Kollektives Bauen und Wohnen in Wien: Eine ethnographische Untersuchung zweier gemeinschaftsorientierter Wohnprojekte [1 ed.] 9783205232247, 9783205232223

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Kollektives Bauen und Wohnen in Wien: Eine ethnographische Untersuchung zweier gemeinschaftsorientierter Wohnprojekte [1 ed.]
 9783205232247, 9783205232223

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Kollektives Bauen und Wohnen in Wien Eine ethnographische Untersuchung zweier gemeinschaftsorientierter Wohnprojekte

Ana Rogojanu

ETHNOGRAPHIE DES ALLTAGS, BAND 7

KOLLEKTIVES BAUEN UND WOHNEN IN WIEN EINE ETHNOGRAPHISCHE UNTERSUCHUNG ZWEIER GEMEINSCHAFTSORIENTIERTER WOHNPROJEKTE

Ana Rogojanu

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag Gesellschaft m.b.H & Co. KG, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Entwurf für ein Baugruppenprojekt, 2016 (© Georg Baldass, baldassion architektur) Korrektorat: Vera Schirl, Wien Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-23224-7

INHALT

Dank

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Einleitung

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Theoretische Ausgangspunkte

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Architekturforschung in den Kultur- und Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergründe des sozial- und kulturwissenschaftlichen Interesses an Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzepte für eine europäisch-ethnologische Architekturforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsdesign

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Forschungsfragen und Forschungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Zugänge und forschungsethische Fragen . . . . . Interpretationsschritte und Darstellungsform . . . . . . . . . . .

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Kontexte

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Europäische Vorläufer des gemeinschaftlichen Bauens und Wohnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen in Wien . . . . . . . . Die Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gemeinsam Haus bauen: Zur Materialisierung von Aushandlungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Gemeinschaft« strukturieren, organisieren und verwalten Partizipativ planen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transformationen und Stabilisierungen von Kollektivität Raumtheoretische Perspektivierungen I . . . . . . . . . . . .

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Gewählte Nachbarschaft: Aktivitäten, Alltag, Organisation Das gemeinsame Wohnen als Rahmen für spezifische Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachbarschaftliches Zusammenwohnen im Alltag: Synergien und Irritationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisation und Transformation aktiver Nachbarschaft Raumtheoretische Perspektivierungen II . . . . . . . . . .

Einschließen und Ausschließen: Materielle und soziale Grenzziehungen und Öffnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale und materielle Ein- und Ausschlüsse . . . . . . . . . . . Transformationen bürgerlicher Privatheit: Zwischenräume und Schwellensituationen . . . . . . . . . . . . . Raumtheoretische Perspektivierungen III . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtungen

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Theoretische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . .

263 271 275

Literatur

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Quellen

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Inhalt

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Internetseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Publikationen und andere Quellen zu den Fallstudien Zitierte Forschungstagebuchnotizen . . . . . . . . . . . Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

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DANK Dieses Buch ist die Überarbeitung meiner Dissertation, die ich 2017 am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien eingereicht habe. Auch wenn auf dem Buchrücken am Ende nur ein Name steht, ist eine solche Arbeit immer das Ergebnis eines langen Prozesses, an dem verschiedenste Menschen in unterschiedlicher Weise beteiligt sind. Ganz besonders möchte ich meinen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern danken, die mir mit großer Offenheit Einblicke in ihre Erfahrungen und ihr Wohnen gewährt haben. Sie haben sich Zeit genommen und mir ihr Vertrauen geschenkt. Durch ihren Mut, neben angenehmen auch spannungsreiche Aspekte anzusprechen, haben sie mir eine Annäherung an die Vielschichtigkeit des gemeinschaftlichen Bauens und Wohnens ermöglicht. Danken möchte ich auch jenen, die die Entstehung dieser Arbeit auf fachlicher Ebene begleitet haben. Meine Betreuerin Klara Löff ler hat es auf wunderbare Weise verstanden, mir durch viele konstruktive und inspirierende Gespräche sowohl die notwendige Orientierungshilfe zu geben als auch mich zu ermutigen, meinen eigenen Weg zu finden. Intensiv mit der Arbeit befasst war auch Laura Gozzer, die unermüdlich Kapitel um Kapitel gegengelesen und durch ihre scharfsinnigen Anmerkungen die Qualität des Textes erheblich verbessert hat. Neben jenen, die unmittelbar inhaltlich beigetragen haben, möchte ich aber auch all jenen danken, die insgesamt meine Freude am kulturwissenschaftlichen Denken genährt haben: den Kolleginnen und Kollegen am Institut für Europäische Ethnologie für das angenehme Arbeitsklima und den anregenden Gedankenaustausch sowie meinen Freundinnen und Freunden aus dem Studium für viele wichtige persönliche und fachliche Gespräche. Nicht zuletzt haben meine Eltern, die immer hinter meiner unkonventionellen Studienwahl gestanden sind, entscheidend dazu beigetragen, dass ich den Mut hatte, meinen Interessen zu folgen. In den intensiven Phasen der Arbeit an der Dissertation waren auch jene Menschen besonders wichtig, die mich privat begleitet haben. Meine Eltern haben mir als aktive Großeltern viele zeitliche Freiräume geschaffen, die konzentriertes Arbeiten ermöglicht haben. Meinem Mann Radu danke ich ganz besonders für seinen Einsatz und seine tatkräftige Unterstützung sowie für die motivierenden Worte in Phasen des Zweifelns. Meine Kinder Teodora und Filip, die in die Promotionsphase hineingeboren wurden, haben die arbeitsreichen Tage und Nächte überaus unkompliziert mitgemacht und mir so den Abschluss der Dissertation ermöglicht. Mit ihrem Lachen und ihrer Energie, mit vielen Fragen über diese Welt und mit intensiven Emotionen haben sie mich davor bewahrt, das Projekt Dissertation mit allzu großer Verbissenheit zu

verfolgen, was mir langfristig die Freude am Denken und Schreiben bewahrt hat. Auf dem Weg zur Publikation hat Brigitta Schmidt-Lauber einen wesentlichen Beitrag geleistet, indem sie die Veröffentlichung in der Reihe »Ethnographie des Alltags« angeregt hat und mir mit gutem Rat zur Seite gestanden ist. Johannes van Ooyen und Lena Krämer-Eis vom Böhlau Verlag danke ich für den angenehmen, freundlichen und kompetenten Kontakt sowie Vera Schirl für das aufmerksame Korrektorat. Für die großzügige finanzielle Unterstützung der Drucklegung bin ich dem Dekanat der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät sowie der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7) sehr verbunden. Die MA 7 hat überdies durch ein Forschungsstipendium zum Thema »Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen in der Stadt – Wiener Baugruppenprojekte und ihre Bezüge zum städtischen Umfeld« im Jahr 2015 einen Teil der Recherchearbeit finanziell unterstützt, die in den Abschnitt »Kontexte« eingeflossen ist.

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Dank

EINLEITUNG Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen hat Konjunktur. Seit etwa zehn Jahren entsteht in Deutschland und anderen mittel- und nordeuropäischen Ländern eine Vielzahl an gemeinschaftlichen Wohnprojekten, in den letzten Jahren auch in Österreich. Die Motive für den Aufschwung sind abhängig von den rechtlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen sowie den sozialen und kulturellen Kontexten der jeweiligen Länder, Städte und beteiligten Milieus. Manchen Initiativen geht es primär um die Errichtung von leistbarem Wohnraum vor dem Hintergrund zunehmend überhitzter Immobilienmärkte. So finden sich etwa in Deutschland, wo häufig (aber keineswegs ausschließlich) ökonomische Überlegungen den Ausgangspunkt des gemeinschaftlichen Bauens bilden, Projekte, in denen sich Menschen zusammenschließen, um gemeinsam die Bauträgerschaft zu übernehmen und auf diese Weise Gebäude unter dem üblichen Marktpreis zu errichten. Andere Projekte erklären es sich dezidiert zum Ziel, alternative, gemeinschaftsorientierte Lebensformen zu etablieren, die auf enge nachbarschaftliche Kontakte und gegenseitige Hilfeleistungen abzielen. In den Niederlanden sind beispielsweise Co-Housing-Initiativen weit verbreitet, die in bereits bestehenden Gebäuden kollektive Wohnformen entwickeln. Projekte, die kollektives Planen und Bauen sowie gemeinschaftliches Wohnen miteinander verbinden, stehen im Fokus dieser Arbeit. Bei den (im heutigen Wiener Kontext) als Baugruppen bezeichneten Initiativen 1 schließen sich Menschen zusammen, um mit dem Ziel eines mehr oder weniger engen nachbarschaftlichen Zusammenlebens ein Gebäude gemeinsam mit den erforderlichen Expertinnen und Experten zu planen, zu errichten und zu verwalten. In Wien wurden Projekte mit dieser Ausrichtung seit den 1980erJahren realisiert. Die damals als Wohnprojekte bezeichneten Initiativen zeichneten sich durch eine gemeinsame weltanschauliche Orientierung aus. In den vergangenen zehn Jahren ist eine Häufung von Baugruppenprojekten in der Stadt zu beobachten, wobei es in der Zwischenzeit markante Veränderungen hinsichtlich der Orientierung der Gruppen und der politischen Rahmenbedingungen gab. So lassen sich gegenwärtig immer häufiger Projekte ohne, wie es der Stadtforscher Robert Temel beschreibt, »feste[s] ideologische[s] Fundament« (Temel u. a. 2009: 4) finden. Vielmehr bilden thematische Ausrichtungen, wie Ökologie oder Interkulturalität, oder eine Orientierung an den

1 In Deutschland versteht man unter Baugruppen Bauherrenzusammenschlüsse, die sich auf die Errichtung eines Gebäudes konzentrieren. Für auf gemeinschaftliches Wohnen ausgerichtete Initiativen wird dort eher der Begriff Wohnprojekt verwendet, wobei beides in manchen Fällen auch deckungsgleich ist.

spezifischen Bedürfnissen bestimmter Lebensphasen und -situationen, wie im Fall von Mehrgenerationen- und Frauenwohnprojekten, lose Leitbilder für die Formierung der Gruppen (vgl. Kläser 2006). Darüber hinaus werden Baugruppenprojekte von stadtplanerischer und -politischer Seite zunehmend als strategisches Instrument eingesetzt, um eine Belebung neuer Stadtteile herbeizuführen. Die explizit an Baugruppen gerichtete Ausschreibung einzelner städtischer Grundstücke führt beispielsweise dazu, dass viele der Projekte von Architekturbüros, Bauträgern oder Projektentwicklern ausgehen und somit nicht mehr ausschließlich als Bottom-up-Initiativen zu verstehen sind (vgl. Hendrich 2010). Die Fragen, die sich aus ethnographisch-kulturwissenschaftlicher Sicht sowohl an die älteren Projekte als auch an die neueren Entwicklungen der Baugruppenszene stellen ließen, sind vielfältig: Man könnte die Konjunktur des gemeinschaftlichen Bauens und Wohnens in Verbindung mit ähnlich gelagerten Initiativen, wie Gemeinschaftsgärten, als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung hin zu kooperativen selbstbestimmten Organisationsformen lesen. Interessant wäre sicher auch ein genauer Blick auf die Beteiligten von sowohl älteren als auch neu gegründeten Initiativen, auf ihre Motive und Weltanschauungen. Auch eine Studie zu den Regeln und Praktiken gemeinschaftlicher Organisation sowie zu den Umgangsformen mit gemeinschaftlichem Leben im Kontext alltäglicher Lebensführung wäre denkbar. Baugruppenprojekte können außerdem – und das entspricht in einem hohen Ausmaß ihrem Selbstverständnis – als Alternative zu etablierten Strukturen der Produktion von Wohnraum sowie zu konventionellen Wohnformen und -praktiken gesehen werden. Der Umstand, dass dadurch viele Fragen des Bauens und Wohnens zum Gegenstand expliziter Aushandlungen werden, macht Baugruppenprojekte zu einem besonders ergiebigen Forschungsfeld auch für raumtheoretische Fragen nach dem Zusammenhang von Architektur und Lebensweise. An diesem Punkt setzt dieses Buch an. Den zentralen Fragestellungen liegt ein Verständnis von Architektur als »Medium des Sozialen« (Delitz 2010) zugrunde. Der gebaute Raum wird in Abhängigkeit von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingungen betrachtet und gleichzeitig hinsichtlich seiner sozialen Relevanz konzeptualisiert. Damit ist ein Ansatz formuliert, der zwischen dem Blick auf Architektur als Ausdruck von Gesellschaft und der These, Architektur verändere von sich aus gesellschaftliches und individuelles Leben, steht. Am Beispiel von partizipativen Wohnprojekten kann dieses komplexe Verhältnis zum Gegenstand einer kulturwissenschaftlichen Analyse werden. Wie entsteht das Haus, welche Ideale liegen ihm zugrunde und welche Rolle spielt das Materielle im Alltag der Bewohner und Bewohnerinnen? Dementsprechend richtet sich das Interesse dieses Buchs sowohl auf Praktiken rund um die Errichtung des gebauten Raumes, also Planung und Bau, als auch auf Praktiken der Aneignung von Architektur im Wohnalltag. Als

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Einleitung

Forschungsfelder eignen sich daher besonders seit längerer Zeit fertiggestellte Wohnprojekte. Ihre Bewohner und Bewohnerinnen beabsichtigten alternative, auf einem gemeinschaftlichen Zusammenleben beruhende Wohnformen zu entwickeln und ließen hierfür ihr eigenes Gebäude errichten. Die dazu nötigen Entscheidungen der Gruppe über architektonische Formen wurden während der Planungsphase explizit und in Zusammenhang mit bestimmten Idealen des Zusammenlebens diskutiert. Die Beschäftigung mit älteren Projekten ermöglicht zudem einen Zugang zu Prozessen der längerfristigen Aneignung und Nutzung der entstandenen Räume. Die konkrete Auswahl von Fallbeispielen war von einer kontrastierenden Logik getragen – es handelt sich um zwei Projekte mit deutlich unterschiedlicher weltanschaulicher Orientierung –, die für den Ansatz der Studie besonders vielversprechend ist, um die möglichen Zusammenhänge zwischen Idealen des Zusammenlebens und architektonischer Form zu untersuchen. Somit stehen ein christlich geprägtes und ein linksalternativ ausgerichtetes Wohnprojekt im Zentrum der folgenden Überlegungen. Beide wurden ab Mitte der 1980er-Jahre in Wien geplant und in den 1990er-Jahren fertiggestellt. Die ethnographische Forschung, die ich zwischen 2012 und 2016 durchgeführt habe, widmet sich sowohl der Rekonstruktion der Planungsprozesse aus der Gegenwartsperspektive, als auch den Praktiken der Aneignung der architektonischen Räume sowie den subjektiven Perspektiven der Bewohnerinnen und Bewohner auf das Alltagsleben und seine Veränderung.

Einleitung

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THEORETISCHE AUSGANGSPUNKTE Architekturforschung in den Kultur- und Sozialwissenschaften Die vorliegende Studie folgt einem verstärkten Interesse an Architektur, das in verschiedenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen zu beobachten ist. So werden derzeit beispielsweise Architektursoziologie (Delitz 2009, Schäfers 2014) oder Anthropology of Architecture (Buchli 2013) als eigene Forschungsrichtungen vorgeschlagen. Auch in der Europäischen Ethnologie 1 ist neben der allgemeinen Thematisierung des gebauten Raumes im Kontext der Stadtforschung die Etablierung von Netzwerken im Bereich der Architekturforschung zu beobachten. 2 Dieses Kapitel gibt einen knappen Überblick darüber, in welchen Konjunkturen und mit welchen Perspektiven Architektur in der Europäischen Ethnologie und den beiden verwandten Disziplinen – Soziologie und Kultur- und Sozialanthropologie – thematisiert wurde und wird. In der Soziologie wird das explizite Interesse für Architektur derzeit als verhältnismäßig neue Entwicklung diskutiert. Eine lang dominante Konzeption des Sozialen im Fach habe die Beschäftigung mit Materialität grundsätzlich erschwert, wie die Soziologin Heike Delitz feststellt: Die klassische Soziologie hat das Soziale in der Tat für eine Architektursoziologie zu reduktiv gefasst, indem sie es als ›eigentliches Soziales‹ von anderen Bereichen der Wirklichkeit, insbesondere den Sachen abtrennt, während diese unser Leben durchdringen und umstellen. (Delitz 2009: 12)

Delitz konstatiert, dass auch jene Bereiche der Soziologie, in denen eine Beschäftigung mit Architektur naheliegend gewesen wäre, bisher kaum konzeptuelle Ideen zur sozialen Relevanz des Gebauten entwickelt haben. Die Stadt-

1 Für das aus der Volkskunde hervorgegangene Vielnamenfach verwende ich in dieser Arbeit mit Bezug auf aktuelle Studien die Bezeichnung Europäische Ethnologie. Mit Blick auf fachliche Entwicklungen einer Zeit, in der sich die Disziplin noch vorwiegend Volkskunde nannte, spreche ich von Volkskunde. Dort, wo es ganz explizit um Forschungslinien bestimmter Institute geht, die bestimmte Fachbezeichnungen essenziell mitgeprägt haben, also vor allem die Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen und die Kulturanthropologie in Frankfurt am Main, verwende ich diese Bezeichnungen. 2 Vgl. beispielsweise die Tagung »Reziproke Räume« (Rolshoven / Omahna 2013) oder die Gründung der »International Association for Cultural Studies in Architecture«, http://iacsa.eu/ (Zugriff am 20. 10. 2018), an der VertreterInnen der Grazer Volkskunde beteiligt waren. Für theoretische Perspektiven auf den Raum insbesondere im Kontext der Stadtforschung waren lange Zeit unter anderem die Institute in Frankfurt / Main, Berlin und Hamburg wegweisend.

soziologie interessiere sich vor allem für »das Soziale in der Stadt« (ebd.: 13, Hervorhebung im Original) und weniger für die materielle Gestalt der Stadt. Die jüngere Raumsoziologie 3 fasse den Raumbegriff mit ihrer Ausrichtung gegen eine »›verdinglichte‹ Raumvorstellung« (ebd.: 117) und ihrem Fokus auf die soziale Produktion des Raumes so weit, dass Aspekte des gebauten Raumes zwar potenziell eine Rolle spielen, jedoch nicht im Fokus stehen (ebd.: 117 f.). Wirft man einen Blick in die soziologische Wohnforschung, für die insbesondere die Studien von Alphons Silbermann zum Wohnen der Deutschen aus den 1960er- und den 1990er-Jahren (Silbermann 1963; Silbermann 1966; Silbermann 1991; Silbermann 1993; ergänzend Harth / Scheller 2012) sowie die Einführungswerke von Hartmut Häußermann und Walter Siebel (2000; 2004) zu nennen sind, kann man feststellen, dass grundsätzlich von einem Zusammenhang zwischen »Wohnbauten« und »Lebensweise« ausgegangen wird (Häußermann / Siebel 2000: 11). Der Wandel von Wohnformen wird dementsprechend mit Blick auf gesellschaftliche Veränderungen dokumentiert und interpretiert (vgl. ebd.: 12). Grundsätzliche konzeptuelle oder systematische Überlegungen zur »Architektur der Gesellschaft« (Delitz 2009: 116) werden dabei aber nicht entwickelt. Wie Vertreter und Vertreterinnen der jüngeren Architektursoziologie wiederholt betonen, finden sich jedoch unter den Klassikern der Soziologie theoretische Modelle (vgl. ebd.: 24–54; Delitz 2006; Steets 2015: 17–49), die für eine Betrachtung der gesellschaftlichen Bedeutung von Architektur im weitesten Sinne – also verstanden nicht nur als hochkulturelles Phänomen, sondern allgemein als jener »Teil der gebauten Umwelt, dem ein Gestaltungswille zugrunde liegt« (ebd.: 11; vgl. auch Delitz 2009: 19 f.) – anschlussfähig sind. 4 Dazu gehören beispielsweise Norbert Elias, die Vertreter der DurkheimSchule, der Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre sowie Vertreter poststrukturalistischer Ansätze wie Pierre Bourdieu und Michel Foucault (vgl. auch Steets 2015). Während Heike Delitz als ein gemeinsames Merkmal dieser Architektursoziologien »avant la lettre« ausmacht, dass sie tendenziell von Architektur als Spiegel oder Ausdruck der Gesellschaft ausgehen (Delitz 2009: 24), differenziert die Soziologin Silke Steets verschiedene konzeptuelle Standpunkte. Norbert Elias, die Vertreter der Durkheim-Schule oder auch Henri Lefebvre würden, so Steets, Gebäude als »materialisierte Strukturen des Sozialen« (Steets 2015: 19) sehen, während praxistheoretische Ansätze, wie der von

3 Die Raumsoziologie, auf die hier Bezug genommen wird, ist im Wesentlichen jene um Martina Löw, vgl. Löw 2001. 4 Den bisher wohl explizitesten Versuch, unterschiedliche theoretische Modelle aus der Soziologie auf architektursoziologische Fragestellungen anzuwenden, bildet der Band Fischer / Delitz 2009a.

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Theoretische Ausgangspunkte

Pierre Bourdieu, den »sozialen Sinn« eines Gebäudes im Umgang mit ihm verorten (ebd.: 32). Außerdem fasst Steets Foucaults Dispositivanalyse sowie die jüngeren Ansätze der Akteur-Netzwerk-Theorie (kurz ANT) (vgl. Law / Hassard 1999; Belliger / Krieger 2006; Latour 2007) oder auch Heike Delitz’ empirisch-theoretische Arbeiten (vgl. Delitz 2006; Delitz 2010) als eine Denkrichtung zusammen, die der »Materialität des Gebauten« eine »soziale Effektivität« zuspricht (Steets 2015: 44). Für ebendiese »soziale Effektivität« oder »soziale ›Aktivität‹« (Delitz 2009: 24) ist in der neu aufkommenden Architektursoziologie ein besonderes Interesse festzustellen (vgl. auch Fischer / Delitz 2009a). Eine in diese Richtung orientierte Architektursoziologie im engeren Sinne etabliert sich ab Mitte der 2000er-Jahre durch Einführungs- (Schäfers 2014; Delitz 2009) und Theoriebände (Fischer / Delitz 2009a) sowie Qualifikationsarbeiten (Delitz 2010; Steets 2015). Als Ziel der Architektursoziologie definieren Delitz und Fischer die Analyse »konkrete[r] architektonische[r] Phänomene in Hinsicht auf die Gesellschaft« (Fischer / Delitz 2009b: 12, Hervorhebung im Original). Konkret interessiere sich die Soziologie der Architektur sowohl für die Materialität und Symbolizität des Gebauten selbst als auch für Entwurfsprozesse, die »Dekonstruktion« im Sinne des Abrisses von Gebäuden sowie für die Figur des Architekten und (seltener) der Architektin (vgl. Delitz 2009: 21; Schäfers 2014: 23). Neben diesen Kernthemen liegt das wesentliche Merkmal der Architektursoziologie in der Forderung nach theoretischen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Architektur und Gesellschaft (vgl. Delitz 2009: 16). Eine klare Positionierung hierzu entwickelt Delitz mit ihrem Konzept von Architektur als »Medium des Sozialen« (ebd.: 90): Grundlegend geht es um den Gedanken, dass die sozialen Strukturen nicht einfach irgendwo schon ›da‹ sind und nur noch sichtbar gemacht werden müssten, sondern sich vielmehr erst in der Architektur (neben anderen Medien, vor allem der Sprache) konstituieren. (ebd.: 92)

Das Bild vom »Medium des Sozialen« als Kern der aktuellen architektursoziologischen Orientierung wurde breit rezipiert. In ihrer als »Architektursoziologie« betitelten Habilitation kritisiert Silke Steets, dass bei Delitz »völlig unklar« bleibe, »[w]er [...] wie, mit welchen Interessen und in welchen Zusammenhängen Gebäude realisiert« (Steets 2015: 246 f.). Demgegenüber entwickelt Steets ein Modell, das die Art und Weise, wie Architektur als »Medium des Sozialen« funktioniert, stärker ausdifferenziert und auf verschiedenen Ebenen greifbar macht. Sie nutzt dafür die Wissenssoziologie von Peter Berger und Thomas Luckmann und unterscheidet zwischen Prozessen der Externalisierung, Objektivation und Internalisierung. Externalisierung definiert sie als »jegliche Form materiellen wie immateriellen Handelns«, das »als Ergebnis die menschliche Kultur und Gesellschaft« hervorbringt (ebd.: 109). Hinsichtlich

Architekturforschung in den Kultur- und Sozialwissenschaften

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einer Analyse von Architektur ist dann von Interesse, welche Weltdeutungen mit Prozessen des Entwerfens und Bauens jeweils verbunden sind sowie welche gesellschaftlichen Bedingungen die Architekturproduktion rahmen (ebd.: 113 f.). Der Begriff der Objektivation dient Steets zur Beschäftigung mit der so entstandenen gebauten Umwelt, wobei sowohl die sinnlich erfahrbaren Eigenschaften als auch die symbolische Dimension von Architektur berücksichtigt werden (ebd.: 204 f.). Mit Internalisierung wiederum ist die Aneignung der gebauten Umwelt gemeint. Aneignung versteht Steets dabei nicht nur im Sinne von Gestaltung, was wiederum ein Aspekt von Externalisierung wäre, sondern als »Übernahme der gesellschaftlichen Deutung der Welt in das eigene subjektive Bewusstsein und in den individuellen Körper« (ebd.: 241; vgl. dazu auch ebd.: 243 f.). Mit diesen drei in engen Wechselwirkungen stehenden Perspektiven auf den gebauten Raum formuliert Steets ein analytisches Vokabular, das helfen soll, die Art und Weise, wie Gesellschaft durch Architektur konstituiert wird, zu erfassen. Wie deutlich wurde, finden sich in der Soziologie erst in jüngster Zeit explizite Ansätze zu einer konzeptuellen Beschäftigung mit den Zusammenhängen zwischen Architektur und Gesellschaft. Besonderes Merkmal der jüngeren architektursoziologischen Perspektiven ist die Anerkennung der »sozialen Effektivität« der Architektur als Ergänzung zu Ansätzen, die Architektur als quasi neutrales Abbild des Sozialen denken. Daraus ergibt sich eine Perspektive auf Architektur als »Medium des Sozialen«, wobei für die konkrete Analyse in der vorliegenden Arbeit weniger auf die der philosophischen Anthropologie entlehnten Konzepte von Heike Delitz zurückgegriffen wird, sondern vielmehr auf die theoretischen Ansätze von Silke Steets. Im Unterschied zur Soziologie, die erst verhältnismäßig spät ein Interesse für Materielles und in weiterer Folge für den gebauten Raum entwickelt, sind die Sammlung von Dingen und deren Präsentation in Wunderkammern und auf Weltausstellungen während des 19. Jahrhunderts zentrale Zugänge der frühen Ethnologie. Alltagsdinge, aber auch die Dokumentation von Hausformen, dienen in dieser Zeit der Beschreibung der damals im Fokus stehenden sogenannten indigenen Gesellschaften, die aus einer evolutionistischen Perspektive betrachtet werden. Die kulturvergleichende Analyse der Bauwerke unterschiedlicher Gesellschaften dient zur Feststellung des Entwicklungsstadiums dieser in einem Kontinuum, an dessen Spitze die europäischen Gesellschaften gestellt werden (Buchli 2013: 30). Mit der durch Bronisław Malinowksi eingeleiteten Wende zu Beginn des 20. Jahrhunderts verabschiedet sich die ethnologische Theoriebildung zunehmend von evolutionistisch-kulturvergleichenden Perspektiven und wendet sich stärker der Erkenntnis kultureller Praktiken durch Feldforschungen vor Ort zu. Die materiellen Aspekte des Lebens rücken dabei als Rahmen für soziale Aktivitäten in den Hintergrund, bis mit strukturalistischen Ansätzen während

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Theoretische Ausgangspunkte

der Nachkriegszeit die Dinge in der ethnologischen Forschung wieder größere Bedeutung erlangen (vgl. ebd.: 39–44). Auf der Suche nach sich in allen Lebensbereichen abbildenden Strukturen der Gesellschaft wird zunehmend nach dem symbolischen Gehalt der Dinge gefragt (vgl. Buchli 2002: 10). Für die Beschäftigung mit Architektur sind vor allem Claude Lévi-Strauss mit seinen Überlegungen zu den »house societies« von Bedeutung (vgl. Buchli 2013: 71–88) sowie dessen Schüler Pierre Bourdieu, der in seiner Analyse des kabylischen Hauses den Blick auf die symbolische Bedeutung gebauter Strukturen durch eine Beschreibung der darin stattfindenden alltäglichen Praktiken ergänzt (vgl. Steets 2015: 40 f.). Ab den 1980er- und verstärkt den 1990er-Jahren werden Fragen des Wohnens in den Consumer Studies und Material Culture Studies, die im Kontext einer Rekonzeptualisierung der Kultur- und Sozialanthropologie als anthropology at home entstehen, zum Thema. Diese beschäftigen sich unter anderem mit Fragen der Einrichtung und rücken die sozialen Prozesse des Wohnens ebenso wie die aktiven Formen des Umgangs mit dem Gebauten und die sich im Wohnen abbildenden Lebensentwürfe der Akteure und Akteurinnen in den Vordergrund (vgl. Miller 1988; Cieraad 1999a; Miller 2008). Die Studien von Miller und anderen entwickeln einen multiperspektivischen Blick auf Wohnen als Schnittstelle von Öffentlichem und Privatem in einer Kombination aus Mikro- und Makroperspektive, die subjektive Deutungen in größere gesellschaftliche sowie ökonomische und rechtliche Zusammenhänge stellt. Die Materialität des Gebauten bildet dabei einerseits einen Gegenstand der aktiven Gestaltung und Transformation (vgl. Cieraad 1999b; Attfield 1999; Miller 1988; Van Caudenberg / Heynen 2004), zugleich aber auch einen Rahmen für die Entwicklung von Subjektivität (vgl. Miller 2001). Der Fokus auf die aktive Rolle der Materialität ist in der Kultur- und Sozialanthropologie durch die Rezeption der Akteur-Netzwerk-Theorie angekommen, die sich im thematischen Feld der Architekturforschung auf besonders explizite Weise in den Arbeiten der Anthropologin Albena Yaneva zeigt. Im Fokus steht dabei die »pragmatische Bedeutung« (ebd.: 76) des Materiellen, also die Frage, welche Handlungen Dinge wem ermöglichen und welche sie verunmöglichen. Während Diskurse und Deutungen in den Hintergrund rücken, wird Architektur mit Blick darauf betrachtet, wie sie materiell soziale Beziehungen vermittelt, reguliert und stabilisiert (vgl. ebd.: 85). Yaneva nutzt die Ansätze der ANT aber auch dazu, Prozesse zu beschreiben, die der Konstitution des gebauten Raumes zugrunde liegen (Yaneva 2009; 2012b). Die Frage danach, wie ein Gebäude funktioniert, wird also ergänzt durch die Frage, wie das Gebäude gemacht wird, um zu funktionieren (Yaneva 2012b: 21). Das Spektrum der jüngeren anthropologischen Beschäftigung mit Architektur und Wohnen reicht also von Arbeiten, die Praktiken des Wohnens und des Sich-Einrichtens im Kontext aktiver Aneignungs- und Identitäts- sowie

Architekturforschung in den Kultur- und Sozialwissenschaften

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Beziehungsbildungsprozesse betrachten, bis hin zu Ansätzen, die nach den sich im gebauten Raum materialisierenden Idealen und Vorstellungen fragen, sowie nach der aktiven Rolle der Architektur hinsichtlich sozialer Alltagspraktiken. Diese Vielfalt der Perspektiven thematisiert Victor Buchli in seinem Band »Anthropology of Architecture«, in dem er eine Annäherung von Material Culture Studies und Architekturforschung vorschlägt, die von folgenden Fragen geleitet sein könnte: [H]ow does the materiality of built form in its great variety make people and society? What does the materiality of built form in its various material registers do socially? As abstracted concept? As lived building? As metaphor? (Buchli 2013: 2)

Für die vorliegende Studie lassen sich sowohl Überlegungen zur sozialen Effektivität der Architektur als Anknüpfungspunkte nutzen als auch multiperspektivische ethnographische Zugänge, die zunächst einmal den Deutungen der Akteurinnen und Akteure folgen, diese aber schließlich auch in größere gesellschaftliche Zusammenhänge stellen. Die Ansätze der ANT bieten – auch wenn sie hier nicht im engeren Sinne angewendet werden – einen Impuls, die Aufmerksamkeit sowohl auf das zu richten, was Architektur »tut«, als auch auf die vielfältigen Netzwerke, die zur Entstehung eines Gebäudes beitragen. Wie in der Kultur- und Sozialanthropologie bildet die Beschreibung von Haus- und Wohnformen auch in der Volkskunde bereits in der frühen Fachgeschichte einen Teil der Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld, nämlich bäuerlichen Lebenswelten. Im Allgemeinen sind in der frühen Volkskunde, darauf verweist Ruth-E. Mohrmann, »Phänomene, die mit der Befriedigung alltäglicher menschlicher Grundbedürfnisse in Zusammenhang stehen«, ein »originäres Forschungsanliegen« (Mohrmann 2001: 137) – so auch das Leben in Häusern. Auch als sich die Forschungsbereiche der Volkskunde ausweiten und ausdifferenzieren, ist das Wohnen wiederkehrend und implizit in vielen Forschungsrichtungen Thema, beispielsweise in der Haus- und Sachkulturforschung, aber auch in der Erzähl- und Biographieforschung sowie später der Technikkultur- oder Genderforschung (Rolshoven 2013a: 45). Gerade in der (Bauern-)Hausforschung steht die Dokumentation von Häusern als Objekten im Fokus, wobei die damit verbundenen soziokulturellen Prozesse im Hintergrund bleiben (Mohrmann 2001: 137 f.). Obwohl die Wörter-und-Sachen-Schule rund um Rudolf Meringer (vgl. dazu Beitl / Chiva 1992) zu Beginn des 20. Jahrhunderts Impulse für eine Betrachtung der Rolle von Materiellem im »sozialen System bäuerlicher Gemeinschaften« (Mohrmann 2001: 139) setzt, bleibt die sich im Umfeld von Museen etablierende Hausforschung vorrangig bei der dokumentarischen Beschreibung des Gebauten selbst (vgl. Katschnig-Fasch 1984). Konrad Bedal setzt sich Anfang der 2000er-Jahre für eine »moderne, umfassende Hausforschung« (Bedal 2002: 4) ein, die die

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Theoretische Ausgangspunkte

historisch ausgerichtete Hausforschung, wie sie vor allem in Freilichtmuseen betrieben wird, für die akademische europäisch-ethnologische Forschung anschlussfähig machen soll. Zentrale Elemente dieser neuen Ausrichtung sieht Bedal in einer Kombination aus genauer Baudokumentation mit der Interpretation des Untersuchungsgegenstandes in größeren Zusammenhängen sowie der Untersuchung des Bauens selbst mit Blick auf Baustoffe aber auch auf die Rolle der Handwerker. Des Weiteren plädiert er für die Analyse staatlicher und behördlicher Reglementierungen und für die Berücksichtigung des Alltagsgebrauchs von Häusern (vgl. ebd.) 5. Eine in diesem Sinne vollzogene Anknüpfung der Hausforschung an aktuelle europäisch-ethnologische Forschungsperspektiven findet bisher kaum statt. Dennoch sieht Anke Rees die Praxis der historischen Hausforschung, »[d]as Gebäude an sich ernst zu nehmen« (Rees 2016: 39) und die Baugeschichte sowie die Materialität von Gebäuden zu berücksichtigen, als einen wertvollen Anknüpfungspunkt für eine aktuelle europäisch-ethnologische Architekturforschung. Im Unterschied zur Hausforschung legt die Wohnforschung im engeren Sinne, insbesondere in der Form, in der sie seit den 1970er- und verstärkt seit den 1980er-Jahren im Fach praktiziert wird, einen Fokus auf soziale Aspekte. Zu den frühen expliziten Auseinandersetzungen des Faches mit dem Wohnen gehört Margret Tränkles Arbeit über »Wohnkultur und Wohnweisen«. Sie untersucht Anfang der 1970er-Jahre Einstellungen zum Wohnen, aber auch Einrichtungsstile und Praktiken der Raumnutzung vor dem Hintergrund der Frage nach schichtspezifischen Mustern (Tränkle 1972). Diese Perspektive trägt auch die später insbesondere durch Elisabeth KatschnigFasch programmatisch begründete »kulturwissenschaftliche Wohnforschung« (Rolshoven 2013a: 45) weiter. Katschnig-Fasch thematisiert neben Fragen sozialer Zugehörigkeit in ihren empirischen Arbeiten auch die architektonischen Strukturen und die ihnen zugrundeliegenden planerischen Ideen. Vor allem aber geht es ihr darum, wie die Wohnenden durch Aneignung und Umnutzung sowie Umdeutung ihre Lebensvorstellungen in den jeweiligen Gebäuden realisieren (Katschnig-Fasch 1998) 6. Der Fokus liegt also auf gegenwärtigen Lebensstilen und den Dynamiken ihrer Konstitution, Architektur spielt dabei bewusst nur implizit eine Rolle. Andere Arbeiten im Fach nutzen Wohnen als »lebensweltliches Grundthema« (Rolshoven 2013a: 45), um weiterführende Fragen zu bearbeiten, beispielsweise nach dem Wandel von Familienformen (Löfgren 1983; Löfgren 1990) oder nach Geschlechterverhältnissen (Gullestad 1993; Projekt-

5 Einen Versuch der Umsetzung dieser Forschungsprogrammatik bildet der Band Bedal / May 2002. 6 Vgl. dazu insbesondere die Kapitel »Lebenssphären der sozialen und technischen Moderne« 213–242 sowie »(Post-)moderne Architekturrezepte« 287–307.

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gruppe Göttingen 1991/1992; Projektgruppe Göttingen 1992). Während hierbei der Fokus im Wesentlichen auf sozialen Aspekten liegt, finden sich im Fach auch Forschungen zum Wohnen, die sich stärker im Kontext der materiellen Kultur und der Technikforschung verorten, wie beispielsweise Manfred Seiferts Studie zur Wohnraumheizung (Seifert 2012). Seifert schlägt dabei vor, die im Fach dominierende Akteursperspektive mit einer Perspektive der »technischen Verfaßtheit« (Seifert 2003: 156) bestimmter Phänomene zu verschränken. Eine wiederum anders gelagerte Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt findet sich im Umfeld der europäisch-ethnologischen Stadtforschung. Diese Forschungsrichtung, die sich in der an bäuerlichen Lebenswelten interessierten Volkskunde erst verhältnismäßig spät etabliert, richtet ihr Augenmerk anfangs auf kleinräumige Einheiten (vgl. Hengartner 1999a; Hengartner / Kokot / Wildner 2000). Von Interesse sind zunächst bestimmte Lebensweisen und Phänomene in der Stadt – mit den Worten von Ulf Hannerz wird eine »anthropology in the city« und weniger eine »anthropology of the city« (Hannerz 1980: 304) betrieben. Die Spezifika des Städtischen insgesamt und der einzelnen Stadt an sich bleiben im Hintergrund (vgl. Lindner 2003: 46; Lindner 1997). Erste Tendenzen zur Erweiterung dieser Orientierung zeichnen sich im Rahmen des Volkskundekongresses im Jahr 1983 ab, beispielsweise durch Gottfried Korffs Überlegungen zur »inneren Urbanisierung« (Korff 1985), die sich allerdings den psychischen und sozialen Aspekten des Lebens in der Großstadt 7 widmen und weniger den materiellen. In den folgenden Jahren entwickelt sich eine Stadtforschung, die nach der Wahrnehmung und Aneignung des urbanen Raumes fragt (Hengartner / Kokot / Wildner 2000; vgl. Hengartner 2000). Dabei spielt auch die Materialität der Stadt eine Rolle, denn, wie Thomas Hengartner schreibt, »[d]ie gebaute und gestaltete städtische Welt: Gebäude, Straßenzüge, Häuserfluchten und Dachlinien; Wahrzeichen ebenso wie Vorgärten, Grünflächen oder Laubenkolonien prägen die Verortung des Menschen in der Stadt, seinen Raumbezug und sein Stadtbild« (Hengartner 1999b: 25). Sie liefern so »einen gewissen Rahmen für die Gestaltung des Lebens und die individuelle Verortung« (ebd.: 27). Zu den Forschungen, die in dieser Etappe der Stadtforschung in den 1980er- und 1990er-Jahren entstehen, gehören etwa die Dissertationen von Heike Lauer und Gisela Welz aus dem Umfeld des Frankfurter Instituts, das von der kulturökologischen Raumtheorie rund um Ina-Maria Greverus gesprägt ist. Heike Lauer untersucht Anfang der 1990er-Jahre anhand von Sied-

7 Lange Zeit war Stadtforschung in der Volkskunde bzw. Europäischen Ethnologie Großstadtforschung. Dieser Fokus auf die Großstadt wird derzeit ergänzt durch Forschungen etwa zu mittelstädtischen Urbanitäten, in denen eine Neukonturierung des Urbanitätsbegriffs vorgeschlagen wird: vgl. Schmidt-Lauber 2010; SchmidtLauber 2018; https://middletownurbanities.univie.ac.at/ (Zugriff am 20. 10. 2018).

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lungen im Stil des Neuen Bauens die damit verbundenen stadtplanerischen und sozialutopischen Ideen sowie Praktiken der Aneignung dieser Siedlungen. Sie berücksichtigt dabei sowohl den Umgang der Bewohnerinnen und Bewohner mit den eigenen Wohnungen als auch das Zusammenleben in der Siedlung (Lauer 1990). Zur selben Zeit beschäftigt sich Gisela Welz in ihrer ethnographischen Studie »Street Life« mit der Aneignung des Straßenraumes in einem New Yorker Slum (Welz 1991). Dabei trägt sie sowohl den stadtplanerischen Gegebenheiten Rechnung als auch den Kommunikations- und Interaktionsformen, die sich darin entwickeln. Spätere Ansätze europäisch-ethnologischer Stadtforschung, die sich der Spezifik bestimmter Städte widmen, diskutieren die Materialität des städtischen Raumes weniger mit Blick auf alltägliche Aneignungspraktiken als vielmehr im Kontext eines Komplexes an Merkmalen, die spezifischen Städten eine gewisse Eigendynamik verleihen. Ein Beispiel für diese Ansätze ist die von Rolf Lindner und Johannes Moser unter dem Label »Habitus der Stadt« unternommene Beschäftigung mit Städten. Die gebaute Umwelt bildet dabei mitsamt ihren sinnlichen Qualitäten einen Aspekt neben der Geschichte einer Stadt und den prägenden Diskursen, die allesamt in spezifischen Konstellationen sowohl die Funktionsweise als auch die Wahrnehmung einer Stadt prägen (Lindner 2006; Lindner / Moser 2006). Die neuesten Orientierungen zur Erforschung städtischer Räume in der Europäischen Ethnologie zeichnen sich durch eine Rezeption der AkteurNetzwerk-Theorie sowie durch eine Auseinandersetzung mit dem zunächst in der Philosophie und anschließend in der Kulturgeographie diskutierten Atmosphärenkonzept aus. Damit rücken die Materialität und die Sinnlichkeit des Städtischen stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit, was mit einem allgemeinen material turn und einem emotional turn im Fach und darüber hinaus zusammenhängen mag. 8 Das Atmosphären-Konzept, dessen wichtigster Bezugspunkt die Arbeiten des Philosophen Gernot Böhme sind (Böhme 1995; 1998; 2006), dient als Instrument, um einen vielschichtigen Zugang zu städtischen Räumen zu entwickeln und den Blick auf komplexe Wechselwirkungen zwischen Subjekt und Umgebung zu lenken. In den Arbeiten der Europäischen Ethnologie, die sich mit Atmosphären befassen, lassen sich zwei Ansätze beobachten. Einige Studien konzentrieren sich auf konkrete, situativ wahrnehmbare Orte in der Stadt. Dazu gehören beispielsweise die Überlegungen von Orvar

8 Darauf verweisen neben zahlreichen Publikationen vor allem auch Tagungsthemen der letzten zehn Jahre, beispielsweise die Österreichische Volkskundetagung »Stofflichkeit in der Kultur« 2010 in Eisenstadt, der dgv-Kongress »Materialisierung von Kultur« 2013 in Nürnberg oder die Österreichische Volkskundetagung »Emotional turn?! Kulturwissenschaftlich-volkskundliche Zugänge zu Gefühlen / Gefühlswelten« 2013 in Dornbirn.

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Löfgren zum Bahnhof (Löfgren 2010) sowie die Dissertation von Melanie Keding zum Ulmer Münsterplatz (Keding 2012) oder auch die Magisterarbeit von Gabriela Ferraro zum Münchner Hofbräuhaus (Ferraro 2016). In anderen Forschungen wird das Atmosphärenkonzept mit Blick auf die Stadt als Ganzes angewendet und steht in einer gewissen Verwandtschaft zum Konzept des Habitus oder der Eigenlogik einer Stadt (vgl. Egger 2015). Ein Beispiel hierfür ist die Dissertation von Simone Egger, in der sie zum Teil diskursiv konstruierte atmosphärische Qualitäten für München in den 1960er-Jahre herausarbeitet (Egger 2013). Kennzeichnend für Anwendungen des Atmosphären-Konzepts im Fach ist ein Zugang, der über die unmittelbare situative Wahrnehmung hinausgeht und sowohl die symbolische Dimension und die historisch-diskursive Konstruktion von Materialitäten untersucht als auch die kulturelle Prägung der wahrnehmenden Subjekte berücksichtigt (vgl. dazu auch Ionescu 2011; Rogojanu 2013). Zur Rezeption der Akteur-Netzwerk-Theorie in der europäisch-ethnologischen Stadtforschung hat Alexa Färber programmatische Überlegungen entwickelt. Sie schlägt das Konzept der »Greifbarkeit der Stadt« als eine an die ANT angelehnte Forschungsperspektive vor, um »Ethnographie quer zu gesellschaftlich benannten Machtpositionen zu schreiben« (Färber 2010: 101). Die symmetrische Einbeziehung von menschlichen Akteuren und nicht-menschlichen Aktanten soll helfen, die Materialität der Stadt und ihre Effekte in Alltagspraktiken verstärkt zu berücksichtigen (ebd.: 102, vgl. auch Färber 2013). Ein Beispiel für eine empirische Anwendung der Akteur-Netzwerk-Theorie, die diese zudem mit dem Atmosphärenkonzept verbindet, ist die jüngst erschienene Dissertation von Anke Rees (2016), die deutlich in Richtung einer expliziten Architekturforschung weist. Am Beispiel der Hamburger Schilleroper versucht sie, Formen der Wirksamkeit von »widerspenstige[n] Gebäude[n]« (Rees 2013) zu analysieren. Im Fokus der Studie stehen die »Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Gebäuden« (Rees 2016: 17): Ihre aufeinander bezogenen Kommunikationen und Interaktionen werden dabei als dynamische, komplexe Aushandlungsprozesse zwischen Menschen und Dingen verstanden, in deren Verlauf sich Kultur konstituiert, Ordnungssysteme und Wertesysteme gebildet werden und zutage treten. (ebd.)

Zu diesem Zweck entwickelt Rees das »Atmosphären-Netzwerk-Modell«, das Ansätze der ANT um die Berücksichtigung des atmosphärischen Gehalts von Gebäuden ergänzt (vgl. dazu auch Rees 2013). An der ANT orientierte Ansätze und solche, die sich mit Atmosphären beschäftigen, sind neben anderen in einem Tagungsband vereint, der das derzeit expliziteste Statement zu einer Architekturforschung in der Europäischen Ethnologie darstellt (Rolshoven / Omahna 2013). Als Ausgangspunkt für das europäisch-ethnologische Interesse an Architektur definieren die Herausgebe-

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rin Johanna Rolshoven und der Herausgeber Manfred Omahna in ihrer Einleitung die »Reziprozität zwischen Menschen und gebauten Räumen« (Omahna / Rolshoven 2013: 7) – eine Denkfigur, die aus der Beschäftigung des Faches mit materieller Kultur im Allgemeinen bekannt ist (Heidrich 2001: 34; vgl. dazu auch König 2003 und Heidrich 2007). Der Band sieht sich als Versuch, eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Europäischer Ethnologie und Architektur zu fördern, für die Rolshoven das Label Cultural Studies in Architecture, gewissermaßen als dritten, außerhalb der Disziplinen stehenden Raum, vorschlägt. Als Interessensfeld beider Disziplinen, der Europäischen Ethnologie wie auch der Architektur, das sich als Ausgangspunkt für einen solchen Dialog eignet, definiert Rolshoven das Verhältnis zwischen »gebautem Raum, Gesellschaft und Mensch« (Rolshoven 2013b: 15). Insgesamt fällt in diesem Band eine Perspektivenverschiebung auf: Nicht nur Nutzungs-, Aneignungs- und Deutungsmuster bezüglich Architektur werden thematisiert, sondern auch die Prozesse und Kontexte der Entstehung des gebauten Raumes sind zunehmend von Interesse. Besonders explizit spricht diese Blickrichtung Klara Löff ler in ihrer Programmatik einer »Baukulturenforschung« an, wenn sie ihr Interesse folgendermaßen skizziert: Bauen verstehe ich prozessual, nicht nur das fertige Bauwerk, sondern vor allem auch das komplexe Geschehen hinter, vor, aber auch nach dem Bauen, das Bauen als Handlungs- und Verhandlungsraum, als Raum von Praktiken und Routinen interessieren mich. (Löff ler 2013: 25)

Haus- und Wohnforschung sind also in der Volkskunde bzw. Europäischen Ethnologie seit langem etablierte Themen, die zunächst mit unterschiedlichen Schwerpunkten – einem dominierenden Interesse für das Materielle einerseits und einem Fokus auf das Soziale andererseits – verfolgt und erst in jüngerer Zeit systematisch zusammengeführt wurden. 9 Die vorliegende Arbeit greift diesen Impuls, Fragen nach der Produktion und nach der Aneignung des gebauten Raumes miteinander zu verbinden, auf. Dabei versucht sie, der Eigenlogik des Materiellen und dessen pragmatischer Bedeutung (im Sinne der ANT) ebenso Rechnung zu tragen wie den sinnlichen Aspekten der Raumgestaltung und -wahrnehmung, vor allem aber den Routinen und Praktiken der Akteure.

9 Ein weiteres Beispiel für das europäisch-ethnologische Interesse am Bauen ist das laufende, vom BMBF geförderte Forschungsprojekt »Hausfragen«, das als Kooperation zwischen der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der Volkskundlichen Kommission für Westfalen beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem Museumsdorf Cloppenburg und dem Institut für Wasser, Ressourcen und Umwelt angelegt ist.

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Hintergründe des sozial- und kulturwissenschaftlichen Interesses an Architektur Wie durch die Skizzierung der forschungsleitenden Perspektiven bereits deutlich wurde, ist die Beschäftigung der genannten Disziplinen mit Architektur vor dem Hintergrund mehrerer wissenschaftlicher turns in den Kultur- und Sozialwissenschaften zu sehen. 10 Zentral sind dabei spatial turn, material turn und practice turn, die wiederum in engen Zusammenhängen stehen. Die resultierenden konzeptuellen Neuorientierungen sollen, insofern sie für die Perspektivierung der vorliegenden Arbeit wichtig erscheinen, im Folgenden skizziert werden. Der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick zufolge ist der spatial turn, ganz allgemein verstanden als »gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt« (Schlögel 2003: 68, zitiert nach Bachmann-Medick 2009: 285), eine Reaktion der Wissenschaften auf eine gestiegene gesellschaftliche Relevanz des Raumes in der Postmoderne. Politische Entwicklungen im Kontext des Postkolonialismus sowie Prozesse der Globalisierung, Mediatisierung und Vernetzung erzeugen ein »Spannungsverhältnis zwischen Auf lösung und Wiederkehr des Raumes«, das eine »kritische Raumreflexion« anregt und die Entwicklung neuer Raumbegriffe erfordert (ebd.: 288; vgl. dazu auch Seifert 2009: 469–471). Während Raum in einer interdisziplinären, von der Kulturgeographie geprägten Ausrichtung des spatial turn oftmals global gedacht und gewissermaßen als »Makroraum« thematisiert wird, sind für die vorliegende Forschung vor allem die »Mikroräume des Alltags« (Döring 2010: 91) von Bedeutung. Die Transformation der Raumbegriffe spitze ich daher im Folgenden auf die Perspektive der Europäischen Ethnologie hin zu und skizziere die theoretischen Ansätze vor allem mit Blick auf ihre Operationalisierbarkeit für Fragen der europäisch-ethnologischen Architekturforschung. Bachmann-Medick betont, dass mit dem spatial turn nicht nur eine größere Aufmerksamkeit für Raum als Forschungsgegenstand gemeint ist, sondern vor allem ein Perspektivenwechsel, in dem Raum »zu einer zentralen Analysekategorie wird, zum Konstruktionsprinzip sozialen Verhaltens, zu einer Dimension von Materialität und Erfahrungsnähe, zu einer Repräsentations-

10 Turns verstehe ich hier ganz allgemein als Aufmerksamkeitsverschiebung und Perspektivenwechsel. Im Vordergrund der folgenden Ausführungen steht die Frage, inwiefern solche Perspektivenveränderungen in den angeschnittenen Bereichen eine theoretische Grundlage für die vorliegende Arbeit liefern können, nicht die wissenschaftstheoretische Frage, ob es tatsächlich angemessen ist, in diesem Zusammenhang von »Turns« zu sprechen. Für eine ausführliche Diskussion zum Konzept der Turns vgl. Bachmann-Medick 2009: 7–27.

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strategie« (Bachmann-Medick 2009: 304). Die Transformation der Raumbegriffe steht im Fall der Europäischen Ethnologie in engem Zusammenhang mit der Transformation des Faches insgesamt. Im Zuge der Entwicklung von einer an »Volkskulturforschung« interessierten Volkskunde hin zu einer »kulturanalytischen empirischen Kulturwissenschaft« (Rolshoven 2013c: 127) hat sich der Raumbegriff des Faches »von einem als objektiv und stetig definierten dreidimensionalen Ding- und Vorstellungsraum hin zu einem komplexen handlungsrelevanten und relationalen Orientierungsraum« (ebd.: 126) gewandelt, schreibt etwa Johanna Rolshoven. Wesentliche Impulse für die Neukonzeptualisierung des Raumverständnisses kommen von zwei der führenden Vertreterinnen und Vertreter der Fachwende in den 1970er- und 1980er-Jahren (vgl. dazu auch Rolshoven 2012: 161). Ina-Maria Greverus erweitert den Forschungshorizont des nunmehr als Kulturanthropologie konzipierten Faches über das nahräumliche Umfeld hinaus und leistet einen entscheidenden Beitrag zur Öffnung des Faches in Richtung von Fragen nach Transnationalismus und Mobilität. In Anlehnung an den Sozialökologen Erik Cohen entwickelt Greverus ein kulturökologisches Raumorientierungsmodell, das grundsätzlich nach »Wechselbeziehungen zwischen gestalteter Umwelt und dem Menschen vorrangig im Bereich des alltäglichen Lebens- und Erfahrungsraums« (Greverus 2009: 64) fragt. Sie richtet den Blick dabei sowohl auf Aspekte der Materialität als auch auf Aneignungspraktiken, soziale Hierarchien sowie Weltanschauungen und Bedeutungsdimensionen (vgl. ebd.: 63; Greverus 1994). Auch Hermann Bausinger meldet sich ab den 1980er-Jahren mit neuen Impulsen zur Beschäftigung mit Raum zu Wort. In einem programmatischen Text schlägt Bausinger, der 1961 in seinem wegweisenden Band »Volkskultur in der technischen Welt« bereits für ein Verständnis von »Raum als Medium« eintrat (Bausinger 1961: 54 ff; zitiert nach Rolshoven 2012: 161), das Konzept der »räumlichen Orientierung« (Bausinger 1988) vor, die kulturspezifisch und von Faktoren wie Geschlecht, sozialer Zugehörigkeit und Alter abhängig sei. Das gesellschaftliche Verhältnis zum Raum versteht Bausinger als historisch geprägt und veränderbar, wie zum Beispiel der Wandel der Vorstellungen und Normen von Öffentlichkeit und Privatheit zeigt. Neue explizite Auseinandersetzungen mit dem Raumbegriff in der Europäischen Ethnologie treten ab den 2000er- und verstärkt ab den 2010erJahren auf. Raum wird dabei konsequent vom Subjekt aus gedacht. Ein solches konstruktivistisches Raumverständnis sieht Johanna Rolshoven in den späten Arbeiten von Greverus angelegt (vgl. Rolshoven 2012: 161), wenn diese Raum als »Bezugsbegriff und Bühne menschlichen Denkens und Handelns« sieht und ihn als »Imagination und Idee, Konstrukt und Bewirktes, Zeichenhaftes und Wirkendes« (Greverus 2009: 477) konzipiert. Rolshoven beschreibt den Alltagsraum in ganz ähnlicher Weise als einen »auf den Menschen bezo-

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gene[n], vom Menschen her gedachte[n] und erschlossene[n] Raum« (Rolshoven 2003: 203) und betont: »Er konstituiert sich durch das räumliche Erleben, über das Handeln im Raum sowie über die Raumvorstellung; die physisch-räumliche Umwelt bleibt dabei Rahmenhandlung« (ebd.). Ähnlich argumentiert Sabine Eggmann, wenn sie schreibt: ›Raum‹ und ›Natur‹ (kurz: die ›Physis‹) benennen [...] nicht die Materialität, die den Menschen in ihrer eigenen, physisch vorgegebenen Qualität und Struktur umgibt. Die Kategorien Raum und Natur verweisen jetzt auf dasjenige, zu dem sich der Mensch selbst in Beziehung setzt und das er in funktionaler oder symbolisierender Weise bearbeitet. (Eggmann 2012: 175)

Die materielle Seite des Raumes – und damit auch die Architektur – wird dabei nicht gänzlich ausgeklammert, verliert aber an Gewicht. Mit Blick auf diese Studie ist an dieser Neukonzeptualisierung neben der Aufmerksamkeit für Subjekte in ihren Lebenswirklichkeiten und mit ihren gesellschaftlichen Bezügen vor allem auch die Berücksichtigung ihrer mentalen Raumkonzepte und Raumbilder wichtig. Erstens findet Raumwahrnehmung demnach immer vor dem Hintergrund bestimmter historisch-kulturell geprägter Normen und Vorstellungen statt, die wiederum auf Grundlage von konkreten Raumerfahrungen, aber auch auf der Basis medial vermittelter Raumbilder entstehen (vgl. Eggmann 2012: 182). Zweitens prägen diese Vorstellungen und Normen neben der Raumwahrnehmung auch das Agieren im Raum. So verfügen konkrete Räume mitsamt ihrer symbolischen Auf ladung über bestimmte »normative Codierung[en]« (Rolshoven 2003: 197), die Verhaltensaufforderungen beinhalten. Ohne determinierend zu wirken, sind sie überaus handlungsrelevant (vgl. Welz 1986: 173; Greverus 1986). Durch phänomenologische Ansätze inspiriert, gibt es drittens vermehrt Überlegungen zur konkreten Raumwahrnehmung. Diese schenken sowohl verschiedenen Sinneserfahrungen als auch der Bewegung als Modus der Raumwahrnehmung und -aneignung besondere Aufmerksamkeit (Rolshoven 2003: 200–203; Rolshoven 2001). Rolshoven schlägt mit dem Konzept einer Raumtriade eine Systematisierung des genannten Raumverständnisses vor. In Anlehnung an Henri Lefebvre, der von einem Zusammenspiel zwischen wahrgenommenem, konzipiertem und gelebtem Raum ausgeht, differenziert Rolshoven zwischen dem gebauten Raum, also dem messbaren, architektonisch geschaffenen Raum, dem Repräsentationsraum, der durch gesellschaftliche und historische Zuschreibungen charakterisiert ist, und dem erlebten bzw. gelebten Raum, der vom Individuum wahrgenommen und in Alltagshandlungen verwirklicht wird (vgl. Rolshoven 2012: 163–166; Rolshoven 2013b: 19–23; Rolshoven 2013c: 133–140). Die Raumtriade sieht sie als »Denkbaustein« (Rolshoven 2013b: 23), der sich durch seine »Operationalisierbarkeit in konkreten Forschungs- und Planungszusam-

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menhängen« (ebd.: 19) auszeichnet. Obwohl Rolshoven betont, dass die drei Raumaspekte »stets dynamisch aufeinander bezogen« (Rolshoven 2013c: 135) sind, lässt sie bewusst die Frage nach der Art der Zusammenhänge zwischen den Dimensionen weitgehend offen. Eine stärker ins Detail ausformulierte sozialwissenschaftliche Konzeptualisierung von Raum hat die in der Europäischen Ethnologie breit rezipierte Soziologin Martina Löw vorgelegt. Löw versteht Raum als eine »relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern« (Löw 2001: 160) und nimmt besonders die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Faktoren der Raumkonstitution in den Blick. Raum entstehe durch zwei analytisch zu trennende Prozesse: »Spacing« und »Syntheseleistung« (ebd.: 158 f.). Spacing meint das »Plazieren von sozialen Gütern und Menschen« (ebd.: 158). Dazu zählen Prozesse des Planens und Bauens ebenso wie das Arrangieren von einzelnen Gegenständen und die Positionierung des eigenen Körpers im Raum. Löws Begriff Syntheseleistung verweist darauf, dass Menschen in ihrer Vorstellung, Wahrnehmung oder Erinnerung erst bestimmte (An-)Ordnungen von sozialen Gütern und Menschen zu einem Raum verknüpfen. In diesem Verständnis sind alle Räume soziale Räume, »insofern keine Räume existieren, die nicht durch synthetisierende Menschen konstituiert werden« (ebd.: 228). Beide Prozesse der Raumkonstitution sind im Alltag eng miteinander verknüpft: Im alltäglichen Handeln der Konstitution von Raum existiert eine Gleichzeitigkeit der Syntheseleistung und des Spacing, da Handeln immer prozeßhaft ist. Tatsächlich ist das Bauen, Errichten oder Plazieren, also das Spacing, ohne Syntheseleistung, das heißt ohne die gleichzeitige Verknüpfung der umgebenden sozialen Güter und Menschen zu Räumen, nicht möglich. (ebd.: 159)

Löws Konzept setzt einerseits die aktive Konstitution von Raum durch Subjekte zentral und schließt andererseits auch die gesellschaftliche Rahmung des Spacings und der Syntheseleistung mit ein. Denn die Raumkonstitution ist mit sozialen Ungleichheiten verknüpft: Spacing ist immer von der Verfügbarkeit der zu platzierenden Güter für bestimmte Akteurinnen und Akteure in spezifischen Handlungssituationen abhängig und die Syntheseleistung ist immer durch »Raumvorstellungen, institutionalisierte Raumkonstruktionen und den klassen-, geschlechts- und kulturspezifischen Habitus« (ebd.: 225) vorstrukturiert. Die eben dargestellten Auseinandersetzungen mit Raum sowie die neuen Raumbegriffe im Zuge des spatial turn weisen weit über den physischen Raum hinaus. Manfred Seifert plädiert angesichts dieser Entwicklung dafür, im Fokus auf Raumerleben und Raumnutzung die materielle Seite des Raumes nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn er schreibt: »Räumliches als Handlungs- und Wahrnehmungsfaktor ist eben nicht nur als Imagination zu begreifen, sondern

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in der Gestalt des physischen Ortes auch als erlebbares Gegenüber des Menschen« (Seifert 2009: 479). Ganz in diesem Sinne stehen in der vorliegenden Forschung räumliche Materialisierungen im Fokus. Die vorgestellten Ansätze dienen dabei als Perspektivenerweiterung, um Architektur als eine Form materieller Kultur zu deuten, die auf vielfältige Weise mit Fragen der Produktion und Wahrnehmung von Raum in seiner ganzen Vielschichtigkeit verknüpft ist. Im Interesse dieser Studie zu Wohnarchitektur verbinden sich Fragen nach Raum mit jenen nach Materialität und Materialisierung. Ähnlich wie für die Kategorie Raum ein space turn diagnostiziert wird, ist im Zusammenhang mit dem seit den 1990er-Jahren erstarkenden Interesse an Dingen und Materialien von einem material turn die Rede (vgl. Hicks 2010; Mitchell 2011). Dieser betrifft eine Vielzahl an sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen (vgl. Samida / Eggert / Hahn 2014) und beschreibt einen Perspektivenwechsel, der sich auf spezifische Weise auch in der Europäischen Ethnologie formt. 11 Der musealen Orientierung der Volkskunde um 1900 entsprechend zeigen frühe Fachvertreter ein großes Interesse an der Sammlung von »Volkskunst«. Dieses Interesse geht oft mit einem kulturkritischen Impetus einher, der sich gegen Urbanisierungs- und Industrialisierungsphänomene richtet (vgl. König 2003: 103–111). In dieser frühen Phase der Volkskunde etabliert sich die Vorstellung von »geistiger« und »materieller« Kultur als verschiedenen und getrennt zu untersuchenden Feldern, für die sich auch unterschiedliche Zuständigkeiten – Universität respektive Museum – etablieren. Obwohl bereits Ende der 1960er- bzw. Anfang der 1970er-Jahre Kritik an der konzeptuellen Unterscheidung von »geistig« und »materiell« geübt wird (vgl. Kramer 1969; Wiegelmann 1970; Mohrmann 1992), bleibt die Anzahl sachkulturell orientierter Forschungen im universitären Bereich eher gering 12. Mit der kultur- und sozialwissenschaftlichen Wende des Faches verstärkt sich die Skepsis gegenüber einer von den Museen oftmals positivistisch betriebenen Sachkulturforschung (vgl. Beck 1997a: 128–132; Heidrich 2007: 227 f.). Der Volkskundekongress von 1981 markiert eine erste Phase des neuen Interesses der universitären Volkskunde an den Dingen und eine Verschiebung der Forschungsperspektive. In der Einleitung zum Kongressband formuliert Hermann Bausinger: »Das Thema ›Umgang mit Sachen‹ [...] fragt nach der Verankerung der Dinge in der jeweiligen Lebenswelt, nach ihrem Gebrauch, ihrer Nutzung, ihrer Aneignung und Bedeutung« (Bausinger 1983: 9). Mit der Hinwendung zu den lebensweltlichen Kontexten des Materiellen verschiebt sich der Fokus weg von den Dingen selbst hin zu ihrem Gebrauch. Demnach

11 Ich habe diesen Perspektivenwechsel in meinem Text »Materielle Kultur. Perspektiven auf Menschen und Dinge« skizziert und stütze mich in den folgenden Ausführungen teilweise auf diese Publikation (Ionescu 2012). 12 Zu den Forschungen aus diesem Bereich gehören Brückner 1973; Gerndt 1974.

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sei, so Köstlins und Bausingers Fazit, »Sachvolkskunde, richtig verstanden, keine Sachvolkskunde«, denn die Sachen verweisen immer auf ein »Handlungsgefüge« (Köstlin / Bausinger 1983: 304). Gegenwärtig hat sich in der Europäischen Ethnologie die Erforschung materieller Kultur unter neuen Vorzeichen als wichtige Perspektive etabliert. Zentral für die heutige Beschäftigung der Europäischen Ethnologie mit Dingen ist, dass diese konsequent in ihrer Bedeutung für die Menschen mit ihren Vorstellungen und Gesellschaftsordnungen gedacht werden. So schreibt Gudrun König: Die Analyse materieller Kultur bezeichnet eine Perspektive auf Kultur und nicht nur einen exakt abgrenzbaren Gegenstandsbereich. [...] Sie nutzt die Dinge als Türöffner für die Dechiffrierung historischen wie gegenwärtigen Alltagslebens. Die Erforschung materieller Kultur basiert auf einem weiten Begriff von Kultur und will kulturelle Mechanismen sowie symbolische Praktiken deuten. (König 2003: 97)

Diese kulturellen Implikationen sind in zweifacher Hinsicht zu denken: Einerseits lassen Dinge gesellschaftliche und kulturelle Ordnungen erkennen, andererseits spielen sie selbst eine zentrale Rolle in der Konstitution dieser durch Hierarchien entlang von Geschlecht, Klasse, Ethnizität oder Alter gekennzeichneten Ordnungen. Hermann Heidrich betont diese »Reziprozität der materiellen Kultur« (Heidrich 2001: 34) wie folgt: Wenn sich einerseits in den Dingen kulturelle Prozesse spiegeln und der Wissenschaftler, die Wissenschaftlerin sie aus ihnen abzulesen versteht, so sind aber auf der anderen Seite Objekte mit ihren Bedeutungen eine Realität des kulturellen Lebens. Einerseits informieren sie uns als Indikatoren über kulturelle Muster, andererseits gestalten Dinge unsere kulturellen Muster, unsere Kultur, unser Verhalten, unser Selbstbild, unsere Identität. (ebd.)

Für die Analyse materieller Kultur bedeutet dies zunächst auch eine Vielzahl an möglichen Perspektiven und Fragestellungen, von denen im Folgenden insbesondere jene präsentiert werden sollen, die für die vorliegende Forschung nutzbar scheinen. Mit dieser Öffnung für neue Perspektiven geht auch ein verstärktes Interesse für Forschungen und theoretische Ansätze aus den Nachbardisziplinen einher, wobei insbesondere die im Kontext der bereits genannten britischen Sozialanthropologie entstandenen Material Culture Studies sowie Ansätze aus der deutschsprachigen Ethnologie und Soziologie wichtige thematische, theoretische und methodische Bezugspunkte bilden. Eine bis in die 1980er-Jahre hinein dominante Perspektive in der Analyse von Dingen ist deren Bedeutung bzw. Zeichenwert oder Symbolcharakter. Bereits in den 1960er-Jahren prägt Karl-Sigismund Kramer das Konzept der

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»Dingbedeutsamkeit«. 13 Bedeutsamkeit versteht er als »normierte[s], teilweise auch überlieferte[s], also sedimentierte[s] und habitualisierte[s] Set von Bedeutungszuschreibungen« (Korff 2000: 31). Für die heutige Anschlussfähigkeit von Kramers Konzept ist zentral, dass er diese Bedeutungszuschreibungen in den Zusammenhang von Stoff, Gestalt oder Funktion der Dinge (Kramer 1962: 100) stellt und somit den Blick für unterschiedliche Betrachtungsebenen und potenziell für vielschichtige, womöglich auch miteinander konkurrierende Bedeutungen von Dingen öffnet. Neben Kramers Überlegungen findet die Betrachtung von Dingen als Zeichen ab den 1980er-Jahren durch die Rezeption semiotischer Ansätze Eingang in die volkskundliche Sachkulturforschung. Dinge werden, ähnlich den sprachlichen Zeichen, als in größere Sinnsysteme eingebettete Träger von Bedeutungen gesehen (vgl. Beck 1997b: 179–181). Zusätzlich finden sich im Fach Arbeiten, die Dinge in ihrer Erinnerungsfunktion sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene untersuchen (Mohrmann 1991) und so nach der »Eigenbedeutung der Dinge im subjektiven Sinn« (König 2000: 73; vgl. dazu auch Gößwald 2010) fragen. Die bisher ausgeführten Ansätze werden in aktuellen Analysen der Bedeutung von Alltagsdingen im Fach und darüber hinaus präzisiert und erweitert: Erstens wird nicht von einer singulären Bedeutung eines Dings, sondern von multiplen Bedeutungen ausgegangen. Dinge werden als prinzipiell »multivokal« (König 2003: 100) und mehrdeutig (Heidrich 2007: 234) gedacht. Diese Orientierung entspricht auch den Entwicklungen in anderen Fächern, so spricht beispielsweise der Ethnologe Hans Peter Hahn von »Objektzeichen als ›unscharfe[n]‹ Zeichen« (Hahn 2005: 122; vgl. dazu auch Hahn 2003). Zweitens rückt der Zusammenhang zwischen Materialität und Bedeutung in den Blick, ein Ansatz, den Stefan Beck 1997 explizit einfordert (Beck 1997b) und den Gottfried Korff, Gudrun König oder auch Hermann Bausinger mit Rückgriff auf Karl-Sigismund Kramer einlösen (Korff 1992; König 2004; Bausinger 2004). Drittens gewinnt die Akteursperspektive an Bedeutung, wenn beispielsweise Bausinger davon ausgeht, dass Dinge auf Grundlage ihres Materials, ihrer Form und ihrer historisch-kulturellen Auf ladung bestimmte Nutzungsweisen gewissermaßen als »Potenzialitäten« nahelegen, diese aber immer erst in konkreten situativen Handlungskontexten in je unterschiedlicher Art und Weise aktualisiert werden (Bausinger 2004: 203–210). 14 Zentral ist also neben der »intersubjektiven kulturellen Bedeutsamkeit« (König

13 Auf die eng damit zusammenhängenden Konzepte des österreichischen Volkskundlers Leopold Schmidt, der von Gestaltheiligkeit und Stoffheiligkeit sprach, wird hier nicht näher eingegangen. 14 Den Wandel der Bedeutungen von Dingen in Abhängigkeit von ihren konkreten Kontexten hat in anregender Weise bereits Igor Kopytoff in seinem Konzept der »cultural biography of things« ausgeführt: Kopytoff 1986.

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2004: 66) vor allem die Art und Weise, in der einzelne Menschen bzw. Gruppen Bedeutungsangebote aufgreifen oder reformulieren. 15 Mit dem Verweis auf situative Handlungskontexte ist eine weitere Betrachtungsweise angedeutet, die den Blick auf Dingbedeutungen erweitern kann bzw. soll, wie Hermann Heidrich formuliert: »Es sind also zwei Perspektiven, die wir gewohnt sind, getrennt zu sehen und die wir in dieser Kombination auf die Dinge richten können, um sie zu verstehen: die Perspektive des Umgangs mit Dingen und die Perspektive der Bedeutung« (Heidrich 2007: 232). In der Soziologie und der Kultur- und Sozialanthropologie finden sich in den 1980er- und 1990er-Jahren vor allem Arbeiten, die den Umgang mit Dingen einerseits als Ausdruck und Mittel der sozialen Positionierung sehen, wie etwa in Bourdieus Konzept des Habitus (Bourdieu 1987: 277–286), andererseits die Rolle von Dingen für das Selbstverständnis von Akteuren (Csikszentmihalysi / Rochberg-Halton 1989) sowie für soziale Beziehungen (Miller 1998; Marcoux 2001a; Marcoux 2001b) thematisieren (vgl. Yalouri 2014: 11 f.). Inzwischen werden jene Ansätze, die sich auf den Umgang mit Dingen konzentrieren, zunehmend mit dem Vorwurf der »tyranny of the subject« (Miller 2005: 36) konfrontiert, insofern als sie der Eigenlogik der Dinge zu wenig Raum geben. Von vielen Autorinnen und Autoren wird demgegenüber die »agency« (ebd.: 11) der Dinge betont, ein Ansatz, der zumeist mit der Rezeption der Akteur-Netzwerk-Theorie einhergeht. Deren Vertreterinnen und Vertreter, allen voran Bruno Latour, treten dafür ein, die Leitdifferenzen der Moderne, wie die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur oder auch zwischen Subjekt und Objekt, zu überwinden. Der Akteur-Netzwerk-Theorie zufolge ist »jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur« (Latour 2007: 123). Dinge bilden demnach mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren Netzwerke, in denen sie eine aktive Rolle spielen. Den nicht-menschlichen Akteuren, so die zentrale These, sind »Handlungsprogramme« eingeschrieben (vgl. Belliger / Krieger 2006: 40), die dazu beitragen, menschliches Handeln zu reglementieren. Kritisiert wird die Akteur-Netzwerk-Theorie wiederum dahingehend, dass sie die historische und politische Dimension von Akteur-Netzwerken ebenso wie sinnliche und emotionale Komponenten der Konfrontation mit Objekten ausblendet (vgl. Yalouri 2014: 18; Dant 2005: 81–83). Innerhalb dieser Vielzahl an Zugängen zu materieller Kultur haben Daniel Miller und Hans Peter Hahn auf Basis ihrer ethnographischen Arbeit jüngst Positionierungen entwickelt, von denen ich aus Sicht der Europäischen Ethnologie als Alltagskulturwissenschaft zwei Aspekte hervorhebe. Gerade hinsicht15 Eine Erweiterung des semiotischen Ansatzes in Richtung der Perspektive der InterpretInnen von Objektzeichen hat Hermann Heidrich vorgenommen: Heidrich 2000.

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lich der gegenwärtigen Tendenzen zur Betonung der aktiven Rolle von Dingen warnen beide davor, »tyranny of the subject« durch »tyranny of the object« zu ersetzen (Miller 2005: 38; vgl. dazu auch Yalouri 2014: 30–33). Schließlich gehe es in einer nahe am Alltag und den Alltagsbegriffen der Menschen operierenden Wissenschaft darum, die Rolle der Dinge in und als Teil von Sinn- und Beziehungszusammenhängen zu ergründen und dabei offen zu bleiben für die unvorhersehbaren, gewissermaßen eigensinnigen Potenziale der Dinge (Miller 2005: 32). In eine ähnliche Richtung weist auch Hans Peter Hahn: Ein besser fundierter Zugang darf sich nicht damit zufrieden geben, aus den Menschen Marionetten ihres Sachbesitzes zu machen. Er muss auch anerkennen, dass jede Funktionalisierung materieller Kultur eine Verkürzung darstellt. Die Welt des Materiellen ist eine Herausforderung für das wissenschaftliche Verstehen alltäglicher Lebenswelten, [...] weil [die Dinge] immer wieder der Kontrolle entgleiten. [...] Dinge werden immer wieder anders wahrgenommen: ihr Wandel in Bedeutung und Relevanz muss als grundlegendes Potenzial materieller Kultur mit bedacht werden. (Hahn 2015b: 38)

Wenn Hahn in den letzten Jahren von Eigensinn schreibt, meint er jedoch nicht nur ein unabsehbares und nie abgeschlossenes Potenzial der Dinge, immer wieder neue Bedeutungen zu entfalten und sich Nutzungs- und Interpretationsweisen zu öffnen oder zu widersetzen, das andernorts etwa als »Tücke des Objekts« (Ferus / Rübel 2009) bezeichnet wird. Er plädiert in seinen neueren Texten vielmehr dafür, auch die »Bedeutungslosigkeit« der Dinge zu berücksichtigen (Hahn 2010: 17). Hahn vertritt die These, dass durch das (kultur-)wissenschaftliche Interesse am Materiellen auf methodischer und theoretischer Ebene eine Aufwertung der Dinge stattfindet, die ihrer häufig vom »Charakter der Beiläufigkeit« (Hahn 2015a: 14) gekennzeichneten Rolle in alltäglichen Kontexten nicht entspricht. Genau diese wenig reflektierten »Momente des habituellen Umgangs« seien es jedoch, in denen man »mit einiger Berechtigung von der Macht der Dinge über den Menschen« sprechen könne (ebd.: 18). Den Vorwurf der unangemessenen Aufwertung der Dinge macht Hahn auch den Studien Millers, der etwa das Einkaufen als Modus der Pflege sozialer Beziehungen interpretiert. Allerdings betont Miller in seinen neueren Texten wiederholt, was er in »Material Culture and Mass Consumption« bereits in den 1980er-Jahren mit dem Begriff »humility of objects« (Miller 1987: 85) angelegt hat, nämlich dass die Dinge gerade aufgrund ihrer Unscheinbarkeit und Alltäglichkeit eine besondere Rolle spielen: The surprising conclusion is that objects are of importance not because they are evident and physically constrain or enable, but often precisely because we do not ›see‹ them. The less we are aware of them, the more powerfully they can de-

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termine our expectations by setting the scene and ensuring normative behavior, without being open to challenge. They determine what takes place to the extent that we are unconscious of their capacity to do so. (Miller 2005: 5)

Architektur kann nicht nur als eine Dimension von Raum, sondern auch als Artefakt gesehen werden. Insofern sind einige der hier angesprochenen Perspektiven der Betrachtung materieller Kultur auch auf die Untersuchung von Architektur anwendbar. Zum einen kann der gebaute Raum selbst als »Träger von bestimmten Bedeutungen« (Müller 2010: 70) gesehen werden. Diese Bedeutungen können sich – und hier bietet die Theorie Karl-Sigismund Kramers einen hilfreichen Anknüpfungspunkt – beispielsweise aus den verwendeten Materialien oder einer bestimmten Formensprache ergeben. Aber auch bildhafte Elemente des gebauten Raumes ebenso wie die Dinge, mit denen dieser bestückt wird, können bestimmte Sinnkontexte und individuelle wie auch kollektive Erinnerungsräume eröffnen, die jedoch nicht eindeutig, sondern potenziell mehrdeutig zu sehen sind und ihre konkrete Bedeutung erst durch bestimmte Akteure in konkreten Handlungskontexten erhalten. Zusätzlich zur Bedeutungsdimension, die ein Blick auf Architektur als Artefakt nahe legt, sind auch die oftmals vorbewusste körperbezogene sinnliche Wahrnehmung des Materiellen und der routinisierte Umgang mit dem Materiellen ein Anknüpfungspunkt für die Analyse eines Gebäudes (vgl. Delitz 2009: 76 f.). Demnach ist zu fragen, welche Bewegungslinien der gebaute Raum vorgibt, welche atmosphärischen Qualitäten er für wen entwickelt, und letztlich auch wie die Materialität des Raumes Aktionen und Interaktionen prägt, wobei ich mich der von Miller und Hahn vertretenen Perspektive anschließe, die die Eigensinnigkeit sowohl der Objekte als auch der Subjekte berücksichtigt. Sowohl in der Neukonzeptualisierung von Raumbegriffen als auch in der gesteigerten Aufmerksamkeit für das Materielle spielen auf Praxis fokussierte Perspektiven eine zentrale Rolle, wenn beispielsweise die alltägliche Raumaneignung oder der routinisierte Umgang mit Dingen thematisiert werden. Daher widme ich nun auch dem practice turn, der zudem zur Integration von Fragen der Materialisierung in die Kulturanalyse beigetragen hat, einige Überlegungen. Der practice turn, so schreibt einer seiner zentralen Vertreter, der Kultursoziologe Andreas Reckwitz, stellt eine zweifache Neukonzeptualisierung dar, ein modifiziertes Verständnis dessen, was ›Handeln‹ – und damit auch, was der ›Akteur‹ oder das ›Subjekt‹ – ist; gleichzeitig und vor allem aber geht es ihnen [den Praxistheorien, Anm. d. Verf.] um ein modifiziertes Verständnis des ›Sozialen‹. (Reckwitz 2003: 282)

Unter Praxistheorien verstehen der Soziologe Hilmar Schäfer eine »heterogene, aber dennoch definierbare Theoriebewegung« (Schäfer 2016: 9) und

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Reckwitz ein »Bündel von Theorien mit ›Familienähnlichkeit‹« (Reckwitz 2003: 283). Diese Theorien reichen von Pierre Bourdieus und Anthony Giddens’ Überlegungen über sozialphilosophische, ethnomethodologische und poststrukturalistische Ansätze bis hin zu Forschungsprogrammen der Cultural Studies oder Gender Studies, die sich allesamt voneinander in wesentlichen Punkten unterscheiden, jedoch in ihrem Blick auf das Verständnis und die Rolle des Handelns in der Konstitution des Sozialen wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Was die Praxistheorien im Kern miteinander verbindet, ist die Ebene, auf der sie das Soziale verorten. Sie suchen das Soziale weder im Inneren des Geistes noch im Äußeren der Diskurse, weder in den Individuen noch in einer übergeordneten Struktur, sondern sie verorten das Soziale auf der »›flache[n]‹ Ebene der Praxis« (Schäfer 2016: 12) und positionieren sich damit zwischen subjektivistischer und objektivistischer Sichtweise. Die »gesellschaftliche Wirklichkeit« wird somit zu einer »interaktive[n] Sache des Tuns« (Hörning / Reuter 2004: 10), was unter anderem das Schlagwort doing culture verdeutlicht. Auf verschiedene Forschungsbereiche übersetzt, wird dementsprechend von doing gender, doing knowledge, doing identity etc. gesprochen. Mit dem practice turn geht nicht nur eine Aufwertung der Praktiken, sondern auch die Etablierung eines ganz spezifischen Verständnisses von Handeln einher. Als konstitutiv für das Agieren in der Welt werden kollektive Wissensordnungen angesehen, die Reckwitz nicht im Sinne »kognitive[r] Schemata« (Reckwitz 2003: 289), sondern als »praktisches Wissen« (ebd.) verstanden wissen will, als »Konglomerat von Alltagstechniken« (ebd.), die den Körpern eingelagert sind und oft unter Beteiligung von Artefakten ablaufen. Das kollektive Wissen, das die Grundlage des Handelns bildet, wird als inkorporiertes Wissen gedacht, so wie beispielsweise in Pierre Bourdieus Habitus-Konzept (dazu auch Hörning 2004: 23). Nach außen hin sichtbar wird dieses Wissen in der Performativität des Handelns, also ebenfalls über den Körper vermittelt. Der Praxisbegriff umfasst aber auch Formen des Fühlens oder Denkens, die ebenso von bestimmten kollektiven Wissensformen angeleitet sind (vgl. Reckwitz 2003: 290; Hörning 2004: 23 f.). Aus Sicht sowohl der Raumtheorien als auch der Erforschung materieller Kultur ist die Materialisierung des Sozialen und Kulturellen in Gestalt von Körpern auf der einen Seite und Artefakten auf der anderen Seite von besonderem Interesse. Diese erscheint als wesentliches Element im Verständnis der Praktiken, wie Reckwitz schreibt: Wenn eine Praktik einen Nexus von wissensabhängigen Verhaltensroutinen darstellt, dann setzen diese nicht nur als ›Träger‹ entsprechende ›menschliche‹ Akteure mit einem spezifischen, in ihren Körpern mobilisierbaren praktischen Wissen voraus, sondern regelmäßig auch ganz bestimmte Artefakte, die vorhanden

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sein müssen, damit eine Praktik entstehen konnte und damit sie vollzogen und reproduziert werden kann. (Reckwitz 2003: 291)

In den konkreten Praktiken verbinden sich Körper und Artefakte zu »Netzwerken«, die sowohl durch die »sozialisierten Körper« als auch über die »Stabilität der Dinge« eine, so Reckwitz, »relative Repetivität« gewinnen (Reckwitz 2004: 45). Damit erhalten die Dinge einen Platz im Kern der Sozialtheorien. Sie werden nicht nur als »Objekte der Repräsentation«, sondern als »notwendige Komponenten sozialer Praktiken« verstanden (Reckwitz 2008a: 151). Der Blick, den Reckwitz auf Dinge entwickelt, ist zwischen subjekt- und objektzentrierten Ansätzen anzusiedeln. Er geht davon aus, dass die Art und Weise, wie Gegenstände mitsamt ihren materiellen und symbolischen Qualitäten in Praktiken eingebettet sind, einerseits vom know-how der Akteurinnen und Akteure abhängt, die die Dinge gebrauchen, andererseits ermögliche aber die »Faktizitität eines Artefakts« kein beliebiges Wahrnehmen und keinen beliebigen Gebrauch (Reckwitz 2003: 291). Die konkrete Stellung, die den Dingen innerhalb der Praxistheorien eingeräumt wird, ist innerhalb der einzelnen Ansätze der Praxistheorien unterschiedlich. Als zwei Pole identifiziert der Soziologe Matthias Wieser einerseits die Perspektive der »Praxis der Dinge« (Wieser 2004: 94), wie sie von der Akteur-Netzwerk-Theorie vertreten wird, und andererseits die Perspektive auf die »Dinge der Praxis« (ebd.: 96), für die Karl H. Hörnings kultursoziologische Arbeiten zu Technik beispielhaft sind. Während Bruno Latour mit seiner »symmetrischen Anthropologie« Dingen den Status von Aktanten einräumt und ihnen somit Handlungspotenzial zuschreibt, interessiert Hörning sich vor allem für die Gebrauchspraxis und geht davon aus, dass erst die menschlichen Akteurinnen und Akteure den Dingen ihre »Position im Handlungsgefüge« (ebd.: 97) zuweisen. Dabei können Dinge sowohl »bedeutungsstrukturierende und handlungsorientierende« als auch »bedeutungsunterminierende und desorientierende« Wirkung haben und somit Ordnungen entweder stärken oder irritieren (ebd.: 98). Auf die Fragen nach dem Spielraum der Akteure sowie nach der Reproduktion bzw. der Transformation kultureller Ordnungen haben die verschiedenen praxistheoretischen Ansätze unterschiedliche Antworten gefunden (Schäfer 2016: 10). Während manche Theorien die Beharrungskraft sozialer Praktiken hervorheben, betonen andere ihr Potenzial für kulturellen Wandel. Als zwei Pole identifiziert Reckwitz diesbezüglich die Arbeiten von Pierre Bourdieu und Judith Butler. Bourdieu erkläre die »Tendenz zur routinisierten Wiederholung« mit dem inkorporierten Habitus und der Interpretation der Dispositionen des Habitus als kulturelle Codes (Reckwitz 2004: 46). Butler argumentiere ihr Postulat der Unberechenbarkeit sozialer Praxis mit einer Sicht auf Praktiken als »leibliche Hervorbringungen« (ebd.: 47), die sie allerdings ohne innere

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Determinierung sehe, und sie denke kulturelle Codes als mehrdeutig. Daher ergebe sich in Butlers Sinn die Möglichkeit einer »unberechenbare[n] ›Vervielfältigung‹ der Praktiken jenseits des Routinemodus« (ebd.: 48; mit Verweis auf Butler 1990: 217). Reckwitz erklärt die Unterschiedlichkeit der Argumente von Bourdieu und Butler damit, dass sie ihre Theorien aus der Beschäftigung mit überaus unterschiedlichen empirischen Feldern heraus entwickeln, wobei sich das eine durch eine Tendenz zur Beharrung und das andere durch eine Tendenz zum Wandel auszeichne. Die Praxistheorien bleiben mit dieser Sichtweise grundsätzlich für beides offen: Statt allgemein ›die‹ Routinisiertheit oder ›die‹ Unberechenbarkeit von Praktiken vorauszusetzen, ist zu rekonstruieren, wie sich historisch-lokal spezifische Komplexe von Praktiken durch sehr spezifische Mittel auf ein hohes Maß an Routinisiertheit oder auf ein hohes Maß an Unberechenbarkeit festlegen lassen. Die Techniken eines Vermeidungsverhaltens oder eines Innovationsverhaltens sind praxeologisch zu analysieren. (Reckwitz 2004: 52)

In der Europäischen Ethnologie lassen sich die Praxistheorien nicht in Form in sich kohärenter und im Einzelnen identifizierbarer Theorieströmungen beobachten. Vielmehr schlagen sich praxistheoretische Ansätze in vielen Forschungsbereichen auf Forschungsperspektiven nieder. Das kann zum Teil mehr oder weniger explizit passieren, wenn etwa von doing ethnicity die Rede ist (vgl. Schmidt-Lauber 2007a; Hess / Schwertl 2010), in den allermeisten Fällen aber prägen praxistheoretische Argumentationslinien implizit die Annäherung an den Forschungsgegenstand, wie dies auch in den dargestellten Beschäftigungen mit Raum oder Alltagsdingen deutlich wurde, in denen das Handeln zentral gesetzt wird. Für die vorliegende Forschung bieten die Praxistheorien insofern einen wichtigen Anknüpfungspunkt, als sie besonderes Augenmerk auf kollektive Wissensordnungen und das praktische, implizite Wissen lenken, die den Umgang mit Artefakten und letztlich auch mit dem gebauten Raum leiten. Die Frage nach der Rolle der Wahrnehmung für die Herausbildung solcher Wissensordnungen fordert eine besondere Aufmerksamkeit auch für die Sozialisationskontexte der jeweiligen Akteure ein. Darüber hinaus ist das angesprochene Spannungsfeld zwischen Beharrungskraft und Wandel für die hier behandelte Fragestellung, die die Etablierung neuer Wohnformen thematisiert, von besonderem Interesse.

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Konzepte für eine europäisch-ethnologische Architekturforschung Die vorliegende Arbeit positioniert sich an der Schnittstelle von spatial, material und practice turn und versteht sich als empirische Fallstudie mit theoretischem Anspruch. Ich verstehe das Verhältnis von Theorie und Empirie dabei in Anlehnung an Kalthoff: Es geht nicht nur darum, Theorie durch Empirie oder Empirie durch Theorie zum Laufen zu bringen. Vielmehr bleibt immer praktisch umzusetzen, daß das empirische Material theoretische Konzepte irritieren, sich gegen zu schnelle Vereinnahmungen wehren und auch zu Überraschungen und damit auch zu Neuerungen führen kann. Mit anderen Worten: Der theoretischen Leistung qualitativer Forschung geht ihre Präferenz für das Empirische voraus (Kalthoff 2008: 23 f.; vgl. dazu auch Hirschauer 2008).

Über eine praxistheoretische Perspektive vermittelt, versuche ich Architektur und Gesellschaft zusammenzudenken, indem ich Ansätze der Raumforschung und der Materialitätsforschung miteinander verbinde. Damit sind zwei Forschungsbereiche angesprochen, die in der Europäischen Ethnologie gerade besondere Aufmerksamkeit und Weiterentwicklung unter anderem durch die Rezeption von Theorien aus den Nachbardisziplinen erfahren. Insbesondere die Akteur-Netzwerk-Theorie ist hier als Impulsgeber zu nennen. Die Europäische Ethnologie verfügt aber in beiden Bereichen über wesentlich weiter zurückreichende Forschungstraditionen, die sich durch einen komplexen Blick auf das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt im weitesten Sinne auszeichnen und sowohl die Eigensinnigkeiten des Materiellen wie auch die Aneignungs- und Gestaltungsleistung der handelnden Akteure und Akteurinnen in den Blick nehmen. Sie berücksichtigen die pragmatischen Implikationen des Materiellen ebenso wie seine Zeichenhaftigkeit und untersuchen die Rolle der Dinge bzw. des Raumes in konkreten Handlungskontexten. Eine von europäisch-ethnologischen Perspektiven geleitete systematische Zusammenführung von raum- und materialitätstheoretischen Ansätzen hat jüngst Jens Wietschorke in seiner Habilitationsschrift vorgelegt, in der er unter Rückgriff auf Ansätze aus den Nachbardisziplinen ein Instrumentarium für eine kulturwissenschaftliche Kirchenraumanalyse entwickelt (Wietschorke 2015). Während es sich dabei um ein auf Basis »ethnographische[r] Momentaufnahmen« (ebd.: 26) entwickeltes theoretisches Forschungsprogramm handelt, geht es mir um eine Konturierung und Präzisierung theoretischer Ansätze mit begrenzter Reichweite auf Grundlage dichter Fallstudien. Wenn diese Arbeit nach dem Verhältnis von Architektur und Gesellschaft fragt, dann tut sie das, ganz den Orientierungen des Faches entsprechend, nicht aus einer Perspektive, die Architektur und Gesellschaft als klar voneinander

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abgrenzbare Bereiche sieht, wie Albena Yaneva das für eine breite Tradition soziologischer und architekturtheoretischer Forschungen feststellt: Commonly, architectural theory either takes society as a source of explaining architecture. Else, architecture is a mechanism for exercising control and shaping the social. [...] In both instances, what is kept is the bifurcation between the big constructs of ›architecture‹ and ›society‹. (Yaneva 2012b: 2)

Vielmehr wird Architektur in der vorliegenden Arbeit gewissermaßen als »Medium des Sozialen« (Delitz 2010) gesehen, wobei dieses, der Ausrichtung der Europäischen Ethnologie folgend, stärker als bei Delitz aus einer akteurszentrierten Perspektive gedacht wird. 16 Gebäude können – um ein Konzept von Andreas Reckwitz aufzugreifen – als »Kulturalitäts-/Materialitätskomplexe« (Reckwitz 2013: 34) betrachtet werden. Damit geht eine Perspektive einher, die keine der beiden Seiten in ihrer Wirksamkeit gegenüber der anderen favorisiert, wie Daniel Miller das auch für die Material Culture Studies vorschlägt: It is not just that objects can be agents; it is that practices and their relationships create the appearance of both subjects and objects through the dialectics of objectification, and we need to be able to document how people internalize and then externalize the normative. In short, we need to show how the things that people make, make people. (Miller 2005: 38)

Die grundsätzliche Annahme einer engen Verknüpfung zwischen Dingen bzw. in diesem Fall spezifischer zwischen dem gebauten Raum und dem Sozialen in beide Richtungen sagt noch wenig über die Art und Weise dieser Verknüpfung und über das konkrete Funktionieren von Architektur als Medium aus. Als erste Konkretisierung meines Forschungsvorhabens und konzeptuellen Ansatzes diente mir Silke Steets’ Vorschlag, die Sozialität von Architektur zu fassen, indem man Prozesse der Externalisierung, der Objektivation und der Internalisierung analysiert. Daraus ergab sich die grundlegende Entscheidung, sowohl Planungsprozesse und ihr Resultat, den gebauten Raum, als auch dessen Aneignung 17 in den Blick zu nehmen und im Verhältnis zueinander zu

16 Heike Delitz entwickelt ihre Theorie zur Architektur als Medium des Sozialen vor allem auf Grundlage des immanenzphilosophischen Denkens von Deleuze und anderen. Ich greife in dieser Arbeit das Medium als Bild zur Veranschaulichung einer Perspektive auf den Zusammenhang zwischen Materiellem und Sozialem auf, nicht aber den spezifischen theoretischen Ansatz von Delitz. 17 Auch wenn für mich Aneignung mehr fasst als das, was Steets unter Internalisierung versteht, ging es in diesem Aspekt der Forschung für mich zunächst doch eher um die Frage, welche Rolle bauliche Strukturen im Alltag spielen, wie sie also das Leben mitgestalten. Dass Aneignung als aktive Gestaltung des Raumes eine Form der Externalisierung ist (vgl. auch Steets 2015: 243 f.), zeigt die Schwierigkeit der

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deuten. Dieser Zugang war richtungsweisend sowohl für die Auswahl meines Forschungsfeldes als auch für die Entwicklung meines methodischen Ansatzes. Ein etwas anders gelagerter Schritt zur Konkretisierung der Zusammenhänge zwischen Architektur und Gesellschaft besteht darin, Alltagspraktiken in den Blick zu nehmen. Die Praxistheorien selbst entwickeln wichtige Grundlagen für ein Verständnis von Praktiken als Schnittstelle zwischen Materialität und Gesellschaft, wenn sie die Dinge gewissermaßen als Teil des Sozialen fassen, wie es Andreas Reckwitz formuliert: Die sinnhafte Welt der Mentalitäten, Codes, Wissensformen und Repräsentationen ist in der sozialen Praxis notwendig verkettet mit Entitäten, die immer auch interpretiert werden, deren Entstehung zweifellos immer von kulturellen Schemata abhängt, die aber, einmal in die Welt gesetzt, eine Faktizität erlangen, welche sich strukturierend auf die soziale Praxis auswirkt. (Reckwitz 2013: 33)

Die Rolle, die die Praxistheorien dem inkorporierten gesellschaftlichen Wissen zusprechen, ist ein wichtiger Schlüssel zum Verhältnis zwischen Dingen und Praktiken. Denn wenn man davon ausgeht, dass für das Agieren in einer spezifischen Situation nicht nur die in dieser Situation verfügbaren Menschen und Dinge ausschlaggebend sind, sondern auch die Dispositionen der Akteurinnen und Akteure, die wiederum in Auseinandersetzung mit der Außenwelt entstanden sind, dann genügt es nicht, in der Analyse nur die aktuelle Situation in den Blick zu nehmen. Vielmehr gilt es, auch die Hintergründe und Vorerfahrungen sowie die impliziten Deutungsmuster der Akteurinnen und Akteure einzubeziehen. Dieses Interesse zeigt sich in meiner Arbeit unter anderem methodisch darin, dass ich die Wohnbiographien der Bewohner und Bewohnerinnen der untersuchten Wohnprojekte berücksichtige und in der Analyse besondere Aufmerksamkeit auf ihre Selbstverortung sowie auf Irritationen ihrer gewohnten Praktiken lege. Auf etwas andere Weise als Reckwitz schließen Henri Lefebvre und Johanna Rolshoven in ihren raumtriadischen Modellen den Aspekt der Alltagspraxis mit ein. Damit stärken sie, ähnlich den Praxistheorien im Allgemeinen, die Mikroperspektive auf die Alltagshandlungen und -deutungen der Akteurinnen und Akteure. Rolshovens Raumtriade ist für meinen Ansatz insofern wichtig, als sie die analytische Trennung unterschiedlicher idealtypischer Raumaspekte – gelebt, gebaut und gedacht – vorschlägt, die ich in meinem konzeptuellen und methodischen Zugang aufgreife. Den Schwerpunkt lege ich dabei auf die Zusammenhänge zwischen Handeln, Materialität und Diskursivität.

eindeutigen Einordnung von räumlichen Praktiken in die Kategorien theoretischer Modelle.

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Diese Erweiterungen der Perspektive auf mögliche Ebenen und Dynamiken der Zusammenhänge zwischen Architektur und Sozialem führten letztlich weg von der anfänglichen Grundstruktur, die eine über die Objektivation vermittelte Gegenüberstellung von Externalisierung und Internalisierung zentral setzte. Dementsprechend findet sich diese nicht in der Gliederung der Arbeit wieder, vielmehr versucht die vorliegende Studie aus der Analyse heraus Aspekte eines vielschichtigen und komplexen Zusammenhangs zwischen Architektur und Gesellschaft greifbar zu machen. Rolshovens Entwurf eignet sich als Ansatzpunkt für eine ethnographische, induktiv vorgehende Forschung genau deshalb, weil er keine Antwort auf die Frage nach Art und Weise des Zusammenwirkens von gebautem, angeeignetem und Repräsentationsraum gibt. So wie ihr Entwurf, sind auch andere genannte theoretische Ansätze für die vorliegende Forschung »Denkbausteine« (Rolshoven 2013b: 23), um Fragestellungen zu entwickeln und Aufmerksamkeiten zu lenken. Die konkreten Antworten sollen jedoch aus dem Feld heraus entwickelt werden und werden sich, soviel sei vorweggenommen, nicht »glatt« in die theoretischen Modelle einfügen.

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Theoretische Ausgangspunkte

FORSCHUNGSDESIGN Forschungsfragen und Forschungsfeld Anhand zweier Fallstudien von Gebäuden, die gemeinschaftlich und partizipativ von den zukünftigen Bewohnern und Bewohnerinnen geplant bzw. mitgeplant wurden, beschäftige ich mich in der vorliegenden Studie mit den Zusammenhängen von Lebensentwürfen und Architektur. Konkret frage ich danach, wie sich bestimmte Vorstellungen und Ideale des Zusammenlebens in der Architektur von Gebäuden materialisieren und welche Rolle diese Materialisierungen schließlich im Wohnalltag spielen. Besonderes Augenmerk lege ich auf die Prozesse, welche dazu führen, dass der gebaute Raum in einer spezifischen Weise gestaltet wird, sowie auf die Art und Weise, in der der gebaute Raum den Wohnalltag und das Zusammenleben der Gruppen mitbestimmt. Auf einer übergeordneten theoretischen Ebene trägt diese Studie dazu bei, das Verhältnis zwischen den drei Dimensionen von Raum, die Johanna Rolshoven als idealtypische analytische Konstrukte vorschlägt, also zwischen dem gebautem Raum, dem angeeigneten Raum und dem Repräsentationsraum, für einen bestimmten Fall von Bau- und Wohnpraxis empirisch zu spezifizieren. Wie bereits in der Einleitung angesprochen, stellen die beiden Mitte der 1980er-Jahre initiierten gemeinschaftlichen und partizipativen Wohnprojekte aus mehreren Gründen ein besonders geeignetes Forschungsfeld dar, um genau diese Zusammenhänge zwischen Visionen des (Zusammen-)Lebens, Architektur und tatsächlichem Wohnalltag zu untersuchen. Die Projekte waren von weltanschaulich verhältnismäßig klar konturierten und in deutlicher Opposition zum konventionellen Wohnbau entwickelten Leitbildern getragen. Angesichts dieser Entstehungsumstände und der Tatsache, dass die Planungen jeweils gemeinschaftlich und partizipativ erfolgten, wurden Vorstellungen und Ideale des Zusammenlebens mit Blick auf Entscheidungen hinsichtlich der Architektur der Gebäude seitens der späteren Bewohnerinnen und Bewohner besonders explizit diskutiert. Obwohl immer noch vieles unausgesprochen bleibt, sind diese Aushandlungen für die Forschung im Rahmen der partizipativen und gemeinschaftlichen Projekte tendenziell zugänglicher als bei Projekten, bei denen Architekten und Architektinnen ohne Beteiligung der zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen ein Gebäude planen (vgl. Hauser / Kamleithner / Meyer 2013: 11). Zudem ermöglicht diese partizipative Konstellation einen genaueren Blick auf mögliche Differenzen zwischen Raumkonzeptionen in der Planung einerseits und Raumaneignungen im Wohnalltag andererseits sowie auf mögliche Faktoren, die diese Differenzen bedingen – über eine mögliche Differenz der Visionen und Interessen unterschiedlicher Akteursgruppen hinaus, die in Settings, in denen Planerinnen und Planer von Nutzerinnen

und Nutzern personell klar getrennt sind, in der Regel im Vordergrund steht. Darüber hinaus ermöglicht der Umstand, dass beide Häuser seit etwa zwanzig Jahren bewohnt werden, ein Verständnis von Wohnen als dynamischem, in Veränderung begriffenem Prozess. So ist es auch möglich, danach zu fragen, wie sich gegebenenfalls im Laufe der Zeit Verhältnisse zum gebauten Raum verändern. Die beiden untersuchten Wohnprojekte sind in der vorliegenden Forschung als Fälle im Sinne des Historikers Johannes Süßmann zu betrachten. Ein Fall verweise, so Süßmann, auf das »Verhältnis von Spezifischem (Individuellem) und seinen allgemeinen Voraussetzungen (Ermöglichungsbedingungen)« (Süßmann 2007: 26). Dieses Spezifische sei »eben kein Besonderes im Gegensatz zu einem Allgemeinen«, sondern etwas »Einzigartiges«, das sich »durch Auseinandersetzung mit allgemeinen Bedingungen gebildet hat und diese dadurch gleichsam in sich hineingeklappt enthält« (ebd.). Diesem Ansatz folgend lege ich die untersuchten Gebäude nicht als repräsentative Beispiele für Wohnprojekte im Allgemeinen an. Ziel der Arbeit ist nicht, herauszufinden, wie solche Projekte funktionieren, sondern durch eine breite Kontextualisierung mit Blick auf gesellschaftliche, politische, ökonomische oder biographische Zusammenhänge die Ermöglichungsbedingungen herauszuarbeiten, die Dynamiken der untersuchten Projekte zu erschließen und in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Der Auswahl der Projekte lag implizit eine vergleichende Perspektive zugrunde, die den Blick auf ganz spezifische Dynamiken lenkt. Beide gehören zu derselben Generation von Wohnprojekten, deren Planung Mitte der 1980erJahre begann und die Anfang bzw. Mitte der 1990er-Jahre fertiggestellt wurden. Sie sind auf ähnliche Weise organisierte Bottom-up-Initiativen und zeichnen sich durch ähnliche organisatorische und rechtliche Strukturen aus. Es gibt allerdings auch markante Unterschiede zwischen den beiden Fällen, vor allem hinsichtlich der inhaltlich-weltanschaulichen Orientierung. Das eine Projekt geht aus der Initiative einer katholischen Pfarre hervor. Kernpunkte der inhaltlichen Orientierung sind Spiritualität, soziales Engagement und gegenseitige Unterstützung im gemeinsamen Wohnen. Demgegenüber wird das andere in Architekturkritiken als Ort alternativer Lebensformen »links der Mitte« 1 präsentiert und in wissenschaftlichen Arbeiten die Kommunenbewegung rund um die 1968er-Jahre als Anknüpfungspunkt genannt (Ehs 2008: 21). So weisen die Initiativen einerseits Ähnlichkeiten auf, beispielsweise in ihrem Anspruch des sozialen Engagements, gleichzeitig unterscheiden sie sich in anderen Punkten auf markante Art und Weise, etwa hinsichtlich des Familienbildes. Dieses Spannungsfeld zwischen »Gleichheitsunterstellung« bei 1 http://www .nextroom.at/building. php?id= 66&inc=artikel&sid=6036 (Zugriff: 20. 10. 2018).

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gleichzeitiger »Differenzbeobachtung« (Heintz 2010: 164) definiert die Soziologin Bettina Heintz als Grundlage jeden Vergleichs. Die Auswahl, der eine besondere Aufmerksamkeit für die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Projekte zugrunde liegt, ist eine Form der notwendigen Konstruktion seitens der Forscherin, oder wie Heintz formuliert: »das Resultat einer Kategorisierung« (ebd.: 169). Mit dieser Auswahl lenke ich meinen Blick in eine bestimmte Richtung, nämlich auf die möglichen Zusammenhänge zwischen inhaltlicher Ausrichtung der Gemeinschaftsideale und der jeweiligen architektonischen Form der Häuser.

Empirische Zugänge und forschungsethische Fragen Ich habe die beiden Wohnprojekte von Mitte 2012 bis Mitte 2014 (mit einigen Ergänzungen 2016 und 2017) mittels einer Kombination an empirischen Zugängen erforscht. Ziel der multimethodischen Vorgehensweise war es, unterschiedliche Perspektiven auf den Zusammenhang zwischen gebautem Raum und Alltagsleben zu verbinden. Es ging einerseits darum, den Bogen von der Planung über den Bau bis hin zum Wohnen zu spannen, um Prozesse und Intentionen der Planung in Beziehung zu Nutzungspraktiken und deren Transformation zu setzen. Andererseits sollten die gewählten Methoden es ermöglichen, die Materialität des gebauten Raumes, die damit in Verbindung stehenden Diskurse sowie räumliche Alltagspraktiken in Relation zueinander zu untersuchen. Konkret bilden den Kern meines methodischen Ansatzes qualitative Interviews sowie Hausführungen mit Bewohnern und Bewohnerinnen. Ergänzende Rahmeninformationen, insbesondere zum Entstehungskontext, beziehe ich aus anderen wissenschaftlichen Arbeiten über die beiden Wohnprojekte, die sich auf eine intensive Auseinandersetzung mit Diskussionsprotokollen, Planungsunterlagen und anderen Quellen aus dem Planungsprozess stützen. Im Fall des christlichen Wohnprojekts handelt es sich um zwei Studien, von denen die eine begleitend zum Planungsprozess und die andere kurz nach der Besiedlung des Hauses durchgeführt wurde (Klar / Schattovits 1988a: Klar / Schattovits 1988b; Klar / Schattovits 1993). Da neben einer Soziologin und Psychologin daran auch der Initiator des Projekts beteiligt war, nehmen diese Publikationen, auf die ich im Folgenden immer wieder als Forschungsdokumentation verweise, eine Zwischenposition zwischen Selbstdarstellung, Dokumentation und Analyse ein. Im Fall des zweiten Wohnprojekts rekurriere ich vor allem auf zwei Diplomarbeiten, die sich auf umfangreiche Recherchen im internen Archiv stützen. Eine wurde von einem Volkskundler verfasst (Wagner 2000), die andere von einer Soziologin, die selbst auch Bewohnerin des Wohnprojekts ist (Ehs 2008). Zusätzlich greife ich stellenweise auf die Dissertation der Ar-

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chitektin Susanne Krosse zurück, in der das links-alternative Wohnprojekt eines der Fallbeispiele ist (Krosse 2005). Da diese Arbeiten keine dezidiert raumtheoretische Fragestellung verfolgen, wie sie im Zentrum dieser Studie steht, greife ich darauf eher punktuell zu, um mir Kontextinformationen zu den Projekten zu erschließen bzw. Aussagen aus den Interviews mit anderen Betrachtungen gegenzulesen. Außerdem ziehe ich stellenweise Medienberichte sowie Selbstpräsentationen der beiden Projekte hinzu, um mich den Kontexten anzunähern, in die sie sich selbst einordnen bzw. eingeordnet werden. Im Sommer 2016 führte ich ein Interview mit einem an der Planung des christlichen Projekts beteiligten Architekten, auf das ich zurückgreife, um Planungsmethoden zu erläutern. Für das andere Wohnprojekt verweise ich für ähnliche Zwecke auf ein veröffentlichtes Interview mit dem leitenden Architekten (Winter 2004). Die Perspektive der Architekten steht in dieser Arbeit aber nicht im Fokus. Insgesamt ist mein Zugang an den individuellen AkteurInnen orientiert und von dem Versuch gekennzeichnet, das gemeinschaftliche Wohnen über deren subjektive Perspektiven vermittelt zu erschließen. Die erste Annäherung an das katholische Wohnprojekt erfolgte über den Initiator, der zum Zeitpunkt des Interviews immer noch eine zentrale Rolle in der Außenpräsentation des Projekts spielte. Dieser empfahl mir einige Gesprächspartnerinnen und -partner, die ich kontaktierte und wiederum nach weiteren möglichen Kontakten fragte. Im links-alternativen Wohnprojekt sprach ich zu Beginn mit einer über gemeinsame Bekannte vermittelten Person, die sich selbst eher am Rande der offiziellen Lesarten des Projekts präsentierte und mir Menschen mit ebenfalls tendenziell alternativen Sichtweisen weiterempfahl. Kontakte zu weiteren Gesprächspartnerinnen und -partnern konnte ich auch hier über das Schneeballprinzip knüpfen. Ich interessierte mich in beiden Projekten vor allem für die Perspektiven von Personen, die bereits während der Gründungsphase beteiligt gewesen waren, die Planung miterlebt hatten und immer noch in den Häusern wohnen. Ergänzend führte ich auch einige Interviews mit Personen durch, die später in die von den jeweiligen Kerngruppen geplanten Häuser eingezogen waren. Im Laufe des Forschungsprozesses zeigten die Interviews, dass es Bewohnerinnen und Bewohner gibt, die häufig in der Öffentlichkeit über das Projekt sprechen, sowie solche, die weniger oft gehört werden, Personen, die sich gewissermaßen im Zentrum der Gruppe positionieren, sowie solche, die sich selbst eher am Rande verorten. Gerade hinsichtlich meines Interesses an kollektiven Aushandlungsprozessen, die auch für meine Gesprächspartnerinnen und -partner eine zentrale Rolle spielten, schien es mir zunehmend wichtig, divergierende Positionierungen zu erfassen. Daher wählte ich im Sinne eines teilweisen theoretischen Samplings (vgl. Glaser / Strauss 1998: 53–84; Wiedemann 1995: 443; Götzö 2014: 450) in der letzten Erhebungsphase meine Interviewpartner und

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-partnerinnen kontrastierend aus. Den beschriebenen anfänglichen Zugängen zu den Projekten entsprechend, führte dies im Fall des katholischen Projekts zu einer Suche nach Personen, die sich selbst abseits des allgemeinen kollektiven Diskurses der Gruppe positionieren. Im anderen Wohnprojekt hingegen kontaktierte ich am Ende bewusst Bewohner und Bewohnerinnen, denen in der Präsentation des Projekts nach außen eine zentrale Bedeutung zukommt. Das Kriterium für die Anzahl der Interviews war, neben pragmatischen Überlegungen hinsichtlich der Realisierbarkeit einer ausreichend dichten Analyse, der Versuch, möglichst viele der unterschiedlichen Positionen, die in den bisher geführten Interviews erwähnt wurden, abzubilden. Aufgrund der verschiedenen Größen der Projekte, gelang dieses Vorhaben im katholischen Wohnprojekt, das etwa 25 Wohneinheiten beinhaltet, besser als in dem links-alternativen mit über 70 Wohneinheiten, wobei auch dort eine Vielzahl an Positionen zur Sprache kam. Mit Blick auf die individuellen Positionierungen der beteiligten Akteure und Akteurinnen kann nicht von einer vollständigen theoretischen Sättigung (vgl. Glaser / Strauss 1998: 68–70) gesprochen werden, wohl aber von einer Dichte und Diversität des Materials, welche wesentliche Dynamiken des Forschungsinteresses sichtbar machen. Insgesamt führte ich im katholischen Wohnprojekt zwischen Mitte 2012 und Anfang 2013 Interviews mit zwölf Personen, wobei manche Gespräche auf mehrere Treffen aufgeteilt waren. Ein Interview fand mit einem Ehepaar, also zwei Personen gleichzeitig, statt. Neun dieser zwölf Bewohner und Bewohnerinnen gehören zur Gründungsgruppe des Projekts, drei waren erst nach der Fertigstellung des Gebäudes eingezogen und von diesen war einer nach circa zehn Jahren wieder ausgezogen. Mit ihm sprach ich in meinem Büro, das Interview mit dem Initiator des Projekts fand im Gemeinschaftsraum des Hauses statt, die anderen Interviews führte ich in den Wohnungen meiner Interviewpartner und -partnerinnen. Auf meine Bitte hin zeigten mir acht Personen im Anschluss an das Interview das Haus, manche führten mich aus eigener Initiative auch durch ihre Wohnung. In den anderen Fällen war eine Hausführung aus gesundheitlichen, zeitlichen oder örtlichen Gründen nicht möglich. Von meinen Interviewpartnern und -partnerinnen in diesem Wohnprojekt waren sieben Frauen und fünf Männer. Die Altersspanne reichte von Mitte dreißig bis Anfang achtzig, wobei besonders viele, die den Kern der Gründungsgeneration bildeten und damals als Jungverheiratete oder Jungfamilie einzogen, jetzt am Übergang vom Berufsleben in die Pension stehen. Der Bildungsgrad der Personen, mit denen ich sprach, ist auffallend hoch. Alle haben einen Maturaabschluss, die meisten (acht von zwölf ) verfügen zusätzlich über ein abgeschlossenes Hochschulstudium, wobei von den vier Personen ohne Studienabschluss alle Frauen sind. Die Berufsbiographien der Frauen, mit denen ich sprach, sind insgesamt häufig von langjährigen Unterbrechungen durch Kindererziehungszeiten und fallweise durch einen anschließenden Wechsel des

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Berufsfelds gekennzeichnet. 2 Etwa die Hälfte der Interviewten stammt aus ländlichen Kontexten. Beruf lich sind bzw. waren die meisten im pädagogischen und sozialen, einige auch im administrativen Bereich tätig, etliche auch mit direktem Bezug zum religiösen bzw. kirchlichen Bereich. Im links-alternativen Wohnprojekt sprach ich zwischen Mitte 2013 und Mitte 2014, mit einer Ergänzung Anfang 2017, mit zehn Personen, wobei ein Interview mit einem Paar, also zwei Personen gleichzeitig, geführt wurde. Eine weitere Bewohnerin lernte ich im Rahmen einer von der Universität Wien organisierten Veranstaltung für Kinder und Jugendliche kennen, in der sie von ihrem Wohnalltag erzählte und der Gruppe das Gebäude zeigte. 3 Sieben Gesprächspartnerinnen und -partner gehören zur anfänglichen Gruppe, während drei bald nach Fertigstellung eingezogen waren. Eine Interviewpartnerin wohnt nicht direkt dort, sondern in dem einige Jahre später in unmittelbarer Nachbarschaft errichteten Nachfolgeprojekt. Hausführungen fanden hier ebenfalls mit acht Personen statt. Ich sprach in dem links-alternativen Wohnprojekt mit sieben Frauen und vier Männern, die alle zwischen Mitte vierzig und Mitte siebzig waren, auch hier gab es einen Schwerpunkt bei den etwa Sechzigjährigen, der sich aus der Entstehungsgeschichte des Hauses und den Lebensphasen erklärt, in denen sich die meisten dem Projekt anschlossen. Die Mehrheit der Personen, mit denen ich im links-alternativen Wohnprojekt sprach, kommt aus städtischen Kontexten. Fast alle sind Akademiker und Akademikerinnen, etwa die Hälfte mit abgeschlossenem Doktorat. Zwei Personen haben ein Universitätsstudium begonnen, aber nicht abgeschlossen. Auch hier sind bzw. waren etliche Personen im pädagogischen bzw. sozialen Bereich tätig, wobei aber der Erwachsenenbildungsbereich überwiegt, ein weiterer Schwerpunkt findet sich bei den technischen bzw. naturwissenschaftlichen Berufen. Insgesamt sind die Berufsbiographien meiner Interviewpartner und -partnerinnen aus diesem Wohnprojekt häufiger von Brüchen und Transformationen gekennzeichnet, als dies in dem christlichen Wohnprojekt der Fall ist. Auch verbinden sich hier häufiger Phasen des Studiums oder der teilweisen Berufstätigkeit mit Kinderziehungszeiten, die in der Regel kürzer sind, wobei in den Fällen der Personen,

2 In einem Fall stieß ich auf eine Familienkonstellation, in der Kinderbetreuungsaufgaben zwischen den Eltern gleichmäßig aufgeteilt wurden, ansonsten war die Kinderbetreuung bei meinen Interviewpartnern und -partnerinnen im katholischen Wohnprojekt überwiegend Frauensache. 3 Da es sich dabei um eine interviewähnliche Situation handelte und ich auch selbst Fragen stellte, zähle ich sie zu den Gesprächspartnerinnen, auch wenn biographische Hintergründe in diesem Zusammenhang weniger Raum erhielten als in den anderen Interviews.

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mit denen ich sprach, auch hier die Frauen in größerem Ausmaß die Kinderbetreuung, fallweise auch alleinerziehend, übernahmen. Die Interviews, die ich führte, waren als leitfadenorientierte (vgl. SchmidtLauber 2007b: 177) bzw. teilstandardisierte (vgl. Hopf 2003: 351) Interviews konzipiert und umfassten einerseits Fragen zur Wohnbiographie, andererseits zum Planungs- und Bauprozess sowie zu den ersten Wohnerfahrungen nach dem Einzug und zu Veränderungen im Laufe der vergangenen Jahre. Die Einstiegsfragen waren, wo und in welchen Konstellationen die betreffenden Personen gewohnt hatten, bevor sie sich dem Wohnprojekt anschlossen. Anschließend sprach ich die weiteren Themen in möglichst offener Weise an. So fragte ich beispielsweise nach den Motiven der Einzelnen, sich für das Wohnprojekt zu interessieren, nach wesentlichen Schritten im Planungsprozess, nach eindeutigen sowie umstrittenen Entscheidungen hinsichtlich der Planung sowie nach Veränderungen des persönlichen Wohnalltags. Auf Grundlage der Antworten und des Erzählflusses stellte ich zu den einzelnen Themenbereichen vertiefende Nachfragen, die zuweilen vom Leitfaden abwichen. Die Offenheit des Verfahrens bewirkte, dass sich die Interviews letztlich in den meisten Fällen, vermutlich auch aufgrund der auf die Wohnbiographie ausgerichteten Einstiegsfrage, zu einer Mischform aus Leitfadeninterview und narrativem Interview (vgl. bspw. Spiritova 2014) entwickelten. Ich vermied weitestgehend, das im Laufe der Forschung aus anderen Interviews gewonnene Wissen einzubringen und Fragen vor diesem Hintergrund zu formulieren – eine Haltung, die im Forschungsprozess zuweilen für Irritation sorgte, was wiederum mit Blick auf das Verhältnis zwischen kollektiv etablierten und individuellen Erzählungen in der Analyse von großem Interesse war. In den allermeisten Fällen erkundigten sich meine Gesprächspartner und -partnerinnen vor dem Beginn des Interviews danach, mit wem ich schon gesprochen hatte. Vor diesem Hintergrund entwickelten sie eine Erwartungshaltung, welche Geschichten mir schon bekannt sein müssten, und verwiesen dann während des Interviews immer wieder darauf, dass ich dieses oder jenes doch bestimmt schon wissen müsste. Mit den Linguisten Paul Portmann-Tselikas und Georg Weidacher gesprochen, kann man davon ausgehen, dass die Mitglieder der Projekte gewissermaßen eine »Kommunikationsgemeinschaft« (Portmann-Tselikas / Weidacher 2010: 46) bilden, die sich auf bestimmte gemeinsame Kontexte stützt und der ich mich – so die Erwartungshaltung der von mir interviewten Personen – im Verlauf der Forschung annähern müsste. Dies ist eine für diesen Forschungsprozess spezifische Dynamik, die sich aus einem engen Kontakt der Gesprächspartner und -partnerinnen untereinander ergibt, und der hinsichtlich forschungsethischer Fragen an späterer Stelle vertiefende Gedanken gewidmet werden. Dokumentiert wurden die Interviews zunächst mit einem Audio-Aufnahmegerät und im Anschluss angefertigten Notizen im Forschungstagebuch, die

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sich vor allem auf die Gesprächssituation sowie erste Eindrücke und Überlegungen zu relevanten Aspekten bezogen. Da ich die meisten Interviews in den Wohnungen meiner Interviewpartner und -partnerinnen durchführte, finden sich in diesen Notizen auch Anmerkungen zu Einrichtungsstilen und anderen Elementen, die etwas über soziale Positionierungen, Werthaltungen etc. aussagen. Diese Anmerkungen fließen stellenweise auch in die Analyse mit ein, stehen allerdings nicht in deren Zentrum. Anschließend erstellte ich Transkripte der Interviews, in denen ich auch Anmerkungen zu räumlichen Bezügen der Aussagen festhielt. In den Transkripten orientierte ich mich mit Blick auf Wortstellung und Aussprache am Wortlaut der gesprochenen Sprache und hielt markante Sprechpausen oder Betonungen fest, verzichtete aber auf eine exakte Wiedergabe des Dialekts, da sich die folgende Analyse vor allem auf die inhaltliche Ebene der Aussagen bezog (vgl. Breidenstein u. a. 2013: 180). In dieser Form bildeten die Transkripte die Grundlage für meine Materialanalyse. Für die Darstellung in diesem Text wiederum wählte ich zum Zweck der Lesbarkeit eine stärker geglättete und an die geschriebene Sprache angepasste Form, sofern dadurch keine markanten und inhaltlich relevanten Wechsel etwa vom Dialekt in die Hochsprache verloren gingen. Während der Transkription machte ich mir als Ergänzung zu den ersten Gesprächsprotokollen im Forschungstagebuch Notizen zu Auffälligkeiten in der Gesprächsdynamik. Darüber hinaus fasste ich die Interviews inhaltlich zusammen. Dabei hielt ich den Gesprächsverlauf fest, was gemeinsam mit den Notizen zur Gesprächsdynamik dabei half, Interviewaussagen in ihrem spezifischen Kontext zu verorten und jedes Interview noch vor der interviewübergreifenden Analyse in seiner Eigendynamik zu verstehen. Die bereits erwähnten Hausführungen waren bis zu einem gewissen Grad angelehnt an die von der Soziologin Margarethe Kusenbach skizzierte Methode der go-alongs (Kusenbach 2003), unterschieden sich aber in wesentlichen Punkten von dieser. Die Führungen durch die beiden Häuser dienten einerseits dazu, mir eine mehrschichtige und durch die Blicke unterschiedlicher Interviewpartner und -partnerinnen vermittelte Annäherung an die Gebäude zu ermöglichen. Ich konnte dabei sowohl selbst ein Gefühl für den gebauten Raum entwickeln, anders als dies durch die reine Beschreibung oder durch Fotos und Pläne der Fall gewesen wäre, als auch Formen der materiellen Aneignung des Raumes durch seine Bewohner und Bewohnerinnen dokumentieren und ihre Interaktionen beobachten. Zum anderen wollte ich über die Hausführungen einen zusätzlichen Zugang zum Raumerleben und zur Rauminterpretation meiner Interviewpartner und -partnerinnen erhalten. Kusenbach beschreibt go-alongs als »ethnographic research tool that brings to the foreground some of the transcendent and reflexive aspects of lived experience as grounded in place« (ebd.: 456). Auch Melanie Keding und Carmen Weith, die diese Methode aus

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der Perspektive der Europäischen Ethnologie reflektiert und adaptiert haben, betonen, dass [d]er entscheidende methodologische Mehrwert dieses raumbezogenen Vorgehens [...] darin [liegt], dass die Intervierpartnerinnen und -partner von ihren Umgebungen beständig zu Äußerungen angeregt werden und somit Erlebtes [...] verbalisierbar wird. (Keding / Weith 2014: 141)

In der Tat bot die Konfrontation mit dem gebauten Raum während der Hausführungen in vielen Fällen Anhaltspunkte für Kommentare und Äußerungen, die in den Interviews nicht vorkamen. Anders als Kusenbach, die ihre den alltäglichen Wegen der Akteure folgenden go-alongs als Zugang zu »authentic practices and interpretations« (Kusenbach 2003: 464) der Subjekte sieht, verstehe ich die Hausführungen in meiner Studie – so wie auch jedes Interview – als eine höchst spezifische Kommunikationssituation, die durch eine Vielzahl an Dynamiken charakterisiert ist. Zum einen unterscheidet sich die begleitete und beschreibende Begehung des Raumes deutlich von der alltäglichen Raumaneignung, wie beispielsweise auch die Kulturanalytikerin Elke Krasny mit Blick auf die von ihr konzipierten und durchgeführten Stadtspaziergänge reflektiert: »Das Mitgehen schafft die erste Veränderung der Situation des alltäglichen Weges für das Verfahren des Narrativen Urbanismus. Die zweite Veränderung ist die Übersetzung der Schritte in Worte« (Krasny 2008: 31). In meinem Fall bewege ich mich mit der Aufforderung zur Hausführung zusätzlich in einem von Konventionen charakterisierten Format des Herzeigens von Wohnraum, einer beim ersten Besuch von Gästen allgemein üblichen und eingeübten Praxis. Neben dementsprechenden kulturellen Konventionen spielen hier außerdem kollektive Erzählungen und im Laufe der Zeit eingeübte Muster eine Rolle – schließlich hatten alle meine Interviewpartner und -partnerinnen schon zahlreichen Bekannten das Haus gezeigt. Einen wichtigen Einfluss hatte darüber hinaus der Umstand, dass die Interviews vor den Führungen stattfanden. So wurden die Hausführungen teils implizit von unterschiedlichen im Interview angesprochenen Themen geleitet. Die Konfrontation mit dem Raum führte aber auch dazu, dass andere Darstellungen als im Interview genutzt oder Aspekte aufgegriffen wurden, die im Interview zuvor kein Thema gewesen waren. So wurden beispielsweise konkrete Nutzungen von Räumen sowie Grenzziehungen zwischen gemeinschaftlichen und privaten Bereichen während der Hausführungen besonders oft thematisiert. Die spezifischen für die Hausführung üblichen Regeln und Konventionen wurden mit dem Fortschreiten der Forschung zunehmend irritiert, da meine Interviewpartner und -partnerinnen wussten, dass ich das Haus bereits kannte. Während also im Rahmen der ersten Interviews ein allgemeiner Verweis darauf, ob sie mir das Haus zeigen könnten, als legitimer Wunsch

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akzeptiert wurde, sorgte diese Aufforderung später für Irritation. Dementsprechend bat ich die Bewohner und Bewohnerinnen in späteren Phasen der Forschung darum, mir jene Orte im Haus zu zeigen, die in ihrem Alltag eine Rolle spielen. Diese verschiedenen Formen der Hausführungen gilt es in der Analyse mitzudenken. Die Differenz war jedoch nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag, denn im Vorbeigehen wurde auch abseits der persönlich besonders wichtigen Räume vieles kommentiert und umgekehrt spulten auch meine ersten Kontaktpersonen, die mir tatsächlich ein mir nicht bekanntes Haus zeigten, kein Standardprogramm ab, sondern orientierten sich an den Interessen, die ich im Interview zuvor geäußert hatte. Schließlich ergab sich für mich aus den Hausführungen auch ein ganz spezifisches Beobachtungssetting. Die Führungen boten mir punktuelle Einblicke in den Wohnalltag, der sich mir in einer reinen Beobachterposition als Fremde in einem Kollektiv einander gut bekannter Nachbarinnen und Nachbarn andernfalls sicher nicht geboten hätte. 4 An der Seite von Bewohnern und Bewohnerinnen erhielt meine Anwesenheit in den gemeinschaftlichen Bereichen der Projekte eine spezifisch gerahmte Form der Legitimität. Auch wenn durch mich als externe Begleiterin eine Situation geschaffen wurde, die sich von den rein projektinternen Begegnungen unterschied, konnte ich dennoch beobachten, wie Menschen einander begrüßten oder beiläufige Gespräche miteinander führten. Im Rahmen der Führungen erhielt ich also einen gewissen – begrenzten – Zugang zu alltäglichen Interaktionsformen in den Wohnprojekten. Zudem waren die Führungen eine Methode der Annäherung an die Materialität des Raumes, und zwar nicht nur an die Architektur an sich, sondern auch an die vielfältigen Formen ihrer materiellen Aneignung. Diese Eindrücke hielt ich entweder fotografisch oder in Zeichnungen fest oder notierte die Beobachtungen als schriftliche Beschreibungen im Forschungstagebuch. Im Fall der mit Aufnahmegerät aufgezeichneten Hausführungen verfasste ich Transkripte mit Verweisen auf die räumliche Situierung von Aussagen. Hausführungen, die ich ohne Aufnahmegerät durchführte, dokumentierte ich in Form von Gesprächsprotokollen. Zusätzlich bilden Beobachtungsnotizen zu Interaktionen im Raum Teile des Materialkorpus, das sich aus den Hausführungen ergab. Markant war die große Offenheit, die mir im Zuge der Forschung entgegengebracht wurde. Nachdem ich mit den ersten Personen gesprochen hatte, kontaktierte ich weitere mir vorgeschlagene Interviewpersonen in der Regel zunächst telefonisch. Dabei stellte ich mich als Doktorandin der Europäischen Ethnologie vor, die sich im Zuge ihrer sozialwissenschaftlichen Dissertation unter anderem für das entsprechende Wohnprojekt interessierte. Auf Nachfrage nannte ich als grundlegendes Forschungsinteresse die Zusammenhänge 4 Vgl. dazu auch die Erfahrungen von Kusenbach 2003: 475 f.

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von Architektur und Alltagsleben – ein Ansatz, der offenbar in dem stark reflexiven Forschungsfeld hohe Plausibilität hat. Schließlich hatten sich die Beteiligten im Planungsprozess genau mit dieser Frage auseinandergesetzt. Im Laufe der Forschung erhielt ich nur zwei Absagen auf Interviewanfragen, was angesichts meines eher zeitaufwändigen methodischen Zugangs – inklusive Hausführung dauerten die meisten Interviews zwei bis drei Stunden – und des in einen verhältnismäßig privaten Bereich hineinreichenden Forschungsanliegens für mich überraschend war. Unter den Bewohnern und Bewohnerinnen herrschte offensichtlich eine große Bereitschaft, Auskunft über das Projekt zu geben, und großes Interesse an meiner Forschung – mehrfach wurde ich darum gebeten, meine Arbeit nach Abschluss zur Verfügung zu stellen. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass sich beide Initiativen gewissermaßen als Pilotprojekte verstehen. Ihrem Anliegen, Lebens- und Wohnformen zu entwickeln, die eine Alternative zum konventionellen Wohnbau bieten, kommt eine Verbreitung von Informationen zu dieser Art des Bauens und Wohnens entgegen. Das geht aus den Deklarationen zum Selbstverständnis beider Gruppen hervor sowie aus dem Umstand, dass ausgehend von beiden Gruppen Folgeprojekte initiiert wurden, die zwar selbstverwaltet funktionieren, jedoch von den Ideen und Ansätzen der hier untersuchten Gruppen inspiriert sind. Insofern gab es – bei manchen Interviewpartnern und -partnerinnen deutlicher als bei anderen – ein verhältnismäßig großes Interesse daran, Informationen über die eigene Wohnform nach außen zu tragen und diese wissenschaftlich behandelt zu wissen. Das bedeutet zugleich, dass das Bild, das mir gegenüber gezeichnet wurde, von der erwünschten Außenwirkung geprägt war. Immer wieder gab es Interviews, die stärker von meinen Interviewpartnern und -partnerinnen geleitet wurden als von mir. In diesen Gesprächen begegneten mir stark routinisierte Erzählungen. Das führe ich einerseits auf die geübte Selbstpräsentation zurück, sowie andererseits darauf, dass beide Projekte bereits mehrfach Gegenstand von Forschungen gewesen waren und viele meiner Gesprächspartner und -partnerinnen Erfahrungen mit Interviewsituationen hatten. Gerade vor diesem Hintergrund erwies sich der Versuch als produktiv, in die Forschung sowohl Personen einzubeziehen, denen in der Außenpräsentation der Projekte eine prominente Rolle zukommt, als auch solche, die bisher weniger oft zu Wort gekommen waren. Ein weiteres Spezifikum der vorliegenden Studie ist der Umstand, dass die Interviewpartnerinnen und -partner in engen Zusammenhängen zueinander stehen und zudem beide Gruppen eine sehr spezifische Diskussionskultur pflegen, die sie im Laufe der vielen Jahre des gemeinsamen Planens und Zusammenlebens mit großer reflexiver Aufmerksamkeit entwickelt haben. So kam es wiederholt vor, dass mir gegenüber kollektiv etablierte Erzählungen reproduziert wurden. Manche meiner Fragen führten zu inhaltlich ähnlichen

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und einander stellenweise sogar im Wortlaut gleichenden Geschichten. Die engen Verbindungen zwischen den Wohnenden wirkten häufig als Filter des Sagbaren. Das wurde beispielsweise deutlich, wenn ich von manchen gebeten wurde, das Aufnahmegerät bei bestimmten Aussagen zu potenziell konfliktreichen Aspekten des Zusammenlebens auszuschalten oder von ihnen als heikel empfundene Passagen nicht für die Analyse zu verwenden. Angesichts dieses starken Bewusstseins dafür, was innerhalb der Gruppe sagbar ist und was nicht, ist auch davon auszugehen, dass mir manche der wesentlichen Dynamiken zur Gänze entgangen sind. Dieses enge Verhältnis meiner Gesprächspartnerinnen und -partner zueinander, ihr Zusammenhang als eine im Alltag mehr oder weniger eng verbundene Gruppe bringt forschungsethische Herausforderungen mit sich. Zum einen stellt sich die Frage, wie die Forschung in die Gruppe zurückwirken wird. Diese Überlegung hat zur Folge, dass ich in der Darstellung manche potenziell konfliktreiche Themen ausklammere oder weniger deutlich anspreche, als ich dies vermutlich in einem weniger überschaubaren sozialen Setting tun würde. Zum anderen gestaltet sich die Anonymisierung schwierig. Die Verwendung biographischer Eckdaten zu den Gesprächspersonen, also essenzielle Kontextinformationen für eine sinnvolle mikroanalytische Auswertung und Darstellung, würden die an der Forschung Beteiligten innerhalb ihrer Nachbarschaft sofort identifizierbar machen. Darauf wiesen mich mehrere Gesprächspartner und -partnerinnen hin, als ich zu Beginn des Interviews die in der Europäischen Ethnologie übliche Praxis der Anonymisierung mittels der Verwendung von Pseudonymen ansprach. Während viele in ihrer Erkennbarkeit kein Problem sahen, zeigte sich im Zuge von Gesprächen, die ich während des Verfassens der Arbeit führte, dass sich andere damit unwohl fühlten. Ich habe mich daher für ein Verfahren der selektiven Kontextualisierung entschieden, das jeweils nur jene für das Verständnis der jeweiligen Aussagen notwendigen Kontextinformationen nennt. Das sind manchmal beruf liche Hintergründe, manchmal die Rolle im Projekt, manchmal Geschlecht und Alter. Die Informationen, die ich anführe, können in den meisten Fällen auf mehrere Personen zutreffen. Das bewirkt zudem, dass die unterschiedlichen Aussagen derselben Interviewperson voneinander entkoppelt werden. Mit dem üblichen Verfahren, das den Einzelnen fixe Pseudonyme zuweist, wären die Personen auch ohne weitere Kontextinformationen in der Summe ihrer Aussagen für ihre Nachbarn und Nachbarinnen erkennbar geworden. In einer Textdatei, die sich in meinem Archiv befindet, aber nicht öffentlich zugänglich ist, sind die einzelnen zitierten Aussagen den einzelnen Interviews zugeordnet. Pseudonyme verwende ich nur in jenen Situationen, in denen ich mich in längeren Passagen immer wieder auf die gleiche Person beziehe, um die Lesbarkeit des Textes zu verbessern. Diese Pseudonyme gelten aber nur für den jeweiligen

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Textabschnitt, in manchen Fällen hat eine Person folglich an unterschiedlichen Stellen im Text verschiedene Pseudonyme. Tatsächlich unmöglich ist die Anonymisierung dort, wo für die Analyse konkrete Situationen oder spezifische biographische Details oder die genaue Beschreibung einzelner Wohnungen zentral sind. In diesen Fällen habe ich explizit um das Einverständnis meiner Interviewpartner und -partnerinnen gebeten, um die betreffenden Interviewausschnitte zu verwenden. Gelegentlich wurden Modifikationen erbeten, manchmal gab es nach der Lektüre der betreffenden Passagen keine Einwände, und von wiederum anderen Personen erhielt ich allgemein die Erlaubnis zur freien Verwendung des Interviewmaterials, ohne Textpassagen vorzulegen. Für die Veröffentlichung habe ich zudem die Namen der Wohnprojekte geändert. Eine vollständige Anonymisierung ist nicht möglich, da einerseits die notwendigen Kontextinformationen eindeutige Rückschlüsse auf die Projekte erlauben, und ich andererseits auch Quellen zitiere, die direkt auf die Projekte verweisen. Der Verzicht auf die Nennung der Projektnamen im Text bewirkt aber einen Wechsel des Fokus. Meine Studie soll nicht als eine Forschung über genau diese beiden Wohnprojekte verstanden werden. Diese sind lediglich Fallbeispiele, anhand derer raum- und architekturtheoretische Fragestellungen behandelt werden.

Interpretationsschritte und Darstellungsform Die Grundlage für die Analyse bildeten die skizzierten Quellengruppen: Interviewtranskripte und deren Zusammenfassungen, Protokolle der Hausführungen, Forschungstagebuchnotizen zu den Interviews und Hausführungen, Fotografien und selbst gezeichnete Skizzen von Grundrissen 5 und baulichen Details, Materialien zum Planungsprozess und zur weiteren Kontextualisierung der Wohnprojekte. Die Interpretation erfolgte in mehreren Schritten. In einer ersten Phase, die sich zeitlich mit dem Forschungsprozess überschnitt, entstanden mehrere Tagungsbeiträge und Publikationen (Rogojanu 2015a; 2015b; 2016a; 2016b). Die Fragestellungen, die auch meinen weiteren Blick auf das Material leiteten, entwickelte ich vor dem Hintergrund der jeweiligen

5 In einer späten Phase der Forschung habe ich auch Pläne der Häuser angefragt. Diese sind eine Stütze für die Analyse räumlicher Gegebenheiten, denen ich mich zunächst aber über mein eigenes Raumerleben und die Schilderungen meiner Interviewpartner und -partnerinnen genähert habe. Hier nutze ich sie zur Veranschaulichung von räumlichen Gegebenheiten, die für die Leser und Leserinnen ohne das entsprechende Raumerleben rein durch die sprachliche Beschreibung schwer greifbar werden.

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Tagungs- bzw. Publikationskontexte. Im Unterschied zur Dissertation an sich fokussierten diese Beiträge immer jeweils nur eines der beiden Wohnprojekte und gründeten auf dem zum jeweiligen Zeitpunkt vorhandenen empirischen Material. Diese Teilinterpretationen, die ich in einer frühen Phase der Forschung entwickelte, können als erste Versuche gesehen werden, mögliche Linien der Analyse zu entwickeln, von denen manche letztlich stärker und andere weniger stark in die Arbeit Eingang gefunden haben. Die Analyse des Materials für die Dissertation selbst kann als Kombinationen immer weiter gefasster Schritte der Kontextualisierung gesehen werden: innerhalb einzelner Interviews, zwischen den Interviews, zwischen verschiedenen Materialsorten usw. Ich begann mit einer softwaregestützten Kodierung 6 der Interviews, die zunächst noch sehr engmaschig dem Material folgte. In einem zweiten Schritt interpretierte ich die Interviews einerseits hinsichtlich übergeordneter Kategorien und Themenbereiche, andererseits mit Blick auf Verdichtungen und herausstechende Positionen. Diese zweite Analyseschiene ist in der Darstellung weniger deutlich sichtbar, war aber essenziell, um Sprecherpositionen zu identifizieren, und bildete die Basis zur Einordnung verschiedener Erzählungen in Relation zueinander. Aus einem Zusammenspiel von zunächst aus dem Material herausgearbeiteten Kategorien sowie wissenschaftlichen Fragestellungen und theoretischen Perspektiven entwarf ich die Grundstruktur für die Hauptkapitel der Arbeit. In einem nächsten Schritt wählte ich zentrale Aussagen und Interviewpassagen aus, wobei ich zum Zweck ihrer Kontextualisierung wieder zu den einzelnen Interviews und den diesbezüglichen Notizen zurückging. Auch wenn die Interviews zunächst den Ausgangspunkt der Analyse bildeten, fand die Einordnung von Aussagen und Erzählmustern immer vor dem Hintergrund meiner räumlichen Beobachtungen sowie der Aussagen aus den Hausführungen statt. Raum, Materialität, Diskurse und Praktiken wurden also stets zusammengedacht. Nachdem ich wesentliche Themenbereiche identifiziert hatte, beschäftigte ich mich vor dem Hintergrund dieser Ordnung mit den anderen Materialbereichen (Dokumentationen der Hausführungen, Materialien aus dem Planungsprozess etc.) und ordnete Teile daraus den jeweiligen Fragestellungen zu. Zur Annäherung an die einzelnen Themenbereiche fand zudem eine vertiefende Literaturrecherche statt, die wiederum zu einer weiteren Untergliederung der Einzelthemen führte. An dieser Stelle ergaben sich zum Teil auch neue Fragen an das empirische Material, die punktuell eine neuerliche Auseinandersetzung mit bestimmten Teilen daraus zur Folge hatten. Dieses Vorgehen enthält Elemente unterschiedlicher Verfahren wie beispielsweise der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring / Hurst 2005), der objektiven Hermeneutik (Hagedorn 2005) oder der Grounded Theory (Glaser / 6 Ich nutzte dafür das Programm ATLAS.ti.

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Strauss 1998), folgt aber keinem dieser Modelle konsequent. Vielmehr unternahm ich eine für die Europäische Ethnologie übliche Annäherung in »kreisenden Deutungsbewegungen« (König 2009: 316), die zwischen Theorie und Empirie hin und her pendelt, gewissermaßen im Sinne einer »theoretischen Empirie« (Kalthoff 2008), und wiederholt durch unterschiedliche Quellengruppen führt. Ziel ist es, die Bezüge zwischen den verschiedenen Materialsorten und Themen zu erfassen. Ich knüpfe damit an Elisabeth KatschnigFasch an, die das interpretatorische Vorgehen der Europäischen Ethnologie folgendermaßen beschreibt: Da unsere empirische Methode eine hermeneutische Interpretation verlangt, die immer das Bemühen um Verstehen und nicht die Last des Beweises im Visier hat (ein Verfahren, das zwar nicht willkürlich ist, aber relativ und notwendigerweise immer exemplarisch), ist dies der einzig legitime [ich würde sagen: ein legitimer, Anm. d. Verf.] Weg, sich der Wirklichkeit anzunähern und sie in ihren Zusammenhängen zu interpretieren. Die Interpretationen entsprechen daher auch keinen elaborierten Richtlinien oder etwa einer einzig stringenten Theorie qualitativer Datenanalyse, sondern folgen einer – quasi postmodernen – Theorievielfalt. (Katschnig-Fasch 1998: 25)

Das Strukturprinzip dieser Arbeit ist kein eindeutiges Resultat des empirischen Materials selbst, sondern vielmehr das Ergebnis einer theoretisch informierten Lektüre der Interviews, in der sich die ursprünglichen Interessen der Forschung widerspiegeln. Johanna Rolshovens Raummodell war für meine Auseinandersetzung mit Raumtheorien zentral. So beschäftigen sich die Kapitel des Hauptteils der Arbeit jeweils damit, auf welche Weise gebauter Raum, angeeigneter Raum und Repräsentationsraum miteinander verknüpft sein können. Die diesbezüglich aus dem Material heraus entwickelten Kategorien sind nicht als endgültige, umfassende Systematik gedacht. Vielmehr sind sie als einige ausgewählte Denklinien zu verstehen, die sich im Rahmen der untersuchten Fälle als bedeutsam erwiesen haben. Die Arbeit ist aufgebaut wie folgt: Die diesem Abschnitt vorangegangene theoretische Einführung steckt den großen Rahmen der Fragestellung ab. Das folgende Kapitel zur Kontextualisierung verortet das Thema sozial und historisch und bietet eine grobe Charakterisierung der beiden Wohnprojekte. Die beiden allgemein gehaltenen Skizzen enthalten zentrale Informationen, die für das Verständnis einzelner im Hauptteil entwickelter Aspekte wichtig sind, und dienen als Basis, auf die die Leser und Leserinnen bei Bedarf zurückgreifen können. Der Hauptteil der Arbeit entwickelt sich in Form von drei Abschnitten, deren logisches Prinzip die Frage ist, auf welch unterschiedliche Arten gebauter Raum, Gesellschaft und Individuum zusammenhängen können. Diese Abschnitte sind wiederum in Unterkapitel gegliedert: Nach einer rahmenden

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Einleitung folgen jeweils zwei bis drei Kapitel, die verschiedene Aspekte des Themas ausführen. Diese greifen theoretische Überlegungen aus unterschiedlichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Themenbereichen auf und diskutieren vor diesem Hintergrund die Befunde der empirischen Forschung. Bei der Darstellungsweise des empirischen Materials wechsle ich zwischen Passagen, in denen Interviewzitate und Beobachtungssituationen in großer Dichte und somit als Kristallisationspunkte für bestimmte Dynamiken hervortreten, und weniger genau kontextualisierten Verweisen auf Interviewpassagen und Beobachtungen oder Planungsunterlagen, die zur Einbettung der erwähnten Kristallisationspunkte dienen. 7 Am Ende jedes Abschnitts entwickle ich raumtheoretische Perspektivierungen, die die Ergebnisse der Unterkapitel an die in den Annäherungen entwickelten raum- und architekturtheoretischen Fragestellungen rückbinden. Am Ende der drei so gestalteten Abschnitte stehen Schlussbetrachtungen in drei Schritten. Zum ersten geht es um eine Zusammenfassung und Pointierung der Überlegungen zu Architektur und Gesellschaft, zum zweiten um methodische Überlegungen und zum dritten um einen Ausblick auf mögliche vertiefende Fragestellungen.

7 Vgl. dazu die von Brigitta Schmidt-Lauber idealtypisch dargestellten Verfahren der »Fallbeschreibung« einerseits und der »selektiven Plausibilisierung« andererseits: Schmidt-Lauber 2007b: 184.

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KONTEXTE Gemeinschaftliches Wohnen hat Geschichte. Mal als utopisches Experiment von oben verordnet, mal von unten als Notlösung entwickelt, war es in den jeweiligen historischen Perioden und lokalen Kontexten an verschiedene Ideale und Hoffnungen geknüpft, auf spezifische Gruppen gerichtet und wurde in unterschiedlicher Gestalt umgesetzt sowie gelebt. Im folgenden Kapitel stelle ich zunächst einige internationale bzw. vor allem europäische Beispiele für gemeinschaftliches Wohnen vor, um exemplarisch mögliche Zusammenhänge zwischen Wohnkonzepten und Gesellschaftsentwürfen zu veranschaulichen. Im Anschluss gehe ich auf historische Entwicklungen und stadtpolitische Spezifika in Wien ein, um eine bessere Einordnung der von mir fokussierten Fallstudien zu ermöglichen. Zum Schluss werden die beiden in dieser Studie untersuchten Wohnprojekte mit Blick auf ihre gesellschaftlichen Kontexte und die Rahmenbedingungen ihrer Entstehung vorgestellt sowie die jeweiligen Häuser und ihre Einrichtungen kurz präsentiert.

Europäische Vorläufer des gemeinschaftlichen Bauens und Wohnens Eine Linie gemeinschaftlichen Bauens und Wohnens in Europa gründet auf den politisch-philosophischen Ideen der Sozialutopisten Anfang des 19. Jahrhunderts. Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse führen in dieser Zeit in ganz Europa zu einer gravierenden Wohnungsnot in den Städten. Daraufhin entwerfen allen voran britische und französische Vertreter des Sozialutopismus spezifische bauliche Konzepte, um die Wohnsituationen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu verbessern. Diese Lösungsvorschläge sehen eine Verbindung zwischen bestimmten Wohn- und Arbeitsformen mit Initiativen der genossenschaftlichen (Selbst-)Organisation vor. Architektur wird dabei als Träger der Veränderung gesellschaftlicher Organisationsformen verstanden (vgl. Zimmerl 1998: 15). Als einer der bekanntesten Vertreter entwickelt der Unternehmer und Sozialreformer Robert Owen ein Siedlungsmodell, mit dem er nicht nur eine Veränderung in der Wohnsituation des Proletariats, sondern ingesamt eine Verschiebung der Besitz- und Arbeitsverhältnisse herbeiführen will (vgl. Bollerey 1974: 1–5). Autonome und genossenschaftlich organisierte Fabriksiedlungen im ländlichen Raum sollen den Arbeitern und Arbeiterinnen Selbstversorgung durch landwirtschaftliche Nutzung der umliegenen Flächen ermöglichen. In den für 500 bis 2.500 Personen gedachten Komplexen plant Owen zahlreiche Gemeinschaftseinrichungen mit pädagogischen Angeboten und wirtschaftlichen Funktionen, um die Selbstorganisation des Proletariats zu fördern. Owens

Vision zielt darauf ab, Lohnarbeit schrittweise durch genossenschaftliche Produktion zu ersetzen (vgl. Zimmerl 1998: 15–17). Konkrete Umsetzung findet dieses als »Siedlungsparallelogramm« bezeichnete Baukonzept Anfang des 19. Jahrhunderts im Umfeld einer Baumwollspinnerei, die Owen selbst leitet (vgl. Bollerey 1974: 47–57). Die Siedlung in New Lanark in Großbritannien avanciert zu einer »florierenden Musterkolonie« (ebd.: 56), in der Industriearbeiter und -arbeiterinnen Lebensweisen ermöglicht werden, die sich stark von jenen der Mehrheit des Industrieproletariats unterscheiden. Ein weiterer bekannter Vertreter der sozialutopistischen Strömung, Charles Fourier, stellt weniger eine alternative Form sozialer Organisation, sondern überhaupt ein neues Menschenbild ins Zentrum seines Entwurfs: Die »Institutionalisierung von Kollektiven« (Zimmerl 1998: 18) solle einen »neuen moralischen Menschen« (ebd.: 20) hervorbringen. Fouriers architektonisches Modell sind die sogenannten Phalastères: Im Zentrum dieser schlossähnlichen Anlagen für 900 bis 2.000 Menschen befindet sich jeweils ein »Sozialpalast«, der eine Vielzahl an Gemeinschaftseinrichtungen, wie Speisesäle, Bibliotheken und Studiensäle, beherbergt. Die Zugänge zu den einzelnen Wohnungen sind als verglaste Korridore gestaltet und als Kommunikationsmöglichkeiten für Bewohner und Bewohnerinnen konzipiert (vgl. ebd.: 19; Schuster 2003: 174–176). Neue pädagogische Ansätze sieht Fourier als Mittel zur Aufhebung von Klassengegensätzen, genossenschaftliche Produktionsweisen sollen den Zusammenhalt der Bewohnerschaft stärken (vgl. Saage 2001: 108 f.; Zimmerl 1998: 20 f.). Fouriers Schüler wenden seine Ideen an, zum Beispiel im Falle des 1859 in Guise an der Oise in Frankreich errichteten Familistère, eines aus drei Baublöcken bestehenden Wohn- und Arbeitskomplexes mit etwa 450 Wohnungen. Während die baulichen Charakteristika, wie Lichtverhältnisse, sanitäre Einrichtungen und öffentliche Versorgung, als beispielgebend für den späteren Wohnbau erachtet werden, kommen die sozialreformerischen Ideen Fouriers vor allem aufgrund der durch den Stifter Jean-Baptiste-André Godin vorgegebenen paternalistischen Organisationsform nicht zur Umsetzung (vgl. Bollerey 1974: 203 f.). Einige Jahrzehnte später entwirft Ebenezer Howard mit der Gartenstadtidee Pläne für alternative Siedlungsformen. Auch er beschränkt sich nicht auf architektonische Überlegungen, sondern imaginiert eine umfassende Transformation politischer und sozialer Strukturen: weg vom kapitalistischen Wirtschaftssystem und hin zu einer auf Gemeinschaft und Brüderlichkeit basierenden Ordnung (Millwisch 2015: 29). Ende des 19. Jahrhunderts konzipiert er dementsprechend die Gartenstadt nicht nur als Architektur-, sondern auch als Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell (Zimmerl 1998: 23). Die Siedlungen für etwa 30.000 Einwohner und Einwohnerinnen verfügen über einen zentralen Platz mit öffentlichen Gebäuden und Parks, der als Kommunikationszentrum fungiert. Rundherum plant Howard die Ansiedlung von Wohngebieten

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und am Rand einen Grüngürtel, der Industrie und Landwirtschaft verbinden soll (vgl. Panerai / Castex / Depaule 2014: 45–73). Verwaltet werden die Gartenstädte, so das Konzept, als »kleine, demokratisch organisierte, genossenschaftlich verwaltete Einheiten« (Zimmerl 1998: 23). Anders als ursprünglich geplant, findet die Gartenstadt vor allem bei Angehörigen der Mittelschicht Anklang, für die das Wohnen im Grünen attraktiv ist. Howards anfängliche Ideale einer kollektiven Lebensform für unterprivilegierte Schichten rücken dabei in den Hintergrund und die Gartenstadtidee verbreitet sich nach ihren ersten Umsetzungen in Großbritannien Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere im deutschsprachigen Raum ohne die sozialen, politischen und ökonomischen Motive der Anfangszeit (ebd.: 24). Weitere kollektive Wohnexperimente finden sich unter anderem im Schweden der 1930er-Jahre im Umfeld einer sozialdemokratisch orientierten bürgerlichen Elite. Ein Beispiel dafür ist das 1935 in Stockholm eröffnete Kollektivhaus. Die Idee dafür stammt von der Pädagogin Alva Myrdal und ihrem Mann, dem Volkswirtschaftler Gunnar Myrdal, beide auch innerhalb der Sozialdemokratie politisch aktiv, während Sven Markelius, ein dem Funktionalismus zuzuordnender Architekt, für die planerische Umsetzung zuständig ist. Neben der Erziehung (vgl. Maak 2014: 183–185) werden auch hauswirtschaftliche Tätigkeiten zentralisiert und von Personal übernommen, etwa in Form von Großküchen und Wäschereien. Die privaten Wohnräume werden auf ein Minimum reduziert. Das emanzipatorische Potenzial, das die Myrdals sich vorstellen, zielt auf die Entlastung der Frauen von der Hausarbeit und die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter ab. Zudem soll durch die kollektive Orientierung des Wohnens die Solidarität zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen gestärkt werden. Diese Ansprüche werden nur teilweise verwirklicht. Entgegen der intendierten sozialen Durchmischung der Bewohnerschaft zieht das Haus zunächst vor allem Intellektuelle an, die sich nach den ersten Jahren zunehmend von den kollektiven Ansprüchen abwenden. Dementsprechend wird ab den 1950er-Jahren das Personal stark reduziert und in den 1970er-Jahren aufgrund mangelnder Nachfrage auch die Kindertagesstätte geschlossen (vgl. Risch 1974; Lamm / Steinfeld 2006: 123–127). Werden bis dahin kollektive Wohnexperimente in erster Linie von Intellektuellen gewissermaßen top-down vorangetrieben, ist ab Ende der 1960er-Jahre eine neue Welle an kollektiven Wohnformen zu beobachten, die sich bottomup entwickelt. Dazu gehören Landkommunen, die gemeinschaftliches Wohnen und Wirtschaften miteinander verbinden, ebenso wie Wohngemeinschaften im städtischen Raum. Gemeinsam ist ihnen die Suche nach Alternativen gegenüber den etablierten gesellschaftlichen Organisationsmodi, allen voran der bürgerlichen Kleinfamilie, sowie nach neuen Formen des Wohnens und der Lebensführung. Zentrale Themen, die diese verschiedenen Bewegungen leiten, umfassen Ökologie, Konsumkritik, Autonomie und Basisdemokratie sowie die

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Suche nach der »Kollektivität der kleinen Gemeinschaft« (Reichardt / Siegfried 2010: 18; vgl. dazu auch Lay 2001). Während Wohngemeinschaften als pragmatische Wohnform Studierender längst etabliert sind, erleben gegenwärtig auch andere gemeinschaftliche Wohnformen internationalen Aufschwung. Diese sind einerseits von ökonomischen Interessen geleitet und, gewissermaßen als Selbsthilfemodell der Mittelschicht, auf das Schaffen von leistbarem Wohnraum gerichtet (vgl. Temel 2009: 9–10; Hendrich 2010: 96). Andererseits gibt es Initiativen, die im Sinne alternativer Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle im Kontext einer Kritik an neoliberalen Entwicklungen kooperative Formen gegenseitiger Unterstützung im Alltag im Sinne einer sharing economy anstreben (vgl. Reimer 2013; Sandstedt / Westin 2015). Die Übergänge zwischen stärker ökonomisch ausgerichteten Motiven und inhaltlichen, visionären Bestrebungen sind in den einzelnen Projekten fließend und häufig kaum klar zu benennen.

Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen in Wien In Wien bildet die Siedlerbewegung der 1920er-Jahre eine der zentralen frühen Initiativen gemeinschaftlicher Selbstorganisation im Wohnbau (Hendrich 2010: 72 f.). Nach ihren Anfängen als Selbsthilfebewegung »von unten« wird sie zügig institutionalisiert, von Seiten der Sozialdemokratie politisch angeeignet und letztlich ihres »anarchische[n] Moment[s]« entledigt (Krasny 2012: 21). Die Siedlerbewegung ist mit Blick auf die Wohnprojekte der 1980er-Jahre sowie gegenwärtige Baugruppen insofern interessant, als sie Fragen nach dem Verhältnis selbstorganisierter Initiativen zu Markt und Staat, aber auch nach den städtebaulichen und sozialen Aspekten von Architektur aufwirft. Ihren Beginn nimmt die Siedlerbewegung als Strategie zur Bewältigung der Wohnungs- und Nahrungsmittelknappheit in Wien nach dem Ersten Weltkrieg. Als Reaktion auf unmittelbare Notlagen besetzen »jene, deren Bedürfnisse weder vom Markt noch vom Staat hinreichend befriedigt« (Blau 1999: 90) werden, Grundstücke am Stadtrand, bauen auf diesen Lebensmittel an und errichten zunehmend auch Unterkünfte (ebd.). Da sich die Siedler und Siedlerinnen über Eigentums- und Baurechte hinwegsetzen und noch weitgehend unorganisiert vorgehen, wird diese frühe Phase als das »wilde Siedeln« (Novy 1983: 44; vgl. auch Krasny 2012 und Zimmerl 1998: 62 f.) bezeichnet. In der Anfangszeit sind unter den Siedlerinnen und Siedlern noch unterschiedliche politische Gruppierungen anzutreffen, wobei viele gewerkschaftlich und konsumgenossenschaftlich eingebunden und in der Arbeiterbewegung aktiv sind (vgl. Zimmerl 1998: 71 f.). Sie beginnen bereits 1919 und 1920 ihre Bautätigkeit genossenschaftlich zu organisieren (Novy 1983: 45). In dieser

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Zeit schließen sich namhafte Sozialisten der Bewegung an, lenken sie nach und nach in organisierte Bahnen und transformieren sie schließlich von einer Selbsthilfebewegung in eine weitreichende Sozialreformbewegung, die mit Ideen wie Autonomie, Naturnähe und Gemeinschaftlichkeit verknüpft wird (vgl. Novy 1983: 27 f.; Blau 1999: 127). Dass eine solche politische Aneignung des oft als kleinbürgerlich etikettierten und in anderen Kontexten besitzindividualistisch orientierten Siedlungskonzeptes möglich ist, liegt nicht zuletzt daran, dass es in Wien, anders als in vielen deutschen Städten, keine bereits etablierte Organisationsstruktur der Kleingärtner- und Bauvereinsbewegung gibt (vgl. Novy 1983: 26; Novy / Förster 1991: 27). Ab 1921 etabliert sich ein »Großsystem organisierter Selbsthilfe« (Novy 1983: 46), in dem genossenschaftliche Selbsthilfe und (stadt-)politische Initiativen eng ineinandergreifen. Sowohl siedlungsgenossenschaftliche als auch kommunale sowie teilweise von Genossenschaften, Gemeinde und Staat gemeinsam verwaltete Institutionen sind an der Errichtung neuer Siedlungen beteiligt. Architekten und Architektinnen, die von der Gartenstadtidee inspiriert sind, planen Häuser, die von den Siedlern und Siedlerinnen in gemeinschaftlicher Arbeit errichtet werden (vgl. ebd.: 34–40; Blau 1999: 97). Das Interesse stadtpolitischer Akteure zielt einerseits auf die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum, andererseits auch auf die Einführung einer »neue[n] Wohnkultur« (Novy 1983: 40; vgl. dazu auch Blau 1999: 99–106), die in sogenannten Siedlerschulen vermittelt wird (vgl. Novy / Förster 1991: 79). 1 Auch mit Blick auf die Gestaltung des Wohnraums sind die Siedlungen, die zwischen 1921 und 1922/23 errichtet werden, Produkte einer architektonischen Reformbewegung, die bestimmte Lebensformen hervorzubringen versucht. Merkmale der Siedlungen sind neben Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen auch zentral gelegene Genossenschaftshäuser mit Lese- und Veranstaltungsräumen, denen als Ort der Gemeinschaftsbildung eine wichtige Rolle zukommt (Blau 1999: 110–115; Novy / Förster 1991: 89–95; Zimmerl 1998: 98–10). Die einzelnen Häuser verfügen über eigene Gartenflächen, die der Selbstversorgung dienen sollen. Verwaltet werden die Siedlungen als gemeinnütziges Genossenschaftseigentum (Novy 1983: 46 f.). Ab 1923 beginnt die Gemeinde Wien, den Bau von Siedlungshäusern aus den Mitteln der neu eingeführten Wohnbausteuer (vgl. Zimmerl 1998: 113–115) in größerem Ausmaß finanziell zu unterstützen (Novy 1983: 47). Das führt langfristig zu einer Veränderung sowohl der Gestalt als auch der Organisationsstruktur der Siedlungen. Die daran anschließende Tendenz hin zu kommunal errichteten und verwalteten Gemeindesiedlungen verdrängt die 1 Die Weiterführung der Idee ist in der 1932, also bereits nach der großen Welle der Errichtung von Siedlungen, entstandenen Werkbundsiedlung zu finden, vgl. Nierhaus / Orosz 2012; Nierhaus 2014.

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bisherige Genossenschaftsstruktur mit ihren basisdemokratischen Elementen (vgl. ebd.: 48). Konzeptionell ist ein Übergang von den Gartensiedlungen hin zu Wohnsiedlungen zu beobachten (vgl. Blau 1999: 128). Mit Blick auf die Gemeinschaftseinrichtungen sind die Gemeindesiedlungen dieser Zeit mit den genossenschaftlichen Siedlungen vergleichbar, wobei der Zusammenhalt zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen aufgrund der »behördlichen Belegungspolitik« (Zimmerl 1998: 123) und des Fehlens von »Selbstverwaltung sowie gemeinsamer Aufbauarbeit« (ebd.) weniger stark ausgeprägt ist. Ab 1925 wird verstärkt den städtischen Gemeindebauten der Vorzug gegenüber dem selbstorganisierten und -verwalteten Siedlungsbau gegeben (Novy 1983: 48). Auch wenn Aspekte der Selbstverwaltung keine Rolle mehr spielen, finden sich gemeinschaftsorientierte Ansätze auch im ab Mitte der 1920er-Jahre florierenden Wiener Gemeindebau. Angestoßen werden diese teilweise von den Architekten und Architektinnen 2 der Siedlungshäuser. Sie versuchen, in ihren Plänen spezifische Verhältnisse von privatem, gemeinschaftlich-nachbarschaftlichem und öffentlichem Raum in den Gemeindebauten anzulegen. Neben neuen Ansätzen in der Grundrissgestaltung der einzelnen Wohnungen widmen die Planer und Planerinnen auch den (halb-)öffentlichen Gemeinschaftsbereichen, wie Waschküchen, Bibliotheken, Kinderbetreuungseinrichtungen, Spielplätzen, Gärten oder öffentlichen Badeanlagen, als Orten technologischer, sozialer und wissenschaftlicher Neuerungen (Blau 1999: 205) besondere Aufmerksamkeit. Sozialhistorische Studien (Sieder 1985; Sieder / Pirhofer 1982) zeigen, dass für die Frauen damit nicht zwingend die von der Gemeinde versprochenen Arbeitserleichterungen einhergehen. Betreuungseinrichtungen für Kinder ab vier Jahren oder Waschsalons, in denen jede Familie einen Waschtag pro Monat zugeteilt bekommt, gehen häufig an den Bedürfnissen der Arbeiterfrauen vorbei. Darüber hinaus erzeugt die Verschiebung der Schwellen von Öffentlichkeit und Privatheit Spannungen: Viele in dieser Zeit ausschließlich von Frauen erledigte Arbeiten werden durch die veränderte räumliche Verortung sichtbar und zugleich einsehbar. Außerdem wird die Wohneinheit aufgrund kleiner Wohnungsgrundrisse auf die Kleinfamilie begrenzt, was letztlich neben anderen Faktoren zu einer Auf lösung der großfamilialen Selbsthilfenetzwerke der Bassena- und Gangküchenhäuser führt (vgl. Blau 1999: 214). Ab 1933 besetzt die diktatorische Regierung den Siedlungsgedanken mit Ideen »reaktionäre[r] Agrarromantik« (Novy / Förster 1991: 104) und setzt diese im Bau von Stadtrandsiedlungen um. Für die bestehenden Siedlungsgenossenschaften bedeutet der politische Umsturz zunächst das Ende der basis2 Unter den männlichen Architekten wirkt Margarete Schütte-Lihotzky als eine der ersten Architektinnen an der Planung sowohl von Siedlungshäusern als auch von Gemeindebauten mit.

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demokratischen Verwaltung (ebd.: 103). In Folge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, die die »Auf lösung aller Selbstverwaltungs- und Autonomieansätze« (ebd.: 105) verfolgen, werden die Genossenschaften mehreren Zentralisierungsstrategien unterworfen. So werden sie obligatorisch Mitglieder des neu gegründeten Verbands donauländischer Wohnungsunternehmen (ebd.), der nicht nur über alle Bauvorhaben entscheidet, sondern auch über die Auswahl der Siedler und Siedlerinnen. Mit Konsequenzen bis in die Gegenwart wird 1940 ein Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz erlassen. Dieses umfasst eine Baupflicht und definiert so Gemeinnützigkeit rein im Sinne einer wohnungswirtschaftlichen Versorgung (Bauer 2006). Damit ist laut Novy und Förster »sowohl der wirtschaftsreformpolitische wie auch lebensreformpolitische Spielraum genossenschaftlich-gemeinnütziger Bautätigkeit weitgehend zerstört« (ebd.: 106). Genossenschaften werden zunehmend in die Rolle des Bauträgers gedrängt und verlieren ihre Bedeutung als Institution zur Selbstverwaltung einzelner Siedlungen (ebd.: 110; vgl. auch Zimmerl 1998: 190 f.). Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind zunächst dem Wiederaufbau gewidmet, bei dem die möglichst schnelle quantitative Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum im Vordergrund steht. Mit der staatlichen Konsolidierung Österreichs und damit einhergehenden Förderungsmaßnahmen und Finanzierungsmodellen etabliert sich ab den 1960er-Jahren mit zunehmendem Wohlstand das Einfamilienhaus als Ideal für immer breitere Bevölkerungsschichten (Zinganel 1998: 6; Freisitzer / Koch / Uhl 1987: 15). Ende der 1960er-Jahre führen vor allem zwei gesellschaftliche Entwicklungen zu einer Reihe von gemeinschaftsorientierten und partizipativen Wohnprojekten. Erstens äußern die Emanzipationsbewegungen dieser Phase ein Unbehagen gegenüber den »mächtigen Institutionen« (Freisitzer / Koch / Uhl 1987: 14) und damit verbunden den Wunsch nach Selbstbestimmung in verschiedenen Lebensbereichen (vgl. auch Temel 2012: 47; Förster u. a. 1991: 1; Fezer / Heyden 2004: 14–17). Diese basisdemokratischen Bestrebungen, die in vielen gesellschaftlichen Feldern sichtbar werden, finden auch in den Wohnbau Eingang. Die Beteiligung zukünftiger Mieter und Mieterinnen im Wohnbau wird in diesem Zusammenhang als weitreichendes »Mittel zur Demokratiereform« (Freisitzer / Koch / Uhl 1987: 24) verstanden und genutzt. Zweitens beginnen die Kinder der Nachkriegsgeneration die Orientierung ihrer Eltern an Individualinteressen zu kritisieren und stellen ein »Defizit an Gemeinsinn« (ebd.: 15) fest. Daraus entwickelt sich für viele der Wunsch nach Wohngemeinschaften mit einem »hohen Maß an sozialer Integration« (ebd.). Eine wichtige Rahmenbedingung für die allmähliche Entwicklung von Mitbestimmungsprojekten ist das 1968 erlassene Wohnbauförderungsgesetz, das die Finanzierung der Wohnbauforschung sichert (ebd: 26). In Folge werden partizipative Projekte finanziell und organisatorisch unterstützt und dokumentiert, was wiederum die Öffentlichkeitswirksamkeit einzelner Initiativen

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erhöht. Außerdem entstehen Forschungen, die auf die Beratung neuer Wohnprojekte bzw. auf die Erarbeitung notwendiger Rahmenbedingungen abzielen. 3 In diesem Kontext, in dem Bürgermitbestimmung zumindest auf einer programmatischen Ebene auch von politischer Seite als positiv und innovativ bewertet wird (vgl. ebd.: 38), entstehen ab 1970 eine Reihe experimenteller Modellprojekte. Sie werden zumeist von Architekten und Architektinnen, die nach einem neuen Berufsbild suchen, initiiert oder von wohnreformerisch inspirierten Bauträgern umgesetzt (vgl. ebd.: 26). Ab 1980 beginnen die Modellprojekte Breitenwirkung zu entfalten. Es entstehen neue Projekte, für die die Impulse nicht von Architekten, Architektinnen oder Bauträgern, sondern von den zukünftigen Bewohnern und Bewohnerinnen selbst kommen (vgl. ebd.: 38). In Wien ist der Architekt Ottokar Uhl einer der ersten, der Mitbestimmungsprojekte fördert und entwickelt. Er vertritt eine »architekturkritische Position« (Kamleithner 2011: 4) und lehnt sich vor allem gegen die paternalistische Haltung der modernen Architektur auf (ebd.: 5). Mit seiner Perspektive auf Architektur als »Gebrauchsgut« (Freisitzer / Koch / Uhl 1987: 34) setzt er sich für prozesshafte Planungen und einen »Dialog zwischen Planern und Nutzern« (Uhl 2003: 19) ein sowie für eine flexible Architektur, die unterschiedliche Raumnutzungen und Anpassungen über die Zeit hinweg ermöglicht (Kamleithner 2011: 12–14; Steger 2005: 185–188). Eine weitere zentrale Figur dieser Zeit ist der Architekt Fritz Matzinger, der, inspiriert von Reisen in afrikanische Dörfer, Wohnanlagen entwickelt, deren Architektur auf möglichst intensive Kontakte zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen abzielt, die sogenannten Les-Palètuviers-Wohnhöfe (Freisitzer / Koch / Uhl

3 Dazu gehören z. B. Förster u. a. 1991, Freisitzer / Koch / Uhl 1987 sowie das in mehreren Publikationen dokumentierte Projekt »Möglichkeiten und Grenzen der demokratischen Mitbestimmung im sozialen Wohnungsbau« (1979–1982), hier sei nur der zusammenfassende Schlussbericht angeführt: Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften 1981. Innerhalb Österreichs gibt es sehr unterschiedliche Ausprägungen der Mitbestimmungsbewegungen. Eine Vorreiterrolle nimmt das Bundesland Vorarlberg ein, wo 1964 die Planung der ersten von einer Bewohnergruppe realisierten Siedlung der österreichischen Nachkriegszeit beginnt. Das Interesse an gemeinschaftsorientierten Bauten unter Beteiligung ihrer späteren Nutzerinnen und Nutzer speist sich in Vorarlberg vor allem aus der traditionell hohen Bedeutung des Hausbaus in Kombination mit dem Bemühen um land- und kostensparende Bauweisen und hat wenig mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der späten 1960er-Jahre zu tun (vgl. Freisitzer / Koch / Uhl 1987: 28; Förster u. a. 1991: 30). Ganz im Unterschied dazu führen in Graz im Umfeld der Technischen Universität heftige »ideologische Kämpfe« (Freisitzer / Koch / Uhl 1987: 28) zu einer »Revolution in den Zeichensälen« (ebd.: 29), die zu Foren für demokratisch gesinnte Architektinnen und Architekten werden.

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1987: 32; Grünberger 2006: 15–19). Im Umfeld dieser und anderer Architekten entstehen in den 1970er- und 1980er-Jahren eine Reihe an Neubauten mit unterschiedlichem Partizipationsgrad sowie verschiedene Sanierungsinitiativen, die mit mäßigen baulichen Veränderungen im Bestand neue, gemeinschaftsorientierte Wohnformen zu entwickeln suchen (Freisitzer / Koch / Uhl 1987: 230–242). Mit Ausnahme einiger weniger Projekte flacht ab Mitte der 1990er-Jahre die partizipative, auf gemeinschaftliches Wohnen ausgerichtete Baugemeinschaftsbewegung in Wien zunächst ab. Als Gründe gelten einerseits die Neuorientierung der Wohnbauforschung und die in Folge schwindende Unterstützung seitens der Politik, andererseits wird das vielfältige Wohnungsangebot, das sich im Laufe der 1990er-Jahre in Wien entwickelt, als ausschlaggebend für eine sinkende Nachfrage nach alternativen Wohnformen in Gestalt von Baugemeinschaften vermutet (vgl. Hendrich 2010: 74). Seit einigen Jahren erleben Baugemeinschaften wieder einen Aufschwung. 2009 wird »soziale Nachhaltigkeit« als Beurteilungskriterium in Bauträgerwettbewerben, einem der zentralen Instrumente der Wiener Wohnbauförderung, eingeführt. Damit werden Konzepte, die gemeinschaftliches Wohnen ermöglichen und anregen wollen, explizit als förderungswürdig definiert 4, wodurch sich die Bedingungen für Baugruppen, an Grundstücke zu kommen, verbessern. Zudem widmet die Wohnbauforschung Baugruppenprojekten im engeren Sinne wieder vermehrte Aufmerksamkeit und schafft somit Sichtbarkeit für die Bedarfslagen solcher Initiativen. So wurden seit 2009 mehrere Forschungsprojekte zum Thema (Temel u. a. 2009; Temel 2009; Temel 2012; Brandl / Gruber 2014) finanziert, deren Empfehlungen von den Behörden zum Teil umgesetzt werden. In neuen Stadtentwicklungsgebieten wie der Seestadt Aspern oder auf dem Areal rund um den Hauptbahnhof werden beispielsweise Grundstücke für Baugruppen reserviert, die in einem Wettbewerbsverfahren vergeben werden. Parallel dazu gründet 2009 eine Gruppe von Akteuren und Akteurinnen der Architektur, Raumplanung und Stadtforschung die Initiative »Gemeinsam bauen und wohnen« 5, die neue Projekte durch intensive Öffentlichkeitsarbeit unterstützt und die Vernetzung zwischen Interessierten fördert. Augenscheinlich wird der hier skizzierte Trend auch angesichts einer Reihe von Unternehmen, die sich auf die Moderation von Partizipations- und konkret auch Baugruppenprojekten spezialisieren. 6

4 wohnfonds_wien: Beurteilungsblatt 4-Säulen-Modell, http://www . wohnfonds . wien.at/downloads/lgs/beurteilungsblatt.pdf (Zugriff: 20. 10. 2018). 5 http://www.inigbw.org/ (Zugriff: 20. 10. 2018). 6 Dazu gehören unter anderem »raum & kommunikation«, http://www.raum-komm. at/ (Zugriff: 20. 10. 2018), realitylab, http://www.realitylab.at/ (Zugriff: 20. 10. 2018) oder wohnbund:consult, http://www.wohnbund.at/wp/ (Zugriff: 20. 10. 2018).

Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen in Wien

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Unter diesen neuen Bedingungen sind Baugruppenprojekte in Wien wesentlich leichter zu realisieren als in der Vergangenheit. Das große Interesse der Stadtpolitik hat allerdings dazu beigetragen, dass viele der neuen Projekte nun nicht mehr als Bottom-up-Initiativen beginnen, sondern gewissermaßen top-down von Bauträgern, Architektur- oder Prozessbegleitungs- bzw. Baugruppenbetreuungsbüros initiiert werden (vgl. Hendrich 2010: 75). Der Stadtforscher Robert Temel bezeichnet die gegenwärtig übliche Kooperation von Baugemeinschaften mit gemeinnützigen Bauträgern als spezifisches »Wiener Modell« (Temel 2012: 17). Er konstatiert in diesem Zusammenhang eine Verschiebung des Interesses von einem Fokus auf das »gemeinschaftliche Leben«, das die Projekte der 1980er-Jahre kennzeichnet, hin zu einem stärkeren Interesse an »individuelle[r] Selbstbestimmung im Rahmen einer Gemeinschaft« (Temel u. a. 2009: 4; vgl. dazu auch Kläser 2006). Akteure der Wohnbau- und Stadtpolitik versprechen sich von Baugruppenprojekten eine Belebung und Aufwertung der angrenzenden Stadtteile (Temel 2012: 23 f.). Außerdem übernehmen nachbarschaftliche Selbsthilfe-Netzwerke in Baugruppen soziale Dienstleistungen, die bislang Aufgabe des Wohlfahrtsstaats waren (ebd.: 47). Die Förderung von Baugruppen geht also Hand in Hand mit ihrer Verwertung für stadtpolitische und ökonomische Interessen. Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen wurde in der Geschichte in unterschiedlichen baulichen Maßstäben sowie basierend auf verschiedenen Intentionen umgesetzt. Mal waren es Philosophinnen und Philosophen oder Politikerinnen und Politiker, die solche Projekte vorantrieben, mal entstanden sie aus spezifischen gesellschaftlichen Bewegungen heraus. Mal waren sie »von oben« unterstützt oder gar verordnet, mal entwickelten sie sich als subversive Initiativen »von unten«. In jedem Fall sind gemeinschaftliche Wohnformen eng mit bestimmten Gesellschaftsvisionen verknüpft. Das gilt auch für die beiden als Fallstudien gewählten Projekte, die ich im Folgenden genauer vorstelle.

Die Fallstudien Die Mitbestimmungsbewegung im Wohnbau, die ab den 1970er- und insbesondere 1980er-Jahren etliche partizipative, gemeinschaftsorientierte Wohnprojekte anstößt, knüpft diskursiv mehr oder weniger explizit (Häußermann / Siebel 1999: 14; Freisitzer / Koch / Uhl 1987: 14) an die Entwicklungen der späten 1960er-Jahre an. Das legt die Verortung der Initiativen zu gemeinschaftlichem Bauen und Wohnen dieser Zeit im links-alternativen Milieu nahe. Für den Wiener Kontext gilt es hier jedoch zu differenzieren. Bestimmt spielt die von den Ideen der links-alternativen Szene getragene Wohngemeinschaftsbewegung, die auch in Wien in einem gewissen Ausmaß realisiert wird (vgl.

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Haider 1984), 7 eine Rolle bei der Suche nach neuen Wohnformen, diese kann jedoch nicht auf ein links-alternatives Milieu reduziert werden. Vielmehr werden wichtige Impulse für die Entwicklung neuer Wohnformen ab den 1970er-Jahren, etwa die Kritik an Individualisierung und Entfremdung in der Großstadt sowie die Ablehnung einer paternalistischen Haltung des Staats, sowohl von der links-alternativen Szene als auch von bestimmten kirchennahen Gruppierungen vertreten. Das »Streben nach den Idealen gemeinschaftlicher Solidarität, Natürlichkeit, Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit in einer Gruppe Gleichgesinnter« (Reichardt / Siegfried 2010: 9) ist den ansonsten mitunter sehr gegensätzliche Positionen einnehmenden Gruppierungen gemein und lässt sich als Grundlage einer allgemeinen Orientierung der frühen Wiener Wohnprojekte ausmachen. Im Vergleich zu anderen europäischen Städten sind die Hausbesetzerszene und andere politisch aktivistische Kreise im Umfeld der 68er-Bewegung in Wien verhältnismäßig schwach ausgeprägt (vgl. Freisitzer / Koch / Uhl 1987: 27; Kos 2012: 12; Nußbaumer / Schwarz 2012). Außerdem ist in der österreichischen Hauptstadt personell und institutionell eine große Nähe der Wohnprojektebewegung zur katholischen Kirche festzustellen. So ist beispielsweise einer der führenden Architekten der Bewegung, Ottokar Uhl, bekanntermaßen praktizierender Katholik und beruf lich auch im Kirchenbau tätig (vgl. Steger 2005: 61), und das von der Österreichischen Bischofskonferenz 1973 gegründete Institut für Ehe und Familie beteiligt sich in den 1970er- und 1980erJahren aktiv an Forschungsprojekten, Tagungen und Informationsveranstaltungen, die für die Konsolidierung der Bewegung eine zentrale Rolle spielen (vgl. Institut für Ehe und Familie 1990). Die ähnlichen Orientierungen bezüglich Gemeinschaftlichkeit und Solidarität dürfen allerdings nicht über die Unterschiede in den Ausrichtungen der links-alternativen und der kirchennahen Projekte hinwegtäuschen. Während die alternative Wohngemeinschaftsbewegung stark nonkonformistisch ausgerichtet ist, sich gegen die Kleinfamilie mit ihren Hierarchien und Rollenbildern richtet, gegen bürgerliche Vorstellungen von Privatheit und für eine befreite Sexualität eintritt (vgl. Reichardt 2014: 351–360; Reichardt / Siegfried 2010: 15; Reichardt 2010), wird in Publikationen innerhalb des katholischen Umfeldes die Möglichkeit des kollektiven Wohnens präsentiert, ohne die Kleinfamilie in Frage zu stellen. In klarer Abgrenzung zu den radikaler links-alternativen Initiativen wird darauf hingewiesen, dass »[n]icht jede Wohn- oder Hausgemeinschaft [...] verdächtigt werden [muß], im Geheimen eine anarchistisch-revolutionäre Kommune zu sein ...« (Klar 1988: 2). Auch die Rolle der überschaubaren Gemeinschaft ist durchaus mit unterschiedli7 Für die Entwicklung der deutschen Wohngemeinschaftsbewegung vgl. Reichardt 2014: 351–458.

Die Fallstudien

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chen Ideen besetzt: Während die sogenannte 68er-Generation in der sozialen Überschaubarkeit eine Möglichkeit sieht, die Ansprüche der Basisdemokratie umzusetzen (vgl. Reichardt / Siegfried 2010: 9) und Ideale der »Authentizität« zu leben (vgl. Reichardt 2014: 99–104), erkennt die katholische Strömung in der »Geborgenheit der Kleingruppe« (Klar 1988: 2) eine Option, die »Fähigkeit zur Nächstenliebe« (ebd.: 3) zu entwickeln, die als Voraussetzung für die Verwirklichung christlichen Lebens gesehen wird (vgl. Sauter 2011). Die beiden in der vorliegenden Studie untersuchten Projekte können gewissermaßen an den Polen dieser Ausrichtungen von gemeinschaftlichen Wohnprojekten verortet werden: Während sich das Wohnprojekt Ziegelwerk aus politisch aktivistischen Kreisen sowie der alternativen Wohngemeinschaftsbewegung heraus entwickelt, steht das Wohnprojekt Lilie als ein explizit spirituell ausgerichtetes Projekt in großer Nähe zur römisch-katholischen Kirche. 8 Das Wohnprojekt Lilie entwickelt sich im Umfeld einer katholischen Pfarre in einem der Wiener Außenbezirke. Als Motive für die Suche nach einer gemeinschaftlichen Wohnform führt der Initiator des Projekts »Überforderungserscheinungen der Kernfamilie« (Klar / Schattovits 1988a: 7) sowie die als entfremdend empfundene »Bürokratisierung der Gesellschaft« (ebd.: 9) an. Damit äußert er eine ähnliche Kritik wie die sogenannte 68er-Bewegung. Der Lösungsansatz der Initiative besteht aber nicht in der Ablehnung der Kleinfamilie, sondern in ihrer Einbettung in Netzwerke der Nachbarschaftshilfe und anderer Formen der Unterstützung (vgl. ebd.: 7–9). Von zentraler Bedeutung für das Zustandekommen des Wohnprojekts sind Tendenzen der charismatischen Gemeindeerneuerung 9 in der nahegelegenen katholischen Pfarre, die sich in der Bildung kleiner Gemeinschaften niederschlägt. Aus einem der so entstandenen Gebetskreise bildet sich 1986 eine erste Kerngruppe von Interessierten, die ihre gemeinsamen Aktivitäten intensivieren wollen. Gleichzeitig gibt es Diskussionen, was mit einem zur Pfarre gehörenden Grundstück, auf dem sich ein großer Garten und ein kleines baufälliges Gebäude befinden, geschehen soll. Neben Ideen zur Errichtung eines Pfarrzentrums wird auch vorgeschlagen, an dieser Stelle ein Wohnprojekt für Familien zu gründen (vgl. ebd.: 11–13). Die dafür interessierte Gruppe erweitert sich nach und nach auch um Personen aus anderen Pfarren der Stadt. Den konkreten Ausgangspunkt für den Beginn der Projektentwicklung markiert neben der Zusage der Pfarre, der Gruppe auf dem genannten Grundstück für 100 Jahre Baurecht zuzusichern, die Genehmigung eines vom Institut für Ehe und Fami-

8 Die Namen der beiden Wohnprojekte wurden geändert. 9 Damit ist eine konfessionsübergreifende Strömung innerhalb der christlichen Glaubensgemeinschaften gemeint, die in Österreich ab den 1970er-Jahren in Teilen der katholischen Kirche aufgegriffen wurde, vgl. https://www.erzdioezese-wien.at/pages/inst/14428925 [Zugriff am 20. 10. 2018].

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lie durchgeführten Forschungsprojekts, das die Initiative als »Modellprojekt« sozialwissenschaftlich dokumentieren soll (ebd.: 13). Bereits in der frühen Phase der Projektentwicklung werden die Kernziele des gemeinsamen Wohnens definiert. Einerseits geht es dabei um die Schaffung einer Form von Wohnraum, die gegenseitige Unterstützung sowie das gemeinsame Ausleben einer christlichen und in der Anfangszeit noch konkret katholischen Spiritualität ermöglicht (ebd.: 14). Andererseits richten sich die Intentionen auch auf Formen sozialen Engagements, die über das Haus und die eigene Gruppe hinausgehen. Dazu werden beispielsweise sogenannte »Gästewohnungen« errichtet, die temporär an als unterstützungsbedürftig angesehene Personen vergeben werden (Klar / Schattovits 1993: 75 f.). Zusätzlich verpflichtet sich die Gruppe dazu, einen Teil des Gebäudes für Aktivitäten der Pfarre zur Verfügung zu stellen sowie der Pfarre die Mitbenützung des Gartens zuzusichern (Klar / Schattovits 1988a: 167). Mit der Planung wird ein im partizipativen Wohnbau erfahrenes Architekturbüro beauftragt, das den Planungsprozess so gestaltet, dass die parallel stattfindenden Prozesse der Gruppenfindung und Festlegung von Idealen des Zusammenlebens ihren Niederschlag in der Architektur finden. Die Mitbestimmung in der Planung reicht von Entscheidungen über die Grundstruktur des Hauses, über die Art der Gemeinschaftseinrichtungen und die Grundrisse der einzelnen Wohnungen bis hin zu detaillierten Fragen der Materialauswahl. Dennoch ist die Rolle des Architekten nicht zu vernachlässigen (vgl. ebd.: 21–23). Die Mitglieder des Projekts schließen sich 1986 zu einem Verein zusammen, um einen Rechtsträger zu schaffen, der bestimmte Funktionen, etwa das Ansuchen um die Förderung als Wohnheim, übernehmen kann. Zudem fungiert der Verein bis heute als zentrales Organ zur Organisation interner Entscheidungen. Er regelt auch die Nachbesetzung von freiwerdenden Wohnungen, was das langfristige Fortbestehen des Projekts im Sinne der ursprünglichen Gruppenidee sichern soll. Das Gebäude gehört dem Verein, die Bewohner und Bewohnerinnen sind als Mitglieder des Vereins Miteigentümerinnen bzw. -eigentümer, können allerdings nicht frei über die Weitergabe bzw. anderweitige Nutzung ihrer Wohnungen verfügen. Das Resultat der Planung ist ein im Jahr 1990 fertiggestelltes L-förmiges Gebäude mit ca. 25 eigenständig funktionierenden Wohneinheiten 10 und einer großen Zahl an Gemeinschaftsräumen. Dazu gehören eine Kapelle, die für das gemeinsame Gebet genutzt wird, ein multifunktionaler Gemeinschaftsraum, in dem Sitzungen abgehalten und Feste gefeiert werden, sowie eine Gemeinschaftsküche für private Anlässe oder Sitzungen in kleinerem Rah10 Da diese immer wieder zusammengelegt bzw. abgetrennt wurden, sind genaue Angaben zur Zahl der Wohnungen nicht möglich.

Die Fallstudien

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Abb. 1: Wohnprojekt Lilie, Straßenansicht. Foto: Ana Rogojanu.

men. Außerdem finden sich im Haus sowohl ein Bewegungsraum als auch verschiedene Nutzräume, wie ein Wäscheraum, eine Sauna und eine kleine Werkstatt. Eine gemeinschaftliche Dachterrasse sowie zahlreiche kleinere Terrassen, die aufgrund ihres Zugangs sowohl vom Stiegenhaus als auch von einzelnen Wohnungen aus einen unklaren Status im Spektrum von privat bzw. gemeinschaftlich haben, sollen ebenso zu informellen Begegnungen einladen wie das großzügige Stiegenhaus. In einem Teil des Gebäudes befinden sich ebenerdig die getrennt begehbaren Räumlichkeiten der Pfarre, welche außerdem den Bewegungsraum und den großen Garten mitbenutzt. Das Wohnprojekt Ziegelwerk, das zeitlich mehr oder weniger parallel zum Wohnprojekt Lilie entsteht, knüpft an Kommunenideen im Rahmen der 68erBewegung an (Ehs 2008: 21). Seine Initiatoren und Initiatorinnen gehören politisch aktivistischen Kreisen sowie bereits bestehenden selbstorganisierten Gemeinschaftsinitiativen, wie etwa einer Kindergruppe, mehreren Wohngemeinschaften und einer Hausgemeinschaft, an (vgl. Schrage 2000). Viele zählen zur links-alternativen Szene Wiens, worauf beispielsweise die Beteiligung einiger Mitglieder an der Besetzung der Arena im Jahr 1976 verweist. Bei dieser Aktion, die von manchen als »das 1968 Wiens« betrachtet wird, versuchen die Beteiligten den Abriss eines Gebäudes des ehemaligen Schlachthofs St. Marx, der bis dahin regelmäßig für alternative Kulturveranstaltungen genutzt wird, zu verhindern (Kos 2012: 12). Andere Projektmitglieder veranstalten das »Ökodorf« im Prater mit, das 1979 vom Forum Alternativ, einem

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der Vorgänger der Partei Die Grünen, als Gegenbewegung zur zeitgleich stattfindenden UNO-Konferenz errichtet wird. Wiederum andere sind in zentralen Funktionen im Werkstätten- und Kulturhaus WUK aktiv, das 1979 mit dem »Selbstverständnis eines alternativen soziokulturellen Zentrums« (Wolfsberger 2012: 155) als Verein gegründet wird (vgl. auch Schaller 1998). Auch die Wahl des »Rotstilzchens« als Treffpunkt für die ersten Sitzungen verortet die Gruppe deutlich in der linken Szene. Von Aktivistinnen und Aktivisten des »Ökodorfes« gegründet, wird dieses »autonome Stadtteilzentrum« (Hofbauer 2012: 148) unabhängig von Subventionen durch die Gemeinde betrieben. Die Gründer und Gründerinnen des »Rotstilzchens« engagieren sich zum Teil selbst politisch und positionieren sich beispielsweise gegen die Häuserspekulation im Bezirk, darüber hinaus bieten die Räumlichkeiten unterschiedlichen alternativen Initiativen Raum zur Diskussion (vgl. Autorenkollektiv 1998). Gemäß dieser Verortung nimmt das Wohnprojekt Ziegelwerk seinen Ausgangspunkt in der Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und den damit assoziierten Wohnformen, wenngleich die Stoßrichtung eine andere ist als im Fall des Wohnprojekts Lilie: Kritisiert werden die »Restriktionen der bestehenden Gesellschaftsstruktur« (Wagner 2000: 34 f.), deren Ursprünge in der Kleinfamilie verortet werden, sowie »Konkurrenzdruck« (ebd.) und »Eigentumsfixiertheit« (ebd.) in der kapitalistischen Gesellschaft. Demgegenüber wollen die Mitglieder des Projekts in einem gemeinschaftlichen Umfeld verschiedene Lebensformen ermöglichen und im Kollektiv gesellschaftspolitische und soziale Aktivitäten entwickeln. Dabei verfolgen sie das Ziel, Impulse im Quartier zu setzen (vgl. Ehs 2008: 21–23). Motiviert ist die Gründung nicht nur durch die Aussicht auf eine Wohnform, die den eigenen Wünschen entspricht, sondern auch breiter, durch den Wunsch andere gesellschaftliche Modelle zu erproben (vgl. Wagner 2000: 34). Eine erste Kerngruppe, die sich in verschiedenen Etappen immer wieder erweitert und dann auch wieder verkleinert, trifft sich regelmäßig ab 1986, um die Ideen für das gemeinsame Wohnen zu konkretisieren. Nach anfänglichen Diskussionen über den Standort, bei denen sich diejenigen durchsetzen, die für eine Lage innerhalb der Stadt plädieren, machen sich diese auf die Suche nach einem ungenutzten Fabrikgebäude, das sie den eigenen Wünschen entsprechend umbauen wollen. Dieses Vorhaben entspricht der deklarierten Nähe zur Arbeiterschaft und einer damit einhergehenden ästhetischen Präferenz (ebd.). Schließlich wird die Gruppe in einem der Wiener Außenbezirke fündig und kauft 1989 ein ehemaliges Ziegelwerk, das dem Wohnprojekt letztlich seinen Namen gibt (ebd.: 45 f. und 79). 11

11 Der Name und der Zweck des Fabrikgebäudes wurden für diese Publikation verändert.

Die Fallstudien

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Gemeinsam mit einem Architekturbüro wird basisdemokratisch und partizipativ ein Plan für den Umbau des Ziegelwerks entwickelt, der vorsieht, die ursprünglichen Raumhöhen der Fabrikshallen beizubehalten und auf einem Teil der Flächen Galerien einzuziehen, um einerseits niedrige Schlafund Nutzräume und andererseits einen großzügigen Wohnraum zu errichten. Aufgrund baurechtlicher Komplikationen verzögert sich jedoch der Baubeginn und letztlich befindet sich die Bausubstanz in einem derart schlechten Zustand, dass die Gruppe sich für einen Neubau entscheidet. In der Neuplanung wird die an die Raumhöhen der alten Fabrik angepasste Grundstruktur des Gebäudes beibehalten (vgl. ebd.: 47–49). Organisatorisch sind die Mitglieder des Wohnprojekts in einem Verein zusammengefasst. Dieser spielt zumindest in der Anfangszeit keine besondere Rolle für interne Entscheidungen, die basisdemokratisch im Konsens getroffen werden. Er fungiert vor allem als Rechtsträger nach außen hin. Eine intern bedeutende Rolle spielt der Verein zunächst lediglich für die Eigentumsverhältnisse, denn auch im Fall des Wohnprojekts Ziegelwerk ist der Verein der Eigentümer des Gebäudes. Wohnungsinteressentinnen und -interessenten müssen von der Gruppe befürwortet werden, was das langfristige Fortbestehen der Projektidee trotz wechselnder Besetzung sichern soll (vgl. Ehs 2008: 27–29; Wagner 2000: 93). Das 1996 fertiggestellte Gebäude ist ein Komplex aus mehreren Baukörpern, zwischen denen sich Höfe eröffnen. Die Wohnungen werden von der Außenseite der Gebäude über Laubengänge erschlossen. Auffällige Merkmale der Architektur sind neben der orangen Farbe der Anlage die großflächigen Verglasungen, die den Blick in Wohnräume, Badezimmer oder Küchen freigeben. Insgesamt umfasst das Wohnprojekt Ziegelwerk ca. 75 Wohnungen, die ebenso wie im Fall des Wohnprojekts Lilie als unabhängige Wohneinheiten funktionieren können, also mit eigener Küche und eigenem Badezimmer ausgestattet sind. Zusätzlich gibt es zwei von Beginn an als solche konzipierte und entsprechend geplante Wohngemeinschaften, von denen eine als WG für Menschen mit Behinderungen geführt wird, die so in das Gemeinschaftsleben integriert werden, was dem Anspruch des sozialen Engagements der Gruppe entspricht. Außerdem sind rund um das Haus viele gemeinschaftliche Freiräume zu finden: die Höfe, ein Kinderspielplatz sowie eine begrünte Dachterrasse (vgl. Krosse 2005: 177–188). Weitere Gemeinschaftseinrichtungen unterstützen die sozialen, politischen und künstlerischen Aktivitäten der Gruppe: Es gibt Seminar- und Veranstaltungsräume sowie ein (halb-)öffentliches Badehaus, einen reformpädagogisch orientierten Kindergarten und ein Beisl. Diese Einrichtungen decken einerseits Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner ab, wenden sich zugleich aber auch an ein externes Publikum. Im Jahr 2000 wird in unmittelbarer Nähe zum Ziegelwerk ein Folgeprojekt mit 43 Wohneinheiten errichtet, das ebenfalls vom gleichen Verein betrieben

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Kontexte

Abb. 2: Wohnprojekt Ziegelwerk: Der Teich über dem Badehaus bildet das Zentrum des Wohnprojekts. Foto: Ana Rogojanu.

wird und gewissermaßen eine Erweiterung des Wohnprojekts darstellt (Ehs 2008: 87). Neben den organisatorischen Zusammenhängen pflegen die beiden Häuser Kontakte im Wohnalltag durch die gegenseitige Mitnutzung der Gemeinschaftsräume. In Fragen, die das unmittelbare nachbarschaftliche Zusammenleben betreffen, funktionieren die Projekte aber voneinander getrennt.

Die Fallstudien

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GEMEINSAM HAUS BAUEN: ZUR MATERIALISIERUNG VON AUSHANDLUNGSPROZESSEN In weiten Teilen der Architekturproduktion erfolgt die Planung losgelöst von den späteren Nutzern und Nutzerinnen. Diese nicht selten durch ein hierarchisches Verhältnis gekennzeichnete Differenz zwischen den Akteuren und Akteurinnen der Raumproduktion im Sinne der Konzeption und Errichtung von gebauten räumlichen Strukturen und jenen der Raumaneignung im Sinne des alltäglichen Agierens in und Transformierens von gebauten Räumen steht in Zusammenhang mit der Entwicklung eines bestimmten Typus des modernen Wohnens (Häußermann / Siebel 2000: 23). Sowohl innerhalb der Sozialals auch der Planungswissenschaften wird dieses Planungsmodell, in dem Architekten und Architektinnen sowie Stadtplaner und Stadtplanerinnen ihren Vorstellungen materielle Gestalt verleihen und so das öffentliche Stadtleben ebenso wie die privaten Alltage der Bewohner und Bewohnerinnen mitformen, zunehmend als machtvolles Instrument der Steuerung betrachtet und in seiner gesellschaftlichen Rolle kritisch bewertet (vgl. Lefebvre 1972, Lefebvre 1991; Lange / Saiko / Prasenc 2013; Altrock / Grischa 2012). Studien, die einen Fokus auf die Aneignung von architektonischen Räumen legen, betonen hingegen stärker die Spielräume der Nutzer und Nutzerinnen in ihrem Umgang mit Architektur, der sich oftmals von der Vision der planenden Akteure und Akteurinnen unterscheidet (vgl. Attfield 1999; Hill 1998; Lauer 1990; KatschnigFasch 1998: 287–307). In beiden Fällen bildet die Trennung zwischen Planung und Aneignung die Grundlage des Nachdenkens über Architektur und Raum (vgl. Kamleithner 2013b: 378). Diese Perspektive greift für die Betrachtung von gemeinschaftlichen und partizipativen Wohnprojekten zu kurz, denn in dieser Konstellation sind die zukünftigen Nutzer und Nutzerinnen am Planungsprozess beteiligt und bestimmen in erheblichem Ausmaß mit, wie ihre zukünftigen Wohnräume aussehen. Ihre Visionen des (Zusammen-)Lebens wie auch ihre ästhetischen Präferenzen fließen also in die Konzeption des gebauten Raumes ein. Dies ist eine ähnliche Situation wie bei der Planung von Einfamilienhäusern, wenn die zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen als Bauherren agieren. Das gemeinschaftliche Bauen und Wohnen unterscheidet sich davon insofern, als Visionen des guten Wohnens in einer größeren Gruppe ausgehandelt werden müssen. Dazu werden meist gemeinsame Organisationsstrukturen entwickelt, welche die Grundlage von Planungsentscheidungen bilden und gemeinschaftliches Wohnen erst ermöglichen. Wie bei vergleichbaren Projekten sind auch in den beiden hier untersuchten Fallstudien Gemeinschaftsverständnis und partizipative Planung eng mitein-

ander verknüpft. Beide Gruppen zielen explizit darauf ab, neue Wohnformen zu entwickeln. Die Projektbeteiligten betonen diesbezüglich die Bedeutung der Architektur. Damit geht eine selbstbewusste Abgrenzung von dem zuvor genannten, als konventionell verstandenen Planungsmodell einher. So beschreibt beispielsweise der Initiator des christlichen Wohnprojekts das Mitplanen der zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen als grundlegende Voraussetzung für eine »soziale Innovation« (Klar / Schattovits 1988a: 12). Auch für das linksalternative Wohnprojekt war klar, dass die selbstbestimmte Planung dazu beitragen sollte, Alternativen zu einem auf Kleinfamilien zugeschnittenen Wohnungsangebot zu entwickeln (vgl. Wagner 2000: 35–37). Das Ziel dieses Abschnitts ist es nachzuvollziehen, welche spezifischen Dynamiken sich durch diese Kombination aus Selbstorganisation und Partizipation für den daraus entstehenden Wohnraum in den beiden fokussierten Fallbeispielen ergeben. Dafür arbeite ich zunächst aus den aktuellen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten zu gemeinschaftlicher Selbstorganisation wesentliche Fragen heraus, die für das Verständnis des gemeinschaftlichen Bauens und Wohnens relevant sind, und untersuche im Anschluss daran, wie gemeinschaftliche Selbstorganisation jeweils umgesetzt wurde. Anschließend erörtere ich Tendenzen und Strömungen der Partizipationsdiskussion seit den 1970er-Jahren und stelle die konkreten Erfahrungen des partizipativen Planens in beiden Projekten dar. Ein drittes Kapitel widmet sich der Frage, welche Folgen die Materialisierung dieser Aushandlungsprozesse langfristig für die Selbstverständnisse der Akteure und Akteurinnen sowie für ihre Beziehungen zueinander hat und in welchem Verhältnis die Dynamik der Gruppenentwicklung sowie die Beständigkeit des Hauses zueinander stehen.

»Gemeinschaft« strukturieren, organisieren und verwalten Die wissenschaftliche sowie politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Formen gemeinschaftlicher Organisation sowie kollektiver Verwaltung von Gütern hat historisch gesehen verschiedene Konjunkturen durchlaufen. Wissenschaftliche Diskurse und praktische Initiativen waren und sind dabei stets eng verwoben. Der Begriff Gemeinschaft ist geprägt durch die Arbeiten des Soziologen Ferdinand Tönnies, der diesen erstmals Ende des 19. Jahrhunderts vom Konzept der Gesellschaft abgrenzt, um verschiedene Formen sozialer Organisation zu beschreiben (Tönnies 1887). Während gemeinschaftliche Beziehungen auf einer geteilten »Sinnvorstellung« beruhen, die Menschen darin also »im Wesentlichen vereint« seien, würden gesellschaftliche Beziehungen zweckorientiert funktionieren und seien »durch das Interesse an spezifischen Ressourcen motiviert«, wie der Soziologe Thomas Dierschke die Position von Tönnies zusammenfasst (Dierschke 2006: 78 f.). In einem Prozess der Ratio-

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Gemeinsam Haus bauen: Zur Materialisierung von Aushandlungsprozessen

nalisierung würden im Zuge der historischen Entwicklung gemeinschaftliche Formen zunehmend von gesellschaftlichen abgelöst (vgl. Zimmermann 1991: 61, dazu auch Häußermann / Siebel 2004: 104). Tönnies’ Überlegungen bilden die Grundlagen für spätere Interpretationen von Gemeinschaft als authentische, emotionale Verbindung. Die wertenden Begriffe, mit denen er diese Transformation beschreibt – vom »Organismus« bzw. »natürlichen Ganzen« (Tönnies 2012: 125) hin zum »anorganische[n] Aggregat sowie [...] mechanische[n] Artefakt« (ebd.: 101) –, legen seine deutliche Präferenz für Gemeinschaft in Opposition zu Gesellschaft nahe (vgl. dazu auch Kerbs / Linse 1998: 162), wiewohl diese Rezeption keineswegs unumstritten ist (vgl. Breuer 2002: 354 f.). Die positiven Konnotationen, die Tönnies dem Gemeinschaftsbegriff anheftet, machen seine Theorie für verschiedene Gemeinschaftsideologien anschlussfähig. Obwohl Tönnies klar seine Ablehnung des Nationalsozialismus zum Ausdruck bringt (vgl. Zimmermann 1991: 41; Gertenbach u. a. 2010: 43), wird sein Konzept der Gemeinschaft zum Grundstein der sich nach der Machtübernahme durch Hitler neu konstituierenden »deutschen Soziologie« (Breuer 2002: 354). Ebenso decken sich Tönnies’ Überlegungen zu Gemeinschaft und Gesellschaft weitgehend mit den Ansätzen der eher modernisierungskritischen und an bäuerlichen Lebenswelten interessierten Volkskunde des frühen 20. Jahrhunderts, und so wird dieser, wie der Volkskundler HarmPeer Zimmermann es formuliert, »zu einem der bedeutendsten Impulsgeber für unser Fach« (Zimmermann 1991: 44). Die Modernisierungskritik um 1900 und die damit einhergehende Aufwertung von Gemeinschaft ist keineswegs nur eine wissenschaftliche Tendenz. Vielmehr kann diese als allgemeine »geistige Strömung« (ebd.: 46) der Zeit gesehen werden, die sich auch in gesellschaftlichen und politischen Initiativen äußert. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen beispielsweise Genossenschaften, die auf gemeinsames Wohnen und Wirtschaften ausgerichtet sind und, wie die Historiker Diethart Kerbs und Ulrich Linse schreiben, der »als zu kalt, zu anonym, zu feindselig empfundenen modernen Gesellschaft« eine »emotional überhöhte Gemeinschaft« entgegensetzen wollen (Kerbs / Linse 1998: 157). Dennoch sind die einzelnen Gruppen in Hinblick auf ihre Ziele und ihr Verständnis von Gemeinschaft deutlich zu differenzieren. In ihrer bürgerlichen Ausprägung dienen Genossenschaften zunächst oftmals der Nutzenmaximierung für die einzelnen Mitglieder, während die stärker sozialistisch geprägten und später auch direkt mit der Arbeiterbewegung verbundenen Genossenschaften auch weiterführende politische Ziele verfolgen (vgl. Möller 2015: 19). Bei Letzteren handelt es sich einerseits um ländliche Siedlungsgenossenschaften, die von den Ideen utopischer Sozialisten geprägte alternative Lebenskonzepte erproben wollen und dabei häufig »romantisierende Bezüge zum ländlich-bäuerlichen Leben« (ebd.: 54) aufweisen. Andererseits entwickeln sich städtische Spar- und Bauvereine, die mit sozial-

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reformerischen Absichten Siedlungen mit zahlreichen Gemeinschaftseinrichtungen errichten, um Gefühle des Zusammenhalts in der Arbeiterschaft zu fördern (vgl. ebd.: 52; Blau 1999: 110–115; Novy / Förster 1991: 89–95). Im Unterschied zu den Vorstellungen einer vergangenen bzw. vergehenden Gemeinschaft, die im Sinne Tönnies’ auf einem gemeinsamen Set an Erfahrungen und Traditionen gründet (vgl. Dierschke 2006: 77 f.), beginnt sich in der Praxis also ein Konzept durchzusetzen, das Gemeinschaft als aktiven Zusammenschluss und Ergebnis gemeinsamen Handelns begreift. 1 Ganz im Unterschied zu späteren ideologischen Rückgriffen auf ein statisches, die Herkunft betonendes Gemeinschaftskonzept, wie etwa im Nationalsozialismus, können diese genossenschaftlichen Zusammenschlüsse bereits als eine frühe Form von sogenannten intentionalen Gemeinschaften gesehen werden, wie sie insbesondere ab den 1960er-Jahren in Form von Kommunen als freiwillige Zusammenschlüsse zu beobachten sind (vgl. Andreas 2015: 68–70). Die oben angesprochene ideologische Vereinnahmung des Gemeinschaftsbegriffs bewirkt, dass sich im deutschsprachigen Raum die sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, darunter die Soziologie und die Volkskunde, nach dem Zweiten Weltkrieg vom Konzept der Gemeinschaft distanzieren (vgl. Grundmann 2006: 9 f.; Zimmermann 1991: 51–55). Anders sieht es im englischsprachigen Kontext aus, wo das Konzept der community seit den Forschungen der Chicago School in den 1920er-Jahren insbesondere zur Beschreibung urbaner nahräumlicher Sozialsysteme dient und weniger ideologisch belastet ist (vgl. Amit 2002: 2). 2 Wie die Soziologin und Anthropologin Vered Amit konstatiert, kommt es insbesondere ab den 1980er-Jahren seitens der anthropologischen Disziplinen zu einer Neukonzeptualisierung von community, die stärker an Implikationen des deutschen Gemeinschaftsbegriffs erinnert: »[...] a marked shift away from community as an actualized social form to an emphasis on community as an idea or quality of sociality« (Amit 2002: 3). Dies habe zur Betonung einer Vorstellung von kollektiver Identität gegenüber der konkreten sozialen Interaktion geführt (ebd.: 3), wie beispielsweise in Benedict Andersons Konzept der imagined communities (Anderson 1983) deutlich wird. Jüngere Arbeiten sowohl aus der englischsprachigen als auch der deutschsprachigen Soziologie und Anthropologie rücken unterschiedlichste Formen von community in den Fokus, deren Basis auch ein situativ begrenzter Interessens- bzw. Erfahrungsrahmen sein kann, etwa ein Sportklub oder eine Selbsthilfegruppe. Unter dem Schlagwort der »posttraditionalen Vergemeinschaftung« werden die Freiwilligkeit und Fluidität des Zusammenschlusses

1 Solche »selbstorganisierte genossenschaftliche Vergesellschaftungsformen« sieht Tönnies gewissermaßen als Synthese von Gemeinschaft und Gesellschaft in einem »dritten Zeitalter« vor; Drucks 2006: 48. 2 Vered Amit nimmt dabei Bezug auf Hannerz 1980 sowie Park 1925 und Wirth 1938.

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betont (vgl. Gertenbach u. a. 2010: 61 f.; Andreas 2015: 68). Diese Adaptionen des Konzepts der Gemeinschaft sind als Reaktion auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu sehen. Dabei geht es neben den oben angesprochenen fluiden, situativen Zusammenschlüssen auch um sogenannte intentionale Gemeinschaften, ganz allgemein definiert als »örtlich gebundene Lebens- und Arbeitszusammenhänge [...], deren Mitglieder sich untereinander eine gemeinschaftliche Verbundenheit wünschen« (Dierschke 2006: 88). Im Zuge von Forschungen zu Kibbuzim und Cohousing-Projekten, Ökodörfern oder genossenschaftlichen Lebens- und Arbeitsformen (vgl. Dierschke / Drucks / Kunze 2006: 102) verändern sich den Phänomenen entsprechend auch die Konzepte von Gemeinschaft. Aus handlungstheoretischer Perspektive liegt der Fokus nun auf »Prozesse[n] der Vergemeinschaftung« (Grundmann 2006: 23). Die zentrale Frage ist, »wie sich soziale Gemeinschaften über gemeinsame Handlungs- und Wertorientierungen und das Maß alltagspraktischer Handlungsbezüge konstituieren und das Zusammenleben organisieren« (ebd.: 11). Motive des Zusammenschlusses, die Gestaltung der Sozialbeziehungen und die Organisation des Alltags bilden dabei wichtige Themenkomplexe (ebd.: 21). Die Begriffe der Gemeinschaft, der Gemeinschaftlichkeit und der Vergemeinschaftung sollen in diesem Kapitel nicht als analytische Kategorien zur Charakterisierung einer bestimmten Form sozialer Kontakte, etwa im Sinne einer »thick version of community« (Amit 2002: 4), verwendet werden. Stattdessen fungieren sie zum einen als bedeutungsoffene Kategorien im Sinne einer Hilfskonstruktion zur Beschreibung eines zunächst nicht näher definierten Zusammenschlusses von Menschen, zum anderen als emische Kategorien, in denen sich das Selbstverständnis der Gruppenmitglieder ausdrückt. Dabei gibt es zwischen beiden Projekten signifikante Unterschiede im Umgang mit den Begriffen. In den Interviews mit Bewohnern und Bewohnerinnen des christlichen Wohnprojekts ist Gemeinschaft ein häufig und selbstverständlich verwendeter Begriff. Das für die Gruppe grundlegende Gemeinschaftsverständnis wird zum Teil theologisch hergeleitet und in der spezifischen religiösen Ausrichtung des Projekts verankert (vgl. Sauter 2011). Im links-alternativ ausgerichteten Wohnprojekt Ziegelwerk spielt das Konzept der Gemeinschaft ebenfalls eine Rolle, allerdings mit anderen Bezügen: So beschreibt etwa ein in einer anderen Forschungsarbeit zitierter Bewohner seine »ideologischen Ansprüche« als »sozialistische Tendenz mit dem Ziel der ›Vergemeinschaftung‹« (Wagner 2000: 98). In den von mir geführten Interviews wird allerdings eher selten von Gemeinschaft gesprochen, häufiger sind die Begriffe Gruppe, Kollektiv und Gemeinwesen. In der Europäischen Ethnologie erfolgt die Auseinandersetzung mit selbstbestimmten Formen gemeinschaftlicher Organisation derzeit vor allem über die Rezeption der gesellschaftlichen und politik- bzw. wirtschaftswissenschaftlichen Debatte um Commons, Allmenden oder Sharing Economy, die den Fokus

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auf die gemeinschaftliche Verwaltung und Nutzung von Gütern legt. 3 Das Interesse gilt dabei sowohl historischen, teilweise von der Volkskunde intensiv untersuchten Formen, wie etwa der gemeinschaftlich organisierten Almwirtschaft (vgl. Kramer 2012: 272; Kühberger 2015), als auch neuen Phänomenen, wie Couchsurf ing (vgl. Richter-Trummer 2015), Kleidertauschinitiativen (vgl. Derwanz 2015), Open Source Software oder Gemeinschaftsgärten (vgl. Müller 2011). Diese Bandbreite der untersuchten Phänomene spiegelt die Unschärfe der verwendeten Begriffe wider. 4 Zentral ist im Modell der Commons, dass die Regeln ihres Gebrauchs von den Nutzern und Nutzerinnen selbst ausgehandelt werden, oft basierend auf miteinander geteilten Werten und Normen (vgl. Quilligan 2012: 99; Meretz 2012: 62). Um konkrete Fragestellungen entwickeln und die je spezifischen Dynamiken von Gemeinnutzen fassen zu können, ist es notwendig zu unterscheiden zwischen natürlichen Ressourcen oder vom Menschen hergestellten Gütern, zwischen erschöpfbaren Ressourcen, die nur von einer begrenzten Zahl von Menschen in begrenztem Ausmaß genutzt werden können, und solchen, deren Nutzbarkeit unbeschränkt ist. Auch aus der Frage der Zugänglichkeit der Ressourcen ergeben sich wichtige Dynamiken für die Funktionsweisen von Commons (vgl. Rogojanu 2015a: 178). Als Commons können die Wohnprojekte der 1980er-Jahre in zweifacher Hinsicht gesehen werden. Zum einen entsteht im Zuge des gemeinsamen Planungsprozesses ein konkretes Gut, nämlich ein Gebäude, das sich in kollektivem Besitz befindet und von den Mitgliedern der Gruppe gemäß bestimmten, gemeinsam ausgehandelten Regeln genutzt wird. Das Wohnhaus ist eine Form von Commons, die nur begrenzt nutzbar und durch klar definierte Zugangsregeln gekennzeichnet ist. Zum anderen waren und sind solche Projekte von Idealen der gegenseitigen Unterstützung sowie des sozialen Engagements und der Gemeinnützigkeit getragen, wodurch neben der materiellen auch eine soziale Ressource entsteht, die von den Mitgliedern der Gruppe immer wieder neu hergestellt werden muss (vgl. ebd.: 181 f.). Angelehnt an die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zu intentionalen Gemeinschaften und Commons stehen bei der Untersuchung der gemeinschaftlichen Organisationsformen der beiden Fallstudien folgende Fragen im Fokus: Wie konstituieren sich die Gruppen? Auf welche Gemeinsamkeiten greifen sie zurück und wie werden diese weiterentwickelt? Wie werden Fra-

3 Mit Dieter Kramers Beitrag dazu in der Zeitschrift für Volkskunde 2012 sowie dem Themenheft »Allmende« der Zeitschrift kuckuck Anfang 2015 und dem Themenheft »Teilen« der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde Ende 2015 zeichnet sich ab, dass es sich bei diesem Thema jedenfalls um eines der aktuellen Interessensgebiete der Europäischen Ethologie handelt; Kramer 2012, kuckuck 2015, Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 2015. 4 Für einen Versuch der Begriffsklärung vgl. Kramer 2015.

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gen der Inklusion und Exklusion von den Gruppenmitgliedern dabei selbst thematisiert und reflektiert? Durch welche formalen Organisationsprinzipien und durch welche informellen Regeln und Praktiken des commoning (Meretz 2012: 60) zeichnen sich die Projekte aus? Wie reflektieren die Gruppenmitglieder die Rolle Einzelner und ihr Verhältnis zueinander? Welche Hierarchien und Kräfteverhältnisse treten darin zutage? Die beiden fokussierten Wohnprojekte können zudem als spezifische Formen von Gruppierungen mit bestimmten Merkmalen gemeinschaftlicher Gebilde betrachtet werden. Sie sind, so wie dies für posttraditionale Formen der Vergemeinschaftung als kennzeichnend konstatiert wird, freiwillige Zusammenschlüsse (vgl. Gertenbach u. a. 2010: 61 f.). Darauf verweisen die Bilder des frei gewählten Dorfes (Wagner 2000: 84) oder der frei gewählten Großfamilie (vgl. Klar / Schattovits 1988a: 31), die von Mitgliedern der Projekte selbst in ihrer Außendarstellung gewählt werden. Bau- und Wohngruppen sind als (verhältnismäßig lose) Formen intentionaler Gemeinschaften 5 zu sehen, die in der Definition des Ethnologen Marcus Andreas »den bewussten Versuch [bezeichnen], ein gemeinsames Leben zu führen – alternativ zu den gegebenen Verhältnissen« (Andreas 2015: 71). In der Tat verstehen sich beide Projekte als Gegenentwürfe zu bestimmten, allerdings unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen. Während das eine Projekt Individualisierungstendenzen im urbanen Umfeld kritisiert, richtet sich das andere gegen kapitalistische Entwicklungen und Wettbewerbsorientierung als Ursachen schwindender Solidarität, ebenso wie gegen die hierarchisierenden Effekte der bürgerlichen Kleinfamilie. Es handelt sich also um gesellschaftskritische Initiativen aus unterschiedlichen sozialen Umfeldern, wie die Entstehungskontexte der beiden Gruppierungen zeigen. Das Wohnprojekt Lilie nahm seinen Ausgangspunkt in der Initiative einiger Mitglieder einer Pfarre, die den Kontakt untereinander über die bis dahin bestehenden Gebetskreise hinaus intensivieren wollten und die Idee für ein Wohnprojekt entwickelten (Klar / Schattovits 1988a: 11–13). Nach und nach wurde diese Kerngruppe über persönliche Bekanntschaften, Annoncen in Tages-, Bezirks- und Kirchenzeitungen sowie über in Pfarren verteilte Informati5 Häufig werden in Studien zu Ökodörfern oder Landkommunen Formen intentionaler Gemeinschaften untersucht, die auf ein verhältnismäßig umfassendes Teilen des Lebens abzielen und beispielsweise Wohnen und »gemeinschaftliches Haushalten« (Grundmann 2011: 281) miteinander verbinden. Die untersuchten Wohnprojekte gehören daher im Vergleich zu den eher losen Zusammenschlüssen, in denen die Gemeinschaft das Wohnen und Teile der Freizeitbeschäftigung umfasst, nicht aber das Arbeitsleben oder das individuelle Wirtschaften der einzelnen Haushalte – eine Ausrichtung, für die sich beide Projekte bewusst in Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften entschieden haben. Für eine Übersicht zur Bandbreite intentionaler Gemeinschaften vgl. Grundmann 2006: 21 f.

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onsblätter auf etwa zwanzig Erwachsene mit etwa zehn Kindern erweitert, die einen Verein gründeten und gemeinsam die wesentlichen Planungsentscheidungen trafen. 6 Während die für den Gruppenfindungsprozess zentrale katholische Orientierung nach außen hin homogen erscheinen mag, werden innerhalb des Projekts die Differenzen unterschiedlicher Ausrichtungen des Katholizismus betont. Ein Bewohner, der so wie mehrere andere Theologie studiert hat, spricht diesbezüglich von einem Spektrum, das von »sehr marianisch«, also eher »traditionellen Gedanken« anhängend, über Personen mit charismatischem Hintergrund, die den Erneuerungsbewegungen in der katholischen Kirche nahestanden, bis hin zu evangelischen und freikirchlichen Formen von Spiritualität reichte. Letzteren öffnete sich die Gruppe im Laufe der Jahre nach der Errichtung des Gebäudes. Manche empfinden diese »Vielfalt« als Bereicherung und bewerten es als positiv, dass die »katholische Ausrichtung der Gemeinschaft aufgebrochen« worden sei. Andere wiederum würden sich eine »größere geistliche Gemeinsamkeit [...] mit der notwendigen Ernsthaftigkeit« wünschen. Ein Bewohner mit theologischem Hintergrund spricht beispielsweise davon, dass es notwendig wäre, erst einen »gemeinsamen spirituellen Boden« zu schaffen und über die Anerkennung der einzelnen Ausrichtungen hinaus die »geistliche Vielfalt« »aufzuschließen«. Der Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit in der religiösen Praxis wird insbesondere von jenen geäußert, die auf Basis eines Theologiestudiums sowie entsprechender beruf licher Tätigkeiten auch theoretische Bezüge zum Katholizismus haben. Umgekehrt finden sich unter jenen, die den Wert der Heterogenität betonen, ohne eine stärkere gemeinsame Perspektive einzufordern, vorwiegend (aber nicht ausschließlich) Personen, deren Bezüge zum Glauben und zur Kirche sich aus einer persönlichen, außerhalb des Berufs gelebten religiösen Praxis speisen. Ähnlich wie sich die Mitglieder des Wohnprojekts Lilie ihrer weltanschaulichen Orientierung entsprechend in einem mehr oder weniger überschaubaren sozialen Setting zusammenfanden, rekrutierten sich auch die anfänglichen Interessenten und Interessentinnen des Wohnprojekts Ziegelwerk aus einer spezifischen Bewegung. Es handelt sich um Menschen, die regelmäßig in den politisch eher links orientierten, alternativkulturellen Lokalen der Stadt verkehrten, die ihre Kinder in selbstorganisierte Kindergruppen und Alternativschulen schickten und die in vielen Fällen in Wohngemeinschaften lebten – eine Wohnpraxis, die in den 1980er-Jahren noch deutlich mit einer alternativkulturellen Szene assoziiert war (vgl. Breuss 2012: 39). Dabei lassen sich drei Kerngruppen ausmachen, die zunächst einzeln nach alternativen Wohn6 Von diesen spreche ich im Folgenden als Gründungsgruppe. Wenn ich mit Blick auf das Wohnprojekt Lilie von der Kerngruppe spreche, dann meine ich jene Gruppe aus der Pfarre, die erstmals die Idee entwickelte, ein Wohnprojekt zu realisieren.

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lösungen suchten und sich schließlich, über den Architekten vermittelt, zu einer größeren Gruppe zusammenschlossen, die einen Verein gründete, Ideen konkretisierte und schließlich das alte Fabrikgebäude erwarb. Erweiterungen dieser Gruppe fanden in erster Linie über persönliche Kontakte statt (vgl. Wagner 2000: 42). Die Gemeinsamkeiten dieser Gründungsgruppe, wie ich sie nenne, 7 werden von den Mitgliedern selbst mehr oder weniger explizit reflektiert: Es ist häufig die Rede davon, dass man Leute »lustigerweise« ohnehin aus anderen Zusammenhängen kannte. In einem von dem Volkskundler Lorenz Wagner im Rahmen seiner Diplomarbeit geführten Interview beschreibt ein Bewohner das Wohnprojekt als selbstgewähltes Dorf, in dem es »gewisse weltanschauliche und moralische Übereinstimmungen« (ebd.: 84) gebe. Von anderen Mitgliedern wird die Frage des Dazupassens auf einer alltagspraktischen Ebene, zum Beispiel mit Blick auf eine ähnliche Kultur des Feierns oder auf eine gewisse Toleranz gegenüber den Aktivitäten anderer, diskutiert: Natürlich sind auch Menschen abgelehnt worden. Man hat schon geschaut, ob es irgendwie zusammenpasst, und man wollte Verschiedenes und doch Gleiches. Es ist schon eher eine homogene Gruppe. Also es war schon der Wunsch da, dass, wenn eine gemeinsame Aktion auf dem Gelände stattfindet, alle dafür sind und sich nicht beschweren: ›Hey, was macht ihr da für einen Lärm!‹

Neben den grundlegenden Übereinstimmungen zwischen den Gruppenmitgliedern betonen Gesprächspartnerinnen und -partner in den Interviews auch Differenzierungen innerhalb der Gruppe, die auf unterschiedlichen Vertrautheitsgraden basieren. Für die soziale Dynamik war insbesondere während der ersten Phase des Projekts prägend, dass sich nicht nur Einzelpersonen und Paare der Gruppe anschlossen, sondern auch mehrere Wohngemeinschaften und eine Hausgemeinschaft. Eine ehemalige Mitbewohnerin dieser Hausgemeinschaft erinnert sich, dass diese in der Gruppe gewissermaßen als »mächtiger Faktor« gesehen wurde. Die Teilnahme einer relativ großen und relativ stabilen Gruppe, die bereits Routinen des Zusammenlebens entwickelt hatte, war nicht unumstritten. Eine andere Bewohnerin, die selbst nicht Teil der Hausgemeinschaft war, erinnert sich beispielsweise, dass sich die bestehende Gruppe erst mit dieser »zusammenraufen« musste. Beim Kauf des Grundstücks setzte sich die Gruppe nach einer Phase großer Fluktuation schließlich aus etwa dreißig Erwachsenen zusammen. Mit der Wahl der ehemaligen Ziegelfabrik als Wohnort war bereits klar und erwünscht, dass das Projekt letztlich eine wesentlich größere Gruppe, nämlich über 100 Bewohner und Bewohnerinnen 7 Wenn ich mit Blick auf das Wohnprojekt Ziegelwerk von Kerngruppen spreche, dann meine ich jene Gruppen, die sich bereits vor dem eigentlichen Beginn des Projekts gebildet hatten. Mit Gründungsgruppe meine ich im Fall dieses Projekts jene Gruppe, die 1989 das Grundstück erwarb.

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in circa siebzig Wohneinheiten, umfassen würde. Etliche der von mir interviewten Personen beschreiben die große Bewohnerinnen- und Bewohnerzahl als Vorteil, weil dadurch Konflikte zwischen einzelnen Beteiligten weniger Gewicht erhalten. 8 Hinsichtlich Alter, Familiensituation und sozialer Positionierung verfolgten die Gründungsgruppen beider Projekte das Ziel einer möglichst großen Vielfalt. Im Wohnprojekt Lilie stand dabei insbesondere die Ausgewogenheiten der Altersstruktur im Vordergrund, die die »Erneuerung der Gemeinschaft« gewährleisten sollte, wie etwa ein pensionierter Lehrer erzählt, der von Anfang an in das Projekt involviert war. Diese Vielfalt sei aber nur teilweise realisiert worden. Anfangs zogen besonders viele Familien zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig sowie alleinstehende Frauen um die sechzig ins Haus ein, darunter insgesamt überdurchschnittlich viele Akademiker und Akademikerinnen, insbesondere Lehrer und Lehrerinnen (vgl. Klar / Schattovits 1988b: 3–5). Die Zusammensetzung der Gruppe wird unter den Bewohnerinnen und Bewohnern kontrovers diskutiert. Während manche sich insbesondere mit Blick auf die Alters- und Sozialstruktur mehr Heterogenität wünschen, empfinden andere diese als Herausforderung für die Entwicklung einer gemeinsamen Ausrichtung des Projekts. Angesichts der »Bandbreite« an Personen und Positionen könne man es nie allen »recht machen«, wie eine nach der Errichtung des Hauses eingezogene Bewohnerin berichtet, die sich besonders dafür einsetzt, neue gemeinsame Ideen für gemeinschaftliches Engagement zu entwickeln. Im Wohnprojekt Ziegelwerk lag der Fokus stärker auf einem Ideal sozialer Durchmischung, das in manchen Interviews durch den Verweis auf den Wunsch nach Leuten mit verschiedenen Berufen, etwa Koch, Künstler, Tischler, ausgedrückt wird. Dies sei jedoch schwer umzusetzen, denn manche Personen würden diese Wohnform ablehnen, weil sie »nicht dauernd diskutieren« wollen. Letztlich gibt es wie auch im Wohnprojekt Lilie einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Akademikern und Akademikerinnen, vor allem Lehrern und Lehrerinnen (vgl. Wagner 2000: 69; Schrage 2000: 214). Die starke Homogenität hinsichtlich sozialer Position und politischer Orientierung reflektieren die Projektbeteiligten einerseits kritisch, andererseits aber auch als Erleichterung in vielen Bereichen. Die Entstehungskontexte der beiden Projekte verdeutlichen, dass die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln ist. Es handelt sich um eine selbstgewählte Zugehörigkeit zu einer Gruppe, de-

8 Eine Bewohnerin, die sich auch beruf lich mit Prozessen der Gruppenentwicklung beschäftigt, beschreibt dies als einen Übergang von der »Gruppendimension« in die Dimension der »Organisation« bzw. im konkreten Fall dieses Wohnprojekts des »Gemeinwesens«.

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ren Grundlage aber eine »vorgängige Übereinstimmung« der Beteiligten ist (Dierschke / Drucks / Kunze 2006: 104). Diese wird von den Gruppen einerseits implizit anerkannt, wenn von gemeinsamer Spiritualität oder von einer spezifischen politischen Szene die Rede ist, aus der sich viele der Beteiligten bereits kannten. Andererseits sind beide Projekte auch von einem gewissen Anspruch der Offenheit und dem Wunsch nach Vielfalt getragen, der sich bisher nur teilweise einlösen ließ. Die Art und Weise, in der das Spannungsverhältnis zwischen Homogenität und Heterogenität reflektiert wird, ist in den beiden Gruppen leicht unterschiedlich gelagert. Im Wohnprojekt Lilie steht eher die interne Diskussion um die Herausforderungen durch Heterogenität im Fokus. Heterogenität meint hier neben einer gewissen Varianz hinsichtlich Alter und Familienstand vor allem unterschiedliche Ausrichtungen innerhalb einer christlichen Glaubenspraxis. Im Wohnprojekt Ziegelwerk wird stärker beklagt, dass der Wunsch nach Vielfalt sich nur schwer realisieren lässt, was nicht mit Problematiken interner Abstimmung erklärt wird, sondern mit dem Argument, dass sich bestimmte gesellschaftliche Gruppen von solchen Projekten schlichtweg nicht angesprochen fühlen. Neben mehr oder weniger expliziten Ausschlussmechanismen werden hier auch implizite Beschränkungen der Zugänglichkeit deutlich, die sich etwa aus der Affinität für eine gewisse Form der Kompromissbereitschaft oder eine bestimmte Diskussionskultur, die einen spezifischen Habitus erfordert, ergeben. Zugleich verdeutlicht die teilweise Problematisierung der Heterogenität, dass die selbstbestimmte Aushandlung von Werten und Regeln durch die Mitglieder, wie sie insgesamt für Systeme gemeinschaftlicher Verwaltung von Gütern kennzeichnend ist (vgl. Kramer 2012: 266), ein gemeinsames Set an Werthaltungen und Normen erfordert und somit eine gewisse Homogenität voraussetzt. Auch wenn von Beginn der Projekte an ein Rahmen für eine gemeinsame Orientierung feststand, ersetzt dieser keineswegs die Konkretisierung gemeinsamer Ziele und das Aushandeln von Umgangsformen und -regeln innerhalb der Gruppe. Die Übereinstimmungen innerhalb der Gruppe sind keineswegs als von vornherein gegeben und stabil zu verstehen. Vielmehr werden diese, wie Thomas Dierschke, Stephan Drucks und Iris Kunze feststellen, im Laufe der Zeit gemeinsam präzisiert und weiterentwickelt (Dierschke / Drucks / Kunze 2006: 104). Das geschieht in den beiden hier fokussierten Projekten, indem ihre Mitglieder versuchen, gemeinsame Werte zu definieren, und an einer symbolisch verstandenen Gruppenidentität arbeiten, ebenso aber auch, indem sie formale Organisationsstrukturen festlegen und informelle Routinen des Umgangs miteinander etablieren. Im Wohnprojekt Lilie werden diese Prozesse von vielen Mitgliedern bewusst reflektiert und mit den Begriffen »Gemeinschaft bauen« in Ergänzung zu »Haus bauen« beschrieben. Ein Lehrer um die sechzig, der zu den Grün-

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dungsmitgliedern des Vereins gehört, betont, wie wichtig es gewesen sei, diesbezügliche Fragen noch vor der Planung des Gebäudes zu klären: Was [das Wohnprojekt Lilie, Anm. d. Verf.] recht gut gemacht hat, war, dass hier am Anfang erst das Finden der Gemeinschaft gewesen ist. Also wir wollen etwas Gemeinsames träumen, wir wollen gemeinsam etwas aufbauen. Und dann sind wir erst an den Bau herangegangen und nicht umgekehrt: Erst bauen und dann versuchen wir uns zusammenzuraufen. Und ich glaube, das hat den Zusammenhalt in der Gruppe doch sehr gefestigt.

Diese gemeinsamen Ziele wurden nach langen Diskussionen in den Statuten des Vereins festgehalten, die eine wichtige Grundlage für die Gestaltung sowohl des Gebäudes als auch des Zusammenlebens bilden. In Artikel 2, der mit »Spiritualität, Ziele und Aufgaben« betitelt ist, heißt es dazu: Die Gemeinschaft vertraut auf die Verheißung Christi, daß sie in seinem Geist ihren Mitgliedern und anderen Menschen helfen kann, zum Frieden, zur Freiheit und zum vollen Menschsein zu gelangen. [...] Diese Sendung kann in der Ausgewogenheit von Arbeit und Gebet, Engagement und Besinnung, Eigenständigkeit der einzelnen Person und Verbindlichkeit gegenüber der Gemeinschaft verwirklicht werden. Daraus soll eine ›neue Normalität‹ des Wohnens, des Umgangs mit sich selbst, miteinander und mit den Gütern dieser Erde wachsen – eine neue Wirklichkeit des Menschseins in dieser Zeit und in dieser Stadt.

Die Ansprüche des Projekts gehen also über das eigene Wohnen hinaus. Aus den Überlegungen, »in welchem Geist« sie leben wollten, wie eines der Gründungsmitglieder es formuliert, ergaben sich Konsequenzen für den Bau 9: Das Ideal der geteilten Spiritualität schlägt sich in einer integrierten Kapelle nieder, Gästewohnungen für unterstützungsbedürftige Menschen dienen dazu, die Ansprüche des sozialen Engagements zu realisieren. Die deklarierte Ausrichtung des Projekts bildet nicht nur eine Grundlage für die Planung, sondern, wie sich in zahlreichen Interviews zeigt, auch einen wiederkehrenden Referenzpunkt für die Erklärung besonderer architektonischer und sozialer Merkmale des Projekts und somit eine gewisse symbolische Identifikationsbasis. Darüber hinaus sind in den Vereinsstatuten Modalitäten der Entscheidungsfindung und Konfliktlösung festgelegt. Bei der Namensgebung der Organe des Vereins – Leitungsteam statt Vorstand, Versöhnungsteam statt Schiedsgericht – seien, so der Initiator des Projekts, »terminologische Akzente«

9 Neben den Statuten gibt es auch ein sogenanntes Konsenspapier, das das Selbstverständnis der Gemeinschaft in wesentlichen Linien festschreibt und die angestrebten »Formen der Umsetzung in den Alltag« konkret festhält (Klar / Schattovits 1988b: 74–76).

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gesetzt worden, die im Unterschied zu den im Vereinswesen üblichen Begrifflichkeiten den egalitären Charakter der Gruppe reflektieren. Während formal Mehrheitsverhältnisse für Beschlüsse in den Statuten festgeschrieben sind, war die Entscheidungspraxis insbesondere zu Beginn stark am Konsensprinzip orientiert. Nicht zuletzt aufgrund pragmatischer Notwendigkeiten fand im Laufe des Planungsprozesses eine Verschiebung von Konsens- zu Mehrheitsentscheidungen statt (Klar / Schattovits 1988a: 107 f.). Die egalitär und demokratisch konzipierte Vereinsstruktur ist eines der Mittel zur Gestaltung der Beziehungen innerhalb der Gruppe. Zudem dienen regelmäßig stattfindende Gemeinschaftswochenenden und andere Aktivitäten auf einer informelleren Ebene der Pflege von Kontakten untereinander. Das Modell regelmäßig wechselnder Funktionen im Verein und die davon losgelöste Beteiligung in verschiedenen Arbeitsgruppen soll darüber hinaus ein möglichst großes Gleichgewicht zwischen den Einflussmöglichkeiten einzelner Mitglieder gewährleisten und Cliquenbildungen erschweren. Schließlich solle, so der Initiator des Projekts, jedes Mitglied »Anspruch auf gleiches Wohlwollen durch jedes Mitglied und durch die Gemeinschaft« haben, jenseits persönlicher Sympathien und Antipathien. Im Vergleich zum Wohnprojekt Lilie nimmt das Formulieren gemeinsamer Werte in der Erinnerung der Mitglieder des Wohnprojekts Ziegelwerk deutlich weniger Raum ein, wiewohl auch hier definitorische Bemühungen anhand von Diskussionspapieren aus der frühen Phase des Projekts nachvollzogen werden können (vgl. Wagner 2000: 33–40). Die Ursache für die geringere Aufmerksamkeit für die symbolische Konstruktion von Gemeinschaft mag in der insgesamt weniger stringenten Organisation der Gruppe liegen, für die die Gründung des Vereins 1986 zunächst lediglich eine formale Notwendigkeit war. Für die gruppeninterne Organisation spielte dieser zunächst keine Rolle (vgl. Wagner 2000: 33–40 und 101). Ein pensionierter Beamter, der sich durch das ganze Interview hindurch als Verfechter der informellen Umgangsformen positioniert, erzählt, dass die Gruppe vor allem »Geldgeschichten« über den Verein »abgewickelt« habe. Er berichtet, dass die Struktur des Vereins eher belächelt wurde: Ja, formal muss man irgendeinen Vorsitzenden [...] wählen für die Vereinsbehörde, das haben wir gemacht, aber das war immer ein Jux. Da ist die Gruppe zusammengesessen und hat gelacht: ›Ha, du bist jetzt Vorsitzender.‹ (lacht) Aber wir haben nie so Vereinszeremonien gespielt. Da hat es ein Plenum gegeben, da sind die Leute zusammengekommen, wie sie wollten, und da ist halt diskutiert worden, bis man sich einigen konnte. [...] Da hat es keine Mehrheiten gegeben und es hat keinerlei Bestimmungen gegeben. Es war eine Gruppe, eine freie.

In den Vereinsstatuten ist zwar eine Zweidrittelmehrheit als formale Entscheidungsrichtlinie festgelegt, zugleich ist darin aber auch festgehalten, dass

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Konsens angestrebt wird, was in den ersten Jahren tatsächlich so umgesetzt wurde (vgl. Ehs 2008: 53). Die Ablehnung der Bürokratie und das radikale Bekenntnis zu basisdemokratischen Formen der Entscheidungsfindung werden von vielen als besonders wichtig betont und können als ein Kennzeichen für die Orientierung der Gruppe gesehen werden. Zugleich problematisieren viele Gesprächspartnerinnen und -partner diese Form der konsensuellen Entscheidungsfindung als impraktikabel, unter anderem weil dadurch Entscheidungsprozesse sehr lange dauerten und nicht schnell genug auf Grundstücksangebote und Ähnliches reagiert werden konnte. Zugleich ergaben sich, obwohl gerade dieses Entscheidungsprinzip die egalitäre Ausrichtung der Gruppe stärken sollte, aus praktischen Gründen ungleiche Möglichkeiten der Beteiligung. Das Ziel, alles im Konsens zu beschließen, führte zu Sitzungen, die bis spät in die Nacht dauerten, und an denen sich insbesondere jene, die kleine Kinder oder Berufe mit festen Arbeitszeiten hatten, nicht bis zum Schluss beteiligen konnten. Im Rückblick wird diese Form der Entscheidungsfindung von vielen in teils humorvollen Schilderungen in ihrer Problematik kritisch reflektiert. Eine Bewohnerin, die die Planungszeit als junge, teilweise berufstätige Mutter mit kleinen Kindern erlebte, erinnert sich daran folgendermaßen: Ursprünglich war ja immer so der Anspruch, es muss alles nach dem Konsensprinzip entschieden werden. Und diese wöchentlichen Plena haben dann ewig gedauert, bis zeitig in der Früh, und dann sind die Leute gegangen, wissend man muss [am nächsten Tag, Anm. d. Verf.] aufstehen, und ein paar sind halt dann sitzen geblieben und die haben halt dann im Konsens etwas beschlossen. (lacht)

Als mit dem Fortschreiten des Planungsprozesses und dem Beginn der Baustelle der Zeitdruck für bestimmte Entscheidungen größer wurde, kam es letztlich zu einer stärkeren Formalisierung der Gruppenorganisation. Es bildeten sich Arbeitsgruppen, die sich mit bestimmten Fragen beschäftigten und in einem begrenzten Rahmen auch Entscheidungskompetenzen hatten, sodass nicht immer alles im Plenum besprochen und beschlossen werden musste. Eine Bewohnerin, die sich immer wieder in leitenden Funktionen im Verein engagiert, betont, dass es »eine große Stärke des Vereins« gewesen sei, dass auf die Zusammensetzung der Arbeitsgruppen geachtet wurde, so dass »sie auch ein Stück die Positionen der einzelnen Mitglieder repräsentiert haben«. So seien »Männer und Frauen und die Skeptiker und die Verfechter der einzelnen Positionen mit dabei« gewesen. In ihrer Erinnerung fungierte die formale Organisationsstruktur als ein mit den Werten der Gruppe kompatibles Instrument. Andere beurteilen die mit der Zeit wichtiger werdende Rolle des Vereins hingegen skeptisch. Inzwischen werde »das Vereinsspiel zelebriert« und es gebe »den Verein als Verein wie jeden Verein«, erklärt mir der oben zitierte pensionierte Beamte, der im Interview immer wieder den informellen Organisationsstil der Gruppe in ihrer frühen Phase erwähnt.

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Obwohl sich in der Bedeutung der Vereinsstrukturen für die gruppeninterne Organisation deutliche Unterschiede zwischen den beiden Projekten abzeichnen, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie durch ihre Organisationsformen und Entscheidungsprinzipien auf eine möglichst gleichberechtigte Teilhabe und Mitsprache aller Beteiligten abzielten. Dies entspricht der These des Soziologen Thomas Dierschke, der feststellt, dass sich in intentionalen Gemeinschaften zuweilen formale Organisationsstrukturen entwickeln, die, obwohl sie auf den ersten Blick eher auf gesellschaftliche als auf gemeinschaftliche Sozialsysteme hindeuten, einer »gemeinschaftlichen Verbundenheit« nicht entgegenwirken, sondern einen »Rahmen für die Beibehaltung und Entwicklung von Gemeinschaft« bieten (Dierschke 2006: 98). In beiden Fällen wird jedoch auch deutlich, dass der Umsetzung der Intentionen zum Teil auch pragmatische Grenzen gesetzt sind. Gemeinschaftlichkeit entwickelt sich aber nicht nur durch die Festlegung gemeinsamer Grundsätze und kollektiver Organisationsformen, sondern auch durch das gemeinsame Tun im Sinne eines doing community. In beiden Projekten werden gemeinsame Aktivitäten und informelle Kontakte als besonders verbindend beschrieben. Markante Erlebnisse gehen in kollektive Erzählungen der Gruppen ein. Im Wohnprojekt Lilie sind es insbesondere die im Zuge des Planungsprozesses anfallenden gemeinsamen Aufgaben, wie die Vorbereitungen für den Abriss des Bestandsgebäudes, regelmäßige Baubesprechungen sowie die mit diversen Aufgaben einhergehenden gegenseitigen Besuche in den Privatwohnungen, die als verbindend beurteilt werden. Ein Gründungsmitglied, das ansonsten vielen Gruppenprozessen gegenüber eher kritisch eingestellt ist, verweist im Interview mit Bezug auf diese intensive Zeit des Kontakts mit Begeisterung darauf, dass vieles »schon toll« gewesen sei. Vielen Gründungsmitgliedern des Wohnprojekts Ziegelwerk ist eine Reihe an Veranstaltungen in Erinnerung, die der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ausprägungen der Badekultur dienten. So berichtet eine Interviewpartnerin neben vielen anderen von einem Ausflug zu einem Thermalbad in Ungarn und anderen Veranstaltungen, die sich dem Thema widmeten: Also es waren wirklich auch sehr genussvolle Annäherungen an dieses Thema. Es [das Planen, Anm. d. Verf.] war mühsam, keine Frage, aber es hat immer wieder auch tolle Highlights gegeben, die im Nachhinein gesehen wirklich super waren. Und die haben natürlich auch diese Gruppe unheimlich zusammengeschweißt.

Eine ebenso verbindende Wirkung sprechen einige Interviewpartner und -partnerinnen der künstlerischen Aneignung des alten Gebäudes zu. Neben der Einladung von Künstlern und Künstlerinnen wurden selbstorganisierte Modeschauen veranstaltet und Filme gedreht. Ähnlich wie die Veranstaltungsreihe zur Planung des Badehauses tauchen diese Zwischennutzungen des alten Fabrikgebäudes intensiv und dicht erzählt in den Interviews auf und auch di-

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Abb. 3: Schornstein der ehemals auf dem Gelände des Wohnprojekts Ziegelwerk befindlichen Fabrik. Während er im Rahmen der Interviews selten thematisiert wird, sprechen ihn während der Hausführung viele Gesprächspartner und -partnerinnen an. Foto: Ana Rogojanu.

verse Veröffentlichungen über das Wohnprojekt betonen diese als prägende Erfahrungen (vgl. Wagner 2000: 89–92; Schrage 2000: 212). Das zum Abriss freigegebene Gebäude erhielt dabei eine gewisse symbolische Auf ladung (vgl. Wagner 2000: 89–92), die sich letztlich auch in der Entscheidung zeigt, den Schornstein des Baus »als Zitat« zum Zweck der Erinnerung zu bewahren. Dennoch wirkte die Anforderung, gemeinsame Lösungen zu finden und Entscheidungen im Kollektiv zu tragen nicht nur konsolidierend, sondern bot ebenso wiederkehrend Konfliktpotenzial. Eine Geschichte, die mir von beiden Gruppen wie eine kollektive Erzählung für die Herausforderungen der gemeinsamen Planung, aber zugleich auch für die Lösungskompetenz der Gruppen entgegengebracht wird, handelt von der Festlegung der Wohnungsstandorte, im Rahmen derer die Mitglieder aufgrund ihrer Einzelinteressen miteinander in Konflikt gerieten. Für die letztlich doch von den meisten Bewohnerinnen und Bewohnern als weitgehend harmonisch beurteilte Entscheidungsfindung waren verschiedene Strategien nötig. Im Wohnprojekt Lilie gehörten dazu die durch das Architektenteam angeleitete interaktive Abstimmung der Lagewünsche mithilfe eines Modells, die vielen als einprägsames Erlebnis lebhaft in Erinnerung ist, ebenso wie der humorvolle Umgang mit der diffizilen Wohnungsverteilung. Eine Karikatur,

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die in die Diskussion eingebracht wurde, ist sogar später eingezogenen Gruppenmitgliedern bekannt. Besonders wichtig für die Lösung der Konflikte um die Wohnungsverteilung war letztlich die Entscheidung zweier Familien, eher unattraktive Standorte zu wählen. Dies habe, so die Einschätzung mehrerer Gruppenmitglieder, als »Eisbrecher« fungiert und ein Signal für die Verschiebung der Prioritäten von den individuellen hin zu den gemeinschaftlichen

Abb. 4: Dieses Bild sollte die Diskussionen um die schwierige Wohnungsverteilung auf humorvolle Weise veranschaulichen. Klar /Schattovits 1988b: 110.

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Interessen gesetzt. Außerdem konnte durch die Planung von Maisonetten eine größere Zahl von Bewohnern und Bewohnerinnen an den begehrten Lagen in den oberen Stockwerken teilhaben. Diesen Ansatz argumentiert der Initiator des Projekts mit der spirituellen Ausrichtung der Gruppe und dem in den Statuten festgelegten Ideal des Teilens. Im Wohnprojekt Ziegelwerk wurden für diesen Entscheidungsprozess im Hof der alten Fabrik die Grundrisse des Gebäudes aufgezeichnet, und die Einzelnen markierten ihre Präferenzen mit Bierflaschen. Einer meiner Interviewpartner erinnert sich, dass die Verteilung »überraschenderweise eigentlich [...] gar nicht so schwierig« war und dass der Großteil der Bewohnerinnen und Bewohner ihre Wunschwohnungen erhielten. Er beschreibt den Prozess der Auswahl als gemeinsame Aktivität: Man hat sich dann auch so hingestellt [...] und man konnte sich dann auch vorstellen, wer die Nachbarn sind und so. [...] Beziehungsweise hat man dann miteinander geredet, warum das da doch ganz gut sein könnte und so und dann hat sich das zu 90 % gleich einmal aufgelöst.

Vereinzelte »Streitfälle« habe es zwischen Personen mit sehr genauen Vorstellungen bezüglich ihrer Wunschlage gegeben, die sich auf einen Standort fixiert hatten. Es sei jedoch der »Druck« da gewesen, »dass man sich einigt«. Die Bandbreite an Lösungen für solche Pattsituationen reichte von Zufallslösungen mittels Würfeln über die Suche nach Kompromissen bis hin zu professioneller Mediation. Insbesondere das Dachgeschoß war ein beliebter Standort, der letztlich als Wohngemeinschaft konzipiert wurde, um möglichst vielen Personen Zugang zu verschaffen. Die Diskussion um die Wohnungsstandorte nutzt der oben zitierte Interviewpartner, ein Mann Ende fünfzig, in einem höheren technischen Beruf tätig, der mit seiner Frau und dem gemeinsamen Kind im Ziegelwerk lebt, um mir gegenüber die Bedeutung einer gewissen Flexibilität der Mitglieder für das Gelingen solcher Projekte zu betonen: Wenn mehr als fünfzig Prozent der Leute so schwierig sind in so einem Projekt, dann geht es, glaube ich, nicht. Also es muss schon eine große Anzahl geben, die sagt: ›Na, für mich gibt es diese oder jene Möglichkeit. Oder für mich kann die Eingangstür aus Alu sein oder so eine Türschnalle haben‹.

Die zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen des Wohnprojekts Ziegelwerk hätten überwiegend kompromissbereit agiert und die soziale Harmonie als eigentlichen Kern des Wohnprojekts in den Fokus gerückt. Andere Kontroversen aus der Planungszeit, die eher mit Blick auf bauliche Details angesprochen werden, drehen sich im Wohnprojekt Lilie etwa um die Frage des Verhältnisses von Kosten und Qualität. Eine alleinstehende Bewohnerin, die vor ihrer Pensionierung im administrativen Bereich tätig war,

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erwähnt auf die Frage nach den zentralen Diskussionen der Anfangszeit die Kosten als eine der hinter vielen Diskussionen stehenden Kernfragen: Es ist sehr darum gegangen, welchen Standard wir uns leisten und was das kostet und was es kosten darf. Und die, die halt mehr Geld gehabt haben, haben gemeint, da kann man mehr ausgeben, und die anderen haben gesagt: ›Nein, das wird uns zu teuer.‹ Also das war schon sehr, sehr wichtig und immer wieder schwierig auch, nicht?

Insbesondere mit Blick auf den Bodenbelag des Sportplatzes, die Notwendigkeit der Tiefgarage, den Aufzug, die Ausführung der Fenster oder der Treppenstufen im Stiegenhaus hätte es diesbezüglich Diskussionen gegeben, wie mir zum Teil auch andere Bewohner und Bewohnerinnen erzählen. Für die Mitglieder des Wohnprojekts Ziegelwerk standen in den Diskussionen um Finanzierungsfragen weniger die Abwägungen von Qualitätsansprüchen und Baukosten im Vordergrund, sondern vielmehr die Kosten, die die Gemeinschaftseinrichtungen langfristig im laufenden Betrieb verursachen und die von allen Vereinsmitgliedern anteilig mitgetragen werden. Insbesondere mit Blick auf das Badehaus sei diese Frage in der Planungsphase bereits von großer Bedeutung gewesen, wie sich ein in einem technischen Beruf tätiger Bewohner erinnert: Wo es auch sehr heiß hergegangen ist, war, wie groß das Bad werden soll, das Gemeinschaftsbad. Das war auch sehr früh eigentlich entschieden, dass es das geben soll. Und später war dann wirklich die Frage, ob wir’s verkleinern sollen. Weil irgendwer hat ausgerechnet, das wird uns zu viel kosten und das können wir nur defizitär betreiben. [...] Und dann hat man’s verkleinert [in der Planung, Anm. d. Verf.], dann war es wieder die Gegengruppe, die gesagt hat: ›Nein, also nur so eine Sauna oder etwas, wie es das überall gibt, das kann nicht sein.‹ Und dann hat es eine Gegenrechnung gegeben, aber es war dann schwierig zu sehen, wer Recht hat. Und das ist recht heiß diskutiert worden, weil es [finanziell, Anm. d. Verf.] auch schon eng war. Und schließlich hat es dann auch wieder einen Kompromiss gegeben, den wir jetzt haben.

Eine andere Kontroverse in der Planung des Ziegelwerks zeigt, dass es beim gemeinsamen Bauen auch um die Aushandlung von Werthaltungen geht, die etwa mit der Wahl bestimmter Materialien im Bauen einhergehen. Die Frage, ob die Fensterrahmen aus Aluminium oder aus Holz sein sollten, sprachen sehr viele meiner Interviewpartner und -partnerinnen als besonders langwierige Diskussion an. Angesichts dessen, dass ein Teil der Mitglieder des Wohnprojekts in der damals gerade aufkommenden Ökologie-Bewegung aktiv war, hatten etliche Personen starke Widerstände gegen die vom Architekten und anderen Teilen der Gruppe präferierten Aluminiumfenster. In den Erzählungen werden die ökologischen Aspekte häufig als wichtiger Faktor in dieser

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Abb. 5: Nach langen Diskussionen entschied sich die Gruppe für Fensterrahmen aus Aluminium. Ein Argument in der Diskussion sei die Möglichkeit gewesen, die großen Fensterflächen umzusetzen. Foto: Ana Rogojanu.

Diskussion genannt, die Argumente der Gegenseite treten dabei weniger deutlich hervor. Die letztendliche Entscheidung für Alufenster erklären mir meine Interviewpartner und -partnerinnen damit, dass die Gruppe in ihren Recherchen herausgefunden hätte, dass Holzfenster aufgrund der notwendigen Imprägnierungen gar nicht wesentlich umweltfreundlicher seien, weil diese so zum Sondermüll würden und Aluminium hingegen recyclebar sei. Im Wohnprojekt Lilie wird darüber hinaus deutlich, dass es bei der Fest-

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legung baulicher Details oftmals um eine Gewichtung der Interessen unterschiedlicher Gruppen von Bewohnern und Bewohnerinnen geht. Eine achtzigjährige Pensionistin, die damals als junge Seniorin alleinstehend in das Projekt einzog, spricht beispielsweise eine von ihr empfundene Bevorzugung der Familien gegenüber den Alleinstehenden an. Diese habe sich darin gezeigt, dass in der Planung zunächst die Wohnungen der Alleinstehenden am Rand positioniert worden seien. Sie deutet dies allerdings weniger als gruppeninterne Dynamik, sondern vielmehr als Position der Architekten – es sei »eindeutig« gewesen, dass es ihnen vor allem darum gegangen sei, »was das Beste für die Familien ist«. Dementsprechend sei auch auf Kindergerechtigkeit mehr Wert gelegt worden als auf Altersgerechtigkeit, wie eine andere Bewohnerin im gleichen Alter betont. Während in der Gestaltung des Gartens oder des Turnsaals auf die Bedürfnisse von Kindern Rücksicht genommen worden sei, seien viele bauliche Details, wie etwa Schwellen zwischen Wohnung und Balkon, keineswegs altengerecht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass der Lift aus Kostengründen nicht bis auf die Dachterrasse hinauf gebaut wurde. Hier zeichnen sich also unterschiedliche Schwerpunktsetzungen ab, die gegeneinander abgewogen wurden und ihren Niederschlag in der Materialität des Gebäudes gefunden haben. In beiden Wohnprojekten werden Kontroversen und andere Aushandlungsprozesse als weitgehend erfolgreich beschrieben und eine gewisse Kompromissbereitschaft und Flexibilität als Voraussetzungen für das Gelingen solcher Projekte präsentiert. Auch wenn sich hier deutliche Parallelen abzeichnen, wird die Konsolidierung der Gruppen im Zuge der gemeinsamen Entscheidungsfindung in beiden Projekten doch in unterschiedlichen Stilen verhandelt. Im Wohnprojekt Lilie wird die Entwicklung einer gemeinsamen Diskussionskultur als besonders wichtig eingeschätzt. Eine zum Zeitpunkt des Interviews etwa achtzigjährige Frau, die zu den der Pfarre eng verbundenen Gründungsmitgliedern gehört, betont mit Blick auf eine andere Kontroverse, die sich um die Notwendigkeit eines Tabernakels in der Kapelle drehte, dass die unterschiedlichen Positionen »nicht vehement oder garstig vertreten, sondern schon mit Gefühl füreinander« artikuliert worden seien. Im Wohnprojekt Ziegelwerk sind die Erzählungen dazu insgesamt direkter und nüchterner sowie weniger von der für das Wohnprojekt Lilie kennzeichnenden Vorsicht und Umsicht im Umgang miteinander geprägt. Auch hier wird jedoch betont, dass Konflikte immer so ausgetragen worden seien, »dass man sich nachher auch wieder irgendwie anschauen konnte«, wie eine Bewohnerin meint, die zu einer der anfänglichen Kerngruppen gehört. Neben der Schilderung von im Wesentlichen erfolgreich gelösten Kontroversen werden in beiden Projekten auch die unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten verschiedener Mitglieder thematisiert, wobei diese im Wohnprojekt Lilie wesentlich stärker problematisiert werden als im Wohnprojekt

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Ziegelwerk. Trotz der vielfach betonten Bemühungen um flache Hierarchien sprechen einige meiner Interviewpartnerinnen und -partner im Wohnprojekt Lilie wiederholt Ungleichheiten an, beispielsweise mit Blick auf die zentrale Rolle bestimmter Gruppenmitglieder. So liefen insbesondere in der Anfangsphase die Fäden in mehrfacher Weise beim Initiator des Projekts zusammen. Auch wenn er nach und nach versuchte formal »aus einer gewissen zentralen Funktion« (Klar / Schattovits 1988a: 20) herauszutreten, wird ihm von den Bewohnern und Bewohnerinnen durch den ganzen Planungsprozess hindurch eine gewichtige Rolle zugesprochen – mit unterschiedlichen Konnotationen. Während durchgehend seine Qualitäten als Manager betont werden und manche ihn als einen Anker für ihr Vertrauen in das Gelingen des Projekts beschreiben, empfinden andere das Projekt als durch ihn etwas »einseitig dominiert«. Darüber hinaus finden sich in den Gesprächen mit Bewohnern und Bewohnerinnen Hinweise für Ungleichheiten im Projekt entlang verschiedener gesellschaftlicher Kategorien. So deutet schon die beinahe durchgängige Verwendung akademischer Titel im Sprechen über andere Mitglieder auf ein ausgeprägtes Bewusstsein für den Bildungsgrad der Einzelnen hin und benennt implizit soziale Hierarchien. Von einzelnen Mitgliedern werden auch Geschlechterhierarchien thematisiert. In einer Stellungnahme im Rahmen der soziologischen Forschung, die die Entstehung des Projekts begleitete, formuliert eine damals etwa 60-jährige Bewohnerin ihr Unbehagen angesichts dieses Themas, das sie in einen Zusammenhang mit der kirchennahen Ausrichtung des Projekts stellt. Ihre Auseinandersetzung »mit feministischem Gedankengut und mit feministischer Theologie« (Klar / Schattovits 1988a: 198) habe sie »überaus empfindlich gemacht für Übergriffe der kirchlichen Hierarchie, für klerikales Gehabe, für erstarrte Formeln und Formen, für sprachliche Unsensibilität« (ebd.). Sie lasse sich »einfach nicht mehr als ›Bruder‹ anreden« und wolle »weder einen ›brüderlichen Geist‹ noch eine ›brüderliche Kirche‹« (ebd.). Auch eine meiner Interviewpartnerinnen charakterisiert manche Erlebnisse rückblickend, auf Grundlage einer späteren Auseinandersetzung mit »feministischem Denken«, als »patriarchales Verhalten«. Sie macht dies einerseits an alltäglichen Gesten im Umgang miteinander fest, andererseits äußert sie den Eindruck, dass insbesondere während der Planungsphase den Ideen von Männern mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde als jenen von Frauen. Sowohl in der schriftlichen Stellungnahme einer Bewohnerin aus der Zeit der Planung als auch im Gespräch mit der erwähnten Interviewpartnerin werden ein grundsätzliches Wohlwollen und ein ansonsten von Herzlichkeit und Offenheit getragenes Gesprächsklima innerhalb der Gruppe betont, zugleich wird aber auf die Schwierigkeit verwiesen, Ungleichheiten im Verhältnis von Männern und Frauen zu thematisieren und ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Dabei werden Ungleichheiten entlang der Kategorie Geschlecht weniger als besonderes Charakteristikum dieser Gruppe, sondern vielmehr als

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allgemeineres gesellschaftliches Phänomen interpretiert, das sich beispielsweise auch in anderen Feldern wie etwa der Wissenschaft äußert. Im Interview werden die angesprochenen Geschlechterhierarchien auch mit Erlebnissen mangelnder Anerkennung des eigenen Engagements und der eigenen Ideen insbesondere in der frühen Phase der Planung und Gruppenentwicklung in Verbindung gebracht. Die begrenzten Aktions- und Mitbestimmungsmöglichkeiten einzelner Mitglieder wurden während des Planungsprozesses immer wieder reflektiert. Die Gruppe überlegte, wie man damit umgehen könne, dass sich unterschiedliche Mitglieder verschieden intensiv in die Diskussionen einbringen bzw. unterschiedlich aufmerksam angehört werden (vgl. Klar / Schattovits 1988a: 84 und 98; Klar / Schattovits 1993: 99), allerdings verblieben diese Überlegungen auf der Ebene individueller Beziehungen und thematisierten nicht darin eingeschriebene gesellschaftliche Hierarchien. Im Wohnprojekt Ziegelwerk sind die Einflussmöglichkeiten unterschiedlicher Mitglieder eher am Rande Thema. Auch wenn bestimmte Personen als während der Planungsphase herausragend engagiert und wichtig wahrgenommen werden, reflektieren meine Gesprächspersonen aus dem Ziegelwerk diese besonderen Rollen nicht im Sinne einer Dominanz Einzelner, vielmehr bildet ein durchgängiges Erzählmuster die Anerkennung des Beitrags unterschiedlicher Menschen mit ihren jeweils spezifischen Fähigkeiten und Kompetenzen zum Gelingen des Projekts. Das gilt sowohl für den Blick auf die gesamte Zusammensetzung der Gruppe als auch für die Selbstwahrnehmung der Einzelnen. Eine Bewohnerin beschreibt die Kombination von Fähigkeiten, die sich durch den Zusammenschluss von Menschen mit verschiedenen Hintergründen ergibt, sowohl für die Anfangsphase als auch für das spätere Zusammenleben als wichtige Ressource des Projekts: Es gibt so Erfahrungen, die die Leute einbringen. Und das ist bei vielen Fragen, glaub ich, ein großer Vorteil [des Ziegelwerks, Anm. d. Verf.]. Es kommt sehr viel Wissen und sehr viel Erfahrung zusammen.

Ein anderer Bewohner beschreibt seine Gestaltungsmöglichkeiten als Schriftführer während der Anfangsphase des Projekts: Ich bilde mir ein, dass ich beigetragen habe zum Gelingen. Andere haben sich finanziell ausgekannt und ich habe einfach immer positiv berichtet. Wenn wir im Streit auseinandergegangen sind, [...] hätte ich schreiben können: ›Es ist schrecklich und es wird nie etwas werden.‹ Aber ich habe immer geschrieben: ›Es war wieder sehr spannend und es war was los.‹ Und dadurch kann man auch motivieren.

Andere wiederum erzählen im Zusammenhang des Entscheidens und Agierens in der Gruppe auch von Gefühlen der Selbstermächtigung im Kollektiv, so beispielsweise eine Bewohnerin, die davon berichtet, wie sie als junge, verheiratete Frau mit kleinen Kindern gemeinsam mit der Gruppe »recht schnell entschie-

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den« habe, die alte, zum Verkauf ausgeschriebene Fabrik zu erwerben: »Also da waren wir, ehrlich gesagt, ganz mutig. [...] Ich allein hätte das nie gekauft. Aber ich habe dann so einen Mut entwickelt, der aufgrund dieses Kollektivs da war, ja?« Viele thematisieren die Möglichkeit, nicht nur vorhandene Fähigkeiten und Erfahrungen zu nutzen und dafür Anerkennung zu erhalten, sondern auch Neues zu lernen und Kompetenzen zu entwickeln, die sich positiv auf andere Lebensbereiche auswirken. Eine promovierte Naturwissenschaftlerin, die inzwischen, angeregt durch die Erfahrungen aus der Arbeit im Wohnprojekt, im sozialen Bereich tätig ist, betont die persönliche Weiterentwicklung durch das Projekt folgendermaßen:

Mir wäre das vorher nie im Leben eingefallen, dass ich in einem Vorstand aktiv bin und da Verantwortung übernehme [...]. Und heute ist das für mich etwas ganz Normales und Selbstverständliches. Also ich sage einmal, dass das Projekt auch für mich persönlich eine unheimliche Forderung, aber auch Förderung war. Das hat schon ein großes Stück zu meiner persönlichen Entwicklung beigetragen, ja? Das find ich super (lacht).

Insgesamt betonen die Gesprächspartnerinnen und -partner im Wohnprojekt Ziegelwerk stärker die ermächtigenden Faktoren des Agierens innerhalb der Gruppe. Hierarchien und soziale Ungleichheiten, wie etwa entlang der Kategorie Geschlecht, werden in den Interviews nicht explizit thematisiert. Dennoch werden im Interview mit einem Paar nebenbei Geschlechterunterschiede und die Schwierigkeiten von Frauen, den Lebensalltag mit Männern in für sie angenehmer Weise zu gestalten, thematisiert. Diese sich unterscheidenden Deutungsmuster verweisen nicht unbedingt darauf, dass in dem einen Projekt soziale Hierarchien objektiv stärker waren als in dem anderen. Vielmehr sehe ich darin unterschiedliche Formen der Diskursivierung von und des aktiven Umgangs mit Fragen nach Hierarchien. Im Wohnprojekt Lilie zielen viele Erzählungen auf ein harmonisches Bild einer starken, in einem gewissen Ausmaß als Einheit konzipierten »Gemeinschaft« ab. Hierarchien innerhalb dieser werden, gerade weil sie in der Gruppe schwer anzusprechen sind, eher von Personen thematisiert, die sich in einem gewissen Ausmaß außerhalb positionieren bzw. sich selbst als außerhalb positioniert erleben. Demgegenüber gehört zum Kern der 1968er-Bewegung die explizite Auseinandersetzung mit und die Ablehnung von ungleichen Geschlechterverhältnissen und anderen gesellschaftlichen Hierarchien. Zugleich fügt sich auch das Deutungsmuster der Möglichkeit des persönlichen Wachsens durch die Aushandlungsprozesse in der Gemeinschaft in einen für die politisch eher links orientierte Alternativbewegung kennzeichnenden Diskurs, der die Gruppen-

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erfahrung als Grundlage für eine individuelle Weiterentwicklung interpretiert (vgl. Haider 1984: 276). 10 Zusammenfassend wird deutlich, dass sich die beiden Wohnprojekte als freiwillige, auf den Bereich des Wohnens fokussierte, aber im Anspruch darüber hinausgehende Zusammenschlüsse durch engere Verbindungen auszeichnen, als dies gemeinhin in den Diskussionen um posttraditionale Formen der Vergemeinschaftung der Fall ist. Zugleich sind die Verbindungen loser als in anderen Formen intentionaler Gemeinschaften, insofern sie weniger umfassend sind und bestimmte Lebensbereiche wie etwa die Erwerbsarbeit oder das Wirtschaften der einzelnen Haushalte ausnehmen. Der Blick auf die Entstehungskontexte sowie auf die Diskussionen über die Gruppenzusammensetzungen zeigt ein Spannungsfeld zwischen intendierter Offenheit und Heterogenität einerseits sowie notwendiger Homogenität andererseits und wirft Fragen nach den expliziten und impliziten Ausschlussmechanismen solcher Projekte auf. Zugleich wird deutlich, dass nicht nur die vorgängige Übereinstimmung ausschlaggebend für das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist, sondern vielmehr auch die sich im Laufe der Zeit entwickelnden, symbolisch etwa in den Gruppennamen, Vereinsstatuten und Diskussionspapieren festgeschriebenen Werthaltungen, die formalen Organisationsstrukturen und das gemeinsame Tun im Sinne eines doing community. Gemeinsam ist den Projekten ein Bemühen um möglichst egalitäre Mitsprache, wobei deutlich wird, dass sich Effekte sozialer Hierarchien auch innerhalb solcher Initiativen nicht vollständig ausschalten lassen. Diese sind somit auch als wesentliche Dynamik der Planung und Voraussetzung der Entstehung des gebauten Raumes mitzubedenken.

Partizipativ planen Zahlreiche Beispiele aus der Architekturgeschichte zeugen davon, dass der gebaute Raum vielfach aktiv und bewusst als Mittel eingesetzt wurde, um Lebensweisen und in weiterer Folge gesellschaftliche Ordnungen und Prozesse zu formen und zu steuern (vgl. Löff ler 2013: 26 f.; Delitz 2010: 201–205). So wird beispielsweise das später von Michel Foucault untersuchte Panopticon Ende des 18. Jahrhunderts von dem Philosophen Jeremy Bentham als architektonisches Modell für Gefängnisse, Arbeitshäuser und Schulen entwickelt, um ein spezifisches System der Überwachung und damit zugleich

10 Dass dies ein explizites Thema der Gruppe war, ist auch in den Diskussionspapieren Vereins dokumentiert, wo als eines der Ziele festgehalten wurde: »Wir wollen die (Selbst-)Einschränkung unserer Freiheit sehen lernen und als Gruppe strukturelle Möglichkeiten suchen, unsere individuelle Vitalität und Kreativität wiederzufinden« (Wagner 2000: 35).

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der Machtausübung zu ermöglichen (Foucault 1976; Foucault 2003; vgl. auch Delitz 2009: 49–51; Kamleithner 2013a). Ein weiteres Beispiel ist die moderne Architektur des frühen 20. Jahrhunderts, die sich nicht nur ästhetisch gegen die Formensprache der Architektur des 19. Jahrhunderts wendet, sondern mit ihrem Stil der »Neuen Sachlichkeit« zugleich auch gesellschaftliche Veränderungen bezweckt: »Mit der Entfaltung einer neuen Formensprache verband die Architektur eine sozial-technische Haltung: den Anspruch, die Gesellschaft zu ›ordnen‹« (Delitz 2009: 8, Hervorhebungen im Original; vgl. dazu auch Vetter 2000). Damit fungiert Architektur, wie die Kunsthistorikerin Irene Nierhaus darlegt, als eine Strategie »moderner Regierungs- und Regulierungsmacht« (Nierhaus 2016: 19). Die Gesellschaft gestaltende Rolle der Planung gerät insbesondere ab den 1960er-Jahren in Kritik. Diese geht zunächst von sozialwissenschaftlichen, sozialen und politischen Bewegungen aus, fließt aber letztlich auch in Diskussionen innerhalb der Planungsdisziplinen selbst ein. Für erstere geht es dabei vor allem um die Frage der Macht, die durch die Gestaltung des gebauten Raumes ausgeübt werden kann. Ein Vorreiter dieser Diskussion ist Henri Lefebvre, der mit einem gesellschaftskritischen Blick auf den fordistischen Urbanismus Frankreichs beschreibt, wie der Stadtraum zum »Objekt der Staatsgewalt [wurde], die mittels Planung, Wohngesetzen und Investitionen in die Infrastruktur politisch regulierend eingriff« (Ronneberger 2014: III). Seine intensiv rezipierte und von vielen Akteurinnen und Akteuren aus Wissenschaft, Politik und Aktivismus aufgegriffene Forderung nach dem »Recht auf Stadt« ist eine Aufforderung an Stadtbewohner und Stadtbewohnerinnen »die passive Haltung zu verlassen und sich an der Produktion des städtischen Raumes zu beteiligen« (Kamleithner 2013b: 378). Der Humangeograph David Harvey, der die Diskussion um »Recht auf Stadt« mit einem kapitalismuskritischen Fokus auf ökonomische Aspekte entscheidend weiterentwickelt 11, betont deren Zusammenhang mit den Forderungen der Mit- und Selbstbestimmung in unterschiedlichen Lebensbereichen, die die 68er-Bewegung auszeichnen (Harvey 2013: 12). Diese führen unter anderem zu einer Konjunktur der kritischen Auseinandersetzung mit der Planung als machtvollem Steuerungsinstrument (vgl. Fezer / Heyden 2004: 14–17). Dabei wird Partizipation sowohl im Sinne der »Teilhabe am Entwurf« als auch im Sinne der »Möglichkeit der räumlichen Aneignung« (Kamleithner 2013b: 379) reklamiert. Anders geartete Zweifel an dem Bild von Architektur und Städtebau als Gesellschaft gestaltende Kräfte ergeben sich aus der Beobachtung mitunter eigensinniger Aneignungspraktiken, die keineswegs immer den Intentionen der 11 Zu weiteren Auseinandersetzungen mit dem »Recht auf Stadt« vgl. beispielsweise Mullis 2014.

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Planer und Planerinnen entsprechen (vgl. Nierhaus / Nierhaus 2014: 10). Zu diesem Befund kommen zum einen verschiedene sozial- und kulturwissenschaftliche Studien, die die Aneignung von architektonischen Räumen untersuchen (vgl. Lauer 1990; Attfield 1999; Lang 2000; Aigner 2015; Maudlin / Vellinga 2014). Zum anderen finden sich kritische Auseinandersetzungen der Planungsdisziplinen selbst mit der Nutzung der durch sie gestalteten Räume (vgl. bspw. Hill 1998; Kurath 2011: 12). Im Kontext beider Diskussionen – um die der Planung inhärenten Machtaspekte sowie um die Differenzen zwischen Planung und Aneignung – erscheint die selbstbestimmte Partizipation der Betroffenen als mögliche Lösung des Problems (vgl. Lauer 1990: 177; Harvey 2013: 127–162). In der Tat haben sich inzwischen sowohl auf politischer als auch auf Planungsebene Methoden zur Einbeziehung möglichst vielfältiger Akteure und Akteurinnen des Stadtraums in die Planung etabliert. Das geschieht zum einen in Form von Bürgerbeteiligungsstrategien, die im Zuge neuer Governance-Modelle etabliert werden (vgl. Altrock / Betram 2012), zum anderen durch die Entwicklung neuer Planungsmodelle und -konzepte, die ebenfalls auf Engagement und kollektive Aushandlungsprozesse abzielen (vgl. Sager 2013; Healey 2006). So sehr die Inklusion der Betroffenen in Entscheidungsprozesse als Lösung propagiert wird, werden innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Herrschaftsformen ebenso wie in aktivistischen Kreisen zugleich auch mögliche Probleme der Partizipation thematisiert. Partizipation wird angesichts des letztlich häufig doch eher beschränkten Einflusses zivilgesellschaftlicher Akteure und Akteurinnen auf tatsächliche Entscheidungen kritisch als mögliche Strategie der Befriedung und als neuer Herrschaftsmodus diskutiert (vgl. Binder 2009: 240; Fezer / Heyden 2004: 15 f; Till 2005: 25–30; Kamleithner 2013b: 381). Zum anderen geht es um die Frage, inwiefern sich subtile gesellschaftliche Machtmechanismen und soziale Hierarchien im Rahmen von gemeinsamen Aushandlungsprozessen ausschalten lassen (vgl. Sager 2013: XVIII). 12 Die Wohnprojekte der 1980er-Jahre verstanden sich ganz explizit als selbstbestimmte, gewissermaßen utopische Projekte, die neue Lebensentwürfe entwickeln wollten. Von der Mitbestimmung bei der Planung erhofften sie sich – und darin sind sie aktuellen Bottom-up-Initiativen nicht unähnlich (vgl. Lange 2013: 15 f.) – vor allem passendere Lösungen als jene, die der konventionelle Wohnbau bot. Die Prozesse des partizipativen Planens sollen im Folgenden im Sinne eines weiten Begriffs von Planungskultur nach den sich darin manifestierenden und transformierenden gesellschaftlichen Leitbilden befragt werden. Dabei folge ich der Europäischen Ethnologin Eva Maria Blum, die vorschlägt, 12 Vgl. zum Aspekt der unterschiedlich verteilten argumentativen Kompetenz und Durchsetzungsmacht auch Selle 1992: 28; Kamleithner 2013b: 380 f.

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Planung »als kulturellen Prozess« zu verstehen, »in den die Akteure ihre erworbenen Vorstellungen und Orientierungen einbringen« (Blum 2007: 43). Ich gehe allerdings über die Frage nach zugrundeliegenden Vorstellungen und Leitbildern, die aufeinander abgestimmt werden müssen, hinaus und beschäftige mich insbesondere auch mit den hierarchischen Wissensverhältnissen, die zwischen den Beteiligten bestehen. In einem ersten Schritt erörtere ich für beide Projekte die jeweiligen Formen der Mitbestimmung, um anschließend danach zu fragen, wie sich die Gruppen in den nachträglichen Erzählungen den Architekten gegenüber positionieren. Schließlich steht im Fokus, wie die Einzelnen die Planungsaufgaben erlebt und auf welche sozialen oder Wissensressourcen sie dafür zurückgegriffen haben. Beide untersuchten Projekte zeichnen sich durch den Anspruch weitreichender Mitbestimmung aus. Zu den Entscheidungsbereichen, in die die zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen eingebunden waren, zählen die statische Struktur und die Erschließungssysteme der Häuser, die darin enthaltenen Gemeinschaftsräume, die Grundrisse der einzelnen Wohnungen und zahlreiche andere Merkmale der Architektur, etwa Fensterformen und -materialien oder Fassadenfarben. Im Wohnprojekt Lilie werden Aspekte, die für das Gemeinschaftsleben der Gruppe relevant sind, wie etwa die Erschließung des Gebäudes mit einem oder mehreren Stiegenhäusern, von der Gruppe rückblickend als wichtige Mitbestimmungsbereiche beurteilt, die hohe Entscheidungsautonomie in Material- und Farbfragen hingegen zum Teil als unnötiger Aufwand. Im Unterschied dazu sind es im Wohnprojekt Ziegelwerk zum Teil gerade die unscheinbaren Details wie etwa die Fenstermaterialien, die als wichtiges Feld beschrieben werden, in dem Werthaltungen, beispielsweise eine bestimmte ökologische Einstellung, zum Ausdruck gebracht werden konnten und sollten, auch wenn die entsprechenden Aushandlungsprozesse als Belastung erlebt wurden. Diese Ausweitung des Einflusses der Gruppen darf jedoch nicht im Sinne eines Bedeutungsverlustes der Expertise der Architekten interpretiert werden. Vielmehr nahmen in beiden Projekten die Architekten eine zentrale Rolle in der Gestaltung der Mitbestimmung ein, sowohl was die Reichweite der Mitbestimmung betrifft als auch hinsichtlich der Methoden, auf die zurückgegriffen wurde, um Laien die notwendigen Entscheidungsgrundlagen zu bieten. Die Planer fungierten als Übersetzer zwischen technischen Möglichkeiten und den Wünschen der Bewohner und Bewohnerinnen. Im Wohnprojekt Lilie war eine wichtige Grundlage für die Annäherungen der allesamt fachfernen Mitglieder der Gruppe an die Möglichkeiten der Architektur die Besichtigung bereits realisierter Gebäude oder die intensive Arbeit mit dreidimensionalen Modellen, beispielsweise um Bebauungsvarianten zu veranschaulichen. Darüber hinaus entwickelten die Architekten Fragebögen und führten Gespräche mit den einzelnen Beteiligten, um Wohnwünsche, aber auch Lebensgewohnheiten und

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Hintergründe für Wohnpräferenzen zu ermitteln. Die Planer sahen ihre Aufgabe zudem darin, die Wissenshorizonte hinsichtlich der vorhandenen Möglichkeiten zu erweitern (vgl. Klar / Schattovits 1988a: 22). Im Wohnprojekt Ziegelwerk bauten sie beispielsweise Eins-zu-eins-Modelle, um die geplanten Raumhöhen zu veranschaulichen, die von den bisherigen Wohnerfahrungen der Gruppenmitglieder abwichen. Dadurch kommt den Architekten eine bedeutende Rolle als Impulsgeber für bestimmte Entscheidungen zu. Unterschiedlich ist trotz dieser auf den ersten Blick ähnlichen Aufgabenkonstellation die Position der beiden Architekten und ihrer Mitarbeiter im Spektrum von Nähe und Distanz gegenüber den Gruppen. Während der leitende Architekt des Wohnprojekts Lilie trotz Freundschaftsbeziehungen zu einzelnen Mitgliedern klar als außenstehender Experte beschrieben wird, nahm der Architekt des Ziegelwerks eine Doppelrolle als Architekt und Gruppenmitglied ein. Der Kontakt zu ihm kam auf eine Art zustande, die der Gruppenfindung insgesamt entspricht, nämlich über persönliche Bekanntschaften. Dass in den Interviews der Architekt des Wohnprojekts Lilie zumeist mit seinem akademischen Titel, jener des Wohnprojekts Ziegelwerk hingegen mit seinem Vornamen erwähnt wird, verweist auf die unterschiedlichen Rollen der beiden, ist zugleich aber auf die divergierenden Umgangsformen in den Projekten zurückzuführen. 13 Insgesamt zeichnen sich in den diskursiven Aushandlungen und Bewertungen der Rolle der Architekten in beiden Projekten Dynamiken ab, die auf die komplexe Verflechtung von Entscheidungs- und Einflussmechanismen verweisen. Im Wohnprojekt Lilie beschreiben viele Gruppenmitglieder den partizipativen Planungsprozess in der Retrospektive im Sinne eines positiven »Erlebnis[ses] des Mitgestaltenkönnens«, wobei sich in den einzelnen Berichten sowohl Positionen besonderer Wertschätzung des Architektenteams als auch Kritik an dessen Vorgangsweise abzeichnen. Der Planungsprozess wird in dieser Hinsicht als konstruktive Kooperation, zuweilen aber auch als konfliktreiches Ringen um Entscheidungsmacht beschrieben. Im Erzählen über konkrete Planungsdiskussionen und Entscheidungen betonen meine Gesprächspartnerinnen und -partner häufig die Einheit der Gruppe und ihre Stärke gegenüber dem Architektenteam. Das zeigt beispielsweise der Verweis auf die »bewusste Entscheidung der Gruppe« für ein gemeinsames und gegen zwei getrennte Stiegenhäuser. Der Initiator des Projekts betont, dass die Autonomie und die Selbstbestimmtheit in der Entscheidung hinsichtlich der Grundstruktur des Gebäudes nicht zuletzt auch der Übersetzungsleistung der Architekten zu verdanken seien, die es verstanden hätten, der 13 So wurde auch mir im Wohnprojekt Ziegelwerk in der Mehrzahl der Interviews sofort das Du angeboten, was im Wohnprojekt Lilie nur in einem Interview der Fall war.

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Gruppe Grundlagen an die Hand zu geben, um überhaupt in diesem Bereich kompetente Entscheidungen zu treffen: Ich glaub, der Architekt hat das sehr gut gemacht, der hat uns einmal das Grundstück in Felder aufgeschlüsselt und hat gesagt: So und so könnte man das theoretisch bebauen nach diesen und jenen Überlegungen. Und dann haben wir herumdiskutiert. [...] Da haben sie uns, glaube ich, gut geführt, sodass wir wirklich Entscheidungsalternativen hatten und die auch beurteilen konnten.

Die konkrete Gestaltung des Stiegenhauses, das heute als eine Besonderheit des Hauses präsentiert wird, verdeutlicht gerade durch die nachträglich so unterschiedlichen Einschätzungen und Erinnerungen die Komplexität der partizipativen Planung und das uneindeutige Verhältnis verschiedener Positionen im Aushandlungsprozess. Von manchen wird das »wohnliche«, »freundliche« und helle Stiegenhaus im Rückblick als »starke Vorgabe von der Gruppe an die Architekten« beschrieben, in anderen Erinnerungen steht jedoch ein anfängliches Unverständnis dem Vorschlag des Architekten gegenüber im Zentrum, das sich im Rückblick mit großer Wertschätzung und Anerkennung für dessen Weitblick verbindet. Eine Bewohnerin, die damals als junge Frau mit ihrem Mann und ihren Kindern von Beginn an dem Projekt beteiligt war, erinnert sich an ihre anfängliche Skepsis und an die Argumente der Architekten: Das große Stiegenhaus, das war uns irgendwie lange nicht klar, wozu das notwendig ist. Weil man das von einem normalen Wohnbau nicht gewohnt ist. Und heute geht es mir so: Wenn ich in ein Stiegenhaus gehe, wo man das Licht selbst einschalten muss, dass ich denke: ›Boah, da ist es eng und finster.‹ Das ist so ein Eindruck. Weil ich eben dieses große Stiegenhaus gewohnt bin. Das hat uns damals [einer der Architekten, Anm. d. Verf.] [...] sehr schmackhaft gemacht mit den Begegnungsmöglichkeiten.

Die hier zitierte Bewohnerin spricht sowohl ihre eigenen, durch ihre persönlichen Wohnerfahrungen geprägten Vorstellungsmöglichkeiten an als auch die Veränderung des Raumgefühls sowie die Strategien der Architekten, Argumente zu finden, die die Gruppe überzeugen würden. Neben solchen Beispielen für anfängliche Differenzen zwischen den Visionen der Architekten und der Gruppe, deren Lösungen als konstruktiv bewertet werden, gibt es ein paar konkrete Planungsentscheidungen, um die herum sich Erzählungen von Konflikten mit den bzw. dem leitenden Architekten verdichten. Auf die Frage nach schwierigen Entscheidungen führen mehrere Bewohner und Bewohnerinnen die Farbgestaltung der Fassade an, bei der sich ein Spannungsfeld zwischen den »Vorschläge[n] der Architekten« und der »Gruppenmeinung« gebildet habe. Andere Konfliktpunkte hätten sich aus unterschiedlichen Prioritätensetzungen ergeben. So habe die Gruppe – und auch hier sind die Schilderungen in den Interviews auffallend einheitlich – zuguns-

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Abb. 6: Wohnprojekt Lilie, Stiegenhaus. Foto: Bettina Noesser, NOESSER PADBERG ARCHITEKTEN GmbH.

ten der »Wohnungsqualität« darauf bestanden, an einigen Stellen Einschränkungen in der natürlichen Belichtung des Stiegenhauses in Kauf zu nehmen, die als ästhetische Frage interpretiert wird. Bei der Grundrissgestaltung des Gemeinschaftsraumes gerieten die persönlichen Interessen des leitenden Architekten und die pragmatischen Bedürfnisse

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der Gruppe in Konflikt. Im ursprünglichen Entwurf hätte die Fassade im Erdgeschoss nach innen versetzt werden sollen, um die Säulen sichtbar und damit die innovative Konstruktionsweise des Hauses auch von außen nachvollziehbar zu machen. Ein Bewohner, Gymnasiallehrer kurz vor der Pensionierung, der sich in vielen anderen Fragen auf der Seite des Architekten positioniert, erzählt im Interview, der Architekt habe sich damit »wirklich sonnen« wollen. Der Gruppe erschien der Verzicht auf einen Teil des Gemeinschaftsraumes damals inakzeptabel. Unter Vermittlung des Initiators des Projekts wurde schließlich ein Kompromiss gefunden, nämlich eine geschwungene Außenwand, die lediglich in einem kleineren Bereich zurückversetzt ist und eine Säule sichtbar macht. Um die Belichtung der Kapelle entstand eine weitere Kontroverse, die vor allem auf unterschiedliche Raumerfahrungen und ästhetische Präferenzen zurückzuführen ist. Der Architekt, der vor seiner Arbeit für das Wohnprojekt auch im Kirchenbau tätig gewesen war, schlug ein Lichtband in Form mehrerer Lichtkuppeln an der Seite vor, während die Bewohner und Bewohnerinnen sich für eine einzige Lichtkuppel über dem Altar einsetzten. Der Architekt bestand darauf, in der Betondecke auch Auslässe an den von ihm vorgeschlagenen Stellen vorzunehmen, damit sich die Bewohner und Bewohnerinnen letztlich zwischen beiden Varianten entscheiden könnten – wie sich ein Bewohner erinnert, mit dem Argument: »Wer weiß, vielleicht gefällt es euch dann doch besser und dann kann man das Glas leichter einsetzen.« Schließlich blieb die Gruppe

Abb. 7: Wohnprojekt Lilie: Straßenansicht. Die zurückversetzte Wand des Gemeinschaftsraums macht eine der Säulen, die die tragende Struktur des Hauses bilden, auch von außen sichtbar. Foto: Ana Rogojanu.

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Abb. 8: Wohnprojekt Lilie, Kapelle. Die Belichtung erfolgt über die Lichtkuppel über dem Altar. Auf der rechten Seite sind an der Decke die vom Architekten geplanten Auslässe für die Belichtungsalternative als Schatten sichtbar. Foto: Ana Rogojanu.

bei ihrer anfänglichen Präferenz für die Belichtung des Altars. In mehreren Hausführungen werden mir die inzwischen verschlossenen aber immer noch sichtbaren Auslässe als ein Beispiel für den Versuch präsentiert, »dezidiert gegen den Willen der zukünftigen Hausbewohner irgendwelche Architektenvorstellungen« durchzusetzen, wie ein dem Architekten gegenüber auch sonst eher kritisch eingestellter Bewohner es ausdrückt. Der oben zitierte Gymnasiallehrer charakterisiert diese Diskussion als einen Konflikt um die vermeintlichen Kompetenzfelder von Architekt und Gruppe: Der [Architekt] war ein Kirchenbauspezialist. [...] Und für ihn war das: ›Ich kann jetzt endlich wieder eine Kapelle einrichten.‹ Und da hat natürlich die Gemeinschaft gesagt: ›Das wollen wir selber machen.‹ Und da hat es halt die ersten Reibereien gegeben und [er] hat gesagt: ›Ich möchte Lichtbänder haben.‹ Und wir haben gesagt: ›Wir wollen Kuppel, Pyramide, was auch immer haben.‹

Auch mit Blick auf andere Details kommen insbesondere im Interview mit einer alleinstehenden Frau Anfang achtzig, die zuvor einen Beruf im administrativen Bereich ausgeübt hatte, wiederholt Unterschiede in den ästhetischen Präferenzen zur Sprache:

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Der Blick des Architekten war, dass das eher so ganz einfach wird. Unten in der Halle wollte er den Fußboden nur geteert machen und die Schnallen an den Türen außen auch nur so gaaanz primitiv, so aus Aluminium, so runde, so klobige. Also er hat schon ein anderes Konzept gehabt, nicht? Und so primitiv wollten wir’s wieder nicht.

In der Erinnerung und Wahrnehmung dieser Bewohnerin hätte der Architekt in dieser Ästhetik einen Ausdruck der »Spiritualität« der Gruppe gesehen, die einen Verzicht auf einen gewissen Luxus impliziert. Die zitierte Bewohnerin sieht in dieser Diskussion nicht primär eine unterschiedliche Bewertung dessen, was als schön wahrgenommen wird, sondern betrachtet das »betont Einfache« gewissermaßen als einen Verzicht auf ästhetische Qualitäten. Das wird beispielsweise deutlich, wenn sie an anderer Stelle im Interview, als sie noch einmal auf die vom Architekten vorgeschlagenen »primitiven Türschnallen« zurückkommt, sagt: »Wir wollten es nicht wer weiß wie schön haben, aber normal, nicht?« Ebenso hätte der Architekt mit Verweis auf die ideelle Ausrichtung der Gruppe für die Innenausstattung einheitlichere Lösungen präferiert. Es sei dann aber doch »der Wille« der Gruppe gewesen, »ein bisschen individueller« zu sein. Hier wird deutlich, dass die Aushandlung ästhetischer Fragen im Planungsprozess stets auch mit einer Positionierung gegenüber anderen Werthaltungen Hand in Hand geht. Im Wohnprojekt Ziegelwerk wird ein ähnliches Spannungsfeld des Verhältnisses zum Architekten beschrieben, allerdings treten die zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen wesentlich weniger einheitlich in Erscheinung. Planungsentscheidungen wurden im Stil der allgemeinen Entscheidungsfindungsprozesse der Gruppe konsensuell getroffen. Diese aufwendige Form des Planungsprozesses wird im Rückblick von vielen als Zumutung für den Architekten beschrieben und sein Einsatz besonders gewürdigt. Eine im Sozialbereich tätige Bewohnerin beschreibt den Planungsprozess als außergewöhnlich und stellt dar, wie unkonventionell und aufwendig die Arbeit des Architekten des Wohnprojekts Ziegelwerk im Vergleich zu jener anderer Architekturbüros war: Also [der Architekt] [...] war immer da an diesen Mittwochen [an denen die Gruppe sich traf, Anm. d. Verf.] [...] und er ist ganz oft mit Stimmungsbildern nach Hause gegangen, weil wir keinen Entschluss zusammengebracht haben, ja? Da hat er alle möglichen Meinungen zu Vorschlägen gehört und dann ist er halt heimgegangen und hat es neu gezeichnet und hat etwas daraus gemacht und dann hat er es wieder zurückgespielt in die Gruppe. Und wenn er Pech hatte, waren das nächste Mal die anderen da. (lacht)

Die Betonung liegt vor allem darauf, dass der Architekt mit ambivalenten Reaktionen der zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen umgehen musste: »Ja,

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oder er hat auch schon was vorgelegt und dann haben halt die einen gesagt: ›Wow, super!‹ Und die anderen: ›Seid ihr wahnsinnig?!‹ Ja, also so ist das in etwa gegangen«. In ihrer Würdigung der Leistung des Architekten weist diese Bewohnerin die in der Gruppe von anderen geäußerten Bedenken zurück, dass der Architekt zu viel »bestimmt« habe. Sie beschreibt vielmehr den so gestalteten Prozess als alternativlos: »Also wir können es nicht gemeinsam zeichnen«. Die Doppelrolle des Architekten als Gruppenmitglied und Planer charakterisiert sie als schwierig und verweist darauf, dass die Gruppe sich nichts von ihm habe sagen lassen. Zugleich betont sie die überaus starke und wichtige Rolle des Architekten, die auch von vielen anderen angesprochen wird. Insgesamt erfährt das starke Engagement des Architekten sowohl positive Bewertungen im Sinne eines Impulsgebers und eines Fixpunktes als auch kritische Betrachtung hinsichtlich eines zu starken Eingreifens. Zu den Aspekten der Planung, die der Architekt entscheidend mitbestimmte, gehört die Grundstruktur der Wohnungen, die sich zunächst aus der Entscheidung ergab, die Raumhöhen des alten Fabrikgebäudes zu übernehmen. Die als teilweise Maisonetten konzipierten Wohnungen mit besonders großen Raumhöhen in den Gruppenräumen und niedrigen Individualräumen wurden als Grundstruktur letztlich auch nach der Entscheidung für den Neubau beibehalten, waren aber keineswegs unumstritten, wie sich ein Bewohner, von Beruf Elektrotechniker, erinnert: »Ich glaube, eine der ersten großen Debatten war, als die Architekten einmal losgeplant haben und dann so ein Konzept gebracht haben, dass die Wohneinheiten so Boxen sind und dass die sehr hohe Raumhöhen haben.« Er beschreibt die an den ersten Entwurf anschließende Debatte, ob man den Vorschlag annimmt, als »Grundsatzfrage«. »Normale Wohnungen« sei man »gewohnt« und diese seien »auch sehr schön«. Um die geplanten Raumhöhen für die Bewohner und Bewohnerinnen vorstellbar zu machen, hätten die Architekten mit einem Eins-zu-eins-Modell und Zeichnungen gearbeitet. Die Mehrheit der zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen habe sich davon überzeugen lassen. Angesichts dessen, dass Entscheidungen aber im Konsens getroffen wurden, habe dies noch zu keiner Lösung der ernsthaften Kontroverse geführt: Da stand auch im Raum, einen anderen Architekten zu nehmen oder einen Gegenentwurf zeichnen zu lassen. Und der Architekt hat sich geweigert, einen anderen Entwurf zu machen, weil er gesagt hat, er kann nur den besten Entwurf präsentieren.

Eine andere Bewohnerin, promovierte Naturwissenschaftlerin, erinnert sich ebenfalls an die Diskussion um die Raumhöhen und spricht dabei vor allem die Schwierigkeit an, als Laie ein Raumgefühl zu imaginieren, das sie aus ihrer bisherigen materiellen Raumerfahrung nicht kannte. Insbesondere die niedrigen Teile der Wohnung machten ihr Sorgen:

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Ich bin in einer Dachgeschoßwohnung aufgewachsen im Gemeindebau, wo die Raumhöhen auch schon nicht sehr hoch sind. Und ich hab’ mir gedacht, boah, das ist noch einmal ein paar Zentimeter kleiner [in den niedrigen Bereichen, Anm. d. Verf.]. Ob ich das aushalte?

In der Kontroverse rund um die Raumhöhen werden zum einen die Strategien deutlich, die die Architekten nutzten, um ihre Vorschläge, die über gewohnte Raumkonfigurationen hinausgingen, auch für architektonische Laien greifbar und letztlich beurteilbar zu machen (vgl. dazu auch Winter 2004: 188). Zum anderen spricht der oben zitierte Bewohner das Durchsetzungsvermögen des Architekten an, der sich weigerte einen Alternativvorschlag vorzulegen. Das Verhältnis zwischen Gruppe und Architekt stellt sich so insgesamt als stetiger Aushandlungsprozess und keineswegs als eindeutige hierarchische Relation dar. Denn neben bestimmten Fragen, in denen sich letztlich der Architekt durchsetzte, gab es auch eine Vielzahl an Details, die die Gruppe autonom entschied. Diese reichten – jenseits der Art und Gestaltung der Gemeinschaftsräume – vom Heizsystem über das Material der Fenster bis hin zur farblichen Gestaltung der Fassade. Auch die eigenen Wohnungen konnten innerhalb des vorgegebenen Rahmens der festgelegten Raumhöhen sowohl von der Aufteilung her als auch hinsichtlich der Ausstattung individuell geplant werden (vgl. Wagner 2000: 50 f.). Ein weiteres Beispiel für die aktive Mitgestaltung der Bewohner und Bewohnerinnen ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Hausarbeit, die letztlich dazu führte, dass die gemeinschaftliche Waschküche an einem hellen Platz im ersten Stock untergebracht wurde und sich so, bewusst im Gegensatz zum konventionellen Wohnbau, in der Mitte des Geschehens befindet. Im Interview erwähnt diesen Punkt nur eine Bewohnerin, die damals als sozialwissenschaftlich interessierte junge Frau federführend an der Auseinandersetzung mit dem Thema beteiligt war. Im Zuge der Wohnungsführungen kommen aber auch viele andere Bewohner und Bewohnerinnen darauf zu sprechen – mit dem expliziten Hinweis auf die Veränderung der Rolle von Frauen und Hausarbeit. Als Manko wird gerade aus heutiger Sicht das Fehlen eines Trockenraumes beschrieben. Der Architekt habe diesen damals mit dem Argument abgelehnt, es gebe ohnehin Wäschetrockner in der Waschküche. Ökologische Aspekte, die an bestimmten Punkten für die Gruppe damals durchaus schon Bedeutung hatten, flossen in diese Überlegungen letztlich nicht ein, weil, so die Einschätzung einer Bewohnerin, dies nicht das »Leib-und-Magen-Thema« des Architekten gewesen sei. In beiden Wohnprojekten wird die Planung also als intensiver Prozess der Auseinandersetzung mit vielen Reibungspunkten beschrieben. Die unterschiedlichen Lösungen der angesprochenen Konflikte in manchen Fällen zugunsten der Gruppen, in anderen im Sinne der Architekten, dann wiederum durch Kom-

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promisse, zeugen von einem uneindeutigen Machtverhältnis. Im Wohnprojekt Lilie fällt auf, dass in den Interviews viele Erzählungen vorzufinden sind, die die Gruppe als Einheit und starkes Gegenüber des Architekten vorstellen. Konflikte mit dem Architekten, die in den Interviews angesprochen werden, basieren oft einerseits auf unterschiedlichen ästhetischen Präferenzen und Gewohnheiten der Raumnutzung, andererseits auf unterschiedlichen Priorisierungen von ästhetischen bzw. praktischen Aspekten und den damit assoziierten Werthaltungen. Auch im Wohnprojekt Ziegelwerk findet sich der Topos der starken Gruppe, die sich vom Architekten »nichts sagen« lässt. Hier wird allerdings die Gruppe in sich als weniger homogen präsentiert und die Arbeit des Architekten als besondere Leistung gewürdigt. Dennoch erscheint das Verhältnis zum Architekten auch hier keineswegs konfliktfrei. Das Spektrum der Positionen gegenüber dem Architekten reicht von starken Vorgaben der Gruppe in manchen Bereichen bis hin zu umstrittenen Entscheidungen, in denen sich der Architekt durchsetzte, beispielsweise in der Gestaltung der Raumhöhen. In den Erzählungen von den Planungen der eigenen Wohnungen differenzieren sich sowohl das eigene Erleben des Beteiligtseins als auch das jeweilige Verhältnis zum Architekten stärker aus. Die Bewohnerinnen und Bewohner äußern klarer, wo die jeweiligen Herausforderungen des Mitplanens für sie lagen. Es wird deutlich, auf welche Ressourcen die Einzelnen zurückgreifen konnten, an welchen Leitbildern sie sich orientierten, und wo unterschiedliche Konzeptionen von Wohnraum aufeinanderstießen. Im Wohnprojekt Lilie ist ein herausstechendes Beispiel für einen besonders harmonischen Planungsprozess ein Bewohner, den ich an dieser Stelle Leopold Trautner nenne. Der zum Zeitpunkt des Interviews etwa sechzigjährige Gymnasiallehrer, der sich mit seiner Frau kurz vor der Vereinsgründung der Gruppe angeschlossen hatte, betont im Interview seine persönliche Nähe zum Architekten und seine besondere Wertschätzung für dessen gestalterische Leistung. Damit grenzt er sich wiederholt von der allgemeinen Gruppenmeinung ab. Er erzählt von einem angenehmen Planungsprozess, in dem er und seine Familie die grundlegenden Parameter festgelegt hätten, bevor die Architekten mit der Planung begannen. Inspiriert waren diese Überlegungen einerseits von den bisherigen Wohnerfahrungen und Lebensgewohnheiten der Familie. So berichtet Leopold Trautner, dass sie in ihrer alten Wohnung eine Bibliothek hatten, die das Zentrum der Wohnung bildete. »Also wir haben auf jeden Fall gesagt, wir brauchen in unserer neuen Wohnung eine eigene Bibliothek, wo der Büchervorrat gestapelt ist.« Andererseits wird in Herrn Trautners Erzählung deutlich, dass die Antizipation zukünftiger Entwicklungen des Familienlebens für die Planungswünsche grundlegend war: Dann waren Überlegungen, dass die Kinder [die zwei Kinder wurden in den Jahren vor der Fertigstellung des Gebäudes geboren, Anm. d. Verf.], wenn wir eine

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Maisonette haben, ein eigenständiges Leben da unten führen können: Grüne Wände, blaue Wände, was immer sie wollen, nicht aufgeräumt, aufgeräumt, dass sie werkeln können, wie sie wollen.

Nach unterschiedlichen Überlegungen hinsichtlich des Standortes der Wohnung und verschiedenen, nicht gänzlich zufriedenstellenden Vorschlägen für die Grundrissgestaltung, habe einer der Architekten den jetzigen Grundriss in Leopold Trautners Worten »hergezaubert«. Ganz im Unterschied dazu beschreibt eine alleinlebende pensionierte Sekretärin, die ich hier Gertrude Bauer nenne, ihre Erfahrungen der Wohnungsplanung mit dem Architekten als von Unverständnis gekennzeichnet. Ihre Irritation begann mit den ersten Gesprächen, die die Architekten führten. Wir waren natürlich der Meinung, er [der Architekt, Anm. d. Verf.] will mit uns reden in Bezug auf die Wohnung. Was wir uns vorstellen. Das ist doch das Naheliegendste. Ja, also, in dem Gespräch hab’ ich überhaupt nicht über meine Wohnung reden können. Sondern er hat sich nur interessiert, was ich bis jetzt gemacht habe. Also nur persönliche Dinge. Und ich war sehr enttäuscht, weil ich mir doch gedacht hab’, man kann sich bei ihm einbringen.

Die Auseinandersetzung mit den bisherigen Wohnerfahrungen und den Alltagspraktiken der Einzelnen, für die Architekten eine spezifische Planungsmethode, wie im Interview mit einem der beteiligten Architekten deutlich wird, erlebte Gertrude Bauer als mangelndes Interesse an ihren Wünschen und Präferenzen. Im konkreten Planungsprozess mit einem der Architekten beschreibt Gertrude Bauer sich selbst als in einer sehr bestimmenden Position auftretend. Sie habe sich in ihrer etwa fünfzig Quadratmeter großen Wohnung ähnlich wie in ihrer alten, wesentlich größeren Altbauwohnung einen großen Raum gewünscht – sie wollte »atmen können«. Daher habe sie das Schlafzimmer und die Nebenräume sehr klein konzipiert. In diesem Punkt entsprach ihre Präferenz den ästhetischen Vorstellungen der Architekten. Eine kontroverse Diskussion sei hingegen um die Küche entbrannt: Während der Architekt, der für die Planung ihrer Wohnung zuständig war, eine Wohnküche vorschlug – damals ein Novum, wie sich ein ebenfalls an der Planung beteiligter Architekt im Interview erinnert –, lehnte Gertrude Bauer diese vehement ab, mit dem Argument sie wünsche sich, die »Tür zumachen« zu können. Ihre starke Position in diesen Planungsfragen bekräftigt Gertrude Bauer mit dem Verweis auf die letztliche Anerkennung durch den Architekten: »Er musste sehr auf meine Wünsche eingehen, nicht? Er hätte es schon anders geplant gehabt, aber es hat ihm dann doch gefallen«. Andererseits sei sie für manche Vorschläge wie beispielsweise die hofseitige Positionierung des Schlafzimmers auch dankbar gewesen. Eine Architektin des Büros, die einen der planenden Architekten

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zeitweise vertrat, hätte ihr dies mit dem Argument nahegelegt, dass es dort aufgrund der nordseitigen Lage kühler und außerdem hofseitig ruhiger sei. Die so entwickelte Erwartungshaltung hinsichtlich des niedrigen Lärmpegels stimmt, wie Gertrude Bauer ausführt, letzten Endes nicht mit der Realität des Wohnalltags überein. Damit ist eine Erfahrung thematisiert, die sich durch viele Interviews zieht: die Differenz zwischen Vorstellungen während der Planung und dem tatsächlichen Raumerleben oder Wohnalltag nach der Fertigstellung. So berichtet mir Gertrude Bauer, dass es nachts nicht so ruhig sei, wie sie es sich vorgestellt habe, da sie die schwer vorhersehbaren Alltagspraktiken der Nachbarn und Nachbarinnen in Kombination mit den nicht so leicht abzuschätzenden akustischen Qualitäten des Raumes nicht bedacht hat: »Wenn die Pohls drüben heraußen gesessen sind und gesprochen haben, habe ich geglaubt, die sitzen bei mir im Schlafzimmer, weil der Schall so war.« Ebenso wird das Erleben des konkreten gebauten Raumes als korrigierendes Moment hinsichtlich der Erwartungen beschrieben. So sah Gertrude Bauer beispielsweise eine Sitzgruppe in einem bestimmten Teil des Wohnzimmers vor und stellte die Elektroplanung darauf ein. Als sie dann jedoch den Raum sah, »passte« die Sitzgruppe an vorgesehener Stelle doch nicht mehr. Der Raum habe, so Gertrude Bauer, nach der jetzigen Positionierung der Möbel »verlangt«. Die Überraschungsmomente, in denen klar wird, dass sich die materiellen Räume anders anfühlen, als man sie beim Planen imaginiert hat, sowie die Erkenntnis, dass man als Laie nicht alle Details der Planung mitbedenkt, teilen viele Bewohner und Bewohnerinnen. So erzählt eine andere Bewohnerin, dass sie »fassungslos« gewesen sei, als sie beim Betreten der Wohnung eine Säule vor einem Fenster vorfand, die während der Planung nicht Teil ihrer Vision gewesen sei. Unklar war vielen auch, welche Implikationen die Stützenbauweise bei allen Vorteilen der Flexibilität beispielsweise für den im Keller befindlichen Bewegungsraum haben würde: Also das war zum Beispiel das große Entsetzen. Wir haben gesagt, wir wollen diesen Turnsaal und dann sind in diesem Saal sechs Säulen quer durch den Raum durch, aber das haben die Architekten schlecht kommuniziert, wahrscheinlich gewusst warum, ja? (lacht)

Der hier zitierte Bewohner, ein Familienvater um die sechzig, der insgesamt auch im Zusammenhang der Wohnungsplanung sein eher spannungsreiches Verhältnis zum Architekten thematisiert, definiert hier ganz klar die Kommunikation baulicher Details, die für Laien nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit aus dem Plan abzuleiten sind wie für Professionisten, als Aufgabe der Architekten und stellt die Möglichkeit der absichtlichen Täuschung in den Raum. Als sehr spezielle Erfahrung beschreiben manche Bewohner und Bewohnerinnen auch das Raumerleben im Rohbau, das sich wesentlich vom alltäglichen Erleben eines bewohnten Raumes und auch von der in der Planung anti-

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zipierten Raumqualität unterscheidet. So berichtet ein Bewohner von einem Baustellenbesuch: An einem Samstagnachmittag, als die Decken schon fertig betoniert waren, hat einmal der Architekt mit Kreide die Wohnungsumrisse aufgezeichnet, und jeder hat sich in seine Wohnung stellen müssen. Wir haben gesagt: ›Um Gottes Willen, das kleine Kastl da?‹ Ohne Wände hat das so winzig ausgeschaut, dass man geglaubt hat, man wird sich überhaupt nicht rühren können.

Auch in den Berichten aus dem Wohnprojekt Ziegelwerk wird deutlich, dass es mitunter schwierig war, alle Implikationen bestimmter Planungsentscheidungen zu antizipieren. Eine Bewohnerin, die alleinerziehend mit kleinen Kindern eine Wohnung im Wohnprojekt bezog und neben diversen beruf lichen Tätigkeiten auch ein Studium absolvierte – ich nenne sie hier Klara Lindner –, erzählt, dass sie ganz klare Vorstellungen hinsichtlich der Raumaufteilung und der Positionierung der Räume in der Wohnung hatte. Sie wollte eine Wohnküche, ein direkt belichtetes Badezimmer sowie zwei gleich große Zimmer für ihre beiden Kinder. Mit anderen Entscheidungsbereichen, beispielsweise der Elektroplanung, sei sie überfordert gewesen. Auf meine Frage, wie die Planung der einzelnen Wohnungen vor sich gegangen sei, antwortet sie: Es hat einen Vorschlag vom Architekten gegeben und dann konnte man noch mitreden. Das ist unterschiedlich stark wahrgenommen worden. Es hat Leute gegeben, die ganz genau gewusst haben, was sie wollen. Und es hat welche gegeben, die damit schon zum Teil auch überfordert waren. Also ich war zum Beispiel, was die Elektroplanung betrifft, komplett überfordert. Wo brauchst du Steckdosen? Ha, ha. (lacht) Wie soll ich das wissen? Normalerweise war das bei mir so: Wir stellen die Übersiedlungskisten hin und dann schauen wir, was gehört wo hin. (lacht) Also diese Fragen waren für mich ein Wahnsinn.

Als »Fehlentscheidung« beschreibt Klara Lindner die Schiebetüren, die sie später durch Schwenktüren ersetzte. Auf meine Frage nach Veränderungen der Wohnung im Laufe der Zeit antwortet sie: Ich kannte nur eine Schiebetür aus dem Haus meiner Eltern und da hat sie das Esszimmer mit dem Salon verbunden und das war eine schwere Holzschiebetüre in einem schweren Holzrahmen. Als es dann geheißen hat, Schiebetür, hab’ ich mir so etwas vorgestellt. Und akustisch gesehen ist das ein Vorhang. Das hab’ ich nicht gewusst, dass das so ausschaut. [...] Zwischen hier und da [Wohnzimmer und Schlafzimmer, Anm. d. Verf.] ist es mir wurscht, ja? [...] Aber mit 14-jährigen Kindern wirst du wahnsinnig, also ich zumindest. (lacht) Und das heißt, ich hab’ mir dann oben diese Türen einbauen lassen. Das hab’ ich verändert.

Auf der Basis ihrer bisherigen Wohnerfahrungen hatte Klara Lindner ein Bild von Schiebetüren, das sich deutlich von jenen im Wohnprojekt Ziegelwerk

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unterschied. So war es für sie schwierig die akustischen Implikationen vorherzusehen. Wie im Wohnprojekt Lilie zeichnen sich auch in der Planung des Ziegelwerks Aushandlungsprozesse ab, in denen sich die Bewohner und Bewohnerinnen teilweise über die Ansätze und Vorstellungen der Architekten hinwegsetzten. Ein Bewohner, dessen Wohnung am Ende einer der Trakte liegt und daher drei Außenwände hat, bestand darauf, auch auf der dritten Seite Fenster zu haben, weil es ihm nur so möglich war, die für die Familienwohnung benötigte Zahl an Räumen unterzubringen. Eine der älteren Bewohnerinnen, die bei Einzug schon kurz vor der Pensionierung stand, plante zunächst mit dem Architekten eine große Wohnung, entschied sich dann aber in das einige Jahre später errichtete Folgeprojekt zu ziehen und plante dort ein zweites Mal eine wesentlich kleinere Wohnung. Sie berichtet von einem eigentlich »angenehmen«, wenngleich nicht konfliktfreien Verhältnis zum Architekten. Ihrer Einschätzung nach habe er »sich selbst verwirklichen« wollen. Gelegentlich hätten sich daraus Differenzen zwischen seinen Vorstellungen, die diese Bewohnerin als »nicht sehr praktisch« beschreibt, und den Bedürfnissen und Wünschen der Bewohner und Bewohnerinnen ergeben. Sie selbst habe sehr mit dem Architekten »gestritten«, um ihren Wunsch nach einem »Abstellkammerl« durchzusetzen. Andere wiederum betonen ihre Anerkennung dafür, dass der Architekt Wege gesucht habe, auch über bestimmte bauliche Richtlinien hinweg unkonventionelle Planungen umzusetzen: Es war jeder frei die Zimmereinteilung zu machen mit den Gipskartonwänden mit den Rahmenbedingungen, dass es eben den ganzen Bauordnungen entsprechen muss, die zwei Türen zwischen Wohnraum und WC und so. Und da hat sich jeder Einzelne mit dem Architekten oder mit jemandem von denen zusammengesetzt und das dann gezeichnet und sich auf das geeinigt. Bis auf ein paar Sonderlösungen, wo dann jemand noch die Stiege verändert hat oder so etwas, aber das waren dann Sonderanträge. Das war aber trotzdem möglich irgendwie durchzubringen.

So ergibt sich auch für das Wohnprojekt Ziegelwerk ein durchaus ambivalentes Bild des Verhältnisses zu den Architekten, in dem die Einflussmöglichkeiten immer wieder Aushandlungssache sind. In beiden Projekten wird klar, dass einerseits die bisherigen Raumerfahrungen und Wohnpraktiken einen wichtigen Referenzpunkt bildeten. Zugleich antizipierten die Bewohnerinnen und Bewohner bei der Wohnungsplanung auch ihre potenziellen zukünftigen Bedürfnisse, die etwa mit dem Älterwerden der Kinder verbunden sind. Allgemein stellte die Anforderung, das eigene Wohnen in einem noch nicht bestehenden Raum zu imaginieren, sich für viele als Herausforderung dar, nicht zuletzt, da die meisten daran gewohnt waren, ihren Wohnraum vorzufinden und sich diesen den Möglichkeiten entsprechend

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anzueignen. Häufig wurden Erwartungen, wie beispielsweise eine Ruhelage des Schlafzimmers, aufgrund unvorhersehbarer Aspekte enttäuscht oder vor Einzug entwickelte Visionen nach der direkten Konfrontation mit dem gebauten Raum noch einmal angepasst. Partizipatives Planen kann als eine spezifische »Figuration der Architekturproduktion« (Schubert 2005: 2) betrachtet werden, die auf den ersten Blick zur Verringerung der »Machtdifferenziale« (Schubert 2009: 56) auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene ebenso wie im konkreten Feld der Raumproduktion führt. Aus Sicht der Europäischen Ethnologie ist auch innerhalb dieser auf umfassende Mitbestimmung angelegten Konstellation, die bis zu einem gewissen Grad eine Neudefinition der Rolle des Architekten fordert, nach den impliziten Hierarchien zwischen den Akteursgruppen und den unterschiedlichen Ressourcen, auf die diese zurückgreifen können, zu fragen. Mit dem Prinzip der Mitgestaltung der zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen reihen sich die beiden hier untersuchten Projekte in eine Diskussion um Mitbestimmung in der Planung ein, die ab Ende der 1960er-Jahre auch von einzelnen Vertretern und Vertreterinnen der Planungsdisziplinen vorangetrieben wird und an der sich auch die Architekten der beiden Wohnprojekte beteiligen (vgl. Uhl 2003; Winter 2004). Architekten und Architektinnen setzen sich für eine »prozessorientierte Planung« ein, die im »Wechselspiel von Bedürfnisäußerungen und Gestaltungsvorschlägen« entwickelt werden soll (Kamleithner 2013b: 380). In weiten Teilen entspricht die Art und Weise, in der die Projekte realisiert wurden, der idealtypischen Skizze dieses Prozesses durch den Architekten Giancarlo De Carlo: Tatsächlich verwandelt die Partizipation die architektonische Planung von einem autoritären Akt, wie sie es bisher war, in einen Prozess: Einen Prozess, der mit der Offenlegung der Bedürfnisse der Nutzer beginnt, die Formulierung organisatorischer und formaler Hypothesen durchläuft, um dann in die Phase der Ausführung zu gelangen und anstatt zu enden, wieder mit einem kontinuierlichen Wechsel von Prüfung und Reformulierung beginnt, der Bedürfnisse und Hypothesen laufend rückkoppelt. (De Carlo 2013: 417)

In der Tat wird auch in den untersuchten Fällen deutlich, dass es sich bei der Planung nicht um einen »autoritären Akt« handelt, ebenso wenig aber um ein Setting, in dem »gleichberechtigte Teilnehmer einen von allen geteilten Konsens aushandeln« (Kamleithner 2013b: 381). Wie die Architektin und Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner feststellt, ist häufig »die Macht der involvierten Akteure äußerst unterschiedlich« (ebd.). In der spezifischen Figuration des partizipativen Planens, wie sie sich anhand der beiden untersuchten Projekt darstellt, sind hierarchische Verhältnisse zwischen Architekten und den Gruppenmitgliedern nicht aufgehoben, aber doch uneindeutiger als in konventionellen Planungsprozessen. Das Erzählen über die Planungsprozesse

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ist häufig getragen von einer nachträglichen Aushandlung dieser Positionen, die sich als potenziell flexibel und fluid darstellen. Unterschiedliche Positionen in diesem Feld der Aushandlung ergeben sich teilweise aus unterschiedlichen Wissensressourcen der Beteiligten, auch wenn sich der Umgang mit diesen Ressourcen anders darstellt, als Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer dies für konventionelle Planungsprozesse skizzieren: Ästhetische, gestalterische und konzeptionelle Kompetenzen fließen in die Entwürfe ein, auch in Auseinandersetzung mit sozialen und kulturellen Bedingungen und Zielen der Architektur, ohne dass darüber in der Regel ein bewusster Austausch stattfindet. Das gilt auch für das Erfahrungswissen, über das die verschiedenen Akteure verfügen, die in Entwurfs- und Bauprozesse involviert sind, und das sich im Handeln von Architekten und Architektinnen, Ingenieurinnen und Handwerkern artikuliert und aktualisiert. (Hauser / Kamleithner / Meyer 2013: 11)

Im Unterschied dazu findet im partizipativen Planungsprozess sehr wohl ein Austausch über diese Faktoren statt, insbesondere dort, wo unterschiedliche Vorstellungen und Präferenzen in Konflikt geraten, zum Beispiel, wenn sich ein Konkurrenzverhältnis zwischen den ästhetischen Kompetenzen und Präferenzen der Architekten und jenen der zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen entwickelt. Dennoch sind die zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen nicht als gleichberechtigte Partner in diesen Aushandlungsprozessen zu sehen, zumal ohne ein bestimmtes fachliches Wissen die Implikationen der Planung für den gebauten Raum nicht gänzlich vorhersehbar sind. Diese Differenz zwischen Beurteilung des Raumes auf Grundlage des Plans und physischem Raumerleben mit all seinen atmosphärischen Qualitäten beobachtet auch die Europäische Ethnologin Laura Gozzer in ihrer Masterarbeit (Gozzer 2016: 75–77). Die zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen bleiben so in einem gewissen Ausmaß auf die Architekten als Vermittler und Übersetzer angewiesen. Die Vorstellung, dass durch die Beteiligung der zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen eine passgenaue Planung ermöglicht wird, ist des Weiteren aufgrund des Umstands zu relativieren, dass die eigene zukünftige Wohnpraxis sowie auch jene der Nachbarn und Nachbarinnen im Planungsprozess in der Regel noch nicht vollständig vorhersehbar sind. Als Grundlage für die Vorstellung passender Wohnungsgrößen und Grundrisse gilt oftmals die vergangene Wohnerfahrung. Gerade in Settings, in denen neue Wohnformen mit stärker kollektivem Charakter etabliert werden sollen, bleibt ungewiss, wie das gemeinschaftsorientierte Wohnen die individuellen Wohnbedürfnisse verändern wird (vgl. dazu auch Klar / Schattovits 1988a: 140 f; Krosse 2005: 182).

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Transformationen und Stabilisierungen von Kollektivität Wenn das kollektiv und partizipativ geplante Gebäude das Ergebnis komplexer Aushandlungsprozesse sowohl innerhalb der Gruppe als auch gemeinsam mit dem Architekten ist, so bleibt zu fragen, was diese Prozesse und ihre Materialisierung längerfristig für den Alltag der Einzelnen sowie für die Beziehungen innerhalb der Gruppe bedeuten. Dafür ist es einerseits sinnvoll den Blick auf die sozialen Transformationsprozesse der Gruppen zu richten und andererseits nach der Bedeutung der baulichen Resultate des kollektiven Mitbestimmungsprozesses zu fragen, wobei sich beide Aspekte immer wieder auch verbinden. In diesem Sinn stellt sich außerdem die Frage, in welchem Verhältnis das für eine spezifische Gruppe und ihre einzelnen Mitglieder maßgeschneiderte Gebäude, das gewissermaßen als Materialisierung eines Status quo von kollektiven und individuellen Interessen und Visionen zu verstehen ist, und eine sich im Laufe der Zeit in ihrer personellen Zusammensetzung aber auch in den biographischen Konstellationen verändernde Gruppe zueinander stehen. Wie deutlich wurde, haben in die jüngeren wissenschaftlichen Ansätze zu intentionalen Gemeinschaften zunehmend praxeologische Perspektiven Eingang gefunden. Anders als im Konzept von Tönnies, in dem Gemeinschaften auf dem Wesenwillen als »gewordene[m] Wille[n]« (Tönnies 2012: 112) aufbauen, der auf »nachwirkende[n], vergangene[n], vererbte[n] Denk- und Empfindungsweise[n] der Vorfahren« (ebd.: 242) beruht, steht nun im Fokus, wie »Gemeinschaftlichkeit durch die Akteure in konkreten Austauschund Aushandlungsprozessen im alltäglichen Miteinander immer wieder hergestellt« (Grundmann 2011: 280) wird. Da diese nun als im Prozess befindlich gedacht werden, erfährt auch die zeitliche Entwicklung von Gemeinschaften ein besonderes Interesse. Eine der zentralen Fragen ist, welche Rolle der ersten Generation zukommt, die ein »zur Gründung notwendiges Einverständnis erziel[t] [...], dessen Fixierung für alle folgenden Generationen und Vergemeinschaftungsprozesse erhebliche Bedeutung behält« (Drucks 2006: 137). Neben den zentralen definitorischen Setzungen haben die frühen Mitglieder stets einen Vorsprung hinsichtlich der Erfahrung des gemeinsamen Tuns, dem gerade aus einer praxeologischen Perspektive zentrale Bedeutung für die Konstitution von Gemeinschaft zukommt: Indem wir gemeinsam mit Anderen Ziele entwickeln, bündeln wir unsere Aufmerksamkeit, sodass ein übereinstimmender, konzeptueller Hintergrund entsteht. Damit ergibt sich eine ›neue‹, kollektive, symbolische und institutionelle Realität, die ihrerseits unter den Beteiligten ein wechselseitiges Verpflichtungsgefühl für das zusammen Geschaffene hervorruft. (Grundmann / Wernberger 2014: 9)

Dieses gemeinsame Schaffen besteht im Fall von Wohnprojekten zunächst im Festhalten gemeinsamer Ziele für das zukünftige Wohnen, im Entwickeln von

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Organisationsstrukturen und informellen Regeln des Umgangs miteinander sowie im Planen und Realisieren eines Gebäudes. Nach dem Einzug verändert sich der »gemeinsame Sinn des Handelns« (ebd.) in Richtung des gemeinschaftlichen Wohnens, gemeinsamer Aktivitäten und des Realisierens anderer festgesetzter Ziele. Es bleibt zu fragen, welche Konsequenzen der Umstand hat, dass das »gemeinsame Schaffen« der Gründergeneration in ein materielles Resultat, nämlich ein Gebäude, mündet. Die Kunsthistorikerin Irene Nierhaus bezeichnet in ihren Reflexionen über die Matratze Dinge als Speichermedien, und zwar in zweifacher Weise: Einerseits »sammeln sich [darin] Geschichten, sind [darin] Beziehungen und Verhältnisse gespeichert« (ebd.: 11), andererseits gibt es »Normen, die der Produktion vorgeschaltet sind und sich in die Materialität des Produkts einschreiben« (ebd.: 12). Damit sind insbesondere zwei Aspekte der Betrachtung materieller Kultur angesprochen, nämlich die Erinnerungsfunktion der Dinge sowie die Frage danach, wie durch sie Normen realisiert werden. Die Erinnerungsfunktion von Dingen wurde im Rahmen der Forschungen zu materieller Kultur auf verschiedenen Ebenen konzeptualisiert. Zahlreich sind die Auseinandersetzungen mit Erinnerungsdingen, wie beispielsweise Denkmälern (vgl. Hahn 2005: 38 f.) oder Hochzeitsfotos (vgl. Mohrmann 1991: 231; Edwards 1999), deren primäre Funktion in der Evokation vergangener Ereignisse oder in der Dokumentation von Ereignissen über die Zeit hinweg besteht. Darüber hinaus gibt es eine große Bandbreite an Dingen, die implizit Informationen über vergangene Alltagswelten transportieren und so ein gewisses kollektives Wissen formen und aktualisieren. 14 Im Unterschied zu diesen Dingen, die jenseits individueller Erfahrungen Informationen speichern und die der Kulturhistoriker Marius Kwint als »records« bezeichnet (Kwint 1999: 2), gibt es auch Dinge, deren Erinnerungsfunktion aus ihrer Verstrickung mit bestimmten biographischen Ereignissen hervorgeht. Es handelt sich dabei um die Kategorie von Dingen, die die Volkskundlerin Ruth-E. Mohrmann als Objekte »mit Erinnerungspotenzial« (Mohrmann 1991: 231) beschreibt, und die Kwint folgendermaßen charakterisiert: Secondly, objects stimulate remembering, not only through the deployed mnemonics of public monuments or mantlepiece souvenirs, but also by the serendipitous encounter, bringing back experiences which otherwise would have remained dormant, repressed or forgotten. (Kwint 1999: 2)

14 Diesem Aspekt der Verflechtung von Ding und Erinnerung wurde insbesondere im Kontext des Museums große Aufmerksamkeit geschenkt, wobei immer wieder auf die Rekontextualisierung und die damit verbundenen Bedeutungsverschiebungen hingewiesen wird, die mit dem Transfer von Dingen ins Museum und mit ihrer Präsentation in Ausstellungen einhergehen (vgl. Korff 2011).

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Dabei kann es um gänzlich zufällige Zusammenhänge gehen, die etwa aus der Ko-Präsenz bestimmter Gegenstände in Situationen entstehen und die durch die Konfrontation mit dem jeweiligen Ding wieder vergegenwärtigt werden. Es kann sich aber auch um Dinge handeln, deren Erinnerungsfunktion sich aus ihrer Entstehungsgeschichte ergibt, oder daraus, dass sie beispielsweise innerhalb eines spezifischen Beziehungskontextes eine besondere Rolle gespielt haben, zum Beispiel als Geschenk oder als Erbstück (vgl. dazu bspw. Marcoux 2001a; Langbein 2002). Der Ethnologe Hans Peter Hahn verweist in diesem Kontext auf die Beiläufigkeit, in der solche »Evokationen« oft stattfinden: »Der Betrachter bemerkt nicht einmal, dass es ein bestimmtes Objekt oder eine bestimmte Anordnung ist, die eine Erinnerung hervorruft oder bestimmte Emotionen wiederauf leben lässt« (Hahn 2015a: 47). Als Erinnerungsobjekte fungieren solche Dinge in jedem Fall nur für jene Menschen, die die damit verbundenen Geschichten kennen. Dabei kann es sich durchaus auch um kollektive Erinnerungen handeln: Erinnerungsgegenstände sind aber nicht selten auch Dinge, die innerhalb von Familien oder kleinen Gruppen geteilt werden. Ihre Bedeutung besteht in solchen Kontexten darin, Erinnerungen an gemeinsame, zeitlich zurückliegende Erlebnisse zu vergegenwärtigen. (Hahn 2005: 40)

In dieser Studie bleibt also zu fragen, welche Informationen ein Gebäude über seine Geschichte sichtbar in sich trägt und welche Beziehungen und Verhältnisse mit ihm verbunden sind, die für eine an seiner Entstehung beteiligte Gruppe als kollektive Erinnerungen Gemeinsamkeiten schaffen, aber für Außenstehende nicht wahrnehmbar sind. Dem Gebäude eingeschrieben sind auch die Ergebnisse kollektiver Aushandlungen, die Positionierungen innerhalb unterschiedlicher Wertesysteme implizieren. Die Europäische Ethnologin Regina Bendix hat »Praxen der Verdinglichung« als Formen »des Greifbarmachens von Werten« beschrieben (Bendix 2015: 49). Die Arten der Verknüpfung von Materiellem und Werthaltungen können vielfältig sein. Die ökonomischen, ökologischen oder politischen Rahmenbedingungen für die Entstehung der Dinge können dafür ebenso ausschlaggebend sein wie die sinnlich-materiellen Qualitäten der Dinge selbst, ihre mitunter einem historischen Wandel unterworfenen symbolischen Zuschreibungen oder ihre Einbettung in Handlungsroutinen. 15 Das

15 Daniel Miller schreibt dazu: »Through dwelling upon the more mundane sensual and material qualities of the object, we are able to unpick the more subtle connections with cultural lives and values that are objectified through these forms, in part, because of the particular qualities they possess.« (Miller 1999: 9). Beispiele für empirische Studien, die verschiedene dieser Aspekte ansprechen, sind: Buchner-Fuhs 2001; Pellegram 1999; Hofmann / Maase / Warneken 1999; Michal 1989.

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Bauen macht implizit oder explizit eine differenzierte Positionierung in einer Vielzahl an moralisch aufgeladenen Fragen notwendig. Daniel Miller hält dazu fest: »[...] [M]aterial culture is often the concrete means by which the contradictions held within general concepts such as the domestic or the global are in practice resolved in everyday life« (Miller 1999: 19). Über die darin festgehaltenen kollektiven Erinnerungen und materialisierten Werthaltungen hinaus spielt das Gebäude als materielles Resultat von Aushandlungsprozessen innerhalb der Gruppe und zwischen Gruppe und Architekt insofern im Alltag eine Rolle, als die Standpunkte, die sich letztlich durchgesetzt und ihren materiellen Niederschlag gefunden haben, auch die »soziale Effektivität« (Steets 2015: 44) der Architektur bestimmen: [Artefakte] können auf unsere Entscheidungen einwirken, die Effekte unserer Handlungen beeinflussen und die Art, wie wir uns durch die Welt bewegen, verändern. Auf diese Weise spielen sie eine bedeutende Rolle dabei, menschliche Beziehungen zu vermitteln [...]. (Yaneva 2012a: 77)

Über die Architektur als Medium findet also eine konkrete Gestaltung sozialer Beziehungen nicht nur auf der Ebene symbolischer Vergegenwärtigung von Vergangenem statt, sondern, so wie die Ansätze der Akteur-Netzwerk-Theorie es nahelegen, auch aus einer pragmatischen Perspektive. Die an der Planung beteiligten Gründungsgruppen der Projekte beeinflussen durch das Mitgestalten des Gebäudes langfristig das Leben, das sich in diesem abspielt. Vor diesem Hintergrund gilt es in diesem Kapitel zu fragen, wie spätere Aneignungen des Gebäudes funktionieren, wie also Menschen, die nicht an diesem Entstehungsprozess beteiligt waren, mit dem Gebäude umgehen und welche Spannungen sich möglicherweise aus der Verstetigung und Stabilisierung einer bestimmten Vorstellung ergeben, wenn sich die Gruppe im Laufe der Zeit verändert. In beiden Gruppen wird retrospektiv der starke Zusammenhalt unter jenen Mitgliedern thematisiert, die an der Entwicklung der ersten Ideen sowie an der Planung der Gebäude beteiligt waren. Dabei wird deutlich, dass nicht nur die sozialen Kontakte, die sich im Zuge dieser Prozesse ergaben, eine entscheidende Rolle spielen, sondern auch die Tatsache, dass eines der zentralen Felder für die notwendigen Aushandlungsprozesse bauliche Fragen waren. Dadurch werden bestimmte Prozesse, die innerhalb der damaligen Gruppenkonstellationen abliefen, in eine materielle Struktur übersetzt, was sowohl verbindende Effekte hat als auch Konflikte verfestigt. Im Wohnprojekt Lilie wird mit großer Deutlichkeit von vielen Mitgliedern geäußert, dass das gemeinsame Planen des Gebäudes und die Entwicklung der gruppeninternen Organisationsstrukturen unter den Mitgliedern der Anfangsgruppe eine große Vertrautheit erzeugt haben, die nach wie vor im Umgang miteinander spürbar sei. Dies wird mit Begriffen wie »gemeinsamer Gruppengeist« oder mit dem Bild des Ansammelns von »gemeinsamer Geschichte und

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gemeinsamer Erfahrung« beschrieben. Eine Bewohnerin, die sich in den Abstimmungsprozessen der Gruppe nicht immer wohl gefühlt hat und zu den wenigen gehört, die im Interview auch Konflikte ansprechen, betont die Bedeutung des langfristigen Kontakts: »Das Zusammenwachsen und dieses Klären von vielen Dingen und auch den Blick des anderen besser verstehen zu können, warum wer wie ist, das braucht Zeit«. Sie betont mit großer Wertschätzung das »offene Gespräch« in der Gründungsgruppe. Eine ähnliche Perspektive vertritt auch eine andere Bewohnerin, ebenfalls Gründungsmitglied, die erzählt, dass im Zuge der Gemeinschaftswochenenden damals wie heute oft »sehr viele ganz ehrliche Dinge« zur Sprache kämen. Die offene Gesprächskultur sieht sie als »gemeinsamen Schatz«, trotz bestimmter »Reibungspunkte«, die sich im Laufe des Zusammenlebens entwickelt hätten. Das gemeinsame Reflektieren über Schwierigkeiten der kollektiven Entscheidungsfindung sowie des Zusammenlebens äußert sich letztlich auch darin, dass viele meiner Interviewpartner und -partnerinnen – darunter auch jene, die erst später eingezogen sind – dieselben Begriff lichkeiten verwenden, wenn sie von »Altlasten« aus dem Planungsprozess oder von darin geschehenen »Verletzungen« sprechen, die »nachwirken« oder immer wieder »hochkommen«. Markant für das Wohnprojekt Lilie ist ein besonders sensibler Umgang mit konfliktbeladenen Themen aus der Anfangszeit. So dienten etwa gemeinsame Begehungen der Wohnungen im Rohbau dazu, im Zuge der Wohnungsvergabe entstandene Unzufriedenheiten abzumildern, wie ein Bewohner erzählt: Da hat jeder so in seine Wohnung eingeladen und gesagt, wie es ihm gefällt und was das Schöne an der Wohnung ist. Und wir haben den auch bestärkt, damit nicht der Gedanke ›Ja, eigentlich wollte ich dort sein und jetzt bin ich aber woanders‹ in irgendeinen permanenten Neid oder Frust übergeht, sondern dass man merkt, jede Wohnung ist eigentlich anders und jede Wohnung hat etwas Schönes.

Weitere Beispiele für wiederholt angesprochene Konflikte drehen sich um zunächst scheinbar nebensächliche Ausstattungselemente, die aufgrund der Art und Weise, wie die Entscheidungsfindung ablief, langfristiges Konfliktpotenzial entwickeln. »Das war für mich so ein sichtbares Beispiel [betont, Anm. d. Verf.], wie mit Ideen von mir umgegangen wird«, erklärt mir eine ausgebildete Lehrerin, die sich damals als junge verheiratete Mutter der Gruppe angeschlossen hatte, mit Blick auf eine Entscheidung, in der ihrem Empfinden nach ihre Vorschläge nicht ausreichend ernst genommen wurden. Diese Entscheidung sei, wie mir auch Personen erzählen, die selbst erst nach der Planungsphase eingezogen sind, »Dauerthema« und komme insbesondere in Krisenzeiten in Verbindung mit starken Emotionen immer wieder auf. Das bauliche Detail, um das es dabei geht, ist letztlich die Konkretisierung eines Konflikts, der deshalb von so entscheidender Bedeutung ist, weil er symptomatisch für die unterschiedlichen Positionen einzelner Personen innerhalb der Gruppe steht.

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Auch andere mehr oder weniger konfliktbeladene Themen wie beispielsweise die Diskussionen um die Kosten bestimmter Ausstattungselemente haben ihren Niederschlag in der Architektur des Gebäudes gefunden und werden von vielen meiner Interviewpartner und -partnerinnen anhand dieser diskutiert. Ein zentraler Topos ist dabei das »Sparen am falschen Platz«, für das die Treppenstufen im Stiegenhaus von vielen als Beispiel angeführt werden. Nur die Trittflächen seien verfliest, die Stirnseiten hingegen nicht, was dazu führe, dass diese regelmäßig neu gestrichen werden müssen, weil sie sonst aufgrund der Spuren, die der in der alltäglichen Benützung unvermeidbare Kontakt mit Schuhen hinterlässt, »entsetzlich aussehen«. Auch die Balkontüren, die nicht gekippt werden können, oder der häufig defekte Aufzug dienen in vielen Interviews als Aufhänger für die rückblickende Abwägung von Kosten und Qualität und für eine Rekonstruktion der damaligen Positionen in der Diskussion. Ein Gymnasiallehrer setzt seine Erklärung zu den Treppenstufen folgendermaßen fort: Das sind Dinge, die mich gestört haben [...]. Also es ist sicher, alle, die hier im Haus wohnen, sind nicht mit unermesslichen Gütern gesegnet, jeder hat halt irgendwie auf sein Gerstl schauen müssen, aber bei manchen Dingen, find’ ich jetzt, das ist Sparen am falschen Platz. Ein Musterbeispiel ist der Aufzug, nicht? Es ist damals der Aufzug gewählt worden, weil er der billigste, der günstigste war. Und der Gedanke war, naja, Aufzug ist ein Gebrauchsgegenstand, da braucht man keinen Qualitätsanspruch zu stellen, nicht? Nur dass in diesem Aufzug schon etliche Motoren und die ganze Elektronik fünf Mal ausgewechselt wurden und er bleibt immer noch stehen, er ist noch immer nicht in Ordnung. [...] Also das sind Dinge, wo ich gesagt hab: ›Nehmts doch gleich ein g’scheites Produkt und nicht unbedingt immer das billigste.‹

Der hier zitierte Bewohner formuliert klar seine eigene Position, nimmt jedoch in weiter Folge die Gewichtung der Kontroverse deutlich zurück: Ja, aber es hätte auch gut gehen können, nicht? Also sich im Nachhinein darüber zu ärgern, hat wenig Sinn. Und ich glaub’, die Gemeinschaft lebt mit gutem oder mit schlechtem Aufzug genauso. (lacht) Sagen wir, es sind Dinge, die ich vergessen habe, und die mir weiter keine schlaf losen Nächte bereiten.

Eine andere Bewohnerin, die inzwischen Anfang achtzig ist, sieht in der Ausführung bestimmter Details die mangelnde Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse älterer Menschen bestätigt. Während sie mich durch ihre Wohnung führt, zeigt sie mir die Stufe zwischen dem Wohnzimmer und der Terrasse: Schauen Sie sich das an. Für einen alten Menschen. Und ich sehe so schlecht. Jetzt hat mir mein Sohn das gemacht [einen neben dem Türrahmen seitlich angebrachten Griff, Anm. d. Verf.], damit ich mich anhalten kann. Aber das ist

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einfach gefährlich und das dürfte nicht sein. Das hätte auch vor 30 Jahren nicht so geplant werden dürfen. Es war altersgerecht kein Thema. Kindergerecht ja, was ja wichtig ist, natürlich, aber altersgerecht war einfach kein Thema.

Die Wohnungsverteilung, die Entscheidung für oder gegen bestimmte Ausstattungselemente und die Ausführungen verschiedener baulicher Details haben allesamt ihren Niederschlag in der Materialität des Gebäudes gefunden und können als Beispiele für die Materialisierung von Aushandlungsprozessen gesehen werden, die Ungleichheiten bzw. Gewichtungen von Positionen auch im Nachhinein, zumindest für jene, die die Geschichten dazu kennen, greifund erlebbar machen und immer wieder aktualisieren. In der Einschätzung vieler sind die positiven gemeinsamen Erlebnisse ebenso wie die nicht endgültig gelösten, dem Gebäude eingeschriebenen Konflikte etwas, das die Gruppe entscheidend ausmacht und, wie eines der Gründungsmitglieder der Gruppe reflektiert, für die neueren Gruppenmitglieder nur schwer zugänglich ist: Wir haben zweimal im Jahr so einen Gemeinschaftstag und da wird oft an solche Dinge gedacht: Gibt es noch Altlasten, die aufzuarbeiten wären, oder schöne Dinge, an die man sich erinnern sollte, die wir formuliert haben? [...] Und die Jungen, die vor ein paar Jahren eingezogen sind, die sagen: ›Ah, das habt ihr uns noch nie erzählt.‹ Oder: ›Darüber habt ihr noch nie gesprochen.‹ Und die sind manchmal entsetzt, was da schon alles gelaufen ist auch an mühsamen Diskussionen, die hie und da wieder hochsteigen, nicht? Die kriegen das hie und da so am Rande mit und wissen damit eigentlich wenig anzufangen.

Dass ein langer und intensiver Planungs- und Gruppenentwicklungsprozess nachhaltige Auswirkungen auf die Sozialität der Gruppe hat, wird auch im Ziegelwerk deutlich. Wie auch im Wohnprojekt Lilie betonen viele Interviewpartnerinnen und -partner den außerordentlich starken Zusammenhalt zwischen den Mitgliedern, die gemeinsam den Planungsprozess durchlaufen haben. Ein Bewohner, der gemeinsam mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern zur Gründungsgruppe gehörte, berichtet: Es hat natürlich so eine Gruppe gegeben, die mehr oder weniger von Anfang an dabei war, die die [Fabrik] gekauft hat, die geplant hat, die bei diesen ganzen Planungs- und Entscheidungsprozessen dabei war. Das hat natürlich schon sehr geprägt. Und es ist auch so, dass es sowohl privat als auch was die Vereinspolitik betrifft, ein ziemliches Einverständnis gibt. Also es gibt immer noch unterschiedlichste Meinungen, was man so will. Aber trotzdem auch so einen Grundkonsens, was man da macht oder nicht macht.

Obwohl das benachbarte Folgeprojekt nur wenige Jahre nach dem Ziegelwerk fertiggestellt wurde und die Bewohner und Bewohnerinnen beider Häuser so schon auf langjähriges Zusammenleben zurückblicken können, sei das Ver-

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hältnis zwischen den Mitgliedern der Gründungsgruppe immer noch etwas Besonderes: Und insofern ist es natürlich auch im Zusammenleben so, obwohl man vielleicht mit jemandem grad nicht so wahnsinnig viel Kontakt hat, dass man sich einfach irgendwie versteht. Es ist einfach so ein Grundverständnis da.

Konflikte werden im Wohnprojekt Ziegelwerk eher unmittelbar mit Blick auf den Planungsprozess thematisiert, bei dem »viel gestritten« und »viel diskutiert« worden sei. Die daraus resultierenden Nachwirkungen für die Gruppendynamik werden weniger häufig thematisiert als im Wohnprojekt Lilie. Die Tatsache, dass die als mühsam beschriebenen Aushandlungsprozesse während der Planung ein materielles Resultat und damit auch einen langfristig sichtund fühlbaren Niederschlag gefunden haben, spielt für Mitglieder des Ziegelwerks vor allem als Bestärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls eine Rolle, etwa wenn sich das Begehen der Gemeinschaftsräume mit einem gewissen Stolz angesichts des gemeinsam Geschaffenen verbindet. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch mit Blick auf das Verhältnis zu den Architekten. Im Zuge der Hausführungen bieten im Wohnprojekt Lilie bauliche Details häufig den Anstoß zur Beurteilung der Arbeit des Architekten, wie beim Sprechen über undichte Stellen im Dach oder bei der Thematisierung mangelnder Fahrrad- und Kinderwagenabstellmöglichkeiten. Dabei werden zum Teil in den Interviews schon angesprochene Differenzen wieder aufgerollt, beispielsweise die Frage nach der Gewichtung von ästhetischen und praktischen Aspekten. Mehrere (weibliche) Bewohnerinnen sprechen davon, dass die großflächigen und zum Teil schwer zu erreichenden Verglasungen oder die im Stiegenhaus mittig angesetzten Stiegen, die sie als »Schönheitssachen« beurteilen, in der Reinigung aufwendig seien und sie sich »pflegeleichtere« Ausführungen gewünscht hätten. Besonders deutlich formuliert ein im Bildungsbereich tätiger Bewohner Anfang sechzig, den ich hier Stefan Mahrer nenne, im Zuge der Führung seine Kritik an der Arbeit des Architekten und thematisiert das als hierarchisch erlebte Verhältnis zu ihm am Beispiel einer Möglichkeit für die zusätzliche Belichtung des Vorzimmers, die der Familie entgangen sei: Hätten wir das damals durchblickt, wäre der Zählerkasten sicher nicht hier [über der Eingangstüre, Anm. d. Verf.], sondern irgendwo anders, und oben wäre ein Lichtband. Weil von da kommt die ganze Westsonne und die hätten wir dann da herinnen. Nur leider haben wir das nicht gewusst. (lacht) Oder man hat sich vor lauter Ehrfurcht dem Architekten gegenüber nicht mehr getraut, etwas zu sagen.

Die Auseinandersetzung mit der Gestaltung des Eingangsbereichs der Wohnung ruft Erinnerungen an die Schwierigkeit hervor, als Laie alle Implika-

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tionen der Planung zu beurteilen, sowie ein gewisses Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Autorität des Architekten. In der Tat gibt es eine ganze Reihe von Personen, die sich über die Arbeit des Architekten kritisch äußern und im Zuge der Hausführungen vielfach mit Blick auf architektonische Details Meinungsverschiedenheiten mit dem Architekten ansprechen oder bauliche Mängel als Resultate seiner Unachtsamkeit präsentieren. Dass diese unterschwellige Kritik an Bau und Architektur weniger in den Interviews, sondern stärker in der direkten Konfrontation mit dem gebauten Raum während der Führungen – quasi nebenbei – geäußert wird, ist als Indiz für die beiläufige Erinnerungsfunktion von Dingen zu sehen, die durch ihre Präsenz die mit ihnen verknüpften vergangenen Ereignisse aktualisieren können. Lediglich mit Blick auf das helle Stiegenhaus wird die Arbeit des Architekten von so gut wie allen Interviewpartnern und -partnerinnen explizit gewürdigt. Wenige Bewohner und Bewohnerinnen stellen sich darüber hinaus auf die Seite des Architekten. Dazu gehört ein kurz vor der Pensionierung stehender, im pädagogischen Bereich tätiger Bewohner, der betont, dass ihm die in seinen Augen gelungene Ästhetik des Hauses ein größeres Anliegen war als die perfekte Ausführung von funktionalen Aspekten: Ich bin über die Gesamtgestaltung des Hauses sehr glücklich. [...] Dass [der Architekt] ein Haus gebaut hat, das mehr auf Ästhetik als auf, sagen wir, architektonische Feinheiten oder reine Funktionalität geachtet hat, ist ein anderer Kaffee. Aber obwohl’s da manchmal reinregnet und es etliche Schwachstellen gibt, ist mir die Ästhetik wertvoller als ein dichtes Haus, das mir nicht gefällt.

Die Konfrontation mit der baulichen Substanz bietet also immer wieder auch eine Vergegenwärtigung und den Gegenstand der Auseinandersetzung mit Planungs- und Entscheidungsprozessen auch zwischen Gruppe und Architekt, wobei die Bewertungen durchaus situativ unterschiedlich ausfallen können, wie eine Bewohnerin berichtet: Wenn es wo Reparaturen gibt, heißt es: ›Na, hätten wir das doch damals anders gemacht.‹ Oder: ›Wieso hat der Architekt an das nicht gedacht?‹ [...] Oder es kommt von außen jemand und der sagt: ›Wow, ihr habt ein tolles Haus.‹ Dann sind wir natürlich stolz, dass wir so einen guten Architekten gehabt haben. (Alle lachen) Also das hat so diese beiden Seiten.

Im Wohnprojekt Ziegelwerk wird die Konfrontation mit dem gebauten Raum ebenfalls gelegentlich als Folie der Auseinandersetzung mit dem Architekten genutzt, aber weniger deutlich als im Fall des Wohnprojekts Lilie. Selten wird auf bauliche Mängel hingewiesen und insgesamt dominiert ein wesentlich einheitlicher positives Bild von der Architektur des Gebäudes. Mehrfach mit Bedauern angesprochen wird lediglich das Fehlen eines Trockenraums, den der

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Architekt mit dem Verweis auf die vorhandenen Wäschetrockner für unnötig erklärt habe, sowie der Umstand, dass der Bau nicht als Passivhaus ausgeführt wurde. In der Einschätzung einiger Bewohner und Bewohnerinnen hat sich an diesem Punkt die Gruppe also nicht mit ihrer ökologischen Einstellung durchsetzen können, was bis heute materielle Konsequenzen hat. Dass Konflikte mit dem Architekten im Wohnprojekt Ziegelwerk kaum angesprochen werden, entspricht dem vorherrschenden Image des Projekts und der Tendenz der Bewohner und Bewohnerinnen Konflikte als vergangene Ereignisse, aber nicht in ihren Nachwirkungen zu thematisieren. Deutlich wird im Fall beider Projekte, dass – ganz im Sinne eines praxeologischen Verständnisses von Gemeinschaft – das gemeinsame Tun Gemeinsamkeiten und Gefühle der Verbundenheit erzeugt: Gemeinsame Absichten und Verpflichtungen, die durch geeinte Aufmerksamkeit und wechselseitiges Wissen geformt und durch kooperative Motivation umgesetzt werden, ermöglichen das Erleben ›geteilter Intentionalität‹ (Tomasello 2012) und eines verbindenden, übergeordneten ›Wir-Gefühls‹. [...] Aus diesem gemeinsamen Schaffen resultiert ein Gefühl, das eng mit der wechselseitigen Bezugnahme im praktischen Tun verbunden ist [...] (Grundmann / Wernberger 2014: 9)

Dass sich dieses gemeinsame Tun in der ersten Zeit stark auf die Planung und Errichtung eines Gebäudes konzentrierte, bedingt zum einen eine bestimmte Intensität des Aushandelns, zum anderen vergegenwärtigt die Materialität im Alltag permanent eben diese Prozesse der Auseinandersetzung und Einigung, sei es in Form einer Erinnerung an Erfolg oder Ermächtigung, sei es durch eine wiederkehrende Aktualisierung von zwischenmenschlichen Konflikten. Während bauliche Elemente wie der Schornstein des alten Ziegelwerks als »records« (Kwint 1999: 2) im Sinne bewusst gesetzter Symbole, die einen bestimmten Teil der Geschichte der Gruppen vergegenwärtigen sollen, zu deuten sind, gibt es zahlreiche andere bauliche Details, die gewissermaßen nebenbei aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte Erinnerungen an den Planungsprozess transportieren (vgl. Kwint 1999: 2). Im Fall der beiden untersuchten Projekte schreiben bauliche Details gewissermaßen als Träger kollektiver Erinnerung bestimmte Vorkommnisse und Beziehungen sowohl innerhalb der Gruppe als auch zwischen Gruppe und Architekten fest und materialisieren einen Teil kollektiver Geschichte, der später Hinzugekommenen nicht in gleicher Weise zugänglich ist. Zugleich werden in beiden Projekten durch die Architektur unterschiedliche Werthaltungen zum Ausdruck gebracht und realisiert. Priorisierungen bestimmter Akteursgruppen, etwa der Kinder gegenüber älteren Menschen, Positionierungen in Bezug auf Werte wie Ökologie oder das Ideal des Verzichts auf Luxus, Entscheidungen finanzieller Art oder bestimmte ästhetische Orien-

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tierungen der Gründungsgruppen der beiden Wohnprojekte erhalten durch die Materialisierung eine dauerhafte Gestalt. Dabei handelt es sich sowohl um bewusst gesetzte Ideale der Projekte, die eng mit den Orientierungen der Gruppen zusammenhängen als auch um Entscheidungen, mit denen im Bauen quasi nebenbei bestimmte Werthaltungen verbunden sind, oder um die ästhetischen Aspekte bestimmter architektonischer Details. Damit stellen die Gruppen in der Zusammensetzung, in der sie an der Planung beteiligt waren, Weichen, die in einer langfristigen Perspektive auch für die später Hinzugezogenen von Bedeutung sind. Wie Regina Bendix festhält: »Die Aufrechterhaltung der Entscheidungen aus einem Heute vererbt dem Morgen ihre Werte und die damit verbundenen ideellen und finanziellen Auf lagen« (Bendix 2015: 50). Angesichts dieser dichten Arbeit der Gründungsgruppen an den gemeinsamen Zielen und der durch sie gestellten Weichen erhält die Frage nach den Veränderungen solcher Gruppen besondere Bedeutung. Insgesamt widmen beide Gruppen dem Prozess der Transformation durch den Wechsel von Mitgliedern große Aufmerksamkeit und bemühen sich durch bewusst entwickelte Auswahlprozesse darum, sicherzustellen, dass sich neue Mitglieder möglichst mit den Kernideen der Projekte identifizieren und zu deren Fortführung beitragen. Zugleich wird aber auch eine notwendige Adaption und Weiterentwicklung der Ziele in beiden Projekten intensiv diskutiert. Im Wohnprojekt Lilie entscheidet der Verein gemeinsam in einem aufwendigen Verfahren über die Vergabe von Wohnungen an neue Mitglieder. So berichtet der Initiator des Projekts, dass frühestens drei Monate nach einem Mitgliedschaftsantrag im Rahmen der Vollversammlung über die Aufnahme abgestimmt werden darf und dass dafür eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. Zuerst ist da meistens in der Vollversammlung ein Rundgespräch, das darauf abgestellt ist zu sagen, warum diese Bewerber aufgenommen werden sollten und warum sie zur Gemeinschaft passen, also das Positive ansprechend und nicht abwertend. [...] Und dann gibt es einmal eine erste informelle Abstimmung, damit man so ein Stimmungsbild hat: Wie schaut es aus und sind wir in der Meinungsbildung schon so weit, dass sich eine starke Mehrheit für jemanden entscheidet? Wenn nicht, müsste man zurückfragen, warum und gibt es jetzt zwei, die besonders favorisiert werden? Und kommt man da zu einer Lösung? Und wenn gar nichts geht, aber das ist sich bisher immer so ausgegangen, wird halt abgestimmt und man schaut, ob die zwei Drittel erreicht sind.

Als letzter Punkt in diesem Prozess stehe immer die Frage, ob einer oder eine derjenigen, der oder die gegen jemanden bzw. für jemand anderen votiert hat, »ein absolutes Veto« gegen die ausgewählte Person einlegen möchte, was bisher aber noch nie der Fall gewesen sei. Das Bewerbungsverfahren und die Integration in die Gruppe stellen sich auch aus Sicht der neuen Gruppenmitglieder als sensible Prozesse dar. Bewoh-

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ner und Bewohnerinnen, die ein solches Verfahren durchlaufen haben, erzählen von unterschwelligen Spannungen und von der Schwierigkeit, mit dem Wissen umzugehen, nicht von allen Mitgliedern als Wunschkandidat gewählt worden zu sein. Sie betonen die Notwendigkeit des »behutsamen Umgangs« miteinander sowie des »gemeinsamen Prozesses« des »Zusammenwachsens«. Darin wird deutlich, wie sich ein spezifischer Umgangs- und Diskussionsstil als kennzeichnend für die Gruppe etabliert und welch große Bedeutung der Veränderung der Gruppenzusammensetzung durch neue Mitglieder beigemessen wird. Die Aufnahme von Mitgliedern ist in mehrfacher Hinsicht ein Transformationsprozess. Nicht nur gilt es neue Menschen in eine bestehende Gruppe mit ihren Eigendynamiken zu integrieren, sondern der Auswahlprozess geht häufig mit konfliktreichen Diskussionen um die Prioritäten der Gruppe einher, wie eine Bewohnerin, selbst Gründungsmitglied, erzählt: Weil es halt einfach eine eindeutige Gewichtung ist, was mir in der Gemeinschaft wichtig ist. Ist mir wichtig, dass irgendwer die Buchhaltung macht und Ordnung im Haus ist, oder ist mir wichtig, dass die Ideen weitergetragen werden? Genau diese Spannungen, die latent eh immer wieder da sind. [...] Also das ist nicht einfach.

Die Kriterien für die Aufnahme von Mitgliedern reichen von pragmatischen Überlegungen, für wen die freie Wohnung in der entsprechenden Größe passen könnte, über Versuche der bewussten Gestaltung der Altersstruktur der Gemeinschaft durch neue Mitglieder bis hin zu Fragen des Engagements und der Gewichtung zwischen Wohnen und Gemeinschaft. Die mögliche Konkurrenz zwischen den Motiven »schön wohnen« und »sich engagieren« bildet ein mehrfach angesprochenes Spannungsfeld innerhalb der Gruppe, wobei die individuell geplanten und insgesamt »wunderschönen Wohnungen« als mögliche Konkurrenz für die »großen Ideen« gesehen werden. Eine Bewohnerin, die im Interview wiederholt den Anspruch äußert, sich über das eigene Wohnen hinaus sozial zu engagieren, führt ihre Überlegungen dazu folgendermaßen aus: Ist sozusagen das Haus das Ziel gewesen als Projekt? Oder ist das Haus ein Mittel, um eigentlich ein Ziel zu erreichen? [...] Es kann auch sein, das Ziel ist ›nur‹ dieses Miteinanderwohnen, aber es kann auch sein, das Ziel ist, wenn du jetzt zum Beispiel das ganze Grätzel 16 anschaust, zu sagen, [...] wir machen da jetzt, keine Ahnung, ein Kaffeehaus, einen Spielplatz auf, wir sind da ein Stück Oase für die Gegend drum rum. [...] Das ist immer wieder so ein Prozess. Es kann auch sein, dass das gar nichts mit der Wohnung zu tun hat, ja? Mein Gefühl ist nur, dass, wenn die Wohnung sehr schön ist, einfach die Gefahr größer ist zu sagen: ›He, es geht mir einfach gut hier.‹ Was ja auch okay ist, aber, ja.

16 Österreichisch-umgangssprachlicher Ausdruck für einen Teil eines Wohnviertels.

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Ein anderer Bewohner spricht dieses Spannungsverhältnis zwischen der Funktion des Projekts als Wohnraum und seinen sozialen Qualitäten, das die Gruppe seit den Anfangszeiten des Projekts beschäftigt (vgl. Klar / Schattovits 1993: 95 f ), in besonderer Deutlichkeit an: Also wie gesagt, es bleibt dabei, das Haus dient den Ideen der Gemeinschaft, auch wenn das jetzt ein bisschen pathetisch formuliert ist. Und es war kein ›Schöner Wohnen‹-Projekt eigentlich, obwohl es irgendwie auch eines ist, ja. (lacht) Natürlich freut man sich darüber, aber, wie g’sagt, die Idee war’s nicht in Gemeinschaft billiger zu wohnen, als wenn ich mir allein eine Wohnung kaufe. Das war nicht die Idee.

Auch im Wohnprojekt Ziegelwerk ist die Veränderung der personellen Zusammensetzung ein wichtiges Thema, wobei die Rahmenbedingungen dafür sich zum Teil unterscheiden. Eine erste wesentliche Entwicklung war der Bau des benachbarten Folgeprojekts als Erweiterung vier Jahre nach Fertigstellung des Ziegelwerks, zu dem es durch die gegenseitige Mitnutzung von Gemeinschaftsräumen sowie durch eine teilweise gemeinsame Verwaltung enge Verbindungen gibt. Zudem kam es im Laufe der letzten zwanzig Jahre auch innerhalb des Wohnprojekts Ziegelwerk zu Bewohnerwechsel, auch wenn in den Interviews insgesamt das Bild einer sehr stabilen Gruppe gezeichnet wird. Der Nachbesetzung der frei werdenden Wohnungen wurde bereits im Konzept viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die rechtliche Struktur des Ziegelwerks ist, so wie jene des Wohnprojekts Lilie, darauf ausgelegt, eine möglichst weitreichende Beständigkeit der Grundideen des Projekts zu gewährleisten. Die Entscheidung gegen eine Miteigentümergemeinschaft und für das im Besitz des Vereins befindliche Wohnheim präsentieren mehrere Interviewpartner und -partnerinnen als zentrale Entscheidung, weil dadurch die Gruppe die Kontrolle darüber behielte, wer einzieht (vgl. dazu auch Ehs 2008: 27; Schrage 2000: 214). So berichtet eine Bewohnerin, die sich der Gruppe bald nach der Gründung des Vereins anschloss, von der damaligen Diskussion wie folgt: Es hat Vertreterinnen und Vertreter gegeben, die haben gesagt, wir wollen eigentlich in ein Grundbuch hinein und wollen das den Kindern vererben, bis hin zu denen, die gesagt haben, wir wollen, dass das gemeinschaftlich ist. Und à la longue, muss ich sagen, ist das super, dass es eine gemeinschaftliche Geschichte geworden ist, weil nur so sichergestellt werden kann, dass die Idee [...] eben erhalten bleibt. Wir haben das bei vielen anderen kleineren Wohnprojekten gesehen: [...] Wenn Paare sich trennen und eine Person zurückbleibt und die das dann irgendwann an den Bestbieter verkauft und die Leute, die dann nachfolgen, sich mit dem überhaupt nicht mehr identifizieren, dann ist es wirklich nur mehr schön Wohnen, aber nicht mehr der Spirit, der ursprünglich da war.

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Hier wird ein ähnliches Spannungsfeld von Interessen zwischen »schön wohnen« und dem Einsatz für die darüber hinausgehenden Grundideen des Projekts angesprochen wie im Wohnprojekt Lilie. Darin offenbart sich eine Diskrepanz zwischen einem Blick auf die Wohnprojekte als materielle Ressource im Sinne von Wohnraum und als soziale Ressource im Sinne eines Netzwerks nach innen und nach außen gerichteten Engagements. Die Tatsache, dass dieses Spannungsverhältnis im Wohnprojekt Lilie weitaus häufiger thematisiert wird als im Wohnprojekt Ziegelwerk, mag darauf beruhen, dass dieses insgesamt eine stärkere Kultur des Explizitmachens und Festschreibens von Orientierungen sowie stärkere Verbindlichkeiten pflegt. Das Aufnahmeverfahren ist im Wohnprojekt Ziegelwerk inzwischen recht stark formalisiert und im Unterschied zu den Anfangszeiten, als sich noch alle Interessentinnen und Interessenten vor der ganzen Gruppe präsentierten, im Verantwortungsbereich einer sogenannten Vorauswahlgruppe, die finanzielle und rechtliche Fragen klärt und persönliche Gespräche über das Interesse an dem bzw. über schon bestehende Kontakte zum Wohnprojekt führt. Diese Vorauswahlgruppe gibt schließlich eine Empfehlung an die Mitgliederversammlung weiter, die letztlich über die Aufnahme neuer Mitglieder abstimmt. Dabei wird – ähnlich wie bei der Einrichtung verschiedener Arbeitsgruppen während der Planungsphase – großer Wert auf die Besetzung der Gruppe gelegt, die möglichst die Bandbreite der unterschiedlichen im Wohnprojekt existierenden Positionen und Interessen abbilden soll. Diese relativ stark formalisierte Umgangsweise mit den Neuaufnahmen beschreibt ein Bewohner, der seit den Anfangszeiten Mitglied der Gruppe ist, als Reaktion auf eine informelle Praxis der Akquisition von neuen Mitgliedern. Er berichtet, dass beispielsweise in der Anfangsphase neue Mitglieder aufgrund persönlicher Bekanntschaften bzw. der Durchsetzungskraft einzelner Mitglieder in die Gruppe aufgenommen wurden: Und da hat es dann ein bisschen Widerstand gegeben, dass manche da sehr tätig sind und ihre ganze Belegschaft reinbringen. Und dann hat sich so eine Gruppe etabliert, die aus verschiedenen Lagern zusammengesetzt war und die so eine Vorbegutachtung macht. Und damit bin ich eigentlich zufrieden.

Das Risiko, dass ein neues Mitglied nicht gut zur Gruppe passt, bleibe dennoch bestehen: Man kann nie vorher wissen, wie jemand ist. [...] Und dadurch [durch die spezifische Zusammensetzung der Vorauswahlgruppe, die begründete Vorschläge formuliert, Anm. d. Verf.] funktioniert das ganz gut und wird das ein bisschen diskutierbarer und sachlicher und läuft relativ freundlich ab. Und trotzdem sind die Besetzungen manchmal gut, manchmal schlecht. Aber das ist einfach die Art, wie wir’s haben.

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Die Kriterien für die Auswahl gründen auf einer nicht eindeutig ausformulierten Vorstellung des Dazupassens und auf einer Einschätzung der Bereitschaft neuer Mitglieder »sich einzubringen«. Eine Bewohnerin, die davon berichtete, dass sie damals selbst als junge Frau mit großer Überzeugung die basisdemokratischen Ideen in einem Ausmaß mitgetragen habe, das ihr aus heutiger Sicht übertrieben scheint, antwortet auf meine Frage, ob sie während der Anfangszeit in der Gruppe Vorstellungen davon hatten, welche Leute sie suchen, folgendermaßen: Ja, ja, auf alle Fälle. Also ich meine, ausgedrückt wurde das immer entlang der Frage nach dem zu erwartenden Engagement, aber das ist halt mhh. Ja? In Wirklichkeit ist es natürlich um viele andere Dinge auch gegangen. Ob die einem sympathisch sind, ob man das Gefühl hat, dass man sozusagen politisch nicht ganz entgegengesetzt tickt. Solche Dinge. Also da konnte man auch ziemlich schnell durchfallen, glaub’ ich. (lacht) Wenn man da das Falsche vermittelt hat. Ich glaube, wir waren auch ziemlich hart in vielen Dingen.

Mit fortschreitender Zeit wird mehr und mehr der Generationenwechsel thematisiert und Alter zu einer relevanten Auswahlkategorie. Das Hauptproblem bestehe, so ein Gruppenmitglied der Anfangszeit, darin, dass zu wenige Wohnungen frei würden, um jüngere Menschen aufzunehmen: Wir wollen nicht, dass das zu einem Altenwohnheim wird, sondern wir wollen, dass das jung bleibt. Vielleicht muss man dann irgendwann irgendwo anders hinziehen, damit Junge nachkommen. Das wollen wir ja, dass es ja lebt, ja? Es ist nicht ganz leicht.

Die Einbeziehung der später Hinzugekommenen wird in beiden Häusern als großes und zugleich schwer umzusetzendes Anliegen beschrieben. Die Transformation der Gruppe erfordert und ermöglicht es immer wieder neue Ziele zu definieren, sie impliziert also eine fortlaufende Arbeit an der Herstellung von Gemeinsamkeit durch das gemeinsame Tun. Wie die Einbettung neuer Bewohner und Bewohnerinnen, die eine grundsätzliche Transformation der ganzen Gruppe bedeutet, gelingen kann, wird im Wohnprojekt Lilie von manchen Gründungsmitgliedern sehr bewusst reflektiert: Wir haben es noch nicht in irgendeine geordnete Bahn gebracht, dass wir die Neuen wirklich in diesen Prozess hereinnehmen. Wir haben einen Entwicklungsprozess durchgemacht und Neue müssen einfach mitten drinnen einsteigen und wissen nicht, was da schon alles gelaufen ist an Diskussionen. [...] Auf der anderen Seite will ich nicht immer am Alten festhalten. [...] Und gerade, weil wir auch [...] von der Zusammensetzung her in einem Erneuerungsprozess sind, wo mehrere Junge nachkommen, liegt mir sehr daran, wirklich neu zu buchstabieren, was wir wollen, oder was sich jeder vorstellt und so.

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Auch im Wohnprojekt Ziegelwerk wird die Integration der neuen Mitglieder als besondere Herausforderung erlebt. Viele derjenigen, die später dazugekommen sind, wüssten, wie ein Bewohner erzählt, der im Interview mehrfach den Verlust der Ideale aus der Anfangszeit beklagt, überhaupt nicht mehr, »wo sie wohnen und worum es da eigentlich geht«. Zudem beobachtet er, dass sich dieses »›Worum es eigentlich geht‹ wahrscheinlich auch sehr verändert« hat. Während sich der hier zitierte Bewohner an früheren Zeiten orientiert, spricht eine andere Bewohnerin, die ich hier Laura Stadler nenne, ebenfalls Gründungsmitglied und beruf lich im sozialen Bereich tätig, mit einem vorwärts gerichteten Blick davon, dass es wichtig sei, mit Mitgliedern des Folgeprojekts sowie neu Hinzugezogenen »gemeinsam Geschichte zu schreiben« und Zukunftsvisionen zu entwerfen: Weil die [...], die neu dazugekommen sind, [...] die haben diese Geschichte nicht. Und man kann die nicht aufholen, aber man kann irgendwie versuchen Sachen zu vermitteln. [...] Es geht nicht um die Nostalgie, sondern wirklich auch darum, dass man versteht, warum Dinge so sind, wie sie sind, oder warum sich etwas so entwickelt hat. Und da sind diese gemeinsamen Aktivitäten schon sehr wichtig.

So wurde ein Wochenendausflug für die Gruppe organisiert, bei dem sich die Bewohner und Bewohnerinnen gemeinsam die Frage stellten, »wie der Verein in zehn, fünfzehn Jahren ausschauen soll«. Laura Stadler schreibt diesem Treffen eine gewichtige Rolle zu, da man sich damit beschäftigt habe, »auch eine gemeinsame Zeit zu schreiben und eine gemeinsame Zukunft zu planen«. Damit solle verhindert werden, dass »die, die vorher da waren, aus der Geschichte heraus immer einen Vorsprung haben vom Wissen und von den Erfahrungen und den Prozessen her«. Es gelte, so Laura Stadlers Position, diesen Fokus auf Vergangenes zu überwinden und »etwas Neues gemeinsam« zu entwickeln. Neue Gruppenmitglieder müssen sich also sowohl auf einer ideellen Ebene mit einem Set vordefinierter Ziele auseinandersetzen als auch die im Laufe der Zeit entstandenen Beziehungsstrukturen zwischen den Mitgliedern verstehen. Im Fall des Wohnprojekts Lilie wird zudem deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Gruppe besonders explizit auch auf einer materiellen Ebene stattfindet, insofern sich neue Gruppenmitglieder mit den für andere individuell geplanten Wohnungen arrangieren müssen, die in einem hoch individualisierten Planungsprozess auf die Lebenssituationen und Präferenzen anderer Bewohner und Bewohnerinnen zugeschnitten wurden. Allfällig gewünschte Umbauten sind aufgrund der baulichen Struktur zwar leichter möglich als in anderen Gebäuden, bedeuten allerdings dennoch einen gewissen Aufwand, unterliegen bestimmten Beschränkungen und hinterlassen außerdem materielle Spuren. Eine von mir interviewte Bewohnerin bezog mit ihrem Mann eine Wohnung, die zuvor von einer alleinstehenden Frau bewohnt worden war und, so der Eindruck, »schon sehr auf eine Einzelperson« zuge-

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schnitten war. Für ein anderes Paar, das ebenfalls nachträglich eine Wohnung im Wohnprojekt Lilie bezog, bestand die Schwierigkeit in unterschiedlichen Präferenzen etwa hinsichtlich der Lage der Küche und in schlecht nutzbaren Nischen und Winkeln, die vorangegangene Veränderungen des Grundrisses hinterlassen hatten. Das neu einziehende Paar nahm daraufhin recht umfangreiche Umbauten vor, die beiden gestalteten beispielsweise die bis dahin wenig belichtete Küche zu einer Wohnküche um und verschoben Wände und Türen. Praktiken des Umbaus wie die hier beschriebenen sind nicht nur für neue Bewohner und Bewohnerinnen von Bedeutung, sondern auch für Mitglieder der Kerngruppe, deren familiäre Wohnsituation sich im Laufe der Jahre verändert. Es geht also grundsätzlich um die Frage, wie sich das Gebäude den sich wandelnden Bedürfnissen sowohl einer sich personell verändernden Gruppe als auch den biographischen Veränderungen ihrer Mitglieder anpassen kann. Diese Überlegungen waren in beiden Projekten bereits während der Planung zentral, wobei unterschiedliche Lösungsansätze gefunden wurden. Im Wohnprojekt Lilie resultierte der Anspruch der Architekten, das Gebäude möglichst flexibel zu halten, 17 in der Entscheidung für die Stützenbauweise als statische Grundstruktur, die im Wesentlichen ohne tragende Wände auskommt (vgl. Klar / Schattovits 1988a: 146–148). Während die materielle Flexibilität aus Sicht der Architekten einerseits notwendig für die individuelle Planung der einzelnen Wohnungen war und andererseits der Anforderung entsprach, dass sich Räume unterschiedlichen, nicht vorhersehbaren Nutzungen anpassen sollten (vgl. Klar / Schattovits 1988a: 21), wird das Ideal der Flexibilität aus Sicht der Bewohner und Bewohnerinnen mit Deutungen und Ansprüchen belegt, die im Selbstverständnis der Gruppe eine wichtige Rolle spielen. Der Anspruch der Flexibilität verbindet sich mit einem spezifischen in der Gruppe vorherrschenden Familienverständnis, wie ein Bewohner Anfang sechzig, der intensiv die Gruppenprozesse reflektiert, ausführt: Eine Idee, die uns der Architekt auch offeriert hat, und auf die wir aufgesprungen sind, war diese Säulenbauweise. [...] Der Grund ist der, dass ja die Familie ein lebender Organismus ist, der zuerst größer und dann wieder kleiner wird. Also wenn die Kinder heranwachsen, braucht man mehr Platz, und wenn die Kinder wieder ausziehen, braucht man wieder weniger Platz.

Die »Familie« nimmt im Diskurs der christlich geprägten Gruppe als Kerneinheit des Wohnens, um die herum sich die Überlegungen zu den Anforderungen an das Gebäude entwickelten, sowohl als ideelles Konzept als auch als Alltagsrealität viel Raum ein. Tatsächlich schlossen sich in dem Projekt von Beginn

17 Zu diesem Aspekt vgl. ausführlicher Rogojanu 2016b.

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an etliche Familien mit dem Wunsch nach mehreren Kindern zusammen (vgl. Klar / Schattovits 1993: 53), für die sich die Frage nach den Anpassungsmöglichkeiten der Wohneinheiten ganz konkret stellte. Der Wunsch nach einer möglichst passgenauen Wohnung fußt dabei nicht einzig auf finanziellen und pragmatischen Überlegungen, sondern wird von den Gruppenmitgliedern viel tiefer in den christlichen Idealen der Selbstbeschränkung und des Teilens verankert, die, so der Initiator des Projekts, immer wieder die Motivation für Veränderungen der Wohnungsgrundrisse bildeten: Wir haben in diesen gut 20 Jahren [seit das Projekt besteht, Anm. d. Verf.] sieben Mal Wohnungsgrundrisse verändert oder Wohnungstausch durchgeführt, wo Leute gesagt haben: ›Ich geh jetzt in eine kleinere Wohnung, wenn wir [als Gemeinschaft, Anm. d. Verf.] da eine Familienwohnung brauchen usw.‹ Das ist dann schon immer ein Aushandlungsgespräch. Oder wenn zwei aneinandergrenzen und sagen: ›Jo, ich bräuchte jetzt ein Zimmer und der [Nachbar] hat eh eines zu viel.‹ [...] Wenn jemand 130 Quadratmeter hat, der mit drei Kindern eingezogen ist, und jetzt ist vielleicht noch eines da und in absehbarer Zeit ist das auch weg, sind jetzt dann zwei Leute da mit 130 Quadratmetern, die vielleicht sagen: ›Na, das brauchen wir eigentlich nicht, kostet ja doch einiges an Geld.‹ Und wenn sie es noch irgendwie ideell anschauen, sagen sie: ›Mein Gott, eigentlich sollte ich teilen, Raum teilen, Wohnung teilen, gehört ja eigentlich auch dazu. Und wenn ich jetzt 130 hab’, hab’ ich um 50 oder so zu viel und da könnte schon jemand anderer wohnen, der vielleicht eine Wohnung sucht.‹

Manche Bewohner und Bewohnerinnen nutzten die Möglichkeiten der Wohnungsanpassungen intensiv. So bauten beispielsweise Hermann und Maria Kaltenbrunner, wie ich sie hier nenne, beide Anfang sechzig und Mitglieder der Kerngruppe, er Lehrer, sie ausgebildete Kindergartenpädagogin, ihre Maisonette-Wohnung im Laufe der letzten zwanzig Jahre mehrmals um. Das Paar betont im Interview, dass sie durch die Planung eines zweiten Eingangs schon von Anfang an ein besonderes Augenmerk auf eine spätere Teilbarkeit der Wohnung gelegt hätten. Während die obere Wohnebene mit Wohnküche und Elternschlafzimmer seit dem Einzug weitgehend gleich geblieben ist, wurde die untere Ebene immer wieder verändert. Nachdem die vier Kinder, für die auf der unteren Ebene drei Zimmer vorgesehen waren, nach und nach auszogen, beschlossen Hermann und Maria Kaltenbrunner zwei Zimmer sowie ein Bad als eigenständige Wohneinheit von ihrer Wohnung abzutrennen. Dem verbleibenden Teil ihrer Wohnung gliederten sie die benachbarte Einzimmerwohnung auf der anderen Seite an, um ihrem jüngsten Sohn eine weitgehend unabhängige Wohnform zu ermöglichen: Das war dann mehr oder weniger seine Wohnung mit einer Verbindungstür zu uns. Also er hatte selbst Vorzimmer, Bad, WC und einen großen Wohnraum.

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Abb. 9: Grundriss der unteren Ebene der Wohnung der Familie Kaltenbrunner vor dem ersten Umbau. Plan: Architekturbüro Ottokar Uhl, Bearbeitung: Ana Rogojanu.

Es wäre auch eine Küche drinnen gewesen, die hat er nie aktiviert. [...] Also der Paul 18 hat das, glaube ich, dann schon gebraucht, da war er so siebzehn, achtzehn, dass er seinen eigenen Eingang auch hat. Und die Tür zu den Eltern auch zumachen kann, wenn er Besuch hat und so. Das war dann schon für seine Lebensform in dem Alter ganz gut.

Nachdem der Sohn im vergangenen Jahr ausgezogen war, wurde die Tür zwischen den beiden Wohnungen vermauert und die kleine Wohnung als eigenständiges Objekt vergeben. Einige Bewohnerinnen und Bewohner berichten von ähnlichen Umbauten, bei denen Nachbarwohnungen entweder Zimmer zugeteilt bekamen oder komplett in eine Wohnung integriert wurden. Dabei war jedoch Voraussetzung, dass sich die Wohnbedürfnisse der benachbarten Familien gewissermaßen ergänzten, also der Platzbedarf gleichzeitig auf der einen Seite stieg und

18 Der Name wurde geändert.

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Abb. 10: Grundriss der unteren Ebene der Wohnung der Familie Kaltenbrunner nach dem ersten Umbau. Plan: Architekturbüro Ottokar Uhl, Bearbeitung: Ana Rogojanu.

auf der anderen sank. Zudem mussten sich die Wohnungen in günstig gelegenen Teilen des Gebäudes befinden, denn einige Wohnungen, wie beispielsweise die einer anderen Familie, die ich hier Kager nenne und deren drei Kinder bald ausziehen werden, können trotz der verschiebbaren Wände nicht oder nur mit sehr großem Aufwand verkleinert werden. Das geht nicht, weil wir keinen zweiten Eingang reinbringen. Der Wohnungseingang ist nur der und da kann man nichts ändern. Man kann die Wände zwar versetzen, aber man kann, also man könnte – das ist aber unsinnig eigentlich – einen gemeinsamen Eingang lassen und könnte durch den Abstellraum eine Türe durchbrechen, dann hätte man praktisch zwei so Schläuche.

Eine Umgestaltung würde unpraktische Grundrisse nach sich ziehen. Peter Kager, Anfang sechzig und beruf lich im Bildungsbereich tätig, beschreibt dies als »Problem« und prognostiziert, dass seine Frau und er nach dem Auszug der Kinder die 130 Quadratmeter große Wohnung »irgendwann« aufgeben werden, weil sie »einfach zu groß« ist. Besonders hinsichtlich der anstehenden

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Abb. 11: Grundriss der unteren Ebene der Wohnung der Familie Kaltenbrunner nach dem zweiten Umbau. Plan: Architekturbüro Ottokar Uhl, Bearbeitung: Ana Rogojanu.

Pensionierung ist die Wohnung auch finanziell aus Peter Kagers Perspektive nicht zu halten: »Ich meine, das kann sich dann keiner mehr leisten. Und für zwei Leute braucht man’s nicht«. Wie er beschreibt, hätten seine Frau und er im Planungsprozess durchaus über Verkleinerungsmöglichkeiten nachgedacht, jedoch sei die Frage nach der Teilbarkeit angesichts komplexer Diskussionen um den Standort der Wohnung im Gebäude sowie Überlegungen zu aktuellen Nutzungsweisen in den Hintergrund gerückt. Mit der Hoffnung auf eine Lösung zu gegebenem Zeitpunkt wurde das Thema auf später verschoben. Weitere Brüche mit der intendierten Flexibilität finden sich zudem in den Wohnpraktiken selbst, die sich als weniger flexibel herausstellen, als während der Planung angenommen. Maria und Hermann Kaltenbrunner besprechen einerseits die Wohnpraktiken anderer kritisch, reflektieren andererseits auch das eigene Ringen mit der Entscheidung zur Verkleinerung ihrer Wohnung. MK: Ich denke mir, man muss das auch emotional wollen, nicht? Ich meine, es gibt in Wien so viele Leute, die zu zweit auf 150 Quadratmeter wohnen, weil alle Kinder ausgezogen sind. Weil sie eben die Wohnung so eingerichtet haben.

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HK: Das wollten wir [als Gruppe, Anm. d. Verf.] am Beginn nicht, aber es ist eben eines der Dinge, die nicht so umgesetzt werden, wie wir uns das gedacht haben.

Derzeit überlegt das Ehepaar, den einzigen nach anderen Verkleinerungen noch übrig gebliebenen Raum auf der unteren Ebene abzugeben. Das Abtreten des Arbeits- und Gästezimmers und damit der kompletten unteren Ebene würde eine Veränderung ihrer alltäglichen Wohn- und Lebenspraktiken erfordern, zu der sich weder Maria noch Hermann Kaltenbrunner durchringen können. Hermann Kaltenbrunner beschreibt auch einen baulich weniger aufwendigen Umzug in eine kleinere Wohnung als emotionale und finanzielle Herausforderung: Das ist von unserer Seite her auch emotional noch nicht so durchführbar, weil man einfach sagt, okay, wir sind eingerichtet, wir müssten praktisch alles neu einrichten und neu gestalten und da haben wir momentan weder die Kraft noch den Willen noch das Geld das umzusetzen.

In vielen Interviews sind die Flexibilität des Hauses bzw. ihre Grenzen Thema. Die eigentlich zunächst auf die Architektur bezogene Frage, wie sich Veränderungen der Grundrisse eines Gebäudes nachträglich umsetzen lassen, wird dabei in engem Zusammenhang mit den Idealen der Gruppe, insbesondere des Teilens und der Selbstbeschränkung, diskutiert. In vielen Fällen wird damit implizit wieder das Spannungsfeld von »wohnen« versus »sich engagieren« angesprochen. Im Ziegelwerk wird der Wunsch nach einer flexiblen Architektur, die sich unterschiedlichen Lebensumständen und Nutzungen anpassen kann, anders argumentiert. Während im Wohnprojekt Lilie der Blick auf die wachsende und schrumpfende Familie als »natürlicher Organismus« ausschlaggebend für den Wunsch nach räumlicher Flexibilität ist, sind es im Wohnprojekt Ziegelwerk die im Denken der Alternativbewegung der 1960er- und 1970er-Jahre zu verortende Vielfalt und biographische Flexibilität von Beziehungs- und Lebensformen, die sich ändernde Ansprüche an das Wohnumfeld stellen (vgl. dazu auch Wagner 2000: 22 und 37; Krosse 2005: 187). Die Möglichkeit von Umzügen innerhalb des Projekts ebenso wie die Optionen zur Verkleinerung oder Vergrößerung von Wohnungen spielten eine wichtige Rolle in den architektonischen Überlegungen zur Struktur des Gebäudes (vgl. Ehs 2008: 22; Winter 2004: 193). Für das Wohnprojekt Ziegelwerk umfasste das Konzept die Gestaltung relativ einheitlicher sogenannter »Boxen«, innerhalb derer Wände ohne großen Aufwand verschoben werden können. Zudem können die »Boxen« leicht miteinander verbunden oder voneinander abgetrennt werden, weil jede über einen eigenen Eingang und über eigene Anschlüsse für Nassbereiche und Küche verfügt.

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Die Diskurse rund um das Boxensystem sowie die konkreten Beispiele des mehrfachen Umbaus verdeutlichen, dass es in der Tat im Ziegelwerk häufig andere Situationen sind, die Umbauten und Wohnungswechsel erfordern als im Wohnprojekt Lilie. Harald Klinger, inzwischen Anfang sechzig und beruf lich im technischen Bereich tätig, zog mit seiner damaligen Freundin und späteren Frau in das Projekt ein. Im Interview erzählt er mir, er hätte es eigentlich »lustiger« gefunden, zwei verschiedene Boxen an weiter auseinander gelegenen Standorten innerhalb des Wohnprojekts zu bewohnen, wobei es sich letztlich doch so ergeben hätte, dass ihre Boxen nebeneinander lagen. Inzwischen hat das Paar die Boxen miteinander verbunden und wohnt mit dem gemeinsamen Sohn in einer aus mehreren Boxen bestehenden Wohnung, die auf mich den Eindruck einer Familienwohnung macht. Ein weiteres Beispiel dafür, unter welchen Umständen Umbauten tatsächlich vorgenommen wurden, ist die Wohnsituation von Helga Schneider und Jens Weinhappel. Das Paar bewohnt zwei von drei Boxen, die vertraglich als Wohngemeinschaft gewidmet sind. Zunächst wurden diese drei Boxen als Zweier- bzw. als Dreier-Wohngemeinschaft genutzt. In der letzten Phase der Wohngemeinschaft wohnte Helga mit ihrem Partner Jens und einem weiteren Mann zusammen, bis sie beschlossen, die Wohngemeinschaft aufzulösen. Eine Box wurde abgetrennt. In der daraus entstandenen Kleinwohnung lebt der ehemalige Mitbewohner, das Paar bewohnt nun eine aus den zwei verbleibenden Boxen bestehende Wohnung. Diese Situation wird mir gegenüber als temporär präsentiert, die beiden sprechen die Möglichkeit an, die vermauerten Türen jederzeit zu öffnen und die dritte Box wieder anzuschließen. Neben Umbauten gibt es auch Beispiele für Umzüge innerhalb des Projekts. Freie Wohnungen werden immer zuerst intern ausgeschrieben. In einigen Fällen einigten sich Bewohnerinnen und Bewohner auch auf das Tauschen der Wohnungen. Mehrere solcher Umzüge hat beispielsweise eine meiner Interviewpartnerinnen hinter sich, die ich hier Ilse Raunig nenne. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews Anfang fünfzig und hat sich nach verschiedenen Ausbildungen und beruf lichen Tätigkeiten in unterschiedlichen Bereichen für einen handwerklichen Beruf entschieden. Von der Initiative für das Wohnprojekt erfuhr sie als damals alleinerziehende Mutter, die in einer Wohngemeinschaft lebte, über ihren damaligen Partner, der zu einer der anfänglichen Kerngruppen gehörte. Im Wohnprojekt zog sie zunächst ebenfalls in eine Wohngemeinschaft, bevor sie die Wohnung eines Paares am zentral gelegenen Teich übernahm. Dieses wollte »weg aus dem Geschehen« und zog in eine andere Wohnung im Wohnprojekt. In der Zeit, in der sie mit ihren Kindern zu Hause gewesen sei, habe sie es genossen »voll drinnen im Leben« zu sein. Später tauschte Ilse Raunig unter anderem aus Kostengründen diese Wohnung wiederum mit einer Familie, die mehr Platz brauchte, und zog in eine kleinere Wohnung in einem anderen Teil des Gebäudes.

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Trotz der Ideale der Flexibilität, die zum Teil auch ausgelebt werden, thematisieren manche meiner Interviewpartnerinnen und -partner die Schwierigkeiten, diese so umzusetzen, wie ursprünglich gedacht. Harald Klinger, jener Bewohner, der lieber in größerer räumlicher Entfernung zu seiner Partnerin gewohnt hätte, erwähnt, dass sein Vorschlag, alle paar Jahre in eine andere Wohnung zu ziehen, sich nicht durchgesetzt habe. Auch Ilse Raunig, die selbst mehrmals innerhalb des Wohnprojekts umgezogen ist, verweist darauf, dass das unkomplizierte Wechseln der Wohnungen als eine Grundidee des Projekts schwieriger zu realisieren sei als gedacht. Einmalige Wechsel hat es schon gegeben [...]. Je nach Bedarf. Also wenn die Familien wachsen, dann wollen sie größere Wohnungen haben. Es ist nicht immer leicht. Aber es hat schon passende Umzüge gegeben. Ich meine, es war ganz ursprünglich überhaupt die Idee, dass wir lauter Boxen haben, dass alles gleich ausschaut, dass man jederzeit wechseln kann. Aber wenn einmal jemand so drinnen sitzt in der schönen Wohnung, richtet man sich alles ein und dann wollen die wenigsten wieder weg.

Für eine andere Bewohnerin, Anfang fünfzig und beruf lich im sozialen Bereich tätig, ist die Option zur Verkleinerung ihrer Wohnung vor allem finanziell mit Blick auf ihre Pensionierung von Bedeutung. Doch ihre Wohnung, die für sie als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die inzwischen ausgezogen sind, konzipiert war, befindet sich in einem Teil des Gebäudes, in dem ein Umbau schlecht möglich ist. Sie beschreibt die Schwierigkeit, sich von ihrer Wohnung zu trennen, an deren Qualitäten sie sich über die Jahre hinweg gewöhnt hat: Ich habe mir schon einmal überlegt, ob ich in [das benachbarte Folgeprojekt] ziehe, weil dort eher etwas frei wird. Aber da war es echt so, dass ich mir gedacht habe, mir gefällt dieser Platz hier so gut. [...] Ich mag diesen Ort hier ganz hinten. Es ist extrem ruhig da. Ich mag das Licht in der Wohnung, [...] Wenn man die Wohnung halbieren könnte, so wie manche der anderen, hätte ich das längst gemacht.

In beiden Wohnprojekten zeigt die Wohnpraxis also, dass die Vision eines möglichst flexiblen Umgangs mit dem Wohnraum teilweise umgesetzt wird, fallweise aber auch an Grenzen stößt. Dazu gehört, wie die Beispiele aus dem Wohnprojekt Lilie zeigen, eine gewisse Eigendynamik des gebauten Raumes, die nicht vollständig den Intentionen der Planer und Planerinnen bzw. der mitgestaltenden Bewohner und Bewohnerinnen entspricht. Zudem stellen sich die Beharrungskraft der Wohnpraktiken sowie die Dauerhaftigkeit der Einrichtung der Vision häufiger, dynamisch auf sich verändernde Situationen reagierender Wohnungswechsel entgegen. Dies mag auf eine starke Bedeutung des Sich-Einrichtens als soziale Positionierung im weitesten Sinn verweisen (vgl. bspw. Katschnig-Fasch 1998; Gullestad 1993; Csikszentmihalyi; Roch-

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berg-Halton 1989; Häußermann / Siebel 2000: 44–56). Der aufwendige Prozess des »material homemaking«, den die Kulturanthropologin Irene Cieraad als Grundlage des »mental homemaking« (Cieraad 2010) beschreibt, steht im Spannungsverhältnis zu dem von den Gruppen entwickelten Ideal der Flexibilität der Wohnräume und Wohnpraktiken mit dem Ziel der Selbstbeschränkung.

Raumtheoretische Perspektivierungen I Die Bedingungen und Prozesse der Produktion des gebauten Raumes sind von verschiedenen Theoretikern und Theoretikerinnen in unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen worden. Mit dem Modell der Architektursoziologin Silke Steets können Prozesse des Planens und Bauens als eine Form der »Externalisierung« betrachtet werden. Zentrale Fragen wären dann, welche »gesellschaftlichen Rahmenbedingungen« die Architekturproduktion kennzeichnen, und »welche Weltdeutungen mit Bauentwürfen, architektonischen Interventionen und realisierten Gebäuden jeweils verbunden sind« (Steets 2015: 113). Damit sind zwei Aspekte angesprochen, die die Leitlinien der folgenden Überlegungen bilden sollen, nämlich einerseits die Frage nach dem Wie, also danach, unter dem Zusammenwirken welcher Akteure und Dynamiken bestimmte Ideen in materieller Form externalisiert werden, und andererseits die Frage nach dem Was, also nach dem Inhalt der Ideen, die sich in einem Gebäude niederschlagen. Die Frage nach den sozialen Bedingungen der Architekturproduktion bildet eines der Kerninteressen der kultur- und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Architektur. Die Architektin und Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner schlägt vor, im Zuge der Frage nach den »sozialen Zusammenhängen, in denen Architektur und städtischer Raum geplant und entworfen werden« die Akteure, Interessen und Handlungsweisen sowie die »Politik des Entwerfens« (Kamleithner 2013b: 376) in den Blick zu nehmen. Die Architektursoziologin Silke Steets nennt die »Legitimationsmechanismen, [...] [durch die] Architekten Architekten und Laien Laien bleiben« sowie »Rollen, Institutionen und Wissensformen« (Steets 2015: 152) als wesentliche Aspekte, die es in diesem Zusammenhang zu analysieren gilt, und der Architektursoziologe Herbert Schubert definiert die »Figurationen der am Prozess beteiligten Akteure« sowie insbesondere »die Stellung der Architekten als professionelle Kernakteure« (Schubert 2005: 2) als wichtige Themen der Architektursoziologie. Die Perspektive, unter der von den genannten Autoren bzw. Autorinnen und anderen dieses Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure und Akteurinnen in spezifischen Konstellationen betrachtet wird, ist im Anschluss an die Arbeiten von Theoretikern wie Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu oder Norbert

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Elias (vgl. bspw. Steets 2015: 31 und 41; Schubert 2009: 56) häufig eine machttheoretische, der es darum geht, die jeweiligen Einflussbereiche abzustecken. Dabei wird von verschiedenen Autoren und Autorinnen das Bild einer Demokratisierung der Planung (vgl. Kamleithner 2013b: 380) im Zuge der historischen Entwicklung skizziert. Gegenüber der historisch älteren »hierarchischen feudalistischen Figuration« (Schubert 2005: 12), in der der Baumeister vorwiegend alleine bestimmte, sowie der am italienischen Renaissancebaumeister orientierten »Vorstellung eines autonom agierenden Künstlerarchitekten« (Steets 2015: 148) seien nun in einer Figuration, die Herbert Schubert als »ökonomisiert« beschreibt (Schubert 2005: 12), eine ganze Reihe an verschiedenen Akteuren an der Architekturproduktion beteiligt: bürgerschaftliche Interessensgruppen, Investoren, Projektentwickler, Kreditwirtschaft, Öffentlichkeitsmedien, die kontrollierenden ingenieurwissenschaftlichen Professionen und Gewerke ebenso wie die ökonomischen und baurechtlichen Rahmenbedingungen (vgl. Steets 2015: 149; Schubert 2005: 12). Schubert beurteilt das gegenwärtige Verhältnis zwischen diesen als »ausgewogene[] Machtbalance« und definiert die Rolle der Architekten und Architektinnen als »Vernetzer« zwischen den anderen Akteuren und Akteurinnen (Schubert 2009: 56). Dieser These steht Christa Kamleithner kritisch gegenüber, wenn sie feststellt, dass sich bei der Betrachtung konkreter Planungsprozesse zeigt, »dass die Macht der involvierten Akteure äußerst unterschiedlich ist« und man auch in kommunikativen Planungsmodellen keineswegs davon ausgehen kann, dass »gleichberechtigte Teilnehmer« gemeinsam einen »Konsens« aushandeln (Kamleithner 2013b: 381). Alternativ zu den machttheoretischen Ansätzen zur Analyse von Planungsprozessen finden sich im Umfeld der Akteur-Netzwerk-Theorie Versuche, die Architekturproduktion jenseits solcher Kategorien zu beschreiben. Die Soziologin und Anthropologin Albena Yaneva schlägt vor, in einem Verfahren, das sie als »mapping controversies« beschreibt, den Interessen und Handlungen der beteiligten Akteure und Akteurinnen zu folgen, um die »meanders of the collective action of architecture« nachzuvollziehen (Yaneva 2012b: 4). Zusätzlich zu den bereits genannten Akteurinnen und Akteuren wie Ingenieuren, Politikern und Bevölkerung schlägt sie, ganz im Sinne der ANT, vor, auch die Materialität des Gebäudes und bestimmte technische Entwicklungen als Akteure dieses Prozesses zu begreifen (vgl. ebd. 49 f.). Diese Aufmerksamkeit für die Eigendynamik und zuweilen auch Widerständigkeit (vgl. Hahn 2014) bzw. Widerspenstigkeit (vgl. Rees 2013) des Materiellen sehe ich im Kontext dieser Arbeit als die wesentliche Erweiterung der Perspektive durch die ANT. In der vorliegenden Studie wurde nicht allen an der Architekturproduktion beteiligten Akteuren bzw. Akteurinnen und allen relevanten Rahmenbedingungen gleichermaßen Aufmerksamkeit geschenkt. Am Rande wurde in der Darstellung der Entstehungskontexte beider Projekte deutlich, dass auch in

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diesen Fällen etwa die Richtlinien der Wiener Wohnbauförderung, ebenso wie die Bauvorschriften oder die Entwicklung technischer Lösungen eine wesentliche Rolle für die letztliche Gestaltung der Gebäude spielen. Der Fokus dieser Studie lag jedoch auf den zukünftigen Bewohnern und Bewohnerinnen sowie den Architekten, ihren jeweiligen Rollen im Planungsprozess und ihrem Verhältnis zueinander sowie auf der Materialität der Gebäude. Kennzeichnend für diesen spezifischen Ausschnitt der Figuration der Architekturproduktion ist eine Kombination aus gemeinschaftlichem und partizipativem Planen. Der umfassenden Mitsprache der zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen, die in beiden hier untersuchten Projekten wesentlich ausgeprägter ist als in anderen Formen der Architekturproduktion, kommt insofern besondere Bedeutung zu, als die erwünschten Effekte der Architektur von den Beteiligten teils explizit mitreflektiert und die Gebäude sowie die mit diesen verbundenen Wohnpraktiken als Motor der gesellschaftlichen Transformation begriffen wurden. In der Planung sind dabei insbesondere Aushandlungsprozesse auf zwei Ebenen zentral: einerseits zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen selbst, andererseits zwischen diesen und den Architekten. Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass beiden Projekten trotz unterschiedlicher Organisations- und Umgangsstile ein Bemühen um möglichst gleichberechtigte Mitsprache aller Gruppenmitglieder gemeinsam ist, das in beiden Fällen an gewisse Grenzen der Umsetzbarkeit stößt, sei es aufgrund tief verankerter gesellschaftlicher Hierarchien, sei es aufgrund pragmatischer Beschränkungen der Möglichkeiten. Auch im Verhältnis zu den Architekten sind der Anspruch der umfassenden Mitsprache der Gruppe und gleichsam eine Verflachung gängiger Hierarchien innerhalb der Planung zu beobachten, die jedoch nicht gänzlich aufgeht. So sind die internalisierten Vorerfahrungen, auf die die Gruppenmitglieder zur Konzeption des Raumes auf dem Reißbrett zurückgreifen können, in den meisten Fällen begrenzt. Diese bleiben auf die Vermittlungstätigkeit der Architekten angewiesen, um den noch nicht physisch wahrnehmbaren Raum zu imaginieren. Darüber hinaus treten im Planungsprozess mehrfach Präferenzen und Prioritäten der Gruppen einerseits und der Architekten andererseits in Konkurrenz zueinander. Daraus entstehen Konflikte, die manchmal zugunsten der einen, manchmal zugunsten der anderen Seite ausgehen. Damit ergibt sich insgesamt ein Bild stets auszuhandelnder, uneindeutiger Machtbeziehungen zwischen den Gruppen und den für sie planenden Architekten. Von großer Bedeutung ist darüber hinaus die Eigendynamik des Materiellen, die immer auch Effekte impliziert, die über die intendierten Eigenschaften bestimmter baulicher Details hinausgehen, und so die Vorhersehbarkeit des gebauten Resultats der Planung erschweren. Im Wohnprojekt Lilie hat die gewählte Stützenbauweise beispielsweise die Präsenz von Säulen an unerwünschten Stellen zur Folge. Der Innenhof entwickelt eine spezifische Akustik, die

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ebenfalls nicht beabsichtigt und für manche Bewohner und Bewohnerinnen nicht vorherzusehen war. Im Wohnprojekt Ziegelwerk wird am Beispiel der Fenster deutlich, dass sich Materialien zuweilen aufgrund ihrer physischen Eigenschaften gegen ihre symbolischen Zuschreibungen sperren. So zeigt sich, dass aufgrund der Eigenschaften von Holz zu verwittern für die Verwendung in Fensterrahmen eine Imprägnierung notwendig war, die es zu Sondermüll macht und so der sonst üblichen Assoziation mit Werten der Ökologie zuwiderläuft. Der gebaute Raum als Form der Externalisierung gesellschaftlicher Normen und Werte entsteht also in einer Dynamik ungleich verteilter Einflussmöglichkeiten, in die einerseits allgemein anerkannte Formen gesellschaftlicher Hierarchisierung (im Sinne Bourdieus) innerhalb der Gruppe einfließen, andererseits unterschiedliche beruf liche Hierarchien, die dem Architekten eine zentrale Position einräumen, sowie verschiedene fachliche Wissensressourcen, die die gleichberechtigte Teilhabe am Planungsprozess erschweren. Durch die verhältnismäßig demokratische Figuration der Architekturproduktion im gemeinschaftlichen partizipativen Wohnbau werden diese Ungleichheiten teilweise abgeschwächt und in Frage gestellt, aber nicht gänzlich aufgehoben. Insbesondere formen auch die Eigenschaften des Materiellen den Planungsprozess in einer Weise mit, die nicht in den Intentionen der menschlichen Akteure aufgeht. All diese Dynamiken sind dem Gebauten in von außen mehr oder weniger nachvollziehbarer Weise eingeschrieben. Mit Blick auf die konkreten inhaltlichen Orientierungen, die ihren Niederschlag in den Gebäuden finden, also auf die Frage des Was, fällt auf, dass es in vielen Planungsdiskussionen um die ideelle Ausrichtung der Projekte und die Ziele des gemeinsamen Wohnens geht. Damit in Zusammenhang stehende Aspekte der Architektur sind vor allem die Art der Gemeinschaftsräume sowie die Gestaltung der gemeinschaftlich genutzten Bereiche, beispielsweise auch der Zugänge zu den Wohnungen, sowie Grenzziehungen zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Sphären. Diese Fragen werden mir in beiden Projekten von vielen als besonders wichtige Aspekte der Mitsprache präsentiert. Dabei wird mir ein Bild großer Einigkeit unter den Gruppenmitgliedern vermittelt, dies seien jene Dinge gewesen, für die man schnell eine einvernehmliche Lösung gefunden habe. Ein anderer, tendenziell konfliktreicherer Prozess der Abstimmung war in beiden Projekten jener der Festlegung der Standorte der Wohnungen der einzelnen Bewohner und Bewohnerinnern, weil hier die individuellen Interessen miteinander in Konflikt gerieten. Im Rückblick dient dieser Prozess in beiden Projekten als Ausgangspunkt für die Darstellung der erfolgreichen Problemlösungsstrategien der Gruppen. Besonders schwierige Diskussionen gab es schließlich insbesondere mit Blick auf Fragen, die zunächst nicht viel mit den expliziten Zielen des Zusammenwohnens zu tun haben: ästhetische Präferenzen, Visionen alltäglicher Wohnpraktiken

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(etwa mit Blick auf die Küchengestaltung), Fragen der Abwägung von Ästhetik versus Praktikabilität, Entscheidungen über die Höhe und Art gemeinsamer Investitionen, Materialfragen, die mit bestimmten Werthaltungen in Verbindung gebracht werden etc. Die für das gemeinschaftliche Bauen notwendigen Abstimmungsprozesse umfassen also immer implizit auch Positionierungen in einer Reihe von Fragen, die jenseits der erwarteten und intendierten Definition gemeinsamer Ziele liegen, und in sehr viel alltäglichere, beiläufige, oft nicht bewusst reflektierte Sinnsysteme und Alltagspraktiken hineinreichen. Wenn man das Wohnen als ein zentrales Feld sozialer Positionierung betrachtet, wird die Brisanz verständlich, die die erforderliche Einigung in Fragen der Ästhetik oder Kosten des Gebäudes hat. Nicht zuletzt geht es gerade mit Blick auf die Küchengestaltung oder Fragen des Reinigungsaufwandes häufig um »tiefsitzende Gewohnheiten und Gepflogenheiten« sowie »kulturelle Vorannahmen um das richtige, angenehme, schöne Wohnen« (Hörning 2012: 39). Diese können als eine Form selbstverständlichen Wohnwissens gesehen werden im Sinne eines »formellen wie informellen Komplex[es] von Repräsentationen und Diskursverschränkungen, der Zuschreibungen, Anforderungen und Begehrensstrukturen von Subjekten bzw. Subjektformen und ihre sozialen Positionen im Feld des Häuslichen und Domiziliaren aufeinander bezieht« (Nierhaus / Nierhaus 2014: 19), wie die Kunsthistorikerin Irene Nierhaus feststellt. Die aus der Externalisierung entstehenden Objektivationen materialisieren also einerseits einen Prozess der Aushandlung. Mit Silke Steets gesprochen könnte man Gebäude in Anlehnung an Pierre Bourdieu als »materialisiertes Resultat symbolischer Aushandlungsprozesse« (Steets 2015: 41) betrachten. Andererseits finden darin die jeweiligen Ideen, Werthaltungen und kulturellen Orientierungen, die sich in diesen Aushandlungsprozessen durchsetzten, ihren materiellen Niederschlag und eine Form, in der sie alltägliche Relevanz und Dauerhaftigkeit über die Zeit hinweg entfalten. Das tun sie in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichen Ebenen, nämlich sowohl über die alltagspraktischen Effekte, die unmittelbar mit der Materialität und Funktion baulicher Details verknüpft sind, als auch über den allgemein gesellschaftlich anerkannten symbolischen Gehalt bestimmter Aspekte des Gebauten sowie über die Erinnerungsfunktion, die das Gebäude für die mit ihm interagierenden Menschen erfüllt (vgl. Steets 2015: 176). Die Gestaltung der Gebäude impliziert die Festlegung bestimmter »Raumprogramme« (Schubert 2005: 8), die bestimmte Nutzungen vorschreiben oder zumindest nahe legen und andere behindern bzw. erschweren. Damit, dass die anfänglichen Kerngruppen in diesem Bereich wesentliche Entscheidungen getroffen haben, haben sie zugleich langfristig wesentliche Weichen für das Leben in den Gebäuden gestellt, mit denen sich später Hinzuziehende in einem gewissen Ausmaß arrangieren müssen. Das betrifft die Gemeinschafts-

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räume ebenso wie die individuell geplanten Wohnungen. In dieser Weise fungieren, mit der pragmatischen Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie gedacht, Gebäude als Stabilisatoren des Sozialen (vgl. Hörning 2012: 38; Yaneva 2012: 83). Zugleich ist die Architektur immer auch Träger von für breitere gesellschaftliche Gruppen lesbaren Zeichen und Symbolen, die innerhalb der Gruppen spezifischere Bedeutungen erhalten können wie beispielsweise der Schornstein der alten Fabrik. Aber auch bestimmte Materialien oder eine spezifische Formensprache der Gebäude sind implizit Träger sozialer und kultureller Bedeutungen (vgl. Prinz / Moebius 2012: 9). Darüber hinaus sind in beiden Projekten in bauliche Details auch spezifische Erinnerungen der Gruppen aus der Planungszeit eingeschrieben, gewissermaßen das, was Sophia Prinz und Stephan Moebius als »psychisch-affektive Signifikanz« (Prinz / Moebius 2012: 17) von Dingen beschreiben, die häufig mit den individuellen Dingbiographien der Subjekte zusammenhängt. Dazu gehören im Fall der untersuchten Projekte etwa Konflikte rund um bauliche Details oder die Erinnerungen an gemeinsame Auseinandersetzungen mit Themen, die die Grundlage für die Gestaltung und Ausstattung von Gemeinschaftsräumen bildeten. Diese Ereignisse werden durch die Konfrontation mit den entsprechenden baulichen Elementen für eine spezifische Gruppe von Menschen immer wieder vergegenwärtigt. So sind nicht nur die Resultate der Aushandlungsprozesse der Planung im Sinne eines bestimmten Raumprogramms oder der Entscheidung für bestimmte Materialien und Formen in den Gebäuden als Objektivationen festgeschrieben, sondern zum Teil auch die Dynamiken der Aushandlungsprozesse selbst. Ihre »soziale Effektivität« (Steets 2015: 43) entfalten Gebäude vor allem durch Prozesse der Internalisierung im Sinne der »Übernahme der gesellschaftlichen Deutung in das eigene subjektive Bewusstsein und in den individuellen Körper« (ebd.: 241) durch einzelne Akteure und Akteurinnen. Diese Prozesse sind ähnlich vielschichtig wie die verschiedenen Effektivitätsebenen der Objektivationen. Internalisierung funktioniert unter anderem über die praktische Auseinandersetzung mit der Materialität des Gebäudes. Dazu können das Einrichten der eigenen Wohnung und die Entwicklung von Gewohnheiten der Raumnutzung gehören, ebenso wie das unmittelbare körperliche Interagieren mit baulichen Details in ihrer »haptischen Erfahrbarkeit« (Prinz / Moebius 2012: 13). Silke Steets stellt dazu fest: »[...] Gebäude [werden] in unserer aktuellen Welt vorwiegend durch ihre materiellen Qualitäten wirklich [...], also dadurch, dass wir sie anfassen, sehen, riechen, hören und über Teile von ihnen stolpern können« (Steets 2015: 183). Wie Gebäude erlebt und angeeignet werden, hängt zu einem großen Teil von den räumlichen Gewohnheiten ab, die die mit ihnen interagierenden Menschen mitbringen, also gewissermaßen von vorangegangenen Internalisierungen, andererseits aber auch von ihrer körperlichen Verfasstheit, wie das Beispiel der älter werdenden

Raumtheoretische Perspektivierungen I

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Bewohnerin zeigt, für die die Stufe zwischen Wohnung und Balkon erst mit der Zeit zu einem Problem wird. Im konkreten Umgang mit den gerade in diesen Wohnprojekten teilweise von gewohnten Mustern abweichenden Räumen zeigen sich einerseits Effekte der Gewöhnung und der Anpassung, die als Prozess der Internalisierung im Sinne der Übernahme der durch das Gebäude nahegelegten Nutzungen und räumlichen Erlebnisse gedeutet werden können: Das zunächst ungewohnt helle Stiegenhaus beispielsweise wird zum Referenzpunkt, demgegenüber andere Stiegenhäuser Irritationen hervorrufen. Andererseits gibt es auch Aneignungsprozesse durch materielle Umgestaltung und Anpassung des gebauten Raumes an die eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse, beispielsweise durch Umbauten in den Wohnungen, die wiederum als Form der Externalisierung gesehen werden können. Im Zuge der gemeinschaftlichen und partizipativen Planung werden also einerseits Verhältnisse zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren – sowohl innerhalb der Gruppe als auch zwischen Gruppenmitgliedern und Architekten – materialisiert und festgeschrieben, andererseits erhalten jene zentralen Ideen des Zusammenlebens, die sich im Aushandlungsprozess durchsetzen, materielle Gestalt und Wirksamkeit, und zwar sowohl auf einer symbolischen als auch auf einer pragmatischen Ebene, also sowohl durch die dem Gebäude eingeschriebenen Erinnerungen und Zeichen als auch durch die Effekte, die das Gebäude in seiner Verbindung mit spezifischen Praktiken entfaltet. Damit stellen die an der Planung beteiligten Akteure und Akteurinnen zentrale Weichen für das spätere Zusammenleben, die die nachträglich Eingezogenen zunächst als Festlegung durch eine Kerngruppe erleben. Mit dem Resultat dieser Materialisierung sind die Bewohner und Bewohnerinnen Tag für Tag konfrontiert, wobei die Art und Weise dieser Konfrontation je nach biographischen Hintergründen, Rolle in der Gruppe oder auch je nach körperlicher Verfasstheit unterschiedlich ausfällt: Wohnungsgrundrisse können je nach familiärer Situation und habitualisierten Wohnpraktiken passend oder unpassend sein und ästhetische Elemente der Architektur je nach internalisierten Präferenzsystemen unterschiedlich beurteilt werden. Mit Konflikten verknüpfte bauliche Details tragen für unterschiedliche Beteiligte verschiedene Bedeutungen, und schließlich verändert sich auch das physische Erleben des Raumes in Verbindung mit körperlichen Transformationen etwa im Zuge des Alterns. Neben einer kollektiven Auseinandersetzung sowohl mit der Planung als auch mit deren Resultat gibt es also auch individuelle Unterschiede im persönlichen Verhältnis zum Gebäude, die wiederum einem Wandel unterliegen. Der gebaute Raum ist dabei keineswegs als determinierende Setzung zu verstehen, vielmehr zeigt der Einblick in die beiden Wohnprojekte, dass einzelne Akteure und Akteurinnen unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung sowohl im Sinne der Deutung als auch im Sinne des Umgangs mit dem Raum entwerfen, die zuweilen auch in seiner materiellen Veränderung münden.

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Gemeinsam Haus bauen: Zur Materialisierung von Aushandlungsprozessen

GEWÄHLTE NACHBARSCHAFT: AKTIVITÄTEN, ALLTAG, ORGANISATION Architektur hat die Eigenschaft, bestimmte Praktiken zu rahmen und räumlich zuzuordnen, sie »separiert die Aktivitäten, weist ihnen einen Ort zu« (Delitz 2009: 93). Der gebaute Raum ist also zentral an der Verortung von alltäglichen Praktiken der Freizeitgestaltung, der Interaktion, aber auch der Erfüllung körperlicher Bedürfnisse, etwa des Essens, des Schlafens oder auch der Körperreinigung, beteiligt. Wo und wie diese Praktiken lokalisiert sind, ob sie dem öffentlichen Raum der Stadt, der halb-öffentlichen engeren Wohnumgebung oder der privaten Wohnung oder innerhalb dieser nochmals spezifischen Sphären der Intimität zugeordnet sind, ist in höchstem Maß historisch, sozial und kulturell spezifisch. Das hat die breite kultur- und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung sowohl seitens der Wohn- als auch der Stadtforschung gezeigt (vgl. Hasse 2012b; Schnur 2012). Zugleich ist mit den Fragen der Verortung von Aktivitäten und Praktiken auch deren soziale Rahmung angesprochen. Das Verhältnis zwischen Sphären sozialer Interaktion und räumlicher Verortung von Alltagspraktiken ist nicht nur gegenwärtig Thema sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung zu Gemeinschaft und Nachbarschaft, sondern war und ist immer wieder Gegenstand sozialreformerischer und städteplanerischer Ansätze, wobei Forschung und Planung häufig Hand in Hand gehen bzw. von ähnlichen Denkströmungen und Interpretationsmustern geprägt sind (vgl. Evans / Schahadat 2012: 19). Der wissenschaftliche und zugleich auch breitere gesellschaftliche Diskurs über die Erosion von (lokal gebundener) Gemeinschaft im großstädtischen Kontext und den damit einhergehenden Funktionsverlust von Nachbarschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist begleitet von aktiven Versuchen, Settings für nahräumliche soziale Kontakte zu planen und dadurch Formen lokaler Gemeinschaft zu stärken (Häußermann / Siebel 2004: 109 f.). Räumliche Nähe wird dabei häufig als Mittel zur Förderung sozialer Integration gesehen (vgl. Wietschorke 2012: 105–108; Reutlinger / Stiehler / Lingg 2015c: 81; Gozzer 2016: 89–120). Die Frage nach der geplanten bzw. der planbaren Nachbarschaft als Verbindung von räumlichen und sozialen Faktoren war auch für die Initiatorinnen und Initiatoren der beiden untersuchten Wohnprojekte ein zentraler Ansatzpunkt, in diesem Fall anders als in städteplanerischen Maßnahmen nicht aus einer top-down, sondern aus einer bottom-up-Perspektive. Sowohl im Ziegelwerk als auch im Wohnprojekt Lilie wurde die Verbindung von räumlichen und sozialen Aspekten explizit reflektiert und aktiv angestrebt: Von Anfang an war klar, dass die Schaffung von Wohnraum nicht das einzige Anliegen der Projekte sein sollte. Beide Initiativen zielten auch auf bestimmte gemeinsame Aktivitäten ab sowie auf Synergien etwa in Gestalt informeller, alltäglicher

Kontakte und gegenseitiger Hilfeleistungen, die sich aus der räumlichen Nähe des Wohnens ergeben würden. Der folgende Abschnitt nimmt die expliziten Ziele und Ansprüche der beiden Projekte zum Ausgangspunkt und fragt zuerst nach den konkreten Aktivitäten, die die beiden Gruppen zusammenhalten und die das gemeinschaftliche Wohnen beherbergen soll. 1 Im Anschluss daran werden die ebenfalls in den Konzepten der Initiativen vorgesehenen und intendierten Synergien des Wohnens in unmittelbarer Nähe thematisiert, aber auch die nicht intendierten Nebeneffekte der Nachbarschaft. Hier stehen also die alltäglichen, selbstverständlichen und oft nicht reflektierten Praktiken des Wohnens im Vordergrund. Das dritte Kapitel dieses Abschnitts bringt eine Metaperspektive auf die von den Gruppen definierten zwei Zielfelder – gemeinsame Aktivitäten und geteilter Alltag – ein und fragt nach der Organisation, Reglementierung, aber auch Transformation gemeinschaftlicher Praktiken als gemeinsam zu nutzende, aber auch gemeinsam herzustellende soziale Ressource.

Das gemeinsame Wohnen als Rahmen für spezifische Aktivitäten Welche Funktionen der Produktions- und der Reproduktionssphäre an welchen Orten und in welchem sozialen Rahmen ausgeübt werden, ist nicht nur Teil einer historischen und dabei sozial geschichteten Entwicklung, sondern immer wieder auch eine zentrale politische Frage. Einen markanten Punkt in der Entwicklung bildet dabei die vom Bürgertum ausgehende und zu einem »modernen Wohnen« führende Trennung von Arbeits- und Wohnort, mit der die Kleinfamilie zur Kerneinheit des als privat und intim konzipierten Wohnbereichs wird (vgl. Häußermann / Siebel 2000: 13–40). Dieses Konzept bildet ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts eine zunehmend wichtige Folie für Vorstellungen und Ideale des Wohnens, deckt sich aber keineswegs mit der Lebensrealität der Bauernschaft oder der Arbeiterschaft. Für letztere schaffen der genossenschaftliche Siedlungsbau und der sozialdemokratische Wohnbau im »Roten Wien« der 1920er-Jahre andere Formen der Grenzziehung und der Verortung von Tätigkeiten. Für Kleinfamilien konzipierte Wohnungen werden hier ergänzt durch zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen, die bestimmte

1 Unter Aktivitäten verstehe ich bewusst gesetzte und mehr oder weniger geplante Tätigkeiten, unter Praktiken die beiläufigen, oft weniger reflektierten Abläufe des Alltags. Diese Unterscheidung zwischen Aktivitäten und Praktiken ist als Arbeitskonstruktion für dieses Kapitel zu verstehen und auch in diesem Zusammenhang sind die Übergänge fließend. Ich richte mich damit keineswegs gegen eine Definition von Praktiken, die wie im Rahmen der Praxistheorien beide Aspekte einbezieht, halte an dieser Stelle diese Differenzierung jedoch für hilfreich.

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Gewählte Nachbarschaft: Aktivitäten, Alltag, Organisation

Funktionen in einem kollektiven Raum positionieren, etwa das Wäschewaschen oder auch die Körperreinigung. Durch Kinderspielplätze, Veranstaltungsräume und Institutionen der »Volksbildung« sollen Formen der aktiven Vergemeinschaftung im politischen Sinne vorangetrieben werden (vgl. Blau 1999: 110–115 und 205; Novy / Förster 1991: 89–95; Zimmerl 1998: 98–102). So ordnen die von politischen Programmen und gesellschaftlichen Vorstellungen geprägten privaten und öffentlichen Architekturen in der jeweiligen Zeit bestimmte Aktivitäten bestimmten Bereichen zu. Auch die von mir untersuchten Wohnprojekte nehmen spezifische Ein- und Auslagerungen von Funktionen vor. Dabei werden einerseits üblicherweise als privat markierte Praktiken in den gemeinschaftlichen Raum des Wohnprojekts verlagert, andererseits aber auch Aktivitäten, welche die Gruppen jeweils verbinden sollen, in das unmittelbare Wohnumfeld integriert. Gerade diese Verortung gemeinschaftlicher Bezugspunkte ist mit Blick auf die soziologischen Thesen zum Wandel gemeinschaftlicher Organisationsformen im Verlauf des 20. Jahrhunderts von besonderem Interesse. Die bereits angesprochenen Wahlfreiheiten, die posttraditionale Formen der Vergemeinschaftung bieten (Wietschorke 2012: 112 f.; Gertenbach u. a. 2010: 61), stehen in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Loslösung gemeinschaftlicher Beziehungen und Netzwerke aus dem lokalen Kontext, die das postmoderne städtische Umfeld erst ermöglicht (Häußermann / Siebel 2004: 107; Schnur 2012: 467). Posttraditionale Vergemeinschaftung ist oftmals thematisch fokussiert sowie zeitlich und räumlich auf bestimmte Situationen beschränkt. Gemeinschaften werden dabei häufig auf Basis bestimmter Aktivitäten gedacht (vgl. Gertenbach u. a. 2010: 61 f.; Hitzler / Honer / Pfadenhauer 2008: 9–19). Welche Aktivitäten im Fall der untersuchten Projekte ins Wohnumfeld hineingeholt werden und sich konstitutiv für die Gruppen erweisen, ist dabei keineswegs beliebig, sondern kann als Ausdruck der jeweiligen Orientierung der Gruppen gelten. Dass nicht nur die Art und Weise, wie bestimmte Praktiken und Aktivitäten ausgeübt werden, sondern auch der Inhalt dieser zu einem zentralen Element sozialer Positionierung und der Schaffung von Zugehörigkeiten werden kann, haben bereits die frühen praxistheoretischen Arbeiten festgestellt. Pierre Bourdieu hat etwa die Ausübung bestimmter Sportarten als Indikator spezifischer Lebensstile gedeutet (Bourdieu 1987: 332–354). Das vertikal geschichtete Klassenmodell Bourdieus wird seit den 1980er- und 1990er-Jahren zunehmend ersetzt durch andere Sozialstrukturmodelle, die stärker von horizontalen Differenzierungen und einer größeren sozialen Mobilität ausgehen. 2 Damit rückt der Begriff der »sozialen Milieus«

2 Dazu gehören insbesondere milieubezogene Ansätze, die auf den Arbeiten von Beck 1986 und Schulze 2000 aufbauen.

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als Alternative zum Klassenbegriff ins Zentrum der soziologischen Beschreibungen: Subjektivierungs-, Pluralisierungs-, Individualisierungs- und Globalisierungsprozesse, die in ökonomischen ebenso wie auch in politischen und kulturellen Kontexten zu beobachten sind, lösen nicht nur die bisher dominierenden Klassen- und Schichtstrukturen zunehmend auf, sie transformieren auch die klassischen Gesellungsformen [...]. Gleichwohl sind auch Gesellschaften im Übergang zu einer ›anderen‹ Moderne nicht strukturlos. [...] [S]ozio-kulturell entwickeln sich neue Vergemeinschaftungsmuster, deren wesentlichstes Kennzeichen darin besteht, dass sich ihre vergemeinschaftende Kraft nicht länger auf ähnliche soziale Lage gründet, sondern auf ähnliche Lebensziele und ähnliche ästhetische Ausdrucksformen – eine Entwicklung, die in der Sozialstrukturanalyse seit geraumer Zeit nahelegt, die herkömmlichen Klassen- und Schichtmodelle durch Milieumodelle zu ersetzen [...]. (Hitzler / Honer / Pfadenhauer 2008: 9)

Ausschlaggebend ist in dieser Perspektive dann nicht mehr das »(nach Umfang und Struktur definierte) Kapital« (Bourdieu 1987: 352) in Verbindung mit bestimmten davon abhängenden »Dispositionen des Habitus« (ebd.: 338). Mit den neueren Konzepten rücken, keineswegs unumstritten 3, die hierarchischen Aspekte sozialer Strukturierung in den Hintergrund. Der wissenschaftliche Blick richtet sich nun nicht mehr auf »große Aggregate«, sondern auf »Kulturmuster kleinerer, spezifischer und unterschiedlicher Milieus« (KatschnigFasch 1998: 43). Allerdings handelt es sich auch dabei um ein Modell, das soziale Zugehörigkeit verhältnismäßig umfassend beschreibt, als eine Orientierung, die sich durch unterschiedliche Lebensbereiche zieht. Aus der Beobachtung heraus, dass sich »die Akteure nicht an diese analytisch abgesteckten Milieugrenzen« (Hitzler / Niederbacher 2010: 14) halten, schlagen die Soziologen Ronald Hitzler und Arne Niederbacher vor, das Konzept der »Szenen« zu nutzen, die sie als »kommunikative und interaktive Teilzeit-Gesellungsformen« (ebd.: 17) definieren. Als »thematisch fokussierte soziale Netzwerke« (ebd.: 16), die einen wesentlich leichteren Ein- und Austritt sowie Mehrfachzugehörigkeiten ermöglichen, konturieren sie sich um spezifische Themen, wie Musikstile, Sportarten, politische Ideen und Weltanschauungen, die mit bestimmten »typischen Einstellungen« sowie Aktivitäten, Handlungs- und Umgangsweisen verbunden sind (ebd.: 16 f.). An diese Überlegungen anknüpfend will das folgende Kapitel jene Aktivitäten, welche die Akteure und Akteurinnen der Wohnprojekte in expliziter Weise miteinander teilen und über die sie sich im Wesentlichen als Gruppe identifizieren, in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext einordnen. Das 3 Zur Kritik am »Mythos der freien Wahl« aus Perspektive der Europäischen Ethnologie vgl. Katschnig-Fasch 1998: 48–60.

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Wissen um bestimmte soziale Bewegungen und ihre Kristallisationspunkte im Sinne spezifischer Räume, Szenen und Aktivitäten dient dabei als Kontextinformation, die helfen soll, Aussagen der Interviewpartnerinnen und -partner zu verstehen. Mir geht es dabei weniger um die Einordnung der Einzelnen in ein vorab definiertes »Milieu« 4, sondern vielmehr darum nachzuvollziehen, wie durch die Verortung bestimmter Aktivitäten in einem spezifischen Umfeld Gruppenzugehörigkeiten geschaffen werden. Jenseits der grundsätzlichen Frage, welche Aktivitäten zentral in den beiden Wohnprojekten lokalisiert und als essenzielle Gemeinsamkeit festgeschrieben werden, arbeite ich im Folgenden heraus, in welcher Form sich diese in den beiden Gebäuden materialisieren, was die Planungsdiskussionen über die jeweiligen konkreten Vorstellungen aussagen sowie wie sich die Umsetzung der Aktivitäten im Alltag gestaltet und im Laufe der Zeit verändert. Beide Projekte verfügen über eine Vielzahl an Gemeinschaftsräumen, die sowohl funktionale Aspekte des Wohnens abdecken als auch Raum für informelle Kontakte sowie für bestimmte gemeinsame Aktivitäten geben sollen. Die spezifische Orientierung des Wohnprojekts Lilie, nämlich die Absicht, ein »Gemeinschaftsleben« zu schaffen und »aus einer christlichen Spiritualität heraus für das Umfeld als sozialer Dienst nützlich [zu] werden« (Klar / Schattovits 1988a: 14), wie es in der Selbstbeschreibung heißt, schlägt sich räumlich insbesondere in zwei Maßnahmen nieder. Der Fokus auf die Spiritualität hat die Errichtung einer hauseigenen Kapelle zur Folge und die große Bedeutung, die dem sozialen Engagement zugemessen wird, äußert sich darin, dass eine gewisse Zahl von Wohnungen »Gästewohnungen« sind, in denen Personen in schwierigen Lebenslagen von der »Gemeinschaft« unterstützt werden. Die »christliche Spiritualität« ist sowohl eine handlungsleitende und normgebende Basis für Formen der internen Organisation im Projekt sowie für nach außen gerichtetes Engagement, als auch ein Kernelement des gemeinsamen alltäglichen Lebens und eine der zentralen Motivationen für viele der Bewohner und Bewohnerinnen, sich am Projekt zu beteiligen. Viele erinnern sich, dass die Errichtung einer Kapelle im Projekt bereits sehr früh klar und unumstritten war. Mit der Kapelle wird im Projekt ein räumlicher Rahmen geschaffen für das gemeinsame Gebet, das der Kerngruppe bereits lange vor der Planung des Wohnprojekts ein zentrales Anliegen war. Das gemeinsame Beten sollte über die im Kontext der Pfarre stattfindende sonntägliche Messe hinausgehen und in einem privateren Rahmen sowie in einer kleineren Gruppe selbstbestimmt ausgeübt werden (vgl. Klar / Schattovits 1988a: 11 f.).

4 Milieustudien wie jene von Vester u. a. 2001 können mit Blick auf ihren deskriptiven Charakter immer nur Momentaufnahmen einer gesellschaftlichen Situation bieten und sind nicht ohne Weiteres auf andere regionale und zeitliche Zusammenhänge übertragbar.

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Die Tatsache, dass ein im unmittelbaren Wohnumfeld situierter Raum für die Ausübung religiöser Praxis für alle eine neue Einrichtung war, deren konkrete Aufgaben nicht bereits etabliert waren, sondern erst ausgehandelt werden mussten, warf für die Planung eine Reihe von Fragen auf. Im Entwurf eines Konsenspapiers aus der Planungszeit 5 sind die grundsätzlichen Funktionen der Kapelle als Raum des Betens folgendermaßen definiert: In einer im Haus eingerichteten Kapelle soll auch Gelegenheit zu persönlichem Gebet sowie zu anderen religiösen Zusammenkünften gegeben werden. Glaubensgespräche, Schriftlesung, aber auch das Gebet innerhalb der Familie sind Stützen unserer Gemeinschaft. Die Gemeinschaft soll ein Teil der Pfarrgemeinde sein und das auch in der Teilnahme an der Eucharistiefeier und an kirchlichen Festen bekunden. Darüber hinaus soll es auch die Möglichkeit für Hausmessen geben. (Klar / Schattovits 1988b: 76)

Angesprochen wird hier eine Bandbreite an verschiedenen Funktionen der Kapelle, die von stärker formalisierten und ritualisierten Formen des Gebets bis hin zu neu zu entwickelnden, freieren religiösen Praktiken reichen. Diese werden sowohl auf die individuelle als auch auf die familiale und die gemeinschaftliche Ebene bezogen. Zudem wird der Wunsch geäußert, die religiöse Praxis der Gruppe in einen breiteren Pfarrkontext einzubetten. Während die Mitglieder der Gruppe hinsichtlich der architektonischen Gestaltung der Kapelle und insbesondere deren Belichtung übereinstimmende ästhetische Präferenzen vertraten und diese vehement in Opposition zum Architekten verteidigten, zeigte sich in den Überlegungen zur Inneneinrichtung der Kapelle und zu ihrer materiellen Ausstattung eine stärkere Uneinigkeit. Dabei wurden divergierende Vorstellungen über die Funktionen, die der Raum erfüllen sollte, sowie über den sozialen Rahmen bestimmter religiöser Praktiken auf kondensierte Weise greifbar. Mehreren Interviewpartnern und -partnerinnen ist die Diskussion darum, ob ein Tabernakel notwendigerweise Teil der Kapelle sein soll oder nicht, als eine zentrale Kontroverse der Planungszeit in lebhafter Erinnerung. Eine der älteren Bewohnerinnen des Projekts, die damals als junge Seniorin einzog, positioniert sich als klare Befürworterin des Tabernakels. Sie erzählt mir von den verschiedenen Argumenten: Die Kapelle war komischerweise kein Problem, aber der Tabernakel. Und es gibt noch immer welche, die mehr einen Veranstaltungsraum, so einen offenen Raum

5 Dieses ist nicht genau datiert. Aus der Forschungsdokumentation geht hervor, dass es sich um eine Version aus der ersten Jahreshälfte 1987 handeln muss, Klar / Schattovits 1988: S. 164.

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haben wollen, und dann solche, zu denen auch ich gehöre – ich möchte schon eine richtige Kapelle haben mit einem Altar, den man nicht ständig herumschiebt und so, wissen Sie?

Ein fest verankerter Altar wurde von manchen als unangenehme Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten, zum Beispiel des Tanzens, gesehen. Zudem hatten einige Gruppenmitglieder Bedenken hinsichtlich einer zu starken Abschottung der religiösen Praxis der Gruppe gegenüber der Pfarrgemeinde und befürchteten, dass der Tabernakel in der Kapelle dazu führen könnte, dass Hausmessen den Pfarrgottesdiensten in Zukunft vorgezogen würden. Die Kapelle sollte sich nicht zur Konkurrenz für die Pfarrkirche entwickeln. Letzten Endes entschied die Gruppe sich aber gegen die Idee eines multifunktionalen Raumes und für eine Kapelle mit feststehendem Altar und Tabernakel (Klar / Schattovits 1993: 127 f.). Der unterschiedliche Grad, in dem die Kapelle als »heiliger« Ort wahrgenommen bzw. präsentiert wird, zeichnet sich auch im konkreten Umgang mit dem Raum während der Hausführungen ab. Manche meiner Interviewpartner und -partnerinnen bekreuzigen sich beim Eintritt in die Kapelle, knien nieder oder halten kurz inne, während andere den Raum betreten und ohne Unterbrechung weitersprechen (vgl. Forschungstagebuchnotiz 13. 1. 2013; Forschungstagebuchnotiz 25. 1. 2013). Trotz der grundsätzlichen Einigung auf eine »richtige Kapelle« legt die Gestaltung dieses Raumes eine Vielzahl an möglichen Funktionen und Bedeutungen nahe. Die Stühle sind frei beweglich und werden beispielsweise im Rahmen der Gebetsabende zu einem Sesselkreis zusammengestellt, wie mir eine der jüngeren Bewohnerinnen, die nicht Teil der Gründungsgruppe war, während der Hausführung erzählt. Die Ausstattung mit diversen religiösen Gegenständen verweist auf unterschiedliche religiöse Orientierungen der Bewohner und Bewohnerinnen: So sind neben einem schlichten Kreuz auch verschiedene Heiligenbilder, darunter beispielsweise orthodoxe Ikonen, zu finden. Darüber hinaus wird die Kapelle saisonal mit Requisiten ausgestattet, die dem Zeitpunkt im Kirchenjahr entsprechen, beispielsweise mit einem Fastentuch oder einer Krippe. Bei der Betrachtung der in der Kapelle befindlichen Gegenstände wird ihre Funktion als gemeinschaftsbildender Ort, der über die religiöse Bedeutung hinausgeht, deutlich. So gibt es beispielsweise eine Pinnwand, auf der Plakate von Gemeinschaftstreffen aufgehängt werden. Im Zuge der Hausführungen wird zudem eine beträchtliche Deutungsvielfalt bezogen auf die Kapelle ersichtlich – wobei die Art und Weise, wie sie mir präsentiert wird, in nicht unerheblicher Weise aus dem vorhergegangenen Gesprächsverlauf resultiert und keineswegs als umfassende Darstellung der persönlichen Bedeutung der Kapelle für die jeweiligen Hausbewohner und -bewohnerinnen interpretiert werden kann. Dennoch ist auffallend, dass manche in erster Linie auf die sichtbaren Spuren der vom Architekten vorge-

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schlagenen und von der Gruppe abgelehnten Belichtungsalternative verweisen, während andere mir unterschiedliche Nutzungsweisen erläutern, die orthodoxen Ikonen oder die Gemeinschaftsplakate erklären. Ein von Beginn an intensiv diskutiertes Thema ist die Frage, inwiefern das gemeinsame Beten in der Kapelle in anderen lokalen und sozialen Umfeldern verortete religiöse Praktiken ersetzen soll oder nicht. Zum einen ist in Protokollen aus der Planungsphase festgehalten: »Die Hausmesse soll eine Ausnahme bleiben, die Messe sonntags in der Pfarre mitgefeiert werden, um sich nicht abzukapseln« (Klar / Schattovits 1988a: 158), wobei damit die Pfarre gemeint ist, die der Gruppe das Grundstück zur Verfügung gestellt hat. Anderseits wurde auch eine komplette Öffnung der Verortung der religiösen Praxis kritisch gesehen. So wurde festgehalten, dass es der Absprache und der Erklärung bedürfe, wenn einzelne Mitglieder die Sonntagsmesse immer in einer anderen Pfarre feierten (ebd.: 159 f.). An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich aus der mehrfachen Verortung einer für die Gruppe definitorischen Aktivität – dem gemeinsamen Beten – in einem weiteren städtischen Umfeld, im Wohnviertel und im unmittelbaren Umfeld des eigenen Wohnhauses gewisse Spannungen ergeben. Die hauseigene Kapelle bedeutet im Fall des Wohnprojekts Lilie aber nicht nur eine Integration von ansonsten außerhalb der Wohnumgebung angesiedelten religiösen Praktiken, sondern auch eine Verlagerung stärker privater Formen des Gebets aus dem individuellen in den kollektiven Bereich der Gruppe. Dazu gehören Kindergebete und bis heute stattfindende wöchentliche Gebetsabende. Sowohl die Dokumentation des Planungsprozesses als auch meine Gespräche mit Bewohnern und Bewohnerinnen zeigen, dass es dabei innerhalb der Gruppe zum Teil recht unterschiedliche Vorstellungen über die Intensität und Verbindlichkeit des gemeinsamen religiösen Lebens gibt. Ein Bewohner, der mit seiner Familie zum Gründungskern der Gruppe gehört und einen theologischen Ausbildungshintergrund hat, fordert eine intensivere Auseinandersetzung mit den jeweiligen spirituellen Ansätzen der Bewohnerinnen und Bewohner ein: Ich hätte gerne mehr geistliche Gemeinsamkeit, aber da müssten wir einen Spiritual oder so jemanden suchen, der sich darum kümmert. Das war von Anfang an nicht der Fall. Es ist zwar immer betont worden, dass wir gewissermaßen Teil der Pfarre [...] sind, aber es haben sich nie alle zugehörig gefühlt. Die wenigsten kommen hier aus der Gegend und da gab es dann immer noch irgendwelche alten Verbindungen, die man natürlich nicht aufgeben will.

Er geht davon aus, dass schon zu Beginn die Schaffung eines »gemeinsamen spirituellen Bodens« versäumt wurde. Ein anderes Mitglied des Wohnprojekts Lilie, ebenfalls mit theologischer Ausbildung, erinnert sich daran, dass die Ausrichtung des Gebets immer wie-

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der als Grund für die Teilnahme bzw. das Fernbleiben bestimmter Bewohner und Bewohnerinnen diskutiert wird: Man hat immer wieder diskutiert darüber, wie die Gebetsabende gestaltet werden und wer sie gestaltet und was man da liest. [...] Ich weiß noch, man hat sich dann sehr bemüht, dass es den Leuten, die nicht kommen, besser gefällt. [...] Und ich hab’ das Gefühl gehabt, egal wie man den Gebetsabend gestaltet, manche Leute kommen einfach nicht. Also das war einfach schwierig. Ich glaube, es lag halt nicht nur an der Form.

Der hier zitierte Bewohner knüpft die Teilnahme am gemeinsamen Gebet an die Frage nach der grundsätzlichen Bereitschaft zur Beteiligung an Gemeinschaftsaktivitäten: Und was man schon auch sagen muss: Wenn man sich überlegt, warum welche Leute nicht da waren, dann sieht man, der einen ist es zu spät, die anderen haben gerade die Enkelkinder. Dann ist eh klar, die haben einfach alle den Kopf voll, die haben keine Nerven dafür.

Während beide Bewohner die fehlende gemeinsame Basis der Spiritualität bzw. die unterschiedliche Bereitschaft zur Teilnahme als grundsätzliches, über die Zeit hinweg mehr oder weniger konstantes Problem darstellen, steht in der Erzählung einer anderen Bewohnerin, die zu den Gründungsmitgliedern gehört, eher die Erinnerung an eine früher wesentlich intensiver praktizierte Form des gemeinsamen Betens im Vordergrund. Sie erinnert sich an gut besuchte Gebetsabende, am Ende derer man noch beisammen gesessen sei und geplaudert habe. Dies sei eine Gelegenheit gewesen mitzukriegen, »wie es dem anderen geht«: Und das ist im Lauf der Zeit irgendwie immer dünner geworden. Das gibt es noch immer, aber es bedarf immer wieder eines gewissen Aufwandes, dass da überhaupt wer kommt, so. [lacht] Das ist so eine Veränderung.

Die Bewohnerin beschreibt hier, wie das gemeinsame Beten als Ankerpunkt für weitere Formen des informellen Austausches fungierte und bedauert, dass diese Zusammenkünfte heute seltener stattfinden. Neben der gemeinsamen Spiritualität bildet die Gemeinnützigkeit des Projekts über die eigene Gruppe hinaus ein weiteres zentrales Ziel des Wohnprojekts Lilie, das ebenso fest in den Statuten des Vereins verankert ist (vgl. Klar / Schattovits 1988a: 14): Die »Förderung eines gemeinsamen Lebensvollzugs« sowie »Angebote sozialcaritativer und -pädagogischer Dienste« werden darin als einer der Wege zum »Traum vom beginnenden Reich Gottes« definiert. Das so formulierte Engagement wird von verschiedenen Bewohnern und Bewohnerinnen als essenzielle Motivation der Beteiligung an dem Projekt beschrieben,

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so beispielsweise auch von einem erst nach der Fertigstellung eingezogenen Mitglied: Also ich bin wahrscheinlich nicht der erste aus dem Haus, der das erzählt, hoffe ich, dass es eben nicht nur darum geht, dass wir alle besser gemeinsame Freunde sind und uns alle irgendwie gernhaben, sondern dass man auch weiß, es gibt Leute, denen geht es schlechter als uns, und Möglichkeiten sucht, denen auf eine Weise zu helfen, in der man alleine nicht helfen könnte, ja? Weil man es alleine nicht schaffen würde. Und wenn es dieses Orientiertsein nach außen nicht gegeben hätte, hätte es mich nicht interessiert dort zu wohnen. Wenn es nur darum gegangen wäre, wir sind eine christliche Gemeinschaft und braten im eigenen Sud. Das wäre nichts gewesen. Und ich glaube auch, dass das einer der Gründe dafür ist, dass es irgendwie zusammenhält. Weil wenn man nur aufeinander konzentriert ist und keine Aufgabe hat, ist das halt wenig.

Die hier beschriebene Ausrichtung nach Außen stand schon früh fest. Dementsprechend wurden im Haus auch temporär zu vergebende Wohnungen für unterstützungsbedürftige Menschen eingeplant, mit dem Ziel in einer ›Brückenfunktion‹ wirksam [zu] werden, indem sie [die Gemeinschaft, Anm. d. Verf.] jenen zur Selbständigkeit verhilft, die (noch) den Schonraum der Gemeinschaft für ihr Leben brauchen und wollen. (ebd.: 74)

Mit diesem letzten Satz ist bereits eine Frage angesprochen, welche die Gruppe von Anfang an beschäftigte, nämlich die des Betreuungsaufwands und der damit einhergehenden Belastung. Aus der Dokumentation der Planungsphase geht hervor, dass sich diesbezüglich zwei divergierende Positionen bildeten, nämlich jene, die soziales Engagement als persönliches Bedürfnis verstanden und die Gemeinschaft als Erleichterung zu dessen Umsetzung sahen, und andere, die das Gemeinschaftsleben an sich bereits als fordernd antizipierten und dementsprechend durch die zusätzliche Betreuung der Gäste eine Überforderung erwarteten. In weiterer Folge wurden vor allem die konkrete Aufgabenverteilung und die Organisation von Hilfeleistung diskutiert (vgl. Klar / Schattovits 1988a: 120–128). Diese Debatten spiegeln sich letztlich auch in den Diskussionen um die räumliche Verortung der Gästewohnungen wider. So wurde der Gedanke der Integration von Gästen durch alltägliches Beieinanderleben dadurch gestützt, dass sich die Gruppe bewusst dafür entschied, Gästewohnungen möglichst gleichmäßig zwischen den Mitgliederwohnungen zu verteilen und nicht in einem Teil des Gebäudes zu konzentrieren (ebd.: 126). Jede der Gästewohnungen ist einer jeweils hauptverantwortlichen Person aus der Bewohnerschaft zugeordnet, die sich beispielsweise um den Kontakt mit der zuständigen sozialen Einrichtung kümmert. Diese Hauptverantwortlichen sollten, so die anfängliche Intention, in ihrer Aufgabe von der ganzen Gruppe unterstützt werden.

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Dieses System wird von mehreren Interviewpartnerinnen und -partnern kritisch betrachtet. Eine Bewohnerin verweist darauf, dass schon während der Planung wiederkehrend Zweifel laut wurden, ob man zwischen zwei Sozialwohnungen leben möchte. Ein anderes Gruppenmitglied, eine der vielen Frauen, die damals mit kleinen Kindern in einer Pause von ihrer Berufstätigkeit in das Haus einzogen, beschreibt es als schwierig, sich angesichts der räumlichen Nähe von den Aufgaben der Gästebetreuung abzugrenzen. Sie sei eigentlich mit anderen Aufgaben betraut gewesen, habe aber die Bedürfnisse der Menschen aus der angrenzenden Wohnung nicht ignorieren können: »Ich bin ein sehr spontaner Mensch, und wenn ich jetzt jemanden treffe und sehe, welche Not er hat, dann mische ich mich ein«, erzählt sie im Interview. Von anderen wird der Umstand, dass sich nur manche für die Gästewohnungen verantwortlich fühlen, während sich andere komplett distanzieren, problematisiert. So beschreibt eine andere Bewohnerin, die ebenfalls als junge Frau mit kleinen Kindern eingezogen ist, ein abnehmendes Engagement von der Anfangszeit bis in die Gegenwart, das sie sowohl in der Gästebetreuung als auch in anderen Bereichen des Gemeinschaftslebens beobachtet. Und es stellt sich halt so heraus, dass es drei, vier Leute gibt, die eigentlich alle diese Gästewohnungen betreuen, und die anderen stehen da mehr am Rande und das war eigentlich nicht unbedingt das Ziel, aber das hat sich so entwickelt. Darüber kann man sich jetzt sehr ärgern, oder man kann sich denken: eigentlich halten die drei, vier eh viel Beziehung und eigentlich ist das viel toller als in anderen Häusern. (lacht)

Ähnlich spricht auch ein anderer Bewohner, der seit der frühen Planungsphase Teil der Gruppe ist und mit Frau und kleinen Kindern in das Projekt einzog, über die Entwicklung des Engagements in der Gruppe. Er berichtet davon, dass zu Beginn des Projekts im Kontext des Bosnienkrieges geflüchtete Menschen im Haus aufgenommen wurden. Die [Geflüchteten, Anm. d. Verf.] haben das Haus auch sehr stark mitgeprägt. Einfach durch das Mitwohnen und durch die andere Art und Weise des Lebens. [...] Und als die dann nicht mehr da waren, war das dann doch ein Einschnitt. Also da war auch irgendwie so eine gewisse Gemeinsamkeit weg. Also da hat man auch so eine gemeinsame Verantwortung gehabt und wirklich ein gemeinsames Ziel. Das fehlt.

Er bedauert, dass die Gemeinsamkeit im Projekt gegenwärtig fast ausschließlich durch das gemeinsame Wohnen geprägt ist. Also das gemeinsame Ziel miteinander zu wohnen, das ist schön und gut, aber es kann nicht alles sein, oder es hätte nie alles sein können und sollen. Also da war so

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dieses gemeinsame Ziel, auch für Leute, die so ein bisschen am Rand sind, einen geschützten Wohnraum, eine geschützte Lebensmöglichkeit zur Verfügung zu stellen, auf Zeit. Das war das Anliegen mit den Gästewohnungen, das ist nicht mehr so wirklich das Anliegen aller. Also es sind so Einzelne, aber es ist nicht mehr so ein gemeinsames Ziel, wo jetzt wirklich alle dahinterstehen.

Mit der Anwesenheit der von dem hier zitierten Bewohner angesprochenen bosnischen Geflüchteten verbinden viele der Bewohner und Bewohnerinnen eine Zeit des intensiven Miteinanders. Doch auch in diesem Punkt gibt es divergierende Meinungen. So gab es bereits damals unterschiedliche Auffassungen über die Art und den Umfang der angemessenen Hilfeleistung, sodass eine sehr engagierte Bewohnerin sich letztlich dazu entschloss aus der Gruppe auszutreten, weil die Hilfsbereitschaft ihrem Empfinden nach nicht weit genug reichte. Dieser erste (und der Einschätzung vieler nach einzige) Austritt »im Unfrieden« wird mir gegenüber als eine der »unaufgearbeiteten Geschichten« erzählt. An der Brisanz dieses Konflikts zeigen sich die große Bedeutung, die die sozialen Dienste im Selbstverständnis der Gruppe haben, ebenso wie die Unterschiedlichkeit der Positionen der einzelnen Mitglieder. Ganz ähnlich wie das Wohnprojekt Lilie verfügt auch das Ziegelwerk über eine Reihe von Einrichtungen, die gemeinschaftliche Zielsetzungen des Wohnprojekts repräsentieren und dabei sowohl Aktivitäten ins Haus holen, die üblicherweise in öffentlichen Einrichtungen stattfinden, als auch vermeintlich private Praktiken in einen gemeinschaftlichen Bereich verlagern. Als Leitgedanke für die geplanten Einrichtungen formuliert eines der frühen Gruppenmitglieder die »Phantasie«, »alles zu machen, was wir damals gebraucht haben«, also gewissermaßen all jene Bereiche abzudecken, in denen aus Sicht der bereits beschriebenen alternativen Szene das vorhandene Angebot in der Stadt ungenügend war. Diese Angebote sollten nicht nur der Gruppe selbst zur Verfügung stehen, sondern teilweise auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Aus der Vielzahl an Einrichtungen im Gebäude treten der Veranstaltungsraum und das Badehaus sowohl in Repräsentationen des Wohnprojekts als auch in den Erzählungen einzelner Bewohner und Bewohnerinnen als besonders wichtige Elemente hervor. Die große Bedeutung, die Kulturveranstaltungen im Rahmen des Wohnprojekts Ziegelwerk zukommt, erschließt sich aus der Entstehungsgeschichte des Projekts. Der Bewegung, der das Ziegelwerk entstammt, war die Förderung alternativer Kulturkonzepte jenseits etablierter Hochkultur ein explizites Anliegen, was sich nicht zuletzt auch darin zeigt, dass eine ganze Reihe von Bewohnern und Bewohnerinnen im Rahmen der Arena-Besetzung 1978 aktiv war und Kontakte in die »experimentelle Kunstszene« (Wagner 2000: 116) hatte. Schnell wurde also deutlich, dass es bei der Errichtung des Wohnprojekts auch darum gehen sollte, »kulturpolitische Akzente« (ebd.: 46) zu setzen,

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was in den Bau eines circa 140 Personen fassenden, schallisolierten Veranstaltungsraumes mündete. Die künstlerische und kulturelle Aktivität der Gruppe begann deutlich vor der Fertigstellung des Gebäudes. Bereits das alte Fabrikgebäude wurde nach dem Kauf auf unterschiedlichste Art künstlerisch angeeignet, wobei die Gruppe sowohl Aktivitäten selbst entwickelte und durchführte als auch andere Künstler und Künstlerinnen einlud. So drehte die Gruppe beispielsweise selbst eine Serie von Vampir-Filmen, es wurden aber auch Theaterveranstaltungen oder Experimentalfilmscreenings organisiert. Viele meiner Interviewpartner und -partnerinnen erzählen mit Begeisterung von diesen künstlerischen Aktivitäten. Dabei spielte das leicht morbide Flair der verstaubten Räumlichkeiten eine zentrale Rolle. Ein Bewohner, den ich hier Richard Felber nenne, Ende fünfzig und in einem technischen Beruf tätig, nannte die Arena-Besetzung neben der Anti-AKW-Bewegung und Aktionen wie dem Ökodorf im Prater als einen der wichtigen Bezugspunkte für eine »größere Szene«, in der er selbst damals »politisch aktiv« war. Als einer derjenigen, die sich in besonderem Maße daran beteiligten, erinnert er sich an die künstlerische Aneignung des alten Gebäudes: Es war schon witzig, es war herrlich. Ich hatte gerade so eine Zeit, in der ich ein halbes Jahr nicht viel gearbeitet habe und Pause hatte. Und ich kann mich erinnern, ich war relativ viel da und habe mir das Ganze angeschaut. [...] Jedenfalls war die Szene so, da war dieses [für eine Veranstaltung eingerichtete, Anm. d. Verf.] brasilianische Zimmer. Und die Fußböden, das waren alte Holzfußböden und wenn du aufgetreten bist, hat es immer gestaubt und so. Das hat ein echtes Flair gehabt natürlich. [lacht] Na gut. Das war die alte [Fabrik].

Neben dem ästhetischen Aspekt erwiesen sich die teils verfallenen Räume als attraktives Umfeld für experimentelle Kunst und gingen zudem Symbiosen mit den darin stattfindenden künstlerischen Veranstaltungen ein, so die Interpretation Richard Felbers. Er erinnert sich an Kunststudierende, die Installationen in der alten Fabrik machten, »um ein bisschen mit dem Bauwerk zu spielen«, sowie an Theaterschaffende, für die »ein altes Gemäuer viel interessanter als ein fertiges modernes Theater« gewesen sei, weil sie es besser für ihre Zwecke adaptieren hätten können. Richard Felber schließt seine Erzählung auf nostalgische Art und Weise ab: Und wir haben gewusst, wir können diese Möglichkeit des ruinösen Ambientes nicht ins moderne Haus übertragen. Leider, aber das ist so. [...] Es tut zugleich weh, nicht?

Obwohl sich die Gruppe letztlich von dem alten Gebäude trennen musste, spielten Kunst- und Kulturveranstaltungen als gruppeninterne Aktivitäten noch längere Zeit eine erhebliche Rolle. Julia Kraus, die bald nach der Fer-

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tigstellung des Gebäudes einzog, erinnert sich beispielsweise an selbstorganisierte Modeschauen, die die Gruppe als künstlerische Auseinandersetzung mit Gender-Themen veranstaltete. Wie ich hier eingezogen bin, weiß ich noch gut, hab’ ich ihm [ihrem Lebensgefährten, Anm. d. Verf.] zu Fasching meine Kleider angezogen. [...] Und ich hab’ mir gedacht: Super. Er war wirklich süß in dem Kleid. Ja? Und dann haben wir im Februar 2000 eine Männermodenschau gemacht. [...] Also das Kreative war damals, als ich eingezogen bin, noch da. Also Männermodenschau, Frauenmodenschau und dann Adam und Eva. Und das war unglaublich verbindend.

Sie bedauert, dass die kulturellen Aktionen im heutigen Wohnalltag eine weniger große Rolle spielen und die selbstinitiierten Projekte zu einem großen Teil professionelleren Formen gewichen seien. Derzeit ist der reguläre Veranstaltungsbetrieb vor allem auf Musikveranstaltungen fokussiert und deckt ein Angebot ab, das ein eigenes, der Ausrichtung des Wohnprojekts entsprechendes Repertoire darstellt und zudem Platz für kulturpolitische Veranstaltungen lässt. Mit diesem Angebot haben die Bewohner und Bewohnerinnen jedoch nicht mehr direkt zu tun. Vielmehr richten sich die professionell organisierten Veranstaltungen in erster Linie an ein breiteres öffentliches Publikum. Neben dem Veranstaltungsraum hat auch das Badehaus innerhalb des Wohnprojekts Ziegelwerk einen zentralen Stellenwert, der weit über den einer Wellness-Einrichtung hinausgeht. Es verfügt, neben der Standardausstattung mit Umkleidekabinen, Toiletten und Duschen, über ein römisches Tepidarium, eine finnische Sauna, einen Massageraum, einen Schwimmkanal, einen Whirlpool, ein Tauchbecken, sogenannte japanische Quellen sowie in der Badehalle situierte Badewannen. Damit wird ein breites Spektrum von sportlichen Aspekten über Wellnessfunktionen bis hin zu Möglichkeiten der alltäglichen Körperreinigung abgedeckt. Zudem ist mit Blick auf die baulichen Details bemerkenswert, dass sich das Ideal der Integration von Menschen mit Behinderung auch in der Ausführung der Badewannen als teilweise rollstuhlgerecht widerspiegelt. Diese Ausstattung ist das Ergebnis der Diskussionen darum, welche Bedeutung das Baden für die Gruppe haben sollte. Eine Bewohnerin, Anfang sechzig, beruf lich im sozialwirtschaftlichen Bereich tätig und Mitglied einer der Kerngruppen, aus denen der Verein hervorgegangen ist, erklärt, dass die der Planung vorangegangene intensive Beschäftigung mit Badekulturen dem »kulturellen Anspruch« der Gruppe im Sinne der Auseinandersetzung mit »anderen Kulturen« entsprach. Außerdem hätten Überlegungen zur Funktion des Badehauses als »Ort der Kommunikation für das Gemeinwesen« einerseits und als »Drehscheibe nach außen« andererseits eine zentrale Rolle für dessen Gestaltung gespielt. Auf Grundlage der gewünschten Funktionen hätte sich letztlich »diese Räumlichkeit entwickelt«. Ein ganz auf die sportlichen Aspekte

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Gewählte Nachbarschaft: Aktivitäten, Alltag, Organisation

Abb. 12: Badewannen im Badehaus des Wohnprojekts Ziegelwerk. Foto: Ana Rogojanu.

hin ausgerichtetes Badehaus würde mit Sicherheit anders aussehen, wie meine Interviewpartnerin betont. Mit seinen Einrichtungen verbindet das Badehaus Elemente, die dem »Typ des Wannenbades« mit dem Ziel der »äußeren Abwaschung« und der physischen Reinigung entsprechen, mit solchen, die das Baden als »totale Regeneration« auffassen und das Bad »zu einem zentralen Ort des gesellschaftlichen, sozialen Lebens« (Ehs 2008: 47 f.) machen: Es umfasst die grundsätzlichen Funktionen der Körperhygiene in Einzelbädern und fungiert gleichzeitig als »Ort der Entspannung, Kontemplation, Läuterung« (Korab / Urbanek 1990: 17, zit. n. Ehs 2008: 55). Das Badehaus wird vorrangig von einer Gruppe an Personen genutzt, die miteinander vertraut sind, auch wenn durch den Betrieb des Bades als halböffentlicher Club der Kreis der Nutzerinnen und Nutzer erweitert wurde. Ein spezifisches Verständnis des Badens wird damit gerade in dieser Bedeutungsvielfalt und in dieser Positionierung zwischen privat, kollektiv und öffentlich zu einer der für die Gruppe definitorischen gemeinsamen Aktivitäten, die auch ihren materiellen Niederschlag in der Architektur des Gebäudes findet. So wird mir das Badehaus im Zuge der Hausführungen mehrmals als »Herz [des Ziegelwerks]« präsentiert. Die Bedeutung des Badehauses erschließt sich des Weiteren aus bestimmten Nutzungsformen. Es gibt neben allgemein öffentlich zugänglichen Badetagen und Kursen wie Babyschwimmen sogenannte »Bade-Events« für spezifi-

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sche Zielgruppen wie Frauen oder homosexuelle Männer, die ein alternativkulturelles Angebot zur vorhandenen Badekultur Wiens darstellen. Zum anderen spielt die im Badehaus praktizierte Freikörperkultur eine wichtige Rolle sowohl für die Positionierung des Badehauses in einem spezifischen Spektrum der Wiener Badekultur als auch für die Selbstdefinition der Gruppe. Während manche meiner Interviewpartner und -partnerinnen gar nicht oder nur beiläufig auf die im Badehaus von der Mehrzahl der Gruppenmitglieder praktizierte Freikörperkultur hinweisen, erläutert ein pensionierter Beamter die Bedeutung des Nacktbadens ganz explizit in Hinblick auf eine bestimmte politische Haltung und definiert dieses auch als äußerlich sichtbares Unterscheidungsmerkmal zwischen Gruppenmitgliedern und »Fremden«: Wir tun auch nackt baden zum Beispiel. Das geht darauf zurück, dass wir damals wahrscheinlich eine ganze Generation waren, der das wichtig war. Das hat sich schon sehr verändert, glaub ich. Ich merke das immer beim Babyschwimmen, das ist immer lustig, da sind immer noch ein paar Nackerte von uns und die Mütter mit den Babys, die sind alle schön im Bikini. Ja, okay. Aber ich war einmal der Meinung, das wird sich durchsetzen und da werden einmal alle und so [...]. Und jetzt denk ich mir halt, na gut, dann bin ich halt übrig geblieben aus einer anderen Welt.

Insgesamt hat die Intensität, in der das Badehaus genutzt wird, im Laufe der Jahre abgenommen (vgl. Ehs 2008: 11). Dennoch gibt es unter meinen Inter-

Abb. 13: Schwimmkanal im Badehaus des Wohnprojekts Ziegelwerk. Foto: Ana Rogojanu.

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Gewählte Nachbarschaft: Aktivitäten, Alltag, Organisation

viewpartnern und -partnerinnen etliche, die eine besondere persönliche Affinität zum Badehaus zum Ausdruck bringen. Ein Bewohner präsentiert mir den Bereich rund um den Whirlpool als »kommunikatives Zentrum« des Wohnprojekts, ein anderer wiederum erzählt konkret von regelmäßigen Besuchen des Badehauses mit Hausbewohnern und -bewohnerinnen mit Behinderung. Das Badehaus ist dabei der Ort von Begegnungen, die für ihn nicht alltäglich sind und die er als eine Bereicherung und Horizonterweiterung beschreibt. Gerade die kommunikative Funktion des Badehauses ist aber für manche ein Grund, es nicht aufzusuchen, um beispielsweise nicht auf Vereinsthemen angesprochen zu werden. Der Blick auf die Art der in den Projekten vorgesehenen Gemeinschaftsräume zeigt, dass es einerseits eine Standardausstattung gibt, die auch im konventionellen Wohnbau mehr oder weniger üblich ist und die, wie im Fall von Waschküchen, die effizientere Organisation der Räume und der Haushalte ermöglicht. Andererseits wurden für die beiden Gruppen spezifische Angebote eingeplant, die auf bestimmte Aktivitäten ausgerichtet sind. Folgt man den Arbeiten aus dem Umfeld des Soziologen Ronald Hitzler, dann spielen in posttraditionalen Gemeinschaften im Allgemeinen und in Szenen als »prototypischer« Form dieser im Speziellen (Hitzler / Honer / Pfadenhauer 2008: 9 f.) auf ein bestimmtes »Thema« hin ausgerichtete Aktivitäten eine zentrale Rolle für die Kohäsion der sozialen Gruppe (Hitzler / Niederbacher 2010: 16 f.). Auch für die von mir untersuchten Gruppen sind solche Themen zentral. Dabei handelt es sich um unterschiedliche Ausrichtungen, die auch materiell in der Architektur der Gebäude verankert sind. Im Wohnprojekt Lilie sind beispielsweise die Kapelle Ort des gemeinsamen Betens sowie die Gästewohnungen ein Mittel, um gemeinschaftliches Engagement im alltäglichen Wohnen zu realisieren. Im Ziegelwerk finden sich mit dem Veranstaltungsraum ein Ort einer alternativkulturellen Kunstszene und mit dem Badehaus eine Materialisierung einer international inspirierten Badekultur, in der das sonst in öffentlichen Badeanstalten nicht erlaubte Nacktbaden möglich ist, durch welches die etablierten Grenzen bürgerlicher Privatheit und Intimität überwunden werden sollen. Dass es sich dabei nicht um Angebote handelt, die zufällig dem Bedarf einzelner Mitglieder entsprechen, sondern um Aktivitäten, die zentrale Orientierungspunkte dafür darstellen, was die Gruppen jeweils als ihre Gemeinsamkeiten wahrnehmen, zeigen sowohl die programmatisch ausgerichteten Diskussionspapiere aus der Anfangszeit als auch verschiedene Interviews, in denen die jeweiligen Einrichtungen in einen engen Zusammenhang mit der weltanschaulichen oder politischen Ausrichtung der Gruppe gestellt werden. Eine »gemeinsame Interessenfokussierung« (Hitzler / Honer / Pfadenhauer 2008: 9 f.), die als Merkmal von posttraditionalen Gemeinschaften beschrieben wird, ist also in beiden Projekten zu beobachten. Andere Aspekte wie die

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zeitliche und räumliche Beschränkung der Teilnahme (vgl. ebd.: 16 f.; Gertenbach u. a. 2010: 61 f.) treffen auf die von mir untersuchten Wohnprojekte nur teilweise zu. Durch das Einplanen bestimmter Einrichtungen in den Wohnprojekten werden Aktivitäten in das direkte Wohnumfeld integriert, für die Akteure und Akteurinnen ansonsten in der Regel wiederholt in spezifische und mitunter immer wieder neue räumlich, zeitlich und sozial begrenzte Settings eintauchen. Durch die räumliche Festschreibung bestimmter Aktivitäten am Wohnort wird einerseits eine stärkere Kohärenz der relevanten Bezugsgruppe erzeugt: Die Menschen, mit denen man gemeinsam bestimmten Aktivitäten nachgeht, sind zugleich auch die Nachbarn und Nachbarinnen. Diese teilweise Überschneidung von Nachbarschaft und sozialer Rahmung bestimmter Aktivitäten ist einerseits intendiert und zugleich innerhalb der Projekte selbst keineswegs unumstritten, wie sich beispielsweise anhand der Befürchtungen einer Abkapselung der religiösen Praxis von der Pfarre zeigt. Außerdem erhalten jene Aktivitäten, die zum Kern der Wohnprojekte erklärt werden, durch ihre räumliche Festschreibung in der unmittelbaren Wohnumgebung sowie durch die Einbettung in eine auch über die Nachbarschaft verbundene Bezugsgruppe zumindest potenziell eine höhere Stabilität, als dies üblicherweise im urbanen Raum der Fall ist. Neuorientierungen sind unter diesen Umständen wesentlich aufwendiger und erzeugen, wie anhand der Veränderung des Umgangs mit den räumlichen Angeboten deutlich wird, unter Umständen Spannungen innerhalb der Gruppen, wenn sich Einzelne nicht mehr in gleicher Weise mit den ursprünglich geplanten Einrichtungen und Aktivitäten identifizieren. Durch die Materialisierung werden nicht nur bestimmte Aktivitäten mehr oder weniger dauerhaft als zentral für die Gruppen verankert, sondern auch die Art und Weise ihrer Ausübung definiert. Die gemeinsame Planung und Einrichtung der Räume erfordert dabei einerseits in funktionaler Hinsicht eine klarere Konturierung zentraler gemeinschaftlicher Aktivitäten nicht nur im Sinne eines Was, sondern auch im Sinne eines Wie. Die Möblierung der Kapelle bedingt bestimmte Nutzungsoptionen, das Badehaus legt mit seinen zum Teil vom Angebot konventioneller Badeanstalten abweichenden Einrichtungen ganz bestimmte Formen des Badens als für die Gruppe bedeutsam fest. Darüber hinaus impliziert das gemeinsame Planen auch eine Einigung auf ästhetische Aspekte, die mir gegenüber in beiden Projekten mit Blick auf die Ausgestaltung der Gemeinschaftsräume als im Wesentlichen unproblematisch dargestellt wird. In beiden Fällen wird die Gruppenpräferenz retrospektiv weitgehend in Gegenüberstellung zur Position des Architekten kommuniziert. Hitzler und andere räumen ästhetischen Aspekten einen besonderen Stellenwert ein. So fuße die »Mitgliedschaft in einer posttraditionalen Gemeinschaft« vor allem auf der Übernahme von gruppenspezifischen »Zeichen, Symbolen und Ritualen« (Hitzer / Honer / Pfadenhauer 2008: 13). Das heiße, so Hitz-

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ler und andere weiter, »dass man sich eben nicht oder zumindest weniger aufgrund solidaritätsstiftender gemeinsamer Wertsetzungen, sondern sozusagen ästhetisch und prinzipiell vorläufig für die Mitgliedschaft entscheidet« (ebd.: 13). Im Fall der untersuchten Projekte werden gemeinsame Wertsetzungen nicht durch ästhetische Präferenzen ausgetauscht. Insgesamt nehmen Diskussionen um funktionale Aspekte, die, wie sich oben zeigt, ebenfalls mit bestimmten Werthaltungen verbunden sind, in den von mir geführten Interviews wesentlich mehr Raum ein als ästhetische Fragen. Dort, wo es um ästhetische Fragen geht, sind diese eng mit Wertsetzungen verknüpft. Die Präferenz der Mitglieder des Ziegelwerks für eine spezifische Art künstlerischer Veranstaltungen ist beispielsweise zunächst als gesellschaftspolitisches Statement zu sehen. In den Erzählungen rund um die künstlerische Aneignung des alten Gebäudes wird deutlich, dass diese Orientierung auch mit einer gewissen ästhetischen Präferenz für die Spuren eines Stücks der Alltagsrealität der städtischen Industriearbeiterschaft einhergeht. Auch der Konflikt rund um die Belichtung der Kapelle des Wohnprojekts Lilie verweist darauf, dass die Mitglieder der Gruppe sich an einer stärker konventionellen bzw. traditionellen Ästhetik des Kirchenbaus orientierten, als dies der Vorschlag des Architekten tat. Anders als Hitzler und andere dies für posttraditionale Gemeinschaften feststellen, erhält also insgesamt durch die Verortung zentraler Praktiken im Wohnumfeld die Zugehörigkeit zu einer Gruppe größere Stabilität. Sie ist aufgrund ihrer Verknüpfung mit dem Wohnen nicht mehr gleichermaßen temporär, lokal und situativ begrenzt. Obwohl die Teilnahme an Aktivitäten sowie die Beteiligung am Gruppenleben immer noch eine mehr oder weniger aktive Entscheidung bleibt, sind sowohl aufgrund des räumlichen Angebots als auch aufgrund der beiläufigen Begegnungen mit Nachbarn und Nachbarinnen die Möglichkeit bzw. der Anspruch der Beteiligung permanent latent präsent. Diese spezifische, auf freiwilliger Zugehörigkeit basierende und durch gemeinsame Aktivitäten zusammengehaltene soziale Bezugsgruppe und das räumliche Wohnumfeld sind enger miteinander verknüpft, als dies im Allgemeinen in postmodernen Settings urbaner Nachbarschaft der Fall ist (vgl. Reutlinger / Stiehler / Lingg 2015b: 70 f.; Petermann 2015: S. 178–181). Diese Stabilisierung durch Materialisierung impliziert aber nicht einen dauerhaft gleichen Umgang mit den Räumen. Vielmehr wird in beiden Projekten deutlich, dass sich die kollektiven Praktiken trotz ihrer räumlichen Verortung in den Projekten, die sich im Laufe der Jahre nicht wesentlich ändert, stark transformieren.

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Nachbarschaftliches Zusammenwohnen im Alltag: Synergien und Irritationen Neben den eben beschriebenen spezifischen Aktivitäten und den gewissermaßen nach außen gerichteten Zielen ist auch die gegenseitige Unterstützung im Alltag eines der zentralen Motive für beide Gruppen. Dabei knüpfen beide Wohnprojekte an ein Ideal von »starke[r], integrative[r] Nachbarschaft« (Schnur 2012: 455, in Anlehnung an König 2006: 175 f.) an, die, wie der Soziologe Bernd Hamm in seiner vielzitierten Arbeit zu Nachbarschaft aus den 1970er-Jahren darlegt, räumliche Nähe und soziale Interaktion (Hamm 1973: 14) verbindet. Wenn sich diese Aspekte in produktiver Weise ergänzen, kann Nachbarschaft, so der Europäische Ethnologe Thomas Hengartner, »subsidiäre Funktionen etwa in der gegenseitigen Hilfeleistung, Sozialisation, sozialer Kontrolle und Kommunikation erfüllen« (Hengartner 1999a: 282). Vielfach wurden und werden vor diesem Hintergrund idealisierte Bilder einer Nachbarschaft als »Dorf in der Großstadt« (Hamm 1973: 23) gezeichnet, deren Grundlage oftmals verklärte Vorstellungen über vormoderne bäuerliche Alltage sind (vgl. Pfeil 1972; Hüllemann / Brüschweiler / Reutlinger 2015: 25). Vor diesem Hintergrund gilt es, im Rahmen dieser Studie sowohl die Merkmale vormoderner bäuerlicher Nachbarschaft differenzierter zu betrachten als auch den veränderten Rahmenbedingungen für Sozialkontakte in der (post-)modernen Großstadt Rechnung zu tragen. Die vormoderne, traditionelle Nachbarschaft, mit der sich die frühe Volkskunde vor allem im Rahmen von orts- und regionalbezogenen Studien und zunächst vornehmlich auf Grundlage archivalischer Quellen intensiv beschäftigt hat (vgl. Engelhard 1986: 29–45), wird etwa von Karl-Sigismund Kramer als zweckgebundene und zugleich umfassende Lebensgemeinschaft charakterisiert, die nicht unerheblich von rechtlichen und wirtschaftlichen Faktoren geprägt ist (Kramer 1952: 137). Zumeist gab es zwischen Nachbarn und Nachbarinnen eine gewisse soziale Nähe und nicht selten waren bäuerliche Nachbarschaften zugleich auch Produktionsgemeinschaften, wodurch sich ähnliche Interessenslagen ergaben (vgl. Siebel 2009: 8). Die volkskundlichen Arbeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts künden zumeist vom Zerfall der Nachbarschaft in ihren früheren Formen. Dieser Prozess wird, wie die Volkskundlerin Jutta Engelhard feststellt, von manchen Fachvertretern und -vertreterinnen mit Bedauern als »Auf lösungstendenz« (Engelhard 1986: 44), von anderen neutraler als »Funktionswandel« (ebd.: 1) beschrieben. Gründe dafür seien der Bedeutungsgewinn des Staates, der zunehmend Funktionen der Nachbarschaft als selbstverwaltete Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft übernimmt, das aufkommende Versicherungswesen, das die Bedeutung nachbarschaftlicher Selbsthilfe reduziert, sowie die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz und die damit einhergehende steigende Mobilität. Spätere volkskundliche Studien ab den 1970er-Jahren sowie sozio-

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logische Arbeiten stimmen weitgehend mit der These vom Wandel der Rahmenbedingungen für nachbarschaftliche Beziehungen sowohl auf dem Land als auch in der Stadt überein, sie heben mit Blick auf traditionale Formen der Nachbarschaft jedoch nicht mehr nur die positiven Aspekte gewissermaßen als »Idealverhältnisse« (Hengartner 1999a: 287) hervor, sondern verweisen auch auf den normativen und regulativen Charakter von Nachbarschaft (vgl. Engelhard 1986: 25) bzw. auf die »scharfen Sanktionen« (Siebel 2009: 8), mit denen die Nichteinhaltung der »strenge[n] Normen nachbarschaftlichen Verhaltens« (ebd.) einherging. Demgegenüber sei, so der Tenor der soziologischen und europäischethnologischen Arbeiten, die moderne, großstädtische Nachbarschaft von einer verhältnismäßig starken Unverbindlichkeit gekennzeichnet. Soziale Nähe wird außerhalb des konkreten Wohnumfelds gesucht (vgl. Reutlinger / Stiehler / Lingg 2015a: 16; Wietschorke 2012: 112) und das Verhältnis zu den Nachbarn und Nachbarinnen ist zunehmend von Distanznormen geprägt – wie der Volkskundler Heinz Schilling 1997 feststellt: »Die stille Vereinbarung einer Verbindlichkeit der Unverbindlichkeit scheint die heute vielleicht signifikanteste Formel für die soziale Relation Nachbarschaft« (Schilling 1997: 12; dazu auch Hengartner 1999a: 285). In diesem Kontext findet nachbarschaftliche Hilfe in der Regel nur mehr unter einzelnen Haushalten bzw. in begrenztem Ausmaß statt. Ausnahmen von dieser Norm finden sich, wie der Soziologe Walter Siebel feststellt, in besonderen (Not-)Situationen, die gemeinsame Interessenslagen erzeugen, sowie bei Gruppen von Menschen, für die aufgrund begrenzter räumlicher oder sozialer Mobilität das nachbarschaftliche Umfeld eine größere Bedeutung erhält, etwa bei älteren Menschen, Kindern oder Migranten und Migrantinnen (Siebel 2009: 10–12). Sonderformen, auf die der Soziologe Walter Siebel explizit hinweist, sind Wohnprojekte der 1970erund 1980er-Jahre wie jene hier untersuchten, die selbstgewählte Nachbarschaften konstruieren, um darin haushaltsübergreifende Hilfsnetze aufzubauen (ebd.: 11). Ein weiterer relevanter Faktor für die Art der Interaktion zwischen Nachbarn und Nachbarinnen sind die baulich-räumlichen Gegebenheiten. Die Geschichte der Stadtplanung bietet viele Beispiele für Versuche, durch bestimmte Bauweisen eine Intensivierung der Kontakte zwischen Nachbarn und Nachbarinnen zu erreichen. Konkrete Beispiele dafür sind etwa James Hobrechts Entwürfe für das Berliner Mietshaus Mitte des 19. Jahrhunderts, das einen »nachbarschaftlichen Lebenszusammenhang von bürgerlichen und proletarischen Familien« (Wietschorke 2012: 106) herstellen sollte, oder auch bauliche Maßnahmen zur Anregung von Kontakten im gegenwärtigen geförderten Wohnbau in Wien, wie etwa Gemeinschaftsräume, multifunktionale Innenhöfe oder Küchen-Gang-Fenster (vgl. Gozzer 2016: 92–106). Empirische Studien kommen zu dem Schluss, dass die Planbarkeit nachbarschaftlicher Interaktionen

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begrenzt ist (vgl. Wietschorke 2012: 107; Gozzer 2016: 99–103). Dennoch stellt sich die Frage, was die räumlichen Arrangements zur Ausprägung von Interaktionsmustern beitragen. Im Unterschied zu den genannten Beispielen, in denen die Planung top-down erfolgte, zeichnen sich die hier untersuchten Wohnprojekte dadurch aus, dass auch die Frage der nachbarschaftlichen Interaktionsräume und der Grenzziehungen zwischen unterschiedlichen Sphären des Wohnens und Lebens von den Gruppen selbst ausgehandelt und mitbestimmt wurden. Jedenfalls ist klar, dass die räumliche Nähe in Kombination mit jeweils bewusst gewählten baulichen Eigenheiten bedingt, dass zwangsläufig nicht nur bestimmte ausgewählte Situationen miteinander geteilt werden, sondern eine ganze Reihe an weiteren Aspekten der Lebensführung. An dieser Stelle sei auf Jürgen Hasses Überlegungen verwiesen, dass die Daseinsform des Wohnens als »ganzheitliches« Wohnen »(vermischtes) Tun« im Sinne intentionaler wie auch nicht-intentionaler »Aktivitäten« ermöglicht (Hasse 2012b: 488). Gerade um diese oftmals nicht-intentionalen, scheinbar unbedeutenden Aspekte zu fassen, die das Wohnen impliziert und die zwangsläufig – mehr oder weniger – mit den Nachbarn und Nachbarinnen geteilt werden, eignet sich der Blick der Europäischen Ethnologie mit ihrem Interesse für Routinen des Alltags und ihre scheinbar belanglosen Details (vgl. Ehn / Löfgren 2009) in besonderer Weise. Diese sind nicht um ihrer selbst willen von Interesse, sondern werden als eine wesentliche Form der Realisierung gesellschaftlicher Dynamiken und Ordnungen gesehen: »Seemingly trivial routines may hide important conflicts or carry strong moral messages« (Ehn / Löfgren / Wilk 2016: 1). Dieses Kapitel beschäftigt sich demnach zunächst mit der Frage, welche Synergien des Zusammenwohnens in den beiden Wohnprojekten zu Beginn jeweils intendiert wurden, durch welche räumlichen Strukturen diese unterstützt werden sollten und wie die ursprünglichen Intentionen dem Empfinden der Bewohner und Bewohnerinnen nach umgesetzt werden. In einem zweiten Schritt ist auch danach zu fragen, welche – auch nicht-intendierten – Nebeneffekte sich aus der Kombination von räumlicher und sozialer Nähe ergeben. Für beide Wohnprojekte bildete der Wunsch nach einer aktiv gelebten Nachbarschaft mit intensiven Kontakten und gegenseitiger Unterstützung im Alltag einen der Kerninhalte. Folgt man den Argumentationslinien der Diskussionspapiere der Anfangszeit, werden jedoch auch Unterschiede im Nachbarschaftsverständnis beider Projekte deutlich. Wie bereits angesprochen, argumentierte der Initiator des Wohnprojekts Lilie die Notwendigkeit einer solchen Initiative mit der Beobachtung, dass viele familiale und nachbarschaftliche Dienstfunktionen – mit aus seiner Perspektive nachteiligen Folgen – zunehmend auf die Sozialfürsorge der öffentlichen Hand übertragen worden seien (Klar / Schattovits 1988a: 13 f.; vgl. auch Schattovits 2011: 104 f.). Demgegenüber war es für das Wohnprojekt ein Anliegen, eine Art Nachbarschaftshilfe zu

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etablieren, »die aus mitmenschlicher Verantwortung im alltäglichen Leben und auf unbürokratische Weise geleistet wird« (Klar / Schattovits 1988a: 13 f.). Der ländliche Raum mit den dort noch längere Zeit vorhandenen großfamilialen Netzwerken taucht dabei häufig als Vorbild auf, beispielsweise in den Ausführungen eines Bewohners, der selbst auf einem Bauernhof in einer kleinen Ortschaft aufgewachsen und später zum Studium nach Wien gezogen ist: Einige [der Mitglieder der Kerngruppe, Anm. d. Verf.] kamen ja aus dem ländlichen Umfeld, wo es die Großfamilie gab, wo Großeltern, Eltern und Kinder miteinander unter einem Dach gewohnt und da auch gewisse soziale Aufgaben wahrgenommen haben, Pufferbereich gespielt haben. [...] Und in diese Richtung war diese Gemeinschaft gedacht, dass man sagt: Wir haben zwar unsere eigenen Räumlichkeiten, Wohnungen, aber wir sind sozusagen in einem Netzwerk des gegenseitigen Unterstützens und Helfens. Und das ist eben diese neue Normalität, die es eigentlich früher gegeben hat.

Der hier zitierte Bewohner stellt ein bestimmtes Modell der nachbarschaftlichen Hilfeleistung ins Zentrum eines gesellschaftlichen Idealbildes, das mit dem Begriff der »neuen Normalität« angedeutet ist. Er argumentiert auf der Ebene der allgemeinen Visionen und Erklärungen, was sich auch in der Wortwahl zeigt, die in großen Teilen mit jenen Begriff lichkeiten übereinstimmt, die in den Statuten des Vereins und in diversen Publikationen über das Projekt verwendet werden. Andere Interviewpartner und -partnerinnen sprechen mit Blick auf ihre Motivationen für die Teilnahme an dem Projekt verschiedene Aspekte dieses Konzepts von Nachbarschaft aus einer subjektiven Perspektive an. Manche bezeichnen insbesondere mit Blick auf die Anfangsphase des Projekts die Möglichkeit, Nachbarschaftshilfe und andere soziale Dienste zu leisten als sinnstiftend in einer Lebensphase, in der sie sonst wenig Gelegenheit hatten, sich gemeinschaftlich einzubringen. Eine Bewohnerin, die die große persönliche Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements durch das Studium und das frühe Berufsleben hindurch betont, beschreibt die Möglichkeit, dieses auch in der Zeit der frühen Elternschaft fortzuführen, als eine der zentralen Motivationen für die Beteiligung an dem Projekt: Und von daher war es unser Wunsch, dass man im eigenen Haus Möglichkeiten schafft sich zu engagieren und diesen Bereich zu nutzen. Denn gerade mit kleinen Kindern ist man viel zu Hause und hat viel Zeit, und wenn man dann alleine in der Wohnung sitzt, ist es fad für einen selbst und unproduktiv. Und in diesem Rahmen [des Hauses, Anm. d. Verf.] kann man dann doch viel tun.

Andere wiederum führen als Motivation für die Beteiligung an dem Wohnprojekt eine grundsätzliche Gemeinschaftsorientierung an. Eine Bewohnerin, die ebenfalls mit kleinen Kindern ins Haus einzog, erklärt ihren Wunsch nach ge-

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meinschaftlichen Aktivitäten und gemeinschaftlichem Wohnen als etwas, das ihre Biographie seit den Jugendjahren begleitet. Während das Wohnprojekt Lilie also eine unbürokratische Nachbarschaftshilfe etablieren wollte, die eng mit christlichen Idealen der Nächstenliebe verknüpft ist und als deren Vorbild die ländliche Großfamilie fungierte, richtete sich das Wohnprojekt Ziegelwerk gegen Tendenzen der Individualisierung des Lebens und Wohnens als Resultat kapitalistischer Entwicklungen und sah im nachbarschaftlichen Kollektiv eine Möglichkeit, alternative, auch von bürgerlich-kleinfamilialen Strukturen abweichende Lebensentwürfe zu realisieren (vgl. Ehs 2008: 20 f. und 38). Im Wohnprojekt Ziegelwerk sollte unter anderem ein Umfeld geschaffen werden, in dem politisches und soziales Engagement auch jenseits der geplanten und dauerhaft betriebenen Kunst- und Kultureinrichtungen möglich ist. Ein Bewohner, der sich dem Projekt kurz nach der Vereinsgründung anschloss und der, so wie viele andere, davor in einer Wohngemeinschaft gelebt hatte, berichtet mir beispielsweise davon, dass sich einmal ein anderer Bewohner mit mehreren interessierten Personen aus dem Wohnprojekt zusammenschloss, um Jugendliche aus den Krisengebieten im Kosovo nach Wien einzuladen und ihnen so eine »Erholungswoche« zu ermöglichen. Neben jenen, die sich direkt an der Organisation beteiligten, hätten viele Bewohner und Bewohnerinnen diese Initiative niederschwellig unterstützt, indem sie die insgesamt dreißig Jugendlichen für eine Woche in ihren Wohnungen aufnahmen. Diese Aktion wird mir als beispielhaft für die Möglichkeiten, die das Wohnprojekt bietet, präsentiert: Also was ich sagen wollte, wenn man so eine verrückte Idee hat, lässt es sich hier unter Umständen umsetzen. Und ich würde wetten, das geht sonst nicht. [...] Also ich hab’ nicht erlebt, dass man so Ideen in einer Wohngemeinschaft bespricht oder so. Weil die vier oder fünf oder sechs Leute, die in der WG sind, die haben nicht immer die gleichen Interessen, und hier sind es immer wieder andere, die sich zusammenfinden. Für Kosovo waren es andere als für den Grünraum.

Die Nachbarschaft von Menschen mit grundsätzlich ähnlichen Lebenseinstellungen und Idealen innerhalb des Wohnprojekts wird hier als Potenzial beschrieben, um politische und soziale Anliegen zu realisieren. Insofern kommt in diesem Zusammenhang der Nachbarschaft als »soziale Tatsache, die sich räumlich organisiert« (Siebel 2009: 12) besondere Bedeutung zu, womit der Aspekt der Homogenität der Nachbarschaft als Voraussetzung intensiver Kontakte angesprochen ist (vgl. dazu auch Schnur 2012: 457; Wietschorke 2012: 118). Im Unterschied zur sozialen Homogenität, die Siebel, Schnur und Wietschorke ansprechen, steht hier aber eine weltanschauliche Homogenität im Vordergrund, die eine feinere Differenzierung der sozialen Zugehörigkeit impliziert.

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Insgesamt zeichnen sich mit Blick auf die Motivationen für die Beteiligung an den Projekten und die Argumente für eine enge Nachbarschaft markante Unterschiede zwischen den Projekten ab. Für Bewohner und Bewohnerinnen des Wohnprojekts Lilie steht der Aspekt des Hilfeleistens im Kontext einer christlichen Lebenseinstellung im Vordergrund. Demgegenüber verstehen die Mitglieder des Wohnprojekts Ziegelwerk nachbarschaftliche Netzwerke als Möglichkeit, ihre Vorstellungen einer besseren Gesellschaft im Sinne eines alternativen Lebensstils zu realisieren und gemeinsam gesellschaftspolitische Aktionen umzusetzen. In besonderer Weise verdichtet sich die gegenseitige Unterstützung in beiden Projekten beim Umgang mit Kindern und in der Unterstützung und Pflege älterer Menschen. Es handelt sich dabei um biographische Phasen, in denen sich auch abseits des deklariert gemeinschaftsorientierten Wohnens häufig Hilfsnetzwerke entwickeln. Die Art und Weise, wie Formen der Unterstützung in diesen Bereichen ausgestaltet sind, zeigt jedoch auch Differenzen zwischen den hier untersuchten Wohnprojekten auf. Im Wohnprojekt Lilie erfährt das Leben mit Kindern dem rückblickenden Empfinden vieler nach eine wesentliche Erleichterung. Hervorgehoben werden dabei insbesondere die Infrastruktur des Hauses, der Spielplatz, der Garten, der Turnsaal, sowie die Vertrautheit zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen, die einen Rahmen biete, in dem man Kindern außergewöhnlich viel Bewegungsfreiheit lassen könne. Diesen Aspekt spricht eine Bewohnerin aus der anfänglichen Kerngruppe, deren eigene Kinder beim Einzug im Kleinkindalter waren, auch mit Blick auf die am Land lebenden Enkelkinder weiterhin als großen Vorteil an: Also unsere Enkelkinder, die schätzen das Haus. [...] Da gibt’s auch einen Turnsaal und einen großen Garten und da gibt’s Hasen. [...] Und sie können auch hier, so wie zu Hause, alleine in den Turnsaal gehen, ohne dass ich sagen muss: ›Warte, ich geh’ mit dir.‹ Und: ›Du sollst nicht alleine durchs Stiegenhaus gehen und so.‹ Das ist hier kein Thema, nicht?

Mehrere berichten zudem, dass Kinder im Haus sehr unkompliziert Anschluss finden können und Gleichaltrige einander in den Wohnungen besuchen oder gemeinsam im Garten spielen. Die Dichte dieser Kontakte habe sich aber mit der Zeit und der damit sinkenden Zahl gleichaltriger Kinder verändert. Während in der Anfangszeit regelmäßig Veranstaltungen für Kinder organisiert wurden und sich dauerhafte Unterstützungsformen wie Fahrgemeinschaften in die Schule ausbildeten, beschreibt eine Bewohnerin, die gegenwärtig mit Kindern im Haus wohnt, die Unterstützung durch Nachbarn und Nachbarinnen eher als ein Hilfenetz für Notfälle. Wenn sie »zwischendurch mal schnell wo hin« müsse, sei es gut zu wissen: »Okay, im Notfall kann ich den und den anrufen und dort können sie [die Kinder, Anm. d. Verf.] sein.«

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Auch im Wohnprojekt Ziegelwerk spielt Nachbarschaftshilfe im Alltag mit Kindern eine große Rolle. Ein Großteil der Bewohner und Bewohnerinnen lebte bereits in Wohngemeinschaften und viele der Kinder besuchten alternativ-pädagogische Einrichtungen. Der Versuch mit Kindern »anders umzugehen«, wie einer der kinderlosen Bewohner mir erklärt, hatte eine gewisse Infrastruktur und einen Rahmen zur Folge, der eine sonst im städtischen Wohnen nicht gegebene Bewegungsfreiheit ermöglicht, sowie alternative Formen der Betreuung und des Kontakts mit anderen Kindern. Anders als im Wohnprojekt Lilie wird im Ziegelwerk ganz explizit über abwechselnde Kinderbetreuung gesprochen. Eine Bewohnerin, Sozialwissenschaftlerin Anfang fünfzig, formuliert ihre Einschätzung folgendermaßen: Also inzwischen gibt’s ja eine ganze Generation, die tatsächlich zusammen aufgewachsen ist, die waren miteinander da im Kindergarten, die Eltern haben sich abgewechselt in der Nachmittagsbetreuung oder wie auch immer. Und ich glaub schon, dass das sehr speziell und sehr glücklich war für die. Also so wie ich auf dem Dorf aufgewachsen bin in der ganzen Kindergruppe der Nachbarschaft. Ja, vielleicht hier sozial homogener als dort, aber doch auch unterschiedlich.

Die hier zitierte Bewohnerin spricht das Dorf weniger als allgemeines Idealbild gemeinschaftlicher Organisation an, sondern beschreibt das Aufwachsen in einem dörf lichen Umfeld vielmehr aus einer persönlichen Erfahrungsperspektive als glückliche Situation. Obwohl ihre Kinder nicht dieser Generation angehörten, sondern älter waren, beschreibt sie die nachbarschaftlichen Beziehungen, die sich über Kinder im selben Alter ergeben, als Spezifikum des Projekts: Das ist ein großer Vorteil hier einfach. Das entsteht vielleicht in manchen anderen Wohnbauten auch, aber es ist dort doch vielleicht mehr Glück, dass man mit den anderen Eltern zurechtkommt. Aber es hängt einfach damit zusammen, dass es hier auch relativ homogen ist, wobei ich jetzt nicht unbedingt der Meinung bin, dass das grundsätzlich so gut ist. Aber es erleichtert diese Dinge, glaub’ ich, auf jeden Fall.

Meine Interviewpartnerin bewertet die Homogenität der Gruppe als notwendige Voraussetzung für eine intensive Form nachbarschaftlichen Austausches und nachbarschaftlicher Hilfe. Eine weitere Lebensphase, in der Nachbarschaftshilfe ein großes Thema ist, ist das Alter. Die Unterstützung älterer Menschen stellt in Vorstellungen von vormoderner Nachbarschaft ein zentrales Aufgabenfeld dar, wurde im Laufe der Zeit aber zunehmend an nicht mehr im unmittelbaren räumlichen Umfeld lebende Verwandte bzw. an eigens dafür geschaffene Einrichtungen ausgelagert und wird in der Regel nur mehr in begrenztem Ausmaß vom nachbarschaftlichen Umfeld abgedeckt (vgl. Siebel 2009: 10). Im Wohnprojekt Lilie wurden

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die Möglichkeiten der Unterstützung älterer Menschen von Vornherein explizit bedacht, inzwischen werden die anfänglichen Konzepte häufig kritisch reflektiert. Eine heute etwa sechzigjährige Bewohnerin, die damals als junge Frau mit ihrem Mann und ihren kleinen Kindern ins Projekt einzog, erinnert sich daran, dass sie und andere es nicht verstehen konnten, dass sich einige Mitglieder für ihre eigene Altersversorgung nicht auf die Gemeinschaft verlassen wollten. Diese Debatte spiegelt die anfänglichen Ansprüche wider und zeigt auch die Einschränkungen und Relativierungen dieser Ideale, die mit der Erfahrung des Zusammenlebens notwendig wurden und die sich teilweise auch aus einer veränderten biographischen Perspektive ergeben: In Hinblick auf die doch einigen alten Menschen, die damals [in der Anfangszeit, Anm. d. Verf.] schon hier gewohnt haben und die sich relativ schnell so als Vorsorge auch in einem Altersheim angemeldet haben, gab’s dann auch in der Gemeinschaft die Diskussion: ›Ah, wieso meldet ihr euch in einem Heim an, wenn ihr eh in einer Gemeinschaft wohnt?‹ Ich seh’ das heute auch anders. Damals hab’ ich mir gedacht: Also wie man mit sechzig schon so panisch sein kann, dass man vielleicht mit siebzig keinen Heimplatz kriegt, noch dazu wo man eh hier wohnt? [...] Aufgrund der anderen Personen, die hier auch schon verstorben sind oder längere Zeit Pflege brauchten, versteh’ ich das jetzt schon. Es ist nicht immer möglich gewesen, die Leute bis zum Schluss hier im Haus zu behalten.

In besonderer Weise werden die Herausforderungen der Pflege aus der Perspektive älterer Menschen sichtbar, die selbst bereits Phasen schwerer Krankheit durchlebt haben und dabei auf die Schwierigkeit gestoßen sind, wie Pflege in einem grundsätzlich wohlwollenden Umfeld organisiert werden kann. Eine Bewohnerin, die ich hier Katharina Ellinger nenne, zum Zeitpunkt des Interviews etwa achtzig Jahre alt, äußert sich dazu folgendermaßen: Ich war heuer sehr krank und [...] hab’ richtige Listen geschrieben, was ich brauche an Hilfe usw. Aber das funktioniert natürlich nur, wenn man wenigstens so viel Kraft hat, dass man so etwas machen kann. [...] Und wenn’s einem sehr schlecht geht, kann man das nicht mehr, dass man sagt: ›Ich brauche etwas.‹

Katharina Ellinger äußert sich sehr wertschätzend über die Hilfe, die ihr angeboten wurde, betont aber auch die »ganz realen Probleme« organisatorischer Art. Außerdem sei es ihr teilweise unangenehm gewesen, ohnehin vielbeschäftigte Menschen zusätzlich zu belasten. Daher bleibt für sie die Frage ihrer Versorgung im Alter ungelöst. Im Wohnprojekt Lilie ist die Pflege der älteren Menschen mit hohen Ansprüchen und auch Frustration angesichts der letztlich doch begrenzten Möglichkeiten besetzt. Im Ziegelwerk wird dieser Aspekt nicht als grundsätzliches Ziel des Projekts seit der Anfangszeit, sondern lediglich mit Blick auf die Zukunft thematisiert. Dabei geht es nicht um die Frage unmittelbarer Ver-

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sorgungsleistungen als »soziales Dienstangebot« (Klar / Schattovits 1988a: 5), sondern um gemeinschaftlich effizienter organisierte logistische Lösungen der Altenpflege. Eine Überlegung sei beispielsweise, gewisse Dienstleistungen und Versorgungsleistungen professionell zu organisieren und kollektiv zu nutzen, wie mir eine Bewohnerin Anfang fünfzig erzählt: Ich denke, ja, wenn man das gescheit macht mit diesem Service oder so, dann können wir vielleicht auch die letzten Lebensphasen, die ja manchmal recht schwierig sind, einfach auch besser bewältigen, indem man halt einfach aufeinander schaut oder die Dinge gemeinschaftlich organisiert.

Jenseits dieser Lebensphasen gibt es auch bestimmte Situationen, insbesondere Lebenskrisen, in denen sich gegenseitige Unterstützung verdichtet. Ein etwa sechzigjähriger Bewohner des Wohnprojekts Lilie erzählt davon, dass für ihn nach dem frühen Tod seiner Frau das Leben im Wohnprojekt eine besondere Qualität erhalten habe: In dieser Phase des Alleinseins – die Kinder waren damals elf und acht Jahre alt – war dieser geschützte Raum der Gemeinschaft ungeheuer wichtig für mich. Sie [die anderen Mitglieder, Anm. d. Verf.] haben im Nachhinein betrachtet im Prinzip nichts Aufregendes gemacht. Aber ich habe die Gewissheit gehabt: Wenn ich jemanden brauche, ist wer da. Und das ist das, was ich der Gemeinschaft im Prinzip nie vergessen werde, dass sie für uns damals eine so eine Art Schutzmantel gewesen sind.

Der alleinerziehende Vater nennt vor allem die grundsätzliche Bereitschaft der Gruppe zur Unterstützung sowie konkrete Kontakte, die seine Kinder zu einzelnen Bewohnern und Bewohnerinnen entwickelten, als Erleichterung. In seiner Erzählung taucht die Gruppe als potenzielles, passiv zur Verfügung stehendes Netzwerk auf, das bei Bedarf aktiviert werden kann. Eine Bewohnerin des Wohnprojekts Ziegelwerk betont die Qualität des geschützten Rahmens, der ihrer Tochter, die mit einer geistigen Behinderung lebt, große Bewegungsfreiheit bot: Das hat für sie schon sehr viel Freiheit bedeutet, weil sie [im Ziegelwerk] einfach ganz alleine herumgehen konnte und sie das ja nicht so gerne hat, wenn sie überwacht wird. Klarerweise. [...] Hier konnte sie überall herumgehen und hat immer Kontakte gehabt und ist permanent alle Leute abgegangen, die Babys hatten. (lacht) Und ich hab’ mich halt darauf verlassen, dass die Leute mutig genug sind, ihr zu sagen: ›Du, jetzt passt’s mir grad gar nicht. Komm morgen wieder.‹ (lacht) Und das war schon für sie wie für mich, glaube ich, eine große Erleichterung.

Zudem sei es eine besondere Qualität des Wohnens im Ziegelwerk, dass man auf die unterschiedlichen Kompetenzen einzelner Mitglieder zurückgreifen kann:

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Und manche Sachen sind hervorragend, nicht? Also wenn man zum Beispiel meiner Tochter Blut abnehmen muss, was eine ziemliche Herausforderung ist, dann ist es einfach ganz toll, wenn die Nachbarin praktische Ärztin ist. [...] Also für ganz viele Dinge bin ich so dankbar. Und ich glaube, es ist etwas anderes, als wenn diese Personen einfach nur meine Freundinnen wären, weil sie einfach zusammenwohnen. Und ich denk’ mir, [...] mit Kindern oder einfach auch so ist es privat irrsinnig angenehm, also oft jetzt nicht die ganze Gemeinschaft betreffend, aber einfach von einer Person zur anderen, wenn die da sind, oder wenn man jemanden fragen kann. [...] Obwohl es selten ist, ist es eine Bereicherung und eine irrsinnige Erleichterung für ganz viele Dinge, ja. Na, ich würd’ da sicher nicht ausziehen.

Auch wenn die hier zitierte Bewohnerin an dieser Stelle nicht weiter ausführt, was die Nachbarschaft im Unterschied zur Freundschaft auszeichnet, unterscheidet sie die beiden Formen dennoch entschieden und schreibt der Nachbarschaft aufgrund der ständigen Präsenz und latenten Verfügbarkeit eine besondere Qualität zu. Über diese besonderen Situationen, in denen sich gegenseitige Unterstützung verdichtet, hinaus finden sich in beiden Wohnprojekten zahlreiche Beispiele für eher beiläufige Formen von Nachbarschaftshilfe. Umfragen aus der ersten Phase der Besiedlung des Wohnprojekts Lilie nennen als weitere Formen der gegenseitigen Hilfeleistung im Alltag etwa die Unterstützung älterer Bewohnerinnen beim Einzug, Einkaufsgemeinschaften oder das Ausleihen von Haushaltsgeräten (vgl. Klar / Schattovits 1993: 57–61). Im Zuge meiner Beobachtungen im Haus fallen mir beiläufige Formen der nachbarschaftlichen Hilfe auf. So hängt beispielsweise im Eingangsbereich ein Zettel mit der an Post und Paketzustelldienste gerichteten Information, dass in diesem Haus alle bereit sind, Briefe und Pakete für ihre Nachbarn und Nachbarinnen anzunehmen, um diesen Wege zur Post zu ersparen (Forschungstagebuchnotiz vom 25. 1. 2013). Mehrmals werde ich im Zuge von Hausführungen auf den »Tauschtisch« im Stiegenhaus hingewiesen, auf dem Bewohner und Bewohnerinnen anderen nicht mehr benötigte Dinge zur freien Entnahme anbieten. Diese beiläufigen Formen der Solidarität unter den Bewohnern und Bewohnerinnen stellen sicher nur einen kleinen Ausschnitt der relevanten Praktiken dar. Insbesondere der Initiator des Projekts thematisiert aber auch, dass es in einer großstädtischen Lage mit guter Infrastruktur nicht ganz einfach sei, einen solidarischen Lebensstil aufrechtzuerhalten und sich dadurch die »Gefahr« ergebe, »in den individualistischen Lebensvollzug hinein [zu] geraten«. Damit wird einmal mehr die Großstadt als Gegenmodell zu den Idealen des Projekts skizziert. Über diese wenig verbindlichen Formen der nachbarschaftlichen Unterstützung hinaus erfahre ich im Wohnprojekt Lilie auch von Einzelfällen, in denen

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sehr enge nachbarschaftliche Kontakte bestehen. So erzählt beispielsweise eine alleine lebende pensionierte Bewohnerin von einer sehr guten Beziehung zu einer Nachbarin, die so weit reiche, dass auch in Abwesenheit der anderen etwa Lebensmittel aus dem Kühlschrank ausgeliehen werden dürfen. Diese intensiveren Formen alltäglicher nachbarschaftlicher Unterstützung beruhen allerdings, wie im Fall meiner Interviewpartnerin und ihrer Nachbarin, auf einer langjährigen Freundschaft und einem darauf aufbauenden Vertrauensverhältnis, das deutlich über die Beziehungen zu anderen Bewohnern und Bewohnerinnen des Hauses hinausgeht. Diese Abstufungen in den Verhältnissen zueinander macht auch ein Lehrer Anfang sechzig deutlich, wenn er betont, dass in manchen Fällen »aus Mitgliedschaft wirklich Freundschaft geworden« sei und er sich mit manchen seiner Nachbarn und Nachbarinnen regemäßig zu persönlichen Gesprächen verabrede. Im Wohnprojekt Ziegelwerk finden sich Berichte von konkreter Nachbarschaftshilfe abseits der Kinderbetreuung vor allem mit Blick auf die Anfangszeit und die Phase des Einziehens und Einrichtens. Man hätte immer gewusst, an wen man mit welchem Anliegen herantreten könne, erzählt eine Bewohnerin, die als alleinerziehende Mutter mit Ende zwanzig in das Projekt einzog. Sie berichtet vom gegenseitigen Ausleihen von Werkzeug für die Montage von Möbeln und von konkreter gegenseitiger Unterstützung bei handwerklichen Tätigkeiten, insbesondere unter Frauen, die ohne Mann im Haushalt lebten. Die Netzwerke der Nachbarschaftshilfe verstärken sich also in besonderen Situationen, wie etwa unmittelbar nach dem Einzug oder aus Sicht einzelner Akteure und Akteurinnen in besonderen biographischen Phasen, etwa nach dem Tod des Partners oder im Alltag mit einem Kind mit Behinderung. Hier wird die Nachbarschaft einerseits durch gemeinsame »Interessenslagen« (Weber 2005: 279; zit. nach Wietschorke 2012: 96) und andererseits als »Notgemeinschaft« (Siebel 2009: 10) aktiviert, wobei die Betroffenen betonen, dass für sie oft nicht die konkrete Hilfeleistung im Vordergrund stehe, sondern das Wissen um ein im Notfall verfügbares Unterstützungsnetzwerk. Darüber hinaus zeichnet sich in beiden Projekten ab, dass sich über die nachbarschaftlichen Verhältnisse hinaus Beziehungen zwischen einzelnen Mitgliedern der Gruppen intensivieren, die schließlich als Freundschaften beschrieben werden, und die sich entweder aus besonderen persönlichen Sympathien und ähnlichen Einstellungen heraus entwickeln, oder auch aus dem Teilen bestimmter Lebensphasen, wie etwa der Jungelternschaft, erwachsen. Neben dem »Unterstützungsaspekt« (Reutlinger / Stiehler / Lingg 2015a: 15) betonen Bewohner und Bewohnerinnen beider Projekte auch die Bedeutung des alltäglichen Kontakts untereinander, also den »Vernetzungsaspekt« (ebd.) der in den Wohnprojekten realisierten Nachbarschaftsbeziehungen. Dieser entwickelt sich teilweise rund um gemeinsame Aktivitäten und Interessen,

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aber auch ganz beiläufig im alltäglichen Zusammenwohnen und wird von Personen aus beiden Projekten als besondere Qualität dieser Wohnformen erlebt. Dabei kommt den räumlichen Strukturen der Gebäude große Bedeutung zu. Für ältere Bewohnerinnen des Wohnprojekts Lilie, die alleinstehend kurz vor oder kurz nach ihrer Pensionierung in das Haus einzogen, stand der Wunsch nach einer »kontaktfreundlichen Umgebung« im Vordergrund, in der man »nicht ganz isoliert« leben würde, aber auch für andere Gruppenmitglieder waren die Möglichkeiten informeller, nicht zielgerichteter Kontakte ein Aspekt, der bereits in der Planung des Gebäudes, beispielsweise bei der Gestaltung des Stiegenhauses, eine wichtige Rolle spielte. Die Diskussionen um die Grundform des Hauses verdeutlichen mit der Ablehnung jener Bebauungsvorschläge, die mehrere Baukörper und Stiegenhäuser vorsahen, den grundsätzlichen Wunsch der Bewohner und Bewohnerinnen nach einem gemeinsamen Raum, in dem auch jenseits geplanter Aktivitäten Begegnungen Teil des Alltags sind. Baulich äußert sich die Konzeption des Erschließungssystems als »erweiterter Gemeinschafts- und Aufenthaltsraum« (Klar / Schattovits 1988a: 136) in der großzügigen Belichtung und in den breiten Gangflächen, die Möglichkeiten zur Aneignung durch die Bewohner und Bewohnerinnen bieten, sowie in einer Sitzecke, die in einer eigens dafür vorgesehenen Nische im ersten Obergeschoß eingerichtet wurde. Gerade diese Sitzecke im ersten Obergeschoß wird mir mehrfach als letztendlich sehr wenig genützt präsentiert. Interaktionen im Sinne eines längeren Zusammenseins und eines intensiveren Austausches würden sich nur zu

Abb. 14: Sitzecke im Stiegenhaus des Wohnprojekts Lilie. Foto: Ana Rogojanu.

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bestimmten Anlässen ergeben, etwa wenn dort in der Vorweihnachtszeit an bestimmten Tagen Punsch getrunken oder wenn Stockfeste organisiert würden. Insbesondere dann erweise sich dieser Raum in seiner Zwischenfunktion als Durchgangs- und Aufenthaltsraum als gewinnbringende Besonderheit des Hauses, wie die Erzählung einer Bewohnerin verdeutlicht, die selbst nicht an der Planung beteiligt war: Natürlich bewirkt das [Stiegenhaus, Ergänzung d. Verf.] ja auch was. Im Advent sind wir jetzt wieder oben im ersten Stock in dieser Sitzecke gesessen mit Kerzen und mit Punsch und Dings, was einfach schon genial ist, ja? Und jeder, der einfach vorbeigekommen ist, hat sich eine Viertelstunde dazugesetzt. Was ja in einem normalen Haus gar nicht möglich ist. In einem normalen Stiegenhaus, da geht man schnell um die Ecke und es ist grau und dunkel und finster.

Auch abseits von organisierten Veranstaltungen spielt das Stiegenhaus im Wohnalltag eine kommunikative Rolle, allerdings auf andere Weise als ursprünglich gedacht. Eine Bewohnerin, Mutter von vier inzwischen erwachsenen Kindern, präsentiert mir die Wäscheständer als besonders kommunikatives Element. Gerade für Frauen mit großer Familie, die entsprechend viel Zeit mit dem Aufhängen und Zusammenlegen der Wäsche verbringen, sei dies eine besondere Qualität der Wäscheständer. Durch ihre Positionierung im Gang könne man am Geschehen im Haus teilhaben und sich während der Hausarbeit mit den Nachbarinnen austauschen. Kommunikation spielt sich im Stiegenhaus also in einem nicht unerheblichen Ausmaß in Verbindung mit Hausarbeit ab. Damit wird etwas bekräftigt, das auch sonst in vielen Interviews betont wird: die verbindende Rolle der Frauen für das Wohnprojekt. Insbesondere in der Anfangszeit hätten die nicht berufstätigen Mütter viel Zeit im Haus verbracht und dieses gewissermaßen belebt. Kommunikationssituationen ergeben sich freilich nicht nur aufgrund bestimmter räumlicher Konstellationen, sondern auch im Zuge miteinander geteilter Alltagsaktivitäten, die über die explizit vorgesehenen und gewissermaßen als Fixpunkte im Gruppenalltag verankerten Gemeinschaftsaktivitäten, wie das gemeinsame Beten, Vollversammlungen oder organisierte Feiern, hinausgehen. Einen besonderen »Kristallisationspunkt« für gemeinsame Aktivitäten bildeten lange Zeit die Kinder. Eine der später eingezogenen Bewohnerinnen, die etwas jünger ist als die Mehrzahl der anfänglichen Kernmitglieder der Gruppe und deren Elternzeit zum Teil über jene der anderen hinausreicht, erinnert sich an diesen Wandel: Es ist damals viel mehr ein Miteinander gewesen. Am Nachmittag sind alle im Garten gesessen zum Beispiel. Die Kinder waren sowieso im Garten und dann gab es immer um halb vier einen Kaffee unter der Kastanie und alle Älteren sind auch mit dazugekommen. Das gibt es überhaupt nicht mehr. Und [...] das wieder

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in Schwung zu bringen, ist auch nicht so einfach, weil die Lebenssituation anders ist.

Insgesamt dominieren in den Gesprächen die Erzählungen vom Abnehmen der Kontakte im Laufe der Zeit, was unter anderem auf die sich verändernden Kräfteressourcen im Alter zurückgeführt wird. Der Initiator des Projekts erinnert sich, dass es zu Beginn häufiger gemeinsame Feste oder Ausflüge gegeben habe. Der Aufwand organisierter Veranstaltungen überfordere viele angesichts der veränderten Lebenssituationen, spontane Begegnungen seien aber immer noch von Bedeutung: Jetzt im Sommer geht öfter mal jemand her und sagt: ›Okay, 18 Uhr grillen, jeder nimmt sich das mit, was er braucht, und da treffen wir uns.‹ Und so spontanere Dinge, wohingegen früher manches eben mehr organisiert war. Also das hat sicher einen gewissen Alterseffekt.

Die Einschätzung, dass die Intensität der nachbarschaftlichen Kontakte und der gemeinsamen Aktivitäten abgenommen hat, teilen die meisten meiner Interviewpartner und -partnerinnen. Zugleich empfinden viele auch in der aktuellen Situation die Vertrautheit untereinander und die Möglichkeiten, um die Befindlichkeiten der anderen zu wissen und ganz nebenbei »das Leben zu teilen«, als besondere Qualität des Wohnens im Wohnprojekt Lilie. Aus der Vielzahl an unterschiedlichen Kontaktebenen – den mehr und den weniger formalisierten, den mehr und den weniger zielgerichteten – entstehen persönliche Bekanntschaften, die viele meiner Interviewpartner und -partnerinnen als Bereicherung beschreiben. Ein Lehrer Mitte dreißig, der mit Anfang zwanzig alleine in das Haus zog, schildert dies folgendermaßen: Man lebt schon sehr miteinander mit manchen Leuten. Das bedeutet auch, die kleinen und großen Tragödien des Lebens zu teilen. Also die Feiern und die Todesfälle. Großfamilie ist zum einen das falsche Wort und zum anderen ist es aber auch das richtige Wort.

Dabei beschreibt er nachbarschaftliche Beziehungen gerade aufgrund ihrer beiläufigen Stabilität als Gegensatz zu stärker aktiv gepflegten freundschaftlichen Netzwerken: Also es ist schon ein Zusammenhalt, der sehr stark ist, einfach auch, weil man halt nicht so schnell raus kann, wie zum Beispiel bei Freunden, wo man sich denkt, den ruf ich einfach nimmer an. Sondern man wohnt halt einfach da und bis man dann wirklich auszieht, hat man sich schon wieder dreimal zusammengerauft normalerweise. Aber dieses konkrete Miteinanderleben, im Garten gemeinsam Kaffee trinken oder gemeinsam arbeiten oder auf Urlaub fahren oder Gebetsabende gestalten oder den Turnsaal ausmalen oder laufen zu gehen, das ist ein riesengroßer Wert, ja.

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Als Besonderheit des Wohnprojekts beschreibt dieser Interviewpartner, dass sich solche Kontakte und Freundschaften auch über Generationen hinweg entwickeln können. Auf meine Nachfrage, in welchen Situationen diese Beziehungen üblicherweise entstehen, nennt er eine große Bandbreite an Schnittstellen im Alltag des Wohnens: Ja, zum Teil ganz banal sozusagen, man hat sich im Garten getroffen oder bei einem Ausflug ist man bei irgendwem im Auto mitgefahren oder hat sich zum Kaffee getroffen oder ich hab’ bei manchen Familien auf die Kinder aufgepasst oder so halt irgendwie. Man hat sich nach dem Gebetsabend zusammengesetzt und hat halt noch ein Glaserl Wein getrunken und diskutiert über alles, also über gemeinschaftsorientierte Dinge und über Lebenskrisen und über alles und so entstehen halt Kontakte. Oder es entstehen Kontakte im Stiegenhaus, weil du dich dauernd siehst, oder es entstehen Kontakte in praktischer Hilfestellung, weil irgendwer irgendwem ein Lebensmittel holt, wenn man krank ist, oder so, ja. Also überall entstehen da persönliche Kontakte, das ist sehr leicht.

Auch im Ziegelwerk wird die Kommunikation mit den Nachbarn und Nachbarinnen von sehr vielen als eine besondere Qualität des Wohnprojekts betont. Dabei kommt sowohl bestimmten Situationen als auch bestimmten Orten im Haus besondere Bedeutung zu. Kontakte und letztlich auch besondere Freundschaften entwickelten sich beispielsweise unter den Eltern gleichaltriger Kinder, die entsprechend viel miteinander zu tun hatten und wichtige Lebensphasen miteinander teilten, wie ein Bewohner Ende fünfzig, Vater mehrerer Kinder, betont: Es sind dann [in den ersten Jahren nach dem Einzug, Anm. d. Verf.] ein paar Kinder auf die Welt gekommen und zwischen den Eltern hat sich natürlich über die Kinder ein sehr viel intensiveres Verhältnis ergeben. Und das gibt es immer noch. Also das sind so quasi unsere besten Freunde [im Ziegelwerk].

Darüber hinaus hatte die große Zahl an kleinen Kindern den Nebeneffekt, dass viele Erwachsene nicht oder nur teilweise berufstätig waren und entsprechend viel Zeit zu Hause verbrachten. Das ermöglichte nicht nur eine wesentlich höhere Dichte an Kontakten, sondern prägte insgesamt das Lebensgefühl. Eine Bewohnerin Anfang fünfzig, die in den ersten Jahren nach dem Einzug nur teilweise berufstätig war, erzählt beispielsweise mit Blick auf die Anfangszeit: Ich kann mich noch erinnern, wie es war, als es das erste Mal schlechtes Wetter gab, nämlich längerfristig. [...] Ich weiß noch, wir haben noch gescherzt, irgendetwas stimmt da nicht, das Wetter war in unserer Feriensiedlung nicht so vorgesehen. (lacht) Ich meine, vom Wohngefühl hat es was mit Ferien zu tun gehabt. Sicher auch, weil Sommer war. Und klar, ich bin damals auch nicht am Morgen um neun verschwunden, weil ich immer mit Kindern eben da war.

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Auch wenn viele davon sprechen, dass insgesamt die Kontakte zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen an Intensität verloren haben und nicht mehr so viel miteinander unternommen werde, so bieten die Möglichkeiten ungeplanter und beiläufiger Kontakte dennoch aus Sicht vieler einen großen Vorteil des Wohnprojekts. Ein Bewohner Ende fünfzig, beruf lich im technischen Bereich tätig und Mitglied der Gründungsgruppe, betont, dass zwar intensiver Austausch nur mit einer begrenzten Zahl von Menschen möglich sei, dass sich das Wohngefühl aber trotzdem aufgrund beiläufiger Bekanntschaften von dem in konventionellen Wohnbauten unterscheide: Man kann nicht zu hundert Leuten intensive Sozialkontakte pflegen. Das geht nicht. Das heißt, man hat vielleicht zu zehn oder fünfzehn Leuten intensivere Kontakte. Aber es ist trotzdem anders als in einem normalen Wohnbau oder Gemeindebau oder so, wo man sich vielleicht innerhalb des Hauses gar nicht kennt. Also da kennt man wirklich jeden. Und mit einem großen Teil der Personen teilt man eben auch diese Geschichte.

Ein anderer Bewohner, ebenfalls Ende fünfzig und Mitglied der Gruppe, die das alte Fabrikgebäude kaufte, beschreibt im Interview die vielen Möglichkeiten, die sich für ungeplante Kommunikation ergeben: In der WG [in der er vorher gewohnt hat, Anm. d. Verf.], da hab’ ich nie, oder kaum so Zufallsbesuch gekriegt. Also da muss man schon anrufen und sagen: Kommst du vorbei? [...] Und hier gibt’s das Beisl oder das Bad. Es kann sein, dass jemand jemanden besuchen will und der ist nicht da und dann kommt der vielleicht noch bei mir vorbei, oder weil man da gerade durchgeht. Also es kommt zu mehr Austausch, der ungeplant ist. Oder man trifft jemanden, auch Unbekannte, im Bad oder im Beisl. Also das gibt’s in der WG auch nicht, dass da ein Unbekannter hereinspaziert. Also das finde ich eigentlich viel spannender da.

Während die Wohngemeinschaft enge Kontakte innerhalb einer kleinen ausgewählten Gruppe impliziere, eröffne das Leben im Wohnprojekt also die Möglichkeit des – unverbindlichen – Austausches mit einer sehr viel größeren Gruppe von Menschen. Diese Formen des Kontakts bedürfen keiner Planung und sind gewissermaßen ungerichtet. Sie ergeben sich aus der räumlich nahen Verortung unterschiedlicher Prozesse des Alltags bei gleichzeitiger sozialer Nähe und in einem für solche Begegnungen förderlichen Rahmen. Dass der hier zitierte Bewohner das Beisl oder das Badehaus als mögliche Treffpunkte anspricht und während der Hausführung noch einmal betont, verweist auf die Bedeutung der räumlichen Strukturen für solche Formen des Austausches. Das Beisl befindet sich direkt am Haupteingang, auf der linken Seite des Durchgangs. Insbesondere in der Sommersaison, wenn im Durchgang Tische aufgestellt werden und viele Besucher und Besucherinnen des Beisls draußen sitzen, bedingt der Raum eine unvermeidliche, wenn auch möglicherweise nur

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kurze und unverbindliche Kontaktaufnahme. Das familiäre Setting und die vertraute Stimmung im Durchgang sind für viele meiner Interviewpartner und -partnerinnen kennzeichnend für die besondere Qualität der Nachbarschaftsbeziehungen im Wohnprojekt. Eine Bewohnerin Anfang fünfzig, die derzeit aufgrund ihres anspruchsvollen Berufs im sozialen Bereich kaum aktiv am Gemeinschaftsleben des Wohnprojekts teilnimmt, erzählt: Auch wenn ich wenig mit den Leuten zu tun habe, ist es immer ein schönes Nachhausekommen und ich freu mich auch, wenn ich nur beim Beisl durchgehe und die Leut’ grüße, weil ich sie kenne und sie mich auch. Also, dann braucht da nicht viel mehr sein.

Im Zuge der Hausführungen präsentieren mir mehrere Bewohnerinnen und Bewohner auch die im ersten Stock des Wohnprojekts befindliche Waschküche als Ort der Kommunikation. Ein im Wohnprojekt alleine lebender pensionierter Bewohner erzählt mir im Interview: Was ganz anders ist als anderswo, ist unsere Waschküche. Erstens nennen wir sie Waschsalon und sie ist im ersten Stock, wo man eigentlich sonst eine schöne Wohnung machen würde, und nicht im Keller. Weil wir der Meinung waren: Ja, da trifft man sich, obwohl man sich eigentlich, naja, man trifft sich eigentlich schon und manchmal quatscht man auch in der Waschküche. Aber jedenfalls ist

Abb. 15: Eingangsbereich des Wohnprojekts Ziegelwerk. Auf der linken Seite das Beisl, auf der rechten Seite das interne Büro sowie der Seminarraum. Im Sommer sind in diesem Durchgang Tische aufgestellt. Foto: Ana Rogojanu.

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Abb. 16: Der »Waschsalon« im ersten Stock des Wohnprojekts Ziegelwerk. Foto: Ana Rogojanu.

das sicher etwas, wo man auch in der Architektur sieht, das ist sehr anders als woanders, ja?

Die Positionierung der Waschküche an einer zentralen Stelle ist nicht nur ein Statement für die Sichtbarmachung von Hausarbeit und gegen ihre Verdrängung aus der Wahrnehmungszone. In Zusammenhang mit den kommunikativen Eigenschaften der Waschküche wird auch eine spezifische Qualität nachbarschaftlicher Beziehungen angesprochen, nämlich ihre Beiläufigkeit. Kommunikation verbindet sich mit sonstigen alltäglichen Verrichtungen. Dass sich diese Intention nicht restlos durchgesetzt hat, wird in der oben zitierten Interviewpassage deutlich, in der sich eine Einschränkung der Aussage, man treffe sich dort, andeutet (»obwohl« und »naja«), die dann doch mitten im Satz abgebrochen wird. Ein anderer Bewohner erwähnt im Zuge der Hausführung, dass die Waschküche noch mehr als Aufenthaltsraum geplant gewesen sei, er und seine Frau aber, seit sie ihren Sohn hätten, so wie viele andere, nun doch die eigene Waschmaschine verwenden. Ein weiterer Raum, der als Ort von Interaktionen erwähnt wird und in welchem ich auch kommunikative Akte beobachte, ist der Dachgarten. Mehrere meiner Gesprächspartner und -partnerinnen beschreiben eine tendenzielle Entwicklung von gemeinschaftlichen hin zu individuellen Nutzungsformen des Dachgartens. Während der Führungen sehe ich hin und wieder kleine Gruppen bei Tisch sitzen, andere Personen ziehen sich zum Lesen oder Son-

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Abb. 17: Dachgarten des Wohnprojekts Ziegelwerk mit Liegestühlen. Foto: Ana Rogojanu.

nen in andere Ecken des Gartens zurück. Auch wenn hier keine dichte Interaktion zu beobachten ist, so lässt der Umgang meiner Interviewpartner und -partnerinnen mit der Situation – freundliches Grüßen, kurzes beiläufiges Gespräch – darauf schließen, dass auch der Dachgarten ein Ort ist, an dem sich potenziell jener niederschwellige und freundliche Kontakt untereinander entfaltet, von dem viele Bewohner und Bewohnerinnen berichten. In beiden Häusern haben die als kommunikationsfreundlich konzipierten Räume eine Auswirkung auf den Alltag. Ihre konkrete Aneignung und die alltägliche Kommunikationspraxis gestaltet sich zum Teil aber anders als ursprünglich vorgesehen. Insgesamt berichten Bewohner und Bewohnerinnen beider Projekte von einem Abnehmen der Intensität nachbarschaftlicher Kontakte im Laufe der Zeit. Dennoch werden die potenzielle Verfügbarkeit eines solchen Beziehungsnetzwerks oder die Vertrautheit miteinander in besonderem Maße geschätzt. Abseits der gegenseitigen Hilfeleistung sowie der als positiv wahrgenommenen Kommunikationssituationen umfasst, wie in Interviews wie auch Hausführungen deutlich wird, Nachbarschaft auch ein nicht-intendiertes Teilen verschiedener Aspekte des Alltagslebens. Dies macht immer wieder angepasste Aushandlungen und Regelungen notwendig. Einer der Kernpunkte ist in diesem Zusammenhang die Frage des Lärms. So erfordert beispielsweise das Wohnen in den zum Innenhof ausgerichteten Wohnungen Rücksichtnahme auf verschiedene Aktivitäten anderer und mitunter ein Zurückstellen eigener Bedürfnisse,

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beispielsweise indem jene, die Fernsehen wollen, das Fenster schließen, wenn andere draußen meditieren. Konflikte rund um das Thema Lärm ergeben sich auch aus den divergierenden Lebensgewohnheiten unterschiedlicher Generationen. Eine Bewohnerin, deren inzwischen erwachsene Kinder im Haus aufgewachsen sind, berichtete von Spannungen zwischen Jugendlichen, die gerne lange feiern wollten, und älteren Bewohnern und Bewohnerinnen: »Wenn sie [die Jugendlichen, Anm. d. Verf.] auf der Dachterrasse Party machen, meinen sie natürlich Mitternacht ist ja eh nicht spät, um sich da oben laut zu unterhalten. Und wenn man darunter wohnt und sechzig ist, ist es spät, nicht?« Das Thema des Lärms, das im Wohnprojekt Lilie mehrfach angesprochen wird, wird mir gegenüber im Ziegelwerk nur in zwei Situationen erwähnt. Zum einen verweist ein Bewohner, der einen beruf lichen Bezug zum Bauen hat und sich auch in seiner Wortwahl mir gegenüber als Experte positioniert, darauf, wie wichtig es gewesen sei, den Veranstaltungsraum, auch »Lärmbunker« genannt, »akustisch zu entkoppeln«. Damit verweist er auf die Dringlichkeit, bereits bei der Planung auf eine entsprechende Lärmisolierung zu achten, damit der Raum ohne Einschränkungen auch spätabends verwendet werden könne. Als potenzielles Problem werden hier nicht die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse der Bewohner und Bewohnerinnen gesehen, die in Konflikt geraten könnten, sondern die unterschiedlichen Funktionen, die das Projekt als Veranstaltungs- und Wohnort gleichermaßen erfüllen muss. Darauf verweist auch eine Bewohnerin, ebenfalls Gründungsmitglied und beruf lich im sozialwirtschaftlichen bzw. pädagogischen Bereich tätig, die betont, dass es eben doch bestimmte Einschränkungen in den Nutzungsmöglichkeiten gebe, weil größere Veranstaltungen mit dem Wohnen, sowohl dem der Nachbarn und Nachbarinnen als auch dem eigenen, nicht vereinbar seien. Eine andere Situation, in der Lärm als potenzielles Problem genannt wird, sind die bereits angesprochenen Überlegungen, dass es wichtig sei, Menschen zu finden, die dazu passen, damit nicht ständig die eigenen Nachbarn und Nachbarinnen die Polizei rufen, wenn einmal etwas länger gefeiert werde. Als Lösung des potenziellen Problems werden hier implizit weniger ein gegenseitiges Rücksichtnehmen und eine Anpassungsleistung der Bewohner und Bewohnerinnen aneinander vorgeschlagen, sondern eine vorgängige Übereinstimmung in Lebenseinstellung und Lebensstil. Ein weiterer Bereich, der im Wohnprojekt Lilie immer wieder im Zusammenhang mit potenziellen Konflikten zwischen den Nachbarn und Nachbarinnen genannt wird, umfasst die Sauberkeit und Ordnung im und um das Haus. Eine pensionierte Sekretärin, die zum Zeitpunkt des Interviews etwa achtzig Jahre alt ist, erzählt von ihrem Verhältnis zu einem jüngeren Nachbarn: Der hat immer schrecklich viele Schuhe draußen stehen gehabt und dann hat er auch einmal gesagt: ›Ist das schlimm für dich?‹ Da hab’ ich gesagt: ›Nein, solange

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klar ist, dass es deine Seite ist und deine Schuhe sind und ich zu meiner Wohnungstür kann.‹ Aber ich meine, das muss man sich auch ausmachen, nicht? Und [...] dass die Leute Verschiedenes vor ihren Wohnungen heraußen stehen haben, das bietet immer Konfliktstoff. Und es mögen auch nicht alle, dass draußen [im Stiegenhaus, Anm. d. Verf.] Wäsche getrocknet wird. [...] Es ist klar, dass es ganz unterschiedliche Vorstellungen von Sauberkeit gibt und von Ordnung, Ruhe. [...] Auch im Garten grillen: Wie weit darf das alles in die Wohnungen hinein? Unter Vorwarnung? ›Bitte zumachen, wir grillen.‹ Das sind Dinge, die man lernen muss, nicht?

Die hier zitierte Bewohnerin spricht gleich mehrere Punkte an, die für das Verständnis des Verhältnisses der Nachbarn und Nachbarinnen zueinander wichtig sind. Zum einen deutet sie mit dem Verweis darauf, dass sie nichts gegen Unordnung hat, solange klar ist, dass nicht sie dafür verantwortlich ist, einen Aspekt an, den sie selbst als »soziale Kontrolle« bezeichnet. Zum anderen spricht sie Prozesse der Abstimmung aufeinander an, die in ihren Augen einen essenziellen Bestandteil des harmonischen Zusammenlebens ausmachen und die »erlernt« und dann immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Einerseits etablieren sich also kollektive Praktiken unter den Bewohnern und Bewohnerinnen bzw. werden deren individuelle Praktiken an die Erfordernisse des Zusammenlebens adaptiert. Andererseits scheinen alltägliche Praktiken, beispielsweise des Ordnunghaltens, mit ihren dazugehörigen Vorstellungen der Angemessenheit oftmals so tief in den Alltagsroutinen der einzelnen verankert, dass sie sich nicht so leicht ablegen lassen. Dieses Spannungsverhältnis von Anpassung und Beharrlichkeit von Vorstellungen und Alltagspraxis wird in den Ausführungen einer anderen Bewohnerin, ebenfalls pensionierte Sekretärin Anfang achtzig, deutlich. Während der Hausführung sagt sie mit sympathisierendem Unterton auf die Bereiche vor einigen Wohnungen deutend: Sie sehen, dass viele ihr Kramuri 6 draußen stehen haben. Wir versuchen, einige von uns versuchen, es irgendwie doch unter Kontrolle zu halten, weil wenn man das wuchern ließe/ [...] Also es wuchert verschiedentlich, geordnet und weniger geordnet. Aber es ist einigermaßen geordnet, ja.

Der Wechsel zwischen »viele« und »wir« deutet eine gewisse Identifikation mit und zugleich eine persönliche Abgrenzung von der Praxis an, Dinge vor den Wohnungen stehen zu lassen. Das Ordnunghalten wird also in einem gewissen Ausmaß als gemeinschaftliche Praxis diskutiert. Die Frage danach, in welchen Situationen welcher Grad an Ordnung in den gemeinschaftlich genutzten Räumen wie etwa dem Stiegenhaus notwendig ist, ist Aushandlungssache und

6 Österreichisch-umgangssprachlich für Kram, Gerümpel.

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von der jeweiligen Situation abhängig. So verweist eine der Bewohnerinnen des Hauses in einer Festschrift anlässlich des 20-Jahr-Jubiläums darauf, dass zu besonderen Anlässen Schuhe in den Schuhkästen verstaut und Wäscheständer weggeräumt werden (vgl. Hellmich 2010: 35). Ordnungsvorstellungen und -praktiken werden dabei nicht einmalig und dauerhaft ausgehandelt, sondern stehen immer wieder zur Debatte, wie eine andere Bewohnerin, Mutter mehrerer erwachsener Kinder, auf die Frage nach den Veränderungen seit dem Einzug reflektiert: Die ganzen Zores rund um Ordnung im Haus haben sich nicht verändert. (lacht) Also es gibt welche, die da sehr hohe Ansprüche stellen, und welche, die da sehr schlampig sind. Und das ist dann ein ewiges Thema in den Vollversammlungen, dass wieder das Garagentor offen gestanden ist und der Müll nicht weg war usw.

Das Nebeneinanderwohnen und das Teilen von Räumen und Infrastrukturen ruft auch im Wohnprojekt Ziegelwerk potenziell Spannungen hervor. Diese werden aber wesentlich weniger oft oder stark thematisiert als im Wohnprojekt Lilie. Eines der Themen ist der Umgang mit den Hühnern, die einige Personen in einem zurückgezogenen Teil des Gartens halten: Inzwischen gibt’s Hühner da und ich weiß nicht was alles, nicht nur Katzen. Aber ich hab’ gesehen, die haben einen Zaun bekommen die Hühner, also vielleicht hat’s da auch wieder Diskussionen gegeben.

Während der Hausführungen weisen manche Bewohner und Bewohnerinnen darauf hin, dass immer wieder diskutiert werde, wie man verhindern könne, dass die freilaufenden Katzen ihre Exkremente in der Sandkiste der Kinder vergraben. Auch die Verantwortlichkeiten für die Reinigung der Katzenklos werden wiederkehrend thematisiert. Es sind hier also, ähnlich wie in der Diskussion um Lärm, weniger die unterschiedlichen habitualisierten Praktiken, die miteinander in Konflikt geraten, sondern die Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzergruppen, die sich durch verschiedene Interessenslagen auszeichnen. Durch die Kombination von Wohnen und gemeinsamen Aktivitäten werden also, wie der Blick auf die hier untersuchten Wohnprojekte zeigt, Aushandlungsprozesse notwendig, die weit über die definierten Inhalte der Projekte hinaus- und in umfassende alltägliche Routinen hineinreichen. Ganz gewöhnliche potenzielle Nachbarschaftskonflikte, wie man sie aus anderen Wohnformen kennt (vgl. Reutlinger / Stiehler / Lingg 2015b: 62 f.), erhalten in diesem Zusammenhang durch den engeren sozialen Rahmen eine andere Bedeutung, weil ein anderer Druck entsteht, sich positiv zu einigen. Umgekehrt erhält auch die in dieser Weise räumlich festgeschriebene soziale Gruppe aufgrund der »Unentrinnbarkeit« (Evans / Schahadat 2012: 24) der Nachbarschaft eine stärkere Gewichtung. Gerade für solche Fälle weist der Soziologe Walter Siebel auf die besondere Bedeutung der Homogenität der Gruppe hin, die

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im Allgemeinen als essenzieller Faktor für intensive nachbarschaftliche Kontakte gesehen wird: »Je mehr und je privatere Lebensbereiche man miteinander teilt, desto wichtiger wird es, dass die Teilnehmer in Fragen der persönlichen Überzeugung, des Geschmacks, des Lebensstils und in ihren materiellen Möglichkeiten einander gleichen« (ebd.: 11; vgl. dazu auch Schnur 2012: 457; Wietschorke 2012: 118).

Organisation und Transformation aktiver Nachbarschaft Die hier untersuchten Wohnprojekte schaffen über die Bereitstellung von Wohnraum hinaus durch gemeinsame Aktivitäten, Nachbarschaftshilfe und soziales Engagement eine nicht-materielle – »soziale« – Ressource. Diese sozialen Qualitäten der Wohnprojekte müssen immer wieder aufs Neue hergestellt werden, was die Möglichkeit und Bereitschaft der einzelnen Mitglieder erfordert, Zeit und Energie dafür aufzubringen. In diesem Zusammenhang stellt sich neben den bereits angedeuteten und in beiden Projekten unterschiedlich argumentierten Motivationen für das gemeinschaftliche Engagement die Frage, wie diese Anforderung aus subjektiver Sicht in Praktiken der alltäglichen Lebensführung eingebettet wird und von welchen Faktoren sie abhängig ist. Das Konzept der »alltäglichen Lebensführung« soll hier als heuristischer Zugang zu den Praktiken des Auslotens verschiedener Lebensbereiche genutzt werden. Eine Projektgruppe rund um die Soziologen Günter Voß, Werner Kudera und andere entwickelte dieses Konzept im Anschluss an Max Weber, um »mit ganzheitlichem Blick Formen des Zusammenhangs der Alltagstätigkeiten zu identifizieren und als solche zu beschreiben« (Voß 1995: 32, Hervorhebungen im Original). Konkreter formuliert, regt dieses Konzept an, danach zu fragen, zu welchen Zeitpunkten, an welchen Orten, in welcher inhaltlichen Form, in welchen sozialen Zusammenhängen und orientiert an welchen sozialen Normen, mit welchen sinnhaften Deutungen sowie mit welchen Hilfsmitteln oder Ressourcen und schließlich mit welchen emotionalen Bef indlichkeiten eine Person im Verlauf ihres Alltags typischerweise tätig ist. (ebd., Hervorhebungen im Original)

Dieses Konzept, das keine klare Trennung zwischen Arbeitswelt und Lebenswelt und auch nicht zwischen (bezahlter) Erwerbsarbeit und (unbezahlter) Reproduktionsarbeit vornimmt, sondern nach der Gesamtheit der alltäglichen Tätigkeitsbereiche von Akteuren und Akteurinnen und ihrem Verhältnis zueinander fragt, eignet sich, um den Lebensrealitäten unterschiedlicher an den Projekten beteiligter Personen in verschiedenen Lebensphasen gerecht zu werden sowie die verschiedenen in den Wohnprojekten zusammenkommenden

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Lebensbereiche und Ansprüche (Wohnen, Freizeit, ehrenamtliche Arbeit etc.) im Verhältnis zueinander zu fassen. Wie im Begriff der »Führung« schon angedeutet, handelt es sich bei der alltäglichen Lebensführung um eine Perspektive, die die aktive Konstruktionsleistung der Akteure und Akteurinnen in den Blick nimmt. Diese impliziert nicht zwingend eine bewusste, strategische oder explizit reflektierte Entscheidung, sondern häufig auch »routinisierte[], aber trotz allem immer aktive[] Tätigkeiten« (ebd.: 34). Auch wenn Arrangements alltäglicher Lebensführung prinzipiell wandelbar sind, entwickeln sie so oftmals eine Eigenlogik mit verhältnismäßig großer Beständigkeit. So könne eine Lebensführung, »ist sie einmal als handlungsstrukturierender Modus für den Alltag eingerichtet, nicht mehr beliebig von der Person geändert werden« (ebd.: 35). Schließlich beruhe sie »auf vielfältigen verbindlichen Arrangements mit sozialen Bezugsbereichen (oder konkreten Akteuren) [...], die nicht umstandslos aufgekündigt werden können.« (ebd.). Insgesamt ist die alltägliche Lebensführung also, auch wenn sie als aktive Leistung der Akteure und Akteurinnen angesehen wird, immer »vergesellschaftet« (ebd.: 37). Erstens stellen die »objektiven Verhältnisse« der »sozialen Bezugsbereiche« der Personen sowie die jeweiligen verfügbaren Ressourcen (Zeit, Geld, soziales Kapital etc.) grundlegende Rahmenbedingungen für die Gestaltungsmöglichkeiten der alltäglichen Lebensführung (ebd.: 37). Zweitens wirken auf die Lebensführung vielfältige »soziokulturelle Einflüsse« ein, also »Deutungsmuster, normative Standards, ideologische Vorgaben«, die im Zuge der Sozialisation angeeignet werden und als »Orientierungspunkte« wesentliche Bezüge für die eigene Lebensführung bilden (ebd.). Drittens ergeben sich Einschränkungen in den Gestaltungsmöglichkeiten durch die Vernetzung des individuellen Lebens mit anderen Akteuren und Akteurinnen sowie Instanzen des Zusammenlebens (vgl. ebd.: 38). Für eine solche Perspektive, die die aktive Konstruktion subjektiver Lebensentwürfe ebenso berücksichtigt wie ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, plädiert auch der Volkskundler Manfred Seifert im Rahmen der europäisch-ethnologischen Arbeitsforschung: Die persönlichen Strategien und subjektiven Einstellungen zur Arbeit stehen regelmäßig in Wechselwirkung mit den jeweiligen situativen und sozioökonomischen Kontexten sowie den diskursiv vermittelten Deutungsangeboten. Nur folgen die Interpretationen und Entscheidungswege vielfach einem Eigensinn, der abseits von professioneller Marktanalyse und kompetenter Situationsanalytik liegt. (Seifert 2007: 15)

Von Interesse ist in diesem Zusammenhang für die vorliegende Studie nicht nur, wie die einzelnen Akteure und Akteurinnen mit ihren persönlichen Ressourcen umgehen, um die Wohnprojekte als soziale Ressource aufrechtzuerhalten, sondern auch, an welchen gesellschaftlichen Bezugssystemen sie sich

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orientieren und wie sich die verfügbaren Ressourcen im Laufe der Zeit verändern. Aber nicht nur die persönliche Gewichtung von Zeit- und Energieressourcen in sich ändernden Lebenskontexten soll im Folgenden behandelt werden, sondern auch die Frage, wie in der Gruppe mit unterschiedlich gelagerter Möglichkeit und Bereitschaft zum Engagement umgegangen wird, welche Erwartungshaltungen an die einzelnen Mitglieder formuliert, wie diese verhandelt und welche Formen der Kontrolle bzw. der Sanktionierung eingeführt werden. In beiden Wohnprojekten wird der Umgang mit dem Engagement der Mitglieder bewusst reflektiert und insgesamt eine Tendenz der abnehmenden Intensität des Gemeinschaftslebens, sowohl der organisierten Aktivitäten als auch der alltäglichen Begegnungen, skizziert, die durch verschiedene Faktoren erklärt wird. Die Art und Weise, wie meine Interviewpartner und -partnerinnen über dieses Thema sprechen, unterscheidet sich jedoch sowohl zwischen den Projekten als auch zwischen unterschiedlichen Personen innerhalb der Projekte. Aus den vielen Interviews im Wohnprojekt Lilie, in denen meine Gesprächspartner und -partnerinnen die Möglichkeiten und Kosten ehrenamtlicher gemeinschaftsorientierter Arbeit auf einer Metaebene der Veränderung der Gruppenstruktur abhandeln, stechen konkret zwei Personen heraus, die tieferen Einblick in ihre persönlichen Erfahrungen und Strategien des Umgangs mit den Anforderungen des gemeinschaftlichen Engagements in ihren jeweiligen Lebenskontexten geben, wobei sich die Schilderung subjektiver Erlebnisse und Erfahrungen stellenweise mit Einschätzungen breiterer, die Gruppe oder zuweilen auch gesamtgesellschaftliche Phänomene betreffender Entwicklungen verbindet. Deutlich werden dabei angesichts der unterschiedlichen Lebenssituationen dieser beiden Personen die unterschiedlichen Voraussetzungen wie auch Strategien in den Arrangements alltäglicher Lebensführung. Christina Reininger beschreibt eine Konstellation, in der sie sich als junge Mutter mit abgeschlossenem Studium in einer Auszeit von ihrer Berufstätigkeit befand und Familien- und Gemeinschaftsarbeit die zentralen, oftmals miteinander konkurrierenden Felder ihres Alltags bildeten. Im Interview kritisiert sie, dass sich das Konzept des Projekts, insbesondere mit den darin verankerten Ansprüchen der sozialen Dienste, implizit immer auf das Engagement und die Arbeitskraft nicht berufstätiger Frauen gestützt habe. Sie verbindet damit eine Kritik an einem spezifischen gesellschaftlichen und auch in der Gruppe dominanten Frauenbild. Als dann die ersten Frauen wieder berufstätig wurden, sei es »schon eng [geworden] mit den ganzen freiwilligen Arbeiten«. In der Erzählung wechselt Christina Reininger im weiteren Verlauf die Perspektive von einer allgemeinen auf eine persönliche Ebene und präzisiert: »Also für mich ist es eng geworden«. Sie habe in der Zeit, in der sie »Hausfrau« war, oft den Eindruck gehabt, dass ihr »zu viel« Arbeit geblieben sei, zeitweise

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an die zwanzig Stunden in der Woche, das sei in ihren Augen »nicht mehr Nachbarschaftshilfe«. In ihrer retrospektiven Einschätzung hätten diese umfangreichen Hilfeleistungen für die Gemeinschaft zuweilen »sicher die Familie überfordert«, womit sie die hohen Anforderungen unterschiedlicher Lebensbereiche anspricht, die es zu balancieren gilt. Diese im Rückblick unter anderem auch aufgrund des Mangels an Anerkennung und finanzieller Selbstständigkeit als unzufriedenstellend erlebte Situation wird durch eine Reihe von Faktoren zusätzlich stabilisiert: Dazu gehören das räumliche und soziale Setting der Gruppe mit den entsprechenden Erwartungshaltungen ebenso wie die familiäre Situation und die gesellschaftlich vermittelten Leitbilder, insbesondere ein bestimmtes Frauenbild und Familienkonzept, mit denen sie selbst aufwuchs und die von der Gruppe bestärkt werden. Inzwischen haben sich die biographischen Positionen und damit die Lebenssituationen der einzelnen Gemeinschaftsmitglieder verändert. Christina Reininger erwähnt das Engagement pensionierter Männer, verweist aber auch darauf, dass diese Arbeit in einem anderen Kontext zu sehen ist als jene der Frauen: Was wirklich auch schön ist: Manche Herren, die jetzt in der Pension sind, engagieren sich sehr. Aber als Hausfrau ist das anders. [...] Wenn man ein Berufsleben abgeschlossen hat, dann ist man finanziell abgesichert, hat schon viel Anerkennung im Beruf gehabt, und als Hausfrau fehlt das natürlich alles. Ich merke jetzt [...], wie wichtig es ist, ein Berufsleben zu haben, etwas anderes zu machen, das bezahlt wird. Das ist eine ganz andere Anerkennung.

Christina Reininger spricht hier den unterschiedlichen gesellschaftlichen Status von Erwerbsarbeit und ehrenamtlicher bzw. reproduktiver Arbeit an und verdeutlicht damit auch die unterschiedlichen Ressourcen (sowohl in finanzieller Sicht als auch in Form von sozialer Anerkennung), die durch Aktivitäten in unterschiedlichen Bereichen generiert werden können. Die Wahrnehmung dieses Unterschieds und die aktive Reflexion der sich aus diesem Setting ergebenden Ungleichheiten haben neben einer Veränderung ihrer familiären Situation – ihre Ehe wurde geschieden, die Kinder wurden erwachsen – unter anderem dazu geführt, dass sich in ihrem Leben Wertigkeiten verschoben haben und sie ihre Kraft- und Zeitressourcen anders einsetzt. Sie engagiert sich nur mehr begrenzt im Haus, möchte aber auch nicht ausziehen: »Ich habe schon überlegt, ob ich dann woanders hingehe, wo man so in der Anonymität lebt wie früher, aber das bin ich auch nicht.« Diese Überlegung verdeutlicht, dass sie die räumliche Konstellation, die das Wohnen im Umfeld der mit bestimmten Ansprüchen verbundenen Gruppe verortet, als Herausforderung erlebt. Das zeigt die Schwierigkeit, zugleich aber auch die Möglichkeit, einmal etablierte Arrangements alltäglicher Lebensführung zu verändern (vgl. Voß 1995: 35).

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Florian Ritter, der zweite Interviewpartner, der sein subjektives Erleben deutlich formuliert, beschreibt die Notwendigkeit, den Ansprüchen verschiedener Lebensbereiche zu entsprechen, ebenfalls als Herausforderung, allerdings aus einer anderen Perspektive und in einer anderen biographischen Situation, nämlich der eines zunächst studierenden und dann berufstätigen alleinstehenden jungen Mannes. Er zog mit Anfang zwanzig als Theologiestudent in eine der für Studierende reservierten Gästewohnungen ein und wurde einige Jahre später reguläres Gemeinschaftsmitglied, bevor er mit Anfang dreißig wieder auszog. Diese Entscheidung erklärt er mit den Ansprüchen des sozialen Engagements, die für ihn den Grund bildeten einzuziehen und Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Diese Aktivität für die Ideale des Projekts beschreibt er als großen Aufwand: Also man muss so ein Gemeinschaftsleben auf die Reihe kriegen und das ist echt nicht ohne. Weil, man hat nun einmal seinen Beruf und man hat irgendwie ein Privatleben und normalerweise ist das ja schon ausfüllend für einen NormaloMenschen. Und das noch irgendwo unterzubringen, das kostet wirklich viel Zeit und wirklich viel Kraft. Also ich hab’ oft gesagt, das ist wie ein Halbtagsjob dazu. Ja, das muss man sich echt leisten können oder wollen.

Auf meine Nachfrage hin, worin diese Arbeit bestehe, nennt Florian Ritter zunächst konkrete Aufgabenbereiche und regelmäßige Termine, wie die Vollversammlung, Messe oder Gebetsabend, und kommt schließlich auf die Ideale und die verfügbaren persönlichen Ressourcen zu sprechen, die notwendig seien, um die entsprechenden Ansprüche einzulösen: Dann muss man sich selbst überlegen: Was will man dort? Also will ich einer anderen Generation etwas mitgeben oder will ich mich um Leute in den Gästewohnungen kümmern oder will ich mithelfen, das Haus zu renovieren, das heißt, ich muss irgendetwas haben, das mich als Gemeinschaftsmitglied ausmacht. Und was auch immer es ist, es kostet einfach Zeit. Und Energie. Und dann müssen halt die Ideale so hoch sein, dass man diese Zeit wirklich von der Woche abzweigt.

Im weiteren Verlauf des Interviews wechselt Florian Ritter von der allgemeinen Schilderung des Lebens in der Gemeinschaft zu seinem subjektiven Erleben. Und wenn die Triebkraft dafür, der Antrieb oder die Ideale nicht hoch genug sind, dass man das tut, und dass man sich jedes Mal denkt, eigentlich bin ich zu k. o., ja?, dann ist mir das zu wenig, um in so einer Gemeinschaft mitzuleben. Oder wenn ich mir jedes Mal denke, eigentlich ist mir der Gebetsabend eine Last, ich würde viel lieber ich weiß nicht wohin fahren, dann stimmt irgendwas nicht. Für mich stimmt irgendwas nicht. Ja, und das geht quer durch, es ist nun einmal so, wenn man heimkommt, wann auch immer man heimkommt, trifft man all die

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Leute im Haus, die halt dort wohnen. Das hat man halt in Wien sonst nicht. Also es ist eine sehr leichte, aber doch vorhandene Sozialkontrolle natürlich, die da ist.

Seine sinkende Motivation und die Wahrnehmung der anderen Bewohner und Bewohnerinnen als kontrollierende Instanzen seines abnehmenden Engagements zeigen Florian Ritters veränderte Bezüge zum Wohnprojekt. Er erklärt seine Entscheidung zum Austritt aus der Gemeinschaft mit einer viel »Energie« einnehmenden persönlichen Entwicklung: Ich glaube, ich habe diese Energie, die ich dafür nicht hatte, gebraucht, um mein eigenes Leben zu ordnen, sagen wir so. Und ich habe das Gefühl, viele Leute, speziell die Gründungsmitglieder, haben das gemacht, bevor sie dort eingezogen sind. Die hatten ihr Leben halbwegs auf der Reihe, sag’ ich einmal, und sind dann mit überschüssiger Energie da hineingewandert. Und es würde sich schon auch irgendwie gleichzeitig ausgehen, aber für mich war das dann nicht notwendig oder so, ja.

Als weniger aktives Mitglied im Wohnprojekt zu bleiben, kam für Florian Ritter nicht in Frage. Für ihn, der die Frage des abnehmenden Engagements auch mit Blick auf die Entwicklung der Gemeinschaft allgemein an anderen Stellen im Interview immer wieder problematisiert, ist das Wohnen im Wohnprojekt Lilie essenziell an ein bestimmtes – starkes – Ideal gemeinschaftlicher Orientierung geknüpft, das die Investition von Zeit und Energie erfordert. Als gleichsam natürliche Entwicklung schildert er in seinem Lebenslauf die Abkehr vom Leben in Gemeinschaft, das er retrospektiv nicht in Frage stellt, sondern als zu einer spezifischen Lebensphase passend beschreibt: Es war insgesamt sehr viel Arbeit oder auch viel Zeit oder viel Aufwand, in einer Gemeinschaft zu leben. Und ohne das besonders gut konkretisieren zu können, war mir irgendwann klar, dass diese Zeit für mich vorbei ist. Also was ich betonen will, ist: Es war nicht aus konfliktreichen Gründen oder es war nicht deswegen, weil ich so frustriert war, weil die Ideale nicht erfüllt waren. Oder weil das die falschen Leute waren oder irgendwie so. Aber es war irgendwie klar, entweder man identifiziert sich doch sehr tief mit diesen Idealen und buttert da auch ordentlich rein, oder – das war für mich klar – oder man geht. Also nur wegen der schönen Wohnung, was aber gegangen wäre, bleibt man quasi nicht dort. Man bleibt nicht dort und zieht sich zurück und sagt halt immer: Jetzt kann ich nicht und jetzt fühl ich mich nicht wohl und jetzt bin ich in einer Krise. Nur weil die Wohnung so schön ist. Und das hat halt einfach für mein Leben nicht mehr gepasst. Wie gesagt, ich war quasi mein ganzes Erwachsenenleben bis dorthin immer dort und ich glaube, es gab keinen Grund, warum ich gezielt gegangen bin, aber es gab auch keinen mehr, der mich gehalten hat. Ich glaub, das war der Punkt, ja. Ich hätte mehr inneren Antrieb gebraucht, irgendwelche Ideale da weiterzuleben und voranzutreiben, dann wäre schon etwas gegangen. [...] Für mein

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Leben hat einfach in Gemeinschaft leben nicht mehr gepasst. Das hat nicht mehr gepasst. Und die Zeit war irgendwie abgeschlossen, das habe ich irgendwie gemerkt. Und das war eigentlich der Grund, warum ich gegangen bin.

Während Christina Reininger also die Beschreibung ihrer subjektiven Erfahrungen stärker mit strukturellen Fragen der Konzeption des Projekts sowie der allgemeinen gesellschaftlichen Anerkennung unterschiedlicher Formen von Arbeit im Kontext von Gender-Hierarchien verknüpft, beschreibt Florian Ritter die Verfügbarkeit von Zeit und Energie als Ressourcen sowie die Motivation zur Investition dieser Ressourcen in das Gemeinschaftsleben sowohl auf einer subjektiven Ebene als auch mit Blick auf die Entwicklung der Gruppe als ein von unterschiedlichen Phasen gekennzeichnetes Auf und Ab. Im Wohnprojekt Ziegelwerk sprechen mehrere meiner Gesprächspartner und -partnerinnen aus einer persönlichen Perspektive über ihren Umgang mit den Anforderungen des Lebens im Wohnprojekt. Auch hier erzählen insbesondere Frauen von einem zunehmenden Rückzug, wobei dieser in vielen Fällen als vorübergehende Phase interpretiert wird. Häufig wird der temporäre Rückzug aus den Gemeinschaftsaktivitäten mit einer biographischen Entwicklung erklärt, in der sich die Anforderungen des Familien- und des Berufslebens und die verfügbaren Ressourcen verändern. Dieser Prozess wird weniger als Dilemma miteinander konkurrierender Anforderungen beschrieben, sondern vielmehr als lebensgeschichtlich bedingte legitime Entwicklung. Claudia Mischek ist Ende fünfzig und promovierte Wissenschaftlerin. Sie zog mit ihrem Partner und ihren zwei Kindern in das Wohnprojekt ein. Insbesondere die Planungsphase, die sie als junge Mutter erlebte, beschreibt sie als große Herausforderung. Inzwischen ist sie wieder voll berufstätig, die Kinder sind vor Kurzem ausgezogen. Ihr derzeitiges Engagement schildert sie folgendermaßen: Im Moment mach’ ich Urlaub. (lacht) (I: Ziegelwerksurlaub?) Ziegelwerkssurlaub. Also ich bin immer wieder im Vorstand [...], also relativ kontinuierlich und dann in diversen Arbeitsgruppen. Und derzeit bin ich nur in [einer] Arbeitsgruppe [...] und sonst genieße ich es einmal nichts zu tun. Nur vielleicht bei Bedarf irgendwo oder wenn es irgendwas Nettes gibt [...], aber jetzt tu’ ich gerade einmal nichts. (lacht).

Claudia Mischek berichtet im Sinne eines Musters wechselnder Intensitäten des Engagements, worauf ihre wiederkehrende Vorstandstätigkeit hinweist, die sie als gewinnbringende und zugleich fordernde Aufgabe beschreibt: Also es geht schon viel Freizeit drauf, aber es ist mir nicht unwichtig, sag’ ich, und ich mach’s auch gern, aber dafür schalte ich dann gern einmal so zwei, drei Jahre auch wirklich ab und genieße es einfach einmal nur Mitglied zu sein, um dann

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auch wieder in den Vorstand oder etwas zu gehen. Also da hab’ ich überhaupt kein Problem damit, das mach’ ich dann auch gern.

Während Claudia Mischek ihre Investitionen in das Wohnprojekt gewissermaßen auf bestimmte Perioden beschränkt und so ein Gleichgewicht zwischen unterschiedlichen Interessenssphären in ihrem Leben schafft, sprechen andere – insbesondere andere Frauen – von den beschränkten Möglichkeiten des Engagements, die sie auf bestimmte Rahmenbedingungen in spezifischen Phasen ihrer Biographie zurückführen. Vorrangig nennen sie dabei Zeiten intensivierter Berufstätigkeit. Eine andere Bewohnerin, ebenfalls in ihren Fünfzigern, die als alleinerziehende Mutter in das Wohnprojekt einzog, erinnert sich an ihre anfänglich sehr regelmäßige Präsenz bei Gemeinschaftsveranstaltungen: Also ich war am Anfang sehr involviert in alles, also ich bin auf jedem Dings gewesen, das kann ich jetzt überhaupt nimmer, das ist einfach viel zu viel. Also ich hab’ mich da schon sehr zurückgezogen. Ich meine, das Arbeitsleben hat sich auch so intensiviert. Also damals waren ja viele noch so in Studienzeiten. Das ändert sich schon sehr.

Auf meine telefonische Interviewanfrage entgegnet sie mir zunächst, dass sie nicht so geeignet sei über das Projekt zu erzählen, weil sie sich im Moment nicht besonders aktiv an dem Leben im Wohnprojekt beteilige. Mit der gleichen Begründung zögert auch eine andere Bewohnerin mir einen Interviewtermin zuzusagen. Johanna Dangl, wie ich sie hier nenne, ist ebenfalls inzwischen um die fünfzig Jahre alt und zog mit ihren zwei Kindern in das Wohnprojekt ein. Nach einer von Kinderbetreuung und Studium geprägten Phase ist sie nun im Sozialbereich in einer leitenden Funktion tätig, die Kinder sind inzwischen ausgezogen. Mehrfach verweist sie darauf, dass das Leben anders gewesen sei, als sie noch viel Zeit mit den Kindern im Haus verbracht habe. Inzwischen hätte sie sich sehr zurückgezogen und bekomme vieles gar nicht mehr mit, weil ihre Arbeitszeiten schlecht zu jenen der anderen Bewohner und Bewohnerinnen passen würden: Also es hat Zeiten gegeben, da war ich natürlich auf jeder Mitgliederversammlung. Es sind aber auch schon Jahre, dass ich fast gar nicht mehr hingehe. [...] Eigentlich muss man sich jedes Mal wieder hineindenken. Ich lese normalerweise die Aussendungen. [...] Ich muss allerdings zugeben, dass ich’s manchmal nicht ganz kapiere, weil ich eben von manchen Dingen schon zu weit weg bin.

Inzwischen konzentriere sich das, was sie für das Wohnprojekt tue – und auch das schränkt sie gewissermaßen ein, weil es sich nicht um ein »offizielles« Betätigungsfeld handle –, darauf, in regelmäßigen Abständen sonntags für aktuelle und ehemalige Bewohner und Bewohnerinnen der sogenannten Behinderten-WG zu kochen, auch wenn sie dies manchmal als belastend wahrnehme:

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Manchmal denk’ ich mir so kurz vorher, bitte, lass es neun werden, damit es aus ist, weil ich schon so erschöpft bin. Es ist Abend, ich will ins Bett, ich möchte eigentlich schon überlegen, was ist morgen, weil morgen ist Montag. Einerseits. Und wenn ich mir dann überlege, wir machen es seltener, denke ich mir, na, das geht nicht. Ich mag sie einfach auch zu gern und ich glaub’ schon, dass das auch gut ist. [...] Und eigentlich denk ich mir, wenn wir’s nicht gleich so regelmäßig gemacht hätten, dann wär’s auch schon eingeschlafen, aber es ist gut, dass es so ist. Das ist jetzt nicht etwas, was ich für das Ziegelwerk tu, aber für mich gehört’s schon auch dazu. Und das ist etwas, da ist es völlig wurscht: [...] Wenn ich da draußen bin aus all den Prozessen, macht das nichts.

Das Bedauern, das Johanna Dangl angesichts ihres derzeit eher beschränkten Engagements anklingen lässt, relativiert sie durch den Verweis auf die bewusste Setzung von Prioritäten: Manchmal hab’ ich ein bissl ein schlechtes Gewissen, dass ich mich nicht einbringe und dann denk’ ich mir, ja, ich hab’ jetzt einfach anderes zu tun. Und für mich ist es so, ich geh’ dann auch nicht hin und meckere über die Beschlüsse. [...] Und ich freu’ mich, wenn ich wieder mehr Zeit hab, mich darum zu kümmern. Aber ich mach’ einfach das, was ich jetzt mach’, auch gern und ich brauch’ auch einfach mehr Ruhe als früher und so. Ich hab’ jahrzehntelang keine Freizeit gehabt. Es ist mir auch nicht wirklich abgegangen, aber jetzt merk’ ich, ich will dann am Wochenende einfach spazieren gehen, weil ich irgendwie raus muss und ich setz mich jetzt nicht in die Mitgliederversammlung.

Als Frau, die jung Kinder bekommen und viel Energie in ihre Ausbildung investiert hat, dabei immer gleichzeitig auch teilweise in verschiedenen Bereichen berufstätig war, räumt sie dem Berufsleben – »das, was ich jetzt mach’« – ebenso wie der Freizeit ohne Verpflichtungen und klar definiertes Programm einen hohen Stellenwert ein. Zugleich beschreibt sie diese Haltung, in der sie ihrem Beruf und ihrer Freizeit mehr Bedeutung gibt als bestimmten Aktivitäten im Wohnprojekt, als eine vermutlich vorübergehende biographische Phase. Im Blick auf die Pension als neuen Lebensabschnitt – »wenn ich wieder mehr Zeit hab’« – spiegelt sich ein grundsätzliches Interesse an den gemeinschaftlichen Aktivitäten. Ihr Rückzug ist also keineswegs als eine grundsätzliche Abkehr von den Idealen und Intentionen des Wohnprojekts zu verstehen. Während die von mir interviewten Frauen die unterschiedlichen Phasen ihres Engagements vor dem Hintergrund ihrer biographischen Entwicklung deuten, finden sich auch Erklärungsmuster für den eigenen Rückzug, die die Veränderung der Ausrichtung des Wohnprojekts zentral setzen. Ein Bewohner – ich nenne ihn hier Clemens Auinger –, der die zunehmende Bürokratisierung der Gesellschaft allgemein und der Wohnprojekt-Gruppe im Besonderen (in Form der zunehmenden Bedeutung des Vereins für die Regelung gruppen-

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interner Fragen) kritisiert, berichtet beinahe resigniert von der Aufgabe seiner ursprünglich hoch gesteckten Ideale. Die kreativen gemeinsamen Initiativen der frühen Phase seien inzwischen von professionalisierten und nach außen verlagerten Formen der Bespielung der Veranstaltungsräume ersetzt worden und vieles werde von organisatorischen Fragen überlagert. Er konzentriere sich nun auf das Wohnen, so Clemens Auinger, und dennoch wolle er diese Initiativen nicht missen, deshalb sei er auch noch immer da: Ich hab’ auch nicht mehr so diese Perspektive, dass ich so viel machen will oder so, der Welt einen Haxen ausreißen will, wie ich das damals wollte. Jo. Inzwischen denk’ ich mir, ich kann da auch gut leben. Also ich tu schon in ein paar Arbeitsgruppen mit, die Struktur ist schon so, dass nicht alles über den Verein läuft. Das gibt es schon noch, diese sogenannten Arbeitsgruppen. Die laufen immer so: Wer will und sich für ein Thema interessiert, kann halt hineingehen [in eine Arbeitsgruppe, Anm. d. Verf.] und dann machen sie sich so ein bisschen eine Struktur, damit man mit dem Vorstand irgendwie kommunizieren kann, damit es einen Ansprechpartner gibt oder so. Aber dagegen wehre ich mich eigentlich ein bisschen, weil ich der Meinung bin, das ist alles schon zu viel Bürokratie.

Seine Enttäuschung über den Verlust des intensiven und vor allem unbürokratischen und teils auch unstrukturierten Engagements der frühen Zeit schränkt er in weiterer Folge damit ein, dass es doch noch interessante, insbesondere musikalische Aktivitäten gebe, die es »wo anders nicht gibt« und die er immer noch schön finde. Neben diesen Schilderungen des persönlichen Umgangs mit dem Engagement innerhalb der Wohnprojekte finden sich in beiden auch Überlegungen zur strukturellen Entwicklung der Gruppen. Im Wohnprojekt Lilie sind diese häufig begleitet von einem normativen Unterton. Die Ausführungen eines Bewohners, den ich hier Gabriel Schönherr nenne, können an dieser Stelle paradigmatisch für die Erzählungen einer Reihe von anderen Gruppenmitgliedern gesehen werden. Die starken Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Interviews deuten darauf hin, dass es sich dabei um ein Thema handelt, zu dem auch innerhalb der Gruppe ein Diskurs besteht. Gabriel Schönherr, Anfang sechzig, gemeinsam mit seiner Familie Mitglied der anfänglichen Kerngruppe und beruf lich im Bildungsbereich tätig, beschreibt zunächst, dass sich nicht mehr alle gleichermaßen mit den anfänglichen Zielen identifizieren würden und insgesamt das Zusammenleben an Intensität verloren hätte, was er durch die veränderten Lebenssituationen der Mitglieder erklärt. Viele Frauen, die sich anfangs sehr engagiert hätten, seien inzwischen berufstätig oder selbst pflegebedürftig. Dadurch hätten sich auch die »Kapazitäten« verändert: Man hat nicht mehr so viel Zeit, dass man sich miteinander irgendwo hinsetzt. Früher sind wir nach unseren Hausversammlungen oder nach irgendeinem Ge-

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bet noch eine Stunde oder so zusammengesessen. Das geht nicht mehr, wenn man in der Früh um sechs aufsteht, und wenn man statt dreißig sechzig ist, ja? Das merkt man. Und die Leute, die später dazukommen, die wachsen in ein anderes Haus hinein, die kennen das dann gar nicht mehr. [...] Also von dem her hat sich viel verändert. Es hat also früher mehr so gemeinsame Dinge gegeben. [...] Aber es ist dann immer so eine Gratwanderung zwischen Gemeinschaft und Familienleben. [...] Also das ist immer eine Herausforderung, die einen und die anderen Bedürfnisse so auszubalancieren. Und irgendetwas bleibt dann auf der Strecke. Entweder bleiben die Familie und die Kinder auf der Strecke oder es bleibt das Gemeinschaftsleben auf der Strecke und da muss man sich dann entscheiden. Oder man muss schauen, was ist möglich. Und dann ist man halt für das, was möglich ist, dankbar.

»Situationen«, »Kräfte« und »Ressourcen« sind in diesem Diskurs, dem mehrere Bewohner und Bewohnerinnen des Wohnprojekts folgen, Schlüsselkategorien, die einerseits mit bestimmten Rahmenbedingungen, beispielsweise Berufstätigkeit oder spezifischen Anforderungen der Familie verknüpft werden, andererseits auch mit dem Prozess des Alterns. Ganz im Unterschied zu Christina Reininger, die die zentrale Rolle der Frauen als Trägerinnen gemeinschaftlicher Leistungen problematisiert und auf die dadurch entstehenden Ungleichheiten verweist, nimmt Gabriel Schönherr dies als quasi selbstverständlich an. Die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen erscheint vor diesem Hintergrund, ohne dass sie grundsätzlich in Frage gestellt würde, als Problem für die Gemeinschaft. Dieser Aspekt wird auch von Frauen thematisiert. Eine Bewohnerin, die, wie sie selbst sagt, mehrere Jahre lang »zu Hause voll berufstätig war« und in den letzten Jahren wieder verschiedene Tätigkeiten im Sozialbereich aufgenommen hat, meint bezüglich der arbeitenden Frauen: »Natürlich ist das auch fürs Gemeinschaftsleben wieder ganz anders, ja? Und dann ist eben die Frage, wer kümmert sich um die älteren Leute. Es ist nett zu sagen, sie dürfen im Haus alt werden, aber wer macht das dann, ja?« Als eine Konsequenz dieser Entwicklung wird die abnehmende Dichte an informellen sozialen Kontakten beschrieben, aber auch eine zunehmende Professionalisierung bestimmter Tätigkeitsbereiche, die bislang von der Gruppe selbst abgedeckt wurden. Das wöchentliche Putzen des Stiegenhauses etwa, das lange Zeit eine verbindende gemeinschaftliche Aktivität war, wird nun durch eine externe Firma erledigt. Während im Großen und Ganzen tendenziell eher Bedauern über die Delegierung lange Zeit ehrenamtlich und gemeinschaftlich ausgeführter Arbeiten herrscht, sieht beispielsweise ein Bewohner, der einen theologischen Ausbildungshintergrund hat und an anderer Stelle mehr Gemeinsamkeit auch im religiösen Leben einfordert, eine stärkere Professionalisierung vor allem der organisatorischen Bereiche auch als Chance, um

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vorhandene Energien auf die aus seiner Sicht wirklich wichtigen Aspekte des Gemeinschaftslebens konzentrieren zu können. Auch im Wohnprojekt Ziegelwerk werden gelegentlich, wenn auch weitaus seltener, strukturelle oder gesellschaftliche Faktoren als Ursachen für das sinkende Engagement von Gruppenmitgliedern angesprochen. Eine Bewohnerin Anfang sechzig erklärt für sich persönlich die abnehmende Bereitschaft, Energie in gemeinschaftliche Aktivitäten zu investieren, durch das steigende Alter, das mit verringerten Energieressourcen einhergehe, thematisiert dies aber zugleich als allgemeines Problem des Wohnprojekts. Nostalgisch erinnert sie sich an verschiedene Aktionen der Gruppe wie etwa selbst gedrehte Filme: Wir haben nicht mehr so viel Energien, also wir werden auch älter ein bisschen. [...] Ich hab’s lustig gefunden, wir haben das gefilmt zum Teil, es war zum Kreischen, die Leute haben gekreischt. Es war wirklich witzig. [...] Das sollten wir wieder machen, aber ich hab’ zum Beispiel nicht mehr die Kraft.

Ein anderer Bewohner, ebenfalls Anfang sechzig, der sich selbst als in jener politischen Bewegung aktiv beschreibt, in der viele der Initiatoren und Initiatorinnen des Wohnprojekts Ziegelwerk zu verorten sind, greift auf ein anderes Deutungsmuster zurück. Er spricht ebenfalls von einer Veränderung der für das Wohnprojekt verfügbaren »Ressourcen«, erklärt dies aber nicht durch Alterungsprozesse, sondern durch breitere gesellschaftliche Entwicklungen: In den 80er-Jahren hatte man offensichtlich zeitmäßig diesen Luxus. Wenn man Interesse dafür hatte. Und da gibt es ziemliche Verschiebungen im Moment. Da fragt man sich, wo gehen die vielen Ressourcen hin? Die gehen ja alle offensichtlich in die materielle Produktion. Und man denkt sich: Muss das sein? [...] Also es ist überhaupt so, die internationale Kapitalisierung gibt natürlich den Takt vor.

Als Konsequenz dieser Entwicklungen sprechen viele meiner Interviewpartner und -partnerinnen eine Verschiebung im Verhältnis von Selbstorganisation und Professionalisierung an. Die professionelle Verwaltung der Veranstaltungsräume, des Kindergartens und teilweise auch des Beisls wird dabei im Großen und Ganzen als Notwendigkeit hingenommen, trotzdem werden diese Prozesse der Professionalisierung immer wieder in einen spannungsreichen Zusammenhang mit den anfänglichen Ansprüchen »vieles selber zu machen« bzw. »selbst Hand anzulegen« gestellt. Dabei wird die zunehmende Professionalisierung einerseits im Sinne des Verlusts der anfänglich stark vertretenen Werte der Selbstbestimmung und andererseits im Sinne eines Verlusts des Spaßfaktors diskutiert. Trotz der häufig formulierten Klagen, dass die Bewohner und Bewohnerinnen einander nicht mehr so nahe seien wie am Anfang, dass es nicht mehr so viele gemeinsame Aktivitäten und Initiativen gebe, und dass sich Selbstorganisation zugunsten von Professionalisierung reduziert habe, verweisen dennoch

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etliche meiner Interviewpartner und -partnerinnen auf die wichtige Rolle, die der Arbeit in ehrenamtlichen Gruppen zukomme: »Der Anspruch ist eigentlich, wie sich in den letzten Jahren herausgestellt hat, [...] dass man auch in Gruppen gehen kann, sich da engagieren kann und da quer hinein irgendwie mitpolitisieren kann.« Die Gesamteinschätzung geht also eher in Richtung eines Anerkennens des wechselnden Engagements unterschiedlicher Menschen. Diesem Bild entspricht auch der Umgang mit der Reglementierung des Engagements. Keines der beiden Projekte verfügt über Systeme des gleichsam objektiven Ausgleichs von Leistungen. Die Diskurse rund um dieses Thema unterscheiden sich jedoch in markanter Weise. Im Wohnprojekt Lilie wird von vielen Mitgliedern ein gewisses Ungleichgewicht zwischen dem Engagement unterschiedlicher Personen als Belastung thematisiert. So berichtet eine Bewohnerin mit mittlerweile erwachsenen Kindern, die zur anfänglichen Kerngruppe gehört: Hier ist das Engagement für das Haus sehr unterschiedlich, also es gibt Leute, die sitzen in der Buchhaltung und machen auch soziale Dienste oder Nachbarschaftshilfe und diese ganze tägliche Abrechnung, was halt auch notwendig ist, und es gibt andere, die tauschen einmal im Monat eine Lampe aus irgendwo im Keller und das ist es. Das ist so eine Ungleichgewichtigkeit und das liegt manchmal schon so ein bisschen negativ im Raum, muss man sagen.

Auch andere Bewohner und Bewohnerinnen beklagen das Fehlen von klareren Reglementierungen in diesem Zusammenhang. Auf die Frage danach, was er anders machen würde, antwortet ein Bewohner, ebenfalls aus der Gründungsgeneration, mit der Notwendigkeit klarer Verbindlichkeiten und Sanktionen: Wir würden sicher auch mehr auf Verbindlichkeiten schauen, als das jetzt der Fall ist, und die auch einfordern. Wir haben ja praktisch im Haus keinerlei Sanktionen. Ja? Es gibt irgend so ein Gemeinschaftspapier, die Statuten und so etwas, da steht viel drinnen, aber es gibt praktisch keinerlei Sanktionen, wenn irgendjemand sich einmal wirklich querlegt. Der dann an nichts Interesse hat und nirgendwo erscheint und nirgendwo auftaucht. Das ist irgendwie zahnlos. Also da müsste man sich noch etwas anderes überlegen.

Eine andere Bewohnerin problematisiert die ungleiche Bereitschaft für Engagement innerhalb des Hauses, auch wenn sie dazu eine stärker abwägende Position einnimmt: Es hat sich herausgestellt, dass ein paar das sehr intensiv mittragen oder ihnen diese gemeinsamen Ideen ein Anliegen sind und manche wohnen halt hauptsächlich da. Das wollten wir zwar nie, aber das hat sich so ergeben. Ohne das jetzt zu werten, jeder ist anders und jeder hat wahrscheinlich auch andere Vorstellungen, es ist einfach so. Und da gab es zwischendurch eine Phase, wo das sehr schwierig

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war und wo eigentlich viel Frust da war, dass so viele Möglichkeiten da sind und manche sich einfach zurückziehen und halt ein paar das alles machen. Und dann hatten wir einmal die weise Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich drüber zu ärgern, sondern dass es besser ist, einfach das zu schätzen und zu nutzen, was eh alles geht, und das, was man machen will, kann man machen. Und wenn es die anderen nicht wollen, dann wird es insgesamt nicht so viel oder so toll, aber es ist trotzdem etwas. Etwas ganz Wertvolles. Das war für mich eine wichtige Veränderung.

Dennoch würde auch sie in diesem Bereich versuchen, verbindlichere Regelungen durchzusetzen und nicht nur »mit dem guten Willen« rechnen. Ein anderer meiner Interviewpartner erkennt zwar das unterschiedliche Engagement ebenfalls als Problem an, zumindest insofern es innerhalb der Gruppe zu Unzufriedenheit führt, bewertet aber zugleich die Flexibilität und gerade das Fehlen von fixen Regeln hinsichtlich dieser Fragen als Qualität des Projekts: Ich habe so das Gefühl gehabt, dass man sich, wenn man Energie und Kraft hatte, doch relativ leicht für irgendwas hat engagieren können. Man hat mal bei einem Projekt mitarbeiten können, man hat mal eines aus dem Boden stampfen können. Und gleichzeitig, wenn das eben nicht gegangen ist, wenn man mit seinem eigenen Leben zu sehr gefordert war, also mit Beruf oder mit persönlichen Geschichten, war es auch möglich, sich zurückzuziehen.

Im Großen und Ganzen beschreibt er eher ein Gleichgewicht von unterschiedlichen Phasen und Formen des gemeinschaftlichen Engagements: »Es hat schon jeder Seines gefunden. Und das Wissen darüber war letztlich, glaube ich, schon bei allen da, dass eigentlich jeder schon irgendwo irgendwie mitrudert sozusagen.« Der hier zitierte Bewohner geht also von einer nicht regulierten, aber dennoch einverständlichen und ausgleichenden Organisation hinsichtlich ehrenamtlicher Tätigkeit im Haus aus. An späterer Stelle problematisiert auch er das mangelnde Engagement mancher, verweist dabei aber weniger auf formale Mechanismen der Reglementierung, als vielmehr auf ein bestimmtes informelles Set an moralischen Grundhaltungen: Ich glaube, dass eine der Fragen immer bleibt: Was sind die verbindlichen Gemeinsamkeiten, die die Gemeinschaftsmitglieder ausmachen? Was sind die Kerninhalte, zu denen man Ja sagen muss, damit man sich damit identifiziert? [...] Und ich habe eingangs eben gesagt, dass da eine große Freiheit möglich war, aber das war halt die Kehrseite. Es war halt manchen Leuten in manchen Dingen zu wenig verbindlich. Ja? Gibt es Anwesenheitspflicht bei der Vollversammlung oder bei der Messe oder so? Gibt es grundsätzlich nicht, aber wenn die Leute dann nie kommen, weil sie halt jedes Mal lieber schlafen gehen, sagen wir so,

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dann wird man halt irgendwann einmal fragen müssen: Naja, was tust du in einer Gemeinschaft? Also wenn es sich nirgendswo mehr konkretisiert.

Die Frage der Verbindlichkeit des Engagements für das Projekt ist also ein zentrales Thema, das die Mitglieder des Wohnprojekts Lilie über die Zeit hinweg beschäftigt. Formen einer stärkeren Reglementierung des Engagements und gegebenenfalls auch der Sanktionierung werden eher vorsichtig und ohne konkrete Vorschläge angesprochen. Die Diskussion um ehrenamtliches Engagement wirft auch im Wohnprojekt Ziegelwerk Fragen nach Reglementierungen und Verbindlichkeiten auf, die im Wesentlichen in zwei Richtungen diskutiert werden. Ein Bewohner mit kulturwissenschaftlichem Hintergrund sieht in den Tendenzen, die es phasenweise gab, Anerkennungsformen für ehrenamtliche Arbeit zu finden, eine Chance, dem auf Erwerbsarbeit ausgerichteten gesellschaftlichen Bild von Arbeit Alternativen entgegenzusetzen: Ein Thema ist natürlich immer noch bezahlte Arbeit gegen unbezahlte Arbeit. Was weiß ich, ich mähe manchmal die Wiese da oben oder so. Und in meinen Augen geht es da eher um Anerkennung. Üblich in der Gesellschaft ist, dass nur bezahlte Arbeit Arbeit ist und das andere ist sozusagen, ja, das ist nur, weil ich’s halt gern tu, nicht? Aber da merkt man, das ist nicht ganz so, ja? Es hat auch Versuche gegeben, wir wollten einmal so Währungen einführen.

Er sieht in einer solchen Regelung die Möglichkeit ehrenamtliches Engagement gewissermaßen aufzuwerten. Andererseits würde dies auch Formen der Kontrolle mit sich bringen, von denen sich die meisten meiner Interviewpartner und -partnerinnen distanzieren. Die Ablehnung strenger Regelungen nennen mehrere meiner Gesprächspartner und -partnerinnen auch als Abgrenzungsmerkmal gegenüber anderen Wohnprojekten. Eine Bewohnerin, die seit der frühen Phase der Konzeptentwicklung Teil der Gruppe ist, verweist etwa darauf, dass sie sich als Gruppe während der Planungsphase das bereits im Bau befindliche Wohnprojekt Lilie angesehen und mit der Gruppe gesprochen hätten. Vor diesem Hintergrund hätten sie für das eigene Zusammenleben die Prämisse entwickelt, »schon sehr, sehr eng auch beisammen [zu leben] und auch viel gemeinschaftlich [zu machen], aber nicht mit den totalen Verpflichtungen«. Ganz ähnlich präsentiert auch ein anderer Bewohner seine persönliche Haltung, in der er eine klare Ablehnung von Kontrollmechanismen deutlich macht: Das darf man nicht zu ernst sehen, glaube ich. Und das zeichnet uns eh ein bisschen aus, obwohl wir uns auch manchmal in etwas verbeißen. [...] Teilweise gibt es [in anderen Projekten, Anm. d. Verf.] straffere Regelungen: Jeder muss pro Monat schon einen gewissen Beitrag leisten, sei es in einer Arbeitsgruppe oder was auch immer, und wenn nicht, dann Entgelt dafür. Wenn er nichts tut, dann

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kostet das etwas. Und diesen Zwang haben wir nicht. Vielleicht ist das österreichisches Laissez-faire ein bisschen, aber ich find’s viel angenehmer. Mir ist das zu verplant mit diesem Muss und Soll. Da ist mir lieber, es existieren ein paar, die sich nicht einbringen und es ist nicht so geregelt. Weil dann muss man das kontrollieren und so und dieses Klima möchte ich eigentlich nicht haben. Ja. Und drum, das passt ein bissl zu dem, man soll schon Ziele verfolgen, aber man muss es nicht todernst nehmen.

Der hier zitierte Bewohner nimmt zwar auf das Ideal des Engagements Bezug, lehnt aber eine strenge Überprüfung und Verfolgung dieses Ideals ab. Diese Einstellung verknüpft er argumentativ mit seiner grundsätzlichen, im Interview an mehreren Stellen formulierten Haltung, Interessen innerhalb des Wohnprojekts nicht »zu ernsthaft verbissen« zu verfolgen. Ganz in diesem Sinne beschreibt auch ein anderer Bewohner auf die Frage nach den Veränderungen seit dem Einzug ein gewisses Gleichgewicht des wechselnden Engagements unterschiedlicher Mitglieder: Natürlich, das wöchentliche Treffen und das alles gibt es nicht mehr, weil man wohnt ja eh zusammen. Das sind so die üblichen Einschleifprozesse, die man hat. Und sicher das Engagement der verschiedenen Personen. Von denen, die am Anfang sehr engagiert waren, sind manche gar nimmer engagiert, dafür machen das dann wieder andere, die teilweise frisch dazugekommen sind, oder welche, die vorher nicht engagiert waren. Also der Engagementwechsel funktioniert eigentlich relativ, ich möcht’ nicht sagen reibungslos, aber er funktioniert, er funktioniert irgendwie doch, also ohne dass da jetzt extrem Druck ausgeübt werden muss. Sagen wir mal so.

Der weniger auf Verbindlichkeit angelegte Diskurs im Ziegelwerk entspricht den insgesamt stärker informell geprägten Organisations- und Umgangsformen, die das Wohnprojekt auch aus seinem Entstehungskontext heraus kennzeichnen. Außerdem bewirkt die Größe des Projekts, dass sich, auch wenn viele Mitglieder der Gründergeneration inzwischen weniger involviert sind, immer noch zahlreiche Initiativen entwickeln. Zusammenfassend gesagt, sind in beiden Projekten Ansprüche des sozialen und gemeinschaftlichen Engagements durch die räumliche Nähe eng mit dem Wohnen verbunden und erhalten dadurch eine gewisse stetige Präsenz und Stabilität. Aus subjektiver Sicht werden in beiden Projekten unterschiedliche und sich mit der Zeit verändernde Strategien beschrieben, diese Anforderungen in das eigene Leben einzubetten, die als verschiedene Arrangements alltäglicher Lebensführung beschrieben werden können. Die unterschiedlichen Lösungen, die sich dabei ergeben, hängen einerseits mit den unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Lebensführung zusammen (also mit unterschiedlichen beruf lichen und familiären Situationen sowie finanziellen und sozialen

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Ressourcen), die gewissermaßen die »objektiven Verhältnisse in den sozialen Bezugsbereichen der Person« (Voß 1995: 37) bilden. Andererseits entwickeln Akteure und Akteurinnen ihre Arrangements der Lebensführung immer auch vor dem Hintergrund »normativer Standards« (ebd.), die zu großen Teilen innerhalb der Gruppen – ihren weltanschaulichen Orientierungen entsprechend – geteilt und so über die soziale Gruppe des Wohnumfelds zusätzlich bestärkt werden. Dazu gehört beispielsweise ein spezifisches Frauen- und Familienbild, das eine meiner Interviewpartnerinnen zu überwinden sucht. Mit Blick auf den Aspekt der Vernetzung ist zu beobachten, dass sich die beiden Gruppen durch unterschiedlich starke teils explizit formulierte, teils implizit vorausgesetzte Ideale und Standards der Beteiligung auszeichnen. Diese Differenz zwischen den Projekten ist auch mit Blick auf die Bewertungen der allgemeinen Entwicklung der Gruppen festzustellen, die meine Kontaktpersonen in beiden Projekten als Prozess der abnehmenden Dichte gemeinschaftlicher Aktivitäten beschreiben, der sich aus den – in beiden Projekten mehr oder weniger vergleichbaren – Veränderungen der beruf lichen und familiären Lebenssituationen der Einzelnen ergibt. Diese allgemeinen Entwicklungen der Gruppen stellen Herausforderungen für die Wohnprojekte als Ressource des sozialen Engagements, der nachbarschaftlichen Hilfeleistung und des alltäglichen Kontaktes miteinander dar, die zeitweise zugunsten der Häuser als materieller Ressource temporär in den Hintergrund zu rücken scheint.

Raumtheoretische Perspektivierungen II Artefakte wie Gebäude, Wände, Türen, Fenster und Ähnliches stellen zunächst materielle Rahmen für Praktiken bereit, indem sie diese lokalisieren, umgrenzen und als operative Inseln, situierte Vollzüge oder als Interaktionen in exklusiver Ko-Präsenz von den Interferenzen des sozialen Prozesses isolieren. (Schmidt 2012: 64)

Was der Soziologe Robert Schmidt mit Blick auf die Zusammenhänge von Materialität und Praktiken formuliert, umreißt treffend die zentralen Perspektiven dieses Abschnitts. Die Architektur beider hier untersuchter Gebäude gestaltet in entscheidender Weise nicht nur die individuellen Wohnpraktiken und Alltage mit, sondern auch die Bezüge innerhalb einer sozialen Gruppe. Anders, als das häufig für postmoderne urbane Settings als charakteristisch beschrieben wird, sind in den untersuchten Projekten also soziale und physische Bezugsräume nicht weitgehend voneinander entkoppelt (vgl. dazu Kamleithner / Meyer 2013: 16), sondern es herrscht eine starke Übereinstimmung zwischen räumlicher und sozialer bzw. emotionaler Nähe, die für Formen von »starke[r], integrative[r] Nachbarschaft« typisch ist (Schnur 2012: 455, in An-

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lehnung an König 2006: 175 f.; vgl. dazu auch Wietschorke 2012: 94; Evans / Schahadat 2012: 8). Die Architektur beider Gebäude trägt dazu bei, indem sie bestimmte, von den Gruppen als definitorisch erachtete und den jeweiligen Weltanschauungen entsprechende Aktivitäten zentral setzt und diese im unmittelbaren Wohnumfeld verortet. Darüber hinaus schafft sie Begegnungsräume, die einen Effekt auf das Mit- und Nebeneinanderwohnen haben. Die Materialisierung verleiht diesem Arrangement Dauerhaftigkeit (vgl. dazu bspw. Yaneva 2012a: 71; Reckwitz 2008a: 149 f.). Die anfangs von den Gruppen als zentral definierten Aktivitäten bleiben über Jahre hinweg in beiden Gebäuden räumlich bestehen und tragen somit bestimmte Orientierungen und Erwartungshaltungen weiter. Für Mitglieder der Gründungsgeneration fungieren die räumlichen Angebote für bestimmte Aktivitäten als Vergegenwärtigung der Ideen und Vorstellungen der Anfangszeit, für die später Hinzugekommenen vermittelt die Verankerung bestimmter, als zentral definierter Aktivitäten in den Gebäuden bestimmte Orientierungen und fungiert somit implizit als Filter für das Interesse an dem Projekt. Neben den entsprechenden Aktivitäten, die etwa durch die Kapelle oder das Badehaus mit den Projekten verbunden sind, spielt die Architektur aber auch mit Blick auf die explizit intendierten engen nachbarschaftlichen Beziehungen eine Rolle, und zwar sowohl, indem sie Räume schafft, die Begegnungen fördern sollen, als auch durch ihre Eigenschaft, die Praktiken des Wohnens einander in diesen Fällen weitgehend bekannter Menschen in räumlicher Nähe festzuschreiben. Diese Funktion von Architektur haben auch Christa Kamleithner und Roland Meyer im Blick, wenn sie schreiben: Der gebaute Raum bildet den Rahmen alltäglicher Praktiken, er beeinflusst ihre räumliche Abfolge wie ihren zeitlichen Rhythmus und ermöglicht die Ausbildung von Routinen. Dabei kommt ihm wesentlich ein Moment der Stabilisierung zu: Er wird dazu benutzt, Plätze und Stellen zuzuweisen, Dinge und Personen zu verorten, soziale Abläufe und Verhältnisse zu festigen. (Kamleithner / Meyer 2013: 14)

Die stabilisierende Tendenz des gebauten Raumes wird vor allem in Situationen deutlich, in denen Spannungen zwischen den räumlichen Arrangements und dem darin stattfindenden und sich mit der Zeit auch verändernden sozialen Leben auftauchen. So wurde deutlich, dass beispielsweise die Materialisierung der Ideale des gemeinnützigen Engagements eine gewisse Stabilisierung der Arrangements alltäglicher Lebensführung (vgl. Voß 1995) zur Folge hat, die sich nur mit entsprechendem Aufwand verändern lassen. Die im Haus stattfindenden Aktivitäten oder auch schlicht die räumliche Präsenz der Nachbarn und Nachbarinnen, die gewisse Formen von Kontakt erwarten, vergegenwärtigen laufend die mit dem Projekt verbundenen Ansprüche des sozialen Engagements und der aktiven Nachbarschaft. Sich verändernde persönliche

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Bezüge zu diesen Ansprüchen, etwa aufgrund biographischer Veränderungen, führen potenziell zu Reibungen, zumal die räumlichen Anordnungen in Kombination mit ihrer sozialen Rahmung, also den in den Gebäuden lebenden Menschen, eine gewisse Aufforderung zur Beteiligung beinhalten und sich daher nicht so leicht aus dem Spektrum der relevanten Lebensbereiche ausklammern lassen, wobei die Stringenz, mit der die Beteiligung eingefordert wird, einen der markanten Unterschiede zwischen den Projekten ausmacht. Durch den gebauten Raum werden nicht nur die Aufforderungen zu bestimmten Aktivitäten mehr oder weniger dauerhaft mit den Wohnprojekten verknüpft und Wohnpraktiken verortet, sondern es wird auch die Art und Weise ihrer Ausübung mitgestaltet. Wie Karl. H. Hörning aus praxistheoretischer Perspektive feststellt, sind Praktiken in wesentlicher Art mit den daran beteiligten Dingen – und dazu gehören auch der gebaute Raum und seine Einrichtung – verknüpft: Eine Praktik ist von vornherein interaktiv in Lebenssituationen und kulturelle Kontexte eingebettet, in denen auch materielle Dinge, technische Geräte, Artefakte jeglicher Art eine wichtige Rolle spielen. Soziale Praktiken sind so in der Regel Praktiken mit und in Dingen, mit technischen Geräten, in Gebäuden, mit Autos, in Städten. Somit sind Artefakte integrale Bestandteile sozialer Praktiken, sie beeinflussen diese, sie prägen diese mit, werden ›Mitspieler‹, ohne sie zu determinieren. (Hörning 2012: 34)

Die Diskussionen um die Gestaltung und Einrichtung der als zentral gesetzten Gemeinschaftsräume beider Projekte zeigen, dass es dabei in einem hohen Maße um eine genauere Definition der Aktivitäten ging, für die die Räume vorgesehen waren. Welche Art des Betens und welche Art des Badens möglich werden, hängt unter anderem von der materiellen Ausstattung der Räume ab. Die entsprechenden Dinge und Räume werden also mitsamt ihrer Ausstattung zu essenziellen Bestandteilen von Aktivitäten bzw. Praktiken. Das gilt nicht nur für die explizit als gemeinsame Ziele der jeweiligen Wohnprojekte definierten Einrichtungen, sondern auch für andere bauliche Elemente der Gebäude, durch die das nachbarschaftliche Zusammenleben gestaltet werden sollte, etwa das Stiegenhaus oder die Waschküche. In dieser Perspektive steht zunächst ein Blick auf den gebauten Raum im Vordergrund, der eine gewisse Nähe zu Ansätzen der Akteur-Netzwerk-Theorie aufweist, die die »pragmatische Bedeutung« (Yaneva 2012a: 76) des Materiellen als an sozialen Prozessen beteiligter Akteur im Sinne einer »Grammatik der Handlungen« (ebd.: 80) in den Fokus stellt, oder auch zu poststrukturalistisch orientierten architektursoziologischen Arbeiten, die an Foucaults Dispositivanalyse anknüpfen. Im Fokus steht dabei das »konstruktive[] Moment« der Räume »innerhalb von Vergesellschaftungsprozessen«, so Sophia Prinz und Hilmar Schäfer (Prinz / Schäfer 2008: 399), genauer:

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[...] die architektonische Lenkungsfunktion, wie etwa die Rhythmisierung des Bewegungsablaufs durch Ent- und Beschleunigungszonen, begrenzende Blockaden und Übergänge, aber auch die Produktion von Affekten durch atmosphärische Umgebungen (Lichtordnung, räumliche Ausmaße, Oberflächenstrukturen. (ebd.)

Zweifelsohne sind damit zentrale Funktionsweisen von Architektur als »Medium des Sozialen« (Delitz 2010) angesprochen. Die baulichen Elemente haben, so wie Andreas Reckwitz das für »Raumarrangements« in einem umfassenderen Sinn 7 formuliert, »einen einschränkenden und ermöglichenden Charakter für die soziale Praxis« (Reckwitz 2013: 33), ohne diese zu determinieren (vgl. dazu auch Kamleithner / Meyer 2013: 19; Reckwitz 2008a: 153; Löw 2001: 166). Welche Suggestionen der gebaute Raum macht, ist aber nicht nur abhängig von seiner »Aktivität und materielle[n] Widerständigkeit [...], die körperliche Praktiken, Sozialität und Subjektivierungsweisen ordnend vorstrukturiert« (Prinz / Moebius 2012: 17). Dafür, wie sich bestimmte bauliche Arrangements – hier verstanden als gebaute Struktur mitsamt ihrer mehr oder weniger mobilen Möblierung – mit bestimmten Aktivitäten oder alltäglichen Praktiken des Wohnens verbinden, ist nicht nur ihre physische Materialität relevant. Vielmehr hängt dies immer auch mit dem Zeichenwert des Materiellen sowie kulturell gefestigten räumlichen Konventionen und letztlich mit der Lesbarkeit dieser für unterschiedliche im Raum agierende Menschen zusammen. Martina Löw zufolge steht die Konstitution von Raum [...] immer in Abhängigkeit zu den Bedingungen einer Handlungssituation, die sich aus materiellen und symbolischen Komponenten zusammensetzt, das heißt aus den materiellen Bedingungen, die sich in der Handlungssituation zur Synthese oder zur Plazierung anbieten, aber eben auch den symbolischen Komponenten, zum Beispiel der symbolischen Wirkung der Güter und Menschen. (Löw 2001: 192)

Erst dadurch werden spezifische Räume als solche erkennbar. Ein Tabernakel etwa verändert den Raum der Kapelle, anders als die Bestuhlung, nicht in erster Linie durch seine physische Präsenz und Widerständigkeit. Erst mit dem Wissen um seine Bedeutung in einem spezifischen Glaubenskontext entsteht eine bestimmte Wahrnehmung des Raumes, an die eine spezifische, kulturell kodierte Vorstellung des angemessenen Verhaltens geknüpft ist. Ohne das

7 Reckwitz meint mit Raumarrangement in Anschluss an Martina Löw ein »spezifisches Arrangement von menschlichen Körpern und Artefakten« (Reckwitz 2013: 33). Wie weiter unten ausgeführt, teile ich diese Perspektive, beziehe mich an dieser Stelle aber noch vornehmlich auf die materielle Seite des gebauten Raumes.

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Wissen um die Bedeutung von Dingen und institutionalisierten räumlichen Arrangements (vgl. Löw 2001: 164) und die mit ihnen zusammenhängenden räumlichen Konventionen, das sich Menschen auf Grundlage der »historischkontextuellen Entwicklungsbedingungen« innerhalb der »sozialen und kulturellen Welten« (Hörning 2012: 35), in denen sie aufwachsen, aneignen, wären die jeweiligen Räume also auch ganz anders zu nutzen. Darüber hinaus ergibt sich eine weitere Bedeutungsebene aus der Form der Nutzung, also aus den Verbindungen, die der gebaute Raum mit verschiedenen Praktiken eingeht. Dass das Badehaus von den Bewohnern und Bewohnerinnen des Wohnprojekts Ziegelwerk vorwiegend als FKK-Bad genutzt wird, macht einen wesentlichen Teil seiner Bedeutung für jene spezifische Szene aus, der sich viele der Bewohner und Bewohnerinnen verbunden fühlen, und ist nur mit Blick auf den gelebten, also angeeigneten Raum erkennbar und nur in Kombination mit einem bestimmten Hintergrundwissen einzuordnen. In Räumen wie der Kapelle oder dem Badehaus überlagern sich also weithin anerkannte, institutionalisierte räumliche Konventionen, die die Kapelle als Kapelle und das Schwimmbad als Schwimmbad erkennbar machen, mit subtileren szene- und gruppenspezifischen Differenzierungen von geringerer Reichweite. Der gebaute Raum entfaltet seine »soziale Effektivität« (Steets 2015: 44) erst in Verbindung mit einem Set an Bedeutsamkeiten. Anders als Ansätze wie die Akteur-Netzwerk-Theorie es also teilweise nahelegen 8, ist der Raum immer auch von kulturellen Zeichensystemen und Konventionen geprägt. Folglich ist er in seiner sozialen Bedeutsamkeit für die darin agierenden Menschen nicht gänzlich voraussetzungslos zugänglich. Andreas Reckwitz formuliert dies folgendermaßen: Damit die Artefakte Wirkung zeigen, müssen sie benutzt werden und damit sie benutzt werden können, ist eine Kenntnis kultureller Codes notwendig; die Artefakte müssen zu einem integralen Teil sozialer Praktiken und ihrer Intelligibilität werden. (Reckwitz 2008a: 153)

Die im Raum agierenden Subjekte sind sowohl auf einer kognitiven als auch auf einer leiblichen bzw. affektiven Ebene vom Raum betroffen. Beide Aspekte, sowohl das Lesen von Zeichensystemen als auch die körperliche Wahrnehmung und das leibliche Agieren, basieren auf einem praktischen, inkorporierten Wissen und sind daher von den Hintergründen der jeweiligen Menschen abhängig (vgl. Schmidt 2012: 55–62; Prinz / Göbel 2015: 9; Reckwitz 2013: 35). Mit Martina Löw gesprochen, erfolgt die Syntheseleistung 9 als einer

8 Zur Kritik an der ANT vgl. beispielsweise Hörning 2012: 37–41; Prinz / Moebius 2012: 14. 9 Also die »Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse«, über die »Güter und Menschen zu Räumen zusammen[ge]fasst« werden (Löw 2001: 159).

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der zentralen Raum konstituierenden Prozesse immer vor dem Hintergrund vorangegangener, internalisierter Raumerfahrungen (vgl. ebd.: 225). Der gebaute Raum »funktioniert« also nicht unabhängig von den in ihm agierenden Subjekten, sondern immer in Korrespondenz mit deren kulturell geprägten räumlichen Konzeptionen. So verfügen konkrete Räume mitsamt ihrer symbolischen Auf ladung über bestimmte »normative Codierung[en]« (Rolshoven 2003: 197), die Verhaltensaufforderungen beinhalten. Diese »Affordanzen«, wie Schmidt sie nennt, sind »sowohl physisch, materiell und ›objektiv‹ als auch insofern ›subjektiv‹, als sie immer nur in Bezug auf bestimmte, mehr oder weniger ausgebildete körperlich-mentale Vermögen und Fähigkeiten existieren« (Schmidt 2012: 66). Die im Raum agierenden Subjekte sind dabei keine passiven Rezipienten, sondern entwickeln aktiv für sie in der jeweiligen Situation angemessene Handlungsformen, die zuweilen auch von den Intentionen der planenden Akteure und Akteurinnen abweichen und im Widerstand erfolgen können (vgl. u. a. Löw 2001: 230). So nutzen beispielsweise die Bewohner und Bewohnerinnen des Wohnprojekts Lilie das Stiegenhaus auf gänzlich andere Weise als Kommunikationsort, als dies in der Planung vorgesehen war. In einem erweiterten, relationalen Raumverständnis, wie es in der Europäischen Ethnologie etwa Johanna Rolshoven (2003; 2013c) oder in der Soziologie Martina Löw (2001: 156) und in weiterer Folge auch Andreas Reckwitz (2013: 33) ausformuliert haben, werden die in räumlichen Settings befindlichen und darauf bezugnehmenden Subjekte durch ihr Agieren im Raum selbst zu Produzenten und Produzentinnen von Raum. Wenn Martina Löw Spacing, einen der beiden zentralen Prozesse der Raumkonstitution, als das »Plazieren von sozialen Gütern und Menschen« (Löw 2001: 158) versteht, dann gehört dazu auch das (temporäre und dynamische) Platzieren des eigenen Körpers mit allen seinen Äußerungen (vgl. ebd.: 154 f.; Rolshoven 2003: 203). Raum wird also, strenggenommen, als spezifischer Raum erst in der Gesamtheit von baulicher Struktur und darin agierenden Menschen bzw. ihren Spuren erlebbar. Dementsprechend ergibt sich ein Raum eigentlich immer aus mehreren, einander überlagernden Prozessen des Spacing, die von verschiedenen Akteuren ausgehen. Was in ethnographischer und raumsoziologischer Perspektive als Raum gesehen wird (und weit über die Architektur hinausgeht), ist immer die Kombination einer Reihe verschiedener Elemente, die unterschiedliche Ausgangspunkte haben. Die Architektur mit ihrer Eigenschaft, Wege vorzugeben, Stimmungen zu schaffen, Aktivitäten zu verorten, Praktiken sowie Subjekte mehr oder weniger deutlich voneinander abzugrenzen oder miteinander zu verbinden, entsteht in den Wohnprojekten im Laufe der Planung in einem Aushandlungsprozess zwischen den zukünftigen Bewohnern und Bewohnerinnen sowie den Architekten. Resultat eines anderen Spacing-Prozesses ist die mehr oder weniger feste Möblierung und Ausstattung der Gemeinschaftsräume, die

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ebenfalls auf eine Einigung innerhalb der Gruppen zurückgeht. Weniger stark reglementiert und eher individuell, aber doch einer gewissen sozialen Kontrolle unterliegend, erfolgt das Platzieren von persönlichen Gegenständen in den gemeinschaftlichen Räumen wie Stiegenhaus oder Laubengang. Zu nennen sind hier Schuhe vor den Wohnungen, Wäscheständer auf dem Gang, Blumen und Stühle in den Eingangsbereichen vor den Wohnungen. Schließlich gehören auch die Menschen selbst mitsamt ihren spezifischen, sich mit den baulichmateriellen Arrangements verbindenden Praktiken als Elemente des Spacing zum Raum. In den bisherigen Ausführungen ging es darum, wie der gebaute Raum als mit bestimmten Intentionen geschaffener und, wie man in der AkteurNetzwerk-Theorie sagen würde, mit einem »Handlungsprogramm« (Yaneva 2012a: 71) ausgestatteter Raum zu einem Teil sozialer Prozesse wird. Der Fokus lag, wie Albena Yaneva das insgesamt als Interesse der ANT formuliert, darauf, welchen »sozialen Zweck« Design verfolgt und welche »sozialen Mittel« es mobilisiert, um diesen zu erfüllen (ebd.: 76). Die Kernthese der ANT sei, [...] dass Artefakte bewusst dafür entwickelt wurden, menschliches Handeln zu prägen oder sogar zu ersetzen. Sie können auf unsere Entscheidungen einwirken, die Effekte unserer Handlungen beeinflussen und die Art, wie wir uns durch die Welt bewegen, verändern. Auf diese Weise spielen sie eine bedeutende Rolle dabei, menschliche Beziehungen zu vermitteln und mitunter gar Moralität, Ethik und Politik zu präskribieren. (ebd.: 77)

Für die argumentativ in der Planung mit den Orientierungen und Zielen der Projekte verknüpften räumlichen Arrangements ist das in hohem Ausmaß sicher richtig. Es bleibt aber zu fragen, ob damit die soziale Effektivität des gebauten Raumes zur Gänze erfasst werden kann. Der Blick auf die (ebenso räumlich vermittelten) nicht-intendierten Aspekte des nachbarschaftlichen Zusammenlebens deutet vielmehr darauf hin, dass es auch abseits der expliziten »Skripte« der Räume (Yaneva 2012a: 71) eine gewisse Eigenlogik der Dinge (im weitesten, auch den gebauten Raum einschließenden Sinn) und der Praktiken gibt, die sich der Planbarkeit entzieht (vgl. dazu auch Reckwitz 2013: 34). Wenn man Wohnen nach Hasse als »vermischtes Tun« begreift (Hasse 2012b: 488), das eine Bandbreite an Praktiken umfasst, die über jene in der Planung des nachbarschaftlichen Zusammenlebens explizit bedachten hinausgeht, dann wird deutlich, dass die Anordnung dieser Praktiken in räumlicher Nähe immer auch bis zu einem gewissen Grad ein Teilen dieser impliziert. Es handelt sich dabei häufig um habitualisierte, körperlich verinnerlichte, sich aus der Sozialisation der Akteure und Akteurinnen erschließende Praktiken (vgl. Hörning 2004: 23; Reckwitz 2003: 291; Reckwitz 2004: 47), die, wie

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Gewählte Nachbarschaft: Aktivitäten, Alltag, Organisation

in den untersuchten Fallbeispielen deutlich wurde, unter anderem mit Ordnungs- und Sauberkeitsvorstellungen zu tun haben, oder die Erzeugung oder Vermeidung von Lärm betreffen. Es sind häufig diese unscheinbaren Details, die bedingen, dass eine »bis in Feinheiten der Lebensweise reichende soziale Homogenität« (Siebel 2009: 8) von Soziologen und Soziologinnen häufig als Grundlage für konfliktfreie Nachbarschaft gesehen wird (vgl. dazu auch Wietschorke 2012: 116). Pierre Bourdieu stellt dazu fest: Kurzum, es ist der Habitus, der das Habitat macht, in dem Sinne, daß er bestimmte Präferenzen für einen mehr oder weniger adäquaten Gebrauch des Habitats ausbildet. In Frage zu stellen ist damit auch der Glaube, als ob die räumliche Annäherung oder, genauer, die Kohabitation von im sozialen Raum fernstehenden Akteuren an sich schon soziale Annäherung oder, wenn man will, Desegregation bewirken könnte: Tatsächlich steht einem nichts ferner und ist nichts weniger tolerierbar als Menschen, die sozial fern stehen, aber mit denen man in räumlichen Kontakt kommt. In Frage zu stellen sind aber auch jene Architekten, die in Unkenntnis oder willentlicher Ignoranz der sozialen Strukturen eines Wohnraumes und der mentalen Strukturen seiner mutmaßlichen Bewohner so tun, als wären sie von sich aus in der Lage, den sozialen Gebrauch der Gebäude und Einrichtungen durchzusetzen, in die sie ihre eigenen mentalen Strukturen projizieren, das heißt, die sozialen Strukturen, deren Produkt sie sind. (Bourdieu 1991: 32)

Der gebaute Raum ordnet diese Formen des »Gebrauch[s] des Habitats« in räumlicher Nähe und in gegenseitig mehr oder weniger wahrnehmbarer Weise an. Diese Anordnung von habitualisierten Praktiken in miteinander korrespondierenden oder auch miteinander geteilten Räumen wird in den Wohnprojekten auch unter einander nicht sozial fern stehenden Menschen zum Thema, wenn es um Fragen des Umgangs mit Müll, des Ordnunghaltens auf den Gangflächen oder des Umgangs mit Katzenexkrementen in der Sandkiste geht. Darüber hinaus sind es neben der Funktion des Raumes, Aktivitäten und Praktiken zu verorten, zum Teil seine materiellen Qualitäten, die in wesentlichem Ausmaß die Art und den Grad dieser Wahrnehmbarkeit beeinflussen, indem sie beispielsweise eine bestimmte akustische Dynamik zur Folge haben. Der gebaute Raum erlangt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Bedeutung in der Gestaltung von Nachbarschaftsbeziehungen, ohne dass er explizit zum Thema würde. Ganz im Sinne dessen, was Daniel Miller als »humility of objects« (Miller 1987: 85) beschreibt, entfaltet er seine soziale Effektivität in unscheinbarer Weise oder, wie Hans Peter Hahn es für die soziale Rolle der Dinge im Allgemeinen formuliert, durch seinen »Charakter der Beiläufigkeit« (Hahn 2015a: 14). Auch Prinz und Moebius sehen in der Selbstverständlichkeit der Dinge ihr besonderes Gewicht:

Raumtheoretische Perspektivierungen II

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Diese stummen Begleiter werden benutzt und registriert, ohne dass sie als solche bewusst in Erscheinung treten, da sich das Auge und der Körper schon längst an ihre Handhabung gewöhnt haben. Aber es sind gerade diese allzu vertrauten Dinge, die aufgrund ihrer nur peripher wahrgenommenen Selbstverständlichkeit und dem stillen Zwang ihrer materiellen Widerständigkeit die kulturellen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata umso nachhaltiger prägen. (Prinz / Moebius 2012: 17)

Diese Anordnung von habitualisierten Praktiken in unmittelbarer Nähe trägt das Potenzial für gegenseitige Störungen. Während bei Bourdieu oder Siebel die soziale Differenz als möglicher Ausgangspunkt für Konflikte im Zentrum der Argumentation steht, wird innerhalb der von mir untersuchten verhältnismäßig sozial homogenen Projekte deutlich, dass sich Probleme auch aus beispielsweise generationenspezifischen Unterschieden in den Zeitrhythmen der Bewohner und Bewohnerinnen ergeben können. Die in den Projekten fortlaufend stattfindenden Aushandlungsprozesse zeigen aber auch, dass, obwohl »einmal entstandene Netzwerke von Körpern und Artefakten in Praktiken [...] ihre relative Repetitivität nicht nur über die sozialisierten Körper, sondern auch über die Stabilität der Dinge [gewinnen]« (Reckwitz 2004: 45), Modifikationen und Abstimmungen dieser Praktiken aufeinander möglich und üblich sind.

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Gewählte Nachbarschaft: Aktivitäten, Alltag, Organisation

EINSCHLIESSEN UND AUSSCHLIESSEN: MATERIELLE UND SOZIALE GRENZZIEHUNGEN UND ÖFFNUNGEN Architektur produziert Ein- und Ausschlüsse, nicht nur, indem sie bestimmte Praktiken rahmt und verortet und somit ihre Akteurinnen und Akteure in spezifischer Weise zueinander in Beziehung setzt, sondern auch, indem sie materielle, visuelle, akustische und olfaktorische Grenzen herstellt und damit Räume, Menschen und Praktiken abschirmt oder zugänglich macht. Die Art und Weise, in der diese Grenzen verlaufen, ist mit Blick auf die (Architektur-)Geschichte historischen Transformationen wie auch sozialen Differenzierungen unterworfen. Dabei geht es immer auch um das spezifische Verhältnis von Individuen und Kollektiven zueinander, das durch Architektur reglementiert wird und das mit bestimmten soziokulturellen Normen, subjektiven Gefühlswelten und entsprechenden Praktiken einhergeht: »Physische Barrieren und räumliche Markierungen können als Gesten des Ein- und Ausschlusses gelesen werden, sie bestätigen soziale Grenzziehungen und ermöglichen ihre Kontrolle« (Meyer / Kamleithner 2013: 98). Angesprochen ist damit das breite Feld der Diskussionen um Privatheit und Öffentlichkeit, mit denen sich eine Vielzahl an Disziplinen aus verschiedenen Perspektiven und mit jeweils unterschiedlichen Konzeptionen auseinandersetzen – teils mit deskriptiv-analytischen, teils mit normativen Ansprüchen. So diskutieren Geschichtswissenschaften (vgl. Ariès / Duby 1989–1993) und Soziologie (vgl. Rosenbaum 1982; Becker-Schmidt 2004) Privatheit häufig mit Blick auf die bürgerliche Familie als zentrale Einrichtung des privaten Lebens in Abgrenzung von Öffentlichkeit und Erwerbsarbeit und thematisieren diesbezüglich Prozesse historischen Wandels. Politik- und Rechtswissenschaften (vgl. Solove 2009; Westin 2003) sowie die Philosophie (Rössler 2001; Geuss 2002) beschäftigen sich hingegen oft mit politisch-rechtlichen Regulierungen, unter anderem in Hinblick auf Grenzverschiebungen angesichts neuer Kommunikations- und Informationstechnologien sowie mit Fragen der Subjektivierung von Privatheit. Psychologische Ansätze betrachten Privatheit wiederum als essenzielles menschliches Bedürfnis (vgl. Altman 1975, 1977). In all diesen Bereichen problematisieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus feministischer und gendertheoretischer Sicht die Implikationen der Grenzziehungen von öffentlich und privat. 1 Was von vielen Autorinnen und Autoren in Anlehnung an den Philosophen Norberto Bobbio als »one of the ›grand dichotomies‹ of Western thought« (Weintraub 1997: 1 mit Verweis auf Bobbio 1989) bezeichnet wird, ist aller1 Für einen Überblick über die disziplinären Ausrichtungen vgl. Jurczyk / Oechsle 2008; Rössler 2001: 11–16.

dings nicht nur ein breites Feld wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Auch im Alltagsdiskurs kommt der Differenzierung von öffentlich und privat »hohe strukturierende Relevanz« (Hahn / Koppetsch 2011: 8) zu: »The concepts of the public and the private are an inextricable part of the language we use as social and political actors – they are part of the conceptual architecture through which we live our lives as social and political beings« (Thompson 2011: 51). Im Alltagsdiskurs und in der alltäglichen Praxis wird häufig auf eine Distinktion von öffentlich und privat rekurriert, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts herausgebildet und ihren Wirkungskreis nach und nach auf immer breitere soziale Schichten ausgeweitet hat. Für gemeinschaftsorientierte Wohnprojekte ist die Frage nach den Grenzziehungen zwischen öffentlich und privat unter anderem deshalb so relevant, weil sie durch das verändert gedachte Verhältnis von Nähe und Distanz im nahräumlichen Umfeld Muster, die sich in der Wohnarchitektur im Zuge der Verbürgerlichung der Wohnpraxis etabliert haben, herausfordern oder zumindest zum Gegenstand expliziter Diskussionen machen. Ohne von Vornherein davon auszugehen, dass sich in den beiden untersuchten Wohnprojekten eine emanzipative Lebensgestaltung in Form neuer Grenzen zwischen öffentlich und privat abzeichnet, wie Grundmann das annimmt (Grundmann 2011: 276), soll es in diesem Abschnitt darum gehen, die für die Projekte jeweils spezifischen Systeme von Ein- und Ausschlüssen herauszuarbeiten und mit den vorherrschenden Vorstellungen von Beziehungsnetzwerken in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise soll eine Annäherung an die Frage ermöglicht werden, inwiefern etablierte Grenzziehungen herausgefordert werden und wie diese Transformationen in der Alltagspraxis funktionieren. Dazu werde ich in einem ersten Schritt einen Gesamtblick auf die jeweiligen Konzeptionen von Beziehungsnetzwerken sowie auf die Gesamtstrukturen der Gebäude als Systeme von Schleusen zwischen unterschiedlichen Sphären werfen. In einem zweiten Schritt nehme ich spezifische Räume, Schwellen und Situationen, anhand derer die Modifizierung des bürgerlichen Leitbilds der Privatheit sichtbar wird, genauer in den Blick.

Soziale und materielle Ein- und Ausschlüsse Alltagsdiskurse, habitualisierte Praktiken sowie Formen der Materialisierung etablierter Formen der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit prägen Denkhorizonte und bilden den Hintergrund, vor dem die Akteurinnen und Akteure der Wohnprojekte ihre Konzepte entwickeln – sei es in affirmativer oder in oppositioneller Weise. Mit Blick auf den wissenschaftlichen Diskurs wird schnell deutlich, dass es sich dabei um überaus vielschichtige Konzepte handelt, die eine Vielzahl von Sphären des gesellschaftlichen und individuel-

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Einschließen und Ausschließen: Materielle und soziale Grenzziehungen und Öffnungen

len Lebens betreffen. Da es hier weniger darum gehen soll, ein spezifisches theoretisches Modell von Privatheit anzuwenden oder zu entwickeln, sondern Privatheit einerseits als heuristisches Modell für das Verständnis der Logik von Ein- und Ausschlüssen sowie als emische Kategorie der Konzeption von Grenzziehungen zu verstehen, verfolgt die theoretische Annäherung zwei Ziele: Zum einen soll es darum gehen, aus einem sehr knapp gehaltenen Blick auf unterschiedliche theoretische Konzepte von Privatheit für den Alltagsdiskurs und die Alltagspraxis relevante und miteinander zusammenhängende Ebenen von Grenzziehungen herauszuarbeiten, sozusagen als analytisches Instrument für die Betrachtung des empirischen Materials. Zum zweiten soll, wie Matthias Grundmann es ausdrückt, der »historische[] Sonderfall« dessen beschrieben werden, »was wir in der bürgerlichen Gesellschaft moderner Prägung als das Private bezeichnen« (Grundmann 2011: 275). Es handelt sich dabei um eine spezifische Konzeption von Privatheit, die nach wie vor für Fragen des Wohnbaus relevant ist und die die Folie bildet, vor der die beiden fokussierten Wohnprojekte ihre jeweils eigenen Lösungen entwickeln. Der Soziologe Jeff Weintraub unterscheidet zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Linien, entlang derer die Kategorien öffentlich und privat gedacht werden: einerseits im Sinne der Zugänglichkeit oder Sichtbarkeit von Personen, Handlungen oder Informationen und andererseits im Sinne der Größe des Kollektivs, in die ein Phänomen eingebettet ist (vgl. Weintraub 1997: 5). Diese Differenzierung ist verwandt mit jener, welche die Philosophin Beate Rössler vornimmt, wenn sie Privatheit einerseits als »geschützte Handlungs- und Verantwortungssphäre« (Rössler 2001: 18) versteht, und andererseits entlang unterschiedlicher Grade der Kollektivität verschiedene Schichten von Privatheit unterscheidet, beispielsweise einen »Bereich persönlicher (körperlicher) Intimität« oder den »klassischen Privatbereich[], nämlich [die] Familie« (ebd.). Diese beiden einander immer wieder überschneidenden und durchkreuzenden Denkbilder von Öffentlichkeit und Privatheit – nämlich die Frage nach der Kontrolle des Zugangs und die des Grades der Kollektivität – spielen nicht nur in den wissenschaftlich-theoretischen Auseinandersetzungen, sondern auch in alltagspraktischen Fragen und im gesellschaftlichen Diskurs eine Rolle und sollen daher im Folgenden immer wieder als zwei relevante Linien der Konzeptualisierung mitgedacht werden. Mit Blick auf das Wohnen steht in den Diskussionen um Privatheit und Öffentlichkeit zumeist die Etablierung und Verräumlichung bürgerlicher Privatheitsvorstellungen im Laufe des 19. Jahrhunderts im Vordergrund. Die darin implizierte scharfe Trennung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen wird von vielen Autorinnen und Autoren als »konstitutiv für die Moderne« angesehen ( Jurczyk / Oechsle 2008: 9; vgl. auch Hahn / Koppetsch 2011: 10; Meyer / Kamleithner 2013: 101; Weintraub 1997: 21; Selle 2002: 18) und hängt

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mit einer Reihe von Entwicklungen des gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Lebens zusammen, wie der Kunstpädagoge Gert Selle schreibt: [D]ie Geschichte der Individualisierung und der Intimität [...] ist vor allem eine Geschichte des gesellschaftlichen Wandels und der kulturellen Entwicklung, erst dann eine Geschichte der individuellen Empfindungen, Ausdehnungen und Behauptungen persönlicher Innen- und Seelenräume, oder dies sind Parallelgeschichten, die auf eine entsprechende Ausdifferenzierung kollektiv gültiger Muster antworten. (Selle 2002: 21 f.)

Die Soziologen Hartmut Häußermann und Walter Siebel beschreiben die Geschichte des Wohnens als »Geschichte der Ausgrenzung und Eingrenzung von Funktionen und Personen« (Häußermann / Siebel 2000: 20), die sich im Zuge des Übergangs von der agrarischen zur arbeitsteilig industrialisierten Gesellschaft seit dem 17. Jahrhundert und stärker konturiert dann im 19. Jahrhundert vollzieht. Im Bereich des Wohnens lässt sich diese Transformation als Übergang vom »Ganzen Haus« als »Einheit von Wohnen, Arbeiten und Erholung, von Verwandten und Arbeitskräften, von Mensch und Tier, von Produktion und Konsum« (Häußermann / Siebel 2004: 60) zur bürgerlichen Familienwohnung im Sinne des »Idealtypus des modernen Wohnens« (Häußermann / Siebel 2000: 13) beschreiben. Zunächst vollzieht sich diese Transformation innerhalb des städtischen Umfelds und in den gehobenen Schichten. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wird aber diese bürgerliche Wohnform zur weit verbreiteten Norm auch im Massenwohnungsbau – nicht selten verbunden mit Absichten der Verbürgerlichung der Arbeiterklasse (vgl. Löfgren 1983; Prost 1993; Nierhaus 1995). 2 Mit der Zuordnung der an Rationalitätsidealen orientierten Erwerbsarbeit zur öffentlichen Sphäre und der Haus- und vor allem auch »Gefühlsarbeit« im Sinne der Erzeugung eines Umfelds der Heimeligkeit zur privaten Sphäre gehen auch neue Rollenbilder des »homo oeconomicus« und der »femina domestica« einher (Löfgren 1983: 85). Baulich ist damit eine Schließung der Wohneinheit durch die Ausstattung mit eigener Haustür und Küche verbunden, die im 18. Jahrhundert oft noch unüblich war. Im Typus des Zinshauses des 19. Jahrhunderts wird diese Schließung durch Treppen und Gänge, die als »Puffer zwischen Innen- und Außenwelt« (Nierhaus 1995: 594) fungieren, verstärkt (vgl. Jarzombek 2010). Erst diese materiellen Veränderungen ermöglichen »die Ausprägung einer Privatsphäre und aller damit verbundenen Ideologien« (Nierhaus 2001: 200 f.). Zusätzlich findet mit der steigenden Zahl der zur Verfügung stehenden Zimmer eine räumliche Ausdifferenzierung von Funktionen innerhalb der Wohnung statt, durch die 2 Auch wenn sich die Familienwohnung als Norm bis in die Arbeiterschicht durchsetzt, so gilt das keineswegs für alle Bereiche des bürgerlichen Privatheitsbilds, insbesondere nicht für die Arbeitssituationen von Frauen und Männern.

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eine »komplexe Geographie von Intimitäten« (Barbey 1984: 97) entsteht. Orvar Löfgren beschreibt, wie ein »ausgeklügeltes System sozialer Schleusen« (Löfgren 1983: 84) mit entsprechenden »Rituale[n] beim Betreten der jeweiligen Räume« (ebd.) unterschiedliche Abstufungen von Privatheit schafft. Die Wohnung sei somit »stage and shelter« (Löfgren 1990: 126) zugleich. So bildet das in der Einrichtung zumeist neutral gehaltene Vorzimmer als »Schwelle zwischen Wohnraum und Wohnungstür« (Nierhaus 2001: 201) einen Puffer gegenüber der Außenwelt (vgl. auch Meyer / Kamleithner 2013: 103). Das bürgerliche Wohnzimmer im Zentrum der Wohnung etabliert sich als Bühne der Selbstdarstellung und als »wohnungsimmanente Naht zwischen privat und öffentlich« (Nierhaus 1995: 597). Parallel dazu entwickelt sich das (Eltern-)Schlafzimmer zur Hinterbühne und zum abgesonderten, dem Zugang anderer Personen entzogenen Ort der ehelichen Intimität (Löfgren 1983: 83). 3 Räume wie Küche, Toilette und Badezimmer, die mit Arbeit und Körperlichkeit assoziiert werden, befinden sich zunehmend an den Rändern der Wohnung (Häußermann / Siebel 2000: 32). Diese Trennlinien zwischen den Funktionen und den Bewohnern bzw. Bewohnerinnen der Wohnung werden durch Gänge und Vorräume zusätzlich betont (vgl. Barbey 1984; Nierhaus 1995: 594). Die Absonderung ist in der historischen Entwicklung zunächst nur den erwachsenen bürgerlichen Bewohnerinnen und Bewohnern, also im Wesentlichen dem Elternpaar, möglich. Bedienstete und Kinder teilen sich weiterhin Räume. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt sich aber mit steigenden Zimmerzahlen ein immer stärkeres Ideal der individuellen Abgrenzungsmöglichkeiten innerhalb der Wohnung: »For the first time, doors could be closed to guarantee the privacy of the individual« (Löfgren 1990: 127). Dadurch kommt es zu einer »Doppelung der Privatsphäre: Im Gehege der Familie entfaltete sich das private Leben des Einzelnen« (Prost 1993: 73). Gerade aus feministischer Sicht wurde dieses Anrecht auf das eigene Zimmer als Symbol und als notwendige Grundlage für die individuelle Privatsphäre und die damit verbundenen Möglichkeiten intensiv und kritisch diskutiert. Der individuelle Privatraum war – in Gestalt des Herrenzimmers – über lange Zeit hinweg noch ein Privileg der Männer (vgl. Woolf 1929). Mit der spezifischen Etablierung von räumlichen und sozialen Grenzziehungen entwickelt sich auch ein bestimmtes Verständnis von Intimität und Subjektivität. Die räumlichen Differenzierungen von Funktionsbereichen innerhalb der Wohnung lassen neue »Peinlichkeitsschwellen« (Häußermann / Siebel 2000: 36) entstehen, die sich unter anderem in den Bereichen des Schlafens 3 Diese Entwicklung veranschaulicht auch die Geschichte des Schlafens und des Funktionswandels des Bettes, wie sie beispielsweise Gottfried Korff oder Gert Selle herausgearbeitet haben (vgl. Korff 1981; Selle 2011: 116–123).

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und der Sexualität, aber auch der Körperreinigung und -entleerung bis heute abzeichnen (vgl. Elias 2000 [1939]; Gleichmann 1976, 1979; Meyer / Kamleithner 2013: 103). Zugleich wird die bürgerliche Wohnung »zum realen Ort der Entwicklung des modernen bürgerlichen Subjekts samt seiner Gefühls- und Empfindungskultur« (Nierhaus 2001: 202). Im Schutz bürgerlicher Privatheit kann und soll sich eine Subjektivität entwickeln, die ihren Ausdruck in der Einrichtung der Wohnung findet (vgl. ebd.; Nierhaus / Nierhaus 2014: 21). Die Wohnung als abgeschlossener, von der Außenwelt unabhängiger Raum des privaten Rückzugs stellt sich bei genauerem Hinsehen jedoch als Fiktion heraus. Auch der private Wohnbereich ist gesellschaftlich durchdrungen. Nicht nur ist der Wohnstil »ein Gemenge aus individueller Geschichte, notwendigen Funktionen, schichtspezifischen Mustern und den Vorgaben von Geldbeutel, Wohnungsangebot und Möbelindustrie« (Häußermann / Siebel 2000: 49), Wohnen ist immer auch diskursiv über eine Vielzahl verschiedener Medien vermittelt (vgl. Nierhaus / Nierhaus 2014: 9), durch die bürgerliche Gesetzgebung reglementiert und nicht zuletzt auch eng mit der öffentlichen Sphäre verknüpft (vgl. Nierhaus 2001: 200 f.). Ab den 1960er-Jahren geraten das Konzept der bürgerlichen Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit sowie die damit einhergehenden Geschlechterrollen zunehmend in die Kritik bestimmter sozialer Bewegungen. Mit dem Ausschluss der Frauen aus Politik, Bildung und Erwerbsarbeit, der Teil des bürgerlichen Idealbilds ist, würden asymmetrische Geschlechterverhältnisse verstärkt, zumal aufgrund der Fokussierung von Erwerbsarbeit als legitimer, mit gesellschaftlichem Prestige verbundener und finanziell entlohnter Arbeit den Frauen folglich die gesellschaftliche Anerkennung für Fürsorgeund Versorgungsarbeit im Privaten verwehrt bleibe. Zugleich diene das Private oftmals als Deckmantel, um patriarchale Strukturen und Gewalt innerhalb der Kleinfamilie zu verdecken (vgl. Jurczyk / Oechsle 2008: 10 f.; Sauer 2001: 176–194; Brandes 2008). Im Zuge der sozialen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre entwickeln sich alternative Wohnformen, die stärker an kollektiven Idealen orientiert und der bürgerlichen Kleinfamilie entgegengesetzt sind (vgl. Nierhaus 1995: 594). Es wäre aber ein vorschneller Schuss, alle kollektiven Wohnformen von Vornherein diesen Bewegungen zuzuordnen. In den aktuellen Diskussionen wird häufig ein »Strukturwandel« im »Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit« (Fux 2008: 60) postuliert, den manche Autorinnen und Autoren als Auf lösungs- und Zerfallserscheinung interpretieren (bspw. Habermas 1990; Sennett 1986; vgl. zu dieser Diskussion Hahn / Koppetsch 2011: 8; Fux 2008). 4 Mit Blick auf die Entwicklung 4 Gewisse Tendenzen zu einer »Entprivatisierung des Wohnens« (Selle 2002: 30) stellt Gert Selle schon für die Phase des Neuen Bauens zu Beginn der 1920er-Jahre fest, die sich jedoch nicht als Massenphänomen etabliert haben.

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in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird dabei vor allem die Auflösung der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft durch Eingriffe des Wohlfahrtsstaates thematisiert (vgl. Häußermann / Siebel 2004: 63; Grundmann 2011: 276). Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts stehen vermehrt Prozesse der Entgrenzung von Arbeit (vgl. Selle 2002: 37; Jurczyk / Oechsle 2008: 18–20) sowie die Rolle der Medien, die sowohl Öffentliches in die private Sphäre bringen als auch eine Intimisierung des Öffentlichen mit hervorrufen (vgl. Thompson 2011; Fux 2008; Brandes 2008), im Fokus der Debatten um öffentliches und privates Leben. Im Folgenden soll danach gefragt werden, welche Vorstellungen von Privatheit die beiden untersuchten Wohnprojekte prägen und wie diese in den Bauten umgesetzt werden. Dabei geht es vor allem um die Fragen, zwischen welchen sozialen Einheiten in welcher Weise Grenzen gezogen werden, und wie sich die materiellen Voraussetzungen mit Alltagspraktiken verbinden. In beiden Wohnprojekten wird deutlich, dass es hinsichtlich der Architektur, aber auch des Zusammenlebens eine explizite und hoch reflektierte Auseinandersetzung mit Fragen nach Grenzziehungen zwischen verschiedenen sozialen Bezugssystemen gibt. Den Ausgangspunkt beider Projekte bildet eine Kritik an den diesbezüglichen Aufteilungen, die für die im 20. Jahrhundert dominierend gewordenen Formen bürgerlichen Wohnens in der Stadt typisch sind, wobei sich diese durch divergierende Lösungsansätze auszeichnet. Im Wohnprojekt Lilie werden Diskussionen um Privatheit greifbar, wenn etwa eine Bewohnerin als einen Kerngedanken des Projekts das »Gleichgewicht von Privatheit und Gemeinschaft« nennt oder ein Bewohner darauf hinweist, dass der Gruppe »die klare Beibehaltung der persönlichen und der familiären Individualität, aber gleichzeitig auch eine gewisse Verbundenheit« wichtig gewesen sei. Der hier genannte Begriff der »familiären Individualität« erweist sich für das Zusammenleben sowie die Architektur als zentral. Im Wohnprojekt Lilie bildet die Kleinfamilie die Kerneinheit des Wohnens. Auch wenn als einer der Impulse für die Gründung des Wohnprojekts eine kritische Auseinandersetzung mit den »Überforderungserscheinungen« (Klar / Schattovits 1988a: 7; Schattovits 2011: 101) der Kleinfamilie genannt wird, ging es in der Konzeption des Projekts nicht darum, die Kleinfamilie als Modell grundsätzlich in Frage zu stellen. Beabsichtigt war vielmehr, ihr eine andere Rahmung zu geben als im als anonym empfundenen großstädtischen Wohnen üblich: »Wir suchen keine Alternative zur Familie, sondern nach Ursachen und Wechselwirkungen, die zur Überforderung führen« (Klar / Schattovits 1988a: 7), heißt es in der Dokumentation des begleitenden Forschungsprojekts. Als Lösung wird die Einbindung der Kleinfamilie in eine größere Gemeinschaft vorgeschlagen. Dementsprechend startete das Projekt auch mit dem Namen »Familienkloster«, der ebenso Alleinstehende und Alleinerziehende umfassen sollte (ebd.: 7–9).

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Die bedeutsame Rolle, die der Familie im Wohnprojekt zukommt, findet ihren Ausdruck in der prominenten und selbstverständlichen Verwendung des Begriffs sowohl in den Planungsunterlagen (vgl. ebd.) als auch in den Interviews mit mir. Das intendierte Verhältnis zwischen der Familie und der Gemeinschaft ist zudem in den Statuten des Trägervereins festgeschrieben. Darin wird die »Förderung eines gemeinsamen Lebensvollzuges unter Wahrung der Intimsphäre der Person, der Ehe und der Familie« (Statut 1998) als eines der wesentlichen Ziele des Vereins formuliert. Diese Eigenständigkeit der Familie spiegelt sich auch im Umgang mit Fragen des Eigentums sowie der Kindererziehung wider, die mehrfach in Abgrenzung zu anderen Wohnprojekten genannt werden, beispielsweise von einer Frau, die der Gruppe seit der Vereinsgründung angehört und mit ihrer Familie in das Wohnprojekt einzog: Also [die Franziskusgemeinschaft in, Anm. d. Verf.] Pinkafeld haben wir uns angeschaut, [...] aber das ist eine viel engere Wohnform. Also bei uns war klar: Jede Familie hat ihre eigene Wohnung und kann die Tür zumachen und erzieht ihre Kinder selbst usw. Dort haben sie, glaube ich, auch Gütergemeinschaft und gemeinsame Kindererziehung.

Eine andere Bewohnerin, ebenfalls Gründungsmitglied, die mit ihrem Mann und ihren Kindern ins Haus einzog, teilt diese Position und nimmt ebenfalls auf die Franziskus-Gemeinde in Pinkafeld Bezug: Bei uns war immer also der Ansatz, die Individualität des Einzelnen und der Familie soll gewahrt bleiben. Also es redet auch bei uns niemand dem Nachbarn rein, wie er seine Kinder erzieht. Ich meine, wenn jemand um Hilfe bittet: ja. Und in Pinkafeld war das halt ein starker gemeinschaftlicher Geist, wo auch nicht alle Leute arbeiten gehen, um für Soziales frei zu sein, um zu Hause bleiben zu können, aber die anderen finanzieren das mit. Also das hätten wir nicht gewollt.

Anders als das Projekt Lilie, in dem die Kleinfamilie die Kerneinheit des gemeinschaftlichen Wohnens bildet und als solche durch die Einbettung in eine größere Gruppe nicht gestört werden soll, richtet sich das Wohnprojekt Ziegelwerk, inspiriert von der Studierenden-, Frauen- und Umweltbewegung der 1970er-Jahre, gegen die Kleinfamilie als Ort der Sozialisation und versucht dieser Alternativen entgegenzusetzen. Tragender Gedanke der Anfangszeit war die Förderung einer Vielfalt an Beziehungsmodellen und Wohnformen (vgl. Ehs 2008: 23). In der Tat lebten viele Mitglieder vor dem Einzug in das Wohnprojekt in Wohn- und Hausgemeinschaften, häufig auch als Paar und mit Kindern (vgl. Krosse 2005: 186; Schrage 2000: 219 f.; Wagner 2000: 75 f.). In den Schilderungen der Motivationen für diese Wohnform kommen in den Interviews teils hoch reflektierte politische Positionierungen zum Ausdruck. So berichtet eine Bewohnerin Anfang sechzig, dass sie mit Mitte zwanzig aus

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Deutschland nach Wien gezogen sei und seither immer in Wohngemeinschaften gelebt habe: Es war immer mein Anspruch, die Lebensrahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie förderlich sind und ein Stück auch Muster durchbrechen. Ich habe Psychologie, Pädagogik, Erziehungswissenschaften etc., Gruppendynamik studiert, von daher hab’ ich auch immer meine eigenen Muster hinterfragt und mir überlegt: Was gebe ich an mein eigenes Kind weiter, wie sehr bin ich geprägt durch die kulturellen, sozialen Bedingungen, in denen ich aufgewachsen bin, und wie kann ich mich auch – nicht nur im Kopf, sondern tatsächlich – ein Stück von dem lösen, was mir einfach nicht so taugt? Und von dem her war die Form der Wohngemeinschaft für mich immer eine sehr gute. Weil, speziell wenn Kinder da sind, einfach andere Rollenbilder gelebt, gesehen und erlebt werden können. [...] Und die andere Sicht ist immer auch selbst gesehen zu werden oder das Gefühl zu haben gesehen zu werden. Und das war mir vor allem auch deshalb wichtig, weil ich gerade diese Zweierbeziehungsgeschichten schon sehr hinterfrage, also inwiefern das sinnvoll, notwendig, ja, halt auch angebracht ist mit den Ansprüchen, die dahinter stehen. Historisch hat natürlich alles seinen Sinn, aber für mich ist es die Frage, ob das auch so sein muss. Und dieses Gefühl, gesehen zu werden, macht sicher auch einen Unterschied zu dem, sich in die Kleinfamilie zurückzuziehen und da möglicherweise in einen alten Stiefel zurückzufallen, ohne dass man es merkt oder wahrhaben will. [...] Von daher ist für mich diese Form der Wohngemeinschaft eine sehr gute, um da auch Ansprüche nicht nur theoretisch vor sich herzutragen, sondern auch tatsächlich zu leben und sich dem zu stellen. Genau. Und das war so die Situation, aus der heraus ich in [das Ziegelwerk, Änd. durch Verf.] gezogen bin.

In der damaligen Situation, in der Wohngemeinschaften zum Teil argwöhnisch beäugt wurden, habe sie es als Notwendigkeit empfunden, ein »ähnlich tickendes Umfeld« zu schaffen, in dem diese Wohnform zur Normalität werden könne, ohne unter dem Druck zu stehen, sich erklären oder beweisen zu müssen. Die hier zitierte Interviewpartnerin ist nicht die einzige Bewohnerin des Ziegelwerks, die sich von bürgerlichen Idealen der Kleinfamilie und der Zweierbeziehung distanziert. Wohl gibt es auch im Wohnprojekt Ziegelwerk verheiratete wie auch unverheiratete Paare, die mit ihren Kindern in einer eigenen Wohnung leben, daneben aber finden sich in den Lebensentwürfen und -realitäten meiner Interviewpartnerinnen und -partner verhältnismäßig viele Beispiele für andere Beziehungsformen: Paare, die von vornherein getrennte Wohneinheiten bezogen, oder Paare, die auch nach der Trennung noch im Wohnprojekt wohnen etc. Anders als im Wohnprojekt Lilie lehnen manche das Bild der stabilen, langfristigen Paarbeziehung explizit ab, wie etwa ein beruflich im Bildungsbereich tätiger Bewohner, der über seine damalige Partnerin

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und Mutter seines Sohnes von dem Projekt erfuhr, die wiederum über den Vater ihres ersten Kindes zu dem Projekt gestoßen war. Er berichtet, dass die beiden Männer nicht nur als Mitglieder des Wohnprojekts Bezüge zueinander hatten, sondern über Jahre hinweg eine entspannte Freundschaft pflegten, zu der auch gemeinsame Urlaube mit den Kindern gehörten. Er stellt dies im weiteren Verlauf des Interviews in den Kontext seiner allgemeinen Sicht auf Beziehungsformen: Das war ein bisschen eine andere Zeit. Ich erzähle das deswegen, weil ich nicht weiß, ob man das heute auch so lebt. Das mag vielleicht alles verrückt sein. Aber meine Perspektive war immer, also ich habe immer so ein bisschen – wie soll ich sagen? – so Leute, die brav geheiratet haben mit 25 oder so und die dann ein Leben lang zusammen waren – die gibt es ja auch, zwar wenige, aber die gibt es – die hab’ ich immer so ein bisschen / Also das war irgendwie nicht meines, ja?

Dem Modell der Kleinfamilie als Kerneinheit wird im Ziegelwerk eine Vielfalt an Alternativen zur Seite gestellt. Diese beziehen sich auch auf die Frage der Kindererziehung, wie in den Ausführungen der oben zitierten Bewohnerin, für die das Leben in der Wohngemeinschaft Modellcharakter hat, deutlich wird. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass insbesondere in den Phasen, in denen es viele gleichaltrige Kinder gab, die Kinderbetreuung unter den Erwachsenen aufgeteilt wurde. Eine Bewohnerin, die erst nach der Fertigstellung des Hauses mit ihrer Tochter einzog, beschreibt die Beziehungen im Haus zu dieser Zeit mit dem Bild einer »großen Familie« und verweist darauf, dass sich die Erwachsenen keineswegs nur für ihre eigenen Kinder verantwortlich fühlten (Forschungstagebuchnotiz vom 5. 10. 2013). Hier wurde, anders als im Wohnprojekt Lilie, in dem die Familie als für sich stehende Einheit betrachtet wird, explizit das Ziel verfolgt, größere kollektive Bezugs- wie auch Kontrollsysteme zur Verfügung zu stellen. Dementsprechend wurde in einem größeren Maßstab Kinderbetreuung gemeinschaftlich organisiert. So wie sich im Zuge der Etablierung des bürgerlichen Wohnens im Inneren der Wohnung ein »ausgeklügeltes System sozialer Schleusen« (Löfgren 1983: 84) entwickelt, etablieren auch die beiden Wohnprojekte ein durch die Architektur unterstütztes System abgestufter Öffentlichkeits- und Privatbereiche, das jeweils mit spezifischen Konzeptualisierungen sozialer Bezugssysteme zusammenhängt. Für das Wohnprojekt Lilie wird dieses System in der Dokumentation des Planungsprozesses folgendermaßen skizziert: Einzelpersonen sollen über Rückzugsgebiete verfügen, im Sinne eines eigenen Zimmers für jedes Kind. Familienwohnungen sollen ein Wohnzimmer und eine Küche haben, um »ein eigenständiges Familienleben entfalten zu können« (Klar / Schattovits 1988a: 123). Für die Gemeinschaft und Gäste soll es Gemeinschaftsräume sowie Freibereiche wie die Dachterrasse und den Innenhof geben, während

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Bewegungsraum und Garten sowohl der Hausgemeinschaft als auch der Pfarre zur Verfügung stehen (vgl. ebd.: 122 f.). Den gewissermaßen öffentlichsten Bereich des Hauses bilden folglich die von der Jungschar genutzten Pfarr-Räume, die im Erdgeschoß des Straßentraktes liegen und über einen eigenen Eingang verfügen, sowie der Garten und der Bewegungsraum, die von der Pfarre mitbenutzt werden. Auch diese sind direkt von der Straße bzw. von den Jungscharräumen aus zugänglich, ohne dass das Stiegenhaus des Wohnhauses betreten werden muss. Im Zuge der Hausführungen präsentieren mir mehrere Bewohner und Bewohnerinnen diese Wegführungen als besonders gelungene Lösung für die Trennung von Bereichen unterschiedlicher Gruppen von Nutzern und Nutzerinnen. Die zukünftigen Bewohner und Bewohnerinnen hätten der Pfarre im Gegenzug für das Baurecht zugesichert, dass diese auf dem Grundstück ihre seelsorgerischen Aktivitäten weiterhin durchführen könne, erzählt mir ein Bewohner Anfang sechzig, der seit den ersten Treffen in das Projekt involviert ist und einen starken Bezug zur Pfarre hat. Mit Blick auf die Architektur sei dann die Frage gewesen, wie wir das räumlich gestalten, dass das nicht ein Durcheinander wird, ein Kuddelmuddel 5. Und dann hat der Architekt die Idee gehabt, einen Eingangsbereich

Abb. 18: Wohnprojekt Lilie, Eingangsbereich: Rechts gelangt man in die von der Pfarre genutzten Räume, die auf dem Bild offenstehende Tür links führt ins Stiegenhaus des Wohnhauses, durch das Gittertor geradeaus gelangt man in den Garten. Foto: Ana Rogojanu.

5 Umgangssprachlich für Chaos / Unordnung.

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zu schaffen, wo wir links in das Haus hineingehen und in die Pfarr-Räume rechts hineingehen. Und die haben zwei Gruppenräume drinnen mit WC-Anlage, auch eine Kleinküche usw., also die sind relativ autark und können dann über diesen Eingang in den Garten gehen. [...] Und können also da ganz unproblematisch, ohne uns zu tangieren, den Platz benutzen zum Spielen [...]. Und über die Stiege können sie auch hinunter gehen in den Bewegungsraum. Sie sind also von uns komplett unabhängig und brauchen nicht anläuten, es muss niemand da sein.

Das Verhältnis zwischen der Hausbewohnerschaft und den Jungschargruppen beschreibt der Bewohner einerseits als unproblematisch, betont andererseits aber die räumliche Unabhängigkeit als Voraussetzung für das reibungslose Teilen des Gebäudes. Die Begriff lichkeiten aus der Begleitforschung aufgreifend, beschreibt er des Weiteren, dass es auch darüber hinaus »unterschiedliche Abstufungen der Öffentlichkeit« gebe: Es war auch klar, dass [...] wir aber auch teilweise unseren eigenen Privatbereich haben. Also es wurde geschaut, dass jede Wohnung entweder einen Balkon oder eine Terrasse hat, und dann auch, dass wir das Flachdach als privates Rückzugsgebiet haben. Oben auf die Dachterrasse, also da kann nur jemand von der Gemeinschaft hin.

Die Dachterrasse gilt im Verständnis dieses Bewohners als »privates Rückzugsgebiet« für die Gruppe, während die Balkone und Terrassen rund um das Haus eher als »eigener«, zur Wohnung gehörender »Privatbereich« gesehen werden. Eine alleinstehende Bewohnerin Anfang achtzig, die an der Gründung des Projekts beteiligt war, betont den Wert des Privaten für die Gruppenmitglieder, wenn sie erzählt, dass sich die Gruppe für diese »verschachtelte« Struktur des Hauses mit den vielen Terrassen und Balkonen ausgesprochen und demgegenüber den Entwurf eines anderen Architekten aus dem Team abgelehnt habe, der eine Konstruktion mit zentralem Innenhof und Laubengangerschließung vorsah: Das wollten wir dann doch nicht, weil man da halt alle überblickt. Und im anderen Entwurf [der schließlich umgesetzt wurde, Anm. d. Verf.] war halt doch ein bisschen mehr Privates. Ich glaube, das war der Grund, dass uns der Entwurf besser gefallen hat.

Die Möglichkeiten einzelner Mitglieder bzw. Familien, sich von der Gruppe abzugrenzen, werden von den Bewohnern und Bewohnerinnen nicht nur bezüglich der Frage der Einsehbarkeit der Eingangsbereiche der Wohnungen diskutiert, also gewissermaßen im Sinne einer informationellen Privatheit, sondern auch konkret mit Blick auf die Zugänglichkeit und die funktionale Unabhängigkeit der einzelnen Wohneinheiten. Ein alleinstehender Bewohner, der nach der Fertigstellung des Hauses einzog und sich intensiv mit dessen

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Architektur auseinandersetzte, reflektiert das Verhältnis von architektonischer Anlage des Gebäudes und sozialen Ein- und Ausschlüssen: Ich habe das Gefühl, dass beides dort möglich ist [Rückzug und Engagement, Anm. d. Verf.]. [...] Es hat nun einmal jeder eine Wohnung mit einer versperrbaren Wohnungstür und einer eigenen Küche und so. Also es ist nicht so, dass wir alle miteinander mittagessen und quasi kein Privatleben haben. [...] Man hat so sein Leben, aber auch dieses gemeinsame Leben. Das spiegelt, finde ich, die Architektur sehr stark.

Das Wohnprojekt Lilie, dessen Räume teilweise von der Pfarre mitgenutzt werden, entwickelt also ein Zugangssystem, das auf eigene Eingänge und damit auf eine gewisse Abgrenzung dazu setzt. Im Inneren gibt es gemeinschaftlich genutzte Bereiche als kollektiv private Formen, von denen die einzelnen Wohneinheiten wiederum klar abgegrenzt sind. Die Bezüge nach außen sind im Ziegelwerk schon vom Konzept her wesentlich deutlicher ausgeprägt als im Wohnprojekt Lilie. Zur Programmatik des Trägervereins des Ziegelwerks gehört die Idee der »Integration des Projekts selbst in sein Umgebungsfeld im Bezirk sowie in andere relevante Umfelder« (Ehs 2008: 26). Daher wurde eine Reihe von Angeboten vorgesehen, die mehr oder weniger öffentlich zugänglich sind. Konkret handelt es sich dabei um das Beisl, den Kindergarten, den Veranstaltungsraum und die Seminarräume sowie das Badehaus. Die Öffnung dieser Einrichtungen nach außen bezeichnet Gerda Ehs als finanzielle Notwendigkeit, schließlich könnten die Mitglieder des Vereins die laufenden Kosten für die Einrichtungen nur schwer allein tragen. Zugleich aber interpretiert Ehs die Öffnung auch als »ideologischpolitische Vereinsverpflichtung« (ebd.: 112). Auch eine meiner Interviewpartnerinnen betont, es sei ihr wichtig gewesen, »dass es nach außen geöffnet ist und wir nicht so klein und eng da vor uns hin wohnen«. Aus dieser Ausrichtung resultieren, ähnlich wie im Wohnprojekt Lilie, Bereiche mit unterschiedlichem Öffentlichkeitsgrad, wobei die Grenzen in diesem Projekt wesentlich flüssiger sind. Die Abstufungen ergeben sich hier weniger durch die tatsächlichen Möglichkeiten des Zugangs, als vielmehr durch die Anordnung der Räume im Gebäudekomplex. Der Veranstaltungssaal ist direkt von der Straße aus zu begehen, die Seminarräume, das Beisl und der Kindergarten befinden sich entlang des Durchgangs, der ins Innere des Wohnprojekts führt, und zum Badehaus gelangt man über eine Treppe unmittelbar nach dem Durchgang. Die öffentlichen Bereiche des Ziegelwerks wirken wie eine Schleuse in Richtung des Inneren des Wohnprojekts. Auch wenn die inneren Freibereiche tagsüber ohne Weiteres auch für Fremde zu begehen sind – es gibt kein Haustor und keine Fernsprechanlage, lediglich über Nacht werden die Gittertore an den Eingängen versperrt –, so impliziert dennoch die

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Nutzung der öffentlichen Bereiche nicht unbedingt ein Eindringen in die privateren Bereiche des Wohnprojekts. Die teilöffentlichen Flächen sind aus Sicht der Bewohner und Bewohnerinnen nicht lediglich als an den Rändern des Wohnkomplexes angesiedelte und davon abgekoppelte Einrichtungen zu verstehen. Vielmehr sind dies allesamt Angebote, die Bedürfnisse der Bewohnerschaft abdecken, mögliche Treffpunkte außerhalb der eigenen Wohnräume und zugleich Schnittstellen nach außen darstellen. Man müsse sich dem aber nicht »aussetzen«, wie ein Bewohner Ende fünfzig erzählt, sondern könne auch einfach vorbeigehen und in der Wohnung »wieder für sich sein«. Diese ungezwungene Möglichkeit des Miteinanders bilde einen zentralen Aspekt des Verhältnisses zwischen Individuum und Gruppe: Unser Projekt ist eine interessante Mischung. Es ist eben eigentlich keine große WG, sondern es ist eine Hausgemeinschaft und das ist doch wieder eine andere Struktur. Man hat in den WGs immer die Streitereien gehabt mit Geschirr waschen, Einkäufe organisieren, wer zahlt mehr, wer zahlt weniger, ist das gerecht? Und hier hat jeder seinen eigenen Bereich und es ist Ruhe und doch ist man miteinander da. Also mir gefällt die Struktur so gut.

Während sich zwischen den beiden Wohnprojekten deutliche Unterschiede in den Bezügen nach außen abzeichnen, die im Wohnprojekt Ziegelwerk deutlich stärker ausgebildet sind als im Wohnprojekt Lilie, ist ihnen die Entscheidung für eigenständige Wohneinheiten gemeinsam. Anders als im Wohnprojekt Lilie, in dem die Notwendigkeit dieser mit der Bedeutung der Kernfamilie argumentiert wird, sind diese im Ziegelwerk vor dem Hintergrund der immer wieder betonten Ungezwungenheit und Wahlfreiheit der Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben zu sehen. Der grundsätzlichen Eigenständigkeit der Wohneinheiten entspricht eine Grenzziehung zwischen Familie bzw. Individuum und Kollektiv, die sich auch in einer gewissen Entscheidungsfreiheit in Hinblick auf die Gestaltung der Wohnungen äußert, die, folgt man der Philosophin Beate Rössler, ebenfalls als eine Ebene von Privatheit verstanden werden kann (vgl. Rössler 2001: 19). Das Ideal der Unabhängigkeit der einzelnen Wohneinheiten gerät dabei in beiden Gruppen in ein Spannungsverhältnis zu den Ansprüchen kollektiv geteilter Werthaltungen, was feine Abwägungen und ein ausgeklügeltes System der Reglementierung notwendig macht. Dahingehend gibt es auffallend starke Übereinstimmungen zwischen den beiden Projekten. Im Wohnprojekt Lilie wird mir gegenüber von vielen meiner Interviewpartner und -partnerinnen zunächst die unabhängige Entscheidungsfindung bezüglich der Ausstattung der eigenen Wohnung betont: »Klar war, dass jeder seine eigene Wohnung gestalten kann, wie er möchte«. Dennoch gibt es im Sinne einer Orientierung der Gruppe an gemeinsamen Werten immer wieder

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auch Diskussionen, die diesen Bereich tangieren. Mehrfach werden in den von mir geführten Interviews notwendige Begrenzungen des Luxus angesichts des christlichen Ideals der Bescheidenheit thematisiert. Eine Bewohnerin um die sechzig spricht beispielsweise die Möglichkeiten zur individuellen Gestaltung als spannungsvollen Punkt in der Planung an: Es war auch immer eine starke Diskussion: Wie viel Luxus dürfen die Wohnungen haben? [...] Also es gab halt so Diskussionen über die Ausstattung, nicht? Ja, man kann sich ein Tiffany-Glas in jedes Fenster machen lassen und so. Und da haben wir gesagt, also diese Dinge werden nicht zugelassen. Also wenn jemand dieses Geld hat, dann soll er das woanders anlegen, aber nicht in dieser Form so nach außen sichtbar: ›Also ich hab’ mir da hier eine Luxuswohnung eingerichtet.‹

Ein Bewohner, ebenfalls Anfang sechzig und Teil der anfänglichen Kerngruppe, beschreibt den Umgang mit Fragen der Wohnungsausstattung folgendermaßen: Wir haben schon den Standard festgelegt sozusagen, dass wir gesagt haben: Parkettboden ist Standard. Oder: Die und die Fliesen sind Standard und so. Und dann haben aber schon individuell manche größere Fliesen, schönere Fliesen sich dazu aussuchen können, aber im Rahmen halt. Oder einen anderen Boden oder Eigenleistungen usw. Also das war schon üblich.

Die Nutzung der Wohnung zum Zweck der Zurschaustellung der eigenen sozialen Position und des eigenen Wohlstands wird hier also deutlich abgelehnt und insofern wiederum die Entscheidungsfreiheit bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt bzw. zumindest einer sozialen Kontrolle unterworfen. Der zweite Punkt, an dem die Unabhängigkeit der Wohneinheiten in ihrer Eindeutigkeit der Grenzziehungen brüchig wird, ist die Frage nach der Größe der Wohneinheiten, die in der Planungsdokumentation mit auffallender Häufigkeit als problematisch und konfliktreich auftaucht (vgl. Klar / Schattovits 1988a: 133, 140 f., 195). Zum einen ergab sich diese Diskussion aus der Notwendigkeit, innerhalb aufgrund der Bebauungsbestimmungen relativ eng gesetzter Grenzen eine bestimmte Zahl an Wohnungen sowie Gemeinschaftsräumen unterzubringen. Neben diesem pragmatischen Aspekt ist die Frage nach den angemessenen Wohnungsgrößen auch eng mit dem für die Gruppe definitorischen Ideal des Teilens verknüpft (vgl. ebd.: 116). Daraus ergab sich die Prämisse zur Beschränkung von Wohnungsgrößen, wie sich eine der älteren alleinstehenden Bewohnerinnen erinnert: In der Planung wurde auch diskutiert, dass Alleinstehende womöglich keine zu großen Wohnungen haben sollten, sondern es sollte eine gewisse Einfachheit sein. Und eigentlich waren so um die fünfzig Quadratmeter vorgesehen, aber es sind halt dann doch auch für manche Alleinstehende die Wohnungen bis zu

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siebzig Quadratmeter groß geworden, weil einige Kinder haben. Wenn Besuch kommt, dass sie ein Gästezimmer haben und so. Aber das Ziel war schon eine gewisse Einfachheit und Bescheidenheit, nicht?

In der Darstellung dieser Diskussion seitens eines später eingezogenen Bewohners, der diese nicht selbst miterlebt, sondern nur nachträglich über die Erzählungen von anderen Bewohnern und Bewohnerinnen vermittelt mitbekommen hat, wird eine größere Komplexität der Art und Weise, in der dieses Thema behandelt wurde, deutlich: Soviel ich weiß, war es sehr wohl am Beginn leicht konfliktreich in Bezug darauf, wie wichtig das Gebäude überhaupt ist. Also es gab zum Beispiel Diskussionen darüber, wie viele Quadratmeter jeder haben soll. [...] Es gab dann irgendwie auch einen Schlüssel, für wie viele Kinder man wie viele Quadratmeter haben kann oder so. Also dieses Thema, das Thema der Bescheidenheit, war halt immer eine große Sache. Weil die einen haben gesagt: ›Na, wenn wir christlich und bescheiden sind, dann darf man doch nicht mehr.‹ Und die anderen haben gesagt: ›Naja, es hat ja jeder von uns andere Schwerpunkte und ich richte mir halt die Wohnung schön ein und ihr gebt das Geld halt im Urlaub aus.‹

Die Ideale der Bescheidenheit und des Teilens werden also auf normative Art und Weise von den Bewohnern und Bewohnerinnen diskutiert. Die Frage der Individualität und Unabhängigkeit der Familien bzw. Individuen und damit einhergehend auch der einzelnen Wohneinheiten wird also sowohl in Hinblick auf Größe und Ausstattung als auch mit Blick auf die konkrete Zugänglichkeit (die abschließbare Wohnungstür) und die Eigenständigkeit in funktionaler Hinsicht (die Küche) diskutiert. Zugleich stellt das Gebäude auch eine Reihe an Gemeinschaftsräumen zur Verfügung, die als »Erweiterungen des Wohnbereichs« begriffen werden. Die Diskussionen um die Beschränkung der Wohnungsgrößen sind also auch vor dem Hintergrund der Erwartungshaltung zu sehen, dass aufgrund des gemeinschaftlichen Raumangebots der Bedarf nach individuellem Wohnraum sinken könnte (Klar / Schattovits 1988a: 140 f.). Auffallend ähnliche Diskussionen gibt es auch im Wohnprojekt Ziegelwerk. Die Autonomie der einzelnen Bewohner und Bewohnerinnen bleibt auch hier bis zu einem gewissen Grad durch kollektive Wertvorstellungen beschränkt. Konkret wurde angestrebt, »hochwertige Gemeinschaftsräume« zu planen und im Gegensatz dazu »Individualräume relativ klein und stark genormt« (Ehs 2008: 22) zu halten. Durch die Vorgabe einer Palette an Möglichkeiten für die Innenausstattung sollten »übermäßige Individualwünsche« (Wagner 2000: 51) beschränkt werden. Diese Idee stellte sich in der Umsetzung zunehmend als Herausforderung heraus – eine Bewohnerin erzählt beispielsweise davon, wie im Laufe der Planung die gewünschten Wohnungsflächen immer weiter vergrößert worden seien:

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Da sind dann seltsame Dinge passiert, also auch mit den Wohnungsgrößen, die Geschichte kennst du sicher auch, nicht? (AR: Weiß nicht.) Also wir haben dann alle halben Jahre oder so noch einmal gefragt: ›Wie willst du jetzt wohnen?‹ Wegen der Planung. Damit der Architekt weiß, 1200 Quadratmeter Wohnungen und zehn davon 50 Quadratmeter, wie auch immer. Und in jeder Runde des Nachfragens sind die Wohnungen größer geworden. Also Aspekte von Luxurierung kommen auf alle Fälle vor hier, ja? Es ist uns auch aufgefallen, also es war nicht so, dass man sich Jahre später gedacht hat: ›Mensch, was war da?‹ Sondern wir haben gesagt: ›Was ist bei uns los?‹

Auch ein anderes Mitglied des Ziegelwerks, ein in der Erwachsenenbildung tätiger allein lebender Mann, erinnert sich, dass immer wieder diskutiert wurde, ob seine »Luxuswohnung« angemessen sei. Diese Frage habe ihn auch selbst beschäftigt: Ich habe mir das eine Zeit lang auch überlegt. Aber irgendwie hab’ ich mir das zugestanden und ich denke mir, okay, das ist halt mein Luxus. Ich meine, dafür habe ich weder ein Auto noch einen Fernseher.

Das Ideal der Entscheidungsfreiheit bezüglich der eigenen Wohnung gerät hier in ein gewisses Spannungsverhältnis zu den kollektiv geteilten Normen und Werten der Projekte. Die Ablehnung von Materialismus und individuellem Luxus, die beide Projekte teilen, ist allerdings in einem Fall im christlichen Ideal der Selbstbeschränkung und im anderen in einer kapitalismuskritischen Grundhaltung zu suchen. Auch wenn die normative Vorstellung einer starken kollektiven Orientierung die Möglichkeiten der Umsetzung von individuellen Wünschen in den privaten Wohnungen bis zu einem gewissen Grad beschränkt, so lassen beide Projekte dennoch Spielräume offen. Schließlich betrifft diese Beschränkung vor allem die Frage des Luxus, nicht aber der funktionalen Aufteilung und sonstigen Gestaltung der Wohnungen, hinsichtlich derer es markante Unterschiede zwischen den beiden Wohnprojekten gibt. Im Wohnprojekt Lilie finden sich größtenteils verhältnismäßig konventionelle Grundrisse mit den für das bürgerliche Wohnen typischen Abstufungen von Intimitätsbereichen und persönlichen Sphären einzelner Bewohnerinnen und Bewohner (vgl. Barbey 1984: 97): Küche, Wohnzimmer, Elternschlafzimmer und Kinderzimmer, die oft der Zahl der Kinder entsprechen. Eine gewisse Varianz ist mit Blick auf die Anlage der Küche zu beobachten, die in manchen Fällen eine reine Arbeitsküche ist, in anderen eine Wohnküche, manchmal auch eine vom Wohnzimmer getrennte, größer angelegte Essküche. Diejenigen meiner Interviewpartner und -partnerinnen, die mir auch ihre Wohnung zeigen, lassen häufig, wie durchaus üblich, die intimeren Räume, also Badezimmer und Schlafzimmer aus.

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Eine der Ausnahmen sowohl hinsichtlich dieser Praxis der Wohnungsführung als auch hinsichtlich des Grundrisses stellt eine Bewohnerin Anfang achtzig dar. Die pensionierte Sekretärin mit erwachsenen Kindern zog allein in das Haus ein. Sie bietet mir mitten im Interview von sich aus eine Wohnungsführung an. Ihre Wohnung besteht aus einer Wohnküche, in der das Interview stattfindet, wobei der Küchenbereich durch eine halbhohe Wand teilweise vom Rest des Raumes abgegrenzt ist, sowie aus einem Schlaf-Arbeitsraum, in dem die Bewohnerin mir ihre Arbeitsecke zeigt. Anschließend führt sie mich weiter durch den Schrankraum ins Badezimmer, das auch vom Vorzimmer aus zugänglich ist, was sie als besonders praktisch betont (vgl. Forschungstagebuchnotiz vom 21. 08. 2012). Damit zeigt und thematisiert diese Bewohnerin explizit Räume, die im bürgerlichen Wohnen in der Regel nicht zu jenen gehören, die Gästen präsentiert werden. Die Abgrenzung von den etablierten Konzepten des bürgerlichen Wohnens zieht sich durch das ganze Gespräch mit der besagten Bewohnerin und ist vor dem Hintergrund ihrer Biographie zu sehen. Aus einem bürgerlichen Hause kommend, führte sie, in einem administrativen Beruf tätig, verheiratet und Mutter von drei Kindern, zunächst ein relativ konventionelles Familienleben. Im Laufe der Zeit setzte sie sich immer intensiver mit feministischen Theorien auseinander, studierte nach ihrer Pensionierung Soziologie und promovierte. Auf meine Einstiegsfrage danach, in welchen Konstellationen sie vor dem Einzug in das Wohnprojekt gelebt habe, erzählt sie mir ihre Wohnbiographie seit ihrer Kindheit, wobei die Frage nach dem eigenen Zimmer – ein zentrales Thema der feministischen Auseinandersetzung mit Privatheit (vgl. Woolf 1929) – ein wiederkehrendes Motiv bildet. Sie erwähnt ihren Vater, der ein eigenes Herrenzimmer gehabt habe, während ihrer Mutter ein eigener Raum verwehrt geblieben sei. Sie berichtet von den kurzen Abschnitten in ihrer Kindheit und Jugend, in denen sie ein eigenes Zimmer gehabt habe, sowie davon, wie sie letztlich mit Ende vierzig ihrem Mann gegenüber das Recht auf ein eigenes Zimmer und einen eigenen Schreibtisch durchgesetzt habe. Insofern gehört sie zu jenen, die bereits vor dem Einzug in das Wohnprojekt auf der Suche waren nach anderen Formen des Wohnens und anderen Raumaufteilungen als den im konventionellen bürgerlichen Wohnen üblichen. Im Ziegelwerk sind die Wohnungsgrundrisse insgesamt variantenreicher, was unter anderem mit der größeren Vielfalt an Beziehungskonstellationen zusammenhängt. Die Übereinstimmung zwischen Wohneinheit und Familie, wie sie sich im Idealtypus des modernen Wohnens etabliert hat (vgl. Häußermann / Siebel 2000: 24–29) ist hier keine Selbstverständlichkeit. Neben relativ gewöhnlichen Grundrissen mit Wohnküche, Elternschlafzimmer und Kinderzimmern finden sich hier auch Wohnungen, welche die für das bürgerliche Wohnen typische Funktionsteilung im Innenraum mit der einhergehenden Abstufung von Intimitäten durchkreuzen.

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Abb. 19: Fenster zwischen Wohnküche und Badezimmer in einer der Wohnungen des Wohnprojekts Ziegelwerk. Foto: Ana Rogojanu.

Ein Beispiel dafür ist eine Wohnung, die zunächst als Wohngemeinschaft konzipiert wurde, gegenwärtig aber durch ein Paar genutzt wird. Beim Betreten der Wohnküche fällt eine Verglasung zum Badezimmer hin auf, die unmittelbar den Blick auf die Badewanne freigibt. Der etwa sechzigjährige Mann, der hier mit seiner Partnerin wohnt, kommt von sich aus darauf zu sprechen, als ich nach den Spielräumen für die Planung der eigenen Wohnung frage: Das wurde dann mit den einzelnen Menschen durchgegangen. Nach außen hin schaut alles relativ gleich aus, aber nach innen hin sind die Wohnungen alle ziemlich verschieden. Das ist ein interessanter Aspekt hier. [...] Zum Beispiel unsere spezielle Situation mit dem Bad, mit der Verglasung da, das ist speziell für hier. Das macht normalerweise kein Planer. [...] Aber ich hab’ gesagt, mir ist lieber, ich hab’ im Bad Licht. [...] Da kann man durchschauen. Also wenn man da duscht, schaut man da raus. Und wie gesagt, früher war da [vor dem Fenster, Anm. d. Verf.] ein Garten, da waren Obstbäume, das war natürlich toll.

In dieser Gesprächssequenz steht der Ausblick im Vordergrund. Dennoch ist die Glaswand auch ein Statement mit Blick auf ein bürgerliches Verständnis von Privatheit und Intimität, das Praktiken der Körperreinigung und Situationen des Nacktseins in der Regel den Blicken anderer entzieht. Die Position des Bades mit Ausblick direkt in die Wohnküche durchkreuzt diese Muster.

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Abb. 20: Grundriss der Wohnung von Heinz Wagner, untere Wohnebene. Bestandsplan Arch. Johann Winter, Bearbeitung: Radu Rogojanu.

Eine zweite in ihrer Raumaufteilung besonders markante Wohnung ist die eines zur Gründungsgruppe gehörenden Bewohners Anfang siebzig, der sich im Interview mehrfach vom konventionellen Beziehungsmodell der Kleinfamilie abgrenzt – ich nenne ihn hier Heinz Wagner. Die etwa 130 Quadratmeter große Wohnung verfügt, abgesehen von einem kleinen Gästezimmer und einer Gästetoilette auf der unteren Ebene, über keine abgetrennten Räume. Im unteren Bereich der Maisonette befinden sich die Küche mit einem Essplatz, ein Bereich zum Musizieren sowie eine Sitzecke, im oberen Teil Heinz Wag-

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Abb. 21: Grundriss der Wohnung von Heinz Wagner, obere Wohnebene. Bestandsplan Arch. Johann Winter, Bearbeitung: Radu Rogojanu.

ners Schreibtisch, Bett, Toilette und eine frei stehende Badewanne, alles ohne trennende Wände. Im Interview erklärt mir Heinz Wagner, noch bevor er mir die Wohnung zeigt, die Entscheidung für diese Raumaufteilung mit seinem Beziehungsverständnis: Irgendwann habe ich kapiert: Wenn ich eine Frau liebe, dann darf ich nicht mit ihr zusammenwohnen. Das ist mir bis heute ganz wichtig. [...] Als theoretischer Denker sage ich: Es ist ganz einfach. Welche Energie kann entstehen, wenn man immer zusammen ist? Es kann nur die Energie entstehen, dass man auseinander will, weil die andere ist ja da, und die Sehnsucht ist aber weg. [...] Und mir war

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wichtig, dass ich hier alleine wohne, dass es eher unmöglich ist, hier zu zweit zu wohnen. Wenn ich Musik höre, hört man’s überall, nicht? [...] Ich wohne ja nur in einem Raum und ich hab’ ja nicht einmal ein Bad, Sie werden es dann oben sehen, das ist ja mitten im Raum, aber das ist meine Spinnerei. Das Schöne war, dass man auch so etwas machen konnte.

Anders als der Bewohner der Wohnung mit der Glaswand zwischen Badezimmer und Wohnküche, der die von den Prämissen bürgerlicher Privatheit und Intimität abweichende Gestaltung seiner Wohnung gewissermaßen beiläufig mit dem Wunsch nach schöner Aussicht erklärt, nimmt Heinz Wagner explizit auf die unterschiedlichen, den Planungen zugrundeliegenden Beziehungsmodelle Bezug. Die Gestaltung seiner Wohnung dient ihm als Mittel, um sein von bürgerlichen Leitbildern abweichendes Beziehungsverständnis zu realisieren. Die Toilette ohne Tür und die frei im Raum positionierte Badewanne, Einrichtungen, die der Verrichtung körperbezogener Tätigkeiten dienen, kommentiert er nicht explizit in diesem Zusammenhang, wohl aber die Wahrnehmbarkeit persönlicher Tätigkeiten wie des Musikhörens. Damit spricht er einen anderen Aspekt des bürgerlichen Verständnisses von Privatheit an, nämlich die Möglichkeit der Entfaltung des Subjekts in einem eigenen Raum. Die Ausweitung dieses Raumes auf die ganze Wohnung versteht er als Maßnahme, die das Teilen dieses Raumes mit anderen Subjekten erschwert. Weitere Formen der Abstufung von Öffentlichkeit und Privatheit bzw. Intimität finden sich in der Wohngemeinschaft, deren Einrichtung, wie eine ihrer Bewohnerinnen sagt, »von Haus aus klar« war. Für die Wohngemeinschaft, in der sowohl Familien und Paare als auch Einzelpersonen mit Kindern und ohne Kinder leben, wurden sechs Boxen zusammengelegt. Die Funktionsräume, also Bad, WC und Küche werden gemeinsam genutzt, die individuellen Wohnbereiche seien »reine Privat-Schlaf-Wohnzimmer«, so meine Interviewpartnerin, die seit Beginn des Projekts mit ihrem Partner und der gemeinsamen Tochter dort lebt. Vor allem aber werde auch »der Alltag gemeinsam organisiert«, es werde gemeinsam eingekauft und abwechselnd gekocht. Ihrer Einschätzung nach sei die Architektur insofern ein wichtiger Faktor für das Funktionieren des Zusammenhalts, als das Fehlen bestimmter Einrichtungen in den individuellen Bereichen, das sie als »bewusst eingebauten Mangel« bezeichnet, immer wieder dazu zwinge, mit den anderen in Kontakt zu treten. Grenzziehungen zwischen unterschiedlichen Bereichen, insbesondere zwischen den gemeinschaftlichen, allen Bewohnern und Bewohnerinnen zugänglichen Teilen des Hauses und den individuellen Wohneinheiten hängen aber nicht nur von baulichen Faktoren ab, sondern auch von Nutzungsroutinen und -vereinbarungen der Einzelnen. So diskutiert im Wohnprojekt Lilie die Gruppe beispielsweise seit Beginn des Projekts immer wieder darüber, in welchem Ausmaß die gemeinschaftlichen Flächen für private, gemeinschaftsun-

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abhängige Zwecke genutzt werden dürfen, also ob beispielsweise zu Geburtstagsfesten oder anderen Feierlichkeiten, die von einzelnen Bewohnern oder Bewohnerinnen in den Gemeinschaftsräumen veranstaltet werden, alle anderen Mitglieder eingeladen werden sollen (vgl. Klar / Schattovits 1988a: 117). Auch die Abgeschlossenheit der Wohneinheiten ist nicht durch das Vorhandensein der abschließbaren Wohnungstür endgültig festgelegt. Die Permeabilität dieser Grenze ist vielmehr von alltäglichen Praktiken und unausgesprochenen Konventionen abhängig. Die Studie, die im Wohnprojekt Lilie einige Jahre nach dem Einzug durchgeführt wurde, stellt fest, dass das Offenlassen der Wohnungstür eher die Ausnahme bildet (vgl. Klar / Schattovits 1993: 60). Das überrascht die Bewohner und Bewohnerinnen, die sich im Zuge der Planung mit anderen Wohnprojekten auseinandergesetzt hatten, wenig, wie eine damals als junge Seniorin eingezogene Frau reflektiert: Und dann [als das Haus fertig war, Anm. d. Verf.] sind mit der Zeit alle gekommen und dann hat man sich so beschnuppert usw. und das war natürlich auch alles voller Idealismus, was wir alles machen werden und wie wunderbar und wie herrlich das alles ist. Wir haben aber schon gewusst von den Erfahrungen von ›Wohnen mit Kindern‹ [einem 1984 fertig gestellten Wohnprojekt, Anm. d. Verf.], die zuerst alle Türen offengelassen haben. Das hat vor allen Dingen zunächst einmal den Kindern nicht gepasst, die haben das schon nicht mehr ausgehalten, dass ständig fremde Leute gekommen sind.

Möglichkeiten des Eindringens in die privaten Wohnungen, wie sie im Falle besonders enger, eigentlich schon freundschaftlicher Nachbarschaftsbeziehungen vorkommen, unterliegen expliziten Abmachungen, wie eine Bewohnerin erläutert: Mit meiner jetzigen Nachbarin war ich immer schon befreundet und jetzt haben wir eine Nachbarschaft, wie man sie nur wünschen kann. Wir haben voneinander einen Schlüssel – ich meine, das habe ich früher auch immer gehabt, dass jemand einen Schlüssel hat, wenn man weg ist, damit jemand die Post holt und solche Sachen – aber vor allen Dingen ist es auch so, dass wir einander die Erlaubnis gegeben haben: ›Wenn ich dringend etwas brauche in der Küche, darf ich schauen, ob’s in deinem Kühlschrank drinnen ist und einen Zettel schreiben: Ich habe das und das genommen.‹ Und das finde ich einfach sehr gut. Und auch wenn eine von uns etwas Spezielles kocht oder einen Kuchen backt und so, nicht? Da muss man auch immer schauen, dass es nicht zu viel wird, da sind beide verantwortlich, aber so.

Die hier zitierte Bewohnerin beschreibt eine streng reglementierte Übertretung konventioneller Schwellen des Privaten, die auf einem engen persönlichen Verhältnis der Beteiligten aufbaut. Zugleich betont sie die Wichtigkeit eines gewissen Maßhaltens im Überschreiten von Grenzen.

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Auch im Wohnprojekt Ziegelwerk spielen für Grenzziehungen bestimmte Praktiken der Raumnutzung sowie diesbezügliche Reglementierungen und Konventionen eine Rolle. Das gilt zum einen für die teilöffentlichen Flächen, deren Öffentlichkeitsgrad unterschiedlich ist. Während das Beisl und der Veranstaltungsraum die öffentlichsten Räume sind, ist der Zugang zu Seminarräumen und Kindergarten an eine gewisse Zugehörigkeit geknüpft, die im Fall von Kursen und anderen Veranstaltungen in den Seminarräumen eher situativ, im Fall des Kindergartens institutioneller Art ist. Das Badehaus nimmt diesbezüglich eine interessante Zwischenposition ein. So gibt es wöchentlich einen Tag, an dem das Badehaus allgemein öffentlich zugänglich ist, und zusätzlich wiederkehrende thematische Veranstaltungen, die sich auch an Personen außerhalb des Wohnprojekts wenden. Zu allen sonstigen Zeiten ist die Nutzung des Badehauses den Mitgliedern des »Badeclubs« vorbehalten. Diese müssen eine Schulung zur ordnungsgemäßen Nutzung des Badehauses absolvieren und erhalten anschließend einen Schlüssel, mit dem sie rund um die Uhr Zugang zum Badehaus haben. Die Mitglieder des Badeclubs müssen dabei nicht zwangsläufig Bewohner und Bewohnerinnen des Wohnprojekts sein. Es entsteht hier also eine ausgewählte Teilöffentlichkeit. Ähnlich wie sich die Position der teilöffentlichen Flächen im Spektrum von öffentlich und privat nicht ausschließlich durch ihre baulichen Eigenschaften, sondern vor allem durch die Reglementierung ihrer Nutzung ergibt, ist auch der Grad der Abgeschlossenheit der Wohnungen nicht durch die Konzeption und mögliche Nutzung als eigenständige Wohneinheiten determiniert, sondern Ergebnis sich im Laufe der Zeit wandelnder Konventionen des Umgangs miteinander. Die meisten, die seit dem Beginn des Projekts dabei sind, erzählen, dass zunächst eine sehr viel größere Offenheit geherrscht habe. Für einen Bewohner, der im Interview wiederholt seine Präferenz für eine gewisse Offenheit äußert, ist einer der markanten Unterschiede zu früher der Umgang mit den Türen, die in der Anfangszeit häufig offen gestanden seien: In den ersten Jahren zum Beispiel war es üblich die Türen offen zu haben. Meine Wohnungstür war immer offen, also die ist wirklich offen gestanden. Offen ist sie sowieso jetzt auch, aber sie ist damals offen gestanden. Es war mir wichtig, dass jeder hineinsieht und hineingehen kann. Mich irritiert das jetzt noch, wenn jemand läutet und dann nicht hereinkommt. Ich weiß, dass das üblich ist, ich würde auch nicht irgendwo hineingehen. Aber Freunde, die das wissen, kommen natürlich, die läuten zwar vielleicht an, damit ich weiß, es kommt wer, aber sie gehen gleich rein. Aber das geht noch auf die Zeit zurück, wo eigentlich viele Türen offen waren und man einfach reingehen konnte und das ist inzwischen lange nicht mehr so. Also inzwischen sperren die meisten, glaube ich, überhaupt ab, was ich ja nur in der Nacht tue.

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Damit ist eine bewusste Veränderung der weithin etablierten bürgerlichen Praktiken des Umgangs mit der Tür als Schwelle angesprochen, die sich inzwischen deutlich verändert hat. Die Grenzen zwischen Gemeinschaft und Familie bzw. Individuum werden darüber hinaus nicht nur auf der Ebene der räumlichen Zugänglichkeit, sondern auch auf der Ebene von Interaktionsnormen verhandelt. Eine Bewohnerin des Wohnprojekts Lilie, die als Kind mit den Eltern in einer Dienstwohnung einer sozialen Einrichtung aufwuchs, meint, dass es im Vergleich zu ihrer Wohnsituation als Kind im Wohnprojekt Lilie wesentlich klarere Grenzen gebe und sie hier »viel mehr auch als Familie sein können«. Die Mutter zweier kleiner Kinder, die in einer Zeit in das Wohnprojekt eingezogen ist, als viele der anderen anfangs nicht berufstätigen Mütter wieder arbeiteten, betont die Rückzugsmöglichkeiten. Hier könne sie sagen: »Okay, heute will ich einmal keine Gemeinschaft, dann bleib ich einmal einfach da [in der Wohnung, Anm. d. Verf.]«. Demgegenüber scheint die Abgrenzung in der Anfangszeit des Projekts schwieriger gewesen zu sein. So berichtet eine andere Bewohnerin, die in einer ähnlichen Lebensphase, ebenfalls mit kleinen Kindern und temporär nicht berufstätig, in das gerade fertiggestellte Haus einzog, davon, wie Aufgabenstellungen der Gemeinschaft in den privaten Bereich der eigenen Wohnung eindrangen, beispielsweise, wenn Nachbarn und Nachbarinnen unangemeldet an der Tür klingelten, um gemeinschaftsbezogene Fragen zu klären. Ganz ähnlich waren in der Anfangszeit des Wohnprojekts Ziegelwerk spontane Besuche üblich. So berichtet ein Bewohner davon, wie er in der Zeit, als sein Sohn klein war, regelmäßig mit ihm von Tür zu Tür gegangen sei und unangemeldet Nachbarn und Nachbarinnen besucht habe. Eine auf den ersten Blick sehr klare Trennung zwischen den Wohneinheiten und den Kollektiven der Wohnprojekte wird also nicht nur durch die architektonischen Merkmale des Hauses bestätigt, sondern auch durch Konventionen des Umgangs miteinander bzw. Vorstellungen, in welche persönlichen Bereiche die Mitsprache der Gruppe hineinreichen soll oder nicht. Mit Blick auf beide Aspekte der Privatheit – die baulichen wie die sozialen – werden bei näherem Hinsehen aber auch immer wieder Momente des Überschreitens und Infragestellens der vermeintlich klaren Grenzen deutlich.

Transformationen bürgerlicher Privatheit: Zwischenräume und Schwellensituationen Wie im Zuge der vorangegangenen Ausführungen bereits deutlich wurde, kann die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit auf unterschiedlichen Ebenen gedacht werden. Es sind keineswegs nur räumliche, sondern auch juristische, ökonomische und vor allem soziale Strukturen, die für die Trennung

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von öffentlich und privat konstitutiv sind (vgl. Löw 2001: 168 f.). Diese sollen im Folgenden erläutert werden, um nicht nur Korrespondenzen zwischen räumlichen und sozialen Strukturen in den Wohnprojekten zu untersuchen, wie im vorangegangenen Abschnitt, sondern auch um ein Instrumentarium für die Betrachtung konkreter Situationen und Räume zu erarbeiten, die in den Wohnprojekten die etablierten Grenzen des bürgerlichen Wohnens herausfordern. Die Philosophin Beate Rössler unterscheidet grundsätzlich zwischen drei »Grundtypen« des Verständnisses von Privatheit: erstens die dezisionale Privatheit, die die Möglichkeit impliziert, eigenständig über bestimmte Bereiche zu entscheiden, zweitens die informationelle Privatheit, die den Umgang mit und die Kontrolle von Wissen meint, sowie drittens die lokale Privatheit, die sich auf räumliche Zugänglichkeit bezieht (vgl. Rössler 2001: 19). Rössler vertritt einen normativen Ansatz, in dem sie Privatheit mit Autonomie als positiv besetztem Wert assoziiert. Die damit verbundenen Bewertungen mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit sind zunächst für die Europäische Ethnologie, die sich stärker für die Perspektiven bestimmter Akteure und Akteurinnen sowie für die oft ambivalenten Einbettungen solcher Konzepte in die Alltage der Menschen interessiert, wenig anschlussfähig. Dennoch bietet Rösslers Fokus auf den Aspekt der Kontrolle einen hilfreichen Anknüpfungspunkt: [...] als privat gilt etwas dann, wenn man selbst den Zugang zu diesem ›etwas‹ kontrollieren kann. Umgekehrt bedeutet der Schutz von Privatheit dann einen Schutz vor unerwünschtem Zutritt anderer. ›Zugang‹ oder ›Zutritt‹ kann hier sowohl die direkte, konkret-physische Bedeutung haben, so etwa wenn ich beanspruche, den Zugang zu meiner Wohnung selbst kontrollieren zu können; es kann jedoch auch metaphorisch gemeint sein: in dem Sinn, dass ich Kontrolle darüber habe, wer welchen ›Wissenszugang‹ zu mir hat, also wer welche (relevanten) Daten über mich weiß; und in dem Sinn, dass ich Kontrolle darüber habe, welche Personen ›Zugang‹ oder ›Zutritt‹ in Form von Mitsprache- oder Eingriffsmöglichkeiten haben bei Entscheidungen, die für mich relevant sind. Das Gewicht dieser Definition liegt auf der Idee der Kontrolle, auf der des unerwünschten Zutritts, und damit nicht auf der Idee der Trennung zwischen einem einzelnen Individuum auf der einen Seite und einer Öffentlichkeit aller anderen auf der anderen. (ebd.: 22 f.)

Mit dem Fokus auf die Zugangskontrolle weist Rösslers Konzeption Ähnlichkeiten mit den Ansätzen des Psychologen Irwin Altman auf. Er sieht die Übereinstimmung zwischen »desired« und »achieved privacy« (Altman 1975: 27) als psychologisches Bedürfnis, wobei aber die konkrete Ausgestaltung dieser kulturell, sozial und historisch spezifisch ist. In seinem Konzept erlangt die Frage der Regulierung von Grenzen besondere Bedeutung:

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I propose a framework emphasizing dialectic and boundary control features of privacy, whereby people make themselves accessible or inaccessible to others. Furthermore, I suggest that privacy regulation involves more than use of the physical environment alone, but includes a variety of verbal, nonverbal, environmental, and cultural mechanisms. (Altman 1977: 82)

In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen der Soziologin Monika Wohlrab-Sahr, die eine Annäherung an die Regulierungen von Privatheit und Öffentlichkeit als »Schwellenanalyse« (Wohlrab-Sahr 2011) vorschlägt. Im Sinne der oben angeführten Differenzierungen soll es dabei im Folgenden nicht nur um die Türschwelle gehen, die die Zugänglichkeit von Räumen reglementiert, sondern auch um visuelle Schwellen bzw. um den Umgang mit Körperlichkeit und Gefühlswelten als soziale Praxis der Grenzziehung. Als Schwellen sollen also, wie Irene Nierhaus vorschlägt, Formationen verschiedener Darstellungsmodalitäten und Sprechrichtungen von räumlicher und visueller Organisation in Architektur, Innenausstattung und Bild-Medien [gedacht werden], die die Trennung von Innen und Außen im Sinn bürgerlicher Werte von privat und öffentlich diskursivieren (Nierhaus 2001: 199).

Damit können nicht nur unterschiedliche Räume, bauliche Formationen oder Situationen in den Blick rücken, sondern ein ganzer Komplex an Diskursen, Materialisierungen und Praktiken in ihren jeweiligen Zusammenhängen: Privatheit im Hinblick darauf [auf Grenzziehungen, Anm. d. Verf.] zu untersuchen, heißt zu untersuchen, wie, mit welchen Mitteln und in welchen Bereichen Grenzen zwischen ›drinnen‹ und ›draußen‹ etabliert werden und wie die Sphären vor und hinter der Grenze markiert und in Szene gesetzt werden. Ebenso gehört dazu die Frage, welchen Veränderungen diese Grenzziehungen durch Grenzverschiebungen und thematische Verschiebungen unterliegen. (Wohlrab-Sahr 2011: 36)

Im Zuge der Diskussionen um Grenzziehungen zwischen öffentlich und privat wurden bereits eine ganze Reihe von Formationen untersucht, die teilweise auch den Fokus der folgenden Ausführungen bilden sollen: Der Architekturtheoretiker Mark Jarzombek hat beispielsweise die Entstehung des Korridors in der Architekturgeschichte nachgezeichnet und den Wandel seiner Formen und Funktionen sowie der damit assoziierten sozialen Normen und Interaktionsformen herausgearbeitet (vgl. Jarzombek 2010). Mit Blick auf die Architektur Wiens verweist Irene Nierhaus auf die Eigenschaft von Treppen und Gängen, im Zinshaus und im Massenwohnbau des 19. Jahrhunderts als »Puffer zwischen Innen- und Außenwelt« zu fungieren, sowie auf die Funktion des Gangs im Bassenahaus (Nierhaus 1995: 594). Fenster wiederum wurden wissenschaftlich mehrfach als visuelle Schwellen diskutiert, die Privatheit im Sinne der Kontrolle über persönliche Informationen regulieren (vgl. Gar-

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vey 2005: 158). Irene Cieraad hat in einer historisch angelegten Studie die Entwicklung des »Dutch Window« als architektonischer Form nachgezeichnet und die damit verbundenen Praktiken des Dekorierens von Fenstern als Modus der Selbstdarstellung sowie der Regulierung von Sichtbarkeiten untersucht (vgl. Cieraad 1999b). Pauline Garvey (2005) sowie Hilje van der Horst und Jantine Messing (2006) haben für den norwegischen respektive den niederländischen Raum anhand der Regulierung von Sichtbarkeiten durch den Umgang mit dem Fenster ethnische Unterschiede in der Konzeption des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit herausgearbeitet und das Fenster als Konfliktfeld im Verhältnis von Einwanderern und Einwanderinnen und ansässiger Bevölkerung dargestellt. Diese Studien zeigen, dass Konzeptionen von öffentlich und privat historischen, ethnischen und sozialen Unterschieden unterliegen und sowohl durch bauliche Maßnahmen als auch durch soziale Praktiken realisiert und zudem diskursiv gerahmt werden. Im Folgenden soll es um die Versuche der beiden untersuchten Wohnprojekte gehen, Alternativentwürfe zu etablierten diskursiven, sozialen und kulturellen Grenzziehungen zwischen öffentlich und privat zu entwickeln. Dabei wird explizit der Blick auf Schwellen unterschiedlicher Art und konkrete Räume, Situationen und Praktiken gerichtet. Damit geht es letztlich vor dem Hintergrund der vom konventionellen Wohnbau abweichenden Formen auch um die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen Beharrungskraft und Wandel im Zusammenspiel von Materialisierungen, Diskursen und Praktiken. Im Wohnprojekt Lilie ist das helle, geräumige Stiegenhaus einer der Räume, die sich markant vom konventionellen Wohnbau unterscheiden. Viele der Interviewpartnerinnen und -partner beschreiben die Idee, das Stiegenhaus als Begegnungsraum zu konzipieren, als zunächst eher gewöhnungsbedürftig und geben an, dass dieses nicht ihrem durch bisherige Wohnerfahrungen geprägten Denken entsprach. Dieses Stiegenhaus nimmt durch seine architektonische Konzeption, aber auch durch seine Aneignung eine besondere Stellung im Spektrum von öffentlich und privat ein, die sich deutlich von jener üblicher Stiegenhäuser unterscheidet. Als Ort der Kommunikation funktioniert es nicht so, wie ursprünglich konzipiert. Die Sitzecke werde kaum genützt, was eine Bewohnerin damit erklärt, dass der Raum als Treffpunkt für persönliche Gespräche außerhalb der Privatwohnungen doch zu öffentlich sei: Das ist eine nette Einrichtung, aber dafür, dass man sich wirklich privat dorthin setzt, ist es doch wieder zu öffentlich, und es ist ja doch kalt, gell? [...] Dass jemand privat sagt: ›Na, setz ma uns da schnell her und plaudern wir‹, das ist überhaupt nicht der Fall.

Dennoch werden beispielsweise durch das Wäschetrocknen zum Teil Funktionen aus dem (privaten) Wohnbereich in den (halböffentlichen) Raum des Stiegenhauses ausgelagert. Von meinen Interviewpartnern und -partnerinnen

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Abb. 22: Wohnprojekt Lilie, Stiegenhaus. Foto: Ana Rogojanu.

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wird das Stiegenhaus explizit als zum Wohnbereich dazugehörend beschrieben. Die Aneignung dieses Raumes ist dabei keineswegs auf das Aufstellen von Wäscheständern beschränkt: Auf den Gangflächen befinden sich zahlreiche Topfpflanzen. Bilder aus der Phase der Errichtung des Gebäudes an den Wänden verweisen auf die kollektive Geschichte des Hauses. Vor den Wohnungen stehen Schuhschränke und neben den Eingangstüren hängen Kinderzeichnungen und Heiligenbilder. Durch die individuelle Gestaltung der Bereiche vor den Wohnungen werden Aspekte des sich sonst in den privaten Innenräumen der Wohnung abspielenden Lebens nach außen gekehrt und Informationen über die Bewohner und Bewohnerinnen in den kollektiven Raum des Stiegenhauses getragen. Damit wird das Stiegenhaus zu einem stärker privat konnotierten Raum, als dies in anderen Wohnformen der Fall ist, in denen es einen stärker anonymen Charakter hat. Diese Qualität des Raumes entsteht nicht nur durch seine materielle Aneignung, sondern in einem hohen Ausmaß auch durch das vertraute Agieren der Menschen miteinander. Freundliches Grüßen, kurzes Erkundigen nach dem Befinden oder knappes Sprechen über die Nachbarin gehören zu den üblichen Umgangsformen (vgl. Forschungstagebuchnotizen 3. 8. 2012 und 14. 1. 2013). Auch die Kleidung, in der Bewohner und Bewohnerinnen ihre Wohnung verlassen, um etwa Wäsche aufzuhängen verweist auf die Vertrautheit miteinander (vgl. Forschungstagebuchnotiz vom 23. 1. 2013). Im Stiegenhaus des Wohnprojekts Lilie herrscht also keineswegs die übliche Anonymität eines Durchgangsraums. Vielmehr ist es durch seine architektonische Gestaltung, durch seine materielle Aneignung sowie durch das Agieren der Menschen zu einem Raum kollektiver Privatheit geworden, der eine Stufe zwischen der für das bürgerliche Wohnen typischen, zumindest dem Konzept nach klaren Trennung zwischen dem als anonym geltenden öffentlichen Raum und der privaten Familienwohnung darstellt. Die Etablierung einer solchen kollektiven Privatheit und die damit notwendig werdende Kommunikation spielt, so der Soziologe Beat Fux, eine wesentliche Rolle für die Entwicklung von Zusammengehörigkeitsgefühlen: [...] Entäusserung des Privaten, das Ausdrücken von Intimität [...] dient also der Kontinuität und Wiedererkennbarkeit einer Gruppe, eines Milieus oder auch einer ganzen Gesellschaft und bildet damit auch die Grundlage für Prozesse der Abgrenzung sowie des Ein- und Ausschliessens. (Fux 2008: 64 f.)

Das Badehaus des Wohnprojekts Ziegelwerk stellt eine andere Form der Verlagerung von mit Intimität assoziierten Praktiken in einen kollektiven Raum dar. Anders als öffentliche Bäder erfüllt es nicht nur Funktionen des kollektiven Badens als Freizeitevent. Vielmehr soll es, so die Intention der Planung, auch Funktionen der unmittelbaren Körperreinigung aus einem der – so zumindest das bürgerliche Verständnis – intimsten Bereiche der privaten Wohnung her-

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ausholen und in einen kollektiven Raum übertragen. Bürgerliche Verständnisse von Privatheit und Intimität werden zusätzlich durch die Praxis der Nutzung als FKK-Bad bewusst und aktiv herausgefordert. Dieser Prozess der Verschiebung alltäglicher Praktiken der Körperreinigung in einen kollektiv genutzten Raum läuft dem, was der Soziologe Peter R. Gleichmann als »Verhäuslichung der Vitalfunktionen« (Gleichmann 1976) beschreibt, zuwider. Nicht zuletzt sprechen Bewohner und Bewohnerinnen selbst in diesem Zusammenhang von »kollektiver Intimität« (Ehs 2008: 106). Zugleich wird damit das Reinigen des Körpers verstärkt mit Erlebnisqualitäten versehen, ein Prozess, den Gert Selle als Umkehrung der Normen des bürgerlichen Wohnens deutet, im Rahmen derer das Bad »als hygienische Einrichtung effektiviert und damit auch entsozialisiert« (Selle 2011: 88) wurde. In den Diskussionen um die Ausstattung des Badehauses wird deutlich, dass es neben der Ablehnung bürgerlicher Konzepte von Intimität vor allem auch um die Frage der Gewichtung von gemeinschaftlichen und privaten Räumen geht. Einer Bewohnerin ist dieser Aspekt als zentrales Thema der frühen Planungsphase in Erinnerung geblieben: Die Badewannen waren eine Frage zum Beispiel. Weil es war ja der Ansatzpunkt, wir leisten uns ein super Badehaus, aber wir brauchen daheim dann nur eine Dusche, ja? [...] Das waren viele Diskussionen, die natürlich dann schon immer leicht auch diesen ideologischen Anhauch haben, also so Gemeinschaftlichkeit versus Individualität, das war immer wieder ein Thema auch. Also wie viel privaten Platz braucht man oder darf man sich nehmen. Oder was ist privat?

Die Idee, dass durch eine hochwertige Ausstattung der Gemeinschaftsräume die Ansprüche im privaten Bereich zurückgehen würden, stieß in der Praxis an ihre Grenzen. Letzten Endes verfügen nun doch viele Wohnungen über eigene Badewannen. Das Wohnprojekt Ziegelwerk versucht also, etablierte Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten aufzulösen, indem es intimen – bzw. genauer: im Verlauf der Geschichte intim gewordenen – Körperpraktiken einen kollektiven Raum gibt. Die in der Planungsphase formulierten und baulich umgesetzten Intentionen schlagen sich jedoch auch hier nicht immer so wie erwartet in der Nutzung nieder. Diese Verlagerung von Funktionen kann als eine »Entdifferenzierung in der funktionalen Topographie des privaten Raumes« (Linke 2016: 369) gesehen werden, die sich in den kollektiven Raum hinein fortsetzt. Die Germanistin Angelika Linke beschreibt diese gemeinsam mit veränderten Praktiken des Sitzens und Liegens als Element »eines neuen Lebensgefühls, eines neuen Selbstverständnisses wie eines neuen Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit, das die 1968er auszeichnet« (ebd.). Damit verweist sie auf einen weiteren Aspekt, der für das Verständnis der Bedeutung des Badehauses wichtig ist: die »Sozialsemiotik des Körpers« (ebd.: 382).

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Denn wie bereits deutlich wurde, geht es im Wohnprojekt Ziegelwerk nicht nur um das gemeinsame Baden an sich, sondern auch darum, dass dieses nackt ausgeübt wird. So wie für spezifische Stile des Liegens und Sitzens ließe sich damit sagen, dass die »transformative Potenz körperlicher Performanz [...] in der Ausbildung, Aneignung und Diffusion kollektiver Identitäten eine zentrale Rolle zu spielen [scheint]« (ebd.). Sowohl das Stiegenhaus im Wohnprojekt Lilie als auch das Badehaus im Ziegelwerk sind Räume, die die etablierten Grenzziehungen zwischen privat und öffentlich im Wohnbau aufweichen: Sie schaffen einen Bereich kollektiver Privatheit und Intimität. Dennoch sind sie in ihrer Funktion nicht unmittelbar vergleichbar. Während im Fall des Stiegenhauses ein Konzept bürgerlicher Privatheit vom Individuum und der Familie auf das Kollektiv ausgeweitet wird, stellen das Badehaus und die Art und Weise, in der das Baden dort praktiziert wird, eher ein Statement gegen etablierte Vorstellungen bürgerlicher Privatheit dar. In beiden Häusern gibt es weitere Räume, die sich der üblichen Einordnung in die Kategorien privat und öffentlich entziehen. Sowohl im Wohnprojekt Lilie als auch im Wohnprojekt Ziegelwerk sind Flächen vorzufinden, die zunächst aufgrund ihrer räumlichen Nähe zu und ihrer direkten Verbindung mit einzelnen Wohnungen als diesen zugehörig erscheinen, ebenso aber für andere Bewohner und Bewohnerinnen zugänglich sind. Im Wohnprojekt Lilie sind dies konkret die gemeinschaftlich nutzbaren, jedoch bestimmten Wohnungen vorgelagerten Terrassen. Eine Prämisse der Planung war, dass alle Wohnungen über zugehörige Balkone oder Terrassen, im ersten Stock auch Teile des Innenhofes, verfügen sollten. Während die Balkone nur von den Wohnungen aus zu begehen sind, sind Terrassen und Innenhof sowohl von den anliegenden Wohnungen als auch vom Stiegenhaus aus erreichbar. Diese doppelte Zugänglichkeit gibt ihnen eine unklare Stellung im Spektrum von öffentlich und privat, die sich nur temporär und im Kontext spezifischer Handlungsroutinen präzisieren lässt. Diese zweifache mögliche Bedeutungszuschreibung wird beispielsweise in einer Gesprächssequenz des bereits vorgestellten Ehepaars Kaltenbrunner deutlich: Maria K.: Damit [mit dem Innenhof, Anm. d. Verf.] wurde den Leuten, die im ersten Stock wohnen, ein sogenannter Balkon geschaffen. Die können dort rausgehen. Es ist für uns alle eine kleine Grünecke, aber für die halt konkret. Es gibt dort auch zwei Sitzgruppen, wo die Leute von den Wohnungen, die da ihren Ausgang haben, ihre private Terrasse haben. Hermann K.: Das heißt, die können zum Teil direkt dort hinausgehen aus der eigenen Wohnung oder müssen halt über den Gang. Also alle Terrassen sind auch vom Gang her, also vom Stiegenhaus aus erreichbar. Maria K.: Das ist mein Vorteil, weil wenn ich im Sommer nicht da bin, kann

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ich meiner Nachbarin sagen: ›Schau auf meine Bewässerung, was die Blumen machen‹, ohne dass sie in meine Wohnung geht. Also die geht von außen und schaut, ob etwas gegossen werden muss. Hermann K.: Auf der anderen Seite, wenn man gemütlich mit jemandem beieinander sitzt/ Maria K.: Muss man damit rechnen, dass jemand kommt von der anderen Seite. Hermann K.: ›Hach, habts Besuch!‹ (lacht) Aber es ist nicht so/ Maria K.: Genau.

Mit dem Verweis auf den Innenhof als »private Terrasse« für die Bewohner und Bewohnerinnen des ersten Stockes und die Grünecke »für uns alle« ist bereits die Doppelfunktion auch der anderen Terrassen des Wohnprojekts angesprochen. Im weiteren Verlauf wird durch das Skizzieren hypothetischer Situationen diese unklare Zuordnung der Terrassen im Spektrum von privat versus gemeinschaftlich bestätigt. Mit dem Verweis auf das Blumengießen von außen beschreibt Maria Kaltenbrunner eine Situation, in der die Zugänglichkeit der mehr oder weniger privaten Terrasse gewissermaßen hilft, die Privatheit der Wohnung zu wahren: Die zur Wohnung der Kaltenbrunners gehörenden Blumen können direkt von außen gegossen werden. Darauf folgt unmittelbar Hermann Kaltenbrunners Hinweis, dass andererseits die Terrassen eben doch nicht so ganz privat seien. Ohne auf eine konkrete Situation Bezug zu nehmen, die sich tatsächlich zugetragen hat, weist er auf die grundsätzliche Zugänglichkeit auch von außen hin und skizziert einen hypothetischen Fall der Störung der Privatheit auf der Terrasse, den er aber gleich mit dem vagen Hinweis »es ist nicht so« abschwächt. Diese Positionierung der Terrassen in einem undefinierten Spektrum zwischen privat (im Sinne von zu den Wohnungen gehörend) und gemeinschaftlich (im Sinne von für alle zugänglich) wird auch in der Art und Weise deutlich, in der andere Bewohner und Bewohnerinnen über diese Räume sprechen. Eine Frau, die eine der beiden zum Innenhof hin orientierten Wohnungen im ersten Stock bewohnt, beginnt ihre Wohnungsführung mit dem zu ihrer Wohnung gehörenden Teil des Innenhofs. Die auf den ersten Blick eindeutig erscheinende Zugehörigkeit der Terrassen zu den daran angrenzenden Wohnungen relativiert sie gleich darauf mit dem Hinweis, dass die Terrasse der Nachbarn eine Zeit lang von einer anderen Wohnung mitbenutzt worden sei: Also da gehört einmal die Terrasse dazu, das ist der Innenhof im ersten Stock und darunter ist die Kapelle, soweit kennen Sie sich, glaube ich, eh aus, gell? (AR: Ja.) Und das ist unsere Terrasse und vis-à-vis gibt’s eine andere Terrasse, die von den drüberen Nachbarn genutzt wird, zwischenzeitlich einmal mit dieser Wohnung dort gemeinsam, aber das hat sich wieder geändert. Genau. Das ist einfach der Innenhof. Der ist idyllisch. Ich liebe ihn. (lacht) Genau.

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Ein Interviewpartner, der in einem anderen Stockwerk wohnt, weist im Zuge der Hausführung darauf hin, dass man im Innenhof die Gartengarnitur der in der angrenzenden Wohnung lebenden Familie sehen könne. Daran anschließend weist er darauf hin, dass der Innenhof auch immer wieder ein Ort für spontane Treffen sei und deutet dabei an, dass dieser Raum nicht als streng privat wahrgenommen und genutzt wird. Besonders brisant wird die Frage der Zuordnung zum privaten oder zum gemeinschaftlichen Bereich vor allem, wenn es um konkrete Nutzungsmöglichkeiten und -situationen geht. Dabei werden auch Unterschiede zwischen der anfänglichen Konzeption der Planung und der alltäglichen Nutzung deutlich. Eine allein lebende pensionierte Sekretärin etwa entschied sich gegen eine in ihren Augen schönere Wohnung ein Stockwerk höher, weil diese mit einer – gemeinschaftlich zugänglichen – Terrasse ausgestattet ist. Und dann hab’ ich noch eine Fehlentscheidung getroffen zum Schluss. Und zwar ist die Familie Kaltenbrunner zu mir gekommen, [...] ob ich mit ihnen tauschen würde. Und ich habe gesagt: Ich will nicht mehr, ich habe [während der Planungsphase, Anm. d. Verf.] schon so viel herumgetauscht, jetzt bleibe ich da. Und das bereue ich eigentlich ein bisschen. Weil die eine große Grünfläche vor der Wohnung haben. Und ich habe mir aber gedacht: Nein, ich will meinen Balkon für mich alleine haben, ich will nicht, dass das eine öffentliche Terrasse ist, aber es hat sich dann herausgestellt, dass diese kleinen Terrassen wirklich nur von den Anrainern benützt werden und dass kaum jemand draufgeht.

Der prinzipiellen Zugänglichkeit der Terrassen vom Stiegenhaus aus steht also offensichtlich ein Empfinden von Privatheit entgegen, das sich aus der intensiveren Nutzung der Terrassen durch die anliegenden Wohnungen ergibt. In Einzelfällen wird dies überwunden, allerdings hängt das stark vom persönlichen Verhältnis zwischen den »Anrainern« und den »fremden Nutzern« der Terrasse ab. Hier zeigt sich unter anderem die Abstufung von Vertrautheitsgraden zwischen Mitgliedern der Gründungsgruppe und später eingezogenen Bewohnern und Bewohnerinnen. Ein Mann Anfang sechzig, der seit der Fertigstellung des Gebäudes mit seiner Familie in einer Wohnung lebt, deren Balkone und Terrassen sich nicht zum Gärtnern eignen, weicht beispielsweise zu diesem Zweck auf die Terrassen vor anderen Wohnungen aus: Da in dieser Wohnung hat eine ältere Frau gewohnt und die Terrasse daneben, das war so eine Sache, die war nicht privat, aber auch nicht so ganz gemeinschaftlich, nicht? Weil das ist immer so eine Geschichte, offiziell sind das keine privaten Terrassen, aber man verwendet sie halt doch nicht gemeinschaftlich, wenn da jemand seine Wohnung davor hat, nicht? Und das da war immer so mein Gartenbereich. Das hab’ ich immer sehr, sehr gerne gemacht. Nur, als die dann gestorben ist, ist wer anderer hierhergezogen und damit hat sich mein Garten da oben er-

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Abb. 23: Wohnprojekt Lilie: Blick von der Dachterrasse auf eine jener Terrassen, die sowohl von den Wohnungen als auch vom Stiegenhaus aus zu begehen sind. Foto: E. Rosar.

ledigt. Und jetzt tu ich da gar nichts mehr. Also ich tu da nicht anderen Leuten vor den Fenstern herum.

Inzwischen hat er ein kleines Glashaus auf der Terrasse eines ebenfalls seit der Gründung an dem Projekt beteiligten Ehepaars aufgestellt, in einem Bereich nahe dem Stiegenhaus, der kein allzu starkes Eindringen erfordert: Wir hätten gerne mehr zusammenhängende Terrasse. Und dieser Bereich ist so halb privat, halb nicht-privat und jetzt haben wir da hinten so ein Glashaus für irgendwelche Kohlrabis oder einen Salat. Ideal wäre natürlich, wenn wir das alles hätten [die ganze Terrasse, Anm. d. Verf.]. Das wäre so eine nette Größe, aber das geht halt nicht. Und da teilt man halt so seine Sachen ein bisschen auf.

Die konkrete Nutzung der Terrassen im Spektrum von privat und gemeinschaftlich hängt also von immer wieder ausgehandelten und temporär festgeschriebenen Nutzungskonventionen ab, wie mir ein anderer Bewohner während der Hausführung erzählt: Diese Terrassen werden auch ein bisschen zum Gärtnern benutzt, da sehen Sie ein paar Kübel, die dann von den entsprechenden Personen genutzt werden, und das muss nicht die Frau sein, die da wohnt, da gibt es andere, die sich einfach da zusammenreden: ›Darf ich da ein paar Kübel aufstellen mit ein paar Paradeiserpflanzen?‹ Und die dann die Paradeiserpflanzen ziehen oder bei uns haben wir

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Abb. 24: Die beiden Terrassen im Innenhof des Wohnprojekts Lilie. Foto: Bettina Noesser, NOESSER PADBERG ARCHITEKTEN GmbH.

auch so eine Art Beet auf der Terrasse gehabt von jemandem, die dort Kräuter zieht. Das ist so ein bisschen durchmischt.

Stärker festgeschrieben werden solche Zuordnungen durch das Platzieren von Dingen im Raum, die der Abgrenzung dienen. So haben beispielsweise die beiden Familien in den zum Innenhof weisenden Wohnungen im Laufe der Jahre begonnen, durch das Aufstellen von Pflanzen eine Sichtbarriere und eine symbolische Grenze zwischen »ihren« Innenhofbereichen aufzubauen. Eine andere Bewohnerin interpretiert diese Praxis mir gegenüber im Sinne eines allgemeinen Wandels der Gruppe von einer starken Gemeinschaftsorientierung hin zu einem vermehrten Bedürfnis nach »Rückzug«: Die Erfahrung, die die Architekten bei diesem gemeinsamen Wohnen gemacht haben [sie bezieht sich dabei auf das Projekt Wohnen mit Kindern, Anm. d. Verf.], ist: Zuerst alle alles gemeinsam und dann so wie bei uns unten im Innenhof, dass man dann doch Wände aufstellt. Nicht? Da ist dann auch, wenn Sie runterschauen, Grünzeug zwischen den beiden Seiten. Und es hat sich [...] dann doch vermehrt dieses Bedürfnis nach Rückzugsmöglichkeiten auch im gemeinsamen Wohnen gezeigt.

Es zeigt sich also, dass die bauliche Anordnung der Zugänge zu den Terrassen bzw. zum Innenhof die für das bürgerliche Wohnmodell typischen Grenzzie-

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hungen zwischen den privaten Räumen der Wohnungen und den – im etablierten Wohnbau anonymen und auf ihre Funktion als Zugang und Schleuse reduzierten – gemeinschaftlichen Erschließungszonen überwinden sollte. Durch ihre grundsätzliche Zugänglichkeit von beiden Seiten her bilden die Terrassen einen nicht eindeutig definierten Raum. Sowohl auf der Ebene der Raumkonzeption, im Sprechen und Denken über diese Räume, als auch auf der Ebene der Raumpraxis, also der sich immer wieder neu einspielenden Nutzungsroutinen, sowie auf der Ebene der materiellen Raumaneignung verfestigen sich jedoch immer wieder – zumindest temporär – Definitionen dieser Räume. 6 Vergleichbar mit den Terrassen des Wohnprojekts Lilie gibt es auch im Wohnprojekt Ziegelwerk eine Vielzahl von Flächen, die eigentlich als Gemeinschaftsflächen definiert sind, aufgrund ihrer räumlichen Nähe zu bestimmten Wohnungen jedoch in einem gewissen Ausmaß als diesen zugehörig empfunden werden. Dazu zählen sowohl die Erschließungsflächen, also die Laubengänge, die von den Bewohnerinnen und Bewohnern der jeweiligen Wohnungen durch Blumentöpfe und Sitzgelegenheiten vor der Tür angeeignet werden, als auch die Balkone, die an der Südseite des Hauses durchgehend mehrere Wohnungen verbinden 7, sowie grundsätzlich die den Wohnungen vorgelagerten Bereiche des Freiraums. Wie verschieden mit diesen Räumen umgegangen wird, verweist auf internalisierte Normen, die auf einem Sinn für das rechte Maß sowie auf impliziten Konzepten von Privatsphäre gründen. Wiederholt werde ich darauf hingewiesen, dass es den einzelnen Bewohnerinnen und Bewohnern selbst überlassen sei, sich bestimmte Bereiche des Freiraums anzueignen. »Jeder darf gestalten, aber man darf sich halt nicht übermäßig viel nehmen«, erläutert eine Bewohnerin mit Blick auf einen eher zurückgezogenen, weitläufigen Gartenbereich während eines Rundgangs, der im Rahmen einer von der Universität Wien organisierten Veranstaltung für Kinder stattfindet (Forschungstagebuch vom 5. 10. 2013). Sobald es aber um in unmittelbarer Nähe zu bestimmten Wohnungen gelegene Bereiche geht, erhalten diese eigentlich als gemeinschaftlich definierten Räume zunehmend private Konnotationen. Nur in Ausnahmen komme es dabei zu Grenzüberschreitungen und Konflikten, wie eine Bewohnerin, die selbst in eher zurückgezogener Lage wohnt, ausführt: Es gibt ganz selten dann so Diskussionen. Wenn jemand unten am Bambus was rausschneidet und der, der die Wohnung dahinter hat, sagt: ›He, bitte, wieso schneidets ihr den Bambus vor meinem Haus weg?‹

6 Der Abschnitt zu den gemeinschaftlichen Terrassen stützt sich zum Teil auf Rogojanu 2015b. 7 In den Planunterlagen sind diese als »Laubengang« ausgewiesen, ich halte mich hier an die Bezeichnung Balkon, weil mein Interviewpartner diese verwendete.

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Abb. 25: Wohnprojekt Ziegelwerk, Bambuslaube in einem gemeinschaftlichen Gartenbereich, aber vor einer Wohnung. Foto: Ana Rogojanu.

Die meiste Zeit über werden Räume wie etwa die Bambus-Laube als Bereiche der jeweiligen Personen respektiert. Eine Bewohnerin erzählt im Rahmen des Rundgangs, dass die Bambus-Laube eigentlich Gemeinschaftsraum sei, sie sich dort aber nie hinsetzen würde. Solche Räume würden dann doch eher von den nebenan wohnenden Menschen benutzt. Offenbar gibt es eine stille Übereinkunft über die Zuordnung dieser Räume. Während beispielsweise die Laube als privater Bereich anerkannt wird und daher nicht der zusätzlichen Abschirmung bedarf, haben sich insbesondere auf jenen durchgehenden Balkonen, die keine Erschließungsflächen darstellen, Nutzungsmuster verändert und Praktiken der Abgrenzung mithilfe von Dingen etabliert. Verfechter der Offenheit sehen dies kritisch, so erzählte etwa ein Bewohner: Der Balkon ist durchgängig gebaut, das war ein Balkon für alle. [...] Der ist Gemeinschaftsfläche. Und früher ist man sich da irgendwie auch gegenseitig besuchen gegangen. [...] Solange, bis mein Nachbar angefangen hat, also zuerst hat er da unten so ein Kistl aufgestellt und ich habe noch gesagt: ›Ja, aber das muss offen bleiben, damit man durchkann.‹ Aber inzwischen kann man da nicht mehr durch und er hat das auch oben völlig abgeschirmt. So entsteht das halt. Ich denke mir halt, mir ist das eigentlich wurscht, ich wäre zwar nach wie vor mehr fürs Offene, aber es ist halt so.

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Am Beispiel jener Räume, die sich nicht klar in das etablierte Schema der Differenzierung von öffentlich und privat einordnen lassen, zeigt sich besonders klar, dass Privatheit nicht nur eine Frage der baulich geregelten Zugangsmöglichkeiten ist. Vielmehr wird deutlich, dass sich die Raumnutzung stets an etablierten gesellschaftlichen Normen orientiert und teilweise – aber eben nur teilweise und nicht völlig losgelöst von etablierten Vorstellungen – im Zusammenleben neue Normen ausgehandelt werden. Der Soziologe Karl Hörning verwendet für solche Prozesse den Begriff der Handlungsnormalität: Es sind soziale Praktiken, die Handlungsnormalitäten begründen: Durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun bilden sich Handlungsgepflogenheiten heraus, die sich zu Handlungsmustern und Handlungsstilen verdichten und damit bestimmte Handlungszüge sozial erwartbar machen. (Hörning 2004: 19)

Zusätzlich verstärkt werden solche Erwartbarkeiten durch das entsprechende Platzieren von Gegenständen im Raum. In beiden Projekten zeichnen sich Tendenzen der Be- und Abgrenzung dieser in ihrer Zuordnung zunächst unklar angelegten Räume aus. So ähnlich die Bewohnerinnen und Bewohner beider Projekte mit den nicht eindeutig zuordenbaren Räumen umgehen, so verschieden nutzen und bewerten sie die Schwellen zwischen den Wohnungen und den gemeinschaftlichen oder halb-öffentlichen Bereichen. Während im Wohnprojekt Lilie in der Erschließung besonderes Augenmerk auf eine gewisse Privatheit der Wohnungseingänge gelegt wurde, schafft die Architektur des Ziegelwerks mit ihren großen Fensterfronten und den zum Laubengang hin orientierten Badezimmerfenstern Einblicke in Bereiche des Wohnens, die üblicherweise den Blicken von außen entzogen bleiben. Während meiner ersten Besuche ist einer der stärksten Eindrücke die ungewöhnliche Transparenz: Die etwa 4,80 Meter hohen Wohnbereiche sind auf einer Seite fast vollständig verglast – mit Ausnahme eines Betonbandes, das etwa auf der Höhe der oberen Wohnebene quer verläuft. Die andere Seite der Wohnungen, auf der sich auf zwei Ebenen aufgeteilt die Bade- und Schlafräume sowie die Zugänge zu den Wohnungen befinden, ist ebenfalls horizontal durchgehend verglast, allerdings nicht bis zum Boden hinunter. In die Wohnräume eröffnen also die riesigen Fensterfronten großzügige Einblicke, aber auch die in Richtung Laubengang orientierten Schlaf- und Badezimmer sind grundsätzlich einsehbar. Die Architektur kehrt also sowohl die öffentlicheren als auch die privateren bzw. intimeren Bereiche des Wohnens nach außen und macht sie zumindest potenziell für Blicke zugänglich. Dass dies insbesondere in der Zeit, in der das Haus geplant wurde, ungewöhnlich war, reflektieren auch Bewohner und Bewohnerinnen selbst, wie beispielsweise ein etwa sechzigjähriger Mann, der selbst im Architekturbereich arbeitet:

Transformationen bürgerlicher Privatheit: Zwischenräume und Schwellensituationen

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Abb. 26: Wohnprojekt Ziegelwerk, Laubengang. Foto: Ana Rogojanu.

Wir haben eben gesagt, wir machen Laubengänge und auch mit Räumen, die zum Laubengang hinschauen. Auch mit Küchen oder sonst irgendwas. Das war damals alles ein No-Go in der Architektur. Also zur Erschließung darf man nicht schauen, da kann man ja hineinschauen und was weiß ich nicht alles. Die garantierte Privatheit war also quasi ein absolutes Architekturcredo, da hat’s nichts anderes gegeben, nicht?

Auch wenn diese Abkehr von dem etablierten Konzept der Privatheit auf den ersten Blick mit der antibürgerlich orientierten 1968er-Bewegung korrespondiert, so fällt doch auf, dass die Bewertungen der Einsehbarkeit durch einzelne Mitglieder der Gruppe ebenso unterschiedlich sind wie die konkreten Strategien ihrer Reglementierung. Marion Samek, wie ich sie hier nenne, stieß mit ihrer Familie in einer frühen Phase zur Gruppe hinzu. Sie gehört zu denjenigen, die die großen Fensterflächen zunächst kritisch bewerteten, und betont, dass sie sehr mit dem Architekten gestritten habe, weil sie während der Planungsphase befürchtete, dass sie sich letztlich wie eine Schaufensterpuppe in einer Auslage fühlen würde. Ihre weiteren Ausführungen nehmen jedoch eine Wendung hin zur Wertschätzung der Entscheidung des Architekten. Nach den ersten zwei Tagen des Wohnens im Ziegelwerk habe sich ihr »dieser Raum [...] erschlossen«. Ihr Befürworten der großen Fenster gründet jedoch nicht auf einer Veränderung ihrer Einschätzung hinsichtlich der Einsehbarkeit des Wohnbereichs, sondern auf einem Perspektivenwechsel: In ihrer letztlichen Argumentation geht es nicht

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Einschließen und Ausschließen: Materielle und soziale Grenzziehungen und Öffnungen

mehr um den Blick von außen nach innen, sondern um den Blick von innen nach außen. Marion Samek bewertet die Qualität des Raumes aufgrund des hereinscheinenden Lichts und der Ausblicke als positiv. Diese Doppelfunktion der Fenster als etwas, das sowohl Einblicke, als auch Ausblicke ermöglicht, zieht sich durch die Interviews. So gibt es eine Reihe anderer Interviewpartner und -partnerinnen, die ebenso die Qualität der großzügigen Ausblicke sowohl in ästhetischer Hinsicht als auch als Teilhabe am Gemeinschaftsleben betonen. Hinsichtlich der Bewertung der Einsehbarkeit gibt es ganz explizit unterschiedliche Positionen. Manche Bewohner und Bewohnerinnen definieren diese nicht als Problem und fördern durch ihre Wohnpraktiken die Auf lösung der Grenzen der bürgerlichen Intimität zusätzlich, wie etwa ein Bewohner, der an anderer Stelle im Interview auch auf die Bedeutung des Nacktbadens als Ausdruck einer bestimmten politischen Kultur hinweist: Ich renne in der Früh immer nackt herum. Und in den ersten Jahren [...] ist die Paula [Name geändert, Anm. d. Verf.] von drüben immer mit ihren Verwandten da herumgegangen und hat ihnen das Haus gezeigt und da haben sie halt heruntergeschaut und sind vorbeigegangen und ich hab’ mir damals gedacht: ›Na gut, wenn ich nackt herumrenne, müssen die damit leben, dass sie mich nackt sehen. Okay, das ist nicht mein Problem.‹

Die Rundgänge zeigen unterschiedliche Strategien mit der Einsehbarkeit der Wohnungen umzugehen. Geht man die Laubengänge entlang, so sind in vie-

Abb. 27: Wohnprojekt Ziegelwerk: Verglasung mit Blick in den Wohnbereich. Foto: Ana Rogojanu.

Transformationen bürgerlicher Privatheit: Zwischenräume und Schwellensituationen

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len Wohnungen die Jalousien heruntergelassen, nur hin und wieder erhält man tatsächlich Einblicke in die Badezimmer. Auch die Wohnbereiche werden mit unterschiedlichen Strategien mal mehr, mal weniger vor Einblicken geschützt. Manche Bewohner und Bewohnerinnen haben Vorhänge angebracht, andere lassen auch hier ihre Jalousien herunter. Eine besonders häufige Form des Sichtschutzes bilden vor den Fenstern aufgestellte Pflanzen, die Einblicke einschränken, aber nicht gänzlich verhindern. Im Unterschied zu den Badezimmern bleiben die Wohnbereiche insgesamt verhältnismäßig stark einsehbar. Eine weitere Strategie des Rückzugs und der Erzeugung von Privatheit im Sinne des Schutzes vor Einblicken bildet die Wahl von Wohnungspositionen in geschützteren, weniger frequentierten Bereichen des Wohnprojekts. Gerade die Praktiken des Sichtschutzes bieten innerhalb der Gruppe immer wieder Diskussionsstoff. Im Zuge der Wohnungsführungen weisen mich mehrere Personen darauf hin, dass es einmal die Überlegung gegeben habe, im Bereich des Kinderspielplatzes einen Durchgang zum nahegelegenen Folgeprojekt einzurichten. Dies sei dann aber abgelehnt worden, weil die Bewohner und Bewohnerinnen der dort liegenden Wohnungen Störungen befürchtet hätten. Hinsichtlich der Bewertung dieses Umstandes zeichnet sich in meinen Interviews eine deutliche Gender-Differenz ab. Ein männlicher Bewohner etwa verweist darauf, dass die Leute, die in diesem hinteren Bereich wohnen, »etwas schwierig« seien. Ihnen sei es immer unangenehm gewesen, wenn Leute vor dem Fenster vorbeigingen, deshalb hätten sie auch so viele Pflanzen aufgestellt. Er behauptet, dass er selbst damit kein Problem hätte, meint aber, dass die Einsehbarkeit seiner Frau auch nicht so recht wäre. Dass der Durchgang

Abb. 28: Unterschiedliche Umgangsweisen mit den Fenstern des Wohnprojekts Ziegelwerk. Foto: Ana Rogojanu.

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Einschließen und Ausschließen: Materielle und soziale Grenzziehungen und Öffnungen

letztlich gescheitert sei, deutet er als Resultat davon, dass die falschen Leute am falschen Platz wohnen. Auch ein anderer Bewohner meint, dass der geplante Durchgang deshalb nicht verwirklicht wurde, weil den dortigen Bewohnern und Bewohnerinnen die Kombination aus regem Personenverkehr und Einsehbarkeit der Wohnungen unangenehm gewesen sei. Seine Partnerin, die sich uns für die Wohnungsführung anschließt, beurteilt selbst die großen Glasflächen kritisch. Sie berichtet davon, dass sie insbesondere in der Zeit, in der sie ihr Kind gestillt habe, die Einsehbarkeit der Wohnungen als irritierend empfunden habe. Die Materialität des Ziegelwerks bricht durch die Einblicke, die sie potenziell in die Wohnbereiche eröffnet, mit den etablierten bürgerlichen Grenzziehungen. Ähnlich wie im Umgang mit den privat-gemeinschaftlichen Bereichen zeichnet sich aber auch im Wohnprojekt Ziegelwerk die Beharrungskraft von Praktiken ab. Während manche Bewohner und Bewohnerinnen die Abkehr von bürgerlichen Wohnnormen ganz bewusst im Einklang mit der Architektur vollziehen, greifen andere wiederum zu Mitteln der Reglementierung von Sichtbarkeiten, die im Ergebnis konventionellen Wohnformen verhältnismäßig nahekommen. In beiden hier untersuchten Wohnprojekten lassen sich also Strategien beobachten, durch eine Kombination an baulichen Maßnahmen und Alltagspraktiken die etablierten Grenzziehungen zwischen als privat und als gemeinschaftlich bzw. öffentlich verstandenen Bereichen in Frage zu stellen und Alternativen dazu zu entwickeln. Das geschieht auf unterschiedlichen Ebenen bzw. mit Blick auf unterschiedliche Verständnisse von Privatheit: durch die Verortung von Praktiken in Bereichen unterschiedlichen Grades der Kollektivität, auf der Ebene der Zugänglichkeit bestimmter Räume und mit Blick auf die Einsehbarkeit unterschiedlicher Bereiche des Wohnens, die als Form der informationellen Privatheit gesehen werden kann.

Raumtheoretische Perspektivierungen III Der Kunsthistoriker Roland Meyer und die Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner beschreiben Architektur als eine »Technik der Grenzziehungen [...], die ein Verhältnis von Innen und Außen schafft und damit soziale Ein- und Ausschlüsse ermöglicht« (Meyer / Kamleithner 2013: 98). Dabei plädieren sie dafür, nicht nur »bauliche Abschirmungen« in den Blick zu nehmen, sondern die »Wechselwirkung von sozialen, kulturellen, rechtlichen und politischen Unterscheidungen und baulichen Grenzziehungen [...], ebenso wie die sozialen Praktiken der Sicherung, Kontrolle und Überschreitung von Grenzen« (ebd.). In diesem Sinne sind auch die beiden hier untersuchten Gebäude als Systeme von Grenzziehungen und Schleusen zu sehen, die ein spezifisches

Raumtheoretische Perspektivierungen III

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Verhältnis zwischen unterschiedlichen sozialen Einheiten etablieren, das eng mit den weltanschaulichen Orientierungen der mitplanenden Bewohner und Bewohnerinnen zusammenhängt. Dem Vorschlag des Architektursoziologen Herbert Schubert folgend, lassen sich Gebäude mit Blick auf die »persönlichen und sozialen Distanzen« untersuchen, »die die Struktur der individuellen Intimitäts- und Sozialitätssphären repräsentieren«, wobei es fixe ebenso wie semifixe und informelle Konfigurationen gibt (Schubert 2005: 9). Beide hier untersuchten Wohnprojekte entwickeln Systeme von Grenzziehungen und Interaktionsbereichen zwischen Individuen und unterschiedlich weit gefassten Kollektiven. Von innen nach außen gedacht, geht es zunächst um die Positionierung der Individuen im unmittelbaren sozialen und räumlichen Nahbereich der Wohnung. Als nächste Stufe der Grenzziehung kann das Verhältnis zwischen den einzelnen Wohneinheiten und den Kollektiven der Wohnprojekte gesehen werden. Und schließlich werden spezifische Verhältnisse zwischen den Wohnprojekten und der städtischen Umgebung geschaffen, indem teilweise, in mehr oder weniger kontrollierter Form, Außenstehende Zugang zu Räumlichkeiten und Veranstaltungen erhalten. Die Art und Weise, wie diese Grenzziehungen vollzogen werden, entspricht in einem großen Ausmaß den in den jeweiligen Gruppen vertretenen gesellschaftlichen und politischen Orientierungen und Beziehungskonzepten. Die konkreten Mittel der Grenzziehungen sind vielfältig. Architektur setzt, und damit ist eine zentrale Perspektive angesprochen, sowohl als bauliche Struktur als auch mitsamt ihrer Ausstattung und Einrichtung physische Grenzen und reguliert materiell Zugänglichkeiten. Wie Albena Yaneva exemplarisch anhand der Erschließungssysteme eines Universitätsgebäudes gezeigt hat, werden durch Stiegenhäuser, Wegesysteme, Türen und Schlösser soziale Gruppen voneinander abgegrenzt und zueinander in Beziehung gesetzt. Das Schloss – und man könnte das auf andere bauliche Versatzstücke ausweiten – agiert hier als »Mediator, der soziale Beziehungen konstituiert« (Yaneva 2012a: 79, Hervorhebung im Original). Neben den physischen Grenzen sind es vor allem auch die Anordnungen von Wegen bzw. die Lokalisation von Funktionen in den Projekten, die Bereiche unterschiedlicher Öffentlichkeitsgrade schaffen. Eine weitere Form der Grenzziehung oder, im Kontext der beiden hier untersuchten Wohnprojekte, vielmehr Grenzüberschreitung erfolgt über die persönliche Aneignung von im konventionellen Wohnbau üblicherweise als mehr oder weniger anonym charakterisierten Räumen durch das Positionieren persönlicher Gegenstände, die Verlagerung von Praktiken aus dem Wohnbereich sowie durch Formen der Interaktion. In der Kombination aus gebautem Raum, materieller Aneignung dieses Raumes – nach Martina Löw im Sinne des Platzierens von Dingen in diesem Raum – sowie Handeln der Menschen entsteht also ein spezifischer Raum, der einen gewissermaßen kollektiv privaten Charakter hat. Dieser vermittelt sich wesentlich über etwas, das ich als atmo-

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Einschließen und Ausschließen: Materielle und soziale Grenzziehungen und Öffnungen

sphärische Qualität beschreiben möchte. 8 All die angeführten Eigenschaften und Elemente von Raum in einem weiten Raumverständnis, die Architektur mit ihren Platzverhältnissen, Licht- und Temperatureigenschaften, die aktive Gestaltung und Spuren der Aneignung des Raumes durch seine Bewohner und Bewohnerinnen sowie die Bewohner und Bewohnerinnen selbst mit ihren Formen des Agierens im Raum, fügen sich in der Raumwahrnehmung von Menschen, die diesen Raum betreten, zur Gesamtheit einer Situation, die als Stimmung erlebt wird (vgl. Hasse 2012a: 14; Thibaud 2003: 284 f.). Wichtig, um das Funktionieren dieser Stimmungen als Merkmal der Grenzziehung bzw. der Charakterisierung spezifischer Räume zu verstehen, ist der Blick auf die wahrnehmenden Subjekte und ihre Relation zu den betreffenden Räumen sowie auf konventionalisierte räumliche Arrangements, vor deren Hintergrund diese Wahrnehmung stattfindet. Andreas Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Bourdieu von »affective habitus« (Reckwitz 2012: 255), der durch das wiederholte Erleben von bestimmten räumlichen Konstellationen mitsamt ihren atmosphärischen Qualitäten entsteht. Mit Blick auf die entsprechenden »affective spaces« stellt Reckwitz fest: »Such spatial environments constitute crucial constellations for social and cultural reproduction in general and the reproduction of affective relations in particular« (ebd.). Insofern können jene Räume der beiden Wohnprojekte, die so etwas wie eine kollektive Privatheit schaffen, als wesentliche Elemente in der Gestaltung der sozialen Beziehungen mitsamt ihren emotionalen Komponenten innerhalb der Projekte gesehen werden. Anders als bei den von Reckwitz angeführten Beispielen für Räume, für die bereits gesellschaftlich etablierte atmosphärische Konventionen bestehen – Kirchen, Bürogebäude, Gefängnisse –, handelt es sich hier um »affective spaces« eines neuen Zuschnitts, die sich aber unter Rückgriff auf bekannte Versatzstücke herausbilden. Zusätzlich werden Grenzziehungen durch alltägliche Praktiken und Verhaltensnormen realisiert. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die grundsätzlich versperrbare Wohnungstür, die von ihrer Materialität her potenziell eine verhältnismäßig starke Schranke herstellt. Im Umgang mit ihr kann diese Rigidität der Abgrenzung jedoch aufgeweicht werden. Das ist etwa der Fall, wenn spontane, unangekündigte Besuche unter Nachbarn und Nachbarinnen üblich werden, oder wenn überhaupt die Türen offen stehen. »Physische Barrieren«, wie Roland Meyer und Christa Kamleithner feststellen, funktionieren also vor allem »in Verbindung mit kollektiven Gewohnheiten« als Grenzen (Meyer / Kamleithner 2013: 99). Die Architektur ist ein Element in einem Ensemble von unterschiedlichen Faktoren, durch die Raum in einem umfassenderen Verständnis – in Kombination aus gebauter Struktur, materieller Aneignung sowie Normierungen des 8 Vgl. ausführlich dazu Rogojanu 2016a.

Raumtheoretische Perspektivierungen III

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Handelns – als System von Grenzziehungen geschaffen wird. Dabei verknüpfen sich materielle und soziale Elemente, also die materiellen Grundlagen des Raumes und die entsprechenden Handlungsnormen und Interpretationsweisen nicht eindeutig und nicht dauerhaft. Christa Kamleithner stellt fest: Gebrauchsweisen von Architektur müssen erlernt und in Gewohnheiten verankert werden, sie stellen sich nicht spontan ein. Architekturen oder andere Artefakte können Gewohnheiten aber abrufen oder auch stören. (Kamleithner 2013a: 154)

Auch Sophia Prinz und Stephan Moebius gehen davon aus, dass der gebaute Raum einerseits durch die existierenden kulturellen Praktiken und semantischen Zusammenhänge determiniert wird, aber gleichzeitig aufgrund seiner materiellen und ästhetischen Gestalt auch neue Praktiken und Gebrauchsweisen evozieren kann. (Prinz / Moebius 2012: 15)

In diesem Spannungsfeld aus Konventionen und eingespielten Gewohnheiten einerseits und neuen Konstellationen und Praktiken andererseits bewegen sich die hier untersuchten Projekte. In beiden Projekten wurde explizit versucht, dem üblichen Muster der Trennung von öffentlichen und privaten Sphären Alternativen entgegenzusetzen. Die Architektur wurde dabei gewissermaßen als Agentin der Veränderung institutionalisierter räumlicher Muster begriffen. Im Rückblick der Bewohner und Bewohnerinnen auf den Planungsprozess wird deutlich, dass diese manchen Konventionen zuwiderlaufenden architektonischen Lösungen bereits in der Planung Unbehagen auslösten. Solche Widerstände gegen vom Gewohnten abweichende Praktiken konstatiert auch Karl H. Hörning etwa mit Blick auf Versuche der Durchtechnisierung des Wohnens und weist darauf hin, »wie tiefsitzendende Gewohnheiten und Gepflogenheiten das Wohnen durchziehen« (Hörning 2012: 39). Zugleich nennt Hörning mit Blick auf andere Praxisfelder auch Beispiele dafür, wie sich durch das Auftauchen neuer Dinge und Technologien »immer neue Gepflogenheiten und Praxisnormen einspielen« (ebd.: 40). Das gilt auch für die hier untersuchten Projekte. Ungewöhnliche Raumkonstellationen bringen neue, sich im Laufe der Zeit und teilweise in einem Prozess der kollektiven Aushandlung konstituierende Praktiken hervor, die die anfängliche Skepsis in den Hintergrund treten lassen und die Diskrepanz zwischen räumlichen Konventionen und Materialität des Raumes bis zu einem gewissen Grad überwinden. Die Materialität der Gebäude regt hier teilweise Nutzungspraktiken an, die jenseits der Konventionen liegen, die Akteure und Akteurinnen auf Basis ihrer bestehenden Wohnerfahrungen internalisiert haben, aber auch nicht unbedingt immer den intendierten Veränderungen im Sinne der Visionen neuer Nutzungsmuster entsprechen.

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Einschließen und Ausschließen: Materielle und soziale Grenzziehungen und Öffnungen

Die Entwicklung neuer Formen findet dabei in enger Korrespondenz mit vertrauten Mustern und Normen der Raumnutzung statt. Die Art und Weise, »wie Räume genutzt werden, resultiert wesentlich aus den Gewohnheiten, die ihre Nutzer und Nutzerinnen mitbringen« (Kamleithner 2013a: 154), wie Christa Kamleithner festhält. Es entwickeln sich zwar teilweise neue Praktiken, allerdings vor dem Hintergrund »kulturelle[r] Sinnschemata«, die in den fortlaufenden Praktiken [...] nicht so sehr als von außen kommende Normen und Sinnangebote [wirken], sondern als kulturelle Vorannahmen und Wissensbestände, die sich den Handlungen der Akteure weithin unthematisch unterlegen und ihnen bestimmte Handlungszüge nahelegen und andere als unpassend ausschließen und auf diese Weise kollektive Handlungsmuster und Gepflogenheiten stabilisieren. (Hörning 2012: 34 f.)

Die Norm der Wahrung eines gewissen Abstands zu den Fenstern der Nachbarn bzw. Nachbarinnen beispielsweise zeigt sich als internalisierte Vorstellung eines angemessenen Verhaltens, ohne dass es dafür explizit prädefinierte Sanktionen von außen gäbe. Während manche Normen kollektiv geteilt, gemeinsam transformiert und in neuer Gestalt wieder etabliert werden, zeigen sich auch Unterschiede in den Vorstellungen des angemessenen, guten, richtigen Wohnens unter den Bewohnern und Bewohnerinnen. Diese werden beispielsweise deutlich, wenn man den unterschiedlichen Umgang mit den Fensterfronten des Wohnprojekts Ziegelwerk betrachtet. Die Architektur der hier präsentierten Gebäude sollte – so die bewusst reflektierte Intention beider Gruppen – neue Lebensformen hervorbringen und war somit als Instrument sozialer Transformation intendiert.9 Der Versuch, neuartige Grenzziehungen zwischen verschiedenen sozialen Einheiten zu etablieren, ist ein Bereich, in dem die engen Verschränkungen zwischen der materiellen Seite des Raumes, Raumkonzeptionen und alltäglicher Raumpraxis besonders deutlich werden. Dabei zeichnet sich ein fortlaufendes Spannungsverhältnis zwischen Transformation und Beharrlichkeit ab. Neue räumliche Konstellationen erfordern sowohl auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene eine Anpassungsleistung seitens der Subjekte, die in unterschiedlicher Weise, unter Rückgriff auf und in Bestärkung von konventionalisierten räumlichen Praktiken oder stärker affirmativ im Sinne der Entwicklung neuer Routinen erfolgt. Die Transformation von Privatheitskonventionen zeigt, dass das Wechselverhältnis von sozialem Alltag und Architektur komplexer ist, als es die Vorstellungen von Architektur als Ausdruck von gesellschaftlichen Ordnungen oder von Architektur als Motor gesellschaftlicher Erneuerung suggerieren. 9 Für weitere Beispiele aus der Architekturgeschichte vgl. Kamleithner 2013a; Hörning 2012: 29 f. Zum utopischen Charakter des Architekturdiskurses vgl. auch Löffler 2013: 27.

Raumtheoretische Perspektivierungen III

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SCHLUSSBETRACHTUNGEN Theoretische Schlussfolgerungen Architektur richtet Situationen ein, sie lenkt Materialflüsse und Kommunikationsprozesse und bestimmt darüber die Verteilung und Wahrnehmbarkeit von Körpern, Dingen und Praktiken. Dies schließt dauerhafte wie ephemere Interventionen ein, verschiedenste Formen der Manifestation sozialer Netze ebenso wie die Programmierung von Abläufen. Ein solcher erweiterter Architekturbegriff zielt auf eine Auseinandersetzung nicht nur mit architektonischen Objekten, sondern mit sozialen Prozessen auch im Vor- und Umfeld des Bauens und den Prozessen des Gebrauchs, der Aneignung und Transformation von Architektur. (Hauser / Kamleithner / Meyer 2013: 9)

In ihrer Einleitung zu dem Sammelband »Architekturwissen« nennen Andrea Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer des Weiteren zwei zentrale Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Architekturforschung, nämlich die Frage nach dem »Kontext von architektonischen Objekten«, die sich auf Architektur als Ausdruck gesellschaftlicher Orientierungen richtet, und die Frage nach ihrer »Funktion in sozialen Räumen« (ebd.), die Architektur als sozialen Einflussfaktor ins Zentrum des Interesses stellt. Ein so verstandener erweiterter Architekturbegriff bildete den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Im Vorfeld fand eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven auf die Zusammenhänge von Architektur bzw. gebautem Raum und sozialen Prozessen statt, von denen die hier genannten zwei mögliche sind, die in ihrer Kombination der in der Europäischen Ethnologie vertretenen Denkfigur der Reziprozität von (gebautem) Raum und sozialen Prozessen (vgl. Omahna / Rolshoven 2013: 7) entsprechen. Versuche, diese Zusammenhänge analytisch zu erschließen, finden sich beispielsweise in den Arbeiten von Silke Steets, die die Prozesse des Entwerfens und Bauens als Externalisierung, das Gebäude als Objektivation und die Aneignung im Sinne der Übernahme von Anregungen und Bedeutungen des gebauten Raumes als Internalisierung beschreibt (Steets 2015). Eine andere Perspektive ist die von Martina Löw, die zwei Prozesse der Raumkonstitution unterscheidet, nämlich Spacing als das Platzieren von Gütern und Menschen und Syntheseleistung als Zusammenfassung dieser platzierten Güter und Menschen zu etwas, das als Raum wahrgenommen wird (Löw 2001). Perspektiven wie diese regen dazu an, die Prozesse der Entstehung des gebauten Raumes sowie seiner Aneignung in Relation zueinander zu untersuchen, wie dies teilweise auch in jüngeren Diskussionen innerhalb der Europäischen Ethnologie vorgeschlagen wird (Rolshoven / Omahna 2013; Löff ler 2013).

Dementsprechend war der erste Ansatzpunkt dieser Arbeit, ein Feld zu suchen, in dem sich Entstehung und Gebrauch von Architektur in ihren Zusammenhängen untersuchen lassen. Auch wenn sowohl Steets (2015: 246) als auch Löw (2001: 223) das dialektische Verhältnis bzw. die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Prozessen der Raumkonstitution betonen, lag es zunächst nahe, Externalisierung und Internalisierung bzw. Spacing und Syntheseleistung als getrennte und im zeitlichen Verlauf aufeinanderfolgende Prozesse zu deuten. Diese Perspektive prägte bis zu einem gewissen Grad die empirischen Zugänge dieser Arbeit, beispielsweise die Interviewleitfäden, die sich am zeitlichen Verlauf von Planen, Bauen und Wohnen orientierten, wobei über die Frage nach den Wohnbiographien auch der Aspekt der vorangegangenen Raumerfahrungen einbezogen wurde. Im Analyseprozess entfernte ich mich zunehmend von dieser Vorstellung der voneinander zu trennenden aufeinanderfolgenden Prozesse. Dazu trug einerseits die Auseinandersetzung mit anderen theoretischen Konzepten bei. Henri Lefebvres Differenzierung zwischen wahrgenommenem, konzipiertem und gelebtem Raum (vgl. Lefebvre 1991: 36–46; Dünne 2006: 297–299) und Johanna Rolshovens Vorschlag für eine Adaptierung von Lefebvres Raumtriade für die europäisch-ethnologische Raumforschung als Korrespondenz zwischen Repräsentationsraum, gebautem Raum und erlebtem bzw. gelebtem Raum (Rolshoven 2012) schaffen zwar eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Aspekten des Raumes, lassen aber grundsätzlich die Zusammenhänge zwischen diesen offen und lassen sich weniger leicht den unterschiedlichen Phasen im Leben eines Gebäudes zuordnen. Auch die Auseinandersetzung mit dem empirischen Material führte bald zu einer Modifikation der anfänglichen Perspektive. Es wurde deutlich, dass Externalisierung, Objektivation und Internalisierung ebenso wenig scharf voneinander abzugrenzen sind wie Spacing und Syntheseleistung. Vor diesem Hintergrund gab ich die Idee einer Trennung zwischen Raumproduktion und Raumaneignung als einander mehr oder weniger unvermittelt gegenüberstehenden Prozessen als analytische Grundlinie der Arbeit auf. Einen anregenden Vorschlag, die Zusammenhänge von (gebautem) Raum und Gesellschaft jenseits einer Dynamik der Manifestation gesellschaftlicher Ideen im Bauen einerseits und der Produktion oder Reproduktion von gesellschaftlichen Ordnungen im Zuge des Gebrauchs des Gebauten andererseits zu denken, machen Kamleithner und Meyer, indem sie Raum als »Gesamtheit der Relationen und Vernetzungen von Körpern, Dingen und Zeichen [fassen], die durch materielle und symbolische Praktiken entstehen und aufrechterhalten werden« (Kamleithner / Meyer 2013: 14). Architektur begreifen sie als ein Element dieser Netze, zu deren Organisation und Ausgestaltung sie maßgeblich beiträgt: Wo welche Tätigkeiten stattfinden, wie sozialer Austausch sich gestaltet, was sinnlich wahrnehmbar wird und was nicht, wird von ihr zwar nicht

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Schlussbetrachtungen

bestimmt, wohl aber mit beeinflusst. Dabei bildet Architektur weder bestehende soziale Ordnungen ab, noch bringt sie von sich aus neue hervor, sondern als Teil eines dynamischen Gefüges interagiert sie mit anderen Elementen. (ebd.: 14 f.)

Die Elemente dieses Gefüges sind vielfältig: Sie sind materieller Art wie beispielsweise die gebauten Strukturen, aber auch die darin befindlichen mehr oder weniger mobilen Gegenstände, die sowohl mitsamt ihren physischen Qualitäten und Widerständigkeiten als auch mit ihren sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, ihrer Haptik, ihren Gerüchen etc. an der Produktion von Raum teilhaben, ebenso wie mit ihren persönlich-biographischen als auch ihren allgemeiner kulturell anerkannten Bedeutungsgehalten. Diese verbinden sich mit mentalen Raumkonzepten und historisch-kulturellen Normen, die auf diskursiv und medial vermittelten Raumbildern ebenso gründen wie auf konkreten vorangegangenen Raumerfahrungen. Schließlich sind die wahrnehmenden und handelnden Akteure und Akteurinnen mitsamt ihren Denkmustern und alltagspraktischen Routinen, aber auch in ihrer aktiven Auseinandersetzung mit Raumbildern und den vorgefundenen materiellen Strukturen zentrale Elemente der Konstitution von Raum. Raum in seiner sozialen Relevanz als Gefüge aus diesen Elementen zu denken, hilft, einfachen Denkmustern wie »society makes architecture« oder »architecture makes society«, wie sie beispielsweise von Albena Yaneva kritisiert werden (Yaneva 2012b: 25–38), oder der Idee einer gleichsam glatten Übersetzung von gesellschaftlichen Strukturen in den gebauten Raum und in weiterer Folge eines Zurückwirkens dieses Raumes auf gesellschaftliche Strukturen zu entgehen. Das Modell des Gefüges, wie Kamleithner und Meyer es vorschlagen 1, verspricht, der Komplexität der Interdependenzen und Interaktionen verschiedener Elemente von Raum in einem erweiterten Verständnis gerecht zu werden. Zugleich scheinen Systematisierungsvorschläge wie jene von Silke Steets, Martina Löw oder Johanna Rolshoven, die zwischen unterschiedlichen Dynamiken der Übertragung zwischen verschiedenen Elementen bzw. Prozessen der Konstitution von Raum oder Ebenen der Raumbetrachtung differenzieren, hilfreich. Sie schärfen den Blick darauf, wie sich die verschiedenen Elemente des Raumes zu einem Ensemble zusammenfügen, auch wenn sich die vorgeschlagenen Differenzierungen bei der Betrachtung konkreter empirischer Fallbeispiele nicht stringent und gleichsam als harte Unterscheidungen aufrechterhalten lassen, sondern eng miteinander verflochten scheinen. Ich habe versucht, im Hauptteil dieser Studie, aus meinem empirischen Material heraus unterschiedliche Perspektiven auf die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Elementen des Raumgefüges zu entwickeln und mich so der

1 Zur Konzeption von Architektur als Gefüge in Anlehnung an Deleuze und Guattari vgl. auch Delitz 2009: 95.

Theoretische Schlussfolgerungen

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Art und Weise zu nähern, wie Architektur als »Medium des Sozialen« (Delitz 2010) funktioniert. Aus der theoretisch-empirischen Auseinandersetzung mit den zwei von mir untersuchten Fallstudien, die darauf ausgerichtet war, Zusammenhänge zwischen Weltanschauungen und Visionen des Zusammenlebens, gebautem Raum und alltäglichem Handeln greifbar zu machen, haben sich insbesondere drei Perspektivierungen als zentral herausgestellt, die – mit Johanna Rolshoven gesprochen – exemplarisch mögliche Relationen zwischen Repräsentationsräumen, gebautem Raum und gelebtem bzw. erlebtem Raum veranschaulichen: erstens die Produktion und die Effekte von gebautem Raum als Materialisierung gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, zweitens die Verortung, Rahmung und Anordnung von Aktivitäten und Praktiken, drittens die Materialisierung und Performativität von Grenzziehungen zwischen unterschiedlichen sozialen Einheiten. Der Abschnitt »Gemeinsam Haus bauen: Zur Materialisierung von Aushandlungsprozessen« richtet den Blick zunächst darauf, welche Dynamiken zur Entstehung des gebauten Raumes beitragen. Dabei zeigen sich unterschiedliche Einflussmöglichkeiten verschiedener Akteure und Akteurinnen auf Basis ihrer sozialen Positionen, aber auch auf Basis ihrer Rolle im Planungsprozess und der Wissensressourcen, auf die sie jeweils zurückgreifen können. Thema der Aushandlung sind dabei Aspekte, die weit über die gruppenspezifischen Visionen des Zusammenlebens, die den Rahmen der beiden Wohnprojekte bilden, hinausgehen. Teil des materiellen Resultats der Planung sind aber nicht nur die Konzeptionen jener Akteure und Akteurinnen, die sich letztlich durchsetzen, sondern immer auch gewisse Eigenqualitäten des Materiellen, die von den Planungsbeteiligten nicht vollends kontrollierbar sind. Die Planung kann also, mit Silke Steets gesprochen, als Prozess der Externalisierung von Visionen, Werthaltungen und Präferenzen gesehen werden, der gewissen inneren Dynamiken sowohl der je spezifischen Figurationen der Architekturproduktion als auch der sozialen Relationen der beteiligten Akteure unterliegt. Die Objektivation ist aber mehr als das Ergebnis der Externalisierung, es gibt eine gewisse Unschärfe bei der Übersetzung von Ideen in den gebauten Raum. Einmal in der Welt, erhält das so entstandene Gebäude eine relevante Rolle in sozialen Prozessen. Für die an der Planung beteiligten Gruppenmitglieder vergegenwärtigt es die im Zuge der Planung stattfindenden Gruppenentwicklungen: das Definieren gemeinsamer Ziele, das gegenseitige Kennenlernen, aber auch die mehr oder weniger gut gelösten Konflikte. Damit übt es einen wesentlichen Einfluss auf die Beziehungen innerhalb der Gruppe, sowohl unter den Mitgliedern der Anfangszeit als auch zwischen ihnen und den später Eingezogenen, aus. Zudem realisiert es durch die Gestaltung von Grundrissen und anderen baulichen Details jene Ideen, die sich durchsetzten. Ohne das darin stattfindende Leben zu determinieren, schafft die Architektur An-

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Schlussbetrachtungen

regungen, Möglichkeiten und Hindernisse und bildet damit einen Rahmen für bestimmte Nutzungsformen. Diese sind mit dem Bau nicht ein für alle Mal endgültig festgelegt, erhalten aber doch aufgrund der hohen »Externalisierungskosten« (Steets 2015: 175) in Form des Bauens eine verhältnismäßig starke Stabilität. Der Blick auf Aneignungsprozesse im Verlauf der Zeit zeigt, dass neue Bewohner und Bewohnerinnen oder sich verändernde biographische Situationen der anfänglichen Beteiligten immer wieder zu Veränderungen von Nutzungsmustern, aber auch zu Eingriffen materieller Art etwa in Form von Grundrissveränderungen führen. Das Gebäude ist also nicht mit seinem Bau bis ins Letzte determiniert, in seiner Materialität setzt es aber Veränderungen mitunter auch Widerstand entgegen. Der Abschnitt »Gewählte Nachbarschaft: Aktivitäten, Alltag, Organisation« untersucht das Funktionieren von Architektur als Medium des Sozialen über die Rahmung von und Beteiligung an Aktivitäten und Praktiken. In beiden untersuchten Wohnprojekten werden einerseits durch ein bestimmtes räumliches Angebot Aktivitäten, die eng mit der jeweiligen weltanschaulichen Ausrichtung der Projekte verbunden sind, im unmittelbaren Wohnumfeld verortet und damit eine Verbindung zwischen sozialer Bezugsgruppe und Nachbarschaft geschaffen. Zugleich werden die Wohnpraktiken von Menschen, die einander auch jenseits üblicher Nachbarschaftsbeziehungen bekannt sind, in räumlicher Nähe zueinander angeordnet und ein spezifisches Ideal von aktiver Nachbarschaft propagiert. Dadurch entsteht im Vergleich zu anderen urbanen Settings eine weitgehende Kongruenz zwischen räumlicher und sozialer bzw. emotionaler Nähe. Der gebaute Raum fungiert dabei als Stabilisator dieses Arrangements, insofern, als er die anfangs als zentral definierten Aktivitäten langfristig an die Gebäude und ihre Bewohner bzw. Bewohnerinnen bindet und Ansprüche und Ideale laufend beiläufig vergegenwärtigt und an neue Gruppenmitglieder vermittelt. Darüber hinaus wird durch eine gewisse Trägheit, die Praktiken des Wohnens aufgrund ihrer Materialität innewohnt, die Verbindung mit der sozialen Gruppe der Nachbarn und Nachbarinnen tendenziell gefestigt. Zudem wird deutlich, dass die Materialität der Räume mit ihren baulichen Strukturen ebenso wie ihrer Einrichtung Aktivitäten und Praktiken aktiv mitgestaltet. Dafür sind, wie Moebius und Prinz feststellen, sowohl die »formalmaterielle« wie auch die symbolische Ebene des Dinggebrauchs (Prinz / Moebius 2012: 17) von Bedeutung. Einerseits setzt die Materialität des Raumes gewisse Impulse für bestimmte Nutzungsweisen, während sie sich anderen widersetzt, sie erschwert oder unmöglich macht, womit eine zentrale Überlegung der Akteur-Netzwerk-Theorie angesprochen ist. Andererseits ergibt sich die soziale Effektivität der Architektur immer neben ihrer Materialität auch über ihre Zeichenhaftigkeit und die mit bestimmten räumlichen Arrangements assoziierten Normen und Vorstellungen, die unterschiedliche soziale Reichweite haben können, und deren Wirksamkeit letztlich von den im Raum agieren-

Theoretische Schlussfolgerungen

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den Subjekten, deren Denkmustern und Handlungsstilen sowie deren aktivem Umgang mit den Impulsen der Räume abhängt. Folglich können Raumnutzungen von den ursprünglichen Visionen abweichen, auf die hin der gebaute Raum geplant wurde. Mit der Art und Weise, in der sie ihre Praktiken dem Raum und den Raum ihren Praktiken anpassen, werden die handelnden Subjekte selbst Teil des räumlichen Arrangements im Sinne eines relationalen Raumverständnisses (Rolshoven 2003; Rolshoven 2013c; Löw 2001). Über die explizit beabsichtigten Aspekte der Verortung von Aktivitäten und Wohnpraktiken hinaus ergeben sich sowohl aus der Eigenlogik der Materialität als auch aus der Eigenlogik der Praktiken auch nicht-intendierte Effekte der Nachbarschaft. Das Wohnen umfasst mehr als jene Aspekte, die die Beteiligten der beiden Projekte zu teilen beabsichtigten. Das erfordert eine ständige Anpassung aneinander und Abstimmung aufeinander. Die Architektur vermittelt also auch hier in vielschichtiger Weise soziale Beziehungen, sowohl in intendierter Weise als auch darüber hinaus. Der Abschnitt »Einschließen und Ausschließen: Materielle und soziale Grenzziehungen und Öffnungen« beschäftigt sich mit dem gebauten Raum als Medium des Sozialen durch einen Blick auf seine Beteiligung an Grenzziehungen zwischen sozialen Akteuren und Akteurinnen. Dabei wird deutlich, dass die architektonischen Konzepte der beiden untersuchten Gebäude in einem hohen Ausmaß der Art und Weise entsprechen, in der im Rahmen der jeweiligen weltanschaulichen Ausrichtungen der Projekte soziale Einheiten und ihr Verhältnis zueinander gedacht werden. Als Systeme von Grenzziehungen und Schleusen funktionieren die Gebäude allerdings nicht ausschließlich auf Grundlage ihrer Eigenschaft, Bewegungsströme zu kanalisieren, bauliche Grenzen und Zugänge zu schaffen, sondern vor allem in Kombination mit den affektiven oder atmosphärischen Qualitäten, die sich aus den materiellen Grundlagen mitsamt ihren sinnlichen Eigenschaften und der Aneignung des Raumes durch die darin handelnden Akteure und Akteurinnen ergeben. Des Weiteren werden Grenzziehungen innerhalb alltäglicher Verhaltensnormen realisiert, die sich in den Gebäuden etablieren und die unterschiedliche Effekte der baulichen Grundlagen bedingen. Diese Verbindung von Raum und Praktiken findet in einem Spannungsfeld von Konventionen und neuen Konstellationen statt und verfügt, wie für die beiden untersuchten Projekte gezeigt wurde, immer nur über eine relative Stabilität, die sich im Laufe der Zeit auch wieder auf lösen und anderen Praktiken Platz machen kann. Im Blick auf die in den drei Hauptkapiteln dieser Studie zentralen Perspektiven auf die Art und Weise, wie der gebaute Raum als Medium des Sozialen funktioniert, wird deutlich, dass es ein komplexes Raumverständnis braucht, um die wesentlichen Dynamiken erfassen zu können. Versucht man, die von Johanna Rolshoven als Orientierung für die Raumanalyse vorgeschlagenen drei Raumaspekte auf die Fallstudien anzuwenden, zeigt sich, dass eine Trennung

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Schlussbetrachtungen

dieser »Ebenen von Raumauffassungen« (Rolshoven 2012: 164) im Blick auf konkrete, empirisch untersuchbare Räume streng genommen nicht möglich ist. Sie sind, wie Johanna Rolshoven selbst schreibt, »ununterbrochen dynamisch aufeinander bezogen« (ebd.). Der Repräsentationsraum (bzw. in meinem Verständnis der konzipierte Raum) übersetzt sich – mit Unschärfen – in den gebauten Raum. Die Grundlage dafür bilden aber Vorerfahrungen mit gebauten Räumen sowie mit den eigenen Alltagspraktiken, also dem erlebten und gelebten Raum. Der gebaute Raum wiederum entwickelt eine gewisse Wirksamkeit auf einer sozialen, symbolischen wie alltagspraktischen Ebene. Daher ist er nicht unabhängig vom vorangegangenen Repräsentationsraum zu denken, aber er ist auch nicht lediglich sein Ergebnis. Der erlebte Raum nimmt gewissermaßen den gebauten Raum zum Ausgangspunkt, die Aneignung findet jedoch auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit dem Repräsentationsraum im Sinne der in der Planung formulierten Ideale statt, ebenso wie auf der Grundlage von internalisierten Handlungsgewohnheiten. Die Aneignung des Raumes durch darin handelnde Subjekte, also der gelebte Raum, führt zum Teil zur Modifikation des gebauten Raumes, beispielsweise durch die materielle Verstärkung von Grenzziehungen. Im Zuge des Alltagshandelns und vor allem des Sprechens über den Raum entstehen außerdem immer wieder neue Bilder eines Repräsentationsraumes. Diese engen Wechselwirkungen gelten auch für die Differenzierungen, die andere Autorinnen vorschlagen, beispielsweise für Silke Steets’ Unterscheidung zwischen Externalisierung, Objektivation und Internalisierung als Prozessen, mit denen Materielles und Soziales einander transformieren, oder für Martina Löws Differenzierung zwischen Spacing und Syntheseleistung als Grundlagen der Konstitution von Raum. All diese Konzepte helfen, den Blick auf bestimmte wesentliche Aspekte des Funktionierens von Raum zu schärfen und es ist analytisch hilfreich, einmal die eine, ein anderes Mal die andere Ebene zu fokussieren. Sie sollten – so ist meine Einschätzung – jedoch nicht voneinander getrennt mit unterschiedlichen Phasen im Leben eines Gebäudes identifiziert werden, so wie es vielleicht auf den ersten Blick naheliegend wäre. Das Planen ist nicht nur Raumrepräsentation, Externalisierung oder Spacing, das Gebäude ist nicht nur gebauter Raum und Objektivation, und das Bewohnen eines Gebäudes nicht nur gelebter Raum, Internalisierung und Syntheseleistung. Vielmehr wirken die unterschiedlichen Ebenen der Raumkonstitution laufend zusammen. Sie verfügen aber auch jeweils über ihre Eigenlogik, die zur Folge hat, dass in diesem Zusammenwirken Spannungen auftauchen und Anpassungsleistungen notwendig werden. Damit ist ein zentraler, diese Arbeit durchziehender Aspekt angesprochen, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen Stabilisierung und Transformation. Es wurde deutlich, dass der gebaute Raum sowohl als Stabilisator sozialer Beziehungen als auch als Agent der Veränderung ebendieser fungieren kann. Er

Theoretische Schlussfolgerungen

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kann die Materialisierung bzw. Objektivation von habitualisieren Präferenzen im Sinne der Stärkung von etablierten Raumkonzepten sein oder aber von alternativen Raumprogrammen, die etablierte Raumkonzepte in Frage stellen, habitualisierte Praktiken herausfordern und zur Entwicklung neuer Konventionen anregen. Gerade die Eigenlogik und Beharrungskraft der Praktiken widersetzt sich jedoch zuweilen den alternativen Raumprogrammen. In umgekehrter Perspektive schreibt die Materialität des Raumes bestimmte Visionen und Ordnungen des Wohnens fest, die mit der Zeit oft nicht mehr den sich verändernden sozialen Konstellationen entsprechen. Architektur lässt sich somit mit Heike Delitz als »konstitutives wie transitives (veränderndes, vorantreibendes) Medium des Sozialen« (Delitz 2009: 90) begreifen. Deutlich wird dabei, dass die transformatorischen ebenso wie die stabilisierenden Kräfte sowohl von der Materialität des Raumes als auch von den Praktiken und Deutungen der Subjekte ausgehen oder herausgefordert werden können. Das spricht für eine Position zwischen objektivistischem und subjektivistischem Raumverständnis, wie sie Andreas Reckwitz vorschlägt (Reckwitz 2013: 32), oder mit den Begriff lichkeiten der Material Culture Studies gesprochen, für eine Position zwischen »tyranny of the subject« (Miller 2005: 36) und »tyranny of the object« (ebd.: 38). Um sowohl der Eigenlogik des Materiellen wie auch der Eigensinnigkeit der Aneignungspraktiken der Subjekte gerecht zu werden, eignet sich eine Sichtweise, die sich zwischen einer symmetrischen Anthropologie im Sinne Bruno Latours, die Dinge (und dazu könnte man in erweiterter Perspektive auch den gebauten Raum hinzuzählen) als den Menschen gleichzustellende Akteure betrachtet (vgl. Latour 2007), und einem streng vom Subjekt aus gedachten Raumbegriff bewegt, der die Materialität des Raumes mitsamt ihren sozialen Folgen in den Hintergrund treten lässt. In dieser Hinsicht erscheint insbesondere die über praxistheoretische Ansätze vermittelte Zusammenführung von Ansätzen der kulturwissenschaftlichen Materialitäts- wie der kulturwissenschaftlichen Raumforschung produktiv. Zugleich bewirkt die weiter oben angesprochene Eigenlogik der unterschiedlichen Dimensionen des Raumes, dass Übersetzungsprozesse zwischen Raumkonzeptionen, gebautem Raum und räumlichen Praktiken (respektive Externalisierung, Objektivation und Internalisierung) nicht glatt verlaufen, sondern stets von einer gewissen Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet sind. Auch hier gilt also, was Christa Kamleithner mit Blick auf die Konzepte von Foucault und in weiterer Folge Deleuze feststellt: Die Übersetzung von Programmen in gebaute und gelebte Räume gelingt nie restlos, und es sind die dabei entstehenden Bruchlinien, die Widerstand möglich machen. (Kamleithner 2013a: 152)

Diese Bruchlinien und die Unvorhersehbarkeit der Raumnutzung ergeben sich in den untersuchten Fällen nicht (nur) aus einer Differenz zwischen pla-

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Schlussbetrachtungen

nenden und wohnenden Akteuren und Akteurinnen, sondern daraus, dass sowohl das Ergebnis der Planung als auch die spätere Raumnutzung von einer Reihe nicht durchgängig vorhersehbarer Faktoren abhängen. Die räumlich-materiellen Qualitäten des Raumes sind in der Planung nicht vollends bestimmbar, ebenso wenig die sozialen Dynamiken des späteren Zusammenlebens und vor allem nicht deren Veränderungen über die Zeit hinweg. Wenn von Architektur als Medium des Sozialen die Rede ist, würde ich also dafür plädieren, von einem rauschenden Medium auszugehen, in dem die Übersetzung nicht eins zu eins erfolgt, sondern das aufgrund seiner Eigendynamik immer wieder unvorhersehbare Störungen verursacht. Architektur als Medium des Sozialen reproduziert also nicht laufend gesellschaftliche Ordnungen, und sie lässt sich auch nicht intentional und determinierend zur Gestaltung dieser Ordnungen nutzen. Das gilt, wie die hier untersuchten Wohnprojekte zeigen, auch für Kontexte, in denen die zukünftigen Nutzer und Nutzerinnen von Räumen an der Planung beteiligt sind. Auch Daniel Miller stellt eine solche Eigendynamik mit Blick auf die Art und Weise, wie das Materielle insgesamt seine soziale Effektivität entfaltet, fest: »Social relations exist in and through our material worlds that often act in entirely unexpected ways that cannot be traced back to some clear sense of will or intention« (Miller 2005: 32). Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung sowie der vielschichtigen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Elementen, aus denen sich der Raum als »dynamisches Gefüge« (Kamleithner / Meyer 2013: 15) zusammensetzt, möchte ich mich im Anschluss an Johanna Rolshoven für eine »komplexitätsorientierte Arbeitsweise« (Rolshoven 2012: 164) aussprechen, die in multiperspektivischen ethnographischen Zugängen sowohl dem Eigensinnigkeiten des Materiellen als auch den Deutungen und Praktiken der Akteure und Akteurinnen folgt. Es ginge folglich, mit Hans Peter Hahn formuliert darum, im Sinne des »Eigensinns der Dinge« oder des »Eigensinns des Raumes« auf eine Eindeutigkeit zu verzichten, »die es vor dem Hintergrund der genauen ethnografischen Beobachtung ohnehin nicht geben kann« (Hahn 2015b: 42), und sich dem anzunähern, was Daniel Miller »the messy terrain of ethnography« (Miller 2005: 41) nennt.

Methodische Überlegungen Der hier beschriebene komplexitätsorientierte Ansatz erfordert auch ein Set an unterschiedlichen empirischen Zugängen, die sich den Materialitäten ebenso zu nähern versuchen wie den Praktiken und den Diskursen, ganz ähnlich, wie dies Sophia Prinz und Stephan Moebius in ihrem programmatischen Entwurf für eine »Kultursoziologie des Designs« vorschlagen:

Methodische Überlegungen

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Um die stumme Welt der Dinge zum Sprechen zu bringen, bedarf sie [die Kultursoziologie des Designs] [...] eines Theorie- und Methodeninstrumentariums, das die sozial ausgehandelte Bedeutung von Dingen mit der strukturierenden Funktion visueller Ordnungen sowie den materiellen Handlungsprogrammen von Artefakten zusammendenkt. (Prinz / Moebius 2012: 14)

Von einem Ansatz ausgehend, der die von Rolshoven vorgeschlagenen Raumaspekte explizit einzubeziehen sucht, habe ich einen empirischen Zugang gewählt, der die skizzierten »Wege der Erschließung« der jeweiligen Raumebenen kombiniert (vgl. Rolshoven 2012: 165). Mit der aus Gesprächs- und Beobachtungsverfahren bestehenden Kombination an Zugängen grenze ich mich, wie es auch meinem theoretischen Ansatz entspricht, ebenso von einem »bedeutungsorientierten Kulturbegriff« (Reckwitz 2013: 29) ab wie von einem ANT-geleiteten Blick auf Architektur, wie ihn beispielsweise Albena Yaneva vertritt, wenn sie betont, »nicht die Theorien und Ideologien von Designern« untersuchen zu wollen, sondern »ihre Kultur und ihre Praktiken«, um damit dem »pragmatischen Gehalt von Handlungen, nicht den Diskursen« den Vorzug zu geben (Yaneva 2012: 85). Mir geht es im Unterschied dazu um die Zusammenhänge zwischen Materialitäten, Praktiken und Deutungssystemen. So, wie sich die unterschiedlichen Raumaspekte in der konkreten empirischen Forschung an einem Fallbeispiel nicht präzise voneinander trennen lassen, sind auch die empirischen Zugänge und das, was sie jeweils erschließen, bei genauerem Hinsehen in komplexer Art und Weise miteinander verschränkt. Ein paar konkrete Forschungssituationen sollen im Folgenden nachvollziehbar machen, wie innerhalb einer Materialsorte Praktiken, Diskurse und Materialitäten miteinander verschränkt sein können. Aus meinem ersten Besuch im Wohnprojekt Ziegelwerk ist folgende Forschungstagebuchnotiz hervorgegangen: Alles sehr, sehr grün; es gibt viele Sitzecken und Nischen – und vor allem sieht man wirklich sehr deutlich in die Wohnungen hinein. In die Wohnräume sowieso, bei den Badezimmern ist das teilweise anders. Viele heruntergelassene Jalousien, manchmal aber auch freier Blick. Wobei genau das der Punkt ist: hineinsehen? Ich habe mich unwohl dabei gefühlt, hineinzuschauen. Zu fotografieren erscheint mir erst recht unpassend. (Forschungstagebuchnotiz 9. 5. 2013)

Was ich hier beobachte, sind also zunächst einmal Elemente des gebauten Raumes im Sinne der Architektur des Gebäudes, nämlich die – vor dem Hintergrund meiner eigenen Raumerfahrung – großen und ungewöhnlich platzierten Fenster. Zugleich sehe ich aber auch materielle Spuren der Aneignung des Gebäudes durch seine Nutzer und Nutzerinnen, nämlich die Jalousien. Johanna Rolshoven zählt diese Elemente zum gebauten Raum, ich würde sie jedoch zwischen gebautem Raum und gelebtem Raum und damit zwischen Materia-

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Schlussbetrachtungen

lität und Praxis verorten, zumal die heruntergelassenen oder nicht heruntergelassenen Jalousien nicht nur materielle Elemente des Raumes sind, sondern Elemente der Praktiken der Regulierung von Sichtbarkeiten zu bestimmten Zeiten, in bestimmten Situationen. In meiner eigenen Wahrnehmung und Empfindung sowie meinem Agieren im Raum – ich fotografiere nicht – sind Bezüge zu räumlichen Normen und Konventionen, gewissermaßen zum Repräsentationsraum, angelegt. Was ich auf diesem Weg aber nicht erfahre, ist, welche Bedeutungen die Fenster und ihre Handhabung für die jeweiligen Bewohner und Bewohnerinnen haben, in welchen individuellen wie kollektiven Bedeutungskontexten sie stehen. Solche individuelle und kollektive Bedeutungskontexte erschließen sich hingegen eher über Interviews, die sich jedoch auch nicht ausschließlich auf die diskursive Ebene des Repräsentationsraums beziehen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal eine bereits zitierte Interviewpassage anführen, in der ein Bewohner seinen Umgang mit der Einsehbarkeit der Wohnungen schildert: Ich renne in der Früh immer nackt herum. Und in den ersten Jahren [...] ist die Paula [Name geändert, Anm. d. Verf.] von drüben immer mit ihren Verwandten da [auf dem gemeinsamen Balkon, Anm. d. Verf.] herumgegangen und hat ihnen das Haus gezeigt und da haben sie halt heruntergeschaut und sind vorbeigegangen und ich hab’ mir damals gedacht: ›Na gut, wenn ich nackt herumrenne, müssen die damit leben, dass sie mich nackt sehen. Okay, das ist nicht mein Problem.‹ Aber das gibt’s jetzt eh nicht mehr, weil man nicht mehr durch kann. Aber wir tun auch nackt baden zum Beispiel. Das geht darauf zurück, dass wir damals wahrscheinlich eine ganze Generation waren, denen das wichtig war. Das hat sich schon sehr verändert, glaub ich. [...] Aber ich war einmal der Meinung, das wird sich durchsetzen und da werden einmal alle und so, aber da gibt’s viele solche Sachen, die sich einfach ändern und wo man merkt, ja, das rennt anders.

In dieser Interviewpassage beschreibt mein Interviewpartner räumliche Situationen und Alltagspraktiken in ihrem Zusammenwirken. Gebauter Raum (die großen Fensterflächen in Kombination mit den durchgängigen Balkonen) und gelebter Raum (das Nacktsein in der eigenen Wohnung) verbinden sich zu einer Situation, die mit einem spezifischen Sinn versehen wird. Dabei formuliert mein Interviewpartner einerseits seine eigene Position, knüpft aber expliziterweise zugleich an kollektive Praktiken wie auch kollektive Diskurse der Gruppe zum Nacktsein wie auch an einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs an, der für eine bestimmte Zeit und eine bestimmte gesellschaftliche und politische Bewegung kennzeichnend ist. Ähnlich wie in meiner Forschungstagebuchnotiz schwingen auch hier implizit Normen des spezifischen Umgangs mit Räumen mit, nämlich die Vorstellung der Wahrung der Privatheit, zu der mein Interviewpartner hier eine Gegenposition einnimmt.

Methodische Überlegungen

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Auch die Hausführungen erschließen unterschiedliche Raumebenen. Teilweise kann ich – in einem sehr begrenzten Ausschnitt, der nur ein punktuelles und kein langfristiges Begleiten meiner Kontaktpersonen in ihren Alltagswelten vorsieht – Alltagspraktiken wie das Abschließen der Eingangstür beim Verlassen der Wohnung beobachten. Ich erhalte aber auch Hinweise auf die Funktion von baulichen Elementen, Erinnerungen an die dem Planungsprozess zugrundeliegenden Diskussionen hervorzurufen, beispielsweise wenn mein Interviewpartner, der gern anstatt des Zählerkastens eine zusätzliche Belichtung des Vorraums gehabt hätte, seinen Hinweis darauf einleitet mit: »Wenn wir gerade hier sind«, 2 und dann auf einen Aspekt zu sprechen kommt, nach dem ich nicht gefragt habe und der im Interview auch keine Erwähnung fand. Ähnliches beobachte ich im Wohnprojekt Ziegelwerk mit Blick auf die Einsehbarkeit der Wohnungen. Vor Ort, nämlich am Spielplatz, weisen mich mehrere meiner Interviewpartner (in diesem Fall Männer) darauf hin, dass hier Menschen leben, die mit der Einsehbarkeit der Wohnungen nicht so glücklich seien und denen es wichtig sei, dass dieser Bereich nicht zu stark frequentiert werde. Eine räumliche Situation wird in Kombination mit Spuren der Aneignung (ich werde auf die Pflanzen vor den Fenstern hingewiesen) zu einem Gesprächsaufhänger, in dem diese räumliche Situation eine diskursive Rahmung erhält und vor dem Hintergrund unterschiedlicher normativer Vorstellungen – manche finden es nicht so gut, dass andere die Offenheit der Architektur nicht annehmen – eine Bewertung erfährt. Diese Beobachtungen zeigen, dass in vielen Forschungssituationen Materialitäten, daran geknüpfte Praktiken und damit in Zusammenhang stehende diskursive Formationen nicht voneinander zu trennen sind. Das stimmt insbesondere gegenüber jenen Ansätzen skeptisch, die sich der Erforschung materieller Kultur aus einer pragmatischen Perspektive widmen und dazu neigen, die diskursive Ebene auszuklammern (vgl. Yaneva 2012a). Sharon McDonald formulierte vor einigen Jahren eine verhältnismäßig harte Kritik an diesen so genannten »,post human’ perspectives«, wie beispielsweise der »non-representational theory« (McDonald 2015: 24): Our disciplines, which entail an intensely human engagement, can’t go in for rubbishing language and meaning-making. Our deep engagement with practice, moreover, means that we are well placed to detail the intricate dance between things, people, classifications, affects and effects; and what this takes us into, most profitably I think, is not so much grand ontological statements as more mid-range theorizing about how specific differentiations – material and conceptual – play out in the course of things, in practice. (ebd.: 25)

2 Vgl. Kapitel »Transformationen und Stabilisierungen von Kollektivität«.

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Schlussbetrachtungen

In diesem Zusammenhang könnten die aktuellen Diskussionen um die Zusammenführung von Materialitäts-, Diskurs- und Praxisforschung 3 ein hilfreicher Ansatzpunkt sein, ebenso wie die Vorschläge von Andreas Reckwitz für alternative Formulierungen wie etwa »Praxis / Diskurs-Formationen« (Reckwitz 2008b: 190) oder »Kulturalitäts-/Materialitätskomplexe« (Reckwitz 2013: 34). Neben der Zusammenführung der Perspektiven von Materialitäts-, Diskursund Praxisforschung, die in der europäisch-ethnologischen Forschung vielfach selbstverständlich praktiziert wird, scheint es jedoch auch sinnvoll, die jeweiligen Eigendynamiken von Materialität, Diskurs und Praxis mit im Blick zu behalten.

Weiterführende Forschungsperspektiven Die vorliegende Studie lässt eine ganze Reihe von Fragen offen. An vielen Punkten wäre Raum für Vertiefungen. Ein paar davon sollen im Folgenden angesprochen werden. Mit Blick auf die Figuration der Architekturproduktion wären außer den zukünftigen Bewohnern und Bewohnerinnen sowie den Architekten viele weitere Akteure einzubeziehen, die in dieser Arbeit nur angedeutet wurden: Bauvorschriften, politische und ökonomische Rahmenbedingungen wären als Faktoren, die das letztliche Ergebnis mitbeeinflussen, stärker zu berücksichtigen. Das wäre insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Situation, die für die Realisierung partizipativer Wohnprojekte veränderte Voraussetzungen schafft, von großem Interesse, um in deutlicherer Weise die Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Fallbeispielen und ihren Entstehungskontexten nachvollziehen zu können. Aber auch die Gewerke als Akteure, die die Planung in die Materialität umsetzen und die hier gar nicht angesprochen wurden, könnten in einer erweiterten Perspektive einbezogen werden. Darauf, dass diese ebenfalls ein relevanter Faktor sind, weisen beispielsweise die Diskussionen aus dem Wohnprojekt Lilie über die durch Installateure oder Dachdecker verursachten Mängel hin. Ebenso könnte den dinglich-technischen Akteuren, also der Planungs- und Bautechnik beispielsweise, noch mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Nicht nur, aber gerade auch im Kontext partizipativer Wohnprojekte wäre dann beispielsweise danach zu fragen, was bestimmte digitale Visualisierungsmethoden im Planungsprozess bewirken, wie sich Akteure darauf einstellen, in welcher Weise sie die Planung beeinflussen. Auch den Möglichkeiten und Grenzen, die durch die Entwicklung von Konstruktionsweisen und Materialien geschaffen werden, sollte noch mehr Aufmerksamkeit 3 Vgl. dazu beispielsweise die Tagung »Treffpunkte: Dinge – Praktiken – Diskurse« von 13. bis 14. November 2015 in Wien.

Weiterführende Forschungsperspektiven

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zukommen. Hier wurde dies nur mit Blick auf die im Wohnprojekt Lilie umgesetzte Stützenbauweise angedeutet. Dieser stärkere Fokus auf die Dynamiken des Planungsprozesses wäre ein Schritt in die Richtung des Vorschlags von Prinz und Moebius, den Prozess des Designs als einen »Praktikenkomplex« zu verstehen, in dem sowohl explizites als auch implizites (visuelles) Wissen, ritualisierte Kreativitätstechniken (wie brainstorming oder mindmapping), Computerprogramme (CAD) sowie bestimmte architektonische Ordnungen, Artefakte und Geräte eingehen. Das Design erscheint somit gewissermaßen als ein ›epistemisches Objekt‹, das erst durch dieses Zusammenspiel der verschiedenen menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten und die Abfolge verschiedener Entwicklungsstufen hervorgebracht und stabilisiert wird. (Prinz / Moebius 2012: 19 f.)

Ein weiterer Bereich, der produktive Vertiefung erfahren könnte, ist die Eigendynamik der Materialität des gebauten Raumes. Die Diskussionen um das Material der Fenster des Wohnprojekts Ziegelwerk wurden hier vor allem hinsichtlich der damit verbundenen Positionierungen in bestimmten Wertesystemen, Ökologie etwa, angesprochen. Zu bedenken wären aber die vielfachen weiteren Implikationen der Materialien, die zum Teil in den von mir geführten Interviews angedeutet wurden. So sei etwa die von vielen aus ästhetischen Gründen gewünschte »Filigranheit« der Ausführung aufgrund der Eigenschaften des Materials nur mit Alufenstern möglich gewesen. Holzrahmen hätten hingegen keine ausreichende Stabilität gegeben, um die entsprechend großen Fensterflächen zu realisieren. Auch im Wohnprojekt Lilie wurden die Eigenschaften der Holzrahmen angesprochen. Eine Interviewpartnerin wies mich darauf hin, dass sie bei einem weiteren Bau keine Glastüren mit Holzrahmen mehr wählen würde, weil das Holz arbeite und sich verforme und es daher immer wieder Probleme beim Schließen der Tür gebe. Außerdem wäre ein Blick auf die Möblierung sowohl der einzelnen Wohneinheiten als auch der Gemeinschaftsräume vor einem designgeschichtlichen Hintergrund von Interesse, der die Einrichtung als Mittel der Positionierung greifbar machen könnte. Diese und viele weitere Implikationen des Materiellen könnten weiterverfolgt und noch stärker mitbedacht werden. Auch wäre es auf Grundlage des Materials dieser Studie möglich, unter Rückgriff auf Ansätze der europäisch-ethnologischen Erzählforschung den kollektiven und individuellen Erzählstrategien und den Modi der Selbstpräsentation mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Ich habe mich in dieser Studie lediglich bemüht, herauszuarbeiten, welche Deutungsmuster im Kollektiv dominant sind und wo demgegenüber offensichtlich Einzelpositionen formuliert werden. Verschiedene Medien der Selbstpräsentation habe ich in erster Linie genutzt, um mir Hintergrundinformationen zu erschließen. Man könnte aber noch sehr viel stärker auf die Dynamiken des Erzählens im Span-

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Schlussbetrachtungen

nungsfeld von Kollektiv und Individuum eingehen, ebenso auf verschiedene Formate der Selbstdarstellung, zu denen die Homepages ebenso gehören wie jene Forschungsarbeiten über die Projekte, aus denen ich zitiere und die teilweise von Bewohnern und Bewohnerinnen selbst verfasst sind. Darüber hinaus könnten mit Blick auf die Aneignung des gebauten Raumes die leiblichen und sinnlichen Aspekte stärker einbezogen werden. Diese wurden in dieser Arbeit nur am Rande mit den Überlegungen zur atmosphärischen Qualität von gemeinschaftlich-privaten Räumen und lediglich über meine Wahrnehmung als Forscherin vermittelt angedeutet. Gerade auch der sich verändernde physische Umgang mit dem Gebäude im Prozess des Alterns, der von manchen meiner Interviewpartner und -partnerinnen als relevanter Aspekt des Wohnens angesprochen wurde, spräche dafür, mit einem entsprechend angepassten methodischen Zugang einen stärkeren Fokus auf die impliziten, nicht verbalisierten, sinnlichen und affektiven Aspekte der Raumwahrnehmung sowie auf die Leiblichkeit und Körperlichkeit des Handelns im Raum zu legen. Mit Blick auf mögliche alternative Richtungen und Schwerpunkte der Analyse wird deutlich, dass die Fokussierung auf die Relation von Materialität, Diskurs und Praxis auch Leerstellen produziert und mitunter die Eigendynamik dieser Aspekte im Einzelnen aus den Augen verliert. Ich möchte diesen relationalen Zugang daher nicht als best practice, sondern als einen möglichen Analyseweg unter vielen verstanden wissen, den es unbedingt durch anders gelagerte Studien zu ergänzen gilt.

Weiterführende Forschungsperspektiven

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Interviews Wohnprojekt Lilie: Interview vom 3. 8. 2012. Interview vom 14. 8. 2012. Interview vom 16. 8. 2012 mit Hausführung. Interview vom 21. 8. 2012. Interview vom 5. 12. 2012 mit Hausführung. Interview vom 14. 1. 2013 mit Hausführung. Interview vom 23. 1. 2013. Interview vom 25. 1. 2013 mit Hausführung. Interview vom 4. 2. 2013

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Quellen

Interview vom 13. 2. 2013 mit Hausführung. Interview vom 20. 2. 2013 mit Hausführung. Interview vom 14. 3. 2013. Interview vom 25. 3. 2013 mit Hausführung. Interview mit DI Franz Kuzmich vom 1. 6. 2016. Wohnprojekt Ziegelwerk: Interview vom 7. 5. 2013 mit Hausführung. Gespräch mit einer Bewohnerin und Hausrundgang im Rahmen einer Veranstaltung des UniClub am 5. 10. 2013. Interview vom 22. 8. 2013 mit Hausführung. Interview vom 18. 11. 2013 mit Hausführung. Interview vom 26. 4. 2014 mit Hausführung. Interview vom 24. 6. 2014 mit Hausführung. Interview vom 27. 6. 2014 mit Hausführung. Interview vom 28. 6. 2014. Interview vom 1. 7. 2014 mit Hausführung. Interview vom 22. 2. 2017.

Interviews

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