Kollaboration: Beiträge zur Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit 3770558405, 9783770558407

Praktiken der Kollaboration kennzeichnen die Digital- und Netzkultur. Der Band beleuchtet sie im historischen Vergleich

147 25 5MB

German Pages 284 [291] Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Kollaboration: Beiträge zur Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit
 3770558405, 9783770558407

Table of contents :
Kollaboration: Beiträge zur Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit
Copyright
Inhalt
Einleitung
I Künste der Kollaboration
Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert
Praktiken der Verbesserung und Kritik bei Gottfried August Bürger
Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit
Praktiken verteilter Autorschaft in der Fernseh- und Videokunst
Was ist Zeit? Synergien im Omnibusfilm Ten Minutes Older
II Soziotechniken der Kollaboration
Kollaboratives Tagging
„Spiel, Satz und Match“ Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps
The New Aerial Age Die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Raum- und Medienpraktiken am Beispiel von Drohnen-Communities
Die bewegte Mediengeschichte des Fotofahrtenführers
Ein Co-Motion-Picture
III Versprechungen der Kollaboration
Versprechen, Verträge und Vertretung Soziale Akte bei Adolf Reinach und J.L. Austin
Wie (nicht) mit dem Computer kollaborieren? Douglas Engelbarts Utopien der Zusammenarbeit und die Geschichtlichkeit der digitalen Vernetzung
Das Internet und das Versprechen neuer Formen der politischen Kollaboration
Bodies that Work Freeletics und die herausfordernde Gemeinschaft
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Kollaboration

Nacim Ghanbari, Isabell Otto, Samantha Schramm, Tristan Thielmann (Hg.)

Kollaboration Beiträge zur Medientheorie und Kulturgeschichte der Zusammenarbeit

Wilhelm Fink

Diese Publikation ist im Rahmen des Wissenschaftlichen Netzwerks „Medien der kollektiven Intelligenz“ entstanden und wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Umschlagabbildung: REUTERS/Chaiwat Subprasom Die Mitglieder der Gruppe „Planking Thailand“ liegen in Form eines Kreuzes, um die Menschen einen Tag vor Beginn der Voraus-Wahl in Bangkok am 25. Juni 2011 zur Wahl zu bewegen. Am 3. Juli finden dann die Parlamentswahlen statt, eine unberechenbare Abstimmung nach mehr als 5 Jahren mit teilweise blutigen, politischen Konflikten. Planking ist ein weltweiter Trend, bei dem sich Menschen mit dem Gesicht nach untenliegend, steif wie ein Brett an häufig bizarren Orten fotografieren lassen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2018 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-5840-7

Inhalt Einleitung 1 Nacim Ghanbari, Isabell Otto, Samantha Schramm, Tristan Thielmann

I

Künste der Kollaboration



Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert Praktiken der Verbesserung und Kritik bei Gottfried August Bürger 21 Nacim Ghanbari



Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit Praktiken verteilter Autorschaft in der Fernseh- und Videokunst 39 Samantha Schramm



Was ist Zeit? Synergien im Omnibusfilm Ten Minutes Older 57 Michael Lommel

II Soziotechniken der Kollaboration

Kollaboratives Tagging 83 Erika Linz



„Spiel, Satz und Match“ Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps 97 Teresa Opper



The New Aerial Age Die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Raum- und Medienpraktiken am Beispiel von Drohnen-Communities 121 Hendrik Bender



Die bewegte Mediengeschichte des Fotofahrtenführers Ein Co-Motion-Picture 147 Tristan Thielmann

vi

Inhalt

III Versprechungen der Kollaboration

Versprechen, Verträge und Vertretung Soziale Akte bei Adolf Reinach und J.L. Austin 183 Erhard Schüttpelz



Wie (nicht) mit dem Computer kollaborieren? Douglas Engelbarts Utopien der Zusammenarbeit und die Geschichtlichkeit der digitalen Vernetzung 201 Isabell Otto



Das Internet und das Versprechen neuer Formen der politischen Kollaboration 235 Sebastian Haunss



Bodies that Work Freeletics und die herausfordernde Gemeinschaft 263 Nikola Plohr Autorinnen und Autoren 281

Einleitung Kollaboration ist mehr als Zusammenarbeit. Der Begriff bezeichnet in erster Linie Formen gemeinsamen Agierens, die ein möglichst eng aufeinander bezogenes Handeln der Einzelnen ermöglichen. In Abgrenzung von gängigen Formen der Arbeitsteilung, die mit Vorstellungen von Zusammenarbeit verbunden sind, sind kollaborative Beziehungen als hierarchiefreie oder doch zumindest -kritische angelegt. Ihre revolutionäre Kraft gewinnt Kollaboration aus der produktiven Beteiligung und der im laufenden Arbeitsprozess erfolgenden Optimierung soziotechnischer Medien. Anhand der zurzeit möglicherweise populärsten Form solchermaßen vernetzten Handelns lassen sich erste Anhaltspunkte für eine interdisziplinäre Erforschung von Kollaboration gewinnen: Der große Erfolg der Online-­ Enzyklopädie Wikipedia – und zwar auf der Produktionsseite der freiwillig Beitragenden – hat die Aufmerksamkeit auf Formen der Wissensgenerierung gelenkt, die mit der strengen Trennung von Experten und Laien brechen und stattdessen den informierten Nutzer ‚inthronisieren‘. (Der Nutzer teilt mit dem Experten das Faible für Spezialwissen, das er allerdings autodidaktisch erworben hat; mit dem Laien verbinden ihn ludische Aneignungspraktiken.) An Wikipedia ‚mitschreiben‘ dürfen zunächst all diejenigen, die über die nötigen technischen Fertigkeiten für die Erstellung oder Ergänzung eines Eintrags ­verfügen. Ist jedoch die erste Schwelle überschritten, sehen sich Neuankömmlinge mit Spielregeln konfrontiert, die in medienethnografischen Untersuchungen von Wikipedia mitunter als oligarchische bezeichnet werden (vgl. Otto 2009: 50). Wie gelingt das Zusammenspiel von niedrigschwelliger A ­ kzeptanz neuer Mit-Autoren und den steten Rollenwechseln auf einer sozialen Skala, auf der die Rechte des einzelnen Wikipedianers abhängig von der Dauer seiner Mitgliedschaft und dem Grad seiner Aktivität wachsen bzw. wieder schwinden können? Wie verändern sich Konzepte ‚freier‘ Autorschaft durch den häufigen Einsatz der Bots, die – polemisch zugespitzt – ein sogenanntes „‚Sklavendasein‘“ (Otto: 54) fristen und von ihren „Dienstherren“ instruiert (d.i. programmiert) werden müssen? Inwiefern konterkarieren nationale Eigenheiten der einzelnen Wikipedia-Communities Vorstellungen einer Internationalisierung aller Wissensbestände durch Technik? Als „freie Enzyklopädie“ verweist Wikipedia auf die zahlreichen enzyklopädischen Projekte der Vergangenheit. Ob in Gestalt von Denis Diderots  und Jean le Rond d’Alemberts Encyclopédie oder Johann Heinrich Zedlers Universal-­Lexicon: Die Inklusionseuphorie, die viele mit dem Social Web verbinden, hat eine lange Geschichte und ließ bereits im 18. Jahrhundert die

© Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi 10.30965/9783770558407_002

2

Nacim Ghanbari et al.

Frage ­aufkommen, wie sich das Wissen aller am besten ermitteln, kanalisieren und veröffentlichen lässt. In neueren, von medientheoretischen Problemlagen inspirierten historischen Untersuchungen wird dementsprechend die Frage verfolgt, wie ‚vor Wikipedia‘ enzyklopädische Korrekturen und Ergänzungen vorgenommen (vgl. Schneider 2013) oder auch wie ‚vor Google‘ Suchanfragen organisiert wurden (vgl. Brandstetter et al. 2012; Tantner 2015). Wer also Kollaboration erforscht, nimmt Formen vernetzten Handelns in der Gegenwart zum Anlass, um nach den soziotechnischen Infrastrukturen der Zusammenarbeit in der Vergangenheit zu fragen. Die historische Zugangsweise zum Phänomen der Kollaboration ist traditionell in der Wissenschaftsgeschichte beheimatet. Der vornehmlich im Labor arbeitende und im Verein mit anderen publizierende Naturwissenschaftler galt lange Zeit als Prototyp desjenigen, der die Synergie- und Emergenzeffekte der Kollaboration am besten zu nutzen vermag. Die soziologische Ermüdung über die als unscharf und ‚zu groß‘ empfundene Analysekategorie ‚Gesellschaft‘ bewirkte, dass die kleine, wendige Kategorie ‚Labor‘ und die ‚Arbeitsumgebung‘ (workplace) als moderne Sozialisationsagentur an Überzeugungskraft gewannen. Die im Rahmen der Science and Technology und der Workplace Studies entstandenen Untersuchungen unterscheiden sich in signifikanter Weise von Zugängen, die ‚Arbeitskulturen‘ bevorzugt entlang der Unterscheidung ‚öffentlich/privat‘ beschreiben. Während hier die Metapher der „Entgrenzung“ der Arbeit und damit das Übergreifen der Erwerbsarbeit auf das Privatleben den Ton angeben (vgl. Huber 2012), hat erst die ethnografische Beschreibung konkreter Arbeitsumgebungen in den sciences den Blick auf konkrete Praktiken und ihre Medien gelenkt (vgl. Knorr Cetina 2002). Diese Ausgangskonstellation ist in aktuellen Studien, die eine Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften (humanities) anstreben, auf bemerkenswerte Weise verschoben: So wird Kollaboration tendenziell mit einer ­gewissen quantitativen ‚Größe‘ assoziiert (vgl. Stockhorst et al. 2016; Schönert 2015; Spoerhase 2010). Ausgehend vom Gelehrtenideal des einsam und still in der klösterlichen Zelle Lesenden und Schreibenden (vgl. Lepper 2016; ­Assmann/Assmann 2000) erscheint noch die einfachste Form der Kommunikation als Grenzüberschreitung und Ausflug ins Weite. Während in der Wissenschaftsgeschichte der sciences die asymmetrische Zusammenarbeit lediglich als schwächste Form der Kollaboration angesehen und das symmetrische peer-to-peer-Prinzip als Ideal angestrebt wird (vgl. Thagard 1997: 245f.), fokussiert die Wissenschaftsgeschichte der humanities bislang vornehmlich ­hierarchische und arbeitsteilig organisierte Verbünde, wenn sie der Frage nach „Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften“ (Stockhorst et al. 2016) nachgeht. Eine wichtige Ausnahme stellt die Erforschung digitaler Editionen

Einleitung

3

dar: Wie Anne Baillot überzeugend darlegt, führt das Fehlen der Institution ‚Verlag‘ bei digitalen Editionen dazu, dass die seit den großen Akademieprojekten des 19. Jahrhunderts arbeitsteilige und hierarchische Editionsarbeit in gewisser Weise demokratisiert und die Zuständigkeiten wissenschaftlicher Autorschaft erweitert werden (vgl. Baillot 2016: 270). Als eine ‚kollaborative Steigerung‘ der digitalen Editionen sind wiederum die social editions anzusehen, die – ­darin Wikipedia sehr ähnlich – die Arbeit der Nutzer in den editorischen Prozess mit einbeziehen und den akademischen Einsatz von Social Media nicht a­ usschließen (vgl. ebd.: 272). Vorläufig ist jedoch festzuhalten, dass die Erforschung kollaborativer Praktiken in den Geisteswissenschaften teilweise reserviert betrieben wird, da Kollaboration – insbesondere in Deutschland – mit Drittmittelforschung gleichgesetzt und damit als hochschulpolitisches Oktroy empfunden wird (vgl. Schönert 2015). Der vorliegende Band strebt eine Erweiterung des Forschungsgebiets der Kollaboration an und versammelt hierfür Beiträge aus den Disziplinen ­Literatur-, Kunst-, Medien-, Sprach- und Sozialwissenschaft, um der Vielschichtigkeit des Phänomens ‚Kollaboration‘ jenseits der Wissenschaftsgeschichte gerecht zu werden. Konzipiert wurde der Band im Rahmen des ­D FG-­Netzwerks Medien der kollektiven Intelligenz (2011 bis 2014), wobei der Kreis der Beiträgerinnen – über das Netzwerk hinaus – um Autorinnen und Autoren erweitert werden konnte, die auf benachbarten Gebieten forschen: Mit der Konstanzer Forschergruppe Mediale Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inanspruchnahme und dem Siegener Sonderforschungsbereich Medien der Kooperation ­wurden im Anschluss an das DFG-Netzwerk Verbünde ins Leben gerufen, in die Forschungsergebnisse des Netzwerks einfließen konnten und die die im Rahmen der gemeinsamen Projektarbeit aufgeworfenen Fragen weiterverfolgen. Mit den drei Sektionen des Bandes „Künste“, „­Soziotechniken“ und „Versprechungen“ werden die genannten Ergebnisse gebündelt und neu perspektiviert. Im Abschnitt „Künste der Kollaboration“ diskutieren Nacim Ghanbari, ­Samantha Schramm und Michael Lommel konkurrierende Konzepte der kollektiven Autorschaft in der Literatur, der Kunst und im Film. Als situierte Ver-Teilung im Sinne sowohl einer ortsgebundenen Abstimmung der Prozesse als auch einem Mehr an Handlungen, umfasst Kollaboration räumliche, aber auch zeitliche Aspekte. Zusammenarbeit erscheint als Prozess von Handlungen verschiedener Akteure im Netzwerk, die jedoch auch Machtverhältnisse mit konstituieren und Verfahren der Abstimmung beinhalten. Besonders in der Gegenwartskunst treten die Ambivalenzen der Zusammenarbeit zwischen der Auffassung einer Ästhetik der Kollaboration, wie

4

Nacim Ghanbari et al.

diese seit den 1990er Jahren als „Partizipationskunst“ (vgl. Billing 2007; Blunck 2003; Frieling 2008) verhandelt wird, und einer spezifischen Betrachtung der sozialen Prozesse der Teilhabe im Sinne eines sogenannten „social turns“ ­(Bishop 2012: 11; vgl. auch Kester 2011) hervor. ‚Teilhabe‘ umfasst hier sowohl die eingeschränkte, teilweise eng begrenzte als auch die erweiterte Form der Partizipation, die den Akteuren eine aktive Beteiligung an Entscheidungen, Handlungen oder an der Herstellung von Werken ermöglicht. Während der Begriff der Partizipation den Umschwung von einer reinen Betrachtung der Kunst hin zu teilnehmenden Betrachtern thematisiert, ist eine ästhetisch wie auch sozial bedingte kollaborative Arbeit nicht ohne spezifische Akteure sowie deren Machtansprüche denkbar. Das teilnehmende Kollektiv wird hierbei vielfach als anonyme, jenseits einer eindeutigen ‚Autorschaft‘ agierende Masse angenommen, die zugleich im Sinne eines Ein- und Ausschlusses operiert. Den Zusammenhang der Kollaboration zu Fragen der Macht verdeutlicht auch deren begriffshistorische Situierung zwischen der Erfahrung eines kollaborativen Engagements als „united labor“ und „collaboration as betrayal“ (Kester 2011: 2), also einer Zusammenarbeit mit dem Feind. Eine Verhandlung der Möglichkeiten der Partizipation an einem ‚offenen Kunstwerk‘ (Eco 1985) führt zu einer veränderten Auffassung des Autors, wobei auch von einer ‚verteilten‘ Autorschaft gesprochen wird (vgl. Diamond 2008). Gerade in den Künsten lässt sich beobachten, dass vielfach bei gemeinschaftlich produzierten Werken eine als singulär aufgefasste Autorschaft erhalten bleibt oder sogar verfestigt wird. Von einem Kollektiv erzeugte Handlungen oder Werke werden also zwar gemeinsam hergestellt, können jedoch nur selten als Produkte „gemeinschaftlicher Autorschaft [joint authorship]“ (Livingston 2005: 75–76) bezeichnet werden. [A]ll artmaking and literary creation is collective or social in the sense that it is situated in a sociohistorical context and can be only archived by socialized and socially dependent agents, this far-reaching social condition is distinct from a more proximate and specific type of collaboration, taken in the original sense of ‚co-labouring‘ or working together. Ebd.: 75–76, Hervorhebung im Original

In Bezug auf kollektive Werke unterscheidet Paisley Livingston zwischen Formen von gemeinschaftlicher Autorschaft und kollektiven Produktionen. Während unter gemeinsam hergestellten Werken auch Aktionen zu verstehen ­seien, bei denen die Teilnehmer lediglich an einzelnen Arbeitsschritten beteiligt sind, beinhalte die geteilte Autorschaft ein gemeinsames Wissen der Pläne und Aktionen der anderen, eine gegenseitige Unterstützung und den Glauben daran, eine „irreducibly collective action“ (ebd.: 77) durchzuführen.

Einleitung

5

Kollaboration tritt als Produkt dieser unterschiedlichen Bewegungsformationen und aufeinander bezugnehmenden Handlungen der Akteure ­innerhalb einer als zusammengehörig verstandenen und intern strukturierten ­ kollektiven Organisationsform hervor. Die Abstimmungsprozesse der ­gemeinschaftlichen Handlungen, die Synchronisationen und deren laborhaften, ­zuweilen ­experimentellen Charakter verdeutlichen die drei Beiträge der Sektion. Nacim Ghanbari untersucht in „Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert. Praktiken der Verbesserung und Kritik bei Gottfried August Bürger“ den Austausch von Anmerkungen und Lesarten, der immer dann die Form des ‚Mitschreibens‘ annimmt, wenn die Korrespondenzpartner ermächtigt werden, lückenhafte Verse zu vervollständigen oder dramatische Szenenentwürfe zu rekombinieren. Inspiriert von der am Schreibprozess orientierten critique génétique wird ‚kollaboratives Schreiben‘ von Konzepten „kollektiver Autorschaft“ (Gamper 2001) unterschieden, da in den untersuchten Fällen die alleinige Autorschaft desjenigen, der zum Mitschreiben und zur Kritik einlädt, nicht zur Disposition steht. Das zu untersuchende Phänomen scheint vielmehr Kennzeichen einer Patronagekultur zu sein, in der die einzelne Verbesserung und Kritik als „Eintrittskarte ins Netzwerk“ (Jost 2012) gelten kann. Als aufschlussreich für die systematische Untersuchung der Kollaboration gilt schließlich folgende Beobachtung: Kollaboratives Schreiben lässt sich vor allem dort feststellen, wo die Vorstellung eines literarischen ‚Endprodukts‘ nur schwach ausgebildet, die Idee einer kontinuierlichen Folge verbesserter Ausgaben hingegen vorherrschend ist. Samantha Schramm thematisiert in „Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit: Praktiken verteilter Autorschaft in der Fernseh- und Videokunst“ kollektive Produktionen von Filmen und Videos. In Abgrenzung zu bestehenden Untersuchungen zur Partizipationskunst wird die Verschiebung von einer ästhetischen Auffassung der Teilhabe hin zu Prozessen der Kollaboration geleistet, die sich beispielhaft bereits in den kollektiven Produktionen in der Film- und Videokunst der späten 1960er und 1970er Jahre zeigen: Die gemeinsame Arbeit wird als Prozess entworfen, in dem die Zusammenarbeit als kollektive und als relational verstandene Aktion der Vermittlung oder der Weitergabe von Wissen entworfen wird. Mit Black Gate Cologne von Otto Piene und Aldo Tambellini, Participation TV von Nam June Paik und den Workshops der Tee Pee Videospace Troupe erscheint die gemeinsame Arbeit als medial vermittelter Prozess zwischen verschiedenen Teilhabenden. Schramm verhandelt, welche Rolle Medien als Mittler in kollektiven künstlerischen Prozessen spielen, indem diese die Erfahrung der Kollaboration gleichzeitig bedingen und möglich machen, und inwiefern die frühe Film- und Videokunst schon Modalitäten einer gemeinsamen Zusammenarbeit vorwegnimmt, die Axel

6

Nacim Ghanbari et al.

­Bruns später in Bezug auf das Internet als collaborative produsage bezeichnen wird (vgl. Bruns 2008). Michael Lommel untersucht schließlich in „Was ist Zeit? Synergien im Omnibusfilm Ten Minutes Older“ Synergien als zeitlich aufeinander abgestimmte Prozesse. Durch die verschiedenen, von mehreren Regisseuren gedrehten Episoden des Omnibusfilms und deren thematische Rahmung kann der Omnibusfilm als kollaborativ verfertigtes Produkt verstanden werden. Der Beitrag fokussiert eine Auffassung des Omnibusfilms, bei dem das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander und deren Synergien und raumzeitliche Verläufe als zentrales Verfahren der Kollaboration verhandelt werden. Durch die Zeitlichkeit der einzelnen Episoden sowie deren interepisodische Beziehungen und Familienähnlichkeiten tritt der Omnibusfilm als „eigenes holistisches ästhetisches System“ (Lommel in diesem Band) hervor. So treten in den einzelnen Episoden vergleichbare Reflexionen der Zeitlichkeit auf, die, in Anlehnung an Michel Foucaults Theorien zur Heterotopie, auch als Heterochronien, die als Durchdringung wechselseitiger Zeitlichkeiten verstanden werden können, erscheinen und damit Kollaboration als ein System unterschiedlicher orts- und zeitgebundener Abstimmungsverfahren sichtbar machen. Abstimmungsprozesse spielen auch in der anschließenden Sektion eine zentrale Rolle. Der Abschnitt „Soziotechniken der Kollaboration“ geht der Frage nach, ob Medien der Kollaboration nicht vor allem als „Verwaltungsmedien“ (Schüttpelz in diesem Band) beschrieben werden können. Entsprechend wären für jedwede Form der Zusammenarbeit bestimmte Hilfsmittel notwendig, die den gemeinsamen Arbeitsprozess sozial und technisch organisieren. Das ‚Gemeinsame‘ kann dabei durchaus ganz unterschiedlich ausgestaltet sein. So untersucht Erika Linz in ihrem Beitrag die Verschlagwortung von Medien durch ihre Nutzer. Unter dem Titel „Kollaboratives Tagging“ seziert der Aufsatz die Such- und Findbarkeit von Artefakten und Medieninhalten, die diese Schlagworte selbst nicht beinhalten oder verfügbar machen. Gerade wenn es um digitale Objekte und soziale Medien geht, spielen Tags eine entscheidende Rolle, da sie Datenräumen die notwendige Struktur geben, diese nutzbar zu machen. Solche nutzergenerierten Tag-Sammlungen sind nicht auf ein gemeinsames Endprodukt oder ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet, sondern entstehen als „Invisible-Hand-Prozess“. Es handelt sich um nicht intendierte und dennoch stattfindende Kollaboration. Der Weg ist nicht das Ziel der gemeinsamen Aktivität, aber das gemeinsame Voranschreiten ist notwendig, damit das ­Medium – eine Tagging-Struktur – entsteht. Da es sich um einen nicht konsensorientierten Prozess der Zusammenarbeit handelt, könnte man im Sinne von Susan Leigh Star (2017) auch von

Einleitung

7

„Kooperation ohne Konsens“ sprechen. In der Analyse von Linz sind jedoch andere Aspekte entscheidend: zum einen, dass der Kollaborationsprozess an eine als Mittler fungierende Software delegiert wird; zum anderen, dass eine Technologie nicht nur als Mittler fungiert, sondern ‚aus dem Nichts‘ und durch ‚unsichtbare Hand‘ etwas entsteht, was die Beteiligten nicht intendiert haben. Wu et al. (2006) bezeichnen dies als „serendipitous discoveries“. Kollaboration lässt sich demnach nicht nur als mediiertes Verfahren beschreiben, sondern auch als Prozess, der sich der „Verfertigung gemeinsamer Ziele, Mittel und Abläufe“ (Schüttpelz 2016: 6) entzieht. Erst die „koordinierende Handlungsmacht des Mediums“ (Linz in diesem Band) ist in der Lage, neue Wissensordnungen zu erzeugen. Dabei sind die diskutierten soziotechnischen Systeme dadurch gekennzeichnet, dass sich der Kollaborationsprozess rekursiv vollzieht. Die gemeinschaftlich erzeugten Artefakte dienen dem einzelnen Nutzer wiederum als Vorlage und Anleitung für seine eigene Medienpraxis. Diese rekursive Dimension der Kollaboration wird auch in den folgenden soziotechnischen Analysen sichtbar. In ihrer autoethnografischen Untersuchung „Spiel, Satz und Match“ legt Teresa Opper die Medienpraxis von Location-based Dating-Apps dar. Hierbei handelt es sich um mobile soziale Netzwerke, die durch Lokalisierung und Verknüpfung mit anderen App-Nutzern helfen, Beziehungen anzubahnen. Durch Übereinstimmung von Profildaten werden quer durch Online- und Offline-­ Räume Matches erzeugt, wobei Matching selbst als Handlungsinitiation wie auch als fortwährende Hervorbringungsleistung fungiert, die das Medium ,am Laufen‘ hält. „Matching ist also eine Bedingung der kollaborativen Praktik und selbst kollaboratives Herzstück innerhalb von Dating-Apps“, wie Opper feststellt. Entsprechend handelt es sich bei dieser Anwendung, die symptomatisch für gegenwärtige mobile digitale Medienpraktiken steht, in erster Linie um eine ,Matching-App‘ – und dies in mehrfacher Hinsicht: Die kollaborative Praktik zeigt sich im Matching zwischen Einzelpersonen wie auch zwischen sozialen Gruppen, im Zusammentreffen von physischen und virtuellen Räumen, von Karte und Territorium, aber auch im Aufeinandertreffen von Selbst- und Fremdbild. Schließlich finden alle diese Verbindungs- und Übereinstimmungsprozesse in Form eines (Gesellschafts-)Spiels statt. Wie auch schon im Beitrag von Erika Linz wird die kollaborative Praxis – hier das Matching – an eine Software delegiert. Dabei zeichnet sich das ­Medium der Kollaboration dadurch aus, dass sich die Zusammenarbeit aller Akteure in „ein und demselben kollektiven Verfahren“ (Hennion/Méadel 2013: 349) vollzieht. Das Medium entsteht aus einer gemeinschaftlichen Praxis und schafft sogleich die Möglichkeitsbedingung, in die Gestaltung ihrer eigenen kollaborativen Spezifik einzugreifen (vgl. Löwgren/Reimer 2013: 18).

8

Nacim Ghanbari et al.

Ein vergleichbares rekursives Momentum lässt sich auch für die Medienpraxis des Fliegens mit zivilen Drohnen konstatieren, wie Hendrik Bender darlegt. In seinem Beitrag „The New Aerial Age“ zeichnet er an theoretischen Konzepten der „Grenzobjekte“ (Star/Griesemer 1989), der „operativen Bildlichkeit“ (Krämer 2009) und der „performativen Kartographie“ (Verhoeff 2012, 2015) die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Raum- und Medienpraktiken am Beispiel von Drohnen-Communities nach. Charakteristisch für die gegenwärtige Praxis der „Drone Media“ ist demnach die Simultanität von Prozessen der Sammlung, Produktion und Verarbeitung von Daten. Hobbydrohnen werden als Ensemble von Fluggerät, Kamera, Smartphone und Streaming-Plattform betrachtet. Es zeigt sich, dass die Ungleichzeitigkeit der Kollaboration ein zentrales Movens von Drohnen-Praktiken ist. So ergibt sich erst prospektiv die Möglichkeit des Tauschens und Verschickens der fliegend aufgenommenen Videos: der sogenannten ‚Dronies‘, die auf verschiedenen Internet-Plattformen hochgeladen werden. Online-Communities bieten zudem Möglichkeiten, in einen ­Dialog mit anderen Nutzern zu treten und auf diese Weise notwendiges ­Wissen ­auszutauschen. Zu Beginn des Booms war die ­Medienpraktik  des ­Droning stark durch Do-It-Yourself-Communities geprägt. Es bestand noch keine „­feste Form für die Gestaltung gemeinsamer Praktiken“ (Bender in diesem Band). Online-Communities hatten demnach die Funktion, Flugerfahrungen untereinander auszutauschen. Durch die Zirkulation der ‚Dronies‘ verfestigte sich die Vorstellung von einer gemeinsam geteilten Medienpraktik. Die P ­ rozeduren des wechselseitigen Likens, Taggens, Klickens und Kommentierens führen dazu, dass die Drohne selbst zur Bedingung und zum Mittel der Zusammenarbeit wird. Bender unterscheidet hierbei zwischen der Drohne als Medium der Kollaboration und der Kooperation. Da sich das Medium der Drohne vor allem durch seine sensorischen und robotischen Elemente konstituiert, wird der Begriff der Kooperation favorisiert, um herauszustellen, dass die Drohne noch kein geschlossenes Objekt darstellt. Consumer-Drohnen sind in ihrer Technik und Praxis noch zu instabil, um eine eigene Medienspezifik herauszubilden. Sie befinden sich noch im Prozess ihrer wechselseitigen Verfertigung. „Wechselseitigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass die Drohne zugleich ein elementares Medium der Kooperation für die unterschiedlichen sozialen Gruppen darstellt.“ (Bender in diesem Band) Während also die Kollaboration auf eine egalitäre, symmetrische Zusammenarbeit innerhalb einer Gruppe zielt, verbindet sich mit Medien der Kooperation die asymmetrische Zusammenarbeit von Nutzern und Entwicklern. Da die untersuchte Praxis heterogene Akteure, Interessen, Ziele und Weltsichten miteinander verbindet, handele es sich bei Drohnen eher um ein kooperatives Medium.

Einleitung

9

Tristan Thielmann differenziert in seinem Beitrag „Die bewegte Mediengeschichte des Fotofahrtenführers: ein Co-Motion-Picture“ ebenfalls zwischen Kollaboration und Kooperation. Dargelegt wird dies anhand einer materialen mikrohistorischen Analyse von Routenführern für Automobilisten, die Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA hergestellt und vertrieben wurden. Demnach lässt sich aus der historischen Praxeologie dieses Mediums eine Auseinander­ entwicklung zwischen der gemeinschaftlichen H ­ erstellungs- und Nutzungspraxis feststellen. Zu Beginn ist das Medium durch die Ko-Produktion von Kartenherstellern und Kartennutzern geprägt. Die späteren Ausgaben der Photo-Auto Guides zeigen jedoch eine ästhetische Veränderung, die verstärkt auf die Erleichterung der navigatorischen Praxis zielt, indem sich mobile Lesepraktiken in konzeptionelle Veränderungen der Foto- und Buchgestaltung einschreiben. Routenführer entkoppeln sich in ihrer historischen Entwicklung zunehmend von der Form ihrer Produktion. Daraus leitet Thielmann die generelle These ab, dass ein neues Medium im Laufe seiner Entwicklung immer weniger kooperativ verfertigt wird. Es kann erst dann kollaborativ instanziiert werden, wenn es seine Form gefunden hat. Dies deckt sich im Wesentlichen mit den Beobachtungen von Hendrik Bender. Zukünftige Forschungen müssen zeigen, ob und unter welchen soziotechnischen Bedingungen es einem neuen Medium gelingt, den Wechsel von einer kooperativen Verfertigung seiner selbst zu einer kollaborativen Verfügbarmachung zu vollziehen. Die Spezifik des Mediums zeigt sich im Fallbeispiel in den Ko-Bewegungsformen der ‚Buchführung‘, ‚Fahrzeugführung‘ und ‚Straßenführung‘ – also weniger im epistemischen Prozess der Herstellung einer allgemeinen Kollaborations- oder Kooperationsfähigkeit. Denn Fotofahrtenführer zielten in erster Linie auf die Ermöglichung individueller Fortbewegung. Daraus leitet sich die zweite zentrale These ab: „Je stärker die kollaborative Vernetzung in der Schaffung eines Mediums, desto geringer die Notwendigkeit zu dessen kollaborativem Gebrauch.“ (Thielmann in diesem Band) Es zeigt sich, dass das Medium selbst Verweisstrukturen schafft und semiotische Vernetzungen zwischen Karte, Foto und Text erzeugt, die Fotofahrtenführer zunehmend unabhängig von Umweltfaktoren gemacht haben. Gleichwohl hielt die Optimierung der Lesegeschwindigkeit nicht der fortschreitenden Fahrgeschwindigkeit stand, weshalb die frühe papierene Utopie der AugmentedReality-Navigation nach nur wenigen Jahren scheiterte. Inwiefern in der Kulturgeschichte der Kollaboration immer wieder große ­Erwartungen an neueste technische Entwicklungen gestellt werden, die erhoffte Optimierung der Zusammenarbeit jedoch ausbleibt, rückt die dritte Sektion dieses Bandes „Versprechungen“ in den Mittelpunkt. Von Interesse ist hierbei

10

Nacim Ghanbari et al.

weniger das Scheitern als die Produktivität von utopischen Entwürfen. Mit seiner Beschreibung einer dialogisch kommunizierenden Gemeinschaft, die kollaborativ ein Universum technischer Bilder auf Computerbildschirmen aufscheinen lässt, hat Vilém Flusser bereits in den 1980er Jahren unter dem ­Titel „Kammermusik“ eine eindrückliche Vision vernetzter Zusammenarbeit in Szene gesetzt. Es ist bezeichnend für seinen zukunftsweisenden Entwurf eines soziotechnischen Gefüges aus Menschen, Apparaturen und Medien, dass er diese als Zusammenspiel bezeichnet. Gleichsam wird dabei deutlich: Der hier verwendete Spielbegriff steht weniger in Opposition zum Begriff der Arbeit, als vielmehr für die Eröffnung von Beweglichkeit als „Hin und Her der Spielbewegung“ (Krämer 2005: 16) in verschiedensten Lebensbereichen, die damit dem Spiel vergleichbar werden. Flusser formuliert in seinem ­Gesellschaftsentwurf eine Gegenwartskritik, indem er ein Spiel-Haben, eine Öffnung von Schaffensprozessen durch kollaborative Praktiken in Aussicht stellt. Genau in dieser Eröffnung von Spielräumen, in ihrem „Möglichkeitsdenken“ (Voßkamp et al. 2013) liegt das Versprechen der Kollaboration: Das Szenario, die Fabel, die ich hier vorschlage, ist diese: Die Menschen werden, jeder für sich, in Zellen sitzen, mit Fingerspitzen an Tastaturen spielen, auf winzige Bildschirme starren und Bilder empfangen, verändern und senden. Hinter ihrem Rücken werden Roboter Dinge heranschaffen, um ihre verkümmerten Körper zu erhalten und zu vermehren. Durch ihre Fingerspitzen hindurch werden die Menschen miteinander verbunden sein und so ein dialogisches Netz, ein Übergehirn bilden, dessen Funktion es sein wird, durch Kalkulation und Komputation unwahrscheinliche Situationen ins Bild zu setzen, Informationen, Katastrophen herbeizuführen. Zwischen den Menschen werden künstliche Intelligenzen eingeschaltet sein, die durch Kabel und ähnliche Nervenstränge hindurch mit den Menschen dialogisieren. Es wird daher funktionell sinnlos sein, zwischen „natürlichen“ und „künstlichen“ Intelligenzen (zwischen „Primatengehirnen“ und „Sekundantengehirnen“) unterscheiden zu wollen. Das Ganze wird funktionell ein kybernetisch gelenktes, in seine Elemente unzerlegbares System sein: eine schwarze Kiste. Flusser 1996 [1985]: 175f.

Während in alltagssprachlichen Verwendungsweisen der Utopie-Begriff vorwiegend als positiv konnotiertes Versprechen verwendet wird, trägt Flussers utopisches Szenario der Zweiseitigkeit in Thomas Morus’ gattungsbegründendem Text Utopia (vgl. Genz 2016) durchaus Rechnung: Die Menschlichkeit des Menschen ist auf seinen ‚verkümmerten‘ Körper reduziert, der selbst in seiner

Einleitung

11

Instandhaltung und Fortpflanzung auf technologische Assistenz angewiesen ist. Der antiindividualistische Zug des Utopischen wird dabei zu einer kybernetischen Äquivalenz gesteigert, die eine Unterscheidung zwischen technischen Dingen und menschlichen Wesen hinfällig macht. Die Kehrseite einer dialogisierenden telematischen Gesellschaft ist ihre Einspannung in die Blackbox. Die Eröffnung von Spielräumen geht mit der Begrenzung durch Spielregeln einher. Die bei Flusser deutlich aufscheinende Schattenseite des utopischen Entwurfs tritt hingegen in Mark Terkessidis Argumentation in den Hintergrund, wenn er Kollaboration – in Abgrenzung zu einem pejorativen Verständnis im Sinne des Arrangements mit den herrschenden, kapitalistisch-egoistischen Machtkonstellationen – gerade in ihren kleinteiligen Praktiken als ein zukunftsweisendes Gesellschaftsmodell der Vielstimmigkeit bestimmt: Kollaboration ist notwendig, aber sie könnte als Strategie mit mittlerer Reichweite einen durchaus utopischen Charakter entfalten. Selbst wenn wir das große Ganze nicht immer verändern können, wäre die Füllung der Zwischenräume mit kollaborativen Herangehensweisen ein wichtiger Schritt in Richtung einer vertieften Demokratie, eines besseren Zusammenlebens, gerechter verteilter Bildungschancen oder einer neuen Qualität der Arbeitsbedingungen. Terkessidis 2015: 12

Auch wenn die Beiträge dieser Sektion die Versprechungen der Kollaboration in ihren Potenzialitäten und gegenwartskritischen Fluchtlinien ernst nehmen, ist es ihnen ebenso ein Anliegen, die Grenzziehungen, Bindungen und Anforderungen zu beleuchten, die mit diesen Versprechungen untrennbar verbunden sind. Den Auftakt der Sektion bildet der theoretisch grundlegende Beitrag von Erhard Schüttpelz „Versprechen, Verträge und Vertretungen. Soziale Akte bei Adolf Reinach und J.L. Austin“, der, noch einen Schritt hinter die utopischen Versprechungen der Kollaboration zurückgehend, das Versprechen selbst als kooperativen sozialen Akt kenntlich macht, der Ansprüche und Verbindlichkeiten erzeugt. Schüttpelz erschließt das Versprechen über die Theorie der sozialen Akte von Adolf Reinach als Grundelement der rechtswirksamen Zusammenarbeit. Als besonders prägnantes Beispiel der frühen Sprechakttheorie vermag das Versprechen, wie es Reinach fasst, klarer herauszustellen, dass performative Akte immer auch kooperative Akte sind – ein Umstand, der in der Sprechakttheorie von und in Nachfolge Austins mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Erst die Annahme eines Versprechens, so liest Schüttpelz Reinach, macht es zu einem sozialen Akt, bei dem ein Anspruch des Angesprochenen auf die Einlösung des Versprechens und eine Verbindlichkeit des

12

Nacim Ghanbari et al.

Sprechers entsteht. Diese kooperative Verflechtung von Angesprochenem und Sprecher im Akt des Versprechens macht eine Ergänzung durch eine Theorie der Vertretung notwendig, die Handlungsdelegationen beschreibbar macht, insofern ein Sprecher durch sein Versprechen fremde Ansprüche und ein Angesprochener durch die Annahme eines Versprechens fremde Verbindlichkeiten erzeugt oder wenn diese Vertretung an Schriftstücke oder andere Medien rechtsverbindlich übertragen wird. Im Fall von beiderseitigen Versprechen in einem Vertrag, so der Ausblick des Beitrags, hat dies besonders für digital vernetzte Medien und die „ungeheure Eskalation von Identifizierungs- und Registrierungstechniken“ (Schüttpelz in diesem Band) ihrer medialen Vertretungen Relevanz. Nach diesem grundlagentheoretischen, den Begriff des Versprechens mit dem der Zusammenarbeit engführenden Text folgen drei Beiträge, die sich im engeren Sinne den Kollaborationsversprechen digital vernetzter Medien widmen. Die Sektion spannt dabei einen medienhistorischen Bogen von frühen Experimentierfeldern vernetzter Computer-User über die Möglichkeitsräume von Protestbewegungen durch digital vernetzte Zusammenarbeit bis hin zu den Gemeinschaftsversprechen gegenwärtiger App-Kulturen. Isabell Otto verhandelt in ihrem Beitrag „Wie (nicht) mit dem Computer kollaborieren? Douglas Engelbarts Utopien der Zusammenarbeit und die Geschichtlichkeit der digitalen Vernetzung“ den Zusammenhang von Versprechen und Zumutungen in der Frühzeit des Internets. In der Perspektive des Computerpioniers Engelbart bildet die wechselseitige Wahrnehmbarkeit der menschlichen Computer-User die Grundlage für ihre Zusammenarbeit. Quer zu dem in den 1960er Jahren besonders durch J.C.R. Licklider propagierten kybernetischen Verständnisses des Computers als eigenlogischem Mittler oder Akteur entwirft Engelbart in seinem Augmentation Research Center den Computer als Mittel der ­Face-to-Face-Kommunikation. In die Zukunft der digitalen Videokonferenz weisend ergänzt Engelbart die vernetzten Computer durch Closed-CircuitSchaltungen analoger Video-Technologie, die ein menschliches Gegenüber sichtbar bzw. beobachtbar macht, und implementiert der digitalen Vernetzung somit das Versprechen einer überlegen-kontrollierenden Positionierung des Menschen. Vernetzte Kollaboration heißt für Engelbart ausschließlich eine computergestützte Zusammenarbeit von Menschen. Er richtet sich damit gegen eine Konstruktion des ARPAnet als ein Datennetz, das sich menschlicher Handlungsmacht zugunsten einer Kommunikation und Kollaboration von Computern entzieht. Die Spielräume, die Engelbart dem menschlichen User damit eröffnen will, so die Argumentation des Beitrags, entpuppen sich jedoch als (Aus-)Schließungsfiguren. Das Computersystem des ­Augmentation ­Research Center erweist sich als so komplex und auf hochspezialisierte User

Einleitung

13

a­ ngewiesen, dass gerade keine Bewegungsfreiheit entsteht, sondern sich eine „disziplinierende Einspannung des Users in das kollaborierende Kollektiv“ (Otto in diesem Band) vollzieht. Während Engelbarts Kollaborationsversprechen sich somit dem angesprochenen User deutlich als Verpflichtungen und in Anspruch nehmende Einbindungen in das vernetzte System zu erkennen ­geben, eröffnen die verteilten digitalen Netzwerke, die unabhängig von menschlichen Usern operieren und in dieser Eigendynamik die weitere Ausdifferenzierung des Internets prägen, die Freiheitsgrade der ­zusammenarbeitenden Menschen. Sebastian Haunss setzt mit seinem Beitrag „Das Internet und das Versprechen neuer Formen der Kollaboration“ an einer historischen Situation an, die von Social Media und Open Source Software geprägt ist und in der es evident scheint, dass das Internet neue Formen der Kollaboration ermöglicht. Doch kann das Internet auch als politische Kollaborationsplattform dienen und insbesondere für nicht-institutionelle politische Akteure im Rahmen von Protesten und sozialen Bewegungen Formen der Zusammenarbeit bereitstellen? Haunss klärt diese Frage über die Verhandlung und Diskussion von ­Kollaborationsversprechen in der Forschungsliteratur. Er identifiziert dabei vier „Zusammenhangsvermutungen“ (Haunss in diesem Band) zwischen Internet und sozialen Bewegungen. Erstens gehen Autorinnen wie Clay Shirky davon aus, dass die vernetzte Kommunikation den Aufwand an Zeit und Ressourcen verringere und so Proteste erleichtere. Zweitens, so die Auffassung von Lance Bennett und Alexandra Segerberg, befördere das Internet Handlungen, die sich nicht an einer individuellen Nutzenmaximierung orientieren, sondern die neuen Möglichkeiten der Konnektivität in den Vordergrund stellen. Drittens, so das auf einer gesellschaftstheoretischen Ebene angesiedelte Zusammenhangsargument, das u.a. Manuel Castells vertritt, sei die Netzwerklogik aktueller Konflikte Ausdruck der Netzwerkgesellschaft. Schließlich wird viertens in der Forschungsliteratur argumentiert, das Internet ermögliche durch seine Beförderung von schwachen oder starken Bindungen neue Organisationsformen des politischen Protests. Haunss setzt diesen vier Antworten auf die Frage, ob das Internet erfolgreiche politische Kollaboration verspreche, empirische Befunde entgegen und schlussfolgert, dass Kollaborationsversprechen nicht völlig verfehlt sind, aber insgesamt den Stellenwert des Internets überschätzen. Lediglich für Mikro-Praxen, die nicht-internetbasierte Formen des Protests ergänzen, spielt die Erweiterung durch digital vernetzte Medien eine Rolle. Nikola Plohr untersucht in ihrem Beitrag „Bodies that work. Freeletics und die herausfordernde Gemeinschaft“ die Dynamiken der Gemeinschaftsbildung am Beispiel einer Fitness-App. Sie bringt dabei die Arbeit am eigenen Körper, zu der die App in ihren Appellen auffordert, in Zusammenhang mit einer A ­ rbeit

14

Nacim Ghanbari et al.

an der Community, die mit einer Zurichtung des Körpers und seiner Einpassung in die Vorgaben der Trainings-App einhergeht. Die Community wird in den Werbebotschaften der App als ein verbindliches Versprechen in Aussicht gestellt. Plohr argumentiert in Anschluss an das Konzept der ‚entwerkten Gemeinschaft‘ von Jean-Luc Nancy, dass sich in den Gebrauchsweisen der App vielmehr ein uneingelöstes Versprechen zeige, weil die Gemeinschaft durch ein ortsverteiltes, vereinzeltes Üben mit und vermittelt durch das Smartphone immer unerreichbar bleibe. Statt von Zusammenarbeit sei im Fall von Freeletics vielmehr von Mit-Arbeit zu sprechen, die sich nicht auf ein gemeinsames Werk fokussiere und die einzelnen Arbeitskräfte nicht zusammenführe. Den beobachtbaren kollaborativen Prozess identifiziert Plohr nicht als „‚Kultur des Teilens‘“ (Terkessidis 2015: 8), sondern als „Kultur des Mit-teilens“ (Plohr in diesem Band). Mit jedem Workout arbeiteten die User mit an der Entwerkung der Gemeinschaft. Der Beitrag identifiziert somit in den Praktiken der Kollaboration Vorgänge, die sich gegen die Werbe-Narration eines zusammenwirkenden Sportteams und somit gegen die Versprechungen der Kollaboration richten. Der Einsatz des vorliegenden Bandes lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Er legt „Grundeinheiten der Zusammenarbeit“ (Schüttpelz in diesem Band) offen. Dies betrifft eine Reihe von Medienpraktiken, die erst im Prozess der Kollaboration zum Vorschein treten. Hierzu zählen Tagging, Matching und Droning – allesamt Praktiken, die nur bedingt eigene Visualisierungen hervorbringen. Sie sind nur als kollaboratives Verfahren und damit als Spur vergangener Aktivitäten erfahrbar. Kollaboration wird hier an einen nicht sicht- und identifizierbaren Mittler delegiert. Insofern ist für Kollaboration nach wie vor die „Zusammenarbeit mit einer Besatzungsmacht“ (Linz in diesem Band) kennzeichnend. Der Band forciert eine Unterscheidung der Begriffe ‚Kollaboration‘ und ‚Kooperation‘. Kooperation geht von einem identifizierbaren Gegenüber aus, basiert auf einem Prozess, der auf Rekursivität und Wechselseitigkeit beruht. Kollaboration hingegen ist geprägt durch den Umgang mit Vielheiten. Dabei können ganz unterschiedliche Entitäten und Datensätze miteinander in Verbindung treten, wie die hier versammelten Aufsätze demonstrieren. Kollaboration ist mehr als das Teilen von Informationen: Während Medienpraktiken gerade unter digitalen Bedingungen häufig unter dem Aspekt des Sharings betrachtet werden (vgl. Couldry 2012), zeichnen sich die hier diskutierten Formen der Kollaboration dadurch aus, dass die medialen Bedingungen jeweils implizit mitgedacht werden müssen. Statt einem medialen Apriori – das zeigen die hier vorgelegten Einzelanalysen – ist eine mediale Möglichkeitsbedingung mit am Werk, die Zusammenarbeit gestaltet, verwaltet, v­ ermittelt

Einleitung

15

und transformiert. Dadurch werden neue kulturhistorische Perspektiven eröffnet und klassische Medientechniken wie Kommentieren, Katalogisieren oder Kartografieren mit Komplexität aufgeladen. Sie erscheinen nicht mehr nur im Lichte einer Kulturtechnik, sondern als heterogenes Ensemble eines Zusammenspiels verschiedener kollaborativer Praktiken. Literatur Assmann, Aleida/Assmann, Jan (Hrsg.) (2000): Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation VI, München. Baillot, Anne (2016): „Was tun mit der Weisheit der Massen? Moderne Philologie im digitalen Zeitalter“, in: Stefanie Stockhorst et al. (Hrsg.), Symphilologie. Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften, Göttingen, 261–279. Billing, Johanna (Hrsg.) (2007): Taking the Matter into Common Hands. On Contemporary Art and Collaborative Practices, London. Bishop, Claire (2012): Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, New York/London. Blunck, Lars (2003): Between Object & Event. Partizipationskunst zwischen Mythos und Teilhabe, Weimar. Brandstetter, Thomas et al. (Hrsg.) (2012): Vor Google. Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter, Bielefeld. Bruns, Axel (2008): Blogs, Wikipedia, Second Life and Beyond: From Production to Produsage, New York. Couldry, Nick (2012): Media, Society, World: Social Theory and Digital Media Practice, Malden, MA. Diamond, Sara (2008): „Participation, Flow, and the Redistribution of Authorship. The Challenges of Collaborative Exchange and New Media Curatorial Practice“, in: Christine Paul (Hrsg.), New Media in the White Cube and Beyond. Curatorial Models for Digital Art, Berkeley et al., 135–162. Eco, Umberto (1985): Das offene Kunstwerk, übers. v. Günther Memmert, 2. Aufl., ­Frankfurt a.M. Flusser, Vilém (1996 [1985]): Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen. Frieling, Rudolf (Hrsg.) (2008): The Art of Participation. 1950 to Now. Ausstellungskatalog San Francisco Museum of Modern Art, New York. Gamper, Michael (2001): „Kollektive Autorschaft/Kollektive Intelligenz: 1800–2000“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft XLV, 380–403. Genz, Julia (2016): „Das Märchen von der schönen Utopie“, in: Kultur/Reflexion. Philsophische, kultur- und sozialwissenschaftliche sowie künstlerische Beiträge, https:// kure.hypotheses.org/76, 03.10.2017.

16

Nacim Ghanbari et al.

Hennion, Antoine/Méadel, Cécile (2013): „In den Laboratorien des Begehrens. Die Arbeit der Werbeleute“, in: Tristan Thielmann/Erhard Schüttpelz (Hrsg.), Akteur-­ Medien-Theorie, Bielefeld, 341–376. Huber, Birgit (2012): Arbeiten in der Kreativindustrie. Eine multilokale Ethnografie der Entgrenzung von Arbeits- und Lebenswelt, Frankfurt a.M. Jost, Erdmut (2012): „Eintrittskarte ins Netzwerk. Prolog zu einer Erforschung des Empfehlungsbriefs“, in: Dies./Daniel Fulda (Hrsg.), Briefwechsel. Zur Netzwerkbildung in der Aufklärung, Halle a.d.S., 103–143. Kester, Grant H. (2001): The One and the Many. Contemporary Collaborative Art in the Global Context, Durham. Knorr Cetina, Karin (2002): Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, mit einem Vorwort von Rom Harré, erweiterte Neuauflage, 2. Aufl., Frankfurt a.M. Krämer, Sybille (2005): „Die Welt, ein Spiel? Über die Spielbewegung als Umkehrbarkeit“, in: Helga Raulff (Hrsg.), Spielen. Zwischen Rausch und Regel, Ostfildern-Ruit, 11–17. Krämer, Sybille (2009): „Operative Bildlichkeit. Von der ‚Grammatologie‘ zu einer ‚Diagrammatologie‘? Reflexionen über erkennendes ‚Sehen‘“, in: Martina Heßler/Dieter Mersch (Hrsg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld, 94–123. Lepper, Marcel (2016): „Philologische Zusammenarbeit und institutionelle Infrastruktur im frühen 19. Jahrhundert: Traditionen, Programme, Konflikte“, in: Stefanie Stockhorst et al. (Hrsg.), Symphilologie. Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften, Göttingen, 123–139. Livingston, Paisley (2005): Art and Intention. A Philosophical Study, Oxford. Löwgren, Jonas/Reimer, Bo (2013): Collaborative Media. Production, Consumption, and Design Interventions, Cambridge, MA/London. Otto, Isabell (2009): „Das Soziale des Social Web. Erkundungen in Wikipedia“, in: Sprache und Literatur 40(2), 45–57. Schneider, Ulrich Johannes (2013): Die Erfindung des allgemeinen Wissens. Enzyklopädisches Schreiben im Zeitalter der Aufklärung, Berlin. Schönert, Jörg (2015): „Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft“, in: Ralf Klausnitzer et al. (Hrsg.), Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Konfigurationen der wissenschaftlichen Persona seit 1750, Berlin/Boston, 295–319. Schüttpelz, Erhard (2016): „Infrastrukturelle Medien und öffentliche Medien“, in: M ­ edia in Action 0, 1–21, http://dokumentix.ub.uni-siegen.de/opus/volltexte/2016/998/, 26.02.2018. Spoerhase, Carlos (2010): „Big humanities: ‚Größe‘ und ‚Großforschung‘ als Kategorien geisteswissenschaftlicher Selbstbeobachtung“, in: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/38, 9–27.

Einleitung

17

Star, Susan Leigh (2017): Grenzobjekte und Medienforschung, hrsg. v. Sebastian Gießmann/Nadine Taha, Bielefeld. Star, Susan Leigh/Griesemer, James R. (1989): „Institutional Ecology, ‚Translation‘ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology. 1907–39“, in: Social Studies of Science 19(3), 387–420. Stockhorst, Stefanie et al. (Hrsg.) (2016): Symphilologie. Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften, Göttingen. Tantner, Anton (2015): Die ersten Suchmaschinen. Adressbüros, Fragämter, IntelligenzComptoirs, Berlin. Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration, Frankfurt a.M. Thagard, Paul (1997): „Collaborative Knowledge“, in: Noûs 31(2), 242–261. Verhoeff, Nanna (2012): Mobile Screens. The Visual Regime of Navigation, Amsterdam. Verhoeff, Nanna (2015): Footage: Action Cam Shorts as Cartographic Captures of Time, in: Empedocles: European Journal for the Philosophy of Communication 5(1&2), 103–109. Voßkamp, Wilhelm et al. (2013): Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart, München. Wu, Harris et al. (2006): „Harvesting social knowledge from folksonomies“, in: Hypertext '06. Proceedings of the seventeenth conference on Hypertext and hypermedia, Odense, Denmark, August 22–25, 2006, New York, 111–114.

I Künste der Kollaboration



Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

Praktiken der Verbesserung und Kritik bei Gottfried August Bürger Nacim Ghanbari Verbessern, Korrigieren und kritisches Beurteilen sind wichtige Praktiken kollaborativen Schreibens. Liest man Briefwechsel von Autorinnen und ­ ­Autoren des 18. Jahrhunderts, fallen unweigerlich die häufigen Fragen danach auf, ob der Freund das ihm anvertraute Schriftstück bereits gelesen, wichtiger jedoch, ob er es mit kritischen Anmerkungen und Verbesserungen versehen habe. Friedrich Schlegel an Johann Wolfgang Goethe: „Darf ich fragen ob Ihnen das elegische Bruchstück von Hermesianax schon bekannt war, und was Sie davon urtheilen?“ (Schlegel 1985: 135, 03.06.1798) Jakob Michael Reinhold Lenz an Sophie von La Roche: „Das hier beigelegte ist gleichfalls nur ein Gemälde aus meinem Leben heraus gehoben. Sie könnten mir keinen höhern Beweis Ihrer Freundschaft geben, als wenn Sie mir Ihr strengstes Urteil darüber zuschickten.“ (Lenz 1987: 326, Juli 1775) Goethe an Christoph Martin Wieland: „Beyliegende drey Gesänge Reinickes wollte ich erst recht sauber abschreiben lassen und nochmals durchsehen, eh ich sie, lieber Herr und Bruder deiner Sancktion unterwürfe. […] Du hast die Güte sie, den kritischen Griffel in der Hand, zu durchgehen, mir Wincke zu weiterer Korrecktur zu geben und mir zu sagen: ob ich die Ausgabe dieser Arbeit beschleunigen, oder sie noch einen Sommer solle reifen lassen.“ (Goethe 1991: 699, 26.09.1793) Mit der Bitte um ­‚Revisionen‘, ‚Erinnerungen‘, ‚Anmerkungen‘, ‚Korrekturen‘ und ‚Verbesserungen‘ verlässt der Text die einsame Schreibstube und wird nach außen hin geöffnet. Um die alltägliche und in den Briefen allgegenwärtige Frage nach Verbesserungen und Kritik als Moment kollaborativen Schreibens sichtbar machen zu können, sind vorab zwei Klärungen nötig. Zunächst ist zu fragen, in ­welchem Verhältnis ‚kollaboratives Schreiben‘ und ‚literarische Zusammenarbeit‘ stehen. Als ‚literarische Zusammenarbeit‘ gilt in der ­Literaturwissenschaft die ­Bezugnahme zweier oder mehrerer Autoren auf Texte. Sie wird in der ­gemeinsamen Herausgabe oder Autorschaft von Werken, in der ­Vermittlung von Rezensionen, in der Beratung des geeigneten Publikationsortes, in der Kommunikation über literarische Themen, aber auch in der gemeinsamen Verbesserung eines Textes vermutet (vgl. Plachta 2001).1 ‚Literarische Zusammenarbeit‘ ist eine kaum problematisierte Hilfsbezeichnung mit m ­ oralischer 1 Die PMLA versammelt 2001 (H. 2/3) in der Sektion „Theories and Methodologies“ ebenfalls einige Beiträge zum Thema „collaboration“. Definiert als „any kind of cooperative endeavor ­behind a literary performance“ (Hirschfeld [2001]: 614) deckt sich der in der angloamerikanischen ­Literaturwissenschaft verwendete Begriff der ‚collaboration‘ mit dem Begriff der © Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi 10.30965/9783770558407_003

22

Nacim Ghanbari

Schlagseite, wenn sie dazu dient, in der als agonal wahrgenommenen Literaturgeschichte idyllische Enklaven von Zweisamkeit und Kollegialität zu ­bezeichnen (vgl. Peterson 2009: 96–130). Fragt man jedoch nach den konkreten Abläufen einer gemeinsamen ­Publikation oder kritischen Verbesserung, öffnet sich ein Feld von Konventionen, die von Arbeitsteilung und ständischen Reglements bestimmt sein können, und zeigt sich ‚Zusammenarbeit‘ als störanfälliger Prozess. Analog zu jenem hermeneutischen Grundsatz, demnach sich das Missverstehen von selbst versteht und erst das Verstehen Rätsel aufgibt, liegt dem Konzept der Kollaboration die Annahme zugrunde, dass Störungen im Prozess gemeinsamer Verfertigung von Texten selbstverständlich sind, weshalb Kollaboration der fortdauernden Verständigung bedarf. Die zweite Klärung betrifft die Verbindung von Verbesserungen und ­Kritik. Aktuelle Publikationen, die der reichen Ideengeschichte der Kritik deren w ­ enig erforschte Sozial- und Kulturgeschichte gegenüberstellen, setzen beide B ­ egriffe zueinander ins Verhältnis: Das Verbessern wird der Seite ü ­ berschaubarer, freundschaftlicher Zirkel zugeschlagen, Kritik hingegen der Seite öffentlich agierender Rezensenten (vgl. Benne 2015: 378f.; Spoerhase 2014a: 199; Tenger/ Trolander 2010: 1044f.; Trolander/Tenger 2007). Diese ­Entgegensetzung produziert eine Kette weiterer Gegensatzpaare (u.a. Produktion vs. Rezeption, ­Manuskript vs. Druck, Variante vs. Korrektur), an deren Ende sich das ­Verbessern als technische Fertigkeit darstellt, die zum Einsatz kommt, wenn es gilt, die Fehler eines Textes zu beseitigen.2 Damit geht ­implizit die Annahme einher, das Verbessern habe als mechanische, vielleicht gar niedere Tätigkeit keine Geschichte.3 Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die semantische Mehrdeutigkeit von Verbesserung und Kritik im 18. Jahrhundert, denn Verbesserung ‚­literarischen Zusammenarbeit‘. Wichtiges Referenzwerk dieser Diskussion ist Stillinger (1991). 2 Diese Entgegensetzung taucht in der Editionsphilologie in der Unterscheidung zwischen ­‚Variante‘/‚Variation‘ und ‚Korrektur‘ auf – beispielsweise in Klaus Hurlebuschs Edition von Friedrich Gottlieb Klopstocks Arbeitstagebuch: „Der Begriff der Korrektur ist dabei als ­Korrektur von Schreibfehlern verstanden, also als Änderungen, ‚mit denen der Autor schriftliche Abweichungen von normativen Regeln der Grammatik und Rechtschreibung‘ beseitigt hat. Änderungen, die nicht auf die Einhaltung einer Norm zurückgehen, sondern mit d­ enen der Autor ‚seinen im prüfenden Blick auf das Geschriebene gebildeten Ausdrucks- und ­Formulierungswillen verwirklicht hat‘, bezeichnet Hurlebusch als Variationen.“ (Nutt-Kofoth 2002: 42) 3 Die Historizität von kollektiven Fertigkeiten ist eine Forschungsfrage, die unter den ­Stichworten ‚Kulturtechniken‘ und ‚Praxeologie‘ diskutiert wird (vgl. Martus/Spoerhase 2013; Zanetti 2012; Maye 2010).

Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

23

und ­Korrektur werden oft synonym verwendet: Korrektur bedeutet ­sowohl Änderung im Manuskript als auch „Variante des autorisierten Drucks“ ­ ­(Nutt-­Kofoth 2002: 39), Kritiken beziehen sich sowohl auf Rezensionen als auch auf Stellenkommentare. Mein Interesse gilt in erster Linie der ‚Fremdkorrektur‘, einem Element der Textgenese,4 das in der Literaturgeschichte nicht zuletzt durch den Erfolg einer am Paradigma der Autonomieästhetik ­orientierten Editionsphilologie nur unzureichend berücksichtigt wurde: Wie man anhand der Editionsgeschichte der Werke verschiedener Autorinnen und Autoren des 18. Jahrhunderts zeigen kann, wurden die Spuren ‚fremder Hände‘ als den Text verunreinigende Elemente angesehen, die zu ignorieren hatte, wer sich mit dem eigentlichen Werk befassen mochte.5 Aus dieser Perspektive gelten Veränderungen am Text eines befreundeten Autors als Verfälschungen und mit dem Autor befreundete Herausgeber als „­unreliable editors“ (vgl. Bunke 2003: 284). Demgegenüber wird im Folgenden die Frage verfolgt, wie die Autorinnen und Autoren selbst die Fremdkorrektur bewerten, einsetzen und wie sie die Zirkulation von Anmerkungen und Verbesserungen steuern. In diesem Zusammenhang sind die Schriften G ­ ottfried August Bürgers vielversprechende Quellen und ist Bürger selbst eine schillernde Figur: Im Kontext der Literaturgeschichte des Göttinger Hains wird seine Ballade Lenore vielfach zitiert, um die Praktiken kollaborativen ­Schreibens zu veranschaulichen (vgl. Kahl 2006: 342–346). Während jedoch die unverwüstliche literaturhistorische Anekdote von der sonntäglichen Zusammenkunft der Göttinger Studenten den Dichterbund als eminenten Ort gegenseitiger Kritik bezeichnet (vgl. Blasberg 2002: 156f.; Beck 1982: 69–134),6 führt die Spur der ausgetauschten Anmerkungen und Lesarten in ­Arbeits- und Kommunikationszusammenhänge, die jenseits bündischer Strukturen zustande kommen.

Um Kritik bitten: Pläne und Projekte

Wenn man den Begriff des kollaborativen Schreibens im 18. Jahrhundert konzeptuell aus der Aufwertung der Fremdkorrektur entwickelt, könnte die Frage 4 Der kritikhistorische Klassiker Herbert Jaumanns bedenkt die Fremdkorrektur lediglich in einem Absatz als „traditionelle Form der privaten ‚Vorkritik‘“ (vgl. Jaumann 1995: 243f.). Zur Frage der editorischen Verbesserung als Bestandteil der Textüberlieferung vgl. Vanek (2007). 5 Hinzuweisen wäre hier beispielsweise auf die wechselvolle Editionsgeschichte der Werke Ludwig Christoph Heinrich Höltys (vgl. Hettche 1999: 99–103). Zum Forschungsprogramm einer kulturwissenschaftlich interessierten Editionsphilologie vgl. Bohnenkamp et al. (2010). 6 Zu einer Kritik der Historiografie des Göttinger Hains vgl. Lüchow (1995: 157): „Trotz der ­ausgezeichneten Quellenlage basieren die bisherigen Arbeiten über den Göttinger Hain ‚fast durchweg auf einem nur schmalen Bestand geläufiger Zitate‘.“

24

Nacim Ghanbari

auftauchen, ob die Korrektur nicht zu geringfügig und marginal ist, um sie mit dem Gewicht kollaborativen Schreibens zu beschweren. Können Anmerkungen am Rande eines Manuskripts und zwischen den Zeilen, Streichungen und Listen verschiedener Lesarten eines Verses zur Grundlage einer kollektiven Praxis erklärt werden? Aktuelle Arbeiten zum Thema der ‚literarischen Manuskriptkultur‘ (Benne 2015) zeigen, dass im 18. Jahrhundert der Korrekturbedarf eines Textes gattungsbestimmend sein konnte. So bedienen sich Autoren wie unter anderen Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Caspar Lavater und Karl ­Leonhard Reinhold des Manuskriptdrucks, um Verbesserungen einzuholen, ohne ihre Veröffentlichung anonymer Kritik auszusetzen. Der Name für ­dieses restringierte ­Veröffentlichungsmodell ist ‚Manuscript für Freunde‘. Ein solches ‚­Manuscript für Freunde‘ ist in der Regel von geringem Umfang, wird aufgrund des ­Verbesserungs- und Vervollständigungsbedarfs weder als Buch noch als Werk ­angesehen und nicht über den Buchhandel verkauft. Seine ­Vorläufigkeit wird durch handschriftliche Elemente angezeigt (vgl. Benne 2015: 192–202; ­Spoerhase 2014a). Während in der Literaturwissenschaft ­Manuskriptdrucke bisher als Privatdrucke rubriziert wurden (vgl. ebd.: 197f.), ist auf die ­Eigengesetzlichkeit der Gattung zu bestehen – und damit auf die P ­ reisgabe der doppelten ­Entgegensetzung von ‚privat im Medium des ­Manuskripts‘ ­versus ‚öffentlich im Medium des Drucks‘ zugunsten der Untersuchung konkreter Veröffentlichungspraktiken, die im 18. Jahrhundert die Möglichkeit des Manuskriptdrucks vorsehen (vgl. Benne 2015; Spoerhase 2014a, 2014b). Auch wenn für die Definition des ‚Manuscripts für Freunde‘ die Unterscheidung zwischen freundschaftlicher Verbesserung und anonymer ­Kritik entscheidend zu sein scheint, kommt es nicht selten zur wechselseiti­ gen Durchdringung beider Sphären. Diese Dynamik lässt sich anhand der ­Verhandlungen über die Grundbegriffe und Grundsätze der Moralität des Karl Leonhard Reinhold zeigen: Die an die große Öffentlichkeit adressierten Verhandlungen enthalten neben der neuen, von Reinhold mithilfe der ersten Leser überarbeiteten und verbesserten Fassung des Entwurfs auch einen Abdruck der ursprünglichen Fassung des Entwurfs samt den brieflichen Einwänden darauf und deren Beantwortung. […] Der ursprüngliche Plan [Reinholds, N.G.] sah nun vor, die durch „öffentlichen Druck“ an ein großes Publikum adressierte Fassung anschließend wieder in den stark restringierten ­Zirkulationsbereich des Freundeskreises des Manuskriptdrucks zu ­überführen. Spoerhase 2014a: 195

Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

25

Bürgers Pläne und Projekte sind – wie ich anhand von drei Beispielen ­skizzieren werde – von einer vergleichbaren Dynamik geprägt. Insbesondere bei seinen Übersetzungen macht Bürger keinen Unterschied zwischen ­verbessernden Freunden und kritischer Öffentlichkeit, wenn er einerseits die ­Leserinnen und Leser bittet, ihm mittels Brief oder Publikation ­Anmerkungen und ­Alternativübersetzungen zuzuschicken, und andererseits befreundete Zeitschriftenherausgeber anregt, Kritik und Verbesserungen abzudrucken. Die von Bürger vorgesehene Verschränkung kritischer Kommentare bedient sich dabei verschiedener Medien.

„Hier ist endlich Lenore!“

In einem Brief vom 9. September 1773 schickt Gottfried August Bürger seine Ballade Lenore an Heinrich Christian Boie und bittet ihn und „die andern um Rath“ (Bürger 2015, Bd. 1 [1760–1776]: 388, 09.09.1773). Bereits in dieser ersten Anfrage unterscheidet Bürger zwischen Korrekturen, die lediglich die Fehler benennen, und solchen, die bereits Lösungsvorschläge enthalten und den ursprünglichen Text verändern: Aber die Untersuchung muß nicht allgemein seyn, sondern ins Detail gehn. Auch hab’ ich die liebe Zeit von aller eürer Weißheit, wenn ihr mir nicht, bey aufstoßendem Fehler, oder Mangel, das Fleckchen zeigt, wo ich, eürer Meinung nach, hätte hintippen sollen. Einige Stellen, wo ich Ausdruck und Versification verbessert wissen möchte, hab’ ich mit ­diesem Zeichen ꝋ bemerkt.7 Ebd.

Die Freunde verstehen Bürgers Aufruf als Einladung, an der Ballade mitzuschreiben. Der Briefwechsel zwischen Bürger, Boie, Carl Friedrich Cramer und den Brüdern Christian und Friedrich Leopold Stolberg lässt rekonstruieren, wie sich die Ballade unter der Hand der befreundeten Autoren verändert, wie Bürger einzelne Wörter, Wendungen und ganze Zeilen von den Freunden übernimmt und die Ballade umbaut. Deren Verbesserungen sind umfassend und beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte. Die Briefe enthalten Aussagen über die Schwierigkeit, den passenden Reim beziehungsweise die passenden 7 Die Herausgabe einer kritischen Gesamtausgabe der Briefe Bürgers ist derzeit unter der Leitung von Ulrich Joost (TU Darmstadt) in Arbeit, http://www.linglit.tu-darmstadt.de/index .php?id=linglit_joost1, 27.02.2018.

26

Nacim Ghanbari

Verse zu finden, nachdem ein Wort oder eine Zeile verändert wurde. Sie zeigen aber auch, dass sich die befreundeten Autoren Bürger als Ideengeber zur Verfügung stellen. Nur selten weist Bürger Alternativvorschläge für ein Wort zurück (vgl. Bürger 1874, Bd. 1: 162). Am Ende scheinen die Versbeigaben der Freunde jedoch hinter die Erwartungen Bürgers zurückzufallen, fordert er sie doch in den Briefen mehrfach auf, Strophen zu vervollständigen und es nicht bei der einfachen Anmerkung zu belassen: „Versucht es doch! Ihr werdet ja so viel in meine Seele dichten können.“ (Bürger 2015: 414, 16.09.1773) Oder aber: „Einige Veränderungen zur Lenore hab’ ich gemacht. Die übrigen mögt Ihr selbst machen. Ihr Herrn, daß ist keine Kunst, daß Ihr bloß sagt, das und das taugt nicht. Daß seh ich oft leider Gottes! selbst wohl. Aber anders machen sollt Ihr! Und das wird einem Fremden oft leichter, als dem Verfasser selbst.“ (Ebd.: 410f.) Das gemeinsame Feilen an der Ballade nimmt mit dem Erstdruck im Göttinger Musenalmanach ein nur vorläufiges Ende. Bürger wird Lenore für seine Gedichtsammlungen weiter überarbeiten und überarbeiten lassen. Die ­Vorstellung eines literarischen ‚Endproduktes‘ verblasst neben dem Versprechen einer kontinuierlichen Folge verbesserter Variationen.

„Es muß, es muß sich noch eine andere Leseart finden lassen …“

Bürgers Programm einer populären Poesie hat eine medientechnische Voraussetzung, wenn es mit der weiträumigen Akquise und Zirkulation von Verbesserungen rechnet. Dies verdeutlicht die Rechenschaft über die Veränderungen in der „Nachtfeier der Venus“. Darin nimmt Bürger die deutsche Nachbildung von zwei lateinischen – und zu seiner Zeit Catull zugeschriebenen – Versen zum Anlass (vgl. Kahl 2006: 335f.; Albertsen 1981), um offenzulegen, wie sich an seine ursprüngliche Übersetzung neue Lesarten anschließen (vgl. Bürger 1987 [1802]: 875–935). Auf die Lesart der ersten Ausgabe folgt ein Gegenvorschlag Karl Wilhelm Ramlers und schließlich die Lesart der zweiten verbesserten ­Auflage der Gedichte: Morgen liebe, wer die Liebe Schon gekannt! Morgen liebe, wer die Liebe Nie empfand! Morgen liebe, morgen liebe, Wer die Liebe nie gekannt!

Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

27

Morgen liebe, morgen liebe, Wer die Liebe schon empfand! Morgen liebe, was auch nimmer Noch geliebet hat zuvor! Was geliebt hat längst und immer, Lieb’ auch morgen nach wie vor! Ebd.: 890–892

Der Vorgang der Verbesserung verselbstständigt sich in Form einer Proliferation der Lesarten. Sie ist einer Liste zu entnehmen, die möglichst alle Variationen der Zeile „Liebe morgen, wie zuvor!“ ausschöpft und die Bürger seinen Ausführungen anhängt: „Sei auch noch der Liebe froh!“ – „Sei der Liebe wieder froh!“ – „Sei der Liebe morgen froh!“ – „Sei der Lieb’ auch morgen froh!“ etc. (Vgl. ebd.: 908–910) Unter den aufgelisteten Lesarten befinden sich offenbar „auch ein paar“, die Bürger „von andern vorgeschlagen“ wurden (vgl. ebd.: 907). Bürger scheint über einen längeren Zeitraum den besagten Kehrreim verschiedenen Freunden vorgelesen und „zur möglichst strengen Durchprüfung“ (ebd.: 917) vorgelegt zu haben. Wie schon im Fall von Lenore sind es also auch hier die ‚kritischen Freunde‘ und ‚scharfsinnigen und geschmackvollen Beurteiler‘, die Bürger mit Reimideen und -vorschlägen beliefern (vgl. ebd.: 903). Die Übersetzung der Nachtfeier der Venus wird somit als offenes Projekt entworfen, und Bürger imaginiert, dass die Liste der Lesarten künftig von anderen „Künstler[n] und Kunstfreunde[n], besonders [den] jüngern“ (ebd.: 910) ergänzt und fortgesponnen wird. Die Leserinnen und Leser sind aufgefordert, die Lesarten miteinander zu vergleichen, um „sich vielleicht eine ihnen behaglichere Lesart zu ihrem Privat-Gebrauche auszuwählen“ (ebd.).

„so will ich aller Augen … zu Hülfe nehmen …“

Bürgers Publikationsprojekte erweisen sich bei näherem Hinsehen vielfach als Pläne, das Einwerben und die Zirkulation von Verbesserungen neu zu denken und zu optimieren. Sie sind mitunter vergleichbar mit den enzyklopädischen Unternehmungen des 18. Jahrhunderts, die darauf abzielen, möglichst alle Ideen und Kenntnisse einzusammeln. Der Vorbericht, der Bürgers Übersetzung der ersten vier Gesänge von ­Homers Ilias vorangestellt ist, verbindet die Bitte um Kritik mit der Rechtfertigung einer nunmehr in Hexametern zu erfolgenden Übersetzung – hatte Bürger doch in der Vergangenheit jambische Übersetzungsproben vorgelegt

28

Nacim Ghanbari

und hierfür aus Weimar, durch Vermittlung Goethes, einen Vorschuss erhalten. Um den neuen Anlauf zu begründen, beschreibt er den Plan einer jambischen Übersetzung als überwundene „Jugendidee“ (Bürger 1987 [1784]: 678) und entwirft die „neue Arbeit“ (ebd.) als kollaborativen Prozess, an dessen Ende nicht seine, „sondern die Übersetzung der ganzen Nation“ (ebd.: 682) stehen soll. Sein neuer Übersetzungsplan sieht vor, „Urteile, Erinnerungen und Ratschläge über ein Werk der Kunst einzusammeln, welchem man Vollendung und Dauer zu geben sucht“ (ebd.). Zu diesem Zweck ergeht an das Publikum sowie an die Herausgeber wichtiger Zeitschriften ein Aufruf. Das Publikum soll Bürger „die erbetenen Kritiken gedruckt oder handschriftlich“ (ebd.: 683) zukommen lassen; die Zeitschriftenherausgeber wiederum sollen die Anmerkungen als Aufsätze annehmen. Die Leser werden aufgefordert, sowohl selbst ­übersetzend tätig zu werden als auch bereits vorliegende Übersetzungen miteinander zu vergleichen, um Bürger Empfehlungen auszusprechen: „Sollte mir es übrigens nicht vergönnt sein, jeden Ausdruck, jeden Vers irgend eines meiner Vorgänger, den mir entweder Gründe, oder auch das Wort eines Mannes von bewährtem Ansehn, als besser werden empfehlen können, künftig in meinen Text ­aufzunehmen?“ (Ebd.: 682) Der Briefwechsel mit Leopold Friedrich Günther Goeckingk, in dessen Journal von und für Deutschland der Vorbericht erscheint, belegt, dass das ­Publikum dem Aufruf gefolgt ist. Die Briefe bewerten die eingesandten ­Kritiken und nehmen auf das Versprechen einer ‚Übersetzung der ganzen ­Nation‘ Bezug: Während Bürger im Fall eines Briefs mitsamt Anmerkungen seine Erwartungen derart bestätigt sieht, dass er Goeckingk fragt, ob der Kritiker „nicht die ­Absicht und den Wunsch hegen [sollte], seinen Brief und ­Anmerkungen gedruckt zu sehen“ (Bürger/Goeckingk 1890: 448, 05.04.1784), teilt er dem Freund wenig später ernüchtert mit, zu viele einander entgegengesetzte ­Verbesserungsvorschläge erhalten zu haben. Von der Utopie einer ­kollaborativen Situation, in der die eigenen Verse der Prüfung „aller Augen, die sehen können und wollen“ (Bürger 1987 [1784]: 681), ausgesetzt werden, bleibt am Ende die Feststellung gleichgültiger Kontingenz: „Denn der eine lobt, was der andere tadelt“ (Bürger/Goeckingk 1890: 451, 02.07.1784). Bürger nimmt die Beschaffenheit der Verbesserungsvorschläge zum Anlass, um die eigene Autorschaft zu reflektieren. Die Integration von Verbesserungen ruft die Idee kollektiver Autorschaft auf: Im Vorschlag zu einem deutschen Rechtschreibungs-Vereine, der deutliche Parallelen zum Vorbericht der IliasÜbersetzung aufweist und erneut „alle und jede schreibenden Gelehrten“ (Bürger 1987 [1824]: 744) des Vaterlandes zur Mitarbeit an einer einheitlichen deutschen Orthografie auffordert, stellt Bürger die namentliche Nennung der Beiträger in Aussicht. Er formuliert in diesem Text analog zur Utopie einer ‚Übersetzung der ganzen Nation‘ im Vorbericht die Vorstellung „eines großen

Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

29

allgemeinen Schreibgesetzes“ (ebd.), das seine Allgemeingültigkeit der Mitarbeit aller Autoren verdankt. Im Briefwechsel mit Goeckingk hingegen werden die Anmerkungen der Vielen als Kakophonie interpretiert und zur Festigung der eigenen alleinigen Autorschaft herangezogen: „Denn der eine lobt, was der andere tadelt. Also wird wohl doch am Ende keine andere als meine, keinesweges aber eine Übersetzung des fast nirgends mit sich selbst einigen Publikums heraus kommen.“8 (Bürger/Goeckingk 1890: 451, 02.07.1784) Aus der ‚Übersetzung der ganzen Nation‘ wird in einer bemerkenswerten Umkehrung ‚keine andere als meine‘.

Netzwerke der Kritik

In Bürgers Schriften finden sich hauptsächlich drei Begriffe zur Adressierung derjenigen, mit denen der Autor mittels Kritik kommunizieren möchte: ‚Freunde‘, ‚Gelehrte‘ und ‚die Nation‘. In der Literaturwissenschaft wiederum hat sich in den letzten Jahren der Begriff des ‚sozialen Netzwerks‘ durchgesetzt, um über die Gelehrtenrepublik und die verschiedenen Formen l­iterarischer ­Sozialität zu sprechen, die nach wie vor als Signum der Aufklärung angesehen werden (vgl. Ghanbari 2013; Jost/Fulda 2012). Als analytische Verbindung von Netzwerk und Gelehrtenrepublik ist Freundschaft anzugeben, die auf beiden Seiten mehr zu sein scheint als eine private Beziehung fern der Welthändel (vgl. Binczek/Stanitzek 2010). Sie ist vielmehr eine Kategorie kollaborativer literarischer Produktivität – mit Möglichkeiten und Grenzen, die anhand der Briefwechsel zwischen Autorinnen und Autoren nachvollzogen werden können. Entgegen der mehrschichtigen Selbstbeschreibung der Gelehrten im 18. Jahrhundert als Lateinkundige, Autoren oder Angehörige der Universität (vgl. Bosse 2012: 315 u. passim) betonte die moderne Geschichtswissenschaft lange Zeit lediglich das Moment der institutionellen akademischen Einbindung der Gelehrten – mit dem Ergebnis einer weitgehenden Gleichsetzung der Gelehrten- und Universitätsgeschichte (vgl. Döring 2011: 316; Zedelmaier/ Mulsow 2001). Die Briefwechsel des 18. Jahrhunderts provozieren hingegen die Frage, wie eine Gelehrtengeschichte jenseits der Universität, zentriert um Autorschaft und das Eintreten in die kritische Kommunikation einer gelehrten ­Korrespondenz, aussehen würde. Die Rezeption der Netzwerktheorie in der Aufklärungsforschung erscheint als Teil einer möglichen Antwort auf diese

8 Eine vergleichbare Rechtfertigung findet sich dort, wo Bürger auf die Bedeutung von Ramlers Lesarten für die Nachtfeier der Venus zu sprechen kommt (vgl. Kahl 2006: 335–340; Kertscher 1998: 38).

30

Nacim Ghanbari

Frage, wenn sie eine Verschiebung der Forschungsperspektive von den Gelehrten als korporativ verfasste Gruppe hin zu den gelehrten Praktiken herbeiführt. Vor diesem Hintergrund ist der Briefwechsel zwischen Bürger und Philippine Gatterer in der Tradition gelehrter Kommunikation zu lesen. Der erste Herausgeber der Briefe, Erich Ebstein, hat das allerdings noch anders gesehen (vgl. Bürger/Gatterer 1921): Mit dem Zusatz „ein Briefwechsel aus Göttingens empfindsamer Zeit“ ordnet er die Korrespondenz einer literaturhistorischen Strömung zu, von der man im frühen 20. Jahrhundert und darüber hinaus annehmen durfte, besonders ‚frauenaffin‘ zu sein. Die Nennung der Stadt Göttingen gibt der Sammlung schließlich eine regionale heimatliche Note. Für die Untersuchung der literarischen Zusammenarbeit zwischen Bürger und Gatterer ist zunächst festzuhalten, dass ihre Veröffentlichungsbiografien eine wichtige Gemeinsamkeit aufweisen: Beide publizieren ihre ersten Gedichtsammlungen 1787 bei Dieterich in Leipzig. Bürgers Briefe an Gatterer zeigen darüber hinaus, dass die Zirkulation von Informationen bezüglich des ­Publizierens die Autorin mit einschließt: Sie enthalten detaillierte ­Beschreibungen des damals innovativen Subskriptionsverfahrens sowie ­Ratschläge zur optimalen Abfassung von Werbeannoncen für potenzielle Subskribentinnen und Subskribenten. Wie aber gestaltet sich der Austausch von Verbesserungen und Kritik? Bereits der erste Brief Gatterers an Bürger betrifft die Grenzen kritischer Kommunikation, wenn sie dem Freund einerseits die Erlaubnis erteilt, „zu sagen: Dieß und jenes gefällt mir nicht“ (ebd.: 36, 13.09.1777), andererseits aber zu bedenken gibt, dass sie sich als Autorin, wenn sie „Dichter-Umgang“ (ebd.: 35, 13.09.1777) pflegt, dem Vorwurf gegenübersieht, befreundete Autoren ‚machten ihr die Verse‘: Die meisten wissen, daß ich (was die Dichtkunst betrifft) wie ein wilder Baum ohne Pflege aufgewachsen bin; und doch hör’ ich hier und da: das bald ein Professor, bald gar Studenten mir helfen sollen. Ja ich wollte sie lehren! Sie selbst haben mir gestanden, daß Sie gehört hätten: Meine Anbeter machten mir die Verse. Ebd. u. vgl. Dawson 2002: 176f.

Gatterer schlägt Bürger dennoch vor, dass sie Verse austauschen und schickt ihm schon bald ihre Kritik an seinen Gedichten. Bürger scheint auf diesen Vorschlag nicht eingegangen zu sein – auf die Anfragen der Freundin antwortet er ausweichend und will sich beizeiten lieber mündlich besprechen. In Philippine Gatterers vergeblichem Wunsch, „die Urtheile, die Erinnerungen der Kenner für ungedruckte Gedichte zu sammeln“ (Bürger/Gatterer 1921: 76, 15.02.1779), zeigt sich das Wissen um die Zugehörigkeit zur gelehrten Republik als Adressatin von Kritik. Diese Position wird um 1800 zunehmend

Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

31

‚­gegendert‘,9 Autorinnen werden mitunter auf Dichtung jenseits der „Verbesserungsästhetik“ (vgl. Martus 2000) verpflichtet und damit auf eine Arbeitsweise, die zwischen der genialischen Entstehung eines Gedichts, der ersten Niederschrift und dem Erstdruck keine weiteren Bearbeitungsschritte vorsieht. Inwieweit es sich um eine Selbstverpflichtung von Seiten der Autorinnen gehandelt hat, vermag ein Seitenblick auf den Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim zu zeigen. In dieser Konstellation ist es Gleim, der auf der Notwendigkeit von Verbesserungsgängen vor der Drucklegung besteht, während Anna Louisa Karsch ihre Gedichte lieber ‚unverbildet‘ stehen lassen möchte (vgl. Mödersheim 1996: 35).10 Im Gegensatz zu Philippine Gatterer, die den Anschluss an ‚kritisierende Kreise‘ sucht, besteht Karsch auf dem Recht der Autorin, eine Position außerhalb der Kritik zu besetzen.11 Die Rhetorik spontaner Dichtung um 1800 ist möglicherweise auch als Reaktion auf die Frage nach der ‚Kritikfähigkeit‘ der Autorinnen zu werten. Im Gegensatz zu Gleim zeigt sich bei Bürger die Tendenz, die befreundete Autorin von der Kritik auszunehmen: Während Philippine Gatterers Bitten, ihre Gedichte zum Zweck der „Vervollkommung“ (Bürger/Gatterer 1921: 48, 01.10.1777) und vor der Publikation zu feilen, unerhört bleiben, werden diese durch Bürger nach der Publikation umso eifriger kommentiert: Die Gedichtchen erfüllen als gesellschaftliche Scherze insgesamt (freilich eins mehr, das andere weniger) ihren Zweck, nämlich den, zu belustigen. Und was kann man weiter verlangen? Eine gutmütige Kritik kann es ­alsdann kaum über ihr Herz bringen, Fehler aufzusuchen und gegen einander abzuzählen. Ebd.: 135, 02.01.1794

9 10

11

Vgl. hierzu auch Christa Bürgers Ausführungen zum Briefwechsel zwischen Sophie Mereau und Friedrich Schiller (Bürger 1988: 368–377). Zur Kanonisierung Karschs in der feministischen Literaturwissenschaft zuungunsten solcher Autorinnen wie beispielsweise Gatterer vgl. Stummann-Bowert (2008: 43). Ihre Ausführungen legen nahe, dass hierbei nicht allein die im Vergleich bessere ­Quellenlage – Karschs Briefwechsel mit Gleim wurde im Gleimhaus in Halberstadt archiviert – ­ausschlaggebend gewesen ist. Zum Vergleich Karsch/Gatterer vgl. auch Heipcke (2002: 143). Dieser Position entspricht bei beiden Autorinnen die Gewohnheit, von ihren Gedichten keine Abschriften zu machen. Die Briefe zwischen Bürger und Gatterer kreisen wiederholt um diese Frage: Während Gatterer Bürger immer wieder um die Rückgabe ihrer Gedichte bittet („und schreiben Sie bald, und schicken mir die Gedichte so bald als möglich wieder zurück, denn es sind die einzigen Abschriften. Ich habe niemahls Zeit mehrere zu machen“ [Bürger/Gatterer 1921: 46, 28.09.1777]), hält er sie in einem seiner letzten Briefe dazu an, ihre Gedichte zum Zweck der Verbesserung so oft wie möglich abzuschreiben (vgl. ebd.: 123f., 05.02.1781).

32

Nacim Ghanbari

Der Akt der Veröffentlichung hat für die Autorin einen disqualifizierenden Effekt und bestimmt die „Gedichtchen“ als der Kritik unwürdig. In diesem Fall gewinnt die Struktur der Gelehrtenrepublik über das soziale Netzwerk der Autorinnen und Autoren die Oberhand. Es sei abschließend dennoch darauf hingewiesen, dass kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert die ­Autorinnen nicht per se ausschließt – zumal Freundschaft in der aristokratischen Tradition der literarischen Empfindsamkeit geschlechtsneutral codiert war (vgl. Meyer-Sickendiek 2014: 210 u. passim). Wenn man sich in der Literaturwissenschaft daher für das Wort ‚Mentorschaft‘ statt ‚Freundschaft‘, die für die ­kritische Kommunikation unter Autoren einsteht, entscheidet, um die Position des verbessernden Autors gegenüber der Autorin zu kennzeichnen (vgl. Dawson 2002: 175), setzt man eine Hierarchie ein, die im 18. Jahrhundert nicht in jeder Beziehung zwischen Autorin und Autor gegeben war. Ausblick Untersucht man die Fremdkorrektur als Moment kollaborativen Schreibens, wird deutlich, dass der Austausch von Anmerkungen und Kritik soziale ­Netzwerke aufrechterhält. Das Verbessern von Texten ist überdies eine ­Kulturtechnik von historischer Reichweite (vgl. Benne 2015: 374–409). Für eine weiterführende Untersuchung lässt sich zusammenfassend Folgendes festhalten: 1) Das Konzept des kollaborativen Schreibens ist von der Idee ­kollektiver Autorschaft abzugrenzen. Die Entstehungsgeschichte der Lenore zeigt, dass Bürger nicht davor zurückschreckt, ‚Versbeigaben‘ seiner Freunde anzunehmen, ohne diese in der Publikation als Mit-Autoren namentlich anzuführen. Auch die Freunde selbst bezweifeln keineswegs die alleinige Autorschaft ­Bürgers. Die Fremdkorrektur wird von den Autoren – mit Verweis auf Horaz (vgl. Bürger 1874, Bd. 1: 333f.) – in der antiken Tradition gesehen, wonach jede Dichterbiografie maßgeblich von einem Freund abhängt, der die Texte ­aufrichtig und gewissenhaft liest, kritisiert, bei Bedarf sogar ergänzt und vervollständigt – ohne jedoch selbst als Autor in Erscheinung zu treten (vgl. Martus 2007: 60). Dieses Zurücktreten zugunsten des Freundes hält die Kritiker dennoch nicht davon ab, in den Briefen auf ihren Anteil zu sprechen zu kommen. Auch wenn sie nicht als Autoren der verbesserten Werke erkennbar sind, machen sie sich doch als Urheber geglückter Lesarten bemerkbar (vgl. Bürger 1874, Bd. 2 [1777–1779]: 313). So zeigt sich Bürger in seiner Eigenschaft als H ­ erausgeber des Göttinger Musenalmanachs und damit Kritiker eingesandter Verse als hoch empfindlich für Fragen geistigen Eigentums. In einem Brief an Boie beklagt er, dass er die eingesandten Gedichte in Ermangelung geeigneter Beiträge ­einer weitgehenden Überarbeitung unterziehen muss, sodass

Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

33

teilweise „fast nur wenig Zeilen von dHErrn Verfassern stehn“ (ebd.) bleiben. Während diese Beiträge im Almanach unter den Namen der ursprünglichen Verfasser erscheinen und der Anteil Bürgers ungenannt bleibt, bemüht sich dieser in den Briefen um eine nachträgliche Entschlüsselung seiner Teilhabe als Kritiker und Verbesserer. 2) Das Konzept des kollaborativen Schreibens sieht vor, die Verbesserung nicht vom Fehler her zu denken, sondern von der Variation. Die Liste der Lesarten, die Bürger seiner Rechenschaft über die Veränderungen in der „Nachtfeier der Venus“ beifügt, zeugt von der Idee der Verbesserung als der fortdauernden Produktion von Variationen. Während die gängige Vorstellung der Korrektur darin besteht, im Einklang mit grammatischen und poetischen Regeln Fehler zu beheben, können Manuskriptanalysen den bisweilen produktiven Effekt des Verbesserns aufzeigen. Als aufschlussreiches Beispiel seien in diesem Zusammenhang die von der französischen critique génétique inspirierten Studien Rüdiger Nutt-Kofoths über die Zusammenarbeit von Annette von ­Droste-Hülshoff und ihrem Freund und Kritiker Levin Schücking genannt: Anhand der Originalmanuskripte lässt sich nämlich eine besondere Form des kollaborativen Schreibens feststellen, die darin bestand, einzelnen Textstellen eine Liste von Variationen zuzuordnen, aus der dann Schücking eine Lesart für den Druck auszuwählen beziehungsweise Lesarten zu streichen hatte. Nutt-Kofoth schlägt für diesen Schreibvorgang – möglicherweise angelehnt an die „delegierte Autorisation“ (Kanzog 1991: 16) – den Begriff der „delegierten Streichung“ vor (Nutt-Kofoth 2011: 122). Analog hierzu lässt sich bei Bürger von der ‚delegierten Verbesserung‘ sprechen. 3) Die Frage der Historizität freundschaftlicher Korrektur ist als eminentes literaturwissenschaftliches Thema anzusehen, insofern es mit der Theoriegeschichte der Genieästhetik eng verzahnt ist. Diese verdankt sich der ­Vorstellung, die kritische Verbesserung bereits auf einer rein ‚technischen‘ Ebene unmöglich gemacht zu haben: Denn wenn sich um 1800 die Vorstellung durchsetzt, dass das schulische Einüben in die Kunst des Versifizierens sinnlos ist und man ‚Dichter nicht bilden kann‘ (vgl. Bosse 2012: 193–236), wird den Autorinnen und Autoren die gemeinsame Grundlage eines poetischen Regelwerks entzogen. Eine Literaturgeschichte freundschaftlicher Kritik wird daher die Frage beantworten müssen, ob sich die Aufforderung zu kritischer Verbesserung auf lyrische Formen beschränkt oder aber sich gleichermaßen auf die Kommunikation über Prosa erstreckt. Der Briefwechsel über Bürgers Lenore fügt dieser Frage einen weiteren Aspekt hinzu, indem er zeigt, dass sich die Kritik eines lyrischen Textes jenseits der Benennung von Versifikationsfehlern auf epische Aspekte beziehen kann (vgl. Bürger 2015, Bd. 1: 408–410, 13.09.1773). Die Ballade als poetische Mischgattung findet in einer Kritik, die sowohl rhythmische als auch epische und dialogische Aspekte des Textes

34

Nacim Ghanbari

­benennt, ihre Entsprechung. Die angeführten Pläne und Projekte zeigen darüber hinaus, dass Bürger zwischen einer Ballade, der deutschen Nachbildung lateinischer Verse, Übersetzungen aus dem Griechischen und der orthografischen Standardisierung des Deutschen keinen Unterschied macht, um Freundinnen, Freunde und G ­ elehrte im Akt kollaborativen Schreibens zu vereinen. Es spricht daher einiges dafür, das analytische Gewicht auf die Praktiken zu legen, um die ­Geschichte freundschaftlicher Kritik zur Geschichte der Lyrik neu ins ­Verhältnis zu setzen und der Fremdkorrektur literarischer Texte ­insgesamt gerecht zu werden. Literatur Albertsen, Leif Ludwig (1981): „Pervigilium Veneris und Nachtfeier der Venus. G. A. ­Bürgers Liedstil und sein lateinisches Vorbild“, in: Arcadia 16(1), 1–12. Beck, Angelika (1982): „Der Bund ist ewig“. Zur Physiognomie einer Lebensform im 18. Jahrhundert, Erlangen. Benne, Christian (2015): Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte l­ iterarischer Gegenständlichkeit, Berlin. Binczek, Natalie/Stanitzek, Georg (Hrsg.) (2010): Strong ties/Weak ties: Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie, Heidelberg. Blasberg, Cornelia (2002): „Werkstatt am ‚Strom‘ oder: Das Dädalus-Syndrom. ­Produktionsphantasien im Göttinger Hain“, in: Christian Begemann/David E. Wellbery (Hrsg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg i.Br., 151–175. Bohnenkamp, Anne et al. (Hrsg.) (2010): Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie, Göttingen. Bosse, Heinrich (2012): Bildungsrevolution 1770–1830, hrsg. mit einem Gespräch v. ­Nacim Ghanbari, Heidelberg. Bürger, Christa (1988): „‚Die mittlere Sphäre‘. Sophie Mereau – Schriftstellerin im klassischen Weimar“, in: Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.), Deutsche Literatur von ­Frauen, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München, 366–388. Bürger, Gottfried August (1874): Briefe von und an Gottfried August Bürger. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit, 4 Bde., aus dem Nachlasse Bürger’s und anderen, meist handschriftlichen Quellen hrsg. v. Adolf Strodtmann, Berlin. Bürger, Gottfried August/Goeckingk, Leopold Friedrich Günther (1890): „Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk“, hrsg. v. August Sauer, in: Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte 3, 62–113 u. 416–476. Bürger, Gottfried August/Gatterer, Philippine (1921): Gottfried August Bürger und Philippine Gatterer. Ein Briefwechsel aus Göttingens empfindsamer Zeit, hrsg. v. Erich Ebstein, Leipzig.

Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

35

Bürger, Gottfried August (1987): Sämtliche Werke, hrsg. v. Günter u. Hiltrud Häntzschel, München/Wien. Bürger, Gottfried August (2015): Briefwechsel, hrsg. v. Ulrich Joost u. Udo Wargenau, Bd. 1: 1760–1776, Göttingen. Bunke, Simon (2003): „‚Immer Höltys Geist gefragt‘. Inszenierungen von Autorschaft und Autorisation zwischen Göttinger Hain, Hölty und Voß“, in: Ethel Matala de Mazza/Clemens Pornschlegel (Hrsg.), Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte, Freiburg i.Br., 271–295. Dawson, Ruth P. (2002): The Contested Quill. Literature by Women in Germany, 1770– 1800, Newark/London. Döring, Detlef (2011): „Gelehrtenkorrespondenzen“, in: Ulrich Rasche (Hrsg.), Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven, Wiesbaden, 315–340. Ghanbari, Nacim (2013): „Netzwerktheorie und Aufklärungsforschung“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 38(2), 315–335. Goethe, Johann Wolfgang (1991): Italien – Im Schatten der Revolution. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 3. September 1786 bis 12. Juni 1794, hrsg. v. Karl Eibl (= Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., hrsg. v. Hendrik Birus et al., II. Abt., Bd. 3), Frankfurt a.M. Heipcke, Corinna (2002): Autorhetorik. Zur Konstruktion weiblicher Autorschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. et al. Hettche, Walter (1999): „Im Hain, im Tunnel und im Teich“, in: editio 13, 98–107. Hirschfeld, Heather (2001): „Early Modern Collaboration and Theories of Authorship“, in: PMLA 116(3), 609–622. Jaumann, Herbert (1995): Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius, Leiden et al. Jost, Erdmut/Fulda, Daniel (Hrsg.) (2012): Briefwechsel. Zur Netzwerkbildung in der Aufklärung, Halle a.d.S. Kahl, Paul (2006): Das Bundesbuch des Göttinger Hains. Edition, historische Untersuchung, Kommentar, Tübingen. Kanzog, Klaus (1991): Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur, Berlin. Kertscher, Hans-Joachim (1998): „Vom ‚Nutzen der Silbenstecherei‘. Bürgers Arbeiten an seiner Nachtfeier der Venus“, in: Literatur für Leser 1, 29–49. Lenz, Jakob Michael Reinhold (1987): Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. v. Sigrid Damm, Bd. 3, München/Wien. Lüchow, Annette (1995): „‚Die heilige Cohorte‘. Klopstock und der Göttinger ­Hainbund“, in: Kevin Hilliard/Katrin Maria Kohl (Hrsg.), Klopstock an der Grenze der Epochen, Berlin, 152–220. Martus, Steffen (2000): „Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert. Zur ­Temporalisierung der Poesie in der Verbesserungsästhetik bei Hagedorn, Gellert

36

Nacim Ghanbari

und Wieland“, in : Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74(1), 27–43. Martus, Steffen (2007): Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin/New York. Martus, Steffen/Spoerhase, Carlos (2013): „Die Quellen der Praxis. Probleme einer ­historischen Praxeologie der Philologie“, in: Zeitschrift für Germanistik 2, 221–225. Maye, Harun (2010): „Was ist eine Kulturtechnik?“, in: Zeitschrift für Medien- und K ­ ulturforschung 1, 121–135. Meyer-Sickendiek, Burkhard (2014): „Zärtlichkeit. Zu den aristokratischen Quellen der bürgerlichen Empfindsamkeit“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88(2), 206–233. Mödersheim, Sabine (1996): „Igel oder Amor? Zum Briefwechsel zwischen Anna L­ ouisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim“, in: Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), G. A. Bürger und J. W. L. Gleim, Tübingen, 29–39. Nutt-Kofoth, Rüdiger (2002): „Variante, Lesart, Korrektur oder Änderung? Zur Terminologie und Editionspraxis in der Neugermanistik“, in: Bodo Plachta/H.T.M. van Vliet (Hrsg.), Perspectives of Scholarly Editing – Perspektiven der Textedition, Berlin, 29–45. Nutt-Kofoth, Rüdiger (2011): „Zwischen Autorstreichung und Fremdstreichung. Zum Problem des Schreibens in Alternativen bei Annette von Droste-Hülshoff – mit ­allgemeinen Überlegungen zur Systematisierung der ‚Streichung‘“, in: Lucas Marco Gisi et al. (Hrsg.), Schreiben und Streichen. Zu einem Moment produktiver Negativität, Göttingen/Zürich, 111–130. Peterson, Linda H. (2009): Becoming a Woman of Letters. Myths of Authorship and Facts of the Victorian Market, Princeton, NJ/Oxford. Plachta, Bodo (Hrsg.) (2001): Literarische Zusammenarbeit, Tübingen. Schlegel, Friedrich (1985): Die Periode des Athenäums. 25. Juli 1797 – Ende August 1799, mit Einl. u. Kommentar hrsg. v. Raymond Immerwahr (= Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler, Bd. 24), Paderborn et al. Spoerhase, Carlos (2014a): „‚Manuscript für Freunde‘. Die materielle Textualität literarischer Netzwerke, 1760–1830 (Gleim, Klopstock, Lavater, Fichte, Reinhold, Goethe)“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88(2), 172–205. Spoerhase, Carlos (2014b): „Empfindsame Lyrik im Medium des modernen Manuskriptbuchs. Das ‚Silberne Buch‘ von Caroline Flachsland und Johann G ­ ottfried Herder“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 69, 59–75. Stillinger, Jack (1991): Multiple Authorship and the Myth of Solitary Genius, New York.

Kollaboratives Schreiben im 18. Jahrhundert

37

Stummann-Bowert, Ruth (Hrsg.) (2008): Philippine Engelhard, geb. Gatterer (1756–1831): „Laß die Dichtkunst mich begleiten bis zum letzten Lebensgang“. Ausgewählte Gedichte. Ein bürgerliches Frauenleben zwischen Spätaufklärung und Biedermeier, hrsg. u. eingeleitet u. mit einer Biographie versehen v. R. S.-B., Würzburg. Tenger, Zeynep/Trolander, Paul (2010): „From Print versus Manuscript to Sociable Authorship and Mixed Media: A Review of Trends in the Scholarship of Early Modern Publication“, in: Literature Compass 7(11), 1035–1048. Trolander, Zeynep/Trolander, Paul (2007): Sociable Criticism in England 1625–1725, Newark, DE. Vanek, Klara (2007): Ars corrigendi in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte der Textkritik, Berlin/New York. Zanetti, Sandro (Hrsg.) (2012): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin. Zedelmaier, Helmut/Mulsow, Martin (Hrsg.) (2001): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen.

Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit Praktiken verteilter Autorschaft in der Fernseh- und Videokunst Samantha Schramm Seit der Frühzeit des Fernsehens gelten Zuschauer und deren Unsichtbarkeit im Kollektiv als eines der zentralen Bezugsprobleme des Mediums (vgl. Bartz 2007). In kulturkritischen Betrachtungen wird der Zuschauer als ein gleichsam willenloses und isoliertes Phänomen bestimmt (vgl. Adorno 2008 [1963]; Anders 2008 [1956]) und damit Kollektivität als eine Krise der Subjektivität und damit auch der Sichtbarkeit des Zuschauers thematisiert. Vor diesem Hintergrund entwickeln künstlerische Entwürfe alternative Produktionsformen des Fernsehens (vgl. Joselit 2007; Michalka 2010; Daniels 2010; Daniels 2015), wobei das Fernsehen „nicht nur distribuieren, sondern produzieren, als Schauplatz der Kunst zu verstehen sein“ (Dobbe 2000: 25) sollte. Im Kontext einer Abgrenzung vom ‚Massenmedium‘ Fernsehen setzen Künstler die Fernsehtechnologie ein, um den Betrachter als Agent seiner eigenen Bilder zu entwerfen und um Modelle der Zusammenarbeit zu konstituieren, an denen menschliche und nicht-menschliche Akteure beteiligt sind.1 In der frühen Fernseh- und Videokunst werden somit Dispositionen der Teilhabe verhandelt, die auch Formen der verteilten Autorschaft beinhalten und Verfahren der Partizipation vorwegnehmen, die in der Medienkunst ab den 1990er Jahren erneut thematisiert werden (vgl. Frohne 2001; Daniels 2003; Grau 2003). In dieser Hinsicht erscheint eine Differenzierung von Konzepten der Autorschaft und Prozessen der Zusammenarbeit in den medialen Praktiken der späten 1960er und der 1970er Jahre notwendig. In Zusammenhang mit der Aktivierung des Betrachters steht auch die Frage, wie sich Konzepte der Autorschaft verändern und wie eine Geschichte der Fernseh- und Videokunst geschrieben werden kann, wenn das Material aufgrund seiner Prozessualität und Ereignishaftigkeit in Abhängigkeit zum Moment der Produktion steht und von verschiedenen Akteuren entworfen wird. Peggy Phelan hat in Bezug auf die Performancekunst den Ausdruck „writing toward disappearance“ geprägt (Phelan 1993: 148), wobei das Schreiben im Wechselverhältnis zu einem Werk aufgefasst wird, das bereits nur noch in der Erinnerung von ehemals Dagewesenem besteht, und dessen B ­ eschreibung 1 Für einen Überblick zu Kunst und Fernsehen seien genannt: Daniels/Berg (2015); Michalka (2010). Das aktuelle Interesse an der Fernsehkunst verdeutlicht auch der Sammelband ­Krüger et al. (2016).

© Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi 10.30965/9783770558407_004

40

Samantha Schramm

nicht als Bewahrung verstanden wird, sondern als Ausfächerung eines ­zunehmenden, subjektiv geprägten Verschwindens: The description itself does not reproduce the object, it rather helps us to restage and restate the effort to remember what is lost. The descriptions remind us how loss acquires meaning and generates recovery – not only of and for the object, but for the one who remembers. The disappearance of the object is fundamental to performance; it rehearses and repeats the disappearance of the subject who longs always to be remembered. Phelan 1993: 147

Während Phelan allerdings von einer Ontologie der Performance als e­ inmaliges, nicht reproduzierbares Ereignis ausgeht (ebd. 146f.), tritt demgegenüber die Auffassung der Aufführung als bereits medialisierter (Auslander 2005, 2008) und auf verschiedene Autoren verteilter Prozess, die auch für die Fernseh- und Videokunst geltend gemacht werden kann. Im Folgenden ­werden mit Black Gate Cologne von Otto Piene und Aldo Tambellini, Participation TV von Nam June Paik und den Workshops der Tee Pee Videospace Troupe Projekte thematisiert, die in ihrer ehemaligen, temporären Entstehungs- und Präsentationssituation nicht mehr betrachtet werden können – stattdessen vermitteln subjektive Berichte oder nach dem Event zusammengestellte Sendungen ihre Wahrnehmung.

Gemeinsam senden: Verteilte Autorschaft in der Fernseh- und Videokunst

Als Grundlage für die Thematisierung von „verteilter Autorschaft“2 in der Fernseh- und Videokunst erscheint zunächst eine Bestimmung der medialen Bedingungen von Video und Fernsehen notwendig, um davon ausgehend die ­diskursiven Zuschreibungen auf die künstlerischen Projekte zu übertragen. Als Spezifikum des Fernsehens wird die elektronische Übertragung der Information an unterschiedliche Orte und der intime Bezug des Bildes zum Zuschauer hervorgehoben. Fernsehen zeichnet sich durch ein kleines Format aus (Cubitt 1991: 29) und integriert sich in die soziale Alltagspraxis (vgl. Spigel 1992). Durch 2 In Bezug zum Film wird bereits von Konzepten der multiplen Autorschaft (vgl. Livingston 2005) gesprochen. In den durch technische Versuchsanordnungen bedingten audiovisuellen Produktionen des Filmes wird „Handlungsmacht“ (Engell 2008) auf unterschiedliche Akteure verteilt, sodass Autorschaft als kollektive Hervorbringung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten erscheint.

Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit

41

die unmittelbare, taktile Sinnlichkeit des Bildes (vgl. McLuhan 1992) und das immer nur partiell erfassbare Fernsehbild wird der Zuschauer kontinuierlich gleichzeitig verführt sowie abgestoßen (vgl. Cubitt 1991: 31). Die zugleich als experimentell und performativ verstandene Flüchtigkeit des Bildes etabliert sich in einem Wechselverhältnis zum Fernsehzuschauer: [T]he discourse of TV flow is ‚present‘ in the sense that the viewer can enter into a dialogue with the screen. Yet the broadcast flow is also vanishing, a constant disappearing of what has been shown. The electron scan builds up two images of each frame shown, the lines interlacing to from a ‚complete‘ picture. Yet not only is the sensation of movement on screen an optical illusion brought about by the rapid succession of frames: each frame is itself radically incomplete, the line before always fading away, the first scan of the frame all but gone, even from the retina, before the second interlacing scan is complete. Ebd.: 30

Fernsehen erscheint als ambivalentes Medium, indem die vorgegebenen Zuschauerdispositionen in Kontrast zu der performativen Unabgeschlossenheit und der ständigen Erneuerung des elektronischen Bildes stehen. Indem die Verfahren der Produktion und der Distribution des ‚Massenmediums‘ ­Fernsehen unsichtbar bleiben, kann Wissen im Fernsehen immer nur unzureichend oder partiell vermittelt werden – auch wenn Fernsehen alles zeigen könnte, bleibt dies im Bereich des Möglichen und damit unerfüllbar: „Television is historically an impure medium. It is, I belief, impossible to say of TV that it is ‚essentially‘ anything.“ (Ebd.: 28) Die in den 1960er Jahren eingeführte und von Künstlern aufgegriffene ­Videotechnologie erlaubt nicht nur eine Intensivierung der Beziehung von instrumenteller Anordnung und Betrachter, sondern ermöglicht es auch, die Zusammenhänge zwischen Sendern und Empfängern neu zu entwerfen und verschiedene Akteure als Teilhabende an den audiovisuellen Produktionen zu involvieren. Zusammenarbeit entsteht dabei durch das Wechselverhältnis von technischer Prozessualität und den Interaktionen von Ausstellungsbesuchern mit dem bereitgestellten technischen Arrangement: Der Betrachter sendet ­seine eigenen Bilder und entwirft sich selbst im Wechselverhältnis mit den technischen Akteuren als an der Kunst partizipierender Autor. Die Künstler nutzen das Spannungsverhältnis zwischen Fernsehen und Video und stellen diese mediale Ambivalenz aus (vgl. Antin 1976: 181f.). Sean Cubitt bezeichnet das Verhältnis von Video und Fernsehen als „uncomfortable relation“ (Cubitt 1991: 87); zwar verwenden beide Medien die gleichen Technologien, setzen diese allerdings unterschiedlich ein. Durch den Einsatz der Videotechnologie

42

Samantha Schramm

wird die sich ständig verflüchtigende Gegenwärtigkeit des Fernsehens durch die Aufnahme unterschiedlicher Zeitstrukturen erweitert: Durch den Videorekorder können die televisuellen Audiovisionen im Standbild angehalten, vorgespult oder überspielt werden: „Because it takes issue with the presence of television, it alters the possibilities of identification with the screen, the implied unity of the audience, and even with ourselves.“ (Ebd.: 37) Während Fernsehen im Sinne des ‚Broadcasting‘ die flüchtige, in jedem Moment neu zu aktualisierende Distribution der Bilder an ein Massenpublikum vorsieht, entwickelt Video eine momentane, jedoch nicht weniger als temporär aufgefasste ­Intensivierung zwischen instrumenteller Versuchsanordnung und menschlichem Akteur. In künstlerischen Praktiken ist es häufig der Körper des Künstlers (vgl. Jones 1999; Osswald 2003; Schubiger 2004) oder der des Ausstellungsbesuchers, der in das Videobild aufgenommen und durch die mediale Anordnung in seiner Subjektivität sowohl definiert als auch konstruiert wird.3 Eine Betrachtung von Prozessen verteilter Autorschaft in der Fernsehund Videokunst muss dementsprechend den Bezug des (Fernseh-)Zuschauers zum als taktil wahrgenommenen Bild des Monitors, seine gerade durch die Flüchtigkeit des Bildes bedingte Aktivierung sowie eine Reflexion der ­Produktionsverfahren des Fernsehens, die auch die Handlungen der Geräte umfasst, berücksichtigen.

Kollaborative Sendungen im Fernsehen: Black Gate Cologne, 1968/1969

Black Gate Cologne von Otto Piene und Aldo Tambellini entstand im Rahmen einer Produktion des WDR im neuen elektronischen Fernsehstudio unter der konzeptuellen Leitung von Wibke von Bonin, der Kunst-Redakteurin des WDR, und wurde am 26. Januar 1969 erstmals gesendet. (Vgl. Bonin 1983) In einer einwöchigen Vorbereitungszeit wurden Otto Piene und Aldo Tambellini von dem Produktionsingenieur Alfred Maass, dem Regisseur Ferdi Roth und dem Ton-Ingenieur Friedrich Wünsche in die Möglichkeiten der ­elektronischen Fernsehtechnik eingeführt.4 (Ebd.: 134) 3 Lydia Haustein spricht dementsprechend von einer „emanzipatorischen Theatralität“ der Videokunst (vgl. Haustein 2003: 69–92). 4 Neben den Künstlern Otto Piene und Aldo Tambellini sowie den Studiogästen waren folgende Personen beteiligt: Kamera: Joachim Pfaff, Erwin Hübner, Klaus Schomens, Dietbert Schmidt, Jürgen Brever; Produktionsingenieur: Alfred Maass; Produzent: Volker Dieckmann; Bildbearbeitung: H.-Günther Bongartz, Jürgen Rieger, Leitung: Wibke von Bonin; Regisseur: Ferdi Roth (vgl. Fricke 2006: 99).

Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit

43

Während eines Live-Events mit Publikumsbeteiligung am 30. August 1968 im WDR-Studio wurden zwei Lichtskulpturen und eine pneumatische Blume von Otto Piene, ein etwa 250 Meter transparenter Plastikschlauch und sieben Film- und Videoaufnahmen sowie zahlreiche Dias von Aldo Tambellini ­eingesetzt (vgl. Bonin 1983; Fricke 2006) und als Closed-Circuit-Schaltungen, multiple Filmprojektionen sowie mit Sound, der über mehrere Kanäle über die Studiolautsprecher übertragen wird, miteinander verbunden (vgl. Youngblood 2007: 383).5 Rückblickend beschreibt Wibke von Bonin die Zusammenarbeit ­zwischen den Künstlern und dem Personal des Fernsehsenders folgendermaßen: Künstler machten Kunst, Fernsehleute bedienten ihre Geräte, alle überlegten gemeinsam, wie was wann wo, damit das Metakunstwerk daraus werde, die Sendung. […] E-Kameras und Mischpult übernahmen die ­Rolle von Filmkamera und Schneidetisch. Da konnten die Künstler allerlei Bildtricks in ihre Show einbringen, die nur elektronisch zu bewerkstelligen sind. Hat Spaß gemacht, sagten die Kameraleute, als sie spät abends fertig waren; und im Regieraum hätte eigentlich auch eine Kamera die Entstehung der Sendung dokumentieren müssen, denn hier fand die eigentliche Aktion statt. Bonin 1983: 133

Während die beiden Künstler dem Live-Event beiwohnten und die Interaktion des Publikums initiierten, wurden im Regieraum die Bilder kontrolliert, die von der Kamera aufgenommenen Bilder aufgezeichnet und die vorfabrizierten Film- und Diaprojektionen eingespielt.6 Neben dem regulären Studioteam waren noch 15 weitere Helfer involviert. Bereits die Produktion im Studio forderte fünf Studiokameras, die gleichzeitig eingesetzt wurden und deren Material für die Sendung teilweise übereinander kopiert wurde. Unter Verwendung von modernster Studiotechnik wurde schließlich ein elektronisch visualisierter Film für die Ausstrahlung von Black Gate Cologne im Fernsehen hergestellt, dessen Produktion sich für den Sender als äußerst teuer erwies – z­ usammen mit den Vorbereitungen, der Durchführung sowie der Nachbearbeitung ­entstanden

5 Die Nähe zur Performancekunst von Black Gate Cologne zeigt sich auch durch seinen Vorläufer: eine live aufgeführte Multimedia Show von Otto Piene und Aldo Tambellini mit dem Titel Black Air, die im Frühjahr 1967 erstmals im Black Gate Theater in New York aufgeführt wurde (vgl. Fricke 2006: 98; von Bonin 1982). 6 Die Filme und Videos von Tambellini mussten zunächst vor der Sendung in ein Fernsehformat übertragen werden (vgl. Fricke 2006: 98).

44

Samantha Schramm

Kosten von 45.000 DM (ebd.). Zudem blieb das ästhetische Resultat hinter den Erwartungen des WDR-Teams zurück: Die jeweils 45 Minuten wurden den Erwartungen der Produzenten allerdings nicht gerecht. Trotz der großen Bild- und Tonfülle stellte sich bei der Rückspielung eine nicht zu leugnende Monotonie ein. […] Ein Versuch zur Verdichtung machten wir, indem wir beide Fassungen ­streckenweise übereinander kopierten. Als nach der Sendung das Verdikt der ­Langeweile eine Wiederholung zu verhindern drohte, entschlossen wir uns zu ­einer weiteren Konzentration und schnitten das Lichtspiel auf 23 Minuten zusammen. So machte ‚Black Gate Cologne‘ Karriere – ­wenigstens in den Video-Annalen. Nachfolgeproduktionen dieser Art gab es im WDR nicht. Ebd.: 135

Auch wenn Wibke von Bonin das Scheitern von Black Gate Cologne durch die hohen Produktionskosten und den geringen Erfolg bei den Zuschauern begründet, verweist sie zugleich auf die Möglichkeiten des künstlerischen Fernsehens, die Sehgewohnheiten des Fernsehens zu ändern und eine neue Ästhetik einzuführen, indem die Künstler „zu Formulierungen vorstoßen, die die Fernsehsprache des Alltags erneuern und bereichern.“ (Ebd.) Die performative Prozessualität der Live-Aktion im Fernsehstudio und die Verfahren der verteilten Autorschaft werden in der im Anschluss an den Event von den Redakteuren und den Ton- und Bildingenieuren des WDR produzierten Sendung Black Gate Cologne verdeutlicht. Das Video zeichnet sich durch ein Über- und Ineinanderblenden von unterschiedlichen Aufnahmen aus – Passagen, in denen die Aktionen des Publikums im Raum ­sichtbar sind, wechseln oder überlagern sich mit abstrakten, in kontrastreichen Schwarz-Weiß-Tönen inszenierten Einblendungen verschiedener Form- und ­Lichtstrukturen.7 Zunächst beginnt die Sendung mit Sequenzen von Pienes Lichtinstallationen in dem ansonsten dunkel gehaltenen Studioraum, dann tritt die pneumatische Blume in Erscheinung, die sich über dem Studio erhebt. Erst durch ­zunehmenden Lichteinfall im Studio werden Teilnehmer sichtbar, die in ­unterschiedlichen Gruppierungen auf Kissen auf dem Boden sitzend dem Event beiwohnen: Unterhaltungen in Gruppen und Betrachtungen der 7 Der Beitrag strebt keine Beschreibung der ganzen Sendung Black Gate Cologne an, wie dies bereits geleistet wurde (vgl. Fricke 2006), sondern betont stattdessen die in der Sendung ­visualisierten Prozesse der Kollaboration, die besonders in den ersten zwei Dritteln der ­Sendung zum Tragen kommen.

Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit

45

Lichtsituation wechseln in eine kollektive Beteiligung an der Aufrichtung des mit Luft gefüllten Plastikschlauches, der unter der Teilnahme aller im Studio anwesenden Personen aktiviert wird. Dabei eintretende Überblendungen von Bildmaterial – beispielsweise wird die aus der Vogelperspektive sichtbare Situation im Studio, in der sich die Teilnehmer am Boden sitzend unterhalten, überlagert durch die beginnenden Handlungen der Künstler, die das Plastikmaterial ausrollen – leiten eine zunehmende Aktivität und Teilhabe des Publikums ein. Der lange, durch Pressluft gefüllte Plastikschlauch agiert als die Künstler und das Studiopublikum verbindendes Element: Er wird ausgerollt, gemeinsam in die Luft gehalten, mit den Händen hochgestoßen, so dass einzelne Teile des Schlauches für einen Moment über dem Publikum schweben. Die pneumatischen Skulpturen erscheinen als belebende, sowohl die Teilnehmer der Aktionen verbindende als auch im Bezug zum bewegten Bild der Aufnahme stehende Elemente, die zusätzlich durch die Bewegungen der Kameras verlebendigt werden. Die Fernsehkamera streift über die im Studio aufgestellten Projektoren und Lichtquellen und stellt damit auch die technischen Elemente aus. Die Kameras zeigen sich selbst als bewegte Elemente, sie folgen der pneumatischen Blume, machen die Geräte sichtbar, konstituieren ein Wechselverhältnis zwischen der Skulptur und dem Publikum und etablieren sich als eigenständige Akteure, indem sie die Verbindungen nicht nur aufzeichnen, sondern vielmehr erst herstellen. Nach etwa zwei Dritteln der Sendung wird das visuelle Material von Aldo Tambellini in immer schneller werdenden Rhythmen eingeblendet. ­Gelegentlich werden die abstrakten Einspielungen überlagert von nebelartig ­erscheinenden Bildern, welche die Studiobesucher zeigen. Wechselnde ­Zoomeinstellung führen zu einer zunehmenden Bewegung des Bildes, kombiniert mit einem Wechsel von in Hell und Dunkel rhythmisch aufflackerndem Bildmaterial. Der Ton wechselt zunehmend in eine hämmernde, elektronische Intonation – nur gelegentlich sind auch Stimmen aus dem Studio zu hören. Black Gate Cologne zeichnet sich zudem durch einen Wechsel unterschiedlicher Lichtquellen aus: Das von Otto Pienes Lichtkugeln ausgehende Licht, das artifizielle Licht im Studio sowie das von dem eingespielten Projektionsmaterial modulierte Hell-Dunkel variieren. Für Aldo Tambellini sind es die elektronischen Möglichkeiten des Fernsehens, welche dieses als „live communication media“ (Tambellini in Youngblood 1970: 314) ausstellen – Raum und Zeit werden durch eine Simultanität der Erfahrung überwunden: After all, television is actually an image made of light which travels through time and space. I’m interested in getting to that particular point to

46

Samantha Schramm

actually show that light is a constantly moving and ever-changing form […]. Tambellini in ebd.

Durch mediale Überlagerungen und durch eine Betonung verteilter Autorschaft wird in der Sendung Black Gate Cologne die Unmittelbarkeit des Fernsehens hinterfragt. Liveness, verstanden als „presence, immediacy, actuality“ (White 2004: 79), gilt als ontologische und ideologische Eigenschaft des Fernsehens (vgl. Feuer 1983). Indem Black Gate Cologne unterschiedliche Zeitlichkeiten vereint, stellt es der Auffassung einer Liveness des Fernsehens dessen Konstruiertheit gegenüber. An die Stelle einer Unmittelbarkeit treten unterschiedliche, divergierende Konzepte von Zeitlichkeit durch die Überblendung aktueller mit vergangenen oder vorausgreifenden Ereignissen, deren jeweilige zeitliche Situierung unklar bleibt. Damit stellt das experimentelle Fernsehen seine eigene Zeitlichkeit aus – Liveness wird als immer schon vermittelt aufzufassende Modalität sichtbar. Bei Black Gate Cologne zeigte sich verteilte Autorschaft auf unterschiedlichen Ebenen: Zusammenarbeit entstand zum einen zwischen den Künstlern und dem Publikum des Live-Events sowie mit dem Studiopersonal, welche die Bilder gemeinsam auswählten, sendeten und kombinierten und damit eine ­einheitliche Zuschreibung von künstlerischer Autorschaft unmöglich machen. Bedeutung wurde kollektiv erzeugt, durch gemeinsame Konzeption und Selektion der Inhalte, die jeweils von unterschiedlichen Akteuren und deren Visionen geprägt sind und auch die Bildentwürfe der technischen Geräte mit umfassen.

Teilhabe am Bild im Ausstellungsraum: Nam June Paik, Participation TV, 1969

Die Ausstellung TV as a Creative Medium in der Howard Wise Gallery in New York von 1969 gilt als eine der ersten Ausstellungen der Fernseh- und Videokunst. Die dort gezeigten Projekte werden von dem zeitgenössischen Medienkünstler Jud Yalkut in seinem Bericht als „electronic visionings, a kaleidoscopic mosaicing of an already mosaiced medium“ (Yalkut 1969) beschrieben. In der Ausstellung präsentierte Nam June Paik Participation TV als Closed-Circuit ­Videoinstallation, die den Betrachter mit Manipulationen ­seiner eigenen Bilder konfrontierte und Paiks Interesse an einer „intuitiven ­Beeinflussung“ von live gesendeten, elektronischen Übertragungen sowie

Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit

47

deren „Multiplikation“ und „Überschneidung“ (Kacunko 2004: 173) verdeutlicht.8 Als „­Partizipationsfernsehen“ verdeutlicht Participation TV Paiks Interesse an einer „Beteiligung von Zuschauer und Besucher“. (Decker 1988: 60) In seinem Buch Expanded Cinema von 1970 bezeichnet Gene Youngblood Participation TV als „teledynamic environment“ (Youngblood 1970: 306) und beschreibt die Installation folgendermaßen: The principle of the piece involves three television cameras whose signals are displayed on one screen by the red, green, and blue cathode guns respectively; the tube shows three different images in three different colors at once. Color brightness is controlled by amplitudes from three tape recorders at reverse phase. Thus the viewer sees himself three times in three colors on the same screen, often appearing to float in air or to ­dissolve in shimmering water as multicolored feedback echoes shatter into infinity. This was repeated on three and four different TV sets arranged around the environment. Ebd.

Youngblood richtet seinen Fokus auf die Vorgaben des technischen Systems, das sich in Bezug auf seine Umgebung konstituiert und Figurationen von Ausstellungsbesuchern entwirft, die sich selbst in elektronisch verfremdeten ­Manipulationen auf den Bildschirmen wiederfinden. Die von drei versteckten Kameras aufgenommenen und in drei Farben übertragenen Bilder werden durch die Möglichkeiten der Systeme moduliert und verjüngen sich durch ­Feedback in der Tiefe des Bildschirms. Entgegen einer Auffassung von Video als narzisstischem Medium (vgl. Krauss 1978), bei dem der Körper des sich selbst betrachtenden Künstlers sich in einem spiegelartigen Wechselverhältnis mit dem unmittelbar auf dem Monitor übertragenen Bild konstituiert, stellt die Closed-Circuit-Videoinstallation Participation TV von Nam June Paik zugleich die Differenz zwischen eigener Handlung, dem auf dem Monitor sichtbaren Bild und den technischen ­Geräten

8 In den Closed-Circuit-Installationen können Bild und Ton direkt von der Kamera in Echtzeit oder mit minimaler Verzögerung auf einen oder mehrere Monitore übertragen und damit ein direktes Feedback erzeugt werden (vgl. Krauss 1978; Heubach 1983; Herzogenrath 1989; Kacunko 2004; Schramm 2012). Einen Überblick über Paiks frühe Arbeiten bieten Hanhardt (1982); Herzogenrath (1983); Stooss/Kellein (1993); Rennert/Lee (2010). Für eine aktuelle Diskussion von Paiks Arbeiten im Kontext der Medienkunst siehe Hölling (2017).

48

Samantha Schramm

als eigenständige Akteure aus. Bereits Yud Yalkut verdeutlicht die technische Handlungsmacht in seiner Beschreibung von Participation TV: Three TV cameras, red, green, and blue eyes survey the infinity of movements possible to the spectator-performer. Color-separated ghost shadows mirror and re-echo one’s gestures, one’s dance with light, with visual toys, with silence. Yalkut 1969

Die Bewegungen des als Performer agierenden Ausstellungsbesuchers wurden in unterschiedliche, durch die farblichen Vorgaben modulierte und durch Feedback gestaffelte Variationen der Bilder übertragen. Teilhabe erscheint damit als instabiler, momentabhängiger, jedoch zugleich mit und durch die Technik vorgegebener Prozess. Die Kamera tritt nicht nur als Gegenüber in Erscheinung, sondern als eigenständiger, anthropomorph aufgefasster, sehender Akteur, indem sie Bewegungen des Betrachters mittels der technischen Anordnung des programmierten Videorekorders gleichsam sehend in Bilder übersetzt. Auf dem Monitor erscheinen schließlich Bilder, die durch verfremdungsartige, farbliche Modulationen und durch die Verdoppelungen im Feedback in Differenz zu den zunächst aufgezeichneten Bildern stehen. „Wir befinden uns in offenen Kreisläufen“ (Paik 1992 [1967]: 115) – damit bezeichnet Paik eine durch Feedback-Verfahren geprägte und in ihrer Simultanität entworfene Möglichkeit der Teilhabe. Zusammenarbeit wird bei Paiks Participation TV weniger zwischen dem Künstler und dem Betrachter als zwischen dem System und dem Ausstellungsbesucher entworfen, dessen Modulationen verteilte Teilhabe gleichzeitig ermöglichen sowie vorgeben.9 An die Stelle von Figurationen von Subjektivität des mit sich selbst durch die Closed-CircuitAnordnung kommunizierenden Subjekts treten Verfahren der multiplen Autorschaft, wobei in dem durch Feedback und Farbvariationen verfremdeten vom System erzeugten Bild auf dem Monitor technische Handlungsmacht sichtbar wird. Eine dadurch von Paik angestrebte Angleichung der Technik an menschliches Verhalten – „To humanize the technology“ (Paik in Youngblood 1970: 308) – leitet eine Veränderung des Verhältnisses von lebenden Organismen und Maschinen ein, in deren Kontext die nicht-menschlichen Entitäten selbst als menschliche Akteure thematisiert werden können.

9 Im Unterschied zu der hier angestrebten Argumentation verweist beispielsweise Dawn Leach auf eine Vergegenwärtigungsfunktion von Paiks Closed-Circuit-Videoinstallationen in Anlehnung an den zen-buddhistischen ewigen Augenblick (Leach 2013).

Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit



49

Gemeinsam produzieren: Zusammenarbeit in Videogruppen

Im Kontext der neuen Videotechnologien entstehen verschiedene Videokooperativen, die gemeinschaftlich Sendungen produzieren und Events organisieren. Zum einen werden in kollektiven Praktiken des Guerilla Television (vgl. Schamberg 1971; Boyle 1997; Joselit 2007) alternative Formen der politischen Berichterstattungen entworfen und damit eine „Position der Gegenöffentlichkeit“ entwickelt (vgl. Spielmann 2005: 135f.), in der Fernsehen stärker ­dezentralisiert und radikalisiert werden sollte. Zum anderen setzen Künstlergruppen in performativen Events die Videotechnologie und deren Möglichkeiten der unmittelbaren Übertragung sowie der erneuten Wiedergabe von audiovisuellem Material ein, um die Teilnehmer zu medialen Experimenten anzuleiten und dadurch die eigene Gruppenzugehörigkeit zu konstituieren und zu stabilisieren. Die Events beziehen sich in ihrer Prozessualität auf den ephemeren Charakter des Fernsehbildes, wobei die Flüchtigkeit der Aktionen in einem Wechselverhältnis zu der kontinuierlich verrinnenden, immer wieder zu erzeugenden Vergangenheit und Zukunft gleichsam in sich vereinenden Zeitlichkeit des Videobildes steht, das durch seine sich verschränkende zeitliche Struktur bereits vergeht, noch während es sich aktualisiert und damit auch als Spur eines Dagewesenen erscheint. Damit stellt sich auch die Frage, welches Verhältnis sich zwischen Erinnerung und Teilhabe konstituiert, indem die Projekte sich durch eine Prozessualität auszeichnen, in der der künstlerische Autor zurückzutreten scheint zugunsten der Handlungen oder Beschreibungen von weiteren menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Durch die Videotechnologie bedingte kollaborative Handlungen, in denen auch die Trennung von Sendern und Empfängern neu entworfen werden sollte, veranschaulichen die von der Filmemacherin Shirley Clarke initiierten Workshops der Tee Pee Videospace Troupe. Während das Videomaterial der Workshops weitgehend nicht erhalten ist, geben Berichte ehemaliger Teilnehmer Aufschluss über die ortsbezogenen und temporären Events. Wie der Filmemacher Andrew Gurian beschreibt, der ab 1972 an zahlreichen Workshops der Tee Pee Videospace Troupe teilnahm, wurden live gesendete, bewegte Bilder simultan von unterschiedlichen Räumen aus übertragen. Die Bilder konnten dabei kombiniert und auf verschiedenen Monitoren simultan betrachtet werden: [T]he images could travel in two (or more) directions: two people in different rooms, for example, could each carry a camera and two monitors so that each could see the other camera’s live image as well as a live image of the other person. Gurian 2013

50

Samantha Schramm

Die Workshops fanden zwischen 1973 und 1975 auch in einzelnen Museen,10 vorwiegend aber in Shirley Clarkes Dachgeschosswohnung im Chelsea Hotel in der 222 West, 23rd Street, New York statt, deren Räume mit Closed-Circuit-­ Videokameras untereinander vernetzt waren. Die anwesenden Personen konnten in den Räumen des Apartments Videomaterial selber produzieren und auf verschiedenen Monitoren sowohl eigene Bilder als auch live übertragene Bilder anderer Personen betrachten: „The images were immediately available to be combined with other people’s images on adjacent or nearby monitor displays.“ (Ebd.) Sender und Empfänger von Videomaterial sind keine getrennten Entitäten, sondern treten in einen wechselseitigen Austausch: „Video could dissolve the distinction between creator and audience; anyone could use a camera and create live moving images.“ (Ebd.) Die Workshops zeichnen sich nicht nur durch ein kreatives Zusammenspiel von Handlungen aus, sondern auch durch spielerische Interaktionen mit dem Medium Video (vgl. Capper 2011), die neue Wahrnehmungsweisen ermöglichen:11 „[V]ideo is the tool that will let the artists connect back, by interacting with the group – that is, if we can learn how to use video properly.“ (Clarke z­ itiert in Gurian 2013) An die Stelle eines abgeschlossenen Werkes, ­treten Handlungen, Interaktionen und Prozesse des Austausches zwischen ­unterschiedlichen Teilnehmern: But mainly we need the skill to see our own images in our own monitors and at the same time see what everyone else is doing. We need to acquire the ability to see in much the same way that a jazz musician can hear what he is playing and at the same time hear what the other musicians are doing and together they make music. Clarke 1973: 27

Bei den „Midnight-To-Dawn“ Events von 1974 organisierte Shirley Clarke mit ihrer Tochter Wendy Spiele, wie die „Head-Body-Games“, in welchen die Teilnehmer der Workshops Bilder von ihren Beinen, Armen und Gesichtern anfertigten, die schließlich zusammen auf dem Monitor als collageartige Zusammenstellung von Körperteilen gezeigt wurden. Außerdem sollten die ­anwesenden Personen Selbstporträts herstellen, wobei sie beim Zeichnen nur auf das Monitorbild blickten, auf den der Prozess des Malens unmittelbar übertragen wurde. 10 11

Darunter beispielsweise das Baltimore Museum of Fine Arts, das Media Study Center, Buffalo, oder das Museum of Modern Art, New York. In medien-pädagogischen Einsatzbereichen werden der Videotechnologie, insbesondere dem Video-Playback, zudem therapeutische Fähigkeiten zugeschrieben (vgl. Holert 2010).

Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit

51

Die eigene Präsenz der technischen Geräte bei den Workshops wurde durch die über- und nebeneinander aufgestellten Monitore suggeriert, auf die ­Bilder von unterschiedlichen Räumen übertragen wurden. Clarke bezeichnet die A ­ rrangements verschiedener Monitore aufgrund ihrer anthropomorphen, skulpturhaften Erscheinung auch als Totems. Während auf der einen ­Seite durch die Hinwendung zu performativen Prozessen eine Momenthaftigkeit der ­Situationen eingeleitet wird, so erfolgte zum anderen besonders durch Clarke selbst ein zunehmender Bezug auf Kamera und Monitor: Sowohl Clarkes Kamera als auch die Monitore waren teilweise dekoriert und wurden während der Aktionen in verschiedene Räume getragen oder berührt – durch Umstecken und erneuten Aufbau aktivierten die Teilnehmer die technische Anordnung immer wieder neu. Andrew Gurian beschreibt die Sichtbarkeit der Bilder auf den ­Monitoren während der „Head-Body-Games“ folgendermaßen: At the workshop there were two identical Totems (four monitors each), one in each of two of the Tee Pee spaces. The group split: one half remained downstairs and the other half went upstairs. One person from each group stood in each space, facing the Totem. A camera in, say, the red space fed an image of the „red“ person’s head into the „head“ ball ­monitors; another fed her right arm into the right „arm“ monitors. From the, say, blue space a camera fed the „blue“ person’s left arm into the left „arm“ monitors and another fed the „blue“ person’s torso and legs into the large, vertical „torso“ monitors. Everyone saw the same four-channel image – the red head and red right arm and the blue torso and blue left arm. The blue person and the red person created a new, conflated Totem; with it they could play „Head-Body Games.“ People wiggled their arms and legs together, tried to clap their hands, and danced. Ebd.

Einzelne Körperbilder wurden jeweils auf die entsprechenden Körperteile der Monitore übertragen und dadurch als technisch-anthropomorphe Gegenüber figuriert. Das Videomaterial ist größtenteils nicht erhalten – seine Funktion war Teil der vor Ort ausgeführten Handlungen. Einige Videokassetten sind in Besitz ehemaliger Teilnehmer der Workshops (vgl. Gurian 2013), doch selbst wenn sie noch einmal betrachtet werden könnten, so würden sie keine Rekonstruktion der auf den Events simultan gesendeten Bilder ermöglichen. Das während des Workshops produzierte audiovisuelle Material fungiert nicht als Dokumentation und auch nicht als Sendung über das Ereignis, sondern als Koproduzent gemeinschaftlicher, zeitlich synchroner Handlungen:

52

Samantha Schramm

Tapes don’t have a beginning or an end. They’re so constructed in relationship to one another that they always synchronize. These ‚synch points‘ are connections – no matter what gets fed in. They grow and change. They get erased. In video you use the monitor with the camera – they feed off each other. I call this „enfolding“. Clarke zitiert nach Rice 1972: 22, Hervorhebung im Original

Shirley Clarke hat für das Material ihrer Workshops keine weitere Verwendung und damit auch keinen Urheberanspruch festgelegt. Vielleicht ist auch dies einer der Gründe, warum Clarke zwar für ihre eigenen Filme bekannt ist, ihre in der Tee Pee Videospace Troupe durchgeführten Videoprojekte jedoch in den Anthologien der Videokunst der 1970er Jahre nicht genannt werden (vgl. ­Capper 2011).12

Zusammenfassung: Mediale Bedingungen der temporären Zusammenarbeit

Die Projekte der Fernseh- und Videokunst verhandeln die Flüchtigkeit des Fernsehens, wobei das sich immer wieder aktualisierende, verschiedene ­Zeitlichkeiten vereinende Videobild eine Parallele zu den vielfach als temporär begriffenen Sendungen, Installationen oder Events aufweist. An die Stelle einer Gegenwärtigkeit und Präsenz des Bildes tritt ein immer schon sich selbst transformierender Prozess, in dem das Videobild sich im kontinuierlichen Aktualisieren und gleichzeitigen Vergehen befindet. Während das Fernsehen sich zudem durch eine Überwindung der räumlichen Distanz auszeichnet, i­ntensiviert die in den Installationen eingesetzte Videotechnologie eine als ­taktil aufgefasste Nähe des sich zugleich selbst immer wieder verflüchtigenden und erneut konstituierenden Bildes. Die künstlerischen Projekte stellen damit die Ambivalenz des Fernsehens aus, die sich zwischen dessen ­Flüchtigkeit und ­einer dadurch als simultan mit und durch die technischen Agenten ­vermittelten Kollektivität etabliert. Die Künstler erproben die Videotechnologie auf experimentelle Weise, indem zum einen die Geräte als Akteure der Zusammenarbeit ausgestellt werden, zum anderen das Publikum der Ausstellungen und Events aktiviert wird, wobei es die Rolle eines Betrachters verlässt und an der Produktion der Bilder teilnimmt. In der Sendung Black Gate Cologne von Otto Piene und Aldo ­Tambellini werden audiovisuelle Televisionen von dem Studiopersonal 12

Beispielsweise in Expanded Cinema von Gene Youngblood (1970) oder Video Art. An Anthology von Ira Schneider und Beryl Korots (1976).

Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit

53

und den Künstlern sowie den mit dem Material hantierenden ­Teilnehmern im ­Fernsehstudio ­erzeugt. Nam June Paiks Participation TV und andere Closed-­Circuit Videoinstallationen entwerfen Zuschauerpositionen, in d­ enen etablierte ­ ­ Verhaltensweisen gegenüber dem Fernsehgerät auf die Probe ­gestellt ­werden. Dabei findet nicht nur eine Umkehrung des Verhältnisses von S­ ender und Empfänger statt, sondern das Fernsehgerät wird zugleich als ­Empfänger von Signalen, die durch die Ausstellungsbesucher produziert ­werden, ­eingesetzt. Zusammen mit den technischen Akteuren wird das Publikum als Teilhaber an den televisuellen Bildern entworfen und audiovisuelles Material gemeinsam gesendet – allerdings werden die partizipativen Handlungen wiederum durch die Vorgaben der Systeme ermöglicht, aber auch eingeschränkt. Schließlich wird die gemeinsame Arbeit der Tee Pee Videospace Troupe als Prozess entworfen, in dem die Zusammenarbeit als kollektive und als relational verstandene Aktion der Vermittlung oder der Weitergabe von Wissen thematisiert wird, wobei sich die Videoproduktionen nicht sukzessiv, sondern synchron entfalten. Zusammenarbeit entsteht dabei zwischen dem Künstler und dem Betrachter oder Teilnehmer an den Aktionen und umfasst zugleich nicht-menschliche Akteure, welche die Erfahrung kollektiver Handlungen gleichzeitig sowohl möglich machen als auch mitentwerfen. Die an den Sendungen, Installationen und Events beteiligten technischen Apparaturen stellen sich als ­maschinenartige Wesen aus und werden damit nicht allein zu medialen Vermittlern von Prozessen der Kollaboration, sondern konstituieren sich selbst als Teilhabende an der Produktion von Sendungen. Kollektivität entsteht in Momenten des synchronen, gemeinsamen Handelns und entwirft damit eine lediglich als temporär aufzufassende Stabilität, die sich auch ihrer Dokumentation entzieht. Die Flüchtigkeit der auf dem Monitor ­immer neu konstruierten, gleichzeitig wieder vergehenden Sichtbarkeit der Zusammenarbeit entspricht damit den immer neu zu bestimmenden Praktiken der Kollaboration, welche diese erst möglich machen und gleichzeitig selbst entwerfen. Literatur Adorno, Theodor W. (62008 [1963]): „Résumé über Kulturindustrie“, in: Claus Pias et al. (Hrsg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, München, 202–208. Anders, Günther (62008 [1956]): „Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen“, in: Claus Pias et al. (Hrsg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, ­München, 209–222.

54

Samantha Schramm

Antin, David (1976): „Video. The Distinctive Features of the Medium“, in: Ira Schneider/ Beryl Korot (Hrsg.), Video Art. An Anthology, New York/London, 174–183. Auslander, Philip (2005): „Zur Performativität der Performancedokumentation“, in: Barbara Clausen (Hrsg.), After the act. Die (Re)Präsentation der Performancekunst, Nürnberg, 21–34. Auslander, Philip (22008): Liveness. Performance in a Mediatized Culture, New York. Bartz, Christina (2007): MassenMedium Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung, Bielefeld. Bonin, Wibke von (1983): „Video und Fernsehen: Wer braucht wen?“, in: Wulf Herzogenrath (Hrsg.), Videokunst in Deutschland, 1963–1982. Videobänder, Installationen, Objekte, Performances, Stuttgart, 61–64. Boyle, Deirdre (1997): Subject to Change. Guerrilla Television Revisited, New York/ Oxford. Capper, Beth (2011): Pleasure Palace Theater of the Future. Shirley Clarke and the Tee Pee Video Space Troupe, M.A. Thesis, School of the Art Institute of Chicago. Clarke, Shirley (1973): „An Interview“, in: Radical Software 2(4), 27. Cubitt, Sean (1991): Timeshift. On Video Culture, New York/London. Daniels, Dieter (2003): Vom Readymade zum Cyberspace. Kunst/Medien Interferenzen, Ostfildern-Ruit. Daniels, Dieter (2010): „Before and After Video Art – Television as a Subject and Material for Art around 1963, and a Glance at Net Art since the 1990s“, in: Ursula Frohne et al. (Hrsg.), „Present Continous Pasts(s)“. Media Art. Strategies of Presentation, Mediation and Dissemination, Wien/New York, NY, 96–111. Daniels, Dieter/Berg, Stephan (Hrsg.) (2015): TeleGen. Kunst und Fernsehen. Art and Television, Kunstmuseum Bonn/Kunstmuseum Liechtenstein, München. Daniels, Dieter (2015): „Das Fernsehen anschauen (als Kunst)/Viewing Television (as Art)“, in: Ders./Stephan Berg (Hrsg.), TeleGen. Kunst und Fernsehen. Art and Television, Kunstmuseum Bonn/Kunstmuseum Liechtenstein, München, 14–32. Decker, Edith (1988): Paik Video, Köln. Dobbe, Martina (2000): „Kunst und Fernsehen: Eine unwahrscheinliche Allianz? Zum Bild der Kunst im Fernsehen der 60er Jahre“, in: Dies./Gerd Steinmüller (Hrsg.), Die Kunstsendung im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland (1953–1985). Geschichte – Typologie – Ästhetik, Teil I, Potsdam, 17–57. Engell, Lorenz (2008): „Eyes Wide Shut. Die Agentur des Lichts – Szenen kinematographisch verteilter Handlungsmacht“, in: Ilka Becker et al. (Hrsg.), Unmenge. Wie verteilt sich Handlungsmacht?, München, 75–92. Feuer, Jane (1983): „The Concept of Live Television: Ontology as Ideology“, in: E. Ann Kaplan (Hrsg.), Reading Television, Frederick, MD.

Flüchtige Experimente der Zusammenarbeit

55

Fricke, Christiane (2006): „1968/69. Black Gate Cologne. Otto Piene/Aldo Tambellini“, in: Rudolf Frieling/Wulf Herzogenrath (Hrsg.), 40 Jahrevideokunst.de, Stuttgart, 98–103. Frohne, Ursula (2001): „‚That’s the only now I get‘: Immersion und Partizipation in Video-Installationen“, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.), Kunst/Kino, Köln, 217–238. Grau, Oliver (2003): Virtual Art. From Illusion to Immersion, Cambridge, MA. Gurian, Andrew (2004): „Thoughts on Shirley Clarke and The TP Videospace Troupe“, Millenium Film Journal 42, online: http://mfj-online.org/journalPages/mfj42/ gurianpage.html, 07.04.2017. Hanhardt, John G. (Hrsg.) (1982): Nam June Paik, Whitney Museum of American Art New York, New York, NY/London. Haustein, Lydia (2003): Videokunst, München. Herzogenrath, Wulf (Hrsg.) (1983): Nam June Paik. Fluxus, Video, München. Herzogenrath, Wulf (1989): „Die Closed-Circuit-Installationen oder: Die eigenen Erfahrungen mit dem Doppelgänger“, in: Ders./Edith Decker (Hrsg.), Video-Skulptur. Retrospektiv und aktuell 1963–1989, Köln, 39–49. Heubach, Friedrich (1983): „Die verinnerlichte Abbildung oder Das Subjekt als Bildträger“, in: Bettina Gruber/Maria Vedder (Hrsg.), Kunst und Video. Internationale Entwicklung und Künstler, Köln, 62–65. Holert, Tom (2010): „‚A Live Feedback of You in the Now, Alternating with Broadcast in the Central Monitor‘. Video, Fernsehen, Selbsterfahrung und Erziehung um 1970“, in: Matthias Michalka (Hrsg.), Changing Channels. Kunst und Fernsehen 1963–1987, Ausstellungskatalog Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln, 37–53. Hölling, Hanna B. (2017): Paik’s Virtual Archive: Time, Change, and Materiality in Media Art, Berkeley, CA et. al. Jones, Amelia (2006): Self/Image: Technology, Representation, and the Contemporary Object, London/New York, NY. Joselit, David (2007): Feedback Television against Democracy, Cambridge, MA/London. Kacunko, Slavko (2004): Closed Circuit Videoinstallationen. Ein Leitfaden zur Geschichte und Theorie der Medienkunst mit Bausteinen eines Künstlerlexikons, Berlin. Krauss, Rosalind (1978): „Video. The Aesthetics of Narcissism“, in: Gregory Battcock (Hrsg.), New Artists Video. A Critical Anthology, New York, 43–64. Krüger, Klaus et al. (2016): Kunst/Fernsehen, Paderborn 2016. Leach, Dawn (2013): „Spuren der Zeit in Nam June Paiks Closed-Circuit-Videos“, in: Johannes Myssok/Ludger Schwarte (Hrsg.), Zeitstrukturen. Techniken der Vergegenwärtigung in Wissenschaft und Kunst, Berlin, 73–89. Livingston, Paisley (2005): Art and Intention. A Philosophical Study, Oxford. McLuhan, Marshall (1992): Die magischen Kanäle, Düsseldorf.

56

Samantha Schramm

Michalka, Matthias (2010): „Changing Channels. Zwischen Kunst und Massenmedium“, in: Ders. (Hrsg.), Changing Channels. Kunst und Fernsehen 1963–1987, Ausstellungskatalog Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln, 213–223. Osswald, Anja (2003): Sexy Lies in Videotapes. Künstlerische Selbstinszenierung im Video um 1970. Bruce Nauman, Vito Acconci, Joan Jonas, Berlin. Paik, Nam June (1992a [1965]): „Kybernetische Kunst“, in: Edith Decker (Hrsg.), Paik, Niederschriften eines Kulturnomaden. Aphorismen, Briefe, Texte, Köln, 115. Paik, Nam June (1992b [1967]): „Norbert Wiener und Marshall McLuhan“, in: Edith Decker (Hrsg.), Paik, Niederschriften eines Kulturnomaden. Aphorismen, Briefe, Texte, Köln, 123–127. Phelan, Peggy (1993): Unmarked. The Politics of Performance, London/New York. Rennert, Susanne/Lee, Sook-Kyung (Hrsg.) (2010): Nam June Paik, Ostfildern-Ruit. Rice, Susan (1972): „Shirley Clarke: Image and Images“, in: Take One, 07.02.1972. Schamberg, Michael/Raindance Corporation (1971): Guerilla Television, New York et al. Schramm, Samantha (2012): „Versuchsanordnungen in Echtzeit. Sich selbst sehende Zuschauer in Closed Circuit Videoinstallationen“, in: Augenblick 51, 25–36. Schneider, Ira/Beryl, Korot (Hrsg.): Video Art. An Anthology, New York/London, 174–183. Schubiger, Irene (2004): Selbstdarstellung in der Videokunst. Zwischen Performance und ,self-editing‘, Berlin. Spielmann, Yvonne (2005): Video. Das reflexive Medium, Frankfurt a.M. Spigel, Lynn (1992): Make Room for TV. Television and the Family Ideal in Postwar America, Chicago, IL/London. Stooss, Toni/Kellein, Thomas (Hrsg.) (1993): Nam June Paik: Video Time, Video Space, New York, NY. Tambellini, Aldo (2005): „A Syracuse Rebel in New York“, in: Clayton Petterson (Hrsg.), A Film/Video History of the Lower East Side, New York. White, Mimi (2004): „The Attractions of Television. Reconsidering Liveness“, in: Nick Couldry (Hrsg.), MediaSpace. Place, Scale and Culture in Media Age, London et al., 75–91. Yalkut, Jud (1969): „TV as a Creative Medium at Howard Wise“, http://www.eai.org/ user_files/supporting_documents/yalkut_artsmag.pdf, 07.04.2017. Youngblood, Gene (1970): Expanded Cinema, London.

Was ist Zeit?

Synergien im Omnibusfilm Ten Minutes Older Michael Lommel Die Frage nach einer Ästhetik der Kollaboration scheint eine räumliche und eine zeitliche Perspektive zu erfordern. Kollaboration wäre, so verstanden, einerseits die Problematik der räumlichen Anordnung und Verteilung: Wie sind die Entitäten im Raum situiert und aufeinander bezogen? Wie verhalten sich die Teile zum Ganzen (vgl. Ghanbari et al. 2013)? Andererseits stellt sich die Frage in zeitlicher Hinsicht: Wie gestaltet sich das „gemeinsame in-der-Zeit-Sein“ (vgl. den Beitrag von Isabell Otto in diesem Band) der Entitäten als Prozess und im Prozess der Kollaboration? Auf den zweiten Blick jedoch sind diese für den analytischen Zugriff getrennten Fragen nicht so trennscharf, wie es scheint: Beobachtet man etwa das Verhältnis der Teile zum Ganzen, so kann nie allein die räumliche Anordnung, sondern erst der zeitliche Verlauf Aufschluss über mögliche Synergieeffekte geben. Der vorliegende Aufsatz möchte, indem er filmästhetische Kollaborationsformen untersucht, solche Synergien aufspüren. Er will somit einen Beitrag zur Heterotopie und Heterochronie filmischer Kollaboration leisten, dargelegt am Beispiel des Omnibusfilms. Besonders aufschlussreich ist hierbei der Film Ten Minutes Older (2002), weil er die Zeitdimension des Verhältnisses von ­Teilen und Ganzem – gleichsam als re-entry – autoreflexiv zur eigenen Leitfrage ­erklärt: Was ist Zeit?

Zum Begriff „Omnibusfilm“

So wie in einem Omnibus die Fahrgäste hintereinander sitzen, bestehen Omnibusfilme aus Teilfilmen (Episoden), die wie Kurzfilme zu einem Gesamtfilm aneinandergereiht werden. Im Online-Lexikon der Filmbegriffe der Universität Kiel heißt es, ein Omnibusfilm könne auch von einem einzelnen Regisseur stammen (Horak/Wulff 2012). Ich schlage eine etwas andere Terminologie vor und bezeichne, ähnlich wie Jürgen Kühnel, alle Filme, die ihre Episoden aneinanderreihen, ob diese nun von mehreren Regisseuren oder von einem einzigen Regisseur gedreht wurden, als additive Episodenfilme (vgl. Kühnel 2004: ­117–122; Lommel 2011: 102f.). Der Omnibusfilm ist nach dieser Taxonomie ­somit a) immer ein Kollektivprodukt, bei dem in der Regel jeder Regisseur eine Episode beisteuert, und b) eine Unterart, d.h. ein Spezialfall des additiven

© Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi 10.30965/9783770558407_005

58

Michael Lommel

­Episodenfilms. Der alternierende Episodenfilm (vgl. Kühnel: ebd.) à la Short Cuts ist die andere Basisform des Episodenfilms (alternierende Omnibusfilme sind hier allerdings äußerst selten). Im Omnibusfilm sind alle Episoden durch eine vorher verabredete gemeinsame Zielvorstellung verbunden – ein Thema im weitesten Sinne –, wodurch sie sich wiederum von Kurzfilm-Reihen1 oder -Revuen im Rahmen eines Filmfestivals unterscheiden. In der Filmwissenschaft ist der Episodenfilm2 erst in Ansätzen erforscht, wobei die wenigen Beiträge, die über eine Inhalts-, Bild- und Figurenanalyse hinausgehen (wie Treber 2005), das episodische Erzähl- und Vernetzungsprinzip eher beschreiben als theoretisch perspektivieren. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt ist für mich der narratologische Ansatz von Michaela Krützen, die ausdrücklich auch wissen will, wie und nicht nur was Filme erzählen (Krützen 2010; Krützen 2015). Da sie den Omnibusfilm allerdings nur streift, ist festzuhalten, dass seit der Studie von Andreas Schreitmüller (Schreitmüller 1983) keine eigenständige Untersuchung mehr erschienen ist, obwohl natürlich seitdem, besonders seit den 1990er Jahren, der Blütezeit des neuen Episodenfilms, wie ich dessen Boom in den letzten 25 Jahren nennen möchte, auf der ganzen Welt auch Omnibusfilme gedreht wurden. 1 In der Frühzeit des Stummfilms verkörperte der sog. Filmerklärer in persona die Rahmung von (meist kurzen) Filmen. 2 Von Begriffsklarheit kann hier allerdings keine Rede sein: Während man sich z.B. relativ schnell darüber einigen kann, was ein Western oder ein Film Noir ist, kursieren beim Episodenfilm nach wie vor heterogene Begriffe und Definitionen: Karsten Treber unterscheidet zwischen dem „episodischen Erzählen“ und dem „Episodenfilm“; letzterer bestehe „aus in sich abgeschlossenen narrativen Segmenten, die auf der Handlungsebene keinen gegenseitigen Einfluss aufeinander nehmen können […].“ Treber meint hier also das, was ich mit Jürgen Kühnel additive Episodenfilme nenne, die Treber mit einem „Themenabend“ oder einer „Varietéaufführung“ vergleicht, deren Einzelfilme auch „für sich aufgeführt werden könnten“ (Treber 2005: 18f.). Dieser These widerspricht der vorliegende Aufsatz ausdrücklich. Michaela Krützen wiederum spricht vom „mehrsträngigen Erzählen“ oder schlicht von „Mehrsträngigkeit“ bei Filmen wie Traffic, Short Cuts, The Hours etc. Nach meiner Terminologie sind das alternierende (man könnte auch sagen: skandierende) Episodenfilme. Krützen reserviert ähnlich wie Treber den „Episodenfilm“ (einschließlich des Omnibusfilms) für „klare Abgrenzungen“ zwischen den Episoden (Krützen 2010: 233ff.). Nur ein Beispiel, um diese Definition zu problematisieren: In Jim Jarmuschs Mystery Train (1989) werden drei Teilfilme, die alle in einem Hotel spielen, strikt nacheinander erzählt; sie berühren sich aber allein schon auf der Handlungsebene. Noch disparater wird das Begriffsfeld, wenn man die englischen und französischen Termini einbezieht und sich zurechtfinden muss zwischen multi-plot film, multi draft narratives, compilation film, episode film, anthology film, network narratives, polyphonic plots, hyperlink cinema, portmanteau film, film à sketches, omnibus film etc. Strittig ist daher auch, wie man den Episodenfilm als genus proximum überhaupt rubriziert: Ist er ein Genre? Oder eher ein Querschnittsgenre? Oder doch „nur“ eine Erzählform? Eine Stilrichtung, eine Gattung…?

Was ist Zeit?

59

Methodisch kommt es beim Omnibus- wie überhaupt beim Episodenfilm darauf an, das Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzem genau zu bestimmen. Darin, meine ich, liegt auch die Langlebigkeit, der Reiz begründet, den der Omnibusfilm für Produzenten, Regisseure und Zuschauer bis heute hat. Die Relation zwischen Teilen und Ganzem wird bekanntlich in unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen wie Philosophie, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Linguistik, Biologie etc. erforscht. Sie erschöpft sich in Omnibusfilmen, so meine These, aber gerade nicht in der Feststellung einer für alle Teile geltenden Gemeinsamkeit, also etwa 1. 2. 3.

einem gemeinsamen Thema (im engeren Sinne), z.B. erotische Liebe in Eros (2002), einem gemeinsamen Ort, wie in Paris, je t’aime (2007) oder New York, I love you (2010), einer geschichtlich-politischen Situation, d.h. einer gemeinsamen Ereigniszeit, dem sog. Deutschen Herbst in Deutschland im Herbst (1978) oder dem Vietnamkrieg in Loin du Viét-nam (1967).3

Die Beziehung von Teilen und Ganzem umfasst vielmehr die mit solchen thematischen, spatialen, temporalen etc. Rahmungen einhergehenden Kohäsionsparameter, die sich als lose und feste Koppelung (Luhmann 2004), ­Autonomie und Heteronomie (Lommel 2011) oder Differenz und Wiederholung (Felix et al. 2001) beschreiben lassen. Produktionsästhetik Beim Omnibusfilm spielen Verknüpfungs-, Vernetzungs-, Assoziations- und Zitierformen eine Rolle, die von den Initiatoren mehr oder weniger gesteuert werden, wobei diese Steuerungsversuche aber auch durch unerwartete Korrespondenzen verdichtet oder durch ,Neukalibrierungʻ des Rahmens umdefiniert bzw. sogar unterwandert werden können.4 In diesem Sinn wäre es ­produktionsästhetisch interessant, die spezifischen Intensitätsgrade der Kollaboration zu erforschen: Inwieweit korrelieren interepisodische Kohäsionskräfte mit den Produktionsbedingungen? Gab es Kontakte oder sogar intensive 3 Die Liste ließe sich selbstverständlich verlängern. Der Omnibusfilm Le Streghe (1966) z.B. ehrt eine einzelne Akteurin: die Schauspielerin Silvana Mangano (1930–1989). 4 So wie in The Five Obstructions (2004), den Jørgen Leth und Lars von Trier gleichsam als Film-Duell gedreht haben (vgl. dazu Lommel 2012). Nur zwei Regisseure: Das ist auch die Mindestkonstellation für einen Omnibusfilm.

60

Michael Lommel

Kommunikation zwischen den Regisseuren im Vorfeld und/oder während der Dreh- und Produktionszeit, sodass man von einem koordinierten Prozess sprechen kann (vgl. Ghanbari et al. 2013)? Oder hat jeder beteiligte Regisseur die Beiträge seiner Kollegen, das Ergebnis also, selbst erst, wie wir Zuschauer, im Kino gesehen, sodass die ,kollektive Intelligenz‘ des Omnibusfilms primär in seiner Emergenz bestünde? In gewisser Weise ist ja auch der Zufall5 an dem beteiligt, was die Kohäsionskräfte der Episoden in Gang setzt: Welche Regisseure haben wegen anderer Verpflichtungen abgesagt, welche sind nachgerückt?

Synergie: das Ganze und seine Teile

Produktionsästhetische Fragen stehen allerdings nicht im Zentrum dieses Beitrags. Zwar kann man mit ihnen, soweit Informationen zur Entstehungsgeschichte der Filme überhaupt verfügbar oder einholbar sind, die Genese von Synergiephänomenen freilegen. Aber der (fertige) Film ist dann doch ein ästhetisches Gebilde eigenen Rechts, für dessen Formstrukturen die Entstehungsbedingungen letztlich obsolet sind. In der Filmästhetik sollte man nicht hinter den Stand zurückfallen, den die Literaturwissenschaft für literarische Texte längst für sich in Anspruch nimmt. Das Kollektivprodukt Omnibusfilm, so meine These, ist ein eigenes holistisches ästhetisches System, in dem „das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“, wie Aristoteles’ berühmte ­Beschreibung der „Synergie“ lautet, mit der heute allerdings inflationär alle dynamischen Systeme erklärt werden sollen. Insofern gilt es, den esoterisch angehauchten Terminus, den auch Unternehmensberater gern im Munde führen, vor Beliebigkeit und Aufweichung zu schützen. Synergía oder synergismós, gebildet aus syn (zusammen) und érgon (Werk), heißt soviel wie „die Zusammenarbeit“ oder „das Zusammenwirken“, so Aristoteles in der viel zitierten Stelle seiner Metaphysik, und bezeichnet das, was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute; ba ist nicht dasselbe wie b plus a […]. Die Silbe ist also etwas für sich; sie ist nicht bloß ihre Laute, […] sondern noch etwas Weiteres. Aristoteles 1907: 129 6

5 Aristoteles bezeichnet diese kontingente Form von Ganzheit als akzidentielle Ganzheit (vgl. Lorenz 2004: 226). 6 Hervorh. M.L. So ist es auch für die holistisch argumentierende philosophische Semantik sinnlos, nach dem Gehalt einzelner Aussagen zu fragen. Der Sprachgebrauch in seiner

Was ist Zeit?

61

Synergien setzen somit einen holistischen statt reduktionistischen Systembegriff voraus, nämlich eine nicht vollständige Erklärbarkeit des Ganzen aus den Eigenschaften seiner Teile. Synergieeffekte werden u.a. von der Physiologie, Anatomie, Gestalttheorie, Architektur und Kybernetik bis hin zur Wasserwirtschaft beschrieben. Dass der Episodenfilm, sei er nun additiv oder alternierend, eine synergetisch-holistische Gestalt bildet, verstehe ich geradezu als notwendige (und nicht nur hinreichende) Bedingung seiner Definition – in Abgrenzung zu Filmen, die einfach nur mehrere plotlines haben. Ein geradezu klassisches Beispiel aus der ästhetischen Theorie des späten 19. Jahrhunderts für eine ästhetische Gestalt, dem aristotelischen Beispiel der Silbe nicht unähnlich, stammt von Christian von Ehrenfels: Die ,Gestaltqualitätʻ einer Melodie lasse sich eben nicht auf die Summe der in ihr vorkommenden isolierten Einzeltöne reduzieren (von Ehrenfels 1890). Zur selben Zeit wie von Ehrenfels beschreibt auch Henri Bergson die Melodie als organische Einheit: Die Teile durchdringen einander, wie auch die Ganzheit die Fusion und Funktion der Teile bestimmt und auf sie zurückwirkt, und es ist kein Zufall, dass Bergson das Beispiel der Melodie im Rahmen seiner Zeit-Philosophie aufgreift – hat doch für ihn die Zeit dieselbe holistische Qualität wie die Musik: Könnte man nicht sagen, dass, wenn diese Töne auch aufeinander folgen, wir sie dennoch ineinander apperzepieren, und dass sie als Ganzes mit einem Lebewesen vergleichbar sind, dessen Teile, wenn sie auch unterschieden sind, sich trotzdem gerade durch ihre Solidarität gegenseitig durchdringen? Bergson 1911 [1889]: 78f. 7

Zu untersuchen wäre nun gerade beim Omnibusfilm, inwiefern sich Synergien anders darstellen, wenn die Episoden nicht von ein- und demselben Regisseur stammen. ,Andersʻ verstehe ich hier nicht normativ, soll heißen: Kollektive ­ esamtheit determiniert vielmehr die einzelnen sprachlichen Aussagen. „Synergie“ verstehe G ich hier in der ursprünglichen aristotelischen Verwendung (Relation von Teilen und Ganzem) und nicht i.S. der 1970 von Hermann Haken geprägten „Synergetik“, dem v.a. ­physikalischen und biologischen Begriff für die Untersuchung selbstorganisierter Systeme (vgl. Carrier 2004: 171–173). Verschwiegen werden soll nicht, dass ungeachtet seiner Überlegungen zur Synergie Aristoteles in seiner Poetik nicht nur die Einheit der Handlung im Drama, sondern auch die Einheit der „Fabel“ (Epik) gegen die „episodischen“ Fabeln verteidigt (vgl. Aristoteles 1994: 25–27). 7 Vgl. dazu Wyller (2016: 62f.). Auch Husserl bedient sich übrigens bei der Musik – und zwar in seinen Überlegungen zum Phänomen der Zeit: Die verklungenen Töne einer Melodie klingen zwar nicht so gegenwärtig wie der je aktuelle Ton im ,Jetzt‘ mit, aber sie klingen doch, gleichsam abgeschattet, als anwesende Abwesenheit, als Retention mit (vgl. ebd.: 66 f.).

62

Michael Lommel

Omnibusfilme müssen nicht per se ,komplexerʻ sein, auch wenn von Multiperspektivität sensu stricto vielleicht erst gesprochen werden kann, sobald der blinde Fleck des Künstlersubjekts (die écriture des Regisseurs) im Kollektiv(film) austariert wird. Aber auch diese Befunde müssten dann aus dem Werk selbst und nicht aus seiner Genese ableitbar sein. Im Falle des additiven Omnibusfilms kann man außerdem fragen: Wie wichtig ist die Reihenfolge, die Anordnung der Episoden? Ist sie, wie die Reihenfolge der Songs auf einem Pop- oder Jazz-Album, die meist der Intuition von Produzenten und Musikern geschuldet ist, relativ willkürlich? Oder geriete die ganze Konstruktion aus der Balance, wenn man eine oder mehrere Episoden umstellte?8 Oft lenkt uns schon der Titel eines Omnibusfilms auf das gemeinsame Zentrum, auf das hin sich die Episoden ausrichten. Betrachten wir beispielsweise drei internationale Omnibusfilme, die Anfang der 2000er Jahre von renommierten Regisseurinnen und Regisseuren des Weltkinos gedreht wurden. Mit jedem Film lässt sich eine eigene Leitfrage verbinden: Was ist ein Ereignis? Was ist Kino? Was ist Zeit? 1. Mit 11'09''01 – September 11 (2002) reagierte das Kino früh auf den Terroranschlag in Manhattan, d.h. auf ein welthistorisch folgenreiches Ereignis, wobei allein schon die Frage aufschlussreich ist, wodurch sich die Episoden der US-amerikanischen von denen europäischer und gar arabischer Regisseure unterscheiden. 2. Der Film Chacun son Cinéma (2007) ist in hohem Maße autoreflexiv angelegt, weil er das Dispositiv Kino, das dank Baudry, Winkler und Paech auch medientheoretisch gut erforscht ist, zum gemeinsamen Thema macht. Jede der zahlreichen, nur wenige Minuten langen Episoden widmet sich dem Kino als Wahrnehmungsanordnung. Es geht hier also nicht, wie bei Ten Minutes Older, wie wir gleich sehen werden, um (Film-)Zeit, sondern um den Ort bzw. Nicht-Ort des Kinos selbst, an dem sich reale und imaginäre Räume kreuzen. 3. In Ten Minutes Older – The Trumpet / The Cello (2002) schließlich, einem Doppelfilm von zwei Mal 90 Minuten Länge, lautet die übergreifende Frage, die auch so manchen Physiker und Philosophen (aktuell etwa Wyller 2016) umtreibt: Was ist Zeit? Keine ganz einfache Frage, denn eine 8 Wie ich später im Abschnitt „Die knappe Frist“ zu zeigen versuche, verlöre etwa Godards abschließende Episode von Ten minutes Older ihre Wirkung, wenn sie vorher platziert worden wäre.

Was ist Zeit?

63

eindeutige Definition der Zeit, sagt der Zeitforscher Karlheinz Geißler, gibt es nicht (Geißler 2017).9 Und dafür hatte jeder der fünfzehn Regisseure10 genau zehn Minuten Filmzeit zur Verfügung. So weit gefasst also die Vorgabe zu sein scheint (lose Koppelung), so strikt war hier wiederum die Erzählzeit bemessen (feste Koppelung). Für die Verknüpfung und Überleitung11 sorgt die vom britischen Komponisten Paul Englishby komponierte Musik, die jede Episode einleitet. Im ersten Film, The Trumpet, spielt Hugh Masakela Trompete, im zweiten Film hören wir das Cello von Claudio Bohórquez. Der Doppelfilm Ten Minutes Older soll nun genauer analysiert werden im Hinblick auf Synergieeffekte seiner Leifrage „Was ist Zeit?“

9

10

11

Auch für Wyller ist „die Zeit kein begriffliches oder generelles Phänomen […], sondern etwas Partikuläres“ (Wyller 2016: 123). Die wohl bekannteste philosophische Begriffsbestimmung der Zeit, eigentlich eine Definition der Undefinierbarkeit, stammt von Augustinus: „Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht“ (Augustinus 1914: 14): Diskursstrategisch nicht weniger offen angelegt ist die Definition Hegels: Die Zeit, so Hegel, sei „das Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist“ (Hegel 1970: 48). Eine der intelligentesten Reflexionen über den Zeit-Begriff findet sich in Vladimir Nabokovs Roman Ada oder Das Verlangen (Ada or Ardor): vgl. den Essayfilm von Harald Bergmann: Der Schmetterlingsjäger. 37 Karteikarten zu Nabokov (2014). Obwohl es dieser Untersuchung auf strukturelle Fragen ankommt, sei doch der Hinweis erlaubt, dass nicht alle (wenn auch einige!) dieser fünfzehn Episoden filmische Meisterwerke geworden sind, oder anders gesagt: Spielfilmexpertise bedeutet nicht zwangsläufig auch Kurzfilmexpertise: So scheitert etwa Volker Schlöndorffs Filmbeitrag (Episode 13: ENLIGHTENMENT), in dem eine ostdeutsche Grillparty aus der Perspektive einer altersweisen (!) Stechmücke beobachtet wird, während ein Off-Kommentar die Zeitphilosophie des Augustinus einspricht, an der Inkommensurabilität von tierischem und menschlichem Zeiterleben. Eine Tierperspektive mit subjektiver Kamera hat meistens etwas Obszönes. Solche Zwischensequenzen sind in Episodenfilmen seit Griffith’ Intolerance (1916) ü ­ blich, wo das szenische Tableau The Woman and the Cradle das alle Episoden verbindende ­Toleranz-Narrativ knüpfen soll; seit Tonfilmzeiten dann oft mit Musikunterlegung, z.B. einem Love Song von Caetano Veloso in Eros.

64

Michael Lommel

Was ist Zeit? „Zeit ist stärker als Kunst.“ Ben Vautier

Der von Nicolas McClintock, dem Ideengeber des Projekts, zusammen mit Nigel Thomas und Ulrich Felsberg produzierte Omnibusfilm (auch Wim Wenders’ Engagement spielte von Anfang an eine Rolle) ist dem Regisseur Herz Frank und seinem Kameramann Juris Podnieks gewidmet. Die beiden hatten 1978 einen Kurzfilm mit dem Titel Ten Minutes Older [Par desmit ­Minutem vecaks] gedreht. Der Titel wurde also für den späteren Omnibusfilm übernommen, der 2002 auf einigen Filmfestivals zunächst auch noch zusammen mit dem ­Initialfilm von Herz Frank gezeigt wurde. Danach wurde der Kurzfilm von 1978 nicht mehr mit aufgeführt. Auch auf der DVD fehlt er bedauerlicherweise.12 Frank und Podnieks zeigen en face Jungen im Alter von etwa sechs bis acht Jahren, die im Kino sitzen, d.h. die (versteckte) Kamera ist gleichsam wie ein umgekehrter Spiegel dort platziert, wo die Jungen hinschauen: auf der Seite der Leinwand. Da die Kamera die meiste Zeit über bei einem bestimmten Jungen bleibt (und nur gegen Ende auch andere Gesichter in den Blick nimmt), die Einstellung sich also nie ändert, sehen wir immer nur die sehr emotionalen Reaktionen des Jungen, der in diesem Alter noch kaum zwischen Fiktion (Vorführung) und Realität trennt (Abb. 3.1–3.2). Wie die erschrockene Leserin in Magrittes Bild La lectrice soumise reagiert er auf den Film so immersiv, wie Erwachsene es mitunter (nur) noch beim Anschauen von Horrorfilmen tun (vgl. McGlone 2015). Wir sehen also nie das, was der Junge sieht. Eine einfache Idee mit einer komplexen Wirkung von Spiegelungen und Blick-Kreuzungen, von Sichtbarem und Unsichtbarem. Und wie in Hiroshi Sugimotos Fotografien leerer Kinosäle ist gerade der Gegenstand der Aufmerksamkeit, der Film selbst, im Bild abwesend. Zehn Minuten können, wie man aus eigener Erfahrung nur zu gut weiß, lang oder kurz sein. Subjektive und objektive Zeit fallen nie zusammen. Zehn Minuten können einem wie ein Augenblick vorkommen oder sich scheinbar endlos dehnen; wobei sich diese Zeitempfindung in der Erinnerung, als narrative Zeit, seltsamerweise wieder umkehren kann, z.B. wenn im Rückblick eine langweilige Lebensphase nicht mehr lang, sondern wegen ihres geringen ,­Inhaltsreichtumsʻ kurz erscheint (Wyller 2016: 121f.).13 Es gibt also „keine ,­falsche‘ oder ,richtige‘ Zeiterfahrung“ (ebd.); zehn Minuten können eine 12 13

Dafür ist er abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=BesHd0TN3Ok, 27.04.2017. Hans Castorp sagt im Zauberberg: „Wenn sie [die Zeit, M.L.] einem lang vorkommt, so ist sie lang, und wenn sie einem kurz vorkommt, so ist sie kurz, aber wie lang oder kurz sie in Wirklichkeit ist, weiß doch niemand“ (Mann 1981: 94).

Was ist Zeit?

ABBILDUNG 3.1–3.2 Screenshots des Films Ten Minutes Older (UDSSR 1978); Regie: Herz Frank, ­Originaltitel: Par desmit Minutem vecaks, https://vimeo. com/205896361, 27.02.2018.

65

66

Michael Lommel

­flüchtige Episode umfassen, eine Zigarettenpause (Episode 4: Jim Jarmusch: INT. TRAILER NIGHT), oder, indem sie das bisherige Leben auf den Kopf stellen (­Episode 11: István Szabó: TEN MINUTES AFTER), als Vergangenheit, die nicht vergehen will, für immer in die Zukunft eingeschrieben sein. Das liegt, so Wyller, daran, dass wir Menschen „uns Zeitverläufe vollständig unabhängig von ihrer bestimmten Dauer denken“ (ebd.: 125). Oder anders gesagt: Wir erleben immer „eine bestimmte und nicht nur gedachte Dauer von jetzt zu jetzt“. Also noch einmal gefragt: Ten Minutes Older, was heißt das? Wie lang sind zehn Minuten? Wie lang ist eine bestimmte Minute? Wir werden diese Größe niemals unter den Qualitäten wahrnehmen, die wir ,in‘ einer Minute empfinden. Denn Größen sind keine Qualitäten, sie sind Quantitäten, und Quantitäten können wir nur bestimmen, indem wir sie zählen oder miteinander vergleichen, ähnlich wie wir das tun, wenn wir andere Geschehnisse mit den Bewegungen des Minutenzeigers auf dem Zifferblatt vergleichen. Ebd.: 125

Wie kann man also Zeitabschnitte von anderen Zeitabschnitten abgrenzen, wenn doch, wie es bereits in Marc Aurels Selbstbetrachtungen heißt, die Ten Minutes Older – The Trumpet als Motto vorangestellt sind, die Zeit ein Fluss ist, „ein ungestümer Strom, der alles fortreißt, jegliches Ding, nachdem es zum Vorschein gekommen“ (Aurel 1949)?14 Setzt sich aus der Summe aller Augenblicke das Leben zusammen? Oder ist das Leben selbst vor dem Hintergrund der kosmischen Zeit gleichsam nur ein Licht, das für einen Moment aufflammt, „ein Lichthieb durch die Finsternis“ (Botho Strauß)? Diesen Fragen widmet sich Ten Minutes Older, wie Hanns Zischler, Marc Aurels berühmte Metapher aufnehmend, schreibt: Kinematografie, das bewegte und in sich bewegliche Bild, ist die uns heute vertrauteste Illusion, dem Fluss der Zeit habhaft zu werden. Keine 14

Aurels Metapher vom Fluss oder Strom der Zeit, dem wir ohnmächtig ausgeliefert sind, weil wir ihn nicht kontrollieren können, weil wir schon immer in ihn hineingestürzt sind, ist trügerisch, wie Wyller bemerkt. Denn derart erscheint nämlich der Raum „in gewisser Weise subjektiver als die Zeit“, denn ,inʻ ihm können wir uns mehr oder weniger frei bewegen. „Man kann jedoch auch die entgegengesetzte Ansicht für plausibel halten. Wir können uns deshalb nicht in der Zeit umherbewegen […], weil wir die Zeit sind. Die Zeit ist kein Fluss, sondern unser Selbst […].“ Oder mit Borges formuliert: „Wir sind zwar der Fluß, aber er reißt uns mit sich“ (Wyller 2016: 126f.).

Was ist Zeit?

67

Kunst ist metaphorisch mehr mit Begriffen der Zeitlichkeit aufgeladen als das Kino. Die abrollenden und stillstehenden Bilder versuchen, das Ungreifbare der Zeit zu erhaschen. Zischler 2003

Welche Gemeinsamkeiten, welche Schnittmengen oder Familienähnlichkeiten, welche Kreuzungs- oder Berührungspunkte lassen sich nun auffinden, wenn man die fünfzehn Episoden miteinander vergleicht? Was ist mehr als die Summe der Teile? Ob es sich um fiktionale Filme (zwölf Episoden), um Dokumentarfilme (Werner Herzog, Spike Lee) oder um Dokufiktion (Claire Denis), um Farb- (neun Episoden) oder Schwarzweißfilme (sechs Episoden) handelt, ist für diese Frage zunächst nicht entscheidend.

Vita brevis, ars longa: Synergien in Ten Minutes Older (I)

1 Die Uhr Den unmittelbaren, offenkundigen, aber auch, wie Norbert Elias immer betont hat (Elias 1988),15 trügerischsten Bezug zum Thema Zeit, den kleinsten gemeinsamen Nenner, liefert natürlich die Uhr; da es schon in der Antike Sonnenuhren und im Mittelalter Kerzenuhren gab, muss man präziser sagen: die mechanische Uhr (zur Geschichte der Uhr vgl. Roth 2009). Im Kino kommt der Uhr stets „eine mehrfache Funktion zu“, wie Lorenz Engell festhält. Sie zeigt „neben der fiktionalen Uhrzeit auch den Zeithorizont der fiktiven Handlung“ (Engell 2014: 164); so werden Blicke der Filmfiguren auf Uhren „genutzt, um eine Beschleunigung im Handeln der Figuren zu motivieren und anzutreiben oder aber im Gegenteil Handlungshemmungen, etwa in Warte- und Langeweilesequenzen, einzuführen“. Zudem dient die Uhr „der Informationsvergabe an die Zuschauer und steuert ihre Rezeptionsleistung in der zeitlichen Anordnung der Sequenzen des Films“ – bis hin zur affektiven „Spannungs- und Erwartungssteuerung“, die Filmfiguren wie Zuschauer gleichermaßen affiziert (ebd.: 165; vgl. auch Engell 2015). So sind in nahezu allen Episoden Uhren, Blicke auf Uhren und Zeitangaben, meist in Close-ups, zu sehen (Abb. 3.3–3.6), und oft hört man überdeutlich das Ticken einer Uhr oder eines Weckers, die wie ein Metronom den Takt der Episoden vorzugeben scheinen. Der Takt der Uhr aber ist eine Wiederholung ohne Abweichung, während der Körperrhythmus des Menschen (selbst der Puls!) 15

Zeit, so Elias, der hier Aurels Metapher nicht folgt, sei eben kein „objektiver Fluss“, s­ ondern eine „Beziehungsform“, eine „menschliche Syntheseleistung“ (Elias 1988: 75f.).

68

Michael Lommel

Was ist Zeit?

69

ABBILDUNG 3.3–3.6  Uhren in Ten Minutes Older – The Trumpet / The Cello (2002). Die Abbildungen 3–9 sind Screenshots des Doppelfilms Ten Minutes Older – The Trumpet / The Cello (USA et al. 2002). Regie in The Trumpet: Aki Kaurismäki et al.; Regie in The Cello: Bernardo Bertolucci et al. 2-DVD-Box, Studio: Ascot Elite Home Entertainment Gmbh. Erscheinungstermin: 10.02.2004.

auf Abweichungen und Unregelmäßigkeiten beruht (vgl. Lommel 2008): Daher ist die gänzliche Abwesenheit von Uhren nur für unsere moderne Zeitkultur ungewöhnlich, wie Werner Herzog in seiner Episode vorführt (­Episode 3: TEN THOUSAND YEARS OLDER): Das Volk der Uru Eus (Amondauas) kannte keine Uhren, bevor es von den Weißen ,gefundenʻ wurde. Das Zeitregime des Westens, die globalisierte Zeit und die Zeit der Globalisierung, ist ein Herrschaftsinstrument. Die homogene, 1884 synchronisierte Greenwich Mean Time (die inzwischen als Koordinierte Weltzeit mit Atomuhren festgelegt wird) bemächtigt sich als Zeitimperialismus, als Zeit des Fortschritts einer Kultur, die nach anderen Zeitvorstellungen gelebt hat und nun buchstäblich aus der Zeit fällt (wie Hamlet sagt: „The time is out of joint“).16 Ein – sicherlich ­ungeplanter – Synergieeffekt kommt zwischen Werner Herzog und Jiri Menzel (Episode 10: ONE MOMENT) zustande: Der Häuptling der Uru Eus hält ebenso wie der Protagonist bei Menzel am Ende einen Wecker in der Hand 16

„Die Uhren sind Instrumente zur Disziplinierung der Zeit und zugleich Offenbarung ihres haltlosen Vergehens“ (vgl. Adolphs/Berg 2016); vgl. auch Geißler (2017: 16): „Die Moderne ist eine Uhrzeit-Moderne“, und Wyller (2016, 22): „Gesellschaften, die von der Zeit der Uhr durchreguliert sind, sind ausgesprochen moderne Phänomene, etwas, das den Menschen in so genannten vormodernen Gesellschaften fremd war“.

70

Michael Lommel

ABBILDUNG 3.7–3.8 Episode 3: Werner Herzog, TEN THOUSAND YEARS OLDER und Episode 10: Jiří Menzel, ONE MOMENT.

(Abb. 3.7–3.8). Gerade diese ungeplanten Korrespondenzen sind es mitunter, welche die besondere ,Gestalt‘ eines Omnibusfilms ausmachen. 2 Die knappe Frist Ebenso wenig dürfte überraschen, dass es in vielen Episoden um die ja meist auch von Uhren angezeigte Frist, die knappe Zeit geht (vgl. Weinrich 2004), die Ungreifbarkeit und Flüchtigkeit der Zeit, die sich dem menschlichen Zugriff entzieht: die Frist, die eingehalten werden muss oder unerbittlich und bedrohlich als Countdown tickt, harmlos noch in Jim Jarmuschs Episode, wo sie der (durch permanente Störungen ad absurdum geführten) Zigarettenpause einer Schauspielerin entspricht. Die Zigarette, „dramaturgisches Objekt“ des Films

Was ist Zeit?

71

par excellence, rhythmisiert den Handlungsverlauf, die verfehlte Aus-Zeit der Schauspielerin am Set, und markiert als „visuelle Ellipse“ das Verstreichen der Zeit (Ortner 2014: 177f.; Lommel 2011a). Die Erzählzeit stimmt dabei, wie auch im Initialfilm von Frank/Podnieks und in Episode 11 (István Szabó: TEN MINUTES AFTER), die als one shot17 gedreht wurde, exakt mit der erzählten Zeit überein. Jean-Luc Godard wird in seiner Episode (15: DANS LE NOIR DU TEMPS) die Frist zur metaphysischen Frist der letzten Dinge erklären, der Minuten, in denen zum letzten Mal geschieht, was danach für immer vergangen sein wird, um so die Unwiederholbarkeit der ersten Male (der ersten Liebe, des ersten Kusses, der ersten Reise) umzukehren: die letzten Minuten der Jugend, der Erinnerung, der Liebe, der Geschichte und – welch schönes Paradox – die letzten Minuten der Ewigkeit. Indem Godards étude mélancholique passenderweise den Doppelfilm abschließt, nimmt sie dadurch selbst die letzten Minuten ein. Verdichtet in einer knappen Zeitspanne oder gar einem Moment ruft die knappe Frist nicht selten den Kairos auf den Plan, dessen Schopf wir so selten zu fassen bekommen, weil der Zeitpunkt einer Entscheidung nicht mehr wiederkehren wird, wenn wir ihn verstreichen lassen. Der geflügelte Gott vermag aber unser Glück zu mehren, wenn wir uns im wahrsten Sinne des Wortes ein Herz fassen wie in Episode 1 (Aki Kausrismäki: DOGS HAVE NO HELL) oder zu einer guten Tat bereit sind (Episode 8: Bernardo Bertolucci: HISTOIRE D’EAUX). 3 Der entscheidende Moment (Individuum) Eng verwandt mit dem Kairos und der knappen Frist ist der entscheidende, manchmal lebensentscheidende oder gar überlebensentscheidende ­,Moment‘, der aber keine Handlungszeit verdichtet, sondern wie vom Schicksal gelenkt erscheint: die Zäsur, der point of no return, nach dem nichts mehr so ist, wie es vorher war, wenn dann eine Ehe nicht, wie in Aki Kausrismäkis DOGS HAVE NO HELL, nach langer Wartezeit spontan geschlossen wird, um gemeinsam in ein neues Leben aufzubrechen, sondern nach langen Ehejahren zerbricht und in der Katastrophe endet (Episode 11: István Szabó: TEN MINUTES AFTER); die wenigen Minuten, in denen ein Leben eine überraschende Wendung erfährt oder in denen es um Leben oder Tod geht, weil die (Lebens-) Zeit im Wortsinn zur Deadline gerät, wie in Episode 5 (Wim Wenders: TWELVE MILES TO TRONA), wo der glückliche Zufall einer Begegnung auf dem ­verlassenen Highway zum last minute rescue führt; oder in Episode 2 (Víctor 17 Berühmte one shot-Filme sind Hitchcocks The Rope von 1948 (allerdings mit getricksten Schnitten), in jüngerer Zeit Sokurows Russian Ark (2002) und der großartige deutsche Film Victoria (2015) von Sebastian Schipper.

72

Michael Lommel

Erice: LIFELINE), wo ein Baby, dessen Nabel wieder aufblutet, gerade noch einmal davonkommt, weil sein Schrei die Stille der Mittagshitze, das nunc stans, die stillstehende, flimmernde Zeit durchbricht, in der ein ganzes Dorf gleichsam den Atem anhält, während die Truppen Hitlers an diesem scheinbar idyllischen Tag, dem 28. Juni 1940, schon an der spanischen Grenze stehen: zehn Minuten, in denen sich die Zeit staut, „verdickte Gegenwart“, Zeit, „die nicht nach dem Maßstab der Uhren, das heißt, nicht nach der unendlichen Teilbarkeit funktioniert“ (Kluge/Vogl 2009: 269). Das gilt für die subjektive Zeit des Einzelnen, aber ebenso für „verdickte Gegenwarten“ eines Kollektivs, eines Volks, einer Nation, ja der ganzen Menschheit. 4 Der entscheidende Moment (Kollektiv) In Ten Minutes Older sind die „verdickten Gegenwarten“ keine „Sternstunden“ (Stefan Zweig), sondern Unsternstunden der Menschheit, Wendepunkte, Schlüsselentscheidungen oder Zufälle der Welt(geschichte): der gerade erwähnte historische Moment des Jahres 1940 in Erices LIFELINE, oder der ­fatale Moment im Jahre 1981 in Episode 3 (Werner Herzog: TEN THOUSAND YEARS OLDER), als das Schicksal des vielleicht letzten unentdeckten Naturvolks besiegelt wird, weil die ,zivilisierten‘ Anthropologen ihre Viren einschleppen. Insofern ist Herzogs Zeitangabe „10.000 Jahre später“ keineswegs übertrieben, weil ja der Stamm mit einem Wimpernschlag der Geschichte von der Steinzeit in die Gegenwart katapultiert wird. Ein entscheidender Geschichtsmoment war ebenso der umstrittene Ausgang der berüchtigten Präsidentschaftswahl Gore versus Bush im November 2000, rekapituliert von Spike Lee in Episode 6 (WE WUZ ROBBED), als Al Gores Entscheidung zur Demission, nachdem die amerikanischen Fernsehsender vorschnell seine Niederlage verkündet hatten, jenen Mann an die Macht bringt, der durch seinen Einmarsch im Irak den Nahen Osten in Chaos und Verderben stürzen wird: ein Knäuel aus Ereignisketten und Entscheidungen, mithin auch ein Drama des verpassten Kairos, zu wenigen Minuten verdichtet, in denen Gore seinen Kontrahenten vielleicht noch hätte verhindern können.

Heterochronien: Synergien in Ten Minutes Older (II)

Die bisher aufgezeigten Synergien der Leifrage „Was ist Zeit?“ führen uns im Kino der Moderne, dem der Omnibusfilm Ten Minutes Older ja zuzurechnen ist,18 nun zu dem, was ich mit Foucault „Heterochronien“ nenne. ­Heterotopien 18

Ich periodisiere die Kinogeschichte nach Krützen (2015), für die das Kino der M ­ oderne (modern cinema), als Gegenbewegung zum classical cinema, in den 1940er Jahren b­ eginnt,

Was ist Zeit?

73

sind nach Foucault besondere Orte, an denen sich unterschiedliche Räume verdichten oder begegnen, an denen Illusion und Realität aufeinandertreffen. Im selben Aufsatz spricht Foucault aber auch von Heterochronien: „Die Heterotopien sind häufig an Zeitschnitte gebunden, d.h. an etwas, was man ­symmetrischerweise Heterochronien nennen könnte“ (Foucault 1993: 43). Heterochronien bezeichnen also Schnittpunkte der Zeit, Kreuzungen von ­Gegenwart und Vergangenheit, ja sogar Zukunft, paradoxe Zeitformen wie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und das Virtuelle im Herzen des Aktuellen, d.h. Phänomene, die genau das Kino der Moderne kennzeichnen. Filmbilder verfügen nämlich über keinen Zeitindex (vgl. Schaub 2003: 181f.), wie ihn die Sprache besitzt; sie haben weder ein Imperfekt noch ein Futur. Indem das Kino diese Unbestimmtheit der Zeit in eine Technik, den Mangel in seine Stärke verwandelt, ist es wie kein anderes Medium dazu fähig, Heterochronien in Szene zu setzen. Das geschieht in Ten Minutes Older auf dreierlei Weise. 1 Markierung Zunächst geschieht es durch Markierung der Zeitebenen, die in Beziehung gesetzt werden, häufig mittels Rückblenden, d.h. wir können die Zeiten unterscheiden, auch wenn sie im Film kopräsent sind, um den Bruch zwischen ,heute‘ und ,damals‘ umso schärfer zu erkennen: beim Volk der Uru Eus in einem entlegenen Teil des Amazonas-Urwalds in Episode 3 (Werner Herzog: TEN THOUSAND YEARS OLDER) oder in Peking ,damals‘ und ,heute‘ in Episode 7 (Chen Kaige: 100 FLOWERS HIDDEN DEEP), wo die Dampfwalze des turbokapitalistischen Baubooms das alte Peking nahezu ausgelöscht hat, wobei Kaige aber, in einem dialektischen Schritt, einem dialektischen Bild im Sinne Eisensteins: („1 + 1 = 3“!), uns die beiden Zeiten in ihrer wechselseitigen Durchdringung vorführt, wie sie vom Narren, jenem Gespenst der vergangenen Zeit, verkörpert wird: einem „Zeitgespenst“ (vgl. Emslander 2012), einem „Wesen, das sich in der Zeit gestaut hat, in sich die Zeit versteinern ließ und unter der Bedingung einer verstreichenden Weltzeit mit einem Mal eine schreckliche Insel des Unvergänglichen schafft“ (Kluge/Vogl: 275).19

19

was aber keineswegs ausschließt, dass auch in der Epoche des modernen Kinos weiterhin Filme nach dem klassischen (Hollywood-)Muster gedreht werden; das Kino der „Nachmoderne“ schließlich beginnt für Krützen ca. 1980. Heterochronie, verstanden als Ort oder Raum, in den Spuren vergangener Zeiten eingeschrieben sind, bebildert par excellence Richard McGuire in seiner Graphic Novel Here, die damit auch noch einmal zeigt, dass Foucaults Begriffe, so wie in der modernen Physik Raum und Zeit, ineinandergreifen: Heterotopien beinhalten stets auch eine zeitliche Dimension. Heterochronien setzen einen Ort voraus, an dem sich Zeiten kreuzen. Vgl. auch David Claerbouts heterochrone Videoinstallation (eine Art Photo-Film) Highway

74

Michael Lommel

2 Krümmung In Bernardo Bertoluccis Episode wiederum (Episode 8: HISTOIRE D’EAUX) scheint die Vergangenheit wie in einer Zeitkapsel oder Endmoräne der Zeit stehen geblieben zu sein, so dass die (aktuelle) Zeit sich gleichsam zurückbiegt zu ihrer eigenen Ursache, oder genauer gesagt, ihrer Bifurkation (fork-path-­ narration), als der Protagonist einen anderen als den vorgesehenen/vorherbestimmten Weg gegangen ist und der Hirte, den er nach vielen Jahren wieder an derselben Stelle trifft, als wären nur ein paar Stunden vergangen, sagen kann, er habe den ganzen Morgen auf ihn gewartet; oder es handelt sich um den Relativitätseffekt der gekrümmten einsteinschen Raum-Zeit, wenn der Protagonist nach seiner Reise durch den Weltraum zur Erde zurückkehrt und die Rollen zwischen Sohn und Vater vertauscht sind, sodass nun der greisenhafte Sohn zu seinem jungen Vater sagt: „I love you“ (Episode 14: Michael Redford: ADDICTED TO THE STARS). 3 Agrammatik Regisseure können bewusst Markierungen, wie sie im classical cinema üblich sind, verwischen (man denke etwa an die Großaufnahme einer ins Leere starrenden Figur, die uns „Vorsicht Flashback!“ suggeriert). Oder sie können ganz auf Markierungen verzichten, um die konstitutive Gegenwärtigkeit, die Agrammatik des Filmbildes zu nutzen. Der Zuschauer muss dann die Zeitschichten selbst imaginieren, falls ihm das, wie bei Godard oder Figgis, überhaupt noch gelingt. Und vielleicht sind erst diese vollends unmarkierten Kreuzungspunkte der Zeit echte Heterochronien im Sinne Foucaults. Filmbilder sind aber nicht nur agrammatisch, sie sind auch linear (und hier treffen sich Kino und Sprache wieder): Sie können bekanntlich, wie heterochron sie eine Geschichte auch immer erzählen, mit welchen Freiheiten und Feinheiten auch immer, Zeit nur sukzessive darstellen, mit der einzigen Ausnahme, die schon Abel Gance erprobt hat: der simultanen Heterochronie des split screen wie in Episode 9 (Mike Figgis: A STAIRCASE – ABOUT TIME 2), einem kristallinen Zeit-Bild im Sinne von Deleuze (Abb. 3.9), in dem die Gegenwart der Vergangenheit, die Gegenwart der Gegenwart und die Gegenwart der Zukunft, wie Augustinus20 sagt, simultan präsent sind (vgl. A ­ ugustinus 1914: 20); oder als sciencefiction-typische Zeit-Reise und Zeit-­Paradox in ­Episode 14 (­ Michael Redford: ADDICTED TO THE STARS); oder als fiktive

20

Wreck (2013); vgl. dazu Adolphs/Berg 2016, sowie http://davidclaerbout.com/HighwayWreck-2013, 21.08.2017. In Episode 13 (ENLIGHTENMENT) zitiert Schlöndorff als voice over diesen bekannten Passus bei Augustinus.

Was ist Zeit?

75

ABBILDUNG 3.9 Episode 9: Mike Figgis, A STAIRCASE – ABOUT TIME 2.

­Rollen-­Biografie des Schauspielers Rudolf Hrusínšký (1920–1994) in der zehnten Episode (Jiri Menzel: ONE MOMENT), wenn die Bilder eines ganzen Schauspielerlebens wie in einem Fotoalbum als Lebens-Film am inneren Auge vorübergleiten, einer Montage aus Filmschnipseln, die über Zeitgrenzen hinweg neue Beziehungen eingehen, ähnlich wie in Godards Episode (15: DANS LE NOIR DU TEMPS), die jedoch, anders als bei Menzel, subjektlos erscheint, oder besser gesagt das Kino selbst zum Erzähl-Subjekt erkoren hat, das in zehn Minuten seine Geschichte zu den zeitenthobenen Tintinnabuli-Akkorden21 von Arvo Pärt aufblättert (dessen Komposition den wie dazu geschaffenen Titel Spiegel der Spiegel trägt). In Godards intermedialer Collage sind fiktive und reale Zeit, Zeit der Geschichte und Zeit des Kinos, Zeit der Schrift und der Bilder nicht mehr unterscheidbar. Hier wird, nach Platons schöner Sentenz, die Zeit zum bewegten Abbild der Ewigkeit, einer Ewigkeit, die aber, anders als bei Platon, enden wird.

21

Tintinnabuli-Akkord: ein Dreiklang, der die für Pärt typische glockenähnliche, sehr ­meditative Wirkung entfaltet.

76

Michael Lommel

Ausblick Die Synergien der Leitfrage „Was ist Zeit?“, die ich versucht habe aufzuzeigen, sind allerdings noch unvollständig, und sie müssen es auch bleiben. Damit ist nicht gemeint, dass man sie noch ergänzen könnte (was durchaus der Fall ist). Sie sind vielmehr konstitutiv unvollständig: Denn was genau ist diese „­Ganzheit“, die mehr ist als die Summe ihrer Teile, dieses „Weitere“ der Silbe gegenüber den Lauten (Aristoteles) und der Melodie gegenüber den Tönen (von Ehrenfels, Bergson, Husserl)? Die Antwort kann nur lauten, dass dieses „Weitere“ sich eben nicht direkt identifizieren lässt: Es spielt sich dort ab, wo die Sprache gesprochen, die Melodie gehört und der Film wahrgenommen und verarbeitet werden: Die vorliegende Filmanalyse hat nur die Vektoren ­jener Synergien benennen können, die sich letztlich erst im Kopf der Zuschauer formen. Abschließend will ich zumindest darauf hinweisen, dass neben der Kollaboration im Omnibusfilm auch die Kollaboration in den neuen, besonders in den amerikanischen TV-Serien von weitergehendem Forschungsinteresse sein sollte; denn auch bei TV-Serien sind es meistens mehrere Regisseure, welche sich die (um einiges zahlreicheren) Episoden aufteilen. Ein wesentlicher Unterscheid ist allerdings, dass es zwar Serien mit einem manchmal kaum mehr überschaubaren Figurenpersonal gibt (Game of Thrones), aber meines Wissens bisher kein dem Omnibusfilm entsprechendes Erzählprinzip. Liegen darin Potenziale des Omnibusfilms? Vertrüge er sich überhaupt mit dem langen Atem des Serienformats? Ließe sich also die probate Kurz- bzw. Kürzest-Form (siehe Chacun son Cinéma!) der Episoden eines Omnibusfilms zum gängigen Serienformat von 45 bis 50 Minuten ausdehnen – mit entsprechenden neuen Herausforderungen sowohl für Produktion und Regie als auch für die Konzentration der Zuschauer, Synergien über eine so lange Zeitstrecke erinnerungsfähig zu halten? Protoformen davon finden sich ja schon lange in einem Spielfilmformat: der Fortsetzungsreihe, die auf mehrere Regisseure verteilt wird, etwa die Alien-Saga (Cameron, Jeunet, Fincher etc.), die allerdings auf narrativen Anschluss statt auf Synergie bedacht ist. Oder zeichnen sich eher im Internet, dem Vernetzungs- und Kollaborationsmedium schlechthin, neue Experimente für den Kollektivfilm der Zukunft ab? Die Zeit wird es uns verraten. Literatur Adolphs, Volker/Berg, Stephan (Hrsg.) (2016): Echtzeit. Die Kunst der Langsamkeit, Köln. Aristoteles (1907): Metaphysik, ins Deutsche übertragen von Adolf Lasson, Jena.

Was ist Zeit?

77

Aristoteles (1994): Poetik, übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann, bibliogr. erg. Ausgabe, Stuttgart. Augustinus (1914): Bekenntnisse (Confessiones), XI, 14. Aus dem Lateinischen übers. v. Alfred Hofmann (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 18; Augustinus Band VII), München. Aurel, Marc (1949): Selbstbetrachtungen, übers. v. Albert Wittstock, Stuttgart, http:// gutenberg.spiegel.de/buch/des-kaisers-marcus-aurelius-antonius-­selbstbetracht ungen-1479/4, 31.07.2017. Bergson, Henri (1911): Zeit und Freiheit, übers. v. Paul Fohr, Jena. Betz, Mark (2001): „Film, History, Film Genre, and Their Discontents: The Case of the Omnibusfilm“, in: The Moving Image 1(2), 56–87. Carrier, Martin (2004): „Synergetik“, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 4 Bde., Sonderausg., Bd. 4, Stuttgart, 171–173. Elias, Norbert (1988): Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, hrsg. v. Michael Schröter, Frankfurt a.M. Emslander, Fritz (Hrsg.) (2012): Zeitgespenster. Erscheinungen des Übernatürlichen in der Kunst, Köln. Engell, Lorenz (2014): „Uhr“, in: Marius Böttcher et al. (Hrsg.), Wörterbuch kinematografischer Objekte, Berlin, 164–167. Engell, Lorenz (2015): „On Objects in Series: Clocks and Mad Man“, in: Volker Pantenburg (Hrsg.), Cinematographic Objects. Things and Operations, Berlin, 113–138. Felix, Jürgen et al. (Hrsg.) (2001): Die Wiederholung, Marburg. Foucault, Michel (51993): „Andere Räume“, in: Karlheinz Barck et al. (Hrsg.), Aisthesis, Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig, 34–46. Geißler, Karlheinz (2017): „Uhren sind moderne Diktatoren“, in: Die Zeit, 05.01.2017, 15f. Ghanbari, Nacim et al. (2013): „Was sind Medien kollektiver Intelligenz? Eine Diskussion“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 8, 145–155. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften in Grundrissen (1830). Zweiter Teil: Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Z ­ usätzen, Frankfurt a.M. [= Werke in 20 Bänden, Bd. 9, II]. Horak, Jan-Christopher/Wulff, Hans Jürgen (2012): „Omnibusfilm“, http://filmlexikon. uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=639, 31.03.2017. Kluge, Alexander/Vogl, Joseph (2009): „Zeit ohne Raum“, in: Dies., Soll und Haben. Fernsehgespräche, Zürich/Berlin, 261–284. Krützen, Michaela (2010): Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood, Frankfurt a.M. Krützen, Michaela (2015): Klassik, Moderne, Nachmoderne. Eine Filmgeschichte, Frankfurt a.M. Lommel, Michael (2008): „Der Rhythmus als intermodale Kategorie“, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hrsg.), Intermedialität Analog/Digital: Theorien, Methoden, Analysen, München, 79–90.

78

Michael Lommel

Lommel, Michael (2011a): „Heautonomie im Episodenfilm“, in: Thomas Becker (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung der Intermedialität, Bielefeld, S. 98–106. Lommel, Michael (2011b): Im Wartesaal der Möglichkeiten. Lebensvarianten in der Postmoderne, Köln. Lommel, Michael (2012): „Wer verliert, gewinnt. Ein Filmduell zwischen Lars von Trier und Jørgen Leth“, in: Irma Duraković et al. (Hrsg.), Raum und Identität im Film. Historische und aktuelle Perspektiven, Marburg, 63–74. Lorenz, Kuno (2004): „Teil und Ganzes“, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 4 Bde., Sonderausg., Bd. 4, Stuttgart, 225–228. Luhmann, Niklas (32004): Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden. Mann, Thomas (1981): Der Zauberberg, Frankfurt a.M. McGlone, Neil (2015): „Ten Minutes Older“, http://www.cinemaofchildhood.com/wp 2015/ten-minutes-older/, 31.03.2017. McGuire, Richard (2015): Here [graphic novel], Reprint, Köln. Nabokov, Vladimir: (131977) Ada oder Das Verlangen. Aus den Annalen einer Familie, Reinbek. Ortner, Anne (2014): „Zigarette“, in: Marius Böttcher et al. (Hrsg.), Wörterbuch kinematografischer Objekte, Berlin, 177–179. Roth, Gerhard (2009): „Eine Reise in die vierte Dimension – ein fraktaler Bericht: Das Wiener Uhrenmuseum“, in: Ders., Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien, Frankfurt a.M., 125–189. Schaub, Mirjam (2003): Gilles Deleuze im Kino: Das Sichtbare und das Sagbare, München. Schreitmüller, Andreas (1983): Filme aus Filmen. Möglichkeiten des Episodenfilms, Oberhausen. Treber, Karsten (2005): Auf Abwegen. Episodisches Erzählen im Film, Remscheid. Von Ehrenfels, Christian (1890): „Über Gestaltqualitäten“, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 14, 249–292. Weinrich, Harald (32004): Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens, München. Wyller, Truls (2016): Was ist Zeit? Ein Essay, Stuttgart. Zischler, Hanns: „Tragisch, zwanglos, unaufhaltsam“, in: Die Zeit, 26.06.2003, 38.

Zitierte Filme

11’09”01 – September 11 (UK et al. 2002, Regie: Samira Makhmalbaf, Claude Lelouch, Youssef Chahine, Danis Tanović, Idrissa Ouédraogo, Ken Loach, Alejandro González Iñárritu, Amos Gitai, Mira Nair, Sean Penn, Shohei Imamura). Alien [Filmreihe] (USA/UK 1979ff.). Chacun son Cinéma: une déclaration d’amour au grand écran (F 2007 [33 Regisseure]). Coffee and Cigarettes (USA 2004, Regie: Jim Jarmusch).

Was ist Zeit?

79

Der Schmetterlingsjäger. 37 Karteikarten zu Nabokov (D 2014, Regie: Harald Bergmann). Deutschland im Herbst (D 1978, Regie: Alf Brustellin, Hans Peter Cloos, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Beate Mainka-Jellinghaus, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz, Katja Rupé, Volker Schlöndorff, Peter Schubert, Bernhard Sinkel). Eros (Hong Kong, USA, I 2004, Regie: Wong Kar-Wai, Stephen Soderbergh, Michelangelo Antonioni). Game of Thrones (USA 2011ff., Produktion: David Benioff, D.B. Weiss). Highway Wreck [Videoinstallation] (Belgien 2013, Regie: David Claerbout). Intolerance (USA 1916, Regie: David Walk Griffith). Le, Streghe (I/F 1967, Regie: Mauro Bolognini, Vittorio De Sica, Pier Paolo Pasolini, Franco Rossi, Luchino Visconti). Loin du Viét-nam (F 1967, Regie: Chris Marker, Joris Ivens, Claude Lelouch, Alain Resnais, Agnès Varda, Jean-Luc Godard, William Klein). Mystery Train (USA/J 1988/89, Regie: Jim Jarmusch). New York, I love you (USA 2010, Regie: Fatih Akin, Yvan Attal, Randall Balsmeyer, Allen Hughes, Shunji Iwai, Jiang Wen, Shekhar Kapur, Joshua Marston, Mira Nair, Natalie Portman, Brett Ratner). Par desmit Minutem vecaks [Ten Minutes Older] (UDSSR 1978, Regie: Herz Frank). Paris, je t’aime (F 2007, Regie: Olivier Assayas, Frédéric Auburtin, Emmanuel Benbihy, Gurinder Chadha, Sylvain Chomet, Ethan Coen, Joel Coen, Isabel Coixet, Wes Craven, Alfonso Cuarón, Gérard Depardieu, Christopher Doyle, Richard LaGravenese, Vincenzo Natali, Alexander Payne, Bruno Podalydès, Walter Salles, Oliver Schmitz, Nobuhiro Suwa, Daniela Thomas, Tom Tykwer, Gus Van Sant). Russian Ark [Russkij Kovcheg] (R, D, CDN, Finnland 2002, Regie: Alexander Sokurov). Short Cuts (USA 1993, Regie: Robert Altman). Ten Minutes Older – The Trumpet / The Cello (USA et al. 2002, Regie in The Trumpet: Aki Kaurismäki, Víctor Erice, Werner Herzog, Jim Jarmusch, Wim Wenders, Spike Lee, Chen Kaige; Regie in The Cello: Bernardo Bertolucci, Mike Figgis, Jirí Menzel, István Szabó, Claire Denis, Volker Schlöndorff, Michael Radford, Jean-Luc Godard). The five Obstructions (Dänemark 2004, Regie: Lars von Trier, Jørgen Leth). The Hours (USA 2002, Regie: Stephen Daldry). The Rope (USA 1948, Regie: Alfred Hitchcock). Traffic (USA 2000, Regie: Stephen Soderbergh). Victoria (D 2015, Regie: Sebastian Schipper).

II Soziotechniken der Kollaboration



Kollaboratives Tagging Erika Linz Einleitung Tags sind inzwischen aus der digitalen Kommunikation nicht mehr wegzudenken. Seien es die Webseiten kommerzieller Anbieter oder die Seiten ­öffentlich-rechtlicher Medien, soziale Netzwerke oder der Datenmanager auf dem Notebook – Tags finden sich überall dort, wo es um das Speichern und Verwalten von digitalen Medien-Objekten geht. Insbesondere Hashtags, also die durch Twitter allgemein bekannt gewordenen, mit einem Doppelkreuz (#) (engl. hash) versehenen Tags, bilden inzwischen einen festen Bestandteil der öffentlichen Kommunikation.1 Sie wurden nicht nur in viele Social Media-Dienste integriert (wie Instagram, Pinterest oder Facebook), sondern finden selbst in den traditionellen Medien breite Beachtung. Die ersten Tagging-Anwendungen erschienen bereits Ende der 1990er Jahre (vgl. Doerfel et al. 2013: 12), den Durchbruch brachte dann das 2003 von Joshua Schachter eingeführte Social Bookmarking-System del.icio.us, das es erlaubte, Weblinks jeder Art zu speichern und mit selbst gewählten Schlagwörtern (Tags) zu versehen. Weitere Verbreitung fand das Prinzip des Taggings durch die kurz darauf erfolgte Integration in die Bild-Plattform flickr, über die es ­möglich wurde, auch gespeicherten Bildern und Videos eigene Schlagwörter zuzuweisen. Heute lassen sich über die unterschiedlichsten Plattformen und Anwendungen digitale Objekte jeder Art – seien es Texte, Bilder, Videos, Kontakte oder Webseiten etc. – in ähnlicher Form mit beliebigen Stichworten versehen. ­Anders als traditionelle Volltext-Suchmaschinen ermöglichen Tagging-Systeme damit auch die Navigation und den Informationszugriff über Schlagworte, die selbst nicht Teil des gesuchten Medieninhalts sind. Die Wahl der Schlagworte unterliegt dabei in der Regel keinerlei Einschränkungen:

1 Die Markierung der Tags durch das Doppelkreuz verdankte sich den eingeschränkten ­Möglichkeiten von Twitter, in denen das Tagging nicht – wie bei den frühen Tagging-­ Anwendungen – als eigene Funktion installiert war, sondern in die reguläre Zeichenkette integriert werden musste und dadurch eine Markierung der Tags durch ein sonst ungenutztes Sonderzeichen erforderlich machte, um es vom übrigen Nachrichtentext abzugrenzen. Anders als bei den im Folgenden behandelten spezifischen Tagging-Anwendungen wurde damit ­zugleich die Möglichkeit geschaffen, auch Wörter innerhalb eines Textes als Tags auszuzeichnen, ohne diese dem Text über eine eigene Operation separat zuweisen zu müssen. © Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi 10.30965/9783770558407_006

84

Erika Linz

weder muss sie e­ iner vorgegebenen Ordnung folgen noch ist sie auf eine bestimmte Anzahl, bestimmte Wortarten oder Wortformen begrenzt. Anders als bei alltäglichen Ordnungssystemen, etwa der Anordnung von Büchern in einem Regal oder der Speicherung von digitalen Dateien in Ordnern, erfolgt die Archivierung und Sortierung nicht mehr anhand einer vorab entschiedenen Systematik, unter die die einzelnen, neu hinzukommenden Objekte kategorisiert und abgelegt werden. Die Objekte lassen sich nicht nur nach vorgegebenen Kategorien sortieren, sondern können neben geläufigen Einordnungen wie Thema, Fachgebiet, Gattung beispielsweise auch durch Stichworte zu eigenen Bewertungen (spannend, witzig, schlecht, empfehlenswert...) oder Kontextinformationen jeder Art (Omas 80. Geburtstag, ­Italienurlaub, Karneval, Fortbildung...) ergänzt werden. Mit dem Tagging entsteht so eine neue Form der Ordnungsbildung, die stärker von den individuellen Objekten und ­inhaltlich oder kontextuell motivierten Attributen und Einstellungen, die Nutzer mit ihnen verbinden, bestimmt wird: „Instead of choosing a classification criterion and filling it with resources, it is now the resources that are allocated the criteria.“ (Peters 2009: 3) Tagging-Systeme „turn the classification system from a criteria-centric into a resource-centric ­approach.“ (Ebd.) Durch die M ­ öglichkeit, einem Objekt eine beliebige Anzahl von Attributen z­ uzuweisen, ist keine exkludierende eindeutige Zuordnung zu einer ­vorgegebenen ­Kategorie mehr erforderlich. Das Tagging erlaubt somit zunächst eine freie, nutzerbasierte Form der Kategorisierung und Annotierung ­digitaler Quellen, durch die sich individuelle Ordnungsstrukturen zur Archivierung und Verwaltung von Datenmengen erstellen lassen. Zu einer Praxis des „kollaborativen Taggings“ wird das Verfahren dadurch, dass die individuellen Verschlagwortungen der einzelnen Anwender mittels maschineller Algorithmen zusammengeführt und als kollektiv produzierte Schlagwortsysteme der allgemeinen Nutzung zugänglich gemacht werden. ­Bereits im Social Bookmarking-System del.icio.us ist die Möglichkeit der Zuweisung individueller Tags mit der Option verbunden, die Sammlung der eigenen verschlagworteten Links mit anderen zu teilen und so einem breiteren ­Nutzerkreis zur Verfügung zu stellen. So kann man optional die eigene Tag-­ Liste öffentlich frei geben, bei einem Klick auf ein Tag zu einem Objekt erkennen, wie viele andere Nutzer das gleiche Schlagwort zugeordnet haben, sich durch weitere Klicks auch die Benutzernamen derjenigen anzeigen lassen, die das Schlagwort vergeben haben und von dort aus zu weiteren, mit den gleichen Schlagworten versehenen Objekten oder zu den Schlagwortlisten anderer navigieren. Die daraus resultierende „indirekte soziale Interaktion“ (Doerfel et al. 2013: 9) erlaubt es, Einblicke in die Sammlungen anderer, auch unbekannter Nutzer zu gewinnen und den Spuren der von ihnen hergestellten Verbindungen zwischen unterschiedlichen Webseiten zu folgen.

Kollaboratives Tagging

85

Im Folgenden soll das Tagging in dieser sozialen Dimension in den Blick genommen werden als exemplarischer Anwendungsfall kollaborativer Praktiken, die mittels der Software-Technologien des Social Web traditionelle Formen kontrollierter und expertengeleiteter Wissensordnungen ablösen. Zu fragen ist dabei auch, inwiefern sich angesichts der zentralen Beteiligung maschineller Algorithmen an dieser Form der mediierten Kollaboration das mit der Einführung von Tagging-Funktionen häufig verbundene Versprechen auswirkt, die Erzeugung nutzergenerierter Ordnungsstrukturen zu ermöglichen. Zugleich lassen sich an diesem Beispiel grundlegende Charakteristika mediierter Kollaborationsformen aufzeigen, die unter Einbeziehung maschineller Algorithmen aus individuellen Nutzungsformen generiert werden.

Von traditionellen Verschlagwortungssystemen zu Folksonomien

Bereits vor der Einführung digitaler Tagging-Optionen stellte die Verschlagwortung ein gängiges Prinzip zur Katalogisierung von Wissensbeständen dar. Insbesondere in den Dokumentations- und Bibliothekswissenschaften sind Klassifizierungen von Dokumenten und Bildern durch die Zuweisung von Schlagworten bewährte Verfahren, mit denen die Objekte über Autoren und Titelangaben hinaus nach inhaltlichen Gesichtspunkten kategorisiert und auffindbar gemacht werden können. Solche institutionellen Verfahren bedienen sich traditionell aber eines festgelegten Repertoires an Schlagwörtern, mit denen die Inhalte der Dokumente und Bilder erschlossen werden. Im Gegensatz zu webbasierten Tagging-Praktiken handelt es sich hierbei um top-down ­entwickelte und weitgehend standardisierte Vokabularien, die den Archivierungsmöglichkeiten restriktive Vorgaben auferlegen und häufig auch ein ­fachliches Spezialwissen erfordern, um sie adäquat anwenden zu können. Die Vokabularien verfügen in der Regel über eine interne taxonomische Struktur aus semantisch und hierarchisch relationierten Ober- und Unterkategorien. Neu hinzukommende Objekte werden demnach anhand einer bereits existierenden Systematik kategorisiert und archiviert. (Vgl. für einen Überblick Peters 2009: 119–128.) Auch Tagging-Anwendungen setzen darauf, aus den individuellen Tag-­ Zuweisungen nutzerübergreifende Tagging-Systeme zu generieren, die als ­kollektive Kategoriensammlungen allgemein zugänglich sind und damit jedem Einzelnen wiederum als Suchoptionen für individuelle Recherchen und als Anhaltspunkte zur eigenen Kategorisierung persönlicher Medienobjekte dienen können. Aufgrund der Möglichkeit zur freien Verschlagwortung handelt es sich dabei aber um sich stetig verändernde Schlagwortsammlungen, die weder auf ein vorgefertigtes Begriffsrepertoire eingeschränkt sind noch

86

Erika Linz

einer spezifischen Logik folgen. In Abgrenzung zu den expertengeleiteten ­Klassifikations- und Katalogisierungsvokabularien hat sich als Bezeichnung für solche Tag-­Sammlungen der von Vander Wal geprägte Begriff der Folksonomie durchgesetzt, den dieser erstmals 2004 in einem Post zu einer listserv-­ Anfrage des Informationsarchitekten Gene Smith verwendete (vgl. Vander Wal 2007). Auf traditionelle taxonomische Klassifikationssysteme Bezug nehmend schlug Vander Wal dort vor, „tax“ aus taxonomy durch „folk“ zu ersetzen, um hervorzuheben, dass es sich bei den Tag-Sammlungen nicht um top-down ­erzeugte, ­expertengeleitete Klassifikationen, sondern um Nutzer-generierte und ­somit bottom-up entstandene Kategorisierungen ohne interne Strukturierung handelt: Folksonomy is the result of personal free tagging of information and ­objects (anything with a URL) for one’s own retrieval. The tagging is done in a social environment (usually shared and open to others). Folksonomy is created from the act of tagging by the person consuming the information. The value in this external tagging is derived from people using their own vocabulary and adding explicit meaning, which may come from ­inferred understanding of the information/object. People are not so much ­categorizing, as providing a means to connect items (placing hooks) to provide their meaning in their own understanding. Vander Wal 2007: o.s.

Der Begriff Folksonomie bezeichnet somit „die Gesamtheit aller Tags eines Systems, welche durch die Benutzer zur Beschreibung der Objekte dieses Systems vergeben wurden“ (Frohner 2010: 19): „[T]he totality of all tags on any given information platform forms a folksonomy“ (Peters 2009: 153). Zu unterscheiden sind dabei drei unterschiedliche Formen von Tagging-­ Systemen: „Broad Folksonomies“, „Extended Narrow Folksonomies“ und ­„Narrow Folksonomies“. Bei ‚breiten Folksonomien‘ handelt es sich um offene Systeme (z.B. de.licio.us oder BibSonomy), bei denen jeder Nutzer jedes Objekt taggen kann und auch die Häufigkeit registriert wird, mit der einem Objekt ein bestimmtes Tag zugewiesen wird. Bei ‚engen Folksonomien‘ hingegen können nur die eigenen Objekte mit Tags versehen werden (z.B. Youtube). Daneben gibt es unterschiedliche Mischformen von sogenannten ‚erweiterten engen Folksonomien‘, die etwa einem begrenzten Personenkreis (etwa ‚Freunden‘ eines Nutzers) erlauben, Tags zu einem Objekt hinzuzufügen (z.B. auf flickr). Auch hier werden die mit einem Objekt verknüpften Tags jedoch nur ­einmalig registriert, sodass wie bei den engen Folksonomien keine Rückschlüsse auf die Häufigkeit der Tag-Zuweisungen zu einem Objekt gezogen werden können (vgl. Peters 2009: 164ff.; Stadler 2007: 6f.).

Kollaboratives Tagging

87

Grundsätzlich sind die aus kollaborativen Tagging-Anwendungen maschinell generierten Folksonomien nicht länger durch semantisch relationierte taxonomische Hierarchien, sondern primär durch Kontiguität und Häufigkeitsverteilungen motiviert. Ein wesentlicher Unterschied zu den traditionellen Klassifikationsverfahren besteht in der ganz anderen Flexibilität und ­Dynamik des Taggings. Während erstere sich nachträglich nur begrenzt erweitern und verändern lassen, ermöglicht letzteres eine jederzeit erweiterbare flexible K ­ ategorisierung: „One important thing about tagging is that it is ‚post-hoc‘ categorization, not pre-optimized classification, and so it is more likely to optimally characterize the data.“ (Halpin/Shepard 2006: o.S.; vgl. auch Halpin 2012: 110f.). Bei den professionell entwickelten und institutionell angewendeten Vokabularien führt der präskriptive, häufig gar normierte Charakter der Vokabularien zu einer noch größeren Inflexibilität. Zudem stellt sich hier u.a. das Problem, dass die Entwicklung solcher Systeme von einer Expertensicht geleitet ist und insofern die Sicht und Erfordernisse des Nutzers nicht systematisch berücksichtigt (vgl. Peters 2009: 120ff.). Nicht zuletzt aufgrund ihrer im Wesentlichen auf Verlinkungen beschränkten, geringen Strukturierung sind Folksonomien in ihrer Gesamtheit medial nicht darstellbar, sondern allenfalls in Teilen visuell repräsentierbar. Übliche Formen ihrer Visualisierung in Form von Tag-Clouds oder auch Ranking-­Listen zeigen grundsätzlich nur sehr begrenzte Ausschnitte an und bilden in der Regel nur quantitative Häufigkeitsverteilungen sowie teilweise auch Kookkurenzen ab. Wie eingeschränkt ihr Darstellungspotenzial ist, zeigt sich etwa in der Tatsache, dass Tag-Clouds überwiegend wieder auf eine alphabetische Anordnung und damit auf eben jene vorgegebene Struktur zurückgreifen, die durch das Tagging eigentlich obsolet geworden ist.2 Über solche ausschnitthaften visuellen Repräsentationen hinausgehende Komponenten der kollaborativen Tagging-Systeme werden allein im Prozess der Nutzung sichtbar und das immer auch nur anhand spezifischer Operationen einzelner Nutzer, die sich auf singuläre Objekte und Tags beziehen.

Kollaboratives Tagging als Invisible-Hand-Prozess

Auch die traditionellen Verfahren der Wissensarchivierung mithilfe von ­festgelegten Vokabularien lassen sich insofern bereits als Produkte kollaborativer Arbeitsformen charakterisieren, als sie aus professionellen und ­wissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen und Diskursen ­hervorgegangen 2 Teilweise wird auch versucht, Kookkurenzen durch räumliche Anordnung wiederzugeben; vgl. Siever 2015: 166ff.

88

Erika Linz

sind. Aufgrund ihres standardisierten präskriptiven Charakters handelt es sich bei der Entwicklung und Verwendung solcher „kontrollierten Vokabularien“ grundsätzlich um eher konsensorientierte Prozesse innerhalb der ­Experten-Communities: „[...] term classifications are perpetually in need of a consensus with regard to their displayed knowledge and the terms, in order to be able to be structured at all.“ (Peters 2009: 120) Taxonomien sind somit das Produkt eines kooperativen, auf ein gemeinsames Endprodukt hin ausgerichteten Handelns. Folksonomien hingegen sind das Ergebnis maschinell ­zusammengeführter Tagging-Handlungen von einzelnen Nutzern. Ihre ­Entstehung und dynamische Veränderung lässt sich in Grundzügen als Invisible-Hand-­Prozess charakterisieren. Invisible-Hand-Prozesse, von Keller auch „Phänomene dritter Art“ genannt, zeichnen sich dadurch aus, dass ähnliche intentionale Handlungen vieler Beteiligter ein kollektives Ergebnis hervorbringen, das aber von den Einzelnen selbst nicht intendiert war (Keller 2014: 95ff.). ‚Phänomene der dritten Art‘ sind „kausale Konsequenzen der Ergebnisse der sie erzeugenden Handlungen“ (Keller 2014: 92), bei denen sich die kausale Beziehung zwischen Ursache (bzw. Auslöser) und Folge jedoch weder als physikalischer Ursache-­Wirkungseffekt (Naturphänomene, Phänomene erster Art) noch als intendiertes Ergebnis intentionaler Handlungen (Artefakte, Phänomene zweiter Art) bestimmen lässt: „Ein Phänomen der dritten Art ist die kausale Konsequenz einer Vielzahl ­individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen ­Intentionen dienen.“ (Ebd.: 93) Allerdings sind diese Konsequenzen nicht identisch mit den intendierten Folgen der einzelnen Handlungen. Verdeutlichen lassen sich solche aus Invisible-Hand-Prozessen hervorgehenden ‚­Phänomene der dritten Art‘ mit Keller (ebd.: 90 und 100) am Beispiel der Entstehung eines Trampelpfades oder eines „Staus aus dem Nichts“. Wenn viele Menschen einen Weg durch eine Grünanlage dadurch abkürzen, dass sie quer über eine Wiese laufen, lässt sich als Folge dieser abgekürzten Wegstrecken die Entstehung eines Trampelpfades beobachten. Die individuelle Entscheidung einer Vielzahl von Personen, den kürzesten Weg zu wählen, führt hier als kollektive Konsequenz zu einem ganz anderen Ergebnis, der Entstehung eines Trampelpfades. Analog lässt sich auch die Bildung vieler Staus dadurch erklären, dass bei einer stark befahrenen Strecke ein plötzliches Bremsmanöver die Fahrer dahinter dazu veranlasst, selber zu bremsen. Da die Stärke des Bremsmanövers für die dahinter Fahrenden nicht genau einzuschätzen ist, werden sie dazu tendieren, eher noch stärker abzubremsen als notwendig, um auf jeden Fall den ­nötigen Sicherheitsabstand einzuhalten. Bei dichtem Verkehr produzieren die Bremshandlungen der einzelnen Fahrer, die alle jeweils das Ziel verfolgen, den nötigen Abstand zum vorderen Wagen einzuhalten, insgesamt in einer Kettenreaktion das zweifellos nicht intendierte Ergebnis eines Verkehrsstillstands.

Kollaboratives Tagging

89

In ähnlicher Weise kann auch das kollaborative Tagging als InvisibleHand-Prozess verstanden werden. Auch die Genese von Folksonomien ist ein kollektiv produziertes Ergebnis von intentionalen Handlungen Einzelner, bei dem die individuellen Handlungen jedoch nicht auf die Schaffung der entstehenden kollaborativen Tagging-Struktur,3 sondern zunächst auf die Erstellung eines individuellen Archivsystems zur Verwaltung der eigenen Daten zielen. Vergleichbar mit der Entstehung eines Trampelpfades produzieren hier also ähnliche individuelle Handlungen (die Vergabe von ähnlichen Tags zur individuellen Verschlagwortung von digitalen Objekten) kollektive Ergebnisse (die Entstehung einer Folksonomie), ohne dass diese selbst durch die einzelnen Handlungen intendiert worden wären. Im Unterschied zu den oben diskutierten Phänomenen der dritten Art wird die Genese der Folksonomien jedoch erst durch die Anwendung maschineller Algorithmen möglich, die die individuellen Erzeugnisse zusammenführen. Aufgrund der maßgeblichen Beteiligung dieser technischen Komponente am Entstehungsprozess gewinnt auch die durch Adam Smith bekannt gewordene Metapher der ‚unsichtbaren Hand‘ (Smith 1776/1904, IV, 2.9) noch eine spezifische Bedeutungsdimension. Während die Metapher bei ökonomischen Marktmechanismen oder Phänomenen wie Trampelpfaden oder Staus – wie immer wieder angemerkt – eher in die Irre führt, da diese sich gerade nicht, wie die Metapher suggeriert, unsichtbaren Eingriffen durch eine Art unbekannter Macht verdanken, wirkt bei kollaborativen Tagging-Systemen im Hintergrund ein – für die meisten Nutzer – unsichtbarer und zumindest partiell undurchsichtiger Algorithmus an der Entstehung des ‚Phänomens der dritten Art‘ mit.

Kollaboration als mediierter Prozess

Kollaboration meint bezogen auf Taggingverfahren somit zunächst einen rein maschinell vollzogenen Prozess der koordinierten Produkterstellung und keine kooperative ‚Teamarbeit‘. Anders als etwa bei Formen der kollaborativen Texterstellung tritt an die Stelle eines auf ein gemeinsames Ziel gerichteten Handelns ein technischer Prozess, bei dem das Medium nicht nur eine Vermittlungsfunktion übernimmt, sondern allererst den Prozess der Kollaboration hervorbringt. Erst durch die software-gesteuerte automatisierte Zusammenführung wird aus den individuellen Tag-­Zuweisungen Einzelner ein ­kollaboratives und damit kollektives Produkt generiert. Das Tagging kann damit als ­ exemplarischer Anwendungsfall kollaborativer ­ Praktiken 3 Vgl. aber einschränkend dazu die nachfolgend diskutierte Rekursivität des kollaborativen Prozesses.

90

Erika Linz

angesehen werden, die weder an konsensuelle noch an kooperative Handlungen ­ gebunden sind, sondern mittels der Software-Technologien des ­Social Web aus individuellen ­Verwendungsweisen geschaffen werden. Der ­Kollaborationsprozess wird im Sinne L­ atours an die als Mittler (Mediator) fungierende ­Software delegiert (vgl. Latour 2007: 66–75, Schüttpelz 2013: 13–18, 56–60). Nicht die Handlungen der Einzelnen, sondern die koordinierende Handlungsmacht des Mediums schafft hier eine kollektive Wissensordnung, die zugleich ­weniger ­traditionellen, ­paradigmatisch ausgerichteten Ordnungsstrukturen folgt, ­sondern stärker syntagmatisch ­motivierten assoziativen ­Prinzipien gehorcht. Zugleich lässt sich am Beispiel des Taggings beobachten, wie sich über die automatisierten Prozesse hinaus spezifische Nutzungspraktiken etablieren, die dem Kollaborationsprozess eine rekursive Dimension als soziotechnisches System verleihen. Rekursiv wird dieser Prozess dadurch, dass das maschinell erzeugte kollaborative Artefakt – und dies kommt in den Abhandlungen zu Folksonomien, die auf eine unidirektionale Betrachtung der Generierung von Artefakten abzielen, nicht selten zu kurz – für die einzelnen Nutzer Anleitungen für zukünftige Verwendungen, Suchverfahren etc. schafft, sodass die ­ medialen Repräsentationen der Folksonomien auf den individuellen Gebrauch und Wissenszugriff zurückwirken und damit auch den weiteren ­kollaborativen Prozess beeinflussen. Tagging-Folksonomien werden nicht nur zur Verwaltung und zum Auffinden von digital archivierten Dokumenten und Webseiten verwendet, sondern auch als Indizes, die auf andere mit demselben Attribut versehene Dokumente verweisen. Kollaborative Tags erlauben es, ­zugehörige Dokumente, Links und weitere Tags etc. anderer Nutzer aufzurufen und dadurch deren „Spuren“ zu folgen. Sie fungieren damit als „Vernetzungsmarker“ (Mehler et al. 2010: 415), in die gewissermaßen die Rezeptions- und Archivierungsgeschichten anderer Nutzer eingeschrieben sind. Die Navigation mittels kollaborativer Tags ermöglicht so „serendipitous discoveries“ (Wu et al. 2006: 112; vgl. auch Peters/Stock 2008: 88). Während der Begriff der Folksonomie eine ergebnisorientierte Perspektive auf das Produkt des Kollaborationsprozesses nahelegt, rückt mit der rekursiven Dimension die Prozessualität des kollaborativen Taggings in den Vordergrund. Folksonomien sind grundsätzlich in ihrer Gesamtheit nicht ­repräsentierbar und lassen sich allenfalls punktuell und ausschnittweise sichtbar machen.4 Auch wenn die Visualisierungen (wie sogenannte Tag-Clouds) dabei den ­Anschein statischer Strukturen erwecken können, handelt es sich 4 Sichtbarmachen lässt sich hier ganz im Sinne Rheinbergers (2001) als konstruktives ­Verfahren verstehen, das in der Visualisierung erst eine erkennbare Struktur konstituiert.

Kollaboratives Tagging

91

dabei doch immer nur um konstruierte stillgestellte Zustände eines transitorischen Prozesses – um mediale Repräsentationen von Zuständen, die durch die stetigen Aktivitäten der Nutzer im Moment der Repräsentation bereits Vergangenheit sind. Das kollektive Produkt der Kollaboration ist damit nur als Spur vergangener Aktivitäten erfahrbar.5 Auch für den Einzelnen erschließt es sich vor allem als prozessuales Moment in der Performanz des individuellen ­Handlungsvollzugs mit einem zweifachen Handlungsimpuls: erstens als Anregung, den ­Navigations- und Archivierungsspuren zu folgen, die andere in Form von Tags hinterlassen haben, und zweitens als Anregung für die eigene Tag-Vergabe. Wie unterschiedliche Studien zur Entwicklung von Folksonomien und deren Auswirkungen auf individuelle Anwendungen gezeigt haben, tendieren die Nutzer dazu, auch die Folksonomien zunächst vor allem als Tool zur Navigation zu verwenden. Folksonomien können ebenso als Aufforderung für individuelle Suchprozesse wie auch als Orientierung für zukünftige Verschlagwortungen dienen. Diese individuelle Orientierung an den kollaborativen Ergebnissen führt dazu, dass die Folksonomien generell eine gewisse Tendenz zur Konvergenz und Homogenisierung aufweisen. Unterstützt und abhängig von den jeweiligen Systemangeboten, etwa der Präsentation von Tag-­RankingListen, der Visualisierung spezifischer Folksonomie-Ausschnitte mittels TagClouds oder dem systemgesteuerten Anbieten spezifischer Tagging-­Vorschläge, bildet sich häufig ein begrenztes Repertoire an besonders populären Tags heraus, an dem sich viele Nutzer bei ihren weiteren Tagging-Operationen orientieren (vgl. für einen Überblick Trant 2009). Als Resultat solcher soziotechnischen Kollaborationseffekte lässt sich häufig eine „Long-Tail“-Verteilung (Anderson 2007) der Folksonomien beobachten. D.h. sie folgen einem Muster, bei dem wenige Nutzer sehr viele Tags und sehr viele Nutzer nur wenige Tags vergeben (vgl. u.a. Lorince et al. 2015). Zudem gibt es in der Regel eine relativ geringe Anzahl von Tags, die einem Objekt von vielen Nutzern verliehen werden, und sehr viele Tags, die nur von wenigen oder einzelnen Nutzern verwendet werden (vgl. Peters 2009: 177f.; Doerfel et al. 2013: 19). Folksonomien weisen damit eine Struktur auf, die neben kollektiven Ergebnissen auch die Spuren individueller und teilweise sehr spezifischer Handlungen und Perspektiven beinhalten.6 Neben der häufigen Emergenz eines homogenisierten Kerns populärer Tags bleiben die Produkte des kollaborativen P ­ rozesses 5 Vgl. zu der mit dem Spurbegriff verbundenen Logik der Vergegenwärtigung des Nicht-­ Präsenten und der rekursiven Prozessualität Linz (2012) und Fehrmann/Linz (2005). 6 Besonders deutlich tritt hierbei das spezifische Verhalten sogenannter „Supertagger“ hervor, vgl. dazu Lorince et al. 2015: insb. 4f. und 14.

92

Erika Linz

daher i­mmer auch durch Diversität gekennzeichnet. Diese Diversität der ­individuellen Spuren wird in der Regel allerdings erst im Anwendungsvollzug sichtbar, wenn Verknüpfungen ­nachgespürt wird. Während die Tag-Cloud eher häufig verwendete und damit kollektive Ergebnisse visualisiert, zeigen sich die individualisierten Einzelperspektiven erst im weitergehenden Gebrauch von Tagging-Strukturen. Mit zunehmender Habitualisierung von Taggingpraktiken – auch das beleg­ en unterschiedlichste Studien zum Nutzungsverhalten (Trant 2009; Aman/Naaman 2007; Strohmaier et al. 2012) – gewinnen darüber hinaus sozial m ­ otivierte Gebrauchsweisen an Bedeutung. Zusätzlich zu den N ­ avigationsfunktionen wird das Tagging verstärkt auch zur öffentlichen Sichtbarmachung und Distribution eigener und fremder Objekte, zum Agenda-Setting sowie zur sozialen Positionierung und zur Netzwerkbildung genutzt. Exemplarisch sei hier eine Studie zu den Motivationen für das Taggen von Bildern auf flickr angeführt, in der Ames und Naaman (2007) zeigen konnten, dass soziale Motive bei der Wahl von Tags eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie funktionale Motive spielen. In persönlicher Hinsicht wird das Taggen von Bildmaterial demnach vielfach dazu verwendet, das Bild mit Kontextinformationen über Namen der beteiligten Personen, Ort und Zeitpunkt der Aufnahme, Situation oder mit Statements wie „good restaurant“ zu versehen, entweder als Gedächtnisstütze oder um das spätere Auffinden zu erleichtern (vgl. ebd.: 976). Weit häufiger noch werden solche kontextualisierenden Tags jedoch zu ­kommunikativen Zwecken verwendet, um Bekannten, Freunden und F­amilienmitgliedern zusätzliche Informationen und Kommentare zu den Bildern zu liefern oder auch, um darüber Adhoc-Pools von Fotografien zu einem Thema oder e­ inem ­Ereignis zu kreieren. Nicht selten wird die Wahl der Schlagworte auch mit Blick auf ein öffentliches Publikum vorgenommen. Nach Selbstauskünften von f­ lickr-­Nutzern kann sie dabei sowohl darauf zielen, einem Bild durch ­geeignete Tags eine größere öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, als auch, es in den ­Tagginglisten anderer Nutzer erscheinen zu lassen (vgl. ebd. 2007: 977f.). Darüber hinaus können kollaborative Tagging-Systeme auch zur Initiierung und Etablierung von Diskursen – etwa durch Trendsetting von Tags7 – sowie zur Entstehung von Communities – durch das Sichtbarmachen von ­gemeinsamen Vorlieben und Interessen etc. – beitragen:

7 Ähnlich wie dies für die verwandte Form des Gebrauchs von Hashtags auf Twitter diskutiert wird, vgl. dazu u.a. Rambukkana (2015).

Kollaboratives Tagging

93

Through tag-based navigation users can discover who created a given tag and see the other tags that this person has created. In this way a ­folksonomy user can discover other users with similar interests or ­perspectives. As such, a collaborative tagging system helps users in not only retrieving information but also socializing with others. Wu et al. 2006: 112

Wie diese und ähnliche Befunde (vgl. näher Trant 2009) deutlich machen, erfolgt die individuelle Verwendung von Tags wesentlich auch mit Blick auf das kollaborative Tagging-System. Im Gegensatz zu den oben angeführten Beispielen für Invisible-Hand-Prozesse gewinnt das kollaborative Tagging – so meine These – damit ein Moment der Reflexivität, durch das aus den singulären Operationen der einzelnen Nutzer ein kollektiver Prozess wird. Je einflussreicher diese reflexiven sozialen Nutzeradaptationen werden, desto mehr rückt aber wie bei der Debatte um die Macht von Google und anderen Suchmaschinen auch hier die Frage in den Vordergrund, nach welchen Prinzipien die unsichtbaren Algorithmen verfahren. Zu diskutieren bleibt, inwiefern sich bei den Tagging-Anwendungen – gerade auch angesichts von immer mehr implementierten Tag-Vorschlägen, Popularitätsskalen und Rankinglisten – von Kollaboration sprechen lässt als einer Form von „democratic metadata generation“ (Wu et al. 2006: 112). Die – wie mit dem Social Web insgesamt – auch mit dem Tagging verbundenen Utopien von Graswurzeldemokratie und Prosumer Culture lassen allzu leicht vergessen, dass die Software in diesem Prozess keinen „Status von Werkzeugen, Hilfsmitteln oder dienstbaren Sklaven“ (Otto 2009: 56) besitzt, sondern die bestimmende Handlungsmacht im Kollaborationsprozess bildet. Mit der Undurchsichtigkeit der Algorithmen bleibt auch verborgen, welche Interessen die Generierung der Folksonomien leiten und nach welchen Prinzipien Ausschnitte in den medialen Repräsentationen sichtbar gemacht werden. Ökonomische Interessen, die die meisten Plattformen, in denen Tagging-­Systeme ­inzwischen verwendet werden, bestimmen, lassen es ebenso wie die auf Sichtbarkeit und Etablierung von Trends ausgerichteten Tagging-­ Strategien einzelner Nutzer fraglich e­rscheinen, inwiefern die Rede von „folk“ und die damit verbundene Ideologie einer basisdemokratischen „user-created ­bottom-up categorical structure“ (Vander Wal 2007) hier Geltung beanspruchen kann. Möglicherweise könnte bei den aktuell zu beobachtenden Entwicklungen die historische Semantik von Kollaboration als ‚Zusammenarbeit mit einer Besatzungsmacht‘ sogar eine treffendere Beschreibung der kollaborativen Prozesse liefern.

94

Erika Linz

Literatur Ames, Morgan/Naaman, Mor (2007): „Why We Tag: Motivations for Annotation in ­Mobile and Online Media“, in: Proceedings oft the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems, San Jose, CA, 971–980. Anderson, Chris (2007): The Long Tail – Der lange Schwanz. Nischenprodukte statt ­Massenmarkt: Das Geschäft der Zukunft, München. Doerfel, Stephan et al. (2013): Informationelle Selbstbestimmung im Web 2.0: Chancen und Risiken sozialer Verschlagwortungssysteme, Berlin/Heidelberg. Frohner, Herbert (2010): Social Tagging. Grundlagen, Anwendungen, Auswirkungen auf Wissensorganisation und soziale Strukturen der User, Boizenburg. Halpin, Harry (2012): Social Semantics: The Search for Meaning on the Web, New York, NY et al. Halpin, Harry/Shepard, Hana (2006): „Evolving Ontologies from Folksonomies: ­Tagging as a Complex System“, http://www.ibiblio.org/hhalpin/homepage/notes/­ taggingcss.html, 04.04.2017. Keller, Rudi (2014): Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, 4. Aufl., Tübingen. Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M. Linz, Erika (2012): „Spur“, in: Christina Bartz et al. (Hrsg.), Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen, München, 265–271. Linz, Erika/Fehrmann, Gisela (2005): „Die Spur der Spur. Zur Transkriptivität von ­Wahrnehmung und Gedächtnis“, in: Gisela Fehrmann et al. (Hrsg.), Spuren Lektüren. Praktiken des Symbolischen. Festschrift für Ludwig Jäger zum 60. G ­ eburtstag, ­München, 89–103. Lorince, Jared et al. (2015): „The Wisdom of the Few? ‚Supertaggers‘ in Collaborative Tagging Systems“, 1–17, http://arxiv.org/abs/1502.02777, 21.08.2017. Mathes, Adam (2004): „Folksonomies – Cooperative Classification and ­Communication Through Shared Metadata“, http://www.adammathes.com/academic/­computermediated-communication/folksonomies.html, 21.08.2017. Mehler, Alexander et al. (2010): „Sprachliche Netzwerke“, in: Christian Stegbauer (Hrsg.), Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie, Wiesbaden, 413–427. Otto, Isabell (2009): „Das Soziale des Social Web: Erkundungen in Wikipedia“, in: ­Sprache und Literatur 40, 45–57. Peters, Isabella (2009): Folksonomies. Indexing and retrieval in Web 2.0, Berlin. Peters, Isabella/Stock, Wolfgang G. (2008): „Folksonomies in Wissensrepräsentation und Information Retrieval“, in: Information – Wissenschaft und Praxis 59 (2), 77–90, http://www.b-i-t-online.de/daten/iwp.php#jahr2008, 04.04.2017. Rambukkana, Nathan (Hrsg.) (2015): Hashtag publics. The power and politics of d­ iscursive networks, Frankfurt a.M. et al.

Kollaboratives Tagging

95

Rheinberger, Hans-Jörg (2001): „Objekt und Repräsentation“, in: Bettina Heintz/ Jörg Huber (Hrsg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in ­wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Wien, 55–61. Schüttpelz, Erhard (2013): „Elemente einer Akteur-Medien-Theorie“, in: Tristan ­Thielmann/Ders. (Hrsg.), Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld, 9–69. Siever, Christina Margit (2015): Multimodale Kommunikation im Social Web. ­Forschungsansätze und Analysen zu Text-Bild-Relationen, Frankfurt a.M. et al. Smith, Adam (1776/1904): An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of N ­ ations, hrsg. v. Edwin Cannan. Library of Economics and Liberty, http://www.econlib.org/ library/Smith/smWN13.html, 25.06.2017. Stadler, David (2007): „Tagging vs. Ontologien“, in: Heinz Lothar Grob/Gottfried Vossen (Hrsg.), Entwicklungen im Web 2.0 aus technischer, ökonomischer und sozialer Sicht, 3–12. Hybrid 51, https://www.econstor.eu/dspace/bitstream/10419/46587/1/58462 6150.pdf, 04.04.2017. Strohmaier, Markus et al. (2012): „Understanding why users tag: A survey of tagging motivation literature and results from an empirical study“, in: Web Semantics 17, S. 1–11, http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1570826812000820, 22.06.2017. Trant, Jennifer (2009): „Studying Social Tagging and Folksonomy: A Review and Framework“, in: Journal of Digital Information 10(1), 1–44, https://journals.tdl.org/jodi/ index.php/jodi/article/view/269, 21.08.2017. Vander Wal, Thomas (2007): „Folksonomy Coinage and Definition“, http://www. vanderwal.net/folksonomy.html, 04.04.2017. Wu, Harris et al. (2006): „Harvesting social knowledge from folksonomies“, in: Hypertext ’06. Proceedings of the seventeenth conference on Hypertext and hypermedia, Odense, Denmark, August 22–25, 2006, New York, NY, 111–114.

„Spiel, Satz und Match“

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps Teresa Opper 1

Login: Zugang zu mediatisierter Kollaboration Eine junge Frau auf Europatour: London, Paris, Istanbul. Sie reist allein und doch nicht allein. Denn über ihr Smartphone werden ihr jede Menge Männer angeboten. James, 27, wischt sie weg. Aber Typen wie Sam, 25, klickt sie an. Mit dem einen geht sie ins Fußballstadion, mit dem anderen fährt sie Riesenrad. Sie tanzt durch die Nacht, steigt in ein Schaumbad, reitet ein Kamel. Am Ende bekommt sie rote Rosen vor dem Eiffelturm. Alle sind in sie verknallt – und sie vor allem in sich selbst. Das Leben als eine Serie euphorischer Momente. Schöne neue Dating-Welt [...]. Es ist die Welt von Tinder. Bömelburg 2015: 61

Kaum eine andere mobile digitale Alltagstechnologie wird in den Medien so stark diskutiert wie die Präsenz von „digitalen Paarungsmaschinen“ (Bömelburg 2015: 61): sogenannter ,Dating-Apps‘. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass ihnen ein hoher Stellenwert für gesellschaftliche Entwicklungen zugesprochen wird. Die hohen Nutzungszahlen der ­Dating-Apps (vgl. ebd.) spiegeln wider, dass die digitalisierte Form des Kennenlernens zu einem prominenten Teil der gesellschaftlichen Interaktion geworden ist. Und plötzlich stehen zwei Interaktionsräume in Konkurrenz: die Bar, der Zug, die Universität, der Friseursalon – sprich alle „Authentizität garantierende[n] [Räume] realer, anwesender Körper“ (Liegl/Stempfhuber 2014: 27) – und der virtuelle Katalog des „medial ­erzeugten Überangebots“ (ebd.) an potenziellen Flirt- oder LebenspartnerInnen. Location-based Dating-Apps sind soziale Netzwerke, die durch integrierte Lokalisierungstechnologien die Verknüpfung mit anderen App-Mitgliedern und – zumindest hypothetisch – das Kennenlernen eines/einer potenziellen Flirt-, Sex-, LebenspartnerIn über mobile Endgeräte wie das Smartphone möglich machen wollen. Dabei stehen zwei Aspekte deutlich im Vordergrund: Standorterkennung und dessen Berücksichtigung bei der Generierung eines Personennetzwerks. Als Location-based Social Networks können Dating-Apps mittels ihrer Kommunikations- und Interaktionsfunktionalitäten sowie der für das Medium konstitutiven kommunikativen Beteiligung von mindestens zwei Personen kollektive Verhältnisse produzieren. Zwei oder mehrere Mitglieder © Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi 10.30965/9783770558407_007

98

Teresa Opper

können innerhalb und durch die Funktionalitäten der Applikationen gemeinsam ein Date ,erarbeiten‘. Lässt sich bei Dating-Apps dementsprechend von Medien sprechen, die kollaborative Handlungen begünstigen? Kollaborative Medien ermächtigen ihre NutzerInnen, gemeinsame Abläufe zu erstellen, und werden in vielen Fällen durch die Nutzung in Kooperation selbst verfertigt (vgl. Gießmann/Schüttpelz 2015). So bezeichnet eine ­medienpraxistheoretische Definition „Kooperation“ als „die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Ziele, Mittel und Abläufe“ (Schüttpelz 2016: 6). Etwas allgemeiner kann für „Collaborative Media“ (Löwgren/Reimer 2013) gelten, dass diese in der Ausgestaltung ihrer Fähigkeiten auf Verwendungsmuster ihrer NutzerInnen reagieren, deren Nachfrage sie durch ihre Funktionalitäten und Interaktionsmöglichkeiten selbst bedingt und geschaffen haben (vgl. Hennion/Méadel 2013: 349). Dabei zeichnen sich kollaborative Medien dadurch aus, dass sie nicht primär nachträglich auf eine bestimmte Nutzungspraxis reagieren. Vielmehr werden die kollaborative Medienpraxis und die daran beteiligten Medien in „ein und demselben kollektiven Verfahren“ (ebd.) geschaffen. Medien der Kollaboration befördern dementsprechend Zusammenarbeit, sie sind aus einer kollaborativen Praxis heraus entstanden und befähigen deren NutzerInnen in die Infrastruktur und die Gestaltung ihrer eigenen Spezifik kollektiv einzugreifen (vgl. Löwgren/Reimer 2013: 18). Aus zwei oder mehreren NutzerInnen werden dann TeilnehmerInnen eines gemeinsamen Ablaufs und eines gemeinsamen Tuns – beides wäre ohne das kollaborative Medium nicht entstanden (vgl. ebd.: 14). Da die Handlungsausprägungen in Dating-Apps – wie an späterer Stelle noch ausgeführt werden soll – allerdings nicht klar bestimmbar sind oder aus unverkennbar identifizierbaren Motivationen entstehen müssen, sind die Nutzungsmotive, die an die Dating-Apps geknüpft werden, uneinheitlich und können auch im Laufe der App-Nutzung variieren. Ein ,gemeinsames Ziel‘, das als Motivation zur Zusammenarbeit in den Applikationen fungiert, ist deshalb entweder nicht eindeutig erkennbar oder kann auch schlichtweg nicht ­existent sein. Es stellt sich deshalb die Frage, inwiefern die Praxeologie der ­Dating-Apps auf eine generelle Spezifik kollaborativer digitaler Medien verweist; ob Dating-Apps Kollaboration ermöglichen und ob sie durch kollaborative Handlungsmacht eine besondere Medienpraxis hervorbringen. In welchen Aktionen manifestiert sich ,Zusammenarbeit‘ und inwiefern sind die implementierten Lokalisierungstechnologien dabei von Bedeutung? Zur Beantwortung dieser Fragen sollen mittels einer autoethnografischen Untersuchung charakteristische Strukturmerkmale von Location-based ­Dating-Apps herausgearbeitet und mit Nutzungsmerkmalen der lokalisierten,

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

99

mobilen Partnersuche kombiniert werden, um kollaborative Handlungen und Potenziale in und generiert durch Dating-Apps identifizieren zu können. 2

Get in Touch: Feldzugang und Untersuchungsparameter

Um ein besseres Verständnis dafür zu erlangen, warum und was in Dating-Apps genutzt wird, was Dating-Apps ihren NutzerInnen zur Verfügung stellen und inwiefern diese als Medien der Kollaboration einzuschätzen sind, habe ich mich den darin implementierten Communities als Nutzerin genähert, um Erfahrungen aus der Mitte der Gruppe heraus zu sammeln. Diese autoethnografische Vorgehensweise sollte die Studie durch meine persönlichen Erfahrungen und durch Ereignisse – die daraus resultieren, dass ich selbst Teil dieses Feldes bin – prägen und innerhalb intensiver Einzelfallanalysen von Situationen, ­Gesprächen und Erfahrungen Strukturmerkmale von Akteuren, Situationen und Objekten des Feldes identifizierbar machen. Zu Beginn meiner ­Untersuchung habe ich mich dazu entschieden, neben der aktiven Selbstnutzung und Begutachtung der Dating-Apps, gegenüber einigen Mitgliedern innerhalb dieser Applikationen meine Wissenschaftlerinnenrolle offenzulegen und eine sozusagen ,enthüllte‘ Ethnografie zu betreiben. Dies erschien mir sinnvoll, um die anderen Mitglieder detailliert nach ihren langfristigeren Erfahrungen befragen und auch mehrfach um Erläuterungen bitten zu können. Auch in Hinblick auf forschungsethische Abwägungen empfand ich es ,fairer‘ mein Forschungsvorhaben und die damit zusammenhängende Nutzungsintention den ­Partnersuchenden mitzuteilen. Erfahren musste ich allerdings, dass keiner der informierten Mitglieder mit mir Kontakt aufnahm und ich darüber hinaus von einer Dating-App für mehrere Stunden und in einigen Funktionen gesperrt wurde.1 Ich schätze deshalb, dass bei diesem Feld von generellen Zugangsablehnungen gegenüber offener Forschung ausgegangen werden muss. Die Selbstnutzung und die ,verdeckte‘ Informationsbeschaffung waren daher für mich die einzig möglichen Formen der Zugangsgewinnung zu diesem Feld. Für die Studie habe ich von Mitte März bis Mitte September 2016 drei Location-based Dating-Apps als Teil der Communities genutzt. Die Wahl der ­Untersuchungsgegenstände begründet sich auf aktuellen medialen Berichterstattungen und Vorkommen charakteristischer Merkmale der Apps, die sich voneinander differenzieren oder die die Apps gemein haben. Aus diesem Grund 1 Fraglich ist hierbei, ob einer der informierten Mitglieder mich als Fake-Nutzerin oder Werbende gemeldet hat.

100

Teresa Opper

habe ich mich für drei Dating-Apps entschieden, deren G ­ rundfunktionen – Anlage eines Profils, Bewertung anderer Mitglieder anhand Fotos, Suche nach Mitgliedern in der eigenen Umgebung und Chat – nahezu übereinstimmen, die sich allerdings in ihren Zusatzfunktionen voneinander differenzieren und spezifizieren: Tinder (eine Dating-App, die auch Interaktionsgruppen ­verknüpft), Lovoo (eine Dating-App mit integriertem Lokalisierungsradar) und Badoo (eine Dating-App als mobile game). 3

Facing the Interface: Matching in Dating-Apps

Wie bereits angedeutet, sind die Nutzungsmotive, die an Dating-Apps geknüpft werden, divers und nicht immer eindeutig zu bestimmen. Ein charakteristisches Nutzungsmotiv sei nach Aretz (2015: 42) und auch innerhalb der Mobile-­ Dating-Studie der Neu.de GmbH (2014: 8) der Wunsch nach ­Selbstbestätigung und dem Hinterlassen eines positiven Eindrucks in der sozialen Umwelt sowie das Bedürfnis nach Kommunikation und sozialer Interaktion, welches sich im Wunsch nach Kontakten und Zugehörigkeit manifestiert (vgl. Huber et al. 2008: 40). Diese Bedürfnisse äußern sich allerdings nicht bei allen App-Mitgliedern einheitlich in der Suche nach einer festen Partnerschaft. Einige NutzerInnen verfolgen auch den Aufbau von Freundschaften, sexuellen Beziehungen oder schlicht (digitalen) Unterhaltungen (vgl. Hobbs et al. 2016: 6ff.). Die Motivlage ist demnach also vielfältig, doch steht im Vordergrund die Sichtbarmachung der eigenen Person für ein Netzwerk, das besonders auf die gegenseitige Bewertung des/der Anderen als potenzielle/n PartnerIn ausgelegt ist, um letztlich ein geeignetes Gegenstück zur eigenen Person darin zu finden. Dies kann ein/e LebenspartnerIn, ein/e Flirt- oder SexpartnerIn, ein/e FreundIn oder einfach eine Person sein, die das Selbst in seinem Wunschbild bestätigt. Diesem Bedürfnis entsprechend werden Dating-Apps, ähnlich wie Kontaktanzeigen, Annoncen und andere soziale Netzwerke, als ­Selbstdarstellungs-Plattformen genutzt, auf denen ein persönliches Profil hinterlegt und dieses mit Profilen Anderer verknüpft und auf Übereinstimmung getestet werden kann. Dabei ist die Selbstdarstellung innerhalb der Dating-Apps im Rahmen vorgefertigter Muster und festgesetzter Optionen gestalt- und steuerbar: Informationen über die eigene Person können gefiltert, Fotografien bearbeitet und Charakter- und Interessensbeschreibungen so arrangiert und formuliert werden, dass sie dem gewünschten Fremdbild entsprechen. Wer in der digitalen, mobilisierten Partnersuche erfolgreich sein möchte, muss ein Höchstmaß an Selbstpräsentation aufbringen und die virtuelle Visitenkarte so gestalten, dass das dargelegte Persönlichkeitsprofil (der digitale Abstract) mit dem angestrebten und ideellen Fremdbild übereinstimmt.

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

101

Das Zusammentreffen unterschiedlicher Personen, Gruppen und Ideale Als ich die von mir untersuchten Location-based Dating-Apps installiert habe, war ich mir zunächst unsicher, wie ich mich selbst innerhalb der Apps als ,Partnersuchende‘ präsentieren und inszenieren sollte, da unterschiedliche Selbstpräsentationsmöglichkeiten aufgrund der technischen Gegebenheiten in Frage kamen. In Dating-Apps ist „jeder Einzelne [...] eine kalkulierbare Menge an [...] Teilen, Singularitäten“ (Ries 2007: 22) und die Partnersuchenden werden innerhalb des Rasters der Profilangaben klassifiziert (vgl. Illouz 2006: 116ff.). So bieten alle drei Dating-Apps die Möglichkeit, auf einem persönlichen Profil eine Charakterbeschreibung zu hinterlegen und personenbezogene Angaben wie bspw. Alter und Geschlecht sowie Interessen in das Profil zu integrieren.2 Hinzu kommen Fotos, die neben der reinen textlichen Repräsentation einer Person als visuelle Darstellungsoption zur Verfügung stehen. Dabei spielt das Profilbild eine tragende Rolle für die Kontaktinitiierung, da in allen der untersuchten Dating-Apps die Möglichkeit zur Interaktion durch eine maßgebliche Technik beeinflusst wird: die Bewertung der Partnerschaftsqualitäten von anderen App-NutzerInnen anhand individuell wahrgenommener, visueller Darstellungsspezifika: das Swipen. Die Funktion des ­Swipens (zu Deutsch: Wischen) ermöglicht den App-NutzerInnen, zwischen den Profilbildern der Partnervorschläge zu wechseln und jene Angebote, die für einen weitergehenden Kontakt in Frage kommen, von solchen, die es nicht tun, zu selektieren. Beispielsweise bietet die App Tinder innerhalb der S­ wipe-Funktion ­„Entdeckung“ die Möglichkeit, dem/der jeweiligen KandidatIn entweder (mit einem Swipe nach rechts) ein Like oder (mit Swipe nach links) ein Nope zu geben. Die positive Bewertung des – nach individuellem Bemessen – attraktiven Fotos eines/einer App-NutzerIn über eine (teilweise flüchtige) ,Wisch-Geste‘ ist dementsprechend die einzige Möglichkeit, das Interesse an dem/der Anderen auszudrücken. Es wird daher offensichtlich, dass ,Impression Management‘ (vgl. Whitehead/Smith 1986) innerhalb der Dating-Apps nur über ein ,Image Management‘ zum Erfolg führen kann (vgl. de Seta/Zhang 2015: 175). Diesem visuellen Charakter der Dating-Apps geschuldet, werden textlich verfasste Charakterbeschreibungen weniger häufig gelesen und müssen Fotos 3.1

2 Beachtenswert ist hierbei, dass das Alter keine konstante Information über eine Person darstellt, sondern vielmehr Element der Selbstdarstellung ist. So wird das Alter, je nachdem wie man sich darstellen möchte, individuell verändert oder innerhalb von Kommunikationen gerechtfertigt oder angepasst. Eine Kommunikation innerhalb der App Lovoo: „Ich würde dich gerne kennen lernen :) ich bin auch 23 aber habe da was falsch gemacht wegen meinem Alter [in seinem Profil wurde 31 Jahre angegeben; T.O.] nicht das du denkst das ich viel älter bin :)“.

102

Teresa Opper

möglichst aussagekräftig Aufschluss über das Äußere und den Lifestyle geben sowie die Motivation der App-Nutzung transportieren (ebd.: 177), um für die App-­NutzerInnen Kontakt mit gleichgesinnten Mitgliedern zu ermöglichen. Oft sind mir deshalb während meiner Nutzung der Apps Profilfotos begegnet, die mehrere Bilder auf einmal innerhalb einer Collage beinhalteten – um möglichst viele Facetten der eigenen Persönlichkeit darzustellen – oder auf denen der nackte Oberkörper der männlichen Nutzer zu erkennen war. Bei letzteren schien die Auswahl genau dieser Bilder der Bemühung geschuldet zu sein, die eigene Nutzungsintention anderen Mitgliedern noch einmal deutlich machen zu können (vgl. Blackwell et al. 2015: 1127) und diesen Nutzungsmotiven entsprechend passende Gegenstücke, PartnerInnen mit ähnlichen Vorstellungen im Paarungswettbewerb, anzusprechen. Wird in der Dating-App Tinder anhand dieser Bilder ein Partnervorschlag als zur eigenen Person oder Nutzungsintention passend wahrgenommen, wird das nähere Kennenlernen über die Chatfunktion der App allerdings nur bei beidseitigem Interesse ermöglicht. Bloß wenn beide potenzielle FlirtpartnerInnen in der Bewertungsfunktion Entdeckung dem/der jeweils Anderen mit Swipe nach rechts ein Like gegeben haben und es zu einem Match, einer Übereinstimmung der Neugierde und Sympathie an dem/der jeweils Anderen kommt, kann rein visuell basierte Beachtung zu Kontakt führen. Das Swipen nimmt für die Kontaktinitiierung eine Schlüsselfunktion ein, da Voraussetzung für das Finden eines/einer Flirt- oder LebenspartnerIn erst einmal die Übereinstimmung der digitalen Abstracts und des gegenseitigen Interesses innerhalb des digitalen Raums der App ist. Nur wenn dies gegeben ist, fungiert die Dating-App als „Paarungsmaschine“ (Bömelburg 2015: 61), die zwei unabhängige aber übereinstimmende Profile miteinander matcht und dadurch Ansprechgelegenheit ermöglicht. Doch nicht nur durch Veröffentlichung persönlicher Details oder Fotos kann das passende Gegenstück angelockt und gefunden werden. Übereinstimmungsbemühungen werden auch über Filtermöglichkeiten, die von den ­Mitgliedern genutzt werden können oder sogar müssen, sichtbar. So können NutzerInnen entscheiden, wie weit der/die potenzielle ­KommunikationspartnerIn – ­ausgehend von physischer Distanz – von ihm entfernt ist, wie alt diese/r sein darf und nach was er/sie innerhalb der App suchen sollte. Filtermöglichkeiten können deshalb ein Indiz dafür sein, dass Menschen homophil sind und tendenziell nach Anderen suchen, die ihnen ähnlich sind. Aus diesem Grund beginnt auch H. in der Dating-App Lovoo das Gespräch mit: „Hey! Beschreibe mir mal deinen Traumurlaub.“ Damit testet H., wie kompatibel er und ich sind und ob wir gleich ,ticken‘ oder nicht auf einen Nenner kommen. Die Chatanfragen sind dabei weniger innovativ und gleichen eher einer C ­ heckliste, die bei jedem angeschriebenen Mitglied abgearbeitet wird:

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

103

Gedächtnisprotokoll: Chatanfrage innerhalb Lovoo A: Hey Teresa :) Sommer oder Winter? Strandurlaub oder Ski fahren? Feiern oder Couch? Hund oder Katze? Langschläfer oder Frühaufsteher? Sex oder Freundschaft? An diesem Beispiel wird deutlich, dass innerhalb der Dating-Apps zu Beginn eine Art Kompatibilitätstest durchgeführt wird, um neben den in der App bereits integrierten Filtermöglichkeiten noch einmal mehr jene Mitglieder, die für ein Gespräch in Frage kommen, von denen zu selektieren, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen. Dabei führen solche Chat-Initiierungen meist zu einer Form der Kommunikation, bei der ein ständiger Abgleich von Interessen und persönlichen Details dominiert. Drei prominente Elemente des Austauschs sind mir innerhalb der von mir geführten Kommunikationen besonders aufgefallen: der Austausch des genauen Standorts, der Austausch von weiteren Fotos und die Frage nach dem, was man sich durch die Mitgliedschaft in der App erhofft. Dabei scheint unausgesprochene Regel zu sein, dass nach jeder Preisgabe einer Information, eines Fotos etc. von dem/der KommunikationspartnerIn auch unweigerlich das jeweilige Pendant bereitgestellt werden muss (vgl. Licoppe et al. 2015: 16f.). Dieser Austausch wird von der Struktur der Apps begünstigt, da bspw. innerhalb Lovoo und Badoo im Chatroom den NutzerInnen die Möglichkeit offeriert wird, einer Nachricht die eigene geografische Position oder ein Foto anzuhängen (vgl. Abb. 5.1). Austausch-Kommunikationen, die wie das Abarbeiten von C ­ hecklisten wirken, sind als Kompatibilitätstests Bemühungen der App-­NutzerInnen, ­Übereinstimmungen zu identifizieren und Matches ganz im Sinne der Wortherkunft – vom altenglischen mæcca, als ein zu einem Anderen Passendes (vgl. Harper 2001) – zu generieren. Gleichzeitig wird diese Nutzungsweise durch die technologischen Gegebenheiten in Form der Swipe-Funktion sowie der Filter-, Selbstpräsentations-, und Kommunikationsmöglichkeiten u ­ nterstützt

ABBILDUNG 5.1 Lovoo, Screenshot der App-Funktion „Foto ­anhängen oder Position senden“, 18.09.2016.

104

Teresa Opper

und Matches von Seiten der Dating-Apps arrangiert. Dabei bewirkt die „Paarungsmaschine“ Tinder nicht nur Matches zwischen Partnersuchenden, sondern auch zwischen Nutzergruppen. Mittels der Funktion Tinder Social ist es möglich, sich innerhalb der Dating-App mit Facebook-Freunden, die Tinder ebenfalls nutzen, in Gruppen zusammenzufügen und andere Gruppen innerhalb der Swipe-Funktion „Entdeckung“ zu finden und zu ,daten‘ (vgl. Abb. 5.2). Ziel von Tinder Social ist, dass Aktivitäten nicht nur mit den eigenen, bereits bekannten Freunden und Freundinnen unternommen werden, sondern dass gleichgesinnte, einander noch unbekannte Freundesgruppen zu diesen Aktivitäten eingeladen werden. Dabei steht die Absicht auf ein romantisches Date vermeintlich eher im Hintergrund, während die Dating-App mittels dieser Funktion das soziale Leben, im Sinne von freundschaftlichen Beziehungen, verbessern (vgl. Tinder 2016) und neue Verbindungen beziehungsweise Gemeinschaft schaffen soll. Für die Nutzung von Tinder Social habe ich eine Facebook-Freundin, die die Dating-App regulär benutzt, gebeten, sich mit mir in einer Gruppe zu verbinden. Je nachdem welche Sucheinstellungen als singuläre Dating-AppNutzerinnen wir ausgewählt haben – also beispielsweise Suche nach ­Männern, Frauen oder Männer und Frauen – wurden dann auch innerhalb von Tinder

ABBILDUNG 5.2 Tinder, Screenshot der App-Funktion „Tinder Social“, 29.08.2016.

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

105

Social vorzugsweise jene Gruppen in der Swipe-Funktion präsentiert, die dieser Auswahl entsprachen. Beachtenswert ist hierbei vor allem, dass wir beide nicht als Gruppe nach geeigneten ,neuen Freunden‘ gesucht haben, sondern jede für sich positive oder negative Bewertungen vorgenommen hat. Als Teil einer Gruppe war es mir dann möglich, andere Gruppen in der SwipeFunktion zu bewerten und – sollte eine positive Bewertung von einem Mitglied einer anderen Gruppe erwidert werden – für die eigene Gruppe Matches zu ,erspielen‘, ohne dass meine Freundin individuell diese Gruppe ebenfalls positiv b­ ewerten musste. Vielmehr wurden uns auch nicht notwendigerweise die gleichen Gruppen vorgeschlagen. Stellte ich meine Sucheinstellungen auf ,nach Frauen‘ und meine Freundin auf ,nach Männer‘, wurden mir vornehmlich gleichgeschlechtliche Frauen-Gruppen – welche ebenfalls ,nach Frauen‘ ­suchten –, ihr dagegen gleichgeschlechtliche Männer-Gruppen vorgeschlagen. Dass die eigenen Interessen und Motivationen zweier Tinder Social-­ Gruppenmitglieder nicht übereinstimmen müssen, um eine Gruppe zu bilden, zeigt, dass die freundschaftliche ,Verbundenheit‘ von der Dating-App Tinder nicht überprüft wird. Tinder kann ein entsprechendes Match zwischen bereits befreundeten Mitgliedern nur über das soziale Netzwerk Facebook – ­ ­vorausgesetzt dass man dort als Freunde verbunden ist – feststellen lassen. ­Inwiefern lässt sich dann an dieser Stelle davon sprechen, dass die Dating-App Verknüpfungen generiert und damit den ersten Schritt zur Kollaboration ermöglicht? Arrangiert nicht Facebook den vorangestellten, übergeordneten und damit essentiellen Schritt zur nachfolgenden Kommunikation, Interaktion und (­potenziellen) Kollaboration in der Dating-App? Schließlich muss ­Tinder Social seine kollaborationsfindende Praxis an ein anderes Medium delegieren. Und wenn es innerhalb der darauffolgenden Matches zu einer ­Verknüpfung und Gemeinsamkeit kommt, kann man dann letztlich von einheitlich motivierter Zusammenarbeit sprechen? Diese Frage stellt sich auch unabhängig von Tinders spezifischem Gruppenverknüpfungspotenzial, betrachtet man die grundlegenden Dating-App-Qualitäten bei der Verpaarung von Einzelpersonen. Verknüpfen die Dating-Apps schließlich Einzelpersonen innerhalb Matches, sind oftmals die Handlungsziele der unterschiedlichen NutzerInnen, wie bereits beschrieben, divers. Doch stellen die Dating-Apps für vermeintlich jeden Nutzer- und Handlungstypen Optionen zur Verfügung, mittels derer er/sie die eigenen Motive klassifizieren und schließlich auch den anderen Mitgliedern vermitteln kann. Durch diese Filtermöglichkeiten werden die Applikationen aber auch von den Mitgliedern in ihrer Paarungs-­ Funktion individuell angepasst. Suche ich nach männlichen Singles im Alter von 18–30 Jahren, die auch nach sexuellen Begegnungen suchen und noch

106

Teresa Opper

dazu in meinem unmittelbaren geografischen Umkreis lokalisiert sind, werden mir innerhalb der App auch nur genau diese Mitglieder angezeigt. Dadurch ist es möglich, die Applikation nach den eigenen Bedürfnissen anzupassen und durch den eigens gestalteten digitalen Abstract Teil der permanenten App-­ Neuformierung zu sein (vgl. Löwgren/Reimer 2013: 23), was dem eingangs ­formulierten Konzept der „Collaborative Media“ (ebd.) entspricht. Aufgrund dieser Strukturmerkmale muss allerdings ein Matching von gleichgesinnten Personen nicht immer funktionieren. Zwar kann ein Mitglied Filtermöglichkeiten einstellen, das Profilbild modifizieren, die eigene Persönlichkeit dem ­gewünschten Fremdbild entsprechend beschreiben und die Applikationen können anhand dieser technischen Singularitäten (vgl. Ries 2007: 22) Mitglieder vorschlagen, die diesen Einstellungen entsprechen, allerdings können die schlussendlichen Ziele dieser beiden Mitglieder unterschiedlich sein oder im Laufe der Interaktion noch werden. Bei der Kommunikation innerhalb der Apps habe ich häufig festgestellt, dass einige männliche Nutzer mir gegenüber angegeben haben, dass sie nach einer festen Partnerschaft innerhalb der Apps suchen, im späteren Kommunikationsverlauf dann allerdings davon berichteten, dass sie sich bereits des Öfteren mit anderen App-Nutzerinnen für ­One-Night-Stands getroffen haben und „gegen eine Affäre auch nichts hätten“. Die NutzerInnen sortieren und rubrizieren sich selbst – teilweise bewusst fälschlich – und werden schließlich aufgrund der Funktionalitäten der Apps mit anderen NutzerInnen verbunden, die zwar augenscheinlich passen sollten, dies aber letztlich doch nicht tun. Es kann daher in diesen Fällen auch nicht von gemeinsamen Motiven und Zielen innerhalb einer Zusammenarbeit gesprochen werden. Dennoch kommt es zu gemeinsamen Abläufen, die gemeinschaftlich gestaltete Ergebnisse generieren. Das muss nicht – wie es die App-Kategorie verspricht – ein Date sein, welches in Zusammenarbeit generiert und gemeinsames Handlungsziel ist. Ergebnis kann schlicht auch sein, dass man als Personen übereinstimmt, gematcht wird, daraufhin Nummern austauscht und schließlich auf anderen Kanälen – im persönlichen Gespräch oder über Kommunikationskanäle wie WhatsApp – ein Date erarbeitet. Ergebnis kann auch sein, dass man zwar zusammen passt, sich allerdings lieber weiter auf die digitale Kommunikation beschränken möchte, aber auch, dass man innerhalb der Applikation zwar aufgrund des digitalen Abstracts passend ist, allerdings weitergehend kein Interesse aneinander hat. In diesen Fällen ist eine übergeordnete, einheitliche Motivation und ein gemeinsames Ziel nicht durchweg zu erkennen. Temporär mag es, beispielsweise vor ­Kontaktinitiierung, ein gemeinsames Ziel und die gleiche Motivation gegeben haben, doch ­innerhalb der kollektiven Handlung muss es dann nicht durchgängig eine „­wechselseitige Verfertigung gemeinsamer [...] Ziele“ (Schüttpelz/Gießmann

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

107

2015: 39) geben. Gemeinsame Abläufe, Zusammenarbeit ohne zwingend einheitliches Ziel werden aber durchaus von den Dating-Apps ermöglicht, und die Matching-Funktionalitäten können gemeinschaftliche Verbindungen und Handlungen kollaborativer Art begünstigen. Und das im Speziellen auch, weil sie ihren NutzerInnen die Handlungsmacht erteilen, in ihre eigene Infrastruktur einzugreifen. Sie gestatten ihren NutzerInnen nicht nur, die vorhandenen Funktionen in vielen unterschiedlichen Vorgehensweisen zu nutzen, sondern auch, neben der reinen Konsumierung, in Zusammenarbeit zu produzieren und zu gestalten (vgl. Löwgren/Reimer 2013: 14, 19). So ermöglichen die Dating-Apps durch die Anpassungen der Filtermöglichkeiten und Einstellungen ein „design-in-production“ (ebd.): Durch das ,Aussieben‘ bzw. Filtern von ­Personen mit bestimmten Profileigenschaften wird das mediale Erscheinungsbild, die Operativität der Datenbank und mithin die Infrastruktur der Dating-App verändert. In den Apps können zudem Zusatzfunktionen gekauft werden, die zum einen die „Langzeiterfahrung der Mitglieder [...] noch befriedigender und erfolgreicher“ machen sollen (Badoo: „Häufig gestellte Fragen – FAQ“) – beispielsweise indem sie dafür sorgen, dass die NutzerInnen bei ­anderen Mitgliedern häufiger vorgeschlagen werden – und die zum anderen die Funktionen der Apps verändern. Dadurch dass Punkte (wie in Badoo) oder Guthaben (wie in Lovoo) durch Aktionen innerhalb der App, Herunterladen von Partner-Apps, aber auch durch In-App-Käufe gesammelt, aufgeladen und letztlich erarbeitet werden, können die Struktur und die Funktionalitäten der Apps erweitert werden. Zusätzlich lassen sich innerhalb der Dating-App Badoo für Aktivitäten in der App – beispielsweise für häufige Nutzung, viele BesucherInnen etc. – Auszeichnungen in Form von Abzeichen, „Badges“, ,erhandeln‘ (vgl. Abb. 5.3). Diese werden auf dem Profil veröffentlicht, komplettieren dessen ­Gestaltung und können als Anreiz- und Belohnungssystem sowie symbolische Zeichen für Erfolg auch Objekte von Sammelbemühungen werden, um einen ganz bestimmten Charakterzug deutlich zu machen (vgl. Gläser/­ Schemer-Reinhard 2015: 308ff.). Badoo ermöglicht also ein „design-in-consumption“ (Löwgren/Reimer 2013: 23), indem durch die Nutzung der Applikation, also den Konsum, das eigene Profil gestaltet werden kann. Dies geschieht allerdings nur in Zusammenarbeit, da nur gemeinschaftliche Kommunikation und gegenseitiges und gemeinsames Bewerten dazu führt, dass ein Mitglied eine Auszeichnung erhält. Durch die konsumierende, aber kollaborative Nutzung der Apps kann neben den Profilen ebenfalls die Infrastruktur und das Interface geformt werden. Jene Mitglieder, die besonders häufig positiv bewertet wurden, werden in der ­Dating-App Badoo in einer Rangliste der „schönsten Nutzerfotos des ­Tages“ (vgl. Abb. 5.4) im Netzwerk gelistet. Bewerten also bspw. zwei ­Mitglieder

108

Teresa Opper

ABBILDUNG 5.3 Smartphone-App Badoo, Screenshot der errungenen Auszeichnungen, 30.08.2016.

ABBILDUNG 5.4 Badoo, Screenshot der App-Funktion „Foto des Tages“, 23.08.2016.

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

109

k­ ollaborativ ein anderes Mitglied als positiv, wird in der App – innerhalb dieser ­Funktion – etwas verändert und modifiziert. Das bewertete Mitglied wird bei anderen Mitgliedern nun prominenter dargestellt und angezeigt. Die beiden bewertenden Mitglieder haben somit gemeinsam diese Veränderung ermöglicht und in ­Kollaboration die App angepasst. Doch auch in der Gestaltung der Profile anderer Mitglieder können NutzerInnen durch die Funktion der App kollektiv eingreifen. Indem sie eine Person besonders häufig positiv bewerten, hat diese Person beispielsweise die Chance, die Auszeichnung „Beliebteste Person der Woche“ zu erhalten und damit auch die eigene Selbstpräsentation in der Applikation zu beeinflussen. Durch die gemeinsamen (kommunikativen) Handlungen können die Dating-Applikationen beeinflusst und ­kollektiv weiterentwickelt, gestaltet, geformt werden. Und auch dies geschieht wieder ohne gemeinschaftliches und übergeordnetes Handlungsziel, da eine Nutzungsmotivation zur Unterstützung des Dating-App-Erfolgs anderer Mitglieder sich nicht offensichtlich erkennen lässt. Vielmehr ist den Mitgliedern nicht bewusst, dass sie mit ihrer Nutzung kollektiv andere Mitglieder bei der Verfolgung ihrer Ziele unterstützen. Diese kollaborativen Handlungen und gemeinsamen Abläufe sind also eher unbewusst und entsprechen häufig nicht den Nutzungsmotiven. Doch was ist das Spezifische innerhalb der Dating-Apps, das eigentlich erreicht werden soll und sich aus, in und auch vor diesen kollaborativen Handlungen entwickelt? Wie bereits beschrieben, treten Dating-Apps als „Paarungsmaschinen“ (­Bömelburg 2015: 61) auf, die jene Entitäten, die in Übereinstimmung miteinander treten, verknüpfen. Auch wenn die Motivationen und Ziele der ­individuellen Applikations-Mitglieder vielschichtig sind, den spezifischen Motivationen ist ein Hauptziel übergeordnet: zu einer anderen Person zu ,passen‘. Damit die App-Nutzung erfolgreich ist, müssen daher Übereinstimmungen zu anderen Personen bestehen und Matches generiert werden, wobei die Kontaktinitiierung selbst wiederum durch Matches determiniert wird. Matching ist demnach sowohl Auslöser für kollaborative Handlungen als auch die ­vorherrschende Handlungsspezifik einer kollektiven Praktik, die Dating-Apps ­ermöglichen und ,am Laufen‘ halten. 3.2 Das Zusammentreffen unterschiedlicher Räume Dabei matchen Dating-Apps nicht nur Partnersuchende oder, wie im Fall von Tinder Social, Interaktionsgruppen, sondern durch die Integration der Lokalisierungstechnologien auch Positionen und Standorte. Die Lokalisierungstechnologien greifen auf GPS, den Login in Wi-Fi-Netze oder auf die Einwahl in Funkzellen zurück (vgl. Gordon/de Souza e Silva 2011: 41), um den genauen Standort der MediennutzerInnen zu ermitteln. Diese Standorterkennung

110

Teresa Opper

manifestiert sich in Dating-Apps in Form von Entfernungsangaben zwischen zwei Mitgliedern und durch Übermittlung des Standorts innerhalb der Chatfunktion (vgl. Abb. 5.5). Im letzteren Fall erfolgt ein Map-Matching, ein ­Abgleich zwischen der gemessenen Position der NutzerInnen und abgespeicherten O ­ rtsinformationen einer digitalen Kartendatenbank, um die Posi­ tion auf ­einer Karte zu visualisieren. Diese Karte kann dann einem anderen Mitglied ­gesendet werden, welches diese Standortvisualisierung zur Navigation nutzen kann. Dabei untermauert die kartografische Repräsentation die Authentizität und Wahrhaftigkeit der medial vermittelten Person und deren Standort. Dating-Apps stellen damit nicht nur eine Beziehung zwischen den erfassten Standortdaten und den gespeicherten Kartendaten her, sondern auch eine Beziehung zu den Standorten anderer Mitglieder. Für die Kontaktinitiierung ist diese Entfernungsangabe relativ bedeutsam. Erst aus dieser medialen ­Vermittlung physischer Nähe entwickelt sich emotionale und soziale Nähe, welche in Dating-Apps häufig Nutzungsziel sind (vgl. Licoppe 2009: 1925; Aretz 2015: 42). Den Location-based Dating-Apps kommt daher eine Doppelrolle zu: „Sie sollen die Suggestion räumlicher Nähe zum anderen aufrechterhalten und z­ ugleich emotionale Nähe schaffen“ (Abend et al. 2012: 11).

ABBILDUNG 5.5 Smartphone-App Lovoo, Screenshot einer S­ tandortübermittlung, 29.08.2016.

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

111

Die ­Lokalisierung der ­Kommunikations- und FlirtpartnerInnen dient insofern ­einem ,­Näherbringen‘ und kann daher als Bemühung zur Annäherung und Entfremdung gesehen werden. Ein verdeutlichendes Beispiel aus dem Selbstexperiment: Ich nutze die Dating-App Lovoo während eines Straßenfests in der Siegener Innenstadt, welche durch die Feierlichkeiten stark besucht ist. Innerhalb der Dating-App werden mir über die Live-Radar-Funktion einige andere Nutzer präsentiert, die sich in meiner unmittelbaren Umgebung befinden (vgl. Abb. 5.6). Um meinen eigenen Standort herum werden mir in allen Himmelsrichtungen über 50 blaue Punkte, also männliche Lovoo-Nutzer angezeigt. Ich denke, dass das auch kein Wunder ist bei dieser Menschenmenge. Drehe ich mein Handy oder bewege ich mich mit dem Handy in meiner Hand, kann ich den Live-Radar wie einen Kompass nutzen und so den Weg zu anderen Mitgliedern finden. In unter 150m Entfernung sollen sich gleich fünf weitere Lovoo-Nutzer befinden. Ich hebe meinen Blick von meinem Handy und suche in der Ansammlung von Gesichtern eine der mir medial bereits nähergebrachten und bekannten Personen. Immer wieder vergleiche ich die Fotos der Gesichter mit den echten Gesichtern und schließlich: ein Treffer! In Sekundenschnelle habe ich über den Mann am Getränkestand eine Handvoll Informationen parat. Er heißt Sebastian, ist 29 Jahre alt, interessiert an Dates und Bekanntschaften, momentan Single, Nichtraucher, spricht neben Deutsch noch Englisch und Portugiesisch und hat keine Kinder. Ich schaue mir Sebastian im realen Raum an und denke mir, dass ich, ohne ein Wort mit ihm zu wechseln, schon mehr über ihn weiß als über manche meiner Kommilitonen. Er ist mir gleich viel weniger fremd. Der Mann, der neben ihm steht, wahrscheinlich sein Freund, scheint kein

ABBILDUNG 5.6 Lovoo, Screenshot der App-Funktion „Live-Radar“, 31.08.2016.

112

Teresa Opper

Lovoo-Nutzer zu sein. Jedenfalls wird er mir innerhalb der App nicht in meiner unmittelbaren Nähe angezeigt, das habe ich überprüft. An diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, dass körperliche Nähe und alleine die Information, wo sich jemand gerade befindet, dazu führen kann, dass innerhalb des digitalen Netzwerks und schließlich auch – unterstützt durch das digitale Netzwerk – im realen Raum die Motivation zur Kontaktaufnahme gestärkt wird (vgl. Gordon/de Souza e Silva 2011: 79). Dies auch gerade deshalb, weil Homophilie – das Verbinden mit ,Gleichgesinnten‘ – eine menschliche Grunddeterminante ist (vgl. Farman 2012: 72). Teilt eine andere Person mit mir den gleichen Raum und wird sie durch das digitale Netzwerk für mich erreichbar und ansprechbar, weil sie noch dazu das gleiche Ziel, nämlich die Partnersuche über Dating-Apps, mit mir teilt, erscheint sie mir weniger fremd und sympathischer. Sie erscheint mir nah und ich fühle mich ermutigt, mit dieser Person nicht nur im virtuellen, sondern auch im realem Raum Kontakt aufzunehmen. Gleichzeitig muss geografische Nähe aber auch nicht unbedingt eine Verbindung zu sozialer/emotionaler Nähe haben. Die Menschenmenge bleibt mir, obwohl sie mir physisch nah ist, vollkommen fremd. So auch Sebastian, bevor ich ihn innerhalb der Dating-App (wieder-)gefunden habe. „[Körperliche Nähe] muss als Nähe auch prinzipiell gar nicht relevant werden; erst wenn benachbarte Körper auf dem Bildschirm auch noch auftauchen [,] sind sie für einander sichtbar, adressierbar und schließlich ,nah‘ – andernfalls sind sie schlicht und einfach unansprechbar, ja unnahbar“ (Liegl/ Stempfhuber 2014: 35). Durch Locative Media in Form der Dating-Apps kann die ­Raumwahrnehmung der physischen Umgebung – da der realen Welt eine virtuelle Ebene hinzugefügt wird, die als Komponente das physisch Existente auf andere Weise erfahrbar macht (Farman 2012: 22, 38) – verändert werden. Dating-Apps ermöglichen den Zugang zu Informationen über die physisch ­reale Umgebung – bspw. zeigen sie „Ansprechgelegenheiten“ (Liegl/Stempfhuber 2014: 33) zu anderen App-Mitgliedern auf – und verbinden die „Nebenwelt des Internets mit der realen Welt“ (Loebel 2013: 158). Virtualität und Realität können daher einmal mehr nicht als Gegensätze, sondern ihre Verbindung als „hybrid spaces“ ­(Farman 2012: 15) bzw. hybrid ecologies – „[which] bridge the physical-­digital divide“ (Crabtree/Rodden 2008: 481) – betrachtet werden. Für die App-­Mitglieder gilt: „Social interaction is enhanced by location awareness, and location awareness is enhanced by social interaction“ (Gordon/de Souza e Silva 2011: 59). Der Körper wird dabei als Achse zwischen digital und real inszeniert, dem digitalen Raum der Dating-Apps durch Location Awareness eine ­Simulation des

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

113

physischen Raums hinzugefügt und mit diesem überlagert. Es findet in Location-based Dating-Apps also nicht nur ein Map-Matching, sondern auch ein Matching von virtuellem und physischem Raum statt. Dies äußert sich zweifach: in Interface-to-Face-Verknüpfungen3 und Face-to-Interface-Verknüpfungen (vgl. Liegl/Stempfhuber 2014: 32). So zeugt die Nutzung der Dating-App und die anschließende Suche nach dem, was medial vermittelt wurde im ,realen‘ Raum, von einer Interface-to-Face-Verknüpfung (vgl. ebd.). In der Dating-App werden Personen partiell präsentiert – beispielsweise innerhalb ihrer angegebenen Charaktereigenschaften, ihrem Profilfoto, ihrer Singularitäten –, die in der geografischen Umgebung als ,Ganzes‘ wahrgenommen werden können. Das Profilfoto, die Interessen und die Charakterbeschreibungen einer Person im digitalen Medium werden dann durch die sensorische Erfassung der Äußerlichkeiten dieser Person ergänzt. Es handelt sich bei dem materiellen Kontakt nicht um ein Treffen mit einem/einer völlig Unbekannten, sondern um eine Begegnung mit einem, wie Licoppe (2015: 6) es formuliert, „pseudonomyous stranger“. Der/Die Fremde ist unter seinem/ihrem Pseudonym, seinen/ihren Profilangaben, Fotos und durch Chatkontakt in der Dating-App bereits bekannt. Der ,reale‘, physische Raum fügt demnach der virtuellen Sphäre Informationen hinzu und lässt gleichzeitig beide miteinander verschmelzen. Dieses Phänomen findet sich auch im obigen Beispiel. Hier lässt sich ebenfalls eine weitere Charakteristik der Dating-App-Nutzung feststellen: Durch die ­Mobilität des Smartphones und damit auch der darauf installierten ­Dating-Applikation ist es potenziell möglich, aus jedem Ort – ob in der Innenstadt, im Wartezimmer oder im Park – einen Raum zum Flirten und Daten zu kreieren (vgl. Blackwell et al. 2015: 1126). Eine weitere Raumüberlagerung findet sich im obigen Beispiel auch in der Überprüfung, ob sich eine sensorisch wahrgenommene Person auch im digitalen Raum wiederfinden lässt. Es handelt sich hierbei um eine Face-to-­ Interface-Verbindung (vgl. Liegl/Stempfhuber 2014: 32), in der das im ,realen‘ Raum Erfasste durch die anschließende Nutzung der Dating-App, ähnlich der Konstruktion einer Augmented Reality,4 ergänzt wird. Dem/Der Applikations-­ NutzerIn werden mittels der medialen Erweiterung Informationen zur gesichteten Person zuteil und er/sie bekommt Kenntnis darüber, inwiefern und auf 3 Interface meint hier die Dating-App als verbindendes Medium, welches die Verknüpfung zu anderen Netzwerkmitgliedern oder Daten ermöglicht und durch seine Struktur und Funktionalität die Nutzungspraxis beeinflusst (vgl. Farman 2012: 62). 4 Unter Augmented Reality wird hier die visuelle Darstellung von computergenerierten Zusatz­ informationen, mittels Einblendungen oder Überlagerungen der fotografisch festgehaltenen Realität, verstanden.

114

Teresa Opper

welche Weise diese Person ansprechbar ist. Die Dating-App identifiziert damit also „Adressierbarkeiten“ und stellt „Ansprechgelegenheiten“ her (ebd.: 33). In meinem Fall bedeutete das, dass Sebastians Freund, der die App Lovoo nicht nutzt, damit vermutlich auch kein Interesse am Kennenlernen neuer Personen oder an der Partnersuche hat. Er ist in Lovoo nicht verfügbar und bleibt für mich daher auch im ,realen‘ Raum unzugänglich und damit unnahbar. Diese Raumüberlagerungen zeigen ganz deutlich, dass die Dating-Apps nicht nur virtuellen Interface-to-Interface-Kontakt ermöglichen, sondern aufgrund der Lokalisierungstechnologien auch einen kommunikativen Wechsel zwischen mediatisierten und physischen Kontakten begünstigen. Kommt es also durch die Dating-App-Kommunikation zu einem Treffen im ,realen‘ Raum, stimulieren die Dating-Apps nicht nur Kollaboration auf digitaler ­Ebene, sondern befähigen ihre Mitglieder auch, diese virtuell entstandene Handlungsebene in den ,realen‘ Raum zu überführen. Führt die physische Wahrnehmung des/der Anderen schließlich zur Kommunikation im digitalen Raum der ­Dating-App, geht zwar die Handlungsinitiative von der physischen Begegnung aus, gleichwohl wird die kollaborative Handlung erst digital arrangiert. Es handelt sich in diesen Fällen um eine gegenseitige Erweiterung der beiden Sphären virtuell und physisch, die sich in einem Medium zusammenführen, ohne dass dabei einem der Räume ein parasitäres Verhalten gegenüber dem Anderen unterstellt werden kann (vgl. ebd.: 31). Nähe ist dann nicht nur relationale Beziehung zwischen zwei NutzerInnen, sondern wird als emotionale/soziale Nähe durch die spezifische Kommunikation innerhalb der Applikation konstruiert (vgl. Abend et al. 2012: 1) und durch die mediale Vermittlung von physischer Nähe stimuliert. Zusammenfassend lässt sich deshalb festhalten, dass Locative Media, wie es Dating-Apps sind, der realen Umgebung eine Bedeutungsebene und ,Vertrautheit‘ hinzufügen und eine Welt, die durch das Zusammenleben von Fremden auf engstem Raum geprägt ist, zu einem Ort für „pseudonymous strangers“ (vgl. Licoppe 2015: 25) transformieren. Es handelt sich um ein Matching von virtuellem und physischem Raum in „hybrid spaces“ (Farman 2012: 15), wodurch die Dating-Apps Kollaboration innerhalb zweier Räume konstruieren. Das muss – wie bereits aufgrund der unterschiedlichen Handlungsziele der Nutzer konstatiert – nicht passieren, kann allerdings durch die Lokalisierungstechnologie begünstigt werden. 3.3 Das Aufeinandertreffen im Paarungswettbewerb Matching findet also nicht nur zwischen Datensätzen zu verschiedenen ­Personen und Gruppen, sondern auch zwischen Raum- und Ortsdaten und

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

115

unterschiedlichen Raumkonzepten statt. Beachtenswert ist aber auch, dass die Dating-App Lovoo ihre Swipe-Funktion als Match-Spiel tituliert. Das Suchen nach Matches mit anderen Personen in der App wird also als Spiel beschrieben und ein Match kann – nach Übersetzung aus dem Englischen – als ­Aufforderung zum Spiel beziehungsweise Aufeinandertreffen in einem Wettbewerb verstanden werden. Dies unterstreichen auch Push-Nachrichten und Hinweise innerhalb der Apps, indem sie ihre NutzerInnen auffordern, im Matching-­Wettbewerb besser zu werden, mehr Leistung zu zeigen: „Steigere deine Popularität mit ein paar Klicks – Werde hunderten weiteren Männern im Volltreffer gezeigt und vergrößere deine Fangemeinde!“, so ein Hinweis in der Dating-App Badoo. Und auch während meiner Nutzung der Dating-Apps ist mir aufgefallen, dass das Nutzen der Swipe- beziehungsweise ,Matchmaker‘-Funktion im Laufe der Zeit immer routinierter und deutlich beschleunigt wurde. Im Sekundentakt ,entsorgte‘ ich ,Herzbuben‘ oder sammelte ­,Joker‘. Nach einiger Zeit achtete ich auch nicht mehr sorgfältig auf die Bilder der anderen NutzerInnen; allein das Wischen und der scheinbar niemals aufgebrauchte Stapel von Personenvorschlägen machte mir Spaß. Die Nutzung der Funktionen dieser App war mir präsenter und wichtiger geworden als die eigentliche Suche nach Flirt- oder – in diesem Zusammenhang besser – ­SpielpartnerInnen. Das eigentliche Ziel wurde ,Gewinnen‘ – und ,Gewinnen‘ bedeutet hier: rein quantitativ Erfolg zu haben, gemessen anhand der Anzahl der Matches und der durchgewischten Profile. Das ,Sammeln von vielen‘, so schien es mir, wurde zum Ziel der Nutzung, und nicht – wie man es eventuell vermuten könnte, betrachtet man den von den Entwicklern suggerierten Zweck der Dating-App – das Finden des/der ,einen Richtigen‘. Dabei entsteht das Gefühl, dass die scheinbar unendliche Auswahl das Ziel vermeintlich nie erreichen lässt, da der/die immer besser passende PartnerIn nur einen Wisch entfernt sein könnte und so die Suche unendlich wird. Der Wunsch nach möglichst vielen Matches basiert auf der Spezifik des Mediums: Bestimmung der eigenen Beliebtheit und Ermittlung des ,Marktwerts‘ (vgl. Hobbs et al. 2016: 8). Dies lässt sich auch auf andere soziale Netzwerke übertragen und wird von Zichermann und Cunningham (2011: 37) als „social networking score“ bezeichnet. Dieser ,Score‘ wird in Netzwerken wie Facebook oder Twitter zwar nicht als erstrebenswerte Errungenschaft deklariert, erhält allerdings durch die Verankerung auf den Profilseiten – in Form von Bekanntgabe der Anzahl an Freunden oder Followern – erhöhte Prominenz. Zwar wird die Anzahl der gesammelten Matches innerhalb der Dating-Apps nicht veröffentlicht, allerdings fungiert sie für das Selbst und innerhalb von Anschlusskommunikationen über die App-Nutzung als Erfolgsmesser. Dieser

116

Teresa Opper

Wettstreit-Charakter wird auch dann deutlich, wenn die Applikation Tinder nach jedem Match vorschlägt, die ,Errungenschaft‘ mit Freunden zu teilen (vgl. Abb. 5.7). Es keimt ein innerer Wettstreit: Wie viele Matches kann man innerhalb ­einer Stunde Tinder-Nutzung sammeln? Dazu kommen Contests – interne, aber eigenständige, kleinere Wettbewerbe mit ,Rankings‘ wie bspw. in Badoo das bereits erwähnte „schönste Nutzerfoto des Tages“ und die A ­ uszeichnungen (Achievements) –, durch die den Dating-Apps ein Sammelcharakter aufgedrückt wird. Die Apps bedienen sich Spieldesignelementen, um die Nutzung der App attraktiver zu machen und die Partnersuchenden zur weiteren S­ uche und längeren Nutzung der App zu animieren. Diese Gamification (vgl. Deterding et al. 2011a) legt den AnwenderInnen nahe, dass drei Matches, Likes oder Unterhaltungen zum einen Kenntnis darüber geben, dass man als Partnersuchende/r wenig Erfolg hat, und zum anderen, dass man unbedingt weiterspielen sollte, da der oder die ,Richtige‘ vielleicht erst unter einem der zukünftigen Matches zu finden ist. Diese „persuasive technology“ (Deterding et al. 2011b: 2426) führt dazu, dass die Dating-Apps von ihren Mitgliedern nicht nur zur Interaktion und Selbstdarstellung, sondern ebenfalls zum Zeitvertreib und Spaß genutzt werden. Sie treten deshalb auch als mobile games auf oder ­können – im Fall der weniger auffälligen Einbindung von Spielmerkmalen in Tinder, in der das ,Durchblättern‘ eines virtuellen Katalogs als spieltypisch empfunden wird – zu emotionaler Zerstreuung, Ablenkung und durch die monotone ­Swipe-Funktion sogar zu Entspannung führen. Es lässt sich zusammenfassen, dass Matching nicht nur im Sinne von P ­ aarung und Übereinstimmung verstanden werden kann, sondern durch die Funktionen der Dating-Apps dieses Matching auf der Ebene eines Spiels (Matchs), eines Wettbewerbs erfolgt und Matching damit zu einem ­multimodalen ­seriellen Narrativ wird.

ABBILDUNG 5.7 Tinder, Screenshot der Mitteilung „It’s a match – Erzähl deinen Freunden davon“, 21.08.2016.

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

4

117

Logout: Fazit

Dating-Apps sind Medien, die Kollaboration initiieren, begleiten, ­delegieren und in kollaborativen Handlungen geformt werden. Durch ihre kollaborativen Potenziale sind die Dating-Apps „Paarungsmaschinen“ (Bömelburg 2015: 61) in mehrfacher Hinsicht: Wenn die Dating-App Tinder im Rahmen ihrer ­Partnervermittlungs-Qualitäten die Nachricht „It’s a Match!“ ausgibt, kann deshalb mehr als nur die übereinstimmende Sympathie beziehungsweise Gleichgesinntheit zwischen zwei Partnersuchenden gemeint sein. „It’s a Match!“ kann aufgrund der Lokalisierungstechnologien auch eine Deckung von zwei Standorten konstatieren oder – durch die Implementation von Spieldesignelementen – zum Wettbewerb und Spiel aufrufen. Dating-Apps sind in der Lage, Entitäten in Gegenüberstellung zu verbinden und auf der Ebene eines (Gesellschafts-)Spiels aus Übereinstimmungen Verbindungen und Verbundenheit zu vermitteln. Matching ist also eine Bedingung der kollaborativen Praxis und selbst kollaboratives Herzstück innerhalb der Dating-Apps. ,Dating‘ kann i­ ndes zwar durch die Applikationen – im Besonderen durch die ­Lokalisierungstechnologien – befördert werden, liegt aber weniger in der technischen als in der persönlichen Hand. Zwar können sich aus medial vermittelter, ­physischer Nähe Face-to-Face-Kontakte und soziale Nähe entwickeln (vgl. Licoppe 2009: 1925), dies vollzieht sich aber weitgehend unabhängig von der Spezifik der Apps. Insofern ist ,App-Dating‘ primär als Prozess des Kennenlernens zu verstehen, „bei dem es darum geht, einen zunächst unbekannten potenziellen Partner auf seine Tauglichkeit für die gewünschte Beziehungsform [...] zu überprüfen“ (Bruschewski 2007: 13). Die untersuchten Dating-Apps sind daher eher ,Matching-Apps‘, da sie in erster Linie – in Kollaboration mit ihren Mitgliedern – Übereinstimmungen konstatieren und nicht offenkundiger- oder gar notwendigerweise zu Treffen führen. Die App-NutzerInnen geben dabei den Applikationen die informationelle Substanz, indem sie sich selbst objektifizieren, in technisch berechenbare Einheiten einteilen und dem ­digitalen Medium schließlich erlauben, mit Hilfe dieser Selbstklassifizierung passende Pendants für sie zu finden. Diese signifikante kollaborative Praktik innerhalb und durch die Apps manifestiert sich in (1.) einem personellen Matching zwischen Partnersuchenden und (2.) Interaktionsgruppen (Tinder Social), in (3.) einem räumlichen Matching von virtueller und physischer Sphäre und (4.) Map-Matching, (5.) auf der Ebene eine Matchs (Spiels). Zusätzlich zu diesen Ausprägungen findet in Dating-Apps (6.) ein Matching von Selbst- und Fremdbild statt, bei dem das von Dritten wahrgenommene und das imaginierte bzw. selbst eingeschätzte

118

Teresa Opper

Persönlichkeitsprofil im Rahmen der Präsentationsmöglichkeiten verknüpft und – in einigen Fällen – in Übereinstimmung gebracht werden. Angesichts dieser multiplen, zum Teil an Algorithmen delegierten Matches sind für die Mitglieder der App-Gemeinschaft die scheinbar selbstbestimmten Präsentations- und Inszenierungsmöglichkeiten der digitalen Abstracts so bedeutungsvoll (vgl. Thielmann 2012). Insgesamt lässt sich konstatieren: Dating-Apps generieren, formen und ­gestalten sich durch die Herstellung topologischer Daten-Paarungen. Die ­Herstellungsleistung topografischer Matches wird an ein anderes M ­ edium (eine Karten-App) delegiert. Ebenso verhält es sich mit der Paarung von ­Gruppen, da in diesem Fall kollaboratives Handeln erst über einen Mittler wie Facebook – der in der Lage ist, mehr als zwei Datenprofile zu matchen – ­hergestellt wird. Die menschliche Zusammenarbeit in Kollektiven (Gruppen-Dates) ist insofern an die Zusammenarbeit von Apps gebunden und das menschliche Kollektiv auf ein App-Kollektiv angewiesen. Hier zeigt sich eine Symmetrie zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, die sich auch in der H ­ eterogenität der anderen Matching-Partner (Personen, ­Gruppen, Räume, Orte, Idealtypen) widerspiegelt. Die Dating-Apps funktionieren in ­soziotechnischer Kollaboration und erreichen mittels ihrer Matching- und Verpartnerungsqualitäten soziale Kollaborative. Die Spezifik der Dating-Apps konstituiert sich summa summarum durch Treffer und nicht durch Treffen. Literatur Abend, Pablo et al. (2012): „Annäherung an eine Medialität der Nähe. Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Medialität der Nähe. Situationen – Praktiken – Diskurse, Bielefeld, 9–25. Aretz, Wera (2015): „Match me if you can. Eine explorative Studie zur Beschreibung der Nutzung von Tinder“, in: Journal of Business and Media Psychology 6(1), 41–51. Badoo: „Häufig gestellte Fragen – FAQ“, https://corp.badoo.com/de/faq/, 25.04.2017. Blackwell, Courtney et al. (2015): „Seing and Being Seen. Co-Situation and Impression Formation Using Grindr, a Location-Aware Gay Dating App“, in: New Media & Society 17(7), 1117–1136. Bömelburg, Helen (2015): „Liebe to go“, in: Stern, 02.01.2015, 61–68. Bruschewski, Michaela (2007): Partnervermittlung im Internet. Soziale und ökonomische Bedeutung von Online-Dating, Saarbrücken.

Zur kollaborativen Spezifik von Dating-Apps

119

Crabtree, Andy/Rodden, Tom (2008): „Hybrid Ecologies. Understanding Cooperative Interactions in Emerging Physical-Digital Environments“, in: Personal and Ubiquitous Computing 12(7), 481–593. Deterding, Sebastian et al. (2011a): „From Game Design Elements to Gamefulness. ­Defining ,Gamification‘“, in: MindTrek’ 11, 9–15. Deterding, Sebastian et al. (2011b): „Gamification. Using Game Design Elements in Non-Gaming Contexts“, in: Proceeding of the 2011 Annual Conference Extended Abstracts on Human Factors in Computing Systems (CHI EA’11), 2425–2428. De Seta, Gabriele/Zhang, Ge (2015): „Stranger Stranger or Lonely Lonely? Young Chinese and Dating Apps Between the Locational, the Mobile and the Social“, in: I. Alev Degim et al. (Hrsg.), Online Courtship. Interpersonal Interactions Across Borders, Amsterdam, 167–183. Farman, Jason (2012): Mobile Interface Theory. Embodied Space and Locative Media, New York, NY. Gläser, Tobias/Schemer-Reinhard, Timo (2015): „You Made Your Point. Achievements als Medien medialer Selbstreflexivität“, in: Thomas Hensel et al. (Hrsg.), „The cake is a lie!“. Polyperspektivische Betrachtungen des Computerspiels am Beispiel von ,Portal‘, Münster, 301–322. Gordon, Eric/de Souza e Silva, Adriana (2011): Net Locality. Why Location Matters in a Networked World, Chichester. Harper, Douglas (2001): „match“, http://www.etymonline.com/index.php?term=match &allowed_in_frame=0, 25.04.2017. Hennion, Antoine/Méadel, Cécile (2013): „In den Laboratorien des Begehrens. Die Arbeit der Werbeleute“, in: Tristan Thielmann/Erhard Schüttpelz (Hrsg.), Akteur-­ Medien-Theorie, Bielefeld, 341–376. Hobbs, Mitchell et al. (2016): „Liquid Love? Dating Apps, Sex, Relationships and the Digital Transformation of Intimacy“, in: Journal of Sociology, 05.09.2016, DOI: 10.1177/1440783316662718, 1–14. Huber, Frank et al. (2008): Unternehmens-Podcasting. Eine empirische Analyse a­ usgewählter Erfolgsfaktoren, Wiesbaden. Illouz, Eva (2006): Gefühle im Kapitalismus, Frankfurt a.M. Licoppe, Christian (2009): „Recognizing Mutual ,Proximity‘ at a Distance. Weaving Together Mobility, Sociality and Technology“, in: Journal of Pragmatics 41(10), 1924–1937. Licoppe, Christian (2015): Seams and Folds, Detours, and Encounters with ‚Pseudonymous Strangers.‘ Mobilities and Urban Encounters in Public Places in the Age of Locative Media, Working Papers Series, 15-SES-05. Licoppe, Christian et al. (2015): „Grindr Casual Hook-Ups as Interactional Achievements“, in: New Media & Society, 10.09.2015, DOI: 10.1177/1461444815589702, 1–19.

120

Teresa Opper

Liegl, Michael/Stempfhuber, Martin (2014): „,Raum am Draht‘. Empirische Beobachtung zur Soziologie der mediatisierten Anmache am Fallbeispiel von Grindr“, in: Kornelia Hahn (Hrsg.), E