, die Fülle von Erfindung bis in’s Kleinste hinein, die Gluth und Majestät Ihrer Empfindung – machen mich staunen, regen mich auf, zittern in mir nach, soweit es mein Vermögen hergiebt. / […] Diesem Buch ist die Verbreitung der Bibel zu wünschen, ihr kanonisches Ansehen, ihr Commentarengefolge, auf dem dieses Ansehen zum Theil beruht. Aber ach – die langen Zeitstrecken! Es macht mich schon traurig, zu wissen, dass der nächste Venusdurchgang am 2. Juni 2004 Statt findet; wie traurig würde ich, wenn ich erführe, wann ihr Buch in der Verbreitung und dem Ansehen der Bibel stehn würde!“ (KGB III/2, Nr. 184, S. 359 f., Z. 3–20) Abgesehen von seinem engen Vertrauten Köselitz, den N. als Korrektor in die Abschlussarbeiten einbezog und der daher nicht als Außenstehender auf das Werk blickte, sondern sich wie ein Ko-Autor gefühlt haben dürfte, fielen die Reak-

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tionen freilich kühl aus. Interessant ist die Kritik der Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Helene von Druskowitz, deren persönliche Bekanntschaft N. im Herbst 1884 in Zürich machte. Sie wandte sich in ihrem 1886 erschienenen Buch Moderne Versuche eines Religionsersatzes kritisch gegen Za und wurde von N. denn auch in einem Brief an Carl Spitteler vom 17. 09. 1887 als „kleine Litteratur-Gans“ abgetan (KSB 8/KGB III 5, Nr. 914, S. 159, Z. 23). Druskowitz kreidet N. genau das an, worauf Köselitz‘ Lob zielt, nämlich die Orientierung an der Bibel und an deren anachronistischem Sprachstil, der zwar kraftvoll sei, den sie aber gerade deshalb dem verfeinerten modernen Menschen für inadäquat hält. In dem von ihr angestellten Vergleich mit Die Religion der Moral, einem Werk des amerikanischen Philosophen William Mackintire Salter (1853–1931), schneidet daher N.s Za deutlich schlechter ab: „Wir erwähnten bereits, daß Nietzsche mit diesem Werke offenbar ein neues Evangelium geschaffen zu haben glaubte und daß er darin selbst die Form der heiligen Bücher wiedergegeben hat, ohne daß wir dies billigen könnten. Wenn die alte Sprache auch den Vortheil einer größeren Wucht und Kraft bietet, so ist sie doch nicht fähig unsere modernen verfeinerten Empfindungen und Gedanken wiederzugeben. Wer sich deshalb dieser Sprache bedient, wird einer vergröbernden Rückwirkung auf seine Gedanken nicht entrathen /55/ können, wie sich auch in Nietzsche’s Werk nur zu deutlich zeigt. Da hat W. M. Salter in dem Buche, das wir bald besprechen werden, den Ton weit richtiger getroffen, in dem man heute eine Lehre vortragen muß, um die Herzen zu entflammen.“ (Druskowitz 1886, 54 f. = KGB III 7/2, 508) N. tut diese Kritik in einem Brief an Malwida von Meysenbug von Ende Februar 1887 als „altkluges Litteraten-Geschwätz“ ab, sieht aber, in Verallgemeinerung verfallend, bereits die Phalanx aller „weiblichen Federkiele“ gegen seine Brust gerichtet (KSB 8/KGB III 5, Nr. 809, S. 34, Z. 38–41). Demgegenüber wollte er knapp vier Jahre zuvor eine erste ablehnende Besprechung von Za I „von einem Christen und Antisemiten, und, sonderbarer Weise, im Gefängnisse entstanden“ (KSB 6/ KGB III 1, Nr. 457, S. 435, Z. 30 f.), noch als gutes Zeichen werten (diese Rezension ist bis heute nicht nachgewiesen und wurde N. möglicherweise von Schmeitzner privat zugesandt; so KGB III 7/1, 420). In ihr fand er, wie er in einem Brief vom 26. August 1883 gegenüber Köselitz bemerkt, seine Haltung gegenüber dem Christentum „gut und scharf begriffen“: „Hier, lieber Freund, so lächerlich es Ihnen vielleicht klingen mag, hörte ich zum ersten Male von außen her, was ich von innen her lange hörte und weiß: ich bin einer der furchtbarsten Gegner des Christenthums und habe eine Angriffs-Art erfunden, von der auch Voltaire noch keine Ahnung hatte.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 457, S. 436, Z. 44–48) Als Kritiker des Christentums sah N. sich durch den Verriss aus christlich-antisemitischer Feder nicht gekränkt, sondern bestätigt und gab in sinnverkehrender Abwandlung des Wahlspruchs des Cesare Borgia („Aut Caesar aut nihil“) die Parole aus „Aut Christus, aut Zarathustra!“ (ebd., S. 436, Z. 34 f.).

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Während Angriffe aus dem gegnerischen Lager N. offenkundig bestärkten, hatte die lobende Erwähnung von Za in einem Buch seines einstigen Basler Hörers, Paul Heinrich Widemann, den gegenteiligen Effekt, was in erster Linie daran lag, dass N. sich dort mit Eugen Dühring in einen Topf geworfen fand. Widemanns Erkennen und Sein, so schreibt N. am 29. Juli 1885 mit Ironie an Bernhard und Elisabeth Förster, ende „vollkommen mit Zarathustra-Gedanken, und auf der letzten Seite erscheinen D ü h r i n g u n d i c h in ganz großer Gala und Gloria“ (KSB 7/ KGB III 3, Nr. 614, S. 71, Z. 33–35). Tatsächlich stellt Widemann in der Schlusspassage seines Buchs N.s Za ebenso wie Dührings Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres (1883) als philosophische Leitfäden für die rechte Lebensführung vor: „Auf welche Weise die Philosophie sich zu einer solchen Lehre von der ‚Lebensführung nach Wirklichkeits-Idealen‘ zu erweitern hat, dieß hat uns E u g e n D ü h r i n g in seinem ‚E r s a t z d e r R e l i g i o n d u r c h V o l l k o m m e n e r e s‘ mit eben so besonnenem als weitschauendem Geiste gezeigt, während uns F r i e d r i c h N i e t z s c h e in seinem tiefsinnigen Evangelium vom Übermenschen, Z a r a t h u s t r a, in dichterischer Einkleidung ein lebendiges Stück solcher Lebensführung und eine klassische Formulirung des höchsten Ideals alles menschlichen Strebens geboten hat.“ (Widemann 1885, 239) Gegenüber Köselitz beschwerte sich N. am 6. Dezember 1885 mit deutlichen Worten: „Zuletzt ist mir noch niemals eine solche Verunglimpfung zu Theil geworden als durch seine Zusammenstellung der Namen ‚Dühring‘ und ‚Zarathustra‘: – an diesem Zeichen habe ich genug.“ (KSB 7/KGB III 3, Nr. 650, S. 120, Z. 42–45) Besonders kränkten N. die reservierten Reaktionen aus seinem näheren Umfeld. „Was gar meinen Zarathustra anbetrifft, wer von meinen Freunden hätte mehr darin gesehn als eine unerlaubte, zum Glück vollkommen gleichgültige Anmaassung?“ (KSA 6, 363, 19–21), schreibt er rückblickend in EH. Enttäuscht und mit bitterem Humor nahm er zur Kenntnis, wie sein Werk selbst von eng Vertrauten und von geschätzten Personen mit Unverständnis aufgenommen wurde. So berichtet er in einem Brief an Köselitz vom 25. Juli 1884 von einem Gespräch mit Jacob Burckhardt: „Das Spaaßhafteste, was ich erlebte war J[acob] Burckhardts Verlegenheit, mir etwas über den Zarathustra s a g e n z u m ü s s e n: er brachte nichts Anderes heraus als ‚ob ich es nicht einmal mit dem D r a m a versuchen wolle.‘“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 522, S. 515, Z. 19–22) Auch von Gottfried Keller, den N. als Dichter bewunderte und dem er seinen Za zusenden ließ, scheint er keine ermunternde Reaktion erfahren zu haben. Der Pianist und Komponist Robert Freund (1852–1936), ein Bekannter beider, erinnert in seinen 1915 niedergeschriebenen Memoiren eines Pianisten ein Treffen N.s mit Keller im September 1884 in Zürich: „Nachdem der Besuch stattgefunden, ging ich am Nachmittag mit Nietzsche spazieren und frug ihn, wie es bei Keller gewesen sei. Es sei sehr nett gewesen, antwortete Nietzsche, nur entsetzte ihn das entsetzliche Deutsch, das Keller

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spreche und die mühsame Art, mit der sich der große Schriftsteller mündlich ausdrücke. Am nächsten Sonntag frug ich dann Keller, ob Herr Nietzsche ihn besucht habe. Keller bejahte und setzte hinzu: ‚ich glaube, dä Kerl ischt verruckt.‘“ (Freund 1951, 24 f.) Zwar war es N. nicht vergönnt, die große öffentliche Resonanz seines Za noch bei wachem Bewusstsein mitzuerleben, doch nahm er den grandiosen Erfolg seines Werks immerhin in der Imagination vorweg. Er malte sich aus, wie man einst „eigene Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra errichte[n]“ (EH, KSA 6, 298, 11 f.) würde, wie das Werk „in wenig Jahren in Millionen von Exemplaren“ (KSB 8/ KGB III 5, Nr. 1158, S. 490, Z. 18 f.) in Umlauf käme und wie man an ihm unausweichlich zum „Millionär werden“ (KSB 8/KGB III 5, Nr. 1156, S. 488, Z. 67) müsste, wie er den Verleger Constantin Georg Naumann wissen ließ. Tatsächlich setzt die erste Welle der enthusiastischen Rezeption zwar noch zu N.s Lebzeiten ein, jedoch erst nach seinem geistigen Zusammenbruch. Max Dauthendey erinnert sich, wie 1891 durch die Lektüre eines „begeisterte[n] Aufsatz[es]“ in der von Michael Georg Conrad begründeten Zeitschrift Gesellschaft, sein eigenes Interesse für den „geistig umnachtet bei seiner Mutter in Naumburg“ lebenden „Dichterphilosophen“ entfacht wurde: „Ich eilte vom Lesesaal sogleich zur Stubertschen Buchhandlung und verlangte dort Nietzsches Werk ‚Also sprach Zarathustra‘. Niemand in der Universitätsbuchhandlung kannte den Namen des deutschen Philosophen. Man bestritt sogar, daß /400/ ein Philosoph dieses Namens in Deutschland lebe oder gelebt habe. Man behauptete, ich müßte mich im Namen geirrt haben.“ (Dauthendey 1925, 399 f.) Just um diese Zeit begann der rasante Aufschwung der Za-Rezeption. Lawinenartig verbreitete sich der Ruf des Werks und in wenigen Jahren wurde aus dem Ladenhüter, der eben noch wie Blei in den Regalen des Verlegers Schmeitzner lag, ein Erfolgsbuch und Bestseller. In Windeseile stieg Za zu einem Leittext der jungen Generation auf, die sich das Werk in identifikatorischen Lektüren aneignete, es zur Selbstverständigung nutzte und wie einen Schild zur vehementen Abgrenzung gegenüber allem Überkommenen und Etablierten vor sich hertrug. Za erlangte Kultbuch-Status (vgl. Klein 2014, 162–171), das Buch wurde zum Erkennungsmerkmal Gleichgesinnter, seine Lektüre stilisiert zu einem das ganze Leben erschütternden und umkrempelnden Ereignis. Die zahlreich überlieferten Lektüreerlebnisse sprechen von Überwältigung, Erweckung und Offenbarung. Carl Zuckmayer greift gar auf das Muster des Teufelspakts zurück, sei er doch bei seiner Za-Lektüre im Alter von fünfzehn Jahren N., „dem verführerischsten und genialsten ‚Antichristen‘ unserer Zeitläufte“ mit „Leib und Seele“ verfallen (Zuckmayer 1966, 173). Eine eindrucksvolle literarische Version eines Za-Leseerlebnisses liefert Franziska (Fanny) zu Reventlow, eine zentrale Figur der Münchner Bohème um 1900, in ihrem autobiographischen Roman Ellen Olestjerne (1903). Bei Reventlow wird die Za-Lektüre zur ekstatischen Erweckung: „Eines Abends kam Detlev mit einem

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Buch nach Hause. Die Eltern waren aus, und dann machten die beiden /90/ Jüngsten es sich in des Vaters Zimmer bequem. Sie holten sich ihren Tee herüber, vor dem Ofen schliefen die Hunde, Ellen lag auf dem Sofa, Detlev saß neben ihren Füßen und las vor – es war Nietzsches ‚Zarathustra‘. / Sie bebten beide – der Himmel tat sich über ihnen auf in lichter blauer Ferne – jedes Wort löste einen Aufschrei aus tiefster Seele, band eine dumpfe, schwere Kette los, sagte etwas, was kein Mensch sagen konnte oder je gesagt hatte, wonach man im Dunkeln herumgetappt hatte und geglaubt, es nie zu finden. Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen – es war Offenbarung, letzte äußerste Erkenntnis, die mit Posaunen schmetterte – brausend, berauschend, überwältigend. Und alles andere, der Alltag, das Alltagsleben und -empfinden schrumpfte in eine öde, farblose Masse zusammen, verlor sein Dasein – nur das wahre, heilige, große Leben leuchtete, lachte und tanzte. […] / Und von nun an lasen sie jeden Abend, der ‚Zarathustra‘ wurde ihre Bibel, die geweihte Quelle, aus der sie immer wieder tranken und die sie wie ein Heiligtum verehrten. Auch wenn sie mit ihren Freunden zusammen waren, – da gab es Gespräche, bei denen sie alle fieberten: die alte morsche Welt mit ihrer Gesellschaft und ihrem Christentum fiel in Trümmer, und die neue Welt, das waren sie selbst mit ihrer Jugend, ihrer Kraft, mit allem, was sie schaffen und ausrichten wollten.“ (Reventlow 1980, 89 f.) Aufgefasst als Fanfarenstoß für ein anderes Leben, als Verheißung eines Aufbruchs und als Versprechen einer „neue[n] Welt“, wurde Za zu einem Leittext der Jugendbewegung und diente als „bevorzugte[s] Zitatreservoir“ (Schneider 2001, 170), um sich zu wappnen gegen die Konventionen und moralischen Forderungen der, wie es bei Reventlow heißt, „morschen Welt“. Zarathustras verheißungsvoller Ton, seine Aufrufe zur Erneuerung und nicht zuletzt auch deren Vagheit ließen ihn zum geeigneten „Prophet[en] des unentdeckten Landes“ werden, auf das die Jugendbewegung ihre Sehnsucht richtete (Frobenius 1927, 38). Das rief natürlich auch Skepsis und Kritik auf den Plan und so ist die Frühphase der Za-Rezeption geprägt durch die polemische Konfrontation der N.-Jünger mit den erklärten N.Gegnern. Den Stimmen aus dem christlich-konservativen Lager zufolge, die N.s Zarathustra-Figur als Jugendverführer brandmarkten, war die junge Generation kollektiv dem Siechtum der „Nietzsche-Krankheit“ (Roderich-Stoltheim 1915, 3) anheimgefallen und vegetierte dahin „wie hypnotisiert von der Weisheit Zarathustras“ (Pfenningsdorf 1908, 42). Psychologisierend tat man die Za-Faszination als juvenile Größenphantasie ab und als kompensatorischen Reflex, um eigene Unzulänglichkeiten zu überdecken: „Es sind die Primaner unserer höheren Lehranstalten, welche vormittags noch die Schulbank drücken, in den Freistunden aber für das unbekannte Land ihrer goldenen Zukunft schwärmen. Es sind die jungen Kaufleute, welche tagsüber Mühe haben, einen verständlichen kaufmännischen Brief zu schreiben oder ihre Bücher korrekt einzutragen, dafür aber am Abend sich durch die Lektüre von ‚Also sprach Zarathustra‘ entschädigen.“ (Düringer 1906, 94 f.)

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Ironischerweise trugen die kritischen Stimmen mit dazu bei, dass Za bald in aller Munde war; die vehementen Polemiken wirkten als Multiplikator des Werks. Beliebt waren die Paraphrase von Za-Kapiteln und die Wiedergabe von Auszügen mit der Intention, sie als unverständlich und haltlos zu entlarven (vgl. Niemeyer 1998, 104). Der Wormser Gymnasialprofessor Franz Staudinger, Anhänger des Marburger Neukantianismus, suchte Zarathustra gar mit den eigenen Waffen zu schlagen, indem er eine Reihe kleinerer Prosastücke in Za-Manier verfasste, die er 1904 als Buch unter dem Titel Sprüche der Freiheit. Wider Nietzsche’s und Anderer Herrenmoral publizierte – ein Anti-Zarathustra, der N.s Za im Za-Duktus zu widerlegen sucht! In einem vorab in der Zeitschrift Ethische Kultur publizierten Kapitel unter dem Titel Und wieder sprach Zarathustra gestaltet Staudinger eine Art Bekehrungsszene, in der eine göttliche Stimme Zarathustra zur Abkehr vom „Herrensinn“ aufruft und ihn auffordert, abzulassen von seiner elitären Ausrichtung und sich dem ganzen Volk zuzuwenden (vgl. Staudinger 1901, 93). Während Staudingers Za-Prosa wegen der mangelnden sprachlichen Gestaltungskraft ihres Autors unfreiwillig komisch wirkt, versucht sich ein 1893 in Wien unter dem Titel Also sprach Confusius. Von einem Unmenschen erschienener Text, der Za auch in Druckbild und äußerer Erscheinung nachahmt, an einer parodistischen Umschrift (vgl. Benne 2002). Wie sehr N.s Za nicht nur zum Knotenpunkt kontroverser Debatten um 1900 wird, sondern vielfältige Aneignungen, Weiterführungen und Umschriften erfährt, rücken auch andere Beispiele vor Augen. Ein singuläres Rezeptionszeugnis bilden die Za-Predigten des dem Monismus nahestehenden Bremer Pastors Albert Kalthoff (zu den Schwierigkeiten, die Kalthoffs religiöse und ideologische Einordnung aufwirft, vgl. Auwärter 2010). Kalthoffs Predigten, die eine Mischung darstellen aus Paraphrase, Auslegung und Umschrift von N.s Za, erschienen an prominentem Ort in Buchform, nämlich 1904 bei Eugen Diederichs unter dem Titel Zarathustrapredigten. Reden über die sittliche Lebensauffassung Friedrich Nietzsches. Das eröffnende Kapitel deutet an, wie verhärtet die Fronten der N.-Rezeption um 1900 bereits waren und wie sehr die Auseinandersetzung mit N. zum Austragungsort des Generationenkonflikts geworden war. Kalthoff stellt N. als allseits Geächteten vor: „Auf den Kanzeln ist er verflucht, auf der Bühne verspottet, in den Schriften der Gelehrten ist er bekämpft, und was man so nennt widerlegt worden“ (Kalthoff 1904, 5). Allein die Jugend versammle sich hinter N., dies allerdings in nie zuvor dagewesener Unbedingtheit: „[S]o wie er hat noch keiner der Zeitgenossen die Jugend unter seiner Fahne gesammelt“ (ebd., 5). Kalthoff sieht in N. den großen Erschütterer, der alle Gewissheiten in Frage stellt und an allen Fundamenten rüttelt: „Er erschüttert jede Position, die die Menschen für fest und unerschütterlich gehalten; eine unwiderstehliche, versucherische Neugier zwingt ihn, alle Werte, mit denen die Menschen gerechnet, umzukehren, und sie sich daraufhin

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anzusehen, ob sie nicht Unwerte seien, ob nicht das Gute ein Böses, die Wahrheit ein Irrtum genannt werden müsse.“ (Kalthoff 1904, 7) Im Gegensatz zu anderen Vertretern des christlichen Lagers wertet Kalthoff das als einen Vorzug. In seinen Augen ist N. die exemplarisch-zeittypische Figur schlechthin, die thematisiert und ausagiert, was alle betrifft: „die Kämpfe, die der einzelne in allen Fragen des sittlichen Lebens durchzumachen hat, trägt Nietzsche in sich, er hat sie in sich aufgenommen ohne Rest und ohne Abzug. Darum findet ein jeder in ihm auch etwas von sich wieder, jeder muß mit dem Stück Nietzsche, das in ihm lebt, sich auseinandersetzen, wenn er sich in seinem sittlichen Leben zurechtfinden will.“ (Kalthoff 1904, 5) Kalthoff sieht in N. aber nicht allein den Diagnostiker seiner Zeit, sondern erkennt in ihm „den Propheten einer neuen Kultur“ (ebd., 10). Nicht Zarathustras Botschaft, nicht der Übermensch, sondern sein Verkünder, Zarathustra selbst, wird von Kalthoff als neues Sinnversprechen gefeiert. N.s Zarathustra wurde in vielfältiger Weise als Sinngeber, Heilslehrer, Seher und Führerfigur in Anspruch genommen. Produktive Aufnahme und Weiterführung fand Za insbesondere auch in Hermann Hesses Sendschreiben an die deutsche Jugend, das Hesse 1919 anonym unter dem Titel Zarathustras Wiederkehr. Wort an die deutsche Jugend von einem Deutschen in Form einer broschierten Flugschrift veröffentlichte. Die überaus erfolgreiche Schrift, die ab 1920 unter Hesses Namen im S. Fischer-Verlag erschien und bis 1924 eine Auflage von 24 Tausend Exemplaren erreichte (so Michels 1993, 105), stellt den seltenen Fall einer Flugschrift vor, die auf eine fiktionale Handlung zurückgreift. Zarathustras Wiederkehr bietet eine aktualisierende Aneignung von Za vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und den Spartakistenaufständen der Novemberrevolution von 1918. Ebenso wie Kalthoff setzt auch Hesse die Vertrautheit mit N.s Za voraus und vermittelt seine Botschaft in unmittelbarer Übernahme von Sprache und Stil sowie von charakteristischen Motiven und Handlungsmomenten. Der einleitende Abschnitt inszeniert „Zarathustras Wiederkehr“ als Wiederbegegnung der aus dem Krieg heimgekehrten jungen Männer mit dem Idol ihrer Jugendzeit, um das sie sich erwartungsvoll scharen. Die Kriegsheimkehrer werden als Za-Generation in den Blick genommen, die einst in Zarathustra „den Propheten und ihren Führer gesehen“ habe: „sie hatten mit dem Eifer der Jugend gelesen, was über ihn geschrieben steht, und hatten darüber gesprochen und nachgedacht, auf ihren Wanderungen in Heide und Gebirg, und in nächtlichen Zimmern bei Lampenschein“ (Hesse 1993, 9). Damit liegt der Flugschrift eine bemerkenswerte Konstellation zugrunde, in der die wieder auferstandene Za-Figur konfrontiert wird mit den einstigen Rezipienten ihrer Reden, deren Leben sich jedoch durch die Zäsur der Kriegserfahrung entscheidend gewandelt hat. Ins Zentrum tritt die Frage nach dem, was der wiedererstandene Zarathustra in der aktuellen historischen und politischen Situation mitzuteilen hat. Sehr be-

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stimmt erklärt Hesses Zarathustra, dass von ihm keine konkrete politische Handlungsanweisung zu erwarten sei, wobei er seine Rolle in ganz ähnlicher Weise mit Fragezeichen versieht, wie das auch N.s Zarathustra tut: „Der vor euch steht, ist nicht ein Volksredner noch ein Soldat, kein König noch Heerführer, es ist Zarathustra, der alte Einsiedler und Spaßmacher, der Erfinder des letzten Lachens, der Erfinder so vieler letzter Traurigkeiten. Von mir, ihr Freunde, könnet ihr nicht lernen, wie man Völker regiert und Niederlagen wiedergutmacht. Ich weiß euch nicht zu lehren, wie man Herden befehligt und wie man Hungernde beschwichtigt. Das sind nicht Zarathustras Künste. Das sind nicht Zarathustras Sorgen.“ (Hesse 1993, 11) Was aber ist von diesem literarischen Revenant zu erwarten, der die Rolle des Lehrers so ausdrücklich von sich weist? Wie lautet die Botschaft, die er für die kriegserprobte Jugend parat hat? Als „ein Spiegel“ will er seinen erwartungsvollen Zuhörern dienen, „damit ihr in ihm euch selbst zu sehen bekämt“ (ebd., 13). Zwar bekundet Hesses Zarathustra eine gewisse Sympathie für die Spartakisten, seine Botschaft aber ist dezidiert apolitisch und verweigert sich allen Handlungsaufforderungen: „Ihr sollt lernen, ihr selbst zu sein, so wie ich Zarathustra zu sein gelernt habe.“ (ebd., 14) Hesses Aktualisierung von Za legt den Akzent nicht auf den Künder des Übermenschen, sondern auf den Lehrer, der am Ende von Za I nach mündigen Schülern verlangt, die keinem Führer nachstreben, sondern bereit sind, an sich selbst zu arbeiten, und die der Parole folgen: „Werde, der du bist!“ (297, 17). Wirkungsgeschichtlich entpuppt sich Za als ein höchst wandlungsfähiges Buch, ein Buch, das viele Bücher aus sich hervorgebracht hat. Immer wieder neu perspektiviert und aus veränderten Bedürfnissen und Interessen heraus aktualisiert, erlebte Za bis in die Zeit des Nationalsozialismus erstaunliche Metamorphosen: vom Leitfaden lebensreformerischer Naturapostel und Sonnenanbeter (vgl. Mahlmann-Bauer 2021, 52) zum „Grundbuch der heroischen Humanität“ (Baeumler 1930, 410), von einer Bibel für Aussteiger zum „Zeitmythus der deutsch-germanischen Kulturseele“ (Schulze-Berghof 1934, 561) und von einem Kultbuch der aufbegehrenden Jugend zu einer Botschaft der Härte und des unbedingten Durchhaltewillens. Am „Zarathustrawesen“ werde die Welt genesen, zitiert Karl Löwith die 1938 ausgegebene Parole des gleichgeschalteten N.-Archivs (Löwith 1978, 11). Kein Zweifel besteht daran, dass Za in besonderem Maß zum Einfallstor für ideologische Vereinnahmungen N.s wurde. Auch deshalb ist das Werk bis heute für manchen N.-Kenner ein ungeliebter Teil von N.s Schaffen, dem man distanziert begegnet oder das man ganz zu ignorieren sucht. Der wahre N. sei Ideologiekritiker, statuierte Hermann Wein in einem Aufsatz mit dem appellativen Titel Nietzsche ohne Zarathustra. Die Entkitschung Nietzsches: Der kritische Aufklärer, deshalb gelte es, ihn zu „reinigen von den verstiegenen Expressionismen“ des Za-Werks, um so den Erkenntnisgehalt seiner Philosophie zur ganzen Strahlkraft zu verhelfen (Wein 1972, 362). Freilich disqualifiziert sich dieser Vorschlag

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schon allein dadurch, dass er die enge entstehungsgeschichtliche und gedankliche Verbundenheit von Za mit N.s restlichem Werk ignoriert. Philosophie oder Dichtung, Ideologie oder Erkenntnis, Kitsch oder Kunst? Die Rezeptionsgeschichte von Za ist nicht zuletzt eine der unterschiedlichen Rubrizierungsversuche. Damit einher gehen unterschiedliche Bewertungen, in denen sich die je eigenen Erwartungen und (ästhetischen) Kategorien der Urteilenden niederschlagen. Was manche als manierierten Jugendstil, schlechtes Kunsthandwerk oder schlichtweg als Kitsch abtun wollen, erfuhr in Künstlerkreisen ab 1890 höchste Bewunderung als poetisches Werk. Nicht nur als Kultbuch der Jugend, sondern auch als Sprachkunstwerk hob die beispiellose Erfolgsgeschichte von Za an. Ab dem Ende der 1880er Jahre kursierte Za in Künstlerkreisen als ein Werk, das durch seinen Stil und seine poetische Sprache beeindruckte. Ein bezeichnendes Zeugnis für diese frühe Rezeption bietet eine Szene aus dem 1893 veröffentlichten Roman Der Todesprediger des 23–jährigen Gustav Landauer, in der Za zum Gesprächsgegenstand wird, ohne dass dabei auch nur ein Wort über seinen Inhalt gesagt würde. Als die Protagonistin das Za-Buch inmitten eines kleinen Bücherstapels entdeckt, wird sie von ihrem Gegenüber über dessen Art aufgeklärt: „Sie kennen es nicht? […] Lernen werden sie nicht mehr viel von ihm können. Aber die Sprache! Die Sprache.“ (Landauer 2017b, 83) Bezeichnend hieran ist das Verständnis von Za als eines Sprachkunstwerks bei völliger Zurückweisung jeglicher Erkenntnisfunktion und philosophischer Bedeutung. Ähnlich hebt Stanislaw Przybyszewski bewundernd hervor, wie gut es N. gelungen sei, „für seine überreiche Seele in der Sprache Symbole“ gefunden zu haben, um im gleichen Atemzug zu befinden, dass „wohl der erkenntnistheoretische Teil in Nietzsches Werken vom geringsten Werte“ für die Gegenwart sei“ (Przybyszewski 1906 [1890], 44). Za wurde als Dichtung wahrgenommen und faszinierte durch seine als innovativ erkannte sprachliche Gestaltung. Entsprechende Wertungen von Schriftstellern und Kritikern sind zahlreich. Otto Julius Bierbaum, der als Redakteur und Herausgeber der Zeitschriften Die freie Bühne, Pan und Die Insel arbeitete, pries N. als einen Dichter, der „den lyrischen Ausdruck, zumal in der rhythmischen Prosa des Zarathustra, bildköstlich befruchtet“ habe (Bierbaum 1896, 41). Der Literaturwissenschaftler Philipp Witkop lobte „das endlose, sich übersteigernde, überstürzende Nebeneinander“ der Bilder und resümierte: „Nie sah die deutsche Dichtung eine gleiche Bildertrunkenheit, Bildnotwendigkeit.“ (Witkop 1921, 298) Zu N.s Ruf als Dichter trug wesentlich der bereits erwähnte Stanislaw Przybyszewski bei, polnischer Schriftsteller und Mitbegründer der Zeitschrift Pan, der Za öffentlichkeitswirksam würdigte als ein „königliche[s], in seiner unendlichen poetischen Schönheit majestätische[s] Werk“ (Przybyszewski 1897, 23). In dem Essay Chopin und Nietzsche von 1890 weist Przybyszewski N. eine psychologische Kunst der Stimmungen zu, die mit Za ihren

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Höhepunkt erreicht habe: „Stimmungen als Symbole der Dinge hinzustellen, sie so zur Darstellung zu bringen, daß sie dieselben Stimmungen in jedem anderen Menschen hervorrufen, den Dingen einen passionierten, makrokosmischen Ausdruck zu geben, das ist die große Kunst Nietzsches, wie sie sich am herrlichsten in: Also sprach Zarathustra offenbart.“ (Przybyszewski [1890] 1906, 45) Za erfuhr nicht nur begeisterte Rezeption durch eine Vielzahl von Dichtern, sondern entfaltete seinerseits prägende Wirkung auf die Dichtung. Seit den 1890er Jahren vollzog sich die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur im Kraftfeld von Za und den Dionysos-Dithyramben, die häufig in einem Atemzug als herausragende dichterische Produkte N.s genannt wurden (vgl. dazu Grätz 2017; zur produktiven künstlerischen Aufnahme von Za siehe auch Ziolkowski 2012). Sie wirkten als stilprägende Vorbilder und vermittelten der modernen Literatur vom Naturalismus über den Symbolismus und Jugendstil bis hin zum Expressionismus entscheidende Impulse. In den Manifesten und Bekenntnissen der modernen Autoren taucht die Zarathustra-Figur immer wieder als Bezugsfolie auf. Etwa wenn Stefan George sich 1896 zum Ästhetizismus bekennt, zur „kunst frei von jedem dienst“, und sich dabei auf den „Zarathustraweisen“ als „unsterblichen Meister“ bezieht sowie auf dessen „kunst aus der anschauungsfreude aus rausch und klang und sonne“ (George 1896, 2), oder wenn Franz Pfemfert zurückdenkt an die naturalistische Bewegung: „Die Brüder Hart, Michael Georg Conrad, Bleibtreu und andere, junge geist- und temperamentfrische Draufgänger entfalteten die Banner der neuen Kunst. Zarathustra erhob seine Donnerstimme. In der Welt der verlogenen Salonliteratur erzitterten und zersplitterten die Butzenscheiben.“ (Pfemfert 1911, Sp. 724) Kaum ein Dichter blieb um 1900 vom Zarathustra-Fieber unberührt. René Schickeles Gedichtsammlung Pan (1902), die den Untertitel Das Sonnenopfer der Jugend trägt, arbeitet mit wörtlichen Anspielungen auf Za. Und der junge Rilke schließt unverkennbar an Zarathustras Idee des einsam Schaffenden an, wenn er in seinem Florenzer Tagebuch formuliert: „Wenn es für den Künstler eine Verheißung gibt, der er vertrauen kann: ist es: der Wille zur Einsamkeit. […] Denn wenn ein Schaffender zu sich fand, bleibt er in seiner Einsamkeit; er will in der Heimat sterben. […] Die Kunst geht von Einsamen zu Einsamen in hohem Bogen über das Volk hinweg.“ (Rilke 1984, 40; vgl. NK 48, 15–17) Neben der Wahrnehmung als Sprachkunstwerk waren es vor allem die Ideen des einsam Schaffenden und der Entwurf eines neuen Menschen, die die Schriftsteller und Künstler in ihren Bann zogen. Za wurde zum Leittext der expressionistischen Dichter, deren Sehnsucht nach gesellschaftlicher und kultureller Erneuerung durch ihn wesentliche Impulse erhielt. Prägend wirkten nicht allein der hymnisch-pathetische Ton und die Metaphorik, sondern insbesondere die Idee des Übermenschen, die der expressionistischen Aufbruchssehnsucht entsprach und die grundlegend wurde für expressionistische Visionen einer Erneuerung

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des Menschen. Einen neuen Sinn vermittle Zarathustras Übermenschen-Lehre, notierte etwa Georg Heym 1906 in sein Tagebuch, „daß wir alles Große und Erhabene in uns nach unsern besten Kräften ausgestalten und so Sprossen werden auf der Leiter zum Übermensch“ (Heym 1960, 86). Künstlerische Umsetzung fand die Vision des neuen Menschen insbesondere in der expressionistischen Wandlungsdramatik Georg Kaisers, Reinhard Sorges, Walter Hasenclevers und Ernst Tollers. Diese Autoren schlossen sich Zarathustras Idee einer grundlegenden Erneuerung des Menschen an, sagten sich allerdings vom Kult des großen Einzelnen los und riefen statt seiner einen ‚neuen Menschen‘ aus, der sich am Ideal der Gemeinschaft orientiert (vgl. Grätz/Wenner 2018, 412 f.). Der inspirierende Einfluss des Za-Werks auf die moderne Kunst zeigt sich in verschiedenen Sparten und künstlerischen Ausdrucksmedien. In der Musik regte es Richard Strauß zu seiner „sinfonischen“ Komposition Also sprach Zarathustra an, die am 27. November 1896 in Frankfurt am Main uraufgeführt wurde und deren Anfangstakte später auch durch Stanley Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum (1968) populär wurden. Die neun Teile von Straußʼ Sinfonie tragen Titel von Kapiteln aus den ersten drei Büchern von Za, freilich in geänderter Reihenfolge: 1. Einleitung, oder Sonnenaufgang, 2. Von den Hinterweltlern, 3. Von der großen Sehnsucht, 4. Von den Freuden- und Leidenschaften, 5. Das Grablied, 6. Von der Wissenschaft, 7. Der Genesende, 8. Das Tanzlied, 9. Nachtwandlerlied. Die musikalischen Adaptionen und Bearbeitungen von Za sind in ihrer Vielzahl kaum zu überblicken; allein für das sogenannte ‚Mitternachtslied‘ aus Za III sind bis 1986 insgesamt 29 musikalische Bearbeitungen nachgewiesen (vgl. ÜK Za III Das andere Tanzlied 3 u. ÜK Za IV Das Nachtwandler-Lied). Vielfältige Impulse gingen von Za auch auf die Malerei aus. Ausdrücklich griff der Jugendstilkünstler Melchior Lechter, der später Bücher Stefan Georges graphisch gestaltete, Za-Motive bei der künstlerischen Ausstattung von Wohnräumen und in Entwürfen von Glasfenstern auf. Viele andere Einflüsse auf bildkünstlerische Darstellungen und Programmatiken gelten als wahrscheinlich, ohne dass sie sich definitiv nachweisen lassen. So wird vermutet, dass das von Fidus (Hugo Höppener) erstmals 1908 und nachfolgend in vielen Fassungen geschaffene Bild Lichtgebet, das zum Signet der LebensreformBewegung wurde, von Za inspiriert ist. Es zeigt die Rückenansicht einer nackten Jünglingsfigur, die sich auf einem Fels stehend mit erhobenen Armen dem Sonnenlicht und dem gesamten Kosmos entgegenstreckt. Das erinnert an den Schluss von Za IV, wo Zarathustra in Erwartung des großen Mittags „glühend und stark, wie eine Morgensonne“ (408, 21 f.) den Anbruch des Tages begrüßt. Vielfach wird angenommen, dass der Name der am 7. Juni 1905 in Dresden gegründeten expressionistischen Künstlergruppe Brücke durch Za angeregt wurde. Zarathustras Charakterisierung des Übermenschen als einer „Brücke“ (16, 30) scheint angesichts der Affinität der Brücke-Künstler zu N. ein naheliegender Inspirationsquell zu sein und

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harmoniert bestens mit dem expressionistischen Aufruf zur Erneuerung der Kunst (vgl. Reinhardt 1977/78, 28–31). Es ist bereits angeklungen, dass die sprachlich-stilistische Ausnahmegestalt des Za-Werks mit seiner überbordenden Gleichnis- und Bilderflut nicht allein Faszination hervorrief, sondern ebenso auch Abwehr. Häufig vorgebrachte Vorbehalte gegen die sprachliche und künstlerische Gestalt des Werks hat Montinari 1991, 93 treffend zusammengefasst und sich ihnen insofern angeschlossen, als er den ästhetischen Wert von Za grundsätzlich in Frage stellte: „Die zwanghafte Suche nach der Antithese, die mit Symbolen überhäufte Ausdrucksform, die unzähligen Gleichnisse und die Monotonie ihrer ewig gleichbleibenden rhetorischen Muster, das Einhämmern der Superlative, […] das ungezügelte Spiel mit den Worten – all das macht Also sprach Zarathustra zum grandiosen Gegenteil einer dichterischen Schöpfung. Es wäre ein groteskes Mißverständnis in Also sprach Zarathustra ästhetischen Genuß suchen zu wollen“. Das war keineswegs abwertend gemeint, viel eher hatte Montinari die Rettung von Za für die Philosophie im Sinn. Denn das Bewusstsein einer Dichotomie von ästhetischem und philosophischem Wert war für die Rezeption derart beherrschend, dass an die Abwertung der ästhetischen Qualität die Aufwertung der philosophischen Bedeutung von Za geknüpft schien. So fordert auch Niemeyer 2012, 447 dazu auf, abzulassen von dem „geradezu verbissene[n] Festhalten am Anspruch, beim Zarathustra handele es sich um ‚große Dichtung‘“, denn nur unter dieser Voraussetzung werde „der Weg frei zu einer extensiven Ausdeutung des von Nietzsche in diesem Werk Intendierten“ (ebd., 448). Umgekehrt verlangte seinerzeit Otto Immisch, einer der vehementesten Kritiker N.s in der Frühphase seiner Rezeption: „Nietzsches Stilus ist in der That jener Zauberstab, dessen Berührung alles vergoldet. – Wollten doch die Nietzscheaner, statt sich in die Substanz seiner Lehren zu versenken, ihre Studien lieber dieser künstlerischen Form zuwenden. – Dann wird das Urteil über ihn immer gerechter ausfallen und der Fluch seiner geistigen Verirrungen wird sich in Segen verkehren.“ (Immisch 1896, 372)

10 Philosophische und wissenschaftliche Rezeption Die Zurechnungsdebatte – handelt es sich um Dichtung oder Philosophie? – hält bis heute an und dürfte wesentlich dafür verantwortlich sein, dass Za in der philosophischen Auseinandersetzung mit N. zunächst in der zweiten Reihe stand. Wollte man N. als Philosophen stark machen und in der akademischen Diskussion etablieren, war es strategisch nicht klug, ausgerechnet auf das Werk zu setzen, das in seiner äußeren Gestalt die größte Distanz zur Schulphilosophie aufwies und vielfach als ‚reine‘ Dichtung angesehen wurde. Trotzdem wurde Za früh schon

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auf seinen philosophischen Gehalt hin befragt und dabei bereits 1906 von dem deutsch-amerikanischen Schriftsteller Karl Knortz auf zwei philosophische Lehren festgelegt: „Der Übermensch und die Wiederkunft des Gleichen bilden die beiden Pole, um die sich die Zarathustra-Dichtung dreht“, befand Knortz 1906, 54 in seinem Büchlein Nietzscheʼs Zarathustra. Eine Einführung. Mit diesem Befund schloss er an den Philosophen Theobald Ziegler an, der bereits sechs Jahre zuvor auf die in der „Zarathustrapoesie“ enthaltene „Zarathustraphilosophie“ (Ziegler 1900, 128) hinwies und ebenfalls die Konzepte des Übermenschen und der ewigen Wiederkunft hervorhob. Der Primat gebührte nach Ziegler der ewigen Wiederkunft als einem Gedanken, der „die Lehre vom Übermenschen lediglich als ein Sekundäres aus sich hat herauswachsen lassen“ (ebd., 129). Es erstaunt kaum, dass nicht die etablierten Repräsentanten der systematischen Philosophie, sondern offenere Denker wie etwa der Neukantianer Alois Riehl erste Gedanken zur philosophischen Bedeutung von Za vorstellten. Die gemeinsame Grundkonstante der frühen Erschließungen lag freilich weniger in dem jeweils aufgewiesenen philosophischen Gehalt, der – trotz der häufigen Bezugnahmen auf die ewige Wiederkunft und den Übermenschen – durchaus abweichend eingeschätzt wurde, sondern mehr in der Auseinandersetzung mit dem hybriden Status des Werks zwischen Poesie und Philosophie. Alois Riehl etwa hielt Za für die „merkwürdigste Schrift Nietzsches“ (Riehl 1898, 13) und für sein „eigentliches poetisches Werk“ (ebd., 34), zugleich aber stellte er den Übermenschen als philosophische Leitidee des Werks heraus, von der er vermerkte, sie nehme in Za die „Stelle der Religionsphilosophie ein“ (Riehl 1898, 119). Auch der Philosoph Raoul Richter, der enge Verbindungen zum N.-Archiv unterhielt, konstatiert in seinen 1903 publizierten Leipziger N.-Vorlesungen die Sonderrolle von Za, in dem er das „künstlerisch-religiöse Symbol“ (Richter 1903, 74) von N.s gesamter Philosophie zu finden meint. Richter erklärt Za zu einem Gegenstand „der R e l i g i o n s- oder der K u l t u r g e s c h i c h t e“ und weist ihn zugleich wegen seiner „künstlerische[n] Form“ der „L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t“ zu. So hat es zunächst den Anschein, als bleibe nach diesem Urteil nichts übrig für den Kompetenzbereich der Philosophie, zumal Richter dezidiert festhält: „Aber in die eigentliche Geschichte der Philosophie, d. h. die Geschichte der wissenschaftlichen Philosophie gehört es [das Za-Werk] so wenig wie andere prophetische Dichtungen“ (Richter 1903, 191). Trotzdem nimmt Richter Za für die Wertphilosophie in Anspruch und streicht als philosophisch relevant heraus, dass Zarathustras Bemühungen sich auf die Etablierung eines neuen Wertesystems richteten. Einen eigenwilligen Zugang zum Werk findet Alfred Baeumler, der Za im Nachwort zur Kröner-Ausgabe von 1930 als „das Werk der a b s o l u t e n Einsamkeit“ (Baeumler 1930, 409) und als „ein neues Bild menschlicher Größe“ (ebd., 410) würdigt, vergleichbar allein mit Dantes Göttlicher Komödie, womit er jedoch kein

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„ästhetisches Urteil ausgesprochen“ wissen will, sondern nicht weniger als eine „welthistorische Perspektive“ andeuten möchte: „dem klassischen Werke der Christenheit, dem Werk der Gemeinschaft, dem Werk der Liebe, steht am anderen Ende des Diameters das Werk des protestierenden Einzelnen gegenüber“ (ebd., 409). Nach Baeumler, der den „strengen, geschlossenen Zusammenhang“ (ebd., 414) von N.s Philosophie betont, ist zwar diese „ganze Philosophie“ in Za enthalten, jedoch sei sie „nicht leicht darin zu erkennen“ (ebd., 414). Entscheidende Beiträge zur philosophischen Erschließung von N.s Za, die mit dem Vorwurf einer sich im Vagen erschöpfenden „Stimmungsphilosophie“ (Schneider 2001, 173) aufräumten und dann auch verstärkte philosophische Anerkennung nach sich zogen, lieferten Karl Löwith, Karl Jaspers und Martin Heidegger. Dabei beschritten Jaspers und Löwith in ihren nahezu zeitgleich erscheinenden N.-Monographien konträre Wege, gerade auch was die Einschätzung von Za und seine Verortung im Gesamtwerk betrifft. Als einer von wenigen N.-Forschern legte Jaspers in Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (1936) keine Sonderrolle von Za zugrunde und wies überhaupt die Vorstellung von einem Hauptwerk N.s zurück. In seinen Augen ist N.s Werk „nirgends wahrhaft zentralisiert“, vielmehr sei das, „was er wesentlich dachte, gerade auch im scheinbar Zufälligen und Beiläufigen sichtbar“ (Jaspers 1981, 12). Dementsprechend lehnt Jaspers es ab, einzelne Lehren zum Kern von N.s Philosophie zu erklären und präsentiert ihn als einen Meister des „S i c h w i d e r s p r e c h e n [ s ]“ (ebd., 17). N.s Widersprüchlichkeiten sind nach Jaspers aber keinesfalls mit Beliebigkeit und Unbestimmtheit gleichzusetzen, sondern im Gegenteil als Impulse zu verstehen, die zur „dialektischen Klärung“ (ebd., 18) auffordern wollen. Ein gegenläufiges Werkverständnis bietet Karl Löwith, der sich in seinem ein Jahr zuvor erschienenen Buch Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935), wie der Titel schon anzeigt, auf eine ‚Hauptlehre‘ konzentriert. Löwith betont den systematischen Charakter von N.s Philosophie, er spricht von einem „System in Aphorismen“ bzw. einem „verborgenen System“ (Löwith 1978, 25), das ganz auf die „Lehre von der ewigen Wiederkehr“ ausgerichtet sei und für das Za die entscheidende Wendemarke vorstelle: „Vom Zarathustra an fügt sich alles weitere zwanglos ein in eine Philosophie der ewigen Wiederkehr als der Selbstüberwindung des extremen Nihilismus.“ (Löwith 1978, 28) Löwith macht sich also für den von Jaspers nachdrücklich zurückgewiesenen Zentralisierungsgedanken stark und erklärt Za zu N.s Hauptwerk. Um seine Stellung in N.s Gesamtwerk zu bestimmen, greift er auf N.s Deutungsmuster von Text und Kommentar zurück. Nach Löwith ist nicht nur Jenseits von Gut und Böse, sondern es sind auch alle übrigen Schriften der nachfolgenden Zeit als Za-Kommentare zu verstehen, „denn es gibt in ihnen keinen Gedanken, der nicht schon in der Gleichnisrede des Zarathustra ebenso kurz wie beziehungsreich angedeutet“ (Löwith 1987, 122) wäre.

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Prominente Bedeutung erhält Za auch bei Martin Heidegger, dessen N.Vorlesungen und -Vorträge bis heute in der internationalen Za-Forschung starken Nachhall erfahren. Heidegger macht sich N.s architektonische Werkmetaphorik zu eigen, wenn er Za zur „Vorhalle“ des vermeintlichen Hauptwerks Wille zur Macht ausruft (HGA 6,1, 9 f.). Anders als die Deutungen von Löwith und Jaspers unterliegt Heideggers N.-Verständnis starken Schwankungen (vgl. dazu allgemein Kaufmann 2019), was sich insbesondere in seinem Umgang mit Za niederschlägt (vgl. dazu Müller-Lauter 2000, 135–158). Spielt Za in den N.-Vorlesungen von 1937 eine eher marginale Rolle, so ändert sich das nach dem Zweiten Weltkrieg. Gleich in der ersten Vorlesung, die Heidegger nach der Wiederverleihung der Lehrbefugnis und seiner Emeritierung im Wintersemester 1951/52 unter dem Titel Was heißt denken? hält, sowie in dem darauf beruhenden Vortrag Wer ist Nietzsches Zarathustra?, (1953) rückt er Za ins Zentrum. Mit der auf Wesen und Identität zielenden Leitfrage „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“ konzentriert sich Heidegger auf die Eigentümlichkeit der Zarathustra-Figur als eines rätselhaften und in der Geschichte der Philosophie einzigartigen Konstrukts und stellt heraus, dass nirgendwo sonst in der abendländischen Philosophie die „Wesensgestalt ihres jeweiligen Denkers in dieser Weise eigens gedichtet oder […] er-dacht“ (HGA 7, 121) worden sei. Heidegger versteht Zarathustra als Träger der philosophischen Ideen N.s, als Künder des Übermenschen und der ewigen Wiederkunft. Mit dieser Herangehensweise wurde er zum Vorreiter für viele nachfolgende Deutungen, die in Zarathustra das Sprachrohr N.s und den Verkünder seiner Philosophie sehen. Dezidiert hat sich Eugen Fink in seinem Buch Nietzsches Philosophie (1960) für eine Vorrangstellung von Za unter allen Werken N.s ausgesprochen. Nach Fink eröffnet Za „die dritte, definitive Phase der Philosophie Nietzsches“ (Fink 1960, 59), in der es N. gelinge, die ihm eigenen Möglichkeiten zu realisieren. Interessant ist, dass Fink das vertraute Argumentationsmuster, demzufolge die poetische Form die ‚Verpackung‘ des philosophischen Gehalts abgibt, umdreht und umgekehrt die philosophische Begrifflichkeit von N.s vorhergehenden Werken als eine ‚Verkleidung‘ erachtet: „Der ‚Zarathustra‘ stellt die entscheidenden Grundgedanken heraus, aber nicht so, als kämen sie ganz unerwartet und überraschend; motivisch sind sie auch in den vorangegangenen Werken erkennbar, aber dort sind sie gleichsam verkleidet in die metaphysischen Begriffe Schopenhauers oder die ‚wissenschaftlichen‘ des Positivismus. Im ‚Zarathustra‘ findet Nietzsche seine eigene Sprache für seine eigensten Gedanken. ‚Zarathustra‘ ist die große Wende seines Lebens; von nun an kennt er sein Ziel. Die Folgezeit nach dem ‚Zarathustra‘ ist nur noch Entfaltung, Auswicklung dessen, was dort ins Wort trat.“ (ebd. 60) Zwar meldet Fink Zweifel an der poetischen Qualität der Za-Sprache an, die keineswegs so hoch sei, wie von N. veranschlagt: „es ist zuviel Effekt, Wortspiel und ‚Bewußtheit‘ darin“ (ebd. 62), dem etablierten dichotomischen Wahrnehmungsmuster ‚Philosophie

Überblickskommentar

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versus Dichtung‘ folgt Fink aber nicht. Vielmehr betrachtet er die Überwindung der „Polarität von Dichten und Denken“ (ebd., 62) in der gleichnishaften Rede als entscheidendes Merkmal von Za und erwägt: „vielleicht bedeutet Nietzsches ‚Zarathustra‘-Stil eine tiefe begriff-lose Verlegenheit eines Denkens, das noch geblendet im Licht eines neuen Aufgangs des Seins steht“ (ebd., 61). Ist die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Za wesentlich dadurch geprägt, dass man das Werk wechselweise entweder für die Dichtung oder aber für die Philosophie vereinnahmen wollte, macht die neuere Forschung sich zunehmend von solch schematischen Rubrizierungen frei und versucht stattdessen das zu erkunden, was Fink als „Zwischenraum von Denken und Dichten“ (ebd., 62) bezeichnet, und Bennholdt-Thomsen 1974, 24 als „ein Drittes“ zwischen Philosophie und Dichtung ausmacht. Liefen Deutungen wie die Heideggers noch darauf hinaus, unter der poetischen Einkleidung die vermeintlichen philosophischen Thesen und Theoreme des Werks herauszuschälen, so erkennt die neuere Forschung in Za zunehmend eine eigentümliche Syntheseleistung, die nicht „an der philosophischliterarischen Tradition gemessen werden kann“ (Schank 1994, 470) und bei der sich (literarische) Darstellung und philosophischer Gehalt nicht einfach voneinander ablösen lassen: „Zarathustras Philosophie“, so konstatiert Gert Mattenklott, „ist nicht nur […] in dem niedergelegt, was er sagt, sondern darin, wie er es sagt“ (Mattenklott 1982, 33). James Luchte reklamiert Za – unter Berufung auf die französischen Poststrukturalisten – für einen ‚poetic turn‘ in der Philosophie (Luchte 2008, 3), und Enrico Müller spricht von einer „gegen die Logos-Philosophie gerichteten Transformation des Denkens“, die ein neuartiges Verstehen ermögliche, das sich der „reflexiven Vereinnahmung und begrifflichen Fixierung“ entziehe (Müller 2015, 14). Den Einstieg in die aktuelle Forschung erleichtert eine Reihe von Za-spezifischen Sammelbänden neueren Datums: Textnahe Interpretationen liefern Ates 2015a und Agard/Dupeyrix/Lartillot 2021. Ein weites Spektrum methodischer Zugänge offerieren die Sammelbände von Gerhardt 2000a, Villwock 2001, Luchte 2008, Pelloni/Schiffermüller 2015, Grätz/Kaufmann 2016, Mayer 2019a, Bertot/ Leclercq/Monseu/Wotling 2019. Die dort versammelten Beiträge reichen von weit ausgreifenden und horizontbildenden kulturgeschichtlichen Kontextualisierungen über themen- und motivorientierte Interpretationen bis hin zu akribischen quellengeschichtlichen Untersuchungen und Ausblicken auf die immense Wirkungsgeschichte von Za. Nicht mit einem Mangel, sondern umgekehrt mit einer erschlagenden Fülle an Forschungsliteratur sieht sich der/die Za-Forschende konfrontiert. Die Überblickskommentare zu den Werkteilen und Einzelkapiteln liefern zahlreiche Literaturhinweise, die dazu beitragen mögen, den Weg durch den Forschungsdschungel ein wenig zu erleichtern.

Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Erster Theil

Der Titel 9, 1 f. Also sprach Zarathustra. / Ein Buch für Alle und Keinen.] Der Titel, so hat man zu Recht bemerkt, „gibt Stil und Ton des Ganzen vor, und spannt ein Netz von Beziehungen und Paradoxien auf, aus dem Autor wie Leser nicht mehr herauskommen werden“ (Villwock 2001, 2). Irritationspotential birgt bereits der Haupttitel Also sprach Zarathustra, der wohl dem Itivuttaka nachgebildet ist, einer Sammlung von Aphorismen des Buddha, deren 112 Suttas jeweils eingeleitet werden durch die Phrase „Iti Vuttam Bhagavata“, die soviel meint wie „So hat es der Buddha gesagt“ (siehe dazu mit Quellenangabe NK 31, 16). Der Titel zeigt an, dass das Werk die mündlichen Reden einer Figur namens Zarathustra enthält, wobei die Referenz auf den historischen Zarathustra bzw. Zoroaster einen anderen Kulturraum evoziert und in die Vergangenheit weist. Der Sprechakt ist durch das Präteritum („sprach“) als vergangen und abgeschlossen ausgewiesen. Bemerkenswert ist, dass der Titel den Text zitiert (oder umgekehrt), denn die Wendung „Also sprach Zarathustra“, die das ganze Werk überschreibt, beendet formelhaft die Mehrzahl der Kapitel (vgl. NK 31, 16). Somit sind Text und Paratext in einer Weise miteinander verflochten, die die textinterne Struktur umstülpt: Die Schlussformel der Reden eröffnet als Titel das Werk. Deutungsmöglichkeiten offeriert die spannungsvolle Relation von Ober- und Untertitel. Indem der Untertitel Ein Buch für Alle und Keinen das Medium „Buch“ nennt, rückt er den Aspekt der Schriftlichkeit in den Blick, während der Haupttitel auf die Mündlichkeit von Zarathustras Reden abhebt. Den Leser*innen wird damit zu verstehen gegeben, dass ihnen mündliche Äußerungen in schriftlicher (Buch-)Form präsentiert werden und somit das, was sie lesen, weitgehend als Gesprochenes und zu Hörendes vorzustellen ist. Damit ist signalisiert, dass hier eine Form der „doppelten Autorschaft“ (Villwock 2001, 2) vorliegt: Zarathustra wird als Urheber der Rede genannt, und zugleich deutet der Untertitel auf eine zweite Autor-Instanz hin, die seine Reden verschriftlicht hat. Eine weitere Ebene der Vermittlung drückt sich in dem formelhaften „Also sprach Zarathustra“ aus, das der Instanz des Erzählers zugehört. Insgesamt werden also durch den Titel drei Ebenen der Vermittlung mit drei unterschiedlichen Sprechinstanzen markiert: die Ebene der Zarathustra-Figur, die des Erzählers und die des (fiktiven) Autors oder Herausgebers (zu den durch den Titel insinuierten Erzähl- und Sprechinstanzen siehe Zittel 2021, 335 f.). Der Untertitel deutet in Analogie zum Titel Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister auf den Adressat*innenkreis hin, für den das Werk bestimmt ist. Angaben zum anvisierten Zielpublikum im Titel waren im 19. Jahrhundert durchaus üblich, wie etwa folgende Titelformulierungen zeigen: Gustav https://doi.org/10.1515/9783110293319-002

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Adolph, König von Schweden. Ein Buch für Fürst und Volk (1845); Malwina. Ein Buch für gebildete Mütter (1843); Über lebende Würmer im lebenden Menschen. Ein Buch für ausübende Ärzte (1819). N. knüpft an diese Muster an und weicht zugleich signifikant von ihnen ab, indem er eine konkrete Adressierung gerade vermeidet. Wirft schon die Ausrichtung auf die „freien Geister“, an die sich MA I richtet, die Frage nach deren genauerer Bestimmung auf, so hebt die Zuschreibung an „Alle“ und „Keinen“ auf eine logische Unvereinbarkeit ab, die, statt eine spezifische Leserschaft zu profilieren, die Relation von Werk und Leser*in als fragwürdig kennzeichnet. Derart ruft bereits der Titel das Vermittlungsproblem auf den Plan, dem textintern das konflikthafte Verhältnis Zarathustras zu den Empfängern seiner Lehre entspricht. Nicht mit der Opposition von „Alle“ und „Keinen“, aber mit der von „Vielen“ und „Wenigen“ kennzeichnet mehr als zehn Jahre früher der Entwurf zur Einleitung von Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten ein prekäres Verhältnis zur Leserschaft. Dort wird als Leitlinie ausgegeben: „die vielen Leser abzuschrecken und davonzuscheuchen und die Wenigen anzuziehen. Also hört es, ihr Vielen! Odi profanum vulgus et arceo. [Vgl. Horaz, carmina III, 1, 1; „ich hasse den gemeinen Pöbel und halte ihn fern“] Werft das Buch weg! es ist nicht für euch und ihr seid nicht für dies Buch.“ (NL 1870/72, KSA 7, 8[83], 254, 1 f.) Die paradoxe Adressatenbestimmung „für Alle und Keinen“ ist schon vor N.s Za nachzuweisen. In einer Rezension der Wochenschrift Der Beobachter an der Oder kritisiert der anonyme Verfasser: „Der Titel zum Inhalte hätte auch ‚Für Alle und Keinen, oder Quodlibet‘ heißen können, so unbestimmt ist dieser.“ (Anonym 1804, 9) Die Formulierung „für Alle und Keinen“ ist dort also pejorativ gebraucht und zielt auf inhaltliche Profillosigkeit. Bereits Herder verwendet den Ausdruck „alle und keinen“ in seinem Shakespeare-Aufsatz von 1773, der über Shakespeare befindet, er habe „die Tücke, leere locos communes, Moralen und Klassifikationen, die auf hundert Fälle angewandt, auf alle und keinen recht passend, am liebsten Kindern und Narren in den Mund zu legen“ (Herder 1773, 110). In der Nachfolge N.s hat der Untertitel neue Titelprägungen angeregt. So erhielt die von Peter Hille herausgegebene Zeitschrift Der Eigene zunächst den vom Za entlehnten Untertitel Ein Blatt für alle und Keinen. Und die Brüder Heinrich und Julius Hart veröffentlichten 1900 im Eugen Diederichs Verlag in Leipzig die programmatische Schrift Vom höchsten Wissen. Vom Leben im Licht. Ein vorläufiges Wort an die Wenigen und an Alle. Der Untertitel hat die Interpreten von früh an beschäftigt und unterschiedliche Auslegungen erfahren. Nach Karl Löwith zeugt er von N.s Wissen um die „Schwierigkeit der öffentlichen Mitteilung von Dingen, die nicht für jedermann sind“ (Löwith 1990, 290). Er habe die Bedeutung: „für alle, die lesen können, und für keinen, der nicht des Autors Erfahrungen und Voraussetzungen teilt und auch

Za I Der Titel

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zwischen den Zeilen zu lesen und so das Ausgesagte auszulegen versteht“ (ebd.). Heidegger hingegen liest das „für alle und Keinen“ als Kritik an zeitgenössischen Leser*innen und als Indiz für N.s Ausrichtung auf einen erlesenen Kreis von Rezipient*innen, den er scharf von der Masse abgrenzt: „‚Für alle‘, d. h. freilich nicht: für jedermann als jeden Beliebigen. ‚Für alle‘, dies meint: für jeden Menschen als Menschen, für jeden jeweils und sofern er sich in seinem Wesen denkwürdig wird. ‚… und Keinen‘, dies sagt: für niemanden aus den überall her angeschwemmten Neugierigen, die sich nur an vereinzelten Stücken und besonderen Sprüchen dieses Buches berauschen und blindlings in seiner halb singenden, halb schreienden, bald bedächtigen, bald stürmischen, oft hohen, bisweilen platten Sprache umhertaumeln, statt sich auf den Weg des Denkens zu machen, das hier nach einem Wort sucht.“ (HGA 7, 101) Leitend für Heideggers Verständnis ist die kritische Bewertung der Za-Rezeption, der er 1954 in Wer ist Nietzsches Zarathustra? das Verfehlen des Werks vorwirft: „Wie unheimlich hat sich dieser Untertitel des Werkes in den siebzig Jahren seit seinem Erscheinen bewahrheitet – aber in genau umgekehrtem Sinne. Es wurde ein Buch für jedermann, und kein Denkender zeigt sich bis zur Stunde, der dem Grundgedanken dieses Buches gewachsen wäre und seine Herkunft in ihrer Tragweite ermessen könnte.“ (Ebd.) Nach Higgins, die Heidegger zu Recht vorwirft, dass seine Deutung der rigideren Formulierung N.s zuwiderläuft, derzufolge sein Za eben nicht für eine elitäre Gruppe, sondern schlichtweg für „Keinen“ gedacht sei, hebt der Untertitel auf die Differenz von adressatenbezogenen und selbstbezogenen Reden ab: Der Großteil von Zarathustras Reden sei für ein Publikum gedacht, andere aber hätten den Status von „private meditations“ (Higgins 1987, 96) und seien somit für ‚keinen‘ außer Zarathustra selbst bestimmt. Darüber hinaus provozierte die paradoxe Formel „für Alle und Keinen“ in der Za-Forschung unterschiedliche Deutungen: Man hat sie auf das Problem des Verstehens bezogen, mit dem sich Propheten und Religionsstifter von jeher konfrontiert sahen. Der Untertitel signalisiere einerseits N.s Anspruch der allgemeinen Bedeutung seines Werks, andererseits aber auch, dass er damit rechne, unverstanden zu bleiben (so Braun 1998, 26). Ähnlich Groddeck 2016, 423, der den Untertitel als Anspielung begreift auf „das Nicht-verstanden-Werden, ja das Nicht-verstanden-Werden-Wollen“. Des Weiteren hat man „für Alle und Keinen“ als Hinweis gelesen auf die Unzeitgemäßheit von Za als einem Werk, das nicht verstanden werden kann, weil es zu früh kommt (und insofern „für Keinen“ fruchtbar zu machen ist) oder weil es sich aufgrund seiner kunstvoll-komplexen Faktur dem Verstehen versperrt (so Alderman 1977, 96). In Za IV findet sich eine direkte Bezugnahme auf den Untertitel, die diese Deutung stützt. Im Rückblick auf den Beginn seines Wirkens stellt Zarathustra dort fest, dass er die „Einsiedler-Thorheit“ besessen habe, sich auf den „Markt“ zu stellen und öffentlich zu allen Menschen zu sprechen – mit dem Effekt, dass er mit seiner Rede niemanden erreichte: „Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem.“ (356, 6)

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N. selbst stellte sich in einem Brief an Heinrich Köselitz vom 3. August 1883 seltsam unwissend, was die Adressat*innen des eigenen Werks anbelangt. Er nimmt dort die distanzierte Haltung eines außenstehenden Rezipienten ein, der sich seiner Deutung nicht sicher ist: „Wenn ich den ersten Zarathustra ganz verstehe: so will er eben an solche sich wenden, welche im Gedränge und mitten im Gesindel lebend e n t w e d e r ganz und gar die O p f e r dieses Distanz-Affektes werden (des Ekels, unter Umständen!) o d e r ihn ablegen müssen“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 446, S. 418, Z. 31–35). Zu N.s eigentümlicher Distanzierung von der eigenen Autorschaft vgl. auch die Ausführungen in EH Za 3, in denen er den Entstehungsprozess von Za I in die Nähe göttlicher Inspiration rückt und den Dichter zum „medium übermächtiger Gewalten“ (KSA 6, 339, 14) erklärt.

Zarathustraʼs Vorrede Überblicks- und Stellenkommentare Den initialen Moment für alles Nachfolgende bildet Zarathustras Entschluss, sein einsames Dasein zu beenden, sich wieder unter Menschen zu begeben, um ihnen von der Überfülle seiner „Weisheit“ (11, 16) abzugeben. Die daraus resultierenden Begegnungen und Episoden, die in chronologischer Folge erzählt werden, erscheinen auf den ersten Blick disparat. Als einende Klammer fungiert die Hauptfigur: Zarathustra, der sich – in dieser Hinsicht dem Protagonisten eines Bildungsromans vergleichbar (Strukturanalogien zum Bildungsroman will Niemeyer 2007, 13 erkennen) – durch den fiktiven Raum bewegt, hierbei anderen Figuren begegnet, mit ihnen in Kommunikation tritt und ihnen eigene Einsichten in Form von kleinen Reden vorstellt. Der Raum strukturiert das Geschehen aber nicht nur auf horizontaler Achse, indem sich Zarathustra von Ort zu Ort bewegt, sondern auch vertikal: Zarathustra steigt von den Gipfeln der Berge in die Täler der Menschen hinab. Der Opposition von Höhe und Tiefe kommt sowohl symbolische als auch wertende Bedeutung zu. Der Höhe des Gebirges werden die Niederungen der Menschen gegenübergestellt, dem exzeptionellen Einzelnen kontrastiert die dumpfe Masse. Im gesamten Werk N.s ist „Z a r a t h u s t r a ’ s V o r r e d e“ wohl die Textpartie, die am stärksten rezipiert wurde und die größte Popularität erlangte. Auch in der Forschung erfuhr Za I Vorrede großes Echo; zum Überblick siehe Naumann 1899–1901, 1, 93–119; Sallet 1950; Moretti-Constanzi 1964; Palma 1971; Romanini 1975, Rosen 1995, 23–77; Lampert 1986, 14–31; Pieper 1990, 29–108; Gooding-Williams 2001, 45–100; Honneth 2002; Burnham/Jesinghausen 2010, 15–28; Meier 2017, 17–27; König 2021, 27–39; außerdem zu spezifischen Aspekten und Teilen der Vorrede: Julião 2007 (zum Verhältnis von Übermensch/letztem Mensch); Windgätter 2001 (zur Sprache), Marton 2013 (zur Kommunikation); Treccani 2015 (zu Za I Vorrede 1–5); Choong-Su 2015 (zu Za I Vorrede 6–10); Spezialliteratur zum Übermenschen findet sich in ÜK Za I Vorrede 3, zum letzten Menschen in NK 19, 7 und zur Seiltänzerepisode in ÜK Za I Vorrede 5. Ottmann 2012, 59 versteht die Vorrede als exemplarisch für die strenge Komposition von Za und weist auf strukturelle Symmetrien und Korrespondenzen hin: Der Untergliederung der Vorrede in zehn durchnummerierte Abschnitte entspräche die zehn Sätze umfassende erste Rede Zarathustras in Za I Vorrede 1 sowie der zehn Abschnitte umfassende letzte Teil Za I Vorrede 10. Als rahmendes Element macht Ottmann die Rede vom „Untergang“ Zarathustras aus, denn der erste und der letzte Abschnitt von Za I Vorrede enden jeweils identisch mit dem Satz: „Also begann Zarathustra’s Untergang“ (12, 10 u. 28, 3), womit eine zyklische Struktur angedeutet ist. Im ersten der insgesamt zehn Abschnitte von Za I Vorrede bricht Zarathustra morgens von der Höhe des Gebirges auf, um hinunter in die https://doi.org/10.1515/9783110293319-003

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Täler zu den Menschen zu steigen. Bei seinem Abstieg begegnet er zunächst einem alten Heiligen im Wald (Abschnitt 2). Dann erreicht er den tiefsten Punkt, die Stadt, wo er den auf dem Marktplatz versammelten Menschen drei Reden hält (Abschnitt 3–5). Anschließend erlebt er die Vorführung eines Seiltänzers, dem sein Balanceakt in luftiger Höhe über dem Marktplatz zum Verhängnis wird: Er stürzt ab und stirbt. Zarathustra nimmt sich des Verunglückten an und ‚bestattet‘ den Leichnam des Nachts außerhalb der Stadt in einem hohlen Baum (Abschnitt 6– 8). Bei seinem Erwachen am Vormittag des Folgetags hat er die Eingebung, sich „lebendige Gefährten“ (25, 21) als künftige Adressaten seiner Lehre zu suchen (Abschnitt 9). Schließlich (Abschnitt 10) zieht er im Beisein seiner Tiere die Konsequenz aus seinen Erlebnissen, indem er zwar an seinem Lehrvorhaben festhält, sich aber vornimmt, es von nun an „klüger“ (27, 25) anzustellen. Geschehen und Figuren sind stark typisiert. Abgesehen von Zarathustra tragen die Figuren keine Eigennamen; sie sind nicht als Individuen gezeichnet, sondern „zeichenhaft“ gegen die Anmutung einer „konkrete[n] Lebenswelt gesetzt“ (Müller 2015, 22): der alte Heilige, der Eremit, der Seiltänzer, der Possenreißer, die Totengräber – sie alle repräsentieren typische Daseinsformen. Was Zarathustra widerfährt, trägt somit den Stempel des Allgemeinen und fordert zur Deutung heraus. So wie der Abfolge und dem Wechsel der ebenfalls stark typisierten Orte und Räume kommt auch der Abfolge der Tageszeiten, die unmittelbar an die Ortswechsel geknüpft ist, sowohl strukturierende als auch symbolische Bedeutung zu. Die Handlung setzt ein zur Zeit der „Morgenröthe“ (11, 7); in ihrem Angesicht fasst Zarathustra den Entschluss, zu den Menschen hinabzusteigen, wobei er sein Dasein mit dem Lauf der Sonne analogisiert. Er verlässt die Gebirgshöhe, durchquert Wälder und findet sich schon bald auf dem Marktplatz wieder (womit sich die von ihm so stark empfundene Distanz zu den Menschen rein geographisch als nicht allzu groß erweist). Am Abend bleibt er allein mit dem Leichnam des Seiltänzers zurück. Während es Nacht wird, verliert er das Zeitgefühl („so vergass er die Zeit“, 22, 27) und geht bis zum Morgengrauen weiter. Er verschläft die neue Morgenröte und befindet: „Zwischen Morgenröthe und Morgenröthe kam mir eine neue Wahrheit.“ (26, 27 f.) In symbolischer Konfiguration steht die Sonne am Ende der Vorrede „im Mittag“ (27, 9), was auf das Motiv des ‚großen Mittags‘ voraus deutet (vgl. dazu NK 102, 6–9). Za I Vorrede spannt ein dichtes Netz von Motiven aus und führt Zentralmotive ein, die das gesamte Werk durchziehen: Sonne, Mittag, die Motive des Schenkens, des Ekels, der Einsamkeit. Und auch die Leitdifferenzen, die fortan das Koordinatensystem von Zarathustras Wirken ausmachen, werden bereits hier nachdrücklich entfaltet: die Antagonismen von Natur und Kultur, von Höhe und Tiefe, Mensch und Tier, Einsamkeit und Geselligkeit, die Opposition von Einzelnem und Masse. Gleichzeitig erhalten schon hier zentrale philosophische Gedanken eine

Überblickskommentar Za I Vorrede / Stellenkommentar Za I Vorrede, KSA 4, S. 11

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erste Kontur. Explizit spricht Zarathustra vom Tod Gottes (14, 5–7; 15, 7 f.) und präsentiert sich als Künder der Lehre vom Übermenschen (14, 13). Implizit ist schließlich auch der Gedanke der ewigen Wiederkunft in Struktur und Motiven präsent (vgl. NK 27, 8–13). Allerdings erscheinen diese philosophischen ‚Lehren‘ in starker Brechung, denn es wird von Beginn an das Problem ihrer Vermittlung und Weitergabe mit aufgerufen. So tritt Zarathustra in der Vorrede nicht bloß als Verkünder und Lehrer des Übermenschen auf, sondern als jemand, der in dieser Rolle scheitert, da er kein Gehör findet und seine Zuhörer nicht erreicht. Er selbst erkennt und reflektiert sein Scheitern und versucht darauf zu reagieren. Mit seinen drei öffentlichen Reden verfolgt er drei unterschiedliche persuasive Strategien, um seine Zuhörer auf das Ziel des Übermenschen einzuschwören. Zunächst versucht er, sie durch eine Hassrede auf die selbstzufriedenen Menschen zur Selbstüberwindung anzuspornen, indem er ihnen ihre verabscheuungswürdigen Seiten vor Augen rückt (Abschnitt 3). Danach wählt er die Gegenstrategie; er hält eine Liebesrede, um seine Zuhörer in ihren auf Selbstüberwindung ausgerichteten Qualitäten zu bestärken und anzutreiben (Abschnitt 4). Nach der Erfolglosigkeit dieser beiden komplementären Strategien schlägt er einen dritten Weg ein. Mit der Vision vom „letzten Menschen“ präsentiert er den Gegenentwurf zum Übermenschen und malt ein mediokres, mit dem Status quo zufriedenes Dasein aus (Abschnitt 5). Seine Zuhörer aber reagieren anders als erwartet, sie bejubeln diese Vision, die Zarathustra ihnen als das das „Verächtlichste[.]“ (19, 6) vor Augen stellt, und verlangen: „‚Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, […] mache uns zu diesen letzten Menschen!‘“ (20, 24–26) Damit erreicht das Missverstehen seiner Botschaft einen grotesken Höhepunkt. Zur Disposition stehen also nicht nur die Inhalte von Zarathustras Lehre, sondern ebenso auch die angemessene Form der Vermittlung, der geeignete Rezipientenkreis und der adäquate Ort seines Wirkens. In allen drei Hinsichten misslingt sein erstes Auftreten. In einem Rückblick in Za IV Vom höheren Menschen resümiert er selbst: „Als ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that ich die Einsiedler-Thorheit, die grosse Thorheit: ich stellte mich auf den Markt. / Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem. Des Abends aber waren Seiltänzer meine Genossen, und Leichname; und ich selber fast ein Leichnam. / Mit dem neuen Morgen aber kam mir eine neue Wahrheit: da lernte ich sprechen ‚Was geht mich Markt und Pöbel und Pöbel-Lärm und lange Pöbel-Ohren an!‘“ (356, 3– 11) Zu Zarathustra als (scheiterndem) Lehrer vgl. NK 14, 13. 11, 1 Z a r a t h u s t r a ’ s Vo r r e d e.] In Cb korrigiert aus „D i e V o r r e d e Zarathustra’s.“ Das Inhaltsverzeichnis der Erstausgabe verzeichnet den abweichenden Titel „Vom Übermenschen und vom letzten Menschen“ (Nietzsche [1883a], 114). In der Forschung wird häufig von der „Vorrede des Zarathustra“ gesprochen (z. B. Benne 2005b, 221; Georg-Lauer 2009, 129), was aber unpräzise ist, da die Über-

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schrift nicht das Werk, sondern die Figur des Zarathustra als Sprecher der Vorrede meint. Ein Erzählereinschub am Ende des fünften der insgesamt zehn Abschnitte der Vorrede unterstreicht das, wenn es dort heißt: „Und hier endete die erste Rede Zarathustra’s, welche man auch ‚die Vorrede‘ heisst“ (20, 22 f.). Die zur „Vorrede“ erklärte erste Rede Zarathustras schließt also mitten in der eröffnenden Werkpartie, die insgesamt unter der Überschrift „Z a r a t h u s t r a ’ s V o r r e d e“ steht. Damit erweist sich diese Überschrift als zweideutig: Sie bezeichnet zum einen die erste Rede des Protagonisten Zarathustra und überschreibt zum andern eine Textpartie, die sich keineswegs in der Wiedergabe dieser ersten Rede erschöpft, sondern die darüber hinaus in ihren zehn Abschnitten auch erzählende Passagen und Dialoge enthält. Die Überschrift birgt daher doppeltes Irritationspotenzial: Zum einen, weil sie nicht dem gesamten Inhalt der mit „Z a r a t h u s t r a ’ s V o r r e d e“ überschriebenen Textpartie gerecht wird, zum andern weil sie den Begriff „Vorrede“ in unkonventioneller Weise einsetzt. ‚Vorrede‘ wird herkömmlich synonym für ‚Prolog‘ verwendet und bezeichnet die Einleitungspartie eines Dramas oder eines Prosawerks, die sich direkt an die Zuschauer*innen bzw. Leser*innen wendet. Das ist hier aber nicht der Fall und so läge es näher, von der eröffnenden oder eben von der „erste[n] Rede“ Zarathustras zu sprechen. Die unkonventionelle Begriffsverwendung, die nach Groddeck 2001, 205 den provisorischen Charakter dieser ersten „und im Effekt misslungenen Rede“ anzeigt, erzeugt Irritation und spielt mit den Erwartungen, die die Textsorte ‚Vorrede‘ weckt. Dabei ist daran zu erinnern, dass N. selbst seine Texte und Werke immer wieder mit Vorreden versehen hat. Es schreibt hier also ein versierter Verfasser von Vorreden, der die spezifischen Möglichkeiten dieser Textsorte eingehend reflektiert hat. NL 1880, KSA 9, 3[1], 47, 19 etwa spricht von der „Sitte der Vorrede“, die es erlaube, dass der Autor das eigene Werk in ein kritisches Licht rücke und dem/der Leser*in dadurch eine vorsichtige Lektüre nahelege. Die eigenen Vorreden nutzte N. sonst immer auch als Plattformen zur Inszenierung seiner Autorschaft und zur Kommunikation mit dem/der Leser*in. Das gilt insbesondere auch für die 1886 verfassten Vorreden, denen ein reges Forschungsinteresse gilt (vgl. dazu etwa Tongeren 2012, Santana 2013, Béland 2014, Gillespie 2017b). „Z a r a t h u s t r a ’ s V o r r e d e“ unterscheidet sich indes in signifikanter Weise von diesen anderen Vorreden. Sie bewegt sich auf einer anderen diegetischen Ebene, nämlich bereits auf der des fiktionalen Geschehens. So wendet sich hier nicht der (fiktive) Autor, Herausgeber oder eine Figur an den/die (fiktive/n) Leser*in, wie das für die Kommunikation in einem Prolog typisch wäre, vielmehr entspricht die Erzähl- und Kommunikationsstruktur prinzipiell bereits der der nachfolgenden Werkteile. Die Vorrede gehört also nicht zum Paratext, sondern ist Teil der erzählten Handlung. Man könnte von einem ‚Vorspiel‘ sprechen, das

Stellenkommentar Za I Vorrede, KSA 4, S. 11 / Überblickskommentar Za I Vorrede 1

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in komprimierter Form zentrale Themen und Motive vorstellt und auch in der Darbietungsform repräsentativ ist für das Ganze. Wie das für weite Teile von Za gilt, so alternieren auch hier Erzähler- und Figurenrede, es wechseln sich narrative Passagen ab mit Partien, in denen die Figuren in Dialogen und Monologen unmittelbar zu Wort kommen. Und wie sonst auch erhält dabei die Figurenrede das Übergewicht, so dass der Erzähler über weite Passagen im Hintergrund bleibt. Das ist charakteristisch für Za insgesamt, in dem zwar der Erzählerbericht immer wieder Kenntnis vom Geschehen gibt, der Erzähler dabei aber nur selten in kommentierender und wertender Funktion in Erscheinung tritt (zum Erzähler vgl. Zittel 2002 u. Zittel 2021).

1. Der erste Abschnitt der Vorrede bietet in mehrfacher Hinsicht die Grundlage des ganzen Werks. Er vermittelt nicht nur die basalen Informationen zur erzählten Handlung (Figur, Ort, relative Zeitangaben), sondern legt die ersten Maschen zu dem Netz von Leitmotiven aus, das den Text durchzieht und insbesondere die Hauptfigur Zarathustra charakterisiert. Die in Za I Vorrede 1 eingeführten Zentralmotive ‚Einsamkeit‘ und ‚Verwandlung‘ kennzeichnen Zarathustras Dasein und werden fortan immer wieder in variierender Weise gestaltet. Gleiches gilt für die Analogisierung seiner Existenz mit den Zeiten des Tages und dem Lauf der Gestirne; auch sie bildet ein zentrales, immer wieder aufgenommenes Darstellungsprinzip, mittels dessen der naturhafte Rhythmus, aber auch die Krisenhaftigkeit von Zarathustras Leben veranschaulicht werden. Auffälligstes Merkmal der Eingangspartie ist das Fehlen von individualisierenden Merkmalen. Abgesehen vom Figurennamen ‚Zarathustra‘, der als einziges konkretes Element am Beginn steht, setzt sich die Szenerie aus Grundelementen und Topoi zusammen: es wird kein konkreter Ort genannt, sondern das landschaftliche Oppositionspaar See und Gebirge gibt die räumlich nicht weiter bestimmten Koordinaten vor, und überdies verweist der gleich zweifach genannte Begriff „Heimat“ (11, 3 u. 4) auf die affektive Bindung des Protagonisten an den Raum. Auch wird das Geschehen zeitlich nicht datiert; die einzigen Zeitangaben beziehen sich auf Zarathustra (sein Alter und die gerade vergangene Lebensphase), was seine Zentralstellung in der erzählten Welt unterstreicht. Bemerkenswert ist, dass es sich um runde Alters- und Zeitangaben handelt, wie sie herkömmlich mythischen Figuren zugeschrieben werden (siehe dazu NK 11, 3). Auffällig ist ein Synkretismus von christlichen und mythischen Elementen anderer Religionen, insbesondere scheint der altpersische Sonnenkult im Hintergrund auf (zur strukturellen und leitmotivischen Bedeutung der Sonne vgl. NK 11, 9 f.).

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Zarathustra wird eingeführt als jemand, der ein selbstgenügsames Dasein führt und die Einsamkeit schätzt. Man erfährt, dass er sich im Alter von dreißig Jahren von der sozialen Gemeinschaft separierte und seit zehn Jahren das Leben eines Einsiedlers im Gebirge führt. Eine solche Phase des Rückzugs ist typisch für die großen Religionsstifter, worauf etwa auch Karl Friedrich Koeppen in seinem Buch Die Religion des Buddha hinweist, das N. 1870 aus der Basler Universitätsbibliothek entliehen hatte (Crescenzi 1994, 401): „In dem Leben der uns bekannten Religionsstifter spielt ganz natürlich die Periode, in welcher sie sich in der Einsamkeit auf ihre Mission vorbereiten eine wichtige Rolle, die Zeit der Enthaltsamkeit und Selbstprüfung, der Versuchung und geistigen Kämpfe, des endlichen Durchbruchs. Jesus hat sich vierzig Tage in die Wüste zurückgezogen, ehe er als Messias auftritt; Mohammed mehrere Jahre hindurch lange Wochen, ja Monate einsam in der Höhle des Berges Hara in Betrachtungen und Gebeten zugebracht, bevor die Nacht der göttlichen Rathschlüsse hereinbricht; Câkjamuni seinerseits soll der Tradition nach sechs Jahre der Studien, der Busse, Selbstpeinigung und Meditation verlebt haben, ehe er zum Buddha gereift ist.“ (Koeppen 1857, 85) Freilich setzt die Handlung der Vorrede an einem erneuten Wendepunkt in Zarathustras Leben ein, nämlich zu dem Zeitpunkt, da er sich entscheidet, wieder unter Menschen zu leben, um sie an seiner „Weisheit“ (11, 16) teilhaben zu lassen und selbst „wieder Mensch werden“ (12, 9) zu können. Das erinnert an die Menschwerdung Gottes in Gestalt von Jesus Christus und wirft die Frage nach Zarathustras Status auf. Zarathustras Existenz erscheint durch eine Ambivalenz gekennzeichnet: Er liebt die Einsamkeit, hat aber auch das Bedürfnis, in die soziale Gemeinschaft zurückzukehren und sich den Menschen mitzuteilen. Damit schlägt Za I Vorrede 1 ein Grundmotiv von Zarathustras Existenz an, das die weitere Struktur des Werks prägt: Sein Leben ist bestimmt durch einen Rhythmus, in dem sich Phasen der Einsamkeit mit Phasen eines auf die Gesellschaft bezogenen Lebens abwechseln. So wie es ihn hier aus der Einsamkeit heraus nach menschlicher Gemeinschaft verlangt, so sehnt er sich bald wieder aus der menschlichen Gemeinschaft in die Einsamkeit zurück. In Analogie dazu knüpft er seine Existenz unmittelbar an den zyklischen Lauf der Sonne, die morgens auf die Gipfel „herauf“ (11, 11) kommt und abends hinab „in die Tiefe“ (11, 22) steigt. Die damit vorgestellten zeitlichen und räumlichen Koordinaten bilden den Rahmen, in dem sich Zarathustras Existenz fortan entfaltet. Zarathustra steigt zweimal von seiner Bergeshöhle zu den Menschen hinab: am Beginn von Za I und am Beginn von Za II (106, 18 f.). Auch in Za III Von alten und neuen Tafeln wartet er auf die Stunde des „Niederganges, Unterganges“, denn, so erklärt er dort: „noch Ein Mal will ich zu den Menschen gehen“ (246, 6 f.). Der Wechsel von Anziehung und Abstoßung, den die menschliche Gesellschaft auf Zarathustra ausübt, erscheint in einem – noch nicht im cha-

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rakteristischen Zarathustra-Ton verfassten – Notat von 1880 als Streit zwischen Kopf und Herz präfiguriert: „Sein heller Kopf trieb ihn oft auf einsame Bahnen, wo er die Menschen los war; aber sein Herz war zu ängstlich dafür und schlug unerträglich dabei gegen seine Rippen. Gab er dem Herzen nach, so mischte er sich wieder unter die Menschen und nun befand sich sein Kopf elend.“ (NL 1880, KSA 9, 3[32], 55, 11–15) Allerdings treibt nicht Ängstlichkeit Zarathustra in die Gemeinschaft zurück, sondern der Wille, den Menschen von seinem „Überfluss“ abzugeben (siehe dazu NK 11, 16–19). Erzähltechnisch beginnt Za I Vorrede 1 mit einer kurzen narrativen Passage, die dann in einen Monolog Zarathustras übergeht. Diese Rede Zarathustras, eine Apostrophe der Sonne, macht den Hauptteil des Abschnitts aus (11, 9–12, 9) und erhält am Ende durch die formelhaft resümierenden Schlussworte des Erzählers „Also begann Zarathustra’s Untergang.“ (12, 10) einen rahmenden Abschluss. Zunächst orientiert der Erzähler in einem stark zeitraffenden Rückblick knapp über die vergangenen zehn Jahre, die Zarathustra entfernt von seiner Heimat in Einsamkeit zubrachte, wobei er sich an zwei zeitliche Eckpunkte in Zarathustras Leben hält, die jeweils für eine existenzielle Wende einstehen: an den Moment, in dem Zarathustra im Alter von dreißig Jahren den Entschluss fasst, die Heimat zu verlassen, und den Moment, in dem er zehn Jahre später „eines Morgens“ (11, 7) mit „verwandelte[m]“ (11, 6) Herzen zur Sonne spricht. In dieser ersten Rede verkündet Zarathustra seinen Entschluss zur Rückkehr unter die Menschen, indem er sich monologisierend an die Sonne wendet, die ihm als Spiegel der eigenen Situation und als Medium der Selbstreflexion dient. Er setzt sein Dasein in Analogie zur Sonne, der er anthropomorphe Bestrebungen und eine befremdliche Form der Abhängigkeit zuschreibt. So scheint ihm das „Glück“ (11, 9) der Sonne in der Existenz anderer begründet, denen sie ihr Licht spendet; sich selbst und seine Tiere wiederum versteht er als Adressaten ihrer lichtspendenden Kraft: „Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange.“ (11, 11–13) Es scheint hier eine narzisstische Dimension auf, rückt Zarathustra derart doch die eigene Existenz ins Zentrum des kosmischen Geschehens. Doch gibt er dem Bild der Licht bringenden Sonne noch eine andere, gegenläufige Wendung: Er macht die Vorstellung von der Sonne, die ihr Glück darin findet, anderen von ihrer Fülle abzugeben, zum Modell seines eigenen Daseins, indem er sich mit ihr identifiziert. Damit tritt er aus der Rolle des Empfangenden heraus und entwirft sich als Gebender: Zarathustra will, metaphorisch gesprochen, selbst Sonne werden. Von der „S o n n e n-Natur“ seines Protagonisten spricht N. später in EH Za 7 (KSA 6, 345, 25). So wie die Sonne ihren Reichtum verschenkt, indem sie der Welt ihr Licht bringt, möchte auch Zarathustra von seiner Fülle „verschenken und austheilen“ (11, 19). Er stellt das Schenken als

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einen Akt vor, der ebenso im Interesse des Gebenden wie in dem der Empfangenden liegt. Die von ihm bemühten Metaphern deuten das Schenken als ein existenzielles Bedürfnis. Nicht nur vergleicht er sich mit der Sonne, die er darauf angewiesen sieht, dass andere ihren „Überfluss“ (11, 15) abnehmen (zur Herkunft des unkonventionellen Bildes vgl. NK 11, 9 f.), er vergleicht sich überdies mit der „Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat“ (11, 16 f.) und schließlich mit einem übervollen Becher, der „wieder leer werden“ (12, 8) wolle. Unter all den leitmotivisch wiederkehrenden Motiven ist das der Sonne das wichtigste. Sie ist ein Zentralmotiv des Za und trägt wesentlich zum Eindruck werkkonzeptioneller Geschlossenheit bei. Indem das letzte Kapitel von Za IV die Anrede an die Sonne in variierender Form wieder aufgreift (405, 6–20), erhält das Za-Werk in seinen vier Teilen einen rahmenden Abschluss. Das Programm der ‚Rückkehr unter die Menschen‘ (vgl. NK 12, 8 f.), das am Beginn von Zarathustras prophetischem Wirken steht, ist autobiographisch verankert. In seinen Briefen inszeniert N. sich Freunden gegenüber wiederholt als jemanden, der zwischen völliger sozialer Isolation und angestrengter Kontaktsuche schwankt, die ‚Rückkehr zu den Menschen‘ dabei aber als höchst problematisch erfährt. So schreibt er an Lou von Salomé am 8. September 1882 anlässlich seines Umzugs nach Leipzig: „Es kommt mir jetzt so vor, als ob meine R ü c k k e h r zu den Menschen dahin ausschlagen sollte, dass ich die Wenigen, die ich noch in irgend einem Sinne besaß, v e r l i e r e.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 298, S. 252, Z. 12–14) Overbeck lässt er um den 20. Dezember 1882 wissen: „Ich ging dieses Jahr mit einem wirklichen Verlangen zu ‚den Menschen‘ zurück − ich meinte, man dürfe mir schon etwas L i e b e u n d E h r e erweisen. Ich erlebte Verachtung, Verdächtigung und, in Hinsicht auf das, was ich kann und will, eine ironische Gleichgültigkeit.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 359, S. 306, Z. 15–19) Gegenüber der Schwester klagt N. am 27. April 1883, also knapp vier Monate später: „Es war mein schwerster und kränkster Winter; abgerechnet 10 Tage, welche mir gerade genügten, um Etwas zu machen, um dessentwillen sich mein ganzes schweres und krankes Dasein l o h n t. Ich hatte aus meiner kurzen ‚Rückkehr zu den Menschen‘ eine solche Summe von widerlich-schauerlichen Eindrücken mitgenommen, daß ich eine Zeitlang ihre Last zu schwer fand.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 408, S. 368, Z. 11–17) Und in einem Schreiben an Malwida von Meysenbug resümiert er gegen Ende März 1884 dann resigniert: „– Daß ich in den letzten Jahren j e d e A r t von Niederträchtigkeit erlebt habe und daß beinahe Jedermann, meine Mutter und Schwester s e h r eingerechnet, Hände voll Schmutz nach meinem Charakter geworfen haben, Dies rechne ich nicht zu hoch an: ob es gleich, weil es auf Ein Mal kam, mich beinahe um den Verstand gebracht hat. Es war zuletzt eine Eselei von mir, mich ‚unter die Menschen‘ zu begeben: ich m u ß t e es ja voraus wissen, was mir da begegnen werde.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 498, S. 490, Z. 25–32)

Überblickskommentar Za I Vorrede 1 / Stellenkommentar Za I Vorrede 1, KSA 4, S. 11

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Die Vorgeschichte von Za I Vorrede 1 ist textgenetisch überaus interessant, denn N. greift mit diesem Abschnitt unmittelbar auf die 1882 erschienene erste Ausgabe von FW zurück, indem er deren Schlussabschnitt FW 342 nahezu textidentisch übernimmt und unter der Überschrift „Z a r a t h u s t r a ’ s V o r r e d e“ (11, 1) als ersten Abschnitt an den Beginn von Za setzt (siehe dazu NK 11, 3–12, 10). Wie Paolo D’Iorio 1993, 395 nachweisen konnte, bildet ein Exzerpt aus Friedrich Anton Heller von Hellwalds Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart die Keimzelle für Za I Vorrede 1 (hierzu NK 11, 3–8). 11, 3–12, 10 Als Zarathustra dreissig Jahr alt war […] Also begann Zarathustra’s Untergang.] In Gänze ist Za I Vorrede 1 bereits in FW enthalten, wo der Abschnitt (FW 342) unter der Überschrift „I n c i p i t t r a g o e d i a“ das vierte Buch beschließt, mit dem FW in der ersten Fassung endet (KSA 3, 571, 2–29). Auf semantischer Ebene gibt es nur eine einzige Veränderung; denn während es in Za heißt „verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge“ (11, 3 f.), führt die entsprechende Partie in FW 342 den Namen des Sees an: „verliess er seine Heimath und den See Urmi und gieng in das Gebirge.“ (KSA 3, 571, 2 f.) Alle anderen Abweichungen sind formaler Art und erstrecken sich in erster Linie auf die Interpunktion, da N. den in FW 342 fortlaufend und ohne Einrückungen angeordneten Text in Za I Vorrede 1 einer schriftbildlichen Rhythmisierung und Untergliederung in Absätze bzw. Verse unterzieht, wie sie für den gesamten Za charakteristisch ist. Zu diesem Zweck nimmt er stärkere Markierungen der syntaktischen Einheiten vor. Statt „du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange; aber wir warteten deiner“ (KSA 3, 571, 10–12) heißt es dann in Za in Ersetzung des Semikolons durch einen Punkt: „du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange. / Aber wir warteten deiner“ (11, 11–14). Und „ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken, ich möchte verschenken“ (KSA 3, 571, 15 f.) wird in Za zu „ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. / Ich möchte verschenken“ (11, 17–19). Schließlich verändert N. nach entsprechendem Muster „du überreiches Gestirn! – ich muss, gleich dir, u n t e r g e h e n“ (KSA 3, 571, 21 f.), in Za I Vorrede 1 zu „du überreiches Gestirn! / Ich muss, gleich dir, u n t e r g e h e n“ (11, 24–12, 1). Auf die befremdliche Tatsache der nahezu identischen Wiederholung eines ganzen Textabschnitts aus FW am Beginn von Za weist EH Also sprach Zarathustra 1 rückblickend explizit hin, indem FW dort als ein Übergangswerk vorgestellt wird, ganz unter dem Zeichen der Vorbereitung und Vorankündigung von ungleich Bedeutsamerem stehend: „In die Zwischenzeit gehört die ‚gaya scienza‘, die hundert Anzeichen der Nähe von etwas Unvergleichlichem hat; zuletzt giebt sie den Anfang des Zarathustra selbst noch“ (KSA 6, 336, 6–8). Indem N. das Ende von FW zum „Anfang des Zarathustra“ erklärt, hebt er aus der Retrospektive

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nachdrücklich die Durchlässigkeit der Werkgrenzen hervor, betont die innere Zusammengehörigkeit der Werke, das genetische Hervorgehen des einen aus dem anderen, das er nach dem Muster der Steigerung modelliert, ja als Präfiguration und Erfüllung darstellt. Statt eines abrundenden Endes hat N. in offensiver Weise einen Anfang ans Ende der Erstfassung von FW gesetzt – einen Anfang allerdings, der abbricht und erkennbar fragmentarisch bleibt, indem er einen Beginn ankündigt, welcher der Anfang eines Endes zu sein beansprucht: „Also begann Zarathustra’s Untergang.“ (KSA 3, 571, 28 f.) lautet der letzte Satz in der Erstausgabe von FW – womit die Erwartung auf eine Fortsetzung geweckt wird, auf die die Leser*innen gespannt sein dürfen. Entsprechend vermerkt ein Rezensent von 1882: „Der Schluss des Buches, Incipit tragoedia betitelt, ist höchst eigenthümlich, man hat ihn als einen Hinweis des Autors auf seine zukünftigen Absichten, als eine Verheissung über sich selbst zu verstehen, in Form einer Erzählung, wie sie dem künstlerischen Stile Nietzsche’s durchaus angemessen erklingt.“ (Wagner 1882, 695) Obwohl der Name „Zarathustra“ schon in den Vorstufen zu FW gegenwärtig ist, findet er in der ersten Fassung des Werks an keiner Stelle Erwähnung. Erst in der zweiten Fassung von 1887 wird Zarathustra zwei weitere Male namentlich erwähnt, in FW 381 (KSA 3, 635, 4 f.) und im lyrischen „Anhang“ in dem Gedicht „Sils-Maria“ (649, 16). Überraschend ist auch, dass am Ende von FW mit „I n c i p i t t r a g o e d i a“ (KSA 3, 571, 2) mit einem Mal der Gattungsbegriff der ‚Tragödie‘ in den Vordergrund rückt. Heidegger hat daran anknüpfend das Muster der antiken Tragödie in spezifisch modifizierter, nämlich auf den tragischen Untergang ausgerichteter Weise als maßgeblich für Za verstanden: „Indem Zarathustras Tragödie beginnt, beginnt sein Untergang. Dieser hat selbst eine Geschichte, er ist die eigentliche Geschichte und nicht das Ende. Nietzsche gestaltet hier sein Werk aus einem tiefen Wissen von der großen griechischen Tragödie; denn in dieser wird auch nicht erst ‚psychologisch‘ ein tragischer Konflikt vorbereitet und der Knoten geschürzt und dergleichen, sondern: in dem Augenblick, wo sie beginnt, ist jenes alles, was man sonst als ‚die Tragödie‘ nimmt, bereits geschehen; es geschieht ‚nur noch‘ der Untergang.“ (HN 1, 251) Was das „I n c i p i t t r a g o e d i a“ für Za zu bedeuten habe, ob und in welcher Weise sich das Werk tatsächlich an der (antiken) Tragödie orientiert, das wurde nach Heidegger vielfach und kontrovers diskutiert. Tatsächlich wird Za bis heute als „Tragödie“ oder „Drama Zarathustras“ (so der Titel eines 1986 erschienenen Aufsatzes von Hans-Georg Gadamer) bezeichnet. N. selbst, der freilich auch andere Klassifikationsmöglichkeiten für sein Za-Werk in Anschlag brachte, spricht in einem Brief an Erwin Rohde von den „drei Akten“ (22. 02. 1884, KSB 6/ KGB III 1, Nr. 490, S. 479, Z. 19 f.) seines Za und betont damit die dramenähnliche Struktur. Tatsächlich findet sich im Nachlass aus dem Herbst 1883 der Plan zu einem in drei Akten konzipierten Zarathustra-Drama, das mit einer „T o d t e n -

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f e i e r“ (NL 1883, KSA 10, 16[3], 496, 11) schließt und eng an Hölderlins Tragödie Der Tod des Empedokles angelehnt ist. Auch wenn dieser Plan von dem schließlich publizierten Za-Werk deutlich geschieden ist, sind dramatische Strukturen durchaus noch in der publizierten Fassung erkennbar. Das gilt insbesondere für Za IV, wo das Prinzip szenischer Darstellung dominant hervortritt (vgl. ähnlich Cancik 1995, 72; Hinweise zur dramatischen Textur von Za bereits bei Pfeiffer 1940). Doch sind die festgestellten Affinitäten zur Tragödie in der Regel nicht auf strukturell-gattungspoetische Merkmale bezogen. Bennholdt-Thomsen, die Za eine „Tragödie der Erkenntnis“ (1974, 209) nennt, weist ausdrücklich darauf hin, dass es ihr dabei nicht um eine formale, sondern um eine inhaltliche Bestimmung zu tun ist. Die „tragische Thematik“ (ebd., 207) von Za liegt für sie in der Auseinandersetzung mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft. So bestehe „der die Tragödie ausmachende Untergang des Helden nicht in irgendwelchen schweren Begebenheiten, sondern in seinem Versuch, den neuen und schweren Gedanken zu fassen und auszusprechen“ (ebd., 208 f.; ähnlich auch Treccani 2015, 17). Häufiger wird in der Forschung auf N.s langjährige Auseinandersetzung mit der (antiken) Tragödie hingewiesen und ein Bogen von GT zu Za geschlagen. Für Sylvain de Bleeckere ist das „I n c i p i t t r a g o e d i a“ Aufforderung, an die Geburt der Tragödie zurückzudenken und Za demgegenüber als „Buch der tragischen Philosophie schlechthin“ (de Bleeckere 1979, 290) zu würdigen, das ernst mache mit der Tragödie, indem es in dithyrambischem Stil den Sinn des Lebens als Problem behandle. In ähnliche Richtung weisen die Überlegungen von Meyer 2002, 218, der gar erwägt, ob Za als mögliche Wiedergeburt der antiken Tragödie zu verstehen sei. Bemerkenswert ist, dass Jahre später in GD Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde neuerlich ein „incipit“ begegnet und zwar ein „incipit Zarathustra“: „(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)“ (KSA 6, 81, 12‒14) Der letzte Satz lautete, wie NK 6/1, 81, 12‒14 vermerkt, in der Vorarbeit W II 5, 64 noch: „INCIPIT PHILOSOPHIA“. Bereits die „Vorrede zur zweiten Ausgabe“ von FW geift das „incipit tragoedia“ auf und setzt noch einen zweiten gattungspoetischen Begriff hinzu, nämlich den der Parodie: „Ach, es sind nicht nur die Dichter und ihre schönen ‚lyrischen Gefühle‘, an denen dieser Wieder-Erstandene seine Bosheit auslassen muss: wer weiss, was für ein Opfer er sich sucht, was für ein Unthier von parodischem Stoff ihn in Kürze reizen wird? ‚Incipit t r a g o e d i a‘ – heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf der Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit p a r o d i a, es ist kein Zweifel …“ (KSA 3, 346, 24–32) Was ist damit angekündigt? Ein Umschlagen von Tragödie in Parodie? Springt demnach, wie Müller Farguell 1998, 298 formuliert, „die Parodie über den Schatten der Tragödie“? Und ist hier überhaupt Za gemeint? Explizit ist der Bezug keineswegs, doch liegt mit Blick auf FW 342 nahe, das parodis-

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tische „Unthier“, das der Sprecher als Produkt von Boshaftigkeit ausweist, auf Za zu beziehen. Demnach wäre der hier getätigte Ausblick auf die Zukunft eigentlich ein Rückblick auf die Vergangenheit, denn das Za-Werk ist zum Zeitpunkt, da N. die Vorrede verfasst, längst abgeschlossen (wobei seltsam ist, dass für den Sprecher der Vorrede kein fünftes Buch von FW zu existieren scheint; Begründungsmöglichkeiten dafür liefert NK 3/2, 346, 26–32). In der Za-Forschung wird das Verhältnis von Tragödie und Parodie in sehr unterschiedlichem Maß berücksichtigt und gewichtet. Häufig sieht man die parodistischen Züge auf Za IV konzentriert. So begreift Gasser das „‚Incipit t r a g o e d i a‘ […] incipit p a r o d i a“ als „Modell für die vermeintliche Opposition zwischen den ersten drei Teilen und dem Schlussteil des ZARATHUSTRA“ (Gasser 1992, 189), in dem eine „Transponierung des Tragischen ins Komische“ (ebd.) von statten gehe. Demgegenüber steht für Meier außer Frage, dass N. den gesamten Za „als Parodie konzipierte“: „Schon der Titel mit seiner Bezugnahme auf eine Gestalt, die einem anderen Zeitalter gehört, gibt die Dichtung als ‚Gegengesang‘ zu erkennen. Dessen Gegenstand sind allerdings nicht die siebzehn Gathas des Zarathustra. Die Verbeugung vor den Liedern des persischen Religionsstifters ist Teil der eigentlichen Parodie. Sie hat die Bibel zum Gegenstand.“ (Meier 2017, 1) Während es sich bei der Einstufung von Za als Bibelparodie um einen Allgemeinplatz der Forschung handelt (vgl. dazu eingehend Salaquarda 2000b), legt Zittel ein um das Moment des Selbstparodistischen erweitertes Parodie-Verständnis an das Werk an. Er versteht die Parodie in Za als „ästhetisch adäquate Ausdrucksform“ (Zittel 2000a, 135) einer Spätzeit und will darin eine zunehmende „reflektierende Subversion“, eine „parodistische Zersetzung“ und „Selbstzerstörung der Form“ (ebd., 136) beobachten. Da nach dem Tod Gottes keine Wahrheit mehr übrig bleibe, „für die man mit tragischem Pathos untergehen könnte“, bleibe „nur noch das Possenreißen, – aus Verzweiflung. Oder anders formuliert, es bleibt dem Tragiker jetzt nur noch das Parodieren des Tragischen selber.“ (Ebd., 143) Entsprechend deutet Zittel den Schlusssatz von FW Vorrede 1 als Hinweis darauf, dass „Tragisches und Komisches“ in Za „untrennbar miteinander verbunden“ seien (ebd., 132). Hieran anschließend erklärt Lossi die Form des Za-Werks aus dem Scheitern von N.s Verlangen nach einer Erneuerung des tragischen Mythos. In Reaktion darauf habe er mit Za ein Werk geschaffen, das „durch den Rekurs auf Zitate, Parodien und Umdrehungen konstruiert“ (Lossi 2015, 103) sei. Für ein Verständnis von „incipit p a r o d i a“ vor der Folie der antiken Rhetorik spricht sich Benne 2015 aus, der im Rekurs auf Quintilians Parodiebegriff daran erinnert, dass die Parodie nicht nur als verzerrende und verspottende Nachahmung, sondern vor allem als ein imitierendes Sprechen mit anderen Stimmen zu verstehen sei, wodurch eine parodistische Wiederbelebung von Tradition möglich werde. Pelloni/Schiffermüller 2015, 6 umreißen im Ausgang von dem FW-Zitat „incipit p a r o d i a“ ein ganzes

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Forschungsfeld, das sie aus der Frage nach dem Parodistischen in Za herleiten: „Von Interesse sind […] nicht nur die Inhalte und Formen der Parodie, die in Zarathustra etwa der Bibel, antiken Mythen oder dem Werk Wagners gelten, sondern vor allem das Verhältnis und die Implikationen von Fremd- und Selbstparodie, sowie allgemeinere Fragen, die die Parodie nicht so sehr als Gattung, eher als Sprechweise betreffen: Notwendigkeit, Ernst, ja Tragik der Parodie, die als Vehikel eines Wissens und einer Erfahrung gelten kann, die nur noch gebrochen zugänglich sind“. Menninghaus 1999, 264 schließlich legt den Akzent anders, denn er sieht das „Verstörende“ von Za darin, dass der/die Leser*in im Unklaren bleibe, „ob und wo die Parodie beginnt, ob und wo sie gewollte oder unfreiwillige Selbstparodie ist“. Eine unaufhebbare Verschränkung von Parodie und Tragödie betont auch FW 382, der letzte Abschnitt des fünften Buchs vor dem „E p i l o g“, in dem von einem neuen Ideal die Rede ist, dem „Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess“ (KSA 3, 637, 1–3). Diesem Ideal schreibt FW 382 den großen Ernst der Tragödie zu und doch zugleich auch ein unfreiwillig parodistisches Verhältnis zu allem Bestehenden; es sei „das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, welches oft genug u n m e n s c h l i c h erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben alle bisherige Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt – und mit dem, trotzalledem, vielleicht d e r g r o s s e E r n s t erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie b e g i n n t …‘“ (KSA 3, 637, 7–15). N. zitiert diese Stelle ausführlich mitsamt ihrem Kontext (vgl. KSA 3, 635, 30–637, 15) später in EH Za 2 (KSA 6, 337, 22–339, 7), weil sie, wie dort gesagt wird, die bestmögliche Erläuterung abgebe, um den „Typus“ Zarathustra „zu verstehn“ (KSA 6, 337, 17). Derart etabliert N. zwischen FW in seinen beiden Fassungen, Za und EH ein ganzes Geflecht von Selbstdeutungen, in dessen Zentrum seine Za-Figur steht. 11, 3–8 Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, – und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also:] Ein erster Ansatz zu dieser Partie, die die Ausgangskonstellation von Za umreisst, findet sich in einem Nachlassfragment aus dem August 1881, in dem N. unter der Überschrift „M i t t a g u n d E w i g k e i t. / F i n g e r z e i g e z u e i n e m n e u e n L e b e n“ notierte: „Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-

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Avesta.“ (NL 1881, KSA 9, 11[195], 519, 14–17) Als Quelle für diese Passage konnte Paolo D’Iorio 1993, 395 Friedrich Anton Heller von Hellwalds Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart nachweisen. Zwar findet sich das Buch nicht in N.s Bibliothek, doch hatte N. Franz Overbeck am 8. Juli 1881 in einer Postkarte gebeten, es für ihn auszuleihen (KSB 6/KGB III 1, Nr. 123, S. 100 f., Z. 6–8). Hellwald bietet eine gedrängte Übersicht über Herkunft, Lehre und Wirken Zarathustras; wörtlich heißt es im Kapitel „Zarathustra’s Lehre“: „Zarathustra, der grosse Prophet der Erânier, gewöhnlich nach der von den Griechen überlieferten Form Zoroaster (Ζωροάστρηρ [sic]) genannt, dessen Name im Zend übrigens eine schmucklose Bedeutung besitzt, […] stammte aus Azerbeidschan und war geboren in der Stadt Urmia am gleichnamigen See zwischen Kaspi- und Van-See. Im dreissigsten Lebensjahre verliess er die Heimat, zog östlich in die Provinz Aria und verbrachte dort zehn Jahre in der Einsamkeit des Gebirges mit der Abfassung des Zend-Avesta beschäftigt. Nach Verfluss dieser Zeit wandte er sich nach Balkh, verkündete seine neue Lehre und behauptete göttliche Sendung. Zarathustra fand natürlich viele Gegner, namentlich in den Priestern der alten Religion, nach und nach aber gewann er Anhänger und bald verbreitete sich seine Lehre schnell über das baktrische Reich; allenthalben entstanden Feueraltäre, denn das war das Zeichen der neuen Religion: ein unter freiem Himmel stehender, von Mauern umgebener Altar, auf dem ein heiliges Feuer brannte. Tempel kannte diese Religion nicht. Zarathustra erreichte in Ehren ein hohes Alter und lebte ganz der Ausbreitung seiner Lehre und der Abfassung seiner Schriften. Ihn für eine mythische Person zu halten sind wir nicht berechtigt; […] seine Zeit aber zu bestimmen wird nie möglich sein, da es dafür an allen chronologischen Anhaltspunkten gebricht; doch wird für das Entstehen seiner Lehre immer- /129/ hin ein hohes Alter anzunehmen sein. […] Schon die medischen Eroberer Babylon’s sollen Anhänger der Lehre Zarathustra’s gewesen sein, und ist es auch nicht erlaubt, darunter im strengen Sinne die zoroastrische Lehre zu verstehen, das neue Gesetz, welches Zarathustra verkündigte, so darf man doch unbedenklich die Verbreitung dieser Lehre in eine viel frühere Zeit verlegen, als die des ersten Darius aus dem persischen Geschlechte der Achämeniden.“ (Hellwald 1875, 128 f.) N.s Exzerpt vom August 1881 bietet ein selektives Konzentrat aus den bei Hellwald überlieferten Daten. Wenn N. später darauf zurückgreift, entfernt er sich noch weiter von seiner Quelle. Zunächst bildet das Notat den Ausgangspunkt für Abschnitt FW 342, der das vierte Buch von FW beschließt. Dort ist dann zu lesen: „Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimath und den See Urmi und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, – und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: / ‚Du grosses Gestirn! […]‘“ (KSA 3, 571, 2–8)

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Zu sehen ist, wie N. sein Quellenexzerpt abwandelt, indem er eine wesentliche Information ausblendet, die auf den historischen Zarathustra hinweist, nämlich dass dieser den Zend-Avesta verfasste. Wenn N. die Passage am Beginn von Za I Vorrede 1 erneut aufgreift, dann tilgt er die letzte der verbliebenen konkreten Angaben, die auf seine Quelle und auf Zarathustra als historische Gestalt hinweisen: der „See Urmi“ wird zum namenlosen „See seiner Heimat“ (11, 4). Die sich hierin abzeichnende Tendenz zur Löschung konkreter Referenzen, das Verschleiern der Quelle und überhaupt der Hang zur Verallgemeinerung sind signifikant für Za. Eine weitere, in der Forschung allerdings bislang nicht zur Diskussion gestellte Anleihe an den Parsismus scheint aufgrund einer frappierenden Übereinstimmung von Tageszeit und Anrufungs-Konstellation denkbar. Es handelt sich um eine Passage aus dem Zend-Avesta, die in der Literatur des 19. Jahrhunderts häufiger aufgerufen wird. Angeredet wird dort nicht die Sonne, sondern der im Parsismus als Lebenstrank erachtete Haoma, ein aus Pflanzen hergestellter berauschender Trank, der es den Priestern ermöglichen sollte, Offenbarungen des als Schöpfergott verehrten Ahura Mazda zu empfangen, der im Parsismus die Macht des Lichts verkörpert. Der Ethnologe Adolf Bastian (dessen Lektüre durch N. allerdings nicht nachweisbar ist) zitiert die Passage 1860, 155 so: „Einst beim Anbruche der Morgenröthe, als Zarathustra das Feuer schürte und die heiligen Lieder sang, erschien ihm (nach der Zendavesta) der Gott Haoma. ‚Wer bist du, fragte Zarathustra, der du meinem Blicke als der Vollkommenste erscheinst in der existirenden Welt, mit deinem schönen und unsterblichen Körper?‘ ‚Ich bin, antwortete jener, der heilige Haoma, der den Tod entfernt. Rufe mich an, presse meinen Saft aus, um mich zu geniessen, lobe mich, um mich zu feiern, damit auch Andere, die ihr Bestes wollen, mich loben.‘ Darauf sprach Zarathustra: ‚Anbetung dem Haoma, Haoma der Gute ist wohl geboren, er ist gerecht geboren, er giebt Gesundheit, er thut das Gute, er ist siegreich und von goldglänzender Farbe.‘“ 11, 3 Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat] In Lukas 3, 23 heißt es: „Und Jesus ging in das dreyßigste Jahr, und ward gehalten für einen Sohn Josephs“ (Die Bibel NT 1818, 71). Auch Zarathustra erlebte nach parsistischer Überlieferung im Alter von dreißig Jahren (nach zehnjähriger Wanderschaft) seine Berufung zum Propheten Ahura Mazdas und verkündete fortan dessen Botschaft. Im Unterschied dazu begibt sich N.s Zarathustra allerdings erst zehn Jahre später unter die Menschen, um zu wirken. 11, 4–6 Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde.] Einsamkeit ist ein Zentralmotiv des Za-Werks, das N. in EH geradezu zum „Dithyrambus auf die Einsamkeit“ (KSA 6, 276, 9) ausrief. Dabei erweist sich Einsamkeit allerdings als ein zwiespältiger Zustand, und der genuss-

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vollen Einsamkeit wird das Leiden an existenzieller Vereinsamung gegenübergestellt (vgl. dazu NK 52, 8–10). 11, 6 Endlich aber verwandelte sich sein Herz] Auch diese Formulierung stellt eine Anleihe an die Bibelsprache dar. Es „ward sein Herz verwandelt“ (Die Bibel AT 1818, 73), heißt es in 2. Mose 14, 5 über den ägyptischen Pharao, als er bereut, die Erlaubnis zum Auszug der Israeliten gegeben zu haben und beschließt, sie durch das ägyptische Heer verfolgen zu lassen. Ein zweites und letztes Mal verwandelt sich Zarathustras Herz im Schlusskapitel von Za IV, als er den lachenden Löwen zu sehen meint: „‚D a s Z e i c h e n k o m m t,‘ sprach Zarathustra und sein Herz verwandelte sich.“ (406, 23 f.; vgl. dazu NK 4/2, 406, 23–28) Von einer Verwandlung Zarathustras ist auch sonst wiederholt die Rede; schon gleich in der nachfolgenden Begegnung mit dem alten Einsiedler im zweiten Abschnitt der Vorrede erkennt dieser Zarathustra als Verwandelten. Vgl. dazu NK 12, 25; zum Motiv der Verwandlung überdies NK 29, 1. 11, 7 und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf] Das Einsetzen der ZaHandlung zur Zeit der Morgenröte signalisiert, dass nun ein völlig neuer Abschnitt in Zarathustras Leben beginnt. Das Motiv der Morgenröte taucht im Text mehrfach wieder auf. Besonders markant erscheint es in Za III Von alten und neuen Tafeln als das Ziel der (über-)menschlichen Entwicklung: „dass der Mensch eine Brücke sei und kein Zweck: sich selig preisend ob seines Mittags und Abends, als Weg zu neuen Morgenröthen“ (248, 17–19). Die „Morgenröthe“ lässt zugleich an N.s gleichnamiges Werk denken (vgl. zur Bedeutung des Titels NK 3/1, S. 65–67). 11, 9 f. „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!] Za IV Das Zeichen, das letzte Kapitel von Za überhaupt, greift die Formulierung variierend auf: „‚Du grosses Gestirn, sprach er, wie er einstmal[s] gesprochen hatte, du tiefes Glücks-Auge, was wäre all dein Glück, wenn du nicht D i e hättest, welchen du leuchtest!“ (405, 6–8) Die Anrufung der Gestirne und insbesondere der Sonne begegnet bei einer Vielzahl von Völkern. Auch für die Jesiden, deren kosmogonische Vorstellungen denen des Zoroasthrismus stark ähneln und deren Glaube sich möglicherweise aus dem Zoroasthrismus entwickelte, spielt die Sonne als Symbol Gottes eine zentrale Rolle (vgl. Dulz 2001, 18). N. jedoch kehrt die gewohnte anthropozentrische Perspektive um und lässt seinen Protagonisten die Abhängigkeit der Sonne von denen thematisieren, denen sie ihr Licht bringt. Diesen Gedanken, dass Natur und Sonne des menschlichen Betrachters bedürfen, kennt N. von Ralph Waldo Emerson, in dessen Versuchen es heißt: „Der Sonnenuntergang ist Allem ungleich, das nicht in gleicher Höhe mit ihm steht: er bedarf des Menschen“ (Emerson 1858, 398; N.s Unterstreichung). Die Sonne ist eines der Leitmotive, die der Fortgang des Textes in vielfältigen Bezügen und Bedeutungen immer wieder aufgreift. Zittel 2000b, 282 liefert folgende

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komprimierte Übersicht: „Zuerst referiert die Sonnenmetapher auf Platons Ideen, die Szenerie des Sonnenanrufs vor der Höhle speziell auf das Höhlengleichnis der Politeia, dann gibt es zweitens interne Bezüge formaler wie inhaltlicher Art, z. B. die zweimalige fast wörtliche Wiederholung von Zarathustras Worten zu Beginn und Ende des letzten Kapitels des vierten Teils; drittens zu allen anderen SonnenMetaphern im weiteren Text sowie zu ihren Kontext-Metaphern, wie z. B. die des grossen Mittags, viertens zu den anderen Tageszeiten, die im Text den Handlungsverlauf strukturieren, und ihren jeweiligen semantischen Konnotationen, fünftens gibt es über den Sonnenzyklus einen Bezug auf den Gedanken der Ewigen Wiederkunft, sechstens wird unmittelbar darauf die Zarathustrafigur mit der Sonne identifiziert, siebtens wäre nach rhythmischen oder lautlich-assonanten Parallelstellen zu suchen (usw.).“ In Za I erfährt die Sonne vor allem im Schlusskapitel „Von der schenkenden Tugend“ intensive metaphorische und symbolische ‚Anreicherung‘. Ausgehend von dem Geschenk der Jünger, einem „Stab, an dessen goldnem Griffe sich eine Schlange um die Sonne ringelte“ (97, 9 f.), wird die Sonne zunächst der schenkenden Tugend assoziiert (zur Bedeutung des Schenkens siehe NK 11, 16–19) und zum Beschluss von Za I schließlich verknüpft mit der epochalen menschheitgeschichtlichen Wendezeit des „grossen Mittags“, zu der, wie Zarathustra sagt, dem sich erneuernden Menschen „die Sonne seiner Erkenntnis […] im Mittage stehn“ wird (102, 11 f.). Zu der den Za-Text strukturierenden Funktion der Sonne und zur Analogie zwischen Sonne und Zarathustra siehe insbesondere Pautrat 1971; vgl. überdies Pieper 1990, 32 f.; Nehamas 2000, 165–167; Gasser 1992, 84–88. Epple 2021, 97–101 weist hin auf die Analogie zu Hölderlins Roman Hyperion, in dem der Sonnenlauf ebenfalls ein zentrales Strukturmoment vorstellt. 11, 13 meinen Adler und meine Schlange] Adler und Schlange, die hier durch die zugeordneten Possessivpronomina als Zarathustra zugehörig ins Werk eingeführt werden, treten fortan nicht allein als seine treuesten Wegbegleiter auf, die ihn umsorgen, wenn ihn die menschliche Gemeinschaft zurückstößt, sondern sie erweisen sich in Za III Der Genesende auch unmittelbar mit seiner prophetischen Sendung verbunden, indem sie ihn dort auf seine Bestimmung als „L e h r e r d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t“ (275, 29 f.) festzulegen suchen. Zur Bedeutung der beiden Leittiere Zarathustras vgl. eingehend NK 27, 9–22. 11, 14 f. Aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluss ab und segneten dich dafür.] Villwock 1994, 144 zählt die Apostrophe zu Recht zu den „charakteristischen Grundfiguren“ des Za-Werks. Dabei ist freilich zu unterscheiden, ob es sich um die Anrede einer Personengruppe handelt (wie überwiegend in Za I Die Reden Zarathustraʼs), oder aber, wie hier, um die Apostrophe einer nicht-menschlichen, gar kosmischen Instanz. Abzulesen ist an dieser Differenz ein tiefgreifender Umbruch innerhalb der ersten drei Teile von Za: Wo in

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Za I die adressatenbezogenen ‚Lehrmonologe‘ dominieren, ist von Za II an ein sukzessives Abrücken von ihnen zu beobachten. In Za III erlangen autoreferenzielle Selbstgespräche die Oberhand, die sich nicht an menschliche Adressaten richten, nicht an das Volk oder auserkorene Jünger, sondern an personifizierte äußere oder innere Instanzen (zur Form des für Za III charakteristischen Selbstgesprächs siehe ÜK Za III Vor Sonnen-Aufgang). Für diese erste Apostrophe ist ein Positionstausch signifikant: Zarathustra sieht sich eingebettet in einen Kosmos des Gebens und Nehmens, in dem die Sonne als Lichtspender fungiert und er mit seinen Tieren auf der Seite der dankbaren Lichtempfänger steht. Doch wechselt er im unmittelbaren Anschluss die Position, indem er sich vom passiv Empfangenden zum „golden“ (12, 6) überfließenden Becher und „Abglanz“ (ebd.) der lichtspendenden Sonne stilisiert. Ausdrücklich kommt er auf sein Sonnen-Sein in Za II Das Nachtlied zurück, indem er dort dessen Schattenseiten thematisiert, „kalt gegen Sonnen, – also wandelt jede Sonne“ (137, 28 f.). – Neben dem zunächst der Sonne und dann auch Zarathustra zugeordneten Substantiv „Überfluss“ begegnen allein im ersten Abschnitt der Vorrede vier weitere Wörter, die mit dem Präfix ‚über-‘ gebildet sind: „überdrüssig“ (11, 16), „überreich[..]“ (11, 24), „überfliessen“ (12, 5), „überallhin“ (12, 6) – und blickt man auf das ganze Za-Werk, dann sind derartige Bildungen überaus zahlreich. Das hat Ludwig Klages zu der Bemerkung veranlasst, es handle sich bei Za um „eine schwärmerisch unheimliche Exegese des Bezugswortes ‚Über‘“: „Überfülle, Übergüte, Überzeit, Überart, Überreichtum, Überheld, sich übertrinken, das sind einige aus der großen Zahl teils neugebildeter, teils immer wieder verwendeter Überworte und ebensoviele Lesarten des einen ausschließlich gemeinten: der Überwindung.“ (Klages 1958, 204) Zur Denkfigur der Überwindung und Selbstüberwindung vgl. NK 14, 13–15. 11, 16–19 Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. / Ich möchte verschenken und austheilen,] Der paradoxe Gedanke, dass derjenige bedürftig sei, der eine Überfülle (an Weisheit) auf sich vereint, bildet ein Grundmotiv von Zarathustras Existenz, der sein Wirken unter den Menschen in Analogie zur Licht spendenden Sonne als ein Geben und Schenken begreift. Letzteres erweist sich im Fortgang aber keineswegs so selbstverständlich wie die permanente Lichtgabe der Sonne, sondern wird sowohl aus der Perspektive des Gebenden wie des Nehmenden problematisiert. Zarathustras im eigenen Überfluss wurzelnder Kommunikationsdrang erscheint als notwendige Selbstentlastung von seiner Überfülle und erhält somit therapeutische Funktion zugeschrieben. Zarathustra „bedarf“, wie Zittel 2000a, 153 betont, derjenigen, die ihm seinen Überfluss abnehmen (anders hingegen Shapiro 1991, 38, der unter Hinweis auf Zarathustras Selbst-

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gespräche die These vertritt, dass dieser nicht auf Zuhörer angewiesen sei, um sich redend zu verausgaben). Als zentrale Komponente von Zarathustras (prophetischer) Existenz wird das in seinen Reden zum „Glück“ (137, 14) und zur „höchste[n] Tugend“ (97, 19 u. 21) ausgerufene Schenken in der Forschung stark beachtet (vgl. Alderman 1977; Shapiro 1991, 13–51 u. 1997; Hitz 1999; Zittel 2000a, 151–159; Lemm 2008 u. 2009, 61– 85; Verkerk 2013; Bane 2013/14). Gary Shapiro sieht in Za die Einseitigkeit des Schenkens betont, die die Nehmenden in eine Schuld versetze, die es auszugleichen gelte. Für Vanessa Lemm hingegen steht die Tugend des Schenkens ein für „a positive conception of morality that is political“ (Lemm 2009, 61). Ihrer Deutung zufolge aktualisiert Zarathustra als Schenkender eine anti-utilitaristische Konzeption von Gerechtigkeit, die auf Asymmetrien gründe und die Distanz zwischen den Menschen aufrechterhalte. Theodra Bane betont die existenzielle Herausforderung, die die Rolle des Schenkenden für Zarathustra bedeute, da er mit dem Geschenk seiner auf eine neue Wertsetzung zielenden prophetischen Botschaft nicht auf Gegenliebe stoße: „To give a gift is a painful undertaking that depends on the actions of others to be fully realized.“ (Bane 2013/14, 12) Daran anschließend ist festzuhalten, dass Za das Schenken auf eigenwillige und einseitige Weise entfaltet, denn die Praktik der Gabe führt gerade nicht zu dem Wechselspiel von Geben, Nehmen und Erwidern, das Marcel Mauss in seinem einflussreichen Essai sur le don (1924) als charakteristisch vorstellt (vgl. Mauss 1990, 91). In seiner Resonanzlosigkeit vorgeführt wird Zarathustras schenkender Impetus vielmehr zum Beleg fehlender oder gestörter sozialer Austauschbeziehungen. So mündet der Überfluss in Überdruss: „Mein Glück im Schenken erstarb im Schenken, meine Tugend wurde ihrer selber müde an ihrem Überflusse!“ (137, 14 f.), klagt er in Za II Das Nachtlied. Und in Za III Von der grossen Sehnsucht ist der Überfluss schließlich gar versiegt: Zarathustra beteuert, alles gegeben zu haben, so dass seine Hände „leer geworden“ (279, 24; 280, 33) seien. Damit scheint der Grundimpuls seines Wirkens erloschen und seine Geschichte als Lehrer und Prophet an ihr Ende gelangt. Eine andere Perspektive auf sein schenkendes Wirken bietet Za I Von der schenkenden Tugend, wo Zarathustra, der Schenkende, selbst zum Beschenkten wird und im Gegenzug seine Idee der schenkenden Tugend enthüllt (vgl. dazu NK 97, 1). Damit ist im Schlusskapitel von Za I im Ausgang von der Praktik des Schenkens eine ideale Form der Reziprozität zwischen Lehrer und Schülern gestaltet. 11, 16 f. Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat] Zarathustra wird eingeführt nicht als ein nach Weisheit Strebender, sondern als einer, der Weisheit in einer geradezu bedrängenden Überfülle auf sich vereint. Das Eröffnungskapitel von Za II spricht von einer „Schmerzen“ verursachenden „Fülle“ der Weisheit (105, 9 f.). So scheint es von Beginn an

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sein Grundbedürfnis, von seiner Weisheit abzugeben, um sich von ihrem Übermaß zu entlasten. Dieses offenkundig existenziell verwurzelte Mitteilungsbedürfnis lässt an Matthäus 12, 34 denken: „Weß das Herz voll ist, deß gehet der Mund über“ (Die Bibel NT 1818, 17). Wörtlich vorgeprägt ist die Formulierung vom Überdruss an der Weisheit in einer in den theologischen Kreisen des 19. Jahrhunderts bekannten und diskutierten Kohelet-Übersetzung des Orientalisten und Bibelexegeten Heinrich Ewald. Das ‚Weisheitsbuch‘ Kohelet wirft einen skeptischen Blick auf das „eitle[.] Bestreben“ der Weisheit, und der Sprecher bekennt, dass sein „Herz der Weisheit überdrüssig war“ (Ewald 1837, 195). Eine unkonventionelle Wendung erfährt das traditionelle Bild von Biene und Honig, da es das erschöpfte Versiegen des sprichwörtlichen Bienenfleißes betont und damit die Vergleichsfolie bietet für den seiner angehäuften Weisheit überdrüssigen Zarathustra. In Za III Von den Abtrünnigen erinnert sich hingegen ein desillusionierter Zarathustra an sein früheres bienenfleißiges Anhäufen von Erwartungen: „Und wie vielen Honig der Hoffnung trug ich von hier in meine Bienenkörbe!“ (226, 4 f.) Zum Motiv des Honigs vgl. auch NK 144, 12 f. u. NK 4/2, 296, 8–11. 11, 19–21 Ich möchte verschenken und austheilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichthums froh geworden sind.] Ein späteres Nachlassnotat aus dem Sommer/Herbst 1883 rechnet das, was Zarathustra hier durch sein Wirken bei den Weisen und den Armen erreichen möchte, seiner eigenen Entwicklung zu: „Zarathustra ist selber der W e i s e geworden, der sich seiner T h o r h e i t freut und der A r m e, der sich seines R e i c h t h u m s freut. / der Thor und der glückliche Arme – als Besitzer der ungeheuren S e l i g k e i t der H o f f e n d e n und S e h n e n d e n und Wa h r s a g e n d en“ (NL 1883, KSA 10, 15[21], 484, 18–23; ähnlich auch NL 1883, KSA 10, 16[86], 530, 12–16). NL 1883, KSA 10, 15[32], 487, 14–17 hält als projektierte Kapitelüberschriften fest: „Vom Glück des Weisen an seiner Thorheit (das N i c h t w i s s e n der letzten Ergebnisse –)“ und „Vom Reichthum des Armen (die ewige Sehnsucht)“. Dass die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh werden, ist keinesfalls in materiellem Sinn zu verstehen, sondern vielmehr so, dass Zarathustra ihre Armut aufhebt, indem er ihnen von dem Reichtum seiner Weisheit mitteilt. Vgl. auch den Dithyrambus „Von der Armuth des Reichsten“ (KSA 6, 406– 410) mit der an Zarathustra gerichteten Aufforderung, sich selbst zu verschenken: „Man liebt nur die Leidenden, / man giebt Liebe nur dem Hungernden: / v e r s c h e n k e d i c h s e l b e r e r s t, oh Zarathustra!“ (KSA 6, 410, 6–8; vgl. hierzu NK 6/2, S. 694–700). In der Umkehr von Armut und Reichtum klingt die Bibel an; so heißt es in den Sprüchen Salomos: „Mancher ist arm bey großem Gut; und mancher ist reich bey seiner Armut.“ (Sprüche Salomos 13, 7; Die Bibel AT 1818, 638) Und im Matthäus-Evangelium ist zu lesen: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.“ (Matthäus 5, 3; Die Bibel NT 1818, 6)

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Diverse Aufzeichnungen aus dem Nachlass ab 1883 legen die Vermutung nahe, dass die Quelle für N.s Überlegungen zu den Weisen und Armen Emerson ist – allerdings sind die Notate erst nach der im Februar 1883 abgeschlossenen Niederschrift von Za I entstanden: „C h o r d e r N a r r e n d. h. der Weisen, die zeitweilig sich unwissend und thöricht fühlen / C h o r d e r A r m e n d. h. der Geringen Überflüssigen, deren Joch leicht ist. – Emerson p. 283.“ (NL 1883, KSA 10, 22[1], 614, 8–11) NL 1884/85, KSA 11, 31[42], 378, 11–13 greift die Hochschätzung von Torheit und Armut auf und nennt ebenfalls Emerson als Quelle: „– oh ihr Weisen, die ihr lerntet ob eurer Thorheit zu frohlocken! Oh ihr Armen, Geringen, Überflüssigen, deren Joch leicht ist! Em〈erson〉 283“. Und in NL 1883, KSA 10, 17[39], 551, 3 hatte sich N. für ein Za-Kapitel notiert: „den Armen r e i c h machen Emerson p. 383“. Die Seitenangabe 283 in NL 1883, KSA 10, 22[1], 614, 11 und NL 1884/85, KSA 11, 31[42], 378, 13 ist ein Versehen. Die entsprechende Stelle zur Armut der Reichen findet sich in der von N. benutzten Fabricius-Ausgabe von 1858 auf der gegenüberliegenden Seite 383: „Alles, was Mode und Höflichkeit genannt wird, demüthigt sich vor der Ursache und der Quelle der Ehrerbietung, vor dem, was Titel und Würden geschaffen hat, nämlich vor dem großen Herzen voll Liebe. Dies ist das königliche Blut, dies das Feuer, welches in allen Ländern und bei allen Möglichkeitsfällen nach seiner eignen Art thätig ist, und Alles was sich ihm naht besiegt und aufthut. Dies giebt jeder Thatsache eine neue Bedeutung. Dies macht die Reichen arm, die keine andere Größe als ihre eigne dulden wollen. Was ist reich? Bist du reich genug, um irgend Jemand zu helfen? […] Ohne das reiche Herz ist der Reichthum nur ein häßlicher Bettler. Dem König von Schiras wollte es nicht gelingen, eben so freigebig zu sein, wie der arme Osman, der am Thor seines Palastes weilte. Osman besaß eine so umfassende und innige Menschenliebe, daß, obgleich er über den Koran so kühn und frei redete, daß es das Mißfallen aller Derwische erregte, es dennoch niemals einen armen verstoßenen, ungewöhnlichen oder irren Menschen, irgend einen Thoren, der seinen Bart abgeschnitten hatte, oder /384/ der unter dem Druck eines Gelübdes seufzte, oder der eine fixe Idee mit sich herumtrug, gab, der nicht sogleich sich zu ihm geflüchtet hätte, – das große Herz lag so sonnig und einladend im Mittelpunkt der Landschaft da, – daß es schien, als ob der Instinct jeden Leidenden zu demselben hintrieb. Und er hatte keinen Theil an dem Wahnsinn, der bei ihm einen Zufluchtsort fand. Ist dies nicht reich sein? – dies nicht allein das wahre reich sein?“ (Emerson 1858, 383 f.; N.s Unterstreichungen; auch mehrere Randanstreichungen von seiner Hand; der letzte Satz mit dreifacher Randmarkierung). 12, 1 f. Ich muss, gleich dir, u n t e r g e h e n, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will.] Das Wort „untergehen“ erhält im Kontext von Za schillernde Bedeutung: Zunächst bezeichnet es den Untergang der Sonne, dann räumlich Zarathustras Abstieg vom Gebirge, in übertragenem Sinn den Untergang seiner bishe-

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rigen Existenz, und nicht zuletzt verweist es im Sinne von „I n c i p i t t r a g o e d i a“ (KSA 3, 571, 2; vgl. dazu NK 11, 3–12, 10) auf ein tragisches Scheitern Zarathustras. In Za I Vorrede 4 erhält das Untergehen als Negation aktuellen Daseins positive Bedeutung. Dort nämlich postuliert Zarathustra den „Wille[n] zum Untergang“ (17, 17) als Voraussetzung für die Erneuerung des Menschen und setzt „Ü b e r g a n g“ und „U n t e r g a n g“ (17, 2) in eins. Zarathustra selbst sammelt bei seinem ‚Untergang‘, dem Herabsteigen zu den Menschen, überwiegend negative Erfahrungen, denn die anvisierten Empfänger wissen seine Gabe nicht zu schätzen. ,Untergang‘ erhält daher auch die Bedeutung von Selbstzerstörung, einer Vernichtung der eigentlichen Existenz. Ambivalent ist es schließlich auch, wenn Zarathustra sich in Za III Von alten und neuen Tafeln 3 nach seiner „Erlösung“ (249, 8) sehnt, dem letzten Gang zu den Menschen: „noch Ein Mal will ich zu den Menschen: u n t e r ihnen will ich untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben!“ (249, 10–12) Vgl. außerdem die beiden folgenden Parallelstellen aus Za III und Za IV: „– die Stunde meines Niederganges, Unterganges: denn noch Ein Mal will ich zu den Menschen gehn.“ (Za III Von alten und neuen Tafeln 1, 246, 6 f.) „Also mögen nunmehr die Menschen zu mir h i n a u f kommen: denn noch warte ich der Zeichen, dass es Zeit sei zu meinem Niedergange, noch gehe ich selber nicht unter, wie ich muss, unter Menschen.“ (Za IV Das Honig-Opfer, 297, 18–21) 12, 3 du ruhiges Auge] Friedrich Anton Heller von Hellwalds Culturgeschichte teilt auf eben der Seite mit, die der von N. exzerpierten Partie gegenüberliegt (vgl. NK 11, 3–8), dass die Sonne im Parsismus als göttliches „Auge“ verehrt werde: „So verehrte man M i t h r as, die Sonne als Auge Ormuzd’s, aber von ihm geschaffen.“ (Hellwald 1875, 129) 12, 5–9 Segne den Becher, welcher überfliessen will, dass das Wasser golden aus ihm fliesse und überallhin den Abglanz deiner Wonne trage! / Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden.“] Das Bild des übervollen Bechers ist aus Psalm 23, 5 bekannt, wo Gott als der schützende Gastgeber aufgerufen ist, der dem Menschen den Tisch bereitet und seinen Becher füllt: „Du salbest mein Haupt mit Oehl, und schenkest mir voll ein.“ (Die Bibel AT 1818, 566) Zarathustra freilich erfährt die Überfülle seines WeisheitsBechers als Segen und Last zugleich. So steht der überfließende Becher hier emblematisch für seinen Mitteilungsdrang und das Bedürfnis, den Menschen von seiner Weisheit abzugeben. Sich in ein Analogieverhältnis zur Sonne setzend stellt er die eigene Existenz unter das Zeichen von Überfluss (auf den Gedanken des verschwenderischen Überflusses der Sonne ist N., wie Treccani 2015, 24 darlegt, bei der Lektüre von Richard Anthony Proctors astronomischem Werk Unser Standpunkt im Weltall (1877) gestoßen; dazu eingehender und mit Quellenzitat NK 4/2, 296, 20–22). Dem Überfließen entspricht die Ökonomie von Zarathustras Rede, die

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„durch radikale Verausgabung und rückhaltlose Verschwendung“ (Tolksdorf 2020, 63) motiviert ist (siehe NK 11, 16–19). Zarathustras Überfluss ist der Grund für seine ‚Menschwerdung‘ und macht die soziale Komponente seines Wesens aus. Würde er versiegen, dann würde mit ihm auch Zarathustras Bedürfnis erlöschen, sich unter die Menschen zu mischen. Entsprechend lautet ein nachgelassenes Notat: „Und hast du den Menschen nichts mehr zu sagen? / Nein, sagte Zarathustra, der Becher ist leer. Und als er das gesagt hat〈te〉, gieng er seines Weges und allein. Seine Jünger aber weinten.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[92], 142, 1–4; vgl. auch NL 1882/ 83, KSA 10, 5[1]153, 204, 7–10) Der Topos der überfließenden Rede begegnet in christlichem Kontext, etwa als „von himmlischer Begeisterung überfließende Rede“ (Gabler 1852, 394), ist aber auch schon in der antiken Rhetorik geläufig: „Was ist reichhaltiger als eine von der Fülle der Erkenntniß überfließende Rede?“, heißt es in einer Übersetzung von Ciceros De oratore, und weiter: „Denn es gibt keinen Gegenstand der dem Redner fremd wäre, wofern sich darüber ein blühender und eindringender Vortrag halten läßt.“ (Cicero 1859, 127) 12, 8 f. Zarathustra will wieder Mensch werden.] Das ist eine Anspielung an den Gedanken der Menschwerdung Gottes, der in zahlreichen Religionen eine Rolle spielt. Früh schon begegnet er im Hinduismus, wo von der Menschwerdung Vishnus erzählt wird, der die Welt von der giftigen Schlange befreit, indem er ihr den Kopf zertritt (vgl. Deuber 1825, 35). Auch in der griechisch-römischen Antike ist die Erscheinung eines Gottes in Menschengestalt ein verbreitetes mythologisches Motiv: Etwa berichtet Homer gleich zu Beginn der Odyssee (1. Gesang), wie Pallas Athene nach dem Ratschluss der Götter zum Haus des Odysseus eilt, wo sie mit dessen Sohn Telemach in Gestalt eines Fremden spricht, um ihn in seinem Widerstand gegen die Freier seiner Mutter Penelope zu bestärken. Zentrale Bedeutung erhält die Menschwerdung Gottes im Christentum, wo sie zum Dogma wird (vgl. etwa Schaezler 1870). Das Christentum sieht in Jesus von Nazareth den ewigen Sohn des Vaters, der geboren wurde, lehrte und heilte, litt, am Kreuz starb und von den Toten auferstand. Diese Inkarnation Gottes in Jesus von Nazareth gibt bis heute den Kern ab aller Hauptrichtungen des christlichen Glaubens. In Johannes 1, 14 heißt es wörtlich: „Und das Wort ward Fleisch, und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ (Die Bibel NT 1818, 108) Wenn Zarathustra zu Beginn erst zu den Menschen hinabsteigen muss, dann kommt ihm eine von allen anderen Menschen unterschiedene, erhöhte und überlegene Position zu. Denn wenn er von sich sagt: „Zarathustra will wieder Mensch werden“ (12, 8 f.), dann ist daraus zu folgern, dass er sich aktuell nicht zu den Menschen rechnet. Er stellt sich damit in eine Reihe mit Christus, von dem in FW 137 gesagt wird, dass er sich ebenfalls hinabsehnt zu den Menschen: „Hier allein konnte Christus seinen

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Regenbogen und seine Himmelsleiter träumen, auf der Gott zu den Menschen hinabstieg“ (KSA 3, 488, 12–14). 12, 10 Also begann Zarathustra’s Untergang.] Die Schlussworte des Erzählers, an deren Stelle dann in den „Reden Zarathustra’s“ das die Kapitel und Abschnitte formelhaft-wiederkehrend beschließende „Also sprach Zarathustra“ tritt (vgl. 31, 16), wird am Ende von Za I Vorrede 10 noch einmal wörtlich wiederholt (28, 3). In Za III Der Genesende ist es dann Zarathustra selbst, der das Ende seines Untergangs verkündet: „,[…] Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein ewiges Loos –, als Verkündiger gehe ich zu Grunde! / Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet. Also – e n d e t Zarathustras Untergang.‘– –“ (277, 1–5) – Ein Brief an Franz Overbeck vom 9. September 1882 belegt, wie sehr der ‚untergehende‘ Zarathustra nicht allein vom Autor N., sondern auch von dessen Familie als autobiographische Spiegelfigur N.s begriffen wurde. N. schreibt dort über den Konflikt mit seiner Schwester: „Leider hat sich meine Schwester zu einer Todfeindin L〈ou〉’s entwickelt, sie war voller moralischer Entrüstung von Anfang bis Ende und behauptet nun zu wissen, was an meiner Philosophie ist. Sie hat an meine Mutter geschrieben, ‚sie habe in Tautenburg meine Philosophie in’s Leben treten sehen und sei erschrocken: i c h liebe das Böse, s i e aber liebe das Gute. Wenn sie eine gute Katholikin wäre, so würde sie in’s Kloster gehen und für all das Unheil büßen, was daraus entstehen werde.‘ Kurz, ich habe die Naumburger ‚Tugend‘ gegen mich, es giebt einen wirklichen B r u c h zwischen uns – und auch meine Mutter vergaß sich einmal so weit mit einem Worte, daß ich meine Koffer packen ließ und morgens früh nach Leipzig fuhr. Meine Schwester (die nicht nach Naumburg kommen wollte, solange ich dort war und noch in Tautenburg ist) citirt dazu ironisch ‚Also begann Zarathustra’s Untergang‘. – In der That, es ist der B e g i n n vom A n f a n g.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 301, S. 256, Z. 49–64)

2. Bevor Zarathustra zu den Menschen in den Tälern gelangt, begegnet er auf seinem Weg hinab einem in den Wäldern lebenden Einsiedler, einem alten Heiligen, der, enttäuscht in seiner Menschenliebe, vor der menschlichen Gesellschaft in die Einsamkeit des Waldes flüchtete und nun das Leben eines misanthropischen Eremiten führt, ohne jedoch an seiner Einsamkeit zu leiden. Das Leben in der Natureinsamkeit stellt eine Verbindung zu Zarathustra her, markiert aber auch eine entscheidende Differenz, denn Zarathustra hat ja gerade den Entschluss gefasst, seine einsame Gebirgshöhle zu verlassen. So stellt der alte Heilige gleichermaßen eine Spiegel- wie eine Kontrastfigur zu Zarathustra vor. Beide verbindet

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ihr Bedürfnis nach Einsamkeit und die Bevorzugung tierischer Gesellschaft anstelle menschlicher. Im Falle Zarathustras, der sich in Za IV selbst einen „alten Einsiedler[.] und Heiligen“ (338, 21) nennt, ist der einsiedlerische Hang zum Rückzug allerdings, wie bereits in Za I Vorrede 1 deutlich wird, nur die eine Komponente seines Wesens. So wie es ihn zeitweise drängt, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen, drängt es ihn immer wieder auch, sich ihr auszusetzen. Die scheinbare Analogie zwischen den beiden Figuren wird also tatsächlich dazu genutzt, gegensätzliche Bestrebungen aufzuweisen. Epple 2021, 102 betont die Differenzqualität, die der symbolisch zu verstehenden Topographie zukommt: „Während Zarathustra einen Ort des Offenen, des freien Blicks, also den Gipfel eines Berges bevorzugt, baut der Einsiedler seine Hütte im Wald, also an einem Ort der Enge, des Begrenzten, des beengten Blicks.“ Die Gegenüberstellung lässt sich weiterführen: Während der Einsiedler sich fest an seine Einsiedelei bindet, wechselt Zarathustra seinen Ort. Und wo Zarathustra als Motivation angibt: „‚Ich liebe die Menschen.‘“ (13, 1), hat der alte Heilige sich umgekehrt von den Menschen ab- und zu Gott hingewandt: „Jetzt liebe ich Gott: die Menschen liebe ich nicht.“ (13, 4) Der alte Heilige, der offenkundig aus enttäuschter Menschenliebe zum Einsiedler geworden ist, tritt Zarathustra warnend gegenüber und rät ihm von dem Gang zu den Menschen ab: „Gehe nicht zu den Menschen und bleibe im Walde!“ (13, 24) Mit Blick auf die nachfolgende Handlung lässt sich spekulieren, dass er bereits Erfahrungen gesammelt hat, die denen gleichen, die Zarathustra erst noch bevorstehen. Abgesehen von dieser vorausweisende Funktion ist die Begegnung noch in zwei weiteren Hinsichten bedeutsam: Zum einen, weil sie Zarathustra veranlasst, den Tod Gottes zu konstatieren (siehe NK 14, 5–7), zum andern, weil der Einsiedler eine erste Beschreibung Zarathustras aus der Außenperspektive liefert und dabei physiognomische Merkmale anführt, die der Text leitmotivisch immer wieder aufgreift (siehe NK 12, 23 f.). Zu dem Gespräch Zarathustras mit dem Einsiedler findet sich im Nachlass aus der Zeit zwischen November/Februar 1882/83 folgende Skizze, in der von der Gottesliebe des Einsiedlers noch nicht die Rede ist und auch die Attribuierung als „Heiliger“ fehlt. Da die Zuordnung der Redeteile nicht durchgehend gekennzeichnet ist, sind hier zur Verdeutlichung die Sprecher in eckigen Klammern hinzugesetzt: „Letztes Gespräch mit dem Einsiedler. / – ich lobe dich daß du nicht mein Schüler wurdest. / Einsiedler: ich verachte die Menschen zu sehr, ich liebe sie zu sehr – ich halte sie nicht aus – ich muß mich zu sehr in Beidem v e r s t e l l e n. / [Zarathustra:] ich bringe ihnen eine neue Liebe und eine neue Verachtung – den Übermenschen und den letzten Menschen. / [Einsiedler:] Ich verstehe dich nicht – das was du ihnen bringst, sie nehmen es nicht an. Laß sie erst betteln um ein Almosen! / Zarathustra: – – – / [Einsiedler:] Aber sie brauchen nur Almosen, sie sind nicht reich genug, um deine Schätze brauchen zu können. / Ich mache Lieder

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und singe sie, ich lache und weine, wenn ich meine Lieder mache. / [Zarathustra:] Diesen Mann habe ich nichts mehr zu lehren.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[167], 161, 1–15) Die Rede vom „letzte[n] Gespräch mit dem Einsiedler“ legt nahe, dass N. ursprünglich mehrere Gespräche zwischen Einsiedler und Zarathustra in Za integrieren wollte. Ein weiteres Notat, entstanden Ende 1883, verzeichnet ein Gespräch mit einem Einsiedler, in dem dieser grundlegende Zweifel an der Wirkungskraft von Zarathustras Lehr- und Redeweise äußert und einzig „Leichname und Possenreißer“ (vgl. NK 23, 1 f.) sowie Zarathustras Tiere als deren Empfänger in Betracht zieht: „Ob ich gleich nicht deine Sprache verstehe / Das ist nun deine Sprache: und es nimmt mich Wunder, solltest du mit solcher Rede jemanden zu dir überreden – es sei denn Leichname und Possenreißer / Und eher glaube ich noch, daß du die Thiere zu dir überredest als die Menschen: sonderlich deine eigenen Thiere! diese häßliche Schlange da und den rauschenden Vogel! / Also sprach der Einsiedler, denn er fürchtete sich vor den Thieren Zarathustras: und als die Schlange eben ein wenig den Kopf hervorstreckte, siehe, da machte er einen Sprung und entfloh. / Also schieden sie von einander wie 2 K lachen“ (NL 1883, KSA 10, 18[38], 576, 20–577, 5). Entwürfen aus dem Winter 1884/85 zufolge hat N. für Za IV ein neuerliches Zusammentreffen mit dem/einem Einsiedler geplant. So verzeichnet eine Kapitelliste zu Za IV: „Der Einsiedler erzählt den Untergang.“ (NL 1884/85, KSA 11, 31[11], 364, 1) Ein anderes Notat aus dieser Zeit spricht von der „vollständigen Enthüllung des Einsiedlers.“ (NL 1884/85, KSA 11, 31[16], 365, 4) N. hat zwar diese Pläne nicht umgesetzt, allerdings erinnert Za IV Ausser Dienst aus der Retrospektive an die Einsiedler-Episode. Dort berichtet der alte Papst von seiner vergeblichen Suche nach dem Einsiedler als dem „letzten frommen Menschen, […] der allein in seinem Walde noch Nichts davon gehört hatte, was alle Welt heute weiss“ (322, 6–8), nämlich, dass Gott tot ist. Doch nicht nur Gott ist tot, sondern auch der letzte fromme Mensch ist mittlerweile gestorben. 12, 11–15 Zarathustra stieg allein das Gebirge abwärts und Niemand begegnete ihm. Als er aber in die Wälder kam, stand auf einmal ein Greis vor ihm, der seine heilige Hütte verlassen hatte, um Wurzeln im Walde zu suchen.] In Za IV Das Abendmahl ist es dann Zarathustra, der in der Rolle eines einsiedlerisch in einer Höhle lebenden Eremits seine Gäste unter anderem mit „Wurzeln und Früchten“ (354, 12 f.) bewirtet. 12, 17–19 Nicht fremd ist mir dieser Wanderer: vor manchem Jahre gieng er hier vorbei. Zarathustra hiess er; aber er hat sich verwandelt.] Auch wenn der Einsiedler die Gestalt des Wanderers als „[n]icht fremd“ verbucht, deutet die imperfektische Formulierung „hiess er“, die den Eindruck erweckt, als könne Zarathustra seinen Namen zwischenzeitlich verloren haben, tiefreichende Zweifel an seiner

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Identität an. Diese werden jedoch wenig später mit einem „[j]a, ich erkenne Zarathustra“ (12, 23) ausgeräumt. Zum Motiv des Wanderns vgl. Za III Der Wanderer, wo sich Zarathustra als Wanderer definiert – „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger“ (193, 11) – und die erwartete Zukunft unter das Zeichen dieses Identitätsentwurfs stellt: „Und was mir nun auch noch als Schicksal und Erlebniss komme, – ein Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen“ (ebd., 14 f.; siehe NK 4/2, 193, 7–13). Zum Motiv der Verwandlung vgl. NK 29, 1. 12, 20–22 Damals trugst du deine Asche zu Berge: willst du heute dein Feuer in die Thäler tragen? Fürchtest du nicht des Brandstifters Strafen?] Die Frage des Heiligen bringt pointiert die von Zarathustra vollzogene Existenzwende zum Ausdruck. Der Parallelismus der syntaktischen Konstruktion unterstreicht den Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem Zarathustra von einst, der sich vor den Menschen auf die Gipfel der Berge zurückzog, und dem Zarathustra der Gegenwart, der wieder hinabsteigt, um unter den Menschen zu wirken. Wenn dieses Wirken bildlich als Feuerbringen veranschaulicht wird, so spielt das auf die mythische Gestalt des Prometheus an, die insbesondere in N.s Schriften der 70er Jahre häufig begegnet, auf die sich aber auch spätere Texte noch beziehen. Eine interessante Verbindung zu Za ergibt sich in FW 300, wo Prometheus als Erkenntnisbringer und Wegbereiter der Wissenschaft vorgestellt wird, als derjenige, der das Licht nicht bloß gestohlen, sondern der es vielmehr „geschaffen habe, i n d e m e r n a c h d e m L i c h t e b e g e h r t e“ (KSA 3, 539, 20 f.). In irritierender Umkehrung des physikalischen Verbrennungsprozesses folgt Zarathustras Feuer chronologisch auf seine Asche, anders formuliert: Der entzündete und inspirierte Zustand folgt auf den toten und ausgelöschten. So wird bildlich dargestellt, wie aus einem vermeintlichen Endzustand und Lebensabschluss (symbolisiert durch die Asche) ein neuer Anfang entsteht, womit ein finales Geschehen metaphorisch in ein zyklisches umgedeutet wird. Pate hierfür steht eine weitere mythologische Figur: der sagenhafte Vogel Phönix, der sich der römischen Mythologie zufolge in bestimmten Zeitabständen selbst verbrennt und verjüngt aus seiner Asche hervorgeht (zum Phönix vgl. NK 82, 23–27). Die invertierte Abfolge von Asche und Feuer streicht die große (eigentlich unmögliche) Leistung der Selbstüberwindung heraus, die Zarathustra erbringen musste, um sich aus dem alten Dasein zu befreien. Daran knüpft später die Rede Za I Vom Wege des Schaffenden an, in der die Motive Asche und Feuer in analoger Weise den einsam Schaffenden charakterisieren, dem eine Neubegründung seines Ichs gelingt (vgl. 82, 23–25). Die enge autobiographische Deutung von Knortz 1906, 3 f., der die Passage als Hinweis auf eine Selbstüberwindung N.s liest („Er hat seine Asche, das heisst seine unter dem Einfluss Schopenhauers und Richard Wagners /3/ entstandenen Ideale, auf den Berg getragen, hat sich dort zur Unabhängigkeit und Klarheit seines Geistes durchgerungen“), hat im Text keine inhaltlichen Anhalts-

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punkte, wenngleich sich in N.s Briefen Passagen finden, die die Entstehung von Za als Überwindung einer „lange[n] schwere[n] Askese des Geistes“ darstellen (so der Brief an Carl von Gersdorff vom Ende Juni 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 427, S. 386, Z. 13 f.). Bei der Wendung ‚die eigene Asche zu Berge tragen‘, die sich nur in Za nachweisen lässt, scheint es sich um eine genuine Schöpfung N.s zu handeln und somit um ein Beispiel für sein Bestreben, eigene Phraseologismen zu prägen. Inspirierend wirkte möglicherweise die Kenntnis von Gepflogenheiten asiatischer Volksstämme, von denen Geographen und Ethnologen des 19. Jahrhunderts mitteilten, dass sie die Asche der Toten auf Berge brächten. So berichtete etwa der Jugendschriftsteller Johann Andreas Christian Löhr in seiner Beschreibung der Länder und Völker der Erde von einem Hirtenvolk in Birma, das die Asche seiner Toten auf den Gipfeln heiliger Berge beisetze (Löhr 1823, 155). Die Wendung lehnt sich an bekannte Redewendungen an (‚in Sack und Asche gehen‘, ‚sich Asche aufs Haupt streuen‘) und macht sich die numinose und sakrale Bedeutung zunutze, die Asche kulturgeschichtlich zukommt. Insbesondere im christlichen Kontext ist Asche sehr präsent; in der Liturgie und der Bibel symbolisiert sie Buße, Tod, Vergänglichkeit und Reinigung. Das Alte Testament bezeichnet den Menschen als „Erde und Asche“ (Genesis 18, 27), irdisches und vergängliches Leben, und Hiob sagt von sich: „Man hat mich in Dreck getreten, und gleich geachtet dem Staub und Asche.“ (Hiob 30, 19; Die Bibel AT 1818, 546) Die Redewendung ‚die eigene Asche zu Berge tragen‘ findet sich in Za noch zwei weitere Male in jeweils anderer Sprechsituation und mit anderer Konnotation: In Za I Von den Hinterweltlern nutzt Zarathustra sie zur Selbstcharakterisierung: „Ich überwand mich, den Leidenden, ich trug meine eigne Asche zu Berge, eine hellere Flamme erfand ich mir.“ (35, 24–36, 2) Und in Za II Der Wahrsager rückt er sie in Frageform in den Mittelpunkt der Erzählung eines Traums: „Alpa! rief ich, wer trägt seine Asche zu Berge? Alpa! Alpa! Wer trägt seine Asche zu Berge?“ (174, 14 f.) Vgl. auch die Vorstufe: „Damals trugst du deine Asche zu Berge, und heute trägst ˹willst˺ du ˹bist du˺ auf dem Weg dein Feuer in die Thäler ˹zu˺ tragen (1), ein Brandstifter der Seelen. (2)? Brand der Seelen zu stiften?“ (N VI 1,5; KGW VI 4, 22) 12, 23 f. Rein ist sein Auge, und an seinem Munde birgt sich kein Ekel. Geht er nicht einher wie ein Tänzer?] Dazu findet sich in NL 1882/83, KSA 10, 5[1], 213, 23 f. folgende Vorstufe: „Seht ihn an, ob er ein reines Auge und einen Mund ohne Verachtung hat. Seht ihn an, ob er geht, wie ein Tänzer.“ Als wahrscheinliche Quelle für diese erste Charakterisierung Zarathustras aus einer Fremdperspektive führt KGW VI 4, 864 eine Stelle aus Ralph Waldo Emersons Versuchen an, die auf die Ausdrucks- und Überzeugungskraft von „Gang und Haltung“ des historischen Zarathustra hinweist. Die physiognomischen Merkmale dienen dabei als Erkennungs-

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zeichen der prophetischen Ausnahmegestalt: „Die glaubwürdigsten Bilder scheinen uns die von großen Menschen zu sein, die bei ihrem ersten Erscheinen schon die Oberhand hatten, und die Sinne überführten; wie es dem morgenländischen Weisen erging, der gesandt war, die Verdienste des Zaratustra oder Zoroaster zu erproben. […] Der Weise von Yunnan sagte, als er jenes Oberhaupt [= den Propheten Zarathustra] erblickte: ‚Diese Gestalt und dieser Gang und Haltung können nicht lügen, und nichts als Wahrheit kann daraus hervorgehen.‘“ (Emerson 1858, 351) Auch der Hinweis auf die Reinheit des Auges hat seine Entsprechung in Emersons Versuchen, denen zufolge das ‚klare‘ Auge von Wahrhaftigkeit zeugt: „Es heißt, daß das Antlitz niemals lügt. Kein Mensch kann betrogen werden, der nur recht den wechselnden Ausdruck der Mienen studirt. Wenn ein Mensch die Wahrheit im Geiste der Wahrheit spricht, so ist sein Auge so klar wie der Himmel.“ (Ebd., 116; N.s Unterstreichung u. Markierung am Seitenrand.) Nicht bei Emerson vorgeprägt ist hingegen die Wahrnehmung Zarathustras als eines „Tänzers“, was den Schluss nahelegt, dass N. gerade dieses Attribut besonders wichtig war, da er es seiner Zarathustra-Figur abweichend von seinen Quellen zuschreibt. Was damit aber ausgesagt sein soll, bleibt zunächst auf irritierende Weise unbestimmt. Überdies harmoniert die Charakterisierung als Tänzer schlecht mit Zarathustras sendungsbewusstem Selbstverständnis. Freilich bildet die Zuschreibung des Einsiedlers lediglich das erste Glied der das Za-Werk durchziehenden Leitmotivkette des Tanzens und Tänzerischen. Im Fortgang der Handlung und durch Selbstaussagen Zarathustras erfährt sein Tänzer-Sein nähere Bestimmung und wird dann auch metaphorisch mit der Rolle verknüpft, die er gegenüber Welt und Menschen einzunehmen beansprucht. Innerhalb von Za I konzentriert sich dies weitgehend auf die Rede „Vom Lesen und Schreiben“, in der sich Zarathustra nicht allein als ein Medium göttlichen Tanzes entwirft, sondern zugleich als Lehrer der Leichtigkeit und des Fliegens, der sich über die niederschmetternden Aspekte des Daseins erhebt und dabei über sich selbst hinauswächst: „Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich.“ (50, 3 f.) Das Tanzen richtet sich gegen den Geist der Schwere, es ist im dominant binär konzipierten Leitmotivsystem des Werks anzusiedeln auf der Seite der Leichtigkeit, des Fliegens, des Lachens und der Selbstüberwindung. Dem entspricht N.s Selbstkommentar in EH Za 6, der nicht allein retrospektiv die Worte des Einsiedlers untermauert – „Zarathustra ist ein Tänzer“ (KSA 6, 345, 6) –, sondern Zarathustras Tänzertum als das Vermögen bestimmt, „das Schwerste von Schicksal, ein Verhängniss von Aufgabe“ zu tragen und dabei „trotzdem der leichteste und jenseitigste“ (ebd., 4–6) zu sein und „keinen Einwand gegen das Dasein“ (ebd., 9) darin zu erkennen. Demnach bezeichnet Zarathustras Tänzertum eine Haltung zum Dasein, die durch vorbehaltlose Akzeptanz gekennzeichnet ist.

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Nach gängiger Forschungsmeinung zeichnet das Tänzerische bei N. ein Philosophen- und Propheten-Ideal aus, das sich mit souveräner Leichtfüßigkeit über alle beklemmenden Aspekte des Daseins hinwegzusetzen weiß, das sich „buchstäblich zur Freiheit tanzen, Ketten hinwegtanzen“ (Reschke 2019, 127) will. In dieser affirmativen Funktion erreicht das Tanz-Motiv in Za einen Höhepunkt (so Pfefferkorn 2014, 133). Vgl. zum Tanz in Za überdies Humphrey 1987, Parkes 1990, Müller Farguell 1995, 318–347, Crawford 2002, Tietz 2002, Nowak 2009, Georg 2013, Vasques 2014, Grätz 2022b. Zu betonen ist allerdings, dass sich Zarathustra keineswegs so tänzerisch-unangefochten durch die fiktionale Welt bewegt, wie das ein Gros der Forschung und auch N.s späterer Selbstkommentar in EH Za 6 suggerieren. Insbesondere in Za III Das andere Tanzlied, wo Zarathustra von seinem wilden Tanz mit dem personifizierten Leben berichtet, charakterisiert er sich als strauchelnden Tänzer (vgl. 283, 22 f.). So stellt sich im Fortschreiten der Handlung die Frage, inwieweit N.s Protagonist dem tänzerischen Ideal denn auch gerecht wird. In Za II steht das Tanzen nicht allein im Mittelpunkt des „Tanzlied[es]“, sondern findet außerdem Widerhall im „Grablied“ und in der Rede „Von den Taranteln“. In Za III und IV begegnet die Tanzmetaphorik dann in einer ganzen Reihe von Kapiteln. Dabei wird ihr aber nicht eine immer deutlichere Bestimmung zuteil, sondern im Gegenteil: Je häufiger in Za vom Tanzen die Rede ist, desto umfassender und schillernder erscheinen Motiv und Metapher, die durch die Integration in das Leitmotivnetz des Werks und durch die Verknüpfung mit anderen Motiven fortwährenden semantischen Verschiebungen unterliegen. Zur Sprache kommen dabei die leibliche Dimension des Tanzens (vgl. NK 144, 28–30) sowie eine poetologisch-sprachkritische Bedeutung (vgl. NK 4/2, 272, 9–27), aber auch Formen des Tänzerischen, die gerade nicht im Gestus des souveränen Überwindens aufgehen, sondern die tänzerische Souveränität Zarathustras zumindest punktuell in Frage stellen (vgl. NK 110, 18–23; NK 128, 7–10; NK 4/2, 302, 14–16). Wie das Tänzertum markiert auch die Freiheit von Ekel – „an seinem Munde birgt sich kein Ekel“ – im Metapherngeflecht von Za eine Position, die durch unbedingte Akzeptanz und Affirmation bestimmt ist. Anknüpfend an die Worte des Einsiedlers und sie noch verstärkend will der freiwillige Bettler in Za IV in Zarathustra ein Gegenbild zu allem Lebensüberdruss erkennen: „Diess ist der Mensch ohne Ekel, diess ist Zarathustra selber, der Überwinder des grossen Ekels, diess ist das Auge, diess ist der Mund, diess ist das Herz Zarathustra’s selber.‘“ (334, 28–30) Allerdings zeigt sich im Verlauf der Handlung, dass sowohl Einsiedler als auch freiwilliger Bettler ein Idealbild Zarathustras zeichnen und dieser keineswegs unberührt von allen Ekelanwandlungen leichtfüßig durch die Welt tanzt, sondern immer wieder vom Affekt des Ekels gepackt wird (so auch Menninghaus 1999, 243 f.). Der Ekel entzündet sich an unterschiedlichen Objekten, vor allem aber wird er von den Menschen ausgelöst: In Za I Vom bleichen Verbrecher etwa

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bekennt Zarathustra: „Vieles an euren Guten macht mir Ekel“ (47, 11). In Za II Vom Gesindel spricht er retrospektiv von der überwundenen Gefahr eines verzehrenden Lebensekels, ausgelöst durch die Begegnung mit dem „Gesindel“: „Nicht mein Hass, sondern mein Ekel frass mir hungrig am Leben!“ (125, 8 f.) In Za III Der Genesende ist der Ekel dann angesichts des „abgründlichsten Gedanken[s]“ (271, 5) wieder ganz gegenwärtig: „Ekel, Ekel, Ekel – – – wehe mir!“ (271, 9), ruft Zarathustra dort aus. Eine neue Dimension erhält die Auseinandersetzung mit dem Ekel im vierten Za, wo sich Zarathustra konfrontiert sieht mit den höheren Menschen, die sich selbst als die Menschen des „grossen Ekels“ (349, 28; vgl. NK 4/2, 349, 23–31) verstehen, denen das Dasein sinnlos und entwertet ist. An den Zauberer wendet er sich dort mit Worten, die ein verkehrendes Echo auf die des Einsiedlers vorstellen: „Du erntetest den Ekel ein, als deine Eine Wahrheit. Kein Wort ist mehr an dir ächt, aber dein Mund: nämlich der Ekel, der an deinem Munde klebt.‘ – –“ (Za IV Der Zauberer 2, 318, 28–30) 12, 25 Verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zarathustra] Hat der Einsiedler schon zu Beginn seiner Rede die Verwandlung Zarathustras konstatiert (vgl. 12, 18 f.), so bestimmt er sie jetzt konkreter als eine Verwandlung „zum Kind“. Der hier noch unmotiviert erscheinende Befund erhält später in der Rede „Von den drei Verwandlungen“ einen spezifischeren Sinn. Dort nämlich wird ein dreistufiges Verwandlungsgeschehen bildlich vergegenwärtigt, bei dem das als schöpferisch vorgestellte Kind die letzte und höchste Stufe der Metamorphosen abgibt (vgl. NK 31, 4–6; zur Bedeutung der Figur des Kindes in Za siehe Mills 2019). Von einer Verwandlung Zarathustras (allerdings nicht von einer Verwandlung zum Kind) ist des Öfteren die Rede, ohne dass damit in jedem Fall eine Verwandlung zum Besseren gemeint wäre. Vielmehr werden auch krisenhafte Umschwünge in Zarathustras Verfassung als ‚Verwandlungen‘ von Stimme und Auge vermittelt (vgl. 99, 25 f.; 175, 31; 397, 18). Die Begegnung mit dem Wahrsager in Za I und die Konfrontation mit dessen nihilistischer Botschaft etwa „verwandelt[.] ihn“ (172, 23), indem sie ihn in Trübsal verfallen lässt. Die Überwindung der Krise vollzieht sich als ‚Rückverwandlung‘ und der Erzähler vermerkt: „da siehe, da verwandelte sich mit Einem Male sein Auge“ (175, 31 f.). Doch nicht nur Einsiedler und Erzähler nehmen Zarathustra als einen sich Verwandelnden wahr, auch er selber tut das. Als er am Beginn von Za II erneut zu den Menschen aufbricht, da spricht er zu seinen Tieren: „Bin ich nicht verwandelt!“ (106, 12). Ist es in den ersten drei Teilen überwiegend Zarathustra, dem Verwandlungsfähigkeit zugeschrieben wird, so werden am Ende von Za IV die höheren Menschen als sich Verwandelnde in den Blick genommen (vgl. dazu NK 4/2, 392, 14 f. und zum Motiv der Verwandlung allgemein vgl. NK 29, 1). 12, 25–27 ein Erwachter ist Zarathustra: was willst du nun bei den Schlafenden?] Die Metaphorik des Wachens und Schlafens zielt im Motivgeflecht von Za auf die Opposition zwischen einem einlullenden, Selbstzufriedenheit kultivierenden

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gesellschaftlichen Klima auf der einen Seite und der aufstörenden Lehre Zarathustras auf der anderen (vgl. 25, 4–7 u. ÜK Za I Von den Lehrstühlen der Tugend). Die Kennzeichnung als „Erwachter“, die sich einmalig nur hier findet, stellt überdies eine Verbindung her zwischen Zarathustra und Buddha, von dem N. in Hermann Oldenbergs Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde lesen konnte: „Wenn im Brâhmana der hundert Pfade als der Erlöste der genannt wird, welcher den Âtman erkannt hat, so ist dort für ‚erkennen‘ jenes Wort (pratibuddha) gebraucht, das auch die Buddhisten anzuwenden pflegen, wenn sie davon reden, wie Buddha in feierlicher Stunde unter dem Açvatthabaum die erlösende Wahrheit erkannt hat, oder zu der erlösenden Wahrheit erwacht ist; dasselbe Wort, von dem auch der Name ‚Buddha‘, d. h. ‚der Erkennende‘, ‚der Erwachte‘ gebildet ist.“ (Oldenberg 1881, 53) Siehe auch die Feststellung bei Oldenberg: „aus dem Asketen Gotama war der Buddha, der Erwachte, Erleuchtete geworden“ (ebd., 110; Hinweise in KGW VI 4, 864). 12, 28–30 Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit, und das Meer trug dich. Wehe, du willst an’s Land steigen? Wehe, du willst deinen Leib wieder selber schleppen?] Mit den einander zugeordneten Gegensatzpaaren von Leichtigkeit und Schwere (diese tritt später personifiziert als Geist der Schwere auf, vgl. dazu ÜK Za III Vom Geist der Schwere u. NK 4/2, 241, 1) sowie von Einsamkeit und Gesellschaft sind Leitmotive aufgerufen, die alle vier Teile von Za durchziehen. Der Einsiedler vergleicht Zarathustra, der seine Einsamkeit mit der Gesellschaft der Menschen vertauscht, einem Tier, das sein Element wechselt und von einem Wassertier zum Landtier wird, das plötzlich das ganze Gewicht des eigenen Körpers auf sich lasten spürt, da es die tragende Kraft des Wassers (der Einsamkeit) von nun an entbehren muss. In einer im Winter 1882/83 entstandenen Notiz ist es ursprünglich noch Zarathustra selbst, der sich einem solchen an Land gehenden Tier vergleicht, das plötzlich nicht bloß das eigene Gewicht, sondern das der ganzen Welt auf sich lasten spüre; die Analogisierung von Meer und Einsamkeit fehlt dort allerdings: „Wie schwer ward mir da die Welt – dem Thier gleich, das im Meer gelebt hat und nun ans Land mußte: wie soll es nun seinen eignen Körper schleppen!“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]258, 217, 19–21) Vgl. ferner die abbrechende Notiz: „Das Meer trug dich: – – –“ (NL 1882/83, KSA 10, [4]186, 165, 8). Die Rede des Einsiedlers, der noch nicht einmal weiß, dass Gott tot ist, steht in Abhängigkeit von evolutionsbiologischen Einsichten. Denn den Gedanken von der Schwere des Landtieres bezieht N., wie Campioni 1990, 533 nachgewiesen hat, aus Wilhelm Roux’ Der Kampf der Theile im Organismus, wo die Schwierigkeiten dessen, was die Biologie als ‚Landgang‘ bezeichnet – nämlich der Übergang von einer aquatischen zu einer terrestrischen Lebensweise – eindringlich herausgestellt wird: „Sobald das Thier auf das Land aus dem Wasser herauskommt, müsste es zunächst das schrecklichste Unbehagen empfinden, denn es werden mit einem

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Male sein Körper und seine Glieder vielmal schwerer, als vorher, da sie im Wasser blos so viel, oder subjectiver gesprochen, so wenig wogen, als sie schwerer sind, als das verdrängte Wasser. Wie unangenehm ist es z. B. uns schon, wenn wir längere Zeit im Wasser geschwommen haben und, an das Land steigend, plötzlich unsern Körper wieder selber tragen müssen. Dieser geringe Grad von Unannehmlichkeit, den wir, an das Tragen unserer Gliedmassen unser Leben lang gewöhnt, bei diesem Uebergange empfinden, ist aber gar nicht zu vergleichen mit dem Eindruck, den ein Thier haben muss, welches seine Körpertheile nie selber getragen hat.“ (Roux 1881, 41) Später bezieht sich auch GM II 16 auf die Beschwerlichkeit dieser phylogenetischen Übergangsphase und ruft sie wiederum als Metapher auf für die Beschwerlichkeit des Übergangs in eine gesellschaftliche Existenzform, die dort aber nicht die Einzelexistenz anvisiert, sondern auf die Menschheitsgeschichte insgesamt bezogen ist: „Nicht anders als es den Wasserthieren ergangen sein muss, als sie gezwungen wurden, entweder Landthiere zu werden oder zu Grunde zu gehn, so gieng es diesen der Wildniss, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer glücklich angepassten Halbthieren, – mit Einem Male waren alle ihre Instinkte entwerthet und ‚ausgehängt‘. Sie sollten nunmehr auf den Füssen gehn und ‚sich selber tragen‘, wo sie bisher vom Wasser getragen wurden: eine entsetzliche Schwere lag auf ihnen.“ (KSA 5, 322, 2–10; vgl. dazu NK 5/2, 322, 2–19). 13, 1 „Ich liebe die Menschen.“] Vermittelt Zarathustra hier den Eindruck, als gründe sein Sendungsbewusstsein in einer philanthropischen Grundhaltung, so zeigt gleich die nachfolgende Rede auf dem Marktplatz, dass seine Menschenliebe keineswegs bedingungslos und umfassend ist. Seine Liebeserklärungen in Za I Vorrede 4 gelten nicht dem Menschen als solchem, sondern menschlichen Antrieben, die auf Erneuerung und Überwindung des aktuellen Mensch-Seins zielen (zum Gedanken der Selbstüberwindung siehe NK 14, 13–15). Zarathustras Liebe ist eine fordernde, eine antreibende Liebe, die keine Verwandtschaft hat mit der christlichen Nächstenliebe, sondern einmündet in die Idee des Schaffens und die Hervorbringung neuer Werte. In Za IV Vom höheren Menschen heißt es: „Alle grosse Liebe w i l l nicht Liebe: – die will mehr.“ (365, 14 f.) Zum Begriff der „grossen Liebe“ vgl. NK 115, 20 f. u. Piazzesi 2012a; zur Liebe in Za auch Goicoechea 1983. 13, 4–6 Jetzt liebe ich Gott: die Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache. Liebe zum Menschen würde mich umbringen.] Ein Notat gesteht dem Menschen zwar liebenswerte Seiten zu, allerdings bloß um zu dem Schluss zu gelangen, dass der Mensch insgesamt keineswegs der Liebe wert sei: „Vieles am Menschen ist zu lieben: aber der Mensch ist nicht zu lieben. Der Mensch ist eine zu unvollkommene Sache: Liebe zum Menschen würde mich tödten.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]245, 216, 13–15) Vgl. auch die folgenden Aufzeichnungen:

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„Der Mensch ist eine zu unvollkommene Sache. Liebe zu einem Menschen würde mich z e r s t ö r e n.“ (NL 1882, KSA 10, 1[66], 27, 2 f.); „So sprach ein Heiliger: ,ich liebe Gott – denn der Mensch ist eine zu unvollkommene Sache. Liebe zu einem Menschen würde mich zerstören.‘“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]9, 54, 22–24) Mit der Unvollkommenheit des Menschen ist ein Leitthema von Za angeschlagen, auf das Zarathustra gleich im nächsten Abschnitt vehement reagiert, indem er dort den Menschen zu einem „Etwas“ ausruft, „das überwunden werden soll“ (14, 14). Überhaupt gibt Zarathustra nachfolgend vielfache metaphorische Bestimmungen des Menschen als eines defizitären und grundlegend zu verändernden Wesens, die die Einschätzung des Einsiedlers drastisch bebildern (vgl. dazu NK 14, 13–15). Dass sich hingegen N. selbst eine tödliche Liebe zu den Menschen zuschrieb, belegt ein Entwurf zum Brief an Franz Overbeck vom 25. Dezember 1882: „Aber Weise wie ich lieben nur Gespenster – und wehe wenn ich einen M〈enschen〉 liebe – ich würde ba〈ld〉 an dieser Liebe zu Grunde gehen. Der M〈ensch〉 ist eine zu unvollkommene Sache“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 364, S. 311, Z. 16–19). 13, 12–15 Und willst du ihnen geben, so gieb nicht mehr, als ein Almosen, und lass sie noch darum betteln! / „Nein, antwortete Zarathustra, ich gebe kein Almosen. Dazu bin ich nicht arm genug.“] Dass sich der Almosen-Gebende selbst ein Armutszeugnis ausstellt, bringt eine Parallelstelle in Za IV Der hässlichste Mensch aus der Perspektive des Almosen-Empfängers zum Ausdruck, der sich durch solche Gabe in seinem Reichtum verkannt sähe, einem Reichtum, der indes nicht materieller Natur ist. Dort wendet sich der hässlichste Mensch anerkennend an Zarathustra mit den Worten: „Jedweder Andere hätte mir sein Almosen zugeworfen, sein Mitleiden, mit Blick und Rede. Aber dazu – bin ich nicht Bettler genug, das erriethest du – / – dazu bin ich zu r e i c h, reich an Grossem, an Furchtbarem, am Hässlichsten, am Unaussprechlichsten!“ (329, 28–32) Das Almosen-Geben steht innerhalb von Za im größeren Kontext des Schenkens, dem als Form des intersubjektiven Austausches eine eminente soziale Bedeutung zugemessen wird. Nicht zuletzt begründet das Schenken als Ausdruck von Wertschätzung soziale Rangordnung. Wenn Zarathustra am Beginn des Werks als ein Schenkender eingeführt wird, dann verweist dies auf seine souveräne, den Menschen überlegene Position (vgl. dazu NK 11, 16–19) und deutet ein asymmetrisches Verhältnis an zwischen dem Gebenden und der Vielzahl der Nehmenden. In entsprechender Zwiespältigkeit reflektiert Zarathustra in Za II Von den Mitleidigen die Rolle des Gebenden, die den Empfänger zu beschämen droht: „Ich aber bin ein Schenkender: gerne schenke ich, als Freund den Freunden. Fremde aber und Arme mögen sich die Frucht selber von meinem Baume pflücken: so beschämt es weniger. / Bettler aber sollte man ganz abschaffen! Wahrlich, man ärgert sich ihnen zu geben und ärgert sich ihnen nicht zu geben.“ (114, 19–23; vgl. NK 114, 19–21) Kurz zuvor in Za II Das Kind

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mit dem Spiegel gibt Zarathustra zur Leitlinie aus, „als Schenkender die Scham [zu] bewahren“ (105, 8). Eine Vielzahl von nachgelassenen Parallelstellen zeigt an, wie wichtig N. das Thema des Bettelns und Almosen-Gebens war: „Ich gebe nicht Almosen – dazu bin ich nicht arm genug – sagt Zarathustra.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[117], 149, 3 f., vgl. auch NL 1882/83, KSA 10, 5[1]172, 206, 16 f.) „Laß sie erst betteln um ein Almosen! Zarathustra: – – – / Aber sie brauchen nur Almosen, sie sind nicht reich genug, um deine Schätze brauchen zu können.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[167], 161, 9–12) „Zarathustra, sagte der Einsiedler, du bist arm geworden – und wenn ich ein Almosen von dir wollte, würdest du mir es wohl geben?“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[204], 168, 23–25) Die Abwehr des Almosen-Gebens gehört in den Kontext von N.s Kritik an der christlichen Mitleidsethik. Bereits ein Notat von 1880 will das Geben von Almosen als widersinnigen Akt entlarven: „Mit dem Almosen unterhält man den Zustand, der als Motiv des Almosens wirkt, man giebt also nicht aus Mitleiden, denn dieses würde den Zustand nicht unterhalten wollen.“ (NL 1880, KSA 9, 3[113], 79, 25–27) 13, 16–23 So sieh zu, dass sie deine Schätze annehmen! Sie sind misstrauisch gegen die Einsiedler und glauben nicht, dass wir kommen, um zu schenken. / Unsre Schritte klingen ihnen zu einsam durch die Gassen. Und wie wenn sie Nachts in ihren Betten einen Mann gehen hören, lange bevor die Sonne aufsteht, so fragen sie sich wohl: wohin will der Dieb?] Wenn der alte Heilige seine warnenden Worte in der WirForm vorbringt, dann lässt das darauf schließen, dass auch er sich einst zu den ‚Schenkenden‘ rechnete, zum Dank dafür aber gesellschaftliche Stigmatisierung erfuhr. Das verdeutlicht die Außenseiterposition, in die der ‚Gebende‘ gerät, der mit der ‚Gabe‘ seiner Weisheit die gesellschaftlich anerkannten Werte in Frage stellt. Der Figur des Einsiedlers kommt daher ein schillernder Status innerhalb von Za zu: Einerseits steht sie ein für die Möglichkeit eines unversehrten Daseins abseits der menschlichen Gesellschaft, andererseits erscheint sie als Projektionsfläche von Ressentiment und gesellschaftlichen Rachegelüsten. In dieser Ambivalenz dient die Einsiedler-Figur als Spiegelfigur Zarathustras (vgl. dazu auch NK 106, 27–33), der rückblickend seine einsiedlerisch-exterritoriale Position für sein Scheitern verantwortlich macht: „Als ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that ich die Einsiedler-Thorheit, die grosse Thorheit: ich stellte mich auf den Markt.“ (Za IV Vom höheren Menschen, 356, 3–5) 13, 24–26 Gehe nicht zu den Menschen und bleibe im Walde! Gehe lieber noch zu den Thieren! Warum willst du nicht sein, wie ich, – ein Bär unter Bären, ein Vogel unter Vögeln?] Dazu die getilgte Entwurfsstufe, die seltsam konträr zur Druckfassung auf die Grausamkeit der Natur verweist: „Gehe nicht zu den M., gehe lieber zu den Thieren. Lehre die Thiere, daß die Natur grausamer ist als die M.“

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(N VI 1,7; KGW VI 4, 22) An Zarathustra, der, durchtränkt von Sendungsbewusstsein, auf dem Weg zu den Menschen ist, prallt der Rat des Einsiedlers hier noch ab. Als er sich aber am Ende von Za II von den Menschen zurückzieht und beschließt, in die Einsamkeit seiner Gebirgshöhle zurückzukehren, sieht er sich tatsächlich in der Rolle eines Bären: „Ja, noch Ein Mal muss Zarathustra in seine Einsamkeit: aber unlustig geht diessmal der Bär zurück in seine Höhle!“ (Za II Die stillste Stunde, 187, 5 f.) – N. selbst schrieb sich in Briefen immer wieder das eremitenhafte Dasein eines Höhlenbären zu (vgl. dazu Wachendorff 2019). In den Briefen an die Engländerin Emily Fynn wird die Rolle des (Höhlen-)Bären geradezu zum Leitmotiv; N. stilisiert sich zum „einsamen Bär und Philosophen“ (Mitte Februar 1886, KSB 7/KGB III 3, Nr. 671, S. 151, Z. 51 f.). In einem Brief an Heinrich von Stein vom 15. Oktober 1885 ermahnt er sich selbst, als ihn die Kritisierlust an den Deutschen packt: „Aber was thue ich! Der Höhlenbär fängt an zu brummen“ (KSB 7/ KGB III 3, Nr. 634, S. 100, Z. 32). Laut Gossmann 2005, 535 und Sieg 2019, 56 soll N. von sich und Overbeck bereits zu seiner Basler Zeit als von den „beiden ,Höhlenbären‘“ gesprochen haben – die Quelle für diesen Befund dürfte die Unterschrift N.s in einem Brief an Overbeck vom 30. Juli 1874 sein; sie lautet „Mit-gift-höhlenbären“ (KSB 4/KGB II 3, Nr. 384, S. 253, Z. 69). Ein spätes Notat weist die Liebe zu den Tieren als Merkmal des Einsiedlers aus und entbehrt dabei nicht eines parodistischen Einschlags: „Man ist nicht / umsonst Einsiedler. Das Gebirge ist ein stummer Nachbar, es vergehen Jahre, ohne daß Einen ein Wort er-/reichte. Aber der Anblick des Lebenden erquickt: man läßt endlich alle Kindlein zu sich kommen, man / streichelt jede Art Gethier noch, selbst wenn es Hörner hat. ˹(Ich rede eine Kuh immer mit ‚mein Fräulein‘ an: das schmeichelt ihr gewaltig … ˹ihrem alten Herzen.)˹.–˺˺˺ Nur der Einsiedler kennt die große Toleranz. / Die Liebe zu den Thieren – zu allen Zeiten hat man die Einsiedler daran erkannt …“ (KGW IX 12, Mp XVI, 67r, 28–36; vgl. NL 1888, KSA 13, 19[1], 542, 8–16) 13, 27–31 „Und was macht der Heilige im Walde?“ fragte Zarathustra. / Der Heilige antwortete: Ich mache Lieder und singe sie, und wenn ich Lieder mache, lache, weine und brumme ich: also lobe ich Gott. / Mit Singen, Weinen, Lachen und Brummen lobe ich den Gott, der mein Gott ist.] Der alte Heilige bekennt sich zu einer wahrlich einsiedlerisch-eigenbrötlerischen Weise, Gott zu loben, die weit vom kirchlichen Ritus abliegt. Befremdlich an der Aufzählung seiner Gott preisenden Verhaltensweisen ist insbesondere das Lachen, dem gemeinhin kein verehrendes, sondern vielmehr ein subversives Potential zukommt und das auch im Widerspruch steht zur späteren Kritik Zarathustras an dem „Hebräer Jesus“ (95, 7 f.), der das Lachen nicht gelernt habe (vgl. 95, 9–11). Wenn sich Zarathustra in Za IV Ausser Dienst an die Begegnung mit dem alten Einsiedler erinnert, ist indes nurmehr vom „Singen und Brummen“ die Rede (322, 21 f.).

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13, 32–14, 1 Doch was bringst du uns zum Geschenke? / Als Zarathustra diese Worte gehört hatte, grüsste er den Heiligen und sprach: „Was hätte ich euch zu geben! Aber lasst mich schnell davon, dass ich euch Nichts nehme!“ –] Agiert Zarathustra nur wenig später als jemand, der die Menschen schonungslos aufrütteln und ihre Selbstzufriedenheit unterminieren will, so schreckt er den Einsiedler, wohl um ihn zu schonen (so Simon 2000, 252), nicht aus seinem als falsch erkannten Glauben auf. Mit Blick auf die nachfolgende Handlung wirft das die Frage auf, ob es mitunter besser und menschenfreundlicher sein mag, die Menschen in einem Zustand der Unkenntnis zu belassen. Zugleich taucht damit das Motiv des Schenkens aus Za I Vorrede 1 in neues Licht. Während sich Zarathustra dort als jemand präsentiert, für den das Schenken ein existenzielles Grundbedürfnis vorstellt, schließt er den Heiligen als Empfänger seiner Gaben explizit aus. Die Ironie liegt, wie er in paradoxaler Zuspitzung seiner Rede unterstreicht, darin, dass seine Gabe in diesem Fall einen Verlust, nämlich den Verlust des Glaubens, bewirken würde. Noch nicht so pointiert, aber dafür leichter verständlich liest sich der Passus in einer Vorstufe: „Erlaubt mir nun, daß ich schnell lgehe: denn ˹Nein˺ euch habe ich nichts zu geben: aber ˹und˺ die Gefahr ist nicht klein, daß ich euch etwas nehme.‘ Und so trennten sie sich, der Mann und der Greis, lachend, gleich zwei Kindern. / Als Z. diese Worte gehört hatte grüßte er den Heiligen und sagte: Was hätte ich euch zu geben! Aber laßt mich schnell davon, daß ich euch nicht〈s〉 nehme? – Und / ,Doch was bringst du uns Menschen zum Geschenk?‘“ (N VI 1,6; KGW VI 4, 22) 14, 1–3 Und so trennten sie sich von einander, der Greis und der Mann, lachend, gleichwie zwei Knaben lachen.] Das knabenhafte Lachen, dessen Motivation im Text nicht erläutert wird und das somit der Interpretation der Leser*innen anheimgestellt wird, unterscheidet sich deutlich vom späteren Lachen Zarathustras, das vom Pathos der Distanz bestimmt ist (zum Lachen vgl. NK 48, 23–49, 7). Es ist, wie Hurst 2020, 555 zutreffend bemerkt, kein Zeichen von Übereinstimmung, eher wird man es als Ausdruck der Selbstgewissheit beider verstehen dürfen, die sich durch die Begegnung mit dem jeweils anderen ihrer eigenen Position noch sicherer wähnen. 14, 4 f. Als Zarathustra aber allein war, sprach er also zu seinem Herzen:] Von der selbstbezüglichen Rede Zarathustras „zu seinem Herzen“ ist in Za formelhaft wiederkehrend ganze 18 Mal die Rede, mit variierender Dispersität über die vier Teile hinweg: Acht Okkurrenzen finden sich allein in Za I Vorrede, jeweils eine Okkurrenz in den Reden von Za I sowie in Za II und III; in Za IV tritt die Wendung dann mit sieben Nennungen wiederum gehäuft auf. Hinzu kommt noch eine Stelle, an der sich Zarathustra lachend an sein Herz wendet: „Gegen Morgen aber lachte Zarathustra zu seinem Herzen“ (206, 29). Die Apostrophe des eigenen Herzens

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ermöglicht eine Form der Selbstaussprache, bei der dem affektiven Selbstbezug die Abwendung gegenüber der Umwelt korrespondiert. Sie schafft daher nicht zuletzt die Möglichkeit, das eigene Unverstanden-Sein zu artikulieren, wie folgendes Zitat unterstreicht, das die selbstreferenzielle ‚Herzenssprache‘ kontrastiert mit der Ignoranz fremder Ohren: „‚Da stehen sie‘, sprach er zu seinem Herzen, ‚da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren.“ (18, 26 f.) Die Adressierung des eigenen Herzens wird in Za nicht bloß formelhaft wiederholt, sondern leicht variiert, z. B.: „und sprach endlich zu seinem Herzen“ (105, 12 f.), „sprach Zarathustra erstaunt zu seinem Herzen“ (304, 9), „Halt! sprach da Zarathustra zu seinem Herzen“ (313, 6 f.). Es ist bezeichnend für die in vieler Hinsicht anachronistischen Stil- und Darstellungsformen von Za, dass N. nicht auf das seit der Romantik fein ausgebildete Instrumentarium des personalen Erzählens mit interner Fokalisierung oder erlebter Rede zurückgreift, sondern auf das ältere Ausdrucksmittel der Gedankenrede. Er nutzt damit eine Form der Einblicknahme in die Gedankenwelt des Protagonisten, die sich den narratologischen Möglichkeiten des zeitgenössischen psychologischen Romans verweigert. Als literarische Vorlage für diesen Topos des ‚Dialogs mit dem eigenen Herzen‘ lassen sich die beiden homerischen Formelverse ὀχθήσας δ’ ἄρα εἶπε πρὸς ὃν μεγαλήτορα θυμόν und κινήσας δὲ κάρη προτὶ ὃν μυθήσατο θυμόν identifizieren – sie lauten in der von Nietzsche benutzten Übersetzung von Johannes Minckwitz (Homer 1854 u. 1856a): „unmuthsvoll sprach er […] zu seinem hochsinnigen Herzen“ bzw. „[er] schüttelte das Haupt und redete […] zu seinem Herzen“. In epischen Werken der klassischen Tradition werden sie monologisierenden Helden bzw. Göttern sehr häufig in den Mund gelegt (siehe etwa Ilias XI 403, XVII 90 u. 442, XVIII 5, XX 343, XXI 552, XXII 98; Odyssee V 285, 298, 355, 376, 407, u. 464). In der neuzeitlichen Dichtung finden sich ähnliche Redeformen dann insbesondere im Kontext religiösen Sprechens; wörtlich schreibt etwa Otto von Gerlach in seinem Kommentar zur Lutherbibel: „darum sprach er [Gott] auch also zu seinem Herzen“ (Gerlach 1854, 28). In Luthers Bibelübersetzung hingegen begegnet die Wendung vom Sprechen „im Herzen“. So in 1. Mose 17, 17: „Da fiel Abraham auf sein Angesicht und lachte und sprach in seinem Herzen“ (Die Bibel AT 1818, 15). In Za findet sich diese Form seltener, doch flucht, frohlockt und denkt auch Zarathustra in Za IV immerhin jeweils einmal „in seinem Herzen“ (vgl. 321, 17; 327, 5 f.; 332, 7). 14, 5–7 „Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon gehört, dass G o t t t o d t ist!“ –] Zarathustra erachtet den Tod Gottes als eine allgemein akzeptierte Tatsache, die lediglich den von der Welt abgeschnittenen Einsiedler, einen „aus der Zeit gefallene[n] Hinterwäldler“ (Schmidt 2016, 28), noch nicht erreicht habe. Demnach erscheint der Gedanke vom Tod Gottes als ein historisch notwendiger, der sich bereits allgemein durchgesetzt hat, so dass seine

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Ignoranz ungläubiges Staunen hervorruft. Anders verhält sich dies in FW 125, der populärsten Partie zum Tod Gottes in N.s Werk (vgl. dazu NK 3/2 FW 125 u. NK 3/2, 481, 15). In eindringlicher Weise stellt sie ihn aus der Figurenperspektive des (an Diogenes von Sinope angelehnten) tollen Menschen als unverarbeitetes Wissen dar und problematisiert ihn als „ungeheure[s] Ereigniss“ (KSA 3, 481, 30), das noch längst nicht in seiner erschreckenden Tragweite ausgemessen und durchdrungen ist. Dass demgegenüber der Tod Gottes innerhalb der fiktiven Welt von Za bereits in weitere historische Distanz gerückt ist und allgemeine Akzeptanz erfahren hat, so dass nur einsiedlerisch lebende Einzelne noch einem eigenbrötlerischen Gottesglauben nachhängen, unterstreicht auch die Parallelstelle in Za IV Ausser Dienst, in der Zarathustra dem alten, abgedankten Papst begegnet, der „den letzten frommen Menschen“ sucht, „einen Heiligen und Einsiedler, der allein in seinem Walde noch Nichts davon gehört hatte, was alle Welt heute weiss.‘“ (322, 6–8) Ganz so klar und eindeutig, wie diese Zitate nahelegen, fällt der Bruch mit dem alten Gottesglauben in Za dennoch nicht aus. Andere Textstellen zeugen von einer noch immer existenten Anziehungskraft der hier bloß mehr belächelten Gottesvorstellung. In Za I Von den Hinterweltlern etwa erklärt Zarathustra seine Nachsicht gegenüber dem „Genesenden“, der „zärtlich nach seinem Wahne blickt und Mitternachts um das Grab seines Gottes schleicht“ (37, 23 f.). In Za III Von den Abtrünnigen berichtet er gar von einem kollektiven Rückfall in den alten Glauben. Und in Za IV Die Erweckung veranlasst ihn das parodistische Ritual des Eselsfests zu dem Ausruf: „‚Sie sind Alle wieder f r o m m geworden, sie b e t e n, sie sind toll!‘“ (388, 13 f.) Der Text reflektiert derart also durchaus die Schwierigkeiten der Ablösung vom alten Gottesglauben, die er in unterschiedlichen Spielarten vor Augen rückt. Innerhalb von N.s publiziertem Werk kommt der Tod Gottes ausschließlich in FW und Za explizit zur Sprache. Die textgenetischen Zusammenhänge lassen erkennen, dass er von früh an unmitttelbar mit der Zarathustra-Figur verknüpft ist – der persische Religionsstifter wird bei N. zum Künder von Gottes Tod. So figuriert in einer 1881 entstandenen, nicht in die Nachlass-Bände der KSA aufgenommenen Vorstufe zu FW 125 ursprünglich nicht der tolle Mensch, sondern Zarathustra als der Gottsucher, der allgemeinen Spott auf sich zieht: „Einmal zündete Z〈arathustra〉 am hellen Vormittage eine Laterne an, lief auf den Markt und schrie: ich suche Gott! Ich suche Gott! – Da dort gerade Viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? Sagten die Einen. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? Sagten die Anderen. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? Ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander.“ (KSA 14, 256 f.) Mit dem Versuch, den Menschen die Tragweite des Todes Gottes und ihre eigene Verantwortung dafür vor Augen zu rücken, erntet der Zarathustra dieses Entwurfs betretenes Schweigen: „Gott ist todt! ˹Gott bleibt todt!˺ Und wir haben ihn

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getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß – es ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt dieses Blut von uns ab? Mit welchem ˹Weih˺ Wasser reinigen wir uns? ˹Welche Sühnfeiern werden wir feiern erfinden müssen? Ist nicht die Größe der dieser That zu groß für uns? Müssen wir nicht wachsen und fast selber zu Göttern werden, u m n u r i h r e r w ü r d i g z u e r s c h e i n e n? Es gab nie eine größere That! – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte als es alle Geschichte bisher war.‘˺“ (Ebd., 257) In Za tritt Zarathustra nun an mit einem Programm, das die Idee einer „höheren Geschichte“ wahr zu machen beansprucht und dabei den Tod Gottes und das durch ihn aufgebrochene Sinnvakuum zum Ausgang nimmt, um in die entstandene Leerstelle den „Sinn der Erde“ und die Verheißung des Übermenschen einzutragen. Nicht mehr die Nachbeben des Gottesmordes wie in FW 125 also stehen zur Debatte, sondern die Begründung einer neuen Ära der Menschheit. Derart eröffnet die Rede vom Tod Gottes, wie Meckel 1980, 174 anmerkt, anthropologische Perspektiven, insofern sie den Menschen dazu herausfordert, sein Mensch-Sein in neuer Weise zu realisieren – oder ihm überhaupt zum ersten Mal zu entsprechen (zum Tod Gottes in Za vgl. Biser 1962, Jüngel 1972, Haase 1996, Haas 2001, Costa e Fonseca 2008; zur parodistischen Umdeutung der christlichen Gottesvorstellung vgl. auch Reschke 2000b; zum Tod Gottes in FW und bei N. allgemein vgl. NK 3/2, 481, 15). In Za tritt Zarathustra also weniger als Todeskünder des alten Gottesglaubens auf, sondern mehr als Stifter eines neuen Menschheitsziels, das nicht Glaube und „Muthmaassung“ (109, 12 u. 21; 110, 14 f.) sein will und deshalb den (vermeintlich) handfesten „Sinn der Erde“ an die Stelle Gottes setzt. In diesem Sinn verkündet Zarathustra im Folgeabschnitt Za I Vorrede 3: „Einst war der Frevel an Gott der grösste Frevel, aber Gott starb, und damit starben auch diese Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher zu achten, als den Sinn der Erde!“ (15, 7–10) Und bündig formuliert er in Za II Auf den glückseligen Inseln: „Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch.“ (109, 10 f.) Wenn Zarathustra am Ende von Za I beschwörend ausruft: „T o d t s i n d a l l e G ö t t e r“ (102, 13), dann ist damit offenkundig nicht nur der Tod des christlichen Gottes gemeint, sondern der jeglicher Götter und gottähnlicher Vorstellungen und wohl das Ende der Metaphysik schlechthin wie aller daraus abgeleiteten Werte und Wahrheiten. Zarathustra verknüpft diesen ‚Tod‘ der metaphysischen Konstrukte dort unmittelbar mit der Heraufbeschwörung des Übermenschen: „T o d t s i n d a l l e G ö t t e r : n u n w o l l e n w i r, d a s s d e r Ü b e r m e n s c h l e b e.“ (102, 13 f.) Das Eigentümliche von Za liegt nun aber darin, dass dieses Programm nicht etwa immer mehr der Realisierung zugetrieben oder zumindest immer nachdrücklicher heraufbeschworen würde, sondern dass es im Gegenteil von Za II an

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immer mehr aus dem Blick gerät. Zwar ist die Vorstellung vom Tod Gottes bis in Za IV hinein präsent, die Denkfigur der Substituierung des alten Glaubens durch den zum neuen Menschheitsziel und Sinngaranten ausgerufenen Übermenschen aber bleibt auf der Strecke. Bezeichnend dafür ist eine Formulierung aus Za II Von den Mitleidigen, die N. Za IV als Motto voranstellt (vgl. 294, 1–9). Sie lenkt den Blick nicht auf die durch den Tod Gottes frei werdenden Horizonte, sondern wendet sich zurück zur Diagnose, die dort in ironisch gebrochener Weise dem Teufel in den Mund gelegt ist: „Und jüngst hörte ich ihn diess Wort sagen: ‚Gott ist todt; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.‘“ (115, 31 f.; siehe NK 115, 24–32)

3. Gleich bei seinem ersten öffentlichen Auftritt setzt sich Zarathustra als Lehrer des Übermenschen in Szene. Nach dem Zwischenspiel mit dem Einsiedler erreicht er jetzt „die nächste Stadt“ (14, 9), womit er bei den Menschen anlangt, zu denen ihn Za I Vorrede 1 zufolge seine überbordende Weisheit treibt. Auf dem Marktplatz findet er „viel Volk versammelt“ (14, 10), denn es wird der Auftritt eines Seiltänzers erwartet. Er macht sich die Situation zunutze, indem er ungebeten zu den Versammelten spricht und ihnen in einer dreiteiligen Rede (Za I Vorrede 3–5) die Lehre vom Übermenschen verkündet. Diese Rede, im ganzen Za die einzige, die sich „im umfassenden Sinne exoterisch an ‚Alle‘“ (Honneth 2002, 159) wendet, bildet die Haupt- und Schlüsselpartie für den Übermenschen in N.s gesamtem Werk. Zwar begegnet das Adjektiv „übermenschlich“ ab 1870 mehrfach in N.s Schriften. Und früh schon verwendet er in der 1861 entstandenen Jugendschrift Über die dramatischen Dichtungen Byrons einmalig das Substantiv „Übermensch“, wenn er Byrons Manfred dort zum „geisterbeherrschenden Übermenschen“ (BAW 2, 10) deklariert. Doch erst im Zuge der Arbeit an Za steigt der Übermensch zu einem Leitbegriff auf. Für die kurze Zeitspanne von einem knappen Jahr kreisen N.s Aufzeichnungen und Denkversuche intensiv um die Idee des Übermenschen. Die frühesten überlieferten Notate datieren auf den Sommer 1882. In den Folgemonaten steigt die Frequenz der Niederschriften rasch an und erreicht binnen eines halben Jahres ihren Kulminationspunkt. Die Hochphase der Übermenschen-Notate bildet die Zeit unmittelbar vor der Drucklegung von Za I vom November 1882 bis Februar 1883. Auf die in dieser Zeitspanne entstandenen Aufzeichnungen entfällt mehr als die Hälfte aller Erwähnungen des Übermenschen. N.s Notate entwerfen kein festes Konzept des Übermenschen, sondern experimentieren mit dem neu ins Zentrum gestellten Begriff, den sie aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten (vgl. dazu Haase 1984). Wechselweise nehmen sie den Übermenschen als etwas bereits Geschaffenes oder erst noch zu Schaffendes

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in den Blick, mal entwirft sich der Sprecher als Erzeuger des Übermenschen, mal ruft ein Wir zu seiner Hervorbringung auf. In der Ich-Form formuliert ein Notat aus dem Winter 1882/83: „‚Ich konnte nichts e n t b e h r e n als ich den Übermenschen schuf. Alles euer Böses und Falsches, eure Lüge und eure Unwissenheit – alles ist in seinem Samen.‘“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[77], 136, 1–3) Im selben Notizbuch N VI 1b findet sich in unmittelbarer Nähe das Notat: „Wir müssen die Erde für den Übermenschen bereit machen und Thier und Pflanzen“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[78], 136, 17 f.). Nach dem Frühjahr 1883 taucht das Wort bis zum Erscheinen von Za IV (und darüber hinaus) nur noch sporadisch auf, was man als Indiz dafür werten kann, dass der Übermensch zu dieser Zeit schon wieder aus dem Fokus von N.s Interesse gerückt ist. In den späten Schriften spricht N. meist lieber vom höheren, höherwertigen und vornehmen Typus; dort erhält dann auch der Gedanke der Züchtung stärkeres Gewicht, der in Za nur anklingt. Zarathustra eröffnet seine Übermenschen-Werberede programmatisch mit den Worten: „I c h l e h r e e u c h d e n Ü b e r m e n s c h e n.“ (14, 13) Gleich der Auftakt zeugt vom immensen Selbstbewusstsein desjenigen, der sich im Besitz einer Erkenntnis wähnt, die eine gänzlich neue Epoche der Menschheitsgeschichte einzuläuten vermag – und mehr noch: die über die Menschheit hinauszuführen und eine posthumane Ära zu begründen beansprucht: „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.“ (14, 13 f.) Wie diese Überwindung vorzustellen ist und was den Übermenschen ausmacht, ist in Rezeption und Forschung von früh an höchst umstritten. Handelt es sich um eine veranschaulichende Metapher, einen utopischen Entwurf, ein philosophisches Konzept oder stellt der Übermensch gar N.s zentrale philosophische Lehre vor? Häufiger wurde die Ansicht vertreten, dass Zarathustras Ausführungen zum Übermenschen es geradezu darauf anlegen, sich der Greifbarkeit zu entziehen. Riedel 2000, 39 spricht von einem „Frage- und Denkzeichen“. Stegmaier 2011, 140 weist hin auf die schillernde Metaphorik, die „den Sinn ‚des Übermenschen‘“ konturiere, ohne dass er dabei „wie ein Gegenstand fassbar würde“. Joisten 1994, 72 versteht ihn als ein „strukturelles Phänomen“, das den Menschen über sich hinausweise. Nach Pippin 1988, 52 ist der Übermensch „a radically temporal, contingent ‚ideal‘; it answers only the specific, practical incoherence of the ideals of late bourgeois culture“. Und Honneth 2002, 162 sieht den Begriff als ein „‚Gleichnis‘“ gebraucht, das auf „eine ‚Überwindung‘ des Menschen im ‚übermoralischen‘ Sinn“ ziele. Neben solchen Forschungspositionen, die die Uneigentlichkeit der Rede vom Übermenschen betonen, gibt es aber auch andere, die in ihm die konkretere Vision einer Menschheitserneuerung erkennen wollen. So spricht etwa Pieper 1990, 53 von der Aufforderung zur Überwindung des Menschen „in seiner Gespaltenheit als leiblich-seelisches Wesen“, und nach Fleischer 1993, 67 lehrt Zarathustra „den Übermenschen als die Über-Art, die es zu schaffen gilt“. Von früh an wurde N.s

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Übermensch als visionäre Gestaltung darwinistischer und evolutionsbiologischer Vorstellungen begriffen (vgl. hierzu eingehender NK 14, 22–24). Diskutiert hat man auch, in welchem Verhältnis N.s Protagonist zu seiner Übermenschen-Lehre steht, und ob er vielleicht gar selbst das erste Exemplar der neu ausgerufenen übermenschlichen ‚Gattung‘ vorstelle. Resenhöfft 1972, 15 will im Verlauf der Za-Handlung die „Erhebung Zarathustras zum Uebermenschen“ beobachten, bewerkstelligt „durch die siegreiche Ueberwindung des Gedankens der ewigen Wiederkunft“ – eine Position, die allerdings keineswegs konsensfähig ist und die unmittelbar zur Forschungskontroverse um die ewige Wiederkunft führt (vgl. dazu NK 4/2, 274, 32–34). Die Resonanz auf den Übermenschen war von früh an immens und zwar über die deutschen Sprachgrenzen hinaus, entsprechend fällt auch das wissenschaftliche Echo breit und vielfältig aus. Vgl. neben den bereits zitierten Autor*innen etwa: Benz 1961, Brassard 1962, Resenhöfft 1972, Magnus 1983, Conway 1989, Fleischer 1993, Jappinen 1994, Conway 1998, Pieper 2000, Groddeck 2001, Habermeier 2004, Skowron 2004, Westfall 2005/06, Waldschmidt 2006, Knoll 2014, Grätz/Wenner 2018, Flucher 2020, Georg 2020. Ausgehend vom Text kann man konstatieren, dass die Lehre vom Übermenschen von Zarathustra als neues Sinnversprechen propagiert und ausdrücklich an die Stelle gerückt wird, die durch den Tod Gottes und den Geltungsverlust der Religion frei geworden ist. Pointiert formuliert Zarathustra in Za II Auf den glückseligen Inseln: „Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch.“ (109, 10 f.; vgl. auch 15, 7–10) Bereits Leo Berg deutete den Übermenschen deshalb als Gottesersatz: „So wurde aus einem Begriffe ein neuer Gott, nachdem aus dem alten Gott ein Begriff geworden war! […] Alle seine persönlichen Attribute waren von ihm gefallen, aber man hob sie auf und that sie diesem an.“ (Berg 1897, 74) Der Suggestionskraft der ÜbermenschMetapher zufolge bewegt sich der Mensch jedoch nicht auf ein göttlich-übermenschlich Anderes zu, sondern auf die Steigerungs- bzw. Überwindungsform seiner selbst, mithin auf den eigenen offenen Horizont. Die Ersetzung der Opposition Gott/Mensch durch die Opposition Mensch/Übermensch bedeutet deshalb einen qualitativen Sprung und lässt sich als Aufforderung an den Menschen verstehen, sein Menschsein selbst zu gestalten. In Za I Vorrede 3 unternimmt Zarathustra vielfältige Anläufe zur metaphorischen Bestimmung des Übermenschen, wobei er durch Bezug auf die elementare Natur dessen überwältigende Größe betont: „Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist diess Meer, in ihm kann eure grosse Verachtung untergehn.“ (15, 22 f.) „Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!“ (16, 15 f.) Obwohl beide Bestimmungen des Übermenschen sprachlich und inhaltlich analog gebildet sind, erscheint die Unvereinbarkeit der Bildlichkeit stärker als ihr Gemeinsames: Die Plötzlichkeit des Blitzes, die absorbierende Kraft

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des Meeres – sie lassen sich nicht zu einer einheitlichen Vorstellung integrieren. Das ist bezeichnend für N.s Übermenschen-Metaphorik, die in ihrer vielfältigen und schillernden Gestalt den Übermenschen als vermeintliches Leitkonzept N.s ins Gleiten bringt, indem sie unterschiedliche Assoziationsmöglichkeiten offeriert. Von einer konzisen Lehre oder einem philosophischen Konzept lässt sich bei genauerem Blick auf den Text kaum sprechen. In Zuspitzung dieses Befundes erklärt Schönherr 2018, 227 den Übermenschen zur „Leerstelle, die sich zur Füllung durch verschiedenste Ideologien eignet“. Nachdrücklich ist die Übermenschen-Lehre ausgewiesen als eine der Immanenz, die alle „überirdischen Hoffnungen“ (15, 2 f.) verabschiedet: Zum „Sinn der Erde“ (14, 29) ruft Zarathustra seinen Übermenschen aus und entwirft ihn im Gegenzug zu christlichen und metaphysischen Sinnversprechen als ein Konzept menschlicher Selbstermächtigung. Nicht als Erlösung, sondern als Selbsterlösung profiliert er die an ihn geknüpfte Idee der Erneuerung. Sprachlichen Niederschlag findet das in der fünffach insistierend anaphorisch wiederholten Aufforderung zur Entscheidung, zur „Stunde, wo ihr sagt“ (15, 27; 15, 30; 15, 33; 16, 3; 16, 6). Durch den imperativischen Aufruf „Euer Wille sage: der Übermensch s e i der Sinn der Erde!“ (14, 29 f.), wird der Übermensch zur voluntaristischen Setzung des Menschen erklärt, was den Verdacht nahelegt, dass es nicht primär um die Ausrufung einer neuen Leitidee geht, sondern eher um das Selbstverständnis des Menschen als eines über sich selbst mächtigen, durch sich selbst definierbaren Wesens. Die Idee des Übermenschen steht demnach für den Aufruf zur Selbstermächtigung ein. So wird der Übermensch, der den Menschen ja überbieten soll, zugleich als anthropozentrisches Konzept präsentiert, das dem Menschen die Möglichkeit der Selbstüberwindung und Selbstbegründung seines Daseins in die eigenen Hände legen will. Damit gibt N. dem in der deutschen Sprache bereits im 16. Jahrhundert nachweisbaren Begriff des Übermenschen (zur Begriffs- und Ideengeschichte vgl. NK 14, 13) eine eigene Prägung und schafft die Grundlage für die beispiellose Karriere, die den Übermenschen zu seinem wohl populärsten und wirkmächtigsten ‚Markenzeichen‘ werden ließ. N.s Protagonist findet mit seiner Vision allerdings keine begeisterte Aufnahme, sondern erntet hämisches Gelächter. Das Volk will keine Reden, es verlangt nach dem unterhaltsamen Spektakel des Artistenauftritts: „‚Wir hörten nun genug von dem Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!‘“ (16, 18 f.) Zarathustra wirbt anschließend in zwei weiteren Anläufen für den Übermenschen, wobei er jeweils das rhetorische Register wechselt: In einer Liebesrede appelliert zunächst an das, was ihm an seinen Zuhörern schätzenswert dünkt, an ihr Selbstüberwindungs- und Selbsterneuerungspotential (Za I Vorrede 4). Danach rückt er ihnen in einer Hassund Verachtungsrede vor Augen, was ihm abstoßend und unbedingt überwindenswert erscheint (Za I Vorrede 5).

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14, 13 I c h l e h r e e u c h d e n Ü b e r m e n s c h e n.] Programmatisch präsentiert sich Zarathustra gleich am Beginn seiner Rede in der Rolle des ÜbermenschenLehrers. Die dreifach insistierende Wiederholung: „Seht, ich lehre euch den Übermenschen“ (14, 28; 15, 22; 16, 15) gliedert und rhythmisiert diesen ersten Teil seiner Rede. Am Ende des Folgeabschnitts Za I Vorrede 4 variiert er die Formel, die sonst keine weitere Okkurrenz in Za hat, dann zu: „Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Übermensch.“ (18, 21 f.) Damit stellt er sein öffentliches Wirken ganz unter das Zeichen des Übermenschen und präsentiert sich als philosophisch-prophetischen Lehrer, der nicht weniger anstrebt als die Erneuerung der Menschheit. Er verkündet seine Lehre im selbstgewiss-autoritären Ton einer Heilsbotschaft, wobei er streng unterscheidet „zwischen Seiendem und Sein-Sollendem“ (Honneth 2002, 160). Diese Selbstgewissheit wird im weiteren Verlauf erschüttert, wie überhaupt die Lehrer-Rolle Zarathustras sich als instabil und fragwürdig erweist (vgl. hierzu unter Hinweis auf konträre Forschungspositionen ÜK Za I Vorrede 9). Obwohl der Übermensch zum populären Markenzeichen von N.s Philosophie avancierte, ist N. keineswegs sein Schöpfer. Vielmehr haben Wort und Begriff eine lange Tradition, die bis in die griechische Antike zurückreicht (vgl. dazu insbesondere Benz 1961, Gerhardt 2001). Vom „hypertrophus“ ist schon in Lukians Dialog Die Hadesfahrt und der Tyrann (2. Jahrhundert n. Chr.) die Rede, wo das Wort zur ironischen Demontage eines Herrschers verwendet wird (zu den möglichen antiken Quellen des Übermenschen vgl. Babich 2011a). Auch das deutsche Substantiv „Übermensch“ wurde häufig in ironisch-abwertender oder satirischer Weise gebraucht. In deutscher Sprache konnte Benz 1961, 53 es erstmals nachweisen in einem Brief des sächsischen Dominikaners Hermann Rab von 1527, der es als Schimpfwort für „Lutheraner“ verwendet (Rab 1721, 704). Das frühe Christentum kennt den Übermenschen (lateinisch „super humanus“, „super homines“) als Ausdruck für den in Christus ‚erhöhten‘ und vollendeten Menschen. Im Anschluss an diese Begriffsverwendung dient das deutsche Wort „Übermensch“ in der Reformationszeit der positiven Charakterisierung eines ‚neuen Menschen‘. So etwa bei dem evangelischen Theologen Heinrich Müller (1631–1675), der den durch Christus erlösten ‚wahren Menschen‘ dem „Ohn-Mensch[en]“ (Müller 1666, 3, 84) entgegensetzt und ihn zum ‚Übermenschen‘ ausruft: „Im newen Menschen bistu ein wahrer Mensch / ein über-Mensch / ein GOttes- und Christen-Mensch“ (ebd.). Auch wenn N. seinen Übermenschen als dezidiert antichristlichen Entwurf bestimmt, besteht insofern eine strukturelle Analogie, als er ihn ebenfalls als Figur der Erneuerung konzipiert, durch die der Mensch seine alte Existenzform transzendiert. Hat das Wort „Übermensch“ seine Heimstätte zunächst in religiösen Schriften, so findet es im späten 18. Jahrhundert Einlass in die Literatur. Im Spannungsfeld von Aufklärung und Genieästhetik lässt sich der ‚Übermensch‘ erstmals 1769

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bei Herder im zweiten Band der Kritischen Wälder nachweisen (Herder 1877– 1913, 3, 202). Herder bezeichnet damit ironisch einen Menschentypus, dessen Urteilskraft das Menschenmögliche scheinbar übersteigt. Einige Jahre später, in der kleinen Schrift Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden (1774), spricht Herder wiederum abwehrend von „Un- oder Übermenschen“ (Herder 1877–1913, 5, 679), um dort das geistliche Ideal der Triebverneinung als verfehlt bloßzustellen. N. ist dem Begriff des Übermenschen in jedem Fall bei Goethe begegnet, der ihn möglicherweise von Herder übernimmt und ebenfalls in spöttisch-abwertendem Sinn gebraucht. In dem 1786 verfasste Widmungsgedicht Zueignung, mit dem Goethe seine erste Gesamtausgabe von 1787 eröffnet, zielt der Übermensch kritisch auf menschliche Großmannssucht: „Kaum bist du Herr vom ersten Kinderwillen, / So glaubst du dich schon Übermensch genug, / Versäumst die Pflicht des Mannes zu erfüllen!“ (Goethe 1982, 151) Und in Faust I weist der Erdgeist Faust mit den Worten in Schranken: „Welch erbärmlich Grauen / Fasst Uebermenschen dich!“ (V. 489 f.) Im Ausgang von der Faust-Rezeption wird die Vorstellung des Übermenschen im 19. Jahrhundert als Deutungsfolie auch auf andere Figuren in Literatur und Kunst übertragen. So erklärt etwa Hans von Wolzogen die mythischen Helden, die Wagner in seinen Opern auftreten lässt, zu „singenden Uebermenschen“ (Wolzogen 1878, 12). Für den sich in wachsendem Maß durchsetztenden unironischen und affirmativen Gebrauch des Übermenschen bietet Jean Pauls D. Katzenbergers Badereise ein frühes Beispiel. Das darin enthaltene Plädoyer eines Grafen für die Regel- und Morallosigkeit des die Geschichte bestimmenden großen Individuums, als dessen Paradigma Napoleon genannt wird, weist deutliche Affinitäten zu Zarathustras ‚Lehre‘ auf: „Es erscheine ein Jahrhundert lang in einer Litteratur kein Genie, in einem Volke kein Hochmensch: welche kalte Wasser-Ebene der Geschmackund der Sittenlehre! Alle Größen und Berge in der Geschichte, an denen nachher Jahrhunderte sich lagerten und ernährten, hob das vulkanische anfangs verwüstende Feuer solcher Uebermenschen, z. B. Bonaparte Frankreich […], kühn auf einmal aus dem Wasser.“ (Jean Paul 1826–1838, 13, 91) Als N. seine Überlegungen zum Übermenschen notiert, ist die Sehnsucht nach menschlicher Größe ein kulturell bestimmender Faktor, der in der zeitgenössischen Literatur rege Resonanz erfährt. Vielfältiges Beleg- und Anschauungsmaterial dafür liefert Leo Berg in seiner 1897 erschienenen Studie Der Übermensch in der modernen Litteratur. Als zeittypische Erscheinung aus N.s unmittelbarem Lektüre-Umfeld ist Thomas Carlyle mit seinem Heroenkult zu nennen, der die großen Individuen als geschichtstreibende Kräfte verstand. N. war schon zur Entstehungszeit von GT von Carlyles Buch On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History angetan (vgl. NK 1/1, 76, 21–25) und hat sich auch späterhin immer wieder, wenngleich auch durchaus kritisch, auf Carlyle bezogen. Ein weiterer

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Autor, der die Idee individueller Größe kultivierte, war Ralph Waldo Emerson. Mit der Übersetzung seiner Aufsatzsammlung Representative Men, die exemplarisch das Leben großer Männer behandelt, war Ida Overbeck im Winter 1883 beschäftigt (vgl. den Brief Franz Overbecks an N., 13. 11. 1883, KGB III 2, Nr. 215, S. 409, Z. 67–71). Auch das darwinistische Entwicklungsdenken, mit dem sich N. eingehend auseinandersetzte (vgl. dazu NK 14, 22–24), beflügelte die Vorstellung einer Steigerung und Perfektionierung des Menschen. Insbesondere dürften die von N. intensiv zu Rate gezogenen theoretischen Arbeiten zur Entwicklungsdynamik des Lebens von Alfred Russel Wallace (Beiträge zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl, 1870) und Herbert Spencer (Die Thatsachen der Ethik, 1879), seinen Überlegungen zum Übermenschen Impulse vermittelt haben. Bei Spencer ist N. auf die Forderung gestoßen, den Menschen und die menschliche Gesellschaft als veränderlich und wandlungsfähig zu denken: „So lange man annahm, dass die Sterne unbeweglich und die Berge ewig seien, lag eine gewisse Folgerichtigkeit in der Vorstellung, dass der Mensch von Jahrtausend zu Jahrtausend unverändert fortdauere, aber jetzt, wο man weiss, dass alle Sterne in Bewegung sind und dass es keine ewigen Berge gibt, jetzt, wo man findet, dass alle Dinge im Universum sich in unaufhörlichem Fluss befinden, ist es Zeit, dass diese rohe Auffassung der menschlichen Natur aus unsern socialen Vorstellungen verschwinde“ (Spencer 1875, 1, 148; Randstriche N.s unmittelbar oberhalb). Im Gegensatz zum geradezu inflationär gebrauchten Adjektiv ‚übermenschlich‘ sind Belege des Substantivs ‚Übermensch‘ zwar überschaubarer, aber zu N.s Zeit doch ebenfalls deutlich auf dem Vormarsch. Auch in die Philosophie bahnte sich der Übermensch-Begriff den Weg, wofür sich im unmittelbaren Umfeld N.s und seiner Lektüren eine Reihe von Belegen ausmachen lässt. So bezeichnet N.s Freund Paul Deussen Philosophen, namentlich Kant und Schopenhauer, in Die Elemente der Metaphysik als „Übermenschen“ (Deussen 1877, 32), die den nachfolgenden Generationen den Weg bereitet hätten. Haase 1984, 240 führt zwei weitere Lektüren N.s als mögliche Quellen für den Übermensch-Begriff an: Otto Liebmanns Zur Analysis der Wirklichkeit (1876) und Alfred Espinas’ Die thierischen Gesellschaften (1879). Espinas 1879, 510 schreibt unter Bezugnahme auf Descartes über die Unmöglichkeit, sich frei zu machen von der perspektivischen Gebundenheit in den zeitgenössischen Wissenschaften: „Und wie sollte man, falls man nicht Uebermensch ist (p l u s q u ’ h o m m e), wie D e s c a r t e s sagt, von den in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Welt herrschenden Neigungen sich emancipiren?“ Und Liebmann 1876, 618 (u. 1880, 680), der das Festhalten an einer „moralischen Weltordnung“ als anthropologisches Grundbedürfnis ansetzt, führt dazu ganz am Ende von Zur Analysis der Wirklichkeit aus: „Ganz gewiß existirt ein letzter Grund dafür, daß die Menschheit sich der Unterscheidung von Gut und

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Böse, wiewohl mit veränderlicher Grenzlinie, durchaus nicht entschlagen kann, und daß sie diesen Unterschied für den unbedingt wichtigsten hält. Jedoch wir kennen jenen Grund nicht, und Metaphysik ist ein Problem für Menschen, eine Wissenschaft für Uebermenschen. –“ Die ironisch auf die Metaphysik zielende Wendung „Wissenschaft für Uebermenschen“ machte zu N.s Zeit Furore. Unmittelbar auf sie gemünzt erwägt Hans Vaihinger 1876 in einem Beitrag in den Philosophischen Monatsheften die Konsequenzen für Kants Trennung zwischen der Welt der Erscheinungen und der Welt der Dinge an sich: „Wir werfen also die ganze K a n t i s c h e E r s c h e i n u n g s w e l t in den gähnenden Abgrund der Dinge an sich hinein und geben zu, dass wir in d i e s e r Seinswelt eine Gesetzmässigkeit beobachten, dass aber unsere a u f G r u n d d e r B e o b a c h t u n g g e b i l d e t e n A p p e r c e p t i o n s f o r m e n (Kategorien) weiter keine als s y m b o l i s c h e Bedeutung haben für Verhältnisse, die aber absolut über oder vielleicht unter aller Begreiflichkeit liegen, die in das Reich des ‚Unknowable‘ gehören; und es wird dann nur noch Eine Frage geben, freilich die wichtigste für den Menschen – ob dies Unknowable etwas Uebermenschliches sei – dann wäre Metaphysik eine ‚Wissenschaft für Uebermenschen‘ – oder etwas ‚Untermenschliches.‘ – Und dann? – ?“ (Vaihinger 1876, 462) N.s bzw. Zarathustras Begriffsverwendung als beschwörendes Insistieren auf einem Entwicklungspotential des Menschen hebt sich von dieser ironischen Verwendung indes deutlich ab. Wesentlich näher steht ihr ein Zitat aus Das Christentum und die heutige vergleichende Religionsgeschichte von Julius Happel, der sich ebenfalls ausdrücklich auf Liebmanns Begriffsverwendung bezieht, wenn er schreibt: „Weder der Mosaismus, noch der Brahmanismus, weder der Confucianismus, noch der Buddhismus, weder der Muhamedanismus, noch das Christentum haben den Menschen zu einem Wesen anderer Art zu machen vermocht, als er eben ist; kein Religionsprinzip hat einen ‚Übermenschen‘ fertig gebracht, folglich müssen auch alle Religionen im Wesentlichen, d. h. soweit das Wesen des Menschen davon berührt wird, mit einander übereinstimmen.“ (Happel 1882, 10; dass N. Happels Schrift kannte, ist nicht belegt.) Noch stärkere Affinität zu N.s auf die Steigerung des Menschen ausgerichteter Begriffsverwendung weisen Überlegungen von Ernst Laas in einer Rezension zu Gustav Teichmüllers Ueber die Unsterblichkeit der Seele (1874) auf. Laas spekuliert darin über eine zukünftige Generation von Menschen, die auf einer höheren Stufe des Bewusstseins stehen und über ein ‚Überbewusstsein‘ verfügen würden: „Nennen wir der grösseren Fasslichkeit wegen diejenigen unserer Nachkommen, welche unser persönliches Bewusstsein so als ,Unterbau‘ unter sich haben, wie wir Menschen mit unserm Bewusstsein die unbewusst sich vollziehenden vegetativen und animalischen Functionen: nennen wir sie Uebermenschen und den seelischen Zustand, der die Höhe ihrer Entwicklung bezeichnet, persönliches Ueberbewusstsein oder überpersönliches Be-

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wusstsein oder welche der hier möglichen Combinationen wir zur Bezeichnung von Dingen wählen wollen, die ‚kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat‘ (S. 167): so fragen wir, was erfordert die angeschlagene Analogie ohne Mystosophistik? Doch nichts weiter als 1) dass neben jenen Uebermenschen auch noch Menschen existiren, die sich so untergeordnet zu ihnen verhalten, wie die Pflanzen und Thiere zu uns; (ich meinerseits will den späteren ‚Menschen‘ dann nur wünschen, dass die Uebermenschen sich auf eine hyperphysische Art zu nähren wissen; sonst werden jene Armen nach der Analogie einfach von diesen verspeist); und 2) dass die Uebermenschen, ehe sie die Höhe ihres überpersönlichen Ueberbewusstseins, z. B. auf wissenschaftlichem Gebiet die Höhe der Schellingschen intellektualen Anschauung erreichen können, im embryonalen Zustand und im Kindesalter die vegetative, animalische und menschliche, d. h. persönliche Monadenphase durchgemacht haben müssen: erst auf diesem doppelten ‚Unterbau‘ kann das Ueberbewusstsein möglich werden.“ (Laas 1874, 127) Auch wenn keine konkrete Quelle auszumachen ist, die zeitgenössische Literatur jedenfalls bot N. vielfältige Möglichkeiten, um, wie er seinen Zarathustra sagen lässt, „das Wort ‚Übermensch‘ vom Wege“ (248, 14) aufzulesen. Hingewiesen sei schließlich noch auf die darwinistisch geprägte übermenschliche Zukunftsvision, die der Naturforscher und Schriftsteller Max Wilhelm Meyer zwei Jahre nach Erscheinen von Za I in seinen populärwissenschaftlichen Gesprächen über die Bewohnbarkeit anderer Planeten vorstellt. Meyer versteht Kälte als Steigerungsmechanismus für die Erzeugung einer zukünftigen Generation von Übermenschen und prognostiziert, „daß in einem kommenden geologischen Zeitalter, wenn eine dritte Eiszeit über Europa hereinbricht, Uebermenschen die Erde bevölkern werden, die ganz wie die Eskimos keinen Krieg mehr nöthig haben, um ihr Land zu schützen, keine Justizpaläste, um ehrlich, und keine Kirchen, um gut zu sein.“ (Meyer 1885, 197) In der Rezeption wurde der Übermensch von früh an zur Projektionsfläche höchst heterogener Zuschreibungen (vgl. Penzo 1992); mal erscheint er als sich autonom setzendes Individuum, mal als amoralischer Machtmensch, mal als geradezu religiöse Erlöserfigur. Man hat ihn verstanden als nach schrankenloser Entfaltung strebendes, durch „Härte und brutale Rücksichtslosigkeit“ (Sawicki 1910, 104) bestimmtes Individuum, als biologisch inspirierte Utopie einer zum Besseren gewandelten „Überart“ des Menschen (Vaihinger 1902, 98), oder als Paradigma des (künstlerisch) schaffenden, sein Leben selbst gestaltenden „souveräne[n] Individuum[s]“ (Steiner 1895, 9). Man hat ihn zum „Kunstwerk des Menschen“ (Zeitler 1900, 263) ausgerufen, zur „poetische[n] Fiktion“ (ebd., 141) erklärt, oder aber abgewertet zum Phantasiegespinst eines durch Darwin und Haeckel infizierten, „überspannten, krankhaften Schwärmers“ (Düringer 1907, 42). Ab 1930 wurde der Übermensch als „Gegenbild zur seichten, nachaufklärerischen Humanität“ (Aschheim

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1996, 258) ideologisch missbraucht als Projektionsfolie nationalsozialistische Ideologie. Bis heute heften sich an den Begriff des Übermenschen vielfältige kulturkritische, pädagogische, politische und gesellschaftliche Erwartungen. Die Karriere der Übermenschen-Idee vollzog sich zwar im Namen N.s, verselbständigte sich jedoch in der Rezeption und löste sich von den konkreten Aussagen und Formulierungen der Texte ab. Kontrovers diskutiert wird aktuell insbesondere die Frage, ob und inwiefern der Transhumanismus in der Tradition von N.s Vision des Übermenschen steht (so Müller 2021, 340; vgl. dazu auch Bostrom 2006; Sorgner 2009; Hibbard 2010; Quejido Alonso 2016; Tuncel 2017; Sorgner 2019). Schon N. selbst sah seinen Übermenschen fehlgehenden und verfälschenden Deutungen unterworfen. In EH kritisiert er ein moralisch-verharmlosendes Verständnis, das im Übermenschen den „‚idealistische[n]‘ Typus einer höheren Art Mensch“ sehen wollte, „halb ‚Heiliger‘, halb ‚Genie‘“ (KSA 6, 300, 23–25), und in einem Brief vom 20. Oktober 1888 hielt er der Schriftstellerin Malwida von Meysenbug vor: „Sie haben sich […] aus meinem Begriff ‚Übermensch‘ wieder einen ‚höheren Schwindel‘ zurechtgemacht, Etwas aus der Nachbarschaft von Sybillen und Propheten“ (KSB 8/KGB III 5, Nr. 1135, S. 458, Z. 23–26). Mit abgeklärter Ironie begegnet hingegen der alte Stechlin in Theodor Fontanes gleichnamigem Roman von 1897/98 dem zeitgenössischen Übermenschenkult, den er in seiner polarisierenden und sozial hierarchisierenden Wirkung ins Lächerliche zieht: „Jetzt hat man statt des wirklichen Menschen den sogenannten Übermenschen etabliert; eigentlich gibt es aber bloß noch Untermenschen, und mitunter sind es gerade die, die man durchaus zu einem ‚Über‘ machen will. Ich habe von solchen Leuten gelesen und auch welche gesehn. Ein Glück, daß es, nach meiner Wahrnehmung, immer entschieden komische Figuren sind, sonst könnte man verzweifeln.“ (Fontane 2001, 114) 14, 13–15 Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?] In Za finden sich vielfache metaphorische Bestimmungen des Menschen als eines defizitären und grundlegend zu verändernden Wesens, die die wiederkehrende Leitforderung Zarathustras „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll“ untermauern: „ein schmutziger Strom ist der Mensch“ (15, 19); ein „Haufen von Krankheiten“ (46, 27); ein „Knäuel wilder Schlangen“ (46, 30); „ein Versuch war der Mensch“ (100, 10); „der Mensch nur ist sich schwer zu tragen“ (243, 4); „viel Inwendiges am Menschen ist der Auster gleich, nämlich ekel und schlüpfrig und schwer erfasslich“ (243, 11 f.). Im Gegenzug beschwört Zarathustra immer wieder die Erneuerungs- und Wandlungsfähigkeit des Menschen, den er dazu aufruft, endlich seine Möglichkeiten zu realisieren und sein Potential auszuschöpfen. Die Gedankenfigur der Überwindung, die in Za zugespitzt wird zur programmatischen und leitmotivisch wiederholten Forderung nach der Selbstüberwindung des Menschen (vgl. dazu Skowron 2004; Joisten 2002; Reginster 2006, 118–147;

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Pippin 2009 und in Ausrichtung auf JGB Mitchell 2016), begegnet in N.s Texten von früh an überaus häufig und mit ganz unterschiedlichem Bezug. Ab 1880 rücken vermehrt unterschiedliche Formen menschlicher Selbstüberwindungen in den Blick. Die Rede ist dann von der Überwindung bestimmter Eigenschaften und Anlagen – etwa von der Überwindung der „Leidenschaften“ (MA II WS 88, KSA 2, 593, 16), der „Eitelkeit“ (NL 1880, KSA 9, 7[120], 342, 20) oder des „unangenehme[n] Gefühl[s] des Mitleidens“ (NL 1880/81, KSA 9, 8[20], 387, 15 f.). Explizit von der Überwindung des Menschen ist erstmals in einer Sammlung von Sentenzen aus dem Sommer/Herbst 1882 die Rede: „‚Was man lieben muß, warum muß man das immer zugleich auch hassen? Ist nicht Liebe die größte aller Qualen?‘ Deshalb muß der Mensch überwunden werden.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]245, 82, 14–16) Leitmotivisch durchzieht der unmittelbar der Idee des Übermenschen assoziierte Gedanke der Überwindung des Menschen, den Zarathustra in Za I Vom Krieg und Kriegsvolke als „höchsten Gedanken“ (60, 1) anpreist, alle vier Teile von Za, wobei der Schwerpunkt auf Za I liegt. Die Überwindungsvorstellung begegnet in nahezu identischer Formulierung (44, 3; 60, 2 f.; 72, 17 f.; 249, 26 f.; 332, 17 f.), aber auch in variierter und modifizierter Form, etwa bezogen auf die individuelle Existenz des bleichen Verbrechers (vgl. 45, 5–7). In Za III Von alten und neuen Tafeln erklärt Zarathustra, dass es „vielerlei Weg und Weise der Überwindung“ (249, 28) gäbe. Und in Za IV erklärt er die Frage nach der Überwindung des Menschen zu seiner Leitfrage, mit der er die Sorge um den Menschen an einem gänzlich neuen Ziel ausrichte: „Die Sorglichsten fragen heute: ‚wie bleibt der Mensch erhalten?‘ Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: ‚wie wird der Mensch ü b e r w u n d e n?‘“ (357, 14–16) Aus der unmittelbaren Entstehungszeit von Za I ist eine ganze Reihe von Notaten überliefert, die zur Überwindung des Menschen auffordern: „Zweierlei lehre ich euch; ihr sollt den Menschen überwinden, und ihr sollt wissen, w e n n ihr ihn überwunden habt: ich lehre euch den Krieg und den Sieg.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[2], 220, 3–5) „Es ist etwas Fundamental-Fehlerhaftes im Menschen – er muß überwunden werden. Versuche!“ (NL 1883, KSA 10, 11[8], 380, 15 f.; vgl. auch NL 1882/83, KSA 10, 4[165], 160, 13–15) Einen weiteren Aspekt, nämlich die Frage nach der Geschwindigkeit, in der sich die Überwindung des Menschen vollziehen solle, bringt eine spätere Notiz von 1884 ins Spiel: „,Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß‘ – es kommt auf das tempo an“ (NL 1884, KSA 11, 25[454], 134, 8 f.; vgl. NK 21, 22–24). In einem Brief an Carl von Gersdorff von Ende Juni 1883 erklärt N. seinen Za zum Zeugnis der eigenen Selbstüberwindung: „Was mich betrifft, so habe ich eine lange schwere Askese des Geistes hinter mir, die ich freiwillig auf mich nahm und die nicht Jedermann sich hätte zumuthen dürfen. Die letzten sechs Jahre waren in d i e s e m Betracht die Jahre meiner größten Selbstüberwindung: wobei

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ich noch absehe von dem, was mich Gesundheit, Einsamkeit, Verkennung und Verketzerung überwinden ließ. Genug, ich habe auch diese Stufe meines Lebens ü b e r w u n d e n – und was jetzt noch vom Leben übrig ist (wenig, wie ich glaube!) soll nun ganz und voll das zum Ausdruck bringen, um dessentwillen ich überhaupt das Leben ausgehalten habe. Die Zeit des Schweigens ist v o r b e i: mein Zarathustra, der Dir in diesen Wochen übersandt sein wird, möge Dir verrathen, wie hoch mein Wille seinen Flug genommen hat.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 427, S. 386, Z. 13–26) Zur autobiographischen Dimension der Selbstüberwindung vgl. auch NK 146, 1. 14, 16–18 Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?] Zarathustra sucht die Vorstellung der Überwindung des Menschen durch den Hinweis zu legitimieren, dass es allen anderen Wesen gelungen sei, etwas „über sich hinaus“ zu schaffen und dass der Mensch dahinter nicht zurückstehen dürfe. Das Provokationspotential seiner fordernden Frage liegt, wie bereits Grützmacher 1910, 179 hervorhebt, darin, dass er die stammesgeschichtliche Entwicklung „nicht beim Menschen stille stehen läßt“, sondern über den Menschen hinausführt (ähnlich auch Riehl 1903, 227), der damit verstanden ist als ein evolutionäres Durchgangsstadium. Entsprechend lautet ein nachgelassenes Notat: „Der Mensch sei der Ansatz zu etwas, das nicht Mensch mehr ist! Arterhaltung wollt ihr? Ich sage: Art-Überwindung!“ (NL 1882/83, 5[1]135, KSA 10, 202, 10 f.) Zarathustra denkt den Evolutionsprozess, demzufolge jedes Lebewesen in eine Kette biologischer Höherentwicklung eingebunden ist, nicht als ein natürliches Entwicklungsgeschehen, sondern als aktive Selbstüberwindung, in der der Mensch als „Motor der Evolution“ (Pieper 1990, 46) fungiert. Zwar büßt er damit seine Vorzugsstellung als ‚Krone der Schöpfung‘ ein, er tritt aber stattdessen selbst in die Rolle eines Schöpfers ein, scheint er doch als ein über sich hinaus Schaffender dazu in der Lage, den Evolutionsprozess zu gestalten. Daraus ergeben sich Anknüpfungsmomente zu transhumanistischen Ideen des 21. Jahrhunderts, deren Vertreter sich auf N. als ihren Vordenker und historischen Gewährsmann berufen (siehe bes. Sorgner 2016, 111–139 u. Sorgner 2019; weitere Literaturangaben zu N. und dem Transhumanismus in NK 14, 13). 14, 19–21 Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.] So wie der Mensch der postdarwinistischen Ära sich seiner Abstammung vom Affen schämen müsse, ebenso solle sich in einer posthumanen Ära der Übermensch seiner Herkunft vom Menschen schämen. Wie sehr sich Zeitgenossen an dieser Idee einer Überwindung des Menschen gestoßen haben, zeigt exemplarisch die Stellungnahme Helene Druskowitz’ in ihrer Za-

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Kritik Moderne Versuche eines Religionsersatzes: „Soll der Mensch auch in eine höhere Ordnung übergehen, so ist es ein häßlicher und unwürdiger Gedanke, ihn zu dieser in einem Verhältniß stehend zu denken, gleich demjenigen des Affen zum Menschen. Welche Zumuthung, daß der Mensch darnach streben soll, einen höheren Typus hervorzubringen, dem er nur ein ,Gelächter und eine schmerzliche Scham‘ sein wird! […] Man muß bedauern, bei einem Schriftsteller wie Nietzsche einen so schiefen Gedanken zu finden.“ (Druskowitz 1886, 58) Der Gedanke eines zum Schamobjekt degradierten Menschen findet sich auch in zwei nachgelassenen Notaten; das frühere kleidet ihn gar in die den Sprecher einschließende Wir-Perspektive: „Was der Affe für uns ist, der Gegenstand einer schmerzlichen S c h a m – das sollen w i r für den Übermenschen sein.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[181], 164, 12 f.) Und: „Was der Affe für uns ist, ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham: das soll der Mensch für den Übermenschen sein.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]255, 217, 11 f.) Ganz andere Konsequenzen zieht M 49 aus der biologischen Evolutionstheorie. Zwar spielt N. bereits dort den Gedanken durch, demzufolge die äffische Abkunft des Menschen nurmehr den Blick in die Zukunft und nicht länger den auf das entwertete Herkommen der Menschheit zulasse, doch statt in Zukunftserwartungen zu schwelgen, konstatiert der Sprecher dort die Aussichtslosigkeit des Unterfangens, sich aus den Fängen des „Gewesensein[s]“ zu befreien: „Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche A b k u n f t hinzeigte: diess ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thür steht der Affe, nebst anderem greulichen Gethier, und fletscht verständnissvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung: der Weg, w o h i n die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es Nichts! Am Ende dieses Weges steht die Graburne des l e t z t e n Menschen und Todtengräbers (mit der Aufschrift ‚nihil humani a me alienum puto‘). Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge – und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer, als am Anfang stehen! – es giebt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer ‚Erdenbahn‘ zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgend ein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!“ (KSA 3, 53, 27–54, 20; vgl. NK 3/1, S. 142 f.) 14, 22–24 Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe.] Wenn Zarathustra an den „Weg vom Wurme zum Menschen“ (14, 22) und an die Abstammung des Menschen vom „Affen“ (14, 23) erin-

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nert, dann spricht er unverkennbar aus einem evolutionär-darwinistischen Horizont heraus. Entsprechend wurde N.s Übermensch von früh an als darwinistisch imprägnierte oder gar den Darwinismus ausbuchstabierende Vision aufgefasst. So konstatierte Raoul Richter: „Der Uebermensch ist eine neue biologische Art, im Sinne der Evolutionstheorie, quantitativ und qualitativ; d. h. aus der Menschheit soll sich die Uebermenschheit entwickeln, die als Gattung und in ihren Eigenschaften sich zur Menschheit verhält, wie diese zur nächst niederen Art im Reich der Lebewesen.“ (Richter 1905/06, 548) Alexander Tille, der davon spricht, dass im Denken N.s erstmals „das Zukunftsziel der Menschheit in ihre Körper hinein verpflanzt“ (Tille 1895, 231) worden sei, deutet den Übermenschen gar als N.s radikalisierende Ausweitung des Darwinismus auf das Gebiet der Ethik: „Ein physiologisch höheres Dasein der zukünftigen Menschheit wird sein letztes sittliches Ziel, sein sittliches Ideal, und damit zieht er die letzte ethische Konsequenz aus dem Darwinismus, damit erweitert er die theoretische Weltanschauung der Entwicklungslehre um eine ethische Welt.“ (Ebd., 214) Der zu den Begründern der Eugenik zählende Arzt und Privatgelehrte Wilhelm Schallmayer weist zwar auf N.s Aversion gegenüber dem Darwinismus hin, ist aber dennoch der Ansicht, den Übermenschen ganz für die „Deszendenz- und Auslesetheorie“ (Schallmayer 1903, 182) in Anspruch nehmen zu dürfen. N.s Haltung zum Darwinismus gehört zu den vieldiskutierten Forschungsfragen (aus der umfangreichen Literatur zu N.s Rezeption des Darwinismus vgl. etwa Stegmaier 1987, Fornari 2008, Constâncio 2010, Sommer 2010b, Cano 2015). Außer Frage steht N.s intensive Beschäftigung mit dem Darwinismus, die auch in seiner Bibliothek deutliche Spuren hinterlassen hat. Noch vor der Entstehung von Za schaffte er sich etwa Oscar Schmidts Darstellung Descendenzlehre und Darwinismus (1873) an, Eduard von Hartmanns Wahrheit und Irrthum im Darwinismus (1875) sowie Eugen Drehers Der Darwinismus und seine Consequenzen in wissenschaftlicher und socialer Beziehung (1882). Zur Zeit, da er an Za I arbeitet, war er mit der zeitgenössischen darwinistischen Literatur und nicht zuletzt mit „deren enthusiastischer Spielart“ (Ottmann 2011, 248) vertraut: „Bei Strauß und Haeckel, bei Dühring, Wallace und vielen anderen war die Hoffnung auf einen neuen Menschen im Namen Darwins deutlich ausgesprochen worden, und es scheint, daß auch im ,Zarathustra‘ der ,Übermensch‘ mit dem Anspruch in die Welt trat, zukünftige Spitze der Evolution zu sein, die auf den Sprung vom Tier zum Menschen den vom Menschen zum Übermenschen einmal würde folgen lassen.“ (Ebd., 248 f.) Trotzdem tauchen Zarathustras Worte die Evolutionsgeschichte des Menschen in ein höchst fragwürdiges Licht. Nicht weil er dem Menschen Affe und Wurm als evolutionsbiologische Vorfahren zuschreibt, sondern weil sich der Mensch seinen Worten zufolge nicht essenziell über diese Vorfahren hinaus entwickelt hat: Noch immer dem Wurmstadium verhaftet und sogar „mehr Affe, als

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irgend ein Affe“ erscheint der Mensch geradezu als lebender Gegenbeweis zur darwinistischen Auffassung der Evolution. Der provozierende Hinweis auf die „immanent animalische Komponente im Wesen des Menschen“ (Sidowska 2022, 80) widerspricht der vorangehenden Äußerung, wonach der Affe „eine schmerzliche Scham“ für den Menschen vorstelle (siehe NK 14, 19–21), und unterläuft parodistisch die evolutionsbiologische Argumentation, indem er in Zweifel zieht, ob sich der Mensch überhaupt über seine tierischen Vorfahren hinaus entwickelt habe. Entsprechendes gilt für zwei nachgelassene Notate, die Vorarbeiten zu 14, 22–24 darstellen: „Wie habt ihr den Weg vom Wurm zum Menschen gemacht! und Vieles in euch ist noch Wurm und ein Gedächtniß eures Weges.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[139], 155, 1–3) „Der Mensch ist immer noch mehr Affe als irgend ein Affe.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]403, 103, 13) Solche Einschätzungen weisen den Übermenschen nicht als kontinuierliche Fortführung des Evolutionsgeschehens aus, sondern als plötzlichen Sprung in eine höhere Ordnung. Das steht quer zu der in M 49 vertretenen Auffassung, es gebe für die Menschheit „keinen Übergang in eine höhere Ordnung“ (KSA 3, 53, 27–54, 20; vgl. NK 14, 19–21). N.s ‚darwinistische Überlegungen‘ aus dem Umkreis von Za sind, wie Groff 2004 anhand der zur Relation von Affe und Mensch darlegt, von Inkohärenzen und ironischen Distanzierungen geprägt. Dies spricht für die These von Sommer 2012b, 117, derzufolge N. das evolutionsbiologische Paradigma als zeitgenössische Denkschablone auffasst, in der er eine „ideale Projektionsfläche“ findet, „um sich selbst, sein eigenes Denken zu konturieren“. Ähnlich stellt Johnson 2010 mit Blick auf Za die produktive Auseinandersetzung mit dem Darwinismus heraus: „Darwin’s theories are the foil for Nietzsche’s alternative vision of the Übermensch“ (Johnson 2010, 52). Einen Beleg für die experimentelle und gedankenspielerische Form der Bezugnahme bietet ein nachgelassenes Notat aus der Entstehungszeit von Za I, das die darwinistische Evolutionstheorie zur bloßen Hypothese erklärt, neben der die Degenerationshypothese gleiche Plausibilität beanspruchen dürfe: „Geschichte = E n t w i c k l u n g d e r Z w e c k e i n d e r Z e i t: so daß immer höhere aus den niedrigen wachsen. Zu erklären, warum immer h ö h e r e F o r m e n d e s L e b e n s entstehen müssen. D a r ü b e r sind ja die Teleologen und die Darwinisten e i n s, daß es geschieht. Aber das Ganze ist eine Hypothese, auf Grund der W e r t s c h ä t z u n g e n – und zwar neuerer Werthschätzungen. Das Umgekehrte, daß Alles bis zu uns herab V e r f a l l ist, ist ebenso beweisbar. Der Mensch und gerade der Weiseste als die h ö c h s t e V e r i r r u n g der N a t u r und Selbstwiderspruch (das leidendste Wesen): bis hieher s i n k t die Natur. Das Organische als Entartung.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[177], 163, 9–20) Von einer gedankenspielerischdistanzierten Haltung zum Darwinismus zeugt überdies ein bereits 1881 entstandenes Notat, das dazu aufruft, Darwins Theorie experimentell auf die Probe zu stellen, und dabei am Ende nicht von Evolution, sondern von Erziehung spricht:

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„Das Zeitalter der Experimente! Die Behauptungen Darwin’s sind zu prüfen – durch Versuche! Ebenso die Entstehung höherer Organismen aus den niedersten. Es müssen Versuche auf 1000de von Jahren hin geleitet werden! Affen zu Menschen erziehen!“ (NL 1881, KSA 9, 11[177], 508, 6–10) 14, 25 f. Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst.] Die Formulierung erinnert an eine Wendung in einem Gedicht Albrecht von Hallers, in dem der Mensch zum „Zweideutig Mittelding von Engeln und von Vieh“ (Haller 1882, 128) deklariert wird. 14, 29 f. Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch s e i der Sinn der Erde!] Zarathustras prophetischer Gestus erscheint hier in seltsamer Ambivalenz. Denn auf die klare Feststellung, die den Übermenschen als Sinngaranten ausweist, folgt eine imperativische Forderung, die das Bekenntnis zum Übermenschen als Willensakt an die Zuhörer delegiert. Sie lässt nicht allein den Übermenschen als eine Sinngebungsstrategie erscheinen, die in der Willensentscheidung des Einzelnen gründet, sondern überdies auch den „Sinn der Erde“, der demnach der Erde nicht immanent ist, sondern ihr in einem Akt sinngebender Zuschreibung zugeordnet wird. Im Schlusskapitel von Za I fordert Zarathustra seine Jünger gar zu einem Handeln auf, das „der Erde ihren Sinn“, einen auf Menschenmaß ausgerichteten Sinn, vermitteln soll: „Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück – ja, zurück zu Leib und Leben: dass sie der Erde ihren Sinn gebe, einen Menschen-Sinn!“ (100, 3–5) Für Adrian Del Caro, der N.s Rhetorik der Erde zum Angelpunkt für eine philosophisch-poetische Erkundung von N.s Werk genommen hat, ist N. „the first Western thinker to truly address the problem of making earth the only place of human habitation – both spiritually and physically speaking“ (Del Caro 2004, 143). Dabei gehört die formelhafte Wendung vom „Sinn der Erde“ exklusiv dem Kontext von Za an, in dem Erde und Leib als Kennzeichen für eine Ausrichtung am Immanenten einstehen und als Orientierungsmarken firmieren, an die neu zu schaffende Werte und ein dem Menschen gemäßer Sinn rückgebunden werden sollen (vgl. dazu Breazeale 1983, Fleischer 1993, 64 f.; Joisten 1994, 213–217; Gerhardt 2011b; zur metaphorischen Bedeutung von Erde in Za siehe auch NK 36, 34–37, 3). Die Formel vom „Sinn der Erde“ ist auf Za I beschränkt, wo sie drei weitere Okkurrenzen hat, die ihr maßstabsetzende Bedeutung zuweisen. In „Von den Hinterweltlern“ konstatiert Zarathustra: „Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommne und rechtwinklige: und er redet vom Sinn der Erde.“ (38, 9 f.) In „Von Kind und Ehe“ urteilt er: „Würdig schien mir dieser Mann und reif für den Sinn der Erde“ (91, 14 f.), und in „Von der schenkenden Tugend“ fordert er dazu auf: „Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend! Eure schenkende Liebe und eure Erkenntniss diene dem Sinn der Erde“ (99, 27–29).

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Heinrich Rickert erklärt in Die Philosophie des Lebens die Gleichsetzung des „Sinns der Erde“ mit der durch den Übermenschen repräsentierten „aufsteigende[n] Vitalität“ zu einem zentralen Element lebensphilosophischer Weltanschauung (Rickert 1920, 98). N. habe mit seiner Orientierung am „Wert des aufsteigenden Lebens“ (ebd., 21) dem Begriff des Lebens neuen Reiz verliehen. Entsprechend sei der Übermensch als der Gestalt gewordene „Sinn des Lebens“ zu verstehen „als der lebendigste Mensch, der dem lebendigsten Leben dient und alle anderen Ideale verhöhnt und verachtet“ (ebd.). – Auch in Herwarth Waldens Nachruf auf den im Ersten Weltkrieg umgekommenen Franz Marc findet das formelhafte Bekenntnis Resonanz: „Nun ist ein Künstler gefallen, der nicht fallen kann. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Aber die Erde war ihm heimisch. Die Erde, die Lebendiges erzeugt und Lebendiges trägt. Ihm schien die Erde, ihm redeten die Tiere, die Wälder und die Felsen. Sie alle wissen nicht, was sie tun. Sie sind der Sinn der Erde und er gab ihnen das Sinnbild.“ (Walden 1916, 1) 15, 1 Ich beschwöre euch, meine Brüder] Auch nachfolgend wendet sich Zarathustra häufig an seine „Brüder“, die er zumeist im Plural als „meine Brüder“ (z. B. 15, 1; 15, 16) oder, erweitert durch die Interjektion „oh“, als „oh meine Brüder“ (z. B. 202, 20; 250, 24) anspricht, nicht selten auch im Singular als „mein Bruder“ (z. B. 39, 12 f.; 40, 3). Die formelhaft wiederkehrende Anrede betont den predigthaften Anstrich seiner Reden, denn es sind vor allem Angehörige von Glaubensgemeinschaften, die sich untereinander „meine Schwestern und Brüder“ nennen. Gerade im christlichen Kontext ist diese Form der Anrede gebräuchlich, die verwurzelt ist in der biblischen Vorstellung, wonach alle Christen in Gott den gleichen Vater haben und daher als Geschwister in Christus zu betrachten seien. Allerdings wären demnach auch die „Schwestern“ einzubeziehen, doch von ihnen schweigt Zarathustra in auffälliger Weise. Dass N. wohl ganz bewusst weibliche Empfängerinnen ausgeschlossen und die Reden seines Protagonisten exklusiv an männliche Zuhörer adressiert hat, deutet eine nachgelassene Notiz aus dem Entstehungskontext von Za an, in der auch Zuhörerinnen adressiert sind: „Meine Brüder und Schwestern, thut mir doch nicht so zärtlich! wir sind allesammt hübsche lastbare Esel und Eselinnen, und durchaus keine Rosenknospen welche zittern.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[73], 134, 2–4; vgl. auch NL 1882/83, KSA 10, 5[1]21, 190, 3–6) Im Drucktext – in Za I Vom Lesen und Schreiben – ist dann die ‚gendergerechte‘ Anrede eliminiert, wenngleich dort ironischerweise noch die Esel beiderlei Geschlechts sind: „Wir sind allesammt hübsche lastbare Esel und Eselinnen.“ (49, 14 f.) Die Anrede „Schwester“ hat an keiner Stelle Eingang in Za gefunden. Zarathustras prophetische Botschaft scheint allein für männliche Ohren bestimmt, was das „alle“ im Untertitel Ein Buch für alle und keinen entscheidend relativiert. In einem Nachlassnotat nimmt Zarathustra die Frauen klar von seiner Botschaft aus: „Ich rede zu Männern, sprach Zarathustra – heißet die Weiber davongehen.“ (NL 1882/83, KSA 10,

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4[16], 113, 6 f.) Die einzige Ausnahme ist die Rede „über das Weib“ (84, 16), die er exklusiv der alten Frau in Za I Von alten und jungen Weiblein widmet. Ein weiteres im Nachlass überliefertes Notat drückt eine nicht allzu hohe Wertschätzung für die als „Brüder“ Angeredeten aus: „Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra. Aber was geht das Zarathustra an? Ihr seid meine Brüder: ich liebe euch nicht zu sehr: ein Bruder das ist weder ein Kind noch ein Werk.“ (NL 1882/ 83, KSA 10, 4[104], 145, 11–13) Dass Zarathustra sein (erst noch zu schaffendes) Werk und die (erst noch hervorzubringenden) Kinder über seine tatsächliche Anhängerschaft stellt, findet Niederschlag in Za III und Za IV und zeigt sich besonders deutlich in der Rede „Von der Seligkeit wider Willen“, die den Gedanken der „Kinder“ dominant herausstellt. Im Gegensatz zu den „Brüdern“ und „Freunden“, an die Zarathustra seine Reden richtet, sind die „Kinder“ nicht Adressaten seiner Lehre, sondern von ihm erst noch hervorzubringende Produkte seines Schaffens, die er sich als Ausfluss seiner Selbstvollendung imaginiert: „Gefährten suchte einst der Schaffende und Kinder s e i n e r Hoffnung: und siehe, es fand sich, dass er sie nicht finden könne, es sei denn, er schaffe sie selber erst. / Also bin ich mitten in meinem Werke, zu meinen Kindern gehend und von ihnen kehrend: um seiner Kinder willen muss Zarathustra sich selbst vollenden.“ (203, 22–204, 3; vgl. NK 4/2, 203, 19–204, 3) Daneben verwendet Zarathustra auch die Anreden „meine Freunde“/„mein Freund“ (vgl. etwa 95, 24; 109, 5 f.; 187, 2; 262, 19). Nur dreimal nennt er seine Anhänger „meine Jünger“ (97, 22; 101, 11; 176, 1; siehe dazu auch NK 101, 11 f.). 15, 1–6 Ich beschwöre euch, meine Brüder, b l e i b t d e r E r d e t r e u und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht. / Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist] Die Aufforderung zur Absage an den Dualismus von Diesseits und Jenseits und zur Hinwendung an die Erde findet sich mit geringen Abweichungen auch in einem nachgelassenen Notat: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden: Giftmischer sind es und Verächter des Lebens: ob sie es wissen oder nicht, Absterbende sind es und Selbst-Vergiftete.“ (NL 1882/ 83, KSA 10, 5[19], 223, 18–21) In Za I Von den Hinterweltlern nimmt Zarathustra sein Verdikt gegen die Leibverächter in variierter Form auf: „Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und die erlösenden Blutstropfen: aber auch noch diese süssen und düstern Gifte nahmen sie von Leib und Erde!“ (37, 8–11) 15, 6 so mögen sie dahinfahren!] Das Wort „dahinfahren“ verwendet N. ausschließlich in Za (vgl. 55, 13 f.; 57, 7; 259, 22; 259, 24). Es ist ein Beispiel für die Orientierung an der Luthersprache und erinnert insbesondere an die sprichwört-

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lich gewordene Formulierung aus Hiob 1, 21: „Ich bin nackend von meiner Mutter Leibe gekommen, nackend werde ich wieder dahinfahren.“ (Die Bibel AT 1818, 527) 15, 7–10 Einst war der Frevel an Gott der grösste Frevel, aber Gott starb, und damit starben auch diese Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher zu achten, als den Sinn der Erde!] Fast identisch NL 1882/83, KSA 10, 5[19], 223, 22–25; variiert findet sich der Gedanke in zwei weiteren nachgelassenen Notaten: „Der größte Frevel ist der Frevel am Menschen, nachdem es keine Götter mehr giebt: und für die Eingeweide der unerforschbaren Dinge das Menschliche geringschätzen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]197, 209, 3–5) Und mit Bezug auf den Leib: „Am Leibe zu freveln das gilt mir als ein Freveln an der Erde und am Sinn der Erde. Wehe dem Unseligen, dem der Leib böse und die Schönheit teuflisch scheint!“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[30], 225, 18–20) Die verehrende Hinwendung zur Erde – Kehrseite der Abwendung von der Metaphysik – wird hier als unmittelbare Konsequenz aus dem Tod Gottes abgeleitet; die „Hinwendung zur Erde als Ort des Menschen und Tod Gottes bedingen einander“ (Meckel 1980, 175). Interessanterweise ist dabei jedoch nicht von der Verehrung der Erde, sondern in perspektivischer Verkehrung von der Möglichkeit des Frevels, des schändlichen Verstoßes gegen das zu Achtende die Rede. Man kann darin eine Parallele zur christlichen Lehre sehen, die, so wird bereits in MA II WS 81 statuiert, den Frevel ins Zentrum rückte: „Der Stifter des Christenthums war es, der die weltliche Gerechtigkeit aufheben und das Richten und Strafen aus der Welt schaffen wollte. Denn er verstand alle Schuld als ‚Sünde‘, das heisst als Frevel a n G o t t und n i c h t als Frevel an der Welt“ (KSA 2, 588, 29–589, 3). 15, 11–13 Einst blickte die Seele verächtlich auf den Leib: und damals war diese Verachtung das Höchste: – sie wollte ihn mager, grässlich, verhungert. So dachte sie ihm und der Erde zu entschlüpfen.] Der deutlich abgelehnten und außerdem auch der Vergangenheit zugerechneten Verachtung des Leibes, die anspielt auf die bereits bei Platon, dann aber vor allem für das Christentum zentrale Auffassung, derzufolge der sterbliche Körper bloß die Hülle für die unsterbliche Seele abgebe, setzt Zarathustra wenig später eine andere, eine „grosse Verachtung“ (15, 23) entgegen. Sie gilt gerade nicht dem Leib, sondern zielt auf „Vernunft“ und „Tugend“ (15, 26; vgl. dazu genauer NK 15, 24–26). In Za I Von den Verächtern des Leibes blickt Zarathustra dann umgekehrt ‚verächtlich‘ auf die Seele, die er zu einem bloßen „Wort“ erklärt „für ein Etwas am Leibe“ (39, 8 f.; vgl. NK 39, 8 f.). KGW VI 4, 23 präsentiert dazu folgende Vorstufe, in der von der ursprünglichen Magerkeit der Seele die Rede ist, die sich am Leib schadlos hält: „Damals war der Leib ˹Einstmals blickte die Seele verächtlich auf den Leib und wollte ihn:˺ mager,

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gräßlich, verhungert, schwarz schmutzig Oh diese Seele selber war ˹einstmals˺ mager gräßlich verhungert“ (Z I 2,36). Dass religiös motivierte Selbstkasteiung, die sich gegen das sinnliche Dasein richtet, mit der Empfindung von Wollust verknüpft ist, hebt Zarathustra später in Za III Der Genesende nachdrücklich hervor: „Der Mensch ist gegen sich selber das grausamste Thier; und bei Allem, was sich ‚Sünder‘ und ‚Kreuzträger‘ und ‚Büsser‘ heisst, überhört mir die Wollust nicht, die in diesem Klagen und Anklagen ist!“ (273, 31–34) Zum Motiv der Wollust siehe NK 4/2, 237, 4–6. 15, 19–21 Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muss schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu können, ohne unrein zu werden.] Eine Vorstufe verzeichnet: „Man muß schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom in sich aufzunehmen ohne schmutzig zu werden.“ (NL 1882/ 83, KSA 10, 4[171], 162, 5 f.) Die Opposition rein/unrein spielt eine wichtige Rolle für Zarathustras Verhältnis zu seiner Um- und Mitwelt. Er nutzt Reinheit und Unreinheit als Differenzbegriffe, um die Realität seinem individuellen Wertesystem entsprechend in Schätzens- und Verachtenswertes aufzuspalten. 15, 22 f. Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist diess Meer, in ihm kann eure grosse Verachtung untergehn.] Das ‚Untergehen‘ im Übermenschen ist als entgrenzende und befreiende Auflösung dessen zu verstehen, was am alten Menschen verachtenswert ist (zur Meeres-Metaphorik in Za vgl. Stegmaier 2011, bes. 140). Die Vorstellung, in einem großen Menschen untergehen zu können, findet sich (losgelöst von der Idee des Übermenschen) in einem Brief an Lou von Salomé vom 8. November 1882. Darin sehnt N. sich nach einem Menschen, in dem man noch ertrinken könne: „Wie s e i c h t sind mir heute die Menschen! Wo ist noch ein Meer, in dem man wirklich noch e r t r i n k e n kann! Ich meine ein Mensch.“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 325, S. 274, Z. 15–17; vgl. dazu NK 172, 18 f.) 15, 24–26 Was ist das Grösste, das ihr erleben könnt? Das ist die Stunde der grossen Verachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glück zum Ekel wird und ebenso eure Vernunft und eure Tugend.] Verachtung zum „Grösste[n]“ zu erklären, was der Mensch erleben könne, stellt eine Provokation dar, denn schließlich drückt Verachtung einen Mangel an Wertschätzung aus, der dem Verachteten Rang und Geltung gerade abspricht. Demgegenüber wertet Zarathustra den Affekt der Verachtung, sofern er auf den Menschen selbst und seine Qualitäten („Vernunft“, „Tugend“) bezogen ist, zu einem Grundimpuls auf, den er als notwendig statuiert für die Überwindung des (alten) Menschen. In diesem Sinn erklärt ein Nachlassnotat die Selbstverachtung des Menschen zur unabdingbaren Kehrseite der Liebe zum Übermenschen: „Was liegt an eurer Tugend, wenn ihr nicht den Moment erlebt habt, wo ihr d e n M e n s c h e n i n e u c h tief verachtetet, aus Liebe zu dem Übermenschen? Und eure Tugend mit verachtetet?“ (NL 1882/83, KSA 10,

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5[1]269, 219, 10–13) Im Folgeabschnitt Za I Vorrede 4 spitzt Zarathustra diesen Gedanken zu auf das pointiert-paradoxe Bekenntnis: „Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer.“ (17, 5 f.) Der Gedanke einer „[a]nspornende[n] Verachtung“ (NL 1874, KSA 7, 34[47], 807, 28), die nicht niederdrückt, sondern als Impuls zu tiefgreifender Veränderung wirkt, begegnet bereits in einer Aufzeichnung von 1874, die Überlegungen zu Schopenhauer festhält. Während dieses frühe Notat jedoch das von Verachtung getriebene Anstreiten gegen die eigene „Zeit“ (ebd.) meint, ist hier von Selbstverachtung die Rede. Sie richtet sich nicht nur gegen den „bürgerlichen Wertekanon“ (Honneth 2002, 175), sondern weit grundsätzlicher gegen den Menschen als solchen. So versteht Werner à Brassard die „Stunde der grossen Verachtung“ als den entscheidenden „Augenblick der Wendung, der Augenblick, in dem sich der Mensch als der Überwundene auffindet“ (Brassard 1962, 210) und in dem er mit Abscheu auf das zurückschaut, was er einst war. Damit rückt Brassard die „grosse Verachtung“ in die Nähe des „grossen Mittags“, der ausdrücklich als eine solche menschheitsgeschichtliche Wendemarke konzipiert ist, als der Zeitpunkt, „da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht“ (102, 6 f.; vgl. NK 102, 6–10). Erstmals begegnet die „große Verachtung“ bei N. in einer Aufzeichnung aus dem Frühjahr/Herbst 1881. Dort ist allerdings nicht Selbstverachtung gemeint, sondern der Sprecher fordert auf zur Verachtung anderer Menschen und ihres ‚unpersönlichen Daseins‘: „Man muß den Menschen Muth zu einer neuen großen Verachtung machen z. B. der Reichen, der Beamten usw. Jede u n p e r s ö n l i c h e Form des Lebens muß als gemein und verächtlich gelten.“ (NL 1881, KSA 9, 11[11], 444, 22–25) Ein Notat aus dem Winter 1882/83, der Entstehungszeit von Za I, verkehrt dann die Perspektive, indem es nicht den Gegenstand der Verachtung ins Zentrum rückt, sondern das Verachten selbst, das als „Auszeichnung“ verstanden ist: „Die Stunde der großen Verachtung erwarten: das ist die A u s z e i c h n u n g.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]271, 219, 22 f.) Das im Manuskript unmittelbar vorangehende Notat stellt die „großen Verachtungen“ als Ursprung des Verlangens nach dem Übermenschen heraus: „In der Geschichte der Menschheit sind die g r o ß e n V e r a c h t u n g e n die Ereignisse: als die Quelle der großen Begehrung nach dem Übermenschen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]270, 219, 14–16) Einem weiteren Notat aus dem Herbst 1883 zufolge sollte Zarathustra selbst den „Augenblick der großen Verachtung (höchste Seligkeit!)“ (NL 1883, KSA 10, 16[38], 512, 8 f.) erleben; „Alles muß in Erfüllung gehn, namentlich alles aus der V o r r e d e“, heißt es dort weiter (ebd., 10 f.). Als eine Figur, die ernst zu machen sucht mit der großen Verachtung, wird später der bleiche Verbrecher präsentiert, dem die Worte zugeschrieben werden: „‚Mein Ich ist Etwas, das überwunden werden soll: mein Ich ist mir die grosse Verachtung des Menschen‘“ (Za I Vom bleichen Verbrecher, 45, 5 f.). Und in

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Za III Von den drei Bösen malt Zarathustra drastisch aus, wie die „Herrschsucht“ den Menschen so lange erniedrige, „bis endlich die grosse Verachtung aus ihm aufschreit –, / Herrschsucht: die furchtbare Lehrerin der grossen Verachtung, welche Städten und Reichen in’s Antlitz predigt ‚hinweg mit dir!‘ – bis es aus ihnen selber aufschreit ‚hinweg mit m i r!‘“ (238, 5–9) Wie wichtig N. die „große Verachtung“ war, zeigt sich auch daran, dass er den Begriff als Kapitelüberschrift in Betracht zog. Eine Liste von Kapiteltiteln zu Za III führt als 19. Kapitel an: „Zarathustra’s ‚große Verachtung‘.“ (NL 1883, KSA 10, 16[83], 527, 11) Und ein wohl nur wenig später angefertigter Plan zu einem vierten Zarathustra verzeichnet: „§ 〈Zarathustra〉 4 die große Verachtung Angesichts der E w i g k e i t des I n d i v i d u u m s. / Darauf e r l ö s e n d: seht! i c h l e h r e e u c h den Ü b e r m e n s c h en“ (NL 1883, KSA 10, 17[69], 559, 10–13). Nachgelassene Notate erwägen sogar eine ‚Lehre der Verachtung‘ als notwendige Voraussetzung für die Lehre des Übermenschen, wobei Zarathustra sich jedoch nur für letztere zuständig sieht: „Ich lehre euch den Übermenschen: die große Verachtung müßt ihr euch selber lehren.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[208], 169, 20 f.) „Ich lehre euch den Übermenschen: wo ist mein Bruder, der ihn die große Verachtung lehrt?“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[8], 221, 1 f.) Und: „Ein Anderer mag ˹ihnen˺ Lehrer der Verachtung sein, und Andere sind es ˹schon˺ gewesen. Ich suche nur solche, welche schon ˹gelernt haben˺ zu verachten wissen.“ (N V 8,14; KGW VI 4, 25) Während sich Zarathustra in der Mehrzahl der Notate entschieden von der Lehre der Verachtung distanziert, ist aus dem Herbst 1883, der Entstehungszeit von Za III, tatsächlich ein Entwurf überliefert, in dem sich das sprechende Ich den „Lehrer der großen Verachtung“ nennt: „und diesen Rath rathe ich meinen Feinden und allen Spuckern und Speiern: / als der Lehrer der großen Verachtung (Im Vorletzten) / Wie ertrüge ichs sonst, euch die große Verachtung zu lehren?“ (NL 1883, KSA 10, 16[90], 532, 23–27) Von Verachtung ist in Za überaus häufig die Rede. Verachtende Abwertung erscheint im Text als Grundmotiv menschlichen Verhaltens und Handelns, das nicht per se als gut oder verwerflich zu verbuchen ist, sondern innerhalb des internen Wertesystems von Za sowohl positive als auch negative Bedeutung erhalten kann. Entscheidend ist, wer verachtet und auf welche Werte der Verachtende seine Verachtung gründet. Die Subjektivität und Perspektivität des Verachtens kommt bereits in der Vorrede deutlich zum Ausdruck, deren Abschnitte von den Verachtungen unterschiedlicher Verachtender sprechen. In Za I Vorrede 3 beschwört Zarathustra nicht allein die Großartigkeit der auf sich selbst gerichteten Verachtung, sondern warnt vor der verderblichen Macht der „Verächter des Lebens“ (15, 5; vgl. NK 15, 1–6), welche die Menschen zu „überirdischen Hoffnungen“ (15, 2 f.) zu verführen suchten und damit das ganze Leben entwerteten. Aus der Perspektive des Volks hingegen, so flüstert der Possenreißer Zarathustra spä-

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ter ins Ohr, muss Zarathustra selbst als „Feind und Verächter“ (23, 21) erscheinen – ein Urteil, das sich wiederum Zarathustra zu eigen macht, wenn er wenig später von den Schaffenden sagt, „Vernichter wird man sie heissen und Verächter des Guten und Bösen“ (26, 19 f.). Die Einsicht, dass jedes Wertesystem nicht allein positive Werte, sondern auch sein eigenes Verächtliches erzeugt, bringt Zarathustra in Za I Von den Verächtern des Leibes pointiert zum Ausdruck: „Dass sie verachten, das macht ihr Achten.“ (40, 19 f.) Immer wieder weist er darauf hin, dass mit Verachtung unauflöslich auch die wertschätzenden Haltungen der Verehrung und liebenden Anerkennung verknüpft sind (vgl. hierzu auch NK 4/2, 216, 13 f.). Ein nachgelassenes Notat führt gar Religion und Metaphysik auf den Grundtrieb der Verachtung zurück, wobei die religiöse und metaphysische Überschreitung des Menschen zum bloßen Symptom für das tatsächliche Bedürfnis nach dem Übermenschen erklärt werden: „Unsere Verachtung des M〈enschen〉 trieb uns hinter die Sterne. Religion, Metaphysik, als Symptom einer Begierde, den Übermenschen zu schaffen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[214], 171, 16–18) 15, 27–29 Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meinem Glücke! Es ist Armuth und Schmutz, und ein erbärmliches Behagen. Aber mein Glück sollte das Dasein selber rechtfertigen!“] Zarathustra weist den individuellen Anspruch auf Glück zurück und sucht seine Zuhörer auf eine Veränderung ihrer Lebenshaltung einzuschwören, auf ein neues Verständnis von Glück, das nicht Selbstzweck sein soll, sondern Ausfluss eines gelungenen und gerechtfertigten Daseins. Grammatikalisch ermöglicht der Satz „mein Glück sollte das Dasein selber rechtfertigen“, der das neue, utopische Glück in den Blick nimmt, eine doppelte Lesart, derzufolge das Dasein das Glück rechtfertigt, oder aber das Glück das Dasein. Zum Ausdruck bringt die tautologische Figur die völlige Kongruenz von Sein und Glück. Vgl. dagegen aber die letzten Menschen, die sich als Erfinder, als ‚Macher‘ des Glücks verstehen: NK 19, 30 f. 15, 30 f. Begehrt sie nach Wissen wie der Löwe nach seiner Nahrung?] Unter den vielen Tieren, die in Za zumeist metaphorisch oder allegorisch aufgerufen werden, gehört der Löwe zu den wichtigen und häufig erwähnten. Der Löwe ist durchweg positiv konnotiert, ohne dass ihm eine feste symbolische Bedeutung zufiele. Im ersten Kapitel von Za I und im letzten von Za IV kommt ihm jeweils herausgehobene Bedeutung zu. In der Gleichnisrede Za I Von den drei Verwandlungen markiert der Löwe den entscheidenden Wendepunkt des Übergangs von Fremdbestimmung zur individuellen Selbstbestimmung des „ich will“ (vgl. NK 30, 13 f.). Und in Za IV Das Zeichen wird die Erscheinung eines zahmen Löwen mit Taubenschwarm als prophetisches Zeichen der Erfüllung aufgeboten (vgl. NK 4/2, 406, 23–28). 16, 6–8 Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meinem Mitleiden! Ist nicht Mitleid das Kreuz, an das Der genagelt wird, der die Menschen liebt? Aber mein Mitleiden

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ist keine Kreuzigung.“] Der Wendepunkt im Dasein des Menschen wird hier als Abkehr vom Affekt des Mitleids in den Blick genommen, das in eigentümlicher Weise auf das Christentum bezogen scheint, erscheint doch die Kreuzigung des Mitleidigen als grausame Kehrseite der auf Mitleid begründeten christlichen Religion. Ein nachgelassenes Notat führt den Gedanken im konkreten Bezug auf Christi Kreuzestod näher aus, dort wird dann nicht das Mitleid zur Ursache der Kreuzigung erklärt, sondern die Liebe zu den Menschen: „Er liebte die Menschen weil Gott sie liebt. Er wollte sie erlösen, um Gott zu erlösen. / Liebe zu den Menschen war das Kreuz, an welches er geschlagen wurde; er wollte Gott aus seiner Hölle erlösen: welche ist die Liebe Gottes zu den Menschen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[200], 167, 11–15) Ähnlich auch die folgende, etwas später niedergeschriebene Notiz: „Mitleid eine Höllen-Empfindung: M i t l e i d ist selbst das K r e u z, an das der geschlagen wird, der die Menschen liebt.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]168, 206, 5–7) Die Abwehr des Mitleids bildet ein durchgängiges Leitmotiv von Za; sie erhält mit Za II Von den Mitleidigen eine eigene Rede. 16, 11 f. Nicht eure Sünde – eure Genügsamkeit schreit gen Himmel, euer Geiz selbst in eurer Sünde schreit gen Himmel!] KGW VI 4, 865 weist auf den Bezug zu Genesis 4, 9 f. hin: „Da sprach der HErr zu Kain: Wo ist dein Bruder Habel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter seyn? Er aber sprach: Was hast du gethan? Die Stimme deines Bruders Bluts schreit zu mir von der Erde.“ (Die Bibel AT 1818, 4) Die christliche Dogmatik bzw. Moraltheologie leitet hieraus den Begriff des peccatum clamans ab, der ‚himmelschreienden Sünde‘. 16, 13–16 Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müsstet? / Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn! –] Der Hinweis auf Blitz und Wahnsinn deutet an, dass der Übermensch aus sämtlichen bestehenden Wertordnungen herausfällt und etwas gänzlich Inkommensurables darstellt. Am Ende von Za I Vorrede 4 schließt Zarathustra hieran an, indem er sich als „Verkündiger des Blitzes“ (18, 21) bezeichnet und hinzusetzt, „dieser Blitz aber heisst Übermensch“ (18, 22). In Za I Vorrede 7 formuliert er: „Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.“ (23, 5 f.) Vgl. auch folgende Notizen: „wo eure Armut und Nüchternheit zum Himmel schrie / daß ein Blitz euch mit seiner Zunge lecke!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[49], 123, 17 f.) „Nicht eure Sünde – eure Nüchternheit schreit zum Himmel.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[75], 134, 16; vgl. fast identisch NL 1882/83, KSA 10, 5[1]125, 201, 12 f.) „,Man muß euch mit dem Wahnsinn impfen‘ – sagte Zarathustra.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]140, 202, 21 f.) „Wir müssen die Erde für den Übermenschen bereit machen und Thier und Pflanzen / ich impfe euch mit dem Wahnsinn“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[78], 136, 17–19).

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4. Obwohl Zarathustra verlacht und von einem Rufer aus der Menge unterbrochen wird, der nach der Darbietung des Seiltänzers verlangt, nimmt er seine Rede scheinbar unbeirrt, aber doch mit veränderter Strategie, wieder auf: Zum einen hebt er nun nicht das Verächtliche am Menschen hervor, sondern im Gegenteil das, was ihn in seinen Augen groß und liebenswert macht. Indem er seine Zuneigung für die Unbedingten erklärt, für die Strebenden, für diejenigen, die sich nicht mit dem erreichten status quo zufriedengeben, wirbt er für Verhaltensweisen, die zur Selbstüberwindung anspornen. Zum andern geht er auf die situativ geprägten Erwartungen der Zuhörer ein, die dem bevorstehenden Auftritt des Seiltänzers entgegenfiebern. Er wählt nämlich das Seil zur Ausgangsmetapher seiner zweiten Übermenschen-Rede, um der Menge seine Vision schmackhaft zu machen: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.“ (16, 25 f.) Das Seil dient Zarathustra als Bild für die menschliche Existenz, die er „zwischen Thier und Übermensch“ (16, 25 f.) ausgespannt sieht und die dem Menschen eine gefährliche Bewegung abverlange, einen „Ü b e r g a n g“, der zugleich „U n t e r g a n g“ (17, 2) sei. Die Notwendigkeit des „Untergangs“ (das Wort kommt in Za I Vorrede 4 sieben Mal vor) als Voraussetzung für den Übermenschen stellt eine Verbindung her zu Zarathustras eigener Existenz, denn der Text beginnt ja in Za I Vorrede 1 mit seiner Entscheidung für den „Untergang“ (12, 10). Freilich erhält die Rede vom Untergang jeweils andere Bedeutung. Während Zarathustras „Untergang“ im ersten Abschnitt an den zyklischen Lauf der Sonne geknüpft wird und zunächst den Entschluss des Hinabsteigens zu den Menschen bezeichnet, meint der hier von ihm eingeforderte Untergang einen Untergang des alten Menschen als Voraussetzung für die Entstehung eines neuen Menschen. Das Ziel der Rede besteht darin, diesen Transformationsprozess zu befördern, der – in Anknüpfung an Za I Vorrede 3 – in unterschiedlichen Bildern des Transitorischen Ausdruck erhält: Von einem „gefährliche[n] Hinüber“ (16, 27), einem „andern Ufer“ (17, 6) ist die Rede und davon, dass die „Untergehende[n]“ die „Hinübergehenden“ (17, 4) seien. Die transitorische Metaphorik von Za I Vorrede 4 wird nachdrücklich im Schlusskapitel von Za I wiederaufgenommen und dort dann mit dem zyklischen Lauf der Sonne und den Tageszeiten verknüpft. Zarathustra prophezeit in „Von der schenkenden Tugend“ die Feier des „grossen Mittag[s]“ (102, 5), wenn „der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch“ (102, 6 f.) und mit dem „Weg zum Abende“ (102, 8) zugleich einen „neuen Morgen“ anvisiere. (102, 9) Damit ist auch angedeutet, dass in Za I Vorrede 4 nicht die Idee des Übermenschen konkretere Gestalt erhält, sondern der Akzent vielmehr auf unterschiedliche menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen gelegt wird,

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die den transitorischen Prozess ermöglichen und forcieren sollen. Zarathustra verpackt sie rhetorisch als Eloge auf den Menschen und bringt sie in einer achtzehngliedrigen anaphorischen Reihung zu Gehör, die er jeweils mit „Ich liebe Die“ oder „Ich liebe Den“ eröffnet und mit „Ich liebe alle Die“ (18, 17) beschließt. Diese Lobpreisungen enthalten durchgehend negative Bestimmungen des Menschen, insofern sie bei aller Verschiedenheit ausschließlich Verhaltensweisen, Aktivitäten und Eigenschaften in den Blick nehmen, die zur Auflösung, zum Untergang und Übergang des Menschen führen müssen. Den textlichen Grundstock dafür bietet eine handschriftlich erhaltene Liste mit 17 Kurznotaten (NL 1882/83, KSA 10, 5[17], 222 f.), die N. nicht allein umgruppiert, sondern auch umformuliert und teilweise erweitert. Die in Z I 2,44 f. verzeichneten Vorstufen lassen erkennen, wie angestrengt er an Zarathustras Loblied auf den am eigenen Untergang arbeitenden Menschen feilt und wie er dabei die Metaphorik teilweise starken Veränderungen unterzieht. Die Vorstufen enthalten eine Reihe fallen gelassener Varianten, die mit Oppositionen und Paradoxien arbeiten: „Ich liebe den, der so mitleidig ist, daß er aus der Härte seine Tugend und seinen Gott macht.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[17], 222, 29 f.) „Ich liebe den, welcher seinem Gegner nicht nur seine Fehlgriffe verzeiht, sondern auch seinen Sieg.“ (Ebd., 223, 6 f.) „Ich liebe den, welcher nicht Lohn, sondern Strafe und Untergang von seiner Tugend erwartet.“ (Ebd., 223, 10 f.) „Ich liebe den, welcher im Nächsten den leidenden Gott sieht, der in ihm versteckt ist und sich des Thiers schämt, welches an ihm sichtbar war.“ (Ebd., 12–14) Und in Z I 2,45 ist zu entziffern: „Ich liebe den welcher das Unrecht solcher auf sich nimmt, die es nicht tragen können: und so schreitet × er als Leidender über die Brücke.“ (KGW VI 4, 24; vgl. NL 1882, KSA 10, 5[17], 222, 15 f.) 16, 25–29 Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. / Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-demWege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.] Das Bild des Seils visualisiert in Anlehnung an evolutionsbiologische Vorstellungen eine „grundsätzliche Kontinuität von Tier, Mensch und Übermensch“ (Winteler 2010, 456). Zugleich werden durch die Kombination der Metaphern von Seil und Brücke „die semantischen Momente ‚Tiefe‘ und ‚Hinüber‘ miteinander verbunden“ (Gebhard 1983, 204), so dass die Möglichkeit und zugleich die Gefahr der Transition zum Ausdruck kommen. Eine Vorstufe betont das Moment der Gefahr, das noch gesteigert erscheint durch die Zögerlichkeit des Menschen: „Der M. ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde. Ein ewiges ˹gefährliches˺ Hinüber, ein ewiges ˹gefährliches˺ Auf-demWege, ein ewiges Nicht-zu-Hause ˹ein gefährliches {Wünschen}˺ ein ewiges ˹gefährliches˺ Schaudern und Sich-Verwundern Stehenbleiben: das ist der Mensch.“ (Z I 2,47; KGW VI 4, 24) Wenn das Ende von Za I diese Metaphorik aufnimmt,

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dann heißt es dort deutlich positiver, da zielbestimmter: „Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen. / Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, dass er ein Hinübergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntniss wird ihm im Mittage stehn.“ (102, 6–12) 16, 30–17, 1 Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist:] Die Vorstellung, dass der Mensch nicht Ziel ist, sondern etwas zu Überwindendes, und dass die Bedeutung des Menschen nicht in seinem Sein gründet, sondern in seiner Übergänglichkeit, bildet den Kern der Idee des Übermenschen. Entsprechend kommt das Moment des Transitorischen in einer Reihe von Metaphern zum Ausdruck, denen bei aller semantischer Verschiedenheit gemeinsam ist, dass sie ein Überwinden bzw. Übersteigen veranschaulichen: Das gilt insbesondere für Seil und Seiltanz, Treppe und Regenbogen und auch für die besonders häufig verwendete Metapher der Brücke. Vexierbildhaft dient die Brücke als Bild für den Entwicklungsgang des Menschen oder aber für den entwicklungsfähigen Menschen selbst. Im Nachlass wird zunächst die „Brücke zum Übermenschen“ verkündet: „seht, ich zeige euch die Brücke zum Übermenschen!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[228], 175, 2) Wenig später heißt es, „Wollt ihr den Regenbogen sehen und die Brücke des Übermenschen? Eben jetzt ist es Zeit.“ (NL 1883, KSA 10, 10[21], 371, 21 f.) Und hier wird der Mensch zunächst selbst „eine Brücke“ genannt, kurz darauf wird dann aber gesagt, er gehe „gerne über die Brücke“ (18, 10). In Za I Von den Verächtern des Leibes erklärt Zarathustra: „Ich gehe nicht euren Weg, ihr Verächter des Leibes! Ihr seid mir keine Brücken zum Übermenschen!“ (41, 5 f.) In Za II Von der Erlösung greift er die Metapher der Brücke erneut auf, dort bezeichnet er sich selbst als eine „Brücke zur Zukunft“ (179, 8). Produktive Anverwandlung erfährt die Brückenmetapher in Franz Kafkas 1917 entstandener Parabel Die Brücke, welche die metaphorische Bestimmung des Menschen als „Brücke“ (16, 30) „über einem Abgrunde“ (16, 26) wörtlich nimmt. Der erste Abschnitt von Kafkas Text lautet: „Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich, diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm hatte ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. So lag ich und wartete; ich mußte warten; ohne abzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören Brücke zu sein.“ (Kafka 1996, 264) 17, 1 f. was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Ü b e r g a n g und ein U n t e r g a n g ist.] In Za IV Vom höheren Menschen 3 bekräftigt Zarathustra in

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der Ich-Form: „Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein Untergang.“ (357, 20 f.) 17, 3 f. Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden.] In einer Vorstufe sind es nicht die, „welche nicht zu leben“, sondern „welche nicht zu lieben wissen“: „Ich liebe die welche nicht zu lieben wissen, es sei denn als / Untergehende weil sie die Hinübergehenden sind:“ (Z I 2,44; KGW VI 4, 23) Zum Motiv des Untergangs vgl. NK 12, 1 f.; NK 12, 10; NK 102, 6–15; NK 4/2, 249, 8–21. 17, 5 f. Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer.] Zarathustra schließt an die Übermenschenrede im vorhergehenden Abschnitt Za I Vorrede 3 an, indem er die „Stunde der grossen Verachtung“ (15, 24 f.) preist als den Moment, in dem sich der Mensch von seinem früheren Menschsein verabschiedet und sich auf den Übermenschen ausrichtet (zur Verachtung als Antrieb der Übermenschwerdung vgl. NK 15, 24–26). Die sentenzhaft zugespitzte Formulierung von den „grossen Verachtenden“, die „die grossen Verehrenden sind“, lehnt sich an die für das christliche Bekehrungsdenken maßgebliche Vorstellung an, wonach die größten Sünder zu den größten Heiligen prädestiniert seien. „D e r g r ö ß t e S ü n d e r k a n n d u r c h B e k e h r u n g e i n g r o ß e r H e i l i g e r w e r d e n“ (Ehmig 1867, 273) – eine Auffassung, die der katholische Philosoph und Theologe Anton Westermayer in Das Papstthum in den ersten fünfhundert Jahren Luther zuweist: „Nach seiner Lehre ist der größte Sünder in den Augen Gottes der größte Heilige“ (Westermayer 1869, 40). Zarathustras Liebe gilt dem Menschen, der sein aktuelles Menschsein negiert und an der Umsetzung des Ideals arbeitet, das Zarathustra nicht mehr Mensch, sondern Übermensch nennt. „Was an ihm geliebt werden kann, ist nur“, wie Brusotti 1997, 537 formuliert, „daß er aus Liebe zum Übermenschen sich selbst als Menschen verachtet.“ In Za I Vom Wege des Schaffenden kommt Zarathustra darauf zurück, indem er dort den einsam Schaffenden als einen anspricht, der Selbstliebe und Selbstverachtung vereint: „Einsamer, du gehst den Weg des Liebenden: dich selber liebst du und desshalb verachtest du dich, wie nur Liebende verachten.“ (82, 28 f.) In Za III Von der grossen Sehnsucht spricht er dann von der treibenden Kraft des „liebenden Verachtens“: „Oh meine Seele, ich lehrte dich das Verachten, das nicht wie ein Wurmfrass kommt, das grosse, das liebende Verachten, welches am meisten liebt, wo es am meisten verachtet.“ (278, 20–22) Und über den hässlichsten Menschen befindet er in Za IV Der hässlichste Mensch: „Auch dieser da liebte sich, wie er sich verachtete, – ein grosser Liebender ist er mir und ein grosser Verächter.“ (332, 12 f.) Die Idee einer Vereinigung von Liebe und Verachtung hält überdies eine Skizze zur Fortführung von Za aus dem Herbst 1883 fest, die tele-

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grammstilartig fordert: „Selbst-Liebe und Selbstverachtung – Synthese.“ (NL 1883, KSA 10, 17[29], 548, 6) Das in Za IV (siehe 357, 23–25) erneut aufgegriffene paradoxale Wortspiel von den „grossen Verachtenden“, die eigentlich „die grossen Verehrenden“ seien, rührt her aus einem Entwurf in Z I 2,44: „ich liebe die großen Verächter ˹Verachtenden˺, weil sie das Seil der Liebe nach dem andern Ufer werfen ˹die großen Verehrenden sind : sie sind die und eine˺ Sehnsucht nach dem andern Ufer“ (KGW VI 4, 23). In diesem Entwurf ist zu verfolgen, wie N. das Bild vom „Seil der Liebe“ ersetzt durch die dynamisch-richtungsweisende Metapher „Pfeile der Sehnsucht“, die den transitorischen Elan ins Innere der Menschen verlegt. Im Nachlass findet sich auch die Variante „sie schossen einen Pfeil glühender Liebe in das All.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[49], 123, 19) Die Pfeil-Metapher wird späterhin mehrfach sowohl in analoger, als auch in veränderter Bedeutung aufgegriffen. In Za I Vom Freunde und in Za I Von Kind und Ehe weist Zarathustra Freundschaft und Ehe die Funktion zu, „Pfeil und Sehnsucht zum Übermenschen“ (92, 9 f., vgl. 72, 10 f.) zu sein. Demgegenüber warnt er bereits in Za I Vorrede 5 vor der Erschlaffung des menschlichen Selbsterneuerungsdranges und prognostiziert eine „Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren!“ (19, 15–17) Bezeichnend für die eigentümliche Anschluss- und Verwandlungsfähigkeit der in Za verwendeten Metaphern und ihrer Vieldeutigkeit ist Za III Von alten und neuen Tafeln 30, wo Zarathustra sich und seinen Willen nicht allein in unmittelbarer Abfolge einem Bogen, einem Pfeil und einem Stern vergleicht (269, 12–16), sondern auch von „vernichtenden Sonnen-Pfeilen“ (269, 16) spricht und damit zwei scheinbar getrennte Semantiken der Pfeil-Metapher zusammenführt, nämlich zum einen die raumüberwindende, richtungs- und zukunftsweisende Bedeutung und zum andern die verletzende Kraft, die der Pfeil als Waffe besitzt. 17, 7–9 Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde opfern, dass die Erde einst des Übermenschen werde.] Mit denjenigen, die „erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen“ und die sich damit Zarathustras Liebe nicht erfreuen dürfen, sind Metaphysiker und Gläubige gemeint, die sich religiösen Jenseitshoffnungen hingeben. In Aufzeichnungen aus dem Nachlass bekennen diejenigen, die „ihr Heil hinter den Sternen suchen“ sich selbst dazu, „der Welt absterben“ zu wollen: „sie sagten: laßt uns der Welt absterben, sie suchten ihr Heil hinter den Sternen – sie fanden das Wort nicht vom Übermenschen. Sie verleumdeten ihre Gesundheit, – – –“ (NL1882/83, KSA 10, 4[229], 175, 14–16). Vgl. auch das Notat NL 1882/83, KSA 10, 5[15], 222, 19–23: „Ich liebe den, welcher der Welt nicht absterben will und nicht hinter den Sternen sein Heil sucht: den der das Wort vom

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Übermenschen verstanden hat. / Ich liebe den, dessen Seele tief ist auch in der Verwundung und der an einem kleinen Erlebnisse zu Grunde gehen kann.“ In den Entwürfen ist zu verfolgen, wie angestrengt N. an den Metaphern arbeitet, die große Bedeutungsveränderungen erfahren. Dabei wird der Mensch in einer getilgten Formulierung als „Vater des Übermenschen“ bezeichnet, was darauf hinzudeuten scheint, dass er zwar Erzeuger des Übermenschen, aber selbst doch keiner zu sein vermag: „Ich liebe den, welcher der Welt ˹Erde˺ nicht absterben will und sein Heil ˹Gott˺ nicht hinter den Sternen sucht: die Welt soll ˹sondern sich ˹der Erde˺ opfert daß die Erde einst˺ des Übermenschen Erde werden und der Mensch der Vater des Übermenschen˹.˺“ (Z I 2,44; KGW VI 4, 23) 17, 10–12 Ich liebe Den, welcher lebt, damit er erkenne, und welcher erkennen will, damit einst der Übermensch lebe. Und so will er seinen Untergang.] Es lässt sich hier eine gewisse Analogie aufweisen zum Gedanken vom Leben als „Experiment des Erkennenden“, wie er in mehreren Abschnitten von FW und insbesondere in FW 324 entworfen ist, wo der Sprecher in dieser Vorstellung geradezu schwelgt: „Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerther und geheimnissvoller, – von jenem Tage an, wo der grosse Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe – und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängniss, nicht eine Betrügerei! – Und die Erkenntniss selber: mag sie für Andere etwas Anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein Müssiggang, – für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben. ,D a s L e b e n e i n M i t t e l d e r E r k e n n t n i s s‘ – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar f r ö h l i c h l e b e n u n d f r ö h l i c h l a c h e n! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde?“ (KSA 3, 552, 23–553, 9) Im Gegensatz dazu ist das Experiment des Lebens in den Augen Zarathustras allerdings kein offenes, sondern eines, das ausgerichtet ist auf das Resultat des Übermenschen. Das unterstreicht auch das folgende Notat: „Ich lebe, damit ich erkenne: ich will erkennen, damit der Übermensch lebe. / Wir experimentiren für ihn!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[224], 174, 4–6) 17, 13–15 Ich liebe Den, welcher arbeitet und erfindet, dass er dem Übermenschen das Haus baue und zu ihm Erde, Thier und Pflanze vorbereite: denn so will er seinen Untergang.] Zur Herrichtung der Erde als Heimstätte des Übermenschen vgl. folgende Notate: „Wir müssen nicht nur die Erde, sondern auch Thiere und Pflanzen für den Übermenschen bereit machen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]138, 202, 17 f.; ähnlich NL 1882/83, KSA 10, 4[78], 136, 17 f.) Vgl. auch: „Ich liebe den, der ˹da˺ lebt, damit er erkenne und der erkennt〈en〉 ˹will˺, damit einst der Übermensch

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lebe: er will ˹denn zu˺ ihm soll Erde, Thier und Pflanze vorbereitet werden“ (Z I 2,44; KGW VI 4, 23). 17, 16 f. Ich liebe Den, welcher seine Tugend liebt: denn Tugend ist Wille zum Untergang und ein Pfeil der Sehnsucht.] Direkter formuliert ein nachgelassenes Notat: „Ich liebe die Menschen welche ihre Tugend zu Grunde richtet.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[228], 175, 1) 17, 18–23 Ich liebe Den, welcher nicht einen Tropfen Geist für sich zurückbehält, sondern ganz der Geist seiner Tugend sein will: so schreitet er als Geist über die Brücke. / Ich liebe Den, welcher aus seiner Tugend seinen Hang und sein Verhängniss macht: so will er um seiner Tugend willen noch leben und nicht mehr leben.] Der vollständigen und selbstaufopfernden Hingabe an die selbsterwählte Tugend gilt Zarathustras Sympathie, denn er erachtet sie als „Verhängniss“ und Untergang des Menschen. Deutlich kommt das auch in einer Vorstufe zu dieser Partie zum Ausdruck: „Ich liebe den, welcher aus seiner Tugend seine Pflicht und sein Verhängniß macht: er will nur um seiner Tugend willen leben, er will ˹und˺ nicht mehr leben.“ (Z I 2,44; KGW VI 4, 23) 17, 24–26 Ich liebe Den, welcher nicht zu viele Tugenden haben will. Eine Tugend ist mehr Tugend, als zwei, weil sie mehr Knoten ist, an den sich das Verhängniss hängt.] In zwei Nachlassnotaten richtet sich der Sprecher an ein „Ihr“: „Ihr sollt nicht viele Tugenden haben wollen – ihr seid nicht reich genug dazu. Eine Tugend ist schon viel Tugend: damit sie lebe, müßt ihr schon zu Grunde gehen.“ (NL 1882/ 83, KSA 10, 4[223], 174, 1–3) „Ihr sollt nicht zu viele Tugenden haben wollen. Eine Tugend ist schon viel Tugend: und man muß reich genug sein auch nur für Eine Tugend. Damit sie lebe, sollt ihr zu Grunde gehen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[18], 223, 15–17) 17, 27–29 Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt immer und will sich nicht bewahren.] Vgl. Lukas 17, 33: „Wer da suchet seine Seele zu erhalten, der wird sie verlieren; und wer sie verlieren wird, der wird ihr zum Leben helfen.“ (Die Bibel NT 1818, 95) Das als ein Sich-selbst-Verschwenden gefasste Schenken charakterisiert Zarathustra selbst, der sich im Eröffnungskapitel von Za IV als großen Verschwender präsentiert: „Ich verschwende, was mir geschenkt wird, ich Verschwender mit tausend Händen“ (296, 20 f.; dazu NK 4/2, 296, 20–22). Vgl. NL 1882/83, KSA 10, 4[210], 170, 12 f.: „Ich liebe die verschwenderischen Seelen: sie geben nicht zurück und wollen keinen Dank denn sie schenken immer.“ (Ähnlich NL 1882/83, KSA 10, 4[228], 175, 3 f. u. NL 1882/83, KSA 10, 5[7], 220, 19–21.) 17, 30–32 Ich liebe Den, welcher sich schämt, wenn der Würfel zu seinem Glücke fällt und der dann fragt: bin ich denn ein falscher Spieler? – denn er will zu Grunde

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gehen.] Zarathustras Liebe gilt dem, der die glückliche Wendung seiner Existenz ablehnt, weil sie sich nicht eigener Kraft verdankt, sondern lediglich dem Zufall. Ähnlich bekennt in einem nachgelassenen Notat ein „Würfelspieler“ in der IchForm sein Ungenügen daran, dass die eigenen Handlungen nicht der „Freiheit des Wollens“ entspringen: „‚Vor jeder Handlung quält es mich, daß ich nur ein Würfelspieler bin – ich weiß nichts mehr von Freiheit des Wollens. Und nach jeder Handlung quält es mich, daß die Würfel nun zu meinen Gunsten fallen: bin ich denn ein falscher Spieler?‘ – Skrupel eines Erkennenden.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]309, 90, 13–17) Erscheint der Würfelspieler hier vom Zufall fremdbestimmt und daran leidend, dass sein Glück kein selbstbewirktes ist, erhält das Motiv des Würfelspiels in Za III Vor Sonnen-Aufgang gegenläufige Bedeutung. Dort stehen Zufall und Würfelmetapher gerade umgekehrt für einen individuellen Gestaltungsspielraum ein, der die Welt aus den Fängen der „ewige[n] Vernunft-Spinne“ (209, 32) zu befreien verspricht (dazu und zur unterschiedlichen Verwendung der Würfelmetapher in Za vgl. NK 4/2, 209, 34–210, 2). 17, 33–18, 2 Ich liebe Den, welcher goldne Worte seinen Thaten voraus wirft und immer noch mehr hält, als er verspricht: denn er will seinen Untergang.] Vgl. den Brief an Köselitz von Ende August 1881: „Bekennen Sie sich ungescheut zu den h ö c h s t e n Absichten! Menschen wie Sie müssen ihre Worte v o r a n w e r f e n und sie durch ihre Thaten e i n z u h o l e n wissen (selbst ich habe mir bisher erlaubt nach dieser Praxis zu leben)“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 143, S. 122, Z. 37–41). Imperativisch formuliert ein Notat aus dem Nachlass: „Wirf deine Worte deinen Thaten voraus: verpflichte dich selber durch die Scham vor gebrochnen Worten.“ (NL 1882, KSA 10, 1[52], 25, 13 f.; auch als NL 1882, KSA 10, 3[1]15, 55, 17 f.) Statt „denn er will seinen Untergang“ formuliert ein weiteres nachgelassenes Notat „weil er durch Wort und That ˹Werk˺ seinen Untergang will.“ (Z I 2,44; KGW VI 4, 23) 18, 3–5 Ich liebe Den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt und die Vergangenen erlöst: denn er will an den Gegenwärtigen zu Grunde gehen.] Der Gedanke der Erlösung der Vergangenheit rückt in der Rede Za II Von der Erlösung in den Mittelpunkt. Dort wird das Problem der Unverfügbarkeit des Vergangenen durch seine nachträgliche Akzeptanz ‚gelöst‘ und so die Freiheit des individuellen Willens aus der Retrospektive – hypothetisch – für restituiert erklärt: „Die Vergangnen zu erlösen und alles ,Es war‘ umzuschaffen in ein ,So wollte ich es!‘ – das hiesse mir erst Erlösung!“ (179, 26 f.; vgl. NK 179, 26 f.) 18, 6 f. Ich liebe Den, welcher seinen Gott züchtigt, weil er seinen Gott liebt: denn er muss am Zorne seines Gottes zu Grunde gehen.] Eine Vorstufe kombiniert das Motiv des gezüchtigten Gottes mit dem transitorischen Motiv der Brücke: „Ich liebe den, welcher s e i n e n G o t t züchtigt, weil er seinen Gott ˹ihn˺ liebt und aus durch viel Liebe hindurch will und nicht will, daß er ˹sein Gott˺ auf der Brücke

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stehen bleibe und am Zorne seines Gottes untergehen will“ (Z I 2,45; KGW VI 4, 24). Der Ausspruch gründet in der parodistischen Verkehrung des bekannten Bibelspruchs, demzufolge Gott züchtigt, wen er liebt. So heißt es in der Offenbarung 3, 19: „Welche Ich lieb habe, die strafe und züchtige ich. So sey nun fleißig und thue Buße.“ (Die Bibel NT 1818, 293) MA I 108 führt den Spruch „wen Gott lieb hat, den züchtigt er“ als Beispiel dafür an, wie man durch Uminterpretation eines Erlebnisses seine Einstellung dazu verändern kann. Wer leidet, kann dies als eine aus der Liebe Gottes entspringende Züchtigung interpretieren und so das Leiden als besondere Auszeichnung und Zeugnis göttlicher Gunst verstehen: „Wenn uns ein Uebel trifft, so kann man entweder so über dasselbe hinwegkommen, dass man seine Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere Empfindung macht, verändert: also durch ein Umdeuten des Uebels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird. Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf die Aenderung der Empfindung zu wirken, theils durch Aenderung unseres Urtheils über die Erlebnisse (zum Beispiel mit Hülfe des Satzes: ‚wen Gott lieb hat, den züchtigt er‘), theils durch Erweckung einer Lust am Schmerz, an der Emotion überhaupt (woher die Kunst des Tragischen ihren Ausgangspunct nimmt).“ (KSA 2, 107, 5–15) Demgegenüber wird in Za die göttliche Züchtigung zur Züchtigung Gottes verkehrt. So auch in einer Parallelstelle in Za IV Die Erweckung 2, die die biblische Vorstellung von dem in „Knechtsgestalt“ unter den Menschen wandelnden Gott in Schwäche und Unterlegenheit ummünzt: „Er [Gott] trägt unsre Last, er nahm Knechtsgestalt an, er ist geduldsam von Herzen und redet niemals Nein; und wer seinen Gott liebt, der züchtigt ihn.“ (388, 29–389, 2) Das invertierte Bibelzitat „Wer Gott liebt, der züchtigt ihn“ findet sich zweifach auch im Nachlass (NL 1882, KSA 10, 2[28], 48, 7; NL 1882, KSA 10, 3[1]189, 75, 21) und in leicht abgewandelter Form als letzter Vers eines Gedichtentwurfs aus dem Herbst 1884, wobei dort die einfachen Anführungszeichen auf den metaphorischen Charakter der Rede von Gott hinweisen: „Und kurz‚ Freund Yorick! laß die düstre / Philosophie – und daß ich hier / Noch einen Spruch als Medizin / Und Haus-Recept ins Ohr dir flüstre / – m e i n Mittel gegen solchen spleen –: / ‚Wer seinen ‚Gott‘ liebt‚ züchtigt ihn.‘“ (NL 1884, KSA 11, 28[66], 331, 11–16) 18, 8–10 Ich liebe Den, dessen Seele tief ist auch in der Verwundung, und der an einem kleinen Erlebnisse zu Grunde gehen kann: so geht er gerne über die Brücke.] Das zerstörerische Leiden an kleiner Verwundung thematisiert die Rede Za I Von den Fliegen des Marktes: „Aber, du Tiefer, du leidest zu tief auch an kleinen Wunden; und ehe du dich noch geheilt hast, kroch dir der gleiche Giftwurm über die Hand.“ (67, 8–10) Umgekehrt erachtet ein Nachlassnotat die Unfähigkeit, am Kleinen zugrunde zu gehen, als Ausweis von Grobheit: „Ihr seid mir zu grob: ihr

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könnt nicht an kleinen Erlebnissen zu Grunde gehen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[175], 163, 4 f.; identisch NL 1882/83, KSA 10, 5[1]253, 217, 7 f.) 18, 11–13 Ich liebe Den, dessen Seele übervoll ist, so dass er sich selber vergisst, und alle Dinge in ihm sind: so werden alle Dinge sein Untergang.] Statt von Selbstvergessenheit aufgrund einer übervollen Seele spricht eine Vorstufe zunächst noch vom Untergang durch eine zu tiefe und verwundbare Seele: „˹1˺ Ich liebe den, dessen Seele ˹zu˺ tief ist auch in der Verwundung und der an einem kleinen Erlebnisse zu Grunde gehen kann: ˹so˺ er geht ˹er˺ gerne über die Brücke. / ˹2˺ Ich liebe den, dessen Seele zu ˹über˺ voll ist, so daß er sich selber vergißt und alle Dinge in ihm sind: so wird er an seiner Fülle zu Grunde gehn.“ (Z I 2,45; KGW VI 4, 24) 18, 14–16 Ich liebe Den, der freien Geistes und freien Herzens ist: so ist sein Kopf nur das Eingeweide seines Herzens, sein Herz aber treibt ihn zum Untergang.] Zarathustra preist die Überlegenheit des Gefühls über den Verstand. Einer Vorstufe zufolge ist derjenige, der sich eines freien Geistes erfreut (zur Rolle des ‚Freigeists‘ in Za vgl. NK 4/2, 341, 9 f.), nur dann der Liebe wert, wenn diesem zugleich ein freies Herz entspricht: „Ich liebe den, der freien Geistes ist, wenn er auch freien Herzens ist: so daß ihm der ˹sein˺ Kopf nur das ˹ist sein˺ ist ˹nur˺ das Eingeweide seines Herzens, sein Herz aber will seine sucht seine Freiheit im Untergange ˻aber˼ treibt seine Freiheit hin zum Tode.“ (Z I 2,45; KGW VI 4, 24) Die ungewöhnliche Metapher, die den Kopf zum „Eingeweide des Herzens“ degradiert, hat ihren Ursprung in einem Notat aus dem Sommer/Herbst 1882: „,Das Herz gehört zu den Eingeweiden‘ – sagte Napoleon. Die Eingeweide des Kopfes liegen im Herzen.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]130, 69, 1 f.) Wie KGW VI 4, 866 nachweist, bezieht N. sich hier auf eine Passage in Ralph Waldo Emersons Neuen Essays: „Aller Hohn über den Menschen hat etwas Bitteres an sich und raubt uns die Thathkraft. Wenn Bonaparte darauf besteht, das Herz gehöre zu den Eingeweiden; es sei die Magengrube, welche die Welt in Bewegung setze, sind wir ihm für diese anmuthige Belehrung dankbar? Unser Abscheu ist nichts anderes als der Protest der menschlichen Natur gegen eine Lüge.“ (Emerson 1876, 305; N.s Anstreichung.) N. greift das Bild vom Herz als Eingeweide auf und spinnt es in einer Reihe von Notaten eigenwillig fort, indem er den Kopf zum Eingeweide und Verdauungsorgan deklariert und ihm damit einen sekundären Charakter zuschreibt: „Ich liebe die freien Geister wenn sie auch freie Herzen sind. Mir ist der Kopf wie das Eingeweide des Herzens. Was ein Herz annimmt, das muß der Kopf verdauen und zu Gedanken machen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[104], 145, 14– 17) „Ich liebe die freien Geister, wenn sie auch freie Herzen sind. Mir ist der Kopf wie der Magen des Herzens – aber man soll einen guten Magen haben. Was das Herz annimmt, das muß der Kopf verdauen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]166, 205, 25–206, 2)

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18, 17–22 Ich liebe alle Die, welche wie schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen, dass der Blitz kommt, und gehn als Verkündiger zu Grunde. / Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Übermensch. –] Bereits in Za I Vorrede 3 vergleicht Zarathustra den Übermenschen mit einem Blitz (siehe NK 16, 13–16), doch verschiebt er hier in bezeichnender Weise den Blickpunkt auf diejenigen Menschen, von denen er sagt, dass sie wie die Regentropfen einer Gewitterwolke den Übermenschen-Blitz zwar ankündigen, selber jedoch „zu Grunde“ gehen. Ähnlich formuliert eine Vorstufe: „einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über dem Menschen hängt: sie kommen eine kleine Weile vor dem Blitze und gehen als Verkündiger zu Grunde“ (Z I 2,45; KGW VI 4, 24). In einer weiteren nachgelassenen Notiz ist von der Vergänglichkeit der Tropfen noch nicht die Rede: „Ich liebe alle diese schweren Tropfen, wie sie einzeln aus der dunklen Wolke niederfallen, die den Blitz in sich birgt: dieser Blitz heißt der Übermensch.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[116], 148, 18–20) In Za I Vorrede 7 ist das ‚Metaphernetz‘ noch erweitert, indem dort die „dunkle Wolke“, aus der der Übermensch-Blitz hervortreten soll, zur „dunklen Wolke Mensch“ (23, 6) erklärt wird. Variierend aufgegriffen wird die Metapher in Za III Von alten und neuen Tafeln 30, wo Zarathustra das Bild der „blitzschwangre[n] Wolke“ auf die eigene, vermeintlich auf die Erfüllung zusteuernde prophetische Existenz bezieht: „Dass ich einst bereit und reif sei im grossen Mittage: bereit und reif gleich glühendem Erze, blitzschwangrer Wolke und schwellendem Milch-Euter“ (269, 9–11; zum Motiv der Schwangerschaft vgl. NK 84, 22–85, 2 u. NK 111, 4–6).

5. Auch dieser Abschnitt beginnt damit, dass Zarathustra sich mit der Wirkung seiner Rede auseinandersetzt. Er gesteht sich ein, dass er gescheitert ist in dem Bemühen, den Menschen ihr transitorisches Potenzial bewusst zu machen, und wählt nun eine Redestrategie, die statt auf liebevolle Anerkennung auf Abschreckung setzt. Er appelliert an den Stolz seiner Zuhörer, indem er ihnen die negative Zukunftsvision eines letzten und „verächtlichsten Menschen“ (19, 22 f.) vor Augen stellt, eines Menschen, der nicht zur Erneuerung, nicht zum Entwurf eines zukunftsgerichteten Menschseins fähig ist und dem überhaupt jegliche gestaltende Kraft abgeht. Damit kontrastiert Za I Vorrede 5 die Utopie des Übermenschen, die auf eine Öffnung des Horizonts der Menschheitsgeschichte zielt, mit dem dystopischen Gegenbild, das den Bankrott der Menschheitsgeschichte ausmalt. Ein Nachlassnotat erklärt den letzten Menschen ironisch zum Pendant des Übermenschen, nämlich zum nicht mehr entwicklungsfähigen „Überaffe[n]“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[163], 160, 9 f.). Nicht

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in einem offenen, sondern in einem geschlossenen Horizont steht der letzte Mensch, der das Leben kalkulierbar zu machen strebt und damit, wie Hüsch 2016, 68 f. betont, den Gegenentwurf zu N.s Motto des gefährlichen Lebens vorstellt. Zarathustras Rede vom letzten Menschen, in der unüberhörbar seine Aversion gegenüber den utilitaristischen Lebensentwürfen von Bentham und Mill mitschwingt (vgl. hierzu NK 19, 30 f.), zeugt von der Abwehr eines Lebensmodells, das Sicherheit und Bequemlichkeit als höchste Werte versteht. In allem das Mittelmaß präferierend verkörpert der sich behaglich in seinem Leben einrichtende letzte Mensch den vollendeten Herdenmenschen, einen „kollektivistisch-konformistischer Menschentyp“ (Winkler 2021). Sprachlich wird dies dadurch signalisiert, dass Zarathustra vom letzten Menschen auch im Plural „die letzten Menschen“ (19, 30 f.; 20, 20 f.) spricht, während er den Übermenschen ausschließlich im Singular aufruft. In den Augen Zarathustras stehen die letzten Menschen für die Extremform menschlicher Fehlentwicklung ein, für das „Verächtlichste[.]“ (19, 6), das überhaupt vorstellbar ist. Sie gelten ihm als eine limitierte Form des Menschseins, die sich ihres Entwicklungspotentials entledigt hat und nichts mehr zu schaffen vermag, das über sie hinausweist. Somit bilden sie den Schlussstein in einer als Niedergang verstandenen Geschichte der Menschheit. Mit ihnen gerät die Spezies Mensch in eine Sackgasse, die keine Möglichkeit mehr bietet zur Fort- oder Höherentwicklung, die keine Wende zum Besseren mehr zulässt. Die letzten Menschen sind in der Geschichte des Menschen daher End- und Tiefpunkt zugleich. In EH Warum ich ein Schicksal bin 4 bestimmt N. sie explizit als Vernichter der Zukunft. Auf Za zurückblickend konstatiert er, Zarathustra empfinde die letzten Menschen „als d i e s c h ä d l i c h s t e A r t M e n s c h, weil sie ebenso auf Kosten der Wa h r h e i t als auf Kosten der Z u k u n f t ihre Existenz durchsetzen“ (KSA 6, 369, 14–16). Der Typus ‚letzter Mensch‘ ist ein unfruchtbarer, steriler Mensch, dem alles abgeht, was den Menschen auszeichnet, der den Weg hin zum Übermenschen eingeschlagen hat: Er ist nicht mehr zukunftsfähig, vermag nicht mehr den „Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus“ (19, 15 f.) zu werfen und kann keinen „tanzenden Stern gebären“ (19, 19). Das bedeutet aber nicht, dass der letzte Mensch nicht fortpflanzungsfähig wäre, im Gegenteil nennt Zarathustra sein „Geschlecht […] unaustilgbar“ (19, 28). Eine Vorstufe spricht ihm ausdrücklich Zeugungsfähigkeit zu, erklärt seine Nachkommen jedoch zu Produkten des blinden Zufalls: „Man zeugt noch Kinder, aber nur noch aus Versehen: und man macht viele Versehen“ (N V 8,18; KGW VI 4, 25). Angelegt ist eine Differenzierung zwischen der zufälligen Reproduktion des Menschen und einer zielgerichteten Hervorbringung bzw. Zeugung bereits in früheren Texten N.s seit dem Anfang der 1880er Jahre, die sich gegen den „Z u f a l l d e r E h e n“ (so der Titel von M 150, KSA 3, 142, 5) und für eugenische Praktiken in der menschlichen Fortpflanzung aussprechen (vgl. bes. NL 1880, KSA 9, 5[38], 189 f. u. NL 1880, KSA 9, 11[179], 508 f.). Auch

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Zarathustra schließt punktuell an evolutionsbiologische (vgl. NK 14, 22–24), sozialdarwinistische und eugenische Denkmuster an, ohne dass diese allerdings in einer biologischen Züchtungsvorstellung gipfeln würden. Zwar hat man insbesondere Za I Von Kind und Ehe immer wieder für eugenische Argumentationen vereinnahmt, doch auch dort verbleibt die Darstellung im Metaphorischen und die Zeugungsvorstellung wird nicht konsequent biologisch durchgespielt (vgl. dazu ÜK Za I Von Kind und Ehe u. NK 90, 16 f.). N.s letzter Mensch ist also keineswegs ein aussterbender Mensch, kein letztes Exemplar der menschlichen Spezies, die durch eine kosmische oder biologische Katastrophe dahingerafft würde, vielmehr scheint für ihn zu gelten, was Alexandre Kojève 1946 in einer vielbeachteten Fußnote als Regression des Menschen beschrieb: „Der Mensch bleibt als Tier am Leben […]. Was verschwindet, ist der Mensch im eigentlichen Sinne“ (Kojève 2007, 41). In Rezeption und Forschung herrscht weitgehend Konsens darüber, dass Zarathustras letzter Mensch, der sich mit den Gegebenheiten arrangiert, der jeden Gestaltungswillen und alles Autonomiestreben vermissen lässt, einen Gegenentwurf zum Übermenschen vorstellt (zur Ideen- Motiv- und Wirkungsgeschichte des letzten Menschen siehe NK 19, 7). Unübersehbar ist jedoch, dass die beiden Konzepte, Übermensch und letzter Mensch, werkintern in einem asymmetrischen Verhältnis zueinanderstehen, da ihnen ein sehr verschiedener Status zukommt. Während der Übermensch als Leitidee fungiert, die immer wieder aufgegriffen wird und der insbesondere in Za I eine dominante Rolle zukommt, konzentrieren sich die Aussagen zum letzten Menschen ausschließlich auf Za I Vorrede 5. Überdies ist höchst umstritten, wie die Gegenstellung von Übermensch und letztem Menschen genau zu verstehen ist. Bildet der Übermensch die Alternative zu einem als existent angenommenen letzten Menschen, soll er gar, wie dies bereits Alfred Baeumler formulierte, „die Welt vom ‚letzten Menschen‘ […] befreien“ (Baeumler 1931, 173)? Oder ist der letzte Mensch, wie Poppenberg 2015, 232 meint, „eine Gestalt des ‚Übergangs‘ aus dem ‚Untergang‘“, die dann den Neuanfang in Form des Übermenschen ermöglicht? Oder rückt Zarathustra mit seinen Visionen vom Übermenschen und letzten Menschen zwei „konträre Alternativen“ der menschlichen Entwicklung ins Zentrum, „zwischen denen sich der Mensch entscheiden muß“ (Joisten 1994, 191)? Dieser Deutung schließt sich Schmaus 2016, 211 an und gibt ihr dennoch einen anderen Akzent, indem er vorschlägt, „die Welten des letzten Menschen und des Übermenschen als zwei mögliche Zukunftsszenarien des Transhumanismus“ zu interpretieren, „nämlich als misslungene und als gelungene Variante“ einer Überschreitung des Menschen. N. selbst stellt in einem während der Arbeit an Za II (vgl. Haase 1984, 242) entstandenen Notat den Übermenschen und den letzten Menschen als Resultate gegenläufiger „Bewegungen“ vor und spricht dabei ausdrücklich von ihrer zeitgleichen Koexistenz. Den Übermenschen bezeichnet er dort als eine von ihm

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selbst initiierte „Bewegung“, die eine programmatische, gegen die demokratischegalisierenden Tendenzen der Moderne gerichtete „Verschärfung aller Gegensätze“ bezwecke. Leitend sei die Absicht, Unterschiede in der menschlichen Existenzform scharf zu profilieren, um derart den gesellschaftlich vorherrschenden, auf den letzten Menschen zulaufenden Tendenzen der „Nivellirung“ Bestrebungen entgegenzurichten, die gerade umgekehrt auf „das Schaffen Über-Mächtiger“ zielten: „Die e i n e Bewegung ist unbedingt: die Nivellirung der Menschheit, große Ameisen-Bauten usw. (Dühring zu charakterisiren als außerordentlich ärmlich und typisch-g e r i n g, trotz seinen pathetischen Worten) / Die a n d e r e Bewegung: meine Bewegung: ist umgekehrt die Verschärfung aller Gegensätze und Klüfte, Beseitigung der Gleichheit, das Schaffen Über-Mächtiger. / J e n e erzeugt den letzten Menschen. M e i n e Bewegung den Übermenschen. / Es ist d u r c h a u s nicht das Ziel, die letzteren als die Herren der Ersteren aufzufassen: sondern: es sollen zwei Arten neben einander bestehen – möglichst getrennt; die eine wie d i e e p i k u r i s c h e n G ö t t e r, s i c h u m d i e a n d e r e n i c h t k ü m m e r n d.“ (NL 1883, KSA 10, 7[21], 244, 14–27) Zum Dühring-Bezug vgl. ÜK Za II Von den Taranteln. Ein solches Ziel einer berührungslosen Koexistenz zweier grundverschiedener Typen von Menschen ist Za I Vorrede 5 allerdings nicht zu entnehmen. Im Vordergrund steht hier vielmehr der drängende Aufruf, die noch bestehende Möglichkeit einer Umkehr zu realisieren und eine historische Wende in der Entwicklung des Menschen einzuläuten. Der letzte Mensch erscheint demnach als das entwicklungslogische Resultat des gegenwärtigen Menschen und damit des Menschen, an den Zarathustra seine Rede adressiert und dem er zu vermitteln versucht, dass es gerade noch Zeit ist, um das Ruder herumzureißen: „Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. […] / Noch ist sein Boden dazu reich genug.“ (19, 9–12) Zarathustras prophetische Rede lässt den Übermenschen als rettende Alternative zum letzten Menschen erscheinen. Dass sie jedoch entweder gründlich missverstanden oder aber mit dem zynischen Hohn derjenigen bedacht wird, die sich längst für die Daseinsform des letzten Menschen entschieden haben, das zeigt sich am Ende, wenn das Volk auf dem Marktplatz nicht den Übermenschen, sondern den letzten Menschen von Zarathustra fordert: „mache uns zu diesen letzten Menschen!“ (20, 25 f.) 18, 24–27 Als Zarathustra diese Worte gesprochen hatte, sahe er wieder das Volk an und schwieg. „Da stehen sie“, sprach er zu seinem Herzen, „da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren.] Jesus führt in Matthäus 13, 13 die Gleichnisrede als einen Ausweg an, die Zuhörer trotz ihrer eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit zu erreichen: „Darum rede ich zu ihnen durch Gleichnisse. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; denn sie verstehen es nicht.“ (Die Bibel NT 1818, 18) Zarathustra bleibt trotz aller rhetorischer Finessen, trotz der herangezogenen Bilder

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und Gleichnisse ohne Erfolg bei seinen Zuhörern. Mit dem Eingeständnis des Unverstandenseins resümiert er sein Scheitern als Lehrer des Übermenschen. Er führt sein Kommunikationsproblem auf eine grundsätzliche Inkompatibilität zwischen sich als dem Sender und den Zuhörern auf dem Marktplatz als den Empfängern seiner Rede zurück (zum Problem des Verstehens vgl. Heffernan 2008). Diese Verständnisbarriere scheint bis zum Ende von Za IV unüberwindbar; noch dort beklagt er sich über die höheren Menschen: „aber sie verstehen nicht, was die Zeichen meines Morgens sind […]. Das Ohr, das nach m i r horcht, – das g e h o r c h e n d e Ohr fehlt in ihren Gliedern.‘“ (Za IV Das Zeichen, 405, 15–20) 18, 28 f. Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen hören?] Der Ausspruch erinnert an Arnobius’ Attacke gegen das Gehör derjenigen, die an der göttlichen Sendung Christi zweifeln. N. hat sich die Stelle in seiner Ausgabe von Arnobius’ Sieben Büchern wider die Heiden markiert: „Christus, freilich wider euern Willen Gott, ich sage Gott Christus; denn oftmals muß dieß gesagt werden, damit der Ungläubigen Gehör berste und platze; hat auf des obersten Gottes Geheiß unter der Gestalt des Menschen gesprochen.“ (Arnobius 1842, 289; N.s Unterstreichung.) Zarathustras paradoxe und offenkundig aus Verzweiflung geborene Idee, die Ohren als Wahrnehmungskanal außer Kraft zu setzen, um statt ihrer den Augen auditive Fähigkeiten anzutrainieren, lässt sich auch als Reaktion darauf verstehen, dass das sensationslüsterne Publikum ganz auf visuelle Rezeption, nämlich auf die Darbietung der Seiltänzer, eingestellt ist (vgl. 16, 18 f.). Die umgekehrte synästhetische Vertauschung begegnet in einer Jahre früher entstandenen Notiz, die von mit Augen ausgestatteten Ohren spricht: „Der dramatische Musiker muß nicht nur Ohren, sondern auch Augen in den Ohren haben.“ (NL 1876, KSA 8, 19[20], 335, 15 f.) Ein Notat aus der Za-Zeit weiß dann von hörenden Augen zu berichten, die den Ohren überlegen seien: „Unsere Augen hören feiner als unsere Ohren: wir verstehen und schmecken lesend besser als hörend – bei Büchern wie bei Musik.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]415, 103, 20–22) Eine Vorstufe lautet: „Denn die Menschen hören schwer: und wer klug ist, zerschlägt ihnen die Ohren, daß sie anfangen mit den Augen zu hören.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[201], 167, 16–18) 18, 29 f. Muss man rasseln gleich Pauken und Busspredigern? Oder glauben sie nur dem Stammelnden?] Die stammelnde Ausdrucksweise wird häufig dem Propheten bzw. dem mystisch Ergriffenen zugeschrieben, der im Zustand der Ekstase der Sprache nicht mehr mächtig ist. Insbesondere Jesaja, der verkündet, Gott werde „mit spöttischen Lippen und mit einer andern Zunge reden zu diesem Volk“ (Jesaja 28, 11; Die Bibel AT 1818, 690), galt selbst als stammelnder Prophet, von dessen Ausdrucksvermögen überliefert wird: „Ob der Gewalt des überschwenglichen Gefühls versagte die Sprache wortlos; und die Zunge vermochte höchstens zu stammeln.“ (Hitzig 1833, XXVI) Von den Vorzügen des Stammelns ist in Za noch an

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anderer Stelle die Rede, so heißt es in Za I Von den Freuden- und Leidenschaften: „Deine Tugend sei zu hoch für die Vertraulichkeit der Namen: und musst du von ihr reden, so schäme dich nicht, von ihr zu stammeln.“ (42, 11–13) Hingegen beklagt Zarathustra in Za III Von alten und neuen Tafeln 2 die mangelnde Unmittelbarkeit seiner Rede: „– dass ich nämlich in Gleichnissen rede und gleich Dichtern hinke und stammle: und wahrlich, ich schäme mich, dass ich noch Dichter sein muss!“ (247, 29–31) – Nachgelassene Notate variieren die Überlegungen zum öffentlichkeitswirksamen Sprechen: „Bin ich gemacht, Bußprediger zu sein? Bin ich gemacht zu rasseln gleich einem Priester und einer Pauke?“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[207], 169, 18 f.) „Bin ich gemacht, Trompeter ˹die Stimme˺ des Marktes Lehrer der Verachtung˺ zu sein und zu ˹? Soll ich˺ rasseln gleich Pauken und Priestern Bußpredigern?“ (N V 8,14; KGW VI 4, 25 f.) „˹Soll ich stammeln? Man glaubt nur dem Stammelnden˺“ (N V 8,15; KGW VI 4, 25). „Er hat gelernt, sich auszudrücken – aber man glaubt ihm seitdem nicht mehr. Man glaubt nur den Stammelnden.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]136, 69, 18 f.) 19, 1–3 Sie haben Etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen sie’s, es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten.] Ihre „Bildung“, so will Zarathustra erkennen, macht seine Zuhörer gegen seine Botschaft taub. Denn ihr Stolz hindere sie, ihr Dasein in Frage zu stellen. Das Wort „Bildung“, das in Za insgesamt vier Erwähnungen findet, ist durchgehend negativ belegt. Za II Vom Lande der Bildung kritisiert das Zusammengesuchte und Oberflächliche der Bildung als Identität untergrabend. Schon zuvor wird Bildung in Za I Vom neuen Götzen polemisch als eine Plünderung der Schaffenden verstanden: „Sie stehlen sich die Werke der Erfinder und die Schätze der Weisen: Bildung nennen sie ihren Diebstahl“ (62, 33–63, 2). Die Bezugnahme auf die Ziegenhirten lässt an die berühmte Rede Don Quijotes denken, der zu den verwunderten und verständnislosen Ziegenhirten über das Siglo de Oro spricht, was der Erzähler bei Cervantes lakonisch als eine „lange Rede“ verbucht, „die er wohl hätte unterlassen können“ (Cervantes Saavedra 1860, 64). Zarathustra freilich identifiziert sich nur wenig später mit den Ziegenhirten und sieht in seiner gerade nicht an der Sprache der Gebildeten, sondern an der Natur orientierten Redeweise den Grund dafür, dass er nicht verstanden wird: „Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich den Ziegenhirten.“ (20, 31 f.) Das wird in Za IV Gespräch mit den Königen erneut aufgegriffen, wenn sich die beiden Könige dort über das seltsame Gebaren Zarathustras verständigen, der sich vor ihnen versteckt, aber trotzdem „halblaut“ redet, was einen der Könige zu der Vermutung veranlasst: „‚Das mag wohl ein Ziegenhirt sein. Oder ein Einsiedler, der zu lange unter Felsen und Bäumen lebte. Gar keine Gesellschaft nämlich verdirbt auch die guten Sitten.‘“ (304, 19–21) Dem hält der andere König entgegen: „Lieber, wahrlich, unter Einsiedlern

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und Ziegenhirten als mit unserm vergoldeten falschen überschminkten Pöbel leben, – ob er sich schon ,gute Gesellschaft‘ heisst, / – ob er sich schon ,Adel heisst.“ (305, 1–4) Auf das Unverständnis der Zuhörer zielen auch zwei Nachlassnotate, in denen es Zarathustra scheint, als erwarte man von ihm, dass er den Übermenschen aus dem Hut zaubere: „Sie gaffen mich an und fragen nach dem Übermenschen: habe ich ihn wohl versteckt? Genug des Volkes! / Ihr habt etwas, das nennt ihr Bildung: ihr habt das voraus vor den Ziegenhirten.“ (N V 8,14; KGW VI 4, 25); „Bei sich aber lachte Z. und sprach zu sich Da stehen sie und gaffen mich an: habe ich ihn wohl versteckt, den Übermenschen? Hier sind meine Taschen Seht meine leeren Taschen“ (N V 8,14; KGW VI 4, 25). 19, 4–7 Drum hören sie ungern von sich das Wort „Verachtung“. So will ich denn zu ihrem Stolze reden. / So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen: das aber ist d e r l e t z t e M e n s c h.“] Die erst auf dem Korrekturbogen vorgenommene Unterstreichung (im Druck als Sperrung) macht den letzten Menschen ebenso wie den Übermenschen schon im Druckbild als einen Zentralbegriff der Vorrede kenntlich. Während Zarathustra den Übermenschen zuvor zum anzustrebenden Ideal ausgerufen hat, malt er nun mit dem letzten Menschen die schlimmstmögliche Verfallsstufe der Menschheitsgeschichte aus. Damit ändert er, wie er selbst reflektiert, erneut seine Redestrategie. In Za I Vorrede 4 war er erklärtermaßen bestrebt, das hervorzuheben, „[w]as gross ist am Menschen“ (16, 30). Weil aber dieses ‚Große‘ noch gar nicht existent, sondern zukünftig erst einzuholen wäre, forderte er auf zur Negation des bestehenden Menschen, um so die entscheidende Wende im Dasein des Menschen einzuläuten (vgl. NK 15, 24–26). Jetzt aber meint er zu erkennen, dass dies nicht verfangen könne, weil die Menschen an etwas festhielten, auf das sie stolz seien und das sie daran hindere, sich auf die radikale Selbstverachtung einzulassen. Entsprechend ändert er seine Taktik, indem er seine Zuhörer nun dadurch anzustacheln sucht, dass er das abschreckende Bild eines verachtenswerten Menschen vor sie hinstellt. Derart will er den Antrieb zur Selbstüberwindung nicht aus der Selbstverachtung herleiten, sondern indem er ihnen eine Art negativen Selbstentwurf, eine unbedingt zu vermeidende Entwicklungsmöglichkeit vor Augen rückt. So ist es zu verstehen, wenn er sagt, dass er „das Wort ‚Verachtung‘“ nicht länger auf sie selbst beziehen möchte, sondern lieber ihnen von dem zu vermeidenden „Verächtlichsten“ sprechen will. Ein Nachlassnotat unterscheidet nachdrücklich zwischen den Auserwählten, die vor der Heraufkunft der „großen Verachtung“ stünden, und der zum letzten Menschen bestimmten Menge: „Die Stunde der großen Verachtung erwarten: das ist die A u s z e i c h n u n g. Die Anderen dienen nur zur Bildung des l e t z t e n M e n s c h e n.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]271, 219, 22–24) Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Entwurf zu dem Gespräch mit dem Einsiedler, in dem Zarathustra seine Botschaft vom Übermenschen und letzten Menschen als „neue Lie-

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be“ und „neue Verachtung“ ankündigt und der Einsiedler ihm die Erfolglosigkeit dieses Unterfangens voraussagt: „das was du ihnen bringst, sie nehmen es nicht an. Laß sie erst betteln um ein Almosen!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[167], 161, 8 f.) 19, 7 d e r l e t z t e M e n s c h.] Ein etwa zeitgleich entstandenes Notat stellt Übermenschen und letzten Menschen als Gegensatzpaar vor: „Der Gegensatz des Ü b e r m e n s c h e n ist der l e t z t e M e n s c h: ich schuf ihn zugleich mit jenem.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[171], 162, 1 f.) Anders als die Idee des Übermenschen bleibt der Gedanke des letzten Menschen jedoch auf Za I Vorrede 5 beschränkt. So gibt es im gesamten Za nur eine einzige weitere Erwähnung des letzten Menschen, nämlich in Za III Von alten und neuen Tafeln 27, die als Selbstzitat ausgewiesen ist und in offenkundiger Abhängigkeit von der Vorrede steht. Dort fragt Zarathustra rückblickend: „Oh meine Brüder, verstandet ihr auch diess Wort? Und was ich einst sagte vom ,letzten Menschen‘?“ (267, 2 f.) – Eng lehnt sich später ein Plan zu einem fünften Za an zentrale Gedanken und Begriffe der Vorrede an. Dort wird im Zeichen vom Tod Gottes nochmals die Idee der gefährlichen Mitte als bahnbrechende Entscheidungssituation für die Entwicklung der gesamten Menschheit heraufbeschworen. Und auch dort ist Zarathustra als entscheidende Figur der Zeitenwende konzipiert: „Die Zeit seines Auftretens: die gefährlichste Mitte, wo es / hingehen kann zum ‚letzten Menschen‘.˹,˺ aber auch – / – charakterisirt durch das größte Ereigniß: Gott ist todt. / Nur merken die Menschen noch nichts davon, daß sie nur von / ererbten Werthen zehren. Die allgemeine Nachlässigkeit u. Vergeu=/dung.“ (KGW IX 4, W I 3, 66, 18–28; vgl. NL 1885, KSA 11, 35[74], 541, 27– 542, 3) Innerhalb von N.s Werk erfährt die Figur des letzten Menschen signifikante Bedeutungsverschiebungen. Erstmalige Erwähnung findet der letzte Mensch in einem Werkplan von 1872/73 unter dem Titel „Oedipus. / Reden / des letzten Philosophen / mit sich selbst. // Ein Fragment / aus der Geschichte der Nachwelt.“ (NL 1872, KSA 7, 19[131], 460, 12–17) Darin meldet sich ein Ich zu Wort, das sich als letzten Philosophen und letzten Menschen präsentiert, der adressatenlos zu sich selbst spricht, als ob er „Zwei wäre“ (ebd., 461, 5). Im Zentrum dieses Entwurfs steht die Einsamkeit des letzten Menschen, der sich durch seine Rede selbst verdoppelt und zu seinem eigenen Zuhörer wird: „Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme! Es stirbt noch Einer außer mir, dem letzten Menschen, in diesem Weltall: der letzte Seufzer, d e i n Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus.“ (Ebd., 461, 11–15) MA II VM 177 rückt den letzten Menschen als Vollendungsfigur ins Zentrum und fragt nach seiner künstlerischen Darstellbarkeit: „Der Darstellung des l e t z t e n Menschen, d a s h e i s s t d e s e i n f a c h s t e n u n d z u g l e i c h v o l l s t e n, war bis jetzt kein Künstler gewachsen; vielleicht aber haben die Griechen, i m I d e a l d e r A t h e n e, am weitesten von allen bisherigen Menschen den Blick geworfen.“

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(KSA 2, 456, 16–21) Andere Aufzeichnungen kreisen um den Zusammenhang zwischen dem Untergang des Menschen und dem der Erde. Ein Notat von 1873 imaginiert den „letzten Menschen auf der ausgedörrten Wüste des morschen Erdballs sitzen –“ (NL 1873, KSA 7, 29[181], 706, 10 f.). Und MA II WS 14 beschäftigt sich mit der Anthropozentrik menschlicher Untergangsphantasien, die reflexhaft den Untergang der ganzen Erde einbeziehen: „Vielleicht bildet sich die Ameise im Walde ebenso stark ein, dass sie Ziel und Absicht der Existenz des Waldes ist, wie wir diess thun, wenn wir an den Untergang der Menschheit in unserer Phantasie fast unwillkürlich den Erduntergang anknüpfen: ja wir sind noch bescheiden, wenn wir dabei stehen bleiben und zur Leichenfeier des letzten Menschen nicht eine allgemeine Welt- und Götterdämmerung veranstalten. Der unbefangenste Astronom selber kann die Erde ohne Leben kaum anders empfinden, als wie den leuchtenden und schwebenden Grabhügel der Menschheit.“ (KSA 2, 549, 17–26) Als direkter gedanklicher Vorklang von Zarathustras Rede über den letzten Menschen erweist sich M 49 „D a s n e u e G r u n d g e f ü h l : u n s e r e e n d g ü l t i g e V e r g ä n g l i c h k e i t“ (vgl. dazu NK 3/1, S. 142 f.). Dort fragt der Sprecher nach den Selbstbildern und Selbstentwürfen, die dem Menschen nach dem Transzendenzverlust bleiben, um sich Orientierung und Ansporn zu geben. Er gelangt zu einem desillusionierenden Fazit: Denn nicht allein scheide für den Menschen die Orientierung am Göttlichen aus – an die Stelle der Gottebenbildlichkeit sei die Erkenntnis der menschlichen Affenähnlichkeit getreten –, sondern auch mit der Umorientierung auf den Menschen und seine selbstverantwortete Entwicklung sei es „Nichts“: „Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche A b k u n f t hinzeigte: diess ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thür steht der Affe, nebst anderem greulichen Gethier, und fletscht verständnissvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung: der Weg, w o h i n die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es Nichts! Am Ende dieses Weges steht die Graburne des l e t z t e n Menschen und Todtengräbers (mit der Aufschrift ‚nihil humani a me alienum puto‘).“ (KSA 3, 53, 27–54, 11) Zarathustra verficht mit seiner Übermenschenlehre das offenkundige Gegenprogramm zu dieser fatalistischen Einschätzung. Er will die Menschheit vor der „Graburne des l e t z t e n Menschen“ bewahren, will der menschlichen Spezies mit der Idee des Übermenschen eine Ausnahmestellung sichern – und erweist sich damit von eben solchen „Sentimentalitäten“ anhängig, zu deren Verabschiedung der Sprecher in M 49 (ebd., 54, 20) nachdrücklich auffordert. Als Projektionsfläche für Visionen der Endlichkeit der Menschheitsgeschichte begegnet die Figur des letzten Menschen in der Literatur schon lange vor N.; Poppenberg 2015, 209 zählt sie gar „zum ältesten Bestand der literarischen Über-

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lieferung“. Besonders eindrücklich wird die eschatologische Dimension des letzten Menschen in Jean Pauls Erzählung Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht (1801) in Szene gesetzt, wo ein letzter Mensch als zuletzt verbliebener Repräsentant der Menschheit von erhobenem Standpunkt aus auf ein globales apokalyptisch-endzeitliches Geschehen blickt: „Es giebt einmal einen letzten Menschen – er wird auf einem Berg unter dem Aequator stehen und herabschauen auf die Wasser, welche die weite Erde überziehen – festes Eis glänzet an den Polen herauf – der Mond und die Sonne hängen ausgebreitet und tief und nur blutig über der kleinen Erde, wie zwei trübe feindliche Augen oder Kometen – das aufgethürmte Gewölke strömet eilig durch den Himmel und stürzet sich ins Meer und fährt wieder empor, und nur der Blitz schwebt mit glühenden Flügeln zwischen Himmel und Meer und scheidet sie – Schau’ auf zum Himmel, letzter Mensch! /57/ Auf deiner Erde ist schon alles vergangen – deine großen Ströme ruhen aufgelöset im Meere.“ (Jean Paul 1826–1838, 39/40, 56 f.) In der Ideen- und Motivgeschichte des letzten Menschen (vgl. hierzu Schneider 2012 u. Poppenberg 2015) kommt Zarathustras Schreckensvision insofern eine Sonderrolle zu, als sie nicht die Vernichtung und das Aussterben der Menschheit ausmalt. Das unterscheidet sie von der apokalyptischen Endzeitvision Jean-Baptiste Cousin de Grainvilles, der mit dem Roman Le Dernier Homme (1805) dem Mythos vom letzten Menschen seine für die Moderne wegweisende narrative Gestalt gegeben hat. Bei Grainville spielt die Handlung zwischen Ruinen auf einer verödeten Erde, in der sich die Menschheit nicht mehr fortzupflanzen vermag. Ebenso fern steht Zarathustras Vision dem apokalyptischen Zukunftsszenario in Mary Shelleys The Last Man (1826), dem schriftlichen Vermächtnis eines Mannes, der sich im Jahr 2100 auf einer zerstörten Erde vorfindet. Und konträr zu N.s Za gestalten auch die dystopischen Entwürfe in der Literatur nach 1945 die Figur des letzten Menschen, etwa Marlen Haushofers Die Wand (1963), Thomas Glavinic’ Die Arbeit der Nacht (2006) oder Cormac McCarthy’s The Road (2006). Während diesen Romanen gemeinsam ist, dass ihre Protagonist*innen sich plötzlich in einer menschenleeren Welt vorfinden, kündet Zarathustra vom unaufhaltsamen Fortleben einer parasitär den geschrumpften Erdball überziehenden, nicht mehr entwicklungs- und erneuerungsfähigen Menschheit. Die Idee des letzten Menschen, die N., ähnlich wie die des Übermenschen, aufgreift und umdeutet, erlebte im Anschluss an ihn starke Konjunktur. Der letzte Mensch avancierte zu einer kulturdiagnostischen Schlüsselfigur, die mit sehr verschiedenen sozialen und politischen Deutungspotenzialen ausgestattet wurde. Man hat den letzten Menschen als einen Reflex verstanden auf den nach Freiheit, Gleichheit und Glück verlangenden Menschen der demokratischen Moderne, ihn auf den sozialistischen Menschen sowie auf den wissenschafts- und technikgläubigen Menschen bezogen. Selbst ein antisemitisches Zerrbild wollte man in ihm

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sehen; „in allen jüdischen Lebensäußerungen“ glaube man, so der Schriftsteller Bertold Viertel, „das Ressentiment des letzten Menschen zu erkennen und […] verabscheuen“ zu müssen (Viertel 1921, 90). Philipp von Wussow sieht den letzten Menschen in seiner kulturkritischen Bedeutung gar dem Übermenschen überlegen; er vertritt die These, dass N.s letzter Mensch „die eigentlich wirkmächtige Figur“ (Wussow 2015, 222) abgebe. Es handele sich „um eine unscharfe metaphorische Figur, in der alles Schlechte und Verächtliche des modernen Menschen gesammelt ist“ und auf die sich daher „das Unbehagen an der modernen Kultur“ habe konzentrieren können (ebd., 223). Auch wenn von Wussow den Bogen überspannt und die Figur des letzten Menschen gegenüber der doch sehr viel wirkmächtigeren des Übermenschen zu sehr aufwertet, macht er zu Recht darauf aufmerksam, dass sich an der Denkfigur des letzten Menschen das kulturkritische Panorama des 20. Jahrhunderts erschließen lässt. Referenzen auf den letzten Menschen finden sich bei Max Weber und Martin Heidegger, in der Debatte zwischen Leo Strauss und Alexandre Kojève sowie in Francis Fukuyamas Das Ende der Geschichte (The End of History and the Last Man). Fukuyama überträgt N.s Idee des letzten Menschen aktualisierend auf die historische Situation nach dem Ende des Kalten Krieges; für ihn ist der letzte Mensch ein Resultat des westlichen demokratischen Liberalismus, der in den ideologischen Kämpfen des 20. Jahrhunderts den Sieg davongetragen und Kommunismus und Faschismus verdrängt hat – der Repräsentant einer alles nivellierenden Mittelstandsgesellschaft, ein „Mensch[.] ohne Rückgrat“ (Fukuyama 1992, 399). Trotz (oder wegen) seiner semantischen Unterdeterminiertheit hat der von Zarathustra ausgerufene letzte Mensch von früh an auch recht konkrete Deutungen erfahren: Knortz 1906, 6 will in ihm den „moralische[n] Bildungsphilister“ erkennen, der in allem das Mittelmaß hält. In Alfred Baeumlers Augen veranschaulicht er „das Ergebnis der zu Ende geführten demokratischen Nivellierung“ (Baeumler 1931, 176) – eine Argumentationslinie, die Ernst Nolte aktualisierend bis in die Gegenwart auszieht, wenn er den letzten Menschen zum kritischen Vorausblick auf die „Realität des ‚Wohlfahrtsstaates‘ oder des ‚realen Sozialismus‘“ (Nolte 2000, 207) erklärt. Generalisierend wird der letzte Mensch als Chiffre herangezogen, um die Fehlentwicklung der modernen europäischen Zivilisation anzuprangern. So befand Theodor Lessing in seinem 1925 erschienenen N.-Buch, der letzte Mensch sei die „Gipfelblüte der Bildungs- und Betriebsmenschheit unsres Abendlandes (ein schlechthin unsterbliches Symbol für alle Nützlichkeits-, Zivilisationsund Glückseligkeitsethik)“ (Lessing 1925, 69 f.). Auch Max Weber greift N.s Bild des letzten Menschen auf und macht es, wie Peukert 1986 und 1989, 29 zeigt, zum „Brennpunkt“ der eigenen pessimistischen Zeitdiagnose, die die rationale wissenschaftliche Weltbeherrschung und die bürokratische Erstarrung des Menschen ins Zentrum stellt. In der Rede über Wissenschaft als Beruf (1917/19) bezieht

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Weber „Nietzsches vernichtende[.] Kritik an jenen ‚letzten Menschen‘, die ‚das Glück erfunden haben‘“, ausdrücklich auf das naive Vertrauen in die „Wissenschaft, das heißt: die auf sie gegründete Technik der Beherrschung des Lebens“, die man „als Weg zum Glück gefeiert“ habe (Weber 1985, 598). In Heideggers Schwarzen Heften findet sich aus der Mitte der 1930er Jahre ein erratisch für sich stehender Satz, der bündig die Diagnose der modernen „Seynsvergessenheit“ liefert: „Der ‚letzte Mensch‘ rast durch Europa.“ (HGA 94, 239) Von da an begegnet der letzte Mensch häufiger bei Heidegger und wird zur Chiffre seines Unbehagens an der modernen Kultur, insbesondere an der Technik und den die öffentliche Meinung beherrschenden Medien. Der Übermensch, so Heidegger in seinen Vorlesungen Was heißt Denken? (1952/53), sei nicht aufzufinden „an den Plätzen der ferngesteuerten öffentlichen Meinung und in den Börsen des Kulturbetriebes“, denn es bediene „überall nur der letzte Mensch die Maschinerie“ (HGA 8, 77). 19, 9–11 Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.] Zarathustra versucht seine Zuhörer auf einen Aufbruch einzuschwören, der eine Wende ihrer Existenz bedeutet. Er schließt damit an eine von Erneuerungserwartung bestimmte Zeiterfahrung an, wie sie um 1800 besonders vorherrschend war. Wörtlich übereinstimmend gibt etwa Goethes Märchen (1795), das die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten beschließt, die Losung aus „Es ist an der Zeit!“ (Goethe 1853–1858, 19, 320), und Novalis schreibt ein Gedicht mit dem Titel Es ist an der Zeit, das die Neugeburt der alten „glückliche[n] Zeit“ (Novalis 1837, 2, 287) heraufbeschwört. In N.s Nachlass hingegen heißt es: „Gott ist todt: und es ist an der Zeit, daß der Übermensch lebt.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[132], 153, 3 f.) Die Gedankenfigur der drängenden, sich der Erfüllung nähernden Zeit, die hier durch das anaphorisch wiederholte „Es ist an der Zeit“ besonderen Nachdruck erhält, findet in den folgenden drei Teilen von Za in der wiederkehrenden Formel „es ist Zeit! Es ist die höchste Zeit!“ Niederschlag, die in widersprüchlicher Weise auf Zarathustra bezogen und mit seinem Wirken verknüpft wird (vgl. dazu NK 167, 12–16). Nach Zarathustra ist der Mensch selber reif für ein Ziel; in einer Variante heißt es: „Es ist an der Zeit, daß der Mensch sich ein Ziel stecke. Noch ist er zum höchsten Ziele reich und wild genug. […] / Einst aber wird der Mensch zu arm geworden sein, einst wird er selbst zur Wuth der Verachtung nicht genug Rad und Schwung sein.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[213], 171, 9–15) Das Kapitel Za I Von tausend und Einem Ziele weitet den Blick vom Einzelnen auf die Menschheit aus: „Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel. / Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch – sie selber noch? –“ (76, 15–19)

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19, 12–14 Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können.] Visionen einer verwüsteten und unfruchtbaren Erde sind charakteristisch für die literarisch-narrativen Entwürfe des letzten Menschen. Sie begegnen in Grainvilles Le Dernier Homme (1805) ebenso wie in Shelleys The Last Man (1826). N. hat bereits 1873 in wenigen Strichen das Bild einer verwüsteten Erde gezeichnet: „Denken wir uns den letzten Menschen auf der ausgedörrten Wüste des morschen Erdballs sitzen –“ (NL 1873, KSA 7, 29[181], 706, 10 f.). Solcher Endzeitvorstellung setzt Zarathustra den Gedanken der Kultivierbarkeit und neuen Bepflanzbarkeit der Erde entgegen. 19, 15–17 Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren!] Bereits im vorhergehenden Abschnitt hat Zarathustra von den „Pfeile[n] der Sehnsucht nach dem andern Ufer“ (17, 6; vgl. NK 17, 5 f.) gesprochen. Was dort Ausdruck einer utopischen Hoffnung auf die Selbstüberwindung des Menschen war, dient hier nun gerade umgekehrt als Metapher für den drohenden Verlust des Vermögens, Entwürfe eines zukünftigen Menschseins zu entwickeln, die über den status quo hinausweisen. Wieder aufgegriffen wird die Pfeil-Metaphorik in ihrem produktiv-zukunftsweisenden Sinn in zwei späteren Kapiteln, die sich der Bedeutung von Freundschaft und Ehe annehmen. Za I Vom Freunde formuliert in Bezug auf den Freund, „du sollst ihm ein Pfeil und eine Sehnsucht nach dem Übermenschen sein.“ (72, 10 f.) Und Za I Von Kind und Ehe befragt den Eheschließenden: „Pfeil und Sehnsucht zum Übermenschen: sprich, mein Bruder, ist diess dein Wille zur Ehe?“ (92, 9 f.) 19, 18–22 Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch. / Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird.] Bei diesem Appell an die Zukunftsfähigkeit seiner Zuhörer, denen Zarathustra in strategischer Abgrenzung von den letzten Menschen schöpferisches Potential zuspricht, handelt es sich um eine der populärsten Wendungen des ganzen Werks, die ein vielgestaltiges und autonomes Fortleben außerhalb von Za erfahren hat. Die Sentenz „man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“ (in der die auf Shakespeare zurückgehende Redensart „unter einem tanzenden Stern geboren werden“ anklingt; Frenzel 1867, 595), wird bis heute in unterschiedlichsten Kontexten zitiert, sie begegnet als Motto von Selbstverwirklichungs- und Managerseminaren ebenso wie auf T-Shirts und Tassen und hat überhaupt ihren Weg in die Populärkultur gefunden. So wird nicht nur Trotzki eine Vorliebe für das Bild des „tanzenden Sterns“ zugeschrieben (Rosenthal 2002, 143), sondern auch dem Frauenmörder Paul Spector in der britischen Thrillerserie The Fall (2013).

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Der astronomische Hintergrund der Metapher blieb unbeachtet, obwohl bekannt ist, dass N. sich im Vorfeld der Entstehung von FW und Za intensiver mit astronomischen Studien auseinandergesetzt hat (vgl. Treccani 2013, 161). Evidenten Niederschlag hat N.s astronomisches Interesse in FW 322 gefunden, wo zwei unterschiedliche Konzeptionen des Kosmos als Analogiemodelle für den Denker herangezogen werden, nämlich zum einen die Vorstellung von einem mechanisch geordneten Kosmos, der als Modell dient für die „Denker, in denen alle Sterne sich in kyklischen Bahnen bewegen“ (KSA 3, 552, 11 f.) und denen attestiert wird, dass sie „nicht die tiefsten“ (ebd., 552, 12) seien, und zum andern die Vorstellung eines sich im Chaotischen und Labyrinthischen verlierenden Kosmos, aufgerufen als Analogiemodell für die tiefen Denker: „wer in sich wie in einen ungeheuren Weltraum hineinsieht und Milchstrassen in sich trägt, der weiss auch, wie unregelmässig alle Milchstrassen sind; sie führen bis in’s Chaos und Labyrinth des Daseins hinein“ (ebd., 12–16). Im Hintergrund des Befunds der Unregelmäßigkeit der Milchstraßen stehen Erkenntnisse der zeitgenössischen Astronomie. So war Wilhelm Herschel, wie N. in dem von ihm vermutlich 1881 erworbenen und intensiv studierten Werk Richard Antony Proctors Unser Standpunkt im Weltall erfahren konnte (vgl. die Erwähnung von Proctors Buch im Nachlass: NL 1881, KSA 9, 11[24], 451, 21; siehe auch Brobjer 2004, 38), bei seinem Versuch, den systematischen Bau der Milchstrasse zu erschließen, zu dem Ergebnis gelangt, dass die „Sterntiefen […] unergründlich“ (Proctor 1877, 131) seien. Keineswegs, so Herschel, handle es sich bei der Milchstraße um die „flache Scheibe“ (ebd., 138), als welche sie in vielen Darstellungen betrachtet würde, sondern im Gegenteil um ein höchst kompliziertes und mannigfaltiges Gebilde, in dem die Sternballungen „in höchsten Grade unregelmäßig angehäuft“ (ebd., 137 f.) seien. Während in FW 322 N.s Anlehnung an den Kenntnisstand der aktuellen Astronomie offensichtlich ist, kontaminiert Zarathustras Rede von der Chaos-Geburt des tanzenden Sterns zwei aus der Antike herrührende astronomische Topoi, deren Fortwirkung sich bis ins 19. Jahrhundert erstreckte, nämlich die des Sphärenbzw. Sternentanzes und die Idee des zeugenden, den Kosmos und die Planeten hervorbringenden Chaos (zu N. als Denker des Chaos vgl. Rosen 1980, Babich 2001, McCarthy 2006). Bereits im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Vorsokratiker Anaxagoras befasste sich N. mit dessen physikalischer Grundvorstellung, derzufolge alle Dinge durch Scheidung aus einem uranfänglichen Chaos hervorgegangen seien (vgl. PHG 14, KSA 1, 852–856). In UB II HL 10 ist dann erstmals in N.s Schriften von einem Chaos im Inneren des Menschen die Rede, gemeint ist dort indes kein kosmisches Chaos, sondern eine durch Aneignung von kulturell Fremdem verursachte innere Überfremdung und Unordnung, weshalb die dort an den Einzelnen erhobene Forderung lautet, „er muss das Chaos in sich organisiren, dadurch dass er sich auf seine ächten Bedürfnisse zurückbesinnt“ (KSA 1, 333, 27–29).

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Eine neue Stufe, die den Ordnungsgedanken in den Hintergrund rückt, erreicht die Auseinandersetzung mit dem Chaos in den Notizheften von 1882/83. In ihnen finden sich in enger Abfolge mehrere Notate, die vom Chaos im Innern des Menschen, insbesondere des Philosophen und Weisen, handeln und die dieses Chaos explizit über Ordnung und Vernunft stellen. Zwei Notate spielen auf den Phraseologismus „Die Ausnahme ist die Regel“ an, indem sie Vernunft zur Ausnahme, das Chaos aber in betont paradoxer Weise zur Regel erklären: „Vernunft ist auch noch im Weisesten die Ausnahme: Chaos und Nothwendigkeit und Wirbel der Sterne – das ist die Regel.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[5], 110, 12–14) In einem zweiten Notat fungiert Zarathustra als Sprecher und Bezugsgröße: „Vernunft ist auch in mir eine Ausnahme, sagte Zarathustra: Chaos und Nothwendigkeit und Wirbel der Sterne – das ist auch in der weisesten Welt die Regel.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]97, 198, 8–10) Weitere Niederschriften akzentuieren die schöpferische und zukunftsträchtige Potenz des Chaos und leiten daraus eine imperativische Forderung an die Angesprochenen ab: „Ihr sollt Chaos in euch bewahren: die Kommenden wollen sich daraus f o r m e n!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[76]128, 135, 15 f.; ähnlich NL 1882/83, KSA 10, 5[1]128, 201, 18 f.) Ebenfalls auf die Zukunft hin perspektiviert ist eine Notiz, die der Druckfassung nahekommt, aber statt von der Geburt eines einzelnen „tanzenden Sterns“ von der eines ganzen „Sternentanzes“ spricht: „Es ist an der Zeit, daß der Mensch sich ein Ziel stecke. Noch ist er zum höchsten Ziele reich und wild genug. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos und Anprall der Gestirne in euch, um einen Sternentanz gebären zu können.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[213], 171, 9–12) Die Vorstellung vom Himmelssystem als Sternentanz findet sich schon bei Platon (Timaios 34), und sie begegnet auch noch in zeitgenössischen astronomischen Darstellungen, so etwa in J. Schuchts Lehrbuch der Astronomie von 1872, in dem vom „großen Sphärentanz“ der „Weltkörper“ (Schucht 1872, 186) die Rede ist. Freilich weicht N. von den überlieferten kosmischen Harmoniemodellen deutlich ab. Wenn in dem zuletzt zitierten Nachlassnotat vom „Anprall der Gestirne“ die Rede ist, dann wird gerade das Moment des Disharmonischen als Antrieb kosmologischer Prozesse herausgestellt. Im Hintergrund dürfte die auf Comte de Buffon zurückgehende kosmologische Kollisionstheorie stehen, die Otto Liebmann in einem Kurzbeitrag im 9. Jahrgang der Philosophischen Monatshefte – den Band hatte sich N. im August 1881 von Overbeck besorgen lassen (vgl. N. an Franz Overbeck, 20./21. 08. 1881, KSB 6/KGB III 1, Nr. 139, S. 118, Z. 72–75) – folgendermaßen skizziert: „Nach Buffon’s Annahme sollte ein Komet die Sonne gestreift und hierbei ein Stück von ihr mitgerissen haben, aus dem dann die Planeten entsprungen wären.“ (Liebmann 1873/74, 249) Gegenüber dem Bild des Sternentanzes betont das des einzelnen tanzenden Sterns, das im Kontext von Za metaphorisch für die Erzeugung des Übermenschen einsteht, das Individuelle und Irreguläre dieser Schöpfung. Auch dabei kann man

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als Hintergrund N.s Beschäftigung mit neueren astronomischen Forschungen vermuten, die die Vorstellung vom All und den Sternenbahnen als einem durch physikalische Gesetzmäßigkeiten erklärbaren System zurückweisen. So betont etwa Caspari, dass es sich bei allen mechanischen Berechnungen der Systeme der Natur lediglich um „Approximationen“ (Caspari 1874, VI) handeln könne – ein Wort, das sich N. in seiner Ausgabe dick unterstrichen hat. 19, 22 f. Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.] In den beiden vorangehenden Abschnitten der Übermenschenrede bekennt Zarathustra sich zur „grossen Verachtung“ (15, 25) und den „grossen Verachtenden“ (17, 5 f.) als denjenigen, die bereit sind, ihre gegenwärtige Existenz hinter sich zu lassen. So erscheint es nur konsequent, dass ihm die Menschen, die sich nicht verachten, die also mit sich zufrieden sind und keinen Antrieb zur Veränderung spüren, selbst als hochgradig verächtlich erscheinen. Zur Verachtung als Antrieb zur Selbstüberwindung des Menschen vgl. NK 15, 24–26. 19, 24 Seht! Ich zeige euch d e n l e t z t e n M e n s c h e n.] Die Sperrung (Unterstreichung) ist erst auf dem Korrekturbogen vermerkt (KGW VI 4, 33). 19, 25 f. „Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.] Der letzte Mensch verliert den Weltbezug, insofern ihm zentrale Begriffe und Vorstellungen nicht mehr zugänglich sind. Das ihm als Charakteristikum zugeordnete ‚Blinzeln‘ − noch drei weitere Male wird es nachfolgend erwähnt: 19, 31; 20, 13 f.; 20, 21 − ist eine reflexhafte Bewegung der Augenlider, wie sie insbesondere durch zu große Helligkeit hervorgerufen wird. Man könnte daraus folgern, dass der letzte Mensch blinzeln muss, weil er das Licht (der Erkenntnis) nicht verträgt (so Pieper 1990, 71 f.). Besonders verbreitet ist Blinzeln aber auch bei Myopie, da Kurzsichtige „durch Beschattung des Auges den Gegenstand besser sehen“ (Herders Conversations-Lexikon 1854–1857, 1, 568). Das unterstützt eine Deutung, die das Blinzeln als Indiz für ein eingeschränktes Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen versteht. Nach Joisten steht das Blinzeln im Gegensatz zu einem vollwertigen Sehen und deutet auf die Erkenntnisunfähigkeit des letzten Menschen hin (Joisten 1994, 192). Dass N. dem Reflex des Blinzelns einen Zustand der eingeschränkten Wahrnehmungs- und Existenzweise assoziiert, zeigt ein früher Brief des Studenten N. an Erwin Rohde vom 15. November 1874, in dem er dem Freund mitteilt, er stecke „so bis über die Ohren im Wintersemester drin“, dass er „nach allem Guten in der Nähe und Ferne nur noch blinzeln“ dürfe (KSB 4/KGB II 3, Nr. 403, S. 275, Z. 3 f.). Eine andere Deutung schlägt Heidegger vor, der „blinzeln“ als „blinken“ und „scheinen“ erläutert, und darin das Zeichen einer uneigentlichen Existenz versteht: „Blinzeln − das heißt: ein Scheinen und einen Anschein zuspielen und zustellen, auf welchen Anschein man sich als etwas Gültiges verabredet und zwar mit dem wechselseitigen, gar nicht ausdrücklich abge-

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sprochenen Einverständnis, all dem so Zugestellten nicht weiter nachzugehen.“ (HGA 8, 79) Schließlich gibt es auch noch den Vorschlag, das Blinzeln als „ironische Geste“ (Wussow 2015, 232) zu verstehen, mit welcher die letzten Menschen selbst auf ihr reduziertes Menschsein hindeuteten. Dieses Verständnis ebnet allerdings die semantische Differenz zwischen dem nicht-intentionalen Blinzeln und dem intentionalen Zwinkern ein. In Za IV wird das Blinzeln zum Zeichen für die Missachtung der Vision vom höheren Menschen durch den Pöbel: „Der Pöbel aber blinzelt ‚wir sind Alle gleich.‘ / ‚Ihr höheren Menschen, – so blinzelt der Pöbel – es giebt keine höheren Menschen, wir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott – sind wir Alle gleich!‘“ (356, 14–17) Ein Nachlassnotat dokumentiert, dass N. zunächst ein anderes Verhaltensmerkmal für den letzten Menschen erwogen hat, nämlich ein – wohl als Indiz von Kränklichkeit und Schwächlichkeit zu verstehendes – Hüsteln: „Der letzte Mensch – er hüstelt und genießt sein Glück.“ (NL 1882/83, 4[162], KSA 10, 160, 8) In einem anderen Notat ist sowohl vom Hüsteln als auch vom Blinzeln die Rede: „Man blickt und hüstelt dh. ich verstehen Sie doch! / Man blickt und blinzelt dh. sie sind klug!“ (N V 8,15; KGW VI 4, 25) 19, 27 f. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht.] N.s letzter Mensch ist „zugleich der ‚kleine‘ Mensch, weil er den Sinn des Daseins klein macht und zur erbärmlichen Behaglichkeit des modernen apolaustischen [d. h. lustorientierten] Lebens erniedrigt“ (Ottmann 1988, 293). Der kulturdiagnostische Befund des alles klein machenden und selbst der Verkleinerung unterworfenen Menschen der Gegenwart wird in Za III Von der verkleinernden Tugend aufgegriffen und bildlich ausgeführt. 19, 28 f. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh] Mit dem ErdflohVergleich unterstreicht Zarathustra, dass seine Endzeitvision vom letzten Menschen keine menschenleere Erde meint, sondern eine, die von Menschen bevölkert ist, allerdings von Menschen, die in Zarathustras Augen eine menschenunwürdige, parasitäre Existenz führen. Fast wie ein Echo hierauf klingen Wilhelm Buschs Reime: „Der Floh, der abends krabbelt und prickt, / Wird morgens, wenn’s möglich, schon totgeknickt; / Und dennoch lebt und webt das alles / Recht gern auf der Kruste des Erdenballes. / Froh hupft der Floh. / Vermutlich bleibt es noch lange so.“ (Busch 1893, o. S.) Auch wenn der Erdfloh-Vergleich einen Regress des Menschen ins „Animalische“ (Brock 2014, 342) anzuzeigen scheint, ist zu betonen, dass Zarathustras letzte Menschen als Produkte moderner Zivilisation zu identifizieren sind. Nicht einen Rückfall in einen wild-ursprünglichen Naturzustand zeigen sie an, sondern eher eine ‚Vertierung‘ infolge verweichlichender Überzivilisiertheit. – Biologisch sind die Erdflöhe (Psylliodes) keine Flöhe, sondern sie gehören zur Familie der Blattkäfer (Chrysomelidae). Es handelt sich um gefürchte-

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te Pflanzenschädlinge, die sich schon im Frühjahr über die jungen Saatpflanzen hermachen und sich wegen ihrer raschen Vermehrung nur schwer bekämpfen lassen. Die landwirtschaftliche Literatur des 19. Jahrhunderts betont ihr flohähnliches Hüpfen: „Die Erdflöhe sind kleine Blattkäfer mit starker Verdickung der Schenkel an beiden Hinterbeinen, durch welche die Erdflöhe gleich den Flöhen emporhüpfen.“ (Martin 1874, 193) Die parasitäre Metaphorik kehrt in Za I Von den Fliegen des Marktes wieder, wo Zarathustra die kleinen Menschen zu „giftigen Fliegen“ (66, 23) erklärt, die den großen Menschen nicht allein lästig werden, sondern sie zu Fall bringen, indem sie sie blutig stechen. GM I 11 ruft die „HeillosMittelmässige[n]“ (KSA 5, 277, 15) als das „Gewürm ‚Mensch‘“ (ebd., 277, 13) auf, das sich selbst das Telos der Geschichte dünke. 19, 30 f. „Wir haben das Glück erfunden“ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.] Das Selbstverständnis als Glückserfinder, das Zarathustra den letzten Menschen in wörtlicher Rede in den Mund legt (und allein durch den Hinweis auf ihr Blinzeln ironisch bricht), erhält besonderen Nachdruck, weil er es am Ende seiner Rede identisch wiederholt (20, 20 f.). Der Anspruch auf ‚Erfindung‘ des Glücks wirkt anmaßend, zumal das Streben nach Glück den Menschen seit der Antike umtreibt und die abendländische Kultur und Philosophie entsprechend eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte von Glück bereithält. So gesehen ist das von den menschlichen Erdflöhen propagierte Glück nur ein Glücksentwurf unter vielen, allerdings doch ein spezifisch akzentuierter, insofern er nicht beim Einzelnen, sondern beim Glück aller ansetzt. Und genau darauf zielt Zarathustras Hohn. Sein Angriff gilt der neuzeitlichen Glücksethik, wie sie insbesondere Jeremy Bentham und John Stuart Mill verfochten haben, und in der das Idealbild einer Gesellschaft aufscheint, die sich der Vermeidung von Leid und dem Ziel kollektiven Wohlbefindens verschrieben hat – vom „Glücksutilitarismus“ spricht Tille 1895, 41 und N. selbst schreibt später in GD Sprüche und Pfeile 12: „Der Mensch strebt n i c h t nach Glück; nur der Engländer thut das“ (KSA 6, 61, 1 f.). Ab Beginn der 1880er Jahre werden der Utilitarismus und seine Gründerfiguren Jeremy Bentham, John Stuart Mill, Herbert Spencer, die „˹utilitarischen˺ Engländer […], plump ˹wie Hornvieh˺“ (KGW IX 4, W I 3, 113, 26 [Notat gekreuzt durchgestrichen]; vgl. NL 1885, KSA 11, 35[34], 523, 15 f.), zu einer beliebten Zielscheibe N.s. In William Edward Hartpole Leckys Sittengeschichte Europas streicht N. sich dessen zusammenfassende Darstellung der utilitaristischen Moral dick an: „Was den Handlungen den Stempel des Guten aufdrückt, ist, dass sie die Glückseligkeit der Menschen vergrössern oder ihre Leiden verringern. Was sie tadelnswerth macht, ist ihre entgegengesetzte Richtung. ‚Die grösste Glückseligkeit für die grösste Anzahl zu schaffen‘ ist desshalb das höchste Ziel des Moralisten, der vollkommenste Typus und Ausdruck der Tugend.“ (Lecky 1879, 1, 3) Und in Eduard von Hartmanns Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins markiert er sich mit doppel-

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tem Randstrich einen Passus, der Mills Utilitarismus ankreidet, dass für ihn „Vergnügen und Freisein von Leid die einzigen als Endzweck wünschenswerthen Dinge bilden“ (Hartmann 1879, 608; Unterstreichung von N.). Während Jeremy Bentham „the greatest happiness of the greatest number“ (Bentham 1823, 9) propagiert, spricht N. von der nivellierenden „DurchschnittsGlückseligkeit Aller“ (M 106, KSA 3, 94, 8 f.). Schon in UB III SE 6 macht er aus seiner Abneigung gegen die Idee eines „Glück[s] Aller“ keinen Hehl: „Aber es widerstrebt ich weiss nicht was Alles: da soll jener letzte Zweck in dem Glück Aller oder der Meisten, da soll er in der Entfaltung grosser Gemeinwesen gefunden werden“ (KSA 1, 384, 20–23). Wie ein späteres Echo darauf klingt ein Notat von 1884: „Mit ‚Glück‘ als Ziel ist nichts zu machen, auch mit dem Glücke eines Gemeinwesens nicht. Es handelt sich, eine Vielheit von I d e a l e n zu erreichen, welche im K a m p f sein müssen, das ist aber nicht das Wohlbefinden einer Heerde, sondern ein höherer Typus.“ (NL 1884, KSA 11, 26[346], 241, 1–5) Die Wendung vom ‚erfundenen Glück‘, die ebenfalls im Nachlass von 1884 ein weiteres Mal begegnet, wird dort wortspielerisch demontiert: „Die Tugendhaften wollen uns (und mitunter auch sich selber) glauben machen, s i e hätten das Glück erfunden. Die Wahrheit ist, daß die Tugend von den Glücklichen erfunden worden ist.“ (NL 1884, KSA 11, 26[278], 223, 3–5) – In EH Warum ich ein Schicksal bin 4 kommt N. nicht allein auf das „enge Glück“ der Vielen zu sprechen, sondern erinnert auch an Zarathustras die Zukunft der Menschheit verspielende letzte Menschen: „Die Welt ist zum Glück nicht auf Instinkte hin gebaut, dass gerade bloss gutmüthiges Heerdengethier darin sein enges Glück fände; zu fordern, dass Alles ‚guter Mensch‘, Heerdenthier, blauäugig, wohlwollend, ‚schöne Seele‘ – oder, wie Herr Herbert Spencer es wünscht, altruistisch werden solle, hiesse dem Dasein seinen g r o s s e n Charakter nehmen, hiesse die Menschheit castriren und auf eine armselige Chineserei herunterbringen. – U n d d i e s h a t m a n v e r s u c h t ! … D i e s e b e n h i e s s m a n M o r a l … In diesem Sinne nennt Zarathustra die Guten bald ‚die letzten Menschen‘, bald den ‚Anfang vom Ende‘; vor Allem empfindet er sie als d i e s c h ä d l i c h s t e A r t M e n s c h, weil sie ebenso auf Kosten der Wa h r h e i t als auf Kosten der Z u k u n f t ihre Existenz durchsetzen.“ (KSA 6, 369, 3–16) Vgl. zu Zarathustras eigenem Glücks-Entwurf NK 4/2, 295, 10–12. 19, 32–34 Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.] Im Gegensatz zu den schaffenden Menschen, die ein entbehrungsreiches Leben auf sich nehmen und sich dem „eisigen Athem des Alleinseins“ (81, 13) aussetzen, suchen die letzten Menschen die Wärme der Gemeinschaft, die Herdenwärme. Eine Vorstufe konstatiert: „Man hat die Gegenden verlassen, wo es hart zu leben ist. Denn man braucht Wärme.“ (N V 8,18; KGW VI 4, 25)

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20, 1–3 Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!] Eine Vorstufe formuliert: „Krank werden gilt als sündlich: man geht achtsam und sorgt, daß man nicht über einen Stein stolpere.“ (N V 8,19; KGW VI 4, 25) 20, 4 f. Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.] Der letzte Mensch stellt sein Dasein unter die epikureische Maxime der Leidensvermeidung und federt seine Existenz mithilfe von Narkotika gegen die schmerzhafte Erfahrung des Lebens ab. Er verschafft sich bescheidene Genüsse, pflegt, wie es weiter unten heißt, „sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht“ (20, 18 f.), ohne dabei über die Stränge zu schlagen. Vielmehr ist er bestrebt, Leid und Schmerz ganz aus seinem Dasein auszuschließen. Mit Rauschmitteln und Narkotika wappnet er sich auch gegen die Erfahrung des Todes, wobei das erstrebte „angenehme[.] Sterben“ (20, 5) im Gegensatz steht zu dem selbstbestimmten Tod, zu dem Zarathustra in Za I Vom freien Tode aufruft (vgl. hierzu NK 93, 13–18). Nachdrücklicher noch thematisiert ein Entwurf die bis zum Tod reichende Kontaktvermeidung mit dem Leben: „Ein Tröpfchen Leben ist kostbar: man genießt das letzte als ein schmerzloses Sterben.“ (N V 8,19; KGW VI 4, 25) Im Kontext von Za I Vorrede erscheint die Rede vom „Gift“ doppeldeutig, denn als Gift werden nicht nur Narkotika bezeichnet, sondern auch das Rauschmittel Religion, spricht Zarathustra doch in Za I Vorrede 3 von den „Giftmischer[n]“ (15, 3), die den Menschen die Hoffnung auf ein jenseitiges Leben einflößen. 20, 6 f. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.] „Ich liebe Den, welcher arbeitet und erfindet, dass er dem Übermenschen das Haus baue“ (17, 13 f.), hat Zarathustra gerade eben, im zweiten Teil seiner Übermenschen-Rede (Za I Vorrede 4), erklärt. Mit dem letzten Menschen entwirft er das Gegenbild dazu, einen Menschen, dem die existenzielle Bedeutung von Arbeit fremd ist, für den Arbeit einen bloßen Zeitvertreib darstellt und keine sinnstiftende Dimension besitzt. Es ist dies eine Vorstellung von Arbeit, der alles Beschwerliche abgeht, vgl.: „Man arbeitet noch ˹denn Arbeit ist eine Unterhaltung˺, aber man sorgt daß ˻{Einer} sich ˼ dabei nicht (1) erhitze (2) anstrenge. ˹die Unterhaltung nicht angreift.˺“ (N V 8,18; KGW VI 4, 26) Zarathustra spielt mit der semantischen Ambivalenz des Wortes „Unterhaltung“, das die Bedeutung von Existenzsicherung, aber auch von Zerstreuung haben kann. In Za III Von alten und neuen Tafeln 22 greift er das Wortspiel auf und bezieht es auf das Volk: „Wenn D i e – Brod umsonst hätten, wehe! Wonach würden D i e schrein! Ihr Unterhalt – das ist ihre rechte Unterhaltung; und sie sollen es schwer haben! / Raubthiere sind es: in ihrem ‚Arbeiten‘“ (263, 13–16). Überhaupt werden in Za sehr unterschiedliche Auffassungen von Arbeit aufgerufen:

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„die wilde Arbeit“ (Za I Von den Predigern des Todes, 56, 30) derjenigen, die sich selbst vergessen wollen, oder auch die als alles zermalmend und mechanisch diffamierte Arbeit der Gelehrten, die „[g]leich Mühlwerken arbeiten […] und Stampfen“ (Za II Von den Gelehrten, 161, 23). 20, 8–12 Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. / Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.] Aus kulturkritischer Haltung wird hier die Idee der Gleichheit und die nivellierende Tendenz der modernen demokratischen Massengesellschaft verunglimpft. Zielscheibe ist ein Hang zur Konformität, der alle Differenzen einebnet und dem individuellen Streben den Zahn zieht. Diejenigen, die sich von der gleichförmigen Masse abheben, entscheiden sich demnach für die Selbststigmatisierung. Somit ist der Entwurf des letzten Menschen nicht als eine bloße Zukunftsvision zu verstehen, sondern oszilliert zwischen Dystopie und Gegenwartsdiagnose. – Anstelle von „Beides ist zu beschwerlich“ verzeichnet ein Nachlassnotat: „Beides ist mühsam. So ist ˹auch˺ Beides unnütz.“ (N V 8,19; KGW VI 4, 25) Eine weitere Vorstufe lautet: „Beides gilt als zu beschwerlich.“ (Ebd.) 20, 11 Kein Hirt und Eine Heerde!] Die Metapher von Hirt und Herde, die auf der seit Platon geläufigen Annahme fußt, die (Menschen-)Herde bedürfe eines sie leitenden Hirten (vgl. z. B. Politikos 275b), findet im Christentum auf die Herde der Gläubigen Anwendung. So überliefert das Johannesevangelium die Worte Jesu: „Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle. Und dieselbigen muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird Eine Herde und Ein Hirte werden.“ (Johannes 10, 16; Die Bibel NT 1818, 124) Von der Hilflosigkeit der Menschen, die „wie Schafe, die keinen Hirten haben“, seien, kündet Matthäus 9, 36 (Die Bibel NT 1818, 13), und bereits im Alten Testament wird Mose von Gott zum Hirten über die Israeliten bestimmt: „Der vor ihnen her aus- und eingehe, und sie aus- und einführe, daß die Gemeine des HErrn nicht sey wie die Schafe ohne Hirten.“ (4. Mose 27, 17; Die Bibel AT 1818, 174) Zarathustra erklärt die Metapher von Hirt und Herde als Denkbild für gesellschaftliche Zustände jedoch für obsolet, seinen (abschätzig gemeinten) Worten zufolge hat nur mehr die egalisierende Größe der führer- und hirtenlosen Herde Bestand (zur demokratiekritischen Stoßrichtung der Herden-Metapher bei N. vgl. Taureck 2008). Sieht sich Zarathustra dazu auserkoren, die ‚Hirten-Ordnung‘ gesellschaftlich wiederherzustellen, versteht er sich als prädestiniert für die Rolle des neuen Hirten? In Za I Vorrede 9 weist er dies dezidiert zurück – „Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden!“ (25, 27 f.) – und entscheidet sich stattdessen für eine Guerillataktik, die der Herde einzelne Tiere abspenstig machen will. Die Rede „Von den Verächtern des Leibes“ bezieht das Bild von Hirt und Herde auf den Leib, der Zarathustra dort als das gilt, was die menschliche Gesell-

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schaft in seinen Augen nicht oder nicht mehr ist, nämlich „eine Heerde und ein Hirt“ (39, 11) – ein durch eine Leit- oder Wächterfigur organisierter Verbund Einzelner. Überhaupt wird die Metapher der Herde nachfolgend aus unterschiedlichen Perspektiven aufgegriffen und mit unterschiedlichen Wertungen versehen. Wenn laut Zarathustra historisch gesehen die Individuation den Untergang der Herde besiegelt, eine Ansicht, die er in Za I Von tausend und Einem Ziele vertritt, dann scheint seine Sympathie punktuell bei der Herde zu liegen: „Wahrlich, das schlaue Ich, das lieblose, das seinen Nutzen im Nutzen Vieler will: das ist nicht der Heerde Ursprung, sondern ihr Untergang.“ (76, 3–5; vgl. auch NK 75, 33–76, 2) Wenig später spricht er von der internalisierten Stimme der Herde, die demjenigen Schuldgefühle einflösse, der sich von ihr abspaltet: „Die Stimme der Heerde wird auch in dir noch tönen. Und wenn du sagen wirst ‚ich habe nicht mehr Ein Gewissen mit euch‘, so wird es eine Klage und ein Schmerz sein.“ (80, 8–10) Ein nachgelassenes Notat empfiehlt zynisch das widerstandslose Aufgehen in der Herde als Maxime für ein bequemes Leben: „Willst du das Leben leicht haben, so bleibe immer bei der Heerde. Vergiß dich über der Heerde! Liebe den Hirten und ehre das Gebiß seines Hundes!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[38], 119, 1–3) Die ‚Gesellschaftsform‘ der Herde trat infolge der evolutionsbiologischen Aufweichung der Grenze zwischen Tier und Mensch in den zeitgenössischen biologischen und lebenswissenschaftlichen Forschungen neu in den Blick. Auf Überlegungen zur tierischen Herde ist N. etwa bei Herbert Spencer (vgl. dazu Fornari 2009, 125–156) und insbesondere bei Alfred Espinas gestoßen, der in Die thierischen Gesellschaften (1879) programmatisch die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens durch die Untersuchung der tierischen Gesellschaften erschließen will. Maßgeblich für die später in Za IV auftretende Figur des inmitten einer Kuhherde lebenden freiwilligen Bettlers wird N.s Lektüre Francis Galtons, der in Inquiries into Human Faculty and its Development (1883) das Herdenverhalten von Menschen und Tieren untersucht (vgl. dazu Haase 1989; NK 4/2, 334, 17–22 u. NK 4/2, 336, 29–337, 2). 20, 11 f. Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich] Das Streben nach Gleichheit wird hier als Uniformität abgewertet. In diesem Sinne dürfte wohl auch die zunächst rätselhaft klingende Notiz „(der letzte Mensch: eine Art Chinese)“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[204], 168, 9) zu verstehen sein, handelt doch schon FW 24 von den durch „die Socialisten und Staats-Götzendiener“ in Europa bewerkstelligten „chinesischen Zuständen und […] chinesische[m] ‚Glücke‘“ (KSA 3, 399, 3–7). An der Gleichheitsforderung stößt sich N. insbesondere bei seiner Auseinandersetzung mit Herbert Spencer: „Spencer setzt immer ‚Gleichheit der Menschen‘ voraus.“ (NL 1880, KSA 9, 1[98], 27, 21) 20, 12–14 wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus. / „Ehemals war alle Welt irre“ – sagen die Feinsten und blinzeln.] Eine nachgelassene Variante spricht von

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der „Wollust“ des Irreseins: „Wer {es} anders fühlt, geht von selber ins Irrenhaus. / Es ist eine Wollust, irre zu sein, sagen die Feinsten ˹und lächeln˺: und ehemals war alle Welt irre.“ (N V 8,19; KGW VI 4, 25) Während N. sich in einem Brief an Paul Rée und Lou von Salomé im Dezember 1882 selbst „als kopfleidende[n] Halb-Irrenhäusler“ bezeichnet, den „die Einsamkeit vollends verwirrt“ habe (KSB 6/KGB III 1, Nr. 360, S. 307, Z. 19 f.), wünscht sich der Sprecher eines Notats von 1884 die Exklusion der Lebensmüden: „Ich will K r i e g e, bei denen die Lebensmuthigen die Anderen vertreiben: diese Frage soll alle Bande auflösen und die Weltmüden h i n a u s t r e i b e n – ihr sollt sie ausstoßen, mit jeder Verachtung überschütten, oder in Irrenhäuser sperren, sie zur Verzweiflung treiben usw.“ (NL 1884, KSA 11, 25[290], 85, 20–24) – Zu der von N. häufiger verwendeten Metapher von der Welt als Irrenhaus vgl. NK 5/2, 333, 13 f. und NK 6/1, 210, 2 (Loeb 2006, 165 f. zieht Parallelen zu Za II Von der Erlösung; vgl. auch Bittner 1994, 127 f.). 20, 16 f. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen.] Während Zarathustra in den nachfolgenden Reden Kampf und Streit als Motor für die Höherentwicklung des menschlichen Daseins verkündet und Kämpfende mit Schaffenden identifiziert (vgl. etwa 100, 19 f.), ist das Leben der letzten Menschen auf Vermeidung von Agonalität angelegt: Sie zanken und versöhnen sich – und gehen echter Auseinandersetzung um der eigenen Bequemlichkeit willen aus dem Weg. 20, 18 f. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.] Schon allein der (an keiner anderen Stelle in N.s Werk nachweisbare) Diminutiv „Lüstchen“ statt ‚Lust‘ ist Hinweis auf eine risikolose Lebensführung. Die letzten Menschen streben nicht nach den alles durchbrechenden Ausschweifungen, sondern genehmigen sich kleine Lustbefriedigungen im Rahmen des Alltäglichen. Im Nachlass wird zudem noch das Stehlen als weitere Übertretung der gesellschaftlichen Normen angeführt – aber auch das erscheint nicht als verbrecherischer Akt, sondern eher als artiges Kunststück: „˹Man hat sein˺ Lüstchen für den Tag, ein kleines ˹und Lüstchen für die Nacht˺ ˹: man ehrt die Gesundheit˺ / Man stiehlt noch, aber in feiner Weise Art: so erhält es den Geist frisch.“ (N V 8,18; KGW VI 4, 25) 20, 20 f. „Wir haben das Glück erfunden“ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.] Wörtliche Wiederholung, vgl. NK 19, 30 f. 20, 23–26 denn an dieser Stelle unterbrach ihn das Geschrei und die Lust der Menge. „Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, – so riefen sie – mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!“] Es zeugt von der Verblendung der Zuhörer, dass sie von einer Austauschbarkeit von letztem

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Menschen und Übermenschen ausgehen und über deren kategoriale Differenz hinwegsehen (ähnlich Brock 2015, 407). KGW VI 4, 866 deutet die Passage als Anspielung auf das Verhalten der aufgebrachten Menge im Markus- und Lukasevangelium, welche die Verhaftung Jesu fordert und die Freilassung des wirklichen Verbrechers Barabbas verlangt: „Da schrie der ganze Haufe, und sprach: Hinweg mit diesem, und gieb uns Barabbam los“ (Lukas 23, 18; Die Bibel NT 1818, 104). 20, 29 f. Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund für diese Ohren.] Wörtliche Wiederaufnahme, vgl. NK 18, 24–27. 20, 31 f. Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich den Ziegenhirten.] In einem Notat bemerkt Zarathustra, dass nicht lediglich seine Rede, sondern auch seine Existenz der eines Ziegenhirten gleiche: „Und rede ich ihnen gleich den Ziegenhirten / Und nun gleiche ich einem“ (N V 8,73; KGW VI 4, 25). Zur Ziegenhirten-Rede vgl. NK 19, 1–3. 21, 2 f. Aber sie meinen, ich sei kalt und ein Spötter in furchtbaren Spässen.] Vgl. dazu folgende Notizen: „Was sollte ich auf eine furchtbare Weise Spaaß machen?“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[41], 120, 12) Und: „Wie sollte ich auf eine so furchtbare Weise Spaaß machen?“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]122, 201, 1)

6. Nachdem Zarathustra mit seiner dreiteiligen Werberede für den Übermenschen erfolglos blieb, kommt es zu dem angekündigten und vom Volk sehnsüchtig erwarteten Auftritt des Seiltänzers, der jedoch eine tragische Wendung nimmt. Aus der Gaukelei wird Ernst, da der Seiltänzer während seines akrobatischen Akts von einem wie aus dem Nichts auftauchenden zweiten Seiltänzer bedrängt wird, abstürzt und stirbt. Der Seiltanz bedeutet hier also nicht artistische Leichtigkeit und existenzielle Balance, sondern verweist im Gegenteil auf die Gefährdung des Menschen. Hat Zarathustra die Metapher des Seils zuvor aufgegriffen, um sie rhetorisch für seine Übermenschen-Lehre fruchtbar zu machen, taucht das aktuelle Geschehen nun umgekehrt seine frühere Rede in ein grelles Licht, und seine Aussage „[d]er Mensch ist […] ein Seil über einem Abgrunde“ (16, 25 f.) wird transparent hin auf die Gefahr, welcher der zum Übermenschen strebende Mensch ausgesetzt ist. Evident tritt damit der parabolische Charakter des SeiltänzerGeschehens hervor, das als bildlicher Vorgang auf Zarathustras Lehre vom Übermenschen bezogen ist. Zugleich rückt die Episode exemplarisch die für den Za-Text charakteristische Beweglichkeit und Wandlungsfähigkeit zentraler Metaphern vor Augen. Denn wo Zarathustra zuvor den vorwärtsstrebenden Menschen

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metaphorisch im Bild des Seils gefasst hat, bewegen sich jetzt tatsächlich Menschen auf einem Seil vorwärts. Innerhalb von Za I Vorrede markiert die Seiltänzerepisode eine deutliche Zäsur. Nicht allein bereitet sie als performative Darbietung Zarathustras Ausrufungen des Übermenschen ein abruptes Ende, überdies wandeln sich mit ihr Ton und Form der narrativen Darbietungsweise grundlegend. In der ersten Hälfte des zweigeteilten Abschnitts tritt Zarathustra vollständig zurück. Aus der souveränen Überschau eines auktorialen Erzählers wird das Geschehen unabhängig von ihm vermittelt. Diese Partie (21, 7–30) ist typographisch absatzlos und ohne Einrückungen wiedergegeben, was die Beobachtung von Zittel 2012, 338 bestätigt, wonach das Druckbild von Za „auf die Differenz von Erzähl- und Redepartien aufmerksam“ macht. Erst nach dem Sturz des Seiltänzers folgt die Darstellung wieder der Perspektive Zarathustras, erst dann gewinnt anstelle des Erzählerberichts wieder die wörtliche Rede die Oberhand – und erst dann setzt wieder der gewohnte Zeilenstil ein. Als rätselhaftes Geschehen, das überdies motivisch eng verknüpft ist mit Zarathustras Übermenschen-Rede, fordert die Seiltänzerepisode die Deutungsanstrengungen des Lesers in besonderem Maß heraus. Schon die äußeren Vorgänge erscheinen seltsam. Die Darbietung des Seiltänzers wird von dem versammelten Volk als ein gewagter Akt von unten gebannt beobachtet. Als der Seiltänzer die Mitte seiner gefährlichen Überquerung erreicht, taucht plötzlich und wie aus dem Nichts ein zweiter Seiltänzer auf, „ein bunter Gesell, einem Possenreisser gleich“ (21, 13), der sich deutlich schneller auf dem Seil vorwärtsbewegt und daher den Vordermann rasch einholt. Er fordert „freie Bahn“ (21, 19) für sich und springt dann mit einem kühnen Sprung auf dem Seil über den ersten Seiltänzer hinweg. Als dieser sich überholt sieht, verliert er „den Kopf und das Seil“ (21, 25) und stürzt in die Tiefe. Weder das Erscheinen des zweiten Seiltänzers noch die fatalen Folgen seines Auftretens werden im Text motiviert. So bleibt es den Leser*innen überlassen, dem Geschehen eine Bedeutung zuzuschreiben. Im zweiten Teil des Abschnitts verschwinden der bunte Gesell und das auf dem Marktplatz versammelte Volk aus dem Blick. Die Darstellung konzentriert sich wieder auf Zarathustra, der sich des sterbenden Seiltänzers annimmt, während das versammelte Volk nach dem Unglück rasch von der Bildfläche verschwindet. Ebenso wie der alte Einsiedler, dem Zarathustra auf dem Weg in die Stadt begegnet ist, gibt sich auch der Seiltänzer als Anhänger des Christentums zu erkennen. Wo allerdings der Alte glücklich in seinem einsiedlerisch-eigenbrötlerischen Glauben lebt, wirken die christlichen Wert- und Glaubensvorstellungen auf den sterbenden Seiltänzer als Angstapparat und erfüllen ihn mit Furcht vor dem nahenden Tod. Zarathustra versucht ihn von seiner Furcht vor Teufel, Hölle und ewiger Seelenpein zu befreien, indem er diese für inexistent erklärt, und verspricht ihm,

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ihn mit eigenen Händen zu beerdigen. Am Ende des Abschnitts lässt das hypothetische „als ob“ des Erzählers offen, ob der Seiltänzer die Botschaft Zarathustras tatsächlich als tröstend annehmen konnte: „er bewegte die Hand, wie als ob er die Hand Zarathustra’s zum Danke suche“ (22, 21 f.). Die Seiltänzerepisode ist eine der bekanntesten und am häufigsten interpretierten Passagen des gesamten Za. Einzeluntersuchungen haben Cauchi 1994, Kunicki 2006, Schubert 2011 und Grätz 2020 vorgelegt. Unbezweifelt ist der allegorische und parabolische Charakter, der dem Abschnitt auch zur Aufnahme in eine Sammlung Deutsche Parabeln (Billen 1982, 68 f.) verholfen hat. Fraglich bleibt allerdings, wie das auf der Bildebene vermittelte Geschehen zu interpretieren ist und ob sich ihm eine konzise Deutung zuweisen lässt. Die Interpretationsangebote der Forschung gehen weit auseinander. Das Spektrum beginnt bei recht konkreten Versuchen der Rückführung auf biographische Konstellationen. Günter Schulte und Joachim Köhler wollen die Episode als verschlüsselte Anspielung auf N.s Konkurrenzverhältnis zu Richard Wagner verstehen (Schulte 1995, 98; Köhler 2012, 229; vgl. NK 21, 24–27). Eugen Roth-Bodmer bezieht den Sprung des Possenreißers metaphorisch auf Eduard von Hartmanns ‚Hinwegspringen‘ über den Pessimismus (Roth-Bodmer 1975, 18). Und Gaia Domenici liest das Geschehen als ein grundsätzliches Sinnbild für die Gefährlichkeit eines Lebens unter dem Eindruck des Nihilismus (Domenici 2015a, 215). Doch greifen solche Interpretationen zu kurz, weil sie die kunstvolle motivische Verschränkung des Seiltänzergeschehens mit dem übrigen Text außer Acht lassen. Reduktionistisch verfährt auch C. G. Jung, der den Seiltänzer psychoanalytisch als „Schatten Nietzsches“ deutet. Jung fasst Seiltänzer und Possenreißer als Figurationen von N.s Triebnatur auf, die er nicht habe akzeptieren können – N. „sprach vom Jasagen und lebte ein Nein zum Leben“ (Jung 1971, 33) – und die er deshalb im literarischen Werk abstürzen oder aber in kühnem Bogen über das Leben und Christentum hinwegspringen lasse. Eine Reihe neuerer Deutungen setzt nicht bei der Figurenkonzeption an, sondern bei dem performativen Charakter der Episode. Schon Gasser 1992, 25 weist darauf hin, dass mit dem Auftreten des Seiltänzers das Handeln an die Stelle des Redens trete, und zugleich konstatiert er eine Umschichtung in der literarischen Kommunikationsstruktur: Die Kommunikation zwischen Zarathustra und dem Volk trete in den Hintergrund und statt ihrer würde der Dialog zwischen Text und Leser gestärkt. Auch Windgätter rückt den kommunikativen Aspekt ins Zentrum, setzt aber die Akzente anders, indem er die Seiltänzerepisode als eine Allegorie der gestörten Kommunikation versteht, in der der Possenreißer „als Störelement“ (Windgätter 2001, 301; Windgätter 2006, 236) fungiere. Schließlich weist auch Wortmann 2011, 65 der Szene eine auf die kommunikativen Rollen bezogene selbstreflexive Qualität zu, die es Zarathustra als „zuschauende[m] Redner“ ermögliche, „sich selbst in der Rolle des Akteurs und Zuschauers zu verstehen“.

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Die stärker figurenbezogenen Deutungsansätze konzentrieren sich auf das Verhältnis der Akteure zueinander, auf die Frage, wie die Interaktion zwischen Seiltänzer, Possenreißer und Zarathustra zu verstehen ist. Für Theodor Lessing ist der Seiltänzer eine Figur des Marktes, eine „Leithammelberühmtheit“ (Lessing 1925, 68), ein auf Außenwirkung bedachter Darsteller, dem „das Volk zujubelt, solange er vor ihm seiltanzt, den aber alles Volk sofort vergißt, sobald er durch einen noch frecheren gestürzt ist“ (ebd., 69). Der ‚noch frechere‘, nämlich der Possenreißer, repräsentiert nach Lessing das „Rohlingsideal einer muskelfesten Machtmoral“ (ebd.). Den Bogen zur Thematik des Übermenschen, den Zarathustras Verwendung der Seilmetapher nahelegt, schlägt Lessings Interpretation nicht. Dies tut Annemarie Pieper nachdrücklich. Ihrer Deutung zufolge verweist der Seiltänzer auf „den Menschen, der die Brücke schlagen will vom Tier zum Übermenschen, der also auf dem Weg ist, sich in die Zukunft hinein zu entwerfen und zu erneuern“ (Pieper 1990, 73), der aber noch nicht reif dazu ist. Für Pieper symbolisiert der Absturz des Seiltänzers „den Triumph der christlichen Moral, die jeden Verstoß gegen ihr Prinzip als Sündenfall geißelt, auf den die Todesstrafe steht“ (ebd., 76). Ähnlich argumentieren Burnham/Jesinghausen; für sie ist der Possenreißer „symbolic of the necessary or intrinsic vulnerability of those who attempt the dangerous across to the overhuman“ (Burnham/Jesinghausen 2010, 25). Corinna Schubert sieht das Verhalten des Possenreißers mit einer deutlich negativen Wertung versehen; sie versteht ihn als einen „Spieler, der zum Schaden anderer Macht als Selbstgenuss will und der obendrein die verhöhnt, die ihm Opfer werden“ (Schubert 2011, 195; vgl. ähnlich bereits Messer 1922, 15). Im Gegensatz dazu sieht Meier in dem vom Possenreißer als Hindernis erachteten Seiltänzer die konservativen, beharrenden Kräfte des Menschen verkörpert (vgl. Meier 2017, 25) Meier identifiziert ihn als „konservativen Humanisten“, der in seinem Beharrungsstreben scheitert und bei dem Versuch, über dem Abgrund die Balance zu halten, abstürzt. Der Possenreißer dagegen trete für die Erneuerung des Menschen ein. Er stehe für „den revolutionären Utopisten oder Millenaristen, der die Geschichte beschleunigen will und den Menschen, wie er ist, überspringt“ (Meier 2017, 25). Sieht man im Seiltänzer mit Meier jemanden, der am alten Menschen festhält, wie erklärt sich dann aber seine herausgehobene Rolle, die ihn von all denen unterscheidet, die sich als Zuschauer auf dem Marktplatz eingefunden haben? Müsste er nicht selbst zur trägen Masse gehören, also zu den Zuschauern auf dem Markt? Und bietet diese Deutung eine befriedigende Erklärung für die Aussage, der Seiltänzer habe „aus der Gefahr“ seinen „Beruf gemacht“ (22, 16 f.)? Hält man sich an Zarathustras zweite Rede auf dem Marktplatz (Za I Vorrede 4), so liegt die Gefahr doch gerade im Verharren auf dem Weg zum Übermenschen, im „gefährliche[n] Zurückblicken“, „gefährliche[n] Schaudern und Stehenbleiben.“ (16, 28 f.) Und schließlich bleibt der Seiltänzer ja keineswegs auf dem Seil stehen,

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sondern bewegt sich vorwärts, wenngleich langsamer als der Possenreißer, der ihn denn auch als „Lahmfuss“ (21, 15) beschimpft. Dies legt den Schluss nahe, dass mit Seiltänzer und Possenreißer eher die unterschiedliche Geschwindigkeit thematisiert wird, mit der sich die über den alten Menschen hinausweisende Entwicklung des Menschen vollzieht. Demgegenüber macht Reto Winteler eine kategoriale Verschiedenheit von Seiltänzer und Possenreißer geltend. Er will im Possenreißer „den blossen Schauspieler des Übermenschen“ erkennen, dem es „nicht um die Überwindung des Menschen bzw. seiner selbst“ gehe, „sondern allein um die Vernichtung Desjenigen, der ihm im Wege steht“ (Winteler 2014, 457). Der Possenreißer wäre demnach ein bloßer Antagonist, er besäße kein eigenes Gewicht, wäre nicht als Muster eines menschlichen Entwicklungsgangs in die Waagschale zu werfen. Auffällig ist, dass der Erzähler den Lauf des Possenreißers auf dem Seil nach dem Sturz des Seiltänzers nicht weiterverfolgt, was man als Hinweis darauf verstehen könnte, dass die Figur des Possenreißers konzeptionell und funktional auf die des Seiltänzers bezogen ist. Der fragwürdige Figurenstatus des Possenreißers (in Za I Vorrede 8 tritt er erneut auf und interagiert dann mit Zarathustra) macht eine Hauptschwierigkeit bei der Deutung der Seiltänzerepisode aus (hierzu NK 21, 12–14). Weitere Erwähnungen der Figur in Za und im Nachlass bringen ihre Konturen gänzlich zum Verschwimmen. Fließend erscheint insbesondere die Grenze zwischen Zarathustra und dem Possenreißer. So imaginiert Zarathustra sich selbst in der Rolle des Possenreißers, wenn er in Za I Vorrede 9 von sich sagt: „über die Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang!“ (27, 4–6) Für Volker Gerhardt sind deshalb „Seiltänzer, Possenreißer und Zarathustra“ nicht eigenständige Akteure, sondern „eine Person, die sich in verschiedenen Rollen begreift“ (Gerhardt 2000d, 116; vgl. ähnlich Stegmaier 2000, 200). Die Unterhaltungskunst von Seiltänzern (funambuli, σχοινοβάτες), die Kunststücke auf Hochseilen vollführten, erfreute sich schon in der Antike großer Beliebtheit. Lecky weist in seiner Sittengeschichte Europas darauf hin, dass die Gefährlichkeit dieser artistischen Kunst ein in Ansätzen humanitäres Verhalten befördert habe, das allerdings im Christentum keine Fortsetzung fand: „Zu den beliebtesten Schauspielen in Rom gehörte der mit vieler Gefahr für die Künstler verbundene Seiltanz. Zur Zeit des Marcus Aurelius kam bei der Aufführung ein Unglück vor, und der Kaiser verordnete mit seiner gewöhnlichen empfindsamen Menschenfreundlichkeit, dass kein Tänzer das hochgespannte Seil besteigen dürfe, ohne dass ein Netz oder eine Matratze darunter ausgebreitet sei. Nun ist es eine eigenthümlich interessante Thatsache, dass diese Vorsicht, welche kein christliches Volk angenommen hat, ununterbrochen während wenigstens zweihundert und sechzig Jahren, der schlechtesten Zeit des Kaiserthumes, als das Blut der Gefangenen im Colosseum wie Wasser vergossen wurde, in Kraft blieb. Der Standpunkt

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der Humanität war sehr niedrig, aber das Gefühl dafür war immer rege, obgleich seine Kundgebungen launenhaft und unbeständig waren.“ (Lecky 1879, 261) Eine Gemeinsamkeit von Leckys Überlegungen und N.s Darstellung liegt darin, dass die Seiltänzerepisode in Za auf die mangelnde Humanität des in christlichen Wertvorstellungen verwurzelten Publikums abzielt. Wenig menschenfreundlich verfolgt es das Spektakel auf dem Hochseil zwar mit „Neugierde und Schrecken“ (22, 25 f.), legt aber keinerlei Empathie für den verunglückten Seiltänzer an den Tag. Und auch dieser selbst findet keinen Trost in seinem Glauben, sondern erleidet durch ihn im Gegenteil nur zusätzliche Pein. Auch wenn N.s Darstellung keine konkrete historische Situierung der SeiltänzerAufführung zulässt, erinnert die Konstellation mit dem zwischen „zwei Thürmen“ (21, 10) aufgespannten Seil an die Darbietungen der seit dem späten Mittelalter auftretenden Gauklertruppen, die ihre Seile mit Vorliebe an Kirchtürmen aufspannten und noch im 19. Jahrhundert von Ort zu Ort zogen. N. dürfte solche Darbietungen aus eigener Anschauung gekannt haben. Gemeinsam mit Richard und Cosima Wagner soll er in Bayreuth eine Vorführung der Seiltänzerfamilie Knie besucht haben (vgl. Rützow 1943, 130). Von Wagner ist bekannt, dass ihn die Seiltänzerei faszinierte und er sich als Kind sogar selbst darin versuchte. „Wir wohnten“, so berichtet Wagner in seiner Autobiographie – N. betreute um die Jahreswende 1869/70 in Basel den Druck ihrer ersten Bögen –, „am Markte, der mir oft eigentümliche Schauspiele gewährte, wie namentlich die Vorstellung einer Akrobaten-Gesellschaft, bei welcher auf einem von Turm zu Turm über den Platz gespannten Seile gegangen wurde, was mir lange Zeit die Leidenschaft für ähnliche Kunststücke erweckte. Ich brachte es wirklich dazu, auf zusammengedrehten Stricken, welche ich im Hof ausspannte, mit der Balancierstange mich ziemlich geschickt zu bewegen“ (Wagner 1994, 14). In Cosima Wagners Tagebüchern findet sich ein an N.s Darstellung gemahnender Bericht vom Aufeinandertreffen zweier Seiltänzer, „welche sich auf dem Strick über der Donau begegneten, sich das nicht überlegt hatten und mit einem Purzelbaum übereinander der peinlichen Situation ein Ende machten“ (Wagner 1977, 2, 810). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich nicht nur die Kunde von den unglaublichen Leistungen der Hochseilartisten (großes internationales Aufsehen erregte 1859 Charles Blondins Überschreitung des Niagarafalls auf dem Seil), sondern immer wieder auch Nachrichten von tödlich verlaufenden Unfällen. In Berlin kam 1875 eine englische Seiltänzerin auf dem Turmseil zu Fall (vgl. Hofmann 1875, 653), und in Regensburg stürzte 1878 ein junger Seiltänzer in den Tod, was Richard Wagner, der in Bayreuth noch kurz zuvor einer seiner Aufführungen beiwohnte, mit großer Bestürzung aufgenommen haben soll (vgl. Glasenapp 1905, 6, 115). Auf eine mögliche direkte Quelle N.s weist Kunicki 2006, 229–231 hin, nämlich auf den ins Legendenhafte verklärten Bericht vom Wett-

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streit zwischen einem englischen und einem deutschen Seiltänzer, aus dem der deutsche Wilhelm Kolter als Sieger hervorging. Die Begebenheit ist in unterschiedlichen Varianten überliefert: im sogenannten Kolter-Album (1857) eines anonymen Verfassers und in Wolfgang Menzels Lebenserinnerungen unter dem Titel Denkwürdigkeiten (1877). Große Popularität erlangte die Kolter-Episode durch einen Artikel in der Familienzeitschrift Die Gartenlaube von 1875. Der dort abgedruckte Bericht über die beiden rivalisierenden Seiltänzer weist trotz des glücklichen Ausgangs deutliche Berührungspunkte mit N.s Seiltänzerepisode auf: „In Aachen war’s, der alten Krönungs-, Congreß-, Reliquien- und Badestadt, wo im Herbste des Jahres 1818 vor den Augen der Kaiser und Könige der heiligen Allianz, der Gesandten und Minister Großbritanniens und Frankreichs, sowie vieler Fürsten und hohen Damen des deutschen Bundes und eines unermeßlichen Volkes zwischen Deutschland und England ein Wettkampf in der Luft auf Leben und Tod entschieden wurde. Auf dem großen Platze spannt ein langes Seil, an dem Gittereisen eines Kellerlochs befestigt, queraufsteigend sich bis wo es in ein Fenster hineingeht und verschwindet. Vom Seile zu dem hohen Thurme auf der andern Seite des Platzes aus, hängen mehrere Paare von Stricken bis zum Boden nieder, von starken Männerfäusten gefaßt, welche durch Anziehen das Schwanken des Seils zu verhindern haben. Die lange Bahn unter dem Seile ist frei, aber zur Linken und Rechten drängt Kopf an Kopf, und Kopf über Kopf schaut aus jedem Fenster und von den abgedeckten Dächern herab, und selbst die Balcone, auf welchen die mächtigsten Fürsten, Staatsmänner und Frauen /653/ Europas all ihren Glanz entfalten, zeigen sich fast plebejisch gefüllt. Auf diesem Seile stieg ein Mensch vom Kellerloche unten bis hinauf zum Thurmfenster – und wieder zurück. Diese höchste Seiltänzerleistung war damals etwas Neues, und weil Jack Badred, der sie hier zu den unentbehrlichen Congreßfeierlichkeiten ausführte, ein Engländer war, so wurde sie von den Deutschen um so höher angestaunt, und keine Seele wagte die Behauptung sämmtlicher anwesenden Briten, daß ‚so Etwas‘ nur einem Engländer möglich sei, im Geringsten zu bezweifeln. […] Nur zwei der großen Herren auf dem Balcone, von welchen der eine in der vordersten Reihe saß, wo sie die größten Sterne trugen, kannten den andern Meister dieser Kunst, und dieser Andere war da, war auf ihren Wink gekommen und in diesem Augenblick bereit zu einem nie in der Welt dagewesenen Wettkampf. / Denn als nun das Zeichen zum Anfang gegeben war, Jack Badred, in einem glänzenden Turnierrittercostüme mit Harnisch und Helm und die lange Balancirstange handhabend, fast die Hälfte des Seils erstiegen hatte und die über sein kühnes und sicheres Ausschreiten entzückte Menge ihm Beifall zuklatschte – da stieg plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Thurmfenster auf das Seil, und als sie den langen Mantel abwarf, stand dort ein Jüngling in blühendstem Alter und in der damaligen Studententracht, der flotten Pikesche. Und ohne Balancirstange, nichts als die freien

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Arme ausstreckend und mit ihnen allein das Gleichgewicht haltend, schritt er von der schwindelnden Höhe herab, wie auf einem dünnen Faden, dem Engländer entgegen. Wie mit einem Schlage machte der rauschendste Jubel athemloser Stille Platz – Jack Badred, der bis dahin das Auge scharf nur auf das Seil gerichtet hatte, fühlt in demselben Augenblicke die Erschütterung des Seils von einem zweiten darauf Gehenden und blickt vorwärts. Da kam die Gefahr für Beide. Beim Anblick des so frei gegen ihn Herannahenden erfaßt den Engländer ein Schauder, er zittert, das Seil geräth in Bewegung, das unregelmäßige Tempo der Tritte Beider vermehrt das Schwanken – und Stehenbleiben ist schon an sich viel schwerer, als das Gehen auf dem Seile: sie müssen Beide vorwärts! – ‚Umwenden oder rückwärts gehen!‘ ruft Der von oben dem Unteren zu. Weder das Eine noch das Andere ist ihm möglich; er muß – sollen nicht Beide in die Tiefe stürzen – eiligst thun, was der Andere hierauf gebietet: er kniet nieder, umklammert mit den Händen das Seil und bückt den Kopf so tief als möglich – und der Andere? Noch wenige Schritte, dann ein Sprung auf Leben und Sterben – und das rasende Wagniß gelingt! Während vom Abstoße das Seil wogt, fliegt er in hohem Bogen über den Knieenden dahin, und wirklich – hat’s das glückliche Auge, hat’s der glücklichere Zufall gethan? – die Füße finden drüben das Seil wieder, und der Gewandtheit und Unerschrockenheit des Waghalses gelingt es, auch das Gleichgewicht wieder zu gewinnen – und von donnerndem Jubel aus jedem Munde begleitet, vollendete er die Bahn und verschwand vom Schauplatze. Auch der Engländer erreichte, nachdem er die Beruhigung des Seils abgewartet und dann sich wieder erhoben hatte, mit seiner langen Balancirstange glücklich das Thurmfenster – aber sein Glanz war verblaßt.“ (Hofmann 1875, 653 f.) Analogien zu N.s Schilderung weist auch Menzels Version der Anekdote auf, in der Kolter als mysteriöser „Zauberer“ auftritt, der den als Ritter verkleideten Engländer herausfordert, just als dieser die Mitte des Seils erreicht hat: „Der Engländer stieg wirklich bedächtig das Seil hinauf. Als er aber den halben Weg vollendet hatte, trat plötzlich oben aus dem Thurm ein Zauberer in langem Gewande heraus, schritt rasch auf dem Seil hinunter und sagte zu dem erschrockenen Engländer: ‚Wähle unter drei Dingen! entweder gehe zurück, oder ringe hier mit mir, oder knie auf das Seil und bücke dich, dann will ich über Dich hinwegspringen!‘ Der Engländer wählte das letztere und bückte sich. Der Zauberer sprang über ihn hinweg, stieg glücklich vollend herunter und stellte sich den Monarchen als – Kolter vor.“ (Menzel 1877, 34) In stärkerem Maß noch als die Kolter-Anekdote, die neben N. auch Theodor Fontane in seiner 1885 veröffentlichten Erzählung Unterm Birnbaum aufgreift, fand N.s Seiltänzerepisode literarisch-produktive Aufnahme (so Kunicki 2006, 232–235): etwa in der Lyrik Georg Heyms, in Klabunds Roman Bracke (1918) oder in dem Roman Abraham Abt (1912) des Prager Autors Paul Leppin. Letzterer er-

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zählt das Märchen vom roten Seiltänzer, der sich ein Seil aus der Seele spinnt, es am Kirchturm festbindet und beim Tanz darauf tödlich verunglückt. Auch in der Bildenden Kunst ist das Motiv des Seiltänzers mit Max Beckmanns Radierung „Die Seiltänzer“ (1921) und Paul Klees Zeichnung „Der Seiltänzer“ (1923) im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts prominent vertreten; eine Inspiration durch Za vermutet Wellbery 2006, 235. 21, 8 f. hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen] Der Auftritt des Seiltänzers, der bereits in 14, 11 f. angekündigt wird, rahmt Zarathustras Übermenschen-Reden und bestimmt die Erwartungshaltung seiner Zuhörer. Vom Seiltänzer ist in N.s Schriften auch andernorts die Rede. Die früheste Erwähnung schlägt die Seiltänzer den Gauklern und Unterhaltungskünstlern zu, die das Bedürfnis der Menge nach großen moralischen Gesten befriedigen: „Wer sich auf prachtvolle moralische Attitüden versteht, den rechne man unter die Hanswürste Kaprizen-Seiltänzer Feuerfresser und andere Künstler, die für die arbeitende Masse da sind, diese hat solche Lust am Unwahrscheinlichen und Verrückten“ (KGW V 3/1, 347, 18–22; vgl. im Wortlaut abweichend NL 1880, KSA 9, 1[55], 17, 18–22). Ein Notat aus dem Winter 1882/83 attestiert dem Seiltänzer seelische Armut: Auf die Frage „Wer von euch hat die umfänglichste Seele“ folgt dort die Anweisung: „Seiltänzer auf die niedrigste Stufe setzen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[186], 165, 9 f.) Ausziehen lässt sich die Linie zu einer späteren Textstelle in GD Sprüche und Pfeile 21, die den Seiltänzer aufruft als Metapher für eine existenzielle Entscheidungssituation: „Sich in lauter Lagen begeben, wo man keine Scheintugenden haben darf, wo man vielmehr, wie der Seiltänzer auf seinem Seile, entweder stürzt oder steht – oder davon kommt …“ (KSA 6, 62, 13–15) 21, 11 f. Als er eben in der Mitte seines Weges war] Die Idee der Mitte, die mit der Zentralvorstellung des großen Mittags assoziiert ist, wird am Ende von Za I in „Von der schenkenden Tugend“ feierlich als Wendezeit in der Entwicklung des Menschen vom Tier zum Übermenschen beschworen, in der sich das Schicksal des Menschen entscheiden soll: „Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen.“ (102, 6–9; vgl. NK 102, 6–10) 21, 12–14 öffnete sich die kleine Thür noch einmal, und ein bunter Gesell, einem Possenreisser gleich, sprang heraus und gieng mit schnellen Schritten dem Ersten nach.] Der Possenreißer gehört als Hanswurst und Harlekin, für den ja das bunte Flickenkostüm charakteristisch ist, zu den Spaßmacher- und Narrenfiguren, wie sie im Mittelalter häufig gemeinsam mit Gauklern und Seiltänzern zur Volksbelustigung auftraten. Von Possenreißern ist in N.s Werk erstmals 1869 im Zusammenhang mit den antiken Dionysien (vgl. NL 1869, KSA 7, 1[69], 32, 15 f.) die Rede,

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letztmalig erwähnt er sie in den von ihm publizierten Schriften im fünften Buch von FW im Abschnitt FW 361, der sich der „einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens“ widmet, „das man bei Thieren mimicry nennt“. Diese Form der Mimikry erzeuge „den Schauspieler, den ‚Künstler‘ […] (den Possenreisser, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown zunächst, auch den classischen Bedienten, den Gil Blas: denn in solchen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers und oft genug sogar des ‚Genies‘).“ (KSA 3, 608, 27–609, 3) Auch das eigene Künstlertum rückt N. in die Nähe zum Possenreißerischen. Als er sich Ende August 1883 in einem Brief an Köselitz über Za II äußert, hebt er dessen heiteren Charakter hervor und vergleicht die eigene Arbeit daran den Sprüngen eines Possenreißers: „Wa h r s c h e i n l i c h hätte ich, wenn ich dieses ganze Jahr meine Seele heiter und hell gehabt hätte, aus a r t i s t i s c h e n Motiven die Farben der beiden ersten Theile dunkler, finsterer und greller gewählt – in Hinsicht auf das, was den S c h l u ß macht. Aber dies Jahr war mir das Labsal heitrerer und luftigerer Farben zum L e b e n nothwendig; und so habe ich im zweiten Theile beinahe wie ein Possenreißer meine Sprünge gemacht.“ (KSB 6/ KGB III 1, Nr. 460, S. 443, Z. 47–54) Dem in Za I Vorrede 6 auftauchenden zweiten Artisten, der mit einem Possenreißer verglichen wird, kommt keine erheiternde Rolle zu, vielmehr löst er durch sein plötzliches Auftreten und sein teuflisches Schreien ein allgemeines Erschrecken aus, „das jeden Mund stumm und jedes Auge starr machte“ (21, 21 f.). Damit durchbricht er die auf Belustigung der Zuschauer ausgerichtete Aufführungssituation und bewirkt, dass aus der Unterhaltung Ernst wird. Zarathustra deutet das plötzliche Auftreten des Possenreißers im Folgeabschnitt als Einbruch des Sinnlosen und Ausdruck der Kontingenz des menschlichen Daseins: „Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne Sinn: ein Possenreisser kann ihm zum Verhängniss werden.“ (23, 3 f.) Nur wenig später tritt in Za I Vorrede 8 eine Figur auf, die Zarathustra vor dem weiteren Aufenthalt in der Stadt warnt und explizit als „der Possenreisser vom Thurme“ (23, 18) identifiziert wird. Damit ist, was zuvor als Vergleich bemüht wurde („ein bunter Gesell, einem Possenreisser gleich“), nun zur Identität der Figur geworden. Und nicht genug, die als Possenreißer bezeichnete Figur vergleicht auch noch ihrerseits Zarathustra einem Possenreißer: „Dein Glück war es, dass man über dich lachte: und wahrlich, du redetest gleich einem Possenreisser.“ (23, 23 f.) Derart geraten die festen Konturen der Figuren ins Gleiten und sie erscheinen gegeneinander durchlässig. Der Eindruck der Identitätsdiffusion verstärkt sich noch, wenn man ein nachgelassenes Notat aus dem Herbst 1883 hinzuzieht, das Zarathustra mit dem Possenreißer gleichsetzt: „Zarathustra selber der Possenreißer, der über den armen Seiltänzer hinwegspringt“ (NL 1883, KSA 10, 16[88], 531, 16 f.). Und in Za I Vorrede 9 erklärt Zarathustra: „Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang; über die

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Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang!“ (27, 4–6) Entsprechend konstatiert Stegmaier 2000, 200: „Seiltänzer, Possenreißer, Zarathustra gehen ineinander über.“ Und Schubert 2011, 199 hält fest, dass die Figur des Possenreißers „als ein Indiz für das bewusste Missachten und Außer-Kraft-Setzen literarischer und dramaturgischer Spielregeln“ zu werten sei. Die Figurenidentitäten verwischen und das Profil des Possenreißers unterliegt einer seltsamen Inversion. Er erscheint nicht als eine Figur, die Späße macht und über die man lacht, sondern als jemand, der gewaltsam nach vorne drängt und Hindernisse ebenso waghalsig wie rücksichtslos aus dem Weg räumt. In diesem Sinn nimmt Zarathustra in Za III Von alten und neuen Tafeln 4 erneut auf die Konstellation von Seiltänzer und Possenreißer Bezug. Dort stuft er das possenreißerische Überspringen des Menschen jedoch explizit als den falschen Weg zur Überwindung des Menschen ein: „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss. / Es giebt vielerlei Weg und Weise der Überwindung: da siehe d u zu! Aber nur ein Possenreisser denkt: ‚der Mensch kann auch ü b e r s p r u n g e n werden.‘“ (249, 26–30) 21, 14–19 „Vorwärts, Lahmfuss, rief seine fürchterliche Stimme, vorwärts Faulthier, Schleichhändler, Bleichgesicht! Dass ich dich nicht mit meiner Ferse kitzle! Was treibst du hier zwischen Thürmen? In den Thurm gehörst du, einsperren sollte man dich, einem Bessern, als du bist, sperrst du die freie Bahn!“] Lautstark stört sich der „bunte Gesell“ an der langsamen Gangart des Seiltänzers; er stuft ihn als Hindernis ein, als fehl am Platze und in seinem Beruf, da er, wie es in einer Vorstufe zu diesem Passus heißt, eigentlich gar „nicht gehen“ kann: „Vorwärts, Lahmfuß, rief seine fürchterliche ˹freche˺ Stimme, vorwärts Schleichhändler, faule Kröte, Bleichgesicht, daß ich dich nicht mit meiner Ferse kitzle! Was treibst du zwischen den Thürmen, wenn du nicht gehen kannst? Versperrst du mir den Weg? ˹?˺ ˹Du gehörst ˹Gehörst du nicht˺ in den Thurm! Was versperrst du den Weg? Warte nur, ich werde dich einsperren! Was sperrt man dich nicht ein? Aber du sollst mir nicht den Weg versperren!˺“ (Z I 2,43; KGW VI 4, 27) Die Schimpfworte, mit denen der Verfolger den Seiltänzer bedrängt, beziehen sich zunächst auf dessen Langsamkeit („Faulthier“, „Lahmfuss“), die nachfolgenden Beleidigungen scheinen assoziativ hinzugefügt. Das despektierliche Kompositum „Schleichhändler“ wird wohl wegen des ersten Wortbestandteils, der auf die langsame Fortbewegungsweise des Schleichens verweist, in die asyndetische Wortreihung integriert. In übertragener Bedeutung bezeichnet der Ausdruck laut Adelung „eine Person, welche einen Schleichhandel treibt, mit verbothenen Waaren handelt, oder erlaubte Waaren auf eine verbothene und verstohlene Art einführet oder verhandelt“ (Adelung 1793–1801, 3, 1515). „Bleichgesicht“ – in der zeitgenössischen Abenteuerliteratur der Ausdruck, mit dem der Indianer den Europäer belegt – dürfte aufgrund der klanglichen Ähnlichkeit („Schleich“/„Bleich“) in die Liste der

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Schmähungen geraten sein. Eine andere Verstehensmöglichkeit erwägt Honneth 2002, 231, der „Bleichgesicht“ als eine Vorausdeutung auf das ‚Erbleichen‘ und auf den Tod des Seiltänzers versteht. – Interessant ist, dass Zarathustra in Za III Vom Gesicht und Räthsel 2 das Schimpfwort „Lahmfuss“ (200, 10) aufgreift, wenn er den Geist der Schwere beschimpft. Deutliche Analogien zu dem Passus weist überdies folgender Entwurf zu Za III auf (ohne dass dort die Seiltänzermetapher explizit Erwähnung findet): „Zarathustra 3. Vorwärts, Lahmfuß Schleichhändler – oder ich springe usw. / so schrie es mich an. / Das Leben selber schuf diesen für das Leben schwersten Gedanken, es will über sein höchstes Hinderniß h i n w e g!“ (NL 1883, KSA 10, 15[46], 491, 12–16) Der Sprung des Possenreißers erscheint damit als ein Gleichnis für das Leben, das sich über den „schwersten Gedanken“ – eine Formulierung, die auf die ewige Wiederkunft hinzudeuten scheint (vgl. dazu NK 4/2, 199, 18–20) – hinwegsetzen möchte. Das nachgelassene Notat wohl den Impuls für eine Formulierung in Za III Das andere Tanzlied 1, mit der Zarathustra das Leben als „boshafte Springerin“ (283, 21) anspricht, zu der er selbst vormals hinzuspringen suchte: „Zu dir hin sprang ich: da flohst du zurück vor meinem Sprunge; und gegen mich züngelte deines fliehenden fliegenden Haars Zunge!“ (282, 15–17) Am Motiv des (Hinweg-)Springens zeigt sich exemplarisch die Verwandlungsfähigkeit des Za-Textes, der die eigenen Motive und Bilder fortwährend variiert, neu kontextualisiert und ihnen veränderte Bedeutung zuweist. 21, 16 f. Dass ich dich nicht mit meiner Ferse kitzle!] Es dürfte sich um eine Entlehnung aus dem Reiterjargon handeln; ‚mit der Ferse kitzeln‘ bedeutet einem Pferd die Sporen geben, es zur Eile treiben. Der Protagonist in James Fenimore Coopers Erzählung Der Spion sagt von seinem Schecken: „[M]it einem einzigen Drucke der Sporen hat er auf zwei Wochen genug, und es ist wahrhaftig gefährlich, ihn so zu kitzeln, denn es ist ein Pferd, das sich nichts gefallen läßt“ (Cooper 1839, 294). 21, 22–24 er stiess ein Geschrei aus wie ein Teufel und sprang über Den hinweg, der ihm im Wege war.] Die tödliche Konkurrenz zwischen dem Seiltänzer und dem rasch und rücksichtslos voranschreitenden Possenreißer veranschaulicht abweichende Entwicklungsdynamiken, ein unterschiedliches Tempo in der Überwindung des Menschen (siehe dazu NK 21, 12–14). Offen bleibt, ob eine davon zu präferieren ist. In einem später entstandenen nachgelassenen Notat aus dem Frühjahr 1884 plädiert der Sprecher für ein Voranschreiten „ohne Hast“: „,Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß‘ – es kommt auf das tempo an: die Griechen bewunderungswürdig: ohne Hast, / – meine V o r f a h r e n H e r a c l i t E m p e d o c l e s S p i n o z a G o e t he“ (NL 1884, KSA 11, 25[454], 134, 8–12). Zarathustra aber spricht wiederholt von seinem Drang, sich über die Gegenwart und ihre Menschen hinwegzusetzen. Er verlagert die entscheidenden Koordinaten seiner Existenz in die Vertikale und entwirft sich als Aufstrebenden, Erhabenen, ja,

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als einen Fliegenden (zur Metapher des Fliegens vgl. NK 49, 34–50, 4). Das von ihm mehrfach als Präfix und Adverb gebrauchte ‚hinweg‘ kennzeichnet (in Analogie zum in Za allgegenwärtigen Präfix ‚über‘; vgl. dazu NK 11, 14 f.) sein auf Überwindung ausgerichtetes Bestreben: „[H]inwegspringen“ (27, 5), „hinweg tanzen“ (278, 4; 367, 26), „hinweg lachen“ (367, 28 f.) will Zarathustra über alles, was seine Selbstentfaltungskraft lähmt. Er reflektiert aber durchaus, dass dieser Impuls in einem Spannungsverhältnis steht zu der selbstauferlegten prophetischen Sendung, die zwar auf Steigerung bzw. Überwindung des Menschen zielt, zugleich aber darauf angewiesen ist, ein offenes Ohr bei denjenigen zu finden, die ihr aktuelles Dasein transzendieren sollen. In Za II Von der Menschen-Klugheit sucht Zarathustra sich daher in seinem Verlangen nach Distanz zu zügeln, denn: „Zu leicht risse es mich hinauf und hinweg!“ (184, 1 f.) 21, 24–27 Dieser aber, als er so seinen Nebenbuhler siegen sah, verlor dabei den Kopf und das Seil; er warf seine Stange weg und schoss schneller als diese, wie ein Wirbel von Armen und Beinen, in die Tiefe.] Eine Vorstufe führt den Sturz des Seiltänzers unmittelbar auf den Übersprung durch den Verfolger zurück: „Der aber, über den er sprang, verlor dabei den Kopf und das Seil, warf seine Stange weg und fiel ˹schoß˺ schneller als sie, wie ein Wirbel von Händen und Füßen, in die Tiefe.“ (Z I 2,43; KGW VI 4, 27) Im publizierten Text stürzt der Seiltänzer keineswegs (auch wenn das in der Forschung immer wieder zu lesen ist), weil er unmittelbar durch den Sprung des Possenreißers ins Straucheln geriete, sondern weil er sich als besiegt erkennt. Zum Verhängnis wird ihm die Erkenntnis, überflügelt worden zu sein. Darauf, dass der Seiltänzer und sein mysteriöser Verfolger in einem Konkurrenzverhältnis zueinanderstehen, deutet auch die Rede vom „Nebenbuhler“ hin. Köhler 2012, 229 nimmt das zum Anlass, um die Seiltänzerepisode autobiographisch auf N.s Beziehung zu Wagner einzuengen: „Der buntgekleidete Possenreißer Wagner sprang über seinen ‚Nebenbuhler‘, den ängstlichen Nietzsche, hinweg, worauf dieser die Nerven verlor und in den Abgrund des beruflichen Ruins stürzte“. Ähnlich bereits Schulte 1995, 98, der anmerkt, dass Wagner sich in seiner Jugend als Seiltänzer betätigt habe, und der den Tod des Seiltänzers symbolisch auf den des „wagnerhörige[n] Nietzsche“ bezieht. 21, 27 f. Der Markt und das Volk glich dem Meere, wenn der Sturm hineinfährt:] Vgl.: „Der Markt und das Volk war Ein Meer:“ (Z I 2,43; KGW VI 4, 27). 22, 1 f. und gerade neben ihn fiel der Körper hin] Eine frühere Version lautet: „und ˹gerade˺ neben ihm˹n˺ blieb der Zerschmetterte liegen“ (Z I 2,43; KGW VI 4, 27). Das Motiv des Fallens steht innerhalb des werkinternen Leitmotivgeflechts in Opposition zu denen des Aufsteigens und Fliegens als Leitmetaphern der (Selbst-)Überwindung (vgl. dazu NK 49, 34–50, 4). Zarathustras personifizierte Ge-

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genkraft, der Geist der Schwere, zwingt hingegen alles nach unten, durch ihn „fallen alle Dinge“ (49, 30 f.; vgl. zum Geist der Schwere NK 49, 29–33). 22, 5–7 ich wusste es lange, dass mir der Teufel ein Bein stellen werde. Nun schleppt er mich zur Hölle: willst du’s ihm wehren?“] Der beinstellende Teufel entstammt Faust II, dort sagt Mephistopheles zum Baccalaureus: „Der Teufel stellt dir nächstens doch ein Bein.“ (V. 6792; Goethe 1853–1858, 12, 92) Durch den Teufel glaubt sich der Seiltänzer zu Fall gebracht und erwartet ewige Höllenpein als unausweichliches Schicksal. In einem früheren Entwurf heißt es entsprechend: „nun schleppt er mich zur Hölle: wer wollte es ihm vergönnen!“ (Z I 2,43; KGW VI 4, 27) Die Identifikation des Possenreißers mit dem Teufel legt schon zuvor der Erzähler nahe, der es allerdings bei einem Vergleich belässt; „wie ein Teufel“ (21, 23) schreit der Possenreißer ihm zufolge. Demgegenüber entmystifiziert Zarathustra die Gestalt des Possenreißers, die in seinen Augen nicht teuflisches Verhängnis repräsentiert, sondern die Sinnlosigkeit, die dem menschlichen Dasein „immer noch“ (23, 3) eigne, womit er zugleich die Möglichkeit einer Zukunft andeutet, in der das Dasein des Menschen einen Sinn erhalten würde. Aufgegriffen wird das Motiv der Verfallenheit an den Teufel wenig später, in Za I Vorrede 8, von den Totengräbern, den Vollstreckern der gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen. Sie verwehren dem Seiltänzer ein würdiges Begräbnis und erklären nicht nur ihn, sondern auch Zarathustra zum Fraß des Teufels (vgl. NK 24, 1–10). 22, 8–14 „Bei meiner Ehre, Freund, antwortete Zarathustra, das giebt es Alles nicht, wovon du sprichst: es giebt keinen Teufel und keine Hölle. Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib: fürchte nun Nichts mehr!“ / Der Mann blickte misstrauisch auf. „Wenn du die Wahrheit sprichst, sagte er dann, so verliere ich Nichts, wenn ich das Leben verliere.] Diese Stelle kontrastiert mit dem Ende von Za I Vorrede 2. Während Zarathustra dort rasch das Weite sucht, um den alten Einsiedler nicht aus seinem Glauben aufzuschrecken, zerstört er hier die Glaubensgewissheiten des sterbenden Seiltänzers, freilich mit tröstender Absicht, um ihn von dem christlichen Angstapparat, von seiner Furcht vor „Teufel“ und „Hölle“ zu befreien. Für hinfällig erklärt er insbesondere den Leib-Seele-Dualismus und damit die christliche Vorstellung von einem ewigen Leben. Die Seele stirbt seinen Worten zufolge sogar noch schneller als der Leib (vgl. hierzu NK 39, 8 f.). Zarathustras Aufforderung, „fürchte nun nichts mehr“, bildet den Gegenentwurf zu dem Aufruf des alttestamentarischen Erlösergottes in Jesaja 43, 1–7: „fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset; ich habe dich bey deinem Namen gerufen; du bist mein“ (Die Bibel AT 1818, 705). Das von Zarathustra offerierte Erlösungsangebot fußt gerade auf der Erkenntnis der Nichtexistenz von Gott und Jenseits. Wie aber ist es zu erklären, dass Zarathustra sich hier als schonungsloser Aufklärer und Glaubenszersetzer betätigt, den Gottesglauben des Einsiedlers je-

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doch nicht zu unterminieren sucht? Eine Antwort wäre, dass er sein Handeln an der Lebenssituation des jeweiligen Gegenübers ausrichtet. Den harmonisch in seinem Glauben lebenden Einsiedler belässt er in seiner beglückenden Illusion, während er den Seiltänzer von einem Glauben befreit, der ihn mit Ängsten peinigt. Indem er den Seiltänzer mit der Sterblichkeit des ganzen, des leibseelischen Menschen konfrontiert, sucht er ihm die Angst vor dem Tod zu nehmen. Die Folgerung des Seiltänzers, „so verliere ich Nichts, wenn ich das Leben verliere“, erweist sich jedoch als zweischneidig. Einerseits ermöglicht sie ihm, dem eigenen Tod furchtlos entgegenzusehen, andererseits bewirkt sie, dass er sein Leben als wertlos erfährt. Das verweist auf das Sinnvakuum, das der Tod Gottes hinterlassen hat. Bereits ein Notat N.s von 1876/77 bezeichnet die zentralen Glaubensvorstellungen als eine „Art vorübergehende Krankheit“: „Wir haben uns freigemacht von vielen Vorstellungen – Gott ewiges Leben vergeltende jenseitige und diesseitige Gerechtigkeit, Sünde Erlöser Erlösungsbedürftigkeit –; eine Art vorübergehende Krankheit verlangt einen Ersatz an die leeren Stellen hin, die Haut schaudert etwas vor Frost, weil sie früher hier bekleidet war.“ (NL 1876/77, KSA 8, 23[110], 442, 10–15) Was den Seiltänzer betrifft, scheint der Befund indes radikaler, denn für ihn droht mit dem Jenseitsglauben auch das diesseitige Leben seinen Wert zu verlieren. Eine Vorstufe zeigt das noch drastischer, indem der Sprecher den Verlust des Lebens dort gar zum Gewinn erklärt: „wenn du die Wahrheit sprichst, sagte er dann, so habe ˹verliere˺ ich nichts verloren und noch etwas gewonnen mit diesem˹, wenn ich das Leben verliere; ich hätte es längst wegwerfen sollen ich bin nicht viel mehr als˺ ein Thier, das man tanzen gelern˹h˺t hat, durch Schläge und schmale Bissen.‘ Nicht doch, sprach Z., du hast“ (Z I 2,42; KGW VI 4, 27). Die ethische Frage, ob man einen zufrieden lebenden Menschen aus seiner auf falschen Voraussetzungen beruhenden Existenz herausreißen darf, spielt im Fortgang von Za keine Rolle. Für Zarathustra steht außer Frage, dass es gilt, die „Schlafenden“ aus ihrem Zustand aufzurütteln (vgl. 25, 4–7 u. NK 12, 25–27). 22, 14 f. Ich bin nicht viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat, durch Schläge und schmale Bissen.“] Durch den Verlust des ewigen Lebens sieht sich der Seiltänzer auf die unwürdige Existenz eines abgerichteten und tanzenden Tieres herabgesetzt. In einer Vorstufe hebt er hervor, dass er sich nicht einmal für bemitleidenswert erachtet: „‚Ich bin nicht viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat: ich bin des Mitleidens nicht werth.‘“ (Z I 2,43; KGW VI 4, 27). Das negative Selbstbild des Seiltänzers, das an einen dressierten Tanzbären denken lässt (zum Motiv des „Tanzbären“ vgl. NK 4/2, 303, 22–29) und jedenfalls wenig passend erscheint für die artistische Kunst des Seiltanzes, die höchste Körperbeherrschung und Konzentration erfordert, lässt den abgestürzten Seiltänzer als ein Kontrastbild Zarathustras erscheinen. Denn aus Zarathustras Perspektive – schon gleich zu Beginn charakterisiert ihn ja der Einsiedler als „Tänzer“ (12, 24) –

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erscheint die Metapher des Tanzens als Bild für die spielerische Überwindung all derjenigen Aspekte des Daseins, die das Leben dem Menschen schwer erträglich machen. Tanz erhält somit im Motiv- und Metapherngeflecht von Za schillerndvielfältige Bedeutung (vgl. dazu NK 12, 23 f.). 22, 16–19 „Nicht doch, sprach Zarathustra; du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist Nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zu Grunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.“] Dass Zarathustra dem Sterbenden verspricht, ihn eigenhändig zu begraben, erinnert an die gesellschaftliche Ächtung der Schausteller und Gaukler, die im christlichen Kulturkreis kein ehrliches Begräbnis bekamen, und betont die Wertschätzung, die Zarathustra dem Seiltänzer gegenüber an den Tag legt. Er begründet sie damit, dass dieser sich im Gegensatz zur Menge für ein gefährliches Leben entschieden habe und daran zugrunde gegangen sei. Für die Hochschätzung desjenigen, der aus der Gefahr seinen „Beruf“ gemacht habe, spricht sich in ähnlicher Weise der 1875 in der Gartenlaube über den tollkühnen Seiltänzer Wilhelm Kolter erschienene Artikel „Der Sieger von Aachen“ aus: „Und wenn mit noch so starkem Kopfschütteln über die Anwendung dieses Muths, wir dürfen die Größe desselben, wie Wilhelm Kolter ihn so oft gezeigt hat, ehrlich bewundern und nicht kurzweg den Stab darüber brechen, daß es Geister giebt, die eine Befriedigung des Ehrgeizes in der Bewältigung von Gefahren finden, durch die sie mit dem Bewußtsein der Kraft, Gewandtheit und Unerschrockenheit eine freie Berufsarbeit vollbringen.“ (Hofmann 1875, 655) – Dass das gefährliche Leben in Zarathustras Augen einen Wert darstellt und Grund seiner Zuneigung ist, lässt sich einem getilgten Entwurf deutlich entnehmen: „‚Es ist schade um ihn, er hat aus der Gefahr seinen Beruf gemacht, das liebe ich an einem Menschen.‘“ (Z I 2,43; KGW VI 4, 27) Als „Freund aller Solchen, die […] nicht ohne Gefahr leben mögen“ (197, 12–14; vgl. näher zum Motiv des ‚gefährlich Lebens‘ NK 4/2, 197, 12–14), bezeichnet der Erzähler Zarathustra in Za III Von Gesicht und Räthsel 1 und weist damit darauf hin, dass Zarathustras Sympathie grundsätzlich denjenigen gilt, die sich (existenziell und geistig) der Gefahr aussetzen. 22, 20–22 Als Zarathustra diess gesagt hatte, antwortete der Sterbende nicht mehr; aber er bewegte die Hand, wie als ob er die Hand Zarathustra’s zum Danke suche. –] Die durch den hypothetischen Vergleich (eingeleitet durch die Konjunktion „wie als ob“) gedeutete Handbewegung des Sterbenden verweist den Leser am Schluss des Abschnitts nochmals nachdrücklich auf die Haltung, die der Erzähler zum Geschehen einnimmt, der zwar einerseits die Ereignisse überschaut, andererseits aber nicht über Einblick in das Innere der Figuren verfügt. Diese Form der narrativen Vermittlung, in der Narratologie als externe Fokalisierung bezeichnet, lässt die Dankbarkeit des sterbenden Seiltänzers als bloße Mutmaßung der Erzählinstanz

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erscheinen, so dass am Ende offenbleibt, ob es Zarathustra gelungen ist, dem Seiltänzer zu einem versöhnlichen Lebensende zu verhelfen. Eine Vorstufe lautet: „Als Z. dies gesagt hatte, bewegte ˹sagte˺ ˹antwortete˺ der Sterbende ˹nicht mehr aber bewegte˺ die Hand, als ob er die Hand Z’s suchte. –“ (Z I 2,43; KGW VI 4, 27)

7. Die Situation hat sich völlig gewandelt: Zwar befindet Zarathustra sich noch immer auf dem Marktplatz, doch es bricht die Nacht an und er bleibt allein mit dem Leichnam des Seiltänzers zurück. Dem Leser begegnet hier erstmals ein in sich gekehrter Protagonist, der seine Rolle und sein Verhältnis zu den Menschen selbstkritisch reflektiert. So kommt dem Abschnitt primär die Funktion der Selbstbesinnung zu. Noch immer legt Zarathustra ein prophetisches Selbstverständnis an den Tag, begreift sich als großen Sinngeber und hält fest an dem Plan, die Menschen den Übermenschen und damit den „Sinn ihres Seins“ (23, 5) zu lehren, doch zugleich gesteht er sich ein, dass er diesem Ziel bislang nicht nähergekommen ist, da er seine Zuhörer mit seiner Botschaft nicht erreichen konnte. 23, 1 f. Wahrlich, einen schönen Fischfang that heute Zarathustra! Keinen Menschen fieng er, wohl aber einen Leichnam.] Der Beginn von Zarathustras Rede spielt auf das biblische Gleichnis von den Menschenfischern in Matthäus 4, 18–20 an, womit sich Zarathustra in die Rolle von Jesus versetzt: „Als nun Jesus an dem galiläischen Meer ging, sahe er zwei Brüder, Simon, der da heißt Petrus, und Andreas, seinen Bruder; die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Bald verließen sie ihre Netze, und folgten ihm nach.“ (Die Bibel NT 1818, 6; vgl. ähnlich auch Markus 1, 16–18) Mit der Feststellung, dass er lediglich einen „Leichnam“, also einen leblosen Körper erbeutet habe, hebt Zarathustra das Scheitern seiner auf ‚Menschenfang‘ ausgerichteten Absichten pointiert hervor. Entsprechend selbstironisch äußert er sich in einer Vorstufe: „was für einen ˹Einen schönen˺ Fischfang that ich ˹Zarathustra˺ heute Zarath ˹!˺ Einen M. ˹Keinen Menschen˺ zwar fieng ich nicht, wohl ˹er˺, aber einen Leichnam: den will ich ˹er˺ nun mit mir ˹sich˺ nehmen und die so diese Stadt verlassen.“ (Z I 2,43; KGW VI 4, 27) Nur wenig später zieht er in Za I Vorrede 9 die Konsequenz aus dem gerade Erlebten und beschließt: „Gefährten brauche ich und lebendige, – nicht todte Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will.“ (25, 21–23) Zarathustra kommt mehrfach auf das Zusammentreffen mit Seiltänzer und Possenreißer als Initialerlebnis zurück. Wenn er sich in Za III Von den Abtrünnigen daran erinnert, dann verallgemeinert es als seiner „Art“ gemäß und erklärt in pluralischer Rede „Leichname und Possenreisser“ zu seinen „ersten Gesellen“ und

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zu Vorläufern seiner „G l ä u b i g e n“: „Wer meiner Art ist, dem werden auch die Erlebnisse meiner Art über den Weg laufen: also, dass seine ersten Gesellen Leichname und Possenreisser sein müssen.“ (227, 3–5) Auch in Za IV Vom höheren Menschen spricht er rückblickend in verallgemeinerndem Plural davon, dass ihn zunächst „Seiltänzer“ und „Leichname“ umgeben hätten und rückt sich selbst in ein Analogieverhältnis zum toten Seiltänzer: „Des Abends aber waren Seiltänzer meine Genossen, und Leichname; und ich selber fast ein Leichnam.“ (356, 6–8) Die Frage nach Zarathustras Anhängerschaft und den angemessenen Adressaten seiner Lehre bleibt über alle vier Teile von Za hinweg problematisch. Za IV Das Honigopfer greift das Bild des Menschen-Fischfangs erneut auf (vgl. NK 4/2, 297, 1–13). Dort präsentiert sich Zarathustra als „der boshaftigste aller Fischfänger“ (298, 29 f.), der seine Angel nach den „schönsten Menschen-Fische[n]“ (298, 26) auswirft. 23, 3–6 Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne Sinn: ein Possenreisser kann ihm zum Verhängniss werden. Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch] Ein Notat führt den Übermenschen als Heilmittel gegen die Sinnlosigkeit des Daseins an und stellt ihn der Erfahrung von Kontingenz entgegen: „Unheimlich ist das menschliche Sein und immer noch ohne Sinn: ein Hanswurst kann ihm zum Verhängniß werden. / Wozu lebt dieser? Wozu stirbt jener? Niemand kann es wissen, denn es giebt kein Wozu darin. / Ehedem hielt man die Hand auf, wenn der Tod kam, und sagte ,ein Geschenk von Oben‘. / Es gab diesen Geber gar nicht, ein Ziegelstein vom Dach war das Geschenk: Unwissenheit war alle Vernunft im Sterben. / Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welches ist der Übermensch.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[28], 225, 1–10) Der Übermensch erscheint damit als ein Sinngebungsprogramm, das auf die (nach dem Tod Gottes) grassierende Kontingenzerfahrung mit dem Versprechen einer Überwindung des Schicksalhaft-Zufälligen reagiert. 23, 6 der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.] Zur Analogisierung von Übermensch und Blitz vgl. NK 16, 13–16. 23, 7 f. Aber noch bin ich ihnen ferne, und mein Sinn redet nicht zu ihren Sinnen.] In einem Nachlassnotat werden Zarathustras Redekünste von einem mit der Einsiedler-Figur identifizierten ‚Ich‘ angezweifelt: „Das ist nun deine Sprache: und es nimmt mich Wunder, solltest du mit solcher Rede jemanden zu dir überreden – es sei denn Leichname und Possenreißer“ (NL 1883, KSA 10, 18[38], 576, 22–24). 23, 8 f. Eine Mitte bin ich noch den Menschen zwischen einem Narren und einem Leichnam.] Zarathustra macht sich hier die Sichtweise des Volks zu eigen, das seiner (metaphorischen) Neubestimmung des Menschen als einem „Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch“ (16, 25 f.) mit Skepsis und Hohn begegnet. Diese Anverwandlung zeigt nicht allein, wie stark er die Anfeindung empfindet, son-

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dern verdeutlicht überdies, dass er in der Lage ist, die eigene Rolle aus fremder Perspektive kritisch zu betrachten. Aus der internalisierten Fremdperspektive stellt er nicht allein die Idee des Übermenschen in Frage, an dessen Stelle er jetzt den „Leichnam“ rückt („zwischen Thier und Übermensch“ / „zwischen einem Narren und einem Leichnam“), sondern auch die Idee der Mitte, die er am Ende von Za I in „Von der schenkenden Tugend“ zum großen menschheitsgeschichtlichen Wendepunkt ausruft, an dem sich das Schicksal des Menschen entscheiden soll (dazu NK 102, 6–9). 23, 10–12 Dunkel ist die Nacht, dunkel sind die Wege Zarathustra’s. Komm, du kalter und steifer Gefährte! Ich trage dich dorthin, wo ich dich mit meinen Händen begrabe.] Was hier als Selbstgespräch Zarathustras vermittelt wird, teilt in einem früheren Entwurf der Erzähler in drastisch-blutiger Bildlichkeit mit: „Dunkel war die Nacht, auf dunklen Wegen gieng Z. durch die Nacht: er ˹und langsam war seine Reise, denn˺ 〈er〉 trug den Leichnam auf dem ˹seinem˺ Rücken, ˹so und˺ Blut floß an ihm herab ˹einen kalten und harten steifen Leichnam,˺ an dem viel ˹das˺ Blut noch nicht getrocknet war.“ (Z I 2,43; KGW VI 4, 27) 23, 10 Dunkel ist die Nacht, dunkel sind die Wege Zarathustra’s.] Mit seinem Bekenntnis zu den dunklen Wegen beruft sich Zarathustra parodistisch auf die Bibel; in Sprüche 4, 19 heißt es: „Der Gottlosen Weg aber ist wie Dunkel, und wissen nicht, wo sie fallen werden.“ (Die Bibel AT 1818, 631) Die Anspielung signalisiert, dass Zarathustra für sich den Weg der Gottlosen wählt. 23, 11 f. Komm, du kalter und steifer Gefährte! Ich trage dich dorthin, wo ich dich mit meinen Händen begrabe.] Zarathustra begräbt den toten Seiltänzer nicht in der Erde, bestattet ihn aber, wie man in den beiden Folgeabschnitten erfährt, eigenhändig „in eine[m] hohlen Baum“ (25, 9).

8. Zarathustra, der vormals in die Stadt aufgebrochen ist, um seine Weisheit zu verschenken, verlässt diese nun wieder. Sein Scheitern ist evident, denn statt als Lehrer des Volks akzeptiert zu sein, bleibt er allein mit dem Leichnam des Seiltänzers zurück. Dass er den Toten mit sich trägt, um ihm zu dem von der Gesellschaft verwehrten Begräbnis zu verhelfen, besiegelt seinen sozialen Außenseiterstatus. Auf dem nächtlichen Weg hat er drei Begegnungen, die ihm sein Außenseitertum deutlich vor Augen rücken. Ironischerweise sind diejenigen, auf die er stößt, selbst Randfiguren der Gesellschaft, und dennoch behandeln sie ihn mit rigider Abwehr. Noch in der Stadt begegnet er dem mysteriösen Possenreißer (vgl. NK 21, 12–14), der ihm als Warner gegenübertritt, indem er ihn über den Hass der „Guten und

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Gerechten“ (23, 20) in Kenntnis setzt und ihn nachdrücklich auffordert, die Stadt zu verlassen, da ihm andernfalls das gleiche Schicksal drohe wie dem Seiltänzer. Beim Verlassen der Stadt trifft er dann auf Totengräber, die ihn verspotten, weil er den Leichnam des Seiltänzers mit sich trägt. Obgleich sie selbst einem für niedrig geltenden und (im Mittelalter) als unehrlich eingestuften Beruf nachgehen und somit ihrerseits Außenseiter sind, vertreten sie auf aggressive Weise die Normen einer Gesellschaft, die alle Andersartigen stigmatisiert. Sie sprechen dem Seiltänzer den menschlichen Status ab und stufen ihn zum „todten Hund“ (24, 3 f.) herab. Schließlich gelangt Zarathustra nach längerem Weg, der ihn „an Wäldern und Sümpfen vorbei“ (23, 12) führt, an das fern der Stadt gelegene Haus eines Einsiedlers, der ihm und seinem „Gefährten“ (24, 32) zwar „Brod und Wein“ (24, 30) anbietet, sich sonst aber nicht um ihre Bedürfnisse bekümmert. Das verweist auf eine zum rituellen Leerlauf verkommene religiöse Praxis, die sich über die Bedürfnisse der Menschen hinwegsetzt. Zarathustra lässt auch diese letzte der drei Stationen, die ihn immer weiter von der Gesellschaft der Menschen wegführen, hinter sich. Er findet sich schließlich weglos in einem „tiefen Walde“ (25, 8) wieder, wo er sich zum Schlafen hinlegt und den Leichnam in einem hohlen Baum birgt, um ihn vor den Wölfen zu schützen. Zu diesem Abschnitt enthält Z I 2,38 eine bereits weit ausgeführte Vorstufe, in der die Begegnung mit dem Possenreißer noch fehlt: „Z. lud den Leichnam auf seinen Rücken und machte sich auf den Weg. Da kam ˹Am Thore der Stadt˺ aber ˹kamen˺ die Todtengräber auf ihn zu, betrachteten ihn mit ihren Fackeln und spotteten sehr über Z. ihn. Er Z. trägt den todten Hund davon, sagten sie, er will dem Teufel seinen Brocken stehlen. Glück auf der Reise! Und daß wir euch Beide nicht wieder sehen ˹begegnen˺! Z. sagte kein Wort ˹dazu˺ und gieng seines Weges. Als er zwei Stunden gegangen war, wurde er müde ˹an Wäldern und Sümpfen˺ vorüber, und verfolgt vom Geschrei der Nachtvögel und dem hungrigen Geheul der Wölfe, blieb er endlich an einer einsamen Hütte stehn, in der ˹ein˺ Licht brannte. Der Hunger überfällt mich ˹sprach ˹sagte˺ Z.˺ wie ein Räuber, er überfällt mich ˹jetzt˺ in Nacht und Wäldern: ˹˹Wunderliche Launen hat˺ mein Hunger hat eine wunderliche Laune˹!˺˺ oft kommt er mir erst nach der Mahlzeit und heute am Tage blieb er mir ˹ganz˺ ferne. Eine böse Laune hat mein Hunger ˹blieb er den ganzen Tag mir fern. Wo weilte er doch?˺ – Und damit schlug Z. an die Pforte ˹Thür˺ der Hütte, einmal, zweimal, dreimal. Ein alter Mann erschien und trug das Licht. Wer kommt zu mir und zu meinem Traum? sagte der Alte. Ein Lebendiger und ein Todter, antwortete Z. Gieb mir etwas zu essen und zu trinken, ich vergaß es am Tage.“ Der Alte gieng fort und, kam ˹aber˺ bald zurück, mit ˹und bot Z.˺ Brod und Wein. Gieb ˹Heiße˺ auch dem ˹deinen˺ Gefährten davon ˹zu nehmen ˹essen˺ sagte er˺ und geht mir ˹dann˺ wieder eures Wegs , sagte er zu Z.. Z. antwortete: Todt ist mein Gefährte, ich werde ihn schwerlich dazu überreden. Das geht

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mich nichts an, sagte der Alte mürrisch, wer an meinem Hause anklopft, muß nehmen, was ich ihm biete. Gehabt euch wohl!‘ Z. aber gieng wieder zwei Stunden weiter und vertraute dem Wege und dem Lichte der Sterne, ein gewohnter Nachtgänger und ein Freund der Schlafenden! Als aber der Morgen graute, fand er sich in einem tiefen Walde, und kein Weg zeigte sich mehr. Da legte er ˻sich˼ unter einen Baum hin ˹den Todten in einen hohlen Baum sich zu Häupten˺ und schlief ˻: und der Todte lag ihm zur Seite˼.“ (KGW VI 4, 29 f.) 23, 14 f. Als Zarathustra diess zu seinem Herzen gesagt hatte, lud er den Leichnam auf seinen Rücken und machte sich auf den Weg.] Vom Umgang mit einem Leichnam ist in anderem Kontext in einem nachgelassenen Entwurf zu einem Zarathustra-Drama aus dem Sommer 1883 die Rede: Es sieht vor, dass Zarathustra einen Leichnam umarmt – einen vormals Pestkranken, den er selbst getötet hat: „Jetzt die Scene des Weibes, an dem wieder die Pest ausbricht. Aus Mitleid tödtet er. Er umarmt den Leichnam.“ (NL 1883, KSA 10, 13[2], 444, 22–24) 23, 16–18 Und noch nicht war er hundert Schritte gegangen, da schlich ein Mensch an ihn heran und flüsterte ihm in’s Ohr – und siehe! Der, welcher redete, war der Possenreisser vom Thurme.] Wie schon bei seinem ersten Auftritt als Verfolger des Seiltänzers betritt der Possenreißer auch jetzt unvermittelt die Szene. Hatte er zuvor den Seiltänzer bedrängt, so rückt er nun Zarathustra auf den Pelz, wenngleich in einer veränderten Rolle: Nicht als Gefährder tritt er jetzt auf, sondern als Mahner, der Zarathustra vor einem weiteren Aufenthalt in der Stadt warnt. Auffällig ist, dass der zunächst unspezifisch als „ein Mensch“ Bezeichnete vom Erzähler wenig später explizit als „der Possenreisser vom Thurme“ identifiziert wird. Beim ersten Auftritt hingegen war die Rede von einem „bunte[n] Gesell“, der einem „Possenreisser“ gleiche (21, 13). Was dort noch bloßer Vergleich war, scheint sich hier also zur Identität zu verfestigen. Bei seinem Verschwinden aber heißt er dann wiederum nurmehr „der Mensch“ (23, 29). Zur fragwürdigen Rolle und Identität des ‚Possenreißers‘ siehe NK 21, 12–14 und NK 23, 23–28. 23, 20–23 Es hassen dich die Guten und Gerechten und sie nennen dich ihren Feind und Verächter; es hassen dich die Gläubigen des rechten Glaubens, und sie nennen dich die Gefahr der Menge.] Der Possenreißer erklärt Zarathustra zum Hassobjekt derjenigen, die sich selbst für die Repräsentanten des „rechten Glaubens“ und für die Hüter der wahren Werte erachten. Zarathustra übernimmt diese Sichtweise im Folgeabschnitt, in dem er sich wörtlich an die Rede des Possenreißers anlehnt (ein Indiz für die Nähe beider Figuren) und sich selbst als Schaffenden und zugleich als Vernichter der bestehenden Werte und als Feind der über das Volk wachenden „Hirten“ charakterisiert: „Hirten sage ich, aber sie nennen sich die Guten und Gerechten. Hirten sage ich: aber sie nennen sich die Gläubigen des rechten Glaubens. / Siehe die Guten und Gerechten! Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht

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ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: – das aber ist der Schaffende.“ (26, 3–8) – Die Frage nach dem Guten und Gerechten steht seit der Antike im Zentrum von praktischer Philosophie und Ethik. Ein Ursprung der Doppelformel von den „Guten und Gerechten“, die erstmals zu Beginn der Entstehung von Za in N.s Schriften auftaucht und von da an häufig angeführt wird, liegt in der berühmten Definition des Rechts durch den römischen Juristen Publius Iuventius Celsus: „Ius est ars boni et aequi“ („Recht ist die Kunst des Guten und Gerechten“; Ulpian Digesten 1.1.1. pr). Verbreitung fand die Formel von den Guten und Gerechten überdies durch die apokryphe Literatur. In den Pseudoklementinischen Homilien (entstanden im 4. Jahrhundert n. Chr.) findet sich ein Streitgespräch zwischen dem Apostel Petrus und dem Zauberer Simon, in dem es um die Güte und Gerechtigkeit Gottes geht. Dort nimmt Simon ausgehend von Matthäus 5, 45 („Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte“; Die Bibel NT 1818, 8) Anstoß an der Gleichbehandlung der Guten und Bösen durch Gott. Petrus entgegnet ihm, dass Gott den Bösen im gleichen Maß wie den „Guten und Gerechten“ die zeitlichen Güter gewähre, um auch ihnen die Möglichkeit zur Umkehr zu eröffnen (Homilie 18, 2, 4 f.; vgl. Wehnert 2010, 233). Im 19. Jahrhundert findet die Wendung von den „Guten und Gerechten“ sowohl in Theologie und Predigtliteratur als auch im öffentlich-politischen Bereich geradezu inflationäre Verwendung und dient als rhetorisches Mittel, um zu polarisieren und Mitstreiter für eine Sache oder Anschauung zu gewinnen. N. macht den rhetorischen Charakter der Rede von den „Guten und Gerechten“ durchsichtig, indem er sie als Selbstzuschreibung entlarvt (im Text durch die Verwendung von Anführungszeichen signalisiert; vgl. 129, 27; 186, 12). Die „Guten und Gerechten“ zeichnen sich also keineswegs durch entsprechende Qualitäten aus, sondern heißen nur deshalb „Gute und Gerechte“, weil sie sich selbstherrlich dazu ernennen, so wie sie ebenso selbstherrlich alle Gegner ihres Werte- und Gerechtigkeitsempfindens zu Feinden des Guten und Gerechten abstempeln. Zarathustra zielt mit seinen Reden zwar vor allem auf die aggressive Selbstgerechtigkeit der „Guten und Gerechten“, doch hat seine Ablehnung noch andere Stoßrichtungen. Er spricht von den „Guten und Gerechten“, um sich selbst als Kämpfer gegen die herrschende Moral zu inszenieren: „Den Vernichter der Moral heissen mich die Guten und Gerechten: meine Geschichte ist unmoralisch“ (Za I Vom Biss der Natter, 87, 19 f.); um zu warnen vor den vermeintlich „Guten und Gerechten“, die die selbstzugeschriebene moralische Höherwertigkeit mit Klauen und Zähnen verteidigen: „Und hüte dich vor den Guten und Gerechten! Sie kreuzigen gerne Die, welche sich ihre eigne Tugend erfinden“ (Za I Vom Wege des Schaffenden, 82, 6– 8); und um die Scheinheiligkeit und Ungerechtigkeit derjenigen bloßzustellen, die sich selbst zu „Guten und Gerechten“ deklarieren: „Misstraut allen Denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit reden! […] / Und wenn sie sich selber ‚die Guten und

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Gerechten‘ nennen, so vergesst nicht, dass ihnen zum Pharisäer Nichts fehlt als – Macht!“ (Za II Von den Taranteln, 129, 25–29) In Za III Von alten und neuen Tafeln 27 setzt Zarathustra die „Guten und Gerechten“ explizit mit den letzten Menschen gleich, beide bezeichnet er dort als „die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft“ (267, 4 f.) und fordert: „Z e r b r e c h t , z e r b r e c h t m i r d i e G u t e n u n d G e r e c h t e n!“ (267, 6 f.) Retrospektiv kommt EH Warum ich ein Schicksal bin 5 auf Zarathustras Verhältnis zu den „Guten und Bösen“ zu sprechen. Zarathustra wird dort als der „erste Psycholog der Guten“ tituliert, der zwangsläufig zugleich „ein Freund der Bösen“ (KSA 6, 369, 28 f.) sein müsse und dessen „Typus Mensch, ein relativ übermenschlicher Typus, gerade im Verhältniss zu den G u t e n übermenschlich ist, dass die Guten und Gerechten seinen Übermenschen T e u f e l nennen würden …“ (ebd., 370, 9–13). 23, 23–28 Dein Glück war es, dass man über dich lachte: und wahrlich, du redetest gleich einem Possenreisser. Dein Glück war es, dass du dich dem todten Hunde geselltest; als du dich so erniedrigtest, hast du dich selber für heute errettet. Geh aber fort aus dieser Stadt – oder morgen springe ich über dich hinweg, ein Lebendiger über einen Todten.“] Nun wird auch noch Zarathustra einem Possenreißer verglichen – von einer Figur, die hier selbst „Possenreisser“ (23, 18) genannt wird und zuvor ihrerseits einem Possenreißer verglichen wurde: „ein bunter Gesell, einem Possenreisser gleich“ (21, 13). Wenn das Possenreißerische derart offensichtlich als ein gleitender Signifikant eingesetzt ist, dann wirft das die Frage auf nach der Konsistenz und Differenzierbarkeit der in Za aufgebotenen Figuren. Gerhardt 2000d, 116 folgert: „In der Szene auf dem Markt haben wir den Possenreißer gleich dreifach: Einmal in seiner biederen Form als dressierter Seiltänzer; dann in seiner elaborierten Variante als größeres Talent, das den Vorgänger in seiner Kunst überflügelt; und schließlich als den Prediger einer auf dem Markt verkündeten Botschaft, die alle Marktschreier endgültig vertreiben soll. Nietzsche ist in allen drei Figuren, und zu seiner schwer erkennbaren Selbstironie gehört, dass er den erhöhten Possenreißer auf dem Seil dem isolierten Possenreißer auf dem Markt den Ratschlag geben lässt, die Stadt zu meiden.“ (Vgl. auch NK 21, 12–14) In einer in KGW VI 4, 30 angeführten Vorstufe spricht der Possenreißer vom Hass der anderen, der Zarathustra noch mehr trifft: „Geh weg von dieser Stadt: man haßt dich hier mehr als mich“ (N V 8,75). 23, 29 der Mensch] Vgl. NK 23, 16–18. 24, 1–10 Am Thore der Stadt begegneten ihm die Todtengräber: sie leuchteten ihm mit der Fackel in’s Gesicht, erkannten Zarathustra und spotteten sehr über ihn. „Zarathustra trägt den todten Hund davon: brav, dass Zarathustra zum Todtengräber wurde! Denn unsere Hände sind zu reinlich für diesen Braten. Will Zarathustra wohl dem Teufel seinen Bissen stehlen? Nun wohlan! Und gut Glück zur Mahlzeit!

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Wenn nur nicht der Teufel ein besserer Dieb ist, als Zarathustra! – er stiehlt sie Beide, er frisst sie Beide!“ Und sie lachten mit einander und steckten die Köpfe zusammen.] Am Verhalten der Totengräber, die dem Seiltänzer das Begräbnis verwehren, ihn zum „todten Hund“, zum „Braten“ und „Bissen“ des Teufels erklären, zeigen sich die rigiden und inhumanen Ausgrenzungsmechanismen der Gesellschaft, die sich auf christliche Werte beruft. Bezeichnenderweise wähnen sich die Totengräber, deren Beruf ja selbst sozialer Stigmatisierung unterworfen war, dem Seiltänzer derart überlegen, dass sie ihm die Menschenwürde absprechen. Dass dieser selbst die entwürdigende Herabstufung zum Tier internalisiert hat, hat sich bereits nach seinem Sturz gezeigt, als er sich mit den Worten an Zarathustra wandte: „Ich bin nicht viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat“ (22, 14 f.). Der Seiltänzer erscheint in doppelter Hinsicht als Opfer, nämlich einerseits als Opfer seines verinnerlichten Glaubens (hierzu NK 22, 5–7) und andererseits als Opfer einer Gesellschaft, die ihn ausgrenzt, obwohl er ihren Glauben teilt. Spott und soziale Stigmatisierung übertragen die Totengräber auch auf Zarathustra als denjenigen, der sich um den gesellschaftlich Geächteten kümmert und bestrebt ist, ihm seine Menschenwürde zurückzugeben. 24, 16–21 Der Hunger überfällt mich, sagte Zarathustra, wie ein Räuber. In Wäldern und Sümpfen überfällt mich mein Hunger und in tiefer Nacht. Wunderliche Launen hat mein Hunger. Oft kommt er mir erst nach der Mahlzeit, und heute kam er den ganzen Tag nicht: wo weilte er doch?] Zarathustra beschreibt sich als getrieben von einem unkalkulierbaren Hunger, der sinnbildlich für ein Verlangen einsteht, das er nicht steuern kann und das nicht durch Nahrungsaufnahme zu stillen ist. Von der Paradoxie des sich erst nach der Mahlzeit einstellenden Hungers spricht auch ein nachgelassenes Notat: „Ich bin zerstreut: mein Appetit kommt erst nach der Mahlzeit.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[72], 133, 6 f.) 24, 26 f. Der, welcher den Hungrigen speiset, erquickt seine eigene Seele: so spricht die Weisheit.“] Es handelt sich um eine Bibelallusion, die zwei Psalmen-Anspielungen kombiniert: Von der Speisung der Hungrigen durch Gott spricht Psalm 146, 7 – „der die Hungrigen speiset“ (Die Bibel At 1818, 627) –, während in Psalm 23, 1–3 von dem die Seele erquickenden Gott die Rede ist: „Der HERR ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. / Er weidet mich auf einer grünen Aue, und führet mich zum frischen Wasser; Er erquicket meine Seele“ (ebd., 566). Zarathustra wandelt den Sinn der Bibelstellen entscheidend ab, indem er der Speisung der Hungrigen ein eigennütziges Motiv unterstellt, nämlich die Absicht, der eigenen Seele damit etwas Gutes zu tun. 24, 29 f. Der Alte gieng fort, kam aber gleich zurück und bot Zarathustra Brod und Wein.] Der Einsiedler wartet Zarathustra mit den eucharistischen Gaben Brot und Wein auf, die in der christlichen Symbolik Leib und Blut Christi bedeuten. Trotz

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dieses rituellen Bezugs auf den Tod Christi lässt ihn jedoch der Tod des Seiltänzers völlig unberührt. Das zeigt, dass sein Glaube nur eine starre Hülse vorstellt. Die Symbolik von Brot und Wein wird in Za IV Das Abendmahl persiflierend aufgegriffen (vgl. dazu NK 4/2, 354, 7 f.). 24, 30–25, 3 „Eine böse Gegend ist’s für Hungernde, sagte er; darum wohne ich hier. Thier und Mensch kommen zu mir, dem Einsiedler. Aber heisse auch deinen Gefährten essen und trinken, er ist müder als du.“ Zarathustra antwortete: „Todt ist mein Gefährte, ich werde ihn schwerlich dazu überreden.“ „Das geht mich Nichts an, sagte der Alte mürrisch; wer an meinem Hause anklopft, muss auch nehmen, was ich ihm biete. Esst und gehabt euch wohl!“ –] Das Leben dieses Einsiedlers, dem Zarathustra auf seinem Weg an der Peripherie der Stadt begegnet, bietet einen Gegenentwurf zu dem einsiedlerischen Alten, auf den er beim Abstieg vom Gebirge stieß. Dessen selbstbezogene Spielart der Religiosität wird hier mit einer vermeintlich altruistischen kontrastiert. Denn dieser Einsiedler scheint sozial eingestellt, er widmet sein Dasein der Sorge für Hunger leidende Menschen und Tiere. Allerdings erweist er sich zugleich als hochgradig realitätsblind und unflexibel. Seine christlich-mitleidsvolle Haltung ist zum leeren Ritual erstarrt. Er verabreicht Brot und Wein reflexhaft, wobei er darüber hinwegsieht, ob der Empfänger ihrer überhaupt bedarf. Als Gebender, der sich nicht auf die Bedürfnisse der Empfänger seiner Gaben einstellt, spiegelt er Zarathustras Unfähigkeit, die anvisierten Adressaten zu erreichen. Eine gravierende Differenz liegt freilich darin, dass der Einsiedler mit sich im Reinen scheint, während Zarathustra seine Unzulänglichkeit reflektiert. 25, 4–7 Darauf gieng Zarathustra wieder zwei Stunden und vertraute dem Wege und dem Lichte der Sterne: denn er war ein gewohnter Nachtgänger und liebte es, allem Schlafenden in’s Gesicht zu sehn.] Bereits in Za I Vorrede 2 hat der Einsiedler Zarathustras Verhältnis zu den Menschen mit dem Antagonismus von Wachen und Schlafen charakterisiert und Zarathustra, den „Erwachte[n]“, mit der skeptischen Frage konfrontiert: „was willst du nun bei den Schlafenden?“ (12, 26 f.; vgl. NK 12, 25–27) Eine Vorstufe nennt ihn hingegen nicht nur einen „gewohnte[n] Nachtgänger“, sondern auch einen „Freund der Schlafenden“ (Z I 2,38; KGW VI 4, 29 f.). 25, 8–10 Da legte er den Todten in einen hohlen Baum sich zu Häupten – denn er wollte ihn vor den Wölfen schützen] Aufopferungsvoll kümmert sich Zarathustra um den Leichnam, den er, in Analogie zu dem das Kreuz tragenden Jesus (vgl. Pieper 1990, 87), mit sich schleppt und in einem hohlen Baum bestattet. Anderntags verabschiedet er sich mit den Worten: „Und du, mein erster Gefährte, gehab dich wohl! Gut begrub ich dich in deinem hohlen Baume, gut barg ich dich vor den Wölfen.“ (26, 24–26) Dass Zarathustra den Leichnam nicht in der Erde begräbt, wie seine Ankündigung – „Ich trage dich dorthin, wo ich dich mit meinen Händen begrabe“ (23, 11 f.) – erwarten lässt, rückt die nicht christliche Form der

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Bestattung in den Blick. Von Bestattungsritualen, die die Toten in hockender oder aufrechter Stellung in hohlen Bäumen platzieren, ist in der zeitgenössischen ethnographischen Literatur verschiedentlich die Rede. In Australien, so berichtet Theodor Waitz in seinem Standardwerk Anthropologie der Naturvölker, werden sozial geachtete Tote „in sitzender Stellung an der Luft getrocknet und später ausgedörrt in einen hohlen Baum gesteckt“ (Waitz 1872, 808). Während die „Gläubigen des rechten Glaubens“ (23, 21 f.) dem vom Seil Gestürzten das Begräbnis verweigern, ehrt der Ungläubige den Toten, womit er die christliche Doppelmoral evident macht. Zarathustra setzt praktisch um, was er dem sterbenden Seiltänzer zuvor verbal zu vermitteln suchte, dass nämlich Glaubensverlust nicht gleichbedeutend ist mit einer Entwertung des menschlichen Daseins. 25, 11 f. Und alsbald schlief er ein, müden Leibes, aber mit einer unbewegten Seele.] Die irritierende Entgegensetzung von „müde[m] Leib“ und „unbewegte[r] Seele“ deutet Pieper 1990, 87 als Hinweis darauf, dass Zarathustra „keinen Schaden an seiner Seele genommen hat“. Plausibel wäre aber auch, in der Unbewegtheit der Seele, auf die Zarathustra selbst bereits am Ende von Za I Vorrede 5 hinweist (vgl. 21, 1 f.), eine Wendung gegen das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele zu sehen, für das in der Seelenlehre Platons das Moment der Bewegung zentral ist: „Jede Seele ist unsterblich; denn das stets Bewegte ist unsterblich. Was aber ein Anderes bewegt und von einem Anderen bewegt wird, das hat, sofern es ein Aufhören der Bewegung hat, auch ein Aufhören des Lebens.“ (Phaidros 245c; Platon 1853, 109) Zuvor hatte Zarathustra dem sterbenden Seiltänzer erklärt: „Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib“ (22, 10).

9. Nicht an ein äußeres Publikum wendet Zarathustra sich, sondern in einer monologischen Selbstaussprache adressiert er sein eigenes Herz (25, 20; zur Apostrophe des eigenen Herzens vgl. NK 14, 4 f.). Nachdem er am Tag zuvor zunächst unverstanden in der Öffentlichkeit des Markts gesprochen und sich danach einem für seine Rede unempfänglichen Toten zugewandt hat, visiert er nun einen neuen Kreis von Adressaten an. Damit erreicht er einen Moment des Innehaltens und der Selbstreflexion, in dem er sich mit seinem zukünftigen Wirken und seiner Rolle in und gegenüber der Gesellschaft auseinandersetzt. Ein langer, bis in den Vormittag reichender Schlaf verschafft ihm innere Distanz zu den Erlebnissen des Vortags. Als er erwacht, ist er „verwundert“ (25, 16; 25, 17), blickt sich um, sieht „in sich hinein“ (25, 17) – und vermeint eine „neue Wahrheit“ (25, 19) zu finden. Sie betrifft die Rolle, die er von nun an unter den Menschen einnehmen möchte. Er sehnt Vertraute und Ebenbürtige herbei, „Gefähr-

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ten“ (26, 12;26, 15; 26, 18), die seine Ziele teilen und gemeinsam mit ihm „neue Werthe auf neue Tafeln schreiben“ (26, 14). Keine passiven Zuhörer will er um sich scharen, sondern aktiv „Mitschaffende“ (26,13; 26, 21), „Miterntende und Mitfeiernde“ (26, 21 f.), die in einem Verhältnis der Ebenbürtigkeit zu ihm stehen. Zarathustra entwirft diese ideale Gemeinschaft von Schaffenden kontrastiv zur hierarchisch und autoritär organisierten Gesellschaft, die er metaphorisch auf das Modell von Hirt und Herde zurückführt und in der er einige Wenige, die sich „die Guten und Gerechten“ (26, 3) dünken, über die Einhaltung der Werte wachen sieht. Für sich selbst lehnt er eine autoritäre Wächter-Position explizit ab – „Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden!“ (25, 27 f.) – und wünscht sich stattdessen „Gefährten“, die ihm aus eigenem Entschluss folgen: „lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will“ (25, 24 f.). Damit überführt er seinen Führungsanspruch in ein Harmoniekonzept: Er imaginiert selbstbestimmte Gefährten, deren Wollen mit seinem eigenen harmonisch in eins fällt. Im weiteren Verlauf der Handlung wird indes deutlich, dass ein derart hierarchiefreies Lehrer-Schüler-Verhältnis utopisch ist. Bis in Za IV hinein wird das Verhältnis Zarathustras zu seinen Adressaten, die er wechselnd als seine Gefährten, Schüler, Brüder oder Kinder apostrophiert, als autoritär problematisiert. Am Ende von Za I trennt Zarathustra sich von den Schülern, die er um sich geschart hat, weil er sie für zu stark auf seine eigene Autorität fixiert hält (vgl. 101, 26–29). Danach verflüchtigt sich die Vorstellung konkreter Adressaten immer mehr: In Za II wendet Zarathustra sich an utopisch-imaginäre „Freunde“ (109, 5 f.) auf den glückseligen Inseln, und in Za III überwiegt eine adressatenlose, rein selbstbezügliche Rede. In Za IV treten dann zwar mit den höheren Menschen erstmals Adressaten auf, mit denen er interagiert und die auf seine Worte reagieren, sie sind jedoch nicht die von ihm ersehnten Empfänger, bei ihnen sieht er seine Lehre nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Vgl. zu Zarathustras Status als (philosophischem) Lehrer: Lampert 1979, Gordon 1980, Schacht 1995, Domenici 2016. Hier nun entschärft Zarathustra zwar das Verhältnis zu denjenigen, an die er seine ‚Lehre‘ weitergeben möchte, stellt dafür aber eine zweite Konfliktlinie scharf heraus. Er betont nämlich seine Frontstellung gegen die etablierten Normen und Werte, womit er plausibel macht, weshalb er und die ihm verbundenen „Gefährten“ aus der Perspektive der Gesellschaft als asoziale, die Gemeinschaft schädigende Elemente erscheinen müssen. Weil sie als Schaffende die alten Werte negieren, um neue an ihre Stelle zu setzen, gelten sie aus Sicht der bestehenden Gesellschaftsordnung als „Verbrecher“ (26, 10 f.) und „Vernichter“ (26, 19). Das ist konstitutiv für die gesellschaftlich geächtete Rolle des Schaffenden, wie sie insbesondere die Reden „Vom Wege des Schaffenden“ und „Von den Fliegen des Marktes“ in Za I eingehender entfalten. Die Sehnsucht nach Gefährten entsteht aus dem Gefühl der Verlassenheit, während Zarathustra unter den Menschen weilt. Das Finden von geeigneten Gefährten

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wird dann in Za III Von der Seligkeit wider Willen als ein unlösbares Problem reflektiert – die rechten Gefährten seien nicht aufzufinden, sondern müssten erst geschaffen werden: „Gefährten suchte einst der Schaffende und Kinder s e i n e r Hoffnung: und siehe, es fand sich, dass er sie nicht finden könne, es sei denn, er schaffe sie selber erst.“ (203, 22–24) Bis zum Ende von Za IV sieht sich Zarathustra nicht den „rechten Gefährten“ gegenüber: „‚Was geschah mir doch?“ fragt er sich in Za IV Der freiwillige Bettler, „etwas Warmes und Lebendiges erquickt mich, das muss in meiner Nähe sein. / Schon bin ich weniger allein; unbewusste Gefährten und Brüder schweifen um mich, ihr warmer Athem rührt an meine Seele.‘“ (333, 10–14) Tatsächlich aber hält er sich lediglich in der Nähe von Kühen auf. Und in „Das Zeichen“ befindet er über die noch schlafenden höheren Menschen: „d a s sind nicht meine rechten Gefährten!“ (405, 13) 25, 17–19 Dann erhob er sich schnell, wie ein Seefahrer, der mit Einem Male Land sieht, und jauchzte: denn er sah eine neue Wahrheit.] Die Entdecker-Metaphorik wird in einem Nachlassnotat explizit auf die anthropologische Neuvermessung des Menschen bezogen: „Ich entdeckte ein neues Land im Menschen / wo die Seele überwallt“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[234], 177, 12 f.). Und in Za III Von alten und neuen Tafeln 28 heißt es: „Aber wer das Land ,Mensch‘ entdeckte, entdeckte auch das Land ,Menschen-Zukunft‘. Nun sollt ihr mir Seefahrer sein, wackere, geduldsame!“ (267, 21–23) 25, 21–23 Gefährten brauche ich und lebendige, – nicht todte Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will.] Zarathustras Entschluss rekurriert unmittelbar auf den Dialog mit dem Einsiedler (Za I Vorrede 8), der den Gedanken des „Gefährten“ aufgebracht hat: „Aber heisse auch deinen Gefährten essen und trinken, er ist müder als du.‘“ Worauf Zarathustra entgegnet: „‚Todt ist mein Gefährte, ich werde ihn schwerlich dazu überreden.‘“ (24, 32–34) 25, 21–27 Gefährten brauche ich und lebendige, – nicht todte Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will. / Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wo ich will. / Ein Licht gieng mir auf: nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten!] Der Entschluss, sich nicht mehr ans ganze Volk zu wenden, sondern nach „Gefährten“ zu suchen, bildet die Konsequenz von Zarathustras Erfahrungen auf dem Marktplatz, wo er zu allen reden wollte, ihm jedoch nur Ablehnung entgegenschlug und er zuletzt allein mit dem Leichnam des Seiltänzers zurückblieb. Nun wünscht er sich „lebendige“ und eigenständige Gefährten, die „sich selber folgen wollen“, und deren Wille zugleich mit dem eigenen in Einklang stehen soll. Die Spannung zwischen Autoritätsfixierung und Selbstorientierung, die für Zarathustra hier ausbalancierbar scheint, erweist sich am Ende von Za I in „Von der schenkenden Tugend“ als so unüberwindlich, dass er sich von seinen Schülern mit den

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Worten verabschiedet: „Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben. / Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.“ (101, 26–29) KGW VI 4,31 präsentiert folgende Vorstufe: „Nicht Todte brauche ich, die ich ˹mit mir˺ davon trage wohin ich will. Sondern Lebendige brauche ich, die mir folgen, weil sie wollen sich selber folgen wollen. / Ein Licht gieng mir auf: Gefährten brauche ich und lebendige – nicht todte G. / Ein Licht gieng mir auf: nicht zum Volke rede Z. ˹sondern zu Gefährten˺ – will nicht will Z. einer Heerde Hirt ˹und Hund˺ sein“ (N V 8,71). Als gedanklicher Grundstein dieser Überlegungen erscheint ein früheres Notat, demzufolge das Verhältnis des Menschen zum Menschen nach dem Tod Gottes in eine neue Phase eintritt: „Dieser einsamste der Einsamen, der Mensch, sucht nun nicht mehr einen Gott, sondern einen G e n o s s e n. Dies wird der m y t h e n b i l d e n d e Trieb der Zukunft sein. Er sucht den F r e u n d d e s M e n s c h e n.“ (NL 1881, KSA 9, 12[23], 580, 1–4) Wenig später führt N. in Abwandlung dazu aus, dass sich der „mythenbildende Trieb“ zukünftig nicht mehr auf Autoritäten, sondern auf den Freund richte, dessen der gegenwärtige Mensch, der in einer durch die Wissenschaften aufgeklärten Welt lebe, höchst bedürftig sei (vgl. NL 1881, KSA 9, 14[10], 625, 11–20). 25, 27–26, 2 Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden! / Viele wegzulocken von der Heerde – dazu kam ich. Zürnen soll mir Volk und Heerde: Räuber will Zarathustra den Hirten heissen.] Ähnlich wird in der Bibel ausgemalt, wie die Christen unter der Herde der Ungläubigen wildern: „Ja, die Uebrigen aus Jakob werden unter den Heiden bey vielen Völker seyn, wie ein Löwe unter den Thieren im Walde, wie ein junger Löwe unter einer Herde Schafe, dem niemand wehren kann, wenn er dadurch gehet, zertritt und zerreisset.“ (Micha 5, 7; Die Bibel AT 1818, 894) 26, 3–5 Hirten sage ich, aber sie nennen sich die Guten und Gerechten. Hirten sage ich: aber sie nennen sich die Gläubigen des rechten Glaubens.] KGW VI 4, 31 führt dazu folgende Vorstufe an: „Heerde sind sie, aber sie nennen sich die Guten und Gerechten. Heerde sind sie, aber sie nennen sich die Gläubigen.“ (N V 8,73) Pointierter lautet eine in der Ich-Form einsetzende Vorstufe, in der sich Zarathustra zwar dazu bekennt, der Herde Schafe zu entwenden, sich aber dagegen verwehrt, deshalb als „Räuber“ abgestempelt zu werden: „Viele wegzulocken von der Heerde – dazu kam ich. Manches Schaf will sich Z. stehlen, ein Räuber ist Z. nicht“ (N V 8,72; KGW VI 4, 31). Die Stoßrichtung von Zarathustras AntiherdenPolitik ist nach Braun eine doppelte; sie richte sich „[e]inerseits gegen Platon, der im ‚Politikos‘ die rechte Staatskunst als ‚freiwillige Herdenwartung‘ über ‚freiwillige zweibeinige lebende Wesen‘ bestimmt (276e). Andererseits gegen die jüdisch-

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christliche Hirtenpolitik, die einen Herdenglauben hervorgebracht habe“ (Braun 2009, 87). Zur Herde siehe NK 20, 11. 26, 3–8 Hirten sage ich, aber sie nennen sich die Guten und Gerechten. Hirten sage ich: aber sie nennen sich die Gläubigen des rechten Glaubens. / Siehe die Guten und Gerechten! Wen hassen sie am meisthen? Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: – das aber ist der Schaffende.] Hier liegt ein Druckfehler vor; „meisthen“ ist in „meisten“ zu korrigieren (Nietzsche [1883a], 24). – In verallgemeinernder Weise greift Zarathustra Aussagen des Possenreißers auf, der ihn kurz zuvor nachdrücklich über die Feindseligkeit der „Guten und Gerechten“ (23, 20) aufgeklärt hat, in deren Augen Zarathustra „die Gefahr der Menge“ (ebd., 22 f.) verkörpere, nämlich den großen Verführer und Wertezersetzer. Zarathustra spitzt diese Einsicht in seiner eigenen Rede auf den prinzipiellen Widerstreit zu zwischen denjenigen, die sich selbst als Wächter der Werte und des „rechten Glaubens“ verstehen, und demjenigen, der diese Werte in Frage stellt. Derart nutzt er die Worte des Possenreißers als Folie, um sich als einsam „Schaffende[n]“ zu inszenieren, der gegen die wertekonservierende Haltung der selbsternannten „Guten und Gerechten“ zu Felde zieht, welche die Herrschaft sowohl über das Gebiet der Moral als auch über das des Glaubens beanspruchen. Die „Guten und Gerechten“ (wie unbestimmt sie auch immer bleiben mögen) sind die Intimfeinde Zarathustras, denn er betrachtet sie als Hemmschuhe für die Entwicklung der Menschheit. Er warnt nicht allein: „hüte dich vor den Guten und Gerechten“ (82, 6), sondern fordert zu ihrer Vernichtung auf: „Bei Welchen liegt die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? / Z e r b r e c h t , z e r b r e c h t m i r d i e G u t e n u n d G e r e c h t e n!“ (267, 4–7) Vgl. hierzu auch NK 4/2, 267, 4–7 und grundsätzlicher zum Zentralmotiv der „Guten und Gerechten“ NK 23, 20–23. 26, 9–14 Siehe die Gläubigen aller Glauben! Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: – das aber ist der Schaffende. / Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leichname, und auch nicht Heerden und Gläubige. Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben.] Zarathustras Reflexion über den Schaffenden, der sich stigmatisiert und marginalisiert sieht und daher seine Fühler nach „Mitschaffenden“ ausstreckt, ist zentral für die Za inhärente Anthropologie des schaffenden und wertsetzenden Menschen. Dabei ist das für Za grundlegende Konzept des Schaffenden kein ästhetisches; es zielt nicht auf die Hervorbringung künstlerischer Werke und meint, wie auch Pippin 2009, 78 am Beispiel von Za I Vom Wege des Schaffenden anmerkt, nicht „aesthetic self creation“. Ein Notat aus dem Winter 1882/83 setzt Schaffenden und Künstler sogar in ein Verhältnis der Opposition: „ein Schaffender ist, der neue Werthe schafft. Aber der Künstler nicht!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[268], 184, 4 f.)

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Tatsächlich erscheint der Schaffende in Za in erster Linie auf die Rolle des Begründers neuer Werte festgelegt. „Neue Werthe schaffen“ (30, 25) lautet die zentrale Forderung in Za I Von den drei Verwandlungen, und in Za III Von alten und neuen Tafeln inszeniert sich Zarathustra dann als großen Umwerter, der die alten Wertetafeln zerbricht und neue beschreibt. Er liefert dort eine Definition des Schaffenden, die ihn als Werteschaffenden zum Sinngeber der Menschheit erklärt: „der Schaffende! / – Das aber ist Der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: Dieser erst s c h a f f t es, d a s s Etwas gut und böse ist.“ (247, 2–5) Als Kehrseite des Schaffensprozesses erscheint die notwendige Auslöschung der alten Werte, die dem Schaffenden Härte und Rücksichtslosigkeit abverlangt. In Za I Von tausend und Einem Ziele erklärt Zarathustra den Schaffenden nicht lediglich zum einmaligen Werteerneuerer, sondern zum Motor eines permanenten Prozesses des Wertewandels, der nicht teleologisch ausgerichtet ist, nicht auf ein letztes Ziel zusteuert, sondern unabschließbar erscheint: „Wandel der Werthe, – das ist Wandel der Schaffenden. Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muss.“ (75, 26 f.) Dass der Schaffende zugleich Vernichter bestehender Werte sein muss und daher gesellschaftlicher Ächtung unterliegt, formuliert pointiert ein nachgelassenes Notat aus dem Sommer/Herbst 1882: „Am meisten werden die Schaffenden gehaßt: denn es sind die gründlichsten Vernichter.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]30, 57, 7 f.) Dem korrespondiert in FW 58 die bündige und verabsolutierende Formel: „Nur als Schaffende können wir vernichten!“ (KSA 3, 422, 24) Die zentrale Bedeutung, die der Idee des Schaffens für Za zukommt, lässt sich auch ablesen an ihrer engen, ja unauflösbaren Verknüpfung mit anderen Leitkonzepten des Werks. In Za II Auf den glückseligen Inseln setzt Zarathustra den Schaffenden mit dem Übermenschen ins Verhältnis und fordert seine Zuhörer dazu auf, sich ‚umzuschaffen‘ zu einer Art Vorstufe des Übermenschen: „Könntet ihr einen Gott s c h a f f e n? – So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. / Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen: und Diess sei euer bestes Schaffen!“ (109, 14–20) Die Idee des Schaffens bildet einen der entscheidenden Knotenpunkte im Leitmotivgeflecht von Za, in ihr laufen wesentliche Sinngebungsbestrebungen zusammen. So ist das Schaffen nicht allein auf das Schaffen von Werten bezogen, sondern auch auf den Schaffenden selbst, der als ein sich selbst Erneuernder und Umschaffender in unmittelbarer, zugleich aber durchaus schillernder Weise verknüpft ist mit der Idee des Übermenschen, der Vorstellung der Selbstüberwindung und dem voluntaristischen Prinzip des Willens: „Wollen ist Schaffen“ (258, 28), proklamiert Zarathustra in Za III Von alten und neuen Tafeln 16. In Za I Von den Verächtern des Leibes spricht er in paradoxer Formulierung von dem Verlangen des schaffen-

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den Selbst „über sich hinaus zu schaffen“ (40, 28 f.; zur Figur der Selbstüberwindung vgl. NK 14, 13–15). Und in Za II Auf den glückseligen Inseln ruft er den Schaffenden gar zum Erzeuger alles dessen aus, was das Leben des Menschen begründet und lebenswert macht: „Und was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen werden: eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe soll es selber werden!“ (110, 3–5) Nicht mehr weit scheint da der Gedanke der Erlösung, den Zarathustra auch wenig später ausdrücklich dem Schaffen assoziiert: „Schaffen – das ist die grosse Erlösung vom Leiden, und des Lebens Leichtwerden.“ (110, 32 f.) Der Za-Text bietet nicht allein ein ‚Heer beweglicher Metaphern‘, sondern überdies ein Heer beweglicher Leitideen und Zentralmotive, die der Text auf immer neue Weise ins Verhältnis zueinander setzt, so dass sich deren Bedeutungen permanent verschieben. Mit den (noch größeren) Verschiebungen, die die Idee des Schaffens und die Konzeption des Schaffenden innerhalb von N.s Werk erfahren, beschäftigt sich Meyer 2005, der die Entwicklung des Schaffensgedankens in N.s Schriften „vom dionysischen Weltwillen (Tragödienschrift) zum schaffenden Individualwillen (Zarathustra)“ (ebd., 87) nachzeichnet; vgl. zum Themenkomplex auch Mohr 1977, den NH-Artikel von Christians 2000, 317 f. u. zum WerteSchaffen siehe Stegmaier 2015. 26, 9–11 Siehe die Gläubigen aller Glauben! Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher] Die Paronomasie, die in der Vorstufe in N V 8,68 noch nicht enthalten ist und die „zerbricht“/ „Brecher“/„Verbrecher“ über den Gleichklang verknüpft, drückt sprachspielerisch aus, dass der Schaffende zugleich ein ‚Zerbrecher‘, nämlich ein Vernichter des Bestehenden ist, und daher aus der Perspektive der Gesellschaft und der Hüter ihrer Werte als ein Verbrecher erscheinen muss. In diesem Sinn formuliert Zarathustra den Ausspruch in Za III Von alten und neuen Tafeln 26 vereindeutigend um: „Den S c h a f f e n d e n hassen sie am meisten: den, der Tafeln bricht und alte Werthe, den Brecher – den heissen sie Verbrecher.“ (266, 21–23) Zarathustras Sympathie gilt unverkennbar demjenigen, den die Gesellschaft zum „Verbrecher“ abstempelt, weil er mit ihren Normen und Werten bricht (zur Figur des Verbrechers siehe auch ÜK Za I Vom bleichen Verbrecher). Er selbst wird sich später ausgiebig in der Rolle eines solchen „Brechers“ und „Verbrechers“ präsentieren, wenn er in Za III Von alten und neuen Tafeln 28 erklärt, die „Tafeln der Guten“ (267, 13) zu „zerbrechen“ (ebd., 12), um statt ihrer neue zu etablieren, die eigene Werte festschreiben. So steht das Zerbrechen der Wertetafeln innerhalb von Za bildlich für seinen Anspruch, als großer Umwerter zu firmieren, der die christliche Moral aus den Angeln heben will. Ein entsprechendes Selbstbewusstsein legt das Sprecher-Ich in einem Nachlassnotat aus dem Herbst 1883 an den Tag: „Ich bin ein Gesetzgeber, ich schreibe Neues auf meine Tafeln: den Gesetzgebern sel-

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ber bin ich Gesetz und Tafel und Herolds-Aufruf.“ (NL 1883, KSA 10, 18[50], 579, 24–26) Das Motiv der zu zerbrechenden und neu zu beschreibenden Wertetafeln zielt auf die mosaischen Gesetzestafeln, die den Dekalog enthalten und die Mose dem Volk Israel im Namen Gottes überbringen sollte. Dem 2. Buch Mose 20, 2–17 zufolge stellt der Dekalog das erste Gotteswort am Sinai vor und das einzige, welches das Volk unmittelbar von Gott bezieht. Dadurch ist der Dekalog, den Mose nahezu wortgleich noch einmal im 5. Buch Mose 5, 6–21 zitiert, unter allen Willensoffenbarungen Gottes besonders ausgezeichnet, es handelt sich um die wichtigste göttliche Rechtsbekundung. Aus Zorn über den Abfall der Israeliten zerbricht Mose die Tafeln in Exodus 32, 15–19, woraufhin Gott ihn anweist, neue Tafeln herzustellen, um die erlassenen Ge- bzw. Verbote zu restituieren: „Und der HErr sprach zu Mose: Hau dir zwo steinerne Tafeln zurecht, wie die ersten waren, daß ich darauf die Worte schreibe, die in den ersten Tafeln waren, welche du zerbrochen hast.“ (2. Mose 34, 1; Die Bibel AT 1818, 96) Während die Gesetze in Exodus restituiert werden, schlüpft Zarathustra selbst in die Rolle des göttlichen Gesetzgebers, indem er sie nach eigenem Willen neu schafft. Vgl. dazu auch das folgende Zitat aus der Entstehungszeit von Za I: „Mit den h ö h e r e n W e r t h e n die Gütertafeln zerbrechen / die eigenen Tafeln stellte ich neben die anderen – welcher Muth und Schrecken war das!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[242], 179, 19–22) 26, 15–17 Gefährten sucht der Schaffende, und Miterntende: denn Alles steht bei ihm reif zur Ernte. Aber ihm fehlen die hundert Sicheln: so rauft er Ähren aus und ist ärgerlich.] Eine frühere Version dieser Stelle im Nachlass lautet: „Alles ist bei ihm ernte-reif: aber ihm fehlt die Sichel – und so rauft er Ähren und ist ärgerlich.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]156, 72, 1 f.) Vgl. dazu Matthäus 9, 36–38: „Und da er das Volk sahe, jammerte ihn desselbigen; denn sie waren verschmachtet und zerstreuet, wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende.“ (Die Bibel NT 1818, 13) 26, 18–20 Gefährten sucht der Schaffende, und solche, die ihre Sicheln zu wetzen wissen. Vernichter wird man sie heissen und Verächter des Guten und Bösen. Aber die Erntenden sind es und die Feiernden.] In Za I Vom Biss der Natter sieht Zarathustra sich selbst zum „Vernichter“ abgestempelt: „Den Vernichter der Moral heissen mich die Guten und Gerechten: meine Geschichte ist unmoralisch.“ (87, 19 f.) Siehe zum Konnex von Vernichten und Schaffen, der Ausdruck erhält in der doppeldeutigen Semantik der Sichel als „Symbol der Fruchtbarkeit und Ernte, aber auch des Gerichts sowie des Todes und der Vergänglichkeit“ (Butzer/Jacob 2008, 584): NK 149, 18–21. 26, 21 f. Mitschaffende sucht Zarathustra, Miterntende und Mitfeiernde sucht Zarathustra:] Die die Gemeinsamkeit betonenden Komposita „Mitschaffende“ und „Mit-

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feiernde“ werden in Za III Von der Seligkeit wider Willen aufgegriffen: „– dass er einst mein Gefährte werde und ein Mitschaffender und Mitfeiernder Zarathustra’s –“ (204, 24 f.). 26, 24–26 Und du, mein erster Gefährte, gehab dich wohl! Gut begrub ich dich in deinem hohlen Baume, gut barg ich dich vor den Wölfen.] Siehe NK 23, 11 f. 26, 32–34 Den Schaffenden, den Erntenden, den Feiernden will ich mich zugesellen: den Regenbogen will ich ihnen zeigen und alle die Treppen des Übermenschen.] Eine Vorstufe steht der endgültigen Fassung schon recht nahe, allein das (auch sonst in keinem weiteren Textzeugnis mit der Übermenschwerdung verknüpfte) Motiv der Treppe, das eine darwinistisch-evolutionistische Deutung nahelegt, fehlt dort: „Den Schaffenden, den Erntenden, den Feiernden will ich mich gesellen / Den Regenbogen will ich zeigen des Übermenschen“ (N V 8,75; KGW VI 4, 31). Mit dem Regenbogen greift N. ein traditionelles Transzendenz-Symbol auf, das in vielen Religionen den Zusammenhang von Menschlichem und Göttlichem versinnbildlicht. So verbindet der Regenbogen – Wagner nimmt darauf in Das Rheingold IV Bezug – in der germanischen Mythologie als Brücke (Bifröst) die Welt der Menschen (Midgard) mit der Welt der Götter (Asgard). Und im Alten Testament ist der Regenbogen das Symbol für den Bund Gottes mit den Menschen. So heißt es in 1. Mose 9, 13‒15: „Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken, der soll das Zeichen seyn des Bundes, zwischen mir und der Erde. Und wenn es kommt, daß ich Wolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch“ (Die Bibel AT 1818, 9). N. greift diese Vorstellung schon in UB IV WB 11 auf (vgl. KSA 1, 506, 20‒22). FW 137 erinnert an Jakobs Traumvision von einer Leiter, die den Auf- und Abstieg zwischen Himmel und Erde ermöglicht (vgl. 1. Mose 28, 11), und verknüpft die Idee der Himmelsleiter mit der Menschwerdung Gottes: „Hier allein konnte Christus seinen Regenbogen und seine Himmelsleiter träumen, auf der Gott zu den Menschen hinabstieg“ (KSA 3, 488, 12–14). Zum transitorischen Symbol für die Übermenschwerdung funktionalisiert er den Regenbogen in der Za-Zeit: „Wollt ihr den Regenbogen sehen und die Brücke des Übermenschen? Eben jetzt ist es Zeit. / Noch rauscht die Wetterwolke, aber schon scheint die Sonne wieder.“ (NL 1883, KSA 10, 10[21], 371, 21–24) Za I Vom neuen Götzen verortet den zum Übermenschen weisenden „Regenbogen und die Brücken des Übermenschen“ (64, 2 f.) an der Peripherie der Gesellschaft, „[d]ort, wo der Staat a u f h ö r t“ (64, 1). Einen anderen Ton schlägt Za III Der Genesende an, wo der Regenbogen als Metapher für den scheinhaften Charakter der Sprache einsteht und damit gerade nicht auf Übergänglichkeit, sondern im Gegenteil auf unüberbrückbare Differenz verweist: „sind nicht Worte und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen Ewig-Geschiedenem?“ (272, 13–15) Zittel 2000a, 211–217 sieht dadurch den mit

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der Regenbogen-Metapher verknüpften Übermenschen als Illusionsprodukt ausgewiesen und resümiert: „Die Übermensch-Metapher ist ein sprachliches Trugbild, eine ‚Lügenbrücke‘. Entsprechend ist zu bestreiten, daß mit dem Übergangs-/ Überwindungs-Motiv im Zarathustra ein ethisches Programm Nietzsches einhergeht.“ (Ebd., 216) Auch das „Lied der Schwermuth“, das der Zauberer in Za IV vorträgt, bringt den Regenbogen mit der Sphäre der Illusion in Verbindung, auch dort ist die Rede von „lügnerischen Wort-Brücken“ (372, 7), „bunten Regenbogen“ (372, 8), „falschen Himmeln / Und falschen Erden“ (372, 10 f.). Und auch wenn der Übermensch dort nicht explizit genannt wird, wird er doch durch die leitmotivisch unmittelbar an ihn geknüpften Motive des Regenbogens und der Brücke aufgerufen (vgl. hierzu NK 16, 30–17, 1). 27, 1–3 Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen und den Zweisiedlern; und wer noch Ohren hat für Unerhörtes, dem will ich sein Herz schwer machen mit meinem Glücke.] Steht die Wendung „mein Lied singen“ hier metaphorisch ein für das Verkünden der eigenen Botschaft, so tritt Zarathustra später explizit als Sänger auf. Wie das Lachen und Tanzen gehört auch das Singen zu seinen Mitteln im Kampf gegen den Geist der Schwere (vgl. ÜK Za II Das Tanzlied). Eine Vorstufe verzeichnet statt „Glücke“ zunächst noch zurückhaltender „Gesange“: „Den Einsiedlern will ich mich gesellen ˹mein Lied singen˺ und den Zweisiedlern: und wer nur noch Ohren hat für Unerhörtes, dem will ich das Herz schwer machen mit meinem Gesange. ˹Glücke˺“ (N V 8,98; KGW VI 4, 31). In Za IV Die Begrüssung findet die Stelle einen späten Widerhall in der Ansprache des Königs zur Rechten, der Zarathustra an die Hoffnungen gemahnt, die er einst mit seinem „Lied“ bei den Menschen hervorrief: „Und wem du jemals dein Lied und deinen Honig in’s Ohr geträufelt: alle die Versteckten, die Einsiedler, die Zweisiedler sprachen mit Einem Male zu ihrem Herzen: / ‚Lebt Zarathustra noch? Es lohnt sich nicht mehr zu leben, Alles ist gleich, Alles ist umsonst: oder – wir müssen mit Zarathustra leben!‘“ (349, 7–12) Das Wortspiel „Einsiedler“/„Zweisiedler“ beziehen sowohl Meier 2017, 25 als auch Pieper 1990, 93 auf die beiden Einsiedler, denen Zarathustra in Za I Vorrede begegnet und von denen zumindest der erste harmonisch ‚zu zweit‘ mit seinem Gott lebt. Möglicherweise sind hier aber in weiterem Sinne alle diejenigen gemeint, die – in welch spezifischer Existenzform auch immer – abseits der „Herde“ leben und nicht die Werte der Masse teilen. In Za IV Die Begrüssung jedenfalls führt der König zur Rechten „die Versteckten, die Einsiedler, die Zweisiedler“ (349, 8) in einem Atemzug an. DD Zwischen Raubvögeln bezieht das Wortspiel dann ironisch auf das Verhältnis des Menschen zu Gott und Teufel: „der Einsiedler ohne Gott, / der Zweisiedler mit dem Teufel“ (KSA 6, 392, 3 f.). Zum Motiv des Einsiedlers vgl. auch NK 13, 16–23. 27, 4–6 Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang; über die Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang!] Dieses

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Bekenntnis zu rabiater Zielgerichtetheit, das an die tödliche Rücksichtslosigkeit des Possenreißers in der Seiltänzerepisode anknüpft (vgl. NK 21, 22–24), widerspricht Zarathustras späterer Mahnung in Za III Von alten und neuen Tafeln 4: „Es giebt vielerlei Weg und Weise der Überwindung: da siehe d u zu! Aber nur ein Possenreisser denkt: ‚der Mensch kann auch ü b e r s p r u n g e n werden.‘“ (249, 28–30) Einen Versuch, den Widerspruch aufzulösen, unternimmt Joisten. Sie schlägt vor, dass einmal das Überspringen des Menschen schlechthin gemeint sei, das andere Mal aber das Überspringen einzelner Individuen, die im Gegensatz zur Menschheit sehr wohl überwunden werden könnten (Joisten 1994, 83 f.). Eine Variante des Hinwegspringens bietet ein nachgelassenes Notat: „Ich Zu meinem Ziele will ich – ich gehe nun meinen Gang. Und nicht sollen die Todten über die Lebendigen hinwegspr.“ (N V 8,87; KGW VI 4, 32)

10. Der Schlussabschnitt der Vorrede knüpft an die im ersten Abschnitt entfaltete Ausgangssituation an und unterlegt der ganzen Vorrede damit eine zyklische Struktur. Wieder ist Zarathustra mit seinen Tieren allein und wieder plant er seinen Aufbruch unter die Menschen. Zugleich steht er aber noch deutlich unter dem Eindruck der Erfahrungen des vorangegangenen Tages, aus denen er Konsequenzen für sein weiteres Vorgehen zu ziehen sucht. Es zeichnet sich ab, dass seine Suche nach rechten Gefährten und hellhörigen Empfängern seiner ‚Lehre‘ nicht einfach werden wird, denn an ihrer Stelle finden sich nun seine Tiere ein, die Gefährten seiner Einsamkeit, die ihm schon zuvor im Gebirge Gesellschaft leisteten (vgl. 11, 13). So endet die Vorrede mit dem Widerspruch, dass Zarathustra, der sich für sein zukünftiges Wirken rüstet, sich zurückgeworfen sieht auf die Gemeinschaft seiner Tiere (zu den Tieren vgl. NK 27, 9–22). Die Tiere stehen ihm näher als die Menschen; ein Entwurf zu Za III formuliert explizit: „In k e i n e m Menschen findet er sich – so sucht er die T h i e r e.“ (NL 1883, KSA 10, 18[6], 568, 18 f.) Von seinen Tieren erfährt Zarathustra Freundschaft und Fürsorge, also eine gemeinhin als menschlich erachtete emphatische Zuwendung, wie sie ihm von den Menschen, denen er bislang begegnet ist, gerade nicht zuteilwurde. Zugleich schreibt er ihnen mit Stolz und Klugheit die Tugenden zu, die er selbst zu benötigen glaubt und mit denen er sich für das wappnen möchte, was ihm bevorsteht. Auf paradoxe Weise verspricht er sich von den Tieren Stärkung und Orientierung für sein prophetisches Wirken unter den Menschen (vgl. dazu NK 27, 16 f.): „Mögen mich meine Thiere führen!“ (27, 21 f.) Schon die Entwurfsstufe in N V 8 kreist entsprechend um die Leit- und Orientierungsfunktion, die Zarathustra seinen Tieren in Erwartung eines gefahrvollen Daseins „unter Menschen“ zuschreibt: „Also sprach Z. und blickte aufwärts nach

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der Sonne: da hörte er den scharfen Laut eines Raubvogels hoch über sich. Ein Adler flog in großen Ringen über dem Walde, in dem Z. weilte, und eine Schlange hieng aus seinem Schnabel. Es sind meine Thiere sagte Z. das stolzeste Thier unter der Sonne und das klügste Thier unter der Sonne sind ausgezogen auf Kundschaft: sie wollen erkunden, ob Z. noch lebe. Denn (1) es ist gefährlich (2) gefährlich ist es (1.2), unter Menschen. Und also gelobe ich auch vor meinen Thieren: möge ich klug sein von Grund aus ˹wie meine Schlange˺ und stolz sein von Grund aus ˹wie mein Adler˺, und möge mein Stolz immer meine Klugheit im Schnabel führen. So werde ich auch unter M. Und Z. seufzte und sprach zu seinem Herzen: Möchte ich klüger sein! Möchte ich klug /87/ Möchte ich klüger sein! Möge ich klug sein von Grund aus wie meine Schlange! Aber dann bitte ich meinen Stolz, daß er Immer˺ meiner Klugheit nicht von der Seite gehe ˹Gebieter sein wolle, wohin sie ˹er˺ auch gehe˺“ (N V 8,85 u. 87; KGW VI 4, 32). Und N V 8,99 führt fort: „Möchte ich klüger sein! Möchte ich klug sein von Grund aus, gleich meiner Schlange! Aber Unmögliches bitte ich da: so bitte ich denn meinen Stolz, daß er immer mit meiner Klugheit gehe. Und wenn ˹einst˺ mich meine ˹die˺ Klugheit verläßt: ˹– ach, sie liebt es allein zu schweifen ˹mich zu verlassen˺ davon zu fliegen zu Anderen˺ möge er ˹mein Stolz˺ denn noch mit meiner ˹geflügelten˺ Thorheit gehen! ˹– fliegen und nicht ˹!˺˺ / Also sprach Z.“ (KGW VI 4, 32) 27, 8–13 Diess hatte Zarathustra zu seinem Herzen gesprochen, als die Sonne im Mittag stand: da blickte er fragend in die Höhe – denn er hörte über sich den scharfen Ruf eines Vogels. Und siehe! Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn sie hielt sich um seinen Hals geringelt.] Bereits Heidegger wies in seiner Vorlesung 1937 darauf hin, dass das Auftreten von Zarathustras Tieren keineswegs „beliebig“ sei, sondern eingebettet in eine symbolische Konfiguration – und je weiter man im Verständnis des Za-Werks vordringe, als desto „einfacher und unerschöpflicher“ entpuppe sich das Bild des kreisenden Adlers (HN 1, 265). Tatsächlich enthüllt sich aus der Perspektive fortgeschrittener Lektüre, dass hier in komprimierter Form Zentralmotive des Werks zusammengeführt sind. Da ist zunächst die Tageszeit des Mittags, von der hier erstmals die Rede ist und der im symbolischen Verweissystem von Za in doppelter Hinsicht eine wichtige Rolle zukommt: Zum einen ist ab dem Ende von Za I immer wieder leitmotivisch vom „großen Mittag“ die Rede als dem anvisierten Zeitpunkt einer Existenzwende von historisch und kollektiv umwälzender Bedeutung (vgl. NK 102, 6–9; zu den vielfältigen mythologischen Konnotationen des Mittags-Motivs siehe auch ÜK Za IV Mittags u. Grätz 2021). Zum andern gewährt „die Stunde des Mittags […], als die Sonne gerade über Zarathustra’s Haupte stand“ (342, 5 f.), Zarathustra in Za IV Mittags einen als beglückend empfundenen Moment des Heraustretens aus der Zeit und eine Erfahrung von Ewigkeit. Zudem bilden Mittag und Schlange, die

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ihren Körper zum Kreis zusammenschließen kann, in Za und den Notaten aus dem Umkreis von Za eine symbolische Konfiguration, die auf Ewigkeit und den Gedanken der ewigen Wiederkunft verweist. Zwei nachgelassene Notate rufen die Schlange explizit als Zeichen der Ewigkeit auf: „Die Sonne der Erkenntniß steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte – – es ist e u r e Zeit, ihr Mittagsbrüder!“ (NL 1881, KSA 9, 11[196], 519, 18–20) Ein weiteres Notat spricht von der „Sonne im Mittag“ und von der „Schlange welche Ewigkeit heißt“ als von zwei zeitgleich auftretenden Erscheinungen (NL 1882, KSA 10, 2[9], 45, 23–25). Darüber hinaus erhält das SchlangenMotiv im Text auch in metonymischer Verschiebung Präsenz. So begegnet in Za IV Mittags das Symbol eines „goldenen runden Reifs“ (344, 14). 27, 9–22 da blickte er fragend in die Höhe – denn er hörte über sich den scharfen Ruf eines Vogels. Und siehe! Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn sie hielt sich um seinen Hals geringelt. / „Es sind meine Thiere!“ sagte Zarathustra und freute sich von Herzen. / Das stolzeste Thier unter der Sonne und das klügste Thier unter der Sonne – sie sind ausgezogen auf Kundschaft. / Erkunden wollen sie, ob Zarathustra noch lebe. Wahrlich, lebe ich noch? / Gefährlicher fand ich’s unter Menschen als unter Thieren, gefährliche Wege geht Zarathustra. Mögen mich meine Thiere führen!“] Adler und Schlange, allegorisch mit Stolz und Klugheit verknüpft (vgl. dazu NK 27, 16 f.), bezeugen als äußere Attribute oder „Ehrentiere“ (397, 21), wie sie in Za IV genannt werden, die Exzeptionalität von Zarathustras Existenz. Heidegger, der sich in seiner im Sommersemester 1937 gehaltenen Vorlesung Die ewige Wiederkunft des Gleichen eingehend mit der Rolle von Zarathustras Tieren befasst, hebt hervor, dass sie keinesfalls als gewöhnliche, domestizierte „Haustiere“ aufzufassen seien, sondern im Gegenteil als Signum eines „allem Gewohnten und Gewöhnlichen“ enthobenen Ausnahmedaseins (HN 1, 267). Auch sonst spricht Zarathustra Adler und Schlange unter Verwendung des Possessivpronomens als „meine Thiere“ an (vgl. etwa 106, 11; 272, 9). Damit ist kein Besitzverhältnis bezeichnet; auch wacht Zarathustra über seine Tiere nicht wie der Hirte über die Tiere seiner Herde, sondern er ist ihnen in einem nahen, schon fast symbiotischen Verhältnis verbunden. Die Tiere haben vielfältige Funktionen für ihn: Sie sind ihm Gesellschafter in der Einsamkeit, Zuhörer und Ratgeber, sie sorgen für ihn in Zeiten der Krankheit und springen gar für ihn in die Bresche, wenn er als Prophet ausfällt, und schließlich sind sie es, die ihn auf die Rolle des Lehrers der ewigen Wiederkunft festlegen wollen – ihm damit nach Auffassung Heideggers, der sich unmittelbar auf die Rede der Tiere bezieht (vgl. 275, 28–30), „sagen, wer er werden muß, um der zu sein, der er ist“ (HGA 7, 122). Als „die beiden feindlichen Symboltiere der Offenbarung“ (Gerhardt 2011d, 337) sind Adler und Schlange feste Bestandteile der christlichen Ikonographie.

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Der siegreiche Kampf des Adlers gegen die Schlange bildet ein zentrales, seit dem Mittelalter immer wieder gestaltetes Motiv, das den Triumph Christi über das Böse verbildlicht (vgl. hierzu Schmidt/Schmidt 2007, 37). Die Tradition dieser Tierfeindschaft reicht jedoch weiter zurück; der Antagonismus von Adler und Schlange ist, wie Wittkower 1939 unter Anführung zahlreicher Text- und Bildquellen belegt, ein altes, die Kulturen überspannendes mythologisches Motiv, das sich als Verbindungsglied zwischen christlicher und altpersischer Denkwelt perfekt einpasst in die synkretistische Za-Welt. Die zoroastrische Kosmologie basiert auf dem ewigen Konflikt zwischen dem Lichtgott Ahura Mazda, der mit der Figur des Adlers assoziiert wird, und seinem Widersacher Ahriman, der die Dunkelheit und das Böse verkörpert und meistens als Drache dargestellt wird (Wittkower 1939, 297) – was den großen Einfluss der vedischen Mythologie auf die Entwicklung des religiösen Denkens Altpersiens andeutet. Denn die Feindlichkeit zwischen dem Raubvogel Garuda/Suparna und der Schlange Naga ist ein in der frühen indischen Literatur ebenfalls bekanntes und allgegenwärtiges Motiv (ebd., 298–300). Bis heute zeigen das mexikanische Staatswappen und die Peso-Münzen einen Adler, der eine Schlange in den Krallen hält, was an die indigene Legende von der Gründung der Stadt Tenochtitlan (heute Mexiko-Stadt) erinnert, derzufolge die Tötung einer Schlange durch einen Adler auf den Ort hinwies, an dem die Hauptstadt des neuen Reiches entstehen sollte (ebd., 305). Auch in der klassischen Antike ist der Kampf zwischen Adler und Schlange, wie Thatcher 1977, 242 hervorhebt, ein gerne verwendetes Bild. In der Ilias (XII 201–207) wird der Flug eines eine Schlange tragenden Adlers von den Trojanern als Vorzeichen für den Sieg der Achäer über das eigene Lager interpretiert: „ὄρνις γάρ σφιν ἐπῆλθε περησέμεναι μεμαῶσιν, / αἰετὸς ὑψιπέτης ἐπ’ ἀριστερὰ λαὸν ἐέργων, / φοινήεντα δράκοντα φέρων ὀνύχεσσι πέλωρον / ζωὸν, ἔτ’ ἀσπαίροντα· καὶ οὔπω λήθετο χάρμης. / κόψε γὰρ αὐτὸν ἔχοντα κατὰ στῆθος παρὰ δειρὴν / ἰδνωθεὶς ὀπίσω· ὃ δ’ ἀπὸ ἕθεν ἧκε χαμᾶζε / ἀλγήσας ὀδύνῃσι, μέσῳ δ’ ἐνὶ κάββαλ’ ὁμίλῳ, / αὐτὸς δὲ κλάγξας πέτετο πνοιῇς ἀνέμοιο.“ (Homer 1855, 235; „Denn es schoß ihnen ein Vogel entgegen, als sie eben eifrig brannten überzusetzen, ein hochfliegender Adler, welcher zur Linken das Volk durchschnitt, in seinen Klauen einen purpurrothen riesigen Drachen tragend, der noch lebend war und noch zappelte; und immer noch sprühte er von Kampflust. Er biß nämlich den ihn haltenden Ader in die Brust oben am Halse, indem er den Kopf an den Nacken zurückkrümmte; dieser schleuderte ihn daher von sich zur Erden, weil er allzuheftige Schmerzen litt, und ließ ihn mitten in das Heergewühl purzeln, während er selbst mit dem Hauche des Sturmwindes schwirrend davonflog“, Homer 1854, 1, 283.) Der Chor in Sophokles’ Antigone (110–125) vergleicht den Angriff der Argier auf Theben ebenfalls mit dem Überfall eines Adlers auf eine Schlange: „Ὅς ἐφ’ ἁμετέρᾳ γᾷ Πολυνείκους / ἀρθεὶς νεικέων ἐξ ἀμφιλόγων / ὀξέα κλάζων / αἰετὸς ἐς

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γᾶν ὣς ὑπερέπτα, / λευκῆς χιόνος πτέρυγι στεγανὸς / πολλῶν μεθ’ ὅπλων / ξύν θ’ ἱπποκόμοις κορύθεσσιν. // Στὰς δ’ ὑπὲρ μελάθρων φονώσαισιν ἀμφιχανὼν κύκλῳ / λόγχαις ἑπτάπυλον στόμα / ἔβα, πρίν ποθ’ ἁμετέρων / ἔβα, πρίν ποθ’ ἁμετέρων / αἱμάτων γένυσιν πλησθῆναί τε καὶ στεφάνωμα πύργων / πευκάενθ’ Ἥφαιστον ἑλεῖν. τοῖος ἀμφὶ νῶτ’ ἐτάθη / πάταγος Ἄρεος ἀντιπάλῳ δυσχείρωμα δράκοντι.“ (Sophokles 1858, 218 [Unterstreichungen aus N.s Ausgabe, in der die Verse 110– 116 außerdem links angestrichen sind]; „Wie der Adler mit hellem Getön’ umfleugt / Das Gefilde, so stürzte Polyneikes einher, / Von dem Zorne des Bruderzwistes entbrannt; In der Rüstung strahlend, und umweht / Von des Helmes flatterndem Busch, / Schwebt’ er auf Fittigen umher, weißer wie Schnee. /14/ Mit offnem Rachen stand, und mit blutigem / Geschoß, der Feind im Kreis’ um den Siebenschlund / Der Thore; doch er floh, eh’ unser / Blut ihm die lechzende Kehle füllte. // Floh, eh’ der Mauern Zinnen der dampfende / Hephästos haschte – Donner des Ares scholl / Vom Rücken her! Unüberwindbar / Wurden dem Feinde die Drachensöhne“, Sophokles 1823, 13 f. [Unterstreichung aus N.s Ausgabe]) Parodiert wird das Motiv vom Raub einer Schlange durch einen Adler in den Rittern des Aristophanes (VV. 197–201), wo der Protagonist Demosthenes auf einen Orakelspruch hinweist, dessen Inhalt stark an das in Ilias XII 201–207 geschilderte Omen erinnert. Noch Horaz (Oden IV 4 1–18) bedient sich des Bildes, um einen Sieg des römischen Heerführers Nero Claudius Drusus in Rätien zu besingen: „Qualem ministrum fulminis alitem, / (Cui rex deorum regnum in avis vagas / Permisit, expertus fidelem / Iuppiter in Ganymede flavo) / Olim iuventas et patrius vigor / Nido laborum propulit inscium, / Vernique iam nimbis remotis, / Insolitos docuere nisus // Venti paventem, mox in ovilia / Demisit hostem vividus impetus, / Nunc in reluctantes dracones / Egit amor dapis atque pugnae; // […] /97/ Videre Raetis bella sub Alpibus / Drusum gerentem Vindelici“ (Horaz 1872, 1, 96 f.; „Gleichwie des Blitzstrahls fliegenden Diener wohl / (Dem Zeus die Herrschaft schweifender Vögel gab, / Weil ihn getreu der Götterkönig / Beim Ganymedes erfand, dem blonden) // Der angeborne Muth und der Jugend Kraft / Dem Nest enttreibt, unkundig des Fluges Müh’, / Und Frühlingswind’ nach Sturmentfernung / Schwinge ihn lehrt, die er nie, der Bange, // Bisher gewohnt war, bald in die Hürden ihn, / Den Feind, hinabstürzt feuriger Ungestüm; / Bald, wo der Drach’ entgegenstreitet, / Gierde nach Fraß und nach Kämpfen hintreibt, // […] /97/ So sah’n am Fuße Rhätischer Alpenhöh’n / Die Vindelicier Drusus im Kampf“, ebd. [Übersetzung v. Ch. W. Binder]). Aufgrund der kulturgeschichtlichen Ubiquität des Adler-Schlangen-Kampfs lässt sich keine spezifische Quelle N.s ausmachen, vielmehr dürfte er über vielfältige Kanäle mit dem Motiv in Berührung gelangt sein. Janz 1978, 2, 229 (wie vor ihm bereits Wittkower 1939, 325) weist hin auf Percy Bysshe Shelleys episches Gedicht The Revolt of Islam (1818, Die Empörung des Islam), enthalten in dem von

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Julius Seybt übersetzten Band Shelley’s poetische Werke, den der junge N. in einem Brief an die Schwester von Ende November 1861 auf seine Bücher-Wunschliste setzte (siehe KSB 1/KGB I 1, Nr. 288, S. 188, Z. 48 f.). Bei Shelley berichtet das erzählende Ich von einem Kampf zwischen Licht und Finsternis und will beobachten, wie in der Luft „einer Schlange Ringelleib“ einen fliegenden Adler einer „Folterkette“ gleich umwindet, bis nach verbissenem Kampf die Schlange „schlaff“ zur Erde fällt (Shelley 1844, 207). Thatcher 1977 führt weitere mögliche Quellen N.s an, insbesondere Gobineaus Histoire des Perses d’après les auteurs orientaux, grecs et latins (1869), wo der persische König Djem am Himmel einen Kampf zwischen Adler und Schlange verfolgt (vgl. Gobineau 1869, 1, 95 f.). Zudem verweist Thatcher auf Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (1836–1843), die N. schon bei der Arbeit an GT zu Rate zog, und derzufolge der zoroastrische Dualismus von Ormuzd (Licht) und Ahriman (Finsternis) durch den Widerstreit von „Habicht“ bzw. „Adler“ (Creuzer 1836–1843, 1, 221) und „Schlangendrache“ (ebd., 223) versinnbildlicht wird. Za bricht nun aber mit der Motivtradition, indem er das Emblem des Kampfes in eines der Harmonie verwandelt und Adler und Schlange in freundschaftlicher Eintracht zeigt. Nicht als würgende „Folterkette“ wie bei Shelley, sondern gleich „einer Freundin“ liegt die Schlange dem Adler um den Hals geringelt. Anders ein nachgelassener Entwurf, in dem sich Zarathustras Tiere, initiiert durch die Aggression der Schlange, gegenseitig zerfleischen und der Anblick des Gemetzels wiederum den Auslöser für Zarathustras eigenen Tod bilden soll: „Als alle fort sind, streckt Zarathustra nach der Schlange die Hand aus: ‚was räth mir meine Klugheit?‘ – sie sticht ihn. Der Adler zerreißt sie, der Löwe stürzt sich über den Adler. Als Zarathustra den Kampf seiner Thiere sah, starb er.“ (NL 1883, KSA 10, 16[45], 513, 16–19) Dieser Plan erfährt jedoch keine Umsetzung, sondern im Gegenteil verwandelt N. das antipodische, von Feindschaft bestimmte Verhältnis von Adler und Schlange, das in vielen Kulturen symbolisch mit dem archetypischen Gegensatz von hell und finster, gut und böse identifiziert wird, in das Emblem einer die Gegensätze versöhnenden Freundschaft. Thatcher 1977, 258 leitet daraus eine geschichtsphilosophische Versöhnungsvision ab, „a vision of pre-Socratic and pre-Christian truth“ (vgl. kritisch dazu Sanchiño Martínez 2019, bes. 168; vgl. auch Honneth 2002, 399). Eine bemerkenswerte Nähe zu N.s auf Harmonie ausgerichteter Motivgestaltung findet sich an entlegenem Ort in Carl August Böttigers Beschreibung des unrealisiert gebliebenen Projekts einer antinapoleonischen Moskauer Triumphsäule, auf der, so die Idee, „der doppelte russische Adler eine vergoldete Weltkugel umklammert und die in den Schwanz sich beißende Schlange, den Ring der Ewigkeit, als Zeichen der Fortdauer, zur guten Vorbedeutung im Schnabel“ (Böttiger 1814, o. S.) halten sollte. Skowron 2002, 30 f. erinnert an die Nähe zum zoroastrischen Fravashi-Symbol (auch ‚Flügelmensch‘), das das

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unsterbliche Wesen eines Menschen versinnbildlicht und als geflügelte Scheibe ikonographisch Vogel und Kreis verknüpft. In ihrem paarweisen Auftreten als Tiere Zarathustras sind Schlange und Adler in den vier Teilen des Werks unterschiedlich stark präsent. In Za I begegnen sie überhaupt nur in der Vorrede. Ähnlich verhält es sich in Za II, wo sie ausschließlich im Eröffnungskapitel „Das Kind mit dem Spiegel“ Erwähnung finden. Zarathustra redet sie dort just in dem Moment an, in dem sein Sendungsbewusstsein wiedererwacht ist: „Was geschah mir doch, meine Thiere? – sagte Zarathustra. Bin ich nicht verwandelt!“ (106, 11 f.) Während des Aufenthalts auf den glückseligen Inseln ist er getrennt von seinen Tieren, was im Nachhinein deutlich wird, wenn er in Za III Die Heimkehr zugleich mit seiner Einsamkeit auch die Gesellschaft seiner Tiere wiedererlangt. Wenige Kapitel später haben die Tiere dann in Za III Der Genesende ihren zentralen Auftritt, bei dem sie Zarathustra über seine prophetische Rolle aufklären wollen: „Denn deine Thiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und werden musst: siehe, d u b i s t d e r L e h r e r d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t –, das ist nun d e i n Schicksal!“ (275, 28–30) In Za IV, wo die Rolle der Tiere am plastischsten ausgestaltet ist, kommt ihnen eine veränderte Funktion zu. Als vertraute Gefährten Zarathustras stehen sie in einem Kontrastverhältnis zu Zarathustras Gästen, den höheren Menschen, und sind als Akteure auf der Handlungsebene stark präsent. Dass dort mit Esel und Löwe noch zwei weitere Tiere handelnd in das Geschehen eingreifen, unterstreicht die aktivere Rolle der Tiere. In Za begegnen Adler und Schlange aber nicht allein auf der Figurenebene, sondern auch als zeichenhaft-allegorische Repräsentanzen von Eigenschaften, die Zarathustra selbst sich zuschreibt bzw. über die er gerne verfügen würde (vgl. dazu NK 27, 16 f.). Darüber hinaus erhalten sie in der Figurenrede symbolische und metaphorische Bedeutung. Überhaupt werden im Bestiarium von Za vielfältigste Tiere in uneigentlicher Rede als Vergleich, Metapher und Allegorie aufgeboten. Das Spektrum reicht von Insekten und Parasiten über Vögel und Reptilien bis hin zu Säugetieren wie Tigern und Affen (vgl. dazu die Aufsatzsammlung Acampora/Acampora 2004, die Überblicksdarstellung Braun 2009 u. zum Verhältnis von Tier und Mensch Reschika 2003). Gerade auch das Schlangen-Motiv ist auf unterschiedlichen Ebenen des Werks bedeutsam: Die Schlange tritt nicht nur gemeinsam mit dem Adler als Begleiterin Zarathustras auf, sondern steht überdies im Mittelpunkt gleichnishafter Erzählungen (vgl. Za I Vom Biss der Natter, Za III Vom Gesicht und Räthsel), und sie wird in der Figurenrede verschiedentlich vergleichend und verbildlichend herangezogen. Pfotenhauer 1985, 309 sieht in Za die kulturgeschichtliche Ambivalenz der Schlange in Szene gesetzt, die in negativer Konnotation, insbesondere in der alttestamentarischen Überlieferung, die Bedrohungen des Menschen sinnfällig macht, aber als das sich häutende Tier Verjüngung und Erneuerung bedeutet (vgl. zur Schlange auch

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Pappas 2004). Das Symbol der Schlange, die ihren Schwanz im Mund hat (Ouroboros oder auch Uroboros genannt), ist schon in der Ikonographie des Alten Ägypten überaus präsent und wird dem zyklischen Sonnenlauf analogisiert (vgl. dazu Assmann 2019). Der Ouroboros steht ein für Unendlichkeit und Ewigkeit, für die Paradoxie eines anfanglosen Anfangs, und legt innerhalb von Za den Bezug zur ewigen Wiederkunft nahe. Stützen lässt sich dies durch ein nachgelassenes Notat, das die geringelte „Schlange der Ewigkeit“ mit dem Motiv des Mittags verknüpft: „Die Sonne der Erkenntniß steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte – – es ist e u r e Zeit, ihr Mittagsbrüder!“ (NL 1881, KSA 9, 11[196], 519, 18–20; vgl. zum Mittag vgl. NK 102, 6–10) So ist es plausibel, wenn Winteler 2010, 457 die kreisförmig geringelte Schlange als einen „ersten unübersehbaren Hinweis auf die Wiederkunftslehre“ in Za versteht (so schon Jaspers 1981 [1936], 355; vgl. auch Groddeck 1991, 2, 26). Zu betonen ist aber die eigenwillige mythopoetische Ausgestaltung des Schlangenmotivs durch N., der sich zwar an die Ouroboros-Tradition anlehnt, die Schlange aber keineswegs auf ihre Bedeutung als Wiederkunftssymbol festlegt, sondern ihr vielmehr in unterschiedlichen Kontexten jeweils andere Bedeutung zuweist (ähnlich Sidowska 2022, 80 f., die von einer „Mehrfachkodierung“ spricht). An herausgehobener Stelle begegnet das Schlangen-Symbol am Ende von Za I in Gestalt des Abschiedsgeschenks der Schüler, die Zarathustra einen Stab überreichen, „an dessen goldnem Griffe sich eine Schlange um die Sonne ringelte“ (97, 9 f.; vgl. NK 97, 8–10), die er als „Schlange der Erkenntniss“ (99, 22) deutet. Sonst kommen der Schlange in Za überwiegend negative Konnotationen zu. Eingesetzt als Ekel-Motiv bringt sie das Abstoßende bestimmter menschlicher Verhaltensweisen zum Ausdruck. So verweist Zarathustra auf die Bosheit menschlicher „Klapperschlangen“ (185, 7 u. 13), charakterisiert den Menschen als ein „Knäuel wilder Schlangen“ (46, 30), die beutegierig die Welt durchstreifen, oder spricht vom „Schlangengeringel“ (158, 21) und „Schlangen-Unflath“ (158, 25) der rein Erkennenden. Ein eigentümlicher Ort ist das Tal in Za IV, das die Hirten „SchlangenTod“ (327, 19) nennen, weil eine „Art hässlicher, dicker, grüner Schlangen“ (327, 17) sich darin zurückziehe, um zu sterben. Besondere Aufmerksamkeit erfährt in der Forschung die mit der ewigen Wiederkunft verknüpfte einprägsame Episode von der „schwarze[n] schwere[n] Schlange“ (201, 25), die sich in der Traumerzählung von Za III Vom Gesicht und Räthsel im Schlund des Hirten festgebissen hat (vgl. dazu NK 4/2, 201, 23–26 u. Biondi 2001). Auch der Adler ist als Einzelmotiv ins Motivgeflecht von Za eingewoben. Die ihm zugeschriebene Bedeutung erweist sich dabei als deutlich konsistenter als die seiner „Freundin“ Schlange und folgt der Motivtradition, die den Adler als großen Greifvogel mit kräftigem Schnabel und starken Krallen mythologisch nicht nur zum prädestinierten Schlangentöter machte, sondern seine Karriere als Wappen-

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tier beförderte, das Wehrhaftigkeit, Herrschaftsanspruch und Souveränität zum Ausdruck bringt. In Za erscheint der Adler entsprechend als Emblemtier des großen Individuums. So assoziiert Za II Vom Gesindel ihn der heroischen Größe und Erhabenheit der Ausnahmeexistenzen, die ein einsames und zukunftsgerichtetes Dasein führen, herausgehoben über die Masse der Menschen: „Und wie starke Winde wollen wir über ihnen leben, Nachbarn den Adlern, Nachbarn dem Schnee, Nachbarn der Sonne: also leben starke Winde.“ (126, 27–29) Zarathustra, der sich adlerhafte Attribute zuweist und sich eines „Adlers Magen“ (241, 12) rühmt, spricht in Za IV Vom höheren Menschen vom „Einsiedler- und Adler-Muth“ (358, 21): „Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, wer mit Adlers-Krallen den Abgrund f a s s t: Der hat Muth. – –“ (358, 26 f.) Der Abgrund lässt sich als Hinweis auf den „abgründlichsten Gedanken“ (271, 5), den Gedanken der ewigen Wiederkunft, verstehen, und schon das Wiederkunfts-Kapitel Za III Vom Gesicht und Räthsel empfiehlt ja den Mut „an Abgründen“ (199, 6). Diese Assoziationskette – Adler, Mut, Abgrund, ewige Wiederkunft – wird gestützt durch den Gesang des Zauberers in Za IV Das Lied der Schwermuth, wo das Motiv des die Abgründe nicht scheuenden, lämmerreißenden Adlers aufgegriffen und variiert wird, wobei die Rede von Abgründen, die sich in „immer tiefere Tiefen ringeln“ (373, 5), das Bild der in Za I Vorrede 10 „geringelt“ um den Hals des Adlers liegenden Schlange heraufbeschwört. 27, 16 f. Das stolzeste Thier unter der Sonne und das klügste Thier unter der Sonne – sie sind ausgezogen auf Kundschaft.] Wenn Zarathustra seinen Tieren Stolz und Klugheit zuweist, dann macht er sich traditionelle tierallegorische Deutungsmuster zu eigen und bezieht sie in gleichnishafter Rede auf sich selbst, wobei er seine schlangenhafte Qualität jedoch gerade in Zweifel zieht: „Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich meiner Schlange! / Aber Unmögliches bitte ich da: so bitte ich denn meinen Stolz, dass er immer mit meiner Klugheit gehe! / Und wenn mich einst meine Klugheit verlässt: – ach, sie liebt es, davonzufliegen! – möge mein Stolz dann noch mit meiner Thorheit fliegen!“ (27, 25–28, 2) Schon Heinrich Heine greift in den Französischen Zuständen (Art. 2) den Adler-Schlange-Antagonismus zur Personencharakterisierung auf – er spricht von Napoleon als einem Genie, das die adler- und schlangenhafte Komponente in sich vereint habe, „in dessen Haupte die Adler der Begeisterung horsteten, während in seinem Herzen die Schlangen des Kalkuls sich ringelten“ (Heine 1861–1866, 7, 71). Ein nachgelassenes Notat N.s aus dem Sommer/Herbst 1882 legt nahe, die Tiere als Komponenten von Zarathustras unbewusstem Ich zu begreifen, die entscheidungs- und handlungsfähig bleiben, wenn es die bewusste Seite seines Ich nicht ist: „Schlange, sprach Zarathustra, du bist das klügste Thier unter der Sonne – du wirst wissen was ein Herz stärkt – mein kluges Herz – ich weiß es nicht. Und du Adler, du bist das stolzeste Thier unter der Sonne, nimm das Herz und

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trage es dorthin, wohin es verlangen wird – das stolze Herz – ich weiß es nicht.“ (NL 1882, KSA 10, 2[7], 45, 15–20) Während Zarathustra die Tugenden der Tiere auf sich bezieht und ihnen die Kompensation eigener Mängel als Aufgabe zuweist, legen die höheren Menschen in Za IV einen anderen Maßstab an sein Verhältnis zu seinen Tieren an. Der Gewissenhafte des Geistes vertritt in „Von der Wissenschaft“ die darwinistisch und evolutionsbiologisch imprägnierte These, dass sich der Mensch im Wettstreit mit den wilden Tieren perfektioniert habe: „Den wildesten muthigsten Thieren hat er alle ihre Tugenden abgeneidet und abgeraubt: so erst wurde er – zum Menschen. / D i e s e r Muth, endlich fein geworden, geistlich, geistig, dieser Menschen-Muth mit Adler-Flügeln und Schlangen-Klugheit: d e r, dünkt mich, heisst heute –‘ / ‚Z a r a t h u s t r a‘! schrien Alle, die beisammen sassen, wie aus Einem Munde“ (377, 19–25). Nach einhelligem Urteil der höheren Menschen wäre Zarathustra damit als Produkt eines auf Steigerung angelegten Konkurrenzverhältnisses von Tier und Mensch zu verstehen. Freilich zielt die Szene in erster Linie auf den komischen Effekt, und man wird fragen müssen, ob es sich nicht eher um eine parodistische Anverwandlung darwinistischer Argumentationsmuster handelt. Evident ist jedenfalls, dass Zarathustras ‚Symboltieren‘ keine feste symbolische Bedeutung zukommt, sondern auf spielerisch-experimentelle Weise unterschiedliche Deutungsregister an sie angelegt werden. Das zeigt sich nicht zuletzt auch, wenn die Tiere in 377, 21–23 nicht mit „Stolz“ und „Klugheit“, sondern mit „Mut“ und „Klugheit“ verknüpft werden, während zuvor in Za IV Die Begrüssung noch vom „Stolz“ des Adlers (347, 1) und der „kluge[n] Schlange“ (ebd., 2) die Rede ist. 27, 20–26 Gefährlicher fand ich’s unter Menschen als unter Thieren, gefährliche Wege geht Zarathustra. Mögen mich meine Thiere führen!“ / Als Zarathustra diess gesagt hatte, gedachte er der Worte des Heiligen im Walde,] Wenn Zarathustra später in Za III Die Heimkehr die Situation aus der Retrospektive mit identischen Worten Revue passieren lässt, dann führt er dort zugleich den Begriff der „Verlassenheit“ für das Gefühl des Ausgesetzseins unter den Menschen ein: „[…] weisst du noch, oh Zarathustra? Als damals dein Vogel über dir schrie, als du im Walde standest, unschlüssig, wohin? unkundig, einem Leichnam nahe: – / ,– als du sprachst: mögen mich meine Thiere führen! mögen mich meine Thiere führen! Gefährlicher fand ich’s unter Menschen, als unter Thieren: – D a s war Verlassenheit!“ (232, 3–9) Der Hinweis auf die „Worte des Heiligen im Walde“ bezieht sich auf das Zusammentreffen mit dem Einsiedler in Za I Vorrede 2, der Zarathustra vor der Gefahr warnt, die der Kontakt mit den Menschen für ihn, den Sendungsbewussten, bedeute und ihn auffordert: „Gehe nicht zu den Menschen und bleibe im Walde! Gehe lieber noch zu den Thieren!“ (13, 24 f.) Die besondere Gefährlichkeit des Menschen wird später als paradoxe Überbietung der Tiere in puncto Bestialität und Grausamkeit gefasst. Pointiert formuliert Zarathustra in Za III Der

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Genesende: „Der Mensch nämlich ist das grausamste Thier.“ (273, 17 f.; vgl. NK 4/2, 273, 15–21) 27, 23–28, 2 Als Zarathustra diess gesagt hatte, gedachte er der Worte des Heiligen im Walde, seufzte und sprach also zu seinem Herzen: / Möchte ich klüger sein! Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich meiner Schlange! / Aber Unmögliches bitte ich da: so bitte ich denn meinen Stolz, dass er immer mit meiner Klugheit gehe! / Und wenn mich einst meine Klugheit verlässt: – ach, sie liebt es, davonzufliegen! – möge mein Stolz dann noch mit meiner Thorheit fliegen!] Um das Verhältnis von Klugheit, Torheit und Stolz kreist auch das folgende Notat aus der Entstehungszeit von Za I, ohne dabei allerdings Tierallegorien zu bemühen: „Zuweilen will ich von dir: daß du klug seist von Grund aus und daß du stolz seist von Grund aus: dann wird dein Stolz immer deiner Klugheit zur Seite gehen. Du wirst die Pfade der Thorheit gehen: aber ich beschwöre auch deine Thorheit, daß sie den Stolz zu ihrem Geleit immer nehme. Willst du aber thöricht sein – – –“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[234], 177, 4–9). In einem späteren Notat aus dem Herbst 1883 findet sich der Sprecher verlassen von seiner „spröde[n] Katze“ Klugheit und seinem in der Höhe fliegenden Stolz allein mit seiner Kapriolen schlagenden Torheit: „Meine Klugheit gieng weg von mir, diese spröde Katze: mein Stolz rauschte in die Lüfte! der sucht sich Abenteuer. / Da sitze ich nun mit meiner Thorheit – die Welt still wie ein Garten, die Luft müde vor vielen Wohlgerüchen. / Welche liebe Noth macht mir meine Thorheit: sie will gar nicht stille sitzen und purzelt immer vom Stuhle – wird sie je ihrer selber müde werden? / Sie wird auch ihres Singens nicht müde: die Weise aber hat sie von den Kindern gelernt, Abends, wenn die purpurne Seligkeit am Himmel hängt. / Ich vergebe ihr, denn sie weiß nicht, was sie singt: und weil ich so allein bin, singe ich ihren Unsinn mit – verzweifelnd, wie oft sie dabei vom Stuhle fällt.“ (NL 1883, KSA 10, 18[52], 580, 5–17) 28, 3 Also begann Zarathustra’s Untergang.] Diese wörtliche Wiederaufnahme aus Za I Vorrede 1, 12, 10 unterstreicht die ringkompositorische Anlage der Vorrede. Sie beginnt und endet mit Zarathustras Wunsch, zu den Menschen zu gehen, wobei die Rede von „Zarathustra’s Untergang“ beide Male die Möglichkeit seines tragischen Scheiterns andeutet. In Za III Der Genesende 2 jedoch wird resümiert: „Also – e n d e t Zarathustras Untergang.‘ – –“ (277, 5) Zur Mehrdeutigkeit des ‚Untergehens‘ vgl. NK 12, 1 f.

Die Reden Zarathustraʼs Überblicks- und Stellenkommentare Die narrative Faktur, die das Geschehen in Za I Vorrede als Geschichte Zarathustras konturiert und ihm einen chronologischen Handlungsfaden unterlegt, ist in Za I Die Reden Zarathustra’s weitgehend zurückgenommen. Lediglich vier der insgesamt 22 Kapitel sind durch knapp gehaltenen Erzählerbericht eingeleitet („Von den Lehrstühlen der Tugend“, „Vom Baum am Berge“, „Vom Biss der Natter“, „Von der schenkenden Tugend“). Die Mehrzahl der Kapitel beginnt unvermittelt mit der direkten Rede des Protagonisten. In „Von den Hinterweltlern“ und „Von tausend und Einem Ziele“ übernimmt Zarathustra zunächst selber den Erzähler-Part, indem er einleitend von sich in der dritten Person spricht und vergangenes Geschehen resümiert (vgl. 35, 2–4; 74, 2–8), bevor er dann rasch in die erste Person überwechselt. Durch die weitgehende Zurückdrängung des Erzählers liegt der Fokus ganz auf dem gesprochenen Wort, den Reden Zarathustras, denen trotz zahlreicher Höreransprachen monologischer Charakter zukommt. Entsprechend schemenhaft fällt die auf ein Minimum reduzierte äußere Handlung aus, was den Effekt hat, dass Zarathustra wie in einem luftleeren Raum spricht. Das Fehlen des bindenden narrativen Fadens lässt die „Reden“, anders als die Abschnitte der Vorrede, in ihrer Abfolge auf den ersten Blick austauschbar erscheinen. Lose wirkt nicht nur die Verbindung der Reden untereinander, sondern auch die Tektonik der Einzelreden folgt vielfach einem assoziativen Reihungsstil. N. plündert dafür früher angelegte Sammlungen von Sentenzen. Als wichtigen Grundstock nutzt er in erster Linie die Sammlung „A u f h o h e r S e e“ aus dem Sommer/Herbst 1882. Die daraus resultierende kleinteilige Bauform lässt sich exemplarisch etwa an der Rede „Vom Lesen und Schreiben“ beobachten. Sie ist aus einzelnen Sentenzen bzw. Sprüchen zusammengefügt, die sich locker um einen gedanklichen bzw. thematischen Kern gruppieren und deren Verbindung untereinander assoziativ und sprunghaft erscheint. Das Übergewicht von kleinteiligen Strukturelementen regt an zu detailliert verfahrenden Deutungen, die dem Bild- und Bedeutungsgehalt einzelner Sätze und Sentenzen nachforschen – eine Herangehensweise, die desintegrierend wirkt und den Text aufzulösen droht in eine Vielzahl einzelner Facetten. „Die Reden Zarathustraʼs“ sind von aufrüttelnder Intention, getragen vom Impetus der Demaskierung und der Absicht, unlautere Handlungsmotive und verderbliche Lebenseinstellungen aufzudecken. Zarathustra agiert in der Rolle eines Wachrüttlers, demagogischen Aufpeitschers und prophetischen Verkünders, der gesellschaftlich tonangebende Gruppierungen als Volksverführer entlarvt und vor ihren falschen Lehren warnt. Wenn er sich häufig in direkter Apostrophierung aversiv gegen bestimmte Gruppen wendet – „ihr Verächter des Leibes“ (40, 32), https://doi.org/10.1515/9783110293319-004

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„ihr Richter und Opferer“ (45, 2) –, so handelt es sich um einen rhetorischen Kniff, eine Polarisierungsstrategie (vgl. Stegmaier 2010, 251), die dazu anhält, seine Partei zu ergreifen. Textintern zielt sie auf seine nicht näher bestimmten Anhänger, die er als Freunde, Brüder oder Jünger bezeichnet (zu den verschiedenen Adressatenbezeichnungen vgl. NK 15, 1), und textextern hat sie die Leser*innen des Za-Werks im Blick. Zarathustra präsentiert „eine streitbare Kritik der herrschenden Moral und Metaphysik“, aus der er Folgerungen ableitet „für ein künftiges Philosophieren“ (Stegmaier 2000a, 201) und für eine neue ethische Ausrichtung nach dem Tod Gottes (vgl. Fitzsimons 2007, 149). Den angeprangerten falschen Lehren stellt er eigene Maximen für ein gelingendes Leben gegenüber, die er überwiegend imperativisch vorbringt. Sie betreffen vielfältige Themen – König 2021, 39 schreibt ihnen eine tendenziell universalistische Ausrichtung zu – und umfassen nicht zuletzt kulturelle Praktiken und Formen des sozialen Zusammenlebens wie Freundschaft, Ehe, Sexualität und ‚richtiges‘ Sterben. Der Fluchtpunkt der „Reden Zarathustraʼs“ liegt, wie schon in Za I Vorrede, auf der Idee der Selbstüberwindung und der Erneuerung des Menschen. Ihren einenden Bezugspunkt haben die 22 Kapitel in der Vision des Übermenschen; in acht von ihnen wird er explizit genannt. Lampert 2012, 205 betont den Kontrast zu Zarathustras Auftreten in Za I Vorrede. Während er dort als Lehrer gescheitert sei, würden die neuen Reden nun „successfully convey Zarathustra’s teaching at this point in his career“. Das ist indes dahingehend einzuschränken, als sich der Erfolg seiner Reden zunächst gar nicht bemessen lässt, da die konkrete Redesituation ebenso unbestimmt bleibt wie die neue Zuhörerschaft (so Bennholdt-Thomsen 1974, 101). Anders als bei seinen Reden auf dem Marktplatz in Za I Vorrede werden die Zuhörerreaktionen jetzt gänzlich ausgespart. Offen bleibt deshalb zunächst, ob Zarathustras Botschaften nun auf fruchtbareren Boden fallen. Weil gleich die erste Rede „Von den drei Verwandlungen“ unvermittelt mit seinen Worten einsetzt, fehlt am Übergang zwischen Za I Vorrede und der Eröffnungsrede von „Die Reden Zarathustra’s“ jeglicher Hinweis auf Zeit, Ort und Situation. So ist nicht allein unklar, zu wem Zarathustra jetzt spricht und wieviel Zeit seit seinem in Za I Vorrede 9 gefassten Entschluss vergangen ist, sich „lebendige Gefährten“ (25, 24) zu suchen, sondern auch ob und wie er diesen Entschluss in die Tat umgesetzt hat. Einzig der Umstand, dass er sich mit seinen ersten Worten an eine Zuhörerschaft wendet – „Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes“ (29, 3) – und im Fortgang dieser ersten Rede mehrfach die Anredeformel „meine Brüder“ verwendet, legt den Schluss nahe, dass einige Zeit verstrichen ist, er mittlerweile Anhänger um sich geschart hat und ähnlich einem neuen Christus zu einem Kreis von Jüngern spricht. Eingehendere Kontur erhalten die äußeren Rahmenbedingungen aber erst nach und nach. So wird am Ende der eröffnenden Rede „Von den drei Ver-

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wandlungen“ die Stadt mit Namen „bunte Kuh“ als neue Wirkungsstätte Zarathustras angegeben (vgl. dazu NK 31, 16 f.). Und wenn er sich im achten Kapitel „Vom Baum am Berge“ mit einem einzelnen Schüler auseinandersetzt, dann ist daraus zu schließen, dass er tatsächlich Anhänger um sich geschart hat. Das enthüllt sich vollends im Schlusskapitel „Von der schenkenden Tugend“, wo er allerdings auch schon wieder Abschied von diesen „Jüngern“ (97, 12) nimmt und ihnen ein neuerliches Wiedersehen unter dem veränderten Vorzeichen des großen Mittags in Aussicht stellt. Obwohl die Kapitelanordnung auf den ersten Blick einem schlichten Reihungsprinzip folgt, gibt es in der Forschung Überlegungen zu ihrer kompositorischen Anlage. Unumstritten ist die rahmende Funktion von eröffnendem und beschließendem Kapitel. Geradezu als ein Kondensat von Za I wird vielfach die erste Rede verstanden. Sie wird gelesen als Parabel der Übermenschwerdung oder gar als allegorische Vorwegnahme der gesamten Handlung (vgl. ÜK Za I Von den drei Verwandlungen). Unbestritten ist auch die exzeptionelle Rolle des Schlusskapitels „Von der schenkenden Tugend“, die schon daran ersichtlich ist, dass Zarathustra dort seine Wirkungsstätte verlässt, womit er zu erkennen gibt, dass die Zeit seiner Reden in der Stadt mit Namen „bunte Kuh“ abgeschlossen ist. Weitergehende Kompositionsprinzipien sucht Lampert aufzuweisen. Er erkennt im achten Kapitel, „Vom Baum am Berge“, und im fünfzehnten Kapitel, „Von tausend und Einem Ziele“, kompositorische Grundpfeiler, die die „Reden Zarathustra’s“ in drei Gruppen von jeweils sechs Kapiteln untergliedern (ähnlich Meier 2017, 33, der „drei Siebenergruppen“ ausmacht). Lampert 1986, 31 f. sieht die Reden 2 bis 7 ausgerichtet auf die Kritik der alten Lehre; die Reden 9 bis 14 würden die Zuhörer einschwören auf die Strapazen der neuen Lehre und die Kapitel 16 bis 21 dienen ihm zufolge der Fixierung von „new conventions“ (ebd., 32). Für die erste Gruppe leuchtet dieser Systematisierungsversuch noch am ehesten ein, die der zweiten und dritten Gruppe zugeordneten Kapitel lassen sich jedoch schwerlich unter einem gemeinsamen Nenner zusammenfassen. Eine nachgelassene Kapitelliste aus dem Winter 1882/83 bestätigt diesen Eindruck, insofern dort Anfangs- und Schlusskapitel übereinstimmend verzeichnet sind (das Schlusskapitel unter der abweichenden Überschrift „von der heiligen S e l b s t s u c h t“; NL 1882/83, KSA 10, 4[280], 186, 27). Und auch „der Baum am Berge“ (ebd., 186, 13) ist dort entsprechend der publizierten Fassung als achtes Kapitel vermerkt, abweichend jedoch ist „1001 Ziel“ (ebd., 186, 8) nicht als fünfzehntes Kapitel aufgeführt, sondern bereits an dritter Position gelistet, was die ihm von Lampert und Meier zugeschriebene ‚Grundpfeilerfunktion‘ fraglich macht. Die intensive Verklammerung des Schlusskapitels mit Za I Vorrede 1 prägt die Gesamtstruktur des ersten Za und gibt dem Werk eine kompositorische Rundung: Im ersten Abschnitt der Vorrede formuliert Zarathustra sein Vorhaben „ich möch-

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te verschenken“ (11, 19), und im letzten Kapitel propagiert er nicht nur verallgemeinernd das Prinzip einer „schenkenden Tugend“, sondern wird selbst zum Beschenkten, womit die Wechselseitigkeit den Erfolg seines Wirkens anzudeuten scheint. Und wo er die erste Rede in Za I Vorrede 3 mit der Ankündigung beginnt: „I c h l e h r e e u c h d e n Ü b e r m e n s c h e n“ (14, 13), beschwört er seine Zuhörer am Ende seiner letzten Rede: „N u n w o l l e n w i r, d a s s d e r Ü b e r m e n s c h l e b e“ (102, 13 f.). Innerhalb des Za-Projekts fällt dem Schlusskapitel von Za I eine wichtige Scharnierfunktion zu. Zunächst war es als Abschluss des Za-Werks gedacht, dann wurde es durch den Fortsetzungsentschluss und mit der Entstehung der nachfolgenden Teile zum nur vorläufigen Ende: Der Abschied von den Jüngern und der prophetische Vorausblick auf die Zukunft erhält dadurch den Charakter eines bloßen Zwischenspiels, auf das Za II bis IV weitere Abschiede und eine Vielzahl prophetischer Ankündigungen aus dem Munde Zarathustras folgen lassen.

Von den drei Verwandlungen. Die Verwandlungs-Rede eröffnet den an Za Vorrede anschließenden Hauptteil von Za I, der die „Die Reden Zarathustra’s“ (29, 1) überschrieben ist. Bei Lesern*innen wie Interpret*innen erfreut sie sich großer Beliebtheit. Sie wird häufig als eine Art Modell des gesamten Za aufgefasst und es wird an sie die Hoffnung geknüpft, dass sie das so schwer zu durchdringende Werk auf eine griffige Botschaft komprimiert. Insbesondere gilt sie als anschauliches Konzentrat der ÜbermenschenLehre. Nach Annemarie Pieper erhält durch sie die „Genealogie des Übermenschen“ (Pieper 1990, 111) gleichnishaften Ausdruck und Richard Perkins will eine Transformation verzeichnen von „all-too-human devaluations into superhuman transvaluations“ (Perkins 2004, 321). Eugen Fink sieht in ihr das „Grundmotiv“ des ganzen Werks gestaltet, die Wandlung des Menschen „aus der Selbstentfremdung in die schöpferische Freiheit, die sich selbst weiß“ (Fink 1960, 70). Und John Powell Clayton erklärt sie geradezu zu „Zarathustra’s centrepoint“ (Clayton 1985, 184), in dem „the whole of Zarathustra’s message is contained and the structure of the book’s first three parts laid bare“ (ebd., 183). Weitere Lektüren bieten Daniel 1971, Heller 1973, Byrum 1974, Perkins 1983 u. 1985, Stambaugh 1985, Perkins 1986, Liska 1987, Gooding-Williams 1990, Nordhofen 1992, Azeredo 2003, Yates 2008, Ake 2014, Land 2015 sowie Matuszewski 2016. Die überwiegend stark harmonisierenden Deutungen tendieren dazu, über die irritierenden Momente der Rede hinwegzusehen. Das Kapitel setzt unmittelbar mit Zarathustras Rede ein und ist fast zur Gänze monologisch gestaltet. Aufgrund der Absenz eines Erzählers fehlen zunächst jegliche situierende Hinweise zu Ort, Zeit und Redesituation, wodurch offenbleibt, ob

ÜK Die Reden Zarathustraʼs / ÜK Za I Von den drei Verwandlungen

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die Rede in unmittelbarem zeitlichem Anschluss an das in „Zarathustra’s Vorrede“ geschilderte Geschehen zu denken ist. Die vermittelnde Erzählinstanz gibt sich erst am Ende des Kapitels zu erkennen, indem sie ein abschließendes „Also sprach Zarathustra“ (31, 16) unter die Rede setzt. Damit wird der Titel des Za-Werks zur Schlussformel umfunktionalisiert, wie das ebenso für alle folgenden Kapitel des ersten Teils gilt (vgl. dazu NK 31, 16). Überdies nennt die Erzählerrede mit dem Hinweis auf die Stadt „die bunte Kuh“ (vgl. hierzu NK 31, 16 f.) am Ende den Ort, an dem Zarathustra seine Rede hält. Undeutlich bleibt jedoch, zu wem Zarathustra jetzt spricht. Nach dem Debakel, das er mit seinen Übermenschen-Reden auf dem Marktplatz erlebte, hat er ja in Za I Vorrede 9 den Entschluss gefasst, „nicht zum Volke“ zu reden, „sondern zu Gefährten“ (25, 26 f.). Wenn er seine Adressaten gegen Ende der Verwandlungs-Rede als „meine Brüder“ (31, 10) anspricht, dann legt das nahe, dass er seinen Entschluss in die Tat umgesetzt hat und sich jetzt an einen ausgewählten Kreis von Adressaten wendet. Auf welche Weise er zu ‚seinen Brüdern‘ gelangt ist, wer sie sind und worin ihre Anhängerschaft gründet, das bleibt indes hier und auch im Fortgang der Handlung ausgespart. Inhaltlich knüpft „Von den drei Verwandlungen“ an die dreiteilige Übermenschenrede in Za I Vorrede 3– 5 an, insofern diese dazu aufruft, sich nicht mit dem status quo zufrieden zu geben, sondern die alte Existenz preiszugeben und zu überwinden. Hier allerdings verpackt Zarathustra das anvisierte Transformationsgeschehen rhetorisch in eine andere Form. Er verkündet seine Lehre nicht in demagogisch-aufpeitschender und unmittelbar an seine Zuhörer appellierender Weise, sondern kleidet sie in eine Gleichnisrede. In zwei umfangreicheren Vorstufen teilt Zarathustra seine Einsichten in der Ich-Form mit. Das lässt diese als Destillat eigener Erfahrung erscheinen und (in stark typisierter Form) als Einblick in seine eigene Lebensgeschichte. Von einer Verwandlung ist dabei nicht die Rede, im Zentrum steht vielmehr der Gedanke der Selbstüberwindung durch die Konfrontation mit dem größtmöglichen Widerstand, dem eigenen „Allerschwerste[n]“: „Ja, mit Schwerem beladen, eilte ich in meine Wüste: da aber fand ich erst mein Allerschwerstes. / seiner eigenen Tugend Schmied und Ambos, seines eigenen Werthes Richter und Prüfstein zu sein. / Vieles Schwere giebt es und als ich jung war, forschte ich viel nach dem Schwersten. / Ja, ich lief in die Wüste – und erst dort in der einsamsten Wüste, fand ich mein Allerschwerstes. / Dieses Schwerste – das wurde das Liebste mir, einem Gotte gleich lehrte ich mein Schwerstes ehren. / seufzte tief und sprach nicht mehr.“ (KGW VII 4/2, 648; leicht abweichend in der KSA, vgl. NL 1882/83, KSA 10, 4[237], 178, 11–21) In einem weiteren Notat tritt dann nicht allein der KamelVergleich hinzu (womit der Grundstein für das zuletzt dreistufige Verwandlungsmodell gelegt ist), sondern vor allem rückt die Wertefrage ins Zentrum. Denn als „das Schwerste“ erscheint dort das Zerbrechen der alten und die Hervorbringung

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neuer „Gütertafeln“, die neue (ethische) Werte fixieren: „Ja, alle diese Last trug ich! Ich kniete nieder und lud alle diese Last auf mich, einem Kameele gleich beugte ich das Haupt und eilte fort in die Wüste. / Wo sind die Wahrheiten welche leiden machen? rief ich. / Der erste war der Drache und sprach: ‚Unwerth ist aller Dinge Werth‘, ‚Widerspruch ist im Herzen aller Werthe‘ / Da erkannte ich den Ursprung von Gut und Böse: und daß das Ziel der Menschheit fehle. / Mir das Recht zu geben, die Dinge mit neuen Namen und Werthen zu nennen, war das Schwerste. / Alle Pflanzen neidete ich – ich neidete auch alle Gespenster. / Mit den h ö h e r e n W e r t h e n die Gütertafeln zerbrechen / die eigenen Tafeln stellte ich neben die anderen – welcher Muth und Schrecken war das!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[242], 179, 8–22) In der Druckfassung ist der Bezug auf Zarathustras Lebensgeschichte getilgt und der Zug zur Verallgemeinerung tritt bestimmend hervor, wozu wesentlich die Bilder und Gleichnisse beitragen, in die Zarathustra seine Erkenntnisse kleidet. Wie schon in Za I Vorrede 3 führt er Tiere an, um menschliche Entwicklungsmöglichkeiten zu veranschaulichen. Während er dort jedoch in Anlehnung an das zeitgenössische biologische Paradigma und im Rekurs auf die darwinistische Deszendenztheorie von einer Entwicklungsreihe spricht, die vom Wurm über den Affen zum Menschen reicht (vgl. 14, 22–24), greift er hier auf die andere Darstellungsform der Tierallegorie zurück. Am Leitfaden von Kamel und Löwe und den ihnen traditionell zugeschriebenen Eigenschaften – der Leidensfähigkeit des Kamels, dem Mut und der Durchsetzungsfähigkeit des Löwen – expliziert er die ersten beiden Stadien der Erneuerung des Menschen. Bei der Charakterisierung der dritten und höchsten Stufe lässt er die Tiervergleiche dann fallen und setzt ein menschliches Entwicklungsstadium, nämlich die Kindheit, zur Veranschaulichung ein. Zumindest auf den ersten Blick scheint diese Rede eine größere argumentative und formale Kohärenz aufzuweisen als die meisten nachfolgenden. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sie die drei Verwandlungen als chronologische Abfolge und Höherentwicklung präsentiert, womit das Transformationsgeschehen als eine Stufenfolge gefasst und ihm eine teleologische Struktur unterlegt ist. Zum andern unterstreichen rahmende Formulierungen die argumentative Geschlossenheit. Mit den Worten „[d]rei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes“ (29, 3) eröffnet Zarathustra seine Rede, und mit den Worten „[d]rei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes“ (31, 13) leitet er seinen Schlusssatz ein und gibt damit rhetorisch zu verstehen, dass er seiner Ankündigung gerecht wurde. Diese strukturelle Geschlossenheit beginnt zu verschwimmen, sobald man die Rede detaillierter unter die Lupe nimmt. Denn dann zeigt sich, dass (ähnlich wie schon in den Übermenschen-Reden) auch hier die große Zahl disparater Vergleiche und Metaphern vielfältige Assoziationsmöglichkeiten eröffnet. Dadurch löst sich die scheinbar klare Kontur der drei Verwandlungsstufen auf in eine flimmernde Vielfalt

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von Bildern. Prinzipiell eröffnet diese Rede daher zwei unterschiedliche Leseund Zugangsmöglichkeiten: auf der einen Seite eine synthetisierende, die auf die argumentative Geschlossenheit abhebt, auf der anderen Seite eine desintegrierende, die – gegen den Strich der Mehrzahl der Forschungsbeiträge – auf das Auseinanderdriften der Bildbereiche hinweist und Disparatheiten in der Fügung der Metaphern betont. In holzschnitthafter Charakterisierung lassen sich die drei Verwandlungen erstens verstehen als Phase der Bejahung des aktuellen Lebens und seiner Werte (Kamel), zweitens als Phase der Verneinung des aktuellen Lebens und seiner Werte (Löwe) und drittens als Phase des Neubeginns und der Neubegründung der Werte (Kind). Allerdings spricht Zarathustra nicht von der Wandlungsfähigkeit des Menschen, sondern von der eines nicht näher bestimmten „Geistes“. Tatsächlich gelten ihm die Verwandlungen als Indikatoren für eine fundamentale Änderung des Verhaltens und der Werteinstellungen. Immer wieder durchbricht er in seiner Rede die Mittelbarkeit der Gleichnisstruktur, indem er menschliches Verhalten unmittelbar in den Blick nimmt. So veranschaulicht die Kamel-Stufe eine menschliche Haltung, die von Duldung und Entbehrung sowie von Respekt gegenüber den geltenden Werten bestimmt ist. Als „das lastbare Thier, das entsagt und ehrfürchtig ist“ (30, 24), kniet das Kamel demütig nieder, um sich beladen zu lassen. Analog nimmt der im Stadium des Kamels befindliche Geist freiwillig „das Schwerste“ (29, 11) auf sich, um sich in seiner Leidensfähigkeit zu erproben und sich der eigenen Stärke zu vergewissern. Zwar erinnert die Beschreibung der Kamel-Stufe stark an die christliche Morallehre mit ihren Geboten der Nächstenliebe, der Kritik an menschlicher Hybris und dem Aufruf zur Überwindung von Selbstsucht. Dennoch wäre es verkürzend, das Kamel mit dem christlich-duldenden Menschen gleichzusetzen. Vielmehr versinnbildlicht es grundsätzlicher eine wertbejahende Haltung, in der sich der (menschliche) „Geist“ geradezu programmatisch mit alldem konfrontiert, was seine Kräfte aufs Äußerste strapaziert. Ausführlich widmet sich Zarathustra der Frage nach dem ‚Schwersten‘, nach dem also, was die Kräfte am intensivsten fordert, weil es den größten Leidensdruck verursacht. In bildlicher Sprache und ohne zu systematisieren führt er ein Bündel unterschiedlicher Möglichkeiten an. Sechsmal holt er aus, um in parallelen syntaktischen Konstruktionen jeweils zwei, also insgesamt 12 Verhaltensweisen vorzustellen, sich der eigenen Leidensfähigkeit zu versichern. Sie lassen sich nicht auf einen Nenner bringen, man kann sie aber grob drei Bereichen zuordnen: Erstens richten sie sich auf individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten, zweitens auf das soziale Verhalten und drittens auf die Haltung des Wissenden und Erkennenden. Bei aller Verschiedenheit ist ihnen gemein, dass sie strikt dem entgegengerichtet sind, was Befriedigung, Lust und Erfüllung verspricht. So spricht Zarathustra etwa von einer Haltung, die sich um den Ertrag eigener Anstrengungen

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bringt, die unangenehmen und Furcht erregenden Wahrheiten ins Auge sieht, die sich großzügig und austeilend gegenüber anderen Menschen verhält, ohne im Gegenzug etwas von ihnen anzunehmen. Die Ausrichtung der Existenz auf das, was mit Missbehagen, Abneigung, Ekel oder Furcht verbunden ist, führt in soziale Isolation; metaphorisch spricht Zarathustra davon, dass das Kamel in die „einsame Wüste“ enteilt. Den damit erreichten Zustand der Gesellschaftsferne erklärt er zur Voraussetzung für die nächste Stufe der Überwindung des alten Menschen, für die „zweite Verwandlung“ (30, 6 f.), die ins Löwenstadium einmündet, womit das starke, aber domestizierte Nutztier Kamel zum Raubtier mutiert. Während das Kamel ein Dasein versinnbildlicht, das sich im Rahmen der geltenden Werte bewegt, dabei aber alle Leidensmöglichkeiten bis an die Grenze des Erträglichen ausschöpft, verneint der Löwe die etablierten Werte. Zarathustra, der dem Löwen in Anknüpfung an die traditionelle Tierallegorie und -symbolik topische Eigenschaften wie Tapferkeit, Furchtlosigkeit und Stärke zuordnet, weist dessen positiv konnotierter Raubtiernatur die geschichtliche Aufgabe zu, mit dem Alten aufzuräumen, um Neuem Platz zu machen: „Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen“ (30, 26) – darin liegt, wie er pointiert formuliert, die Bedeutung des Löwenstadiums, das auf autonome Lebensgestaltung zielt. Zur Veranschaulichung der Funktion des Löwen führt Zarathustra eine weitere allegorische Figur ein, den „grossen Drachen“ (30, 10 f.), der die alten Autoritäten („Herr und Gott“, 30, 12 f.) und ihre Moral („[t]ausendjährige Werthe“, 30, 17) verkörpert. Indem der Löwe den Drachen besiegt, streift er die Fesseln des fremdbestimmten Daseins ab und macht den Willen zur entscheidenden Instanz. In Zarathustras Worten bedeutet das ein Umschalten vom Modus des „du sollst“ zum Modus des „ich will“ (30, 13 f.), von Heteronomie zu Autonomie (zum Willen in Za siehe NK 37, 4–7). Der (menschliche) Geist unterwirft sich nicht länger äußeren Vorgaben und Werten, sondern agiert nun eigene Werte setzend. Den Aufbruch zum aktiv wertschaffenden Menschen versinnbildlicht die dritte Stufe der Verwandlungen, die eigentümlicherweise durch das Kind repräsentiert wird. Damit wird das bekannte mythologische Muster der Metamorphose von Menschen in Tiere verkehrt, wie es etwa bei Ovid und Apuleus gestaltet ist. Zarathustra, der sich ausdrücklich die Frage stellt, weshalb es nach dem Löwenstadium überhaupt noch desjenigen des Kindes bedarf, erklärt das Kind zum entscheidenden Inversionsmoment, denn auf die Phase der Negation müsse der Aufbruch zu einem neuen Positiven folgen, mit seinen Worten: Dem „heilige[n] Nein“ (30, 28) des Löwen muss ein „heiliges Ja-sagen“ (31, 8 f.) entgegentreten. Verknüpft mit der Vorstellung von „Unschuld“ und „Vergessen“ (31, 7) repräsentiert das Kind die Utopie der Anfänglichkeit, die in der physikalischen Unmöglichkeit des „aus sich rollende[n] Rad[es]“ (31, 8) einprägsam verbildlicht ist. Indem Zarathustra ausgerechnet das Kind, die Frühstufe der Ontogenese des Menschen, heranzieht,

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um die dritte und letzte Stufe der Verwandlung des Geistes zu veranschaulichen, beendet er die Reihe der Metamorphosen nicht mit einem Gipfel- und Endzustand, sondern lässt sie in einen Zustand der Anfänglichkeit einmünden, der einen Ausgangsgrund für weitere Entwicklungen abzugeben verspricht. Teilt man die verbreitete Forschungsthese, der zufolge „Von den drei Verwandlungen“ als allegorische oder gleichnishafte Darstellung des Entwicklungswegs vom Menschen zum Übermenschen zu verstehen ist, dann kommt man nicht umhin, eine Spannung zwischen Bild- und Bedeutungsebene zu konstatieren. Denn unter dieser Prämisse wäre das sich entziehende, in utopische Ferne entrückte Ideal des Übermenschen hier mit einem konkreten Entwicklungsstadium, nämlich mit der Kindheit des Menschen in eins gesetzt. Überdies steht die Bildwahl des Kindes, die den Menschen auf sein Frühstadium zurückführt, in Opposition zu der in Za I Vorrede erhobenen Forderung, derzufolge die Menschen in einem paradoxen Akt des Über-SichHinaus-Schaffens „den Menschen überwinden“ (14, 18) sollten. Daran ist zu ersehen, dass hier, gemessen an der Vorrede, nicht lediglich eine andere Bildersprache aufgeboten wird zur Veranschaulichung desselben Gemeinten, sondern dass diese andere Metaphorik einen Eigensinn geltend macht, weshalb sie sich nicht so leichthin mit der Idee des Übermenschen kurzschließen lässt. Als erste der „Reden Zarathustra’s“ (29, 1) erhält die ‚Lehre‘ von den drei Verwandlungen besonderes Gewicht. Sie bildet im Verweisungsgeflecht von Za eine wichtige Knotenstelle und erfährt vielfachen Nachklang und auch unmittelbare Wiederaufnahmen in nachfolgenden Kapiteln. In Za III greifen insbesondere „Vom Geist der Schwere“ und „Von alten und neuen Tafeln“ Formulierungen der Verwandlungs-Rede variierend auf (vgl. NK 4/2, 243, 1–9 u. NK 4/2, 250, 1 f.). Und auch wenn die Tier-Mensch-Metamorphose allein hier eine Rolle spielt, kommt dem Motiv der Verwandlung doch werkübergreifend wichtige Bedeutung zu. Zum einen wird Zarathustra als ein Verwandelter präsentiert (vgl. dazu NK 12, 25), zum andern steht der Gedanke der Verwandlung in offenkundiger Analogie zur transitorischen Übermenschen-Metaphorik (vgl. dazu NK 29, 1). Daher wird die Rede in der Forschung überaus häufig zitiert und gerne herangezogen bei der Interpretation nachfolgender Kapitel oder zur Erläuterung der ‚Lehre‘ vom Übermenschen. Insbesondere wird der lachende Löwe, der im Schlusskapitel von Za IV erscheint, mit der dritten und höchsten Stufe der Verwandlungen identifiziert, durch die der Löwe zum Kind werden soll (vgl. etwa Joisten 1994, 264; Burnham/Jesinghausen 2010, 198; genauer dazu NK 4/2, 406, 23–31). Heller 1973 deutet das Verwandlungsschema vor der Folie von N.s eigener Biographie als symbolische Darstellung einer moralischen Überwindungsbewegung mit den Zwischenetappen Asketismus – Nihilismus – Lebensbejahung, die N. in seinem eigenen Leben (vergeblich) angestrebt hätte. Dabei stützt er sich auf ein zur Zeit der Entstehung von Za III niedergeschriebenes Notat aus dem Sommer/

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Herbst 1884, das unter dem Titel „D e r W e g z u r W e i s h e i t. / Fingerzeige zur Überwindung der Moral“ ein dreistufiges Verwandlungsmodell präsentiert, das in drei ‚Gängen‘ eine Entwicklung skizziert, die vom Verehrenden über den freien Geist als Kritiker des Verehrten bis hin zum Bejahenden und Schaffenden reicht: „D e r e r s t e G a n g. Besser verehren (und gehorchen und l e r n e n) als irgend Einer. Alles Verehrenswerthe in sich sammeln und miteinander kämpfen lassen. Alles Schwere tragen. Asketismus des Geistes – Tapferkeit Zeit der Gemeinschaft. // D e r z w e i t e G a n g. Das verehrende Herz zerbrechen (als man a m f e s t e s t e n g e b u n d e n i s t). Der freie Geist. Unabhängigkeit. Zeit der Wüste. Kritik alles Verehrten (Idealisirung des Unverehrten), Versuch umgekehrter Schätzungen. // D e r d r i t t e G a n g. Große Entscheidung, ob tauglich zur positiven Stellung, zum Bejahen. Kein Gott, kein Mensch mehr ü b e r mir! Der Instinkt des Schaffenden, der weiß, w o er die Hand anlegt. Die große Verantwortung und die Unschuld. (Um Freude irgendworan zu haben, muß man A l l e s gutheißen.) Sich das Recht geben zum Handeln.“ (KGW VII 4/2, 653; leicht abweichend als NL 1884, KSA 11, 26[47], 159, 22–160, 12) 29, 1 Von den drei Verwandlungen.] Die Titel aller 22 Reden von Za I beginnen mit „von“ oder „vom“, womit sie sich an einen Kapiteltypus anlehnen, wie er aus enzyklopädischen Werken seit der Antike vertraut ist und in deutscher Sprache frühe Ausprägung in Konrad von Megenbergs Buch der Natur (um 1350) findet, in dem sämtliche Kapitel mit „Von“ überschrieben sind (z. B. „Von dem regenpogen“, „Von dem esel“, „Von den wunder menschen“). Die Titelformulierungen verweisen somit auf den belehrenden Charakter von Zarathustras Reden. Ähnlich wie für die Schlussformel „Also sprach Zarathustra“ (siehe NK 31, 16) gilt aber auch für sie, dass das in Za I eingeführte Schema nicht starr durch alle Werkteile durchgezogen wird, sondern Variationen erfährt. In Za II und III finden sich insgesamt elf Kapitelüberschriften, die abweichend mit dem bestimmten Artikel beginnen; außerdem führen zwei Kapitel eine Ortsangabe im Titel: Za II Auf den glückseligen Inseln und Za III Auf dem Oelberge. Die Titelvariationen signalisieren ein Zurücktreten der Lehrmonologe Zarathustras, an deren Stelle zunehmend emphatische Ansprachen an personifizierte Repräsentanzen seiner Erfahrung treten – wie Tageszeiten, Einsamkeit oder auch die eigene Seele. Damit einher geht der zunehmend poetische Charakter seiner Äußerungen. In Za IV, wo dann die dialogische Darstellung das Übergewicht erhält, fallen die Kapitelüberschriften gänzlich abweichend aus, nurmehr zwei Kapiteltitel entsprechen dort dem anfänglichen Schema („Vom höheren Menschen“, „Von der Wissenschaft“), so dass der Sonderstatus von Za IV auch auf der Ebene der Titelgebung markiert ist. Der Kapiteltitel verweist auf die zentrale Bedeutung des VerwandlungsMotivs in Za (zur Idee der Verwandlung in N.s Werk und in Za vgl. Tongeren 1994, Bouriau 2006, Coombs 2007, Canepa 2012 und Schubert 2018) als einem Werk, das

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wesentlich um den Entwurf eines neuen Menschen kreist. Schon Zarathustra selbst wird unter dem Zeichen des Verwandelt-Seins ins Werk eingeführt. Gleich im ersten Abschnitt der Vorrede (vgl. 11, 5) weist die eröffnende Erzählerrede die Verwandlung seines Herzens als Grundimpuls für sein Wirken aus (und somit zugleich als grundlegend für das Za-Werk, das von diesem Wirken Zeugnis gibt). Im zweiten Abschnitt der Vorrede kennzeichnet die Fremdwahrnehmung des Einsiedlers Zarathustra nachdrücklich als einen ‚Verwandelten‘: „er hat sich verwandelt“ (12, 18 f.), „[v]erwandelt ist Zarathustra“ (12, 25). Verwandlung ist in Za nicht allein etwas Gefordertes, Erwartetes oder Herbeigesehntes, sondern der Text kündet auch von sich vollziehenden Verwandlungen. In Za I Vom Baum am Berge etwa geschieht das im Modus kritischer Reflexion, denn dort beklagt ein Zarathustras Beispiel nachstrebender Schüler die Auflösung seiner Identität durch die zu rasch vollzogene Verwandlung: „Ich verwandele mich zu schnell: mein Heute widerlegt mein Gestern. Ich überspringe oft die Stufen, wenn ich steige, – das verzeiht mir keine Stufe.“ (52, 5–7) Der Hirte in Za III Vom Gesicht und Räthsel hingegen, der sich von der Schlange befreit, indem er ihr den Kopf abbeißt, erscheint Zarathustra nach dieser Tat weder länger Hirt noch Mensch zu sein, sondern „ein Verwandelter, ein Umleuchteter“ (202, 17 f.). Dort also vollzieht sich eine glückende Verwandlung – freilich nicht als reales Geschehen, sondern innerhalb einer Traumvision Zarathustras. Schließlich greift auch Za IV das Verwandlungsmotiv auf und zwar in Hinsicht auf die höheren Menschen, die „sich mit Einem Male ihrer Verwandlung und Genesung bewusst“ (396, 12 f.) werden. Deren „Verwandlung“ jedoch erscheint nur als ein kraftloses Abziehbild des hier allegorisch entworfenen Verwandlungsgeschehens. Von der Anfänglichkeit des Kindes sind die höheren Menschen meilenweit entfernt, denn sie sind und bleiben, wie Zarathustra still für sich vermerkt, „lauter alte Leute“ (395, 8). Zwei Notate, die in den Entstehungskontext von Za gehören, aber keinen Eingang in die publizierte Fassung fanden, verbinden das Verwandlungsmotiv mit dem der Erkenntnis: „Der Erkennende muß es auch verstehen, sich seinen eigenen Siegeskranz aufzusetzen: er kann nicht warten, weil es ihn zu neuen Verwandlungen drängt.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[69], 131, 19–21) Das andere Notat skizziert einen alternativen Handlungsverlauf: „Als er aber seine Schlange gegen sich züngeln sah, da verwandelte sich langsam, langsam sein Gesicht: widerwillig sprang ihm das Thor der Erkenntniß auf: wie ein Blitz flog es hinein in die Tiefen seines Auges und wieder wie ein Blitz: es fehlte noch ein Augenblick, und er hätte gewußt – – Als das Weib diese Verwandlung sah, schrie es auf wie aus der höchsten Noth. ‚Stirb Zarathustra‘ –“ (NL 1883, KSA 10, 13[3], 446, 21–27). 29, 3 Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes:] Der Begriff „Geist“ findet sich in Za überaus häufig und in schillernder Bedeutung. An seiner Verwendung lassen sich beispielhaft die Schwierigkeiten erahnen, die N.s kontextgebundene,

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situativ bestimmte Begriffssprache aufwirft. In dem Kapitel „Von den Verächtern des Leibes“ unterzieht N. den (philosophischen) Geist-Begriff durch den Mund seines Protagonisten einer radikalen Depotenzierung, indem er den Geist dem Leib unterordnet und ihn zum „kleine[n] Werk- und Spielzeug“ (39, 13) der „grossen Vernunft“ (39, 14) des Leibes erklärt (vgl. dazu NK 39, 12–14). Und doch verwenden Zarathustras Reden den Geist-Begriff auch in durchaus affirmativer Weise, ohne ihn dabei genauer zu bestimmen. Allein in der Verwandlungs-Rede spricht Zarathustra fünfzehnmal vom „Geist“ und skizziert dessen Verwandlung von einem „tragsamen“, einem erduldenden Geist zu einem fordernden und wollenden Geist: „s e i n e n Willen will nun der Geist, s e i n e Welt gewinnt sich der Weltverlorene“ (31, 11 f.). Das abstrakte Sprechen von der Verwandlung des „Geistes“ (und nicht von der des Menschen) unterstreicht den uneigentlichen und modellhaft-allgemeingültigen Charakter der Verwandlungs-Rede. In einem Spannungsverhältnis dazu steht ein später in Za III Von alten und neuen Tafeln vorgebrachtes hierarchisches Konzept der Menschheitserneuerung: der Entwurf eines neuen Adels, der nur wenige Menschen für wandlungs- und zukunftsfähig erachtet (vgl. dazu NK Za III Von alten und neuen Tafeln 11 u. 12). 29, 3–5 wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.] Ende 1880 notiert N. die Idee einer zoologischen Lebensalter-Metamorphose: „‚Mit 40 Jahren ist man ein Kameel, mit 70 ein Affe‘ Spanier“ (NL 1880, KSA 9, 7[4], 317, 10). Arenas-Dolz 2009, 326 hat dies als Exzerpt aus Balthazar Graciáns Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit (1877) nachgewiesen. Bei Gracian ist der Gedanke weiter ausgeführt: „Mit zwanzig Jahren ist der Mensch ein Pfau; mit dreißig, ein Löwe; mit vierzig, ein Kameel; mit funfzig, eine Schlange; mit sechszig, ein Hund; mit siebenzig, ein Affe; mit achtzig, – nichts.“ (Gracián 1877, 177) Perkins 1986, 180 f. u. Perkins 2004, 322 f. macht Jaime Juan Falcóns satirische Fabel De partibus vitae, auf die sich Gracián bezieht, als unmittelbaren Prätext für Zarathustras Verwandlungs-Rede stark, ohne allerdings schlagende Argumente dafür zu liefern. Auf den Gedanken, dass sich Entwicklung als eine Verkettung von Metamorphosen vollzieht, ist N. auch bei seiner Lektüre von Ralph Waldo Emersons Versuchen gestoßen, wo dieses Denkmuster allerdings auf die Höherentwicklung der Seele bezogen ist: „Die Veredlung der Seele geschieht nicht stufenweise, so wie durch die Bewegung in grader Linie ein Vorrücken dargestellt werden kann; sondern vielmehr durch Ascension des Standpunkts, wie es durch die Metamorphose dargestellt werden kann, – vom Ei zum Wurm, vom Wurm zur Fliege. Die Fortschritte des Genius sind von einem gewissen Total-Charakter, der das auserwählte Individuum nicht erst über Johannes, dann über Adam und dann über Richard erhebt, und jedem von diesen den Schmerz einer entdeckten Untergeordnetheit zufügt, sondern bei jedem gewaltsamen Schritte vorwärts breitet

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sich der Mensch da aus, wo er arbeitet, an jeder Pulsation, an jeder Klasse von Menschen, an jeder Bevölkerung vorübergehend.“ (Emerson 1858, 202; N.s Anstreichung.) 29, 9 f. Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will gut beladen sein.] Varianten aus dem Nachlass überliefern diese Passage in der Ich-Form als Erlebnisse Zarathustras: „Ja, alle diese Last trug ich! Ich kniete nieder und lud alle diese Last auf mich, einem Kameele gleich beugte ich das Haupt und eilte fort in die Wüste. / Wo sind die Wahrheiten welche leiden machen? rief ich.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[242], 179, 8–11) Im Bild des knieenden Kamels, das in Za III Vom Geist der Schwere aufgegriffen und variiert wird (vgl. 243, 5–9), sieht Perkins 1986 eine Anspielung auf eine (auch von Friedrich von Hagedorn bearbeitete) satirische Fabel spanischer Herkunft aus dem frühen 17. Jahrhundert, in der die unterschiedlichen Schicksale verschiedener Tiere und des Menschen in erbaulicher Absicht verglichen werden. Dort wird das erbärmliche Los des Lasttiers (je nach berücksichtigter Variante Esel oder Kamel) mit der Situation eines mit gesellschaftlichen Bürden und Pflichten überladenen vierzigjährigen Menschen parallelisiert. Hingegen wird der sein Vermögen ängstlich behütende Fünfzigjährige einem Hund gleichgesetzt und der schwächliche, dem Spott seiner Angehörigen preisgegebene Greis einem Affen analogisiert (Perkins 1986, 182). In Za begegne, so Perkins 1986, 182 f., das dreigliedrige Verfallschema aus der Fabel in radikaler reevaluierter und entsprechend neu semantisierter Form, indem es nun als „a ludic parable, prescribing the analogous movements [man] must experience as he makes his regenerating ascent to superhuman being“ präsentiert werde. 29, 9 der tragsame Geist] Das zu N.s Zeit bereits veraltete Adjektiv „tragsam“, das er in der Bedeutung von duldsam gebraucht, bildet ein Stilelement der anachronistischen Za-Sprache und findet bei N. allein in Za Verwendung. ‚Tragsam‘ war noch in Dialekten gebräuchlich (DWB 21, 1161) und vor allem im religiösen Kontext anzutreffen; „bist du tragsam, geduldig, liebreich, gutthätig, sanftmüthig und von Herzen demüthig?“, forderte etwa die Zeitung Wöchentliche Beyträge zur Beförderung der ächten Gottseligkeit 1782 ihre Leser*innen zur Selbstprüfung auf (Hermes 1782, 46). 29, 11 Was ist das Schwerste, ihr Helden?] Heroismus wird hier als Bereitschaft zur Duldung und Opferung aufgerufen. 29, 14 f. Seine Thorheit leuchten lassen, um seiner Weisheit zu spotten?] Zwei Redewendungen werden in sinnverkehrender Weise miteinander kombiniert, nämlich die Wendung „die Weisheit leuchten lassen“ und „der Torheit spotten“. Letztere ist schon im 16. Jahrhundert nachweisbar: „und irer torheit spotten / Das sie nicht ein besser leben gefüret hat“ (Pollicarius 1556, 79).

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29, 17 f. Auf hohe Berge steigen, um den Versucher zu versuchen?] Ein Wortspiel, das auf einer Bibel-Allusion gründet. In Matthäus 4, 8 f. führt der Teufel Jesus auf einen Berg, um ihn durch Demonstration der Herrlichkeiten der Welt von seinem Glauben abzubringen: „Wiederum führete ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg, und zeigete ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit; / Und sprach zu ihm: Dis alles will ich dir geben, so du niederfällest, und mich anbetest.“ (Die Bibel NT 1818, 6) Zarathustra verlangt, den Spieß umzukehren, also nicht lediglich der Versuchung zu widerstehen, sondern seinerseits „den Versucher zu versuchen“. Als Emblem (freigeistiger) Distanz weist das Motiv des Besteigens hoher Berge zurück auf Zarathustras gesellschaftsferne und erhobene Position in Za I Vorrede 1. 29, 19 sich von Eicheln und Gras der Erkenntnis nähren] Eine nachgelassene Aufzeichnung aus der Zeit von November 1882/Februar 1883 notiert in umgekehrter Wortfolge „Sich von Gras und Eicheln der Erkenntniß nähren“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[116], 148, 15) und gibt damit einen Wink auf N.s mögliche Quelle. Von „Gras und Eicheln“ („erba e ghiande“) spricht Dante Alighieri (1874, 2) in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erkenntnisthematik in der Einleitung zu Das Gastmahl (Il Convivio), der Schrift, mit der er eine Einführung in die Philosophie zu geben gedenkt. Demzufolge bilden „Gras und Eicheln“ allerdings gerade keine Erkenntnis-Nahrung, sondern sind der karge Notbehelf der Bedürftigen. In zeitgenössischer deutscher Übersetzung lautet der Passus: „O selig die Wenigen, die an dem Tische, wo man Engelsbrod geniesst, sitzen, und elend die, welche mit den Schafen gemeinsam Nahrung haben! Da aber jeder Mensch dem Menschen ein natürlicher Freund ist und da jeder Freund den Mangel dessen bedauert, Den er liebt: so sind die, welche an einem so hehren Tische gesättigt werden gegen Jene von Mitleid erfüllt, welche sie wie das Vieh mit Gras und Eicheln sich nähren sehen.“ (Scartazzini 1879, 326) Nicht unerwähnt soll bleiben, dass „Gras und Eicheln“ („d’herbe & de gland“) auch in Rousseaus Discours sur l’origine de l’inégalité (Rousseau 1755, 217) einen Auftritt als Nahrungsmittel haben, nämlich als Nahrung derjenigen, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Die AutorInstanz aber rechnet sich zu den Menschen, „deren Leidenschaften schon auf ewig ihre ursprüngliche Einfalt unterdrückt haben, die nicht mehr von Kräutern und Eicheln leben, und die weder Gesetze noch Oberherren entbehren können“ (Rousseau 1756, 176). 29, 20 um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden] Die Rede vom Hunger der Seele geht auf Sprüche 10, 3 zurück: „Der HErr läßt die Seele des Gerechten nicht Hunger leiden“ (Die Bibel AT 1818, 635; vgl. Sprüche 19, 15). 29, 22 f. mit Tauben Freundschaft schliessen, die niemals hören, was du willst] Eine Freundschaft, die das Mitteilen des eigenen Willens nicht zulässt, ist Zara-

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thustras Einschätzung nach sinnlos. In Za I Vom Freunde bestimmt er das Wesen der Freundschaft nachdrücklich als dialogisch. Demnach tritt der Freund als der „Dritte“ (71, 6) mit befreiender Wirkung in das Selbstgespräch des Ich ein. 29, 24–26 Oder ist es das: in schmutziges Wasser steigen, wenn es das Wasser der Wahrheit ist, und kalte Frösche und heisse Kröten nicht von sich weisen?] Zu den von Zarathustra aufgezählten Optionen für das „Schwerste“ gehören die Zumutungen, die der Wahrheitssuchende auf sich zu nehmen habe. Sie lesen sich wie eine Umkehrung einer Passage aus Eduard Reichs Die Abhängigkeit der Civilisation von der P̣ersönlichkeit des Menschen (1883), das sich im Gegensatz zu Reichs System der Hygiene (NPB 491 f.) allerdings nicht nachweislich in N.s Besitz befand. Reich entwirft darin eine ideale Gesellschaft, eine utopische „Kirche der Menschheit“, in der das „heilige Wasser der Wahrheit“ den Menschen zu vollkommener Harmonie verhelfe: „Nur der Reine und Vorbereitete wird im Tempel Alles finden, dessen er bedarf zu humanem Leben, er wird das heilige Wasser der Wahrheit und Liebe finden, nach welchem er durstet, und wird sein Denken und sein Fühlen, sein Wollen und sein Vollbringen in Einklang setzen.“ (Reich 1883, 174) Der Diskurs der Reinheit und Unreinheit ist in Za ebenso ausgeprägt wie bei Reich, allerdings mit verkehrten Vorzeichen: Zarathustra spricht vom „schmutzigen Wasser“ der Wahrheit, das den Erkennenden in ein Wechselbad der Empfindungen tauche, ihn mit „kalte[n] Frösche[n] und heisse[n] Kröten“ konfrontiere, eine Haltung kühler Distanz oder hitziger Überwältigung auslöse. In Za II Vom Gesindel klagt Zarathustra über die „Unreinen“ (124, 5), die alle Brunnen vergiftet hätten: „Das heilige Wasser haben sie vergiftet mit ihrer Lüsternheit; und als sie ihre schmutzigen Träume Lust nannten, vergifteten sie auch noch die Worte.“ (124, 8–10) Variierend greift er die Rede vom schmutzigen Wasser in Za I Von der Keuschheit auf, wo er sich jedoch nicht am Schmutz, sondern an der Seichtheit stört: „Rede ich von schmutzigen Dingen? Das ist mir nicht das Schlimmste. / Nicht, wenn die Wahrheit schmutzig ist, sondern wenn sie seicht ist, steigt der Erkennende ungern in ihr Wasser.“ (70, 8–11) Erkenntnis und Wahrheit sind in N.s Schriften häufiger mit Kälte und/oder Hitze verknüpft. So ist in Za II Von den Gelehrten von ‚verbrennenden‘ Erkenntnissen die Rede: „Ich bin zu heiss und verbrannt von eigenen Gedanken“ (160, 23). Und der Frosch ist wiederholt der kühlen Distanz des Erkennenden zugeordnet. So in GM I 1, wo der Sprecher – allerdings aus distanziert-ironischer Haltung – eine Meinung über englische Psychologen, „Mikroskopiker der Seele“ (KSA 5, 258, 14), referiert, derzufolge diese „einfach alte, kalte, langweilige Frösche seien, die am Menschen herum, in den Menschen hinein kriechen und hüpfen, wie als ob sie da so recht in ihrem Elemente wären, nämlich in einem S u m p f e“ (KSA 5, 258, 7–10). Und in FW Vorrede 3 heißt es: „Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, – wir müssen be-

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ständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss in uns haben.“ (KSA 3, 349, 29–34) 30, 1–5 Oder ist es das: Die lieben, die uns verachten, und dem Gespenste die Hand reichen, wenn es uns fürchten machen will? / Alles diess Schwerste nimmt der tragsame Geist auf sich: dem Kameele gleich, das beladen in die Wüste eilt, also eilt er in seine Wüste.] Eine nachgelassene Variante führt die Umkehr der Emotionen und schließlich das Ablassen von allen Neigungen und Wertschätzungen als „das Schwerste“ an. Das Sprecher-Ich erachtet sich in dem Moment als reif für die Wüste, da es ihm gelingt, der Welt interesselos gegenüberzutreten: „Um das zu lernen, beschloß ich die zu hassen die ich liebte, das zu tadeln was ich bisher lobte und zu sehen, was an den Bösen erst Gutes und an den Guten Böses sei. Gerechtigkeit nannte ich’s. / Endlich fand ich das Schwerste: nicht zu lieben und nicht zu hassen, nicht zu loben und nicht zu tade〈ln〉 und zu sagen: es giebt nichts Gutes und nichts Böses. / Als ich das gefunden hatte, gieng ich in die Wüste.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[173], 162, 16–23) 30, 1 Die lieben, die uns verachten] Nach biblischer Überlieferung hat Jesus Feindesliebe ausdrücklich eingefordert. In Lukas 6, 27 lautet das Gebot der Feindesliebe: „Liebet eure Feinde; thut denen wohl, die euch hassen“ (Die Bibel NT 1818, 76). Zarathustras Variante, die zu lieben, „die uns verachten“, ähnelt einer Wendung in Jean Pauls Unsichtbarer Loge, die dem biblischen Spruch einen neuen Akzent gibt: „haltet es für schwerer und nöthiger, die zu lieben, die euch verachten, als die, die euch hassen“ (Jean Paul 1826–1838, 1, XXVII). Zur Feindesliebe vgl. NK 5/1, 104, 2 u. 152, 18–20. 30, 3–8 Alles diess Schwerste nimmt der tragsame Geist auf sich: dem Kameele gleich, das beladen in die Wüste eilt, also eilt er in seine Wüste. / Aber in der einsamsten Wüste geschieht die zweite Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eignen Wüste.] Von der Unwirtlichkeit und Einsamkeit der Wüste fühlen sich traditionell Heilige, Einsiedler und Asketen angezogen. Vom heiligen Antonius ist überliefert, dass er zwanzig Jahre lang am östlichen Nilufer in der Wüste lebte, und von Johannes dem Täufer berichtet der Evangelist Markus, dass er gekleidet wie ein Beduine in der Wüste radikale Umkehr predigte. Somit erscheint die Wüste als prädestinierter Ort für die ‚Umkehr‘ des Geistes, der sich seiner (Alt-)Lasten entledigt. Als ‚leerer‘ Raum entspricht sie dem Zustand der Tabula rasa, der Befreiung von den alten Werten. – Zwar führt Zarathustras eigener Weg nicht in die Wüste, in seinen Reden aber beschwört er sie immer wieder imaginativ herauf. In Anlehnung an die „drei Verwandlungen“ ruft Za II Von den berühmten Weisen die Wüste als symbolische Landschaft auf, in deren Götterlosigkeit sich flüchte, wer „sein verehrendes Herz zerbrochen“ (133,

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7 f.) habe. Dort wird die Wüste als Ort der einsam „Wahrhaftigen“ den Städten mit ihren saturierten „berühmten Weisen“ kontrastiert (vgl. 133, 19–21). In Za I Vom freien Tode sinniert Zarathustra über die Heilsamkeit eines einsamen Wüstenlebens für den „Hebräer Jesus“ (95, 7 f.): „Wäre er doch in der Wüste geblieben und ferne von den Guten und Gerechten! Vielleicht hätte er leben gelernt und die Erde lieben gelernt – und das Lachen dazu!“ (95, 9–11) Zur Wüste, die in Za IV Unter Töchtern der Wüste dann aber zur inneren Wüste wird, vgl. auch NK 4/2, 380, 26. 30, 9–11 Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: feind will er ihm werden und seinem letzten Gotte, um Sieg will er mit dem grossen Drachen ringen.] Die VerwandlungsRede bezieht sich hier auf das traditionelle Motiv des Drachenkampfs. Der Drache, meist als ein schlangenartiges Mischwesen aus Vogel und Reptil imaginiert, begegnet in der Mythologie vieler Völker. In orientalischen und westlichen Schöpfungsmythen fungiert er häufig als ein Sinnbild des Chaos. Er muss von einem Helden oder Gott im Kampf überwunden und getötet werden, damit die Welt entstehen oder weiterbestehen kann. Im christlichen Kontext steht der Drachenkampf meist allegorisch für die Auseinandersetzung der Heiligen mit dem Bösen. In der Bibel erscheint der Drache als Symbolgestalt des Teufels und der Endzeit. In der Offenbarung 12, 9 werfen die Engel den teuflischen Drachen aus dem Himmel: „Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführet; und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen.“ (Die Bibel NT 1818, 299) In Daniel 7 bedroht ein als urzeitlicher Chaosdrache gedeutetes Tier als Gegenspieler Gottes in Gestalt heidnischer Weltreiche die Gemeinde Gottes auf Erden. Seine Überwindung durch den Anbruch des Gottesreiches läutet den Beginn einer neuen Ära der Weltgeschichte ein. Analog symbolisiert auch in Zarathustras Darstellung die Niederlage des Drachen den Auftakt einer neuen Zeit. Ein Nachlassnotat spricht vom Kampf mit dem „Drachen der Zukunft“: „Mit dem Drachen der Zukunft kämpfe ich: und ihr Kleinen, ihr sollt mit Regenwürmern kämpfen.“ (NL 1883, KSA 10, 9[17], 350, 21–22) 30, 12–21 Welches ist der grosse Drache […] goldfunkelnd, ein Schuppenthier, und auf jeder Schuppe glänzt golden „Du sollst!“ / Tausendjährige Werthe glänzen an diesen Schuppen, und also spricht der mächtigste aller Drachen„ „aller Werth der Dinge – der glänzt an mir.“ / „Aller Werth ward schon geschaffen, und aller geschaffene Werth – das bin ich [...]“] Hier liegt ein Druckfehler vor; „Drachen„“ ist in „Drachen:“ zu korrigieren (Nietzsche [1883a], 30). In einer Variante zu dieser Passage spricht der Drache die Wahrheiten aus, die Leiden verursachen, weil sie die geltenden Werte in Frage stellen: „‚Unwerth ist aller Dinge Werth‘, ‚Widerspruch ist im Herzen aller Werthe‘“ (NL 1882/83,

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KSA 10, 4[242], 179, 12–13). Die Druckfassung weist dem Drachen jedoch eine andere Rolle zu. Statt als Instanz, die die geltenden Werte in Zweifel zieht, fungiert er hier als Repräsentant der überkommenen, unveränderlich scheinenden „[t]ausendjährige[n] Werthe“. Das läuft dem Hauptstrom der überlieferten Drachenmythen zuwider, denn in der germanisch-nordischen Mythologie ebenso wie in der mittelalterlichen Dichtung tritt der Drache als Repräsentant des Bösen auf. In der Nibelungensage hingegen ist der Drache Fafnir der Hüter des Horts, so wie er in Za als Hüter der alten Werte begegnet. Erheblich ausgeweitet hat Richard Wagner im Ring des Nibelungen die Rolle des Drachen, der bei ihm den Namen Fafner trägt und als Hüter des Schatzes und der alten Werte firmiert. Heller 1973, 73 und zustimmend Gooding-Williams 1990, 235 erachten Wagners Opernzyklus als mögliche Bezugsfolie für Zarathustras „grosse[n] Drache[n]“. Explizit spielt JGB 289 mit der Rede vom „Schatzwächter und Drachen“ (KSA 5, 234, 9) auf Wagners Ring des Nibelungen an. 30, 13 f. „Du-sollst“ heisst der grosse Drache. Aber der Geist des Löwen sagt „ich will“.] Mit der Opposition von sollen und wollen – in einem Nachlassnotat zugespitzt auf die Entgegenstellung „Du sollst? Ich will“ (NL 1883, KSA 10, 9[36], 357, 4) – nimmt Zarathustra den entscheidenden Wendepunkt in den Blick, an dem sich der Übergang von Fremdbestimmung zu individueller Selbstbestimmung vollziehen soll. Auch spätere Kapitel verknüpfen den Löwen mit dem Willen, zweifach gar in der Form eines Kompositums, so ist vom „Löwen-willigen“ (258, 14) und vom „Löwen-Wille[n]“ (133, 15) die Rede. Letzteren setzt Zarathustra in Za II Von den berühmten Weisen der selbstzufriedenen Behaglichkeit der Angesprochenen entgegen: „Hungernd, gewaltthätig, einsam, gottlos: so will sich selber der LöwenWille. / Frei von dem Glück der Knechte, erlöst von Göttern und Anbetungen, furchtlos und fürchterlich, gross und einsam: so ist der Wille des Wahrhaftigen.“ (133, 14–18) Wie zahlreiche Nachlassnotate belegen, setzt sich N. während der Entstehungszeit von Za immer wieder mit dem – im Namen von Werten und Moralen – Gehorsam einfordernden Imperativ ‚Du sollst‘ auseinander, in dem er einen Grundzug der Philosophien und Religionen sieht: „‚Du sollst‘ – unbedingter Gehorsam bei Stoikern, in den Orden des Christenthums und der Araber, in der Philosophie Kant’s (es ist gleichgültig, ob einem Oberen oder einem Begriff ).“ (NL 1884, KSA 11, 25[351], 105, 13–15) Gooding-Williams 1990, 241 macht darauf aufmerksam, dass in der Fortführung dieses Notats die Idee eines dreigliedrigen axiologischen Schemas vorgeformt ist, in welchem die Unterlegenheit des kategorischen Imperativs gegenüber einem Regime der volitiven Selbstbestimmung und der (als höchstem Ideal angesehenen) Perspektive einer existentiellen Selbstständigkeit des Individuums klar herausgestellt wird: „Höher als ‚du sollst‘ steht ‚ich will‘ (die Heroen); höher als ‚ich will‘ steht ‚ich bin‘ (die Götter der Griechen)“ (NL 1884, KSA 11, 25[351], 105, 16–17).

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Für besonders ausgeprägt hält N. den imperativischen Zug im Christentum, das mit Geboten und Verboten bestimmte Handlungsweisen fordere und andere verbiete. Obwohl einige Notate einen angeborenen „G e h o r s a m s - I n s t i n c t“ (NL 1884, KSA 11, 26[195], 201, 7 f.) des Menschen in Erwägung ziehen, nimmt der Sprecher der folgenden Niederschrift sich selbst davon aus: „Ich habe überall hin geblickt – aber ein ‚Du sollst‘ ist nicht mehr zu finden für Menschen wie mich“ (NL 1884, KSA 11, 26[154], 189, 24 f.). Eine andere Notiz konstatiert für die Gegenwart: „Wo kein T r i e b zum Gehorchen da ist, da hat ein ‚Du sollst‘ keinen Sinn. / So wie wir sind – so werden wir widerspenstig bei einem ‚Du sollst‘. Unsere Moral muß heißen ‚ich will‘.“ (KGW VII 4/2, 649; leicht abweichend als NL 1883, KSA 10, 7[1], 236, 23–26) Unter den nachgelassenen Notaten findet sich die Befreiung von dem „sklavische[n] Sinn ˹[…] Imperativ ‚du sollst u. ˹mußt gehor knieen! ˺˺“ (KGW IX 1, N VII 1, 118, 19–21; vgl. NL 1885, KSA 11, 34[114], 458, 10 f.), mit der notwendig der Verzicht auf ein normierbares Moralsystem und die Individualisierung der Werte einhergehen, auch als Aufruf formuliert: „Weg mit allem ‚du sollst‘!“ (NL 1883, KSA 10, 7[73], 267, 21) sowie als Bekenntnis: „Du sollst? Ich will“ (NL 1883, KSA 10, 9[36], 357, 4). Za I Von alten und jungen Weiblein nimmt eine geschlechtsspezifische Einschränkung vor, insofern Zarathustra das voluntaristische Autonomiepostulat des „ich will“ dort allein dem Mann vorbehält: „Das Glück des Mannes heisst: ich will. Das Glück des Weibes heisst: er will.“ (85, 31 f.) Und bündig im Nachlass: „Für Mann ‚ich will‘ für Frau ‚ich muß‘“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[15], 113, 1). Eine Sonderstellung kommt JGB 188 zu, weil dieser Abschnitt dem Unterdrückungscharakter moralischer Forderungen etwas Positives abgewinnt, indem er sie, da sie dem „Bedürfniss nach beschränkten Horizonten“ (KSA 5, 109, 34) entgegenkämen, zur Grundlage eines ‚natürlichen‘ Selbsterhaltungstriebs und zum Ferment kultureller Entwicklungen erklärt: „‚Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf lange: s o n s t gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst‘ – dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein, welcher freilich weder ‚kategorisch‘ ist, wie es der alte Kant von ihm verlangte (daher das ‚sonst‘ – ), noch an den Einzelnen sich wendet (was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen, Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier ‚Mensch‘, an d e n Menschen.“ (KSA 5, 110, 3–11) NK 5/1, JGB 188 erwägt, ob es sich dabei um die „Persiflage eines längst verblichenen Diskurses […], als kaustische Kontrafaktur zur Idee einer ganz und gar blinden Evolution“ handeln könne, konstatiert aber: „Freilich sind die intratextuellen Hinweise bescheiden, die eine solche ironisch-distanzierende Lesart unterstützen“. 30, 25–27 Neue Werthe schaffen – das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen – das vermag die Macht des Löwen.] In der Zerstörung des bislang Gültigen – mit Schwab 2011, 604 kann man das als

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Phase des Nihilismus betrachten – erschöpft sich die Aufgabe des Propheten also nicht, vielmehr gehört die Etablierung neuer Werte essentiell dazu. Das Projekt einer neuen Wertsetzung zeichnet sich bereits in Za I Vorrede 9 ab, denn schon dort verlangt Zarathustra vom Schaffenden, „die Tafeln der Werthe“ (26, 10) zu zerbrechen und gemeinsam mit den „Mitschaffenden“ „neue Werthe auf neue Tafeln“ (26, 13 f.) zu schreiben. Während Zarathustra dies dort nur als Parole ausgibt, erinnert sich der Sprecher in einem Nachlassnotat aus dem Winter 1882/ 83 an die Hervorbringung neuer Wertetafeln als an eine von ihm selbst bereits vollbrachte Tat: „Mit den h ö h e r e n W e r t h e n die Gütertafeln zerbrechen / die eigenen Tafeln stellte ich neben die anderen – welcher Muth und Schrecken war das!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[242], 179, 19–22) In Za III Von alten und neuen Tafeln inszeniert sich Zarathustra dann ausgiebig als Kreator neuer Wertetafeln. – Von Werten und dem Schaffen von Werten ist zu N.s Zeit überwiegend in ökonomischen Zusammenhängen die Rede. Dabei herrscht die Einsicht vor, dass neue Werte nicht aus dem Nichts hervorgebracht werden können. So stellt der Jurist und Schriftsteller Felix Dahn in seinem Vortrag „Ueber Geschichte und Wesen des Wechsels“ klar: „Wenn es wahr wäre, dass durch einseitiges Rechtsgeschäft, durch ‚Creation‘, Werthe geschaffen werden könnten, dann würden unsre Kaufleute Tag und Nacht nichts thun als diesem Creationsact obliegen und jeder, dessen Mittel erschöpft sind, würde, wie mit jener berühmten unendlichen Mühle des Märchens, sich neue Werthe schaffen.“ (Dahn 1875, 193) Wie Andreas Urs Sommer in NK 5/1, 144, 24–26 eingehend darlegt, ist der zu N.s Zeit vorherrschende Wertebegriff nicht philosophisch oder ethisch bestimmt, sondern politisch-ökonomisch. ‚Wert‘ gilt als ‚wertvolles, werthaltiges Produkt‘, das sich in Geld beziffern lässt, und nicht als der Maßstab, nach dem ein Produkt zu beurteilen wäre. Durch Friedrich Albert Lange und Hermann Lotze werden „Werte“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur „zentrale[n] Referenzgröße praktischer Philosophie und menschlichen Handelns“ (NK 5/1, 16, 19 f.). 30, 30 f. Recht sich nehmen zu neuen Werthen – das ist das furchtbarste Nehmen für einen tragsamen und ehrfürchtigen Geist.] Hier vollzieht sich ein Perspektivenwechsel und es kommt eine Sichtweise zur Geltung, die gerade nicht Zarathustras eigene ist. Der Blickpunkt ist jetzt das erste Stadium der Verwandlung, von dem aus betrachtet das auf die Negation der alten Werte ausgerichtete Wirken des Löwen als ein ‚furchtbarer‘ Gewaltakt erscheinen muss. Im Gegensatz dazu formuliert ein Nachlassnotat aus der Perspektive Zarathustras: „Mir das Recht zu geben, die Dinge mit neuen Namen und Werthen zu nennen, war das Schwerste.“ (NL 1882/ 83, KSA 10, 4[242], 179, 16 f.) Ähnlich ein weiteres Notat: „Was wurde Zarathustra am schwersten? S i c h v o n d e r a l t e n M o r a l z u l ö s e n.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[246], 180, 7 f.)

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31, 4–6 Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?] Zu erinnern ist an die Worte des Einsiedlers, der in Za I Vorrede 2 vermerkt: „Verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zarathustra“ (12, 25). Aus der Retrospektive des Verwandlungs-Kapitels könnte man folgern, dass Zarathustra mittlerweile die drei Verwandlungen erfolgreich an sich selbst vollzogen habe. Diese Ansicht vertritt Brusotti 1997, 584, der darüber hinaus ausführt: „Zarathustra ist zum Kind geworden, weil er das Ideal des Übermenschen geschaffen hat, das er nun den Menschen ‚schenken‘ will. Er ist als Kind zugleich der zum Untergang bestimmte Hinübergehende – der Verkünder des Übermenschen. Übermensch und Kind sind also nicht das Gleiche.“ Im Text freilich werden diese Zusammenhänge nicht expliziert, sie sind der Kombinationskraft des Rezipienten anheimgestellt, der sich mit dem Problem konfrontiert sieht, dass das Kind in der Rede strukturell die Position des Übermenschen einnimmt, da es die letzte und bedeutsamste Stufe der Verwandlungen vorstellt. Darauf kann man mit Plausibilisierungsversuchen reagieren, man kann den Za-Text aber auch als einen betrachten, der immer wieder neue Erklärungsansätze und Metaphern liefert, die sich nicht zu einem homogenen Gesamtbild fügen. Die ‚Kindwerdung‘ Zarathustras entschwindet im Fortgang des Werks aus dem Fokus, stattdessen konzentrieren sich Zarathustras Zukunftshoffnungen in wachsendem Maß auf ‚seine Kinder‘ (vgl. zur Utopie ‚der Kinder‘ NK 4/2, 203, 19–204, 3; zur Bedeutung der Figur des Kindes in Za siehe Mills 2019). – Statt von der Verwandlung zum Kind spricht ein Nachlassnotat von der überwältigenden Kraft des „Kind[es] in uns“: „Das Kind in uns soll auch den Löwen in uns überwältigen – sprach Zarathustra.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[117], 149, 1 f.) In einem Notat aus der Zeit von November/Februar 1882/83, das auch Clayton 1985, 193 als Referenz anführt, gibt Zarathustra sich selbst als derjenige zu erkennen, der ‚das Schwerste‘ auf sich genommen habe, dem aber alle Überwindungen nichts gelten, gemessen an dem „Lächeln eines Kindes“: „Was ist dem Menschen am schwersten zu thun? Die zu lieben, die uns verachten: von unserer Sache lassen, wenn sie ihren Sieg feiert: um der Wahrheit willen der Ehrfurcht widersprechen; krank sein und den Tröster abweisen; in kaltes und schmutziges Wasser steigen; mit Tauben Freundschaft schließen; dem Gespenste die Hand reichen, wenn es uns fürchten macht: – dieß Alles, sagte Zarathustra, habe ich gethan und trage es auf mir: und dies Alles gebe ich heute weg um ein Geringes – um das Lächeln eines Kindes.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]162, 205, 10–18) Vgl. allgemein zur Rolle des Kindes in N.s Philosophie: Wohlfart 1999, Conway 2004, Kowal 2009 u. Fleisner 2013. 31, 7–9 Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.] Dieser Textstelle kommt im Bedeutungsgefüge des Werks eine Knotenfunktion zu, denn in ihr schießen zentrale Motive und Ideen des Za-Textes auf eine schwer zu entwirrende

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Weise metaphorisch zusammen. Die herausgehobene Bedeutung des Kindes, nach Mattéi 2005, 216 die zeichenhafte „affirmation de l‘affirmation“, wird durch ein Bündel von Bestimmungen angezeigt, die sich zwar semantisch nicht nahtlos zusammenfügen, denen aber das Moment des Anfänglichen und Begründenden gemeinsam ist. Konventionelle Zuschreibungen wie die Vorstellung von der Unschuld des Kindes (Heller 1973, 76–79 nennt eine ganze Reihe möglicher Bezüge, die von der Aufforderung zur Kind-Werdung in Matthäus 18, 3 bis zu Kleists Über das Marionettentheater reichen) werden dabei kombiniert mit weniger gebräuchlichen Metaphern des Anfänglichen, unter denen insbesondere die Bestimmung des Kindes als eines „aus sich rollende[n] Rad[s]“ hervorsticht, womit ihm ein sich selbst begründendes weltschöpferisches Vermögen zugewiesen ist, das keines äußeren Impulses bedarf. Hölscher 1979, 177 führt als möglichen Bildspender für die Metapher des rollenden Rades das Fortuna-Emblem des Schicksalsrads an. Allerdings betont Zarathustra nicht allein das Moment der unaufhaltsamen Bewegung, sondern das der Selbstbegründung („aus sich“), und hebt somit auf die Idee einer sich selbst verursachenden Bewegung ab. Das lässt an den christlichen Gott denken, der verstanden wurde als sich selbst begründender Beweger, der keines anderen Impulses bedarf. So heißt es im Cherubinischen Wandersmann von Angelus Silesius: „Nichts ist, das dich bewegt, du selber bist das Rad, / Das aus sich selbsten lauft und keine Ruhe hat.“ (Angelus Silesius 1952, 11) Die Vorstellung von einem „ersten unbewegten Bewegenden“ (πρῶτον κινοῦν ἀκίνητον) geht auf Aristoteles zurück, der im XII. Buch, Kapitel 7 seiner Metaphysik vom ersten Bewegenden und seiner Tätigkeit handelt (1072 a f.). Vgl. dazu bei Aristoteles auch 192 a–193 b (Physik II 1), wo φύσις als ἡ πρώτη ἑκάστῳ ὑποκειμένη ὕλη τῶν ἐχόντων ἐν αὑτοῖς ἀρχὴν κινήσεως καὶ μεταβολῆς – „der erste, allem demjenigen zum Grunde liegende Stoff, was in sich einen Ursprung von Bewegung und Veränderung trägt“ (Aristoteles 1829, 28) – definiert wird. Die Frage nach dem ersten Bewegenden wurde in der Scholastik vor allem durch Thomas von Aquin aufgegriffen und erfuhr zu N.s Zeit im Kontext der Thermodynamik neuen Auftrieb; N. hat diese Diskussionen intensiv verfolgt und einschlägige Schriften rezipiert (vgl. dazu NK 4/2, 200, 12–33). Wenn Zarathustra die Vorstellung der „erste[n] Bewegung“ und die Metapher des „aus sich rollende[n] Rad[s]“ in zwei späteren Reden erneut aufgreift, dann unterzieht er sie zugleich einem graduellen Bedeutungswandel. Während er dem Neuanfang hier „Unschuld“ und „Spiel“ und „heiliges Ja-sagen“ attestiert, rückt er in Za I Vom Wege des Schaffenden das Moment des Voluntaristischen ins Zentrum. Dort spricht Zarathustra von einem Menschen, der ins Zentrum des Kosmos tritt, der als ein aus sich rollendes Rad, als eine „neue Kraft“ und ein „neues Recht“ gottgleich die Sterne in ihre Umlaufbahn zwingt. Dabei kleidet er den visionären anthropologischen Entwurf in Frageform und richtet ihn als Aufruf zur Selbstprü-

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fung an den angesprochenen Bruder: „Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen, dass sie um dich sich drehen?“ (80, 16–18) In Za I Von Kind und Ehe hingegen rückt der Aspekt der Selbstüberwindung ins Zentrum. Zarathustra ruft den angesprochenen Bruder dazu auf, einen neuen Menschen, einen „höheren Leib“ hervorzubringen, womit der Bezug zum Übermenschen, der in „Von Kind und Ehe“ denn auch explizit hergestellt wird, evident ist: „Über dich sollst du hinausbauen. […] / Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste Bewegung, ein aus sich rollendes Rad, – einen Schaffenden sollst du schaffen.“ (90, 14–19) Gefordert ist damit eine eigentlich unmögliche Form der Selbstüberwindung, denn der Aufruf zum Schaffen eines schaffenden Menschen setzt die Schaffenskraft, die er hervorbringen soll, bereits voraus. Ernst Bloch hat die Formulierung vom „aus sich rollenden Rad“ aufgegriffen, um den Gedanken der individuellen Selbstbegründung in Schranken zu weisen und dem Menschen eine Mittelposition zwischen Determiniertheit und Selbstbestimmung zuzuschreiben: „kein Mensch ist nur Wachs, und keiner ist auch ein frei aus sich rollendes Rad. Statt des Wachses gibt es mitgebrachte Anlagen, wenn auch mehr der Begabung als des Charakters.“ (Bloch 1985, 1093) Vor dieser Folie tritt das Eigentümliche von Zarathustras anthropologischer Vision des sich selbst begründenden und sich selbst überwindenden Menschen klar hervor. Sie steht nicht nur im Zeichen des radikalen Neuanfangs, sondern gibt sich zu erkennen als logischen Bruch in der Kette von Ursache und Folge, gilt ihr doch der Mensch als eine vom Menschen allererst zu schaffende causa sui. Mit JGB 21 legt N. den Finger in die Wunde. Dort nämlich hat der Sprecher nur Spott übrig für die Vorstellung der auf das Individuum bezogenen causa sui, die er mit dem Konzept des freien Willens kurzschließt: „Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur: aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach ‚Freiheit des Willens‘, in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein“ (KSA 5, 35, 10–20; vgl. dazu und zu den Quellen NK 5/1, 35, 10–20). Noch weitere Prätexte kommen für die Trias von Kind, Spiel und schaffender Potenz in Betracht. Zunächst drängt sich der Gedanke an Schiller auf, der den „Spieltrieb“ in den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen zur schöpferischen Kraft erklärt: „Aber was heißt denn ein b l o ß e s Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und n u r

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das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet?“ (15. Brief; Schiller 1844, 10, 200) In N.s Schriften findet sich nicht nur die Verbindung von Spiel und künstlerischer Schaffenskraft, sondern wiederholt auch der Begriff des „Spieltriebs“. Die früheste in eKGWB nachgewiesene Erwähnung spricht vom „entsetzlichen Trieb zum Kunst- und Spieltrieb“, den die Tragödie vor Augen rücke (vgl. NL 1870/71, KSA 7, 7[29], 145, 14 f.). Bemerkenswert ist eine Stelle in PHG 7, die die Spielthematik explizit mit der Unschuld des Kindes assoziiert und den kindlichen Spieltrieb unter Berufung auf Heraklit in Analogie setzt zum künstlerischen Schaffen: „Nicht Frevelmuth, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre Welten ins Leben. Das Kind wirft einmal das Spielzeug weg: bald aber fängt es wieder an, in unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen. / So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen.“ (KSA 1, 831, 1–11; vgl. auch PHG 19, KSA 1, 872, 11–13) Dem Zusammenhang von kindlichem Spiel und philosophischem Schaffen in Za geht Mills 2019 nach. Zur Idee des Spiels bei N. vgl. grundsätzlich Hinman 1974 u. 1975, Perkins 1977, Picht 1978, Voelke 1989, Wohlfart 1991b u. Aichele 2000. Im Gegensatz zu Schiller kommt dem Spieltrieb bei N. keine zwischen Formund Stofftrieb vermittelnde Funktion zu. So ist, wie Heller 1973, 76 und dann auch Hölscher 1979 und Wohlfart 1991 herausstellen, die Bezugsfolie für den Konnex von Kind, Spiel und Künstler Heraklits Fragment B 52, auf das N. schon in den Basler Vorlesungen zu sprechen kommt, auf das er sich in den frühen Schriften immer wieder bezieht und das in Za mehrfach anklingt. Es lautet: „Die Zeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt: Knabenregiment!“ („αἰὼν παῖς ἔστι παίζων, πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη“) (Diels/Kranz 1906, 22 B 52). Bereits in PHG 7 greift N. das Bild des spielenden Aion nicht allein auf, sondern deutet es aus, wobei er ihm das Attribut der Unschuld zuweist und es auf den Künstler bezieht: „Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich.“ (KSA 1, 830, 23–28) In der Formulierung „Unschuld ist das Kind und Vergessen“ erhält die Vorstellung vom unschuldig-kindlichen Spiel des Schaffens ihren Reflex. Allerdings ist der Akzent gegenüber PHG 7 deutlich verschoben, denn nicht das Moment des Zyklischen, nicht der Wechsel von „Werden und Vergehen“, von „Bauen und Zerstören“ wird jetzt betont, sondern

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das Moment des Anfangs rückt in den Vordergrund. Anders verhält es sich in Za II Von den Tugendhaften, wo die Anspielung auf Heraklits B 52 noch offener zutage liegt. Zarathustra vergleicht seine Zuhörer dort spielenden Kindern am Meer, denen die Welle (er meint damit seine eigene Rede) ihr Spielzeug entreißt. Er nimmt die Metapher zum Aufhänger, die Perspektive umzukehren und von dem Neuen zu künden, das die Welle gleichzeitig mit sich führe: „Aber die selbe Welle soll ihnen neue Spielwerke bringen und neue bunte Muscheln vor sie hin ausschütten!“ (123, 17 f.; vgl. NK 123, 12–18) Damit entwirft er ein Wechselspiel von Nehmen und Geben, von Vernichtung und Neu-Entstehen, dem die als spielende Kinder apostrophierten Brüder passiv ausgesetzt sind. Die angeführten Beispiele lassen deutlich erkennen, dass es N. nicht darum zu tun ist, Heraklits B 52 eine feste Ausdeutung zuzuweisen, vielmehr bezieht er sich flexibel auf das Fragment und passt es funktional verschiedenen Kontexten an. So gehen in Za mit den B 52–Allusionen Weltentwürfe einher, die sehr unterschiedliche Positionen für den Menschen vorsehen: Auf der einen Seite zeigen sie ihn eingebunden in den Kreislauf des Werdens und Vergehens, auf der anderen Seite beschwören sie ihn als schaffende Instanz, die gottähnlich sich selbst und die Welt begründen soll. Auch die Assoziation des spielenden Kindes mit dem Vergessen findet sich in frühen Notaten N.s vorgeformt, die dem Kind ein glückliches Bewusstsein zuschreiben, weil es im Augenblick zu leben vermag und von der Geschichtlichkeit des Daseins befreit scheint: „Wir dagegen leiden alle an dem dunkeln und unauflöslichen Reste des Gewesenen und sind etwas anderes als was wir erscheinen und fühlen uns ergriffen, die Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch ohne dieses Leiden zwischen den beiden Thoren der Vergangenheit und Zukunft in allzu kurzer und allzu seliger Blindheit spielt, ja vielleicht nur zu spielen scheint, wir scheuen uns sein Spiel zu stören und es aus der Vergessenheit zu wecken – weil wir wissen, dass mit dem Wort ‚es war‘ das Leiden und der Kampf beginnt“ (KGW III 5/2, 1645; leicht abweichend als NL 1873, KSA 7, 29[98], 677, 19–28). Dass das Spielen „die eigentliche Arbeit des Kindes“ sei „und ihm ebenso Bedürfniß, wie dem reifen Alter schaffende Thätigkeit“ (NL 1875, KSA 8, 9[1], 148, 23 f.), hat N. 1875 in einem Exzerpt aus Eugen Dührings Werth des Lebens festgehalten (Dühring 1865, 61). 31, 10–12 Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Jasagens: s e i n e n Willen will nun der Geist, s e i n e Welt gewinnt sich der Weltverlorene.] Wenn in der Forschung N.s Philosophie als eine der Bejahung oder Affirmation zur Rede steht (vgl. etwa Strobel 2000, Reginster 2006, Wotling 2015, Faustino 2019, Kast 2019, Bertot 2019a), dann bezieht sich dies in letzter Instanz fast immer auf die Überwindung des Nihilismus und/oder die Bejahung der ewigen Wiederkunft. N. selbst bezeichnet in EH Za 1 den Gedanken der ewigen Wiederkunft nicht allein als „Grundconception“ (KSA 6, 335, 5) von Za, sondern zugleich auch

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als die „höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“ (ebd., 335, 6 f.). In diesem Sinn sieht Müller-Lauter 1999a, 179 „Nietzsches dionysisches Ja-sagen zur Welt ‚ohne Abzug und Ausnahme‘ vollendet […] im Gedanken und Glauben an die ewige Wiederkunft des Gleichen“ (ähnlich Georg 2016, 212). Vorliegende Textstelle zeigt aber, dass dies für den Topos der Bejahung in Za zu kurz greift. Denn hier wird das Ja-Sagen bezogen auf die konstruktive Phase des Schaffens und Wertsetzens. Ja-Sagen bedeutet damit nicht, wie schon Deleuze 1976, 196 betont, Akzeptanz der „Realität, wie sie ist“ bzw. wie sie immer wiederkehrt, sondern Ja-Sagen ist konstruktiv und begründend zu verstehen, es meint das Schaffen, ja das Erschaffen einer Realität. Diesem Ja-Sagen muss das Nein-Sagen vorausgehen, denn erst die Negation des Bestehenden eröffnet dem Schaffenden die große Spielwiese der neu zu gestaltenden Welt. Im Anschluss an N.s Selbstdeutung in EH wird Za häufig als ein Werk betrachtet, „explicitly devoted to determining the conditions of a new ‚affirmation of life‘“ (Reginster 2006, 51 f.). Zur Bejahung in Za vgl. Wilcox 1983, Shepherd 2011, Kast 2019 u. den von Bertot/Leclercq/Monseu/ Wotling 2019 herausgegebenen Sammelband Nietzsche, penseur de l’affirmation. Relecture d’Ainsi parlait Zarathoustra, darin insbesondere die Einleitung Bertot 2019a. Im Gesamtwerk N.s wird Bejahung sehr unterschiedlich bestimmt (genauer dazu der facettenreiche Artikel „Bejahung“ in NWO; vgl. auch Stern 2019). Ist Bejahung im Kontext von Za zwar durchweg als Vermögen verstanden, in positiver Weise auf die Welt einzuwirken, so werden Zweifel an der Fähigkeit, das auch leisten und ertragen zu können, schon im unmittelbaren Entstehungskontext von Za I laut. Ein Notat aus dem Winter 1882/83 verzeichnet einen Konflikt zwischen schaffender Weltgestaltung und der Affirmation der Wiederkehr: „Ich will das Leben nicht w i e d e r. Wie habe ichʼs ertragen? Schaffend. Was macht mich den Anblick aushalten? der Blick auf den Übermenschen, der das Leben b e j a h t. Ich habe versucht, es s e l b e r zu bejahen – Ach!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[81], 137, 25–28) Zwar stilisiert N. Zarathustra aus der Retrospektive von EH – wo er dazu neigt, die Brüchigkeit des Za-Werks und seines Protagonisten taschenspielerisch verschwinden zu machen (vgl. dazu etwa NK 4/2, 261, 12–26) – zum „jasagendste[n] aller Geister“ (KSA 6, 343, 24). Tatsächlich aber wird Zarathustra immer wieder von Krisen heimgesucht. Er tritt nur punktuell und insbesondere in den Schlusspartien von Za III ausdrücklich in der Rolle des Bejahenden auf; nach Dellinger 2017, 159 handelt es sich dabei um kurze „Momente der Entrückung“. Neben dem Za III beschließenden „Ja- und Amen-Lied“ zeugt von solch ja-sagender Entrücktheit insbesondere Za III Vor Sonnen-Aufgang, wo Zarathustra sich selbst emphatisch einen „Ja-sager“ (208, 34) nennt. Er greift dort allerdings nicht auf die Bildlichkeit der Verwandlungs-Rede zurück, sondern bringt religiös konnotierte Erlösungsvorstellungen ins Spiel (vgl. NK 4/2, 208, 34–209, 3 u. Ruin 2019). Sie lassen in schillernder Weise offen, inwiefern Bejahung als weltgestaltende Tätigkeit zu

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verstehen ist oder aber die Hingabe an eine Welt bedeutet, in der alle überindividuellen Sinnkonstrukte außer Kraft gesetzt sind, einer Welt, die, wie es dort heißt, einen „Tanzboden“ abgibt „für göttliche Zufälle“ (209, 34). 31, 16 Also sprach Zarathustra] Zarathustras Rede vom letzten Menschen wird vom Erzähler in Za I Vorrede 5 eingeleitet mit den Worten „[u]nd also sprach Zarathustra zum Volke“ (19, 8). Hier nun begegnet die formelhafte Wendung, die den Werktitel aufgreift, zum ersten Mal als Beschluss seiner Rede. Nachfolgend wird „Also sprach Zarathustra“ noch 81 weitere Male wiederholt. Was N. zu dieser Inquit-Formel inspiriert haben mag, darüber gehen die Meinungen auseinander. Während Janz 1978, 223 und Wohlfart 1997, 319 darauf hinweisen, dass die vorsokratischen Philosophen, etwa Heraklit, ihre Schriften häufig mit „Also sprach ...“ eröffnen, bildet der Ausspruch laut Knortz 1906, 48 die „Sanskritphrase ‚iti vuttakam‘ (‚also sprach der Heilige‘)“ nach. Damit bezieht Knortz sich auf eine Notiz N.s, die der Zeit nach Abschluss von Za IV entstammt und lautet: „Iti vuttakaṃ“ (KGW IX 3, N VII 2, 4, 6 u. 8; vgl. NL 1885/86, KSA 12, 1[245], 64, 22 f.). Das Notat verweist auf eine Sammlung von Aphorismen des Buddha, deren 112 Suttas jeweils eingeleitet werden durch die Phrase „Iti Vuttam Bhagavata“, was bedeutet „so hat es der Buddha gesagt“. Zur Entstehungszeit von Za war das Itivuttaka noch nicht vollständig übersetzt; es kursierten verschiedene auszugsweise Übersetzungen. Auch Hermann Oldenberg bietet in seinem Buddha-Buch, das N. besaß, einen knappen Auszug (vgl. Oldenberg 1881, 439 f.). Die in KGW IX 3, 4 genannte Itivuttaka-Ausgabe von N.s Studienfreund, dem Sprachwissenschaftler Ernst Windisch, erscheint erst 1889. Nussbaumer-Benz 2001, 116 bringt eine frühere Teiledition Windischs als möglich Quelle ins Spiel, die 1882 im Journal of the Pali Text Society erschien. Der niederländische Indologe Heinrich (Hendrik) Kern erläutert in seinem Werk Der Buddhismus und seine Geschichte in Indien, es verbinde sich mit dem Itivuttaka die Vorstellung „eines dogmatischen Ausspruches des Buddha. Das so benannte Buch des Kanon enthält 110 Stücke, welche alle anfangen mit „Der Herr hat gesagt.‘“ (Kern 1882–1884, 460) N. indes verwendet das „Also sprach“ nicht als eröffnende, sondern als abschließende Wendung. Als Schlussformel betont es die Einheit der einzelnen Reden Zarathustras und unterstreicht die Bedeutung des Gesagten. Zugleich verleiht es seinen Reden den Anstrich des Seriellen. Doch wie auf fast allen Ebenen des Za-Werks zu beobachten ist, gehen Wiederholung und Variation Hand in Hand. Auch im Fall des formelhaften „Also sprach Zarathustra“ wird die sture Repetition des einmal eingeführten Musters durch Abweichungen unterlaufen. Diese ‚Regelverstöße‘, die über die vier Teile des Za-Werks hinweg zunehmen, verweisen symptomatisch auf einschneidende Veränderungen von Stil und Darbietungsform. In Za I weisen alle 22 Reden gleichförmig an ihrem Ende das formelhafte „Also sprach Zarathustra“ auf. In Za II sind die Kapitel „Das Nachtlied“ und „Das Grablied“ davon ausgenommen, da an ihrem Ende jeweils die Formel „Also sang Zarathustra“ steht

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(vgl. dazu NK 138, 13). Einen Sonderfall stellt Za II Das Tanzlied vor, in dem zunächst eine umfangreichere Passage mit „Also sang Zarathustra“ (141, 20) schließt, das ganze Kapitel aber trotzdem in einer darauffolgenden kurzen narrativen Partie mit der Formel „Also sprach Zarathustra“ (141, 31) beendet wird. Deutlich stärker fallen die Variationen in Za III aus, wie das Eröffnungskapitel „Der Wanderer“ geradezu programmatisch vor Augen rückt. Dort wird „Also sprach Zarathustra“ gleich dreifach angeführt, steht aber anders als sonst weder als kompletter Satz für sich, noch ganz am Ende des Kapitels, vielmehr werden kürzere Passagen der Erzählerrede jeweils mit „Also sprach Zarathustra“ eingeleitet: „Also sprach Zarathustra im Steigen zu sich“ (194, 33); „Also sprach Zarathustra auf der Spitze des Berges“ (195, 22); „Also sprach Zarathustra und lachte dabei zum andern Male“ (196, 15). Das Kapitel „Auf dem Oelberge“ wiederum wird mit „Also sang Zarathustra“ (221, 26) beschlossen, während „Von den Abtrünnigen“ ausnahmsweise ein „Also redete Zarathustra“ (230, 17) aufweist, das N. spät erst, nämlich in der Reinschrift einfügte (vgl. NK 4/2, 230, 17 f.). Das ist beispielhaft für den häufig zu beobachtenden Impuls, ein eingeführtes Muster auch wieder zu durchbrechen. In Za IV schließlich finden sich besonders viele Kapitel ohne die Beschlussformel „Also sprach Zarathustra“ („Der freiwillige Bettler“, „Der hässlichste Mensch“, „Das Lied der Schwermuth“, „Von der Wissenschaft“, „Unter Töchtern der Wüste“, „Das Nachtwandler-Lied“). Überdies ist die Schlussformel dort nicht mehr Zarathustra vorbehalten, sondern es werden wiederholt auch Reden der höheren Menschen mit einem „Also sprach“ beendet, z. B.: „Also sprach der Gewissenhafte“ (375, 18; 377, 9), „Also sprach der alte Zauberer“ (371, 5; 378, 9) oder „Also sprach der Wanderer und Schatten“ (380, 19). 31, 16 f. Und damals weilte er in der Stadt, welche genannt wird: die bunte Kuh.] Der Name der Stadt, der die wichtigste Wirkungsstätte des lehrenden Zarathustra bezeichnet, wird im Text insgesamt viermal genannt. An den anderen drei Stellen (51, 4; 97, 4 f.; 230, 18) ist er in Anführungszeichen gesetzt. Trotz aller Deutungsbemühungen ist die Herkunft bislang nicht geklärt. Der Ausdruck „bunte Kuh“ könnte in N.s Ohr vertraut geklungen haben, jedenfalls war und ist er im deutschen Sprachraum in unterschiedlichen Zusammenhängen gebräuchlich, wobei bunt sowohl die Bedeutung von „scheckig“ als auch von „vielfarbig“ haben kann. So begegnet die bunte (gescheckte) Kuh mehrfach in sprichwörtlichen Wendungen: „Es giebt mehr als eine bunte Kuh.“ – „Man heißt keine Kuh bunt, sie habe denn einen Flecken.“ (Simrock 1846, 320); „Weiß Gott und die bunte Kuh!“ (Frischbier 1865, 97). Im Spätmittelalter erlangte eine von der Hansestadt Hamburg finanzierte Flotte große Bekanntheit, deren Hauptschiff „nach einem alten Volksliede benannt“ war, „die durch das Meer brausende bunte Kuh aus Flandern mit den starken Hörnern“ (Grässe 1871, 992). Sie sollte den Seehandel vor Seeräubern schützen und führte im Jahr 1402 vor Helgoland den vernichtenden Angriff gegen

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den Seeräuber Klaus Störtebeker, der der Überlieferung zufolge dann auf der Bunten Kuh nach Hamburg transportiert und vor den Toren der Stadt enthauptet wurde. Bis heute gibt es in Lübeck, der damaligen ‚Königin der Hanse‘, einen Stadtteil mit dem Namen Buntekuh. Außerdem trägt eine markante Felsnase bei Walporzheim den Namen Bunte Kuh, und ein Steinkohlewerk in Schüren bei Dortmund war im 18. Jahrhundert unter dem Namen Zeche bunte Kuh bekannt. Eine andere Spur legt eine Studie von Freny Mistry. Ihr zufolge handelt es sich bei dem Namen bunte Kuh („Motley Cow“) um eine „literal translation of the name of the town Kalmasadalmya (Pali: Kammasuddamam) visited by the Buddha on his wanderings.“ (Mistry 1981, 17) Den konkreten Quellennachweis bleibt Mistry allerdings ebenso schuldig wie der sich ihr anschließende Braak 2015, Fn. 15. Mistry verweist auf N.s Kenntnis der buddhistischen Schrift Sutta Nipáta, deren englische Übersetzung N., wie er in einem Brief vom 13. Dezember 1875 an Gersdorff erwähnt, von Paul Heinrich Widemann geborgt hat und aus der er im selben Brief einen Satz zitiert, von dem er sagt, er habe ihn „schon in Hausgebrauch genommen“ (N. an Carl von Gersdorff, 13. 12. 1875, KSB 5/KGB II 5, Nr. 495, S. 128, Z. 14), und der später in M 469 Eingang findet. Es handelt sich um eines „der festen Schlußworte einer Sutta […] ‚so wandle ich einsam wie das Rhinoceros‘“ (ebd., Z. 13–15). Figl vermutet, dass N. die Übersetzung von Coomáraswámy (M. Coomára Swámy) von 1874 (Figl 2007, 290, Fn. 30) vorlag, der den Passus, der in allen 42 Abschnitten der „Khaggavisána Sutta“ wiederholt wird, mit „walk alone like a rhinoceros“ (Sutta Nipáta 1874, 11–19) überträgt. Der Name der indischen Stadt Kalmasadalmyad (oder Kammasadammam), in der einst Buddha gewirkt haben soll, begegnet im Sutta Nipáta allerdings nicht und auch nicht die Übertragung „the motley cow“. Die KGW schließt sich Mistry an, führt aber zusätzlich (vgl. KGW VI 4, 868) eine Erläuterung des Indologen Karl Eugen Neumann (1865–1915) an, der in einer Fußnote zu seinen wirkungsmächtigen Übersetzungen der Reden Gotamo Buddhos schreibt: „Wörtlich bedeutet Kammāsadammam ‚Die bunte Kuh‘ oder ‚Das bunte Rind‘, ein Name, den, sonderbar genug, bekanntlich NIETZSCHE seiner zarathustrischen Stadt beigelegt hat.“ (Neumann 1956–1957, 2, 745, Fn. 689) Neumanns Übersetzungstätigkeit setzt allerdings erst in den 1890er Jahren ein; ein zeitgenössischer Beleg für die Übersetzung „bunte kuh“/„motley cow“ ist bislang nicht nachgewiesen. Die Forschung hat verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der „bunten Kuh“ um einen sprechenden Namen handle, da sowohl das Motiv der Kuh als auch des ‚Bunten‘ im Bedeutungsgeflecht von Za eine Rolle spielen. Schon Knortz vermerkt, Zarathustras Wirkungsstätte heiße bunte Kuh „unstreitig deshalb, weil sie von geistigen Wiederkäuern abgestandener Moralsysteme bewohnt“ sei (Knortz 1906, 8). Als Wohnort wiederkäuender Kühe, respektive zufriedener und antriebloser Herdenmenschen (vgl. NK 33, 29), bildet die bunte Kuh einen ironischen Kontrast zu Zarathustras aufrüttelnder Intention. Nehamas und

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Rosen ergänzen die Deutung um den Aspekt des ‚Bunten‘, in dem Rosen eine Anspielung sieht auf die „spiritual emptiness of late-modern democratic diversity“ (Rosen 1995, 78), während Nehamas 2000, 126 auf Zarathustras Besuch bei den „Buntgesprenkelten“ (154, 20 f.) in Za II Vom Lande der Bildung hinweist, wo die Buntheit die zentrale Metapher abgibt für den Identitätsverlust einer Kultur, die sich aus lauter Versatzstücken früherer Epochen konstituiert. Auf die verschiedentlichen Vorschläge, die Stadt konkret geographisch bzw. biographisch zu verorten, weist Pieper 1990, 394, Fn. 3 hin. Jung vermutete einen Bezug auf Basel, als eine Stadt, die geprägt sei durch „a particularly set of values“ (Jung 1989, I, 273) und die daher eine ungeeignete Wirkungsstätte für N./Zarathustra abgebe.

Von den Lehrstühlen der Tugend. Als Parodie auf die philosophische Morallehre und die christlichen Moralvorstellungen steht das Kapitel in diametralem Gegensatz zur vorangehenden Rede „Von den drei Verwandlungen“. Statt aufreibender Selbsterprobung predigen die Inhaber der Tugendlehrstühle, die Zarathustra hier parodistisch aufs Korn nimmt, geruhsame Selbstversöhnung, und statt zu Verwandlung und Veränderung rufen sie auf zur Zementierung des status quo. Das Kapitel gehört thematisch in den Bereich der Auseinandersetzung mit etablierten Tugendvorstellungen, die Zarathustras Reden immer wieder aufs Neue und aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit beißender Polemik überziehen (vgl. dazu eingehend ÜK Za II Von den Tugendhaften), womit N. auch in Za seinem Ruf als scharfer Kritiker und Entlarver der Tugend gerecht wird (vgl. Honecker 2002, 93 f.). Siehe zum Kapitel auch Naumann 1899–1901, 1, 129–133; Pieper 1990, 126–131. Hier tritt nicht Zarathustra als Verkünder einer eigenen Lehre auf, sondern die Rede eines anerkannten Tugendlehrers rückt in den Fokus. Ähnlich wie Sokrates im Protagoras den weithin berühmten Lehrer Protagoras aufsucht, der zahlreiche Schüler um sich versammelt hat (vgl. Pieper 1990, 128; der Sokrates-Bezug schon bei Dannhauser 1974, 253), mischt sich Zarathustra unter die Schüler des Tugendlehrers. Anders als Sokrates tritt er mit ihm allerdings nicht in Dialog, sondern schlüpft in die Rolle eines Zuhörers, der das Gehörte anschließend in Gedanken kommentiert. Der Wechsel der Erzähl- und Sprechhaltung gliedert das Kapitel in drei deutlich voneinander abgesetzte Teile: Auf einen knappen orientierenden Bericht des Erzählers (32, 2–6) folgt die Rede des Weisen (32, 7–34, 8), auf die Zarathustra, eingeleitet durch den Erzähler, mit einem stummen Selbstmonolog reagiert (34, 9–30). Obwohl der Tugendlehrer sich durch das, was er sagt, selbst entlarvt, bleibt Zarathustra das letzte Wort, und sein Urteil lässt es an Deutlichkeit nicht fehlen: Der vermeintliche Weise gilt ihm als „Narr“ (34, 12). So findet das Kapitel sein Ziel in der Demontage des Weisen, den Zarathustra stellvertretend

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für all die autoritären Tugendlehrer verspottet, welche die Menschen aus seiner Sicht vom wahren Leben abziehen und deren Ende er daher eingeläutet sehen will: „ihre Zeit ist um“ (34, 28). Die beiden Leitbegriffe des Kapitels fallen gleich im ersten Satz, wenn der Weise eingeführt wird als jemand, der „gut vom Schlafe und von der Tugend zu reden wisse“ (32, 2 f.). Allein die Verbindung von Schlaf und Tugend indiziert das Substanzlose seiner Morallehre. Erscheint schon die Verknüpfung des Tugendbegriffs mit dem passiven und vegetativen Phänomen des Schlafs anstößig, diskreditiert sich der obskure Weise gänzlich durch die Gewichtung, die er vornimmt: Er propagiert nämlich den Schlaf als oberstes Daseinsziel und erklärt ihn zum „Herr[n] der Tugenden“ (33, 27), während die Tugenden nach seinem Dafürhalten bloße Mittel sind, um gut schlafen zu können. Zarathustra fasst diese ‚Tugendlehre‘ pointiert zusammen: „Seine Weisheit heisst: wachen, um gut zu schlafen.“ (34, 19) Als Zustand des herabgesetzten Bewusstseins und ausgeschalteten Denkvermögens verweist das biologisch-vegetative Phänomen des Schlafs auf eine Existenzform, die auf kritisches Denken und aktive Lebensgestaltung verzichtet. Entsprechend gründet sich die vom Weisen gelehrte „Kunst“ des Schlafens auf Verhaltensregeln, die auf die Eliminierung subjektiver Selbstbestimmung zielen. Er ruft auf zu kleinlichen und pedantischen Praktiken, deren Zweck darin liegt, das wache Dasein ganz auszufüllen und so den Menschen an eigenständigen Gedanken zu hindern. Seiner Lehre zufolge dient der Tag allein zur Vorbereitung des Schlafs. Persifliert werden damit rituelle philosophisch-religiöse Einübungen in ein von Gleichmut bestimmtes Dasein, wie sie von der Forschung mit dem Stoizismus (Brusotti 1997, 134, Fn. 231), dem Quietismus (Gerhardt 2011a, 6) und dem achtfachen Pfad, einem Zentralelement buddhistischer Weisheitslehre (Knodt 2017, 217), in Verbindung gebracht werden. Offenkundig ist die parodistische Anlehnung an die Zehn Gebote, fordert Zarathustra doch täglich „zehn Überwindungen“, „zehn Versöhnungen“, „zehn Wahrheiten“ und „zehn Gelächter“. Ein nachgelassenes Notat macht den diffamatorischen Bezug auf das Christentum gänzlich evident: „Ehemals nannte ich’s ‚Christentum‘ – und heute nenne ich’s ‚das Mittel gut zu schlafen‘.“ (N V 8,104; KGW VI 4, 40) Indem die Lehre des Weisen darauf zielt, die Menschen einzulullen und in einem unselbständigen Dämmerzustand festzuhalten, steht ihre Wirkungsabsicht in genauer Opposition zur ‚Lehre‘ vom Übermenschen, die den Menschen die Unzufriedenheit und den Abscheu gegenüber der Beschränktheit ihrer eigenen Existenzweise einimpfen möchte. Während Zarathustra in seiner Übermenschenrede in Za I Vorrede 3 gegen „Genügsamkeit“ (16, 11) und „erbärmliches Behagen“ (15, 28) zu Felde zieht, predigt der fadenscheinige Tugendlehrer Mittelmäßigkeit als Grundlage für ein unaufgeregtes und bequemes Leben. Es gelte, in allem Maß zu halten und Extreme zu vermeiden. Dem Weisen schwebt das Ideal eines satu-

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rierten Philisterdaseins vor; die von ihm propagierte Tugend soll der Konservierung des status quo dienen. Im Rückgriff auf UB I DS drängt sich der Gedanke an David Friedrich Strauß auf, dem dort angelastet wird, er verabreiche den Lesern mit Der alte und der neue Glaube (1872) einen „philiströsen Schlaftrunk“ (KSA 1, 206, 25). Unverkennbar jedenfalls weisen die auf Konfliktvermeidung, Anpassung und gehorsame Unterwürfigkeit gegen die Obrigkeit zielenden Strategien den Tugendlehrer als Gegenfigur zu Zarathustra aus – Dannhauser 1974, 254 begreift den Lehrstuhl-Weisen als Lehrer des letzten Menschen. Die Rede, die Salaquarda 2000a, 70 als Predigt gegen die Lehren Christentums einstuft, liefert ein Paradebeispiel für die parodistische Verarbeitung von Bibelversen (so Liebscher 2002, 243). In ironischer Verkehrung der biblischen Vorstellung vom ‚Schlaf des Gerechten‘ durchzieht die antagonistische Metaphorik von Schlafen und Wachen das Kapitel. „Legst du dich, so wirst du dich nicht fürchten; sondern süße schlafen“, heißt es in Sprüche 3, 24 (Die Bibel AT 1818, 631). Zarathustra begreift sich als „Erwachte[n]“ (12, 26 f.) und macht es sich zur Aufgabe, konfrontativ „allem Schlafenden in’s Gesicht zu sehn“ (25, 6 f.). Zu seinem aufrüttelnden Wirken gehört der Angriff auf gültige Lehrmeinungen und der Sturm auf Autoritäten, was sich insbesondere am Kapitelschluss zeigt, wo er das Ende der (in seinen Augen) falschen Propheten ausruft. In Za III Von alten und neuen Tafeln 2 erinnert er an diesen Aufruf zum Autoritäten-Sturz mit den Worten: „Und ich hiess sie ihre alten Lehr-Stühle umwerfen, und wo nur jener alte Dünkel gesessen hatte; ich hiess sie lachen über ihre grossen Tugend-Meister und Heiligen und Dichter und Welt-Erlöser.“ (247, 6–9) 32, 1 Von den Lehrstühlen der Tugend] Der Begriff des Lehrstuhls, die Bezeichnung für den ordentlichen Professor an einer Universität, der im Kapitel selbst noch vier weitere Male fällt, signalisiert, dass Zarathustras Angriffe auf eine institutionalisierte und gesellschaftlich anerkannte Form philosophischer Tugendlehre zielen. So spricht er am Ende des Kapitels auch von den „gelobten Weisen der Lehrstühle“ (34, 25), deren Zeit vorbei sei. Im Aufruf zum Sturz der Lehrstühle (vgl. auch 247, 6–9) dürfte N.s eigene Aversion mitschwingen, der Neid desjenigen, dem eine Universitätskarriere als Philosoph verschlossen war und der späterhin die Gleichung aufmachte: „Lehrstuhl (Lehnstuhl)“ (N. an Paul Deussen, 20. 09. 1886, KSB 7/KGB III 3, Nr. 752, S. 252, Z. 32). Trotz dieser Ablehnung hielt N. fest an der Vorstellung einer staatlich institutionalisierten philosophischen Lehre, allerdings dachte er dabei an seine eigene Philosophie und in EH Warum ich so gute Bücher schreibe 1 äußert er sogar die Erwartung, dass einst Za zu deren bevorzugtem Gegenstand werden könnte: „Irgend wann wird man Institutionen nöthig haben, in denen man lebt und lehrt, wie ich leben und lehren verstehe; vielleicht selbst, dass man dann auch eigene Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra errichtet.“ (KSA 6, 298, 8–12)

Überblickskommentar Za I Tugend / Stellenkommentar Za I Tugend, KSA 4, S. 32

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32, 2–6 Man rühmte Zarathustra einen Weisen, der gut vom Schlafe und von der Tugend zu reden wisse: sehr werde er geehrt und gelohnt dafür, und alle Jünglinge sässen vor seinem Lehrstuhle. Zu ihm gieng Zarathustra, und mit allen Jünglingen sass er vor seinem Lehrstuhle.] Die ungebräuchliche Wendung von dem Sitzen der Schüler vor dem Lehrstuhl des verehrten Weisen, erhält einen unverkennbar ironischen Beiklang dadurch, dass eben nicht von der Person des Lehrers, sondern von dem Amt bzw. der abstrakten universitären Institution des Lehrstuhls gesprochen wird. Gegen Ende seiner Rede greift Zarathustra diese Formulierung nochmal auf, um ein dann deutlich ironisches Fazit zu ziehen: „Und nicht vergebens sassen die Jünglinge vor dem Prediger der Tugend. / Seine Weisheit heisst: wachen, um gut zu schlafen.“ (34, 17–19) 32, 9 f. Schamhaft ist noch der Dieb vor dem Schlafe: stets stiehlt er sich leise durch die Nacht.] Vgl.: „Schamhaft ist der Dieb vor dem Schlaf: stets stiehlt er sich leise davon“ (N V 8,104; KGW VI 4, 38). 32, 10 f. Wächter der Nacht] Das Motiv des Nachtwächters taucht an späterer Stelle noch einmal auf, allerdings mit veränderter Bedeutung. In Za III Von den Abtrünnigen beschäftigt Zarathustra sich mit denen, die zum alten Glauben zurückgekehrt seien und befindet: „Und Einige von ihnen sind sogar Nachtwächter geworden: die verstehen jetzt in Hörner zu blasen und Nachts umherzugehn und alte Sachen aufzuwecken, die lange schon eingeschlafen sind.“ (229, 8–11) Die Nachtwächter gelten Zarathustra dort als Repräsentanten einer überholten Form des Glaubenszweifels, die ihn mit ihren Diskussionen über Existenz und Macht Gottes lediglich zum Lachen reizen. 32, 12 f. Keine geringe Kunst ist schlafen: es thut schon Noth, den ganzen Tag darauf hin zu wachen.] Dass die „Kunst“ des Schlafens es verlange, auch den Tag in ihren Dienst zu stellen, womit das ganze Leben nur der Einübung des guten Schlafens gilt, das formuliert ähnlich ein nachgelassener Entwurf: „Keine geringe Kunst ist schlafen. Man muß schon den Tag dazu wachen, daß man die Nacht schläft. / Weise nannte man einst die, so welche gleich dir den Tag liebten: Weisheit, wahrlich, jetzt seh ich’s genau: ˻das˼ Kunststück ist’s ˹ein feines Mittel ist’s, um˺ gut zu schlafen“ (N V 8,100; KGW VI 4, 39). 32, 14–16 Zehn Mal musst du des Tages dich selber überwinden: das macht eine gute Müdigkeit und ist Mohn der Seele. / Zehn Mal musst du dich wieder mit dir selber versöhnen; denn Überwindung ist Bitterniss, und schlecht schläft der Unversöhnte.] Hier wird die Forderung nach Selbstüberwindung, wie sie im Zentrum von Zarathustras Ausrufung des Übermenschen steht ad absurdum geführt. Das Rezept des Weisen liegt in einem Wechselspiel von Selbstüberwindung und Selbstversöhnung, dessen Ziel darin besteht, alle Aktivität zuletzt in selbstzufriedenem

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Schlaf versanden zu lassen. Damit bezwecken seine Anweisungen gerade die Vermeidung des schmerzhaften Akts der Selbstinfragestellung, der die Bedingung der Selbstüberwindung vorstellt, und steuern die Konsolidierung des alten Ich an. Ein nachgelassener Entwurf in N V 8,64 f. bringt das noch pointierter zur Sprache: „Und welche sind deine Gedanken wdes Abends, wenn du dich schlafen legst? / 10 Überwindungen / 10 Versprechen Wohlthaten / 10 gute Gedanken Wahrheiten / 10 Heiterkeiten, über die du gelacht hast /65/ Schlaf ˹nun˺ wohl, mein Bruder, ˹du bist mir ein lieber Narr˺ du wirst immer gut wohl schlafen! / 10 Herzlichkeiten mit denen du dich dir versöhntest / Solcherlei erwägend und gelabt von 40 Gedanken lege ich mich des Abends schlafen“ (KGW VI 4, 39; der Schlusssatz bildet die Vorstufe zu 33, 31–34, 2). 32, 14 f. das macht eine gute Müdigkeit und ist Mohn der Seele.] Der einschläfernde „Mohn der Seele“ erinnert an Verse aus N.s Gedicht „Das nächtliche Geheimniss“ in den Idyllen aus Messina: „Gab mir Ruhe nicht das Kissen, / Noch der Mohn, noch, was sonst tief / Schlafen macht“ (KSA 3, 340, 8–10). Den autobiographischen Hintergrund bildet der Opiumkonsum des unter Schlaflosigkeit leidenden Autors (vgl. dazu NK 3/2, 340, 8 f.; vgl. auch Volz 1990, 168–170). 32, 20 f. Zehn Mal musst du lachen am Tage und heiter sein: sonst stört dich der Magen in der Nacht, dieser Vater der Trübsal.] Der Weise verordnet Lachen und Heiterkeit als diätetische Mittel. Zarathustra hingegen empfiehlt das Lachen später als Strategie der Selbsterhebung und Distanzierung; nicht zu einem versöhnlichen, sondern zu einem negierenden und tötenden Lachen möchte er motivieren (vgl. NK 48, 23–49, 7). Die läppische Angst vor dem verdorbenen Magen wird in Za I Vorrede 5 den letzten Menschen als leitendes Verhaltensmuster angedichtet: „Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen.“ (20, 16 f.) 32, 22–33, 2 Wenige wissen das: aber man muss alle Tugenden haben, um gut zu schlafen. Werde ich falsch Zeugniss reden? Werde ich ehebrechen? / Werde ich mich gelüsten lassen meines Nächsten Magd? Das Alles vertrüge sich schlecht mit gutem Schlafe.] Herabgestuft zu einem bloßen Sedativum, das dem Menschen einen guten Schlaf verschafft, werden die Zehn Gebote, auf die sich der Weise explizit bezieht: „Du sollst kein falsches Zeugniß reden wider deinen Nächsten“, „Du sollst nicht ehebrechen“, „Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes“ (Exodus 20, 16 u. 14 u. 17; Die Bibel AT 1818, 80). In Za III Von alten und neuen Tafeln wird Zarathustra eigene Gebote ausrufen: „s c h o n e d e i n e n N ä c h s t e n n i c h t!“ (249, 26) „An euren Kindern sollt ihr g u t m a c h e n, dass ihr eurer Väter Kinder seid: alles Vergangene sollt ihr s o erlösen!“ (255, 26 f.) Und: „w e r d e t h a r t!“ (268, 22) 33, 3–5 Und selbst wenn man alle Tugenden hat, muss man sich noch auf Eins verstehn: selber die Tugenden zur rechten Zeit schlafen schicken.] Der Weise ne-

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giert die Verbindlichkeit der christlichen Tugendethik und unterstellt sie einem okkasionalistischen Individualismus. Ähnlich verlangt ein nachgelassenes Notat: „Man soll auch von Zeit zu Zeit seine Tugenden schlafen lassen.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]33, 57, 13 f.) Von einem Erholungsschlaf der personifizierten Tugend spricht bereits MA I 83: „S c h l a f d e r T u g e n d. – Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen.“ (KSA 2, 87, 1 f.; vgl. auch NL 1876, KSA 8, 18[18], 318, 19 f., NL 1883, KSA 10, 12[1]65, 388, 19.) 33, 6 f. Dass sie sich nicht mit einander zanken, die artigen Weiblein! Und über dich, du Unglückseliger!] Vgl. N V 8,122: „Und dann muß man noch die Tugenden selber zur rechten Zeit schlafen schicken: sonst zanken sie sich, die artigen Weiberchen – um dich, du Unglückseliger!“ (KGW VI 4, 40) Die Vorstellung, dass Tugenden untereinander in Widerstreit geraten, kehrt in Za I Von den Freuden- und Leidenschaften wieder (vgl. 43, 16–22). Mit ihr geht eine Konzeption des Individuums einher, das dieses als Vielheit von Antrieben und Bedürfnissen denkt (vgl. dazu NK 39, 10 f.). Zum Adjektiv ‚artig‘ in Za vgl. NK 86, 7 f. 33, 14 f. Der soll mir immer der beste Hirt heissen, der sein Schaf auf die grünste Aue führt: so verträgt es sich mit gutem Schlafe] Die Stelle bezieht sich auf einen der bekanntesten Aussprüche der Bibel, auf den Psalm vom guten Hirten: „Der HERR ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser.“ (Psalm 23, 1 f.; Die Bibel AT 1818, 566) Eine nachgelassene Variante lautet: „Gute Hirten liebe ich: grün ist immer die Aue, wo sie ihre Schafe weiden.“ (N V 8,107; KGW VI 4, 40) Vgl. zu Herde und Hirt NK 20, 11. 33, 16–19 Viel Ehren will ich nicht, noch grosse Schätze: das entzündet die Milz. […] Eine kleine Gesellschaft ist mir willkommener als eine böse] Vgl. die Vorstufe: „Ehre will ich nicht, noch Reichthum: kleine Gesellschaft ist mir lieber als böse.“ (N V 8,105; KGW VI 4, 40) Vgl. auch NL 1882, KSA 10, 3[1]389, 100, 23: „Lieber böse Gesellschaft als kleine!“ 33, 22 f. Sehr gefallen mir auch die Geistig-Armen: sie fördern den Schlaf. Selig sind die, sonderlich, wenn man ihnen immer Recht giebt] In einer Vorstufe lautet der entsprechende Passus: „Sehr gefallen mir ˹zur Gesellschaft˺ die geistig Armen, – falls sie selig sind und nicht unerträgliche Lästermäuler ˹Zankteufel˺ und immer mir Recht geben“ (N V 8,106; KGW VI 4, 40). Referenzpunkt ist Matthäus 5, 3: „Selig sind, die da geistlich arm sind“ (Die Bibel NT 1818, 6). 33, 29 Sondern ich denke, was ich des Tages gethan und gedacht. Wiederkäuend frage ich mich, geduldsam gleich einer Kuh: welches waren doch deine zehn Überwindungen? / Und welches waren die zehn Versöhnungen und die zehn Wahrheiten und die zehn Gelächter, mit denen sich mein Herz gütlich that?] Brusotti 1997, 134, Fn. 231 erkennt hierin eine Parodie der abendlichen Selbstprüfung, wie sie von

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den Phythagoreern und später von den Stoikern propagiert wurde. Pieper 1990, 129 sieht darüber hinaus auch Zarathustras eigene Lehre karikiert: „Die Selbstüberwindung, die täglich gleich zehnfach erbracht werden soll, ist eine Karikatur jener Verwandlung des Menschen, die ein ganzes Leben in Anspruch nimmt“. Das kuhgleiche Wiederkäuen zeigt die unreflektierte Eintönigkeit dieser ritualisierten Praktik. Später in Za IV erklärt der freiwillige Bettler das stumpfe Glück des Wiederkäuens zur Forderung des Christentums: „So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen.“ (334, 14–16). 34, 10 f. ihm war dabei ein Licht aufgegangen] Die redensartliche Wendung hat ihren Ursprung in der Bibel: „das Volk, das im [sic!] Finsterniß saß, hat ein großes Licht gesehen; und die da saßen am Ort und Schatten des Todes, denen ist ein Licht aufgegangen.“ (Matthäus 4, 16; Die Bibel NT 1818, 6) 34, 17 f. Und nicht vergebens sassen die Jünglinge vor dem Prediger der Tugend.] Im Verlauf seiner Reden kommt Zarathustra auf unterschiedliche Prediger und Predigten von differierendem Inhalt zu sprechen – und immer wendet er sich aversiv gegen sie und ihre Botschaften, denen er demagogische Absicht unterstellt. Zunächst greift er diejenigen an, die „Hinterwelten“, also die Existenz von etwas Metaphysischem „predigen“ (38, 6), dann und vor allem kommt er auf die „Prediger des Todes“ (Za I Von den Predigern des Todes) zu sprechen, denen er vorwirft, dass sie die eine Abkehr vom Leben propagieren. Als höchst verderblich gelten ihm auch die „Prediger der Gleichheit“, die er sich in Za II Von den Taranteln vorknöpft und denen er anlastet, dass sie die Höherentwicklung des Lebens hemmen. In Za II Von der Erlösung spricht er abstrakt von der aus dem „G e i s t d e r R a c h e“ (180, 22) entspringenden Predigt des Wahnsinns, die auf der ewigen Unerlösbarkeit des Daseins insistiere (vgl. 181, 4–6). Das legt den Schluss nahe, dass Zarathustra seine eigenen Reden keineswegs als Predigten verstanden wissen will. Zwar spricht er an einer Stelle, nämlich in Za III Von der verkleinernden Tugend 3, von der eigenen „Predigt“, doch weist er sie als Predigt eines Gottlosen aus: „Diess ist meine Predigt für i h r e Ohren: ich bin Zarathustra, der Gottlose, der da spricht ‚wer ist gottloser denn ich, dass ich mich seiner Unterweisung freue?‘“ (215, 22–24) Damit inszeniert er sich als ‚umgekehrten‘ Prediger, der seine Zuhörer vom Glauben abbringen möchte. In Za IV Vom höheren Menschen 5 ruft Zarathustra sich, in Wendung gegen Christus, den „Prediger der kleinen Leute“ (359, 7), zum Lehrer des Bösen und Befürworter der „grossen Sünde“ (359, 9) aus. In EH Vorwort 4 heißt es später im Rekurs auf Za II Auf den glückseligen Inseln: „Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht ‚gepredigt‘, hier wird nicht G l a u b e n verlangt“ (KSA 6, 260, 8 f.). Dennoch hat man Zarathustras Reden in ihrem insistierenden Duktus und ihrer Anlehnung an

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Sprache und Bildlichkeit der Lutherbibel als Predigten rezipiert und ihrerseits als Grundlage für Predigten genommen. Bekannt geworden sind die um die Jahrhundertwende gehaltenen Za-Predigten von Albert Kalthoff, die N. zum „Propheten einer neuen Kultur“ (Niemeyer 2019, 298) ausrufen (vgl. ÜK Za, S. 59 f.). 34, 19 Seine Weisheit heisst: wachen, um gut zu schlafen.] In Karl Julius Webers Demokritos heißt es über die Gelehrten: „Statt sich des Schlafes zu berauben, um Weisheit zu lernen, sollten sie Weisheit lernen, um ruhig zu schlafen“ (Weber 1868, 11, 129). 34, 19–21 Und wahrlich, hätte das Leben keinen Sinn und müsste ich Unsinn wählen, so wäre auch mir diess der wählenswürdigste Unsinn.] Vgl.: „Und wenn das Leben keinen Sinn hätte, so wäre wahrlich Gutschlafen ˹und ohne Traum˺ der schönste Unsinn.“ (N V 8,118; KGW VI 4, 41). 34, 24 mohnblumige Tugenden] Das wohl von N. kreierte Adjektiv „mohnblumig“ dürfte im Sinne von einschläfernd, narkotisierend zu verstehen sein. Der Entwurf in N V 8,118 macht nachvollziehbar, wie N. durch Kontamination mehrerer Wörter zu diesem Neologismus kommt, denn dort werden „die Tugenden als rothe Mohnblumen“ (N V 8,118; KGW VI 4, 41) bezeichnet. 34, 25 f. Allen diesen gelobten Weisen der Lehrstühle war Weisheit der Schlaf ohne Träume] Gemeint sein dürfte ein Schlaf, der nur Betäubung ist, ganz ohne visionäre Träume. In einem nachgelassenen Notat begegnet der „Schlaf ohne Traum“ als ein Zustand der Interesselosigkeit, der vom Sprecher als sein „Böses“ zurückgewiesen wird: „Das Leere, das Eine, das Unbewegte, das Volle, die Sättigung, das NichtsWollen – das wäre mein Böses: kurz: der Schlaf ohne Traum.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]212, 211, 14–16) KGW VI 4, 134 sieht die Stelle in Abhängigkeit von Hermann Oldenbergs Buddha, wo der traumlose Schlaf als ein Zustand der Harmonie und als Vorklang der Vollendung verstanden ist: „Im irdischen Leben hat die Seligkeit der Vollendung, welche Thun und Lassen, Gutes und Böses von sich abgestreift hat, ihr Vorspiel und Abbild im Zustande des tiefsten Schlafes, wenn die Welt, die im Wachen den Geist umgab, ihm entschwunden ist und auch kein Traum erscheint, wenn er schläft ‚wie ein Kind oder wie ein grosser Weiser.‘“ (Oldenberg 1881, 51) Demgegenüber bezeichnet der traumlose Schlaf bei N. jedoch keinen erstrebenswerten Harmoniezustand, sondern ein Erschlaffen des Strebens. Die wahrscheinlichere Quelle ist Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten (die N. schon bald nach Erscheinen erworben und 1875 wieder verkauft hat), wo das Verlangen nach „Schlaf ohne Traum“ als Anzeichen einer „todesmüden Menschheit“ (Hartmann 1869, 389) ohne Illusionen in den Blick genommen wird: „Sie hat, wie jeder sehr alte und über sich selbst klare Greis nur noch einen Wunsch: Ruhe, Frieden, ewigen Schlaf ohne Traum, der ihre Müdigkeit stille. Nach

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den drei Stadien der Illusion, der Hoffnung auf ein positives Glück, hat sie endlich die T h o r h e i t ihres Strebens eingesehen, sie verzichtet endgültig auf alles p o s i t i v e Glück, und sehnt sich nur noch nach a b s o l u t e r S c h m e r z l o s i g k e i t, nach dem Nichts, Nirwana.“ (Ebd., 389) Zarathustra schläft denn auch keineswegs traumlos. Sein erster Traum, der ihn am Beginn von Za II aus dem Schlaf auffahren lässt, wirkt als entscheidender Impulsgeber für sein (prophetisches) Wirken (vgl. dazu NK 105, 18–106, 3). 34, 25 f. Allen diesen gelobten Weisen der Lehrstühle war Weisheit der Schlaf ohne Träume: sie kannten keinen bessern Sinn des Lebens.] Bereits kurz zuvor stuft Zarathustra diese ‚Sinngebung‘, die darin besteht, das wache Bewusstsein und das Streben nach einem anderen Dasein auszuschalten, ironisch als „wählenswürdigste[n] Unsinn“ (34, 21) ein. Die formelhafte Wendung „Sinn des Lebens“, die in N.s Schriften von 1875 an häufiger anzutreffen ist und in der Gerhardt 1992a, 21 und Stegmaier 2000a, 205, Fn. 7 eine Bildung N.s. vermuten, ist tatsächlich vereinzelt schon vor N. nachweisbar. So schreibt Schopenhauer in den Ergänzungen zum vierten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung dem Trauerspiel die Wirkung zu, „daß es jenen angeborenen Irrthum erschüttert, indem es die Vereitelung des menschlichen Strebens und die Nichtigkeit dieses ganzen Daseyns an einem großen und frappanten Beispiel lebhaft veranschaulicht und hiedurch den tiefsten /731/ Sinn des Lebens aufschließt“ (WWV II, § 49; Schopenhauer 1873–1874, 3, 730 f.). Und der Schriftsteller und Übersetzer Adolf Strodtmann gibt in seinem Buch über Das Geistige Leben in Dänemark einen Aphorismus Kierkegaards mit den Worten wieder: „Was ist überhaupt der Sinn dieses Lebens? Theilt man die Menschen in zwei große Klassen ein, so kann man sagen: die eine arbeitet, um zu leben, die andere braucht das nicht zu thun. Aber zu arbeiten, um zu leben, kann doch nicht der Sinn des Lebens sein, da es ja ein Widerspruch ist, daß die beständige Erzeugung der Bedingungen die Antwort auf die Frage nach dem Sinn dessen sein soll, was dadurch bedingt wird.“ (Strodtmann 1873, 109) 34, 30 Selig sind diese Schläfrigen: denn sie sollen bald einnicken.] Parodistisches Aufgreifen eines Sprachmusters der Bibel, das für die Seligpreisungen der Bergpredigt charakteristisch ist; z. B. „Selig sind die Friedfertigen; denn Sie werden GOttes Kinder heißen.“ (Matthäus 5, 9; Die Bibel NT 1818, 6) Die Vorstufe aus dem Winter 1882/83 lautet noch ausführlicher: „Sagt, wo sind sie hin, diese lieben Weisen? Fallen ihnen nicht die Augen zu? – Hier und da giebt es noch Solche um dich: die predigen mit sanfter Stimme vom Guten und Bösen. / Selig sind diese Schläfrigen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[253], 181, 5–8)

Stellenkommentar Za I Tugend, KSA 4, S. 34 / Überblickskommentar Za I Hinterweltler

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Von den Hinterweltlern. Nachdem Zarathustra in seiner ersten Rede die Wandlungsfähigkeit des Menschen gleichnishaft gestaltet hat und er in seiner zweiten Rede die falschen Weisheitslehrer bloßstellte, setzt er jetzt in seiner dritten Rede dazu an, in Abgrenzung von den „Hinterweltlern“, sein eigentliches Umwertungsprogramm zu präsentieren und Leitlinien für eine Neuausrichtung der menschlichen Existenz auszurufen. Die Schlüsselworte seiner Rede lauten Leib, Erde und der „Erde Sinn“ (37, 3). Zentrale Bedeutung weist er überdies der „Redlichkeit“ (37, 28) zu als einer Haltung, die sich von Illusion und Selbsttäuschung freimacht und damit die Hinwendung zu Leib und Erde geradezu notwendig befördern müsse. In deutlichem Rekurs auf die Vorrede skizziert „Von den Hinterweltlern“ Grundprinzipien einer ‚Leibphilosophie‘, die sich gegen die idealistische Metaphysik und das leibverachtende Christentum richtet und damit zum Folgekapitel „Von den Verächtern des Leibes“ überleitet. Zarathustra präsentiert sich als ein Bekehrter, der vormals selbst den „Hinterweltlern“ und ihren Illusionen anhing und der somit das, was er vermittelt, durch eigene Erfahrung beglaubigt. So beginnt das Kapitel mit einem Rückblick, in dem er bekennt, einst selbst metaphysischen Vorstellungen verfallen gewesen zu sein. Er berichtet davon aus zeitlicher und innerer Distanz als einer überwundenen Phase seines Lebens und liefert die Analyse seines früheren Verhaltens gleich mit: Motiviert durch die Sehnsucht nach Überwindung einer als leidvoll erfahrenen Realität habe er sich einen Gott entworfen, der jedoch nicht mehr gewesen sei als ein „armes Stück Mensch und Ich“ (35, 21). Aus einem Fluchtimpuls heraus habe er sich eine Welt hinter der Welt geschaffen, die jedoch lediglich ein „unvollkommnes Abbild“ (35, 14) der wirklichen Welt vorstellte. Retrospektiv diagnostiziert er die eigene Verfallenheit an „Traum“, „Dichtung“, „farbige[n] Rauch“ (35, 5 f.) und beschreibt die Befreiung aus diesem Zustand des Weltverlusts als einen Gesundungsprozess, in dessen Gefolge sich seine Wertmaßstäbe verschoben haben. Suchte er sich einst durch seinen Jenseitsglauben von einem leidvollen Dasein zu befreien, so bereitet ihm jetzt rückblickend der Gedanke an seine frühere jenseitsgläubige Existenz „Leid“ und „Qual“ – womit evident ist, dass nicht das Leben an sich Leid verursacht, sondern nur ein auf falschen Voraussetzungen beruhendes Leben. Mit seltener Einhelligkeit wird die Rede von den Hinterweltlern in Rezeption und Forschung nicht allein als polemische Auseinandersetzung mit metaphysischen Entwürfen philosophischer wie religiöser Provenienz verstanden (den „Hinterwelten“), sondern auch als Reflex von N.s eigener autobiographisch-philosophischer Entwicklung gelesen. Es werde hier „unverkennbar vom Frühwerk gehandelt“, konstatiert Heftrich 1989, 112; ähnlich Niemeyer 2019, 142. Und Valadier 2006 bietet eine autobiographische Lektüre an, die Zarathustra mit N. identifiziert. Trotz der breiten Stoßrichtung von Zarathustras Angriffen wird neben dem Christentum

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insbesondere Schopenhauers leib- und sinnesfeindliche Willensmetaphysik als Zielscheibe identifiziert. Wenn Weichelt 1922, 12 befindet, „[a]uch Zarathustra war ein Anhänger der Metaphysik […] und zwar stand er im Banne der Schopenhauerschen Metaphysik“, dann tritt in dieser Formulierung die Eigentümlichkeit von N.s Figurenkonzeption scharf hervor. Sein ‚persischer Weiser‘ ist nicht als konsistente historische Figur entworfen, sondern bildet eine Projektionsfläche, die N. zur Artikulation unterschiedlicher Aussagebedürfnisse nutzt, wobei er immer wieder auch eigene autobiographische Erfahrungen einfließen lässt, ohne sie dem fiktionalen Rahmen fugenlos anzupassen (dazu Grätz 2016, 363–366). Vgl. zu „Von den Hinterweltlern“ auch Naumann 1899–1901, 1, 133–137; Pieper 1990, 132–148; Venturelli 2005. In der Abrechnung mit den Hinterweltlern geht es Zarathustra darum, davon zu überzeugen, dass alle Transzendenzvorstellungen, seien sie philosophischer oder religiöser Natur, bloße Konstrukte vorstellen, die ihren Ursprung in menschlicher Schwäche und Unzulänglichkeit haben: „Leiden war’s und Unvermögen – das schuf alle Hinterwelten“ (36, 6). Er disqualifiziert metaphysisches Denken grundsätzlich, indem er auf den fundamentalen Widerspruch hinweist zwischen dem Antrieb und dem daraus hervorgehenden philosophischen Weltentwurf. Seiner Ansicht nach sind alle Jenseitsvorstellungen, die Befreiung vom Leiblichen versprechen, bloße Projektionen, die in einem als defizitär erfahrenen Leiblichen gründen: „Der Leib war’s, der am Leibe verzweifelte“ (36, 12 f.). Zarathustra betrachtet metaphysische Entwürfe als Emanationen der sie hervorbringenden Subjekte und ihrer krankhaften physiopsychischen Disposition. Diesen Gedanken greift später die 1887 geschriebene Vorrede zu FW auf und erklärt noch grundsätzlicher alle bisherige Philosophie zu einer „Auslegung des Leibes“ (KSA 3, 348, 24), so dass umgekehrt aus den philosophischen Entwürfen rückzuschließen sei auf die Verfassung dieser Leiber: „Man darf alle jene kühnen Tollheiten der Metaphysik, sonderlich deren Antworten auf die Frage nach dem W e r t h des Daseins, zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber ansehn; und wenn derartigen WeltBejahungen oder Welt-Verneinungen in Bausch und Bogen, wissenschaftlich gemessen, nicht ein Korn von Bedeutung innewohnt, so geben sie doch dem Historiker und Psychologen um so werthvollere Winke, als Symptome, wie gesagt, des Leibes“ (KSA 3, 348, 29–349, 3). Eine gewisse Ironie liegt darin, dass sich dieses Programm der Rückführung der Philosophie auf die angekränkelte physisch-psychische Disposition ihres Schöpfers gerade auch bei N. selbst als ein fruchtbarer Ansatz erweist. Demgegenüber präsentiert Zarathustra seine eigene Lehre in Abgrenzung von den auf Projektion und Täuschung gegründeten metaphysischen Entwürfen als ‚redlichen‘ Gegenentwurf. Er verwirft die hinterweltlerische Annahme einer ‚zweiten Welt hinter der Welt‘, spricht sich für die unbedingte Hinwendung zum Diesseitigen und für die Aufwertung des einzelnen Menschen aus. Zarathustra

ÜK Za I Hinterweltler / SK Za I Hinterweltler, KSA 4 S. 35

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erklärt das Ich zur entscheidenden, die Wirklichkeit gestaltenden und wertsetzenden Instanz, „dieses schaffende, wollende, werthende Ich, welches das Maass und der Werth der Dinge ist“ (36, 27 f.). Nicht nur einen „neuen Stolz“ propagiert er, sondern in Übernahme von Schopenhauers Zentralbegriff auch einen „neuen Willen“ (37, 4), der allerdings – in fundamentalem Gegensatz zu Schopenhauers Willensmetaphysik – Lebensverneinung durch Lebensbejahung ersetzt; es gelte nun: „diesen Weg wollen, den blindlings der Mensch gegangen, und gut ihn heissen und nicht mehr von ihm bei Seite schleichen“ (37, 4–6). 35, 1 Von den Hinterweltlern] Mit dem Neologismus „Hinterweltler“ fasst Zarathustra die philosophischen Metaphysiker und religiösen Jenseitsgläubigen zu einer Gruppe zusammen. Das Wort verwendet N. erstmals in MA II VM 17, wo er sich auslässt über „die spitzfindigen Metaphysiker und Hinterweltler“ (KSA 2, 386, 18 f., vgl. auch NL 1878, KSA 8, 30[124], 544, 19 f.). Die Wortbildung orientiert sich an der wörtlichen Übersetzung des aus dem Griechischen und Mittellateinischen stammenden Begriffs ‚Metaphysik‘ als ‚dem‚ was hinter der Physik liegt‘. Zugleich spielt N. klanglich und semantisch mit dem Wort ‚Hinterwäldler‘, das sich im 19. Jahrhundert im Deutschen als Lehnübersetzung des englischen ‚backwoodsman‘ einbürgerte. Ursprünglich verwendet für die „tausend Meilen abseits“ siedelnden „Prairie-Kolonisten“ (Kohl 1857, 209) im Westen Nordamerikas wurde es zur spöttischen Bezeichnung für einen weltfremden und rückständigen Menschen. Damit erhielt der Ausdruck „Hinterweltler“ eine pejorative Färbung, den Beiklang des Überholten und Einfältigen. In der Rede „Von alten und neuen Tafeln“ gibt Zarathustra seiner Wortneubildung noch eine weitere Bedeutungsnuance, indem er aus den Wortbestandteilen das Verkehrte der metaphysischen Weltbetrachtung ableitet: die Hinterweltler, so heißt es da, „sehen die Welt v o n h i n t e n“ (256, 26 f.). 35, 2 f. Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern.] Dass auch Zarathustra, der hier – wie des Öfteren – in der dritten Person von sich spricht, einst metaphysischen Ideen folgte, stellt eine Analogie zu seinem Autor dar, denn „einst“ hing auch N. als Schopenhauer-Verehrer einer pessimistischen Metaphysik an. Daraus folgert Heftrich 1989, 113 f.: „Zweifellos ist mit dem ‚einst‘ […] auf die Epoche angespielt, in der der Autor der Geburt der Tragödie im Banne Schopenhauers und Wagners stand.“ Demzufolge weist die Vergangenheit, die N. seinem Protagonisten andichtet, über textinterne Zusammenhänge hinaus und nimmt selbstreflexiv Bezug auf den philosophischen Werdegang des Autors, was einem Fiktionsbruch gleichkommt. 35, 5–9 Traum schien mir da die Welt und Dichtung eines Gottes; farbiger Rauch vor den Augen eines göttlich Unzufriednen. / Gut und böse und Lust und Leid und Ich und Du – farbiger Rauch dünkte mich’s vor schöpferischen Augen. Wegsehn wollte der Schöpfer von sich, – da schuf er die Welt.] Nicht nur aus zeitlicher,

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sondern auch aus innerer Distanz blickt Zarathustra zurück auf die eigene frühere Wahrnehmung der Realität, die ihm, wie er jetzt erkannt haben will, hinter traumhafter Verschleierung entschwunden war. Er erklärt seine einstige Verblendung durch seinen Glauben an einen Gott, der mit der Erzeugung von „farbigem Rauch“ nur von seiner eigenen Unzulänglichkeit ablenken wollte. Aus der gewonnenen Distanz heraus stellt sich ihm dieser Gott also nicht mehr als ein Schöpfergott dar, sondern nurmehr als ein ‚Verschleierungskünstler‘. Einem solchermaßen pervertierten Schaffen, das statt auf Selbstausdruck auf Selbstverschleierung und Selbstnegation zielt, hat schon die Rede „Von den drei Verwandlungen“ die Vision eines Schaffens gegenübergestellt, das sich frei entfaltet und sich „s e i n e Welt gewinnt“ (31, 12). Die Metapher von dem den Blick trübenden „farbigen Rauch“ findet sich bereits in M 216. Dort wird der „farbige Rauch“ allerdings nicht von einem Gott, sondern von der Musik erzeugt, und es wird ihm keine verblendende Wirkung zugeschrieben, sondern eine heilsam entrückende, „denn durch die Musik hindurch sehen und hören sie, wie durch einen farbigen Rauch“ (KSA 3, 193, 5 f.). 35, 13–16 Diese Welt, die ewig unvollkommene, eines ewigen Widerspruches Abbild und unvollkommnes Abbild – eine trunkne Lust ihrem unvollkommnen Schöpfer: – also dünkte mich einst die Welt.] Eine Vorstufe spricht von der „Welt des Krieges und der Qual“ (N V 8,129; KGW VI 4, 43), was an Schopenhauers Lebensverneinung gemahnt. Wenig später folgt im Manuskript der drastische Entwurf einer sich selbst verneinenden Schöpfung: „Im Vergehn und Werden genießt sich die ewige Bosheit, und im ˹durch˺ Schaffen ˹××˺ selber verneint sich der Gott, ˹der Verneinungswürdigste und gar sich nicht lösen kann vom Sein. Also dünkte mich.˺“ (Ebd.) 35, 19–36, 2 Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf, war Menschen-Werk und -Wahnsinn, gleich allen Göttern! / Mensch war er, und nur ein armes Stück Mensch und Ich: aus der eigenen Asche und Gluth kam es mir, dieses Gespenst, und wahrlich! Nicht kam es mir von Jenseits! / Was geschah, meine Brüder? Ich überwand mich, den Leidenden, ich trug meine eigne Asche zu Berge, eine hellere Flamme erfand ich mir. Und siehe! Da w i c h das Gespenst von mir!] Zarathustra greift die Wendung auf, mit der ihm der alte Heilige bei seinem Abstieg vom Berg warnend entgegengetreten war: „Damals trugst du deine Asche zu Berge: willst du heute dein Feuer in die Thäler tragen? Fürchtest du nicht des Brandstifters Strafen“ (12, 20–22). Er übernimmt die Formulierung aber nicht allein, sondern deutet sie zugleich um: Das Bild der Flamme, die aus der Asche heraus ‚erfunden‘ wird, ist eine Umschreibung für Unmögliches, für die paradoxe Leistung der Selbstüberwindung, die nach Zarathustra erforderlich ist, um sich, wie es ihm nach eigener Auskunft selbst gelungen sei, aus der alten Lebens- und Leidenshaltung zu befreien. Mit der Asche stellt er in Umkehrung der physikalischen Abfolge das Produkt des Verbrennungsprozesses an den Beginn, so dass das erschöpfte Leben, das nur noch Asche

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ist, durch einen voluntaristischen Akt der Selbstsetzung (‚Erfindung‘) zu neuem Leben gelangt. Verknüpft ist diese Neubegründung des Ich mit der Abwehr eines „Gespensts“, nämlich der Befreiung vom alten Gottes- und Jenseitsglauben. Im Zusammenhang mit einem Traum Zarathustras taucht die Wendung ‚die eigene Asche zu Berge tragen‘ noch ein drittes Mal in Za auf (vgl. NK 174, 11–15). Als traditionelles Symbol der Vergänglichkeit und Vernichtung ist Asche sehr präsent in der christlichen Liturgie und in der Bibel. Das Alte Testament bezeichnet den Menschen als „Erde und Asche“ (Genesis 18, 27; Die Bibel AT 1818, 17), irdisches und vergängliches Leben, und Hiob sagt von sich: „Man hat mich in den Dreck getreten, und gleich geachtet dem Staub und der Asche.“ (Hiob 30, 19; Die Bibel AT 1818, 546) Für Zarathustra hingegen ist Asche zugleich Zeichen der Vernichtung wie des neuen Lebens – auch das schließt an eine Tradition an: Asche symbolisiert seit früher Zeit die Hoffnung auf Auferstehung, so im Mythos von Phönix, der verjüngt aus seiner Asche hervorsteigt (siehe dazu NK 82, 23–25). Das Motiv der Flamme begegnet in Za häufig und in wechselnder Bedeutung; insbesondere sind Flamme und Feuer Zarathustra zugeordnet, wie das dem historischen Zarathustra entspricht. „Bist du nicht das Licht zu meinem Feuer?“ (207, 19), wendet er sich selbst an die Sonne. Und in einem nachgelassenen Notat aus der Zeit der Drucklegung von Za I heißt es: „‚Wann loderte je solche Flamme? (wie Zarathustra)“ (NL 1883, KSA 10, 9[49], 363, 2). Letzteres könnte man freilich auch auf das ZaWerk selbst beziehen, womit eine Stelle aus MA I 208 in den Blick rückt, die die schriftstellerische Arbeit als ein Weitertragen von Feuer charakterisiert: „Das glücklichste Loos hat der Autor gezogen, welcher, als alter Mann, sagen kann, dass Alles, was von lebenzeugenden, kräftigenden, erhebenden, aufklärenden Gedanken und Gefühlen in ihm war, in seinen Schriften noch fortlebe und dass er selber nur noch die graue Asche bedeute, während das Feuer überall hin gerettet und weiter getragen sei.“ (KSA 2, 171, 17–22) 36, 12–18 Glaubt es mir, meine Brüder! Der Leib war’s, der am Leibe verzweifelte, – der tastete mit den Fingern des bethörten Geistes an die letzten Wände. / Glaubt es mir, meine Brüder! Der Leib war’s, der an der Erde verzweifelte, – der hörte den Bauch des Seins zu sich reden. / Und da wollte er mit dem Kopfe durch die letzten Wände, und nicht nur mit dem Kopfe, – hinüber zu „jener Welt“.] Das Leiden an der irdischen Welt, die von Zarathustra jetzt als die alleinige Verheißung präsentiert wird, hatte ihn einst überhaupt erst zu den Hinterwelten getrieben. Legt das nicht einen Schatten auf seine Visionen? Lässt das die Pose des Leib und Erde Bejahenden nicht zu einem verzweifelten, trotzigen Dennoch erstarren? In diese Richtung weist ein Notat aus dem Winter 1882/83, das zwar das Ungenügen am Irdischen als einen „Fehlschluß“ identifiziert, aber dennoch den Verlustgedanken hervorkehrt: „Es ist ein O p f e r darin, diese Hinter-Welt a u f z u g e b e n. Männ-

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lichkeit! / Das Irdische genügt uns nicht – folglich das Himmlische – Fehlschluß.“ (NL 1882, KSA 10, 4[267], 183, 21–24) 36, 16 der Bauch des Seins redet gar nicht zum Menschen] Im Nachlass heißt es nachdrücklicher noch: „Entschlagt euch doch dieser falschen Sternguckerei! Der Bauch des Seins wird nie zu euch reden.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[279], 186, 4 f.) Die Metapher „Bauch des Seins“ ist nach Venturelli 2005, 87 exemplarisch für N.s „Suche nach einer neuen Sprache“, die seiner Auffassung vom Sein gemäß wäre. Sie ist gebildet durch den Zusammenschluss zweier wesensfremder, nämlich aus konkreter und abstrakter Sphäre bezogener Wörter. So entsteht eine prägnante Formel, die in diesem speziellen Fall einen Zusammenhang von Ontologischem und Leiblichem suggeriert. Begrifflich auflösen lässt sich diese Fügung nicht, da die beiden Substantiv-Komponenten semantisch so weit auseinanderliegen, dass sie sich schwerlich zu einer Bedeutung zusammenschließen lassen. Aber gerade in dieser unauflösbaren Spannung liegt die Leistung der Metapher, die sprachlich die Paradoxie eines sich selbst widerlegenden ‚leiblichen Metaphysischen‘ vor Augen rückt. Sie unterstreicht damit den Befund Zarathustras, dass die metaphysischen Entwürfe den Stempel des Leiblichen tragen und sich dadurch selbst disqualifizieren. Entsprechend konstatiert er wenig später: „der Bauch des Seins redet gar nicht zum Menschen, es sei denn als Mensch“ (36, 21 f.). Vgl. auch die Wendung „Bauch der Dinge“ (170, 5). 36, 34–37, 3 Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre ich die Menschen: nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern frei ihn zu tragen, einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft!] „Erde“ ist hier eingesetzt als eine Chiffre für all das, was Zarathustra dem Reich der Ideen, der Transzendenz und Metaphysik entgegensetzt. „Erde“ bezeichnet das Diesseitige, das, was sich auf den Körper und das Natürliche bezieht. Zarathustra zufolge sind das die einzig legitimen Bezugspunkte einer ‚redlichen‘, von Spekulation und Fiktion befreiten Philosophie – und daher auch der einzig mögliche Quell von Sinn. Deshalb präsentiert er das Bekenntnis zu „Leib und Erde“ (36, 33) als befreiend und sinngebend (vgl. dazu auch NK 14, 29 f.), wobei die Rede vom „Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft“, eines komischen Einschlags nicht entbehrt. Dazu trägt der sprichwörtliche Anklang bei, denn das Bild des Menschen, der seinen „ErdenKopf“ selbstbewusst vorzeigt, statt ihn „in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken“, ihn also durch den Glauben an Transzendentes zu vernebeln, entsteht in der Abwandlung des bis heute gebräuchlichen Phraseologismus „Den Kopf in den Sand stecken“, bzw. des Sprichworts „Er macht es wie der Vogel Strauss, der den Kopf, um den Feind nicht zu sehen, unter die Flügel oder in den Sand steckt.“ (Wander 1867–1880, 4, 898) Ein Nachlassnotat formuliert: „In den kleinsten Sand steckte mancher Vogel Strauß seinen Kopf.“ (NL 1882, KSA 10, 4[274], 185, 5 f.) Und

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in Za III Vom Geist der Schwere vergleicht Zarathustra den Menschen mit dem Vogelstrauß, der seinen Kopf dort allerdings nicht in Sand, sondern in „schwere Erde“ steckt: „Der Vogel Strauss läuft schneller als das schnellste Pferd, aber auch er steckt noch den Kopf schwer in schwere Erde: also der Mensch, der noch nicht fliegen kann.“ (242, 7–9) Und wenn Zarathustra in Za III Von den Abtrünnigen die Rückfälligkeit der Menschen in eine veraltete Religiosität anprangert, dann malt er aus, wie sie täglich den „Kopf tiefer in Nacht und Dunst stecken“ (228, 5 f.). 37, 4–7 Einen neuen Willen lehre ich die Menschen: diesen Weg wollen, den blindlings der Mensch gegangen, und gut ihn heissen und nicht mehr von ihm bei Seite schleichen, gleich den Kranken und Absterbenden!] Hatte Zarathustra sich bislang als Lehrer des Übermenschen vorgestellt (vgl. 14, 13), so tritt er hier nun auch als Lehrer eines „neuen Willen[s]“ auf. Schon in Za I Vorrede 3 erklärte er die Ausrichtung auf den Übermenschen zum volitionalen Entscheidungsakt, indem er imperativisch von seinen Zuhörern verlangt: „Euer Wille sage: der Übermensch s e i der Sinn der Erde!“ (14, 29 f. u. NK 14, 29 f.) Der Gedanke, dass der Wille die Wende in der Geschichte (der Menschheit) herbeiführen könne, wird in späteren Kapiteln bzw. Reden variierend aufgegriffen. Za I Von den drei Verwandlungen konturiert die Umstellung vom „du sollst“ zum „ich will“ als entscheidende Zäsur, die von Fremdbestimmung zu Selbstbestimmung überleiten und von einem passiv-erduldenden zu einem aktiv-wertsetzenden Verhalten führen soll (vgl. dazu NK 30, 13 f.). Und Za II Von der Erlösung deklariert den Willen zum „Befreier und Freudebringer“ (179, 28), dem allein es vorbehalten sei, das unabänderliche Ausgeliefertsein an das „es war“ der Vergangenheit zu überwinden (vgl. dazu NK 181, 16–20; zu Zarathustras eigenwilliger Version von ‚Willensfreiheit‘ siehe auch NK 111, 13–17). Unübersehbar bildet der Wille einen Zentralbegriff von Za. Insbesondere in Za II, wo er die meisten Okkurrenzen hat, wird er zur entscheidenden Triebkraft aufgewertet (zur philosophischen Konzeptualisierung des ‚Willens‘ als Ursprung alles dynamischen Geschehens vgl. Gerhardt 1996, 217–223). Und doch gibt es in Za nicht das eine fest umrissene Konzept des Willens, sondern Zarathustra spricht formelhaft von unterschiedlichen Willen: so vom „Wille[n] zur Wahrheit“ (vgl. NK 146, 2–7), vom realitätskonstituierenden „Willen zur Denkbarkeit“ (vgl. NK 146, 2–7), vom „Löwen-Wille[n]“ (133, 15) als dem „Wille[n] der Wahrhaftigen“ (133, 18), oder er beruft sich auf den eigenen „unbeugsamen Sonnen-Willen“ (219, 31 f.; vgl. dazu auch NK 4/2, 269, 17 f.). In Za II Von der Erlösung erhält der „schaffende Wille“ exzeptionelle Bedeutung, den er dort zu einem Befreier von der Vergangenheit ausruft (vgl. NK 181, 16–20). Der „Wille zur Macht“, obzwar Zarathustra ihn charakterisiert als „unerschöpfte[n] zeugende[n] Lebens-Wille[n]“ (147, 6) und als „Willen, Herr zu sein“ (148, 1 f.), erscheint diesen anderen Willen nebengeordnet; es kommt ihm in Za keine unangefochtene Vorrangstellung zu. Auch die auf den ersten Blick naheliegende Annahme, es handle sich bei den von

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Zarathustra ausgerufenen diversen Willen lediglich um verschiedene Bezeichnungen für den einen einheitlichen Willen (den „Willen zur Macht“), hält genauerer Überprüfung nicht stand. Dass sich die von Zarathustra aufgerufenen Willen nicht zur bruchlosen Synthese eines zentralen Einheitswillen zusammenfügen, ist schon daran zu sehen, dass Zarathustra auch negative Triebkräfte auf den Antrieb des Willens zurückführt, so etwa, wenn er sich gegen den verabscheuten „Wille[n] zur Gleichheit“ (129, 1) wendet. Bei näherem Hinsehen erweist sich Zarathustras ‚Willensphilosophie’ als ein schwankendes, volatiles Konstrukt. Wo Schopenhauer in der Welt als Wille und Vorstellung den Willen konsequent zum Grundprinzip alles Seienden erklärt, das nicht nur die vegetabilische und animalische Natur, sondern auch die anorganische Natur durchwirkt, unternimmt Zarathustra mehrfache Anläufe, um vom Primat des Willens ausgehend zentrale Triebkräfte des menschlichen Handelns und des Weltgeschehens zu bestimmen. ‚Wille‘ meint in seinen Reden wechselweise eine individuelle Triebkraft, einen kollektiven Einheitswillen (vgl. 99, 15) oder aber ein abstraktes Dominanzkonzept (dazu NK 111, 13–17) und universelles Prinzip allen Lebens (vgl. 149, 3 f.). Im Vagen lässt er in Za II Von der Erlösung kurioserweise gar, ob der Wille bereits vorhanden oder erst noch zu schaffen ist – in betonter Paradoxie nennt Zarathustra ihn dort einen „Befreier“, der selbst noch ein allererst zu befreiender „Gefangener“ (179, 30) sei. 37, 8–11 Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und die erlösenden Blutstropfen: aber auch noch diese süssen und düstern Gifte nahmen sie von Leib und Erde!] Es handelt sich um einen Rückverweis auf Zarathustras erste Rede auf dem Marktplatz, in der er vor den giftmischenden „Verächtern des Lebens“ warnt: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, b l e i b t d e r E r d e t r e u und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht. / Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren!“ (15, 1–6) Hier werden die vernebelnden Gifte, die den Menschen vom Diesseitigen abziehen, mit den „erlösenden Blutstropfen“, dem Blut des Erlösers Christus gleichgesetzt. Ein Notat aus dem Winter 1882/83 weist die Zeugniskraft des Blutes mit Bestimmtheit zurück: „Blut begründet nicht; Blut erlöst auch nicht.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[17], 113, 10). Zur Ablehnung der bezeugenden Kraft des Blutes vgl. auch NK 66, 2. 37, 12–15 Ihrem Elende wollten sie entlaufen, und die Sterne waren ihnen zu weit. Da seufzten sie: „Oh dass es doch himmlische Wege gäbe, sich in ein andres Sein und Glück zu schleichen!“ – da erfanden sie sich ihre Schliche und blutigen Tränklein!] Ähnlich spricht ein Nachlassnotat von den Fluchtbestrebungen der leidenden Menschheit: „Sie möchten gerne e n t l a u f e n: sie können aber zu anderen

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Sternen keine Wege finden, so glauben sie, es gäbe unterirdische Wege – ganz andere Arten und gleichsam Schleichwege.“ (NL 1882, KSA 10, 4[264], 182, 21–183, 1) 37, 15 erfanden sie sich ihre […] blutigen Tränklein] In Anspielung auf das Blut Christi bzw. das Abendmahl heißt es in Matthäus 26, 27 f.: „Und er nahm den Kelch, und dankte, gab ihnen den, und sprach: Trinket alle daraus; Das ist mein Blut des neuen Testaments“ (Die Bibel NT 1818, 37). 37, 19–21 Milde ist Zarathustra den Kranken. Wahrlich, er zürnt nicht ihren Arten des Trostes und Undanks. Mögen sie Genesende werden und Überwindende und einen höheren Leib sich schaffen!] Später wird Zarathustra Härte und Unnachgiebigkeit predigen und den Leitspruch ausgeben, „was fällt, das soll man auch noch stossen!“ (Za III Von alten und neuen Tafeln 20, 261, 28 f.) 37, 22–24 wenn er zärtlich nach seinem Wahne blickt und Mitternachts um das Grab seines Gottes schleicht] Es könnte sich um die Kontrafaktur eines Bildes aus Platons Phaidon handeln. Dort wird von der nicht geläuterten Seele gesagt, man könne sehen, wie sie nach dem Tod des Menschen „an den Grabmälern und Gräbern sich umtreibt“ (vgl. Phaidon 81c–d; Platon 1852–1864, 1, 472), da sie sich wieder mit dem Körper verbinden wolle. Ist es im Phaidon die Seele, die sich nach dem Körper zurücksehnt, so ist es hier allerdings der Mensch, der sich zurücksehnt nach seinen metaphysischen Fiktionen. 37, 26–28 Vieles krankhafte Volk gab es immer unter Denen, welche dichten und gottsüchtig sind; wüthend hassen sie den Erkennenden und jene jüngste der Tugenden, welche heisst: Redlichkeit.] Dichten und das Verlangen nach Gott werden hier miteinander verknüpft und kontrastiert mit der Redlichkeit des Erkennenden. Dichten ist dabei nicht als poetisch-künstlerisches Schaffen verstanden, sondern als ein Erzeugen schädlicher Fiktionen, die den Menschen so vernebeln, dass er das eigentliche, das leiblich-diesseitige Fundament seines Daseins nicht mehr zu erkennen vermag. Diesem Verständnis nach sind gerade auch Philosophen und Religionslehrer zu den Dichtern zu rechnen, sofern sie „Hinterwelten “ ausrufen. In Za II Von den Dichtern hält Zarathustra in Anspielung auf den Chorus mysticus aus Faust II generalisierend fest: „alle Götter sind Dichter-Gleichniss, Dichter-Erschleichniss“ (164, 28 f.). Wie so vieles hat aber auch das Verständnis des Dichters und des Dichtens in Za noch eine andere Seite. In Za II Von der Erlösung erklärt Zarathustra das dichterische Vermögen des Menschen zur erlösenden Kraft. Dichten bedeutet ihm dort nicht das Erzeugen von „farbige[m] Rauch“ (35, 7 f.), sondern die sinnstiftende Fähigkeit, historische Kontingenz retrospektiv aufzuheben: „Und wie ertrüge ich es, Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch Dichter und Räthselrather und der Erlöser des Zufalls wäre!“ (179, 23–25) Za III Von alten und neuen Tafeln 3 greift das bekräftigend auf, wobei dort dann Dichten und

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Schaffen in eins gesetzt werden: „Ich lehrte sie all m e i n Dichten und Trachten: in Eins zu dichten und zusammen zu tragen, was Bruchstück ist am Menschen und Räthsel und grauser Zufall, – / – als Dichter, Räthselrather und Erlöser des Zufalls lehrte ich sie an der Zukunft schaffen, und Alles, das w a r –, schaffend zu erlösen.“ (248, 26–249, 2) 37, 28 jene jüngste der Tugenden, welche heisst: Redlichkeit] Gemeint ist damit die Redlichkeit des „Erkennenden“, also eine intellektuelle Redlichkeit, die den Glauben verwirft und stattdessen auf „Zweifel“ (37, 33) und Skepsis baut. In diesem Sinn fordert ein Notat aus dem Sommer 1882 Redlichkeit als eine Haltung unbedingter Vorurteilslosigkeit, die dort mit Gerechtigkeit gleichgesetzt wird: „G e r e c h t sein gegen Alles, über Neigung und Abneigung hinweg, sich selber in die Reihe der Dinge einordnen, ü b e r s i c h sein, die Ü b e r w i n d u n g u n d d e r M u t h nicht nur gegen das Persönlich-Feindliche, Peinliche, auch in Hinsicht auf das Böse in den Dingen, R e d l i c h k e i t, selbst als Gegnerin des Idealismus und der Frömmigkeit, ja der Leidenschaft, sogar in Bezug auf die Redlichkeit selber“ (NL 1882, KSA 10, 1[42], 20, 12–18). Intellektuelle Redlichkeit wird insbesondere in Za IV als spezifisches Kennzeichen Zarathustras vorgestellt. In Za IV Ausser Dienst spricht ihm der alte Papst „übergrosse Redlichkeit“ (325, 9) zu und meint damit die unbestechlich kritische Haltung gegenüber Religion und Moral. Und in Za IV Der Blutegel erläutert der Gewissenhafte des Geistes, der sich als Adept von Zarathustras Lehre versteht, sein Konzept einer redlichen Wissenschaft, die streng positivistisch verfährt: „es ekelt mich aller Halben des Geistes, aller Dunstigen, Schwebenden, Schwärmerischen. Wo meine Redlichkeit aufhört, bin ich blind und will auch blind sein. Wo ich aber wissen will, will ich auch redlich sein, nämlich hart, streng, eng, grausam, unerbittlich.“ (312, 4–8) Redlichkeit bedeutet demnach eine Wahrhaftigkeit des Erkennens und eine Unbedingtheit, die keine Illusionen und keine Unverbindlichkeit zulässt. Zugleich werfen die Worte des Gewissenhaften aber auch ein kritisches Licht auf die Redlichkeit des Erkennenden als einen Rigorismus, der auf blind machenden Ausgrenzungen beruht. Die „sprachliche Seite der Redlichkeit“ hat Tolksdorf 2016, 39 betont und Zarathustras ‚redliche Rede‘ als Ausdrucksweise des gesunden Leibs kenntlich gemacht, die beansprucht, ihre Legitimität in sich zu tragen und daher einer logisch-verstandesmäßigen Begründung nicht bedarf. Grundsätzlicher noch versteht Vanessa Lemm 2018, 289 N.s Redlichkeit als „idea of embodied philosophical truth“. Nicht als „jüngste der Tugenden“, aber doch als „eine der jüngsten Tugenden“ wird der Begriff der Redlichkeit, der von M an häufig in N.s Schriften auftaucht und als ein Schlüsselbegriff fungiert für N.s Selbstprädikatierung seiner Philosophie (vgl. dazu etwa Nancy 2003), in M 456 vorgestellt: „eine der jüngsten Tugenden, noch wenig gereift, noch oft verwechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst, – etwas Werdendes, das wir fördern oder hemmen können, je

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nachdem unser Sinn steht“ (KSA 3, 275, 25–29). Ein Nachlassnotat aus dem Jahr 1885 bezeichnet Redlichkeit dann als „letzte Tugend“ (KGW IX 2, N VII 2, 108, 2; vgl. NL 1885/86, KSA 12, 1[145], 44, 3) des modernen Menschen. 38, 1–3 Wahrlich nicht an Hinterwelten und erlösende Blutstropfen: sondern an den Leib glauben auch sie am besten, und ihr eigener Leib ist ihnen ihr Ding an sich.] Zarathustra fällt aus der Rolle des ‚persischen Weisen‘, denn er greift mit der Erwähnung des „Ding an sich“ einen philosophischen Diskurs jüngeren Datums auf, der unmittelbar mit dem Namen Kants verknüpft ist. Die Idee eines „Ding an sich“, einer Wirklichkeit, die unabhängig von aller Erfahrungsmöglichkeit für sich selbst existiert, bildet für Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft trotz des mit ihr einhergehenden Erkenntnisproblems eine Notwendigkeit des Denkens, weil sonst „Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint“ (AA III, 17). Die daraus resultierende Doppelsinnigkeit des „Ding an sich“, das einerseits auf ein außerhalb des Bewusstseins liegendes Sein zielt, andererseits aber als erkanntes Objekt einen Inhalt des Bewusstseins vorstellt, zog viel Kritik und Häme auf sich. Schelling sah darin „ein wahres hölzernes Eisen; denn inwiefern es Ding [Objekt] ist, ist es nicht an sich, und wenn es an sich ist, ist es nicht Ding“ (Schelling 1856–1861, 10, 84). Auch N., in dessen Bibliothek sich Rudolf Lehmanns Dissertation Kant’s Lehre vom Ding an sich (1878) findet, hat diese Widersprüchlichkeit aufgespießt (dazu eingehend Riccardi 2009b u. 2010). In JGB 16 erklärt N. das ‚Ding an sich‘ zur „contradictio in adjecto“ (KSA 5, 29, 25 f.). Vgl. zu den wiederholten Anläufen N.s, die logische Inkonsistenz von Kants Begriff des „Ding an sich“ auszustellen auch NK 5/1, 16, 12 f.; NK 5/1, 29, 24–28 und NK 6/1, 130, 1–3. Zarathustras Fundamentalkritik setzt indes nicht bei den logischen und systematischen Schwierigkeiten an, die der Begriff aufwirft, sondern bei den Antrieben, die ihm zugrunde liegen. Er diffamiert die Rede vom „Ding an sich“, indem er ihr Motive unterstellt, die sich nicht mit der Annahme einer von der Erfahrung unabhängigen Realität vereinbaren lassen. Demnach folgen die Philosophen, die das Ding an sich propagieren, nur ihrem eigenen kranken Leib, von dem sie durch den kompensatorischen metaphysischen Entwurf abzulenken suchen, an den sie selbst nicht einmal glauben. Die Formulierung „ihr eigener Leib ist ihnen ihr Ding an sich“ stellt diesen Widerspruch pointiert heraus und führt die Idee des „Ding an sich“ ad absurdum. Einen Vorläufer hat die Polemik in MA I 16 insofern, als N. dort unter der Überschrift „E r s c h e i n u n g u n d D i n g a n s i c h“ ebenfalls auf eine falsche philosophische Haltung gegenüber der Wirklichkeit abhebt. Er referiert dort zunächst die Ansicht von Kritikern des metaphysischen Denkens („strengere Logiker“; KSA 2, 36, 15), die gezeigt hätten, „dass in der Erscheinung eben durchaus n i c h t das Ding an sich erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei“ (KSA 2, 36, 19–21). Danach wirft er den Anhängern der Ding-an-sich-Philosophie vor, sie würden die Welt der Erscheinun-

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gen fahrlässig vernachlässigen, weil sie in ihr lediglich etwas Sekundäres sähen: „Die Philosophen pflegen sich vor das Leben und die Erfahrung – vor Das, was sie die Welt der Erscheinung nennen – wie vor ein Gemälde hinzustellen, das ein für alle Mal entrollt ist und unveränderlich fest den selben Vorgang zeigt: diesen Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit einen Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gemälde hervorgebracht habe: also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt.“ (KSA 2, 36, 6–14) Zarathustra kreidet den ‚Hinterweltlern‘ indes gerade nicht einen distanzierten Blick auf die Realität an, sondern wirft ihnen vor, sich von ihrem leidvoll drängenden Leib dominieren zu lassen und diesen doch gleichzeitig zu verleugnen. 38, 8 Simme] Ein Druckfehler, es muss heißen „Stimme“ (Nietzsche [1883a], 41). 38, 9 f. Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommne und rechtwinklige: und er redet vom Sinn der Erde.] Die Rede vom „rechtwinkligen Leib“ ist in Za noch zwei weitere Male anzutreffen. In Za I Von Kind und Ehe fordert Zarathustra: „Über dich sollst du hinausbauen. Aber erst musst du mir selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele.“ (90, 14 f.) Und in Za IV Die Begrüssung setzt er seine Zukunftserwartungen auf „[s]olche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele“ (351, 18). Außerdem hält ein nachgelassenes Notat aus dem Winter 1882/83 fest: „rechtwinklig am Leibe, mit starkem Nacken“ (NL 1882/ 83, KSA 10, 4[222], 173, 22). Als Quelle dieser auf den ersten Blick befremdlichen Formulierung konnte Orsucci 2019, 184 f. eine Passage aus Leopold Schmidts Die Ethik der alten Griechen ausmachen, einem Werk, das N. in der Za-Zeit intensiv konsultierte. Darin wird ‚Rechtwinkligkeit‘ vorgestellt als ein Ausdruck für den körperlich und seelisch gesunden Menschen. N. hat die betreffende Stelle in seinem Exemplar mit einem Randstrich versehen: Die vorattische Periode kannte den Begriff eines in körperlicher und geistiger Beziehung tadellosen Normalmenschen, denn sie fasste beides gern als vereinigt. Es entsprach den mathematischen Anschauungen, in welchen sie sich gern bewegte und welche sich auch in der pythagoreischen Zahlenlehre Bahn brachen, dass sie das Bild zu seiner Bezeichnung dem Grundrisse eines wohlconstruirten Tempels entlehnte und ihn rechtwinklig – τετράγωνος – nannte, damit das Fehlen jeder Schiefheit und Unebenheit in seinem Sein hervorhebend. Ein Beispiel bieten die Verse des Simonides, die Platon im Protagoras (339b) erwähnt und in denen es heisst, es sei schwer ein wahrhaft tüchtiger, an Händen und Füssen und an seinem Sinn rechtwinkliger, ohne Tadel befundener Mann zu sein; offenbar erfreuten sich dieselben einer gewissen Berühmtheit, denn Aristoteles spielt sowohl in der nikomachischen Ethik (1100b21) als in der Rhetorik (1411b26) darauf an und giebt in der letzteren eine Erklärung des auffallenden Ausdrucks, den er auf den Begriff der Vollkom-

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menheit zurückführt.“ (Schmidt 1882, 1, 309) Tatsächlich bezieht Aristoteles in seiner Rhetorik (Buch III, Kap. 11; 1411b, 26 f.) die geometrische Form des Quadrats (dessen Rechtwinkligkeit er nicht eigens zur Sprache bringt) auf den rechtschaffenen Mann (ἀγαθὸν ἄνδρα) und erläutert dazu: „οἷον τὸν ἀγαθὸν ἄνδρα φάναι εἶναι τετράγωνον μεταφορά, ἄμφω γὰρ τέλεια“ (Aristoteles 1831, 131; „So z. B. den tüchtigen Mann einen q u a d r a t e n Mann nennen ist Metapher; denn Beides ist in sich vollkommen“, Aristoteles 1833, 261). Ein Nachlassnotat aus dem Frühjahr 1884 hält fest: „Für einen vollen und rechtwinkligen M〈enschen〉 ist eine so bedingte und verklausulirte Welt, wie die Kants, ein Greuel. Wir haben ein Bedürfniß nach einer groben Wahrheit; und wenn es diese nicht giebt, nun, so lieben wir das Abenteuer und gehen aufs Meer“ (NL 1884, KSA 11, 25[337], 100, 6–10). Wenn die ‚Rechtwinkligkeit‘ etwa drei Jahre später ein nächstes und letztes Mal in einem nachgelassenen Notat und in N.s Werk überhaupt auftaucht, dann erhält sie einen veränderten Sinn und deutlich negativen Beiklang: „wäre / es wünschbar, daß die ‚achtbarste‘ dh. langweiligste Species Mensch übrig bliebe? die r˹R˺echt-/winkligen, u.˹die˺ t˹T˺ugendhaften, die Biedermänner, die Braven, die Geraden, die ‚Hornochsen‘“ (KGW IX 7, W II 3, 60, 52–56; vgl. NL 1887/88, KSA 13, 11[325], 138, 14–17). Galt schon zu wilhelminischer Zeit militärische Strammheit als vorbildlich, wurde ‚Haltung‘ zu einem Schlüsselbegriff nationalsozialistischer Pädagogik. Dabei bezog man sich auf Zarathustras Formel „Rechtwinklig an Leib und Seele“. So etwa Alfred Rosenberg, der führende Ideologe der NSDAP, der in Der Mythus des 20. Jahrhunderts einen neuen Menschentypus beschwört: „D i e s t ä r k s t e Persönlichkeit ruft heute nicht mehr nach Persönlichkeit, sond e r n n a c h T y p u s; der völkische, erdverwurzelte Lebensstil, ein neuer deutscher Menschentyp, ‚gradwinklig an Leib und Seele‘, entsteht, ihn zu bilden ist die Aufgabe des 20. Jahrhundert. Die echte Persönlichkeit von heute sucht gerade in ihrer Höchstentwicklung jene Züge plastisch zu gestalten, jene Gedanken am lautesten zu verkünden, die sie als Züge des erahnten neuen und doch uralten deutschen Menschentypus erlebt, v o rerlebt hat. Frei werden nicht v on, sondern f ü r etwas!“ (Rosenberg 1930, 531) Einfluss hatten solche Gedanken auf die rassenhygienische Praxis der Haltungserziehung (vgl. dazu Warneken 1990).

Von den Verächtern des Leibes. Wie schon die vorangehende Polemik gegen die Hinterweltler ist auch dieses Kapitel getragen von der Kritik an einer philosophischen Auffassung, der zufolge Geist (als Denken, Vernunft, Bewusstsein) den Menschen über die unmittelbare sinnliche Erfahrung und die körperliche Welt hinaushebt. Gegen die Reflexions-

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philosophie, die an christlich-platonische Denkrichtungen anknüpft, und gegen die damit einhergehende Anthropologie, die den Menschen als vernünftiges Wesen versteht, setzt Zarathustra den nicht zu vereinnahmenden Leib, der sich als produktiver Grund des Seins allen Normierungen und Kategorisierungsversuchen verweigere. Er plädiert also dafür, die cartesianische Aufspaltung des Menschen in Körper und Geist bzw. Leib und Seele aufzuheben. Damit schließt seine Rede über die Leib-Verächter inhaltlich unmittelbar an die vorhergehende „Von den Hinterweltlern“ an, in der er von seinen Zuhörern die Hinwendung zu Erde und Leib fordert. Freilich ändert er die Perspektive, indem er nun das „schaffende, wollende, werthende Ich“, das er schon zuvor zum „Maass und […] Werth der Dinge“ (36, 28) erklärte, vom Leib ausgehend genauerer Betrachtung und Modifikation unterzieht. Die polemische Abwehr der Verächter des Leibes, die im vorhergehenden Kapitel auf deren metaphysische Entwürfe zielte, bietet ihm nun Anlass zu einem alternativen anthropologischen Entwurf. Ausgehend von den physisch-biologischen Gegebenheiten des Menschen erklärt er den Leib zum unhintergehbaren und einenden Fundament des menschlichen Daseins: „Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem“ (39, 7 f.). Als Entwurf einer am Leib ansetzenden Anthropologie und als Baustein zu einer neuartig radikalen ‚Leibphilosophie‘ hat Zarathustras gegen die Leibverächter gerichtete Rede reges Interesse erfahren. Sie steht im Mittelpunkt einer ganzen Reihe von Forschungsbeiträgen: Schipperges 1975, Schipperges 1981, Grätzel 1984, Caysa 1998a, Gerhardt 2000b, Venturelli 2005, Grätzel 2006, 117–159, Daigle 2011, Loukidelis 2012, Pieper 2012, Land 2013, Heit 2013, Scolari 2018; zur Rezeption durch Heidegger und Eugen Fink siehe außerdem Franz 2008, zur Rezeption durch Ortega y Gasset vgl. Conill Sancho 2001. Zumeist wird die Rede in einen Zusammenhang gestellt mit der im Nachlass ab Sommer 1884 mehrfach begegnenden Formel vom „Leitfaden des Leibes“ (erstmals in NL 1884, KSA 11, 26[374], 249, 24) sowie mit dem in einem Notat vom August/September 1885 ausgerufenen Motto „vom Leibe ausgehen u. ihn als Leitfaden zu benutzen“ (KGW IX 4, W I 7, 70, 34; vgl. NL 1885, KSA 11, 40[15], 635, 18 f.). Gerhardt 1989, 278, Fn. 52 sieht damit den Leib gleichsam zum „Faden der Ariadne“ erhoben, der es dem Menschen ermöglichen soll, sich „im Labyrinth des Lebens zurechtzufinden“. Und Mauerer 1983, 503 erklärt die Abwendung von Vernunft und Bewusstsein und die Hinwendung zum Leib gar zu „Nietzsches Version der Copernikanischen Wende“. Allerdings sind die Radikalität und Tragweite von Zarathustras Zurückweisung der Vernunft durchaus umstritten. Laut Caysa 1997, 296 ging es N. lediglich „um die Befreiung der Vernunft und des Leibes von der Vorherrschaft der kleinen, bloß szientistisch-technischen Vernunft“, nicht aber um eine prinzipielle Befreiung des Leiblichen vom Primat der Vernunft. Zarathustras Rede, so Caysa 1998, 37 f., setze den Leib als einen „Grenz- und Korrekturbegriff“ ein. Hingegen

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spricht Heit 2013, 179 grundsätzlicher von der Bestrebung zu einer „Vernatürlichung des Subjekts“ und Pieper 1990, 151 betont den Bruch mit der traditionellen Philosophie und ihrer Ausrichtung am Primat des Geistigen. Diskutieren kann man darüber, wie weit die systematisch-philosophische Erwartung trägt, mit der sich Gerhardt 2000b und Loukidelis 2012 der Leibverächter-Rede annähern. Denn auch wenn Zarathustra auf dem Vorrang des Leibes insistiert, liefert er keineswegs eine geschlossene Leib-Theorie oder -Philosophie, sondern bietet einzelne Bausteine zu einer solchen. Zu fragen wäre, ob nicht eher die Lust an einer provokativen anthropologischen Umwertung treibend ist als das Streben nach dem Entwurf eines tragfähigen Gegenkonzepts. Schipperges 1981, 360 spricht von „Gedanken-Experimente[n]“ und betont: „Alle Ausführungen bleiben in der Schule des Verdachts“. Fest steht jedenfalls, dass Zarathustra ein Programm der Entwertung philosophischer und christlicher Zentralbegriffe verfolgt, denen er eine schädigende und krankmachende Wirkung attestiert. Entsprechend setzt er bei diesen Begriffen an, die er aufgreift, um sie entgegen ihrer konventionellen Bedeutung semantisch neu zu füllen. Insbesondere sind es Zentralbegriffe der Transzendental- und Reflexionsphilosophie wie Seele, Vernunft, Ich und Selbst, die er nachdrücklich verwendet und dabei ebenso nachdrücklich semantisch neu bestimmt: „Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe“ (39, 8 f.); „[d]er Leib ist eine grosse Vernunft“ (39, 10); „Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist“ (39, 21). Diese gewaltsamen begrifflichen Umbesetzungen verursachen Unschärfen, die einen wesentlichen Reiz und auch eine wesentliche Verständnisschwierigkeit der Rede von den Leibverächtern ausmachen. Wie eine ganze Reihe von Zarathustras Lehrmonologen weist auch dieser einen ‚schielenden‘ Adressatenbezug auf. Zarathustra richtet sich erklärtermaßen an die Verächter des Leibes, ihnen will er sein „Wort sagen“ (39, 2; 40, 19). Tatsächlich spricht er jedoch zunächst und im überwiegenden Teil der Rede zu einem „Bruder“ (39, 12 f.), und erst ab 40, 25 apostrophiert er dann tatsächlich die Leibverächter, ohne allerdings eine wirkliche Botschaft für sie zu haben. Denn er hält sie für unbelehrbar und versucht keineswegs, sie von ihrer Irrmeinung abzubringen, sondern bestärkt sie im Gegenteil noch in ihrer als lebensfeindlich disqualifizierten Haltung, die direkt in die Selbstvernichtung münden müsse: „Untergehn will euer Selbst, und darum wurdet ihr zu Verächtern des Leibes!“ (40, 33 f.) Die scheinbare Adressierung der Rede an die Leibverächter stellt somit einen rhetorischen Kunstgriff vor; tatsächlich zielt Zarathustra in seiner Wirkungsabsicht nicht auf die im Plural mit „ihr“ angesprochenen ‚Leibverächter‘, sondern auf das im Singular mit „du“ oder „mein Bruder“ (39, 12 f.) angesprochene Gegenüber. Die Verächter des Leibes dienen ihm als Kontrastfolie. Indem er ihre Haltung als Selbstdestruktion entlarvt, auf Schwäche, Unvermögen und „Neid“ gegenüber

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dem Leben zurückführt, erweist er sie als untaugliche Vorbilder und installiert seine eigene Lehre als leuchtendes Gegenmodell. In geballter Form ruft Zarathustra grundlegende Konzepte der abendländischen Philosophie in Erinnerung – den Dualismus von Leib und Seele, die Idee der Autonomie des Ich und der Rationalität als Kern des Menschen –, um sie als falsch und schädlich zu verwerfen. Den Leib-Seele-Dualismus verunglimpft er als ein Denkmuster von ‚Kindern‘, also von Naiven und Unwissenden. Der „Wissende“ dagegen lebe in dem Bewusstsein, dass dem Leib der Vorrang gebühre, ja dass ‚Seele‘ „nur ein Wort [sei] für ein Etwas am Leibe“ (39, 8 f.). Analog verhalte es sich mit den Vorstellungen von Rationalität und Autonomie. Zwar leugnet Zarathustra nicht, dass der Mensch über Verstand („Sinn und Geist“) verfügt, aber er betrachtet sie als untergeordnete „Werkzeuge“ des Leibes. Und auch die vermeintliche Handlungsmacht des Ich gilt ihm als Illusion: „‚Ich‘ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich“ (39, 15–17). Zarathustra gibt seinen Adressaten zu verstehen, dass sie einem verzerrten Selbstbild aufsitzen und sich über die Antriebe ihres Handelns täuschen, wenn sie ihr Ich für souverän erachten. Tatsächlich stelle nicht das Ich, sondern der Leib die zentrale, aller Reflexion vorgelagerte Steuerungsinstanz des Subjekts dar. Zarathustra präsentiert sein anthropologisches Konzept als Lehre von den Instanzen des Ich, die er personifiziert und in ein hierarchisches Verhältnis zueinander setzt. Ähnlich wie es auch für Schopenhauers philosophischen Stil charakteristisch ist, den man in dieser Hinsicht als Vorbild vermuten kann, verwendet die Rede zahlreiche Anthropomorphismen und evoziert so den Eindruck, als würden die aufgerufenen ‚Instanzen‘ des Subjekts – in erster Linie der „Leib“ und das „Selbst“ – als eigenständige Personen agieren und interagieren. Diese metaphorische Dramatisierung des physiopsychischen Geschehens macht anschaulich, wo die eigentliche Entscheidungsgewalt im Subjekt liegt, nämlich bei der übergeordneten Instanz des Selbst, das sich souverän über das Ich erhebt und es verlacht (vgl. 40, 9). Insbesondere die Unterscheidung von großer und kleiner Vernunft, die sich an keiner anderen Stelle in N.s Werk findet, hat in der Forschung starke Aufmerksamkeit erfahren (dazu eingehend Gerhardt 2000b u. 2011a). Die „kleine Vernunft“ meint, wie Zarathustra erläutert, das, was der Mensch als ‚Geist‘ bezeichnet – und somit das, was der Mensch herkömmlich als seine Vernunft betrachtet. Die Provokation von Zarathustras Rede liegt darin, dass er dieser „kleinen Vernunft“ eine „große Vernunft“ gegenüberstellt, die er im Leib situiert, der ja nach traditioneller philosophischer und christlicher Auffassung den Gegenpol bildet zu Vernunft und Geist. Damit stellt er den Körper-Geist-Dualismus auf den Kopf und mit ihm die gesamte rationalistische Tradition seit Descartes und hält ihr als Gegenentwurf eine leibgebundene Vernunft entgegen. Indem er die Vernunft in den Körper verlagert,

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negiert er ihre regulierende Funktion und macht umgekehrt den Leib zur übergeordneten, den ganzen Menschen beherrschenden ‚Schaltstelle‘. Ist es nach Kants Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft die praktische Vernunft, die durch Begriffe das Wollen und Handeln bestimmt, so unterläuft Zarathustra diese Vorstellung, denn bei ihm entstehen die Begriffe auf das Kommando des Leibes hin (vgl. 40, 11 f.). Der Unterscheidung von „grosser Vernunft“ und „kleiner Vernunft“ entspricht die Unterscheidung von Selbst und Ich, die in der Leibverächter-Rede scharfe Abgrenzung erfahren. Dabei wird auch der Begriff des Selbst gegen die philosophische Tradition gebürstet, wie sie maßgeblich durch Leibniz und Kant markiert ist: Nach Leibniz zeugt die Fähigkeit der Reflexion auf sich selbst von Ich-Bewusstsein. Und für Kant ist das Selbst der Bezugspunkt der kognitiven Akte; er unterscheidet zwischen bestimmendem Selbst als Denken und bestimmbarem Selbst als denkendem Subjekt. Im Gegensatz dazu versteht Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung das Selbst als den Inbegriff aller volitionalen Akte: „das eigentliche Selbst ist der Wille zum Leben“ (WWV II, § 48; Schopenhauer 1873–1874, 3, 695). Hieran knüpft Zarathustra insofern an, als sein Begriff des Selbst nichts mit Selbstreflexivität und Rationalität zu tun hat, sondern vielmehr als Gegenbegriff fungiert zu dem sich autonom wähnenden Ich, das ihm, analog zur „kleinen Vernunft“, nur als etwas Sekundäres gilt, dem etwas Größeres, Bestimmendes vorausgeht: Das Selbst, das, wie Zarathustra sagt, im Leib „wohnt“, Leib „ist“ (40, 5). Für die statuierte Überlegenheit des Selbst über das Ich findet er deutliche Worte; er nennt es „des Ich‘s Beherrscher“ (40, 2), es gilt ihm als „ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser“ (40, 4). Das Selbst bildet den Grund aller Empfindungen, den Auslöser aller Gedanken und den „Einbläser“ (40, 12) der Begriffe, an denen sich das Ich ausrichtet. Und Zarathustra führt überdies alle Wertsetzung und alle Moral auf das Selbst zurück. Im „schaffenden Selbst“ sieht er den großen Impulsgeber des Menschen. Während bei den Verächtern des Leibes diese schaffende Instanz degeneriert sei, bilde sie für diejenigen, die sich zur ‚großen Vernunft‘ des Leibes bekennen, den Motor, um „über sich hinaus zu schaffen“ (40, 28 f.). Doch nicht nur seine Souveränität, sondern auch seine Unzugänglichkeit, sein verstandesmäßiges Entzogensein zeichnet das Selbst aus. Weil es Begriff und Verstand vorausgeht, kann es nicht erkannt, nicht rational gefasst werden. Indem Zarathustra das unzugängliche Selbst zur zentralen anthropologischen Kategorie ausruft, handelt er sich daher zugleich das Problem der Plausibilisierung der eigenen Argumentation ein. Zarathustras leibphilosophisches Vernunft-Verdikt hat starke und vielfältige Nachwirkungen erfahren, nicht zuletzt fand es Widerhall in der nationalsozialistischen Ideologie. Ein 1940 unter dem Titel Nietzsche und das Rasseproblem in der Monatsschrift für den nordischen Gedanken erschienener Aufsatz preist N. als „Überwinder des Intellektualismus“, der Biologie und Physiologie für die Philoso-

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phie entdeckt und „den Leib in seiner bestimmenden und umfassenden Bedeutung“ in den Blick gerückt habe (Römer 1940/41, 60). Im selben Jahr spitzt Martin Heidegger in seiner in Freiburg gehaltenen Vorlesung Nietzsche: Der europäische Nihilismus N.s Leibphilosophie auf eine Metaphysik des Leibes zu, die „gegenüber der Anmaßung des absoluten Geistes, der rationalitas, die animalitas in den entscheidenden Vorrang“ bringe. Heidegger setzt diese „animalitas“ kurzerhand mit dem Willen zur Macht in eins und erklärt die Rationalität zu deren untergeordnetem Attribut: „Die animalitas jedoch wird nicht mehr gedacht als das Ständige der Sinnlichkeit, sondern als das metaphysisch Wesentliche, als Wille zur Macht, und die ratio ist nur eine Art des Willens zur Macht, und d. h. eine Weise der Tierheit.“ (HGA 48, 267) Zarathustras Kritik an der Leibvergessenheit und seine Ausrufung der „grossen Vernunft“ des Leibes stellt einen anticartesianischen Paukenschlag vor, der vielfältige Bestrebungen zur Aufwertung der Leiblichkeit vorbereitet, bis hin zu einer ‚Phänomenologie des Leibes‘ wie sie von Kulturphilosophen wie Manfred Frank oder Soziologen wie Karl Dürkheim im Gegenzug zur logisch-rationalen Epistemologie ausgerufen wurde. Innerhalb von N.s Werk bildet die Leibverächter-Rede den Auftakt zu einer Reihe von Nachlassnotaten der Jahre 1884 und 1885, in denen die Formulierung „am Leitfaden des Leibes“ einsteht für das Programm eines alternativen Forschens und Nachdenkens über den Menschen. So hält N. im Sommer 1884 fest: „Aus der Selbstbespiegelung des Geistes ist noch nichts Gutes gewachsen. Erst jetzt, wo man auch über alle geistigen Vorgänge sich am Leitfaden des Leibes zu unterrichten sucht z. B. über Gedächtniß, kommt man von der Stelle.“ (NL 1884, KSA 11, 26[374], 249, 22–25) Während dieses Notat den Eindruck erweckt, als bilde die am „Leitfaden des Leibes“ ausgerichtete Philosophie bereits die gängige Praxis anthropologischer Forschung, vermittelt das nur wenig später niedergeschriebene Notat NL 1884, 26[432] den konträren Eindruck, dass es sich dabei um einen allein von N. beschrittenen Sonderweg handele. Dort nämlich ist der Sprecher einerseits um Einordnung in die Strömungen der zeitgenössischen Philosophie bemüht und weist andererseits die Orientierung „am Leitfaden des Leibes“ als eigenen Ansatz aus. Unter Berufung auf den Mathematiker und Physiker Roger Boscovich (1711– 1787), den er zum „großen Wendepunkte“ in den (Lebens-)Wissenschaften ausruft (zu N. u. Boscovich vgl. etwa Whitlock 1996 u. 1999, Abel 1998, 85–90, Gori 2007), erklärt er, dass er „alles Ausgehen von der Selbstbespiegelung des Geistes für unfruchtbar halte und ohne den Leitfaden des Leibes an keine gute Forschung glaube.“ (NL 1884, KSA 11, 26[432], 266, 6–17) Noch einen Schritt weiter geht ein Notat aus dem Sommer 1885, das die intellektuelle Superiorität des Leibes statuiert: „dieses ganze Phänomen ‚Leib‘ ist nach intellectuellem Maaße gemessen / unserem Bewußtsein, ˹unserem ‚Geiste‘˺ unsern bewußten Denken, Fühlen, Wollen so über=/23/legen, wie Algebra dem Einmaleins.“ (KGW IX 4, W I 6, 21, 42–44 u. 23, 2; vgl. NL 1885, 37[4], KSA 11, 578, 24 f.)

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39, 1–4 Von den Verächtern des Leibes. // Den Verächtern des Leibes will ich mein Wort sagen. Nicht umlernen und umlehren sollen sie mir, sondern nur ihrem eignen Leibe Lebewohl sagen – und also stumm werden.] Schon zuvor spricht Zarathustra warnend von den „Verächter[n] des Lebens“ (15, 5) und von denen, die „Leib und Erde“ (37, 8 f.) verschmähten, weil sie selbst „Kranke und Absterbende“ (37, 9) seien. In widersinniger und vergeblicher Weise suchten sie sich loszumachen von dem Fundament ihrer Existenz. „Ihrem Leibe und dieser Erde nun entrückt wähnten sie sich, diese Undankbaren. Doch wem dankten sie ihrer Entrückung Krampf und Wonne? Ihrem Leibe und dieser Erde.“ (37, 16–18) Nicht nur sich selbst verderblich und ohne Vision seien sie, sondern überdies auch noch bestrebt, die anderen zu vergiften. Hat Zarathustra bislang immer nur über die Verächter des Lebens und des Leibes gesprochen, so wendet er sich nun direkt an sie. Während er im vorangehenden Kapitel noch verkündete, „[m]ilde ist Zarathustra den Kranken“ (37, 19), begegnet er den ‚Kranken‘ nun mit radikaler Ablehnung. Er will sie dazu auffordern, „ihrem eignen Leibe Lebewohl“ zu sagen, d. h. er bestärkt sie darin, die Ablehnung des Leibes bis zur äußersten Konsequenz der Selbstpreisgabe zu treiben. 39, 7–9 Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.] Wenn Gödde/Zirfas 2016, 16 dies als Bekenntnis zur „psycho-physische[n] Einheit des Menschen“ lesen, dann sehen sie damit über das eigentliche Provokationspotential der Passage hinweg. Denn hier wird nicht für eine seelisch-leibliche Ganzheit des Menschen plädiert, sondern vielmehr die in Philosophie und Religionsgeschichte verankerte Vorstellung von der Seele als eines metaphysischen Prinzips des Lebens und unvergänglichen Kerns des Menschen gänzlich depotenziert. Allein durch seine Formulierung gibt Zarathustra zu verstehen, dass er beansprucht, das Verhältnis von Leib und Seele einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Er entzaubert die Vorstellung der Seele dabei gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen, indem er darauf insistiert, dass „Seele“ nur ein Wort, ein auf Konvention beruhendes sprachliches Zeichen sei. Zum andern, indem er das durch dieses Wort Bezeichnete keineswegs zu einem Einheit verbürgenden Zentrum erklärt, sondern es vielmehr als ein undefinierbares „etwas“ dem Leib attribuiert. Dabei ist zu bedenken, dass „Leib“ herkömmlich das Wort abgibt für den beseelten Körper. Zarathustra, der die „Seele“ zu einem Wort für ein bloßes Anhängsel des Leibes erklärt, hält zwar am Leibbegriff fest, versteht den ‚Leib‘ aber neu, indem er ihn als seelenlos auffasst und ihm damit das abspricht, was für ihn traditionell konstitutiv ist. Damit wendet er sich gegen die abendländische Leib-Seele-Tradition, für die die Vorstellung einer zeitlich begrenzten Verbindung von unsterblicher Seele und sterblichem Leib maßgeblich ist. Derartige semantische ‚Umpolungen‘ von tradierten Begriffen sind charakteristisch für Zarathustra, der sich in Za II Von den Tugendhaften als Sprachkritiker

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und Spracherneuerer präsentiert, der seinen Zuhörern ihr gewohntes und geliebtes Spielzeug entreißt, nämlich die Worte, die sie zu verwenden pflegten (vgl. NK 123, 12–18). In N.s Texten ist die Kritik an philosophischen und religiösen Vorstellungen häufig als Kritik an einer deformierenden Sprache und Begrifflichkeit formuliert. So erklärt auch EH Warum ich ein Schicksal bin 8 „Seele“ und „Geist“ zu schädlichen Fiktionen, die in die Welt gesetzt wurden, um den Menschen von allem abzubringen, was seiner Existenz förderlich wäre: „Der Begriff ‚Seele‘, ‚Geist‘, zuletzt gar noch ‚unsterbliche Seele‘, erfunden, um den Leib zu verachten“ (KSA 6, 374, 5–7). 39, 10 Der Leib ist eine grosse Vernunft] Philosophisch stellt die Formel von der großen Vernunft des Leibes, die Volker Gerhardt zum „Zentrum der ExperimentalPhilosophie“ (Gerhardt 2000b, 123) N.s erklärt, eine Provokation dar. Zumal der Vernunftbegriff zu N.s Zeit weitgehend unter dem Eindruck Kants steht, der die (theoretische) Vernunft zum übergeordneten Prinzip erklärt hat. So heißt es in der Kritik der reinen Vernunft: „Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen“ (AA III, 237). Einen Vorläufer hat Zarathustras Formel vom „Leib und seine[r] grosse[n] Vernunft“ in der Vorstellung einer instinktgebundenen Vernunft. So unterscheidet die populärwissenschaftliche Schrift Unterhaltungen zur Beleuchtung des Unterschiedes zwischen Leib, Seele und Geist von 1838 „drey Hauptarten der Vernunft“, nämlich „[d]ie Vernunft des Leibes, der Seele, des Geistes. Die erste ist die beschränkteste; sie ist die Vernunft der ungebildeten Völker, welche ihre Leibes-Kräfte am meisten entwickeln, sich nach den Neigungen ihres Leibes richten, und ihrem Instinkte folgen, der so viel möglich ausweicht, was er für schädlich hält, und sucht und genießt, was ihm angenehm ist“ (Nüscheler 1838, 189). Zarathustra gibt der Vorstellung von der „Vernunft des Leibes“ allerdings eine gänzlich andere Bedeutung. Von ihrer Instinktgebundenheit spricht er nämlich nicht und vor allem nimmt er eine konträre Hierarchisierung vor, indem er die große Vernunft des Leibes ausdrücklich der kleinen Vernunft des Geistes überordnet und derart das Leibliche gegen das Geistige ausspielt. Anregung zu solcher Aufwertung einer ‚anderen Vernunft‘ des Leibes könnte N. durch die zeitgenössische Psychologie erhalten haben, in der die Möglichkeit einer unbewussten Vernunft diskutiert wird. Einschlägig ist in diesem Kontext eine 1864 erschienene Schrift von Immanuel Hermann von Fichte, die unter dem Titel Psychologie: die Lehre vom bewussten Geiste des Menschen für die Annahme einer unbewussten Vernunft plädiert, die dem Bewusstsein voraus gehe und als Phantasie im Künstler wirksam werde: „Die ‚Phantasie‘ kennzeichnet sich als Mittelzustand jener apriorischen Grundanlage; von der einen Seite tief in die bewusst-

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losen Anfänge des Seelendaseins sich versenkend, in der frühesten Leibgestaltung und im unwillkürlich sinnbildenden Einprägen der Seelenstimmungen in den Leibesausdruck, ist sie hier recht eigentlich das stets wirksame Band zwischen beiden, die ‚bewusstlose Vernunft‘ des Leibes; aber andererseits erhebt sie sich auch zu bewusstem künstlerischen Vollbringen, doch allein in dem Masse, dass der Künstler nur zu bewusstem Ausdruck und zu objectiver Ausgestaltung zu bringen sucht, was die absichtslos bildende Phantasie dort unwillkürlich vollbringt.“ (Fichte 1864, 95) Würdigung und Verbreitung erfuhren Fichtes Thesen durch einen 1864 in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik erschienenen Artikel Jakob Senglers, der die Bedeutung von Fichtes Psychologie für die Erkenntnislehre betonte und dessen Argumentationsgang folgendermaßen zusammenfasste: „Die apriorische Grundlage des Geistes können wir, zur Stufe des Bewußtseyns erhoben, ‚Vernunft,‘ im Erkennen werkthätig geworden, Denken nennen, womit das große Ergebniß der ganzen neuern Speculation durch und seit Kant zu seinem Rechte kommt. Allein die bewußte ‚Vernunft‘ ist nicht die erste und ursprüngliche Gestalt dieses Apriorischen, wofür man sie bisher fast durchaus gehalten, sondern sie geht in anderer ursprünglicher Form dem B e w u ß t s e y n s e l b e r v o r a u s und erscheint so /201/ als P h a n t a s i e. Diese ist Mittelzustand, als welche sie sich in die bewußtlosen Anfänge des Seelenlebens versenkt, und als die frühere Leibesgestaltung vermittelnd, das stets wirksame Band von Leib und Seele, die bewußtlose Vernunft des Leibes ist, und sich bis zum bewußten künstlerischen Schaffen erhebt.“ (Sengler 1866, 200 f.) Ohne die Ähnlichkeiten überstrapazieren zu wollen, kann man festhalten, dass der vernünftige Leib auch von Zarathustra als ein „schaffende[r] Leib“ (40, 23) gedacht ist; bei ihm zielt die große Vernunft des Leibes allerdings perspektivisch auf den Übermenschen hin. 39, 10 f. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt.] Der Leib ist nicht als einfache Entität gedacht, sondern als komplexes Gebilde entworfen. Zarathustra bestimmt ihn in dreifacher metaphorischer Umschreibung als spannungsvolle Einheit des Vielen und der Gegensätze. Liegt der gemeinsame Nenner der von ihm herangezogenen Gegensatzpaare darin, dass sie ein Zugleich von Verschiedenheit und Einheitlichkeit veranschaulichen, so offenbaren sie bei genauerer Betrachtung doch erhebliche semantische Differenzen. Zunächst wird der Leib als Vielheit mit „Einem Sinne“ aufgerufen, womit angedeutet ist, dass er zwar unter dem Zeichen der Pluralität steht, dass diese sich aber in einem Gesamtinteresse eint. Ein Zusammenspiel von Vielheit und Einheit drückt auch die Metapher von Herde und Hirte aus, die diese Relation aber insofern anders akzentuiert, als die Vielzahl von Individuen nicht durch einen gemeinsamen Sinn, sondern durch die Leitfigur des Hirten zusammengehalten wird (vgl. dagegen Zarathustras Gesellschaftsdiagnose in 20, 11,

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die für das soziale Zusammenleben ein Fehlen der einenden Figur des Hirten konstatiert: „Kein Hirt und Eine Heerde!“). In der Metapher von Hirt und Herde klingt das biblische Gleichnis vom guten Hirten an, in dem sich Jesus als einende Gestalt zu erkennen gibt, die gekommen ist, um die Herde Gottes zu sammeln und die Schafe vor den Feinden zu schützen (vgl. Johannes 10, 16). Das Gegensatzpaar Krieg und Frieden schließlich verweist auf unterschiedliche ‚Aggregatzustände‘ des die große Vernunft vorstellenden Leibs, auf einen Wechsel von Harmonie und Agonalität, den man als zeitliches Nacheinander, aber auch als räumliches Nebeneinander verstehen kann. Pieper 2012, 82 vergleicht die Komplexität der verleiblichten Vernunft mit einem Kunstwerk, in dem sich „Materie und Form so durchdringen, dass sie weder eine hierarchische noch eine statische, sondern eine flexible, bis aufs Äußerste angespannte Einheit bilden, die im Leib und durch den Leib zusammengehalten wird.“ Ähnlich charakterisiert ein nachgelassenes Notat den Leib als Verbund einer „Vielheit belebter Wesen“, die in unterschiedlichem, teilweise agonalem, teilweise hierarchischem Verhältnis zueinander stehen: „Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen. / Unter diesen lebenden Wesen giebt es solche, welche in höherem Maaße Herrschende als Gehorchende sind, und unter diesen giebt es wieder Kampf und Sieg. / Die Gesammtheit des Menschen hat alle jene Eigenschaften des Organischen, die uns zum Theil unbewußt bleiben 〈zum Theil〉 in der Gestalt von T r i e b e n bewußt werden.“ (NL 1884, KSA 11, 27[27], 282, 19–28) Als Quelle für die antagonistische Metaphorik von Vielheit und Einheit, von Krieg und Frieden verweist Gerhardt 2000b, 144 auf Platons Politikos 267b–d, wo die Kunst des Staatsmannes der Herdenzucht verglichen wird. Näher noch liegt der Quellenhinweis von Loukidelis 2012, 219, der in dem Notat ein Zeugnis von N.s Auseinandersetzung mit dem Buch des Entwicklungsbiologen Wilhelm Roux Der Kampf der Theile im Organismus (1881) und dem dort vorgestellten physiologischen Modell erkennt, für das – in produktivem Anschluss an die vorsokratische Philosophie – das Motiv des Kampfes von zentraler Bedeutung ist (vgl. zu N.s Roux-Lektüre Müller-Lauter 1978). Roux erläutert in der seiner Studie vorangestellten „Begründung“: „Wohl Manchem mag die Aufschrift Dieses Capitels und des Buches befremdlich erscheinen, da sie andeutet, dass in dem thierischen Organismus, in welchem alles so vorzüglich geordnet ist, in dem die verschiedensten Theile so trefflich ineinander greifen und zu einem hochvollendeten Ganzen zusammenwirken, dass darinnen ein Kampf unter den Theilen stattfinde, also an einem Orte, wo alles nach festen Gesetzen sich vollzieht, ein Widerstreit des Einzelnen existire. Und wie könnte ein Ganzes bestehen, dessen Theile unter einander uneins sind? Und doch ist es so. Es geht im Organismus, wie sich zeigen wird, nicht alles friedlich neben einander und mit einander hin“ (Roux 1881, 64).

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Ein weiteres Nachlassnotat N.s aus dem Frühjahr/Sommer 1883 führt den Gedanken von einer dem Geist überlegenen Beschaffenheit des Leibes näher aus, wobei seine Stoßrichtung aber vor allem darauf zielt, das Bewusstsein gegenüber dem vielfältig und komplex organisierten leiblichen „Getriebe“ ins Hintertreffen zu bringen: „Wer einigermaßen sich vom Leibe eine Vorstellung geschaffen hat – wie viele Systeme da zugleich arbeiten, wie viel für einander und gegen einander gethan wird, wie viel Feinheit in der Ausgleichung usw. da ist: der wird urtheilen, daß alles Bewußtsein dagegen gerechnet Etwas Armes und Enges ist: daß kein Geist nur annähernd ausreicht für das, was vom Geiste hier zu leisten wäre und vielleicht auch daß der weiseste Sittenlehrer und Gesetzgeber sich plump und anfängerhaft inmitten dieses Getriebes von Krieg der Pflichten und Rechte fühlen müßte.“ (NL 1883, KSA 10, 7[126], 284, 19–285, 3) Wird in diesem Notat das Bewusstsein zum „Werkzeug“ (ebd., 285, 5) des Leibes erklärt, so sind es in der Leibverächter-Rede „Sinn und Geist“ (39, 21) sowie die „kleine Vernunft“, die zu „Werkzeug[en]“ des Leibes (39, 12) abgewertet werden. 39, 12–14 Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.] Zarathustra reduziert die Vernunft hier, wie Pieper 2012, 80 bemerkt, „auf die intellektuelle Funktion des ego cogito, das alle menschlichen Verrichtungen als Tätigkeiten eines Bewusstseins kennzeichnet. N. bindet die kleine Vernunft in die große Vernunft des Leibes ein, in einen organischen Gesamtzusammenhang, der sich dem komplexen Zusammenspiel sämtlicher Antriebskräfte im Menschen verdankt – dem intellektuellen ebenso wie dem emotionalen und dem affektiven Strebevermögen.“ Die Degradierung des Geists zum „Werkzeug“ des Leibs bildet eine Parallele zu Schopenhauers Willensmetaphysik, die den Intellekt im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung „als Sekundäres und an körperliche Organe Gebundenes“ erachtet (WWV II, § 19; Schopenhauer 1873–1874, 3, 231) und ihn zu einem „Werkzeug“ des Willens erklärt. Schopenhauer veranschlagt eine klare Hierarchie, der zufolge „der W i l l e in allen thierischen Wesen das Primäre und Substantiale ist, der I n t e l l e k t hingegen ein Sekundäres, Hinzugekommenes, ja, ein bloßes Werkzeug zum Dienste des Ersteren, welches, nach /229/ den Erfordernissen dieses Dienstes, mehr oder weniger vollkommen und komplicirt ist“ (ebd., 228 f.). Wo Zarathustra von dem „Gebieter“ (40, 4) spricht, der im Leib wohne, kleidet Schopenhauer seine Willensmetaphysik in die Metapher von Herr und Diener: „offenbar ist hier der Herr der Wille, der Diener der Intellekt; da jener in letzter Instanz stets das Regiment behält, mithin den eigentlichen Kern, das Wesen an sich des Menschen, ausmacht“ (ebd., 233). Strukturell gemeinsam ist Schopenhauer und Zarathustra – unter der Oberfläche solch metaphorischer Rede – die monokausale Herleitung aller menschlichen Antriebsmomente aus dem Leib bzw. dem Willen. Vergleicht man beide Konzepte miteinander, dann tritt aber rasch Zarathustras

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ganz andere Intention hervor: Während Schopenhauer den Willen als blind waltendes, sinnloses und Leiden verursachendes Prinzip entwirft und daraus die Forderung nach einer lebens- und leibverneinenden Haltung ableitet, will Zarathustra die postulierte Hinwendung zum Leib als produktiv verstanden wissen. 39, 15–17 „Ich“ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.] Das Verhältnis von Ich und Leib wird hier als Verhältnis von IchBewusstsein und Tat bestimmt, wobei die Gewichte klar verteilt sind: Während das Ich in eitler Selbstreflexion befangen ist, fackelt die große Vernunft nicht lange, sondern handelt. Für das Tun bedarf es demnach also nicht des Ich. Zu Recht befindet daher Volker Gerhardt, dass das Ich in Zarathustras ‚Instanzenlehre‘ eigentlich überflüssig ist, weil dieses Ich sich auf die „interne Umsetzung der Imperative des Leibes beschränkt“ (Gerhardt 2011a, 30) und eben nicht als Ursprung von Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln hervortritt. Gerade darin aber wird man die Funktion der Rede vom Ich erkennen dürfen: Zarathustra spricht von ihm aus strategischen Gründen, um auf diese Weise seine Entmächtigung und Funktionslosigkeit drastisch herauszustellen. 40, 3–5 Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.] Ein nachgelassenes Notat kennzeichnet den Leib und das im Leib verortete Selbst als das Unbekannte und Entzogene: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen steht dein Leib und dein Selbst im Leibe: die terra incognita. W o z u hast du d i e s e Gedanken und diese Gefühle? Dein Selbst im Leibe w i l l etwas damit.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[31], 225, 21–24) 40, 6–8 Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiss denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nöthig hat?] Eine Variante stellt die Paradoxie der Vernunft des Leibes pointiert heraus, indem sie sie gegen die Vernunft der Vernunft (des Geistes) ausspielt: „Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner Vernunft. Und auch das, was du deine Weisheit nennst, – wer weiß wozu dein Leib gerade diese Weisheit nöthig hat.“ (NL 1882, KSA 10, 4[240], 179, 3–5) 40, 11 f. Ich bin das Gängelband des Ich’s und der Einbläser seiner Begriffe.] Das Gängelband ist laut Adelung 1793–1801, 2, 401 „dasjenige Band, woran man die Kinder gängelt, d. i. sie gehen lehret; das Führband oder Leitband, der Laufzaum, das Laufband“. 40, 13–18 Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Schmerz!“ Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide – und dazu eben s o l l es denken. / Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Lust!“ Da freut es sich und denkt nach, wie es noch oft sich

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freue – und dazu eben s o l l es denken.] Zarathustra sucht seine Argumentation nachvollziehbar zu machen, indem er sich auf den sinnesphysiologischen Befund stützt, demzufolge Wahrnehmen und Empfinden an den Leib gebunden sind. Über die verschiedenen Theorien des Zustandekommens von Schmerz und Lust hatte N. sich differenziert in Léon Dumonts Werk Vergnügen und Schmerz (1876) kundig gemacht, das er, wie zahlreiche Lesespuren zeigen, intensiv durchgearbeitet hat (vgl. hierzu Brobjer 2008a, 86 u. Liebscher 2014, 368 f.). Seinem Protagonisten schreibt er nun aber eine recht eigentümliche sinnesphysiologische Position zu, die durch die von Dumont vorgestellten Theorien nicht gedeckt ist. Zarathustra verabsolutiert die Bindung der Empfindung an den Leib zur Auffassung von einem Diktat des Leibes, der das Ich in eine unterlegene Position versetzt und dazu anstößt, nach einem Ausweg zu sinnen. Das Denken stellt demnach eine Reaktion dar, die aus der körperlichen Empfindung von Schmerz resultiert und auf deren Vermeidung zielt. Nach identischem Muster beschreibt Zarathustra die Empfindung von Lust: Der Körper gibt die Anweisung zur Lustempfindung, das Ich freut sich und setzt seinen Verstand, seine ‚kleine Vernunft‘ ein, damit es häufiger Lust empfinde. Auch hier verhält sich das Ich also lediglich reaktiv. Es vollbringt keine regulierende Funktion und schon gar nicht gehen von ihm eigene Impulse aus, sondern es ist, wie Gerhardt 2011a, 30 feststellt, „auf die Rolle eines abhängigen Steuermanns beschränkt, der seine Direktiven allein vom Selbst des Leibes her bezieht“. Vgl. dagegen Land 2013, 296, der einen Freiraum des Ich „in der konkreten Umsetzung der vom Leib und seinem Selbst vorgelegten Direktiven“ ausmachen will. 40, 19–23 Den Verächtern des Leibes will ich ein Wort sagen. Dass sie verachten, das macht ihr Achten. Was ist es, das Achten und Verachten und Werth und Willen schuf? / Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Verachten, es schuf sich Lust und Weh] Ausdrücklich wird das „schaffende Selbst“ nicht nur zum Erzeuger der Lust- und Schmerzempfindungen, sondern auch aller Wertschätzungen erklärt. Die damit sich aufdrängende Frage, inwieweit der Einzelne dann überhaupt selbstverantwortlich sein kann für seine Werte und sein Handeln, wenn diese doch aus dem Leib entspringen, bleibt in Zarathustras Rede aber außen vor. 40, 25–41, 1 Noch in eurer Thorheit und Verachtung, ihr Verächter des Leibes, dient ihr eurem Selbst. Ich sage euch: euer Selbst selber will sterben und kehrt sich vom Leben ab. / Nicht mehr vermag es das, was es am liebsten will: – über sich hinaus zu schaffen. Das will es am liebsten, das ist seine ganze Inbrunst. / Aber zu spät ward es ihm jetzt dafür: – so will euer Selbst untergehn, ihr Verächter des Leibes. / Untergehn will euer Selbst, und darum wurdet ihr zu Verächtern des Leibes!] Hatte Zarathustra in Za I Vorrede 4 die Liebe zu den „grossen Verachtenden“ (17, 5) gepredigt und ausgerufen: „was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass

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er ein Ü b e r g a n g und ein U n t e r g a n g ist“ (17, 1 f.), so handelt es sich hier ganz offensichtlich um eine negativ belegte Verachtung und einen Untergang, der kein Übergang ist, sondern ein tatsächliches Zugrundegehen, denn es ist, den vorangehenden Ausführungen zufolge, der Untergang des „schaffende[n] Selbst“ (40, 22). Die sich aufdrängende Frage, weshalb es trotz der großen Vernunft des Leibes, die ja eigentlich über den Menschen walten müsste, überhaupt „Verächter des Leibes“ geben kann, wird zwar von Zarathustra nicht explizit aufgeworfen, dennoch liefert er eine Antwort auf sie, indem er die Verneinung des Leibes zurückführt auf eine krankhafte Schwäche des im Leib gründenden Willens, der auf diese Weise seinen eigenen Untergang befördere. Es liegt nahe, diese Diagnose auf Schopenhauer zu beziehen, dessen Willensphilosophie damit verstanden wäre als Ausfluss einer krankhaften Pervertierung des eigentlich lebensbejahenden Willens. Wenn man das weiterspinnt, dann sind die Leibverächter wie auch der leibverachtenden Schopenhauer allerdings nicht verantwortlich für ihre leibverachtende Haltung, sondern lediglich deren Opfer, denn sie alle haben keinen Zugriff auf den unverfügbaren Leib. 41, 3 f. Und darum zürnt ihr nun dem Leben und der Erde. Ein ungewusster Neid ist im scheelen Blick eurer Verachtung.] In Za II Von der unbefleckten Erkenntniss verfolgt Zarathustra eine ähnliche Diffamierungsstrategie, indem er dort den Anhängern einer auf reine Anschauung gegründeten Erkenntnis ein lüsternes, aber „entmanntes Schielen“ (157, 31) auf das Leben vorwirft.

Von den Freuden- und Leidenschaften. Das Kapitel bildet das Gegenstück zu „Von den Lehrstühlen der Tugend“, in dem ein Weiser als „Prediger der Tugend“ (34, 18) seine – stark ironisierte – Weisheitslehre zum Besten gibt. Hier offeriert Zarathustra ein eigenes Tugendverständnis, das zur Lehre des Weisen in diametralem Gegensatz steht. Während dieser eine Tugend propagiert, die den Menschen in einem Zustand von Passivität, Unmündigkeit und Fremdbestimmtheit gefangen halten möchte, ist Zarathustras Konzept von Tugend auf Wandel und Veränderung ausgerichtet; es zielt auf die Überwindung des ‚alten Menschen‘ und ist somit unmittelbar mit der Forderung nach dem Übermenschen verbunden. Doch obwohl der Begriff der Tugend, der insgesamt 16 Mal sowohl im Singular als auch im Plural genannt ist, unübersehbar im Zentrum steht, fällt auf, wie sehr er semantisch unterbestimmt bleibt. Dass an keiner Stelle konkretisiert wird, welche Tugenden gemeint sind, ist aber durchaus Programm, denn Zarathustra erklärt Tugend im Widerspruch zum konventionellen Verständnis zu einer individuellen Qualität, die sich allen Normierungen und Fixierungen entzieht. In der Forschung hat die Rede, die Hunt 1991, 56 als „Nietzsche’s most general discussion of the nature of virtue“ einstuft, während Zibis 2007, 114 davon spricht,

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dass N. mit ihr seiner Tugendlehre „die vielleicht eigenartigste und überraschendste Wendung“ gebe, vor allem als Ansatz zur Etablierung einer Individualethik Beachtung erfahren (vgl. Coker 1994b u. Pieper 1990, 163–170). Verschiedentlich hat man hervorgehoben, dass Zarathustra zu einer Tugend anhalte, die nicht (mit der Herde) gemein machen wolle und für die es kein Wort, keinen verbindlichen Namen geben dürfe, die sich mithin sprachlicher ‚Vertraulichmachung‘ radikal zu entziehen suche (in diesem Sinn Brobjer 1995, 79; Himmelmann 2000, 23; Gerhardt 2011a, 14; Swanton 2015, 175; Seggern/Martins 2016, 71). Aufmerksamkeit erfuhr überdies die Idee einer „liberating transformation“ (Hunt 1991, 56) von Leidenschaften in Tugenden (vgl. dazu NK 43, 11 f.), die nicht nur deren Opposition aufweicht, sondern überdies den Gedanken einer Verwandlung als Steigerung und Überwindung, wie ihn die Rede „Von den drei Verwandlungen“ entfaltet, auf den Affekt- und Tugendhaushalt des Menschen überträgt. Ansell-Pearson 2019 behandelt das Kapitel als exemplarisch für die positive Bestimmung von Leidenschaften in N.s ‚mittlerer‘ Phase. Zarathustra lehrt nicht bestimmte Tugenden, sondern sucht ein neues Verständnis von Tugend zu vermitteln. In Wendung gegen die christliche Tugendlehre, die sich auf die Verheißung eines jenseitigen Lebens richtet, propagiert er eine „irdische Tugend“ (42, 19), die gleichermaßen Psychisches wie Physisches betrifft. Ausdrücklich wendet er sich gegen gesellschaftlich-kulturell und religiös fundierte Tugendlehren (vgl. 42, 16–20) und schreibt jedem Menschen seine unverwechselbar eigene Tugend zu. Nicht nur lehnt er Generalisierungen ab und damit auch einen allgemein verbindlichen Moralkodex, darüber hinaus fordert er, man solle nicht über seine Tugend sprechen, denn schon, indem man ihr einen Namen gebe und sie auf einen Begriff bringe, mache man sie zu etwas Allgemeinem. Daher gelte es, die „Vertraulichkeit der Namen“ (42, 11) zu meiden und lieber von der Tugend zu „stammeln“ (42, 13). Hinter dieser Argumentation scheint eine grundsätzliche Sprachskepsis auf, die sich am konventionellen Charakter der Sprache entzündet. Weil Sprache auf Übereinkunft beruht, wird sie als ungeeignet erachtet, dem Individuellen und Besonderen gerecht zu werden. Was benannt wird büßt, indem es auf den Begriff gebracht wird, seine Besonderheit ein. Sich den allgemeinen Tugendvorstellungen anzuschließen bedeutet daher nach Zarathustra, sich gemein zu machen mit der Herde: „Nun hast du ihren Namen mit dem Volke gemeinsam und bist Volk und Heerde geworden mit deiner Tugend!“ (42, 6 f.). Zarathustra ruft dazu auf, nicht „Volk und Heerde“ zu werden, sich nicht der „Vernunft Aller“ (42, 20) anzuschließen, sondern von Außen- auf Selbstorientierung umzustellen und in der Weiterentwicklung der eigenen Anlagen ein individuelles „Gutes“ (42, 14) hervorzubringen. Statt Leidenschaften wie Jähzorn, Wollust, religiösen Fanatismus und Rachsucht zu unterdrücken, gelte es, deren Energien zu kanalisieren und in den Dienst des „höchste[n] Ziel[s]“ (43, 4) zu stellen. Durch

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diese Zweckbindung würden die Leidenschaften in Tugenden, in zielführende Qualitäten verwandelt – ein Umwandlungsprozess, den Zarathustra gleich dreifach metaphorisch umschreibt: als Verwandlung von „Teufeln“ in „Engel“ (43, 10), von „wilden Hunden“ in „Vögel und liebliche Sängerinnen“ (43, 11 f.) und von „Giften“ in „Balsam“ (43, 13). Trotz dieses Aufgebots an veranschaulichenden Vergleichen lässt sich das Gemeinte schwer nachvollziehen. Deutlich ist, dass es um eine Umwandlung negativer Antriebe in positive geht, womit die starre Opposition von Tugend und Laster ad acta gelegt wird. Für Zarathustra gibt es keine absolut guten oder schlechten Eigenschaften, sondern er macht das Individuum verantwortlich dafür, ob seine Leidenschaften schädlich wirken oder es ihm gelingt, sie in nützliche Tugenden umzuformen. Die darin zum Vorschein gelangende Relativierung des Tugendbegriffs ist ein zentrales Element im Programm der Relativierung und Neubegründung der Werte. Als Herausforderung begreift Zarathustra die Vielfalt der Tugenden. Da Individuen von verschiedenen Leidenschaften bestimmt sind, müssen daraus, so die Argumentation, auch unterschiedliche Tugenden entstehen. Da aber jede Tugend das Ich vollkommen beanspruche, gerieten diese untereinander in Widerstreit und verwandelten das Ich in ein „Schlachtfeld von Tugenden“ (43, 22). Damit setzt Zarathustra dem in Dichtung und Bildender Kunst seit der Antike häufig gestalteten Kampf zwischen Tugend und Laster kontrastierend das Bild sich gegenseitig bekämpfender Tugenden entgegen. Dabei sind Kampf und kriegerische Auseinandersetzung keineswegs negativ konnotiert. „Mein Bruder, ist Krieg und Schlacht böse?“, fragt Zarathustra, um sich selbst zu antworten: „nothwendig ist diess Böse“ (43, 23 f.). Dahinter scheint die Vorstellung eines Individuums auf, das als ein dynamisches Gebilde durch die agonale Konstellation von Einzelkräften bestimmt ist und sich nur durch sie weiterentwickelt. Der innere Kampf der Kräfte bildet demnach die Voraussetzung für die Erneuerung des Menschen: „darum sollst du deine Tugenden lieben, – denn du wirst an ihnen zu Grunde gehen“ (44, 4 f.), lautet die paradoxe Botschaft. Tugend, so heißt es in Za I Vorrede noch pointierter, „ist Wille zum Untergang“ (17, 16 f.). Zarathustras Tugendlehre begreift das Ich mit seinen widerstreitenden Kräften und Tugenden als einem Motor der Selbstüberwindung – „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß“ (44, 3) – und erweist sich damit unmittelbar mit seiner Idee des Übermenschen verknüpft. 42, 1 Von den Freuden- und Leidenschaften.] Bei der ungewöhnlichen Wortbildung „Freudenschaften“, die sich an das Wortbildungsmuster von Leidenschaften anlehnt, handelt es sich weder um eine Neuschöpfung N.s (wie Wirtz 1971, 68 annimmt; siehe dagegen bereits Arndt 1845, 149: „Leidenschaften und Freudenschaften“), noch um ein aus pathologischer „Erinnerungsschwäche“ (vgl. [Anonym] 1904, 2) gebildetes ‚Ersatzwort‘. Vielmehr unterstreicht der Kapiteltitel mit der sprachspielerischen ‚Gleichschaltung‘ von Freude und Leidenschaften – in Anleh-

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nung an die konventionelle Zwillingsformel ‚Freud und Leid‘ – die in der Rede propagierte Transformation der Leidenschaften in Tugenden (vgl. Dodd 2005, 63): „Du legtest dein höchstes Ziel diesen Leidenschaften an’s Herz: da wurden sie deine Tugenden und Freudenschaften.“ (43, 4 f.) In der Forschung wurde Zarathustras Konzept der Triebsublimierung in Analogie gesetzt zu der an den platonischen Eros geknüpften Idee einer stufenweisen ‚Vergeistigung‘ (vgl. Kloch-Kornitz 1963, 597), zu „dem in Spinozas Ethik beschriebenem Weg von der Knechtschaft zur Freiheit“ (Seggern 2012, 259) und zur Katharsis-Lehre in Lessings Hamburgischer Dramaturgie (vgl. Seggern 2014, 251 f.; Seggern/Martins 2016, 71; siehe dazu NK 43, 11 f.). Bereits MA II WS 37 ruft zur Wertschätzung der Leidenschaften auf und gibt als Programm aus, „die Leidenschaften der Menschheit allesammt in Freudenschaften umzuwandeln“ (KSA 2, 569, 21 f.). 42, 4 f. Freilich, du willst sie bei Namen nennen und liebkosen; du willst sie am Ohre zupfen und Kurzweil mit ihr treiben.] In einem Notat aus dem Sommer/Herbst 1882 sind es nicht die Tugenden, sondern die eigenen Gedanken, die ein „er“ laut der Rede des Sprechers selbstverliebt „am Ohre“ zupft – nicht etwa, weil er „Skeptiker“ wäre, sondern weil er allein ist: „Er ist einsam und hat nichts als seine Gedanken: was Wunder, daß er oft gegen sie zärtlich und neckisch ist und sie an den Ohren zupft! – Aber ihr Plumpen sagt, er sei ein Skeptiker.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]286, 87, 19–22) 42, 6–10 Und siehe! Nun hast du ihren Namen mit dem Volke gemeinsam und bist Volk und Heerde geworden mit deiner Tugend! / Besser thätest du, zu sagen: „unaussprechbar ist und namenlos, was meiner Seele Qual und Süsse macht und auch noch der Hunger meiner Eingeweide ist.“] Die Kritik richtet sich nicht auf die Tugend als solche, sondern auf deren sprachlich-konventionelle Bezeichnung, die der Tugend das individuelle Gepräge raube, sie entwerte und den derart Tugendhaften mit „Volk und Heerde“ gemein werden lasse. Der Begriff der Herde, der seit Beginn der 80er Jahre als zentraler Begriff in N.s philosophischen Schriften begegnet (vgl. dazu NK 20, 11), wendet sich in seiner kritischen Stoßrichtung gegen die Gleichschaltung der Menschen in ihrem Denken und Handeln, wobei die Herde selbst als eine Uniformitätsdruck erzeugende internalisierte Repressionsmacht in den Blick tritt. 42, 11–15 Deine Tugend sei zu hoch für die Vertraulichkeit der Namen: und musst du von ihr reden, so schäme dich nicht, von ihr zu stammeln. / So sprich und stammle: „Das ist m e i n Gutes, das liebe ich, so gefällt es mir ganz, so allein will ich das Gute.] Der Passus steht im Kontext der Za durchziehenden sprachkritischen Reflexionen (hierzu Grätz 2019). Hier gibt Zarathustra zu verstehen, dass die Tugend in ihrer Exzeptionalität von der unzulänglichen Begriffssprache nicht adäquat zu erfassen sei. Als Ausweg schlägt er die stammelnde Redeweise vor, wie sie tradi-

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tionell dem Propheten bzw. dem mystisch Ergriffenen zugeschrieben wird. Zum Stammeln vgl. NK 18, 29 f. 43, 6–10 Und ob du aus dem Geschlechte der Jähzornigen wärest oder aus dem der Wollüstigen oder der Glaubens-Wüthigen oder der Rachsüchtigen: Am Ende wurden alle deine Leidenschaften zu Tugenden und alle deine Teufel zu Engeln.] Der Nachlass aus dem Winter 1882/83 verzeichnet folgende Varianten: „Ich gehöre zum Geschlecht der Jähzornigen, der Wollüstigen, der Rachsüchtigen und der GlaubensWüthigen – fast vergaß ich’s selber.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[15], 113, 2 f.) Und: „Wer würde es mir glauben, sprach Zarathustra, daß ich zum Geschlechte der Jähzornigen gehöre, und zu dem der Wollüstigen, der Glaubens-Wüthigen, der Rachsüchtigen? Aber der Krieg hat mich geheiligt.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]116, 200, 11–14) 43, 9 f. Am Ende wurden alle deine Leidenschaften zu Tugenden und alle deine Teufel zu Engeln] Ein Nachlassnotat formuliert generalisierend: „Alles Gute ist die Verwandlung eines Bösen: jeder Gott hat einen Teufel zum Vater.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]68, 195, 4 f.) 43, 11 f. Einst hattest du wilde Hunde in deinem Keller: aber am Ende verwandelten sie sich zu Vögeln und lieblichen Sängerinnen.] Der Hund, das domestizierte Tier, das als Beschützer des Menschen und seit Platons Staat 375c als Wächtertier in die Kulturgeschichte eingegangen ist, verweist hier auf die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Kultur und Natur, denn die Keller-Hunde schützen nicht vor den Gefahren der wilden Natur, sondern verkörpern selbst diese Gefahren. Die „wilden Hunde“, die als herrenlose für die Möglichkeit eines Rückfalls in die Nicht-Domestiziertheit einstehen, werden aufgerufen als Metapher für verdrängte Leidenschaften und Triebe, die es nach Zarathustra zu verwandeln und veredelt ans Tageslicht zu befördern gilt. Damit plädiert er für „Sublimierung anstelle von Verdrängung und Triebfeindschaft“ (Rattner 2000, 125; vgl. auch NK 42, 1). Den Gedanken einer Zähmbarkeit wilder, zu „Unthieren“ (KSA 2, 569, 14) herangewachsener Leidenschaften stellt bereits MA II WS 37 vor. In einer zugehörigen Vorstufe wendet sich der Sprecher ermutigend an die Zuhörer: „Ihr redet von den schreckl[ichen] Leidenschaften! Große Worte! Durch Vernachlässigung des Kleinsten habt ihr sie zu Unthieren heranwachsen lassen. Sie brauchen nicht verheerende Wildwässer zu werden.“ (N IV 3, 37) Dass gerade das als unmoralisch und ‚böse‘ Abgestempelte geeignet ist, die positiven Kräfte des Menschen zu beflügeln, stellt ein leitendes Argumentationsmuster in Za vor, das auch Za II Von den Erhabenen in Kombination mit dem Gedanken der Verwandlung aufruft, wenn es dort von dem Erhabenen heißt: „Er bezwang Unthiere, er löste Räthsel: aber erlösen sollte er auch noch seine Unthiere und Räthsel, zu himmlischen Kindern sollte er sie noch verwandeln.“ (151, 29–31; vgl. zum Programm einer ‚Verböserung‘ des Menschen NK 4/2, 359, 5 f.

Stellenkommentar Za I Von den Freuden- und Leidenschaften, KSA 4, S. 42–43

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und zum Motiv der Verwandlung NK 29, 1.) Seggern/Martins 2016, 71 begreifen die Verwandlung von Leidenschaften in Tugenden als Adaption der in Spinozas Ethica anvisierten Befreiung des Menschen aus der Knechtschaft der Affekte und verweisen zudem auf das Katharsis-Modell in Lessings Hamburgischer Dramaturgie, das eine moralische Besserung des Menschen durch die Erregung von Furcht und Mitleid bewirken will. Dem Lessing-Vergleich ist allerdings mit Vorsicht zu begegnen, da er zu dem Eindruck verführen könnte, Zarathustra ziele auf eine Umwendung des Amoralischen am Menschen ins Moralische, um am Ende einen ethisch besseren Menschen hervorzubringen. Das von ihm angestrebte neue ‚Gute‘ verfolgt aber nicht primär das Ziel einer ethischen Besserung, sondern ist funktional auf die Überwindung des alten Menschen ausgerichtet. Zarathustras intendiert nicht die Reinigung von Leidenschaften, sondern ihre Umwidmung in einen Antriebs- und Energiequell, der den Menschen sein aktuelles Mensch-Sein grundsätzlich in Frage stellen lässt. Nicht für die Transformation der Triebe, sondern für eine Strategie der Verdrängung hat sich das sprechende „Ich“ eines nachgelassenen Notats entschieden: „Ich habe alle diese wilden Hunde noch bei mir, aber in meinem Keller. Ich will sie nicht einmal bellen hören.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]141, 202, 23 f.) In Za I Vom Baum am Berge hingegen, wo das Motiv der „wilden Hunde“ wiederkehrt, geht es weder um Verdrängung noch um Sublimierung, vielmehr malt Zarathustra dem Jünger dort die Gefahr aus, die Herrschaft über seine Triebe zu verlieren: „Aber auch deine schlimmen Triebe dürsten nach Freiheit. Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie bellen vor Lust in ihrem Keller, wenn dein Geist alle Gefängnisse zu lösen trachtet.“ (53, 8–11) Aufgerufen sind in den genannten Textstellen drei mögliche Haltungen, die der Mensch zu seinen Trieben einnehmen kann: Er kann sie verdrängen, er kann sich ihnen hingeben oder sie im Gegenteil umwandeln und sich dienstbar machen. Nicht in den Blick kommt die Möglichkeit der Transformation, wenn Za I Von der Keuschheit diffamierend von der „Hündin Sinnlichkeit“ (69, 16) spricht. Die Hundemetapher begegnet später auch in GM III 20, wo die „grossen Affekte“ (KSA 5, 388, 12) als „ganze Meute wilder Hunde“ verbildlicht werden, die „der asketische Priester unbedenklich […] in seinen Dienst genommen“ (KSA 5, 388, 14–16) habe. NK 5/2, 388, 14–16 weist darauf hin, dass bereits in der antiken Philosophie der Thymos, der leidenschaftliche und tatkräftige Seelenteil, mit einem Hund verglichen wird, so in Platons Politeia 375a–e und in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, wo in 1149a25–32 über den Thymos gesagt wird, er verhalte sich „wie der Hund, der, sobald ein Geräusch entsteht, anschlägt, ehe er untersucht, ob es ein Freund ist: gerade so stürmt der Zorn wegen der Hitze und Raschheit seiner Natur auf die Rache los, indem er etwas hört, aber die Vorschrift der Vernunft nicht anhört“ (Aristoteles 1856, 209). 43, 13–15 Aus deinen Giften brautest du dir deinen Balsam; deine Kuh Trübsal melktest du, – nun trinkst du die süsse Milch ihres Euters] Von der Verwandlung

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von Gift in heilenden Balsam ist auch im Nachlass die Rede: „Aus meinem eigenen Gifte mache ich Balsam für meine Gebresten: und ich melkte die Milch aus dem Euter meiner Trübsal.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]102, 198, 20–22; vgl. auch NL 1882/ 83, KSA 10, 4[6], 111, 1–3) Der metaphorische Konnex von Milch und Trübsal begegnet bereits in MA I 292 (vgl. KSA 2, 237, 3–6). 43, 18–31 Mein Bruder, wenn du Glück hast, so hast du Eine Tugend und nicht mehr: so gehst du leichter über die Brücke. / Auszeichnend ist es, viele Tugenden zu haben, aber ein schweres Loos; und Mancher gieng in die Wüste und tödtete sich, weil er müde war, Schlacht und Schlachtfeld von Tugenden zu sein. / Mein Bruder, ist Krieg und Schlacht böse? Aber nothwendig ist diess Böse, nothwendig ist der Neid und das Misstrauen und die Verleumdung unter deinen Tugenden. / Siehe, wie jede deiner Tugenden begehrlich ist nach dem Höchsten: sie will deinen ganzen Geist, dass er i h r Herold sei, sie will deine ganze Kraft in Zorn, Hass und Liebe. / Eifersüchtig ist jede Tugend auf die andre, und ein furchtbares Ding ist Eifersucht. Auch Tugenden können an der Eifersucht zu Grunde gehn.] Diese Ausführungen zeugen von der Umwertung und prinzipiellen Infragestellung des Tugend-Begriffs. Gerüttelt wird an seinem Fundament, nämlich an dem Verständnis von Tugenden als erstrebenswerten und dem Menschen dienlichen Eigenschaften, das allen Tugendentwürfen seit der Antike zugrunde liegt. Konträr dazu verhält sich Zarathustras Behauptung, dass der Besitz vieler Tugenden schädlich sei, denn er sieht sie in agonalem Verhältnis zueinanderstehen und erklärt anthropomorphisierend die von Leidenschaften angetrieben Tugenden verstrickt in einen Kampf um Dominanz. Damit erhält der christliche Topos vom Kampf der Tugenden gegen die Laster, den erstmals der christlich-spätantike Dichter Prudentius (348–405 n. Chr.) literarisch in dem Lehrgedicht Psychomachia gestaltete, eine gänzlich veränderte Bedeutung. Laut Zarathustra kämpfen die Tugenden gegeneinander und sind zudem von den Lastern gar nicht mehr zu unterscheiden. Seine Bewertung dieses Kampfgeschehens fällt ambivalent aus: Er betont dessen destruktives Potential, vor allem aber hebt er Agonalität als Prinzip der Steigerung hervor. Vgl. zur Hochschätzung des ‚Bösen‘ als Antriebskraft des Menschen NK 4/2, 274, 2–11. Zum Motiv des Über-die-Brücke-Gehens, das für das transitorische Moment der ÜbermenschWerdung einsteht, vgl. NK 16, 30–17, 1. 43, 32 f. Wen die Flamme der Eifersucht umringt, der wendet zuletzt, gleich dem Scorpione, gegen sich selber den vergifteten Stachel.] Ein Notat aus dem Winter 1882/83 lautet: „In der Flam〈me〉 der Eifer〈sucht〉 wendet man den vergifteten Stachel gegen sich selber, gleich dem Skorpion – doch ohne s〈einen〉 Erfolg“ (NL 1882, KSA 10, 5[35], 229, 14–16). Im Hintergrund steht eine vielfach überlieferte Legende, der zufolge sich der Skorpion selbst tötet, wenn er sich von einem Feuerkreis umschlossen sieht. Ob es damit tatsächlich seine Richtigkeit habe und der Skorpion

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somit als einziges Tier des Suizids fähig sei, wurde in Publikationen zu N.s Zeit durchaus unterschiedlich beurteilt. Entgegen der Einschätzung von Zoologen, die dies ins Reich des Fabulösen verweisen, berufen Adolf und Karl Müller, die Verfasser eines populärwissenschaftlichen Buchs über Leben und Eigenthümlichkeiten in der mittleren und niederen Thierwelt, sich auf eine mündliche Quelle, einen Offizier, der selbst die Probe aufs Exempel gemacht haben soll: „Den Feuerring machte er aus glühenden Kohlen und die Asche etwa 15 Zoll weit um die Höhle, und jedesmal kam der Skorpion heraus, versuchte mehrere Minuten lang zu entkommen, beugte dann aber den Schwanz nachdenklich resignirt über den Rücken und stach sich mit dem Stachel tief zwischen zwei Leibringe in die Fuge, worauf er alsbald starb.“ (Müller/Müller 1868, 134) Ähnlich bestätigt der Artikel Der Selbstmord eines Skorpions in der Gartenlaube von 1855 (Heft 4, 55 f.) die Selbsttötungs-These. Hingegen merkt Friedrich Anton Heller von Hellwald in der dritten Auflage seiner Kulturgeschichte sehr viel skeptischer und unter Berufung auf eine Debatte in der englischen Zeitschrift Nature an, es sei „fraglich“, ob im Falle des Skorpions von einem „echten Selbstmord“ zu sprechen sei (Hellwald 1883, 9, Fn. 2). Die 1887 veröffentlichte Vorrede zu M greift das Bild des sich selbst vergiftenden Skorpions erneut auf und überträgt es auf die Moral, die den „kritischen Willen“ lähme, „so dass er sich dann, gleich dem Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht“ (M Vorrede 3, KSA 3, 13, 5–8). 44, 3 Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss] Zur programmatischen Forderung nach Überwindung des Menschen vgl. NK 14, 13–15.

Vom bleichen Verbrecher. Strukturierende Leitbegriffe dieser Rede sind neben dem Begriff der Krankheit die Gegensatzpaare Leben und Tod, Vernunft und Wahnsinn sowie die moralischen Kategorien des Guten und Bösen. Im Mittelpunkt steht die gesellschaftliche Außenseiterfigur des Verbrechers, an der die Überschreitung moralischer Normen dargestellt und in ihren Konsequenzen reflektiert wird. Auf sie konzentrieren sich die Forschungsbeiträge von Stettenheimer 1900, Gould 1985, Balke 2003 und Kuhnle 2003; vgl. auch die entsprechenden Abschnitte in den Za-Kommentaren: Rosen 1995, 122–126; Pieper 1990, 170–182; Burnham/Jesinghausen 2010, 41–44. James Dodd schreibt Zarathustras Rede „Vom bleichen Verbrecher“ eine weit über den Werkkontext von Za hinausweisende Bedeutung zu, denn er sieht in ihr in besonderer Dichte Zentralthemen N.s angeschlagen – Moral, Geschichte, Subjektivität, Körper, Wille, Gesundheit und Krankheit – und versteht sie daher als „a rare opportunity to cast a view over the whole of Nietzsche’s project” (Dodd 2005, 54). Mit „Recht“, „Gesetz“ und „Strafe“ beschäftigen sich bereits mehrere Abschnitte aus N.s vorange-

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gangen ‚Aphorismenbüchern‘; vgl. z. B. MA I 105, 459; MA II VM 78; MA II WS 22; M 11, 13, 24, 202 u. 236; FW 43, 117, 219 u. 321. Gekennzeichnet ist Zarathustras Rede durch einen ständigen Perspektivwechsel. Sie vermittelt abwechselnd Einsicht in den Verbrecher, in seine Motive und seine psychische Verfasstheit vor und nach der Tat, wie auch in den Umgang mit dem Verbrecher durch die richtenden Instanzen der Gesellschaft. Diese doppelte Optik bleibt bis zum Ende gewahrt und ist für Zarathustras Haltung entscheidend. Immer wieder wendet er sich an die „Richter und Opferer“ (45, 2), die er zu einem psychologisch und anthropologisch neuen Verständnis des Verbrechers und seiner Tat auffordert. Dabei konzentriert er sich auf die Form des Verbrechens, die dem allgemeinen ethischen Verständnis zufolge als die verwerflichste gilt, nämlich auf die vorsätzliche Tötung eines Menschen. Charakteristisch für Zarathustras Haltung gegenüber Mord und Mörder ist nun allerdings, dass er moralische Kategorien für unangemessen erklärt und folglich das ethische Problem des Verbrechens aus einer nicht-ethischen Perspektive zu betrachten sucht. Zarathustra weist dem Verbrecher nicht bloß die Rolle einer exemplarischen Außenseiterfigur zu, sondern charakterisiert ihn als leidenden Menschen schlechthin. Er versteht ihn als einen Kranken und begreift seine Tat als Ausdruck einer grundsätzlichen Krankhaftigkeit der menschlichen Existenz (in einem Notat zur Figur des bleichen Verbrechers fällt denn auch der Begriff der „Entartung“; vgl. NK 45, 1). Er pathologisiert aber die mörderische Tat nicht allein, sondern rechnet sie dem Drang nach einem Ausweg zu, denn er charakterisiert den Mörder als einen Leidenden, der nach „Überwindung“ des Ich, nach „Erlösung“ vom menschlichen Dasein strebt. Das Mordmotiv ist demnach der eigene Todeswunsch; der Verbrecher tötet, um die eigene Tötung durch die Richter zu provozieren. Wenn Zarathustra in Anspielung auf das Delikt des Lustmords von der „möderische[n] Lust“ (47, 1) des Täters spricht, dann verweist er auf eine triebhafte Komponente dieser Tat, die er jedoch nicht sexuell motiviert sieht, sondern durch den Todestrieb des Täters. Es liegt ihm fern, den Mörder moralisch zu verurteilen, im Gegenteil begreift er ihn als eine Existenz, die sich kraft ihrer Tat weit über den Durchschnittsmenschen hinaushebt, der krampfhaft an seiner obsoleten Daseinsform festhält. Entsprechend stellt ein nachgelassenes Notat den Wahnsinn des bleichen Verbrechers geradezu als vorbildlich hin: „Vieles macht mir Ekel an euren Guten und wahrlich nicht ihr Böses. / Ich wollte, sie hätten einen Wahnsinn, an dem sie zu Grunde giengen, wie der bleiche Verbrecher an seinem Wahnsinn, / ich wollte, ihr Wahnsinn hieße Mitleid oder Treue oder Gerechtigkeit. / Aber sie haben ihre Tugend, um lange zu leben, – – –“ (NL 1882, KSA 10, 4[229], 175, 17–24). Kuhnle 2003, 33 versteht die dem bleichen Verbrecher zugeschriebene „grosse Verachtung“ (45, 4) als „Index“ für die auf den „Topos der Überwindung“ bezogene Position des Übermenschen, die in Zarathustras Augen die „einzig wahrhafte Position“ vorstelle.

Überblickskommentar Za I Vom bleichen Verbrecher

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Zugleich mit der Stilisierung des Verbrechers zur leidenden Existenz, die sich durch ihre auf das Selbstopfer zielende Tat aktiv von ihrem Leid zu erlösen suche, schreibt Zarathustra dem Verbrecher eine zerrissene Psyche zu. Widerstreitende Kräfte sieht er in ihm am Werk: Im Nachhinein sei der Mörder unfähig, der eigenen Tat stand zu halten, er erweise sich als ihr nicht gewachsen und schrecke erbleichend vor ihr zurück. Der bleiche Verbrecher stellt daher nach Stettenheimer 1900, 390 einen Gegenentwurf vor zum Helden, der zwar ebenfalls über die geltenden Gesetze hinausdränge, dessen Heroentum sich aber darin erweise, dass er in der Lage sei, diese Überschreitung auch auszuhalten. Dem bleichen Verbrecher hingegen bedeutet seine Tat nicht den ersten Schritt einer Selbstüberwindung, sondern eine neue Festlegung, nimmt er sich selbst doch retrospektiv ausschließlich als Täter wahr und ist er doch völlig von dieser Vorstellung okkupiert. Zarathustra bezeichnet dies als eine Form von Wahnsinn – „den Wahnsinn n a c h der That“ (46, 9), der dem handlungsleitenden „Wahnsinn […] vor der That“ (46, 11 f.) korrespondiert. Im Nachhinein bemühe sich die „arme Vernunft“ des Verbrechers darum, das triebhafte Geschehen rational zu motivieren. So leugne er vor sich selbst den Ursprung seiner Mordlust, den Durst nach Blut und Selbstopferung (vgl. 46, 15 f.), indem er rationalisierend Raub als Motiv vorschiebe und sich damit der Illusion hingebe, sein Handeln sei von Berechnung geleitet. Zarathustra erkennt darin jedoch lediglich den hilflosen Versuch des Mörders, sich Handlungsautonomie vorzugaukeln, denn seine „arme Vernunft“ reiche gerade eben aus, um die eigentlichen Triebkräfte zu verschleiern. Am Beispiel des Verbrechers rückt derart die menschliche Existenz unter das Zeichen von Heteronomie; der bleiche Verbrecher wird zur Ansammlung destruktiver Kräfte erklärt, metaphorisch zu einem „Haufen von Krankheiten“ (46, 27) und einem „Knäuel wilder Schlangen“ (46, 30). Das Fragwürdige subjektiver Täterschaft wird N. später in GM I 13 aus sprachphilosophischer Sicht problematisierend und radikalisierend in den Blick nehmen, indem er Täterschaft dort als Sprachfiktion enttarnt und die Paradoxie von einem „Tun ohne Täter“ herausstellt (vgl. dazu NK 5/2, GM I 13). Nicht nur die Rolle des Verbrechers, sondern auch die des Richters erfährt in der Rede „Vom bleichen Verbrecher“ eine fundamentale Umwertung. Während der Mörder nach dem Selbstopfer strebe, scheint die angemessene Rolle des Richters darin zu liegen, dieses Opfer zu vollziehen. Der Verbrecher ist demzufolge in gewisser Weise sein eigener Richter und die richtenden Instanzen der Gesellschaft sind lediglich ausführende Organe, die ihn aus „Mitleid“ (45, 12) von seinem Dasein erlösen. Derart werden archaischer Opferkult und (moderne) Rechtsprechung ineinandergeblendet und die Rolle der Richter ins Zwielicht gerückt. Zwar agieren sie im Namen des Gesetzes und vertreten das Recht derjenigen, die die Gesetze befolgen, weshalb sie auch aus der Sicht der Gesellschaft zu den moralisch „Guten“ zählen. Zarathustra aber rüttelt an diesem Status, indem er sie archaischen Opfer-

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priestern gleichsetzt und ihnen überdies verbrecherische Neigungen unterstellt, sie im Widerspruch zu ihrem öffentlichen Agieren als rechtsprechende Instanzen zu Gedanken-Verbrechern erklärt (vgl. 45, 21–23). Am Ende seiner Rede verkehrt er die moralische Bewertung von Verbrecher und Richter, indem er feststellt: „Vieles an euren Guten macht mir Ekel, und wahrlich nicht ihr Böses“ (47, 11 f.). Unverkennbar richtet sich Zarathustras Abneigung auf die, die ein den herrschenden moralischen Maßstäben konformes Dasein führen, die sich in einem „erbärmlichen Behagen“ (47, 16) einrichten, während seine Sympathie dem bleichen Verbrecher gilt. So kommt der Figur des bleichen Verbrechers einerseits ein Normen sprengender Ausnahmestatus zu, andererseits ist evident, dass „dieser Mensch“ (46, 27 u. 30) nicht in der Lage wäre, das ‚Übermenschenprojekt‘ und die Idee der menschlichen Selbstüberwindung voranzutreiben. Dennoch wird der Verbrecher in anderen Reden mehrfach mit dem Schaffenden verknüpft und zur positiven Identifikationsfigur aufgewertet, weil er mit den bestehenden gesellschaftlichen Werten bricht und dadurch den Hass der gesellschaftlich Etablierten auf sich zieht: „Siehe die Guten und Gerechten! Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: – das aber ist der Schaffende.“ (26, 6–8; vgl. auch 266, 21–23) Zarathustra sympathisiert nicht allein mit dem Verbrecher, sondern erscheint als Schaffender neuer Werte aus der Perspektive der Gesellschaft selbst als ein Verbrecher. Über die desorientierende und jeglichen Halt vernichtende Schattenseite seines wertezersetzenden Verbrechertums klagt sein eigener Schatten in Za IV: „Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefährlichsten Wünschen lief ich nach, – wahrlich, über jedwedes Verbrechen lief ich einmal hinweg.“ (340, 3–6) 45, 1 Vom bleichen Verbrecher.] Ein Notat stellt dem bleichen Verbrecher als menschlicher Entartungsstufe den prometheischen Menschen gegenüber: „Befreit uns von der Sünde und gebt uns den Übermuth wieder! Der bleiche Verbrecher im Kerker und P r o m e t h e u s dagegen! Entartung!“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[75], 134, 17–21) 45, 2 f. Ihr wollt nicht tödten, ihr Richter und Opferer, bevor das Thier nicht genickt hat?] Das seltsam anmutende Warten der „Opferer“ auf das einwilligende Nicken des Opfertiers, das dadurch seine Opferung selbst initiieren soll, bringt ein Nachlassnotat als Forderung vor: „ihr sollt nicht tödten, bevor das Thier nicht nickt.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]203, 210, 4) Ähnliches konnte N. in dem Buch des befreundeten Indologen Paul Deussen über das System des Vedânta lesen, das er im Frühjahr 1883 eingehend zur Kenntnis nimmt, mit Anstreichungen versieht und gegenüber Overbeck als „ausgezeichnet“ lobt (06. 03. 1883, KSB 6/KGB III 1, Nr. 386, S. 339, Z. 51). Deussen führt das vedische Gebot an: „man soll das Opferthier um

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seine Einwilligung bitten“ (Deussen 1883, 324; die Seite ist mit Eselsohr gekennzeichnet). Über diesen Einzelnachweis hinaus scheint die Vorstellung wesentlich, dass die explizite Zustimmung des zu schlachtenden Tiers – entweder durch eine als Nicken gedeutete Kopfbewegung oder durch ‚freiwilliges‘ Laufen zum Altar – von frühgeschichtlichen Menschengemeinschaften an als notwendige Voraussetzung zur Durchführung eines Blutopfers erachtet wurde. In der klassischen Altertumswissenschaft und insbesondere in Studien zu griechischen Opferbräuchen findet diese Anschauung bis ins 20. Jahrhundert hinein große Verbreitung – so z. B. bei Ludwig Ziehen in Paulys Realencyclopädie (Ziehen 1939, 612), bei Karl Meuli (1946, 266 f.) und noch bei Walter Burkert (1972, 11). Zur Untermauerung dieser Annahme wird dabei vornehmlich auf einen Passus aus Plutarchs Schrift Über den Verfall der Orakel (435b–c) sowie auf zwei spätantike Scholien zu Aristophanes Frieden (ad V. 960) und zu den Argonautika des Apollonios von Rhodos (ad I 425) verwiesen, die man als Belege für den notwendigen Charakter der ‚Einwilligungsäußerung‘ des Opfertiers deuten wollte. Neuere Studien konnten allerdings zeigen, dass die in den genannten Textquellen referierten Bräuche und Rituale (wie z. B. das Gießen von Libationswasser auf den Kopf des Tiers) nicht dazu dienten, die ‚Zustimmung‘ des Opfertiers zu signalisieren und so den menschlichen Henker von Schuld zu entlasten, sondern vielmehr dazu, die Lebenskraft des Opfertiers zu überprüfen (vgl. dazu Naiden 2007). Geradezu vom Glück des Opfertiers und seiner Bereitschaft zur Preisgabe der eigenen Existenz spricht Zarathustra später in Za II Von den berühmten Weisen: „Und des Geistes Glück ist diess: gesalbt zu sein und durch Thränen geweiht zum Opferthier, – wusstet ihr das schon?“ (134, 6 f.) Der Opfergedanke erfährt in Za überwiegend positive Resonanz, insofern das Opfer nicht der Konsolidierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse dient, sondern die als Selbstopferung begriffene Opferung im Gegenteil als Fanfarenstoß vorgestellt wird für eine Überwindung aktueller Formen des Daseins und damit als Voraussetzung für eine Neubegründung von Mensch und Gesellschaft. Deutlich zwiespältig fällt die Thematisierung des Opfergedankens jedoch in Za III Von alten und neuen Tafeln 6 aus, wo die Opferung als ein blutrünstiger Gewaltakt der verinnerlichten „alte[n] Götzenpriester“ (251, 6) vorgestellt wird. Vom Opfertier ist in N.s Schriften von MA an die Rede, wobei er die Perspektive immer wieder verkehrt und das Verhältnis von Opfer und Gesellschaft neu beleuchtet. So statuiert MA II VM 89 eine „Philosophie des Opferthiers“ (KSA 2, 412, 21), in der sich das Opfer höher wertet als die gemeinschaftliche Moral, die sein Opfer verlangt, und M 215 zielt auf die unaufrichtige „M o r a l d e r O p f e r t h i e r e“ (KSA 3, 191, 29), denen es nur darum gehe, sich an sich selbst zu berauschen. Ein Fazit aus diesen Perspektivwechseln zieht in gewisser Weise FW 220: „O p f e r. – Ueber Opfer und Aufopferung denken die Opferthiere anders, als die

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Zuschauer: aber man hat sie von jeher nicht zu Worte kommen lassen.“ (KSA 3, 509, 21–23) 45, 3–9 Seht, der bleiche Verbrecher hat genickt: aus seinem Auge redet die grosse Verachtung. / „Mein Ich ist Etwas, das überwunden werden soll: mein Ich ist mir die grosse Verachtung des Menschen“: so redet es aus diesem Auge. / Dass er sich selber richtete, war sein höchster Augenblick: lasst den Erhabenen nicht wieder zurück in sein Niederes!] In der Figur des bleichen Verbrechers, der nickend die Zustimmung gibt zu seiner Tötung und sich derart selbst verurteilt (ähnlich Stellino 2013, 160, Fn. 23), wird ein zentraler Aspekt von Zarathustras Reden variierend aufgegriffen, nämlich die mit der Idee des Übermenschen verbundene Forderung nach der Selbstüberwindung des Menschen (hierzu NK 14, 13 f.). Sie ist bereits in der ersten Übermenschenrede in Za I Vorrede 3 mit der Metapher der „grosse[n] Verachtung“ (15, 23; vgl. dazu NK 15, 24–26) verknüpft, die die Selbstverachtung des Menschen meint und die Zarathustra dort als entscheidende Triebfeder vorstellt, um sich von dieser verächtlichen Form des Menschseins zu lösen. In Za IV Das Eselsfest konstatiert er mit Blick auf den hässlichsten Menschen, den vermeintlichen Wiedererwecker Gottes, eine ähnliche Verwandlung zum Erhabenen, die auch dort dem Auge abzulesen ist: „Du dünkst mich verwandelt, dein Auge glüht, der Mantel des Erhabenen liegt um deine Hässlichkeit: w a s thatest du?“ (392, 14 f.) In Za II Von den Erhabenen stellt Zarathustra den bzw. die Erhabenen als Figurationen des Übergänglichen vor, deren Existenzform auf Zukünftiges vorausweist und die im Begriff stehen, eine frühere Stufe des Daseins hinter sich zu lassen (vgl. hierzu NK 150, 1). 45, 8–11 Dass er sich selber richtete, war sein höchster Augenblick: lasst den Erhabenen nicht wieder zurück in sein Niederes! / Es giebt keine Erlösung für Den, der so an sich selber leidet, es sei denn der schnelle Tod.] Der „schnelle Tod“ als Ausweg für eine Existenz, die zwar über sich hinaus gelangt ist, aber nicht weiter kann, erscheint aus der Sicht des bleichen Verbrechers als der Tod zur ‚rechten Zeit‘, für den sich Za I Vom freien Tode stark macht: der Tod auf dem Höhepunkt des individuellen Daseins (vgl. 93, 2–4). Ein Notat aus dem Winter 1882/83 kennt außer dem schnellen Tod noch einen anderen Ausweg: „Es giebt keine Erlösung für den, der am Dasein leidet als nicht-mehr-an-seinem-Dasein-zu-leiden. Wie erreicht er das? Durch den s c h n e l l e n T o d oder d u r c h d i e l a n g e L i e b e.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]207, 210, 21–25) 45, 12–14 Euer Tödten, ihr Richter, soll ein Mitleid sein und keine Rache. Und indem ihr tödtet, seht zu, dass ihr selber das Leben rechtfertiget!] Die Ablehnung der Rache dürfte einen Reflex darstellen auf N.s intensive und kritische Auseinandersetzung mit Eugen Dührings Der Werth des Lebens, die dokumentiert ist in seitenlangen Exzerpten und Kommentaren aus dem Sommer 1875 (vgl. die Fragment-

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gruppe 9[1], KSA 8, 131–185). Dühring führt Recht und Strafe im Kern auf die „Befriedigung des Rachebedürfnisses“ (Dühring 1865, 221; Unterstreichung N.s) zurück und behauptet in einer zentralen Formulierung, die sich N. ebenfalls unterstrichen hat, dass „das Rachegefühl das Fundament sei, auf welchem der ganze Bau aller unserer Rechtsbegriffe ruht“ (ebd., 222). Im Gegensatz dazu fordert Zarathustra die Richter auf, ihr Tun einer grundlegend veränderten Motivation zu unterstellen und den Racheimpuls durch Mitleid, Versöhnungswillen und das Begehren nach dem Übermenschen zu ersetzen (vgl. 45, 15–17). Er verbindet seine Forderung mit dem Aufruf, derart das Töten in den Dienst des Lebens zu stellen. Das Denkmuster, demzufolge die Vernichtung von Leben, das als nicht lebenswert eingestuft wird, lebensfördernd sei, weil sie Platz schaffe für wertvolleres Leben, ist von „Zarathustra’s Vorrede“ an eng mit der Vision des Übermenschen verknüpft und findet wiederholt Ausdruck in Aufrufen Zarathustras zu Tötung und Vernichtung. So verlangt er etwa in Za I Vom freien Tode nach „Prediger[n]“ „des s c h n e l l e n Todes“ (94, 30), die all die „Faule[n] und Wurmfressne[n]“ (94, 28 f.) wie ein Sturmwind von den Lebensbäumen fegen sollen, an denen diese schon viel zu lang hingen. Die Denkfigur einer Vernichtung des Lebens im Namen des Lebens erfuhr starkes Echo in den eugenischen Diskursen ab den 1920er Jahren (vgl. dazu Grätz 2022a). 45, 15 f. Es ist nicht genug, dass ihr euch mit Dem versöhnt, den ihr tödtet. Eure Traurigkeit sei Liebe zum Übermenschen] Im Nachlass findet sich hierzu eine Variante, die andere Akzente setzt, indem sie das Leid derjenigen thematisiert, die den Verbrecher der Abschreckung wegen bestrafen: „Es ist nicht genug den Verbrecher zu strafen, wir sollten ihn auch noch mit uns versöhnen und ihn segnen: oder liebten wir ihn nicht, als wir ihm wehe thaten? Litten 〈wir nicht〉 daran, ihn als Werkzeug zur Abschreckung benutzen zu m ü s s e n?“ (NL 1882, KSA 10, 3[1], 183, 75, 3–7) 45, 18–20 „Feind“ sollt ihr sagen, aber nicht „Bösewicht“; „Kranker“ sollt ihr sagen, aber nicht „Schuft“; „Thor“ sollt ihr sagen, aber nicht „Sünder“.] Ein Nachlassnotat variiert: „‚Feind‘ will ich sagen, aber nicht ‚Verbrecher‘: ‚Gewürm‘ will ich sagen, aber nicht ‚Schuft‘: ‚Kranker‘ will ich sagen, aber nicht ‚Ungeheuer‘; ‚Narr‘ will ich sagen, aber nicht ‚Sünder‘“. (NL 1882, KSA 10, 3[1]330, 93, 13–16) Zarathustra erklärt moralische Kategorien für unangemessen und sucht das Problem des Verbrechens aus einer nicht-ethischen Perspektive zu betrachten. Deshalb lehnt er die mit moralischen Bewertungen behafteten Bezeichnungen „Bösewicht“, „Schuft“ und „Sünder“ ab und plädiert für ihre Ersetzung durch die moralisch indifferenten Begriffe „Feind“, „Kranker“, „Thor“ (45, 18–20). Überhaupt bestreitet er die Verbindlichkeit moralischer Kriterien. Gut und Böse, Recht und Unrecht gelten ihm nicht als überzeitliche Maßstäbe, sondern als interessengeleitete Setzungen, welche die

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Werte der jeweiligen Gesellschaft spiegeln und folglich dem historischen Wandel unterliegen: „es gab andre Zeiten und ein andres Böses und Gutes“ (47, 4 f.). 45, 21–23 Und du, rother Richter, wenn du laut sagen wolltest, was du alles schon in Gedanken gethan hast: so würde Jedermann schreien: „Weg mit diesem Unflath und Giftwurm!“] Indem Zarathustra dem Richter in Gedanken begangene Verbrechen unterstellt, nivelliert er die Differenz zwischen Richtendem und Gerichtetem. Noch grundsätzlicher dehnt ein Nachlassnotat die verbrecherische Disposition auf alle Menschen aus, schreibt ihnen freilich zugleich Verdrängung des eigenen gedanklichen Verbrechertums zu: „Wenn du laut sagen wolltest, was du Alles schon in Gedanken gethan hast, so würde Jedermann schreien: ‚weg mit diesem ekelhaften Gewürme! Es schändet die Erde‘ – und Jedermann würde vergessen haben, daß er ganz dasselbe auch in seinen Gedanken gethan habe. – So moralisch macht uns Offenherzigkeit.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]381, 99, 20–25) 45, 21 rother Richter] Das Farbadjektiv ‚rot‘ steht im Kontrast zum bleichen Verbrecher und lässt an das Blut an den Händen der richtenden Instanz denken, die den Verbrecher im Namen der Gesellschaft tötet. Damit unterläuft die Farbmetaphorik die Opposition von schuldig und unschuldig, denn sie weist auch den Richter als Täter aus. In Rechnung zu ziehen ist hierbei die semiotische Bedeutung, die der Farbe Rot im Bereich des Rechts und der Gerichtsbarkeit zukommt, wo sie, wie Thomas-Michael Seibert ausführt, die Orte kennzeichnet, an denen Gericht gehalten wird: „Gericht wird danach unter dem roten Baum oder der roten Tür gehalten. Rot ist aber auch die Farbe der Dienstkleidung des Scharfrichters, rote Kleider sollen gelegentlich auch die Verurteilten auf dem Weg zur Hinrichtung getragen haben. Überhaupt wird Röte zur Symbolfarbe der Hinrichtung. Die ‚Rothe bank‘ ist ‚die banke, worauf die richter des peinlichen Gerichts sitzen‘, und das Schwert in roter Scheide galt als Symbol der Blutgerichtsbarkeit. Der Obrist-Richter pflegt bei der Ausführung der zum Tode verurteilten Straftäter zum Gericht ‚einen rothen geschnitzten stab in handen zu haben‘.“ (https://rechts​ semiotik.de/sachen/rote-richter/) 46, 3–5 Ein Bild machte diesen bleichen Menschen bleich. Gleichwüchsig war er seiner That, als er sie that: aber ihr Bild ertrug er nicht, als sie gethan war.] In der nachgelassenen Sentenzensammlung Z I 1 (mit dem Titel „A u f h o h e r S e e“) heißt es bündig: „Der Verbrecher ist gewöhnlich seiner That nicht gewachsen, er widerruft und v e r l e u m d e t sie.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]375, 99, 1 f.) In derselben Sammlung findet sich auch ein Notat, das der Druckfassung nähersteht, da es unterscheidet zwischen der „Handlung“ und dem „Bilde“ dieser Handlung: „Man ist oft zwar seiner Handlung gewachsen, aber nicht seinem B i l d e der gethanen Handlung.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]111, 66, 19 f.) Es handelt sich hier um die Umkehrung einer in der rechtsphilosophischen Literatur zu N.s Zeit geläufigen Ar-

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gumentation, derzufolge jede „Handlung die Verwirklichung einer gewollten Vorstellung ist“ (Binding 1877, 173). Daraus leitet etwa Karl Binding die Verantwortung des Täters für seine Tat ab: „Da ‚die That gerade jenes vorhergesetzte Bild der Handlung abspiegelt‘, so kann der Handelnde die unbedingte Verantwortlichkeit nicht von sich ablehnen.“ (Ebd.) Demgegenüber fordert ein nachgelassener Entwurf N.s aus dem Winter 1883/84 gerade dazu auf, die Inkongruenz von Bild und Handlung offenzulegen: „Es ist zu zeigen, wie sehr alles Bewußte a u f d e r O b e r f l ä c h e bleibt: wie Handlung und Bild der Handlung v e r s c h i e d e n ist, wie w e n i g man von dem weiß, was einer Handlung v o r h e rgeht: wie phantastisch unsere Gefühle ‚Freiheit des Willens‘ ‚Ursache und Wirkung‘ sind: wie Gedanken nur Bilder, wie Worte nur Zeichen von Gedanken sind“ (NL 1883, KSA 10, 24[16], 654, 28–34). In der Rede „Vom bleichen Verbrecher“ ist des Verhältnis von Bild und Handlung nochmal anders gelagert, denn es geht nicht um das Bild, das einer „Handlung v o r h e rgeht“, sondern um ihr ‚Nachbild‘, das dem Täter unerträglich ist und ihn vor Schreck erbleichen lässt (vgl. dazu Dodd 2005, 58 f.). Das Versagen vor der Tat erinnert an das prägnante und zu N.s Zeit vielzitierte formelhafte Urteil über Shakespeares Hamlet, das Goethes Wilhelm Meister äußert: „eine große That auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist“ (Wilhelm Meisters Lehrjahre, 4. Buch, 13. Kapitel, Goethe 1853–1858, 16, 295). Damit ist auf Hamlets Handlungslähmung, auf seine Unfähigkeit zur Tat verwiesen, während Zarathustras Rede die Unfähigkeit meint, mit der vollbrachten Tat im Nachhinein zurecht zu kommen – ein Gedanke, den JGB 109 nochmal ganz ähnlich formuliert: „Der Verbrecher ist häufig genug seiner That nicht gewachsen: er verkleinert und verleumdet sie“ (KSA 5, 92, 16 f.). Eine ganz andere Perspektive auf die nicht zu ertragende Tat nimmt MA II VM 328 ein, der Abschnitt nämlich rückt nicht die verbrecherische, sondern im Gegenteil die ausgezeichnete Tat ins Zentrum, der die anderen „nicht gewachsen sind“, weswegen die Mitwelt den ‚Tugendbock‘ zum Sündenbock mache (vgl. KSA 2, 514, 26–515, 3). 46, 8–10 Der Strich bannt die Henne; der Streich, den er führte, bannte seine arme Vernunft – den Wahnsinn nach der That heisse ich diess.] Die als Vergleich für das Verhältnis des Verbrechers zu seiner Tat herangezogene Wahrnehmung der von einem „Strich“ in Bann geschlagenen Henne – nach Preyer 1881, 179 eine „wahrscheinlich uralte Beobachtung“ – wird häufig dem Universalgelehrten Athanasius Kircher zugerechnet, der im 17. Jahrhundert bei Versuchen mit einem Hahn einen hypnotischen Erstarrungszustand beschrieb. Das experimentum mirabile, wie Kircher seinen Versuch nannte, erfreute sich zu N.s Zeit großer Bekanntheit und war „namentlich bei Kindern sehr beliebt“ (Berliner Börsen-Zeitung, Abendausgabe, 15. 05. 1882, 13). Bis heute ist das Phänomen, das vielfaches Echo in der Populärkultur fand (vgl. Grünlich 2020, 170 f.), als ‚Hühnerhypnose‘ bekannt. Im 19. Jahrhundert bildete es im Kontext von Forschungen zur Nervenphysiologie einen Ge-

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genstand wissenschaftlicher Untersuchung. So fasste die Medizinisch-chirurgische Rundschau (1874, 808) den 1873 erschienenen Aufsatz Beobachtungen und Versuche über ‚hypnotische‘ Zustände bei Thieren des Leipziger Biologen Johann N. Czermak, der das Phänomen in mehreren Versuchsreihen untersuchte, mit den Worten zusammen: „Kirchner [sic!] beschrieb 1646 als ‚Experimentum mirabile‘ einen Versuch, in welchem eine Henne mit gefesselten Beinen und gestrecktem Hals und Kopf auf den Zimmerboden gelegt wurde, und nachdem von den Augen beginnend ein Kreidestrich nach rechts und links vom Kopfe über die Bodenfläche gezogen und die fesselnden Bänder gelöst worden waren, dieselbe mehrere Minuten lang in der unbequemen Stellung verharrte. […] Jener Zustand der Bewegungslosigkeit und Starre wird von dem Verf. als ‚Hypnotismus‘ bezeichnet und als eine Art echten kataleptischen Schlafes aufgefasst.“ Ähnlich wie auch die Biologen Maximilian Perty und William T. Preyer gelangte Czermak zu dem Ergebnis, dass es mit der von Kircher überlieferten Beobachtung prinzipiell „seine volle Richtigkeit“ habe, es aber keines Kreidestrichs bedürfe, sondern ein einfaches Festhalten ausreiche, um die Hühner in einen Zustand der „vollständige[n] Suspension ihrer Intelligenz oder ihres Willens“ zu versetzen (Czermak 1873, 109). Zarathustra hingegen greift zurück auf den in Erstarrung versetzenden (Kreide-)Strich: Wie dieser im experimentum mirabile den Hahn lähmt, so versetzt nach Zarathustra den Verbrecher die Erinnerung an die eigene Tat in einen kataplektischen Zustand, weil er seine Persönlichkeit ganz auf sie reduziert. Diesen Gedanken, demzufolge das Dasein des Verbrechers ausschließlich unter dem Zeichen seiner Tat wahrgenommen und dadurch in deren Bann geschlagen wird, bringt eine nachgelassene Vorstufe noch prägnanter zum Ausdruck. Sie erklärt dies zu einem Fall moralischer Hypnose: „Verbrecher werden von den moralischen Menschen als Zubehör Einer einzigen That behandelt – und sie selber behandeln sich so, je mehr diese Eine That die Ausnahme ihres Wesens war: sie wirkt wie der Kreidestrich um die Henne. – Es giebt in der moralischen Welt sehr viel Hypnotismus.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]96, 64, 20–24) Die ‚moralische Welt‘ sieht demnach also ab von der Person und ihren individuellen Motiven und hält sich ganz an das Faktum der Tat. Die Frage nach N.s Quelle, die Brusotti 2001, 123 f. und Sommer in NK 5/2, 389, 28–30 diskutieren, lässt sich wegen der großen Bekanntheit, derer sich das experimentum mirabile erfreute, wohl nicht definitiv klären. Als möglicher Kandidat erscheint die deutsche Übersetzung einer Sammlung von Aufsätzen James Braids unter dem Titel Der Hypnotismus, der Jahre später in einer Lektüre-Liste N.s begegnet: „Braid, Hypnotism. / deutsch v. Preyer 1882.“ (KGW IX 3, N VII 3, 188, 10 f.; vgl. NL 1886/87, KSA 12, 5[110], 229, 6) Bei Braid findet das Experiment allerdings nur knappe Erwähnung: „Bekannt ist, daß man ein Huhn bewegungslos machen kann, wenn man seinen Schnabel auf den Boden oder auf den Tisch

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hält und es dadurch nöthigt; /100/ einen Kreidestrich oder einen vor den Kopf gelegten Streifen gefärbten Papiers anzusehen.“ (Braid 1882, 99 f.) Auch ist zweifelhaft, ob N. bereits zur Zeit der ersten Aufzeichnung zum Hennen-Experiment die Aufsatzsammlung kannte (vgl. Brusotti 2001, 123 f.). In GM III 20 greift N. das Bild von der Henne und dem Strich wieder auf, der Kontext ist allerdings ein anderer. Denn zwar geht es auch dort in weiterem Sinne um Verbrechen, Schuld und Strafe, allerdings nicht in Hinsicht auf eine bestimmte Tat. Zur Debatte steht dort die prinzipielle christlich-priesterliche Hypnotisierung des Menschen durch die Zuschreibung von Sündhaftigkeit, die ihm sein Leiden als selbstverschuldet aufbürdet, was dazu führe, dass es ihm ergehe „wie der Henne, um die ein Strich gezogen ist. Er kommt aus diesem Kreis von Strichen nicht wieder heraus: aus dem Kranken ist ‚der Sünder‘ gemacht …“ (KSA 5, 389, 28-31). Ein Notat schlägt, wie NK 5/2, 389, 28–30 vermerkt, mit der Gleichsetzung von SündhaftigkeitsHypnose und fixer Idee den Bogen zum zeitgenössischen psychiatrischen Diskurs: „‚Idée fixe[‘] der Sünde, die Hypnotisirung der / Henne durch den Strich ‚Sünde‘“ (KGW IX 8, W II 5, 28, 46–48; NL 1888, KSA 13, 14[179], 364, 19–21). 46, 17–22 Seine arme Vernunft aber begriff diesen Wahnsinn nicht und überredete ihn. „Was liegt an Blut! sprach sie; willst du nicht zum mindesten einen Raub dabei machen? Eine Rache nehmen?“ / Und er horchte auf seine arme Vernunft: wie Blei lag ihre Rede auf ihm, – da raubte er, als er mordete. Er wollte sich nicht seines Wahnsinns schämen.] Die hier angesprochene Rationalisierung des Triebhaften kommt unverhüllt in einer Nachlass-Variante zum Ausdruck: „Mit seinen Absichten rationalisirt man sich seine unverständlichen Triebe: wie es z. B. der Mörder thut, der seinen eigentlichen Hang, zum Morde nämlich, damit vor seiner Vernunft rechtfertigt, daß er dabei einen Raub zu machen oder eine Rache zu nehmen beschließt.“ (NL 1882, KSA 10, 5[1]6, 187, 16–188, 3) 46, 23–26 Und nun wieder liegt das Blei seiner Schuld auf ihm, und wieder ist seine arme Vernunft so steif, so gelähmt, so schwer. / Wenn er nur den Kopf schütteln könnte, so würde seine Last herabrollen: aber wer schüttelt diesen Kopf?] Der gebräuchliche Phraseologismus „schwer wie Blei“, der für etwas Erdrückendes steht, wird hier wörtlich genommen und dadurch im Sinn verkehrt – das Bleigewicht erscheint als etwas, das leicht abzuschütteln wäre, sofern der damit Beschwerte nur seinen Kopf schütteln könnte: „Da liegt nun das Blei ihrer Schuld auf ihnen: sie sind so unbehend, so steif: wenn sie nur den Kopf schütteln könnten, würde es herab rollen. Aber wer bewegt diese Köpfe?“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]187, 208, 3–5) 46, 27–32 Was ist dieser Mensch? Ein Haufen von Krankheiten, welche durch den Geist in die Welt hinausgreifen: da wollen sie ihre Beute machen. / Was ist dieser Mensch? Ein Knäuel wilder Schlangen, welche selten bei einander Ruhe haben, –

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da gehn sie für sich fort und suchen Beute in der Welt.] Diese metaphorischen Veranschaulichungen fehlender Autonomie und mangelnder Willensfreiheit des Ich zeugen von der Auflösung des traditionellen Organismusgedankens. Das Ich erscheint hier nicht als eine Einheit, sondern als eine unorganisierte Vielheit, die unkoordiniert und räuberisch auf die Umwelt ausgreift. Im Nachlass findet sich hierzu eine Variante, die das unterstreicht und die anstelle von „Krankheiten“ von „Leidenschaften“ spricht: „Was ist der Mensch? Ein Haufen von Leidenschaften, welche durch die Sinne und den Geist in die Welt hineingreifen: ein Knäuel wilder Schlangen, die selten des Kampfes müde werden: dann blicken sie in die Welt, um da ihre Beute zu machen.“ (NL 1882/83, KSA 10, 5[1]185, 207, 23–26) Ein Passus, der in ähnlicher Weise die Integrität des Ich in Zweifel zieht, findet sich in Max Stirners Der Einzige und sein Eigenthum: „‚Was bin Ich?‘ so fragt sich Jeder von Euch. Ein Abgrund von regel- und /213/ gesetzlosen Trieben, Begierden, Wünschen, Leidenschaften, ein Chaos ohne Licht und Leitstern! Wie soll Ich, wenn Ich ohne Rücksicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die Moral vorschreibt, ohne Rücksicht auf die Stimme der Vernunft, welche im Lauf der Geschichte nach bitteren Erfahrungen das Beste und Vernünftigste zum Gesetze erhoben hat, lediglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine Leidenschaft würde Mir gerade zum Unsinnigsten rathen. – So hält Jeder sich selbst für den – Teufel; denn hielte er sich, sofern er um Religion u. s. w. unbekümmert ist, nur für ein Thier […]“ (Stirner 1845, 212 f.). Zur Frage nach N.s möglicher Stirner-Rezeption vgl. NK 81, 1–10 mit Angabe von Literatur. Von der mangelnden Verantwortlichkeit des Verbrechers für seine Taten handelt auch Paul Rée in seinem Buch Der Ursprung der moralischen Empfindungen, das N. 1876 seinem Verleger Ernst Schmeitzner zur Publikation empfiehlt (vgl. Bf. vom 18. 12. 1876, KSB 5/KGB II 5, Nr. 580, S. 207 f., Z. 4–11) und auf das er auch späterhin – sowohl lobend als auch ablehnend – verschiedentlich zu sprechen kommt. Rée leitet aus der mangelnden Willensfreiheit des Verbrechers dessen fehlende Verantwortlichkeit ab, um dann in seltsamer Inkonsequenz dennoch seine Bestrafung um der Abschreckung willen zu fordern: „Man hält den menschlichen Willen, wie gesagt, für frei. ‚Der Verbrecher verdient Strafe, weil er so gehandelt hat, während er doch anders handeln konnte.‘ / Hätte man dagegen die Nothwendigkeit der verbrecherischen Handlungen eingesehen, so würde die Vorstellung, dass ihnen zu vergelten sei, nicht haben Fuss fassen können. Vielmehr würde man richtig gesagt haben: Handlungen, die nothwendig sind, können des Geschehenen selbst wegen nicht zur Verantwortung gezogen, nicht vergolten werden; wohl aber muss dieselben, gerade weil sie nothwendig, dass [sic] heisst durch Motive bestimmt sind, Strafe treffen, damit die Furcht vor dieser Strafe dem Thäter selbst und allen übrigen zum Motiv werde, in Zukunft ähnliche Handlungen zu unterlassen.“ (Rée 1877, 49 = Rée 2004, 155)

SK Za I Vom bleichen Verbrecher, KSA 4, S. 46 / ÜK Za I Vom Lesen und Schreiben

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46, 33 f. Seht diesen armen Leib! Was er litt und begehrte, das deutete sich diese arme Seele] Zarathustras Variante des Dualismus von Leib und Seele: Das Primäre ist der Leib, die Seele reagiert auf seine Erfahrungen. 47, 3–5 Wer jetzt krank wird, den überfällt das Böse, das jetzt böse ist […]. Aber es gab andre Zeiten und ein andres Böses und Gutes.] Krankheit wird gedeutet als ein abweichendes Verhalten, das der aktuell geltenden gesellschaftlichen Norm nicht entspricht und daher als ‚böse‘ qualifiziert wird. 47, 6–8 Einst war der Zweifel böse und der Wille zum Selbst. Damals wurde der Kranke zum Ketzer und zur Hexe: als Ketzer und Hexe litt er und wollte leiden machen.] Vgl. dazu NK 82, 21 f. 47, 11 f. Vieles an euren Guten macht mir Ekel, und wahrlich nicht ihr Böses.] In einem nachgelassenen Notat erstreckt sich der Ekel auch auf das Böse, ausdrücklich aber nicht auf das Böse der Guten: „Es giebt Vieles an den Bösen, das mich ekelt, aber auch Vieles an den Guten: und wahrlich nicht eben ihr ‚Böses‘!“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]182, 75, 1 f.). Die Umwertung der herkömmlichen moralischen Kategorien ist eines der zentralen Anliegen Zarathustras. Entsprechend verdreht er immer wieder in paradox anmutender Weise die Relation von gut und böse, was seinen Kulminationspunkt in Za III Der Genesende 2 mit der Forderung erreicht, „dass der Mensch besser u n d böser werden muss“ (274, 5 f.; hierzu NK 4/2, 274, 2–11). Das Eingeständnis des Ekels steht in einem Spannungsverhältnis zu Zarathustras Charakterisierung in Za I Vorrede 2, die ihm den Affekt des Ekels gerade abspricht (vgl. NK 12, 23 f.). 47, 12–15 Wollte ich doch, sie hätten einen Wahnsinn, an dem sie zu Grunde giengen, gleich diesem bleichen Verbrecher! / Wahrlich, ich wollte, ihr Wahnsinn hiesse Wahrheit oder Treue oder Gerechtigkeit:] Eine abweichende Version dieser Passage bietet NL 1882/83, KSA 10, 4[229], 175, 19–23: „Ich wollte, sie hätten einen Wahnsinn, an dem sie zu Grunde giengen, wie der bleiche Verbrecher an seinem Wahnsinn, / ich wollte, ihr Wahnsinn hieße Mitleid oder Treue oder Gerechtigkeit.“ 47, 17 f. Ich bin ein Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann! Eure Krücke aber bin ich nicht] Metaphorisch drückt Zarathustra hier sein Selbstverständnis als Lehrer aus: Seine Ambitionen richten sich nicht auf alle Menschen, sondern nur auf die, die etwas wagen, die einen eigenen Antrieb entfalten und ihn, wie das Wortspiel aussagt, fassen und geistig erfassen können (vgl. ähnlich NL 1882, KSA 10, 4[117], 149, 5 f.; NL 1882, KSA 10, 5[1]173, 206, 18 f.).

Vom Lesen und Schreiben. Zarathustra nimmt Lesen und Schreiben nicht allein als Kulturtechniken in den Blick, sondern als soziale Praktiken, die er als demokratische Massenerscheinun-

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gen verdammt und stattdessen mit Distanz schaffender Wirkung einigen wenigen vorbehalten sehen will. Howey 1979 will darin ein Spiegelbild von N.s eigenem Autor-Selbstverständnis erkennen. Labhart 2006, 139–144 sieht die Abstraktheit von Literatur und Schrift durch Zarathustras Rede dem distanzierenden Lachen preisgegeben als dem „Medium des (leiblichen) Individuellen“. Vgl. außerdem die Abschnitte in den Kommentaren von Naumann 1899–1901, 1, 147–151; Weichelt 1922, 20–23 und Pieper 1990, 182–192. Eine Sonderrolle der Rede zeigt sich daran, dass N. sie gleich zweifach als Motto-Lieferanten nutzte, nämlich sowohl für Za III (vgl. NK 49, 3–7) als auch für die dritte Abhandlung von GM (vgl. NK 49, 8–10). Zuzustimmen ist Groddeck 2018, 36, der von einem „schwierige[n] Kapitel“ spricht. Denn „Vom Lesen und Schreiben“ propagiert einen elitären Autorschaftsentwurf und ist durchtränkt vom Pathos der Distanz. Zarathustra liefert einen Gegenentwurf zu Za I Vorrede 1. Nicht in der Rolle des Schenkenden, den es zu den Menschen hinunterzieht, um sie an seiner Weisheit teilhaben zu lassen, inszeniert er sich jetzt, sondern im Gegenteil in der des Erhabenen, der verachtungsvoll auf die gesellschaftliche Sphäre hinabblickt und sich verbal aggressiv von ihr abgrenzt. Zur zentralen Opposition von Individuum und Masse kommen strukturbestimmend die Oppositionen von oben und unten, Berg und Tal hinzu. Während Zarathustra für sich eine Position der Souveränität und Stärke beansprucht, betrachtet er die anderen Menschen als inferior und schwach. Und während er sich lachend über die Niederungen des Daseins erheben will, glaubt er die Mehrheit der Menschen in einem mediokren Dasein gefangen. Dem Lachen als Ausdruck seiner Überlegenheit und Leichtigkeit stellt er den „Geist der Schwere“ gegenüber, der als personifizierte Schwer- und Gegenkraft in Za III eine zentrale Rolle spielen wird (vgl. NK 49, 29–33; ÜK Za III Vom Geist der Schwere und NK 4/2, 241, 1). ‚Schwierig‘ ist „Vom Lesen und Schreiben“ nicht allein aufgrund des propagierten Elitarismus, sondern auch wegen einer eigentümlichen argumentativen Inkonsistenz. Zarathustra lässt die Thematik des Lesens und Schreibens nämlich unvermittelt fallen und kommt im zweiten Teil seiner Rede (ab 49, 11) appellativ auf unterschiedliche menschliche Lebenshaltungen zu sprechen. Bezugspunkt bleiben zwar die von ihm beanspruchte Überlegenheit und Leichtigkeit, dennoch spiegelt sich in den wechselnden Adressatenanreden ein schwankendes Selbstverständnis. Während er zunächst aus der Ich-Perspektive seine Auffassung des Lesens und Schreibens vorstellt, wechselt er später mehrfach in die Anrede-Form, indem er sich explizit an die Durchschnitts-Menschen richtet, um sich forciert von ihnen abzugrenzen: „Ich empfinde nicht mehr mit euch“ (48, 23). Unvermittelt wechselt er in der Mitte seiner Rede in die Wir-Form über, indem er erklärt, dass ihn das Leiden am Leben mit den anderen Menschen verbinde („Wir sind allesammt“; 49, 14). Am Schluss spricht er wieder ausschließlich von sich und seinem exzeptionellen Status, indem er sich zwar nicht als Gott, wohl aber als Medium eines tanzenden Gottes entwirft.

Überblickskommentar Za I Vom Lesen und Schreiben

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Damit hat sich das Ende der Rede inhaltlich weit vom Beginn entfernt, wo ausgehend vom Schreiben und Lesen der Gegensatz zwischen dem aktiv schaffenden Einzelnen und der sich rezeptiv verhaltenden Masse der „lesenden Müssiggänger“ (48, 6) in den Blick genommen wird. Zarathustra bewertet die Ausweitung des Lesevermögens nicht als Fortschritt, sondern beklagt im Gegenteil den mit ihr einhergehenden Niveauverlust, der sich vom Lesen auf das Schreiben und Denken übertrage: „Dass Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das Denken.“ (48, 9 f.) Die polemische Abwehr der volksaufklärerischen Bildungsidee ist unübersehbar antidemokratisch imprägniert. Sie kehrt die gängige Argumentation um, wonach Alphabetisierung und Ausweitung der Lesekompetenz einen wichtigen kulturellen Entwicklungsindikator darstellen und deutet sie stattdessen als kulturelles Niedergangssymptom und Ausdruck einer die Kultur schädigenden Nivellierung. Zu lesen sind diese kulturkritischen Invektiven vor der historischen Folie der Expansion des literarischen Marktes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert. Schon der 28–jährige N. erweist sich als Beobachter dieser Entwicklung, wenn er 1873 in einem Brief an Malwida von Meysenbug von Deutschland spricht als dem „Lande der wüstesten Buch- und Zeitungsmacherei (im Jahre 1872 allein 12000 d e u t s c h e Bücher!)“ (KSB 4/KGB II 3, Nr. 297, S. 128, Z. 8–10). Gekennzeichnet war der von N. registrierte Aufschwung des Zeitungs- und Buchwesens insbesondere durch die Hochkonjunktur der Familienzeitschriften sowie die sprunghafte Zunahme von Unterhaltungs- und Kolportageliteratur (einer an der Haustür vertriebenen reißerischen Form von Trivialliteratur). Die wahllos Bücher verschlingende ‚Vielleserei‘ wurde von N.s Zeitgenossen vielfach als kulturelle Dekadenzerscheinung angeprangert. Ein 1878 publizierter Leitfaden zum Verfassen von Schulaufsätzen wartet eigens mit einem warnenden Kapitel „Ueber die Lesesucht“ auf: „Noch nie war die Lesesucht so hoch gestiegen, noch nie so allgemein verbreitet, als in unseren Tagen, wo auch die schlimmen Wirkungen derselben immer zahlreicher und bedenklicher werden. Sie ist es, welche so manchen gesunden Kopf verwirrt, so manches gefühlvolle Herz in leidenschaftliche Erregung versetzt“ (Beck 1878, 94). Ein plastisches Beispiel für krankhafte Lesesucht stellt Gottfried Keller in seinem von N. geschätzten Roman Der grüne Heinrich vor Augen, wo eine ganze Familie sich der Lektüre „schlechter Romane“ hingibt: „Verlorengegangene Bände aus Leihbibliotheken, geringer Abfall aus vornehmen Häusern oder von Trödlern erstanden, lagen in der Wohnung dieser Leute auf Gesimsen, Bänken und Tischen umher, und an Sonntagen konnte man nicht nur die Geschwister und ihre Liebhaber, sondern Vater und Mutter, und wer sonst noch da war, in die Lektüre der schmutzig aussehenden Bücher vertieft finden. Die Alten waren thörichte Leute, welche in dieser Unterhaltung Stoff zu thörichten Gesprächen suchten; die Jungen hingegen erhitzten ihre Vorstellungskraft an den gemeinen

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unpoetischen Machwerken, oder vielmehr, sie suchten hier die bessere Welt, welche die Wirklichkeit ihnen nicht zeigte.“ (Keller 1879, 159) Eugen Dühring überträgt die Kritik an einem Zuviel von Lektüre auf die Wissenschaft und diagnostiziert auch dort eine stumpf machende ‚Überlesenheit‘: „Ueberhaupt führt nun, und zwar nicht blos bei Professoren, sondern bei den meisten Gelehrten, welche sich den herrschenden Gewohnheiten gemäss verhalten, die Vielleserei einen abgestumpften Zustand von Verstand und Gemüth herbei, soweit diese beiden Dinge noch Angesichts des Dreschens von leerem Stroh in Frage kommen mögen. Die Ueberlesenheit ist daher eine der wichtigsten Gelehrtenkrankheiten und wird in unserer Zeit durch die in falscher Richtung künstlich, vermöge der Staatsgehälter, genährte Ueberproduction an Bücher- und Zeitschriftenmüll in das Ungeheuerliche gesteigert. Sie beruht auf hochgradiger Kritiklosigkeit und vermehrt dann wiederum die letztere noch, indem sie abstumpft, gleichgültig macht und das Unterscheidungsvermögen schliesslich so gut wie ganz lähmt.“ (Dühring 1878b, 500) Auch Zarathustra stößt ins Horn der kulturkritischen Vielleserei-Kritik (siehe hierzu auch NK 48, 9 f.) und fordert im Gegenzug dazu auf, Lesen und Schreiben als exklusive kulturelle Praktiken zu kultivieren. An die Stelle der anonymen Produktionsmechanismen der aufkommenden Massenpresse setzt er die individuelle Schöpfung herausgehobener Einzelner. So erklärt er seine Hochschätzung für das, „was Einer mit seinem Blute schreibt“ (48, 2 f.), und verlangt eine entsprechend hingebungsvolle Rezeptionshaltung. Er präsentiert nicht bloß ein elitäres Konzept von Autorschaft, sondern denkt zudem an einen elitären Zirkel von Lesern: „Sprüche sollen Gipfel sein: und Die, zu denen gesprochen wird, Grosse und Hochwüchsige.“ (48, 16 f.) Es kann nicht verwundern, dass diese Forderungen nach einer Exklusivität des Lesens und Schreibens im George-Kreis, in dem N.s Schriften ohnehin intensiv rezipiert wurden (vgl. Bolay 2017), starke Resonanz erfuhren (vgl. NK 48, 2–4). Als kulturkonservativer Entwurf von Autorschaft, der es darauf anlegt, dem Lesen und Schreiben inmitten der modernen Massengesellschaft eine besondere Aura zu sichern, bietet das von Zarathustra skizzierte Konzept einer ‚Gipfelliteratur‘ einen geeigneten Trittstein für den programmatischen Ästhetizismus Stefan Georges, der darauf abzielt, dem Dichter noch in der industrialisierten Moderne des beginnenden 20. Jahrhunderts die herausgehobene gesellschaftliche Rolle eines Sehers und Führers zu sichern. Zugleich beschwört die abschätzige Beurteilung des zeitgenössischen Lesers das Problem des Adressaten herauf, das Zarathustra dann auch in seiner Konsequenz scharf formuliert: „Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr für den Leser“ (48, 7). Es liegt nahe, hierin einen Reflex zu sehen auf N.s eigenes prekäres Verhältnis zu seinen (realen und imaginierten) Lesern, wie es sich nicht zuletzt im Untertitel von Za spiegelt (vgl. dazu NK 9, 1 f.) – zumal Zarathustra selbst ja auch gar nicht als Schreibender hervortritt, sondern alle seine Lehren mündlich

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vermittelt. N. hat den Adressatenbezug seines Schreibens häufig reflektiert und dabei sowohl die reine Selbstbezüglichkeit seiner schriftstellerischen Produktion (vgl. dazu NK 48, 7) als auch die Ausrichtung auf ein erlesenes Publikum betont: „Dachte ich je an Leser, so immer nur an verstreute, über Jahrhunderte hin ausgesäete Einzelne: und mir geht es nicht so wie dem Sänger, dem erst ein volles Haus die Stimme geschmeidig, das Auge ausdrucksvoll, die Hand gesprächig macht.“ (NL 1881, KSA 9, 15[58], 654, 21–25; vgl. hierzu Zarathustras späteren Selbstentwurf als Sänger „in leerem Hause“; 241, 22.) 48, 1 Vom Lesen und Schreiben.] Die Beschäftigung mit dem Lesen und Schreiben bedeutet eine thematische Anknüpfung an Entwürfe aus der ersten Hälfte der 1870er Jahre. Im Frühjahr 1873 skizziert N. den folgenden Werkplan: „Ü b e r L e s e n u n d S c h r e i b e n. / 1. Das Viellesen. / 2. Das Vielschreiben. / 3. Der Stil. / 4. Die Rede.“ (NL 1873, KSA 7, 26[20], 585, 1–5) Im Herbst 1873 notiert er: „L e s e n u n d S c h r e i b e n. / Denken und Reden dagegen: welchen Einfluss übt darauf das viele Lesen und Schreiben?“ (NL 1873, KSA 7, 29[226], 722, 7–9) 48, 2–4 Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist.] Blut gilt als Lebenssaft; im Blut, so heißt es auch in der Bibel, ist das Leben (vgl. 5. Mose 12, 23). Zugleich erinnert das Schreiben mit Blut an magische Praktiken. MA II WS 42 spricht unter parodistischem Rückgriff auf Faust von dem mit Blut besiegelten Teufelspakt: Ein alter Soldat, dem man die Geschichte Fausts erzählt, vertritt die Ansicht, Faust habe die Hölle verdient, da er sich ja dem Teufel verschrieben habe. Seine Frau aber entgegnet: „Er hat ja Nichts gethan, als keine Tinte im Tintenfass gehabt! Mit Blut schreiben ist freilich eine Sünde, aber desshalb soll ein so schöner Mann doch nicht brennen?“ (KSA 2, 572, 12–15) Für Zarathustra ist das Schreiben mit Blut jedoch offenkundig nicht frivoles Zeichen eines Mangels (an Tinte), sondern ernsthafter Ausdruck eines gelingenden und hingebungsvollen Schreibens, eines Schreibens mit „Herzblut“, wie Weichelt 1922, 20 erläutert. Dass die Formulierung trotz solcher Übersetzungsversuche sperrig bleibt, betont Groddeck 2018, 37 f. unter Hinweis auf die irritierende Gleichsetzung von Blut und Geist. Als Parallelstelle führt er eine Formulierung aus Za II Von den berühmten Weisen an, die „Geist“ eine verletzende Qualität zuweist: „Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet“ (134, 3). Damit scheint gesagt, dass Geist, obzwar selbst ein Teil des Lebens, dennoch dem Leben Gewalt antut. Im Gegensatz dazu soll Geist im vorliegenden Zitat jedoch erst als Resultat des blutigen Schreibprozesses erfahrbar werden, so dass die Parallele nicht ganz stimmig scheint. Festhalten darf man aber wohl: Wichtig ist Zarathustra der Aspekt des KörperlichExistenziellen, ein Schreiben unter Hingabe des Leibes und des ‚Lebenssafts‘, das in eine Erfahrung von Geist mündet, die unmittelbar an den körperlich-existenziell verstandenen Vorgang des Schreibens geknüpft wird.

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Die Formel ‚mit Blut schreiben‘ wurde im George-Kreis zur festen Chiffre. Stefan George notiert zu ihrem angemessenen Verständnis, es gehe dabei nicht um das Vorführen der Wunden, unter denen sich der Künstler sein Werk abringe, sondern um das Authentische seiner künstlerischen Erregung: „so wird 〈Nietzsche's〉 ‚schreibe mit blut‘ von vielen missverstanden: ‚zeige damit man dich für echt hält ohne scheu die flecke deiner wunden und die zuckungen deiner wollust‘. diese mögen wir aber gar nicht sehen, denn kunst ist nicht schmerz und nicht wollust sondern der triumph über das eine und die verklärung des andern. tiefster schmerz deutet sich auch nicht an durch ausstossen von wehlauten auf offenem markt: […] so dachte gewiss auch Nietzsche sonst hätte er nicht gesagt: ‚schreibe mit blut‘ sondern: ‚schreibe mit roter tinte‘.“ (George 1896a, 31) Ähnlich schreibt George in einem Brief an Ida Auerbach am 26. Juni 1896: „Sie wollten sehen was in meinen werken form, was mit blut geschrieben ist ... zu meinem bedauern! denn sehen darf man solches nie. die kunst – meine kunst vielmehr – kann kein erlebnis keine erregung unmittelbar wiedergeben. sie wartet auf die rhythmische umsetzung. durch diese heraus die tiefe erregung ‚das blutende‘ klingend zu empfinden sei sache meiner wenigen leser.“ (Landmann/Höpker-Herberg 1983, 52) 48, 7 Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr für den Leser.] Nachgelassene Varianten ziehen aus der Verachtung des Lesers die Konsequenz eines rein selbstbezüglichen Schreibens, bei dem der Autor zugleich sein einziger Leser ist: „Wer ‚den Leser‘ kennt, schreibt gewiß nicht mehr für Leser – sondern für sich, den Schreiber.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]162, 72, 15 f.) „Ich achte die Leser nicht mehr: wie könnte ich für Leser schreiben? … Aber / ich notire mich, für mich.“ (KGW IX 6, W II 1, 1, 40–42; NL 1887, KSA 12, 9[188], 450, 27–29) N. kehrt Selbstbezüglichkeit vielfach als einen Grundzug seines Schreibens hervor; in Briefen spricht er vom „Mihi scribo“ (an Heinrich Romundt, 26. 09. 1875, KSB 5/KGB II 5, Nr. 488, S. 116, Z. 48) oder auch vom „Princip des ‚mihi ipsi scribo.‘“ (An Paul Rée, 29. 05. 1882, KSB6/KGB III 1, Nr. 235, S. 199, Z. 19) Und in MA II VM 167 ist zu lesen: „S i b i s c r i b e r e. – Der vernünftige Autor schreibt für keine andere Nachwelt als für seine eigene, das heisst, für sein Alter, um auch dann noch an sich Freude haben zu können.“ (KSA 2, 446, 2–4) N.s Briefe zeigen, dass es aber doch ein paar ausgewählte Leser gibt, „Grosse und Hochwüchsige“ (48, 17) könnte man mit Zarathustra sagen, an denen ihm gelegen ist. So schreibt er am 2. Dezember 1887 an Georg Brandes: „Verehrter Herr, ein paar Leser, die man bei sich selbst in Ehren hält und sonst k e i n e Leser – so gehört es in der That zu meinen Wünschen.“ (KSB 8/ KGB III 5, Nr. 960, S. 205, Z. 3 f.) Und Hippolyte Taine kündet er am 4. Juli 1887: „Ich bin ein Einsiedler, Sie werden es wissen, und bekümmere mich nicht viel um Leser und um Gelesenwerden, doch hat es mir seit meinen zwanziger Jahren (ich bin jetzt 43) niemals an einzelnen ausgezeichneten und mir sehr zugethanen Lesern gefehlt (es waren immer alte Männer), darunter zum Beispiel Richard

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Wagner, der alte Hegelianer Bruno Bauer, mein verehrter College Jacob Burckhardt und jener Schweizer Dichter, den ich für den einzigen lebenden d e u t s c h e n Dichter halte, Gottfried Keller.“ (KSB 8/KGB III 5, Nr. 872, S. 106 f., Z. 26–34) 48, 7 f. Noch ein Jahrhundert Leser – und der Geist selber wird stinken.] Im Nachlass findet sich eine analoge Formulierung, die dort allerdings explizit auf das Medium Zeitung abzielt: „Noch ein Jahrhundert Zeitungen – und alle Worte stinken.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]168, 73, 16) Und unter Hinweis auf die Briefe des neapolitanischen Aufklärers, Ökonomen und Philosophen Ferdinando Galiani (zu N.s Galiani-Lektüre vgl. NK 5/1, 44, 32–45, 4) notiert N. im April/Juni 1885: „Die / Freiheit der Presse richtet den Stil zu Grunde‘ / ˹u schließlich den Geist: das hat vor 100 Jahren˺ hat schon Galiani gesagt ˹gewußt.˺ – Die ‚Freiheit des Ge=/dankens‘ ˹richtet den˺ die Denker ˹zu Grunde˺.“ (KGW IX 1, N VII 1, 156, 24–30; vgl. NL 1885, KSA 11, 34[65], 440, 13–16) Siehe Galiani 1882, 2, 152: „Dieu vous préserve de la liberté de la presse établie par édit. Rien ne contribue davantage à rendre une nation grossière, à détruire le goût, à abâtardir l’éloquence et toute sorte d’esprit.“ („Gott bewahre Sie vor der Pressefreiheit, die per Edikt eingeführt wurde. Nichts trägt mehr dazu bei, eine Nation grob zu machen, den Geschmack zu verderben, die Beredsamkeit und jede Art von Geist verkümmern zu lassen.“) Zu Zarathustras (und N.s) Ausbrüchen gegen das Medium Zeitung vgl. NK 63, 3 f. 48, 9 f. Dass Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das Denken.] Vgl.: „Daß Jedermann lesen lernen darf und liest, das ruinirt auf die Dauer nicht nur die Schriftsteller sondern sogar die Geister überhaupt.“ (NL 1882, KSA 10, 4[70], 132, 8–10) N. dürfte Munition für seinen kulturkritischen Ausfall gegen das ‚Lesezeitalter‘ vor allem aus John Stuart Mills Essay Die Civilisation bezogen haben, der mit zahlreichen Anstreichungen versehen in seiner privaten Bibliothek erhalten ist. Mill charakterisiert die Gegenwart als eine „Zeit des Viellesens“: „Die Welt liest zu viel und zu rasch, um gut lesen zu können. So lange die Zahl der Bücher gering war, wurde mit Gedanken und mit dem Wunsche gelesen, soviel Material der Kenntnis daraus zu ziehen als irgend möglich. Was soll man aber thun, wenn fast Jeder, /22/ der die Buchstaben kennt, schreiben kann und will? […] Die Welt überfüllt sich in Folge dessen mit geistiger Nahrung, und stopft sie eilig in großen Bissen hinunter, um nur recht viel zu sich zu nehmen. Nichts mehr wird langsam oder zweimal gelesen. Man durchfliegt ein Buch mit derselben Geschwindigkeit wie einen Zeitungsartikel und es läßt auch kaum einen dauernderen Eindruck zurück.“ (Mill 1869–1886, 10, 21 f.; Mill zitiert sich hier selbst, er greift zurück auf seine Besprechung von „Austin’s Lectures on Jurisprudence“, 1932.) 48, 11 f. Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt wird er gar noch Pöbel.] Parodistische Zuspitzung des biblischen Ausspruchs aus Johan-

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nes 1, 14: „das Wort ward Fleisch“ (Die Bibel NT 1818, 108). Zarathustra parodiert die zentrale christliche Glaubensvorstellung von der Menschwerdung Gottes, indem er auf die Menschwerdung die ‚Pöbelwerdung‘ folgen lässt. 48, 13 f. Wer in Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden.] Analog, jedoch unter Verwendung des Gattungsbegriffs ‚Sentenz‘ (dazu NK 48, 15–17) formuliert ein nachgelassenes Notat: „Wer Sentenzen schreibt, will nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden.“ (NL 1882, KSA 19, 3[1]305, 90, 2 f.) Dem durch die reformpädagogische Unterscheidung zwischen Auswendiglernen und Verständnislernen in Misskredit geratenen Memorieren (bereits Rousseau war ein entschiedener Gegner des Auswendiglernens) kam traditionell in religiösen und spirituellen Zusammenhängen große kulturelle Bedeutung zu. Auf den religiösen Kontext deutet die Rede von den „Sprüchen“, die den Horizont der Spruch- und Weisheitsliteratur aufruft. N. präsentiert das Auswendiglernen hier wohl auch deshalb als ideale Form des Umgangs mit Geschriebenem, weil es das Geschriebene keinem subjektiven Verstehensakt unterwirft, sondern es unangetastet lässt. Dahinter steht eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Verstehen und Interpretieren als einem Aneignungsakt, wie sie auch in einem nachgelassenen Notat N.s zum Ausdruck kommt, in dem der Sprecher das Interpretieren als ein „Mittel“ bezeichnet, „Herr über etwas zu werden.“ (KGW IX 5, W I 8, 78, 42; vgl. NL 1885/86, KSA 12, 2[148], 140, 3 f.) Hin und wieder glaubte N. tatsächlich nicht interpretierende, sondern vorbildlich auswendiglernende Leser gefunden zu haben. So berichtet er Franz Overbeck am 14. September 1884 über Heinrich von Stein: „Dagegen ist Stein Dichter genug, um z. B. von dem ‚anderen Tanzlied‘ (dritter Theil) aufs Tiefste ergriffen zu sein (er hatte es auswendig gelernt)“ (KSB 6/KGB III 1, Nr. 533, S. 531, Z. 48–50). Wenn N. am Ende der Vorrede zu GM auf die „Kunst“ des guten Lesens zu sprechen kommt, dann metaphorisiert er es dort als „Wiederkäuen“: „Freilich thut, um dergestalt das Lesen als K u n s t zu üben, Eins vor Allem noth, […] zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls n i c h t ‚moderner Mensch‘ sein muss: d a s W i e d e r k ä u e n …“ (KSA 5, 256, 2–7 u. NK). Das ‚wiederkäuende Lesen‘ ist dem Auswendiglernen in seiner Insistenz verwandt, die ebenfalls flüchtiger Aneignung zuwiderläuft. Allerdings wird der mehrfach zerkaute Nahrungsbrei beim Wiederkäuen endlich doch der Verdauung zugeführt, während die Einverleibung beim Auswendiglernen ausbleibt (zum Wiederkäuen siehe NK 4/2, 334, 17–22). N.s Überlegungen zum rechten Lesen bilden einen Reflex auf die zeitgenössischen Veränderungen der Lesegewohnheiten; insbesondere das Medium Zeitschrift forderte zu einer zerstreuten Lektüre heraus und prägte eine Lesehaltung, die sich auf den raschen Wechsel unterschiedlicher Themen ausrichtete. 48, 15–17 Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber dazu musst du lange Beine haben. Sprüche sollen Gipfel sein: und Die, zu denen gesprochen wird,

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Grosse und Hochwüchsige.] Weiterführung des geistesaristokratischen Gedankens vom „hohe[n] Geistergespräch“ (KSA 1, 317, 21) der einsamen Genies, wie ihn im Anschluss an Schopenhauer bereits UB II HL formuliert (vgl. dazu NK 1/2, 317, 12– 22). Der junge Rilke wird dies später zuspitzen zum Motto einer elitären Kunst, von der er in seinem Florenzer Tagebuch (1898) sagt: „Die Kunst geht von Einsamen zu Einsamen in hohem Bogen über das Volk hinweg.“ (Rilke 1984, 40) In Za III Auf dem Oelberge beansprucht Zarathustra nicht allein für sich die (metaphorisch) langen Beine, die es dem großen Individuum möglich machen sollen, mit Riesenschritten über die Niederungen der Menschheit hinwegzuschreiten, sondern überdies überlegt er dort, wie diese langen Beine vor Neidern verbergen könne: „Muss ich nicht Stelzen tragen, dass sie meine langen Beine übersehen […]?“ (220, 23 f.) In der Sentenzensammlung Z I 1, die N. 1882 als Fundus für ein projektiertes „Sentenzen-Buch“ (NL 1882, KSA 10, 3[1], 53, 2) anlegte, und auf die er in Za I sowie später in JGB zurückgriff, findet sich die Formulierung „Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber du mußt dazu lange Beine haben! – Sentenzen s i n d Gipfel.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]163, 72, 17–19) Interessant ist der Wechsel der Gattungsbezeichnung: Im Kontext von Za spricht N. nicht von „Sentenzen“, sondern bibelaffin von „Sprüchen“. Die poetologische Auslegung des Gebirgs- und Gipfelmotivs ist nicht allein bei Schopenhauer, sondern auch in Ralph Waldo Emersons Neuen Essays vorgeprägt, der damit der göttlichen Erhabenheit des Dichters Ausdruck verleiht: „Der Dichter erkennt das fehlende Glied an der Freude, die er empfindet, es zu finden, der Dichter leiht uns unendliche Erfahrungen – wie ein Gott, der von Gipfel zu Gipfel schreitet und seine Füße nur auf den Bergspitzen niedersetzt.“ (Emerson 1876, 9) In Emersons Versuchen begegnet das Gipfelmotiv als Metapher für die als ideal präsentierte, da individuelle Größe wahrende Form der Kommunikation zwischen großen Einzelnen: „Laßt uns abgesondert sitzen wie die Götter, die von Gipfel zu Gipfel rund um den Olymp herum miteinander reden.“ (Emerson 1858, 371; in N.s Handexemplar durch mehrfache Randstriche hervorgehoben) N. gibt der Metapher des ‚Göttergesprächs‘ hier allerdings eine andere Wendung, indem er sie auf die Rezipienten bezieht, die eine entsprechende Größe aufweisen müssten. 48, 18 f. Die Luft dünn und rein, die Gefahr nahe und der Geist voll einer fröhlichen Bosheit: so passt es gut zu einander.] Mit der Metapher des Bergsteigers, der sich dicht am Rande des Absturzes bewegt, umschreibt Zarathustra sein Ideal einer geistigen Haltung, die sich mit „fröhliche[r] Bosheit“ – negierend, ohne in Pessimismus zu versinken – durch das Leben manövriert. Seine Zuneigung für diejenigen, die sich in gefährlicher Höhe bewegen, hat er bereits in Za I Vorrede 6 erklärt, wo er sich um den sterbenden Seiltänzer kümmert, der aus der „Gefahr“ seinen „Beruf gemacht“ habe (22, 16 f.; vgl. NK 22, 16–19).

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48, 20–22 Ich will Kobolde um mich haben, denn ich bin muthig. Muth, der die Gespenster verscheucht, schafft sich selber Kobolde, – der Muth will lachen.] Während NL 1875, KSA 8, 5[150], 81, 24 f. die „Ängstlichkeit gegen Kobolde und Spukereien“ in einem Atemzug nennt, zeichnet sich Zarathustra dadurch aus, dass er beiden gegenüber eine je andere Haltung an den Tag legt: Er schafft Gespenster aus der Welt und schafft sich selbst „Kobolde“ zum Erweis seines Mutes und seiner Überlegenheit. Diese Unterscheidung zwischen selbst- und fremdgeschaffenen Geistern findet sich auch in einer Vorstufe: „Der Muth vernichtet Gespenster, aber schafft Kobolde.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]173, 74, 1) 48, 23–49, 7 Ich empfinde nicht mehr mit euch: diese Wolke, die ich unter mir sehe, diese Schwärze und Schwere, über die ich lache, – gerade das ist eure Gewitterwolke. / […] / Wer von euch kann zugleich lachen und erhoben sein? / Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste.] Zarathustra inszeniert sich in elitärer Erhabenheit. Zentrales Mittel der Distanzschaffung ist sein Lachen, das ihn über die Niederungen des menschlichen Daseins hinaushebt und damit zugleich als Selbstschutzmechanismus wirkt. Es koppelt seinen Gefühlshaushalt von dem der anderen Menschen ab, indem es die Tragik des Lebens zur Komödie umwertet. Zu dieser selbsttherapeutischen lachenden Erhebungsstrategie finden sich im Nachlass folgende Vorstufen: „Wenn man sich über gut und böse erhoben hat, sieht man auch in der Tragödie nur eine unfreiwillige Komödie.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]78, 62, 21 f.) „Wer 〈auf〉 hohe Berge steigt, lacht über alle tragischen Gebärden.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]171, 73, 21 f.) Neuere Forschungsbeiträge machen auf die starke Präsenz und Bedeutung des Lachens in Za aufmerksam: Hurst 2020 verfolgt das Motiv im Durchgang durch den Text. Stoller 2016, 281–286 unterscheidet verschiedene Formen des Lachens in Za: ein den Anderen in Frage stellendes Auslachen, ein „Über-sich-selbst-Lachen“ (ebd., 281) und das „superiore Lachen des Übermenschen“ (ebd., 283). In Za IV, wo das Motiv kulminiert (so Meyer 2018, 157), tritt Zarathustra gegenüber den höheren Menschen als ein Lehrer des Lachens auf, das er dort jedoch nicht unter das Zeichen von Eskapismus und Verdrängung stellt, sondern als Mittel der Selbstüberwindung anpreist: „Wie Vieles ist noch möglich! Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss!“ (364, 9 f.) Simonis 2015 deutet Lachen und Tanzen als subversive Strategien, durch die Zarathustra sich als umgekehrte Erlöserfigur in Szene setzt, die einer lebensfeindlichen Kultur Errettung verspricht. Zum Motiv der lachenden Löwen vgl. NK 4/2, 351, 18–20. Zum Lachen in Za siehe auch Lippitt 1992, Pusse 2004, Bührmann 2009, Hay 2011; allgemein zum Lachen im Werk N.s: Kunnas 1982, Lippitt 1999, Marmysz 2003, Froese 2017, Meyer 2018. 49, 3–7 Ihr seht nach Oben, wenn ihr nach Erhebung verlangt. Und ich sehe hinab, weil ich erhoben bin. / Wer von euch kann zugleich lachen und erhoben sein? /

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Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und TrauerErnste.] Diese Passage, die N. wörtlich zitiert als Motto an den Beginn von Za III rückt (vgl. NK 4/2, 192, 1–5), betont die Diskrepanz zwischen den mit „ihr“ angesprochenen Menschen, die ihren Blick sehnsuchtsvoll nach oben richten, und dem „ich“ Zarathustras, das von oben, aus erhabener Position auf sie hinabschaut. Derart stilisiert er sich zur singulären, weit über die menschlichen Verstrickungen hinausgehobenen Gestalt, die sich souverän über die Tragik der menschlichen „Trauer-Spiele“ hinwegzusetzen vermag. 49, 8–10 Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann.] Die Festlegung des Mannes auf die Rolle des furchtlosen „Kriegsmann[es]“, der sein Leben aktiv und „gewaltthätig“ gestaltet, weist voraus auf Za I Vom Krieg und Kriegsvolke, wo Zarathustra ausruft: „Ich sehe viel Soldaten: möchte ich viel Kriegsmänner sehn!“ (58, 14; vgl. aber NK 59, 30 f.) Wie bedeutsam die Metapher vom kriegerisch-furchtlosen Erkenntnisstreben für N. war, zeigt sich daran, dass er den Ausspruch GM als Motto beifügt. Zunächst sieht er ihn für das Titelblatt vor (vgl. KGW IX 3, N VII 3, 32, 28–36 / NL 1886/87, KSA 12, 5[74], 218, 8–12), dann rückt er ihn in leicht veränderter Form an den Beginn von GM III: „Unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will u n s die Weisheit: sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann. / A l s o s p r a c h Z a r a t h u s t r a.“ (KSA 5, 339, 3–7; vgl. auch NK 5/2, 339, 3–7) Im Nachlass aus dem Sommer/Herbst 1882 findet sich der Ausspruch in leichter Variation: „Muthig, unbekümmert, spöttisch und sogar etwas gewaltthätig: so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und – liebt immer nur einen Kriegsmann.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]437, 106, 5–7) Ungewöhnlich ist die Perspektive, die den Wunsch nach Verbindung von Weisheit und Agonalität geschlechterdualistisch der allegorischen weiblichen Weisheit in den Mund legt. Die personifizierte Weisheit begegnet erneut in Za II Das Tanzlied, wo sie als „Frauenzimmer“ bezeichnet wird (141, 9 f.), und in Za III Das andere Tanzlied 2, wo das – ebenfalls personifizierte – Leben sie eine „tolle alte Närrin von Weisheit!“ schimpft (284, 23). Mit der weiblichen Personifikation der Weisheit schließt N. an eine weit zurückreichende Tradition an. In der altgriechischen Mythologie und frühen Kosmographie erscheint die Weisheit als Attribut verschiedener Göttinnen (allen voran der Pallas-Athene, siehe etwa Ilias XV 412) oder auch als weibliche Seite Gottes: So evozieren z. B. die Figuren der Sibylle in manchen Fragmenten Heraklits oder der allwissenden Göttin im Gedicht des Parmenides allegorische Darstellungen der Weisheit (vgl. Anthonioz/Tenaillon 2017, 94–96). In manchen Kulturkreisen, namentlich bei semitischen Völkern der vorjüdischen Zeit, wird die Weisheit als eigene Göttin verehrt: So gehören dem Pantheon z. B. des alten Kanaans (mit der Göttin Aschera), der ugaritischen Religion und der alten Ägypter (mit den Figuren von Maat und der Muttergöttin Isis) jeweils Gottheiten

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an, die als Schirmherrinnen oder Verkörperungen der Weisheit fungieren (siehe ebd., 86 f.). In der hellenistischen Zeit erhält der bereits in der archaischen Periode vorgeprägte Begriff σοφία/sophía, der ursprünglich die technische Fertigkeit und Sachkunde des Handwerkers bezeichnete, den zunehmend abstrahierenden und verallgemeinernden Wert einer Disposition zur Erfassung der göttlichen Erkenntnis durch das individuelle Denkvermögen. In der Spätantike wird er dann, in scharf moralisierender Wendung, zur ersten der vier Kardinaltugenden des mittleren Stoizismus, was schließlich seine synkretistische Vereinnahmung und Hypostasierung durch neuplatonische und frühchristliche Autoren gnostischer Prägung ermöglicht (vgl. Volpi 2006). Als weibliche Gestalt, „Frau Weisheit“, ist die Weisheit auch in der Bibel anzutreffen; man hat sie zu einer der „plastischsten biblischen Gestalten“ (Leuenberger 2008, 366) des Alten Testaments erklärt: Seit der nachexilischen Zeit begegnet sie in den weisheitlichen Schriften Sprüchebuch, Jesus Sirach und Weisheit Salomos personifiziert als Frauengestalt (vgl. Maier 2007, Abschnitt 1.1). Auf Titelund Initialbildern zu den Schriften Sirach und Weisheit Salomos wird die göttliche Weisheit meist als reichgekleidete Frau dargestellt, oft mit Krone und Nimbus (ebd., Abschnitt 2.2.1). 49, 11 f. Ihr sagt mir: „das Leben ist schwer zu tragen.“ Aber wozu hättet ihr Vormittags euren Stolz und Abends eure Ergebung?] Sentenzhaft formuliert ein Nachlassnotat: „Das Leben ist schwer zu tragen: dazu hat man Vormittags den Trotz und Nachmittags die Ergebung nöthig“ (NL 1882, KSA 10, 4[72], 133, 4 f.; ähnlich auch NL 1882, KSA 10, 5[1]22, 190, 7 f.). Za III Vom Geist der Schwere greift den Allgemeinplatz vom schwer zu (er-)tragenden Leben auf, um ihn zu negieren und dem Menschen selbst das Gewicht und somit die Verantwortung für sein Leben zuzuweisen: „so sagt man uns: ‚Ja, das Leben ist schwer zu tragen!‘ / Aber der Mensch nur ist sich schwer zu tragen!“ (243, 3 f.) 49, 13–17 Das Leben ist schwer zu tragen: aber so thut mir doch nicht so zärtlich! Wir sind allesammt hübsche lastbare Esel und Eselinnen. / Was haben wir gemein mit der Rosenknospe, welche zittert, weil ihr ein Tropfen Thau auf dem Leibe liegt?] In Matthäus 21, 5 sendet Jesus zwei Jünger aus nach einem Esel und einem „Füllen der lastbaren Eselin“ (Die Bibel NT 1818, 28) und Sacharja 9, 9 berichtet, wie er „auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin“ reitet (Die Bibel AT 1818, 909). Auf diese Bibelstelle geht Moritz von Engelhardt in seiner kirchengeschichtlichen Abhandlung Das Christentum Justins des Märtyrers (1878) ein, die N. am 19. Juli 1880 in einer Postkarte an Franz Overbeck erwähnt (vgl. KSB 6/KGB III 1, Nr. 41, S. 31, Z. 7–9) und aus der er sich, trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber diesem Werk, notierte: „Sacharj. 9,9. J〈esus〉 soll einziehen auf der lastbaren Eselin und dem Eselsfüllen. Die erstere – das sind die Juden, die an ihn glauben, sie haben das Joch des Gesetzes getragen. Das Füllen sind die Heiden, die gesetz-

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los lebten: aber Christus legte ihnen die Zügel seines Worts auf, da legten sie sich willig nieder und ließen sich alles, was er wollte, aufladen.“ (NL 1880/81, KSA 9, 10[D80], 430, 28–431, 5) Es handelt sich um die einzige Stelle in Za, in der Zarathustra, in der WirForm sprechend, das weibliche Geschlecht („Eselinnen“!) in seine Rede miteinbezieht. In einer nachgelassenen Variante zu dieser Partie adressiert der Sprecher seine Rede ausdrücklich an männliche und weiblich