Königsberger Kantiana: [Immanuel Kant. Werke. Volksausgabe Bd. 1, hrsg. von Arnold Kowalewski] 9783787340033, 9783787315567

Von dem unabgeschlossenen Projekt einer Volksausgabe der Kantischen Schriften in 5 Bänden, mit dem Arnold Kowalewski von

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Königsberger Kantiana: [Immanuel Kant. Werke. Volksausgabe Bd. 1, hrsg. von Arnold Kowalewski]
 9783787340033, 9783787315567

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Sabina Laetitia Kowalewski Werner Stark (Hg.)

Königsberger Kantiana

KANT -FORSCHUNGEN XII

KANT -FORSCHUNGEN Herausgegeben von Reinhard Brandt und Werner Stark

Band 12

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Königsherger Kantiana [Immanuel Kant. Werke. Volksausgabe, Bd.l, hrsg. von Arnold Kowalewski]

Mit einem Anhang herausgegeben von Sabina Laetitia Kowalewski und Werner Stark

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen ­Ausgabe ­identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche A ­ bweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4002-6 ISBN eBook: 978-3-7873-4003-3

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2000. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Vorbemerkung der Herausgeber

Die vorl iegende Edition in den Kant-Forschungen präsentiert nach über 55 Jahren den ersten und einzig fertiggestellten Band der von Arnold Kowa­ lewski in den 1 940er Jahren konzipierten Kant-Volksausgabe. Im Auftrag der Stadt Königsberg wol lte Kowalewsk i , wie seine Vorrede ausführt, in fünf Bänden einen »Überblick über das Kantische Schaffen erleichtern«. Der wissenschaftlichen Öffentlichkeit war ein solcher Plan und der in den Jahren 1 944-45 erreichte Stand der Real isierung unbekannt: Typoskript, korrigierte D ruckfahnen und weitere Dokumente zur Entstehung der Aus­ gabe blieben bis i n den Sommer 1 998 Tei l des unveröffentl ichten Nach­ lasses. Vermittelt durch den Verlag dieser Ausgabe erwuchs zwischen Heraus­ geberin und Herausgeber bald ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis, so daß der wissenschaftl iche Wert der Arbeit des Königsherger Philosophen Arnold Kowalewski allmählich deutlich werden konnte. - Allein die Tat­ sache, daß diese Leistung nur bedingt durch die damaligen Umstände des Krieges nicht erscheinen konnte, begründet jedoch nicht hinreichend die nunmehr erfolgte Publikation. Vielmehr waren die Beteiligten einhel lig der Auffassung, d aß die Art und Weise, wie Kowalewski sein Ziel verfolgte, und - darin eingeschlossen - die heute überwiegend verschollenen Zeug­ nisse von Immanuel Kants Lehrtätigkeit an der Königsherger Albertina als primäres Movens zu sehen sind, um den zweifelsohne besonderen Aufwand als angemessen zu rechtferti gen. - Wir hoffen, daß der B and auch heute noch seinen Zweck erfüllt, indem er ein Erbteil der Königsherger For­ schung bewahrt, die wesentliche Beiträge zur Sicherung und Ü berlieferung von Kants Werk geleistet hat.

Sabina Laetitia Kowalewski

Werner Stark

Dem Andenken meiner Mutter Elisabeth-Maria Kawalewski und meines einzigen Bruders Guntram Kawalewski

Inhalt

Vorbemerkung der Herausgeber

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V

Königsherger Kantiana Band 1 Vorrede Einführung

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Vorbemerkungen zu den kurzen Niederschriften Kurze Niederschriften

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3 5 13 15

Vorbemerkungen z u den Gesprächen Gespräche ..................... .... ...... . .. . . . ................ .......... .... . . . ... . . . . ...

27 31

Vorbemerkungen zu den ausgewählten Briefen . Aus dem Briefwechsel ........................................................................

85 88

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Vorbemerkungen zu den akademischen Einladungsschriften . . . 137 Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie ( 1 757) ....................................................... 1 42 Nachricht von der Einrichtung (1 765) ................................................ 1 50 Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus ( 1 759) . . . . . . . . . . . . 1 58 . ...... .. .

Vorbemerkungen zum Geographiekolleg ........................................... Aus den Vorlesungen über physische Geographie [Vigilantius] ( 1 793) ........................................................................ [Dohna] ( 1 792) ...............................................................................

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1 65 1 67 1 67 171

Vorbemerkungen zum Anthropologiekolleg ....................................... 1 75 Anthropologiekolleg vom Winter 1 79 1 /92 ......................................... 1 83 Vorbemerkungen zum Logikkolleg ..................................................... 455 Aus den Vorlesungen über Logik [Grünheyd] .................................... 456 Vorbemerkungen zum Metaphysikkolleg ........................................... 463 Aus den Vorlesungen über Metaphysik ( 1 793) ................................... 464

VIII

Anhang

Zu dieser Ausgabe Inhalt der Anthropologie-Matuszewski Bibliographie der Schriften von Arnold Kawalewski Personenverzeichnis

483 495 497 .. . . . . . . . . . . . 503

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Königsherger Kantiana

[Immanuel Kant. Werke. Volksausgabe, Bd.l, hrsg. von Arnold Kowalewski]

Vorrede

Die vorliegende Ausgabe der Werke Immanuel Kants sucht eine mögl ichst vielseitige Fühlung mit der Gedankenwelt unseres deutschen Denkerfürsten zu vermitteln. Darum sind manche Stücke aufgenommen, die in den bis­ herigen Ausgaben fehlen oder nur nebenbei gedruckt worden sind. Durchweg ist die heutige Rechtschreibung und Zeichensetzung befolgt. Auch veraltete Wortformen sind restlos beseitigt. Die Anordnung zeigt uns den Philosophen zuerst in kurzen Niederschriften, die manche interessante Keime zu anderweitigen größeren Ausführungen bergen. Dann folgt eine Sammlung mündlicher Ä ußerungen aus Gesprächen, die auch den Menschen Kant in charakteristischen Zügen vernehmlich machen. D iese Sammlung mag einstwei len die für den Schlußband vorbehaltene umfassende Charakteristik Kants und seiner Umwelt ersetzen. D ie Auswahl aus den Briefen bietet Urkunden, die gerade für das Ver­ ständnis wichtiger Philosopheme, aber auch der Persönl ichkeit des Philo­ sophen selbst wertvoll sein dürften. Hat doch schon Hans Vaihinger beken­ nen müssen, daß »man der ganzen Kritik der reinen Vernunft wie einem Rätsel gegenüber stehen würde« , wenn man nicht den Kantischen Brief­ wechsel hätte. Der Schlußteil des ersten Bandes präsentiert den lehrenden Kant mit sei­ nen akademischen Einladungsschriften, die das Lehrprogramm formulieren, und mit Nachschriften aus seinen berühmten B i ldungskol legs über physi­ sche Geographie und Anthropol ogie, sowie aus den beiden Hauptkollegs über Logik und Metaphysik. So finden die Deutschen der Gegenwart mehrfache Gelegenheit noch­ mals bei Kant Vorlesungen zu hören. Sie mögen sich vor allem seinen wohlweisen Warnspruch merken, daß man im ersten Semester noch nicht Phi losoph werden kann. Daß gerade das Anthropologie-Kolleg des besten Semesters unverkürzt geboten werden kann, ist eine recht glückliche Fü­ gung. Das Menschenproblem steht heutzutage allgemein im Mittelpunkt der Diskussion. Wenn Kant auch mehr in »pragmatischer Hinsicht« , wie er sich ausdrückt, das Ganze behandelt, um die Kunst der Menschenbehandlung zu fördern, so werden doch manche grundlegende Gedanken mitgeteilt, die ernsteste wissenschaftliche Beachtung verdienen. Der zweite Band enthält charakteristische Werkproben der vorkritischen Zeit, insbesondere vollständig Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen , Versuch über die Krankheiten des Kopfes sowie Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Daran schl ie-

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Vorrede

ßen sich kleinere Arbeiten der Meisterj ahre, die als Zeitschriftenaufsätze für ein weiteres Publikum bestimmt waren, »Idee zu einer allgemeinen Ge­ schichte in weltbürgerl icher Absicht« , »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung«, »Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernac hdruc ks« , »Mut­ maßlicher Anfang der Menschengeschichte« , »Was heißt sich im Denken orientieren?« , »Von einem neuerdi ngs erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie« , »Verkündigung des nahen Abschl ußes eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie«, » Ü ber ein vermeintes Menschenrecht aus Menschenl iebe zu lügen « , »Das Ende al ler D i nge« , »Über das Miß­ lingen aller Versuche in der Theodicee«. Die als Zeitschriftenaufsatz begon­ nene Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft paßt in den gleichen Band, ebenso der zeitlich nahestehende Entwurf Zum ewigen Frieden sowie der Streit der Fakultäten . Der dritte Band ist bestimmt für die Prolegomena sowie die Kritik der reinen Vernunft und Proben aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft. Den v ierten Band füllt der Rest der großen Systemwerke Grundlegung zur Metaphysik der Sitten , Kritik der praktischen Vernunft, Metaphysik der Sitten, Kritik der Urteilskraft. Der fünfte Band ist als Registerband gedacht, in dem die bereits er­ wähnte biographische Charakteristik dem eigentlichen Register voran­ gestellt wird. D iese Anordnung wird hoffentlich den Ü berblick über das Kantische Schaffen erleichtern. Es ist mir eine angenehme Pflicht, dem Herrn Oberbürgermeister Dr. W i l l , d e r d e n Auftrag zu dieser Kant-Ausgabe ertei lte u n d mit hochherziger Großzügigkeit alles aufbot, um die Ausführung inmitten des gewaltigen deutschen Schicksalsringens in Gang zu setzen, ehrerbietigsten Dank zu sagen. Desgleichen Herrn Konsul Hans Jonas für das aufopfernde Wohl­ wollen bei der Überwindung der schwersten Hindernisse, die sich der Drucklegung entgegenstellten, der Königsherger Stadtbibl iothek, die mir j ahrelang ihre stattliche Kantliteratur - namentlich das wertvolle Anthropo­ logie-Heft - bereitwillig auslieh, insbesondere aber dem Herrn Direktor der Staats- und Universitätsbibliothek - Prof. Dr. Carl Diesch - der mir i n liebenswürdigster Weise a u s seinen reichen Handschriftenschätzen nicht nur die gegenwärtig benötigten Stücke bereitstel lte, sondern auch eine bisher vermißte kostbare Nachschrift mit Mühe hervorsuchen ließ. Königsberg (Pr) 3 1 . Mai 1 944

Arnold Kawalewski

Einführung

Unsere geistesgeschichtl iche Lage scheint für eine Erneuerung des Kant­ studiums wenig günstig zu sein, und 1 50 Jahre bringen doch in der Phi losophie und in den Einzelwissenschaften gewaltige Fortschritte und Problemverschiebungen aller Art, die ein entsprechendes Aufgebot passen­ der Methoden erfordern. Dürfen wir wohl dem Kritizismus zutrauen, daß er sein Rüstzeug demgemäß umbilden kann? Merkwürdi g war, daß zum Tei l noch bei Lebzeiten Kants spekulative Systemschöpfer auftraten, die den Kritizismus j ahrzehntelang aus dem allge­ meinen Bewußtsei n fast ganz verdrängten. Am längsten hat die Vorherr­ schaft Hegels gedauert, der wohl der kühnste deutsche spekul ative Denker war und unbekümmert um Kants Verbot eines transzendenten Gebrauchs unserer Erkenntnisformen mit seiner dialektischen Methode die Schöpfungs­ stufen des Weltgeistes darstellte. Sogar die Kant-Universität hat sich v iele Jahre hindurch nur um diesen großen Panlogisten gekümmert, ohne eine besondere Vorlesung über unseren Vernunftkriti ker abhalten zu lassen. Aber auch diesem vielbewunderten Überwinder des Kritizismus war schließ­ lich eine begrenzte Regierungszeit beschieden. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hieß es wieder »zurück zu Kant ! « Seitdem haben in al len deutschen Hochschulen Kantforscher sich ans Werk gemacht. Vor 48 Jahren fanden sie in den Kantstudien ein l iterarisches Organ und vor 40 Jahren in der »Kantgesellschaft« ihre soziologische Gestalt. Besonders erfreulich war, daß nicht nur Fachphi losophen, sondern auch philosophisch interessierte Vertreter al ler Einzelwissenschaften sich um das Banner des Kritizismus scharten. Wie ist diese Unzerstörbarkeit des Interesses an der Kantischen Phi lo­ sophie zu verstehen? Der große Meister hat uns selbst das Geheimnis verraten. Wie sagt er doch feierlich in den Prolegomenen? »Mathematik, Naturwissenschaft, Gesetze, Künste, selbst Moral usw. fül len die Seele noch nicht gänzlich aus. Es bleibt immer noch ein Raum in ihr übri g, der für die bloße, reine und spekulative Vernunft abgestochen ist, und dessen Leere uns zwingt, in Fratzen oder Tändel werk oder auch Schwärmerei, dem Scheine nach, Beschäftigung und Unterhaltung im Grunde aber nur Zer­ streuung zu suchen, um den beschwerlichen Ruf der Vernunft zu über­ täuben, die ihrer Bestimmung gemäß etwas verlangt, was sie für sich selbst befriedige und nicht bloß zum Behuf anderer Absichten oder zum Interesse der Neigungen in Geschäftigkeit versetze. Daher hat eine Betrachtung, die sich bloß mit d iesem Umfange der für sich selbst bestehenden Vernunft

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Einführung

beschäftigt, darum, weil eben in demselben alle anderen Kenntn isse, sogar Zwecke zusammenstoßen und in ein Ganzes sich vereinigen müssen, wie ich mit Grund vermute, für jedermann, der es nur versucht hat seine Begriffe so zu erweitern, einen großen Reiz, und ich darf wohl sagen einen größeren als jedes andere theoretische Wissen, welches man gegen j enes nicht leichtlieh eintauschen würde.« Ja, es gibt eine Vernunftsel igkeit, die unend lich erhaben ist über alle Wechselfälle i n den Niederungen der sinnl ichen Erscheinungswelt. Sie wohnt in der von Kant entdeckten Hochburg des Apriori , ei nes über jeg­ liche Erfahrung emporstrebenden Wissens. Sie erinnert an den Zustand des Aristotelischen Gottes , dessen Seligkeit im Denken des eigenen Denkens besteht. Man kann die von Kant angenommene Manni gfaltigkeit der An­ schauungsformen, Schemata, Kategorien und Ideen entweder vereinfachen oder durch Angliederung weiterer Funktionen steigern. Beide Möglich­ keiten sind versucht worden. Schopenhauer z. B. wollte mit drei apriorischen Formen auskommen: Raum, Zeit und Kausalität. Er meinte sogar, die Kausal ität intuitiv fassen zu dürfen, so daß der Kantische Dualismus von Anschauungsformen und Kategorien (Verstandesbegriffen) fortfällt. Wilhelm Schuppe g laubte, das kategoriale Denken letzthin auf ein Identifizieren und ein Kausifizieren zurückführen zu können. Tatsächlich erweist sich das Identifizieren nach neueren Experimenten mit Geistes­ kranken als die unzerstörbarste Funktion des menschl ichen Verstandes. Selbst in Fällen, wo eine sprachliche Mitteilung eines besonderen Auftrags, z. B. Sortieren farbiger Papiere, an die Kranken ausgeschlossen ist, vermag man doch durch geeignete Handführung zu erreichen, daß die eingeleitete Arbeit sinnvoll fortgesetzt und zu Ende gebracht wird. Solch eine Leistung ist nur möglich, unter Voraussetzung des richtigen ldentifizierens. Am geistvoll sten war Günther Thieles Übersetzung der formenreichen Logik Hegels ins Transzendentale, d. h. in die Kantische Aprioritätssprache. Dieser ausgezeichnete Denker hat ein halbes akademisches Lebensalter hindurch an der Königsherger Universität gewirkt. Er ließ vor dem geistigen Auge von Stufe zu Stufe die jewei ls benötigten Erkenntnisformen ihren Arbeitseinsatz vollziehen. Er konnte sich zugleich auf eigene mathe­ matische Forschungserlebnisse berufen. Er entdeckte in der intellektuellen Anschauung den Grundbegriff des Kritizismus. Soviel ist klar, daß das seit Kants Lebzeiten gewaltig erweiterte Reich der mathematischen Forschungszweige zugleich die natürliche Gefolgschaft des Kritizismus verstärkt hat. Und welche Hi lfsvölker rekrutieren sich da, aus der ständig wachsenden technischen Anwendungen dieser exaktwissen­ schaftlichen Leibgarde? Alle Wunder der Technik, die zutiefst aus der mathematischen Intelligenz entspringen, sind machtvolle Zeugen von der

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Lebenswahrheit der Kantischen Aprioritätslehre. Sie bestätigen durchaus die Prophezeiung des Vernunftkritikers, daß j ene »große und bewährte Erkenntnis eine unbegrenzte Ausbreitung auf die Zukunft verspricht.« Zwei Voraussagen Kants haben sich freilich als irrig erwiesen: Es sollte keine wissenschaftliche Psychologie möglich sei n, weil das Seelenleben weder eine mathematische noch eine experimentale Behandlung zulasse. Fast ebenso schlechte Aussichten wurden der Chemie eröffnet. Sie könne nichts mehr als systematische Kunst oder Experimentallehre, niemals aber eigentliche Wissenschaft werden. Ihre Prinzipien seien bloß empirisch und widerstreben einer Darstellung a priori in der Anschauung. Eine An­ wendung der Mathematik erscheine ausgeschlossen. Mithin, » l assen sich die Grundsätze chemischer Erscheinungen ihrer Mögl ichkeit nach nicht im mindesten begreifl ich machen«. Die glänzende Ausbildung einer Experimentalpsychologie, die in erheb­ lichem Umfange mathematische Hilfsmittel ins Spiel setzt, über die elemen­ taren Felder der Sinnesempfindungen und Gedächtnisleistungen rasch zu Gefühlen, Wol lungen und Gedanken Forschungswege bahnt, sogar in die Tiefgründe des Unbewußten eindringt, Bewußtseinsverläufe sowie typische Gestalten und Charaktere studiert, hat d as Gegenteil der Kantischen Prognose bewiesen. Die Angliederung tierpsychologischer, kinderpsycholo­ gischer, gruppenpsychologischer Untersuchungen fördert nicht nur das theo­ retische Verständnis des Ganzen, sondern erschl ießt zugleich gemein­ nützige Anwendungsformen in den verschiedensten Lebenskreisen. Als bedeutsamste Art angewandter Psychologie, in der die mathematische Präzisierung des methodischen Apparats am feinsten gedieh, darf wohl die Psychotechnik gelten. Diese wird gewiß einmal eine ebenbürtige Schwester der stolzen , so machtvoll waltenden, industriel len Technik sein, die nach dem bisherigen Sprachgebrauch keine andere Art neben sich zu dulden scheint und schlechthin Technik heißt. Der Zweifel an der Wissenschaftl ichkeit der Chemie wurde gleichfalls durch die tatsächl iche Entwicklung widerlegt. Gerade das ausgiebige Aufgebot subtilster mathematischer Methoden und kühnster Experimente hat die trennenden Mauern zwischen Physik und Chemie mehr oder weni­ ger n iedergerissen. Es entstand eine physikalische Chemie. Das äußerste Forschungsfeld, das man mit den Polarbezirken des Erdballs vergleichen könnte, sucht die moderne Atomphysik mit titanischen Zertrümmerungs­ akten zu ergründen. Daß ihr Atommodell sich nach astronomischem Muster gestaltet hat, ist ein Zeichen von wundersamer Sti leinheit. Es paßt voll­ kommen zu Kants ausgesprochener Neigung, alle phys ikalischen Erschei­ nungen im größtmöglichen Naturrahmen zu betrachten, kosmische Physik im eigentlichen Sinne zu treiben. Wenn in Grenzfäl len die kausale Analyse mißlingt und zu einer Unbe-

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stimmtheitsrelation führt, so bedeutet das nicht etwa die Ungültigkeit des Kausalitätsprinzips und damit eine Einschränkung der Aprioritätslehre. Es wiederholt sich nur die gleiche Schwierigkeit, die auf psychologischem Gebiet die genaue Beobachtung mehrerer gleichzeitiger Faktoren ver­ hindert. Eine Spaltung der Aufmerksamkeit ist i llusorisch. Jede besonderer Fixation schafft unvermeidlich eine neue Lage. Endlich dürfte auch die B iologie in weitgreifendem Maße mit Experi ­ mentalmethoden unter Verwendung mathematischer Formeln, die das Kantische Muster einer vollwertigen Naturwissenschaft markieren, auf­ gerückt sein. Die Bemühungen um eine Analyse der eigentlichen Lebensvorgänge bei Pfl anzen und Tieren erschöpften sich ehemals in vereinzelten tastenden Vorstößen. Diese litten vor al lem unter der Dürftigkeit chemischer und physikalischer Beihi lfen. Auch bevorzugte man besonders verwickelte Abnormitäten, deren Beschreibung schon weithin Interesse erregte, die aber gerade am wenigsten erklärbar waren. Umso eifriger wurden dann Vermu­ tungen gesponnen, die wieder zustimmende oder ablehnende Fortsetzungen in den Zeitschriften fanden. Hier hat die Neuzeit Wandel geschaffen durch exakte Versuchsanordnungen, die nicht nur über die bestehenden organi­ schen Gebilde Aufschluß geben, sondern auch durch planmäßige Züchtung neue Arten schaffen. Die ständig wachsende Fülle solcher Neuschöpfungen, die nach den Vererbungsgesetzen genau regul ierbar sind, müßte den Vernunftkritiker in Erstaunen gesetzt haben, wenn er dergleichen erlebt hätte. Er würde gewiß sein vorsichtiges Urteil über die Macht des i ntel­ ligenten Wil lens in dem gewaltigen Reich der lebenden Substanzen rev idiert haben. Er brauchte aber daraus keine Beei nträchtigung sondern nur eine Bestärkung seiner Aprioritätsweisheit zu entnehmen. Nur in einem Punkt läßt sich die theoretische Kernlehre töd lich treffen , wenn m a n der modernen Biologisierung alle menschlichen Erkenntnis­ formen preisgibt. Stürzt das Dogma von der Konstanz der Erkenntnis­ formen, so müssen dieselben in d ie Entwicklungsphasen des organischen Lebens eingefügt werden. Dann nehmen sie Teil an al len Wandlungen und können nur eine befristete Geltung haben. Wirklich? Hier heißt es sch arf aufpassen, damit wir nicht einen groben Denkfehler begehen, vor dem Kant so vorsorg l ich warnte. Der schied bei der Prüfung der Erkenntn isformen stets die Tatsachenfrage (quaestio facti) von der Rechtsfrage (quaestio juris) . Der Tatsachenfrage ist Genüge geleistet, wenn uns die Herkunft ein­ leuchtet. Die Rechtsfrage erfordert den Nachweis des Geltungsanspruchs. Bei der Tatsachenfrage wird erwogen, ob räuml iche, zeitl iche und kate­ goriale Bestimmungen als Akte tatsächlich vollziehbar sind. H ier könnte eine befristete Vo l lziehbarkeit ohne weiteres zugestanden werden. Von ei ner bestimmten Entwicklungsphase ab, kann ein bewußtseinsfähiger

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Organismus sich räumlich und zeitlich orientieren, sowie ursächl iche oder sonstige kategoriale Beziehungen in Urteilen ausdrücken. Der Tod bedeutet einen natürlichen Schlußpunkt. Es wäre aber eine vollkommene Absurdität im Ernste zu denken, daß parallel mit diesem begrenzten Erlebnisrahmen, nun auch der von dem erkennenden Subjekt gemeinte Urteilsinhalt an Geltungsschranken gebunden wäre, so daß vor der Geburt eine räuml iche und zeitliche Ordnung und eine kategoriale Gesetzmäßigkeit ebenso wenig gelten sollten wie nach dem Tode. Darin zeigt sich doch selbst erlebnis­ mäßig die Erhabenheit der vollwertigen Erkenntnisi nhalte, daß das Licht i hres Geltungsanpruchs über die Grenzpunkte von Geburt und Tod hinaus­ strahlt, also von diesen sinnfälligen Schranken unbetroffen bleibt. Bei der von Kant entdeckten aristokratischen Klasse der Erkenntnisse a priori , die einen Notwendigkeitscharakter haben, kommt eine Befristung des Geltungsanspruchs durch die erfahrungsmäßigen Zeitschranken um so weniger in Betracht, als d iese Erkenntnisse überhaupt nicht aus der Erfah­ rung stammen, sondern dorther nur die Rohstoffe für ihre i ntuitive und kategoriale Ausgestaltung empfangen. Die verwickelte Konstruktionskunst, welche die biologisierenden Kant­ kritiker aufbieten, um die Entstehung von Auffassungsorganen für eine raumzeitliche und kategoriale Ordnung der Umwelt zu erklären, setzt allemal schon eine solche Ordnung versteckter Weise voraus. Sonst wäre j a jeder einzelne Konstruktionsakt, der aus einem dumpfen Brüten über einen noch ganz ungeordneten, chaotischen, eigentl ich rein gefühlsartigen, unbe­ schreibbaren Urzustand emporstrebt, ganz und gar unmöglich. Oder die Kantkritiker kleiden Ihre Konstruktion in fikti ves Gewand. In solcher Gewandung l äßt sich die Konstruktion sehr wohl für eine Grup­ pierung und Aufstufung der Erkenntnisfunktionen benutzen. Es ergibt sich eine lehrreiche Ü berschau. Daß aber das Ganze, die Entstehung der vor­ ausgesetzten verschiedenen Geltungsbereiche selbst begreiflich machen könnte, ist kaum zu erwarten. So dürfte denn die Kantische Aprioritäts­ macht auch gegenüber dem härtesten Ansturm des Biologismus siegreich standhalten. Größere Schwierigkeiten scheinen aus dem ethischen Systemgl ied zu erwachsen, das die Kritik der praktischen Vernunft darbietet. Wohl glaubt jeder über den Kategorischen Imperativ Bescheid zu wissen, und dieses Lehrstück erfreut s ich noch heute der größten Vo lkstüml ichkeit. Man hat auch nach Kantischer Anweisung häufig Gebrauch davon gemacht, um die Pfl ichtgemäßheit oder Pflichtwidrigkeit einer bestimmten Handlungsweise zu prüfen. Aber es haftet dem ganzen eine gewiße Kälte an, die nicht recht zu der warmherzigen Art unserer bestgemeinten Handlungen paßt. Die Zurück­ drängung aller Gefühle bis auf das einzige Gefühl der Achtung vor dem

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Sittengesetz selbst mutet fast wie ein Gewaltakt gegen das Gem üt an. Hierin zeigt s ich aber gerade die Zügelführung der reinen Vernunft, die auch als praktische Vernunft ihre Reinheit wahren möchte. Die Reinheit verbürgt einzig und allein einen wirksamen Schutz vor Schwankungen, welche die eigentl iche Substanz des sittlichen Menschen, sei nen Charakter bedrohen. Dem modernen Geschmack gefällt v iel leicht eine gewiße Anpassungs­ fähigkeit an veränderte Verhältnisse, die aus der tiefergreifenden Umwer­ tung aller altbewährten Tugend entspringt. Solch wendige Art galt in alten Zeiten als Gesinnungslumperei. Dieser Zwiespalt der Wertschätzung läßt sich j edoch leicht aufkl ären. Er beruht auf einer Vermischung ei nes ästhe­ tischen und eines ethischen Urteils. Die Anpassungsfähigkeit mit ihren wendigen und geschmeidigen Praktiken kann nicht nur auf der Schaubühne sondern auch auf dem Markt des täglichen Lebens Triumphe feiern. Der in­ stinktive Anreiz zur Nachahmung, den der Beschauer oder Hörer empfängt, sollte eigentlich nur die ästhetische Einfühlung unter Tage anbahnen. Wenn eine wirkliche Nachahmung herauskommt, die ernst genommen sein w i l l , s o handelt e s sich u m eine Fehlreaktion. Kant sorgte für die Ausschl ießung emotionaler Störenfriede. Er miß­ traute nicht ganz mit Unrecht der Leitkraft stark auflodernder Affekte, die nicht nur rasch verglimmen, sondern auch Mattigkeit hinterlassen und uns so für vernünftige, sittliche Arbeit untauglich machen. Andererseits muß er wieder zugeben: »Es ist niemals ohne den Enthusiasmus etwas Großes in der Welt ausgerichtet worden.« Den echten idealistischen Schwung, der keineswegs verwerflich ist, er­ wartet der Königsherger Phi losoph von den Gefühlen, die durch Ideen ausgelöst werden. Aber diese Auslösung soll eben aus dem Innern des Be­ geisterten selbst erfol gen und nicht etwa von außen an ihn herangetragen werden. Wir werden solche Scheu vor sogenannter Stimmungsmache nicht mißdeuten. Sie entspringt bei Kant aus der Furcht, die Selbstherrlichkeit der begeisterten Person irgendwie anzutasten. Er hat offenbar nur voll kräftige Träger des Ethos im Auge, d ie als Glieder ei nes Reichs der Sitten figu­ rieren. So erhält der individualistische Ansatz der kritizistischen Ethik eine sozial istische Ergänzung »Wir sind zwar gesetzgebende Glieder eines durch Freiheit möglichen durch die praktische Vernunft uns zur Achtung vorge­ stellten Reichs der Sitten ; aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt derselben.« So lautet die kurze ethische Verfassungsurkunde in der Kritik der praktischen Vernunft. Zwei Grundhal tungen sollen harmo­ nisch zusammenfließen, die gewöhnl ich Gegensätze darstellen: Freiheit und Untertänigkeit. Der Einwand, daß doch in d iesem Reich der Sitten Ungleichheiten bestehen, die zu einem Mißbrauch der gleichen Rechte verführen können

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und entsprechende Einschränkungen seitens einer obersten Instanz benöti­ gen, würde hingegen nichts verschlagen. Der Vernunftkritiker kann er­ widern, daß Nachahmungen empirischer Verhältnisse, die natürlich regu­ lierbar sind, in der idealen Sphäre fortfallen. Wir befinden uns in einem Reich, das genau so unantastbar ist, wie die Aprioritätsmacht, die über allen Wissenschaften thront. Deswegen kommen auch etwaige Umwertungen , mit denen sich Moralisten und Immoralisten plagen, gar nicht in Frage. Die Kantische Vernunftmoral kennt keinen SystemwechseL Es ist verkehrt zu verlangen, daß Kant sei ne Eth isierung mehr an die besonderen Lebensbedürfnisse anpassen sollte, um einen starren Schema­ tismus zu vermeiden. Der Anschluß an die verschiedenen Lagen ergibt sich ja schon aus den jeweils zur Prüfung gestellten Fällen. Wie einzelne pflicht­ mäßige Handlungen vollzogen werden, bleibt doch in erhebl ichem Um­ fange dem freien Ermessen der Täter überlassen. Jeder kann seine persön­ liche Note hineinlegen. Al lerd ings wäre hierbei Selbstbespiegelung oder Streberei zu vermeiden. Die grundsätzlichen Formeln, wie sie der kate­ gorische Imperativ anregt, dürfen nicht in Stereotypie ausarten. Anderer­ seits ist zu beachten, daß Kant eine kleinl iche Ethis ierung verwi rft. Wer »sich alle seine Schritte und Tritte mit Pfl ichten als mit Fußangeln be­ streut«, gilt ihm als »phantastisch-tugendhaft« . In der Behandlung der religiösen Probleme beobachtet Kant den gleichen Organisationssti l wie bisher. Er grenzt eine Vernunftreligion ab, die über alle Unstimmigkeiten in den hi storischen Kirchen , die dem Wandel unter-· liegen, hinausragt D arum kann er für sämtl iche Gl aubensarti kel dieser Vernunftreligion eine Unveränderlichkeit statuieren. Diese Glaubensartikel entspringen aus ernstester s ittlicher Selbstbes innung als Postul ate der praktischen Vernunft. Sie sind ebenso rein von spitzfindigen dogmatischen Anmaßungen, wie von unklaren mystischen Schwärmereien. Darin besteht eine wahrhaft kopernikanische Tat Kants , daß er das Verhältnis von Moral und Religion umkehrt. Endlich zeigt s ich auch im ästhetischen Problemfelde, das Kant mit einem dürftigen Aufgebot von Kunsterlebnissen zu durchdenken unter­ nahm, daß die als formalistisch gescholtene Auszeichnung der mathema­ tischen Züge am Schönen und Erhabenen gerade eine erheb liche Konstanz der ästhetischen Werte gewährleistet. Die mathematischen Züge eignen sich am besten zur Anregung eines freien Spiels der Erkenntniskräfte, in dem nach Kant der Kunstgenuß zutiefst bestehen sol l . Im übrigen denkt Kant durchaus nicht daran, das künstlerische Schaffen durch irgendwelche phi losophische Vorschriften einzuschränken. Er betont vielmehr die freie Schöpferkraft des Genies, das sich an keine Regeln zu kehren braucht, sondern selbst Muster aufstellt.

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So durchzieht alle Gebiete des phi losophischen Denkens der gleiche Geist apriorischer Souveränität, die den prägnantesten Ausdruck gefunden hat in der Formulierung des eigentlichen Philosophenideals also ei nes Gesetzgebers der Vernunft. Alle d iese hohen Weisheiten, zu denen sich der Königsberger Denker aufschwingt, beanspruchen aber nicht irgendwelche spekulativen Bauten zu unternehmen. Sie d ienen vielmehr als lenkende und formende Kräfte der Erfahrungswelt Zwei Ideen treten mit besonderer Stärke und Klarheit hervor, die durchaus dem deutschen Kulturwillen entsprechen, Arbeit und Kampf.

Vorbemerkungen zu den kurzen Niederschriften

Die nachstehenden kurzen Niederschriften entstammen den Losen Blättern aus Kants Nachlass, die der verdienstvolle Kantforscher Rudolf Reicke in der A ltpreussischen Monatsschrift Bd. 24 ff. sowie in d rei Sonderheften, Königsberg 1 889, 95, 98 mitgeteilt und nach Mögl ichkeit datiert und ge­ deutet hat. Für die Datierung boten manchmal die vorherigen Beschriftungen der Blätter gute Anhaltspunkte. Kant pflegte nämlich leere Seiten der ei nge­ l aufenen Briefe mit Vorliebe zu Aufzeichnungen zu benu tzen. Oft sind die B lätter streifenweise aus Briefen herausgeschnitten. Es kommen sogar mehrere aufeinander folgende Zusätze bei den Niederschriften vor, die ganz verschiedenen Zwecken d ienen. Kant besaß eine große Kunst dari n , jede freie Stelle auf einem Blatt auszunutzen. Im allgemeinen sollten die B lätter entweder Entwürfe oder Vorarbeiten zu Briefen, Aufsätzen, Büchern aufbewahren oder sie wurden als erläuternde Einlagen in die Handbücher genommen, nach denen der Professor sei ne Vorlesungen hielt. Auch ge­ schäftliche Notizen sind eingemengt, wie z. B. Hörerlisten mit Zahlu ngs­ vermerken. Der damalige Hochschullehrer besorgte die Abrechnung über sein Kol leghonorar selbst. Kant war i n d iesem Punkt sogar sehr genau. Er mahnte säumige Zahler. Am seltsamsten nimmt sich unter den »losen Blät­ tern« eine alte Perückenrechnung aus , die der Philosoph nachweislich 1 5 Jahre lang aufgehoben hat, u m dann die freien Flächen mit allerhand hohen Gedanken zu besiedeln. Die quittierte Perückenrechnung hat folgenden Wortlaut: » Hochedlen Gebohrenen und Hochzuehrenden Herren Profeser Kandt Habe die Ehre ein Halb Jahr Derro Parucke zu akmodiren von 1 December 1 769 biß d. 1 Juni 1 770: davohr 6 fl. richtig erhalten Voueber ich Gehorsamst quetire M. L. Riebendahlin.« Dasselbe Perückenrechnungsblatt enthält auch eine handschriftlich Bemer­ kung, aus der hervorgeht, daß Kant sich damals an der Braunschweiger Waisenhaus-Lotterie bete i l igt hat. Es war, wie Rudolf Reicke erwähnt, dieselbe Lotterie, bei der auch Lessing öfter einen Gewinn erhoffte. D iese Bemerkung Kants ist nur lakonisch: »Zur Braunschweigschen 33sten Waysenhauslotterie Sechste Classe für ein viertel Loos

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Vorbemerkungen

No. 23488, Mit der devise den Schaden zu ersetzen 1 5847, 1 5847, 1 5847.« Diese Bemerkung Kants wußte der ausgezeichnete Forscher sehr geschickt mit Hi lfe des Braunschweiger Stadtarchivars Prof. Dr. Ludwig Hänselmann zur Feststel lung des Ziehungsterm ins zu benutzen. Das 1 00. Stück des Braunsch weiger Anz. vom 8. 7. 1 787 erbrachte unter dem Titel »Lotterie­ sachen« die urkundliche Beglaubigung für den Ziehungstag. »Sonnabend, den 29. Dec. werden die Gewinnloose zur 6ten Klasse der hiesigen 33sten Waisenhauslotterie, auf dem gewöhnlichen Lotteriesaale im Neuenhofe gewickelt, gemischt und in die Maschine gethan, und darauf die Ziehung der vorbenannten Klasse den 3 1 sten desselb. vorgenommen. Denenjenigen, die Belieben tragen dieser öffentl ichen Handlung mit beizu­ wohnen, wird, in so weit es der Raum leidet, der Zutritt verstatteL Braun­ schweig, den 20ten December 1 787.« Das Perückenrechnungsbl att enthält 8 Aufsätze zur Erörterung des »Ehrenpunkts«, der auch auf anderen Bl ättern berührt wird. Eine Probe davon ist in die nachstehende Sammlung aufgenommen. Der Philosoph plante damals eine besondere Abhandlung »über den Ehrenpunkt«. Das ist aus einem kurzen Brief Johann Erich Siesters zu entnehmen, der sich auch sonst der Mitarbeit des Königsherger Denkers an seiner Berliner Monats­ schrift erfreuen durfte. >>Sie waren so gütig , vortrefflicher Mann, mir vor einiger Zeit ei nen Aufsatz über die Moral zu versprechen. Auch denke ich, war einst von einer Abhandlung über den Ehrenpunkt die Rede. Allein, ich wage, im geringsten nicht Sie zu mahnen. Fahren sie nur fort, mir und der Monatsschrift gewogen zu bleiben. Ich w i l l gern i n Geduld warten. B iester. Berlin, den 1 8. Dezember 1 792«. Die kurzen N iederschriften geben sich durchweg trotz peinl icher Genauigkeit so faßlich und klar, daß sie kaum einer besonderen Erläuterung bedürftig erscheinen. Ein breiterer Raum ist von ethischen, rechtsphilo­ sophischen und politischen Gedanken ausgefül lt. Aber auch manche er­ kenntnistheoretische Grundeinsicht kommt zur Geltung. Die Anfügung einiger umfänglicher Entwürfe kann zeigen, wie in der Gedankenwerkstatt des Meister Modelle zu großen Werken entstehen. Ihr Verständnis wird durch die kurzen Niederschriften wesentl ich erleichtert. Aber auch als Vorbereitung für die Vorlesungen Kants dürfte unsere Blütenlese aus den »Losen Blättern« nützlich sein. H ier kann man sozusagen unter der Leitung des Meisters selbst die wichtigsten Vokabeln seiner phi losophischen Sprache lernen.

Kurze Niederschriften

Das erste, was der Mensch tun muß, ist, daß er die Freiheit unter Gesetze der Einheit bringt, denn ohne dieses ist sein Tun und Lassen l auter Ver­ irrung. I 14 Der Mensch sollte das Gute aus dem Bösen herauslocken. Dieses äußert sich am klarsten bei Staaten. I 233 Der Wille geht aufs Gesetz , was nicht in meiner Gewalt ist - die Will­ kür auf Handlungen, die in meiner Gewalt sind. - In Ansehung der Ge­ setze bin ich nicht frei, wohl aber in Ansehung der Nehmung meiner Maxi­ men. I 239 Es ist etwas, in Ansehung dessen sich der bei weitem größte Teil der Menschen auf andere verlassen muß, nämlich das Historische der Religion. Es ist aber auch etwas, was sie gar nicht andern überlassen, sondern selbst ausmachen müssen, nämlich was ihr Gewissen ihnen erlaubt, hierbei anzu­ nehmen. Im ersten ist es unmöglich zur völligen Gewißheit zu gelangen, im zweiten ist es schlechthin notwendig. I 256 Wenn die Theologie vor der Moral vorhergehen sol l , so ist der Poly­ theismus gefährl ich. Ist es aber umgekehrt, so kann es ein unschädl icher Aberglaube sein. II 8 Von einem Boden kann ich nicht schlechthin sagen: er ist mein, sondern nur ich habe ein Vorrecht, ihn ausschl ießlich zu besitzen. Denn ich kann ihn nicht vernichten, zerstören oder wegbringen, also über seine Substanz nicht d isponieren. Bloß sein Gebrauch kann mir ausschl ießlich vor Andern zu­ kommen. Das Seine des Bodens das ist nur mein Boden, der mir nach der ursprünglichen Iex agraria naturalis zukommt, also als Anteil am öffent­ lichen Boden durch Vertei lung nach Gesetzen der Freiheit. II 20 Ebenso wenig, wie es mög l ich ist, aus dem Begriff ei nes Wesens seine Notwendigkeit zu schl ießen, ist es unmöglich, aus seiner Notwendigkeit den Begriff, den man sich von ihm zu machen habe, zu schl ießen , denn Modalität und Inhalt eines Dinges haben nichts miteinander gemein. I I 35 Dem Katholizismus ist der Protestantismus entgegengesetzt. Das Papst­ tum, das Luthertum , der Calv inismus und wie sie Namen haben mögen, können katholisch oder protestantisch denken und unerachtet des Unter­ schiedes ihrer Kirchen für geoffenbarte Glaubenslehren entweder einen knechtischen oder freien Glauben bekennen. Der letztere besteht darin, daß jene Lehren zwar heilsam, aber nicht sel igmachend , d. i. zwar kultiv ieren, aber nicht moralisieren können. l i 3 5 f.

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Kurze Niederschriften

Wenn ich mich erkännte wie ich bin, nicht wie ich mir erscheine, so würde meine Veränderung einen Widerspruch in m i r machen. Ich würde niemals derselbe Mensch sein. Die Identität des Ichs wäre aufge­ hoben. li 37 Aufrichtigkeit ist formale Pflicht gegen sich selbst. In Ansehung anderer ist sie Redlichkeit. Sie ist nicht Tugend, sondern subjektive Bedingung aller Tugenden, auch in Selbstversprechungen. li 84 Pflicht gegen sich selbst: vom Schicksal oder Zufall das ist von dem was nicht in unserer Gewalt ist, seine Zufriedenheit nicht abhängen zu lassen weder affektvoll zu hoffen noch zu fürchten. Spes et fortuna valete. li 84 Tugendpfl ichten gegen s ich selbst sind Ehrl iebe, Genügsamkeit und Demut oder Mäßigung des Eigendünkels. Gegen Gott und organische Welt­ wesen haben wir keine d i rekten Pflichten, sondern es sind al les d i rekte Pflichten gegen uns selbst. II 85 Wenn Religion als Inbegriff der Pflichten gegen Gott gelehrt wird, so ist damit der Nachteil verbunden, daß ein Kultus eingeführt und so die Ver­ nunftreligion, welche bloß Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, in Satzungen verwandelt wird, die sich auf historische Beweisgründe stützen , wodu rch denn, weil dieser Satzungen unendlich viel sind und sich immer vermehren oder verändern lassen, d ie Religion die Ursache der Trennung der Menschen untereinander, der Anfei ndungen und selbst unaufhörlicher Kriege abgibt, das eigentliche Moralische aber betreffend, so ist es in statu­ tarischen Religionen immer mit dem Verdacht und der Gefahr der Ein­ schmeichelung und des Mangels an Aufrichtigkeit verbunden, welche durch das erste zur Rel igion erforderl ich ist. II 85 Ich kann i n Beziehung auf eine meiner Vernunft notwendige Idee von einem Wesen eine Pflicht haben, ohne eine Pfl icht gegen (erga) dieses Wesen zu haben, denn alsdann wäre es kein Gedankending. II 85 Es gibt keine Pfl ichten gegen ideal ische Wesen, die man nur auf den Fal l , daß solche existierten, oder seines künftigen Lebens, ausüben sol le. Auch keine Pflicht solche Wesen zu glauben. II 86 Von dem Inbegriff und dem Ziel aller Tugend. Es l iegt in dem Ora­ kelspruch: Erkenne dich selbst - nicht sowohl empirisch nach der An­ thropologie, sondern rational nach deinen Vernu nftvermögen sich aller Anlagen in deiner Natur zum wahren Endzweck dei nes Daseins dich zu bedienen. II 86 Die erste Wirkung der Selbsterkenntnis ist die wahre Demut aus der Vergleichung seiner selbst mit dem Gesetze - die zweite ist das Bewußtsein der Erhabenheit seiner Naturanlage und der durch nichts niederzuhaltenden Stärke gegen die Natur und deren Kräfte auszuhalten. Sustine, abstine, perfer et obdura. li 86 f.

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Wissenschaft. Maxime derselben: Wie die Elefanten nicht eher ei nen Fuß aufzuheben (um weiterzuschreiten) , bis sie fühlen, daß die übrigen drei feststehen. (Prinzip der Kritik) II 87 Die Versöhnl ichkeit gegen eine Beleidiger und überhaupt alle Pflichten gegen andere Menschen sind indirekt Pflichten gegen sich selbst. Seine Seele nicht mit dem Haß gegen ei nen Feind verderben, ist Pflicht gegen sich selbst. Ebenso sich durch Wohltätigkeit zum Quel l der Glückseligkeit anderer m achen. - Dazu gehört ein großer Zwang, den man über sein an sich rachbegieriges Gemüt hat, und die auf solche Art gewirkte Lust ist nicht die Triebfeder zur Handlung, sondern der Grundsatz so zu handeln ist der Grund der Lust. II 87 f. Ein vernünftiger Mann, der etwas unternimmt muß erstens wissen, was er w i l l , zweitens worauf es ankommt, drittens wozu es nützt (der Erfolg) . Verstand - Urteilskraft - Vernunft (das Letztere geht darauf, seinen Zweck mit dem Endzweck einstimmig zu machen) . II 90 D ie kritische Philosophie, wenn man einmal nur kurz die Schule der­ selben gemacht hat, dient dazu, in al le seine Geschäfte Ordnung, Zusam­ menhang und Methode zu bringen. II 90 Die Weise der Wohlgewogenheit ist die Höfl ichkeit. Ein Schein , der nicht bloß schuldlos gefällt, sondern auch wirklich zu guten Ges innungen führt. Nur nicht der Schein der Frömmigkeit, denn der ist Betrug, wei l da das Innere wesentlich ist. II 9 1 W i r können Gott n u r durch tugendhafte Handlungen dienen. Denn daß dieses zugleich die Verehrung Gottes i n sich enthalte, versteht sich von selbst, weil wir gewiß Gott verehren, wenn wir seine Gebote halten. Ihm aber diese Verehrung besonders durch Gebete, Glauben etc. ankündigen, ist nichts anderes als Gunstbewerbung, wodurch wir unsere Achtung schlecht beweisen. li 92 Monarchie und reine Republik sind die einzigen haltbaren Verfassungen. Die andern (Aristokratie und Demokratie) sind nur provisorische Ein­ richtungen. l i 94 Es ist unmöglich, daß im Staate alle gleich seien. Ä mter machen schon den Unterschied des Obern und Untern. Daß sie in der Ungleichheit ge­ boren werden, so daß sie sich nicht zur Gleichheit mit j edem Anderen emporarbeiten können, ist wider die natürliche Freiheit. li 11 1 Die beste Regierungsform ist nicht die, worin es am bequemsten ist zu leben (Eudaemonie) , sondern, worin dem Bürger sein Recht am meisten gesichert ist. li 1 10 Wenn ein Fehler in der Staatsverwaltung ist, so muß er sobald, als er erkannt wird, auch abgestellt werden. Ist er aber in der Verfassung, so ist das nicht sogleich zu bej ahen. Denn es könnte sein, daß d ieser mit andern so verflochten wäre, daß alles zu Grunde ginge. li 103

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Ob Vernunft und Geschichte eine Rel igion begründen können? Nei n ! aber wohl eine Kirche, worin Rel igion und Ku ltur ei nander unterstüt­ zen. II 104 Wenn man jeden Satz so untersucht, als ob das Zentrum des Systems noch nicht ausgefunden wäre, so kann man oft Fehler in diesem entdecken, welche eine neue Prüfung des Systems und oft den Umsturz desselben nötig machen. II 106 f. Bei dem, was man denkt, ist man natürl icherweise aufrichtig. Aber bei dem , was man sagt und sol lte es auch im Innersten unserer Seele vor Gott sein, kann Falschheit einlaufen, sich so auszudrücken , wie man wünscht, daß man billig denken sollte. II 107 Der, so nicht schulmäßig, sondern geniemäßig philosophiert, wirtschaftet aus dem Vollen, welches dann einen nahen Bankrott weissagen läßt (noris, quam sit tibi curta supel lex) . Die kritische Philosophie ist diejenige Vernunftwirtschaft, welche zuerst ihren Vermögenszustand untersucht, um zu wissen, wie weit sie in Ausgaben gehen kann, und sieht aus wie ein Pinsel gegen den geistreichen Kopf, der wie ein gewißer Minister von seiner Staatsverwaltung rühmt: je mehr er Schulden macht, desto reicher wird er. II 109 Der Mensch ist sui ipsius imperans (vom Phänomen des Noumenon) und des zugleich subditus. Aber obgleich sui juris in beidem Betracht, dennoch nicht dominus (Eigentümer) von sich selbst. - Ob Gott selbst als Eigen­ tümer betrachtet werden könne? Ich zweifle, ob man dieses sagen könne. Denn von einem freien Wesen kann man nicht begreifen, daß es von einem andern geschaffen sei , wohl zwar sein Körper, aber nicht sein geistiges Wesen. Eben darum kann man sagen, er könne auch kein unbedingtes Recht über diesen haben. II 1 10 Es ist nicht genug gesetzmäßig zu handeln (legal itas actionis) , sondern diese Gesetzmäßigkeit muß über dem auc h der Zweck der Handlung, mithin für sich allein die Triebfeder derselben sein (moralitas) . D iese Qualität der Gesinnung (der Grund der Maxime) ist die Tugend (ethica rectitudo) . Hier wird der Wille über die Gesetze der Willkür, welche bloß ihre Freiheit betreffen, erweitert und die Nötigung des Subjekts durch das Gesetz im Al lgemeinen über die Neigung als das Glückseligkeitsprinzip erhoben, welches Aufopferung und Widerstand kostet, dazu die Stärke des Vorsatzes, die Tugend heißt. II 1 1 1 Der große Herr kann nicht aus eigener Machtvoll kommenheit (ple­ nitudine potestatis) Verbrechen vergeben, außer gegen ihn selbst began­ gene. II 1 1 1 Wozu ich verpfl ichtet b i n , dazu habe i c h auch e i n Recht (ab esse ad posse morale) . II 1 1 1 O b e s ein Fehler i n der Staatswissenschaft sei , daß darin mehr von den

Kurze Niederschriften

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Rechten des Volkes als den Pflichten desselben geredet wird? Nein ! Denn das Volk ist als solches dem Zwange der Gesetze unterworfen. Nur muß der, welcher sich anmaßt einen Zwang ausüben zu dürfen , sein Recht beweisen. Denn der Mensch (der gezwungen werden sol l) ist von Natur frei. D ie aufs Recht bezogene Pflicht kann also nicht vorhergehen, sondern muß aus dem Recht des Volkes selbst, sofern dieses Volk selbst s ich nicht widersprechen sol l, d. i. aus der Einschränkung, die es sich selbst auferlegt, gefolgert werden. II 1 12 Warum hat die Tugendlehre einen niedrigem Rang in dem Vermögen zu verbinden , als die Rechtslehre und doch der Mensch , der sich der Tugend befleißigt eine größere Wertschätzung, als der sich bloß am Rechte hält? Weil der Zweck ein innerer im Willen gelegener Bestimmungsgrund ist und nicht bloß die Freiheit der W i l lkür, sondern auc h das Objekt derselben, folglich nicht bloß die Form, sondern auch den innren Gehalt des Gesetzes zur Materie macht. II 1 12 Die Lüge (deren Anfänger Teufel genannt wird, aber auch der erste Neider) ist ein formales Böse, welches in keinem Verhältnisse gut sein kann. Dazu kann keine Anlage in der menschl ichen Natur und keine Trieb­ feder anerschaffen sein. Wir haben auch eine ursprüngliche Verachtung gegen sie. Der ganze Wert des Menschen wird durch sie vernichtet, z. B. in gelehrten Sachen. II 1 16 Der Eid in der Tugendlehre ist Blasphemie. II 144 Sprechen ist das Vermögen, seine Gedanken mitzutei len zugleich mit dem Wil len, daß die Mitteilung dem, was man denkt, völlig gemäß sei . Also zugleich Versprechen dieser Einstimmung. Aufrichtigkeit ist die Bedingung, ohne die das Sprechen eine Brauchbarkeit ohne allen mög­ lichen Gebrauch enthalten würde. II 176 Dasjenige Brauchbare, das nicht anders gebraucht werden kann, als durch Mitteilung, ist ein Mittel an sich, welches also unmittelbar auch als Zweck angesehen werden muß. II 177 Der Besitz des Versprochenen (als praestation oder des Vermögens des andern zu praestieren) ist im gemeinsamen Wil len etwas als Versprechen anzunehmen enthalten. II 177 Moralische Maximen bedürfen der Publizität, wenn ihr moral ischer Zweck nur dadurch möglich ist, daß alle andern ebenso moral isch gesinnt seien, welches nicht bewirkt werden kann, wenn man seine Grundsätze nicht allgemein mittei lt, d. i. sie öffentlich macht. Der Zweck, welcher nur durch die freie Mitwirkung aller anderen Konkurrierenden bewirkt werden kann, ist z. B. der Beistand in der Not. II 210 Das Gute aus Freiheit ist viel edler, als das aus Natur. Natur ist die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen, sofern sie abhängend bestimmt sind. Freiheit, sofern sie selbsttätig bestimmt. II 221

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Moralit ät ist die Beding ung, unter welcher Freiheit allein ein Gut sein kann. Denn die Natur ist ein äußerlich aufgelegt Gesetz. Da wir davon frei sind, müssen wir uns selbst Gesetze machen. II 221 Moralität ist die Gesetzmäß igkeit der freien Besti mmung seiner selbst. II 221 Ä ußere Pflichten sind d ie der Leistungen (ihrer Wirkung nach) , innere sind die der Gesinnunge n. II 221 Die menschliche Moralität ist Verbindlichkeit das ist Ei nschränkung der Freiheit. II 221 Handlungen, die unter einer Verbindlichkeit stehen, sind Pflichten. II 221 Innere Pfl ichten sind erfüllt, wenn man die ernstliche Ges innung hegt, obgleich unvermögend, sie zu vollführen. II 222 Zufäll ige Gesetze sind die als Mittel zu beliebigen Zwecken necessitie­ ren. Notwendige, welche die Bedi ngung des Gebrauchs der Freiheit über­ haupt (Einstimmung mit sich selbst) enthalten. Diese als moralische Ge­ setze bestimmen das einzige absolute Gute oder Böse in der Welt. Al les andere ist es nur bedingter Weise. II 222 Al les was kriecht, ist zugleich falsch. Denn jeder Mensch ist sich des unverlierbaren Rechts der Gleichheit bewußt. II 178 Erkenne dich selbst moral isch. Erforsche dich selbst, was Du für ein Mensch nach deiner moralischen Qualität bist. Lege die Maske in der Theatervorstellung deines Charakters ab und siehe, ob Du nicht viel leicht Ursache habest, dich zu hassen, ja wohl gar zu verachten. Es gehört zur Pfl icht des Menschen gegen sich selbst, sich selbst auch Wort zu halten. Ist das geschehen, ohne ein Tagebuch darüber zu führen, muß jeder Abend einen Abschluß Deiner Rechnung enthalten. II 14 8 Kenne dich selbst. Man lernt dieses nur schlecht durch bloße Erfahrung, wenn man nicht den Grund der Seele durchforscht. II 150 Amor magis descendit, quam ascendit (Liebe steigt mehr herunter als herauf) . Die Vorfahren können ihren Nachkommen nützlicher sein, als diese umgekehrt. Die Vorfahren sind Wohltäter. II 145 Nicht Höfl ichkeit (urbanitas) und Grobheit (rusticitas) mit der höfischen und plebejen Denkungsart verwechseln. Gib kein Skandal, sei nicht Sonder­ ling, auch nicht in allen Sätteln. Zur Menschenl iebe gehört auch keinen Feind zu statuieren. II 146 Empfindelei ist das vermeintliche Gefühl fürs Intellektuelle, sofern es ohne Grundsätze tätig sein soll. II 244 Tugend ist das Vermögen der Beherrschung seiner Neigungen als Hinder­ nisse der praktischen Vernunft, also der Herrsc haft über sich selbst. In­ sofern kann i n der Tugend kein Unterschied, als nur der Grade sein. Der Unterschied der Neigungen als Hindernisse macht also ei gentlich den materialen Unterschied der Tugenden aus und insofern gibts viele. II 96 f.

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Man kann sich nur aus seinen moralischen Begriffen und Grundsätzen einen Gott machen, dessen Wille diese sind. Keinem andern Leitfaden soll man folgen, wenn es aufs Heil der Seelen ankommt. II 182 Humanität ist wechselseitiges Wohlwollen mit gegenseitiger Achtung verbunden. Sie ist nicht der Rustizität, dem Bäurischen (denn der Bauer kann auch human sein) , sondern der Indiskretion entgegengesetzt. li 92 Sein eigenes Glück vom Glück des Ganzen abzuleiten - die schönste Politik. li 210 Ob Gott, ob ein künftiges Leben sei, davon wußten die Philosophen nichts zu sagen, daß aber Freiheit des Willens sei , wußten sie gewiß, wenn es aufs Praktische ankam, denn das Gegenteil nur als möglich anzusehen, ist die größte Verworfenheit. li 143 Die Maxime der Befolgung seiner Pflicht aus reiner moralischer Gesin­ nung ist Rechtschaffenheit (integritas mentis) . Die Rechtschaffenheit aus dem bloßen Bewußtsein der Würde der menschl ichen Natur ist der edle Stolz. II 166 Wenn wir ein Gesetz a priori erkennen, so schreiben wir dieses Ge­ setz dem Objekte vor, der Natur, wenn es ein Naturgesetz, der Freiheit, wenn es ein moral isches Gesetz ist, aber nicht willkürl ich, sondern als not­ wendig. I 210

Wider den Idealismus. - Wenn es keine äußeren Gegenstände unserer Sinne gäbe, mithin gar keinen Sinn, sondern nur Einbildungskraft, so würde es doch wenigstens möglich werden, sich dieser ihrer Handlung als einer Spon­ taneität bewußt zu werden. Alsdann würde aber diese Vorstellung nur zum inneren Sinn gehören und nichts Beharrliches enthalten, was der Bestim­ mung unseres Daseins im empirischen Bewußtsein zum Grunde l iegen könnte. Das Gemüt muß also sich einer Vorstellung des äußeren Sinnes als eines solchen unmittelbar bewußt sein, das ist nicht durch einen Schluß aus der Vorstellung als Wirkung auf etwas Ä ußeres als Ursache, welcher, weil er nur als Hypothese gültig ist, keine Sicherheit enthält. I 200 f. Kürzere Widerlegung des Ideal ismus - Man kann wohl die Zeit in sich, sich selbst aber nicht in der Zeit setzen und darin bestimmen, und darin besteht auch das empirische Selbstbewußtsein. Um sein Dasein also in der Zeit zu bestimmen, muß man sich mit etwas anderm in äußerm Verhältnis anschauen, welches eben darum als beharrlich betrachtet werden muß. I 201 Unstatthafte Frage. - Nach der Ursache freier Handlungen, warum sie und nicht ihr Gegenteil geschehen, kann gar nicht gefragt werden, denn das wäre eine physische Erklärung nach Freihe itsgesetzen, welche ein Wider­ spruch in sich selbst ist. - Nur der Grund, den das Subj ekt seinen Hand-

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Kurze Niederschriften

Iungen selbst unterlegt (der subjektive) der Regel, die er sich selbst setzt, enthält Moralität oder Immoralität. - Nun kann eine dem praktischen Ge­ setz widerstreitende Maxime nicht als ein Leiden, sondern muß als ein Tun angesehen werden, nicht daß die S i nnlichkeit den Grund davon enthält, sondern der Verstand und die Willkür einer Regel gemäß oder zuwider zu handeln. Hiervon kann keine Anlage als Ursache genannt werden und ist keine Erkl ärung möglich, aber wohl daß die Maxime, das Prinzip gut oder auch böse sein kann. Dieses ist der Kampf des Guten mit dem Bösen. I 222 f.

Unerklärbarkeif des Kampfes: - Die Naturtriebe der Sinnlichkeit sind nicht das Hindernis der moralischen Anlage, sondern die Phänomene von den ersteren mit denen der letzteren, nämlich die in die Sinne fallenden Hand­ lungen, wovon die Gründe über die Erscheinungen hinaus liegen. Es ist ein Kampf zwischen einem guten und bösen Prinzip, wovon wir uns den Grund nicht erklären können. I 222 Zur Anthropologie . (Spielgedanken) - Der Mensch für sich allein spielt nicht. Er würde weder die B i l l ardkugel künstl ich zu treiben suchen noch Kegel umwerfen, noch Bilboquet noch solitair spielen. Al les dieses wenn er für sich tut, tut er nur, um seine Geschicklichkeit hernach andern zu zeigen. Er ist für sich ernsthaft. Ebenso würde er auf das Schöne nicht die geringste Mühe verwenden, es müßte denn sein, daß er erwartete, dereinst von andern gesehen und bewundert zu werden. Dieses gehört auch zum Spiel. Mit Katzen und Ziegen wie Selkirk würde er viel leicht spielen, aber die ver­ gleicht er nach einer Analogie mit Personen, herrscht über sie, gewinnt ihr Zutrauen, ihre Neigung und Respekt. Spiel ohne menschl iche Zuschauer würde für Wahnsinn gehalten werden. also ist alles dieses eine wesentliche Beziehung auf Gesell igkeit und was wir selbst unmittelbar daran empfi n­ den, ist ganz unbeträchtlich. Die Mitteilung und was daraus auf uns selbst reflektiert wird, ist das Einzige, was uns anzieht. I 258 Ehrenpunkt. - Der Ehrenruf ist die öffentliche Mei nung von dem Werte oder Unwerte einer Person. Der Fall, in welchem das allgemeine Urteil eine Achtung für den Ehrenruf fordert, dadurch dieser ihm mehr wert sein sol l , a l s d a s Leben, i s t der Ehrenpunkt Der Ehrenpunkt setzt also voraus , daß das Publikum für seine Meinung eine Achtung fordere, die man für das höchste Gesetz nicht stärker fordern kann. Welcher Fal l kann es denn sein, da diese Forderung auch nur den Schein von Vernunft und B i l l igkeit bei sich führt? Es ist derjenige, wo der ganze Wert eines Standes oder Ge­ schlechts bloß auf der Achtung beru ht, welche eine j ede Person desselben für die Meinung des Publici von ihm hegt. Der Wert des befehlenden

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Kriegsmannes (Officier) beruht auf seinen Grundsätzen der Ehre so wie der des Frauenzi mmers. Sowie bei jenem Mut, so bei diesem Keuschheit ist das, wovon sie die Meinung bei Publico erhalten müssen, denn darauf beruht ihr ganzer Wert. Die Übertretung dieser Achtung vor der Meinung des Publici bringt den Stand und das Geschlecht um den Wert. Zum Anstoß aber einem ganzen Stande zu dienen, ist eine Erniedrigung, die dem Leben den Wert nimmt. II 242 f.

Von der Glückseligkeit. Man kann nicht glücklich sein, ohne nach seinem Begriffe von Glücksel igkeit; man kann nicht elend sein, ohne nach dem Begriffe, den man sich vom Elende macht, d. i. Glücksel igkeit und Elend sind nicht empfundene, sondern auf bloßer Reflexion beruhende Zustände. Vergnügen und Schmerz werden empfunden, ohne daß man den mindesten Begriff sich von ihnen machen könnte. Denn sie sind unm ittelbare Ein­ flüsse auf das Bewußtsei n des Lebens. Aber nur dadurch, daß ich die Summe meiner Vergnügen und Schmerzen in einem Ganzen zusammen­ fasse und das Leben nach der Schätzung derselben für wünschenswert oder unerwünscht halte, dadurch daß ich mich über diese Vergnügen selbst freue oder über den Schmerz betrübe, halte ich mich für glücklich oder unglück­ lich und bin es auch. Glückseligkeit oder Elend haben nur ihre Bedeutung in Ansehung des Individuums, was den Zustand jenem Begriffe gemäß findet, der sich beständ ig verändern läßt. Der Grönländer sieht des Morgens von sei nem felsigen dürren Ufer melanchol isch in die wilde See, worin er vieHeicht denselben Tag sein Grab zu finden besorgen muß. Seine eigene Not macht ihn hart gegen seine Mitgenossen und er sieht hilflose Witwen neben sich verhungern, weil ihn seine eigene Erhaltung genug beschäftigt. Gleichwohl, wenn er nach Kopenhagen gebracht wird, so ist aHe Gemächl ichkeit, die man ihm dort verschafft, nicht hinlänglich, um ihm die Sehnsucht nach seinem Vaterlande zu benehmen. Das macht, er kann sich von seinem alten Zustande einen Begriff machen, wie er den Übeln, die ihn bedrohen, Mittel entgegensetzen soHe, und er ist ihrer auch gewohnt. Dagegen kann er sich von seinem neuen Zustande noch keinen Begriff machen und die Übel der Einschränkung seiner wilden Freiheit sind ihm ungewohnt. Oft urtei len wir andere glücklich, wenn sie nur wollten verlangen uns aber nicht gänzlich an ihrer SteHe zu befinden, und bei einem Tausch ohne Auswahl nehmen wir doch unser eigen Los zurück. So findet sich niemand glücklich außer nach Bedingungen, die bloß in seiner Einbi ldung s ind und davon er sich selbst kein Beispiel geben kann. So elend auch sein Leben selbst in den eigenen Augen des Duldenden sein mag, so zieht er es doch dem Sterben vor. Selbst die lebhafteste Hoffnung ei ner künftigen Gl ücksel igkeit, die der Recht­ schaffenste s ich vorzubilden bemüht ist, hindert nicht, daß er s ich nicht -

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durch alle Mittel der Arzneikunst dieses Schicksals zu erwehren suche, und doch ist der Tod das Ende aller Übel. I 260 f.

Gesunder Menschen verstand, Theologie, Rechtskunde, A rzneikunde und Philosophie. - Der gesunde Menschenverstand wird als Menschenverstand gemeiner Verstand erstl ieh für denj enigen genommen , den man bei allen Menschen vermuten kann, zweitens als gesunder Verstand , sofern er nicht verdorben ist. Man u nterscheidet ihn von Gelehrsamkeit in Ansehung der Quellen und vom spekulativen Verstande in Ansehung des Grades. Was den letzten Punkt betrifft, so ist er das Vermögen der Regeln in concreto und unterscheidet sich dadurch von dem spekulativen Verstande. Alle drei oberen Fakultäten l aborieren teils an Gelehrsamkeit, teils an Spekulation und in ihnen insgesamt ist die Wissenschaft provisorisch gut, hat aber doch zum Zwecke, endlich vermittelst der Philosophie sie zum gesunden Menschenverstande herabzubringen, der in der Tat hierin auch allein der beste Richter ist und der Probierstein der Richtigkeit der Sätze, wie denn alle drei für alle Menschen sind. 1. Theologie muß endlich Religion bis zur Einsicht und Überzeugung des bloßen gesunden Menschenverstandes bringen. Denn sie ist entweder eine natürliche oder gelehrte Religion in Ansehung ihrer Mitteilung. Als gelehrte Religion kann sie nie für alle Menschen sei n , also wird sie einmal dahin kommen müssen , daß jedermann nach seinem bloßen Menschenverstande, da sie einmal da ist, wird einsehen, sich davon überzeugen und sie fassen können. Da muß jeder Punkt, der vielleicht anfänglich zur Introduktion nötig war, wegfallen, wenn die Überzeugung von seiner Richtigkeit Gelehr­ samkeit voraussetzt. Doch wird i mmer Gelehrsamkeit nötig sein, um durch Geschichte den Vorwitz zu zügeln, damit er nicht durch Hirngespinste den Menschenverstand verführe. 2. Rechtskunde ist auch für alle Menschen, denn jedermann muß doch wi ssen können, welches Recht jemand aus gewißen Hand lungen oder Vorfällen gegen ihn hat und er stel lt sich natürlicherweise auch ein Recht vor, das er aus eben dergleichen Ursachen erwirbt. Nun kann keine rechtl iche Spekulation andere Prinzip ien des Rechts ersi nnen, als die des gemeinen Verstandes. Denn Gesetze sollen das Recht, was Menschen natürlicher Weise fordern , nur verwalten. Es ist auch merkwürdig, daß keine Wissenschaft, die sich auf Vernunft gründet, so der Vielheit der Fälle nötig hat, an welchen die Regeln in concreto geprüft werden könnten, als Rechtswissenschaft. Man soll keine Rechte erfinden, sondern nur dasjenige, was sich jeder denkt deutlich und bestimmt ausdrücken. D azu gehört freilich Gelehrsamkeit. 3. Arzneikunde. Die Natur im Ganzen erhält sich und die Gattung wächst blühend fort. Also muß doch in dem menschlichen Körper eine Selbsthi lfe

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stecken, zu der Arznei nichts hinzusetzen kann, und also ein Betragen, bei dem alle Menschen gesund sein könnten. In allen dreien arbeitet die Wissenschaft unablässig daran , um sich entbehrlich zu machen. Nur die Philosophie muß bleiben und wachen, daß der gemeine Menschenverstand ein gesunder Verstand bleibe und sie allein kann niemals entbehrlich werden. I 256 ff.

Un verletzlichkeit des Gewissens . - Das Vornehmste, was wir zu verhüten haben, ist, daß wir unser Gewissen nicht verletzen, welches vornehmlich dasj enige betrifft, was wir i n unsern Glauben und Bekenntnis aufnehmen. Das Gewissen kann uns nichts in Ansehung der Erkenntnisse lehren, aber doch das unterscheiden, was denselben zuwider ist. Man mag die Wahrheit der Sätze dahingestellt sein lassen, wieviel man aber davon auf seine Seele und Gewissen bekennen oder lehren, andern zumuten könne zu bekennen , davon kann man ganz gewiß werden. I 258

Vorbemerkungen zu den Gesprächen

Kant ist ein Großmeister der Gesprächskunst gewesen. Seine v ielseitige Bildung ermögl ichte ihm fast über alles Menschl iche zu sprechen. D abei war er meist der Gebende. Ihm lag es durchaus fern seine Gelehrsamkeit oder gar sein philosophisches Genie glänzen zu lassen. Er hatte eine grund­ sätzliche Scheu vor jeder Schaustellung persönlicher Interessen. Eine takt­ vol le Einfühlung in die verschiedenen Gesellschaftsschichten gab seinem ganzen münd lichen Verkehr eine edle Liebenswürdigkeit. D ieser hoch­ strebende Denker war darum in der Abgrenzung seines Umganges nicht im geringsten wählerisch. So vermochte er echte Volksverbundenheit in vor­ bildlicher Weise auszuwirken. Für vertraul ichen Gedankenaustausch wußte er einen engeren Kreis zu schaffen. Die eigenartigste Regelung d ieses Verkehrskreises bi ldete die Tischgemeinschaft. Die Tischgenossen durften auch teilnehmen an dem Briefwechsel des Hausherrn mit auswärtigen Freunden und Verehrern. Nicht etwa gewöhnl iche Neugier war es, wenn die Besucher von dem Philosophen zu Mitteilungen ermuntert wurden. Denn es hieß immer: »Was gibts neues Gutes? « Damit war eindeutig das würdige Niveau der Haus­ gespräche bei Kant bezeichnet. K lätscherei oder sonstige Unlauterkeit konnte hier niemals aufkommen. Andererseits gab es auch keine Ziererei. Kant hat sich im Gespräch niemals gekünstelter Ausdrücke bedient. Er brauchte sogar Provinzialismen. So wurde eine gemütliche Aufgeschlossen­ heit erzielt, die j ede Anwandlung zu steifem und kaltem Benehmen ver­ hinderte. Wenn Kant in seinen Gesprächen gerade philosophische Fragen absicht­ lich zu vermeiden schien, so mußte er doch manchmal diesem Vorsatz untreu werden und schon aus Höflichkeit dem einen oder anderen Verehrer, der über irgend ein Lehrstück Auskunft wünschte, Rede und Antwort stehen. D iese Gruppe von Gesprächen hätte in unserer Ausgabe natürlich einen sehr hohen Rangplatz einzunehmen. Leider sind solche Interpreta­ tionsgespräche nur spärlich überliefert. Der kongenialste Gesprächspartner Kants ist Christian Jakob Kraus gewesen. Er trat gerade im Erscheinungsj ahr der Kritik der reinen Vernunft 1 78 1 in den Lehrkörper der Albertina und darf wohl wegen seines aus­ gezeichneten akademischen Lehrtalents vielleicht sogar über Kant gestellt werden. Seine Vorlesungen waren sehr vielseitig. Sie suchten altphilolo­ gische und neuphilologische Studien zu verbinden. Kraus war der erste, der an der Albertina die literarästhetische Behandlung der Klassiker einführte,

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Gespräche

wobei ihn seine musikalische Virtuosität unterstützte. Zur Dämpfung der schöngeistigen Schwärmerei diente ihm die höhere Mathematik. Mit heroi­ schem Fleiß arbeitete er sich durch die 5 Bände von Leonhard Eulers Lehr­ büchern der Infinitesimalrechnung (/nstitutiones calculi differentialis, Ber­ lin 1 755, 2 Bde. , Institutiones ca/culi integralis, Petersb. 1 768-70, 3 Bde.) hindurch und hat als erster an der Heimatuniversität das höchste mathema­ tische Wissen in einem auserlesenen Hörerkreis fortzupflanzen gesucht. Sein Hauptverdienst war die Neuordnung des staatswirtschaftlichen Lehr­ betriebs im Anschluß an die Ideen von Adam Smith. Der einzige, freil ich fast lebensgefährliche Fehler d ieses merkwürdigen Professors der prakti­ schen Philosophie, den Kant mit Kepler gleichzustel len pflegte und als das größte ihm vorgekommene Genie betrachtete, war die wissenschaftl iche Schreibfaulheit. Er konnte sich trotz alles Zuredens nicht zu der Abfassung und Veröffentlichung eines Werkes aufraffen, das seinen hervorragenden Fähigkeiten entsprochen hätte. Seinen besten geistigen Energievorrat ver­ brauchte er hauptsächlich in der Lehrtätigkeit und im freundschaftlichen Gedankenaustausch. D ie Verbindung mit Kant war gerade während der besten Schaffensj ahre eine sehr innige. Beide speisten oft allein zusammen und lebten zeitweilig sogar in Wirtschaftsgemeinschaft Diese Königsherger Dioskuren zogen einander magisch an, wenn sie auf einer größeren Gesell­ schaft erschienen. Beide in einem gelehrten Streit zu beobachten, wurde als herrlichste Unterhaltung begrüßt. Hätte der Beobachter uns nur ein paar Aufzeichnungen solcher philosophischen Gesprächskunst überliefert ! Im­ merhin sind noch manche Rekonstruktionen hierzu aus dem bisher unver­ öffentlichten Kraus ' schen Briefwechsel möglich. Zur Klasse der Interpretationsgespräche sollte ferner der Hofprediger und Mathematikprofessor Johann Schultz wertvolle Beiträge bieten können. Er war dem Phi losophen schon vor dem Zuzug nach Köni gsberg als Löwen­ hagener Dorfpfarrer freundlich begegnet, indem er die Inauguraldissertation des neuernannten Professors der Logik und Metaphysik de mundi sensibilis atque intel/igibilis forma et principiis vom Jahre 1 770 verständnisvoll rezen­ siert hatte. In Königsberg kam es bald zum Hausverkehr. Fichte hat seiner­ zeit den Charakter des wackern Kantanhängers und mathematischen Hilfs­ arbeiters auf die treffende Formel gebracht: « Es ist ein eckiges preußisches Gesicht, aber es spricht Ehrl ichkeit und Gutmütigkeit aus seinen Zügen«. Der Vernunftkritiker ehrte seinen treuen Schildknappen durch Übersendung eines Dedikationsexemplars von dem Erstdruck seines Meisterwerkes ( 1 7 8 1 ) und erbat sich eine öffentliche Besprechung des Werks, die auch bald zu seiner vol lsten Zufriedenheit ausgeführt worden ist. Es ersc hienen von Johann Schultz Erläuterungen über des Herrn Professor Kants Kritik der r. Vernunft Königsberg 1 785 und 1 79 1 , sowie eine Prüfung der kanti­ schen Kritik der r. Vernunft in zwei Bänden , Köni gsberg, 1 789- 1 792.

Vorbemerkungen

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Nebenher ging ein wissenschaftl icher Briefwechsel der beiden. D ieser ist gewiß von manchen Gesprächen bei Hausbesuchen umrahmt gewesen. Leider ist bisher von solchen Gesprächen nichts entdeckt worden. Im Vergleich mit den mehr oder weniger verschütteten Fundgruben von Urkunden über mündl iche Ä ußerungen unseres Philosophen nehmen sich selbst die ausführl ichsten Mitteilungen Johann Gottfried Hasses (Merk­ würdige A"ußerungen Kants von einem seiner Tischgenossen , Königsberg 1 8 04) dürftig aus. Ihr Verfasser war erst 1 786 auf den Lehrstuhl für Orien­ talische Sprachen und das Griechische an der Alberti na berufen und bald darauf zum Kons istori alrat und Dr. theologiae ernannt. Er hielt sich zu­ nächst von Kant fern. Erst während der allerletzten Jahre fand er Zugang zu dem Kreis der Tischgäste. Begreifl icherweise waren bei der Abnahme der Geisteskräfte des Phi losophen vollwertige Gespräche kaum durchführbar. Es macht sich auch etwas einseitig die Herauskehrung des Etymologi­ sierens bemerkbar. Es ist ja bemerkenswert, daß Kant noch in so hohem Alter zu Versuchen auf solchem Tummelplatz des Dilettantismus fähig war, aber auch eigentl ich rücksichtslos ihn hierbei zu ermuntern. Man hat den peinl ichen Eindruck, als ob der Berichterstatter Gelegenheit suchte, die eigene sprachwissenschaftliche Gelehrsamkeit zur Schau zu stellen. Eine zweite bedeutsame Klasse Kantischer Gespräche sind die politi­ schen Gespräche gewesen. Es ist allgemein bezeugt, daß der Vernunft­ kritiker im Unterschied von ängstl ichen Kol legen sehr freimütig über Zustände und Vorgänge im Staatsleben urteilte. Seine begierige Beschäf­ tigung mit Zeitungsnachrichten erfuhr gerade durch pol itische Umwälzun­ gen einen mächtigen Ansporn. Vielleicht hat Kant am eifrigsten in Gesell­ schaft seiner kaufmännischen Freunde politisiert, die schon durch ihre verschiedene Nationalität zu kritischen Auseinandersetzungen anregen mochten. Aber auch der befreundete höhere Staatsbeamte, der Minister von Schrötter, der Kanzler von Schrötter, der Polizeidirektor und Schöpfer der Städteordnung Frey, der Stadtpräsident von Hippe! boten manchen Anlaß zu einem politischen Gedankenaustausch. Daß diese Urkundenquelle ein­ mal ausgiebiger erschlossen wird , läßt uns die aufblühende famil ienge­ schichtliche Forschung erhoffen. Als dritte, wohl gemeinnützigste Klasse von Kantischen Gesprächen sind die Bekenntnisgespräche hervorzuheben, in denen der große Denker aus persönl icher Erfahrung erzählt, allerlei Klugheiten und Weisheiten mitteilt und so gleichsam die angewandte Philosophie lehrt. Hierfür lassen sich aus den zeitgenössischen Kantbiographien von Borowski, Jachmann, Wasianski und Rink die mannigfachsten Belege entnehmen. Borowskis Darstellung hat j a noch Kant selbst bei Lebzeiten zu einem erhebl ichen Teil kritisch rev id iert. Für die Biographie Reinhold Bernhard J achmanns war sogar ein Fragebogen mit 56 Nummern vorbereitet, dessen Ausfül lung leider nicht

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mehr möglich wurde, da die Lebenskräfte des Philosophen versagten. Hätte Kant selbst noch über alle 56 Punkte genauer Auskunft gegeben, so wäre Jachmanns Kantschi lderung die reichhaltigste und zuverlässigste. So dürfen wir es diesem treuesten Kantj ünger, bei dem nach Theodor von Schöns Urteil »der kategorische Imperativ in Fleisch und Bein« zu finden war, nicht verübeln, daß er manche falsche Angaben macht, glücklicherweise nicht solche, die den Wesenskern berühren. Aber auch, was der feinfühlige letzte Hausgehilfe und Fürsorger Wasianski aus langjährigem Nächstver­ kehr mit dem Königsherger Weltweisen aufzeichnete, hat hohen dokumenta­ rischen Wert und rettete uns manche kostbare Perle aus den letzten Ge­ sprächen. Dankbar wollen wir auch die Berichte einzelner Kantbesucher für unsere Sammlung berücksichtigen. Diese Nomadengruppe läßt übrigens noch überraschenden Zuwachs erhoffen. So steht z. B. fest, daß der Prediger Johann Friedrich Usko, der bis 1 782 am Königsherger Friedrichskollegium gewirkt hat, dann ein Amt bei der evangelischen Gemeinde in Smyrna über­ nommen hatte, am 1 9. Januar 1 797 wieder in der Kantstadt erschien , auf den Gesellschaften durch seine Erzählungen von der Auslandsreise großes Aufsehen erregte und persische und arabische Dichtungen deklamieren konnte. D ieser interessante Mann, der auch persische Gemälde mit sich führte, war am 23. Januar 1 797 zu Professor Kant eingeladen. Sollte nicht einmal irgend ein Kantischer Tischgenosse von diesem außerordentlichen Fall eine Aufzeichnung gemacht haben, wie der ostpreußische Pfarrer Chri­ stian Friedrich Puttl ich, ein Schüler Uskos, während der Friderici anerzeit, der schon als Fridericianer mit der Tagebuchführung begann? Tagebücher werden überhaupt noch wichtige Überraschungen bringen und der nächsten Auflage dieses Kapitels zu einer reicheren Ausgestaltung verhelfen.

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Rückblick auf die Eltern . »Wie oft habe ich« , erzählt Borowski, »es aus seinem Munde gehört: ' Nie, auch nicht ein einzigesmal hab ich von meinen Eltern irgend etwas Unanständiges anhören dürfen, nie etwas Unwürdiges gesehen '. Er gesteht selbst, daß viel leicht nur wenigen Kindern, besonders in diesem unserm Zeitalter der Rückblick auf ihre Eltern in der Folge, so wohltuend sein dürfte, als er ihm immer war und noch ist.« -

A us der Mutterschule . »Meine Mutter« , so äußerte s ich oft Kant gegen Jachmann »war eine l i ebreiche, gefühlvolle, fromme und rechtschaffene Frau und eine zärtl iche Mutter, welche i hre Kinder durch fromme Lehren und durch ein tugendhaftes Beispiel zur Gottesfurcht leitete. Sie führte mich oft außerhalb der Stadt, machte mich auf die Werke Gottes aufmerk­ sam, l ieß sich mit einem frommen Entzücken über seine Allmacht, Weisheit und Güte aus und drückte in mein Herz eine tiefe Ehrfurcht gegen den Schöpfer aller D inge. Ich werde meine Mutter nie vergessen, denn sie pfl anzte und nährte den ersten Keim des Guten in mir, sie öffnete mein Herz den Eindrücken der Natur, sie weckte und erweiterte meine Begriffe, und ihre Lehren haben einen immerwährenden heilsamen Einfluß auf mein Leben gehabt.« Und Jachmann bemerkte zu diesem Bericht noch: ))Wenn der große Mann von seiner Mutter sprach, dann war sein Herz gerührt, dann glänzte sein Auge und j edes seiner Worte war der Ausdruck ei ner herz­ lichen und kindlichen Verehrung.« -

Wert des Pietismus im Elternhause. ))Als einst« erinnert sich Friedrich Theodor Rink, ))die Rede auf seine Eltern und die in ihrem Hause verlebten Jugendj ahre kam, floß sein Mund zum Lobe der ersteren mit der warmen Beredsamkeit des Herzens über. Der Philosoph sprach: ' Waren auch die religiösen Vorstellungen der damaligen Zeit und die Begriffe von dem was man Tugend und Frömmigkeit nannte, nichts weniger als deutlich und genügend, so fand man doch wirklich die Sache. Man sage dem Pietismus nach, was man w i l l , genug, die Leute, denen er ein Ernst war, zeichneten sich auf eine ehrwürdige Weise aus. Sie besaßen das Höchste, was der Mensch besitzen kann, jene Ruhe, j ene Heiterkeit, j enen inneren Frieden, die durch keine Leidenschaft beunruhigt wurden. Keine Not, keine Verfolgung setzte sie in Mißmut, keine Streitigkeit war vermögend sie zum Zorn und zur Feindschaft zu reizen. Mit einem Wort, auch der bloße Beobachter wurde unwil lkürlich zur Achtung hingerissen. Noch entsinne -

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ich ' , setzte er hinzu, ' wie über ihre gegenseitigen Gerechtsame einst zwi­ schen dem Riemer- und Sattlergewerke Streitigkeiten ausbrachen, unter denen auch mein Vater ziemlich wesentlich litt, aber des ungeachtet wurde selbst bei der häusl ichen Unterhaltung dieser Zwist mit solcher Schonung und Liebe in Betreff der Gegner von mei nen El tern behandelt und mit einem solchen festen Vertrauen auf die Vorsehung, daß der Gedanke daran , obwohl ich damals ein Knabe war, mich dennoch nie verlassen wird '.«

Bestätigendes Zeugnis von Jachmann. - »Kant pflegte d iese pietistische Erziehung als eine Schutzwehr für Herz und Sitten gegen lasterhafte Ein­ drücke aus seiner eigenen Erfahrung zu rühmen.« Aus der Schülerzeit. - »Er muß als Knabe zerstreut und vergeßsam gewesen sein , denn er erzählte mir (Jachmann ) , daß er einmal auf dem Wege nach der Schule sich auf der Straße mit seinen Schulkameraden in ein Spiel einge­ lassen, seine Bücher deshalb niedergelegt, sie daselbst vergessen und nicht eher vermißt habe, als bis er in der Schule zu ihrem Gebrauch aufgefordert wurde, welches ihm auch eine Strafe zuzog.« Ein ähnlicher, aber harmloser Fall. - Eine besondere Art von VergeBlich­ keit in Dingen des alltäglichen Lebens konnte Wasianski bei dem alternden Denker in gesteigertem Maße beobachten. »Er selbst gestand , daß er sich diesen Fehler sehr oft habe zuschulden kommen lassen, und führte als Beleg aus den frühsten Jahren seines Lebens folgende Geschichte an: 'Als ein ganz kleiner Knabe hielt er sich, wie er aus der Schule kam , gewißer, leicht zu erratender Ursachen wegen, ein ige Augenbl icke unter einem Fen­ ster auf, hing seine Bücher an den Ladenriegel und vergaß sie wieder ab­ zunehmen. Bald darauf härte er den ängstlichen Nachruf einer alten, gutmütigen, ihm unbekannten Frau , die ihm keuchend nachei lte und ihm seine Bücher mit vieler Freundl ichkeit einhändigte '. Noch in den späteren Jahren seines Lebens vergaß er das Betragen dieser Person nicht, und machte auch kein Geheimnis darau s , daß er sonst schon vergeßsam ge­ wesen sei.« Jugendliche Tapferkeitsprobe . - »Kant war« - wie aus einer Selbstschil­ derung gegenüber J achmann zu entnehmen ist - »als Knabe auf einen Baumstamm gegangen, der quer über ei nem mit Wasser gefüllten, breiten Graben lag. Als er einige Schritte gemacht hatte, fing der Stamm durch die Bewegung an, sich unter seinen Füßen herumzurollen, und er selbst schwindlig zu werden. Er konnte ohne Gefahr herunterzufal len, weder stehen bleiben, noch sich umkehren. Er faßte also genau nach der Richtung des Holzes einen festen Punkt am andern Rande des Grabens scharf ins

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Auge, l ief, ohne nach unten zu sehen, längs dem Stamme gerade auf den Punkt hin und kam glücklich ans entgegengesetzte Ufer. «

Mittel zur Lehrerautorität. - Im Gespräch mit J achmann über diese schwie­ rige pädagogische Frage »versicherte er ( Kant) , daß unter seinen Lehrern, die alle durch Strenge, Ruhe und Ordnung in den Klassen zu erhalten suchten und sie bei der schlechten Schuldiszip lin doch nicht erhielten, ein Lehrer mit einem gebrechlichen und possierl ich gestalteten Körper gewesen wäre, dem er und einige andere Schüler immer sehr viel Aufmerksamkeit, Folgsamkeit und Achtung bewiesen hätten, wei l sie i n seinen Lektionen viel hätten lernen können.« Unzulänglichkeit des höheren Unterrichts . - »An den in der Logi k und Mathemati k der Schule ( dem Friedrichskollegium) erteilten Unterricht dachte Kant«, wie Borowski erzählt, »in sei nen mittleren Jahren nicht ohne Lachen. ' Diese Herren ' , sagte er einmal zu seinem ehemaligen Mitschüler Cunde, ' konnten wohl keinen Funken, der in uns zum Studium der Philo­ sophie oder Mathematik lag, zur Flamme bringen ' - Ausblasen , ersticken konnten sie ihn wohl - antwortete der sehr ernsthafte Cunde.« Theologisches Studium aus Wißbegierde. - »Kant führte« so schrieb Heils­ berg an Professor Wald, der die erste Gedächtnisrede für den Vernunft­ kritiker an der Alberti na ( i m April 1 804) gehalten hat, »dem Wlömer und mir unter anderen Lehren zum gemeinen Leben und Umgange zu Gemüte: ' man müsse suchen von allen Wissenschaften Kenntnisse zu nehmen, keine auszuschl ießen, auch von der Theologie, wenn man dabei auch nicht sein Brot suchte '. Wir: Wlömer, Kant und ich, entschlossen uns daher im nächsten halben Jahr die öffentlichen Lesestunden des noch im besten Andenken stehenden Konsistorialrats D r. Schultz und R. Pfarrer der Alt­ stadt zu besuchen. Es geschah, wir versäumten keine Stunde, schrieben fleißig nach, wiederholten die Vorträge zu Hause und bestanden beim Examen, welches der würdige Herr oft anstel lte, unter der Menge von Hörern so gut, daß er beim Schluß der letzten Lesestunde uns dreien befahl noch zurückzubleiben. Er frug uns nach unsern Namen , Sprachen, Kennt­ ni ssen, Kol legien, Lehrern und Absichten beim Studieren. Kant sagte, ein Medicus werden zu wollen, Wlömer versicherte ein Jurist zu werden, und ich gestand noch keine völl ige Bestimmung zu haben und wenn al les fehlschlüge, bliebe mir ein schwarzer Husarenpelz noch übrig. Der würdige Mann erwiderte: Mein Freund ! das sind Blüten, welche bald abfallen. Warten Sie das Ansetzen zur Frucht ab, viel leicht entschließen Sie anders. Warum hören Sie denn Theologica ( es war, wo ich nicht irre, Dogmatik) frug er alle drei? Kant antwortete: Aus Wißbegierde. Darauf Schultz: Wenn

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dem also ist, so habe ich nichts dagegen einzuwenden. Aber sol lten Sie bis zu Ihrer Beförderung auf ei nen andern Gedanken geraten und den geist­ l ichen Stand wählen, so melden Sie sich mit Zutrauen bei mir. Sie sollen die Wahl der Stellen auf dem Lande und i n den Städten haben. Ich kann Ihnen das versprechen und werde, wenn ich lebe, mein Wort halten. Hier haben Sie meine Hand und gehen in Frieden.«

Selbstkritik des Hofmeisters Kant. - »Er pflegte«, so überliefert Jachmann, »Über sein Hofmeisterleben zu scherzen und zu versichern, daß in der Welt vielleicht nie ein schlechterer Hofmeister gewesen wäre, als er. Er hielt es für eine große Kunst, sich zweckmäßig mit Kindern zu beschäftigen und sich zu ihren Begriffen herabzustimmen, aber er erklärte auch, daß es ihm nie möglich gewesen wäre, sich diese Kunst zu eigen zu machen.« Modische Kleidung nach Naturfarben . - »Vor mehr als 40 Jahren ( also in der frühen Magisterzeit) hatte Kant« , so erzählt Borowski, »es sich selbst und, bei Gelegenheit uns, seinen damal igen Zuhörern , eingeprägt, der Mensch müsse i n der Kleidungsart nie ganz aus der Mode sein wollen; es sei , setzte er hinzu, durchaus Pflicht, keinem in der Welt einen widerlichen oder auch nur auffal lenden Anblick zu machen. Er nannte das schon damals eine Maxime, die genau zu beobachten wäre, daß man u. a. in der Wahl der Farben zu Kleid und Weste sich genau nach den B lumen richten müsse. ' Die Natur' , sagte er, ' bringt nichts hervor, das dem Auge nicht wohltut; die Farben, die sie aneinanderreihet, passen sich auch immer zusammen '. So gehöre z. B. zu einem braunen Oberkleide eine gelbe Weste; dieses wiesen uns die Aurikeln. Kant kleidete sich auch immer anständ ig und gewählt. Später l iebte er besonders melierte Farben.« Nochmals über Farben wahl der Kleidung. - »Zur Feierlichkeit bei dem Antritt seines ersten Rektorats l ieß Kant« , so berichtet Jachmann, »sich eine neue Kleidung machen, wei l er vergessen hatte, daß man dabei schwarz erscheinen müsse. Einige Tage zuvor führte er mich ans Fenster, zeigte mir eine Tuchprobe, machte mich auf die drei versch iedenen Farben des melierten Tuches aufmerksam und ersuchte mich, daß ich ihm ein seidenes Futter aussuchen möchte, das gerade in d iese drei Farben spielte. Dem großen Manne war eine solche Kleinigkeit nicht zu klein, wei l er die Meinung hegte, daß man auch durch seine Kleidung die Gesellschaft, in welcher man sich befände, ehren und auch schon um seiner selbst w i l len sich äußerlich den Menschen von einer gefälligen Seite zeigen müsse.« Pünktlichkeit und Worthalten . - »Bei denen, die Kant achten sollte« , schreibt Borowski, »forderte er auch Pünktlichkeit, genaues Worthalten, auf

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die Stunde und den Augenblick, für welche man sein Wort gegeben hatte. Einst, in seinen ersten Lehrerj ahren war ich mit Dr. Funck während der Ferien in den Morgenstunden bei ihm. Ein Studierender hatte ihm auf d iesen Vormittag die Abtragung des Honorars für gehörte Vorlesungen zugesagt. Wie oft und wie gerne er dieses vielen ganz oder teilweise erl ieß, wissen alle! Dieser aber hatte ein bestimmtes Versprechen gegeben. Kant äußerte, daß er des Geldes gar nicht so sehr bedürfe. Allein nach jeder Vier­ telstunde kam er darauf zurück, daß der j unge Mann s ich doch - nicht einfinde ! Nach ein paar Tagen erschien er. Kant hielts ihm so ernstl ich vor und nahm ihn, da er sich zu seiner Opponentenstelle bei einer nächstens zu haltenden D isputation erbot, nicht dazu an mit der bitteren Bemerkung: ' Sie möchten doch ' , sagte er zu ihm, ' n icht Wort halten, sich nicht zum D isputationsakt ei nfinden und - dann al les verderben ! ' Dieses ernste, obwohl sonst sanft ausgesprochene Wort schützte nachher diesen j ungen Mann - ich kannte ihn noch viele Jahre hindurch - vor jedem Fehler dieser Art.«

Eigene Pünktlichkeit. »Oft tat Kant« , so erzählt Wasianski, »bei Tische mit einer Art von Stolz an seinen Diener die Frage: ' Lampe, hat er mich in 30 Jahren nur an ei nem Morgen j e zweimal wecken dürfen? ' ' Nein, hochedler Herr Professor' , war die bestimmte Antwort des ehemaligen Kriegers '.« -

Freie Unabhängigkeit. - Jachmann schreibt: »Schon von Jugend auf hat der große Mann das Bestreben gehabt, s ich selbständ ig und von Jedermann unabhängig zu machen, damit er nicht den Menschen, sondern sich selbst und seiner Pflicht leben durfte. Diese freie Unabhängigkeit erklärte er auch noch in seinem Alter für die Grundlage al les Lebensglückes, und ver­ sicherte, daß es ihn von jeher viel glückl icher gemacht habe, zu entbehren, als durch den Genuß ein Schuldner des andern zu werden. In seinen Magi­ sterj ahren ist sein einz iger Rock schon so abgetragen gewesen, daß einige wohlhabende Freunde, u. a. der Geheimrat J . . . , es für nötig geachtet haben, ihm auf eine sehr diskrete Art Geld zu ei ner neuen Kleidung anzu­ tragen. Kant freute sich aber noch i m Alter, daß er Stärke genug gehabt habe, dieses Anerbieten auszuschlagen und das Anstößige einer schlechten, aber doch rei nen Kleidung der drückenden Last der Schuld und Abhängig­ keit vorzuziehen. Er hielt sich deshalb auch für ganz vorzüglich glücklich, daß er nie in seinem Leben irgendeinem Menschen einen Heller schuldig gewesen ist. ' Mit ruhigem und freudigem Herzen konnte ich immer: Herein ! rufen, wenn jemand an meine Tür klopfte ' , pflegte der vortreffliche Mann oft zu erzählen, ' denn ich war gewiß, daß kein Gläubiger draußen stand '.«

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Kurzes Buchladengespräch. - »Einst fand Kant«, so überl iefert uns Borow­ ski, »ei nen seiner Schüler im Buchladen, der sich Jerusalems Betrach­ tungen über die Religion kaufte. Er erkundigte sich, wer denn dieser Jerusalem wäre, ob er sonst etwas geschrieben hätte und erwähnte dabei, daß er vor mehreren Jahren wohl Stapfers Grundlegung der Religion ge­ lesen habe.« Überraschung bei kirchengeschichtlichem Studium . - »Einstmals trat ich«, so erzählt Borowski von einer überraschenden Begegnung mit dem Meister, in sein Zimmer und, indem er sich umwandte, sagte er: ' Nun, da leg ' ich eben den siebzehnten Band der Schröckschen Kirchengeschichte weg '. Auf meine Nachfrage, ob er sich durch die siebzehn Bände mit Behagen durch­ gebracht hätte, versicherte er ganz ernstlich (und was sein Mund aussprach, war zuverlässig) , daß er Wort für Wort gelesen hätte.« Wohlredenheit, nicht Beredsamkeit und heilige Reden . - »Einen sehr gerin­ gen Wert nur setzte Kant« , nach Borowskis Bericht, »auf Beredsamkeit. Er schätzte Wohlredenheit und bedauerte, d iese ebensowenig als den klaren, gleichfaßlichen Ausdruck (den er auch in gelehrten Vorträgen eben nicht so sehr für nötig hielt, damit dem Leser doch auch etwas zu eigenem Nach­ denken verbleibe) , sich in sei nen Schriften ganz eigen machen zu können. Beredsamkeit war unserem Kant weiter nichts, als die Kunst zu überreden, den Zuhörer zu beschwatzen. Ein andermal nannte er sie die Beflissenheit, andere zu täuschen, zu überlisten, damit das, was doch keine überzeugende Beweisgründe sind, wenigstens dafür angesehen werde. Bei jeder Gelegen­ heit kam er auf d iese Ä ußerung zurück. ' Der Geistliche ' , setzte er dann hinzu, ' soll Prediger, soll Lehrer sein, der sich auf Gründe stützt, aber nie muß er heilige Reden halten ' , welche Art von Benennung in seiner frühen Lebenszeit von Mosheim u. a. m. den Kanzelvorträgen - freilich unschick­ lich genug - gegeben zu werden pflegte. Doch sprach er, wenn er Reden halten mußte, sehr gut«. Ein Lobspruch auf Kanzelreden . - Kant versicherte gegenüber Jachmann, »daß er die trefflich ausgearbeiteten Kanzelreden seines Freundes, des ver­ storbenen Pfarrers Fischer, öfters gern angehört hätte, wenn er nicht durch seine dringenden literarischen Geschäfte davon wäre abgehalten worden.« Hilfreiche Rücksprache über eine Probepredigt. - Jachmann weiß von ei nem j ungen Theologen, der sich der auszeichnenden Gunst des großen Denkers erfreuen durfte. »Kant lernte ihn besonders in seinem Repetitorio kennen, rief ihn zu sich, gab ihm die Erlaubnis, sich über schwierige Gegen­ stände der Phi losophie mit ihm besonders unterhalten zu können, zog ihn

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endlich in seinen näheren Umgang, nahm ihn unter die Zahl seiner Freunde auf, und äußerte überall für ihn eine väterl iche Vorsorge, mit der größten Delikatesse verbunden. Diesen empfahl er vor mehreren Jahren persönlich dem Chef ei nes Regiments zu einer erledigten Feldpredigerstelle. Wenige Tage vor der Probepredigt, ließ er den Kandidaten zu einer ungewöhnl ichen Morgenstunde zu s ich bitten und leitete mit der größten Feinheit ein Gespräch über den Probetext ein, nach welchem er sich besonders hatte erkundigen lassen. Und - denken Sie sich den l iebenswürdigen Mann ! ruft Jachmann enthusiastisch aus - aus Liebe zu seinem Freunde hatte sich der tiefe Denker i n ein ganz neues Feld gemacht und sich die Mühe gegeben, eine förml iche Disposition zu ei ner Predigt in Gedanken zu ent­ werfen, über welche er mit ihm sprach und wobei er viele fruchtbare Gedanken äußerte. Am Tage der Predigt hatte er einen anderen Freund mit dem Auftrage i n die Kirche gesandt, ihm am Schlusse der Rede über den Eindruck derselben eil igst Nachricht zu ertei len. Das heißt doch, an dem Schicksal seiner Freunde herzlichen und tätigen Anteil nehmen ! «

Mitfreude und aufopfernde Werbung. - Für den gleichen jungen Freund hatte Kant, wie Jachmann ergänzend mitteilt, bei dem akademischen Senat »einige Jahre zuvor, ganz aus freiem Antriebe, ein Stipendium ausgewirkt. Er kam darüber, an dem Tage, als es ihm konferiert worden war, so herzlich­ froh nach Hause, daß er nicht allein dem Bruder desselben, der den Mittag bei ihm aß, diese Nachricht sogleich mit der größten Freude mitteilte, son­ dern sogar eine Bouteille Champagner heraufholen l ieß, um auf das Wohl sei nes Günstlings zu trinken und sich ganz dem Gefühl der Freude zu über­ lassen. Kant und Hippe! bewogen eben denselben Mann vor mehreren Jahren, ein Privaterziehungsinstitut zu übernehmen, welches der geschickte Pädagog Böttcher in Königsberg errichtet hatte und nachmals wegen eines Rufs nach Magdeburg aufgab. Kant nahm an dieser Versorgung seines Freundes, die er dessen Talenten vorzüglich angemessen hielt, das lebhaf­ teste Interesse. Er ging selbst zu den Eltern der Zöglinge des Instituts hin, um sie zu bewegen , ihre Kinder auch bei dem neuen Entrepreneur in der Anstalt zu l assen, nahm es selbst über sich, den Kriegsrat von Fahrenheid zum Ankauf eines Hauses für diesen wohltätigen Zweck geneigt zu machen und erbot sich selbst zur kräftigen Unterstützung d ieses nützlichen Unter­ nehmens.« Fürsprache für den jungen Fichte . »In der Abendstunde« , so berichtet Borowski, »begegnet mir Kant auf einem Spaziergange. Das erste Wort an mich war: ' Sie müssen mir helfen, recht geschwind helfen, um einem jungen brotlosen Manne - Namen und auch Geld zu schaffen. Ihr Schwager (Hartung, der Buchhänd ler) muß disponiert werden. W i rken Sie auf ihn, -

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wenn Sie die Handschrift (es war der Versuch einer Kritik aller Offen­ barung) , die ich noch heute zuschicke, durchgelesen, daß er sie verlege und s. f'. - Ich nahm das al les gern auf mich und ganz ungewöhnlich erfreut sah ich ihn, da alle seine und Fichtes Wünsche - und noch dazu weit über beider Erwartu ng - erfüllt wurden. Da liegt eben das B i l let mir zur Seite, das Kant mir gleich darauf zuschickte und das, wenn ich es hier abdrucken ließe, einem jeden das warmtätige Herz unseres Kant fürs Wohl junger Leute, die irgend etwas von sich hoffen l ießen, zeigen würde. Fichte wird sich des alles gewiß noch mit dankbarer Empfindung erinnern.«

Bescheidene Selbsteinschätzung. - »Ich werde es nie vergessen« , schreibt Jachmann, »wie Kant, als er eines Tages über Newton sprach und hierauf den Gang, welchen er selbst in der Naturwissenschaft genommen, mit jenem des Newton in Vergleichung stel len wol lte, mit einer rührenden Bescheidenheit hinzufügte: ' wofern sich etwas Kleines mit etwas Großem vergleichen läßt '. Und so sprach Kant in dem Alter seiner vol lendeten Größe zu mir in meinem zwanzigsten Jahre ohne Beisein anderer Zeugen. Auch über Phi losophen, welche einem anderen System folgten , j a über seine Gegner, wenn sie wirklich Wahrheit suchten, sprach er stets mit einer unparteiischen Würdigung ihrer Verdienste. Ja er suchte sich selbst zu erklären, wie seine bescheidenen Gegner sehr natürl ich anderer Meinung sein konnten und lebte in vollem Vertrauen auf den endlichen Sieg der Wahrheit.« Gegen geziertes Sprechen . - »Wer beim münd l ichen Gespräch Worte suchte«, erzählt Jachmann, »nach schönen Redensarten haschte, diese sogar, ohne Ausländer zu sein, nach einer fremden Mundart aussprach, mit dem unterhielt sich Kant nicht gern. Er sah die Konversationssprache bloß als ein Mittel an, unsere Gedanken leicht gegeneinander auszutauschen, sie müßte also wie die Scheidemünze, zum al lgemeinen leichten Verkehr kein anderes als das Gepräge des Landes haben. Daher war er in seiner Sprache selbst so sorglos, daß er Provinzialismen im Munde führte und bei meh­ reren Wörtern der fehlerhaften Aussprache der Provinz folgte.« Gegen gelehrte oder politische Frauengespräche. - »Von einem weib­ lichen Wesen, das ihn an seine Kritik der reinen Vernunft erinnert, oder über die französische Revolution, davon er sonst in männlicher Gesellschaft sich leidenschaftlich unterhielt, mit ihm ein Gespräch hätte anketten wollen, würde er sicher sich augenblicklich weggewendet haben.« So urteilt Borowski, um folgenden Fal l mitzutei len. »Einmal ließ er gegen eine vornehme Dame, die durchaus mit ihm ganz gelehrt sprechen wol lte, und, da s ie bemerkte, daß er immer auswich, fortw ährend behauptete, daß

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Damen doch auch wohl ebenso gelehrt sein können, als Männer, und daß es wirklich gelehrte Frauen gegeben hätte, sich den fre i l ich etwas derben Ausdruck entfallen: ' Nun ja, es ist auch darnach'.«

Für die wahre Hausfrauenehre . - Als Kant selbst einmal in Borowski ' s Beisein sich über Speisenzubereitung ausführlich z u äußern begann, sagte ihm eine würdige, auch von ihm sehr geschätzte Dame: ' Es ist doch, l ieber Herr Professor, wirklich, als ob sie uns alle bloß für Köchi nnen ansehen '. »Und da war es nun«, wie der Berichterstatter hervorhebt, >>eine Freude zu hören, mit welcher Gewandtheit und Fei nheit Kant es auseinandersetzte, daß Kenntnis des Küchenwesens und die Direktion davon jeder Frau wahre Ehre sei, daß durch Erfreuungen und Erquickungen des Mannes, der von seinem geschäftsvollen Vormittage nun müde und matt an den Tisch käme, sie eigentlich s ich selbst Erfreuungen für ihr Herz , erheiternde Tisch­ gespräche u. s. f. verschaffen. Wirklich, er zog die Herzen aller Damen durch diese Auseinandersetzungen, die er lebhaft und launig vortrug, ganz an sich. Jede wol lte nun von ihrem Manne das Zeugnis an den Professor haben, daß sie eine solche Frau sei, jede in der Gesellschaft bot sich dazu an, ihm, wenn er Fragen, die zum Haus- und Küchenwesen gehörten, ihnen vorlegen wollte, diese willig und prompt zu beantworten.« Kochkunst neben der Tonkunst als weibliches Unterrichtsfach . Wie Jachmann bezeugt, »hielt Kant es für rätlich, daß man seine Tochter ebenso von einem Koch eine Stunde in der Kochkunst unterrichten lassen möchte, als von dem Musikmeister in der Tonkunst, wei l sie sich bei ihrem künf­ tigen Manne, er sei wer er wolle, Gelehrter oder Geschäftsmann, weit mehr Achtung und Liebe erwerben würde, wenn sie ihn nach vollbrachter Arbeit mit einer wohlschmeckenden Schüssel ohne Musik, als mit einer schlecht­ schmeckenden mit Musik aufnehmen möchte. « Und die Nachricht von Jachmanns B ruder, daß solch ein Kochunterricht in den besten schottischen Häusern schon feststehende Sitte sei , »härte er nicht allein mit Vergnügen, sondern er pflegte sie auch öfters zur Bekräftigung seines Rates anzuführen, um jeden Hausvater zur Benutzung dieses Bi ldungsmittels bei seinen Töch­ tern desto geneigter zu machen. Seiner Meinung nach könnte es auch dem geistreichsten Manne, und wäre er selbst Dichter und Künstler, nicht ge­ fal len, wenn seine Frau , anstatt ihm ein gehöriges Essen vorzusetzen , ihn mit einem Gedichte oder Gemälde entschädigen wollte, das sie zu der Zeit verfertigte, als sie sich der Küche annehmen sollte.« -

Gegen aussichtslose Rechthaberei. Wie Borowski beobachtete, fühlte sich Kant durch geraden Widerspruch beleidigt. Es kam zuletzt sogar zur Erbitterung. »Gewiß drang er seine Meinung niemandem auf: aber der -

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gegenseitigen Rechthaberei war er auch herzlich gram. Da wich er denn gerne ganz aus, wo er sie mehrere Male schon bemerkt hatte. Einem Manne von Bedeutung, der über die französische Revo lution bekanntlich ganz anders , als er dachte, sagte er gleich, da das Gespräch in einer Mittags­ gesel l schaft darauf gerichtet ward: ' Wir sprechen, dächte ich, gar nicht davon' und lenkte die Unterhaltung ganz davon ab.«

Proben anschaulichen Wissens ohne Reisen . - Jachmann überliefert »Kant schilderte eines Tages in Gegenwart eines geborenen Londoners die West­ rninsterbrücke nach ihrer Gestaltung und Einrichtung, nach Länge, Breite und Höhe und den Maßbestimmungen aller einzelnen Teile so genau , daß der Engländer ihn fragte, wieviel Jahre er doch in London gelebt, und ob er sich besonders der Architektur gewidmet habe, worauf ihm versichert wurde, daß Kant weder die Grenzen Preußens überschritten hätte, noch ein Architekt von Profession wäre. Ebenso detai ll iert soll er sich mit Brydone über Italien unterhalten haben, so daß dieser sich ebenfalls erkundigte, wie lange er sich in Italien aufgehalten hätte.« Experimentalchemie aus Büchern . - »Kant hatte«, so bezeugt Jachmann, >>nach seinem sechzigsten Jahre ganz besonders die Chemie liebgewonnen und studierte die neuen chemischen Systeme mit dem größten Eifer. Ob­ gleich er nie ein einziges chemisches Experiment gesehen hatte, so hatte er doch nicht allein die ganze chemische Nomenklatur vol lkommen inne, sondern er wußte auch den ganzen Rezeß aller chemischen Experimente so genau und detaill iert anzugeben, daß einst an seinem Tisch in einem Gespräch über Chemie der große Chemiker Dr. Hagen voll Verwunderung erklärte, es sei ihm unbegreifl ich, wie man durch bloße Lektüre ohne Hilfe anschaulicher Experimente die ganze Experimentalchemie so vollkommen wissen könne als Kant.« Heimattreue im Buchhandel. - »Der Buchhändler Nicolovius, dessen Vater ein Freund Kants war, faßte« - so berichtet uns Jachmann - »auf der Uni­ versität den Entschluß, sich dem Buchhandel zu widmen und teilte ihn Kant mit. Er billigte diesen Plan und l ieß bloß die Worte fal len, daß er künftig seinem Etablissement nützlich zu werden erbötig wäre. Aber kaum hatte Nicolovius seinen Buchhandel in Königsberg errichtet, so gab ih111 Kant seine Werke, den Bogen gegen ein geringes Honorar, in Verlag. Einige Zeit darauf empfahl sich eine angesehene Buchhandlung in Deutschland dem weltberühmten Schriftsteller und erbot sich selbst zu einem weit höheren Honorar, aber Kant erwiderte, daß er die Summe selbst zu hoch fände und daß er es für patriotisch und pfl ichtmäßig hielte, einen kleinen Verdienst seinem Landsmann und dem Sohn eines ehemal igen alten Freundes zu­ zuwenden.«

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Ein folgenreiches politisches Streitgespräch . - »Zur Zeit des englisch­ nordamerikanischen Kriegs ging Kant« , so schreibt Jachmann, »eines Nach­ mittags in dem Dönhofschen Garten spazieren und bl ieb vor einer Laube stehen, in welcher er einen seiner Bekannten in Gesel lschaft einiger ihm unbekannter Männer entdeckte. Er ließ sich mit diesen in ein Gespräch ein, an welchem auch die übrigen tei lnahmen. Bald fiel ihr Gespräch auf die merkwürdige Zeitgeschichte. Kant nahm sich der Amerikaner an, verfocht mit Wärme ihre gerechte Sache und ließ sich mit einiger Bitterkeit über das Benehmen der Engländer aus. Auf einmal springt ganz voll Wut ein Mann aus der Gesel lschaft auf, tritt vor Kant hin, sagt, daß er ein Engländer sei, erklärt seine ganze Nation und sich selbst durch seine Ä ußerungen für beleidigt und verlangt in der größten Hitze eine Genugtuung durch einen blutigen Zweikampf. Kant l ieß sich durch den Zorn des Mannes nicht im mindesten aus seiner Fassung bringen, sondern setzte sein Gespräch fort und fing an, seine politischen Grundsätze und Meinungen und den Gesichts­ punkt, aus welchem j eder Mensch als Weltbürger, seinen Patriotismus unbeschadet, dergleichen Weltbegebenheiten beurtei len müsse, mit einer solchen hinreißenden Beredsamkeit zu schildern, daß Green - dies war der Engländer - ganz voll Erstaunen ihm freundschaftl ich die Hand reichte, den hohen Ideen Kants beipfl ichtete, ihn wegen seiner Hitze um Verzeihung bat, ihn am Abende bis i n seine Wohnung begleitete, und ihn zu einem freundschaftl ichen Besuch einlud. Der nun auch schon verstorbene Kauf­ mann Motherby, ein Associe von Green, war Augenzeuge dieses Vorfalls gewesen und hat mich oft versichert, daß Kant ihm und allen Anwesenden bei dieser Rede wie von einer himmlischen Kraft begeistert erschienen wäre und ihr Herz auf immer an sich gefesselt hätte.« Freundschaftliche Besprechung des Hauptwerks . - »Kant fand i n Green einen Mann von v ielen Kenntnissen und von so großem Verstande, daß er mir (Jachmann) selbst versicherte« - so heißt es in der Fortsetzung des vor­ stehenden Berichts - »er habe in sei ner Kritik der reinen Vernunft keinen einzigen Satz niedergeschrieben, den er nicht zuvor seinem Green vorge­ tragen und von dessen unbefangenem und an kein System gebundenem Verstande hätte beurteilen lassen. « Regelmäßige freundschaftliche Nachmittagsgespräche. - »In d e r Gesell­ schaft dieses geistreichen, edelgesinnten und sonderbaren Mannes (Green) fand Kant« , so beginnt Jachmann seine anmutige Schilderung, »SO viele Nahrung für seinen Geist und für sein Herz, daß er sein tägl icher Gesell­ schafter wurde und viele Jahre hindurch mehrere Stunden des Tages bei ihm zubrachte. Kant ging j eden Nachmittag hin und fand Green in einem Lehnstuhle schlafen, setzte sich neben ihn, hing seinen Gedanken nach und

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schlief auch ein, dann kam gewöhnlich Bancodirektor Ruffmann und tat ein Gleiches, bis endlich Motherby zu einer bestimmten Zeit ins Zimmer trat und die Gesellschaft weckte, die sich dann bis 7 Uhr mit den interessan­ testen Gesprächen unterhielt. D iese Gesel lschaft ging so pünktlich um 7 Uhr auseinander, daß ich öfters die Bewohner der Straße sagen härte, es könne noch nicht 7 sein, wei l der Professor Kant noch nicht vorbeige­ gangen wäre. Am Sonnabend blieben die Freunde, zu welchen sich dann noch der schottische Kaufmann Hay und einige andere gesel lten, zum Abendessen versammelt, welches aus einer sehr frugalen kalten Küche bestand.«

Gegen Mystik. - »Will man nicht mit Worten streiten, will man den Kanti­ schen Ausdrücken z. B. praktische Vernunft, Vernunftglaube, moral ische Schriftdeutung u. a. m. nicht absichtlich einen anderen Sinn unterlegen, als der Verfasser sich dabei dachte und das aus Gefühlen herleiten, was er einzig und allein auf Vernunft gründete«, berichtet Jachmann, »so wird man auch weder in den Schriften noch in dem Leben Kants irgendetwas Mysti­ sches entdecken. Kant hat sich hierüber auch gegen mich ganz unverhohlen erklärt und versichert, daß keines seiner Worte mystisch gedeutet werden müsse, daß er nie einen mystischen Sinn dam it verbinde und daß er nichts weniger als ein Freund mystischer Gefühle sei. Bei dieser Gelegenheit tadelte er noch den Hang H ippels zur Mystik und erklärte überhaupt jede Neigung zur mystischen Schwärmerei für eine Folge und für ein Zeichen einer gewissen Verstandesschwäche.« Problematik der ewigen Fortdauer. - »Da aus einem Moralsystem auch der Glaube an eine ewige Fortdauer fließt, in welcher wir uns der uner­ reichbaren Idee der Heil igkeit in einem unend l ichen Fortschritte nähern können , so könnte ich diesen Glauben Kants « , schreibt Jachmann , »mit Stillschweigen übergehen , wenn ich Ihnen nicht noch eine sehr merk­ würdige Ä ußerung des großen Mannes hierüber mitzuteilen hätte. Wir kamen eines Tages in einem vertrauten Gespräche auf d iesen Gegenstand , und Kant legte mir die Frage vor: was ein vernünftiger Mensch mit vol ler Bt:: s onnenheit und reifer Überlegung wohl wählen sol lte, wenn ihm vor seinem Lebensende ein Engel vom Himmel , mit al ler Macht über sein künftiges Schicksal ausgerüstet, erschiene und ihm die unwiderrufliche Wahl vorlegte und es in seinen Willen stellte, ob er eine Ewigkeit hindurch existieren oder mit seinem Lebensende gänzlich aufhören wol le? Und er war der Meinung, daß es höchst gewagt wäre, sich für einen völlig unbe­ kannten und doch ewig dauernden Zustand zu entscheiden und sich w i l l ­ kürl ich einem ungewißen Schicksal zu übergeben, d a s ungeachtet al ler Reue über die getroffene Wahl ungeachtet alles Überdrusses über das end-

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lose Einerlei und ungeachtet aller Sehnsucht nach einem Wechsel dennoch unabänderl ich und ewig wäre. Sie sehen wohl ohne mein Bemerken, daß dieses pragmatische Räsonnement mit seinem moralischen Vernunftglau­ ben in gar keinem Widerspruche steht, denn letzterer kann etwas anzu­ nehmen gebieten, was der Mensch selbst nicht wünschen mag.«

Gemeinschaft im Jenseits. - »Daß Kant mit dem eitlen Spiel des irdischen Lebens nicht so zufrieden war, daß er seine Rolle noch einmal zu spielen wünschte, sich nach einem Himmel sehnte, dessen Bewohner sich nicht wie hier das Leben einander verleiden, sondern durch Rechtschaffenheit be­ glücken, läßt sich« - so berichtet Jachmann - »aus seiner Versicherung schließen, die er einstmals in einer Gesellschaft äußerte, daß er es für kein übles Zeichen sei nes künftigen Wohnorts ansehen würde, wenn ihm sein damaliger treuer D iener Lampe und andere ihm ähnl iche ehrliche Men­ schen entgegenkämen. Nach einer künftigen Gemeinschaft mit großen Geistern strebte der Mann mit großem Gei ste nicht, sondern nach einer Gemeinschaft mit Edeln und Rechtschaffenen. Vielleicht, daß er sich mit seiner jetzigen Vernunfteinsicht begnügte, v ielleicht, daß sein großer Geist durch andere keine Aufschlüsse höherer Erkenntn is zu erhalten hoffte, soviel ist gewiß: Kant suchte seine künftige Seligkeit nicht in der wechsel­ seitigen Mitteilung höherer Weisheit, sondern in dem Umgange mit reinen tugendhaften Seelen.« Weltgebäude, Gott und Vorsehung. - »Kant war« - so erklärt Jachmann ­ »weder Atheist noch Materialist, und ich bin gewiß, daß derjenige, welcher dieses behauptet, den großen Mann entweder nicht persönlich gekannt oder doch nicht begriffen hat. Wie oft l ieß sich Kant, wenn er mit seinen Freun­ den über den Bau des Weltgebäudes sprach, mit wahrem Entzücken über Gottes Weisheit, Güte und Macht aus ! Wie oft sprach er mit Rührung über die Seligkeit eines bessern Lebens ! Und hier sprach dann das Herz des Weltweisen und Menschen als ein unleugbarer Zeuge des inneren Gefühls und der aufrichtigen Überzeugung. Ein einziges solches Gespräch über Astronomie, wobei Kant stets in hohe Begeisterung geriet, mußte nicht allein einen jeden überzeugen , daß Kant an einen Gott u nd an eine Vor­ sehung glaubte, sondern es hätte selbst den Gottes leugner in ei nen Gläu­ bigen umwandeln müssen. « Beobachtungen a n Schwalben . - »Die i h m eigentümliche Gabe, sich ohne Affektion auszudrücken, behielt Kant« - so berichtet Wasianski - »bis in sein spätestes Alter. In früheren Zeiten wußte er s ich zum angenehmen Erstaunen mit Nachdruck deutlich auszudrücken und einen sehr treffenden Ton auf das zu legen, was er sagte. Weder eigentl iche pathetische Dekla-

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mation noch erkünstelte Gesti kulation konnte dieses ihm eigene Talent genannt werden. Besonders erzählte er eine von ihm gemachte Erfahrung, die ihn zum Staunen hinriß, mit v ieler Lebhaftigkeit, Wärme und Nach­ druck. Es war die Rede vom bewunderungswürdigen Instinkt der Tiere und der Fall folgender: Kant hatte in einem kühlen Sommer, in dem es wenig Insekten gab, eine Menge Schwalbennester am großen Mehlmagazin am Lizent wahrgenommen und einige Jungen auf dem Boden zerschmettert gefunden. Erstaunt über diesen Fall wiederholte er mit höchster Achtsam­ keit seine Untersuchung und machte eine Entdeckung, wobei er anfangs seinen Augen nicht trauen wol lte, daß die Schwalben selbst ihre Jungen aus den Nestern würfen. Vol l Verwunderung über diesen verstandähn lichen Naturtrieb, der die Schwalben lehrte, beim Mangel hinlänglicher Nahrung für alle Jungen, einige aufzuopfern, um die übrigen erhalten zu können, sagte dann Kant: 'Da stand mein Verstand stille, da war nichts dabei zu tun, als hinzufallen und anzubeten '. Dies sagte er aber auf eine unbeschreibliche und noch v iel weniger nachzuahmende Art. Die hohe Andacht, die auf seinem ehrwürdigen Gesichte glühte, der Ton der Stimme, das Falten seiner Hände, der Enthusiasmus, der diese Worte begleitete, al les war einzig. Eine gleiche Art von ernster Lieblichkeit strahlte aus seinem Gesichte, als er mit innigem Entzücken erzählte: wie er einst eine Schwalbe in seinen Händen gehabt, ihr ins Auge gesehen habe, und wie ihm dabei so gewesen wäre, als hätte er in den Himmel gesehen.«

Wertbeständige Frühlingsfreude. - » Schon früher machte der Frühl i ng« ­ so heißt es bei Wasianski vom alternden Ph ilosophen - »auf Kant keinen sonderlichen Eindruck, er sehnte sich nicht wie ein anderer am Ende des Winters nach dem baldigen Eintritt dieser erheiternden Jahreszeit. Wenn die Sonne höher stieg und wärmer schien, wenn die Bäume ausschlugen und blühten und ich (Wasianski) ihn dann darauf aufmerksam machte, so sagte er kalt und gleichgültig: ' Das ist ja alle Jahre so, und gerade ebenso '. Nur ein Ereignis machte ihm aber auch dafür desto mehr Freude, so daß er die Rückkehr desselben nicht sehnl ich genug erwarten konnte. Schon die Erin­ nerung im angehenden Frühl i nge, daß es bald eintreten würde, erheiterte ihn lange voraus. Der nähere Eintritt machte ihn täglich aufmerksamer und spannte seine Erwartung aufs höchste. Der wirkl iche aber macht im große Freude. Und diese einzige Freude, die ihm noch die Natur bei dem sonst so großen Reichtum ihrer Reize gewährte war die Wiederkunft ei ner Gras­ mücke, die vor seinem Fenster und in seinem Garten sang. Auch in seinem freudenleeren Alter bl ieb ihm diese einzige Freude noch übrig. Blieb seine Freundin zu l ange aus, so sagte er: 'Auf den Appen inen muß noch eine große Kälte sein '. Und er wünschte d ieser seiner Freundin, die entweder in eigener Person oder i n ihren Abkömmlingen ihn wieder besuchen sol lte, mit vieler Zärtlichkeit eine gute Witterung zu ihrer weiten Reise.«

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Mitleid mit Sperlingen. - »Kant war überhaupt« - wie Wasianski bezeugen kann - »ein Freund seiner Nachbarn aus dem Reiche der Vögel. Den unter seinem Dache nistenden Sperlingen hätte er gerne etwas zugewandt, beson­ ders, wenn sie sich an die Fenster seiner ruhigen Studierstube anklam­ merten, welches sehr oft, wegen der darin herrschenden Stille, geschah. Er wollte aus dem melancholischen, eintönigen und oft wiederholten Gezwit­ scher derselben auf die beharrliche Sprödigkeit der weibl ichen Sperli nge schließen, nannte diese melancholische Stümper von Sängern: Abge­ schlagene und Kümmerer, wie bei den Hirschen, und bedauerte diese ein­ samen Geschöpfe.« Lob ländlicher Erholung. - »Mir ist« , so berichtet Jachmann, »nur ein ein­ ziges Haus bekannt, das in meilenweiter Entfernung von Königsberg sehr oft auf mehrere Tage von unserm Weltweisen besucht worden ist und wo er sich ganz nach seinem Geschmack glücklich gefühlt hat, nämlich das väter­ liche Haus des Ministers und des Kanzlers von Schrötter zu Wohnsdorf. Kant wußte nicht genug zu rühmen, welche Humanität in diesem Hause seines Freundes geherrscht habe und mit welcher ausgezeichneten Freund­ schaft er von dem vortrefflichen Manne, gegen den er noch i m Alter die größte Hochachtung hegte, stets aufgenommen worden ist. Besonders versi­ cherte er deshalb hier die angenehmste ländl iche Erholung gefunden zu haben, weil sein humaner Gastfreund ihn nie eingeschränkt habe, ganz wie in seinem eigenen Hause, nach seinem Geschmack zu leben.« Spätere Erinnerung an den gleichen Landaufenthalt. - »Die Spazierfahrten, besonders nach einem Landhäuschen (vor dem Steindammer Tor) hatten« ­ wie der Veranstalter derselben, der treue Fürsorger des greisen Philo­ sophen, Wasianski berichtet - »für Kant ihren großen Nutzen. S ie erneu­ erten bei ihm solche Ideen aus den früheren Jahren seines Lebens, die ihn oft sehr erheiterten. Das Landhäuschen l iegt auf einer Anhöhe unter hohen Erlen. Unten im Tale fließt ein klei ner B ach mit einem Wasserfal l , dessen Rauschen Kant bemerkte. Diese Partie erweckte in ihm eine schlummernde Idee, die sich bis zur größten Lebhaftigkeit ausbildete. Mit fast poetischer Malerei, die Kant sonst in seinen Erzählungen gerne vermied, schilderte er mir in der Folge das Vergnügen, welches ein schöner Sommermorgen in den früheren Jahren seines Lebens ihm auf einem Rittergute, in der dort befindl ichen Gartenlaube an den hohen Ufern der Alle, bei einer Tasse Kaffee und einer Pfeife gemacht hatte. Er erinnerte sich dabei der Unter­ haltung in der Gesellschaft des Hausherrn und des Generals von Lossow, der sein guter Freund war. Alles war dem Greise so gegenwärtig , als wenn er jene Aussicht noch vor sich hätte, jene Gesellschaft noch genösse. Um ihn zu erheitern, durfte man nur zuweilen im Gespräch eine Wendung auf diesen Gegenstand geben, so war er zugleich wieder heiter und froh.«

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Forsthaus Moditten und Wobser. - »Am öftesten und längsten hielt Kant sich« - so berichtet Borowski - » i n dem Forsthause Moditten eine Mei le von Königsberg auf. Der Oberförster Wobser, der da wohnte, war ein Wirt wie er ihn sich bei m ländl ichen Aufenthalt wünschte. Ohne die mi ndeste Künstelei im Ausdruck und in Manieren von sehr gutem natürlichen Ver­ stande und edlem gutem Herzen. Bei ihm hielt er sich während der akademi­ schen Ferien gerne und auch wohl über eine ganze Woche auf. Hier, in diesem Moditten, ward das Werk über das Schöne und Erhabene (vielleicht die Gelesenste von allen kantischen Schriften) ausgearbeitet. Hier mußte ihm der Oberförster Wobser zu dem Bilde sitzen, das Kant in der genannten Schrift vom Charakter des deutschen Mannes entwarf. Nie vergaß er seinen Wobser, und das Gespräch ward dann sehr lebhaft, wenn er auf diesen Mann, auch lange nach seinem Tod, zurück kam.« Ein merkwürdiges Hochzeitsgespräch. - »Kant war oft der Mittelpunkt« berichtet Mortzfeld in seinen Fragmenten aus Kants Leben , Königsberg bei Hering und Haberland, 1 802 S. 1 1 1 f. - »um den sich der Discours drehte. Er war Erzähler und Schiedsrichter, auf sein Urteil war jeder begierig. Merkte er, daß eine gelehrte U nterhaltung nicht in allgemei nen Umlauf gebracht werden konnte, so brach er entweder von diesen ernsten Materien sogleich ab, oder er verwandelte das Resultat derselben in ein bon mot. Er befand sich einst auf der Hochzeit eines von ihm geschätzten Freundes. Es waren mehrere Gelehrte, so auch Personen anderen Standes versammelt. Er heftete die Aufmerksamkeit der ersteren durch eine vortreffl iche Ausein­ andersetzung der Einheitslehre, alles sammelte sich um ihn, die Damen sahen sich verlassen. Kaum bemerkte dieses Kant, so ei lte er zum Schluß des Ganzen und sagte: ' Den Aufschluß haben wir, ohne weitläufiger zu werden vor uns, das Beispiel durch Mann und Frau '.« Letzte Willensmeinungen und Vermächtnisse . - »Es sind« - so berichtet Borowski - »gerade 14 Jahre her, da ich bei einem Besuche seine mir schon damals merkwürd igen Ä ußerungen über letzte W i l lensmei nungen , Vermächtnisse u. dgl. aus seinem Munde härte. ' Das Unsrige ' , sagte der ed_le Mann, ' gehört durchaus unsern Verwandten , ich werde keine andern als die ganz gewöhnlichen Einrichtungen mit meinem Vermögen machen u. s. f'. Er setzte noch Mehreres (es war an eben dem Tage bei unserer Universität ein Gedächtnisakt) über Stipendien für Studierende, deren Anwendung über Reden und D isputieren der Stipend iaten usw. hinzu, das alles deutlich zutage legte, wie wenigen Wert er auf Wohltätigkeit setzte, die (so waren seine Ausdrücke) sehr laut gemacht wird und nach mehreren Jahren noch von sich sprechen läßt.«

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Begrenzte A rmenpflege . - ))Bettlern gab Kant« , so erzählte Borowski, ))wenn sie ihm in den Weg kamen, durchaus nichts. Einst riß er mir auf einem Spaziergange, wo wir, von einem losen Betteljungen verfolgt, durch­ aus nicht miteinander sprechen konnten, ein paar Pfennige aus der Hand weg, durch d ie ich mich und ihn von dem Jungen losmachen wollte. Er, unser Kant, gab ihm dagegen mit seinem Stock ei nen Schlag, den er nicht fühlte, denn nun l ief er mit Lachen davon. An wahre Arme spendete er gerne aus. Zu den j ährlichen freiwill igen Beiträgen zur General-Armen­ kasse unseres Orts zahlte er verhältnisweise eine beträchtliche Summe. Sonst hatte er den Grundsatz (und mit ganzer Seele stimme ich ihm bei wie Borowski ausdrücklich betont -) , daß jede Generation ihre Armen versorgen müsse, daß nicht für die Zukunft Kapitalien gesammelt und Armenfonds, während dem die Gegenwärtigen leiden, für die Nach­ kommen etabliert werden sol lten, daß wirs unsern Kindern und K indes­ kindern zutrauen sollten, daß auch sie sich der Armen ihrer Zeit schon annehmen werden u. s. f.« Bescheidene Einladungsform . - ))Einen besondern Zug von Feinheit und Humanität äußerte Kant« , wie Jachmann berichtet, ))durch die Art, wie er seine Freunde zu Tisch einlud. Er l ieß sie nur erst am Morgen desselben Tages zu Mittage bitten, weil er dann sicher zu sein glaubte, daß sie so spät kein anderes Engagement mehr bekommen würden und wei l er wünschte, daß niemand seinetwegen eine andere Einladung ausschlagen möchte. ' Ich bleibe gern zuletzt ' , sprach der liebenswürdige bescheidene Man n , ' denn ich will nicht, daß meine Freunde, die so gut sind, mit mir Vorlieb zu nehmen, meiner Einladung wegen irgend eine Aufopferung machen '. Auch den Professor Kraus, wie dieser noch täglich mit ihm aß, ließ er doch jeden Morgen besonders einladen, weil er dieses für eine schickl iche Höfl ichkeit hielt und wei l er seinem Gast dadurch Gelegenheit zu geben glaubte, auch nach Gefallen absagen zu lassen. A l lgemeine Einladungen auf einen be­ stimmten Tag, ohne diese höfl iche Aufmerksamkeit, die für den Wirt und den Gast gleich nützlich ist, erklärte er für unschicklich. D iese Aufmerk­ samkeit verlangte er auch von seinen Freunden und rühmte sie sehr an seinem Freunde Motherby, der ihn auf jeden Sonntag besonders einladen l ieß, obgleich dieser Tag schon ein-für-al lemal zur Aufnahme Kants be­ stimmt war.« Fremde Systeme. - ))Seine eigene Ideenfü l le und die Leichtigkeit und Gewohnheit, alle philosophischen Begriffe aus der unerschöpflichen Quelle seiner eigenen Vernunft herauszuschöpfen, machte«, so schreibt Jachmann, ))daß Kant am Ende fast keinen andern als sich selbst verstand. Verstehen Sie mich recht, ich spreche von abstrakten, phi losophisc hen Begriffen. Er,

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im eigentlichsten S inne des Wortes , ein origineller Denker, fand al les in sich selbst und verlor darüber die Fäh igkeit, etwas in einem anderen zu finden. Gerade zu der Zeit der höchsten Reife und Kraft seines Verstandes, als er die kritische Philosophie bearbeitete, war ihm n ichts schwerer, als sich in das System eines anderen h i neinzudenken. Er gestand dies selbst und gab gewöhnlich seinen Freunden den Auftrag für ihn zu lesen, ihm den Inhalt fremder Systeme im Vergleich mit dem sei nigen nach den Hauptresul­ taten mitzuteilen, und überl ieß es, vielleicht auch mit aus d iesem Grunde, seinen Schülern und Freunden seine Philosophie gegen die Anfechtungen seiner Gegner zu schützen.«

Die unentbehrliche Eigenschaft eines Kriminalrichters . - »Wenn Kant« , so bemerkt Jachmann, »in seiner Anthropologie sagt: Der Verstand fragt, was will ich als wahr behaupten? Die Urteilskraft: worauf kommt es an? und die Vernunft: was kommt heraus? und er die Köpfe in der Fähigkeit, diese drei Fragen zu beantworten, sehr verschieden findet, so gebührt ihm nach meiner Überzeugung, die Fähigkeit, die erste und dritte Frage zu beant­ worten, in einem höheren Grade, als i rgend einem Wesen in der Welt, aber in ei nem verhältn ismäßig geringerem Grade die Fähigkeit zur Beantwor­ tung der zweiten, wenigstens fehlt ihr die erstaunenswürdige Schnelligkeit, mit welcher sein Verstandes- und Vernunftvermögen wirkte. Sein eigenes Geständnis hierüber äußerte er mir eines Tages in einem Gespräch über die unentbehrliche Eigenschaft eines Kriminalrichters, auf der Stelle unter tausend angeführten Umständen zu wissen , worauf es ankomme, und er­ klärte, daß er dessen nicht so fähig sein würde, als sein vieljähriger Freund, der verstorbene Kriminalrat Jensch, dessen schnelle Urteilskraft er beson­ ders rühmte.« Eine Partie L 'Hombre . - »In seinen j üngeren Jahren hat Kant« , so berichtet J achmann, »öffentliche Gasthäuser besucht und auch dort v iele Unter­ haltung gefunden. Er hat sich auch öfters hier sowie in Privatgesel lschaften durch eine Partie L' Hombre die Zeit verkürzt. Er war ein großer Freund dieses Spiels und erklärte es nicht allein für eine nützliche Verstandes­ übung, sondern auch in anständiger Gesel lschaft gespielt, selbst für eine Übung in der Selbstbeherrschung, mithin für eine Kultur der Moralität. Der freundschaftliche Umgang mit Green unterbrach dieses Spiel auf immer. Er hatte aber auch schon zuvor den Entschluß gefaßt, es aufzugeben, wei l er sehr rasch spielte und das Zögern der Mitspielenden ihm öfters Langeweile machte.« Lieblingsspeise. - »Die Lieblingsspeise Kants«, so erzählt Jachmann, »war Kabeljau. Er versicherte mich eines Tages, als er schon völlig gesättigt war,

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daß er noch mit vielem Appetit einen tiefen Teller mit Kabelj au zu s ich nehmen könnte.«

Gegen das Biertrinken . - »Kant trank« , wie Wasianski berichtet, »nie Bier. Von d iesem Getränk war er der abgesagteste Feind. Wenn jemand in den besten Jahren seines Lebens gestorben war, so sagte Kant: ' Er hat ver­ mutlich Bier getrunken '. Wurde von der Unpäßl ichkeit eines andern gesprochen, so war die Frage nicht fern: ' Trinkt er abends B ier? ' Aus der Antwort stellte dann Kant dem Patienten die Nativität. Er erklärte das Bier für ein langsam tötendes Gift, wie der j unge Arzt den Kaffee, bei dem er Voltaire eben antraf, allein die Antwort, die jener Arzt von Voltaire erhielt: ' Langsam tötend muß dieses Gift wohl sein, wei l ich es schon gegen 70 Jahre genieße ' , würde Kant von echten B iertrinkern nicht leicht erhalten haben. Zu leugnen ist nicht, daß das viel für sich habe, was Kant be­ hauptete, daß Wegschwemmung der Verdauungssäfte, Verschleimung des Blutes und Erschlaffung der Wassergefäße, Folgen des häufigen Genusses dieses Getränkes wären, deren Wirkung durch eine bequemere Lebensart noch mehr beschleunigt werden. Kant wenigstens nahm das Bier als die Hauptursache al ler Arten von Hämorrhoiden, die er nur dem Namen nach kannte.« Urteil über Kraus und Kepler. - »Von Kraus, einem seiner Mitarbeiter und ehemaligen würdigen Zuhörer, der zwar nicht durch viele Schriften, desto mehr aber durch seine unermüdeten Vorlesungen und die darin bewiesene Gelehrsamkeit in so verschiedenen Fächern zur Verbreitung nützl icher Kenntnisse wirkte, legte Kant« - wie Wasianski erzählt - »als großer Menschenkenner ein sehr ehrenvol les Zeugnis ab. Er versicherte nämlich, daß in seiner vielj ährigen Menschenbeobachtung ihm kein scharfsinnigerer Kopf, kein größeres Genie vorgekommen sei. Er behauptete, daß er zu jeder und der tiefsten Wissenschaft aufgelegt, und daß er alles, was der mensch­ liche Verstand zu fassen fähig wäre, sich zu eigen machen könnte, und daß mit einer solchen Schnelligkeit, mit welcher er es vermochte, nicht leicht jemand ins Innere der Wi ssenschaften eindringen würde. Er setzte ihm Kepler zur Seite, von dem er behauptete, daß er, so viel er urteilen könnte, der scharfsinnigste Denker gewesen sei, der je geboren wurde.« Erinnerung an schlechte Trauermusik. »Man hätte denken sol len« , so berichtet Wasianski, »der tiefe Metaphysiker hätte nur an einer Musik, die durch eine Harmonie, durch kühne Übergänge und natürl ich aufgelöste Dissonanzen sich auszeichnet. Oder an den Produkten der ernsten Ton­ künstler, als eines Haydn, Behagen finden sollen. A l lein d ieses war nicht der Fall , wie folgender Umstand beweist. Im Jahre 1 795 besuchte er mich -

so

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mit dem verstorbenen G. R. v. Hippe!, um meinen Bogenflügel zu hören. Ein Adagio mit einem Flageolettzuge, der dem Ton einer Harmonika ähnlich ist, schien ihm mehr widerl ich, als gleichgültig zu sein. Aber mit eröffnetem Deckel in der vollsten Stärke gefiel ihm das Instrument unge­ mein, besonders wenn eine Symphonie mit vollem Orchester nachgeahmt wurde. Nie konnte er ohne Widerw i l len daran denken , daß er einst einer Trauermusik auf Moses Mendelssohn beigewohnt hatte, die nach sei nem eigenen Ausdruck in einem ewigen l ästigen Winseln bestanden hätte. Er bemerkte dabei, daß er vermutet hätte, daß doch auch andere Empfin­ dungen, als z. B. die des Sieges über den Tod (also heroische Musik) oder die der Vollendung hätten ausgedrückt werden sollen. Er sei daher schon im Begriff gewesen, Reißaus zu nehmen. Nach dieser Kantate besuchte er kein Konzert mehr, um nicht durch ähnliche unangenehme Empfindungen gemar­ tert zu werden. Rauschende Kriegsmusik präval ierte vor jeder andern Art.«

Wohltätiger Fernblick. - »Nach 6 Uhr setzte Kant sich«, so erzählte Wasi­ anski, »an seinen Arbeitstisch, der ein ganz gewöhnlicher, durch nichts sich auszeichnender Haustisch war und l as bis zur Dämmerung. In dieser dem Nachdenken so günstigen Zeit, dachte er dem Gelesenen, wenn es ei nes besonderen Nachdenkens wert war, nach, oder widmete diese ruhigen Augenbl icke dem Entwurfe dessen, was er am folgenden Tage in seinen Vorlesungen sagen oder fürs Publ ikum sc hreiben würde. Dann nahm er seine Stellung - es mochte Winter oder Sommer sein - am Ofen, von welchem er durchs Fenster den Löbenichtschen Turm sehen konnte. Dieser wurde zur Zeit dieses Nachdenkens angesehen, oder das Auge ruhte viel­ mehr auf demselben. Er konnte sich nicht lebhaft genug ausdrücken , wie wohltätig seinem Auge der für dasselbe passende Abstand dieses Objekts sei . Durch tägliche Ansicht in der Dämmerung mag sein Auge sich daran gewöhnt haben. Als in der Folge im Garten sei nes Nachbars einige Pap­ peln so hoch empor wuchsen, daß s ie den Turm bedeckten, wurde er dar­ über unruhig und gestört in seinem Nachdenken. Er wünschte daher, daß diese Pappeln gekappt werden möchten. Zum Glück war der Eigen­ tümer des Gartens ein gutdenkender Mann, der für Kant Liebe und Hoch­ achtung hatte, und überdem mit ihm in näheren Verbindungen stand. Er opferte ihm daher die Wipfel seiner Pappeln auf, so daß der Turm wie­ der sichtbar wurde und Kant bei dessen Anblick wieder ungestört nach­ denken konnte.« Gesundheitserlebnis in Bettruhe . - »Beim Schlafengehen setzte Kant sich erst ins Bett, schwang sich mit Leichtigkeit hinein, zog den einen Zipfel der Decke über die Schulter unter dem Rücken durch bis zur anderen und durch eine besondere Geschickl ichkeit auch den andern unter sich, und dann

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weiter b i s auf den Leib. So embal l iert u n d gleichsam w i e e i n Kokon ein­ gesponnen, erwartete er den Schlaf. Oft pflegte er zu seinen Tischfreunden zu sagen: ' Wenn ich mich so ins Bett gelegt habe, so frage ich mich oft: kann ein Mensch gesünder sein als ich? ' Seine Gesundheit war nicht bloß eine gänzliche Abwesenheit alles Schmerzes. Sie war die wirkl iche Emp­ findung und der wahre Genuß des höchsten Wohlbefi ndens. Er schl ief daher auch sogleich ein. Keine Leidenschaft machte ihn munter, kein Kummer hielt seinen Schlaf auf, kein Schmerz weckte ihn. Im strengsten Winter schl ief er im kalten Zimmer. Nur in den letzten Jahren seines Lebens l ieß er, auf Anraten seiner Freunde, sein Schlafzimmer sehr mäßig erwärmen. Er war ein Feind von allem, was man sich pflegen und zugut tun nennt. Eine Decke von Eiderdaunen war alles, was ihn vor Frost schützte. Nach seiner Aussage wurden höchsten 5 Minuten zu seiner völligen Er­ wärmung erfordert.« Dies das genaue Zeugnis Wasianskis.

Keine Nachlässigkeit in der Kleidung. - »Kant erwartete«, wie Wasianski ausdrücklich hervorhebt, »seine Gäste auch noch i n den spätesten Zeiten sei nes Lebens, v ö l l ig angekleidet. Bei Vorträgen in dem Kreise seiner Vertrauten, auch am Tische im Schlafrock zu erscheinen, fand er unschick­ lich und sagte: ' Man müsse sich nicht auf die faule Seite legen '.« Trauer um Freund Motherby. - »Besonders muß ich der tödlichen Krank­ heit erwähnen«, so schreibt Jachmann, »von welcher sein edler Freund Motherby vor mehreren Jahren ergriffen wurde, wei l sich dabei das teil­ nehmende Herz des großen Mannes in seiner ganzen liebenswürdigen Natur zeigte. Kant äußerte eine wirklich tiefgefühlte Traurigkeit. Ich mußte ihm täglich zweimal von dem Befinden des Kranken und dem Urteil der Ä rzte umständl ichen Bericht abstatten, und er verriet j edesmal bei meiner An­ kunft eine unruhige Besorgnis. Als ich an dem gefährlichsten Tage ihm eröffnete, daß man nun alle Hoffnung für sein Leben aufgegeben habe, so rief er mit wahrer Betrübnis aus: ' So l l ich denn alle meine alten Freunde vor mir ins Grab gehen sehen ! ' « Der liebste Besitz. - » Seine Uhr hatte Kant« , wie Wasianski bezeugt, »so lieb, daß er bisweilen sagte: wenn er in Not wäre, müßte sie das letzte Stück sein, das er verkaufen würde.« Se/bstberichtigung. - »Sich selbst hielt Kant« , so berichtet Borowski, »nie eine Abweichung von der Wahrheit zu gut. War er selbst über eine Kleinig­ keit i rgend einmal falsch berichtet und hatte es dann wieder erzählt, so ergriff er die nächste Zusammenkunft, um sagen zu können: so und so hatte ichs gehört - aber es ist anders ! Sogar jede Zweideutigkeit, j ede Ver-

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steckung des wahren Sinns unter Ausdrücke, die so und anders genommen werden konnten, war ihm unerträglich.«

Vergebliche Berichtigung des Dieners Lampe. »In den mehr als 30 Jahren« , so erzählt Wasianski, »in denen Lampe wöchentlich zweimal die Hartungsehen Zeitungen geholt und wieder fortgetragen hatte, und wobei er jedesmal, damit sie nicht mit den Hamburger Zeitungen verwechselt wür­ den, von Kant sie nennen hörte, hatte er ihren Namen nicht behalten kön­ nen, er nannte sie die ' Hartmannsche Zeitung '. 'I was Hartmannsehe Zei­ tung' , brummte Kant mit finsterer Stirn. Darauf sprach er sehr laut, affekt­ voll und deutlich: ' Sag Er Hartungsehe Zeitung '. Nun stand der ehemalige Soldat geschultert und verdrießlich darüber, daß er von Kant etwas lernen sollte, und sagte im rauhen Ton, in dem er einst: Wer da? gerufen, Hartungsehe Zeitung, nannte sie aber das nächste Mal wieder falsch.« -

Lobspruch auf Erasmus von Rotterdam . »Vom Erasmus von Rotterdam sagte er« , wie Borowski bekundet, »mehrmals, daß dessen Satiren der Welt mehr Gutes gebracht hätten, als die Spekulationen der Metaphysiker zusam­ mengenommen.« -

Des Lazarettpredigers Becker Ermunterung zum Heiraten . »Ei nes Tages« , so berichtet Jachmann, »kommt Becker zu Kant und fängt nach dem Eintrittskompliment sein Gespräch mit der Frage an, ob der Herr Professor denn immer noch so al lein wären? Auf die scherzhafte Erwi­ derung Kants, daß er diese Frage nicht verstehe, da er ihn ja gewöhnlich so fände, rückt Becker mit einer näheren Erklärung heraus, daß er darunter den ehelosen Stand meine und fängt an, dem Greise das Angenehme und Wünschenswerte des ehel ichen Lebens auseinander zu setzen. Wie Kant ihm versichert, daß er dieses al les für Scherz aufnehme, so zieht Becker eine kleine gedruckte Piece aus der Tasche betitelt »Rafael und Tobias oder das Gespräch zweier Freunde über den Gott wohlgefäll igen Ehestand« , überreicht sie dem Professor mit der Versicherung, daß er sie hauptsächlich für ihn habe drucken lassen und zwar in der Hoffnung, daß der Inhalt dieser Abhandlung ihn noch zur Ehe bewegen würde. Kant nahm mit Freundl ich­ keit den Rafael und Tobias an und entschädigte den Verfasser für gehabte Mühe und Druckkosten. Die Wiedererzählung dieses Vorfalls bei .Tische war die scherzhafteste Unterhaltung, deren ich mich erinnere, aber auch aus ihr leuchtete so ganz der humane Sinn des großen Mannes hervor.« -

Seltsame Bemerkungen über das Heiraten . »»In sei nem Alter« , so bezeugt Jachmann, »schien mir Kant eben nicht große Begriffe von der Liebe zu hegen, wenigstens äußerte er oft gegen seine unverheirateten Freunde den -

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Rat: sie möchten bei der Wahl ihrer künftigen Gattin ja l ieber vernünftigen Gründen, als einer leidenschaftlichen Neigung folgen. Diesen Rat unter­ stützte er noch durch das Urteil anderer in der Sache erfahrener Männer, dem er seinerseits gänzl ich beipflichtete. Er pflegte öfters anzufü hren , ein verständiger Mann, Herr C . , habe zweimal geheiratet, die erste Frau , welche nichts weniger als wohlgestaltet gewesen, habe er vorzüglich ihres Vermögens wegen gewählt. Die andere, ein schönes Frauenzimmer, habe er aus herzl icher Liebe genommen, am Ende aber doch gefunden, daß er mit beiden gleich glücklich gewesen wäre. Kant war daher der Meinung, daß, wenn man bei der Wahl einer Gattin außer den guten Qualitäten der Hausfrau und Mutter noch auf ein sinnliches Motiv sehen wolle, man lieber auf Geld Rücksicht nehmen möchte, wei l dieses länger als alle Schönheit und al ler Reiz vorhalte, zum soliden Lebensglück sehr viel beitrage und selbst das Band der Ehe fester knüpfe, weil der Wohlstand , in welchen sich der Mann d adurch versetzt sieht, ihn wenigstens mit liebenswürdiger Dankbarkeit gegen seine Gattin erfülle. Übrigens dachte er über den Ehestand ganz wie der Apostel Paulus 1 . Korinther 7, 7 . 8 und bestätigte d ies noch durch das Urteil einer sehr verständigen Ehefrau, welche ihm öfters gesagt hätte: ist dir wohl , so bleibe davon ! «

Behandlung von Zueignungsschriften . »Kant sagte e s wohl nie laut«, berichtet Borowski, »daß Zueigungsschriften durch die Anrei hung i hrer Namen an den seinigen im Grunde nur - sich selbst und nicht ihn beehren wollten. Aber willkommen waren sie ihm nicht. Ich bin Bürge dafür, daß er die mehrsten solcher Dedikationen nicht einmal durchlas. Einst war ich eben bei ihm, da ihm Marcus Herz eine Schrift über den Sch windel zu­ schickte, vor der Kants Name stand. Kaum hatte er den Titel angesehen und dabei geäußert, daß er vom Schwindel frei sei , als er dem Diener auch schon befahl , es zu seinen übrigen Büchern (er sagte nie in seine Biblio­ thek) zu tragen. Sicher hat er die Zueigungsschrift nie gelesen, obwohl er aus Herzens Briefe wußte, daß sie da hinter dem Titelblatt stand. « -

Freundliche A ufnahme der Briefe Lüdekes. »Ich eri nnere m i c h noch heute«, berichtet Borowski, »mit Vergnügen der herzlichsten Rührung, mit welcher Kant die Briefe meines Freundes , des rechtschaffenen Predigers Lüdeke bei der Petrikirche in Berli n , aus meinen Händen aufnahm, mit welcher innigen Freundl ichkeit er dann den dargereichten B rief höchst vorsichtig, damit kein Wort durch Aufreißen etwa verloren ginge, eröffnete, wie er mich dann bat, ihm l angsam vorzulesen, und welche warme Dank­ bezeugungen an Lüdeke, den er sehr schätzte, er mir auftrug. Bei dem Mittagstische tei lte er dann die Briefe meines Freundes, als Würze der Tischgespräche, höchstvergnügt mit.« -

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Gegen das Genießertum . - »Unausstehlich waren dem Phi losophen« , nach dem Zeugnis Wasianskis, »alle Menschen, die immer genießen. Es war amüsant zu hören , wie Kant alle Arten von Genüssen solcher Schlemmer herzuzählen wußte und i hren ganzen Lebenstag schilderte. Bei dieser Schil­ derung war es aber auch bemerkbar, daß sein Gemälde nur ein Ideal war.« Mißfallen am Duzen . - »Kant sagte mir einmal« , so überliefert Kraus, »als ich mit ihm spazieren ging und Trummer (sein Schulkamerad vom Frideri­ cianum) ihm begegnete , hinterher über das Duzen, daß es ihm überhaupt nicht gefalle und daß er es nur leider nicht mehr ändern könne.« Karamsins Besuch bei Kant. Der bedeutende russische Historiker Karam­ sin hat in seinen Briefen eines reisenden Russen , die in einer Verdeutschung von Johann Richter zu Leipzig 1 799 bei Joh. Friedr. Hartknoch erschienen unter dem 1 9. Juni 1 789 folgende ansprechende Schilderung seiner Begeg­ nung mit dem Philosophen gegeben. »Gestern nachmittags war ich bei dem berühmten Kant, einem scharfsinnigen und fei nen Metaphysiker, der Malebranche und Hume und Leibniz und Bannet stürzte. Kant, den einst der j üdische Sokrates, der verstorbene Mendelssohn, den al les zermal­ menden Kant nannte. Ich hatte keinen Brief an ihn. Aber Kühnheit gewinnt Städte, und mir öffnete sie die Tür des Philosophen. Ein kleiner hagerer Greis von einer außerordentl ichen Zartheit und Weiße, empfing mich. Ich sagte zu ihm: Ich bin ein russischer Edelmann, der deswegen reiset, um mit einigen berühmten Gelehrten bekannt zu werden und darum komme ich zu Kant. Er nötigte mich sogleich zum Sitzen und sagte: ' Meine Schriften können nicht jedermann gefal len. Nur wen ige lieben die tiefen metaphy­ sischen Untersuchungen, mit welchen ich mich beschäftigt habe '. Wir sprachen erst eine halbe Stunde über verschiedene Gegenstände, von Reisen, von China, von Entdeckungen neuer Länder usw. Ich mußte dabei über seine geographischen und historischen Kenntnisse erstaunen, die allein hinreichend schienen, das ganze Magazin eines menschlichen Gedächt­ nisses zu füllen, und doch ist dies bei ihm nur Nebensache. D arauf bracht' ich das Gespräch, doch nicht ohne Sprung, auf die mpralische Natur des Menschen und folgendes habe ich von seinem Urteile darüber gemerkt. ' Unsere Bestimmung ist Tätigkeit. Der Mensch ist niemals ganz mit dem zufrieden, was er besitzt und strebt i mmer nach etwas anderem. Der Tod trifft uns noch auf dem Weg nach dem Ziel unserer Wünsche. Man gebe dem Menschen alles, wonach er sich sehnt und in demselben Augenblicke, da er es erlangt, wird er empfinden, daß dieses alles nicht alles sei. Da wir nun hier kein Ziel und Ende unseres Strebens sehen, so nehmen wir eine Zukunft an, wo sich der Knoten lösen muß, und d ieser Gedanke ist dem -

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Menschen um so angenehmer, je weniger Verhältnis hienieden zwischen Freude und Schmerz, zwischen Genüssen und Entbehrungen stattfinde. Ich für meine Person erheitere mich damit, daß ich schon über sechzig Jahre alt bin, und das Ende meines Lebens nicht mehr fern ist, wo ich in ein besseres zu kommen hoffe. Wenn ich mich jetzt an die Freuden erinnere, die ich während meines Lebens genossen habe, so empfind ' ich kein Vergnügen, denk ich aber an die Gelegenheiten, wo ich nach dem Moralgesetz handelte, das in mein Herz geschrieben ist, so fühl ' ich die reinste Freude. Ich nenne es das Moralgesetz , andere das Gewissen, die Empfindung von Recht und Unrecht, man nenne es, wie man w i l l , aber es ist. Ich habe gelogen, kein Mensch weiß es, und ich schäme mich doch. Freilich ist die Wahrschein­ l ichkeit des künftigen Lebens noch immer keine Gewißheit. Aber wenn man alles zusammen nimmt, so gebietet die Vernunft, daran zu glauben. Was würde auch aus uns werden, wenn wir es sozusagen mit den Augen sähen? Würden wir dann nicht vielleicht durch den Reiz desselben von dem rechten Gebrauche des Gegenwärtigen abgezogen werden? Reden wir aber von Bestimmung, von einem zukünftigen Leben, so setzten wir dadurch schon das Dasein eines ewigen und schöpferischen Verstandes voraus, der alles zu i rgend etwas, und zwar zu etwas Gutem schuf. Was? Wie? - Hier muß auch der erste Weise seine Unwissenheit bekennen. Die Vernunft löscht hier ihre Fackel aus , und wir bleiben im Dunkeln. Nur die Einbil­ dungskraft kann in diesem Dunkel herumirren und Phantome schaffen. ' Ehrwürdiger Mann ! Verzeihe, wenn ich Deine Gedanken i n diesen Zei­ len entstellt habe. Er kennt Lavater und hat mit ihm korrespondiert. ' Lavater ' , sagte er, ' ist sehr l iebenswürdig, in Rücksicht seines guten Herzens. Aber seine außer­ ordentlich lebhafte Einbildungskraft macht, daß er sich durch Phantome blenden läßt, an Magnetism und dergleichen glaubt '. Ich erwähnte seiner Feinde. ' Sie werden sie kennen lernen ' , sagte Kant, ' und Sie werden finden, daß sie allzumal gute Menschen sind '. Er schrieb mir die Titel von zweien seiner Schriften auf, die ich noch nicht gelesen habe: Kritik der praktischen Vernunft und Metaphysik der Sitten - und dieses Zettelehen werd ' ich verwahren wie ein hei liges An­ denken. Indem er meinen Namen in sein Taschenbuch schrieb , wünschte er, daß sich endlich einmal alle meine Zweifel lösen möchten. Darauf schieden wir. Das, meine Freunde, ist eine kurze Beschreibung einer für mich äußerst interessanten Unterredung, die über drei Stunden dauerte. Kant spricht geschwind , leise u nd unverständlich. Ich mußte alle meine Gehörnerven anstrengen, um zu verstehen, was er sagte. Er bewohnt ein kleines u nan­ sehnliches Haus. Überhaupt ist alles bei ihm alltäglich, ausgenommen seine Metaphysik.«

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Des mineralogischen Studenten Friedn'ch Freiherrn von Lupin Besuch bei Kant. - Friedrich Freiherr von Lupin gibt in seiner Selbstbiographie eine humoristisch gewürzte Darstellung der denkwürdigen Erlebnisse bei der Begegnung mit dem Philosophen. »Auf der Seereise nach Pillau erlebte ich erst, was an einer Seereise das Interessanteste ist - einen Sturm. Da schon so viele Sturmbeschreibungen vorhanden, verweisen wir auf die beste, die wir haben, auf das Virgilische ' Insequ itur cl amorque v i rum stridorque rudentum '. Für Damen, d ie keine Übersetzung bei der Hand haben, geben wir bloß drei travestierte Verse: Die Schiffe flogen her und hin, Es brachen Tau und Stangen, Die ganze Himmelskuppel schien, Kohlrabenschwarz umhangen. Aeol vermehrte noch den Graus Und putzte 's Licht am Himmel aus. Der Sturm erhob sich immermehr Mit jedem Augenblicke: Die Blitze schnitten kreuz und quer das Firlll ament in Stücke, Der Donner ging ohn' Unterlaß Bald im Diskant und bald im Baß, Der Wind accompagnierte. Und Schäffler schrie und zitterte An Händen und an Füßen: '0 hätt! ich doch, wie Andere, Zu Haus ins Gras gebissen ! So aber muß ich armer Gauch Vielleicht in einem Walfischbauch Mein Heldenleben enden. ' Leichenblaß bei Pillau an das Land gestiegen, stach ich doch alsbald wieder in die See und fischte, während Sufflago die Sturm krankheit abwartete, in der Frischen Nehrung und im Frischen Haff, das erste mal in meinem Leben - Steine und zwar Steine mit Fl iegen und Spinnen, näml ich Bern­ steine. Die Bernsteinfischerei in diesen Gegenden, sowie daß in den Bernsteinen nicht selten Fliegen, Spinnen und andere Insekten vorkommen, ist den Mineralogen bekannt. Auch wird denen, d ie ihren Herodot gelesen haben, erinnerlich sein, daß der Grieche Pytheas schon zu Alexanders des Großen Zeit Bernsteine von den Guttonen, die damals an der Ostsee wohnten , ein­ handelte.

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Die Mineralogen haben das vor den Entomologen zum Voraus, daß ihre Insekten von keinen Maden gefressen werden. Ich besitze von der dama­ l i gen Fischerei Reliquien, die ungleich standhafter sind, als die Glosso­ petren (Fischzähne) von Loretto, von denen man behauptet, sie seien von dem Haifische, welcher den Jonas verschluckte. Mich wundert nur, daß kein Mensch darauf verfallen ist, in dem Produkte des präadamitischen Bernstei nbaums große Herren aufzubewahren, wenigstens das Herz. Man würde damit ihre Durchsichtigkeit gewinnen und den Vorteil des Wohl­ geruchs, der Herr möchte gewesen sein, wie er wollte. In Königsberg, wohin ich mich zu Land über Fischhausen begab, fand ich eine ruhige Hochschule und eine verl assene Residenz. So kleinlaut indes die an dem sti ll dahinfließenden Pregel gelegene Stadt war, so be­ wahrte sie doch ihren König, - einen König, dessen Ruhm über Städte und Länder hinausragte, welcher mit seinen Bahnen zur Wahrheit der Welt angehörte, - den kleinen, sonst nicht eminenten, siebenzigj ährigen Imma­ nuel Kant. Woh l hatte unser Freund die letzte Zeit seines Aufenthalts in Erlangen Kants Kritik der reinen Vernunft gelesen, allein er gab doch wenig Hoff­ nung ein Kantianer zu werden, weil er mit der Untersuchung der Grundüber­ zeugungen des eigenen Erkenntnisvermögens, wenigstens damals, nicht in das Reine kommen konnte. Dagegen hatte er doch Kants Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft so ziemlich begriffen und sich man­ ches davon angeeignet. Mit einer so leichten Ladung bei Kant vorzufahren ( 1 794) , wäre Vermes­ senheit gewesen, hätte er nicht Briefe von B lumenbach, Kästner, Lichten­ berg und Heyne, dann von Werner und Bode in der Tasche gehabt. Mit diesem Empfehlungs-Sechspfünder fuhr ich vor. Kant war, als er mich empfing, im Schlafrock: das war mir gerade als hätte mich ein großer Kriegsmann in vol ler Rüstung empfangen. So heiter und freundlich er auch aussah, so kam es mir doch vor, auf seiner Stirn zu lesen: ' Wenn es mir der Junge Herr aus Schwaben nur nicht zu lange macht ! ' Erst fragte er nach den Männern, d ie mir die Briefe anvertraut. Bald konnte ich merken , daß er sich für Werner am meisten i nteressierte. Das kam wohl daher, weil Kant, damals gerade mit der Herausgabe seiner physischen Geographie beschäftigt, sich gern von Werners noch nicht öffentlich bekannt gewordenem System und seinen geognostischen An­ sichten unterhielt. Da ich auf seine Frage zu antworten nicht verlegen war, im übrigen Kant es wohl verstand, sich herabzul assen, so war, zu meiner großen Freude, die Unterhaltung bald sehr belebt. Ich kramte, was ich gehört und gesehen, in einem fort aus, und wenn ich auch nicht tief greifen konnte, so brachte ich doch einiges zu Tage, was der Rede wert war. Besonders wurde der Neptunismus und Vulkanismus, welche damals eine

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ebenso große Wassernot als gewaltige Feuersbrunst in der mineralogischen Welt veranlaßten , besprochen. Ich schüttete ganze Kübel voll in die noch nicht ganz verlöschten Krater der Valeriusse und Agrikola, woraus Kant abnehmen konnte, daß ich mehr Anlage hatte, zu ertrinken, als zu ver­ brennen. Ei ngedenk des ersten Faltenschlags auf der Stirne, langte ich ein paar mal bescheiden nach dem Hute. Kant hielt mich aber stets mit einer Frage zurück. Was i mmer nur ein Kiesel ist, wenn auch kein Feuerstein, daraus schlagen große Männer Funken. Auf mich dagegen war anwendbar, was Schiller von dem Königsberger Weisen sagt: ' Wenn die Könige bauen, haben die Kärrner zu tun '. Und allerdings hatte Kant das seltene Glück, auf einer Bühne zu agieren , der es nicht an einer Ei nfassung und Mauer von Köpfen fehlte, aus denen seine Laute heller und resonierend zurück­ schlugen, sowie die Alten in ihre Theater leere Töpfe versteckten, die der Stimme der Schauspieler mit Resonanzen nachhalfen. In Anbetracht der Unterhaltung mit dem Mineralogen ist nicht zu über­ sehen, daß der Königsberger Weise sich nie von Königsberg entfernt hatte, nie in eine Grube hinab, noch auf einen Berg hinaufgestiegen war, mithin, dem Himmel in Gedanken zwar der Nächste, doch, was auf und in der Erde vorging, von andern vernehmen mußte. Kant sagte mir beim Gehen, ich möchte morgen das Mittagessen bei ihm einnehmen. Welch ein Triumph, bei dem König in Königsberg an d ie Tafel gezogen zu werden ! Diese Art Hoffähigkeit hatte hohen Wert für mich; denn Nicolai hatte mich schon darauf aufmerksam gemacht, er gäbe kei nem Menschen eine Suppe, der sie nicht verdiene. Es wurde mir nach der Audienz bei Kant, in welcher ich der höchsten Freiheit des Bewußtseins gegenübergestanden, noch den Vormittag nur soviel Zeit, mich in eine Gesellschaft zu begeben, in welcher die geistige Tätigkeit der Menschen dieses Bewußtsein gänzlich verloren hat - ich ging in das Narrenhaus. Hier traf ich einen Handwerksburschen, dem durch die fixe Idee, ein Dichter zu sein, die ganze Welt entschwunden und die übrige Tätigkeit der Seele entrissen worden war. Er machte in einem fort Verse, sinnige und unsinnige, wie es kam. Niemandem war bekannt, daß der Mensch vor seinem Wahnsinne Verse gemacht habe, es war daher anzu­ nehmen, daß er bei dem ersten Verse, den er viel leicht machen wol lte, das Gleichgewicht verloren habe. Mir kam diese Erscheinung in psycholo­ gischer Hinsicht merkwürdig vor, besonders da seine Gesundheit nichts zu wünschen übrig ließ und daher wohl keine physiologische Ursache der Grund seiner Narrheit sein konnte. Ich zog über diesen Menschen genaue Erkundigungen ein, um morgen bei Kant mit dem Narren die Bahn zu einem interessanten Gespräche zu eröffnen. Als ich mich des andern Tages zur gesetzten Stunde bei dem verheißenen

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Ehrenmahle einfand, traf ich den Weltweisen sorgfältig angezogen und gut aufgeputzt, auch empfing er mich im Tone des gastgebenden Hausherrn, mit einer aus dem Innern hervorleuchtenden, ihm sehr wohl anstehenden stolzen Haltung. Er schien ein Anderer, als gestern im Schlafrocke zu sein, an Leib und Seele weniger trocken, wenn er gleich in dem Anzuge noch abgemagerter und dürrer aussah. Aber seine hohe, heitere Stirn und seine klaren Augen waren dieselben und krönten und belebten den kleinen Mann, über den ich - freilich nur wie ein Schatten - hinausragte. Wir hatten uns kaum zu Tische gesetzt, und ich mich mannhaft zusam­ mengenommen, so v iel es sein konnte, ein kleiner Geist zu sein, so bemerkte ich bald, daß große Geister nicht bloß von der Luft leben. Er aß nicht nur mit Appetit, sondern mit Sinnl ichkeit. Der untere Tei l seines Gesichts , die ganze Peripherie der Kinnbacken drückte die Wollust des Genusses auf eine unverkennbare Weise aus, ja sogar einige der geist­ reichen Blicke fixierten sich so bestimmt auf diesen oder j enen lmbiß, daß er i n diesem Augenblicke rein abgeschlossen, ein Mann der Tafel war. Er ließ sich seinen guten alten Wein auf dieselbe Weise schmecken. In keinem Falle sind wohl große Herren und große Gelehrte einander so ähnlich als gegenüber von ihren Gästen bei der Tafel. Ich widmete dem Festgeber eine so u ngetei lte Aufmerksamkeit, daß die Speisen nur wie Schaugerichte an mir vorüberzogen, und ich war daher hungriger und durstiger nach, als vor der Tafel. Nachdem Kant der Natur den Tribut bezahlt und zuvor nicht viel gesprochen hatte, ward er sehr gesprächig. Ich habe wenige Männer in diesem Alter gesehen, die noch so munter und so beweglich gewesen wären, wie er, und doch war er dabei trocken in allem, was er sprach, so fein, so witzig auch die Bemerkungen waren, die er selbst über das Gleich­ gültigste ausstreute, so trocken waren sie angebracht, einige Anekdoten kamen dazwischen, wie gerufen, wie für den Augenbl ick hervorge­ sprungen, man glaubt, das Ernsthafteste werde nun kommen, und man konnte sich des Lachens nicht enthalten. Er sprach nun i n einem fort auch mir zu, es mir besser schmecken zu lassen, besonders bei einem großen Seefische, wobei er des reichen Juden gedachte, der zu seinem Gaste sagte: ' Essen Sie, essen Sie es ist ein seltener Fisch, bezahlt und nicht gestohlen '. Ich führte ihm dagegen die Geschichte des Magister Vulpius zu Gemüt, der, bei Leibniz gastiert, damit ihm j a kein Wort entfalle, eine Gansleber un­ gekaut verschluckte und des andern Tages an einer Indigestion starb. Als ich von dem Handwerksburschen zu sprechen anfi ng, gab er wen ig Acht darauf, und als ich ihm das zweite mal vorbringen wollte, sagte er: ' Lassen wir den unglücklichen Gesellen und sind wir gescheit '. Das war gerade ein Zug des großen Mannes, daß sein tiefes Denken der heitern Gesel ligkeit keinen Abbruch tat; er war lauter reine Vernunft und tiefer Verstand , aber damit weder sich selbst noch andern lästig. Um fröh-

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lieh in seiner Gesellschaft zu sei n, durfte man ihn nur ansehen und ihm zuhören, um tugendhaft zu sein, ihm nicht bloß auf seine Worte glauben, ihm nachfolgen und mit ihm den ken, denn kaum hat wohl ein Mensch sittlicher und froher gelebt, als er. Ich bildete mir insbesondere etwas darauf ein, mit dem Königsherger Philosophen ganz allein gespeist zu haben. Bekanntlich war er der Mei­ nung, der Zweck der Tischgesellschaft werde nur vorzüglich dann erreicht, wenn die Zahl der Gäste nicht unter der Zahl der Grazien sei , die Zahl der Musen nicht übersteige, weil bei weniger als drei Tischgenossen das Gespräch leicht ausgehen könnte, bei mehr als neun Personen aber ein allen verständ l iches Gespräch nicht wohl möglich sei. Das Ergebnis, daß Kant sich mit mir allein unterhalten, wenigstens das Gespräch nicht ausge­ gangen, war mir ein außerordentliches. Als ich des andern Tages von ihm Abschied nahm, war es mir, als ob er mich zur Tugend einweihen wollte. Hier offenbarte sich in wenigen Worten der kategorische Imperativ seines moralischen Sinnes, und ein ernster Eifer gegen allen und jeden Eudämonismus. Rein in sich abgeschlossen, reichte er mir zum Abschiede freundlich die Hand.«

Eine denkwürdige Selbstprophezeiung. - Wie Varnhagen von Ense (Tage­ bücher, Bd. I. 46) berichtet, hat Kant i m Jahre 1 797 dem Geh. Staatsrat Friedrich August von Stägemann wörtlich erk lärt: » ich bin mit mei nen Schriften um ein Jahrhundert zu früh gekommen, nach hundert Jahren wird man mich erst recht verstehen, und dann meine Bücher aufs neue studieren und gelten lassen«. Des jungen Grafen Wenzel Johann Gottfried v. Purgstall Wallfahrt zu Kant. - Der Brief des Reinholdschülers Grafen Wenzel Johann Gottfried v. Purgstall an seinen Studienkameraden Wilhelm Jos. Kaimann bringt einen interessanten Bericht über den Verkehr mit dem Königsherger Denker. Er stammt aus dem Frühjahr 1 795. »Am 1. Mai nach Tische um 4 1 /2 Uhr. Gestern war ich abgerufen und dieser Brief konnte also heute nicht mehr abgehen. Es ist mir dies sehr leid, denn ich bin bange, daß dieses Schreiben schon zu spät kommt, denn ich glaube, daß Sie bis halben Mai wohl schon in Grätz sind. Soeben komme ich vom - Patriarchen. Ich habe schon das vierte oder fünfte patriarchalische Mahl bei ihm eingenommen. Gern möchte ich Ihnen viel über ihn sagen: Auch hätte ich wohl so manches Merkwürdige gesammelt, was für Sie auch sehr wichtig wäre, allein das Wenigste davon läßt sich schriftlich sagen , wenn man nur flüch­ tig hinschreiben muß wie ich, da ich so außerordentl ich wenig Zeit habe.

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Sein Gesicht und seine Person sieht dem B i lde, was vor dem Reper­ torium d A. L. Z. ist und was in Reinholds Stube hängt, am ähnlichsten. Nur hat er etwas Bewegl iches, Feines, und Freundliches um den Mund und um seine hellen blauen Augen, was man im harten Kupferstiche vermißt. Er geht schon gebückt, sein Haarbeutel fällt ihm immer hervor, weil er etwas schief ist, und das macht, daß er immer ein Manöver mit ihm vorzunehmen hat, um i hn zurückzuschieben. Meinen ersten Besuch machte ich bei ihm am 18. April ( am 1 7. kam ich an ) um 1 /2 8 Uhr morgens. Ich fand ihn im gelben Schlafrocke mit einer roten, seidenen, polnischen B inde, in der Schl afmütze - arbeitend. Er emp­ fing mich sehr freundlich, natürlich - durchflog Reinholds Brief, sprach sehr v iel - schwätzte beinahe - meist von Kleinigkeiten, scherzte mit sehr viel Witz und sagte einige ganz originelle Bemerkungen über Schwärmerei und besonders über die gelehrten Damen und ihre Krankheiten. Nichts Reinholdsches - im bösen S i nne - war in seinem Empfange und noch hat er mir nicht ein Kompliment oder auch nur ein verbindliches Wort über meine Reise gesagt, noch sonst etwas Ä hnl iches von dem , was ich meine und Sie wohl erraten. Sie denken doch wohl , daß dies kein Vorwurf sein soll , den ich ihm mache? Das vielmehr - - - doch Sie wissen dies. Er liest Logik publice täglich morgens um 7 Uhr und zweimal die Woche privatim physische Geographie. Es versteht sich, daß ich bei keinen dieser Kol legien fehle. Sein Vortrag ist ganz im Tone des gewöhnl ichen Spre­ chens und, wenn Sie wollen, nicht eben schön. Stellen Sie sich ein altes kleines Männchen vor, das gekrümmt im braunen Rocke mit gelben Knöpfen , eine Perücke und den Haarbeutel nicht zu vergessen - dasitzt, denken Sie noch, daß dieses Männchen zuweilen seine Hände aus dem zugeknöpften Rocke, wo sie verschränkt stecken , hervornimmt und eine kleine Bewegung vors Gesicht macht, wie wenn man einem so etwas recht begreiflich machen will, stellen Sie sich dies vor und Sie sehen ihn auf ein Haar. Obschon dies nun nicht eben schön aussieht, obschon seine Stimme nicht hell klingt, so ist doch alles, was sei nem Vortrage, wenn ich mich so ausdrücken darf, an Form fehlt, reichlich durch die Vortreffl ichkeit des Stoffes am selben ersetzt. Man verläßt gewiß nie sein Auditorium ohne manchen erläuternden Wink über seine Schriften mit nach Hause zu nehmen, und es ist einem, als käme man so leicht und auf dem kürzesten Wege zum Verstehen manches schwierigen Satzes der Kritik der reinen und praktischen Vernunft, vor welchem die andern Herren, ich meine seine Ausleger - nun denke ich aber nicht eben zunächst an Reinhold - mit großem Geplauder über die Schwie­ rigkeiten stehen bleiben, eine Menge Zurüstungen und Vorbereitungen machen, indessen er selbst gerade darauf zugeht, einfach davon und darüber spricht, so daß man es ihm dabei ansieht, er träume nicht davon, daß die

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Sache so schwer sein soll , und sei gewiß überzeugt, daß sie nun j eder ver­ standen haben könne. Wenn man einmal dahin gekommen ist, seine Stimme zu verstehen, so wird es einem nicht schwer, sei nen Gedanken zu folgen. Letzt sprach er über Raum und Zeit und mir war, als hätte ich keinen noch so verstanden als ihn, und nun ist er eben dabei in der Logik, wo er von der Erkenntnis reden muß. Dies gibt ihm Gelegenheit, über die Vollkommen­ heit derselben, über logische, ästhetische usw. manches zu sagen und da trägt er denn die Hauptbegriffe, glaube ich, über das Schöne aus der Kritik der Urteilskraft so leicht und verständl ich und so unterhaltend vor, als Sie es sich nicht denken können. Aus dieser Rücksicht allein müßte es doch äußerst interessant sein, einen ganzen Kurs bei ihm zu hören, weil man mit allen seinen Ideen leicht bekannt wird. Ich bin sehr mit seinem Vortrage zufrieden, mir scheint er das Ideal eines belehrenden Vortrages, so sollen alle Professoren sprechen, so soll eine Wissenschaft, die für den Kopf ist, vorgetragen werden, so kann jeder Professor täglich lesen und als ein ehrl icher wahrer Mann sein Auditori um jedesmal verlassen, und so kann man ihn täglich hören, ohne seine Gesund­ heit der Seele dabei zu verl ieren, ohne Aufblähung und ohne Ekel zu bekommen. Nehmen Sie d ies nicht bitter mit Sauerteig oder im komischen Sinne auf, mein lieber Kalmann ! - Sie wissen woh l , wer nun vor meinem Geiste steht - er ist mir doch teuer, l ieb, sehr lieb, er ist auch gut, aber was ich hier hi nschreibe, fl ießt so gerade aus meiner Seele, um Ihnen über ihn soviel zu sagen, als ich kann, und so viel anschau lich zu machen als ich ' s vermag, ich wähle nur immer die erste Darstellung die sich mir anbietet. Kant l iest über eine alte Logik, von Meier, wenn ich nicht i rre. Immer bringt er das Buch mit in die Stunde. Es sieht so alt und abgeschmutzt aus, ich glaube, er bringt es schon 40 Jahre tägl ich ins Kollegium, alle Blätter sind klein von seiner Hand beschrieben und noch dazu sind viele gedruckte Seiten mit Papier verklebt und viele Zeilen ausgestrichen, so daß, wie sich dies verstehet, von Meiers Logik beinahe nichts übrig ist. Von seinen Zuhörern hat kein einziger das Buch mit und man schreibt bloß ihm nach. Er aber scheint dies gar nicht zu bemerken und folgt mit großer Treue sei nem Autor von Kapitel zu Kapitel und dann berichtigt er und sagt vi�lmehr al les anders, aber mit der größten Unschu ld, daß man es ihm ansehen kann, er tue sich nichts zugute auf seine Erfindungen. Er bittet mich alle vierten Tage regelmäßig zu Tische, ei nige Male besuchte ich ihn. Über theoretische Philosophie sprach er noch nie ein Wort, ich bringe ihn nicht darauf, sondern überlasse jederzeit das Gespräch ihm, und er scheint abstrakte Gespräche nicht zu lieben. Wenn Sie sich den Ton und die Art seines Sprechens vorstellen wollen, gerade so - ganz so bis auf die kleinsten Wendungen, so einfach ohne erkünstelte Wärme - so lesen sie seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten oder die Vorrede zur

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Kritik der pr. Vernunft wieder. Von Reinholds Fam i l ie sprach er nie ein Wort. Selbst nur einige flüchtige Fragen über Reinholds Gesundheit tat er. Sehr viel frug er mich über Joh. Benj am i n Erhard , mit sehr viel Interesse und Freundschaft spricht er von ihm, er sagte: ' Es ist doch kurios, daß mir Reinhold nichts schreibt, wie es eigentlich mit Erhard ist, schon lange habe ich ihn darüber gefragt, ich war sehr unruhig, es l iegt mir die Sache am Herzen, ich habe keine sichere Nachricht von ihm, doch vielleicht steht etwas im Briefe, den mir Herr G. brachte - oder können Sie mir mündlich Auskunft geben'. Ich tat dies denn der Länge nach. Sie werden sich wundern, mit wem ich finde, daß Kant Ä hnl ichkeit hat, in der Weitläufigkeit sei nes Sprechens, in seinen l angen Einschiebseln, selbst in der Sprache manchmal - mit - mit - dem verruchten Wieland ! Sie sagen mir doch bald viel von ihm und von Ihrer Aufnahme bei ihm und von Ihrer Reise, von Ihrer Gesundheit, von Ihrer Gemütsstimmung, von hundert Dingen, aber vor al lem - offen und gerade, so wie ich über R. schreibe mit flüchtiger Feder - wie Ihnen meine Mutter gefällt. Jeder B rief spricht mir mit mütterlicher Sorgfalt über Sie. Wie war Ihre Trennung von Kiel , wie kam Ihr Körper weg, nicht zu sehr angegriffen? Wie ging es den Mädchen? Meine Reise war glücklich, ich war und bin gesund. Auf dem Wege war ich oft melancholisch, wenn so der sausende Ostwi nd um mich bl ies und ich auf den schwarzen mecklenburgischen und pommerschen Haiden so Schritt vor Schritt herfahren mußte. Ich reiste drei Nächte, lag auf meinem Leiterwagen und blickte so ins Sternenzelt hinauf. Hier wohne ich in ein paar guten Stuben und habe einen alten, ehrlichen Bedienten auf zwei Monate aufgenommen. Was machen Meißls? Was sagte er und sie alle zu Ihnen? Schreiben Sie mir bald, gleich, so kann ich noch Ihren Brief, vielleicht hier, erhalten. Gestern habe ich Schmalz gesehen, es ist ein geschwätziger, lustiger Patron, erzählt gern und gut lustige Geschichten, Kraus scheint ein guter Kerl. D as Resultat meiner Beobachtungen über Kant ist d ieses: Er ist gewiß ehrlich, seine Seele ist rein, er ist kindlich und hält sich selbst für keinen großen Mann. D ies sagen auch alle, die ihn genau kennen. Er hat sich also über diesen Punkt eine in ihrer Art einzigen Unschu ld - es gibt kei nen besseren Ausdruck dafür - erhalten. Er hat sehr viel Menschenkenntnis, hat die Welt studiert und weiß über viele andere Dinge, die nicht in sein Fach gehören, vortreffl ich zu reden. Er allein ist ein wahrer spekulativer Philo­ soph und man muß auch nur ein solches speku l atives - im wahren Sinne des Wortes, n icht bloß ein spaltender Kopf - Genie sein , wenn man seiner Menschl ichkeit und S i ttlichkeit u nbeschadet sich ins Gebiet der spekula­ tiven Philosophie als Selbsterfinder - nicht als bloß Leser und Versteher -

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wagen will. Jeder andere wird erstens der Sache im ganzen keinen Vor­ schub tun und sich unfehlbar - aufopfern. Dies ist mir nun sonnenklar und wird mir klarer, j e mehr ich darüber nachdenke. Es wird nur alle Jahrtau­ sende ein Kant geboren, und die Natur hat dies sehr weise sich eingerichtet. Denn es ist der Menschheit auch nur alle Jahrtausende ein spekulativer Philosoph nötig. So gewiß ich nun glaube, daß Kants Moralität und Humanität durch den gefährlichen Stand eines Professors nicht gelitten hat, so gewiß ist es doch, daß er nicht allen Mängeln und Unvoll kommenheiten sei nes Amtes entwischt. So kann er z. B. nicht mehr Reden hören, wird ungeduldig, wenigstens auf einen Augenblick, wenn j emand etwas besser zu wissen glaubt, spricht unaufhörlich allein und weiß alles über alle Länder, Orte, Weltteile usw. z. B: Er wußte besser als ich, was für Federv ieh wir haben, wie das Land aussieht, auf welcher Stufe der Aufklärung der kathol i sche Geistliche steht usw. Über alle diese Dinge widersprach er mir.«

Johann Friedrich Abeggs Begegnung mit Kant im Sommer 1 798. Der badische Theologe Johann Friedrich Abegg hat 1 798 eine Reise von seiner Pfarrstelle Boxberg nach Königsberg gemacht, wo sein Bruder als wohl­ habender Weinhändler lebte. Sein ausführliches Reisetagebuch enthält u. a. Aufzeichnungen der Erlebnisse beim Zusammensein mit Kant (Vergl. Joh. Friedr. Abeggs Reise zu deutschen Dichtern und Gelehrten im Jahre 1 798 nach Tagebuchblättern mitgeteilt von H. Deiters in der Zeitschrift Eupho­ rion , 16. Band, Leipzig und Wien 1 909, S. 732ff. , sowie die entsprechenden ergänzenden und berichtigenden Angaben bei Karl Vorländer, Immanuel Kant, Band II, S. 307ff.) . »Heute früh ( 1 . Juni) um 1 0 U h r führte m i c h Oberinspektor Brah l , ein vertrauter Gesel lschafter Kants, zu diesem, nachdem er ihn vorher von meiner Absicht, ihn zu besuchen, unterrichtet hatte. Denn der Philosoph läßt nicht mehr j eden vor sich kommen. Es trat mir ein Mann mittlerer Größe, sehr vorwärtsgebückt, mit freundlich lebhaftem Angesichte ent­ gegen. Als ich ihm meine Freude, ihn persönlich verehren zu dürfen, ausgedrückt hatte, überreichte ich ihm die Adresse von Fichte. Nachdem er sie gelesen hatte, sagte er: Dies ist nun so ein Kompliment, auch schreibt er immer höflich, aber eine Bitterkeit l äuft mit unter, daß ich mich nicht über ihn oder gar für ihn erkläre, und es wird nichts dadurch ausgerichtet, daß er alles so fein aussinnt, ich lese seine Schriften nicht alle, aber neulich las ich die Rezens ion seiner Schriften in der Jenaer Literaturzeitung, ich wußte bei m ersten Male nicht recht, was er wollte, ich las sie zum zweiten Male und glaubte, nun würde ich etwas verstehen können, aber es war nichts. Er hält den Apfel vor den Mund, aber er gewährt keinen Genuß. Es kommt auf die Frage hi naus: mundus ex aqua? Er bleibt immer im allgemeinen, gibt -

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nie ein Beispiel und kann, was noch schlimmer ist, keins geben , weil dasj enige, was zu seinen al lgemeinen Begriffen paßt, nicht existiert. Als ich nach einer l ängeren Unterhaltung, in der Kant das Wort führte, mit Brahl nach Hause zurückkehrte, erzählte mir d ieser, wie folgt. Kant l iebt mit ganzer Seele die Sache der Franzosen und wird durch alle Ausbrüche der Immoralität nicht irre gemacht, zu glauben, das Repräsentativsystem sei das beste. Ungeachtet er Gott postuliert, glaubt er selbst nicht daran, und achtet die Zukunft nicht, insofern sie Fortdauer gewähren kann. In der Metaphysik läßt er es unentschieden, negiert nicht und bej aht nicht. In der Moral kommt es nach seiner Meinung auf das indiv iduel le Bedürfnis an, er bekämpft in dieser Hinsicht Schlosser nicht, der ohne eine glückl iche Weltregierung nicht leben kann. Kant ist völlig unabhängig. Ungeachtet er das Leben für nichts Kostbares und für nicht sehr beglückend hält, ist er doch i mmer heiter und vergnügt. Er hat sich ganz in seiner Gewalt und fürchtet den Tod durchaus nicht. Als kürzlich einer seiner j üngeren Freunde kränklich und sehr traurig war, äußerte er: ' 0 ! fürchten Sie sich etwa vor dem Tode? Wie unrecht ! Sehen Sie, ich fürchte mich nicht, ungeachtet der Paßwagen vor der Türe steht'. Er hat einen Schwaben zum Bedienten, einen drolligen aber sehr guten Menschen. D ieser muß ihn j eden Morgen 4 3/4 Uhr wecken, selbst wenn der Philosoph dadurch gestört würde und noch gern länger schliefe, muß der Befehl ausgeführt werden. Er nennt die glücklichste Stunde an j edem Tage d iejenige, in welcher er sich seinen Tee ansetzt, die Pfeife zurecht macht, stopft, ansteckt, raucht und trinkt. Dies ist die Zeit der Visionen, in der er in einer wohltuenden Abspannung von ernsten Ge­ schäften und leicht bewegt lebt, aber länger als eine Stunde ist ihm d ieser Genuß nicht möglich. Er muß tätig sein. Er liest sehr viel und allerlei. Dem Nicolovius gibt er j etzt seine Schriften in Verlag, damit er sich j emand verpfl ichte, der ihm die neuesten Schriften gibt. Auch besitzt er die v iel­ seitigste Bildung, spricht über al les und oft allein während seiner Mahlzeit, an welcher immer einige ihm angenehme Menschen teilnehmen. Er ißt mit großem Appetit und l iebt besonders Göttinger Würste. Auch trinkt er täglich einige Gläser Wein, zuerst weißen, dann roten. Wenn er, was er jetzt nicht mehr tut, draußen bei Motherby außerhalb seines Hauses speiste, so trank er wohl auch ein Gläschen zuviel , spielte mit dem Weing lase, war aber immer die Seele der Gesel lschaft. Die ganze Unterhaltung geht ge­ wöhnlich auf seine Kosten. Mit Professor Kraus kam er sonst häufig zusammen, aber es traf auch hier ein, was Less ing sagte: zu große Bäume zerschlagen sich die Ä ste. Auch mit Herrn Hamann kam er oft zusammen, jedoch ohne zu d isputieren. Übrigens ist Kant so neugierig auf politische Neuigkeiten, daß Nicolovius ihm die Probebogen der Berliner Zeitung , die er auf der Post abends früher bekommt, zusenden muß. Auch bittet er oft B rahl i n einem B i l let, er möchte ihm mittei len, ob sich Merkwürdiges

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ereignet hat. Er wird hier allgemein geschätzt und gel iebt, aber nur sehr wenige wissen seine literarischen Verdienste zu würd i gen. Man liebt und ehrt also fast nur den Menschen in ihm. Zu seinen Ä ußerungen gehören u. a. folgende: ' Ich gehe gewöhnlich mit einer nicht schweren Idee zu Bett und schl afe mit ihr ein, ich überlaß mich wohl auch meiner Phantasie, die mir dann eine schl aflose Nacht bereitet, jedoch kann ich der Phantasie auch oft einen Streich spielen '. 1 2. Juni. Von Professor Kant zum M ittagessen eingeladen . . . traf dort außer dem Oberinspektor Brahl noch Dr. Jachmann, einen schönen und überaus geschickten Mann . . . Die Tafel war gut besetzt und Kant l ieß es sich gut schmecken. Es wurde roter und weißer Wein angeboten. Das Beste ist Kant selbst. Er spricht über alles gern und mit Tei lnahme. Es war die Rede vom König und von der Königin. Man fand es nicht gut, daß der König beim Einzuge nicht geritten oder i m offenen Wagen gefahren war. Der Philosoph selbst - den die Königin Luise vergeblich durch einen Kammerlakaien auf das Schloß befohlen hatte - äußerte hierzu : Ich bin höflich gegen jedermann. Dieser Besuch (des Kammerlakaien) fiel mir aber doch etwas auf. Von seiten dieses Mannes war es auch etwas Insolenz, besonders da er sich anbot, mich bei der Königin vorzuführen. Aber er war sonst ein wohlgebi ldeter Mensch. Darauf wurde über den Bernstein geredet. Den Anstoß dazu gab die Tatsache, daß der Königin ein Bernsteinschmuck geschenkt worden war. Kant bemerkte, man hätte ihr lieber eine Sammlung von besonders merkwürdigen Stücken, z. B . mit darin befindlichen seltenen Fliegen, verehren sollen, was dann v ielleicht Anlaß zu Veranstaltung wert­ voller Forschungen gegeben hätte. Dann machte er genauere Mitteilungen über die Gewinnung des Bernsteins. - Weiteren Gesprächsstoff bi ldeten : das neue Unternehmen Bonapartes, über das damals alle Welt Vermutungen anstrebte. D as neue preußische Gesetzbuch , die neueste Geschichte über­ haupt, der Erzroyalist Schmalz, der Rheinwein, von dem zu Ehren des Gastes aus der Rhei ngegend eine gute Flasche geleert wurde. Im Hinblick auf Schmalz - der sich als Denunziant betätigt hatte - sagte Kant: ' Wenn man über die französische Revolution seine Ideen frei bekennt, so gilt man für einen Jakobiner, da es doch i m Grunde, wie andere Lieblingsideen wenigstens in den ersten Jahren, eine Art Steckenpferd vieler Menschen gewesen war. Man muß niemand hindern auf sei nem Stecken auch durch die Straßen zu reiten, wenn er nur nicht verlangt, daß man deswegen von dem großen Wege gehe, oder gar ihm nachtrabe, wenn man nicht Lust dazu hat '. - Gegen Ende der Mahlzeit l ieß Kant eine Flasche Rheinwein holen, obgleich er nur noch 5 von dieser Sorte hatte. Mit außerordentl icher Lustig­ keit klopfte er auf den Tisch, öffnete die Flasche und schenkte uns ein. Jeder von uns mußte zwei Gläser trinken , wie er. Dann beklagte er sich darüber, daß Professor Reuss in Würzburg, dem er den Auftrag gegeben

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habe, ihm eine kleine Portion Steinwein zu besorgen, nicht geantwortet habe. Abeggs Anerbieten, die Weinsendung durch seinen Bruder besorgen zu l assen, nahm er an und hob gegen 4 Uhr die Tafel auf. Am 1 4. Juni war ich wieder von Kant zu Tisch geladen. Außer mir nahm noch ein j u nger Prediger von hier am Essen teil , namens Sommer. Die Unterhaltung war sehr mannigfaltig. Bonaparte mit seiner Expedition stand im Mittelpunkt des Interesses. Kant glaubte noch, daß j ener in Carthagena oder Malaga l anden und dann Portugal erobern werde. Die Engländer sind nach seiner Ansicht im Grunde die depravierteste Nation. Sonst betrogen sie doch nicht im Handel . Jetzt erhöhen sie den Tee, den Senf sogar, den sie schicken. Die ganze Welt ist ihnen England. D ie übrigen Länder und Men­ schen sind nur ein Anhängsel , ein Zubehör. Wenn nur unser König bald nach Berlin kommt und durch Sieyes ' , des franz. Gesandten i n Berl in ( 1 748- 1 836) Gründe sich bestimmen l äßt, eine vernünftige Partei zu er­ gre ifen , damit durch Preußen und Frankreich v iel leicht das Kriegführen unmöglich gemacht werde. - Es war die Rede von der j üdischen Gesell­ schaft der Juden. Kant meinte: ' Es wird nichts daraus kommen, solange die Juden Juden sind und sich beschneiden lassen, werden sie nie in der bürger­ lichen Gesellschaft mehr nützl ich als schädlich werden. Jetzt sind sie die Vampyre der Gesellschaft '. Man sprach auch einmal von Hippel. Nämlich ein gewisser Stadtrat von hier machte falsche Obligationen für mehr als 70 000 Taler und brachte dadurch viele Menschen ins Unglück. Als endlich die Strafe verhängt wurde, daß er am Pranger stehen sollte, traf Hippel die Einrichtung, daß man von dem Verurteilten, zumal wenn er den Hut gut auf den Kopf drückte, wegen eines Gestells nicht viel sehen konnte. Nachher kam dieser Betrüger i n die hiesige Festung, ist noch in derselben und darf Leute aus der Stadt zu sich bitten lassen. ' D ies ist nicht recht ' , sagte Kant. ' Er lebt ja so in einem sehr angenehmen Exil und soll selbst gestehen, daß er j etzt viel glückl icher sei als in der Zeit, wo er stets darauf habe sinnen müssen, Geld herbeizuschaffen, um seine Gläubiger zu befriedigen '. Am Ende des Mittagessens, das bis nach 4 Uhr dauerte, überreichte Kant dem Gaste Abegg 2 Rosen aus seinem Garten. Dieser hat noch als gelegentliche Ä ußerungen des Philosophen aufgezeichnet: ' Ich trinke täg l ich 2 Tassen Tee, rauche auch meine Pfeife, dies ist eine meiner glückl ichsten Zeiten. Dann bin ich noch nicht angestrengt: Ich sammle mich nach und nach, und auch während dieser Zeit kommt am Ende hervor, was und wie ich den Tag über arbeite '. Über Seiles philosophische Schriften sagte er: ' Es ging mir, wenn ich zuwei len darin las, wie dem seligen Hamann, wenn er die frei­ maurerischen Schriften des Starke l as. Ich sage mit ihm, sie verursachen mir Grimmen i m Bauche. Dieser Starke übrigens trachtete nach nichts anderem, als Chef der Freimaurerei zu werden. Ehemals trieb man mit dieser Maurerei allerlei. Jetzt ist es wohl nur ein Zeitvertreib und Spiel '.

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20. Juni. Heute ließ mich Professor Kant wieder zum Mittagessen ein­ laden. Leider konnte ich die Einladung nicht annehmen, weil mein Bruder den Kriminalrat Jensch , Justizrat Frey und einige andere zu Mittag eingeladen hatte, und ich am Abend bei Kriegsrat Scheffner sei n werde. Die Unterhaltung während des M ittagessens bei meinem Bruder war oft sehr geistreich. Jensch hat in der Tat das Ansehen eines Vaters, und das, was er spricht, ist herzl ich. Nach dem Essen unterhielten Frey und Jensch uns über Hippe!. Die Unterhaltung nahm einen ganz eigentümlichen Verl auf. Frey und ich sagten, die bürgerliche Verbesserung der Weiber von Hippe! sei eine seiner schlechten Schriften, da die in der Schrift aufgestellten Behaup­ tungen von den Vorzügen der Frauen durchaus unbegründet seien. Da erhob sich Jensch mit den Worten: Wenn das Buch schlecht ist, so liegt die Schuld an mir, denn ich habe es größtenteils verfertigt. Was seinen Inhalt betrifft, so stehe ich für dessen Richtigkeit ein und behaupte noch heute und werde es immer behaupten, daß kein Mann soweit kommen kann, als eine Frau. Die Frauen sind uns in der Naturanlage überlegen. Man setze sie nur in den Stand, sich zu entwickeln. Es ist B arbarei, Grausamkeit, sie von allen Stimmrechten in der bürgerlichen Gesellschaft auszuschließen. ' Daraus entstehen Nachteile für die Männer'. Gut ! Was diese jetzt voraus haben, ist Despotie und Usurpation. Abends traf ich bei Kriegsrat Scheffner eine große Gesellschaft. Borow­ ski erzählte u. a. von Hippe!, daß dieser einmal zu ihm gesagt habe: Ich bin ebenso gut ein geweihter Priester wie Sie, worauf j ener erwiderte: Ich bin kein Priester. Über Kant äußerte Scheffner: Kant war im Umgange bewun­ derungswürdig und ist es in gewißen Stunden noch. Sonderbar ist es, daß er, wie er die Feder in die Hand nimmt, zusammenhängend mit alter Kraft schreibt . . . 5 . Juli. Gegen 1 Uhr ging ich zu Professor Kant. Er war überaus freund­ lich. Ich mußte mich zu ihm setzen, und er freute sich über die übersandten Proben von Steinwein. Kriminalrat Jensch und Prediger Sommer speiseten mit. Von Kaiser Paul gibts wieder viel Originelles zu reden. Zwar nicht im guten: Es gibt auch originelle Tollheiten. Doch glaubt Kant, Bonaparte würde bei Spanien l anden und Portugal erobern , und dann würde im Sep­ tember al lgemeiner Friede sein. Er findet es nicht unwahrsche inlich, daß England republikanisiert und der König von Hannover ist und bleibt. Dann würde England wieder aufblühen, ohne andere zu drücken. Den Aufs.tand in Irland hält er für rechtmäßig, wünscht und hofft, daß die Schotten gemeine Sache mit ihnen machen möchten. Die letzteren erhebt er gar sehr gegen die Engländer. Die sind wißbegierig, fleißig und achten auf fremde Menschen und Sachen. Die Engländer s agen: Wenn man die Schotten im Sack durch Europa trägt, hat er doch, wenn er zu Hause kommt, die Sprachen gelernt. - . . . Von den Kohlen, wenn sie gut ausgebrannt sind, redete Kant auch

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und Prediger Sommer. Pulverisierte Kohlen ziehen alles faulartige aus dem Körper. Ein Abenteuer: Kant reisete mit einem Rehbraten. Er stank schon. Er wickelt ihn in Kohlen. Auf der nächsten Station hatte sich der faule Geruch verloren und er schmeckte delikat. Eier, Rosenhonig vertreibt das Zahnweh, besonders wenn die Zähne skorbutisch sind. Kant will dem Hofprediger Schultz, der Zahnweh hat, das Rezept schicken . . . Ich mußte ihm das Verhältnis des Adels zu den Reichsständen im ganzen Reiche auseinandersetzen, weil er einige Stellen in der Zeitung nicht recht ver­ standen hatte. - Als eine sehr interessante Lektüre empfahl er uns Meiners, Über den Zustand der Russen (zwei Teile) . Es ist ihm leid, daß er nur noch einige Bogen in diesem Werke zu lesen hat. Über Tabakrauchen, Schnup­ fen , Betelkauen: Bemerkung, wie es immer etwas abführe. Ich bemerkte ihm, daß die Türken und Rotmäntler al les hinunterschl uckten. Es ist wohl mehr ein Ableiten der Gedanken, die nicht zur Sache gehören, ein sanftes Bewegen der Seele durch leichte Beschäftigung der Organe, die gekitzelt werden. - Er l ieß mir Rheinwein holen, den er sehr lobte. Mit dem Baron Brose, der vom Dresdner Hofe so recht die Erbärm lichkeit der Höfe ge­ sehen und gefühlt hatte, trank er oft ein Glas Rheinwein. Sie begeisterten sich miteinander . . . Er war Sprachenkenner, Arzt, Chymikus. Er hatte ganz eigentl ich Sentiment. - Daß es mit der französischen Republik gut gehen würde, glaubte man lange, und man gl aubte es, weil man es so sehr wünschte. Aber wie verschieden s ind d iese Wünsche selbst von denen, welche preußische Patrioten fühlten, wenn ihr König in die Schlacht zog. Hier hat die Freundschaft doch Anteil. - Wir sehen, sagte Jensch , die un­ endl ichen Folgen der Kreuzzüge, der Reformation, und was ist dies gegen das, was wir j etzt erleben? Welche Folgen muß dies haben ! - Gewiß unendl iche große und wohltätige, sagte Kant. Die Rel igion wird keinen Verlust mehr haben, und alles wird nach freier Überzeugung geschehen. Die Natur - der Text, und von den frühen Religionskenntnissen wird man beibehalten, was man für gut erachtet. Die Bibel wird immer viel Autorität haben, und sie ist auch das beste Buch von der Art. . . . Nichts Privi­ legiertes. - - Die Schweizer wollen nichts geben und doch soll ihre Repu­ b l i k durch französische Soldaten gegründet und erhalten werden. Wol len die Franzosen auch diese Truppen noch nähren? - Es ist gut, daß man manchmal zur Ordnung der Lebensgeister Wein trinke. Nach 4 Uhr standen wir erst auf. Ich nahm Abschied und dankte mit Rührung für die mir bewiesene Gewogenheit und Güte. Er versicherte mich seines Wohlwol lens, seines guten Andenkens . . . Immer preise ich mich glücklich, ihn kennen gelernt zu haben, von ihm Beweise von Achtung und Wohlwollen erfahren zu habe n ! Zum letzten Mal habe ich ihn wahr­ scheinlich hier gesehen ! Oft werde ich an ihn denken, ihn mir vorschweben lassen und werde ihn wieder suchen, wenn und wo noch etwas jenseits zu suchen und zu finden ist.«

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Einzige Krankheit in jüngeren Jahren . - »Aus Kants eigenem Munde«, so berichtet Rink, »habe ich es, daß er sich bloß ei nes kalten Fiebers zu erinnern wisse, von dem er sich durch eine starke Promenade befreit habe.« Schlafordnung. - »Bei dem zuweilen verspäteten Schlafengehen, pflegte Kant« , so berichtet Rink, » Z U erzählen , habe er es sich zur Maxime gemacht, doch immer zu einer Zeit und gleich früh wieder aufzustehen und nie nachmittags zu schlummern, indem es nur dadurch möglich sei , sich für die nächste folgende Nacht eines gesunden Schlummers zu versichern. Eine Maxime die, wie sich jeder, der sie befolgen will, davon überzeugen wird, sehr vernünftig ist und auch den großen, nie genug zu beachtenden Vortei l gewährt, daß m a n mit seiner Zeit u n d seinen Geschäften immer in der besten Ordnung bleibt, versteht s ich, daß man gescheit genug ist, seinen Hauptarbeiten immer den frühen Morgen und Vormittag anzuweisen. Kant setzt dann noch wohl, halb im Scherze, halb i m Ernste hinzu, daß, wie die Mohamedaner glaubten, einem jeden sei seine bestimmte Masse von Speise angewiesen, bei deren schnel leren Verzehrung auch ein schnel lerer Tod erfolge, so glaube er, dies gelte mit noch größerem Rechte von dem Schlafe, mit dem man daher, um recht l ange schlafen, das heißt, leben zu können, sehr haushälterisch umgehen müsse.« Eigenartige Ansicht historischer Ereignisse. - »Kant sprach zuweilen - in späteren Jahren« , wie Rink bemerkt, »von historischen Ereignissen, die er erlebt hatte, erzählte sie aber meistens nach einer Ansicht, die er sich selbst gleich Anfangs mochte gemacht haben, ehe noch bestimmtere Nachrichten darüber an ihn gelangt waren, die dann aber, wenn sie das Publikum erhielt, meistens nicht mehr instande waren, ihn in einen andern Gesichtspunkt zu stellen. So trug er z. B. die Geschichte des Todes der Kaiserin Katharina II. , v o n d e m er eine Zeit hi ndurc h oft sprach, mit Umständen vor, die nichts weniger als historisch richtig waren. Man tat dann am besten, sich das schweigend in der Art von ihm erzählen zu lassen, wei l eine Berichtigung ohne Erfolg war, und man zuwei len am nächsten Tage die Sache dennoch nicht im geringsten anders, als Tages vorher erzählen hörte.« Das ungeheizte Schlafzimmer. - »Kant schlief«, wie Rink hervorhebt, »aus sehr guten Gründen, gegen die sonstige Sitte in Ostpreußen, unter Bett­ decken, die nach Maßgabe der Temperatur aus verschiedenartigen Stoffen und in verschiedener D icke angefertigt waren. Sein Schlafzimmer bl ieb beständig ungeheizt. Er pflegte selbst darüber zu klagen, daß wenn er in das Bett stiege, er die kalte Feuchtigkeit des ihn umgebenden Leinens sehr merklich empfinde. Indessen konnte er sich nie recht von der Schädlichkeit dessen überzeugen, oder wollte es nicht, denn in dem, was ihm Gewohnheit

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geworden war, oder von ihm einmal als Grundsatz aufgenommen war, nahm er selten eine Veränderung vor, es sei denn, daß er selbst die Idee irgendeines Gegengrundes für sich mit Lebhaftigkeit auffaßte.«

Langes Leben als Kunststück. - »In einer ihm weder l ästigen noch l ang­ weiligen Gleichförm igkeit«, so bemerkt Wasianski, »gingen Kants Tage in einer strengen Ordnung froh dahin. Gerade d iese Ordnung und seine sich stets gleiche Diät scheinen viel zu seinem langen Leben beigetragen zu haben, und er sah daher auch seine Gesundheit und sein hohes Alter fast als sein eigenes Werk an, ja als ein Kunststück, wie er es selbst nannte: bei so vielen Gefahren, denen das Leben ausgesetzt ist, sich noch bei allem Schwanken im Gleichgewicht zu halten. Er tat sich darauf soviel zugut, wie der gymnastische Künstler, der lange auf einem schlaffen Seil äquilibriert, ohne von demselben nur einmal hinabzugleiten. Triumphierend über j eden Anfall von Krankheit stand er fest, dennoch aber war er unpartei isch genug, bisweilen zu sagen: Es sei immer etwas i mpertinent, solange zu leben, als er, weil dadurch jüngere Leute nur erst spät zu Brot kämen. Diese Sorgfalt für die Erhaltung seiner Gesundheit war auch die Ursache, warum ihn neue Systeme und Erfindungen in der Medizin so sehr interessierten«. Begeisterung für das Bro wnsche System . - » Sobald Weikard das B rown­ sche System adoptiert und bekanntgemacht hatte«, so berichtet Wasianski, »wurde auch Kant mit demselben vertraut. Er hielt es für einen bedeutenden Fortschritt, den nicht nur d ie Medizin, sondern auch mit ihr die Menschheit gemacht hätte. Fand es mit dem gewöhnlichen Gange der Menschheit: nach vielen Umwegen vom Zusammengesetzten endl ich zum Einfachen zurück­ zukehren, sehr übereinstimmend , und versprach sich von ihm noch vieles andere Gute, unter anderem auch in ökonomischer Hinsicht für den Patien­ ten, den Armut hindert, die kostbaren und zusammengesetzten Heilmittel zu gebrauchen. Sehnl ich wünschte er daher, daß dieses System bald mehr Anhänger erhalten und al lgemein in Umlauf gebracht werden möchte.« Seltsame Meinung über das Sehen . - »Der Verlust eines Auges, dessen Kant selbst (Streit der Fakultäten , !in. ult.) und auch Hasse (Merkw. A'us­ serungen Kants , S. 42) gedenkt, und den er selbst lange nicht gewahr worden zu sein behauptete, brachte ihn auf den Gedanken, nicht allein, daß man mit einem Auge ebenso gut sehe, als mit zweien, und daß sich die Sehkraft beider Augen auf einem konzentriere, sondern er behauptete auch - und der Verfasser d ieser B l ätter war selbst Zeuge davon - ' man sehe überhaupt nur mit einem Auge, das andere sei immer überflüssig, bleibe ungebraucht und werde daher zuletzt ganz unbrauchbar'. Vergeblich wurde dagegen eingewandt, es sei zwar wahr, daß man nur auf einen Gegenstand

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zugleich seine Aufmerksamkeit richten, folglich mit beiden Augen nur einen Gegenstand sehen könne, aber beide Augen wären doch bei diesem Geschäft gleich wirksam. Sehe man vor sich hin, ohne auf einen be­ stimmten Gegenstand zu sehen, so habe man mit beiden offenen Augen doch einen größeren Gesichtskreis vor sich, als wenn man ein Auge zuschließt, aber Kant achtete auf keinen dieser Gründe, sondern er meinte, wenn nicht ein Auge ungebraucht bliebe, so könnte er das seine ohne Mitwissen nicht verloren haben. Er behielt das letzte Wort. « So berichtet Kants medizinischer Amtsgenosse Metzger in seiner anonym erschienenen Schrift 1i'usserungen über Kant, seinen Charakter und seine Meinungen von einem billigen Verehrer seiner Verdienste , 1 804.

Gegen die Kuhpockenimpfung. - »Als Dr. Jenner seine Erfi ndung der Kuh­ pocken bekannt machte«, so bezeugt Wasianski, »verweigerte ihnen Kant den Namen Schutzbl attern noch sehr spät, meinte sogar, daß die Mensch­ heit sich zu sehr mit der Tierheit familiaris iere und der erstem eine Art von Brutal ität ( im physischen Sinne ) eingei mpft werden könne. Er fürc htete ferner, daß durch Vermischung des tierischen Miasmas mit dem Blute, oder wenigstens mit der Lymphe, dem Menschen Empfänglichkeit für die Vieh­ seuche mitgeteilt werden könnte. Endlich bezweifelte er auch aus Mangel hinlänglicher Erfahrungen, die Schutzkraft derselben gegen die Menschen­ blattern. So wenig dieses alles auch Grund haben mochte, so war es doch angenehm , die verschiedenen Gründe für und wider abzuwägen.« Seltsame Meinung über die Luftelektrizität. - »Kant leitete den Druck, welchen er in den letzten Jahren auf sein Gehirn füh lte« , so berichtet Jachmann, »von der Luftelektrizi tät her, die seit dem Jahre als durch Europa soviele Katzen u. a. m. starben, ganz besonders gewesen wäre, und hatte diesen Gedanken sich so fest eingedrückt, daß er wirklich böse wurde, als ihm eines Tages mein Bruder, sein ärztlicher Konsulent, auf die Er­ scheinung des Marasmus aufmerksam machte, und daß er in der Hitze hinzufügte: ' nehmen Sie mir meinen Glauben, ich werde mich deshalb doch nicht totschießen '.« Eine witzige Demonstration . - »In Gesel lschaft war Kant« , wie Metzger überl iefert, »sehr höfl ich gegen das weibliche Geschlecht, auch wohl scherz­ haft. Er bewies den D amen aus der Bibel , daß sie nicht in den Himmel kämen. Denn es hieße in einer Stelle der Offenbarung Joh . , es sei im Him­ mel eine Stille gewesen von einer halben Stunde. So was ließe sich aber, wo Frauenzimmer sind, gar nicht als möglich denken.«

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Bemerkung auf Spaziergängen . - »Kant merkte«, wie Rink bezeugt, »über­ all auf das, was um ihn her geschah, und selbst auf die Kindes welt, die er freilich nur auf seinen Promenaden gewahr wurde. So erinnere ich mich z. B . noch lebhaft, wie er das bei solchen Gelegenheiten bemerkte unbän­ dige, fast krampfhafte Schreien kleiner Kinder mit dem radikalen Bösen in Verbindung zu bringen wußte.« Warnung vor Frühreife. - Ein B ittgesuch von Carl Ferdinand Groff, das der »Gesellschaft der Freunde Kants« bei einem Bohnenmahl zuging, berichtet: »Als ich des Morgens wie gewöhnlich auf dem philosophischen Gang lustwandelte und Kants Kritik der reinen Vernunft las, überraschte er mich einmal und sprach: ' Mein holder schwarzgelockter Knabe, was liest Du da? ' ' Ich lese Kants Kritik der reinen Vernunft'. - ' So früh schon? ' - 'Ja, ich will früh vernünftig werden '. - ' Hast Du den Kant schon ei nmal gesehen? ' - Der kleine Mann mit dem großen Geist stand vor mir! ' Ich warne Dich, mein Söhnchen, die Früchte, die zu früh reif werden, ver­ welken auch zu früh '. Er hat wahr gesprochen. Der Knabe ist i m 48. Jahre schon zum Greis geworden und muß ohne Hilfe auf Kants philosophischem Gange wandeln und den Tod des Verhungerns und Erfrierens wählen.« Gesamtschilderung der ge wöhnlichen Tischgespräche. - Wasianski gibt von den Tischgesprächen bei Kant während der letzten Jahre folgende Darstellung: »Die Gegenstände der Unterhaltung waren größtenteils aus der Meteorologie, Physik, Chemie, Naturgeschichte und Politik entlehnt, besonders aber wurden die Geschichten des Tages , wie sie uns die Zei­ tungen lieferten , scharf beurteilt. Einer Nachricht, der Tag und Ort fehlte, sie mochte übrigens so wahrscheinlich sein, als sie wollte, traute er nie, und hielt sie nicht der Erwähnung wert. Sein weitreichender Scharfblick in der Politik drang sehr tief ins Innere der Ereignisse, so daß man oft eine, mit den Geheimnissen der Kabinette bekannte diplomatische Person reden zu hören glaubte. Zur Zeit des französischen Revolutionskrieges warf er manche Vermutungen und Paradoxen hin, besonders in Absicht auf m i l i­ tärische Operationen, die so pünktlich eintrafen, wie jene seine große Ver­ mutung, daß es zwischen dem Mars und Jupiter keine Lücke im Planeten­ system gäbe, deren volle Bestätigung er bei Auftindung der Ceres durch Piazzi in Palermo, und der Pallas durch D. Olbers in Bremen noch erlebte. Diese Auffindungen machten große Sensation auf ihn, er sprach oft und viel von ihnen, doch ohne zu erwähnen, daß er d iese schon längst vermutet hätte. Merkwürdig war seine Meinung, daß Bonaparte nicht die Absicht haben könne, i n Ä gypten zu landen. Er bewunderte die Kunst desselben, mit der er seine wahre Absicht, i n Portugal landen zu wollen, so sehr zu verschleiern suche. Wegen des großen Einflusses Englands auf Portugal

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betrachtete er dieses Land als eine englische Provinz, durch deren Eroberung England der empfindlichste Streich beigebracht werden könnte, indem dadurch die Einfuhr englischer Manufakturwaren in Portugal und die Ausfuhr des Portweins dieses unentbehrlichen Lieblingsgetränks der Eng­ länder aus Portugal verhindert werden müßte. Gewohnt manche Tatsachen a priori zu demonstrieren, bestritt er d ie Landung in Ä gypten auch da noch, als die Zeitungen sie schon als glücklich vol lendet ankündigten und hielt dieses Unternehmen für völlig unpolitisch und von keiner langen Dauer. Seine Freunde waren nachgiebig genug, nicht zu widersprechen und der Erfolg der ganzen Expedition war eine ziemliche Rechtfertigung für ihn. Es wurde über die neuesten Erfindungen und Ereignisse debattiert, die Gründe für und wider abgewogen und dadurch das Tischgespräch lehrreich und angenehm gemacht. Kant zeigte sich aber nicht bloß als unterhaltenden Gesel lschafter, welcher er besonders in früheren Jahren ganz vorzüglich war, sondern auch als gefäll igen und liberalen Wirt, der als solcher keine größere Freude kannte, als wenn seine Gäste froh und heiter, an Geist und Leib gesättigt, nach einem Sokratischen Mahle seinen Tisch verließen.«

Hygienische Art des Spazierens. - »Gleich nach Tisch ging Kant« , so be­ richtet Wasianski, »der Regel nach aus, um sich Bewegung zu machen, die ihm bei einer sitzenden Lebensart zur Erhaltung sei ner Gesundheit so notwendig war. Doch nahm er, und das absichtlich, nie einen Gesellschafter bei seinen Spaziergängen mit. Von seinen beiden Ursachen dazu ist die eine leichter zu erraten, als die andere. Er wol lte seinen Ideen im Freien auch frei n achhängen, oder nach Beendigung seiner Unterhaltung mit den Menschen sich mit irgend einer Beobachtung in der Natur beschäftigen. ­ Die zweite Ursache ist eigner. Er wol lte nämlich nur durch die Nase respirieren und die atmosphärische Luft nicht so rauh und ungewärmt geradezu in die Lungen ziehen, sondern sie erst einen weitern Umweg machen lassen. Von dieser Maßregel , die er allen seinen Freunden empfahl , versprach er sich Vorbeugung des Hustens , des Schnupfens, der Heiserkeit und anderer rheumatischen Zufälle, und das viel leicht nicht ganz ohne allen Erfolg, denn er wurde wenigstens höchst selten von diesen Krankheiten bdallen. Auch bei mir hat die gelegentl iche, obgleich nicht ängstl iche Beobachtung dieser Vorschrift diese Übel seltener gemacht.« Zweierlei Geiz. - Christian Friedrich Puttlieh hat in sein Tagebuch am 24. Mai 1 784 aus einer Gesel lschaft bei dem Kammersekretär John zu Königs­ berg folgendes eingetragen : »Brahl erzählte, daß Professor Kant gesagt haben sollte, der Geiz bei Reichen wäre von ganz anderer Art, als der bei Geringeren. Letztere nämlich lebten ganz karg und verschließen sich ganz einsam , um keinen Aufwand zu machen. Erstere aber haben oft große

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Gese llschaft bei Tisch, traktieren herrlich, aber auf Kosten der Unterge­ benen und anderer Leute, denen sie von ihrem Verdienst etwas abzuziehen suchen.« ( Vergl . A ltpreuß. Monatsschrift, Bd. 42 , 1 905, S. 277)

Sittliche Arbeitslust. - ' Wer mir noch in meinen letzten Augenblicken eine gute Handlung vorzusch lagen weiß, dem w i l l ich danke n ' sagte Kant zu einem Freunde. D iese kurze, aber vielsagende Ä ußerung wurde zum ersten Male von Professor Wald in der Gedächtnisrede auf Kant am 23. April 1 804 öffentlich mitgeteilt. A ltertumsrost. - Kriegsrat Scheffner erzählt in seiner Selbstbiographie (Mein Leben, wie ich J. G. Scheffner es selbst beschrieben , Königsberg 1 823, S. 37) : »Die Wände des Kantischen Wohnhauses waren von Staub und Rauch seiner Morgenpfeife grau überzogen, und als ich einmal wäh­ rend des Zuhörens seines Gesprächs mit Hippe! einige Züge mit dem Finger an der Wand machte, wodurch der weiße Grund wieder sichtbar wurde, da sagte Kant: ' Freund, warum wollen Sie den Altertumsrost zerstören? Ist eine solche von selbst entstandene Tapete nicht besser, als eine gekaufte' ? « Ein pessimistisches Urteil über den Menschen . - In Hippels Tagebuch findet sich die Aufzeichnung: »Herr Kant pflegt zusagen, daß wenn der Mensch alles, was er dächte, sagen und schre iben wol lte, nichts Schreck­ licheres auf Gottes Erdboden wäre, als der Mensch.« Kurze Beratung. - Durch K. G. Sehelies Mnemosyne , J. 1 803 ( I B. 1. H. S. 86) ist uns überliefert: »Sein Famulus, ein Theolog, der Philosophie mit Theologie nicht zu vereinbaren wußte, fragte ihn einst um Rat, was er wohl deshalb lesen müßte. Kant: Lesen Sie Reisebeschreibungen ! Famulus: In der Dogmatik kommen Sachen vor, die ich nicht begreife. Kant: Lesen sie Reisebeschreibungen. Die kurze, aber nachdruckvolle Hinweisung mußte umso mehr Eindruck machen, als sie auf das Individuum, dem sie galt, genau berechnet war. « Feierliche Rede vom Tode. - ' Meine Herren ' , sagte er, wie Wasianski berichtet, ' ich fürchte nicht den Tod , ich werde zu sterben wissen. Ich versichere es Ihnen vor Gott, daß, wenn ich ' s in dieser Nacht fühlte, daß ich sterben würde, so wollte ich meine Hände aufheben, falten und sagen: Gott sei gelobt ! Ja, wenn ein böser Dämon mir im Nacken säße und mir ins Ohr flüsterte: Du hast Menschen unglücklich gemacht ! Dann wäre es etwas anderes '. - »Dies sind Worte« , setzt Wasianski hinzu, »eines durchaus rechtlichen Mannes, der mit Begehung einer Unl auterkeil sich nicht das

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Leben erkauft hatte: Crede summum nefas, ani mam praeferre pudori et propter vitam vivendi perdere causas. Wer von seinen Tischfreunden Zeuge war, wenn Kant von seinem Tode sprach, wird mir beistimmen, daß keine Heuchelei bei ihm im Hinterhalte versteckt war.«

Spätes leibliches Wohlbehagen . - »Noch im Jahre 1 802 hieß es«, berichtet Hasse, »wenn man ihn fragte, wie er sich befi nde: ' Ich habe alle v ier Requisiten eines gesunden Menschen: Guten Appetit, guten Schlaf, gute Verdauung und Schmerzlosigkeit'. (Er kl agte nur biswei len über ein D rücken im Kopfe.) ' Ich bin noch nie in meinem Leben krank gewesen, habe nie einen Arzt nötig gehabt und hoffe, ihn nie nötig zu haben. - D aß ich so kraftlos werde, rührt wohl von einer Revolution in den Luft-Straten her, die seit einigen Jahren statt hat, und wenn die sich ändert und alles wieder ins Gleis kommt, so kann ich doch wohl noch aufkommen '. - Diese Revolution leitete er von der Zeit des Katzentodes in Kopenhagen ab, von dem einige Jahre vorher in den Zeitungen viel zu lesen war. - Überhaupt sprach er von den Luft-Straten sehr oft und viel, ließ aber die Sache in einem gewissen Halbdunkel. Er hielt den Galvanismus auch für ein eigenes Luft-Stratum, wie die Elektrizität.« Worterklärungen . - »Ich habe kaum einige Wochen regelmäßig bei Kant gespeist« , so erzählt Hasse, »als ich merkte, daß er gern etymologisiere, sei es nun, daß er mir damit ein Vergnügen machen wollte, weil er wußte, daß ich ein Freund der Etymologie war (Inzwischen haben mich doch andere seiner Tischfreunde versichert, daß er es in ihrem Beisein auch getan hätte) oder daß er einen natürlichen Hang dazu hatte, welches daraus erhellte, daß er diese Etymologien, so oft das Wort vorkam , mit eben denselben Aus­ drücken wiederholte. Den Hang zur Etymologie konnte ich mir übrigens sehr gut erklären. Gewohnt als bündiger Systematiker, bei jedem Worte etwas Bestimmtes zu denken und es nach seinem innern Gehalte zu erschöpfen, maß er auch jedes, das er im gemeinen Leben brauchte, nach dem Begriffe genau ab, den es andeuten sollte; und ihn sprach jedes fremde Wort so an, daß es ihn nicht losließ, bis er es in seiner wahren Abkunft, soviel wie möglich war, erforscht hatte. D aher tat ihm in sei nem System, zur genauen Bezeichnung der feinen Unterschiede der Begriffe, weder die Muttersprache noch die lateinische Sprache Genüge; er wandte sich. zu der reichen, bedeutsamen und gerundeten griechischen ; und dadurch gelang es ihm, die subtilsten und feinsten Unterschiede mit einem einzigen Worte (z. B. Antinom ie, Analysis, Synthes is, Amphibolie, Kategorie, Empirie, Phänomenon, Noumenon usw.) zu zergl iedern und zu bezeichnen. Von solchen Adäquierungen des Ausdrucks, will ich jetzt einige popul äre Bei­ spiele aus seinen Tischreden anführen, die um so belehrender sind, weil

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ihm hier seine so ausgebreiteten Lebenskenntnisse, die er aus der Lektüre, und bei Wörtern ausländischer Sprachen (z. E. der arabischen, hebräischen, die er nicht verstand) aus Reisebeschreibungen geschöpft hatte, so herrl ich zustatten kamen. Wenn man im Sommer bei heißer Witterung etwa zu ihm sagte: ' Die Hitze macht einen doch ganz schachmatt ' , so faßte er gleich das letzte Wort auf, und sagte: ' matt in schachmatt ist gar nicht das deutsche Wort matt, sondern das orientalische mät, sterben, tot. Schach, Scheich ist bekanntlich der persische Regent oder König. Wenn daher im Schach (Königs-) Spiel gesagt wird: Schachmatt, so heißt es: tot dem König. Es dürfte also Schachmät und nicht Schachmatt zu schreiben und zu sprechen sein '. (Hierzu fügt Hasse als präzisierende Anmerkung hinzu: Mut, mät im Hebr. Arab. sterben, tot sein. Schach, persisch der Regent, Scheich, arab. der Alte, Fürst, Anführer.) Wenn (frische oder eingemachte) Stachel-Beere, die in Preußen (sonder­ bar genug) , Christor-Beere heißen, auf den Tisch gesetzt wurden, so pflegte er, besonders für Ausländer, das letztere Wort, das er selbst brauchte, fast jedesmal zu erklären, und sagte: ' Christorbeeren heißen eigentl ich Christi Dornen-Beeren '. (So sprach und schrieb, nach einem preußischen Prov in­ zialismus - merkt Hasse an - der treffliche Mann. Er ließ das 'n' in Plural weg, wo es stehen sollte, z. E. die gütige Menschen, eine mächtigere Trieb­ feder, als alle nur erdenkl iche; setzte es aber auch zu, wo es nicht stehen sollte, wie im obigen Beispiele. Fast der einzige kleine Flecken in seinem sonst so richtig deutschen Ausdrucke ! Ich nahm mir die Freiheit, bisweilen diesen Punkt leise zu berühren, er nahm meine Gründe an, aber zu der Zeit schrieb er nichts mehr.) Weil die Stachelbeere um die Zeit der Kreuzesfeier Christi aussch l agen, so g l aubt der gemeine Mann, daß die Dornenkrone C hristi aus solchen Stachel-Beer-Sträuchen bestanden, und daher sein Haupt so zerrissen habe. Aber dem ist nicht also. Die Dornen-Krone Christi bestand nicht aus Dornen und Stachel-Beer-Sträuchen, sondern aus Akanth, d. i . B ärenklau , einem sanften Gewächse, das gar nicht stachelt. Und nun fing er, trotz dem gelehrtesten biblischen Exegeten, an, über Akanth als schönes Laubwerk, das auch bei den korinthischen Säulen angebracht sei (und sogar i n die Kleider i n Ranken eingestickt wurde - croceo vel arneo acantho, Virg i l , Aeneid. I, wie Hasse anmerkt) , zu kommentieren, und mit der bekannten Liebesgeschichte, die den Künstler auf die Idee gebracht habe, zu unterhalten. In einem Zustand von Lebensmüdigkeit, sagte er - wie Hasse weiter zu berichten weiß: ' Das Leben ist mir eine Last, ich bin müde sie zu tragen. Und wenn d iese Nacht der Todesengel käme und mich abriefe, so würde ich meine Hände aufheben und sagen: Gott sei gelobt ! Ich bin ' , fuhr er dann fort zu sagen, ' kein Poltron, ich habe noch soviel Kraft mir das Leben zu

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nehmen, aber ich halte es für unmoralisch. Wer sich selbst entleibt, ist ein Aas, das sich selbst auf den Anger wirft '. - Bei dem Wort Poltron etymologisierte er fast j edesmal so: ' Poltron ist eigentlich pol lex truncatus (ein abgeschni ttener D aumen) . D ie zu Rekruten enrou l l i ert wurden, schnitten sich, aus Furcht vor dem Soldatendienst, den rechten Daumen ab, um das Pulver nicht auf die Pfanne legen zu können, und folglich zum Dienst unbrauchbar zu werden, und davon hießen sie pol -troncs, d. i . Poltrons '. - Zum Ausdruck ' Todesengel ' merkt Hasse a n : Man schließe nicht hieraus auf Aberglauben oder B igotterie. Der bibl ische Ausdruck hing im von der frühesten Jugend her an, und er dachte sich dabei, die ihm noch unbekannte Ursache der nahen Herbeiführung seines Lebensendes. Ebenso drückte er das ein andermal mit den Worten eines Gesangbuchliedes so aus: ' Soll diese Nacht die letzte sein ' , ungeachtet er Gesangbücher nicht leiden konnte, und wahrscheinlich keines las, auch vielleicht nicht besaß. So oft man gelegentlich auf den persischen Dualismus oder Ormuzd und Ahriman zu reden kam, setzte er gleich hinzu: 'Ahriman ' ist deutsch ' arger Mann, die persische Sprache hat v iele deutsche Wörter'. (Hierzu merkt Hasse an: diese Ableitung, deucht mich, steht schon in der Berliner Monatsschrift, April - St. 1 792.) Wenn weißer Kohl, Weißkraut, Kumst genannt, (den er sehr gern aß) auf seinen Tisch kam, sagte er: ' das ist compositum, Kumstum, Kumst '. Wurde ein Gericht Fische aufgetragen und darunter war der Zand, so erklärte er d iesen Namen: ' das ist Sander, Zander. Das Z ist holländisch ein S, also Sand, Zand '. Dabei pflegte er zu erzählen, daß er sich in seiner Jugend Cant geschrieben habe, daß hätten einige zu seinem Verdruß ' Zant' gesprochen und seitdem schreibt er sich Kant. War von Raubstaaten, Tunis, Tripolis und Al gier die Rede, so setzte er gleich zu: ' Sie heißen eigentl ich n icht Raubstaaten, bloß fremde Mächte haben sie so genannt, sondern Berberen, Barbaresken, und man muß eigentlich nicht aussprechen: Aldschier, sondern Algier ' , wobei er ganz gewöhnliches deutsches g aussprach. (Dies bedarf wohl - merkt Hasse an einer kleinen Berichtigung. Berberen heißt eigentl ich von bar (arabisch und hebräisch) wild, Barbar sehr wild, wilde Barbaren, und dann ist das Wort in sejner Bedeutung nicht sanfter als Räuber. Und wenn man das g der Araber, auf die Art, wie Büsehing (Erdbeschr. 5, Vorrede) lehrt, ausspricht, so ist Aldschier richtiger ausgesprochen, als Algier.) Bernstein leitete er, mit mir und den andern, von Bernen, Börnen, altpreußisch und schwedisch, Brennen her, und hielt ihn für einen Stein, der in der Sonne verhärtet sei. Er war mit meinen Untersuchungen über den Eridanus und den Bernstein sehr zufrieden, und versprach mir sogar seine Gedanken hierüber aufzusetzen, damit ich sie zur Verbesserung dessen, was davon in seiner physischen Geographie stehe, gelegentlich bekannt machen

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könne, aber er vergaß es i mmer wieder, und ungeachtet ich ihn öfters daran (seit 1 802) erinnerte, so wurde doch nichts daraus. Seinen Vornamen Immanuel hatte er in besondere Affektion genommen, und sprach mit Wohlgefallen und oft von ihm. Er pflegt mir auch mehr als einmal die Schmeichelei zu sagen: er habe sich sonst Emanuel geschrieben, aber von mir belehrt, was es heißt, und wie es geschrieben werden müsse, schreibe er sich beständig Immanuel. Ich erwiderte ihm zwar, daß ich m ich nie erkühnt hätte, ihn über etwas zu belehren, da ich von ihm lernen müßte, daß er sich, meines Wissens, schon Immanuel geschrieben habe, ehe ich nach Königsberg gekommen, und das Glück gehabt hätte, ihm bekannt zu sein (setzte auch wohl hinzu, Emanuel sei, meiner Meinung nach auch nicht falsch, man könne den ersten Buchstaben (Ain) auch ' E ' lesen, wie die j etzigen Juden täten, und die Verdopplung des ' m ' sei nicht wesentlich, es bedeute doch dasselbe) , aber das half alles nichts, er bl ieb dabei, und bei seiner letzten Geburtstagsfeier ( 1 803) wartete er ängstlich, damit ich ihm, in Gegenwart al ler seiner Tischfreunde, das Wort buchstabiert und syl labiert ('Jm ' mit ' Immanu ' mit uns, ' EI ' Gott, also Immanuel, Gott ist mit uns) in sein Bemerkungsbüchelchen, das er sich hielt, um die Merkwürdigkeiten des Tages darinnen aufzuzeichnen, einschreiben könnte. Und wie subtil unterschied er! davon nur einige Beispiele: Wenn er ausspie, zu der Zeit, wo er an Obstruktionen l itt, sagte er: ' Das ist sputum, eine Art von Schleim, der zu nichts taugt, und aus dem Körper weg­ geschafft werden muß, aber die saliva, oder die Flüssigkeit im Munde, die aus den Backendrüsen quillt und zur Verdauung der Speisen dient, die muß nicht exkreiert, sondern verschluckt werden, und die ist ' s , die mir j etzt ihren D ienst entzieht. Daher meine Unverdaulichkeit ! ' Er meinte auch, der Deutsche habe nicht zwei Wörter, die das vollkommen ausdrückten, und die man ihm vorschlug: Auswurf (sputum) und Speichel (sal iva) fand er, besonders das letztere, nicht adäquat genug. Wenn man bei Tische, zu der Zeit, als er fast zahnlos das Fleisch immer zu hart fand , bei m Vorschneiden etwa sagte: ' heute scheint das Fleisch weich zu sei n ' , so konnte er s ich nicht halten, den, der dies sagte, zu ver­ bessern und zu sagen: 'es muß heißen mürbe '. Weich geht auf die Natur des Fleisches, mürbe aufs Kochen. Rindfleisch ist von Natur hartes Fleisch, es kann aber mürbe gekocht werden, Kalbfleisch dagegen ist ein von Natur weiches Fleisch, aber ist es nicht mürbe gekocht, so ist es immer hart. Überhaupt wenn er Ausdrücke und Redensarten erklären und bis zu ihrem wahren Ursprung zurückführen konnte, so tat er es nicht mehr als gerne. So erinnere ich mich, daß er einst auf meine Ä ußerung, daß der Januarius es mit der Kälte mehrenteils sehr ernstlich meine, erwiderte: ' 0 ! der Februarius gibt i h m nichts nach, daher sagt m a n im Sprichwort, sich einen guten Februarius machen lassen, d. h. einen sehr .warmen Rock oder

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Pel z '. (Eine Redensart, die ich vorher nie gehört hatte - so fügt Hasse hin­ zu) Wenn es ihm recht gut schmeckte, so sagte er: ' man muß essen, was das Zeug hält' und das erklärte er richtig so, daß es vom Reiten hergenommen sei, der da reite, ' bis der Gurt springt'. Angemessenheit des Ausdrucks liebte er ungemein, und das ging bis auf die gemäße Stimme. Er selbst sprach sehr sonorisch und fein. Sprach einer seiner Gäste etwas stark und zu laut, so mußte er es nicht übelnehmen, wenn er zu ihm sagte: ' Sie schreien mir zu sehr' , oder zu rapid, so bemerkte er den Fehler gleichfalls und mir selbst gab er zu erkennen, daß ich zu ausländisch (der sächsische Dialekt, der gegen den preußischen den Mund zu voll nimmt, war ihm unangenehm) spräche. Wie er gewisse Dinge benannte und bestimmte, so mußte man sie genau nachbestimmen, wenn man ihm verständl ich sein wol lte. Ein gewisses Aufstoßen, das er bei Tische bekam, nannte er, wenn er sich deshalb ent­ schu ldigte, ' B l ähungen auf dem Magenmunde ' und setzte dazu: ' sie sind weder säuerlich noch fäulig, sondern bloße reine Luft'. Gerade diese Worte mußte man hierüber auch brauchen. - Seine Leibgerichte, die er so oft nannte, bezeichnete er immer mit denselben Worten, und die Worte in derselben Ordnung, und sie schienen ihm kräftiger zu sein, wenn man sie so kräftig ihm nachsprach, z. E. Pasternak (Pastinak) mit geräuchertem Bauch­ speck (nie Schwei nefleisch) , dicke Erbsen mit Schwei nsklauen (nie Schweinsfüßen) , Pudding mit trocknem (getrocknetem) Obst usw.«

Großzügige Dankbarkeit. - »Kant erkannte«, so bezeugt sein Fürsorger Wasianski, »in den Stunden, in denen er seiner Schwäche weniger unterlag, jede sein Schicksal ihm erleichternde Vorkehrung mit gerührtem Dank gegen mich und mit tätigem gegen seinen Diener, dessen äußerst beschwer­ liche Mühe und unermüdete Treue er mit bedeutenden Geschenken belohnte. Über die Größe und Art derselben nahm er vorher mit mir Rücksprache. Der Ausdruck war ihm zum Sprichwort geworden: ' Es muß keine Knickerei oder Knappheit irgend wo stattfinden '. Die Worte sagen nicht viel, aber die M iene des ehrwürdigen Gesichtes, in dem sich j eder Muskel zum Ausdruck der tiefsten Verachtung gegen al les verzog, was nur den Anschein von Geiz haben konnte, gab diesen Worten den eigentlichen Nachdruck. Geld hatte in seinen Augen keinen andern Wert, als nur, inso­ fern es Mittel war, durch weisen und zweckmäßigen Gebrauch desselben Gutes zu stiften.« Eine philosophische Unterredung im Anschluß an das Nachlaßwerk. »Schon seit mehreren Jahren lag auf Kants Arbeitstische« , so berichtet Hasse, »ein handschriftl iches Werk von mehr als hundert Folio-Bogen, dicht beschrieben, unter dem Titel: ' System der Phi losophie in ihrem

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ganzen Inbegriffe ' , an d e m i c h ihn oft, wenn i c h z u m Essen k a m , noch schreibend antraf. Er l ieß mich es mit Willen mehrere Male an- und ei nsehen und durchblättern. D a fand ich denn, daß es sich mit sehr wichtigen Gegenständen: Phi losophie, Gott, Freiheit und, wie ich hörte, hauptsächlich mit dem Übergange der Physik zur Metaphysik beschäftige. Dieses Werk pflegte Kant im vertrau lichen Gespräche ' sein Hauptwerk, sein Chef d ' oeuvre ' zu nennen und davon zu sagen, daß es ein (absolutes) sein System vollendendes Ganze, völlig bearbeitet und nur noch zu redi­ gieren sei, welches letztere er immer noch selbst zu tun hoffte. Gleichwohl wird sich der etwaige Herausgeber desselben in Acht nehmen müssen, weil Kant in den letzten Jahren oft das ausstrich, was besser war, als das, was er überschrieb, und auch viele A llotria (z. E. die Gerichte, die für denselben Tag bestimmt waren) dazwischen setzte. Damals h ieß es, daß es u nserem Herrn Professor Gensichen (dem Kant auch seine Bibliothek und 500 Rthlr. Geld vermacht hat) zur Herausgabe übergeben werden sollte. Jetzt ist es vorläufig dem Herrn Hofpred iger Schultz (Kants Kommentator, einem kompetenten Richter) zur Beurteilung kommuniziert, der mich aber ver­ sicherte, daß er darin nicht fände, was der T itel verspräche, und zu der Herausgabe nicht raten könne. Bei dem Begriffe der Phi losophie schien der erhabene Denker mit sich selbst l ange i m Kampfe gewesen zu sein, so sehr war dieser Artikel durchstrichen, überarbeitet und durchgeackert ! Einst äußerte ich meine Verwunderung darüber, und so entspann sich an einem mir sehr denk­ würdigen Mittage, den 1 5. Juni 1 802 folgende Unterredung: Ich: Noch sind die Philosophen doch nicht einig darüber, was eigentlich Phi losophie sei. Er: Wie können sie das sein? Sie streiten ja noch, ob es eine Philo­ sophie gebe. Ich: Aber wie der Name Philosoph und Philosophie aufkam, waren Sophos und Sophia schon da. Mit diesem Worte mußten doch die Griechen einen bestimmten Begriff verbinden, und den sollte man aufsuchen, beson­ ders, da die Alten mit ihren Worten auch das Wesen der Sache ausdrückten, wenigstens so wie sie es sich dachten. Er: Aber hier hilft Etymologie weiter nichts, mit Sophos sind wir schon am Ende. Sophos heißt sapiens, ein Weiser, Philosophie, Weisheitsstudium, wie es Cicero gibt, und damit Punktum! Ich: Um Verzeihung ! sapiens ist die bloße Übertragung vom griechi­ schen Sophos (ein Weiser) und nun muß man erst wissen, was dazu gehörte, Sophos zu sein. Die Deutschen nennen den ei nen Weisen, der viel weiß, aber ein solcher ist dennoch nicht Philosoph im griechischen Sinne. Cicero übersetzt bloß das Wort philosophia (er sagt selbst: si interpretari velis) nachher gibt er eine Sachdefinition, die synthetisch ist, und in dem

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Worte sapientia nicht liegt. Cicero, de officiis L. II, c. 2: Est autem sapientia rerum divinarum et humanarum causarumque, quibus hae res conti nentur, scientia. Er: Nun, etwas besseres gibt ' s doch nicht. Ich: Erlauben Sie! die Griechen waren nicht Genies inventeurs, sondern cultivans, sie haben die Philosophie nicht erfunden und ausgedacht, sondern überkommen und ausgebildet. Man untersuche, von welcher Nation sie die Sache und folglich das Wort her haben und was es daselbst zuerst bedeute. Er: Das wären doch nur Ä gypter und Phönizier. Ich: Im Koptischen und Ä gyptischen findet sich das Wort nicht als inländisch vor, aber im Phönizischen und Hebräischen. Er: Da kann es durch das Griech ische hingedrungen sein. Phönizier und Hebräer sind eben keine Philosophen. Ich: Sie haben aber doch das Wort, und aus der Gegend, nicht aus Ä gypten, ist die Kenntnis eines einzigen Gottes hergekommen, die, wenn man nicht eine übernatürl iche Offenbarung zu Hi lfe nehmen w i l l , (ich spreche zu einem Philosophen) einen hohen Grad von Philosophie voraus­ setzt. Anzunehmen, daß das Wort Sophos aus dem Griechischen nach dem Orient gedrungen sei , streitet wider d ie Chronologie. Denn die hebräischen Propheten heißen Sophim (Phi l osophen) zu einer Zeit, wo die Griechen noch wenig wissenschaftliche Kultur hatten, und Sanchuniathon hat schon Zopha Semin, d. i. Himmels-Philosophen (Theologen) , zu einer Zeit, als die Griechen als solche noch nicht existierten, und ihre Autochthonen Eicheln fraßen. Er: Was würde es denn in diesen Sprachen zuerst heißen? Ich: Das Verbum: Safah heißt im hebräischen speculari, spekulieren, das Nomen in concreto Sofeh (Sophos) ein Speku lateur, und das Abstrak­ tum Sofiah, Spekulation. Er: D as gäbe einen recht guten Grundbegriff von Philosophie. Wollen Sie dieses nicht weiter auseinandergesetzt, der gelehrten Welt mitteilen? Ich: Ich fürchte, daß man es für Wortklauberei und Mikrologie halten werde. Er: Solche Recherchen halte ich nicht für überfl üssig. - (Daraus ist wie Hasse anmerkt - eine Abhandlung entstanden, d ie nächstens im Druck erscheinen wird.) Es war also den 1 5. Juni 1 802, als ich auf diese Unterredung mit ihm kam, und er mir eröffnete, daß er den Morgen viel über den Begriff ' Gott ' gedacht und geschrieben hätte, es sei ihm aber sehr schwer geworden. Das leitete er aber nicht von einer Schwäche seiner Denkkraft, sondern von der Schwierigkeit des Gegenstandes selbst her.«

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Bußtagsgespräch . - »Heute ist Buß- oder Bettag, sagte ich ihm,« so berich­ tete Hasse, an dem Tage 1 802. »Anfangs bespöttelte er die Sache etwas, wurde aber bald ernsthaft und meinte, es könnte die Anstalt sehr nützlich werden, wenn j eder an d iesem Tage recht lebhaft an seine Sündenschuld erinnert und zur möglichst größten Restitution alles dessen, was er Böses getan hätte, auf das kräftigste angehalten würde. Matth. 5 , 23 ' Sei willfährig Deinem Widersacher' usw. (diese Stelle sagte er ganz ohne Anstoß her) sei dazu ein sehr schickl icher Bußtext. Er wollte selbst über den Text einst als Kandidat eine Predigt ausgearbeitet (aber nicht gehalten) haben, die sich noch unter seinen Papieren finden müßte. Aber bei allem Nachsuchen wurde nichts vorgefunden. Seine Papiere waren damals schon weg, und es war nichts mehr vor­ handen, als einige u nbedeutende Skripturen, die wahrscheinlich Herr D i a­ konus Wasianski, sein intimer Freund, an sich genommen hat. Er bedauerte es bisweilen, sich so ganz entblößt zu haben. Viel leicht fände sich obige Predigt noch bei Herrn Tieftrunk oder Rink oder Jäsche unter den Papieren, die sie bekommen haben. Sie wären wenigstens ebenso wert gedruckt zu werden, als manches andere.« Letzter Höflichkeitsakt. - »Am 3. Januar ( 1 804) « , so berichtet Wasianski, »schienen alle Triebfedern des Lebens gänzlich erschlafft zu sein und völlig nachzulassen, denn von diesem Tage an aß er eigentlich nichts mehr. Seine Existenz schien nur noch die Wirkung einer Art von Schwungkraft nach einer 80j ährigen Bewegung zu sein. Sein Arzt (Professor Elsner) hatte mit mir Abrede genommen, ihn um eine bestimmte Stunde zu besuchen und dabei meine Anwesenheit gewünscht. Hatte Kant es behalten oder ver­ gessen, daß ich ihm gesagt hatte: sein Arzt habe alle Belohnung großmütig verbeten und selbst die ihm schon insinuierte mit einem sehr rührenden Billet zurückgesandt, das weiß ich nicht. Genug, Kant war vom Gefühl der Hochachtung und Dankbarkeit gegen seinen Kollegen tief durchdrungen. Als er ihn 9 Tage vor seinem Tode besuchte und Kant beinahe nichts mehr sehen konnte, so sagte ich ihm, daß sein Arzt käme. Kant steht vom Stuhle auf, reicht seinem Arzte die Hand und spricht darauf von Posten, wiederholt dies Wort oft in einem Tone, als wolle er ausgeholfen sein. Der Arzt beruhiget ihn damit, daß auf der Post al les bestellt sei, weil er diese Ä ußerung für Phantasie hält. Kant sagt: ' v iele Posten, beschwerl iche Posten, bald wieder viele Güte, bald wieder Dankbarkeit ' , alles ohne Verbindung, doch mit zunehmender Wärme und mehrerem Bewußtsein seiner selbst. Ich erriet indessen seine Meinung sehr wohl. Er wollte sagen, bei den vielen und beschwerlichen Posten, besonders bei dem Rektorat, sei es viele Güte von seinem Arzt, daß er ihn besuche. ' Ganz recht' , war Kants Antwort, der noch immerfort stand und vor Schwäche fast hinsank. Der

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Arzt bittet ihn, sich zu setzen. Kant zaudert verlegen und unruhig. Ich war mit sei ner Denkungsart zu bekannt, als daß ich mich in der eigentlic hen Ursache der Verzögerung hätte irren sollen, weshalb Kant seine ermüdende und ihn schwächende Stel lung nicht änderte. Ich machte den Arzt auf die wahre Ursache, nämlich die feine Denkungsart und das artige Benehmen Kants aufmerksam und gab ihm die Vers icherung, daß Kant sich sogleich setzen würde, wenn er, als Fremder, nur erst würde Platz genommen haben. Der Arzt schien diesen Grund in Zweifel zu ziehen, wurde aber bald von der Wahrheit meiner Behauptung überzeugt und fast zu Tränen gerührt, als Kant nach Samml ung seiner Kräfte mit einer erzwungenen Stärke sagte: ' Das Gefühl für Humanität hat mich noch nicht verlassen '. Das ist ein edler, feiner und guter Mann ! riefen wir, wie aus einem Munde uns zu.«

Vorbemerkungen zu den ausgewählten Briefen

Kant hat nicht gerne Briefe geschrieben. Er wurde nicht erst im höheren Alter zu sol�her Haltung genötigt, als sich die Berufslasten und gesell igen Verpflichtungen übermäßig steigerten und wirkl iche Zeitnot eintrat. Schon in j ü ngeren Jahren mac hte er kein Hehl daraus und gestand seine Schreib­ faulheit unumwunden ein. So heißt es z. B . in einem an Ludwig Ernst Borowski gerichteten kurzen Schreiben vom 6. Juni 1 760: »Sie wissen mein Phlegma i m Briefschreiben.« Da im Lehrbetrieb des Fridericianums gerade die Briefschreibkunst regelrechte Pflege fand, müßte man eigentlich erwarten, daß ehemal ige Zöglinge dieser Anstalt ihre Ehre darein setzten Proben einer voll entwickelten schriftl ichen Ausdrucksfähigkeit abzulegen und j ede Gelegenheit dazu dankbar begrüßten. Im mündlichen Verkehr war der Phi losoph doch immer dienstbereit. Selbst die j üngsten Studenten durften mit ihm sprechen. Im Anschluß an die Vorlesungen ergaben sich zwanglos Lehrgespräche. Sie konnten den Anstoß zu der einen oder anderen schriftl ichen Fortspinnung geben. Es lassen sich auch Beispiele eines Schriftwechsels auf d ieser Grundl age nachweisen. Leser Kantischer Schriften sind den aus dem Lehrgespräch erweckten Briefschreibern benach­ bart. Sie sind tatsächlich in großer Zahl mit Briefen an Kant herangetreten. Trotz aller widrigen Schicksale stellen sie heute noch eine stattliche Gruppe in den Briefwechselbänden der Kantausgabe der Berliner Akademie dar. Es steht frei lich fest, daß die dieser Gruppe entsprechenden Antwortbriefe Kants in erhebl ichem Umfange fehlen, also die Voraussetzungen ei nes vollwertigen, schriftlichen Gedankenaustauschs gar nicht erfüllt sind. Auffällig ist ferner, daß von einem brieflichen Verkehr mit den A nge­ hörigen des Handelsstandes, die gerade zu dem intimsten Kreis der Freunde gehört haben, nur spärliche Überreste vorliegen. Es mag sein , daß gerade die vertraulichen Zuschriften aus Diskretion nach Erfüllung ihres Zwecks vernichtet wurden. Kant brauchte die Herren Negotianten, wie ihre übliche Standesbezeichnung lautete, sehr oft als wertvolle Helfer, nicht nur als finanzierende Vermittler bei irgend einer Unterbringung von notleidenden ehemaligen Zuhörern oder sonst unterstützungsbedürftigen aufstrebenden Personen seiner Bekanntschaft, sondern auch als Extralieferanten, wenn in der eigenen Hauswi rtschaft das eine oder andere fehlte, was zu dem damaligen Comfort gehörte. Daß sogar auswärtige Negoti anten ritterlich einsprangen, wenn es galt, dem Königsherger Philosophen eine Freude zu machen, zeigt besonders hübsch ein Brief seines treuesten Jüngers, Reinhold Bernhard Jachmanns, vom 16. August 1 800. Darin heißt es: »Ihren

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Vorbemerkungen

Auftrag aus den Gewächshäusern in Danzig einige Pomeranzen für Sie zu besorgen, habe ich ganz nach Ihrem Wunsch ausführen können. Ich war den ersten Mittag mit dem HE Regierungspräsidenten von Beyer bei seinem Schwager dem Geheimen Kommerzienrat Tönniges zu Tische und kaum hatte ich Verlangen geäußert, als HE. Geheimer Rat Tönniges sich sogleich zur Herbeischaffung von 6 Pomeranzen erbot, die er mir dann auch den folgenden Tag mit der B i tte, einer freundschaftlichen Empfehlung an Sie eigenhändig überreichte. Sein Schwager, der Kaufmann Schwartz hatte sie mit vielem Vergnügen von seinen B äumen abgeschnitten. Herr Geheimer Rat Tönniges hat ehemals das Glück gehabt, Sie öfters bei Green zu sprechen. Wie sehr Sie, teuerster Herr Professor, von der Danziger Kauf­ mannschaft verehrt werden, das habe ich bei dieser Gelegenheit zu meiner größten Freude erfahren. Jedermann wünschte, Ihnen gefäll i g werden zu können.« Rudolf Reicke fand bei seinem Studium der Losen Blätter aus Kants Nachlass das interessante Fragment aus einer politischen Mitteilung, die zeigt, daß der große Vernu nftkriti ker von sei nen befreundeten Herren Negotianten über bedeutsame Tagesereignisse sogar vor dem Erscheinen der Zeitungen benachrichtigt worden ist. Natürlich konnten politische Schnellbriefe nicht l ang sein. Der Telegrammstil war die gegebene Form und den Herren Negotianten auch am bequemsten. So versteht man auch, daß sich von dieser Korrespondenz wenig erhalten hat. Die Aufzeichnungen hatten ja nur Wert vor dem allgemeinen Bekanntwerden. In der nachstehenden Auswahl ist der Briefwechsel Kants mit dem kongenialen Johann Heinrich Lambert wiedergegeben, der wegen seiner allgemeinen geistesgeschichtlichen Bedeutung noch bei Lebzeiten des Ver­ nunftkritikers in Johann Bernoullis Ausgabe von Johann Heinrich Lamberts deutschen gelehrten Briefwechsel Aufnahme fand. Er steht im ersten Bande (Seite 335-340) , der 1 78 1 zu Berli n herauskam. Hätte Lambert das Er­ scheinen der Kritik der reinen Vernunft erlebt, so hätte Kant ihm das Werk gewidmet. Schade, daß in dem Lambert-Kantischen Briefwechsel ein Stück fehlt. Vielleicht würde uns gerade der feh lende Brief nähere Aufklärung geben über einen merkwürdigen Ausspruch Lamberts und einen entspre­ chenden Zusatz Kants. Nach Abeggs Tagebuch soll der mit Kant befreun­ dete Kriminalrat Christian Friedrich Jensch am 5. Juli 1 798 an dem Mittags­ tisch des Meisters von einem Besuch bei Lambert 1 766 erzählt haben. Er wäre damals mit einem kantischen Empfehlungsschreiben in das Haus des großen Mannes gekommen. Nach einer Erörterung von allerlei phi loso­ phischen und mathematischen Fragen bekam das Gespräch eine andere Wendung. Da erhob sich Lambert plötzl ich und erklärte mit geschlossenen Augen: »Was nicht gewogen und berechnet werden kann, geht mich nichts an, davon verstehe ich nichts . « Dazu sagte nunmehr Kant: »Es ist schon recht, daß im Grunde alles am Ende auf den Calcul ankommt. « Er setzte

Briefwechsel

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aber hinzu: »Bis es dahin gebracht ist, erfordert es viele vorläufige Arbeit.« Jedenfalls gewährt der Lambert-Kantische Briefwechsel einen Einblick in die feinsten Feinheiten wissenschaftl ichen philosophischen Schaffens. Alle anderen Briefproben können nur in weitem Abstand nach dem Schrift­ wechsel der beiden Denkerfürsten folgen.

Aus dem Briefwechsel

Begleitbrief zu einem Rezensionsexemplar des Erstlingswerks Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte. Mein Herr! Die Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte , davon Ihnen ein Exemplar zu überschicken die Ehre habe, mögen durch die Wichtigkeit ihres Vorwurfs die Freiheit rechtfertigen, die ich mir nehme Sie zu ersuchen, diese Abhandlung anzukündigen, und wo sich die Ausführung derselben dieser Ehre nicht gänzlich unwürdig macht, die Welt zu einer genauen und unparteiischen Untersuchung der darin vorgetragenen Gründe aufzumuntern. Die wichtige Sache der wahren Kräfteschätzung, darauf in der Naturlehre so v ieles ankommt, erfordert es wenigstens, daß die Bemü­ hung der Deutschen, die in Absicht auf diesen Punkt ei ngeschlafen zu sein scheinet, zu einer endlichen Entscheidung derselben aufgeweckt werde. Der Druck dieses Werkchens ist in diesem Jahre nur geendiget, obgleich der Anfang nach Anzeige des Titels schon 1 746 gemacht worden, an welcher Verzögerung sowohl öftere Verhinderungen als auch meine Abwesenheit Schuld gewesen ist. Ich habe noch eine Fortsetzung dieser Gedanken in Bereitschaft, die nebst einer ferneren Bestätigung derselben andere eben dahin abzielende Betrachtungen in sich begreifen wird. Sobald diese wird im Drucke erschie­ nen sein, werde die Ehre haben sie Ihnen gleichfalls zu überschicken. Dero ergebenster Diener Ich bin Mein Herr I. Kant. Judtschen, den 23. August 1 749 Man nimmt an, daß dieser Brief an Albrecht von Hal ler gerichtet war. Eine Antwort darauf scheint nicht erfolgt zu sein. Wohl aber wurde der Zweck des Briefes insoweit erfüllt, als die von Haller redig ierten Göttingisehen Zeitungen von gelehrten Sachen einen Bericht über das Kantische Werk brachten. Er war so wenig empfehlend, daß Lessing darauf ein Spott­ epigramm münzte. »K. unternimmt ein schwer Geschäfte, Der Welt zum Unterricht. Er schätzet die Iebendgen Kräfte, Nur seine schätzt er nicht.«

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Ob nicht hieraus Kants spätere unverhohlene Abneigung gegen den Dichter und Ä sthetiker Lessing entsprungen ist? Das Kantische Anthropol o gie­ kolleg kritisiert aufs Schärfste die Lessingschen Dramen in Bezug auf ihre Bühnenwirksamkeit. Im gleichen S i nne heißt es auch fast boshaft in der Kritik der Urteilskraft § 33: »Wenn mir j emand sein Gedicht vorliest oder mich in ein Schauspiel führt, welches am Ende meinem Geschmack nicht behagen w i l l , so mag er den Batteux oder Lessing oder noch ältere und berühmtere Kritiker des Geschmacks und alle von ihnen aufgestellte Regeln zum Beweise anführen, daß sein Gedicht schön sei , wenigstens mögen gewisse Stellen, die mir aber mißfallen, mit Regeln der Schönheit (so wie sie dort gegeben und allgemein anerkannt sind) gar wohl zusammen­ stimmen, so stopfe ich mir die Ohren zu, mag nach keinen Gründen und Vernünfteln hören, und werde eher annehmen , daß jene Regeln der Kritiker falsch seien oder das wenigstens hier nicht der Fall ihrer Anwendung sei, als daß ich mein Urteil durch Beweisgründe a priori sol lte bestimmen lassen, da es ein Urteil des Geschmacks und nicht des Verstandes oder der Vernunft sein soll . « Übrigens hat wohl Lessing bald selbst das Spottepi­ gramm bereut und dasselbe aus der Gedichtesammlung entfernt. Er mußte gerade sterben, als der Vernunftkritiker 1 78 1 die schwierigste Kräfteschät­ zung, die sich denken läßt, in seinem monumentalen Hauptwerk vollzog. Wenn der Herausgeber der No va acta eruditorum publicata Lipsiae in dem Kantischen Brief gemeint war, so muß dieser einen besonders miß­ günstigen Beurteiler bestellt haben. D ieser l ieß das Buch mehrere Jahre l iegen, ehe er sich zu einer kurzen hochmütig ablehnenden Rezension aufraffte, die nur dadurch eine Abmilderung erfuhr, daß sie lateinisch war. Gerade den genialen Hinweis auf die Möglichkeit eines Raumes von mehr als drei Dimensionen und vollends den prophetischen Satz, daß eine Wissen­ schaft von allen möglichen Raumesarten »unfehlbar die höchste Geometrie wäre, die ein endl icher Verstand unternehmen könnte« , brandmarkt der Rezensent als Träumerei.

Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 28. Oktober 1 759 Auskunft über die Führung der drei aus Riga mit Lindners Empfehlungen zugeschickten Studenten und Schilderung von dem eigenen Zusammenstoß mit dem neuen Magister Weymann. Lindner hatte zwei Briefe vorher an Kant geschrieben. Er war seit 1 75 5 Rektor und Inspektor der Rigaer Domschule. Hochedelgeborener Herr, hochzuverehrender Herr Magister ! Ich bediene mich der Bereitwilligkeit des Herren Berens Ew. Hochedelgeb. für die gütige attention, die Sie mehrmalen in Ansehung meiner zu äußern

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beliebt haben, meinen verbindlichsten Dank abzustatten, um desto mehr, da ich das Glück einen so würdigen und schätzbaren Freund an ihm erlangt zu haben, zum Teil der Idee beimesse, die Sie, wie ich vermute, nach Ihrer gütigen Art ihm von mir zum voraus werden gegeben haben. Ich erkenne die Empfehlungen der von Riga hierher geschickten Studierenden als eine Verbindl ichkeit, die mir auferlegt ist, von ihrem Betragen Rechenschaft oder Nachricht abzustatten und kann in Ansehung der Herren Schwartz und Willrosen dieses auf eine mir und Ihnen angenehme Art tun, indem diese beiden Herren den Anfangseifer, der gemei nhin nicht lange zu dauern pflegt, mit soviel Regelmäßigkeit soutenieren, daß ich von ihnen die besten Folgen erwarte. Ich wünsche, daß ich von Herrn Holst auch rühmen könnte, daß er außer sei ner allgemeinen Gefälli gkeit, wodurch er sich Liebe erwirbt, auch durch eben die gleiche Tüchtigkeit in Ansehung der Haupt­ absicht seines Hierseins bedacht wäre Ansprüche auf wahre Hochach­ tung zu machen. Ich weiß nicht, welche kleinen Verleitungen oder entbehr­ lichen Zeitkürzungen ihn abziehen mögen, allein meiner Meinung nach würde es etwas zur Abhelfung dieser Hindernisse beitragen, wenn man es gut fände, daß er in unserer Gesellschaft, darin HE. Schw artz speist, gleichfalls speisen möchte. Denn weil er daselbst alle Tage exponiert wäre, mir Rechenschaft zu geben, so würden die Ausflüchte bald alle ersc höpft sein. Ich bin recht sehr erfreut von j edermann zu erfahren, daß Ew. Hoch­ edelgeb. gewußt haben ihre Verdienste auf einem Schauplatze, wo man vermögend ist, sie zu schätzen , und zu belohnen, zu zeigen und daß es Ihnen gelungen ist, sich über die elenden Buhlereien um den Beifall und die abgeschmackten Einschmeichelungskünste hinwegzusetzen, welche hier großtuerische kleine Meister, die höchstens nur schaden können, denen auferlegen, welche gerne ihre Belohnung verdienen und nicht erschleichen möchten . Ich meinesteils, sitze täg l ich vor dem Amboß meines Lehrpu lts und führe den schweren Hammer sich selbst ähnl icher Vorlesungen in einerlei Takte fort. B isweilen reizt mich irgend wo eine Neigung edlerer Art, mich über diese enge Sphäre etwas auszudehnen , allein der Mangel mit ungestümer Stimme so gleich gewärtig mich anzufallen und immer wahr­ haftig in seinen Drohungen treibt mich ohne Verzug zur schweren Arbeit zurück - intentat angues atque intonat ore (droht Sch langen und donnert mit dem Munde) . Gleichwohl für den Ort, wo ich mich befinde und die kleinen Aussichten des Überflusses, die ich mir erlaube, befriedige ich mich endlich mit dem Beifalle, womit man mich begünstigt und mit den Vorteilen, die ich daraus ziehe, und träume mein Leben durch. Allhier zeigte sich neulich ein Meteorum auf dem akademischen Hori­ zont. Der M. Weymann suchte durch eine ziemlich unordentlich und unver-

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ständl ich geschriebene Dissertation wider d e n Opti mismus seinen ersten Auftritt auf d iesem Theater, welches ebensowohl als das Helferd ingsehe Harlequins hat, solenn zu machen. Ich schlug ihm wegen seiner bekannten Unbescheidenheit ab ihm zu opponieren, aber in einem Program mate, welches ich den Tag nach seiner Dissertation austeilen ließ und das HE Berens zusamt einer oder der andern kleinen Piece Ihnen einhändigen wird, verteidigte ich kürzlich den Optimismus gegen Crusius, ohne an Weymann zu denken. Seine Galle war gleichwohl aufgebracht. Folgenden Sonntag kam ein Bogen von ihm heraus, darin er sich gegen meine vermeinten Angriffe verteidigte und den ich künftig übersenden werde, wei l ich ihn jetzo nicht bei Hand habe, vol ler Unbescheidenheiten, Verdrehungen u. d. g. Das Urteil des Publici und d ie sichtbare Unanständigkeit, sich mit einen Cyclopen auf Faustschl äge einzulassen und überhaupt die Rettung eines Bogens, der vielleicht, wenn seine Verteidigung herauskommt, schon unter die vergessenen D inge gehört, geboten mir auf die anständigste Art, das ist durch Schweigen, zu antworten. Das sind unsere großen Dinge, wovon wir kleine Geister uns wundern, daß draußen nicht mehr davon gesprochen wird. Herr Freytag, Prof. Kypke, D. Funck, al les was Sie kennt und eben darum liebt, grüßen Sie aufs verbindl ichste. Ich wünsche und hoffe, daß es Ihnen auf alle Art wohlgehe und bin mit wahrer Hochachtung Ew. Hoch­ edelgeb. ergebenster treuer Diener Kant. Königsberg, den 28. Oktober 1 759. Die erste Hälfte des Briefes ist eine charakteristische Urkunde von Kants akademischem Fürsorged ienst Gerade baltische Studenten haben sich dieser treuen Fürsorge in großem Umfange erfreuen dürfen. Sie waren es auch, die die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Köni gsberg und dem Baltikum viele Generationen hindurch lebendig erh ielten. S ie standen immer in der vordersten Front, wenn es galt, dem Meister zu huldigen. D ie Nennung von Berens ist genauer durch die Vornamen Johann Chri­ stoph zu ergänzen. D ieser Rigaer Kaufmann ( 1 729- 1 792) mit dem sich Kant, wie wir in seinem Brief erfahren, durch Lindners Vermittlung anfreun­ dete, griff zugleich schicksalhaft in das Leben Johann Georg Hamanns ein, jenes merkwürdigen Mannes, der bei Goethe so hohe Bewunderung erregte, daß er von ihm dem deutschen Volk als künftiger » Ä lterv ater« bezeichnet wurde. Es gehört zu den größten Wundern unserer Geistesgeschichte, daß so grundverschiedene Naturen wie Kant und Hamann in einer gewissen Höhenlage miteinander freundschaftlich verkehren konnten. Wir werden dramatische Reflexe der Begegnu ngen von Berens, Kant und Hamann alsbald aus dem weiteren Briefwechsel vernehmen. Erläuternde Anmer­ kungen sind also bis dahin aufzusparen.

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Der Zusammenstoß mit dem Magister Weymann, von dem die Schluß­ hälfte des Briefes handelt, berührt ein trauriges Kapitel der Königsherger Universitätsgesc hichte. Kant hatte damals schon schwere Enttäuschungen durchgemacht. 1 756 dachte er die freie außerordentliche Professur der Mathematik und Philosophie seines Lehrers Martin Knutzen zu erlangen. Er erfüllte die vorgeschriebene Bedingung und verteidigte eine latei ni sche Dissertation. Aber die Beförderung blieb aus. 1 758 war die ordentliche Professur der Logik und Metaphysik zu besetzen. Kant meldete sich wiede­ rum mit den damals üblichen Bewerbungsschreiben bei den maßgebenden Instanzen. Ein an Jahren älterer, aber unbedeutender Bewerber wurde ihm vorgezogen. Dazu kam nunmehr ein neuer Magister, der Crusianer Daniel Weymann, als Konkurrent, um sofort mit einer Streitschrift gegen ihn Stimmung zu machen. So ergab sich eine sehr peinl iche Lage, die aber Magister Kant doch in sehr kluger Weise, wie sein Brief erzählt, »durch Schweigen« zu meistern wußte.

Brief an Johann Heinrich Samuel Formey vom 28. Juni 1 763 Anfrage an den damaligen beständigen Sekretar der Berl iner Akademie der Wissenschaft wegen des Drucks der Kantischen Preissc hrift und der Möglichkeit, für diesen Druck Zusätze ei nzufügen. Die Preisaufgabe für das Jahr 1 763 hatte gelautet: »Les verites metaphysiques sont-elles , susceptibles d e Ia meme evidence que !es verites mathematiques, e t quelle est Ia nature de leur certitude?« Kants Schrift wurde nach dem Urteil der Akademie »nächst der ersten für die beste gehalten. « Sie führte den Titel Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral. Ihr Druck erfolgte 1 764. Hochedelgeborener und hochgelahrter Herr Professor, hochzuehrender Herr ! Ich habe das Vergnügen gehabt, aus der Berliner Zeitung zu ersehen, daß meine Abhandlung mit der Devise der Verse des Lucreti us: Verum animo satis haec etc. welche an Ew. Hochedelgeb. von dem Negotianten Abraham Gottlieb Ficker überliefert, und worüber das recepisse von Dero geehrten Hand de dato Berl in d. 1 3 . Xbr. 1 762 mir zugestellt worden, in der Versammlung für diejenige erklärt worden, welche der Preisschrift am nächsten gekommen wäre. Ich bin für dieses günstige Urteil um desto empfi ndl icher, je weniger d iese Piece dazu durch die Sorgfalt der Einkleidung und der Verzierungen hat beitragen können, indem eine etwas zu lange Verzögerung mir kaum so viel Zeit übrig ließ, einige der beträchtl ichsten Gründe ohne sonderl iche Ordnung über einen Gegenstand vorzutragen, welcher schon seit ein igen

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Jahren mein Nachdenken beschäftigt hat und womit ich anj etzo mir schmeichle dem Ziele sehr nahe zu sein. Ich nehme mir daher die Freiheit bei Ew. Hochedelgeb. gehorsamste Erkundigung einzuziehen , ob diese meine Piece zugleich mit der Preis­ schrift von der Kön igl. Akademie d. Wiss. werde dem Druck übergeben werden, und ob in diesem Falle ein Anhang beträchtlicher Erweiterungen und einer näheren Erklärung gedachter vortrefflichen Gesellschaft nicht mißfä l l i g sein dürfte. Ohne allen Bewegungsgrund der Eitelkeit scheint es mir das beste Mittel zu sein, die Aufmerksamkeit der Gelehrten zu der Prüfung einer Methode rege zu machen, von welcher allein (wie ich über­ zeugt bin) ein glückl icher Ausgang für die abstrakte Philosophie zu erwarten ist, wenn sie gewissermaßen durch das Ansehen einer hochbe­ rühmten Gelehrten Gesellschaft zur Untersuchung empfohlen wird. Im Falle d ieser Einwi l ligung, so ersuche Ew. Hochedelgeb. gehorsamst die Zeit zu bestimmen, binnen welcher d iese Zusätze sol len eingeschickt werden. Wie ich denn in dem Zutrauen, daß Ew. Hochedelgeb. mich mit Dero Zuschrift beehren werden, ohne die Freiheit übel aufzunehmen, die ich mir desfalls nehme, mit der größten Hochachtung die Ehre habe zu sein Ew. Hochedelgeb. gehorsamster Diener Immanuel Kant Magister legens auf Königsberg, d. 28. Juni 1 763 der Königsbergsehen Universität

Brief von Johann Heinrich Lambert an Kant vom 13. No v. 1 765 Johann Heinrich Lambert ( 1 728- 1 777) , eines armen Schneiders Sohn hatte einen glänzenden Aufstieg gemacht. Er war vielseitig, hochbegabt und erregte dadurch als neues Mitglied der Berliner Akademie der Wiss. bei Friedrich II großes Aufsehen. Er hat ebenso wie Kant durch den Kometen vom Jahre 1 744 einen nachhaltigen Impuls bekommen und berührt sich auch sonst mit Kant mehrfach. Er darf wohl als der kongenialste Zeit­ genosse des Vernunftkritikers bezeichnet werden. Schade, daß der ei nge­ fädelte Briefverkehr nicht noch länger sich fortspann. Mein Herr! Ich glaube, daß d ieses Schreiben und die Freimütigkeit, alle Umschweife des sonst üblichen Stili darin wegzulassen , durch die Ä hnlichkeit unserer Gedankenart vollkommen entschuldigt wird, und der Anlaß, den m i r des Herrn Professor und Prediger Reccard Abreise nach Königsberg gibt, ist zu schön, als daß ich denselben nicht gebrauchen sollte, Ihnen das Vergnügen zu bezeugen, welches ich daran finde , daß wir in sehr v ielen neuen Gedanken und Untersuchungen auf einerlei Wege geraten. Von Herrn Pr. Reccard mögen Sie, Mein Herr, schon wissen, daß derselbe zur Astronomie

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geboren ist, und sein Vergnügen in den Tiefen des Firmamentes findet. Ich habe ihn demnach nicht weiter zu empfehlen. Vor einem Jahr zeigte mir Herr Professor Sulzer Dero einigen möglichen Beweis von der Existenz Gottes. Ich fand meine Gedanken und Auswahl der Materien und Ausdrücke dari n und machte voraus den Schluß, daß, wenn Ihnen, mein Herr, mein Organon vorkommen sollte, Sie sich ebenfalls darin in den meisten Stücken abgebi ldet finden würden. Seitdem hatte ich meine Architektonik ausgearbeitet und schon seit einem Jahr zum D ruck fertig. Und nun sehe ich, daß Sie, Mein Herr, auf künftige Ostern eine eigentliche Methode der Metaphysik herausgeben werden. Was ist natür­ licher, als die Begierde zu sehen, ob das, was ich ausgeführt habe, nach der Methode ist, die Sie vorschlagen? an der Richtigkeit der Methode zweifle ich nicht, und so wird der Unterschied nur darin bestehen, daß ich nicht alles zur Architektonik rechne, was man bisher in der Metaphysik abge­ handelt, und daß hi ngegen eine vollständige Metaphysik mehr enthalten muß, als was bisher darin gewesen. Zur Architektonik nehme ich das Einfache und Erste j eder Teile der menschlichen Erkenntnis, und zwar nicht nur die Princ ipia, welche von der Form hergenommene Gründe sind, sondern auch die Axiomata, die von der Materie selbst hergenommen werden müssen, und eigentlich nur bei den einfachen Begriffen, als die für sich nicht widersprechend und für sich gedenkbar sind, vorkommen, und die Postulata, welche allgemeine und unbedingte Möglichkeiten der Zusam­ mensetzung und Verbindung der ei nfac hen Begriffe angeben. Von der Form allein kommt man zu keiner Materie, und man bleibt im Idealen und in bloßen Terminologien stecken, wenn man sich nicht um das erste und für sich Gedenkbare der Materie oder des obj ektiven Stoffes der Erkenntnis umsieht. Wenn die Architektonik ein Roman wäre, so glaube ich, sie würde bereits viele Verleger gefunden haben, so sehr ist es wahr, daß Buchhändler und Leser einander verderben und vom gründlichen Nachdenken abhalten. Hier herum phi losophiert man schlechth in nur über die sogenannten schönen Wissenschaften. D ichter, Maler und Tonkünstler fi nden die ihren Künsten eigenen Wörter zu niedrig und entlehnen daher ei ner die Kunstwörter des aodern. Der D ichter spricht von nic hts als von Colorit, Farbenmischung, Pinselzügen, Stellung, Zeichnung, Manier, Anstrich etc. Der Tonkünstler von Colorit, Ausdruck, Einkleidung, feurigen und witzigen Gedanken der Töne, von pedantischen Fugen etc. Er hat ebenso wie der Maler einen Stilum, den er sublim, mittelmäßig, bürgerlich, heroisch, kriechend etc. zu machen weiß. In solchen Metaphern, die keiner weder recht versteht noch erklärt noch das tertium comparationis kennt, besteht nun das Feine und Erhabene dieser Künste und eben dadurch macht man sich ein gelehrtes und sublimes Ansehen, daß man sie gebraucht. Da sich noch niemand bemüht

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hat, das, was in solchen Ausdrücken gedenkbar ist, auszulesen und mit eigenen Namen zu benennen, so kann man sie desto dreister gebrauchen. Soweit aber wird man die Auslegung nicht treiben können , daß man dem B l inden die Farben, dem Tauben die Töne begreiflich mache. Indessen sollte man fast gedenken, daß es die Absicht bei solchen Metaphern wäre. Doch ich komme wieder auf die A rchitektonik. Ich sehe aus verschie­ denen Umständen, daß Herr Kanter ein Mann ist, der auch philosophische und größere Werke in Verlag nimmt, und wünschte aus diesem Gru nde ihm eins und anderes zu drucken zu geben, wiewohl ich dermalen noch kein ander Manuskript habe. Ob es demselben gleichgültig oder wegen der Kosten vorteilhaft wäre, in Leipzig drucken zu J assen, kommt auf die Gleichheit oder den Unterschied des Preises u nd der Frachtkosten an. Könnte es angehen, so wäre es in mehreren andern Absichten das Vorträg­ Iichste. In d ieser Ungewißheit nehme die Freiheit beil iegendes Blatt beizu­ fügen, falls HE. Kanter Lust hätte, das Werk in Verlag zu nehmen, oder es bis Ostern liefern könnte. Das honorarium pro Iabore würde ein Artikel von etwa 200 rthlr. sein, und ist desto mäßiger, weil das Werk notwend ig Aufsehen machen wird. Ich kann Ihnen, Mein Herr, zuversichtlich sagen, daß mir Ihre Gedanken über den Weltbau , wovon Sie in der Vorrede des einigen möglichen Beweises etc. Erwähnung tun, noch dermalen nicht vorgekommen. Was in den Kosmologischen Briefen pag. 1 49 erzählt wird, ist von anno 1 749 zu datieren. Ich ging gleich nach dem Nachtessen, und zwar wider meine damalige Gewohnheit, i n mein Zimmer und beschaute am Fenster den gestirnten Himmel und besonders die Milchstraße. Den Einfall , so ich dabei hatte, sie als eine Ekliptik der Fixsterne anzusehen, schrieb ich auf ein Quartblatt, und d ieses war alles, was ich anno 1 760, da ich d i e B riefe schrieb, aufgezeichnet vor mir hatte. Anno 1 76 1 sagte man mir zu Nürn­ berg, daß vor einigen Jahren ein Engländer ähnl iche Gedanken in Briefen an andere Engländer habe drucken Jassen, es sei aber sehr unreif und die zu Nürnberg angefangene Übersetzung sei nicht vollendet worden. Ich antwor­ tete, die Kosmologischen Briefe werden kein Aufsehen machen, bis etwa künftig ein Astronom etwas am Himmel entdecken werde, das sich nicht anders werde erklären Jassen, und wenn dann das System a posteriori werde bewährt gefunden sein, so werden Liebhaber der griechischen Literatur kommen und nicht eher ruhen, bis sie beweisen können, d as ganze System sei dem Philolao, Anaximandro oder irgend einem andern griechischen Weltweisen schon bekannt gewesen, und man habe es in den neueren Zei­ ten nur herfürgesucht und besser aufgeputzt. Denn d ieses sind Leute, die in den Alten alles finden, sobald man ihnen sagt, was sie suchen sollen. Indes­ sen ni mmt mich mehr Wunder, daß nicht schon Newton darauf verfallen, weil er doch an die Schwere der Fixsterne gegeneinander gedacht hat.

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In Absicht auf Sie, mein Herr, habe ich mehrere Wünsche. Den einen werde ich zwar nicht sagen, weil ich nicht weiß, ob und wiefern die hiesige Verfassung der Sachen denselben w i rkl ich werden lassen. Indessen kann ich sagen, daß ich ihn nicht allein habe. Der andere ist, daß es mir sehr angenehm sei n wird, wenn Ihnen Zeit und Geschäfte erlauben, mir j ede beliebige Anlässe zu ei nem Briefwechsel zu geben. Kosmologie, Meta­ physik, Physik, Mathematik, die schönen Wissenschaften mit deren Regeln etc. kurz j ede Anschl äge zu neuen Ausarbeitungen, sowie auch j ede Anlässe zu Gefälligkeiten. Wir verfielen ja bisher fast auf ei nerlei Unter­ suchungen, ohne es zu wissen. Sol l te es damit nicht besser vonstatten gehen, wenn wir es einander voraussagen? Wie leicht wird man in den Folgen einig, wenn man in den Gründen eins ist, und wie nachdrücklich läßt sich sodann der Ton geben ! Wolff hat ungefähr die Hälfte der mathema­ tischen Methode in der Philosophie angebracht. Es ist noch um die andere Hälfte zu tun, so haben wir, was wir verlangen können. Ich habe die Ehre mit wahrer Hochachtung zu sein, Mein Herr, Dero ergebenster Diener Berlin, d. 1 3 . Nov. 1 765 J. H. Lambert Im Bethgenschen Hause Prof. et membre de I ' acad. R an der Ecke der Cronenstraße des Sciences. und Schinkenbrücke.

Antwortbrief Kants an Johann Heinrich Lambert v. 31. Dezember 1 765 Mein Herr! Es hätte mir keine Zuschrift angenehmer und erwünschter sein können, als diejenige, womit Sie mich beehrt haben, da ich, ohne etwas mehr, als meine aufrichtige Meinung zu entdecken, Sie für das erste Genie in Deutschland halte, welches fähig ist in derjenigen Art von Untersuchungen, die mich auch vornehmlich beschäftigen, eine wichtige und dauerhafte Verbesserung zu leisten. Ich bitte auch die Verzögerung meiner schuldigen Antwort nicht meiner eigenen Saumseligkeit beizumessen. Denn HE. Kanter, dem ich Dero Antrag kund machte, bat mich meine Zuschrift solange aufzu­ schieben, bis er hierüber seine völlige Entschl ießung durch ein eigenes Schreiben Ihnen eröffnen könne. Er erkennet sehr wohl die Wichtigkeit der Verbindung mit einer so berühmten Feder, als die Ihrige ist, und ist geneigt genug, den angetragenen Verlag zu übernehmen, nur bittet er sich einen Aufschub, weil die Zeit bis zur Ostermesse ihm zu kurz und seine übrigen Verlagsanstalten für d iesmal gar zu überhäuft scheinen. Er ist mit seinem vorigen Handlungsbedienten HEn Hartknoch, der seine Affairen anjetzt in Riga verwaltet i n Compagnie getreten und wird, wie er mich versichert, nächstens seine Erklärung an Sie in der erwähnten Sache überschreiben.

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Es ist mir kein geringes Vergnügen, von Ihnen die glückliche Überein­ stimmung unserer Methoden bemerkt zu sehen, die ich mehrmalen in Dero Schriften wahrnahm und welche dazu gedient hat, mein Zutrauen in dieselbe zu vergrößern , als eine logische Probe gleichsam, welche zeigt, daß d iese Gedanken an dem Probiersteine der allgemeinen menschl ichen Vernunft den Strich halten. Dero Einladung zu einer wechselseitigen Mitteilung unserer Entwürfe schätze ich sehr hoch und da ich mich durch diesen Antrag sehr geehrt finde, so werde ich auch nicht ermangeln davon Gebrauch zu machen, wie ich denn, ohne mich selbst zu verkennen, einiges Zutrauen in diejenige Kenntnis setzen zu können, vermeine, welche ich nach langen Bemühungen erworben zu haben g l aube, da andererseits das Talent, was man an Ihnen, mein Herr, kennt, mit einer ausnehmenden Scharfsinnigkeit i n Teilen eine überausweite Aussicht ins Große zu ver­ knüpfen, allgemein zugestanden ist und soferne Sie bel ieben mit meinen kleineren Bestrebungen Ihre Kräfte zu vereinbaren, für mich und viel leicht auch für die Welt eine wichtige Belehrung hoffen läßt. Ich habe verschiedene Jahre hi ndurch meine philosophischen Erwä­ gungen auf alle erdenklichen Seiten gekehrt und bin nach so mancherlei Umkippungen, bei welchen ich j ederzeit die Quellen des Irrtums oder der Eins icht in der Art des Verfahrens suchte, endlich dahin gelangt, daß ich mich der Methode versichert halte , die man beobachten muß, wenn man demjenigen B lendwerk des Wissens entgehen will, was da macht, daß man alle Augenblicke glaubt zur Entscheidung gelangt zu sei n, aber ebenso oft seinen Weg wieder zurücknehmen muß, und woraus auch die zerstörende Uneinigkeit der vermeinten Philosophen entspringt, weil gar kein gemeines Richtmaß da ist, ihre Bemühungen einstimmig zu machen. Seit dieser Zeit sehe ich j edesmal aus der Natur einer jeden vor mir l iegenden Unter­ suchung, was ich wissen muß, um die Auflösung einer besonderen Frage zu leisten, und welcher Grad der Erkenntnis aus demjenigen bestimmt ist, was gegeben worden, so, daß zwar das Urteil öfters eingeschränkter, aber auch bestimmter und sicherer wird, als gemeiniglich geschieht. Alle d iese Bestre­ bungen laufen hauptsächlich auf die eigentüml iche Methode der Meta­ physik und vermittels derselben auch der gesamten Philosophie hinaus, wobei ich Ihnen, mein Herr, nicht unangezeigt lassen kann, daß HE Kanter, welcher von mir vernahm, daß ich eine Schrift unter diesem Titel vielleicht zur nächsten Ostermesse fertig haben möchte, nach Buchhändler Art n icht gesäumt hat, diesen Titel , obgleich etwas verfälscht, in den Leipziger Mess­ katalog setzen zu l assen. Ich bin gleichwohl von meinem ersten Vorsatze so ferne abgegangen, daß ich dieses Werk , als das H auptziel aller d ieser Aussichten noch ein wenig aussetzen w i l l , und zwar darum, weil ich im Fortgange desselben merkte, daß es mir wohl an Beispielen der Verkehrt­ heit im Urteilen gar nicht fehlte, um meine Sätze von dem unrichtigen

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Verfahren zu illustrieren, daß es aber gar sehr an solchen mangele, darin ich in concreto das eigentüml iche Verfahren zeigen könnte. Daher, um nicht etwa einer neuen philosophischen Proj ektemacherei beschuldigt zu werden, ich einige kleinere Ausarbeitungen voranschicken muß, deren Stoff vor mir fertig liegt, worunter die metaphysischen Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit und die metaphysischen Anfangsgründe der praktischen Welt­ weisheit die ersten sein werden , damit die Hauptschrift nicht durch gar zu weitläufige und doch unzulängliche Beispiele allzusehr gerlehnet werde. Der Augenblick, meinen Brief zu schließen, überrascht mich. Ich werde künftig die Ehre haben Ihnen , mein Herr, einiges zu meiner Absicht gehöriges darzulegen, und Dero mir sehr wichtiges Urteil zu erbitten. Sie klagen, mein Herr, mit Recht über das ewige Getändel der Witzlinge und die ermüdende Schwatzhaftigkeit der j etzigen Skribenten vom herrschenden Tone, die weiter keinen Geschmack haben, als den, vom Geschmack zu reden. Allein mich dünkt, daß d ieses die Euthanasie der falschen Phi losophie sei , da sie in l äppischen Spielwerken erstirbt und es weit schl immer ist, wenn sie in tiefsinnigen und falschen Grübeleien mit dem Pomp von strenger Methode zu Grabe getragen wird. Ehe wahre Weltweisheit aufleben sol l , ist es nötig, daß die alte sich selbst zerstöre, und wie die Fäulnis die vollkommenste Auflösung ist, die jederzeit vorausgeht, wenn eine neue Erzeugung anfangen soll, so m acht mir die Krisis der Gelehrsamkeit zu einer solchen Zeit, da es an guten Köpfen gleichwohl nicht fehlt, die beste Hoffnung, daß die so längst gewünschte große Revolution der Wissenschaften nicht mehr weit entfernet sei: Herr Prof. Reccard , der mich durch sei nen gütigen Besuch sowohl als durch Dero geehrten Brief sehr erfreuet hat, ist hier überaus beliebt und al lgemein hochgeschätzt, wie er auch beides verdient, obzwar frei l ich nur wenige vermögend sind sein ganzes Verdienst zu schätzen. Er empfiehlt sich Ihnen, und ich bin mit der größten Hochachtung Mein Herr Dero ergebenster Diener Immanuel Kant. Königsberg, d. 3 1 . Dezember 1 765 P. S. Indem ich gegenwärtiges Schreiben geschlossen hatte, überschickt HE. Kanter den Ihnen schuldigen Brief, welcher also im Einschluße mitkommt.

Brief von Johann Heinrich Lambert an Kant v. 3. Februar 1 766 Erwiderung auf Kants Brief vom 3 1 . Dezember 1 765. Lambert entwickelt die Probleme, Methoden und Hauptergebnisse seiner Bemühungen um eine gründliche kritische Klärung u nseres Wissens i m Sinne seines logischen Reformwerks Neues Organon.

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Mein Herr! Dero geschätztestes Schreiben vom 3 1 ten Xbris ist mir in allwegen ver­ bindlich, und besonders erstatte auch den ergebensten Dank für d ie wegen Herrn Kanter gütigst übernommene Mühe. Es wird mir sehr l ieb sein, denselben seiner Zusage gemäß, auf Ostern hier zu sehen und das Nötige mit ihm zu verabreden, so wie auch wegen des Kalenderwesens Ver­ schiedenes mit ihm werde zu sprechen haben, da ich es bei der Akademie übernommen, die Einrichtung desselben in bessern Stand zu setzen und neue Kalenderarten zu veranstalten. Dürfte ich Sie, mein Herr, bitten, d ieses dem Herrn Kanter gelegentlich zu sagen, da ich auf sein Schreiben dermalen weiter nichts zu antworten habe. Aber suchen Sie, mein Herr, auch Gefälligkeiten auf, die von mir und meinem hiesigen Aufenthalte abhängen, damit ich nicht Ihr Schuldner bleibe. Es ist unstreitig, daß wenn immer eine Wissenschaft methodisch muß erfunden und ins reine gebracht werden, es d ie Metaphysik ist. Das Al lge­ meine, so darin herrschen solle, führt gewissermaßen auf die Allwissenheit und i nsofern über die mög l ichen Schranken der menschl ichen Erkenntnis hinaus. Diese Betrachtung scheint anzuraten, daß es besser sei , stückweise darin zu arbeiten und bei jedem Stücke nur das zu wissen verlangen, was wir finden können, wenn wir Lücken, Sprünge und Circul vermeiden. Mir kommt vor, es sei immer ein unerkannter Hauptfehler der Philosophen gewesen, daß sie die Sache erzwingen wollten, und anstatt etwas unerörtert zu l assen, sich selbst mit Hypothesen abspeiseten, in der Tat aber dadurch die Entdeckung des Wahren verspätigten. Die Methode, die Sie, mein Herr, in Ihrem Schreiben anzeigen, ist ohne alle Widerrede die einige, die man sicher und mit gutem Fortgange gebrauchen kann. Ich beobachte sie ungefähr auf folgende Art, die ich auch in dem letzten Hauptstücke der Dianoiologie vorgetragen. 1 • Zeichne ich in kurzen Sätzen alles auf, was mir über die Sache einfällt, und zwar so und in eben der Ordnung, wie es mir einfällt, es mag nun für sich klar, oder nur vermutlich oder zweifelhaft oder gar zum Tei l einander widersprechend sein. z• Dieses setze ich fort, bis ich überhaupt merken kann, es werde sich nun etwas daraus machen lassen. 3• Sodann sehe ich, ob sich die einander etwan zum Tei l w idersprechenden Sätze durch nähere Bestimmung und Einschränkung vereinigen lassen, oder ob es noch dahingestellt bleibt, was davon beibehalten werden muß. 4• Sehe ich, ob diese Sammlung von Sätzen zu einem oder ZU mehreren Ganzen gehöre. s· Vergleiche ich sie, um zu sehen, welche von einander abhängen, und welche von den andern vorausgesetzt werden. Und dadurch fange ich an sie zu numero­ tieren. 6• Sodann sehe ich, ob die ersten für sich offenbar sind, oder was noch zu ihrer Aufklärung und genauern Bestimmung erfordert wird , und ebenso 7• was noch erfordert wird, um die übrigen damit in Zusammen-

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hang zu bringen. 8" Überdenke ich sodann das Ganze, teils um zu sehen, ob noch Lücken darin sind oder Stücke mangeln, teils auch besonders, um 9" die Absichten aufzufinden, wohin das ganze System dienen kann, und 1 0" zu bestimmen, ob noch mehr dazu erfordert wird. 1 1 " Mit dem Vor­ trage dieser Absichten mache ich sodann gemeiniglich den Anfang, weil dadurch die Seite beleuchtet wird, von welcher ich die Sache be­ trachte. 1 2" Sodann zeige ich, wie ich zu den Begriffen gelange, die zum Grunde liegen, und warum ich sie weder weiter noch enger nehme. Beson­ ders suche ich dabei 1 3 " das Vieldeutige in den Worten und Redensarten aufzudecken und beide, wenn sie in der Sprache vieldeutig sind, vieldeutig zu lassen, das will sagen, ich gebrauche sie nicht als Subj ekte, sondern höchstens nur als Prädikate, weil die Bedeutung des Prädikats sich nach der Bedeutung des Subjekts bestimmt. Muß ich sie aber als Subjekte gebrau­ chen, so mache ich entweder mehrere Sätze daraus oder ich suche das Vieldeutige durch Umschreibung zu vermeiden. Dieses ist das Allgemeine der Methode, die sodann in besonderen Fällen noch sehr viele besondere Abwechslungen und Bestimmungen erhält, die in Beispielen fast i mmer klarer sind, als wenn man sie mit logischen Worten ausdrückt. Worauf man am meisten zu sehen hat ist, daß man nicht etwan einen Umstand vergesse, der nachgehends alles wiederum ändert. So muß man auch sehen und gleichsam empfinden können, ob etwan noch ein Begriff, das will sagen, eine Kombination von einfachen Merkmalen ver­ borgen, der die ganze Sache in Ordnung bringt und abkürzt. So können auch versteckte Vieldeutigkeilen der Worte machen , daß man immer auf Dissonanzen verfällt, und lange nicht weiß, warum das vermei nte All­ gemeine in besondern Fällen nicht passen will. Man findet ähnl iche Hinder­ nisse, wenn man als eine Gattung ansieht, was nur eine Art ist und die Arten konfundiert. Die Bestimmung und Möglichkeit der Bedingungen, welche bei jeden Fragen vorausgesetzt werden, fordern auch eine besondere Sorgfalt. Ich habe aber allgemeinere Anmerkungen zu machen Anlaß gehabt. D ie erste betrifft die Frage, ob oder wieferne die Kenntnis der Form zur Kennt­ nis der Materie unseres Wissens führe? D iese Frage wird aus mehreren Gründen erhebl ich. Denn 1 " ist unsere Erkenntnis von der Form, so wie sie in der Logik vorkommt, so unbestritten und richtig als immer die Geo­ metrie. z• Ist auch nur dasjenige in der Metaphysik, was die Form betrifft, unangefochten geb lieben, dahingegen, wo man die Materie zum Grunde legen wollte, gleich Streitigkeiten und Hypothesen entstanden. 3" Ist es in der Tat noch nicht so ausgemacht gewesen, was man bei der Materie eigentlich zum Grunde legen sollte. Wolff nahm Nominaldefini tionen gleichsam gratis an und schob oder versteckte, ohne es zu bemerken, alle Schwierigkeiten in dieselben. 4" Wenn auch die Form schlechthin keine

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Materie bestimmt, so bestimmt sie doch die Anordnung derselben, und insofern sollte aus der Theorie der Form kenntlich gemacht werden können, was zum Anfange d ient oder nicht. s· Ebenso kann auch dadurch bestimmt werden, was zusammengehört oder verteilt werden muß. Bei dem Überdenken dieser Umstände und Verhältnisse der Form und Materie bin ich auf folgende Sätze gefallen, die ich schlechthin nur an­ führen will: 1 • Die Form gibt Principia, die Materie aber Axiomata und Postulata. 2" D ie Form fordert, daß man bei einfachen Begriffen anfange, weil diese für sich und zwar, weil sie einfach sind, keinen innern Widerspruch haben können, oder für sich davon frei und für sich gedenkbar sind. 3 " Axiomata und Postul ata kommen eigentlich nur bei einfachen Be­ griffen vor. Denn zusammengesetzte Begriffe sind a priori nicht für sich gedenkbar. Die Möglichkeit der Zusammensetzung muß erst aus den Grund­ sätzen und Postulatis folgen. 4" Entweder es ist kein zusammengesetzter Begriff gedenkbar, oder die Möglichkeit der Zusammensetzung muß schon in den einfachen Begriffen gedenkbar sein. s · D ie einfachen Begriffe sind individuelle Begriffe. Denn Genera und Species enthalten die Fundamenta divisionum et subdivisionum in sich, und sind eben dadurch desto zusammengesetzter, j e abstrakter und allgemeiner sie sind. Der Begriff Ens ist unter allen Begriffen der Zusammengesetzteste. 6" Nach der Leibnizischen Analyse, die durchs Abstrahieren und nach Ä hnlichkeiten geht, kommt man auf desto zusammengesetztere Begriffe, je mehr man abstrahiert, und mehrenteils auf nominale Verhältnisbegriffe, die mehr die Form als die Materie angehen. T Hinwiederum, da die Form auf lauter Verhältnisbegriffe geht, so gibt sie keine andere als einfache Verhältnisbegriffe an. 8" Demnach müssen die eigentlich obj ektiven einfachen Begriffe aus dem direkten Anschauen derselben gefunden werden, das will sagen, man muß auf gut anatomische Art die Begriffe sämtlich vornehmen, jeden durch die Musterung gehen l assen, um zu sehen, ob sich mit Weglassung aller Verhältnisse in dem Begriffe selbst mehrere andere finden, oder ob er durchaus einförmig ist. 9" Ei nfache Begriffe sind voneinander, wie Raum und Zeit, das will sagen, ganz verschieden, leicht kenntlich, leicht benennbar, und so gut als unmöglich zu confundieren, wenn man von den Graden abstrahiert und nur auf d as Quale sieht. Und insofern glaube ich, d aß in der Sprache kein einziger unbenannt geblieben. Nach diesen Sätzen trage ich kein Bedenken zu sagen, daß Locke auf der wahren Spur gewesen, das Ei nfache in unserer Erkenntnis aufzusuchen. Man muß nur weglassen, was der Sprachgebrauch mit einmengt. So z. B . ist

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in dem Begriffe Ausdehnung unstreitig etwas individuelles, ei nfaches, welches sich in keinem andern Begriffe findet. Der Begriff Dauer und ebenso die Begriffe Existenz, Bewegung, Einheit, Solidität haben etwas ei nfaches, das denselben eigen ist, und welches sich von den vielen dabei mit vorkommenden Verhältnisbegriffen sehr wohl abgesondert gedenken läßt. Sie geben auch für sich Axiomata und Postulata an, die zur w issen­ schaftl ichen Erkenntnis den Grund legen, und durchaus von gleicher Art sind, wie die Euklidischen. Die andere Anmerkung, die ich zu machen Anlaß hatte, betrifft die Vergleichung der philosophischen Erkenntnis mit der mathematischen. Ich sah nämlich, daß wo es den Mathematikern gelungen ist, ein neues Feld zu eröffnen, das die Phi l osophen bis dahin ganz angebaut zu haben glaubten, erstere nicht nur al les wieder umkehren mußten, sondern es aufs so einfache, und gleichsam aufs einfältige brachten, daß das Philosophische darüber ganz unnütz und gleichsam verächtlich wurde. Die einzige Bedingung, daß nur homogenea können addiert werden, schleußt bei dem Mathematiker alle philosophischen Sätze aus, deren Prädi kat sich nicht gleichförmig über das ganze Subjekt verbreitet, und solcher Sätze gibt es in der Weltweisheit noch gar zu viele. Man nennt eine Uhr gulden , wenn kaum das Gehäuse von Gold ist. Euklid leitet seine Elemente weder aus der Definition des Raumes noch aus der von der Geometrie her, sondern er fängt bei Linien, Winkeln etc . , als dem Einfachen in den Dimensionen des Raumes an. In der Mechanik macht man aus der Definition der Bewegung nicht v iel Wesens, sondern man schaut sogleich was dabei vorkommt, nämlich ein Körper, die Direktion, Geschwindigkeit, Zeit, Kraft und diese Stücke vergleicht man unterei nander, um Grundsätze zu finden. Ich bin überhaupt auf den Satz geleitet worden, daß solange ein Philosoph in denen Objekten, die ein Ausmessen zulassen, das Auseinanderlesen nicht so weit treibt, daß der Mathematiker dabei sogleich Einheiten, Maßstäbe und Dimensionen finden kann, dieses ein sicheres Anzeichen ist, daß der Philosoph noch Verwirrtes zurücke lasse, oder daß i n seinen Sätzen die Prädikate sich nicht gleichförmig über die Subjekte verbreiten. Ich erwarte mit Ungeduld, daß die beiden Anfangsgründe der natürl ichen und praktischen Weltweisheit im Drucke erscheinen, und bin ganz über­ zeugt, daß sich eine echte Methode am besten und sichersten durch Vorle­ gung wirklicher Beispiele anpreist, um so mehr, weil man sie in Beispielen mit al len Individualien zeigen kann, da sie hi ngegen logisch ausged rückt, leicht zu abstrakt bleiben würde. Sind aber einmal Beispiele da, so sind logische Anmerkungen darüber ungemein brauchbar. Beispiele tun dabei eben den D ienst, den die Figuren in der Geometrie tun, weil auch diese eigentlich Beispiele oder spezielle Fälle sind. Doch ich breche dermalen ab, mit der Versicherung, d aß mir die Fort-

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setzung Ihrer Schreiben ausnehmend angenehm sein werde, der ich in Erwartung mit jeder Dienstgeflissenheit bin Mein Herr Dero ergebenster Diener Berlin, den 3. Februar 1 766 an der Ecke der Cronenstraße J. H. Lambert. und Schinkenbrücke im Bethgenschen Hause.

Brief Kants an Herder vom 9. Mai 1 768 Herder war seit 1 764 an der Domschule in Riga tätig. In die Datierung des an ihn gerichteten Briefes hatte sich ein Irrtum eingeschlichen, den aber die späteren Nachdrucke nach der Akademieausgabe bereits richtig stellten. Kant verschrieb sich, als er »Königsberg, den 9. Mai 1 767« unterzeichnete. Der Brief soll zugleich ein Empfehlungsbrief für den Überbringer sein. Hochwohl Ehrwürdiger Hochzuehrender Herr ! Ich ergreife d iese Gelegenheit, um Ihnen diejenige Achtung und Freund­ schaft zu bezeigen, die meine gewöhnliche Nachlässigkeit im Schreiben hätte zweifelhaft machen können. Ich habe an dem u nterscheidenden Beifall , den sich Ihre neuerlichen Versuche i n der Wel t erworben haben, mit einer gewissen Eitelkeit A nteil genommen, ob solche zwar bloß auf Ihrem eigenen Boden gewachsen sind, und derjenigen Anweisung, die Sie bei mir zu nehmen beliebten, nichts schuldig sind. Wofern die Kritik nicht das Nachteil ige an sich hätte , das Genie furchtsam zu machen, und die Feinheit des Urteils die Selbstb i l l igung sehr schwer machte, so würde ich hoffen nach dem kleinen Versuche, den ich von Ihnen aufhebe, zu hoffen an Ihnen in derjenigen Art von Dichtkunst, welche die Grazie der Weisheit ist, und worin Pope noch allein glänzt, mit der Zeit einen Meister zu erleben. Bei der frühen Auswickelung Ihrer Talente sehe ich mit mehrerem Vergnügen auf den Zeitpunkt hinaus, wo der fruchtbare Geist nicht mehr so sehr getrieben durch die warme Bewegung des j ugendlichen Gefühls diejenige Ruhe erwirbt, welche sanft, aber empfindungsvoll ist und gleich­ sam das beschauliche Leben des Philosophen ist, gerade das Gegenteil von demjenigen, wovon Mystiker träumen. Ich hoffe, diese Epoche Ihres Genies aus demjenigen, was ich von Ihnen kenne, mit Zuversicht eine Gemütsver­ fassung, die dem, so sie besitzt, und der Welt unter allen am nütz l ichsten ist, worin Montaigne den untersten und Hume, soviel ich weiß, den ober­ sten Platz einnehme. Was mich betrifft, da ich an nichts hänge und mit einer tiefen Gleichgül­ tigkeit gegen meine und andere Meinungen das ganze Gebäude öfters umkehre und aus al lerlei Gesichtspunkten betrachte , um zuletzt etwa denjenigen zu treffen, woraus ich hoffen kann, es nach der Wahrheit zu zeichnen, so habe ich, seitdem wir getrennt sind, in v ielen Stücken andern

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Einsichten Platz gegeben und indem mein Augenmerk vornehmlich darauf gerichtet ist, die eigentliche Bestimmung und die Schranken der mensch­ lichen Fähigkeiten und Neigungen zu erkennen, so glaube ich, daß es mir in dem, was die Sitten betrifft, endlich ziemlich gelungen sei , und ich arbeite jetzt an einer Metaphysik der S itten, wo ich mir einbilde die augenschein­ lichen und fruchtbaren Grundsätze, imgleichen die Methode angeben zu können, wonach die zwar sehr gangbaren, aber mehrenteils doch frucht­ losen Bemühungen in dieser Art der Erkenntnis eingerichtet werden müssen, wenn sie einmal Nutzen schaffen sollen. Ich hoffe in diesem Jahr damit fertig zu werden, wofern meine stets wandelbare Gesundheit mir daran nicht hinderlich ist. Ich bitte ergebenst, mich dem Herrn Berens bestens zu empfehlen und ihn zu versichern, daß man sehr treu in der Freundschaft sein könne, wenn man gleich davon niemals schreibt. Herr Germann, der Ihnen Gegen­ wärtiges überreichen wird , ist ein wohlgesitteter und fleißiger Mann, der Ihre Wohlgewogenheit sich wird zu erwerben wissen und an dem die Rigaische Schule einen tüchtigen Arbeiter bekommen hat. Ich bin mit wahrer Hochachtung Ew. Hochwohl Ehrw. ergebenster Freund und Diener I. Kant.

Antwortbrief Herders an Kant vom No vember 1 768 Interessante Bekenntnisse aus der eigenen literarischen Bi ldung, auch An­ deutungen über Zweifel philosophischer Art, Vorsätze zu weiteren Studien, Erklärung des Berufsziels im Volksdienst Hochedelgeborener Herr Magister, hochgeschätzter Lehrer und Freund, Sie haben, ich weiß und hoffe es, einen zu gütigen Begriff von meiner Denkart, als daß Sie mein bisheriges Stillschweigen für Saumseligkeit oder etwas noch Ä rgeres halten sollten. B loß meine Geschäfte, die wegen ihrer Inkommensurabil ität insonderheit lästig fallen, eine Menge Zerstreuungen und dann insonderheit jene uneasiness der Seele, die Locke für die Mutter so vieler Unternehmungen hält, ist bei mir eine Zeitlang die Mutter einer gelähmten Ruhe gewesen, aus der ich jetzt kaum wieder erwache. Ich kann nicht sagen, wie sehr mich Ihr Brief erfreut hat. Das Andenken meines Lehrers, der so freundschaftl iche Ton, der darin herrschet, der Inhalt selbst - alles machte mir denselben so sehr zum Geschenke, als mir keiner von denen Briefen wird , die mich oft aus Deutschland und von den würdigsten Leuten daselbst, bis von der Schweiz aus aufsuchen. Um so mehr war er mir teuer, da ich Ihre Ungeneigtheit zum Briefschreiben , von

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der ich auch was geerbet, kenne - - doch was heißts, ein Vergnügen demon­ strativisch aufzählen wollen. Sie sind so gütig, meiner Autorschaft in einem Tone zu erwähnen, in dem ich an sie nicht denke. Ich nenne dieselbe wenig mehr, als einen leichten Schritt der Jugend, der mir freil ich nicht zum Schaden oder im ganzen zur Unehre gereicht hat, den ich aber in manchem Betracht zurück­ wünsche. Nicht, als wenn ich soviel Unverantwortliches geschrieben, sondern vornehmlich, weil mein Name dabei so bekannt und auf manchen Lippen so sehr abusiert worden, daß Ihr guter Wirt und mein guter Freund HE. Kanter mir ohne seinen Willen dabei den übelsten Streich, und das auf Reihen von Vorfällen hinaus, gespielt hat, indem er die erste Ursache dieser Bekanntmachung geworden. Mein fester Vorsatz, und ich schreibe d ies kaltblütig hin, war völlig ohne Namen zu schreiben, bis ich die Welt mit einem Buche überraschen könnte, das meines Namens nicht unwürdig wäre. Hiezu, und aus keiner andern Ursache, wars, daß ich hinter einer B lumendecke eines verflochtneo Stils schrieb, der mir nicht eigen ist, und Fragmente in die Welt sandte, d ie bloß Vorläuferinnen sein wollen, oder sie sind unleidl ich. Von meiner Seite werde ich mein namenloses Stillschweigen fortsetzen, aber was kann ich dafür, daß die unzeitige Güte meiner Freunde mir bei diesem Stil lschweigen den Plan verdorben? Sie, m. F. müssen Einer derer sein, die es wissen, daß Materien der Art wie in meinen bisherigen Bänd­ chen, wohl nicht der Ruhesitz meiner Muse sein sollten, warum aber sol lte ich nicht mein bißchen Philosophie eben bei den Modematerien unsres Halbviertelj ahrhunderts anwenden, wo die Anwendung, wie ich mir schmei­ chelte, einer gesunden Philosophie so vieles berichtigen konnte? Ich weiß nicht, wie sehr unsere Philologie und Kritik und Studium des Altertums in das Mark einer wahrhaften Kürze zurücktreten müßte, wenn überall Ph ilo­ sophen philologisierten und kritisierten und die Alten studierten. Schade aber, daß dies Wort anfängt, in Deutschl and beinahe zum Gespött zu werden, und Studien die Modewissenschaften werden , wo die unphilo­ sophischsten Köpfe schwatzen. Doch ich schreibe ja beinahe schon wieder als Kunstrichter und Fragmen­ tist und breche also um so kürzer und härter ab. Das Feld, mein geschätzter Freund, das Sie mir auf meine künftigen Lebensj ahre hinter einem Montaigne, Hume und Pope anweisen, ist wenn die Hoffnung darüber zu schmeichelhaft ist, wenigstens (doch mit einer kleinen Abbeugung des Weges) der Wunsch meiner Muse. Es ist für mich die Beschäftigung mancher süßen Einsamkeiten gewesen, Montaigne ' n mit der stil len Reflexion zu lesen, mit der man den Launen sei nes Kopfes folgen muß, um j ede Geschichte, die er im Zuge anführt, jeden losen und schlüpfenden Gedanken, den er verrät, zu einer Naturproduktion oder zu

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einem Kunstexperiment der menschl ichen Seele zu machen. Welch ein Mann wär' es, der über B aumgartens reiche Psychologie mit eines Montaigne Seelenerfahrung redete ! - - Hume konnte ich, da ich noch mit Rousseau schwärmte, weniger leiden, allein von der Zeit an, da ich es allmählich mehr inne ward, daß, es sei wes Weges es sei , der Mensch doch einmal ein gesell iges Tier ist und sein muß - von da aus habe ich auch den Mann schätzen gelernt, der im eigentlichsten Verstande ein Phi losoph menschlicher Gesellschaft genannt werden kann. Ich habe in der Schule die britannische Geschichte meistens auch deswegen angefangen, um mit dem größten Geschichtsschreiber unter den neuern auch seine Geschichte durch­ weg durchraisonnieren zu können, und ich ärgere mich, daß sein neuer Abriß von Großbritannien einem so halbkl ugen Übersetzer in die Hand gefallen, der weit ist, wenn er uns an manchen Orten auch halb klug läßt. Aber warum vergessen Sie, mein liebenswürd iger Phi losoph, zu Ihrem Paar den dritten Mann? der eben so viel gesell ige Laune, eben so viel menschliche Weltweisheit hat - - den Freund unsers alten Leibniz, dem dieser ungemei n viel schuldig ist und den er sehr gerne gelesen - den phi losophischen Spötter, der mehr Wahrheit herauslacht, als andere heraus­ husten oder geifern - kurz den Grafen Shaftesbury. Es ist ein Elend, daß die Sittenlehren desselben und seine Untersuchungen über die Tugend und neuerlich seine Abhandlungen über den Enthusiasmus, und die Laune in so mittelmäßige Hände gefallen sind, die uns halb an ihm verekeln, wohin ich insonderheit das Mischmasch von langen und tollen Widerlegungen des neuesten Übersetzers rechne. Aber sonst, ob mir gleich das Kriterium der Wahrheit bei ihm, das bei ihm Belachenswürdigkeit ist, selbst lächerl ich scheint, sonst ist dieser Autor mein so lieber Gesel lschafter, daß ich auch gern Ihre Meinung für ihn hätte. Lassen Sie doch j a das dunkle rauhe Gedicht, an das Sie gedenken, in sei ner Nacht umkommen. Ehe Pope in ihm sein sollte, ehe ist in unserm Lindner der scharf bestimmte Aristoteles und in meinem Schlegel das Muster aller Urbanität. Sie geben mir von Ihrer werdenden Moral Nachricht, und wie sehr wünschte ich, d ieselbe schon geworden zu sehen. Fügen Sie in dem, was Gut ist, ein solches Werk zur Kultur unsers Jahrhunderts hinzu, als Sie es getan, in dem was Schön und Erhaben ist. Über die letzte Materie lese ich jetzt mit vielem Vergnügen ein Werk eines sehr philosophischen Briten, das Sie auch französisch haben können. Hier ist, weil es eben vor mir liegt, sein Titel: Recherehes philosophiques sur l 'origine des Idees, que nous avons du Beau et du Sublime. Er dringt i n manchen Stellen tiefer, so wie Sie auf manchen Seiten unsre Aussichten mehr zu generalisieren und zu kontra­ stieren wissen: und es ist eine Wol lust zween so originale Denker j eder seinen Weg nehmen zu sehen, und sich wechselweise wieder zu begegnen.

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Wie manches hätte ich Ihnen zu sagen, wenn ich wüßte, daß Sie Geduld haben würden , mir zu antworten. Zweifel wider manche Ihrer Phi loso­ phischen Hypothesen und Beweise, insonderheit da, wo sie mit der Wissenschaft des Menschlichen grenzen, sind mehr als Spekulationen: und da ich aus keiner andern Ursache, mein geistliches Amt angenommen, als weil ich wußte und es täg l ich aus der Erfahrung mehr lerne, daß sich nach unsrer Lage der bürgerl ichen Verfassung von hieraus am besten Kultur und Menschenverstand unter den ehrwürdigen Teil der Menschen bringen lasse, den wir Vol k nennen: so ist diese Menschl iche Philosophie auch meine liebste Beschäftigung. Ich müßte ungerecht sein, wenn ich mich darüber beklagte, daß ich diesen Zweck nicht erreichte, wenigstens machen auch hierin die guten Anlässe, die ich sehe, die Liebe, die ich bei v ielen Guten und Edeln genieße, das freudige und w i l l ige Zudringen des bildsamsten Teils des Publikum, der Jüngl inge und D ames - al les dieses macht mir zwar keine Schmeichelei, aber desto mehr ruhige Hoffnung, n icht ohne Zweck in der Welt zu sein. - D a aber die Liebe von uns selbst anfängt, so kann ich den Wunsch nicht bergen, die erste beste Gelegenheit zu haben, meinen Ort zu verlassen und die Welt zu sehen. Es ist Zweck meines Hierseins, mehr Menschen kennen zu lernen, und manche D inge anders zu betrachten, als Diogenes sie aus seinem Fasse sehen konnte. Sol lte sich also ein Zug nach Deutschland vorfinden, ich binde mich selbst kaum an meinen Stand : so weiß ich nicht, warum ich nicht dem Zuge folgen sollte, und nehme es mir selbst übel, den Ruf nach Petersburg ausgesch lagen zu haben, welche Stelle, wie es der Anschein gibt, sehr leidig besetzt ist. Jetzt suche ich, wie eine rück­ gehaltene Kraft, nur wenigstens eine lebendige Kraft zu b leiben, ob ich gleich nicht sehe, wie der Rückhalt meine innere Tendenz vermehren sollte. - Doch wer weiß das? und wo komme ich hin? Lieben S ie mich, mein liebster, hochgeachteter Kant, und nehmen Sie die Unterschrift meines Herzens an Ihr Herder. P. S. Freilich darf ich um Ihre Briefe nur sehr unzuverlässig b itten, da ich Ihre Ungemächl ichkeit zu schreiben kenne, aber würden Sie meine Begierde kennen, Briefe von Ihnen mir gleichsam statt eines lebendigen Umgangs zu nutze zu machen , so würden Sie Ihre Ungemächl ichkeit über­ winden? Leider erfolgte keine Fortsetzung des Briefwechsels. Viel leicht nahm der Phi losoph die vorsichtig angedeutete Kritik übel und blieb ihm aus dem Herderbrief ein Stachel zurück, der seine spätere ungünstige Rezension von Herders geschichtsphil osophischem Werk psychologisch verstehen läßt. Die Rezension hat die Entfremdung zwischen beiden besiegelt.

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Brief Friedrich Schillers an Kant vom 13. Juni 1 794 Aufforderung zur Mitarbei t an der Zeitschrift Die Horen . Ein Plan der Zeitschrift lag bei. Jena, den 1 3. Juni 1 794 Aufgefordert von einer, Sie unbegrenzt hochschätzenden Gesellschaft lege ich Ew. Wohlgeboren beiliegenden Plan einer neuen Zeitschrift und unsere gemeinschaftl iche B i tte vor, dieses Unternehmen durch einen, wenn auch noch so kleinen Anteil befördern zu helfen. Wir würden nicht so unbe­ scheiden sein, diese Bitte an Sie zu tun, wenn uns nicht die Beiträge, womit Sie den deutschen Merkur und die Berliner Monatsschrift beschenkt haben, zu erkennen gäben, daß Sie d iesen Weg , Ihre Ideen zu verbreiten, nicht ganz verschmähen. Das hier angekündigte Journal wird aller Wahrschein­ lichkeit nach von einem ganz andern Publikum gelesen werden, als dasj enige ist, welches sich vom Geist Ihrer Schriften nähret, und gewiß hat der Verfasser der Kritik auch diesem Publikum manches zu sagen , was nur Er mit diesem Erfolge sagen kann. Möchte es Ihnen gefallen, in einer freien Stunde sich unserer zu erinnern und dieser neuen literarischen Sozietät, durch welchen sparsamen Anteil es auch sei, das Siegel Ihrer B i l l igung aufzudrücken. Ich kann diese Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, ohne Ihnen ver­ ehrungswürdigster Mann, für die Aufmerksamkeit zu danken, deren Sie meine kleine Abhandlung gewürdigt, und für die Nachricht, mit der Sie mich über meine Zweifel zurechtgewiesen haben. Bloß die Lebhaftigkeit meines Verl angens , die Resultate der von Ihnen gegründeten Sittenlehre einem Teile des Publikums annehmlich zu machen, der bis jetzt noch davor zu fliehen scheint, und der eifrige Wunsch, einen nicht unwürdigen Teil der Menschheit mit der Strenge Ihres Systems auszusöhnen, konnte mir auf einen Augenbl ick das Ansehen Ihres Gegners geben, wozu ich in der Tat sehr wenig Geschickl ichkeit und noch weniger Neigung habe. Daß Sie die Gesinnung, mit der ich schrieb, nicht mißkannten, habe ich mit unendlicher Freude aus ihrer Anmerkung ersehen, und dies ist hinreichend, mich über die Mißdeutungen zu trösten, denen ich mich bei andern dadurch ausgesetzt habe. Nehmen Sie, vortreffl icher Lehrer, schl ießlich noch die Vers icherung meines lebhaftesten Danks für das wohltätige Licht an, das Sie in meinem Geist angezündet haben, eines Danks, der wie das Geschenk, auf das. er sich gründet, ohne Grenzen und unvergänglich ist. Ihr aufrichtigster Verehrer Fr. Schiller.

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Brief von Friedrich Schiller an Kant, vom 1. März 1 795 Erneuerte Bitte um Mitarbeit an den Horen unter Beifügung der zwei ersten Monatsstücke der Zeitschrift. Jena, den 1. März 1 795. Verehrtester Herr Professor, Ich habe Ihnen im vorigen Sommer den Plan zu einer Zeitschrift vorgelegt, mit der Bitte, irgend einigen Anteil an derselben zu nehmen. D ie Unter­ nehmung ist zur Ausführung gekommen, und ich lege Ihnen hier die zwei ersten Monatsstücke vor, herzl ich wünschend, daß diese ersten Proben Sie geneigt machen möchten, den vereinigten Wunsch unserer Sozietät zu erfüllen und unsere Schrift mit einem kleinen Beitrage zu beschenken. Besonders wünschte ich, daß Sie d ie darin vorkommenden Briefe über die ästheti sche Erziehung des Menschen, als zu deren Verfasser ich mich gegen Sie bekenne, Ihrer Prüfung wert finden möchten. Es sind dies die Früchte, die das Studium Ihrer Schriften bei mir getragen, und wie sehr würde es mir zur Aufmunterung gereichen, wenn ich hoffen könnte, daß Sie den Geist Ihrer Phi losophie in dieser Anwendung derselben nicht ver­ missen. Mit unbegrenzter Hochachtung verharre ich Ihr aufrichtigster Verehrer Fr. Schiller.

Brief Kants an Friedrich Schiller vom 30. März 1 795 Antwort auf zwei Briefe Schillers. Hochzuverehrender Herr. Königsberg, den 30. März 1 795. Die Bekanntschaft und den literarischen Verkehr mit einem gelehrten und talentvol len Mann, wie Sie, teuerster Freund, anzutreten und zu kultivieren, kann mir nicht anders als sehr erwünscht sein. Ihr im vorigen Sommer mitgeteilter Plan zu einer Zeitschrift ist mir, wie auch nur kürzl ich die zwei ersten Monatsstücke, richtig zu Händen gekommen. - Die Briefe über die ästhetische Menschenerziehung finde ich vortrefflich und werde sie stu­ dieren, um Ihnen meine Gedanken hierüber dereinst mittei len zu können. Die im zweiten M. Stück enthaltene Abhandlung über den Geschlechts­ unterschied in der organischen Natur kann ich mir, so ein guter Kopf mir auch der Verfasser zu sein scheint, doch nicht enträtseln. Einmal hatte die A.L. Z. sich über einen Gedanken in den Briefen des Hrn. Hube aus Thorn ( die Naturlehre betreffend ) von einer ähnl ichen, durch die ganze Natur gehenden Verwandtschaft, mit scharfem Tadel ( als über Schwärmerei ) aufgehalten. Etwas dergleichen läuft einem zwar bisweilen durch den Kopf, aber man weiß nichts daraus zu machen. So ist mir nämlich die Na­ tureinrichtung, daß alle Besamung in beiden organischen Reichen zwei

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Geschlechter bedarf, um i hre Art fortzupfl anzen, j ederzeit als erstaunl ich und wie ein Abgrund des Denkens für die menschliche Vernunft aufge­ fal len, weil man doch die Vorsehung hiebei nicht, als ob sie diese Ordnung gleichsam spielend , der Abwechselung halber, beliebt habe, annehmen wird , sondern Ursache hat zu glauben, daß sie nicht anders möglich sei, welches eine Aussicht ins Unabsehl iche eröffnet, woraus man aber schlechterdings nichts machen kann, so wenig wie aus dem, was Miltons Engel dem Adam von der Schöpfung erzählt: »Männl iches Licht entfernter Sonnen vermischt sich mit weiblichem, zu unbekannten Endzwecken« Ich besorge, daß es Ihrer Monatsschrift Abbruch tun dürfte, daß die Ver­ fasser darin Ihre Namen nicht unterzeichnen und sich dadurch für ihre gewagten Meinungen verantwortlich machen, denn dieser Umstand interes­ siert das lesende Publikum gar sehr. Für d ies Geschenk sage ich also meinen ergebensten Dank, was aber meinen geringen Beitrag zu diesem ihrem Geschenk fürs Publikum betrifft, so muß ich mir einen etwas langen Aufschub bitten, wei l , da Staats- und Religionsmaterien jetzt einer gewissen Handelssperre unterworfen sind, es aber außer diesen kaum noch, wenigstens in d iesem Zeitpunkt, andere die große Lesewelt interessierende Artikel gibt, man diesen Wetterwec hsel noch eine Zeitlang beobachten muß, um sich täglich in die Zeit zu schicken. Herrn Professor Fichte bitte ich ergebenst meinen Gruß und meinen Dank für die verschiedenen mir zugeschickten Werke von seiner Hand abzustatten. Ich würde dieses selbst getan haben, wenn mich nicht, bei der Mannigfaltigkeit der noch auf mir liegenden Arbeiten, die Ungemächlich­ keit des Altwerdens drückte, welche denn doch nichts mehr, als meinen Aufschub rechtfertigen soll. - Den Hrn. Schütz und Hufeland bitte gleich­ falls gelegentlich meine Empfehlung zu machen. Und nun, teuerster Mann, wünsche ich Ihren Talenten und guten Ab­ sichten angemessene Kräfte, Gesundheit und Lebensdauer, die Freund­ schaft mit eingerechnet, mit der Sie den beehren wollen, der jederzeit mit vollkommener Hochachtung ist I. Kant. Ihr ergebenster treuer Diener

Brief an Ludwig Ernst Borowski vom 6. März 1 761 Dieses kurze Schreiben, das noch der frühen Magisterzeit entstammt, bestätigt die starke medizinische Interessiertheit des Philosophen, ist aber zugleich ein schönes Dokument edler Menschenl iebe. Ob sich nicht noch einmal durch einen glücklichen Zufall Näheres über den bl indgeborenen Lichtenhagener Knaben wird ermitteln J assen? Borowski war damals Hauslehrer bei dem General Karl Gottfried von Knobloch in Schulkeim.

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P. T. Ich habe gestern die Operation an dem gewesenen Waisenvater, dem Leutnant Duncker glücklich vollführen gesehen. Ich habe mit dem Opera­ teur von meinem Vorhaben wegen eines B l indgeborenen gesprochen. Er fand sich willig die Operation an ihm vorzunehmen, wenn er ihn zuvor untersucht und dazu tüchtig gefunden haben würde. Es hat auch schon eine Gesellschaft guter Freunde sich engagiert die Kosten zu seiner Pflege, so lange die Kur dauert herzugeben. Ich habe also keine Zeit zu verlieren. Ich bitte ergebenst, berichten Sie mir doch den Namen dieses Jungen aus Lichtenhagen oder wie der Ort sonst heißen mag, wovon letztlich geredet wurde, den Namen des Priesters, unter welchen sein Vater gehört und womöglich den Namen und Aufenthalt des Edelmanns oder Amtsmanns, wer es auch ist, welcher über dieses D orf zu gebieten hat. Befehlen Sie meinem Bedienten, wann er wiederkommen sol l , die Antwort von Ihnen abzuholen. D ies ist der Fal l , wo man nicht anders seine eigenen Absichten erreichen kann, als indem man die Glückseligkeit ei nes Andern befördert. Meine verbindlichste Empfehlung an Ihre jungen Herren und meinen tiefen Respekt an sämtliche gnädige Damen Ihres Hauses. Ich bin mit al ler Hochachtung Dero treuer Freund und Diener Kant.

Fräulein Maria von Herbert an Kant Dies ist vielleicht der merkwürdigste B rief, der j emals an den Vernunft­ kritiker gerichtet worden ist. Sie war eine Schwester des Klagenfurter Fabrikbesitzers und Phi losophen Franz Paul von Herbert, der 1 759- 1 8 1 1 lebte und in freundschaftlichen Beziehungen zu dem Kantverehrer Johann Benj amin Erhard stand . Wie seltsam es d iesem B rief erging, nachdem er schon glücklich in das Haus des Philosophen gelangt war, zeigt folgendes Schreiben Borowskis vom August 1 79 1 . Eur. Wohlgeboren händige ich in der Anlage den sonderbaren B rief der Maria Herbert aus Klagenfurt in gehorsamster Ergebenheit ein, den ich gestern, da das letzte Gespräch mit Eur. Wohlgeboren mir so interessant ward , aus Versehen in die Tasche gesteckt hatte, wo ich ihn bei m Aus­ kleiden fand. - Und wenn Eur. Wohlgeboren dem zerrissenen Herzen Ihrer Korrespondentin auch nur bloß durch Ihre Antwort einige Zerstreuung u nd Ablenkung Ihres Herzens von dem Gegenstande, an den sie gefesselt ist, für einige Tage - vielleicht aber auch durch Ihre ernsten Belehrungen für immer, gewähren: so bewirken Sie wahrlich schon sehr was Großes und Gutes. Eine Person, die doch auch nur Lust hat Ihre Schriften zu lesen - die eine solche Stärke des Vertrauens, einen solchen Glauben an Sie hat - ist

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doch immer einiger Achtung von Ihnen und des Versuches, sie zu beru­ higen, wert . . . So wurde Kant durch den Zuspruch eines Seelsorgers geradezu aufge­ fordert, ein Probestück philosophischer Seelsorge zu versuchen. Maria von Herbert, wie sie selbst in einem späteren Brief an Kant in treuherziger Selbstkritik bekennt, hat in einem furchtbaren Kauderwelsch geschrieben, das komisch wirken muß. Deshalb wird das Ganze hier in korrektem Hochdeutsch wiedergegeben. Nur die für die u nstet fort­ stürmende Schreiberio so charakteristische Zeichensetzung, die nur Kom­ mata, aber keine Punkte kennt, bleibt unverändert. Großer Kant. Zu D i r rufe ich wie ein Gläubiger zu seinem Gott um Hilf, um Trost, oder um Bescheid zum Tod , hinlänglich waren mir Deine Gründe in Deinen Werken für das künftige Sei n , d aher meine Zuflucht zu Dir, nur für dieses Leben fand ich nichts , gar nichts , was mir mein verlornes Gut ersetzen könnt, denn ich liebte einen Gegenstand, der in meiner Anschauung alles in sich faßte, sodaß ich nur für ihn lebte er war mir ein Gegensatz zu dem übrigen, dann al les andere schien mir ein Tand und alle Menschen waren für mich wie auch wirkl ich wie ein Gewäsc h ohne Inhalt, nun diesen Gegenstand habe ich durch eine langwierige Lüge beleidigt, die ich ihm jetzt entdeckte, doch war für meinen Charakter nichts Nachteil iges darin enthalten, denn ich habe kein Laster in meinem Leben zu verschweigen gehabt, doch die Lüge allein war ihm genug, und seine Liebe verschwand , er ist ein ehrl icher Mann, darum versagt er mir nicht Freundschaft und Treu, aber dasj enige innige Gefühl, welches uns ungerufen zueinander führte ist nicht mehr, o mein Herz springt in tausend Stück, wenn ich nicht schon so viel von Ihnen gelesen hätte, so hätte ich mein Leben gewiß schon mit Gewalt geendet, so aber hält mich der Schluß zurück den ich aus Ihrer Theorie ziehen mußte, daß ich nicht sterben sol l , wegen meines quälenden Lebens, sondern ich sollte leben wegen meines Daseins, nun setzen Sie sich in meine Lage und geben Sie mir Trost oder Verdammung, Metaphysik der Sitten habe ich gelesen samt dem kategorischen Imperativ, hilft mir nichts, meine Vernunft verläßt mich wo ich sie am besten brauch eine Antwort ich beschwöre Dich, oder Du kannst nach Deinem aufgesetzten Imperativ selbst nicht handeln. Die Adreß ist Maria Herbert in Kärnten a Kl agenfurt bei der Bleiweiß­ fabrik abzugeben wenn Sie es lieber dem Reinhold zuschicken wollten weil die Kosten da doch nicht so groß sind.

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Entwurf einer Antwort an Fräulein Maria von Herbert vom Frühjahr 1 792 Ihr affektvoller B rief, aus einem Herzen entsprungen, das für Tugend und Rechtschaffenheit gemacht sein muß, weil es für eine Lehre derselben so empfängl ich ist, die nichts Einschmeichel ndes bei sich führt, reißt mich dahin fort, wo Sie mich hin verl angen, nämlich mich i n Ihre Lage zu versetzen und so über das Mittel einer rein moralischen und dadurch allein gründlichen Beruhigung für Sie nachzudenken. Ihr Verhältnis zu dem geliebten Gegenstande, dessen Denkungsart ebensowohl echt und achtungs­ voll für Tugend und den Geist derselben, die Redl ichkeit, sein muß, ist mir zwar unbekannt, ob es nämlich ein eheliches oder bloß freundschaftliches Verhältnis sein mag. Ich habe das Letztere aus Ihrem Briefe als wahr­ scheinl ich angenommen; allein das macht i n Ansehung dessen, was Sie beunruhigt, keinen erhebl ichen Unterschied ; denn die Liebe, es sei gegen einen Ehemann oder gegen einen Freund, setzt gleiche gegenseitige Achtung für ihrer beiden Charakter voraus, ohne welche sie nur eine sehr wandelbare sinnliche Täuschung ist. Eine solche Liebe, die allein Tugend, die andere aber bloß blinde Neigung ist, w i l l sich gänzlich mitteilen und erwartet von Seiten des anderen eine ebensolche Herzensmitteilung, die durch keine mißtrauische Zurückhaltung geschwächt ist. So sollte es sein und das fordert das Ideal der Freundschaft. Aber es hängt dem Menschen eine Unlauterkeit an, welche jene Offenherzigkeit, hier mehr dort weniger, einschränkt. Über dieses Hindernis der wechselseitigen Herzensergießung, über das geheime Mißtrauen und die Zurückhaltung, welche machen, daß man selbst in seinem innigsten Umgang mit seinem Vertrauten doch einem Teile seiner Gedanken nach i mmer noch allein und in sich verschlossen bleiben muß, haben die Alten schon die Klage hören lassen: meine lieben Freunde, es gibt keinen Freund ! Und doch wird Freundschaft aber als das Süßeste, was das menschliche Leben nur immer enthalten mag, und von wohlgearteten Seelen mit Sehnsucht gewünscht. Sie kann nur in der Offenherzigkeit stattfinden. Von j ener Zurückhaltung aber als dem Mangel d ieser Offen­ herzigkeit, die man wie es scheint in ihrem ganzen Maße der menschlichen Natur nicht zumuten darf (wei l jedermann besorgt, wenn er sich völlig entdeckte, von dem Andern gering geschätzt zu werden) ist doch der Mangel der Aufrichtigkeit als eine Unwahrhaftigkeit in wirk l icher Mit­ teilung unserer Gedanken noch gar sehr unterschieden. Jene gehört zu den Schranken unserer Natur und verdirbt eigentlich noch nicht den Charakter, sondern ist nur ein Übe l , welches h indert, al les Gute was aus demselben möglich wäre daraus zu ziehen. Diese aber ist eine Korruption der Denkungsart und ein positives Böse. Was der Aufrichtige, aber Zurück­ haltende (nicht Offenherzige) sagt, ist zwar al les wahr, nur er sagt nicht die

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ganze Wahrheit. Dagegen der Unaufrichtige etwas sagt, dessen er sich als falsch bewußt ist. Die Aussage von der letzteren Art heißt in der Tugend­ lehre Lüge. Diese mag auch ganz unschäd l ich sei n, so ist sie darum doch nicht unschuldig, vielmehr ist sie eine schwere Verletzung der Pfl icht gegen sich selbst und zwar einer solchen , die ganz unerläßlich ist, weil ihre Übertretung die Würde der Menschheit in unserer eigenen Person herab­ setzt und die Denkungsart in ihrer Wurzel angreift, denn Betrug macht alles zweifelhaft und verdächtig und benimmt selbst der Tugend alles Vertrauen, wenn man sie nach ihrem Ä ußeren beurteilen soll. Sie sehen woh l , wenn Sie einen Arzt zu Rate gezogen haben, Sie auf einen solchen trafen, der, wie man s ieht, kein Schmeichler ist, der nicht durch Schmeicheleien hinhält und, wollten Sie einen Vermittler zwischen sich und Ihrem Herzensfreunde, meine Art das gute Vernehmen herzu­ stellen der Vorl iebe fürs schöne Geschlecht gar nicht gemäß sei, indem ich für den Letzteren spreche und ihm Gründe an die Hand gebe, welche er als Verehrer der Tugend auf seiner Seite hat und die ihn darüber rechtfertigen, daß er in seiner Zuneigung gegen Sie von Seiten der Achtung wankend geworden. Was die erstere Erwartung betrifft, so muß ich zuerst an raten sich zu prüfen, ob die bitteren Verweise, welche Sie sich wegen einer, übrigens zu keiner Bemäntelung i rgend eines begangenen Lasters ersonnenen Lüge machen, Vorwürfe einer bloßen Unklugheit oder eine innere Anklage wegen der Unsittl ichkeit, die in der Lüge an sich selbst steckt, sein mögen. Ist das erstere, so verweisen Sie sich nur die Offenherzigkeit der Ent­ deckung derselben, also reuet es Sie d iesmal Ihre Pfl icht getan zu haben; (denn das ist es ohne Zweifel, wenn man jemanden vorsätzlich, obgleich in einen ihm unschädl ichen Irrtum gesetzt und eine Zeitlang erhalten hat, ihn wiederum daraus ziehen) und warum reuet Sie diese Eröffnung? Weil Ihnen dadurch der freilich wichtige Nachteil entsprungen, das Vertrauen Ihres Freundes einzubüßen. D iese Reue enthält nun nichts Moralisches in ihrer Bewegursache, wei l nicht das Bewußtsein der Tat, sondern ihrer Folgen, die Ursache derselben ist. Ist der Verweis, der Sie kränkt, aber ein solcher, der sich wirklich auf bloßer sittlicher Beurteilung Ihres Verhaltens gründet, so wäre das ein schlechter moralischer Arzt, der Ihnen riete, wei l das Geschehene doch nicht ungeschehen gemacht werden kann, diesen Verweis aus Ihrem Gemüte zu vertilgen und sich bloß fortmehr einer pünktlichen Aufrichtigkeit von ganzer Seele zu befleißigen, denn das Gewissen muß durchaus alle Übertretungen aufbehalten, wie ein Richter, der die Akten wegen schon abgeurteilter Vergehungen nicht kassiert, sondern im Archiv aufbehält, um bei sich ereignender neuer Anklage wegen ähnl icher oder auch anderer Vergehungen das Urteil der Gerechtigkeit gemäß allenfalls zu schärfen. Aber über jener Reue zu brüten und nachdem man schon eine

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andere Denkungsart eingeschl agen ist, sich durch die fortdauernden Vorwürfe wegen vormal iger nicht mehr herzustel lender für das Leben unnütze zu machen, würde (vorausgesetzt daß man seiner Besserung ver­ sichert ist) eine phantastische Meinung von verdienstl icher Selbstpeinigung sein, die so wie manche vorgebl ichen Religionsmittel die i n der Gunst­ bewerbung bei höheren Mächten bestehen sollen, ohne daß man eben nötig habe ein besserer Mensch zu sein, zur moralischen Zurechnung gar nicht gezählt werden müssen. Wenn nun eine solche Umwandlung der Denkungsart Ihrem geliebten Freund offenbar geworden - wie denn Aufrichtigkeit ihre unverkennbare Sprache hat - so wird nur Zeit dazu erfordert, um die Spuren j enes rechtmäßigen, selbst auf Tugendbegriffe begründeten Unwil lens desselben nach und nach auszulöschen und den Kaltsinn in eine noch fester gegrün­ dete Neigung zu verändern. Gel ingt aber das letztere nicht, so war die vorige Wärme der Zuneigung desselben auch mehr physisch als moralisch und würde nach der flüchtigen Natur derselben auch ohne das mit der Zeit von selbst geschwunden sein; ein Unglück, dergleichen uns i m Leben mancherlei aufstoßt und wobei man sich mit Gel assenheit finden muß, da überhaupt der Wert des letzteren, sofern es in dem besteht, was wir Gutes genießen können, von Menschen überhaupt viel zu hoch angeschlagen wird, sofern es aber nach dem geschätzt wird, was wir Gutes tun können, der höchsten Achtung und Sorgfalt es zu erhalten und fröhlich zu guten Zwecken zu gebrauchen würdig ist. - Hier finden Sie nun, meine l iebe Freundin, wie es in Predigten gehalten zu werden pflegt, Lehre, Strafe und Trost, bei deren ersterer ich etwas länger als bei letzterem ich Sie zu verwei len bitte, weil wenn j ene ihre Wirkung getan haben, der letztere und verlorene Zufriedenheit des Lebens sich sicherlich von selber finden wird. Wie stark der große Philosoph an diesem außerordentlichen Fall interessiert war, geht daraus hervor, daß er in einem B rief vom 2 1 . Dezember 1 792 seinen Freund Johann Benj amin Erhard um eine entsprechende Auskunft ersucht hat. Er wollte wissen, wie Fräulein Herbert durch seinen B rief »erbaut« worden sei. So brauchte er selbst den seelsorgerischen Fachaus­ druck für seinen Brief. - Schon am 17. Januar 1 793 wurde die gewünschte Auskunft erteilt. Erhard schrieb: »Von Fräulein Herbert kann ich wenig sagen. Ich h atte i n Wien bei einigen ihrer Freunde meine Meinung über einige mir erzählte Schritte von Ihr freimütig gesagt, und es dadurch mit ihr so verdorben, daß sie mich nicht sprechen mochte; als einen Menschen, der nach bloßer Weltklugheit urteilte, und kein Gefühl für das bloß individuell moral isch Richtige und Wahre hätte. Ich weiß nicht, ob es sich mit ihr derzeit gebessert hat. Sie ist an der Klippe geschei tert, der ich v iel leicht mehr durch Glück, als durch Verdienst entkam, an der romantischen Liebe.

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- Eine ideal ische Liebe zu realisieren, hat sie sich zuerst einem Menschen übergeben, der ihr Vertrauen mißbrauchte, und wiederum einer solchen Liebe zu Gefallen hat sie dies einem zweiten Liebhaber gestanden - Dies ist der Schlüssel zu ihrem Brief. Wenn mein Freund Herbert mehr Delika­ tesse hätte, so glaube ich, wäre sie noch zu retten. Ihr j etziger Gemütszu­ stand ist kurz dieser: Ihr moral isches Gefühl ist mit der Weltklugheit völlig entzweit und dafür mit der feinem Sinnl ichkeit der Phantasie i m Bündnis. Für mich hat dieser Gemütszustand etwas Rührendes und ich bedaure solche Menschen mehr als eigentl ich Verrückte, und leider ist die Erschei­ nung häufig , daß Personen der Schwärmerei und dem Aberglauben nur dadurch entfliehen, daß sie sich der Empfindelei , dem Eigendünkel und dem Traumglauben (fester Entschluß, seine Chimären, die man für Ideale hält, zu realisieren) in die Arme werfen und glauben, sie tun der Wahrheit einen Dienst dadurch.« Nach solcher Auskunft hat wohl Kant wenig Lust verspürt zwei weitere längere Zuschriften zu beantworten. Diese beiden Zuschriften sind aber noch heute lesenswert, wei l sie die psychologischen Grenzen phi loso­ phischer Seelsorge offenbaren. Die erste Zuschrift erfolgte im Januar 1 793 und mag viel leicht durch Erhards Erkundigung unmittelbar veranlaßt wor­ den sein. Lieber ehrenwerter Herr ! Daß ich so lange säumte, Ihnen von j enem Vergnügen was zu sagen , welches mir Ihr Schreiben verursachte, ist, weil ich Ihre Zeit für zu kostbar schätze, daß ich mir nur dann getrau, Ihnen eine zu entwenden, wenn Sie nicht einzig für meine Lust, sondern auch zugleich zur Erleichterung meines Herzens dienen kann, welche Sie mir schon einst verschafften, als ich im größten Affekt meines Gemüts bei Ihnen Hilfe suchte, Sie ertei lten mir selbe meinem Gemüt so angemessen, daß ich sowohl durch Ihre Güte, als durch Ihre genaue Kenntnis des menschlichen Herzens aufgemuntert, mich nicht scheue Ihnen den ferneren Gang meiner Seele zu schildern. Die Lüge, wegen der ich mich bei Ihnen anklagte, war keine Bemäntelung eines Lasters , sondern nur in Rücksicht der dazumal entstandenen Freundschaft (noch in Liebe verhül lt) ein Vergehen der Zurückhaltung, daß ichs aber meinem Freund so spät und doch entdeckte, war der Kampf der vorher­ gesehenen meine Leidenschaft kränkenden Folgen mit dem Bewußtsein der an Freundschaft schuldigen Aufrichtigkeit Ursach, endl ich gewann ich soviel Kraft und vertauschte den Stein meines Herzens durch die Ent­ deckung mit der Beraubung seiner Liebe, denn ich genoß im Besitz des von mir selbst nicht vergönnten Vergnügens so wenig Ruh, als nachdem, von der verwundeten Leidenschaft, welche mein Herz zerrissen, und mich so marterte, wie ichs keinem Menschen wünsch, der auch seine Bosheit mit

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einem Prozeß behaupten wollte. Indessen verharrte mein Freund in seinem Kaltsinn, so wie Sie es in Ihrem B rief mir wahrsagten, doch ersetzte er es mir doppelt durch die innigste Freundschaft, welche mich seinerseits glück­ lich mich aber doch nicht zufrieden macht, wei ls nur vergnügt und nicht nutzt, welches mir, meine hellen Augen j etzt immer vorwerfen und mich dabei eine Leere fühlen machen, die sich in und außer mir erstreckt, so daß ich mir fast selbst überflüssig bin, für mich hat nichts einen Reiz, auch könnte mich' die Erreichung aller mögl ichen mich betreffenden Wünsche nicht vergnügen noch erscheint mir eine einzige Sache der Mühe wert, daß sie getan werde, und dies alles nicht aus Mißvergnügen, sondern aus der Abwägung wie viel was bei Gutem Unlauteres mitlauft, überhaupt möchte ich das zweckmäßige Handeln vermehren und das unzweckmäßige ver­ mindern können, welches letztere die Welt allein zu beschäftigen scheint, denn mir ist als wenn ich den Trieb zur reellen Tätigkeit nur um ihn zu ersticken, in mir fühlte, wenn ich auch von keinem Verhältnis gehindert, doch den ganzen Tag nichts zu handeln hab, so quält mich eine lange Weile die mir das Leben unerträglich macht obwohl ich doch tausend Jahre so leben wollt wenn ich denken könnt ' , daß ich, Gott, in solcher Untätigkeit, auch gefällig bin. Rechnen Sie mirs nicht als Hochmut zu wenn ich Ihnen sage, daß mir die Aufgaben der Moralität, zu gering sind, denn, ich wollt' mit größtem Eifer noch einmal so v iel erfü l len, indem sie ihr Ansehen so nur durch eine gereizte Sinnl ichkeit erhält, wegen der es mich fast keine Überwindung kostet solcher Abbruch zu tun, daher es mir auch scheint, daß wem d as Pfl ichtgebot einmal recht klar geworden, dem steht es gar nicht mehr frei, selbes zu übertreten, dann ich müßte selbst mein sinnl iches Gefühl beleidigen wenn ich pflichtwidrig handeln müßte, es kommt mir so instinktartig vor, daß ich gewiß nicht das geringste Verdienst hab ' mora­ lisch zu sein, ebensowenig, glaub ich, kann man j ene Mensc hen der Zurechnung fähig halten, welche in ihrem ganzen Leben, nicht zum wahren Selbstbewußtsein kommen stets durch ihre Sinnl ichkeit überrascht können sie sich auch nie Rechenschaft geben warum sie etwas tun oder lassen, und wär' Moralität für die Natur nicht am zuträglichsten so würden diese Menschen ihr noch mehr kontrahieren. Zu meinem Trost denk ich mir oft, weil die Ausübung der Moralität so fest auf die Sinnl ichkeit gebunden ist, sie darum nur für diese Wel t taugen kann, und somit hätte ich doch Hoffnung, nach diesem Leben nicht noch einmal , ein so leeres vegetie­ rendes mit so wenig und leichten Aufgaben der Moral zu führen, Erfahrung will mir zwar diese böse Laune gegen mein Hiersein, damit zurechtweisen, daß es fast j edermann zu früh ist seine Laufbahn zu schl ießen und alle so gern leben, um also nicht in der Regel eine so seltene Ausnahme zu machen, w i l l ich eine entfernete Ursache dieser meiner Abweichung annehmen, nämlich meine stets unterbrochene Gesundheit, schon seit der

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Zeit, da ich Ihnen das erste Mal geschrieben, genoß ich sie nie mehr, die doch manchmal einen Sinnenrausch gestattet, welches Vernunft nicht allein verschaffen kann, und ich also entbehre, was ich sonst noch genießen könnt' interessiert mich nicht, denn alle Wissenschaften der Natur und Kenntnisse der Welt studier' ich nicht, wei l ich kein Genie in mir fühl ' sie zu erweitern, und für mich allein hab ' ich kein Bedürfnis es zu wissen, was nicht den kategorischen Imperativ und mein transeendentales Bewußtsei n betrifft, i s t mir alles g leich gültig, obwohl i c h mit diesen Gedanken auch schon längst fertig bin. Al les dies zusammengenommen könnt Ihnen vielleicht den Wunsch in mir wohl anschaulich machen, der einzige den ich habe, nämlich mir dieses so unnütze Leben, in welchem ich fest überzeugt bin, weder besser noch schlimmer zu werden, zu verkürzen, wenn Sie erwägen, daß ich noch j ung bin, und kei n Tag ein anderes Interesse für mich hat, als daß er mich meinem Ende näher bringt, so werden Sie auch abmessen können, welch ein Wohltäter Sie mir werden könnten, und wie sehr Sie dadurch aufgemuntert werden, d iese Frage genau zu untersuchen, daß ich sie aber an Sie machen darf ist, weil mein Begriff von Moralität hier schweigt, wo er doch sonst überall den entschiedensten Ausspruch macht, können Sie aber dieses von mir gesuchte negative Gut nicht geben, so fordere ich ihr Gefühl des Wohlwol lens auf, mir etwas an die Hand zu geben, womit ich diese unerträgl iche Leere aus meiner Seele schaffen könnte, wenn ich denn ein tauglicheres Gl ied der Natur werde und meine Gesundheitsumstände mir vergönnen, so bin ich willens in etlichen Jahren eine Reise nach Königsberg zu machen, wozu ich jedoch im Voraus um die Erlaubnis, bei Ihnen vorzukommen ansuchen w i l l , da müßten Sie mir Ihre Geschichte s agen, denn ich möchte wissen, zu welcher Lebensweise Ihre Phi losophie Sie führte, und ob es Ihnen auch nicht der Mühe wert war, sich ein Weib zu nehmen oder sich irgendwem von ganzem Herzen zu widmen, noch Ihr Ebenbild fortzupflanzen, Ich hab ' Ihr Porträt von Leipzig bei Bause im Stich bekommen, in welchem ich wohl einen moralischen, ruhigen, tiefen aber keinen Scharfsinn entdecke, den mir die Kritik der reinen Vernunft doch vor allem andern versicherte, auch bin ich nicht zufrieden, daß ich Sie nicht mitten ins Gesicht sehen kann, - erraten Sie meinen einzigen sinnl ichen Wunsch, und erfül len Sie ihn wenn es Ihnen nicht zu unbequem ist, werden Sie nur nicht unwi llig wenn ich erst mit der sehnl ichen Bitte um eine Antwort heranrucke, die Ihnen auf mein Kauder­ welsch nur zu beschwerlich fallen wird, doch scheints mir notwendig Sie zu erinnern, daß, wenn Sie mir aber doch den großen Gefallen erweisen , und sich mit einer Antwort bemühen wollen, sie so einzurichten, daß sie nur das Einzelne, nicht das Allgemeine betrifft welches ich schon in ihren Werken an der Seite meines Freunds glücklich verstanden und mit ihm gefühlt habe, welcher Ihnen gewiß gefallen würde, denn sein Charakter ist grad, sein

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Herz gut und sein Verstand tief. Daneben glücklich genug in diese Welt zu passen, auch ist er selbstständig und stark genug alles zu meiden, d rum trau ich mich auch, mir ihn zu rauben. Haben Sie auf Ihre Gesundheit acht, denn Sie können der Welt noch v ieles nutzen, daß ich Gott wäre, und Sie dafür belohnen könnt ' was Sie an uns getan. Ich bin mit tiefster Hochachtung, auch Wahrheit, ehrende Maria Herbert. Der im vorstehenden Brief erwähnte Stich eines Kantbildes fußte auf einer Zeichnung des Philosophen, die Vei t Hans Schnorr von Carolsfeld 1 789 gemacht hat. Man darf wohl sagen, daß diese Zeichnung die charakte­ ristischen Gesichtszüge des Vernunftkriti kers gerade auf seiner Meister­ höhe in ansprechender Form darzustellen suchte. Der letzte Brief, den Maria von Herbert an den Königsherger Denker schrieb, hebt sich von den früheren Briefen vorteilhaft ab durch seine Sprachrichtigkeit und stil istische Gewandtheit. Ob der »Freund« Ihren Entwurf vorher verbesserte und aus­ fei lte? Jedenfalls schrieb sie i m eigenen Namen nach einj ähriger Pause, hätte sich inzwischen auch selbst fortbi lden können, zumal sie an ihrer Absicht festhält, nach Königsberg zu reisen. Klagenfurt, im Anfang des Jahres 1 794. Hochgeehrter und innigstgeliebter Mann ! Haben Sie mir' s nicht für ungut, und gönnen Sie mir das Vergnügen, Ihnen wieder einmal schreiben zu können, denn ich empfinde dabei den höchsten Genuß der tiefsten Achtung und Liebe gegen Ihre d ie Menschheit erhö­ hende Person, und daß diese für uns beglückende Gefühle sind, d arf ich Ihnen nicht erst beweisen, i ndem Sie so glücklich waren, uns das reinste und hei l i gste Gefühl aufzufinden, und es auch allzeit vor Religionsver­ unstaltungen zu retten. Ich kann nicht umhin, Ihnen insbesondere für die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft im Namen aller jenen aufs wärmste zu danken, d ie sich von den so vielfach verstrickten Fesse l n der Finsternis losgerissen haben. Entziehen Sie uns nicht Ihrer weisen Leitung, solang Sie finden, daß es uns noch an etwas mangeln kann, denn nicht unser Begehren nach Befriedigung, sondern nur Ihre Übers icht kann urtei len, was uns noch ferner nötig ist. Ich fühlte mich bei der Kritik der reinen Vernunft schon ganz berichtiget, und doch fand ich bei Ihren folgenden Schriften, daß keine überflüssig waren ; gern wollt' ich dem Lauf der Natur Stillstand gebieten, um nur versichert zu sein, daß Sie vollenden können, was sie für uns angefangen , und gern wollt' ich meine künftigen Lebenstage an die Ihrigen hängen, um Sie beim Ausgang der französischen Revolution noch in dieser Welt zu wissen. Ich hatte das Vergnügen, Erhard selbst zu sehen, welcher mir sagte, daß

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Sie sich nach mir erkundigten, aus dem schloß ich, daß Sie meinen B rief, bei Anfang des Jahres 1 793 erhalten haben, denn ich habe keine Antwort bekommen, weil Sie ' s vermutlich besser verstanden, als ich, daß mir durch Ihre Werke der Weg schon gebahnt ist, selbst drauf zu stoßen. Da ich voraussetze, daß Sie der Gang j edes Menschen interess iert, der Ihrer Leitung so viel zu danken hat, als ich, so will ich versuchen, Ihnen die ferneren Fortschritte meiner Stimmung und Gesinnung mitzutei len. Lange hatte ich mich gequält, und vieles nicht vereint, denn ich mischte Gottes Anordnung in das Zufällige des Schicksals, und begnügte mich nicht lediglich mit dem Gefühl von Dasein; da sehen Sie nun gleich, wie es mir ging, wei l ich zu v iel erwischte, ich betrachtete die wi drigen Zufälle des Lebens von ihm an mich gesandt, und sträubte mich dagegen als gegen eine Ungerechtigkeit, wei l mich mei n Bewußtsein der Schuld frei sprach, oder ich dachte es nicht von ihm geordnet, und das Gefühl für ihn war zugleich auf diesem Weg verloren. End lich die Antinomien, welche die Haupt­ ursache meiner dauerhaften Genesung sind, hätten mich eben so leicht zu einer unwiderruflichen Handlung verleiten können, so lange zog ich damit herum, denn darüber abzuschließen war ich nicht im Stande, bis dann ganz auf einer andern Seite in mir ein moralisches Gefühl erwachte, was fest neben den Antinomien stehen blieb, und ich fühlte von der Zeit an, daß ich überwunden und meine Seele gesund sei. Es hat mir indessen an lang­ wierigen Widerwärtigkeiten des Lebens nicht gemangelt, die meine der­ malige Stimmung genugsam prüften, daß sie endlich nach schwerer Arbeit einer unerschütterlichen Ruh ' genießt. Auch verstand ich in der Folge mir den Wunsch des Todes zu erklären, was mir dazumal eine widernatürliche Verfolgung meiner selbst schien, und es mich grad nach meiner Zer­ nichtung lüstete, auch das Vergnügen der Freundschaft, für welche mein Herz doch allzeit deutlich geschlagen, schützte mich nicht davor; ich betrachtete auch das als einen verdienten Zustand, mit welchem ich kein anderes Wesen behaftet wissen wollte, denn in Betracht, daß ich endl ich wäre, war mir nie kein Vergnügen, welches es auch geben mag, dafür Ersatz, ohne Zweck zu leben ; nun aber ist mein Wunsch gebl ieben, und meine Anschauung hat sich geändert; ich denke, daß jedem reinen Menschen der Tod , in einer egoistisc hen Beziehung auf sich selbst, das Angenehmste ist, nur in Rücksicht der Moralität und Freunde kann er, mit der größten Lust zu sterben, das Leben wünschen , und es in allen Fä)len zu erhalten suchen. Ich wol lte Ihnen noch gern vieles sagen , wenn ich mir nicht ein Gewissen daraus machete, Ihre Zeit zu rauben; mein Plan ist noch immer, Sie einst in Begleitung meines Freundes (von dem ich jetzt leider viel leicht mehr als ein Jahr abwesend sein werde, und schon lange bin) zu besuchen; indessen kann ich Ihr Andenken nie anders als mit dem wärmsten Gefühl des Danks, der Liebe und Achtung weihen, der Hi mmel

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beschütze Sie vor allem Ungemach, auf daß Sie l ang leben auf Erde n ! Ihre mit ganzem und vollem Herzen ergebene Maria Herbert. Daß die kantfromme Klagenfurterin nicht nur für Ihr eigenes Liebesglück kämpfte, sondern auch aufopfernde Nächstenl iebe zu üben suchte, zeigte bedeutsam Ihr kühnes Bemühen, dem an melancholischen Depressionen leidenden Bruder zweckmäßige Heilung zu bri ngen. In diesem Falle war sie so klug, nicht einen philosophischen Seelsorger anzurufen, sondern einen wirkl ichen Arzt, der das Übel an der greifbaren Stelle zu packen versteht. Sie hatte beobachtet, daß Ihr Bruder s ich durch Opiumrausch zu betäuben suchte, und sah voraus, daß solche Selbstbehandlung ein gefährliches Ende nehmen mußte. Sie machte davon vertrauliche Mittei lung an den befreun­ deten Arzt und Philosophen Johann Benj amin Erhard und erbat dringendst um eine geeignete Rettungsaktion. Vielleicht hat sie durch diesen Eingriff dem Bruder das Leben verl ängert. Bei ihr selbst war die aus dem letzten Brief an Kant hervorschimmernde phi losophische Lebensstimmung nach neun Jahren restlos erloschen. Sie endete noch vor dem verehrten Königs­ herger Vernunftkritiker durch Selbstmord. Es geschah 1 803. Der Bruder schrieb darüber im Rückblick am 7 . Oktober 1 804 an Johann Benj amin Erhard: »So wie ich bin, habe ich mir doch die Kraft gerettet, mich aus den Untiefen, in die ich teils durch meine Torheit mich selbst versenkt habe, teils von fremder Tyrannengewalt untergetaucht worden bin, hinaufzu­ schwingen, und obschon noch im Wasser, mich auf der Oberfläche zu erhalten, i ndessen als die Person meiner Schwester Miza, die s ich be­ rechtigt glaubte, Dich um Hilfe für mich anzurufen, ihr eigenes Schicksal nicht ertragen konnte. Sie ist als Heidin aus der Welt gegangen. Ich war nicht in Klagenfurt, sondern in Wolfsberg, und sah sie vor ihrem Entwei­ chen aus diesem Leben beiläufig drei Monate nicht, weiß nur daß sie ihre Sachen in Ordnung brachte, über die Ausführung ihres letzten Willens die ihrer Absicht und Verfassung angemessenste, klügste Anstalt machte, an ihrem letzten Tag ein Dejeuner gab, bei dem sie recht munter und auf­ geräumt erschien, und dann ohne jemand zu kompromittieren, verschwand; nur die Vertrauten, die um ihren Tod wissen dürfen und müssen, unter­ richtete sie durch hinterlassene Briefe. Guck einmal her und sag ! Ist das Kleinmut oder Mut?« Elberfeld den 5. Januar 1 796 Johann P/ücker an Kant. Herr Professor Immanuel Kant in Königsberg. Übel werden Sie ' s doch mir nicht nehmen, wenn ich durch d iese gute Gelegenheit die Freiheit brauche, diese wenigen Zeilen in Hoffnung meiner

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Belehrung an Sie zu schreiben. Voraus muß ich sagen, daß ich von Jugend auf jetzt in die sechzig alt seiend mich nach Wahrheit umgesehen und wo ich dieselbe nur fand, I iebgewann. - Auffallender aber habe ich nie etwas als dero Schriften gefunden, als mir dieselben zuerst zu Gesichte kamen. Von vielen Vorurteilen entbunden las ich dieselben mit vielem Nachdenken und öfter wiederholt fleißig bis ich das in mir durcheinander liegende Chaos ziemlich in Ordnung brachte. Neues haben Sie, meinem Dünken nach, mir nichts gesagt - weil es in mir lag - aber dasjenige geordnet, was, ich weiß nicht wie alles in mir - möchte ich sagen, konfus durcheinander lag. Sie gaben mir den Schlüssel - zur Erkenntnis - der tiefen Weisheit, die Jesus Christus - durch seine Lehre und Reden geäußert ! Und ich danke meinem Schöpfer, daß er mich die Tage erleben lassen, wo Sie edler Mann am Ende des 18. Jahrhunderts - als ein hellscheinendes Licht die Welt erleuchten. Beurteilen Sie gütigst folgenden Brief, den ich vor wenig Jahren an einen Freund - auf gewisse Veranl assung schrieb - und demnächst meine Gedanken, die ich bei Gelegenheit einer Wahrnehmung - vermittels eines Microscopii compositi - für mich entwarf. Der Brief war wie folgt. ' Keine gute Handlung, kein gutes Wort geht verloren. Der Lohn ist unausbleib l ich ! - D ies darf man dem Publiko zur Anlockung und Nach­ ahmung sagen. Der Weise handelt aus Pflicht ! Der noch Weisere aber aus Hochachtung für die Pfl icht! bückt sich tief für des Gesetzes Heiligkeit! Er wähnt einen Gott und ihm ahndet dessen Majestät ! ' Soweit der Brief. Durch ein vortreffliches m icroscopium compositum ließ mich einst der Besitzer und Künstler davon, mein Freund, ein kaum zu bemerkendes klei nes westindi sches Würmchen sehen, und wie staunte ich, da ich es als mit den feinsten Perlen, wie bedeckt fand ! Demnächst legte mein Freund ein Miniaturgemälde, etwa so groß wie der Nagel auf einem kleinen Finger darunter, mit der Versicherung, daß er darauf soviel Fleiß und Mühe gewendet - daß es nicht bezahlt werden würde - auch so vollkommen gut schien es zu sei n ! Aber noch mehr staunte ich - da ich die Striche, wie Kraut und Rüben unordentlich durcheinander liegen fand und fast keinen einzigen vollkommen guten Strich wahrnahm. Lange lag mir das Gemälde und dessen Karikatur mit dem Würmchen in Gedanken, bis ich nach meinem Urteil - und zu meiner Belehrung - den richtigen Schluß machte. So wie sich die Natur verhält zur Kunst so verhält sich das Ideal des vollkommenen Menschen in uns zu unserm Verhalten und Betrage n ! Diesem Ideal sich z u nähern , wird d i e Würde des Menschen befördern und ihn beseligen ! - Das Reich Gottes ist inwend ig in Euch, sagt j a auch der liebe, weise Jesus. Um nichts mehr, edler Mann, ersuche ich Sie nun, als mir in Antwort gütigst, freimütig zu sagen, inwiefern Sie mit mir in Besagtem einstimmig sind und was mehreres dabei zu eri nnern sein möchte? Sie werden mich

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dadurch unendlich verpflichten - Denn nie vergaß ich von Jugend auf den, der zu meiner Belehrung was beitrug ! In Erwartung Ihrer lieben Antwort, direkt über die Post, bin ich Ihr, obwohl unbekannter, doch aber ganz ergebener Freund Johann Plucker Werners Sohn. P. S. Auch werden Sie mich sehr verbinden, wenn Sie das Haus von Karl Ludwig Kirschnick dort kennen, mir in Antwort zu sagen belieben, ob demselben einige Tausend Reichstaler zu fidieren seien. Dies Haus empfahl mir und durch dasselbe empfangen Sie mein Schreiben. Bin wie oben.

Antwortbrief an Johann Plücker Königsberg, den 26. Januar 1 796 Fahren Sie fort, wackerer Mann, in Beherzigung der echten Grundsätze desj enigen Lebenswandels der Ihnen nicht allein hier den Frieden der Seele sichern, sondern Sie auch für die Zukunft aller Bekümmernisse überheben wird. D aß ich gleichsam nur die Hebamme Ihrer Gedanken war und alles, wie Sie sagen, schon längst, obwohl noch nicht geordnet, in Ihnen lag, das ist eben die rechte und einzige Art zur gründlichen und hellen Erkenntnis zu gelangen. Denn nur das, was wir selbst machen können, verstehen wir aus dem Grunde; was wir von anderen lernen sollen, davon, wenn es geistige Dinge sind, können wir nie gewiß sein, ob wir es auch recht verstehen und , die sich zu Auslegern aufwerfen, ebenso wenig. D ie Stelle aus Ihrem vor wenig Jahren an einen Ihrer Freunde ab­ gelassenen B riefe, h at meinen vollkommenen Beifall und »enthält das Gesetz und die Propheten« - Auch hat mir das Experiment mit dem Würmchen und dem fleißigsten Gemälde von demselben, unter dem Mikroskop verglichen, als lebendig vorgestellter Abstand des Menschen (nach dem was er hier ist) von dem Ideal der Menschheit (was er sein und werden soll) und seiner Bestimmung sich diesem beständig zu nähern, durch seine Neuheit und Tauglichkeit solche Beispiele in der Erziehung der Jugend mehrmalen zu benutzen, nicht wenig vergnügt. - Die daraus gezogene Analogie zwischen dem physischen und moralischen Menschen (in seiner Reinigkeit) ist si nnreich und vornehmlich zu j enem Zwecke, überaus wohl ausgedacht. Mit einem Wort, Ihr Brief, l ieber Freund, hat mir eine angenehme Stunde gemacht. Von meinen geringen Bestrebungen solche Wirkungen hin und wieder wahrzunehmen ; welche tröstende Empfindung, dennoch auch von Zeit zu Zeit durch die Bemühungen derer trübe gemacht wird, die die einfachste Sache von der Wel t gefl issentl ich zur schwierigsten machen, indem sie, wie Ä rzte in Rezepten des Guten nicht zu viel tun zu können

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wähnen und die moralisch Kranken mit Glaubensvorschriften überfüllen, bis i hnen darüber der Geist (das wahre Prinzip der guten Denkungsart) ausgeht. Einem Mann, wie Sie, der es wohl verdient, daß man ihn bei seiner Erkundigung nach der Zuverlässigkeit anderer in bürgerlichen Geschäften nicht unberaten lasse, habe ich bei meiner eigenen Unkunde, ei nem anderen wichtigen und wohldenkenden Mann Herrn Kommerzienrat Taussaint sub­ stituiert, der sein Urte i l über den Kaufmann quaest. an Sie abgeben wird, und durch den Sie auch, wenn es Veranlassung gäbe an mich zu schreiben, mir Ihren Brief überschicken würden. Übrigens wünsche ich, daß, so wie Sie sich in Geistesangelegenheit auf der Bahn der Rechtschaffenheit, so auch in bürgerlichen und häuslichen auf der des Glücks und der Ehre j ederzeit befi nden mögen, und bin mit Hochachtung I. Kant. Ihr ergebenster Freund und Diener Der »wackere Mann« hat seinerzeit als Elberfelder Bürgermeister gewi rkt. Er lebte 1 733-1 796, ist also noch im Jahre seines briefl ichen Verkehrs mit dem Königsherger Philosophen verstorben. Ob er wohl mit dem aus Elberfeld gebürtigen großen Mathematiker und Physiker Julius Plücker verwandt ist? Jedenfalls wurde er durch Kants freundlichen Antwortbrief zu einer längeren Erwiderung ermuntert. In dieser Erwiderung wird bitter geklagt über den bei den dortigen Reformierten üblichen religiösen Jugend­ unterricht. Man halte sich an Lampes Katechismusbüchlein , »SO vol ler Unsinn ist«. Die ethisierende Umdeutung des Christentums, die Plücker skizziert, stimmt mit den Gru ndgedanken der Kantischen Vernunftrelgion überein. Aus persönlicher Erfahrung bekennt er: »Aber Müh und Fleiß kostet es - der verworrenen Begriffe sich zu entschl agen.« Zum Schluß möchte der Elberfelder Bürgermeister den Königsherger Weltweisen selbst zu einem Schulbuch anregen und macht treuherzig ein entsprechendes Unterstützungsangebot »Wenn es Ihnen nicht zuviel Arbeit und Zeit weg­ nimmt, möcht ich Sie wohl bitten, mir, in ein paar Bogen verfaßt, wie die Kinder in der Jugend unterrichtet werden müßten - in Manuskript zu übermachen, als einen philosophischen Versuch für die Kinder - wie jener es war für den e wigen Frieden . Ihnen zahle ich gerne dafür - was Sie begehren und l aß es zum besten der Kinder der Welt unter Ihrem Namen und auf meine Kosten hier drucken.« Der gutgemeinte Vorschlag ist nicht zur Ausführung gekommen. Kant scheint mit Sti llschweigen darüber hinweggegangen zu sein. Man muß bedenken, daß der Zensurkonfl ikt wegen seines religionsphilosophischen Werks den Philosophen zur Vorsicht mahnte, um so mehr, als er sich im Oktober 1 794 gegenüber dem König Friedrich Wilhelm II. freiw i l l i g ver-

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pflichtet hatte sich »fernerhi n al ler öffentlichen Vorträge in Sachen der Religion, es sei der natürl ichen oder der geoffenbarten, in Vorlesungen sowohl als in Schriften völlig zu enthalten«. Doch könnte das »Bruchstück eines moralischen Katechismus« in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre (Königsberg, 1 797) mit dem Vorschlag Plückers zusam­ menhängen. Leider war der Elberfelder Bürgermeister 1 797 nicht mehr am Leben.

Brief von Friedrich A ugust Hahnrieder vom 1 6. Apri/ 1 796 Dieser Briefwechsel beweist wiederum die liebenswürdige Hilfsbereit­ schaft, mit der sich der große Philosoph für das Wohl eines ehemaligen Hörers einzusetzen wußte. Es war ein besonders schwieriger Fal l. Hahn­ rieder, ein Lötzener Bürgermeisterssohn, war nach Abschluß seiner Königs­ herger akademischen Studien nach Rußland ausgewandert. Er wurde dort Offizier und hat als Adj utant Suwarows am zweiten Türkenkrieg der Kaiserin Katharina ( 1 787- 1 792) tei l genommen. Seine russische Existenz wurde aber doch infolge unglückl icher Verwickelungen unhaltbar, so daß er sich nach der Heimat flüchtete, um ein angemessenes Betätigungsfeld zu suchen. Er war nicht leicht zu lenken, durfte s ich aber der unermüdl ichen Fürsorge seines ehemaligen Lehrers erfreuen. Berliner Kantfreunde unter­ stützten die Betätigung des ehemaligen Adj utanten Suwarows im Tischler­ handwerk. Die letzte Station in dieser Odyssee eines Kantianers wurde eine bäuerl iche Betätigung auf eigenem Grund und Boden. Dieser Schlußakt entsprach kaum den Wünschen Kants , der seinem Schützling doch am liebsten eine städtische Existenzmöglichkeit verschafft hätte. Die Zuschrift, auf welche sich der einzige überlieferte Brief des Phi losophen an Hahn­ rieder bezieht, hat sich nicht erhalten. Es existieren aber 8 Briefe Hahn­ rieders aus späterer Zeit. Nur einer von ihnen ist von Kant sicher be­ antwortet worden, weil die Antwort in dem nächstfolgenden Brief ausdrücklich bestätigt wird. Daß die beiden letzten Briefe keine Erwiderung gefunden haben, dürfte ziemlich wahrscheinlich sein, fallen sie doch in d ie Schlußphase des brieflichen Verkehrs, die überhaupt nur noch wenige eigenhändige B riefe des Vernunftkritikers aufweist. Wir bringen auch die unbeantworteten Briefe des Lötzeners wegen ihrer mehrfachen Bedeut­ samkeit als charakteristische Urkunden eines am Kritizismus orientierten deutschen Mannestums. Ew. Hochedelgeb. Zuschrift vom 9ten April c. enthält so subtil ausgedachte Skrupel und moralische Bedenklichkeilen irgend ein Amt zu übernehmen in sich zugleich aber auch einen so unwandelbaren Vorsatz der Beharrlichkeit bei d ieser Ihrer Meinung, daß aller Versuch Ihnen denselben, wenngleich

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mit triftigen, nicht weniger moralischen, Gründen auszureden, vergeblich zu sein scheint. Noch bleibt aber doch ein Vorschlag, der Ihrem ei genen Plane analogisch, nämlich kein Amt, sondern eine Kommission betrifft, übrig und der S ie dahin leiten könnte, wohin Sie selbst wünschen, nämlich i m Unterricht Anderer Ihre Beschäftigung zu suchen. - Wenn Sie nämlich »in der reinen Mathematik, Algebra und der Fortifi kation« , wie Sie sich äußern, stark genug fühlen, so würden Sie auch sehr leicht die Feldmeß­ kunst hinzusetzen können. - Nun haben des HEn Etatsminister Baron von Schrötter Excel lenz vor etwa 4 Wochen unserem Professori Matheseos Ordinario zu wissen thun lassen, d aß eine große Vermessung, der j etzt preußischen (ehedem zu Pohlen gehörigen) Länder, vor sich gehen soll und von gedachtem Professore , Herren Hofprediger Schultz, d arüber Vor­ schläge verlangt, an welchen Sie so bald der Plan zur Ausführung gereift ist, sich wenden und dann das Übrige veranstalten können. H iezu und zu allen übrigen wohlgemeinten und redlichen Absichten wünsche das beste Glück und bin mit aller Hochachtung Ew. Hochedelgeb. ergebenster Freund und Diener I Kant. Koenigsberg den 1 6t. April 1 796.

Brief von Friedrich A ugust Hahnrieder; 28. A ugust 1 796 Achtungswürdiger Mann ! HErr Kandidat Albrecht, der auf der Rückreise nach Rußland begriffen ist, hat mich mit seinem Besuch beehrt, und zugleich die Gefäl l igkeit gehabt, mir zu versprechen, diesen B rief Ihnen einzuhändigen, ich habe diese Gelegenheit nicht versäumen wollen, um Ihnen Nachricht von meinem Befinden zu geben, es geht mir in so weit recht wohl, ich setze das Hobeln fort und werde es so l ange fortsetzen, bis ich in den Stand gesetzt werde, das zu sein , was ich so sehnliehst wünsche, neml ich ein Bauer, der mit seiner Hände Arbeit den Lebensunterhalt sich selbst schafft, ob ich je dieses Ziel erreichen werde, weiß ich nicht, ich bin auch in dieser Hinsicht nicht unruhig, denn ich bin überzeugt, daß meine Schicksale in der Hand eines weisen Wel tregierers stehen, der unsre Verhältnisse unserer Moralität angemessen einrichtet. Ihre Tugendlehre habe ich gelesen und mancher Zweife l , den ich mir bis dahin nicht habe lösen können, ist gehoben; der Himmel schenke Ihnen fortdauernde Gesundheit, damit die Menschheit i n mehrerer Hinsicht v o n Ihnen könnte belehrt werden. Um die Fortdauer Ihrer Freundschaft bitte ich und bin mit wahrer Achtung Ihr aufrichtiger Freund und D iener Hahnrieder. Berlin den 28ten August 1 796.

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Brief von Friedrich A ugust Hahnrieder, 20. September 1 796 Achtungswürdiger Mann ! Berlin den 20ten Sept. 1 796. Die Ungewisheit der Entwicklung meines Schicksals ist die eigentliche Ursache der Verzögerung eines Schreibens, ich wol lte mir die Freiheit, Denenseiben zu schreiben, nicht eher zu Nutze machen, als bis ich im Stande wäre, eine gänzliche Schi lderung aller gehabten Fatalitäten zu liefern, jetzt ist mein Schiksal entschieden, und ich eile Ihnen davon getreue Nachrichten zu liefern. Sobald das Schiff aus Königsberg ausgelaufen war, veränderte sich der Wind, wir mußten vor Fischhof zu Anker gehen, dieses begegnete uns noch einmal auf dem Haff, n icht eher als in ohngefähr drei Tagen kamen wir nach Pillau, woselbst, widrigen Windes wegen, wir acht Tage l iegen mußten; die Teuerung in P i llau verminderte um v ieles meine Barschaften, welche ohnehin äußerst mäßig waren. Nachdem der Wind günstig geworden, g ingen wir unter Segel, elf Tage waren wir auf offner See, in Swinemünde bl ieben wir liegen, und einige Meilen von Swine­ münde wiederfuhr uns dasselbe, nach einer Reise von viertehalb Wochen kamen wir nach Stettin, von da ging ich mit noch zwei Reisekameraden zu Fuß nach Berli n , die Sachen wurden auf ei nen Oder-Kahn gel aden. Die Empfehlungen, die Sie mir mitzugeben die Güte gehabt, gab ich ab; HE Doktor B iester und HE Professor Kiesewetter hatten wider meinen Plan nichts einzuwenden, letzterer gab sich Mühe mich bei einem Meister unter­ zubringen, aber es war vergebens, keiner von allen, wohin mich K iese­ wetter brachte, wollte sich entschließen mich anzunehmen, der eine ent­ schuldigte sich, daß er keinen Platz habe, der andere, daß ich in den Jahren nicht viel lernen würde, der dritte meinte, er könnte mich nicht so als einen gewöhnlichen Lehrjungen behandeln, ein vierter hatte andere Gründe, und so war alles Bemühen fruchtlos, ich bat daher HE Prof. Kiesewetter irgend einen andern Plan zu meinem Fortkommen zu entwerfen, indessen wollte er meinen einmal entworfenen Plan durchgesetzt wissen, es koste was es wolle, er riet mir mich an HE Doktor B iester zu wenden, d ieser würde vielleicht einen Meister ausfindig machen, und dann sol lte ich, die Bed i n­ gungen möchten sein , welche es wollten, in Arbeit gehen, nach seiner Rückkunft (er reiste eben auf einige Zeit nach Freiwalde sechs Mei len von hier ins Bad) würde er alles arrangieren, er hätte schon mit mehreren Freunden gesprochen, die mich während meiner Lehrj ahre zu unterstützen versprachen, da eine Unterstützung unter solchen Umständen als ein all­ gemeines Gesetz sehr wohl bestehen könnte, so nahm ich dieses Anerbieten an, HE Doktor B iester empfahl mich dem braven Zöl l ner, welcher mich vermittelst eines Tischlers bei einem geschickten hiesigen Tischler unter­ brachte, die Bedingungen waren freilich meinen Verhältnissen nicht ange­ messen, ich sol lte nämlich auf drei Jahre eingeschrieben werden , fünfzig

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Taler Lehrgeld bezahlen und Tisch, Quartier und Kleidung selbst besorgen, allein in Hoffnung auf die so sicher zugesagte Unterstützung fing ich an zu arbeiten; nachdem Kiesewetter zurückgekommen, stellte ich ihm dieses vor, er hatte dawider nichts ei nzuwenden , munterte mich auf meinem Vorsatz treu zu bleiben, und versicherte mir, da ich einige Zweifel gegen Unter­ stützung hegte, daß ich nichts zu besorgen hätte; ungeachtet aller Versiche­ rungen, konnte ich doch nicht ganz zufrieden sei n, ich sprach HE Doktor Biester darüber, dieser meinte, daß das Versprechen zu voreilig wäre, ich bat nun Prof. Kiesewetter, mir ganz bestimmt darüber Auskunft zu geben, denn sol lte es mit der Unterstützung Schwierigkeiten setzen, so könnte ich ja, d a ich noch nicht eingeschrieben wäre, mit der Arbeit aufhören und irgend etwas anderes entrieren, zugleich ersuchte ich ihn mich als Hof­ meister unweit Berl in zu engagieren, er indessen wol lte davon nichts hören, sondern sprach immer von Unterstützung, dieses hatte schon mehrere Wochen gedauert, und ich muß gestehen, daß mir meine Lage sehr zur Last wurde; während d ieser Zeit war der Rat Campe aus Braunschweig hier gewesen, mit d iesem hatte Kiesewetter meinetwegen gesprochen und ihm den Brief von Ihnen gezeigt, in Rücksicht des für mich so günstigen Urteils wollte d ieser rechtschaffene Mann m ich gerne i n Braunschweig haben, versprach mit einem dortigen sehr geschickten Tischler und Mechanicus darüber zu sprechen und mit nächstem darüber Nachricht zu erteilen, ich hatte ihn besucht und d ieses Versprechen von ihm selbst gehört, da m i r meine Lage in die Zukunft nicht a l s die günstigste erschien, so g i n g i c h vor einigen Tagen zum Buchhändler HE Vieweg, der der Schwiegersohn von Campe ist, um nachzufragen, ob eine Nachricht aus Braunschweig einge­ laufen wäre, Vieweg sagte mir, daß Campe geschrieben, daß ich bei dem Meister, indem er nicht zünftig wäre, nichts Neues lernen könnte, wenn ich als zünftig gelernter Tischler einst subsistieren können wollte, also wieder eine fehlgeschlagene Hoffnung -, die Rätin Campe, die j etzt hier ist, kam dazu, sprach mit mir über meinen Plan, und da ich alle Umstände ausein­ andergesetzt, so versprach sie und HE Vieweg für einen Unterhalt zu sorgen, überdem gibt HE Vieweg mir bei sich frei Quartier, und so hat mich denn diese gute Frau, freil ich nicht meines Verd ienstes oder meiner Würdigkeit wil len, sondern bloß Ihrer so guten Empfehlung wegen, aus der größten Verlegenheit gerissen , denn von meinen Eltern darf ich keine Unterstützung erwarten, diese wissen von meinem Entschlusse nichts und würden ihn auch nie billigen. Die gute Campe hat mir aufgetragen, Ihnen unbekannterweise sie zu empfehlen, ich wünschte, daß Sie diese Fam i l ie, die aus lauter braven Menschen besteht, kennen möchten, es gibt doch noch gute Menschen unter dem Monde ! Schenken Sie mir die Fortdauer Ihrer Freundschaft, ich werde alle meine Kräfte aufbieten, mich derselben nie unwürdig zu machen, redl ich und ohne zu wanken will ich den dornigten

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Pfad der Tugend wandeln! HE Schultz bitte ich mich zu empfehlen und mit der vollkommensten Hochachtung habe ich die Ehre zu sein Ew. Wohlgegebornen aufrichtig ergebener Freund und Diener Hahnrieder N. S. Mit der Arbeit geht ' s recht gut, ich habe einige Fußbanken, einen Tischfuß, ein Fußgestelle zu einer Hobelbank gemacht, jetzt arbeite ich an ei nem kleinen eichenen Tischchen, welches aufs Möbelmagazin gestellt werden sol l !

Brief Hahnrieders aus Ber/in vom 3. Dezember 1 796 Achtungswürdiger Mann ! Kiesewetter hat mir die Stelle Ihres Schreibens an ihn, wo Sie meiner erwähnen, vorgelesen; mit dem größesten Vergnügen nahm ich wahr, daß ich Ihnen nicht gleichgültig bin, Sie fordern mich sogar auf Ihnen zu schreiben, ich versäume daher keine Zeit, Ihrem Verlangen Genüge zu leisten, gerne hätte ich schon mehrmalen, seit meinem ersten Briefe, den Sie durch HE Nicolovius erhalten haben, geschrieben, allein ich fürchtete durch meine Zudringlichkeit einem Manne lästig zu werden, den ich von ganzer Seele hochschätze, und deswegen alle Gelegenheit sorg­ fältig vermeiden wollte, ihm beschwerlich zu fallen. Sie muntern mich auf, bei meinem einmal gefaßten Vorsatze zu bleiben und nicht zu wanken, nein , edler Mann ! ich wanke auch nicht, H immel und Erde mögen ver­ gehen, mein Körper i n seine Elemente aufgelöst werden, aber meine Vernunft läßt sich nicht erschüttern, ein einmal gefaßter in der Vernunft gegründeter Entschluß muß durchgesetzt werden koste es, was es wolle; Sittlichkeit ist keine Chi märe, das haben Sie gelehrt und ich bin davon überzeugt und fest entschlossen nach Überzeugung zu handeln, an Kräften fehlts mir nicht, ich habe Mut gehabt allen Gefahren und Widerwärtig­ keiten, die mir i n Rußland droheten, zu trotzen, ich zagte nicht auf der unwegsamen Bahn, die mir die Pflicht vorzeichnete, fortzuwandeln, und jetzt sollte ich meinen Mut sinken l assen, da ich doch bei weitem mit weniger Widerwärtigkeiten zu kämpfen habe? Zwar verlassen mich meine Eltern, meine Freunde sind unzufrieden mit mir, und es tut mir weh ; es ist ein harter Kampf, den ich zu kämpfen habe, aber es sei, ich will ihn kämpfen, ich will tugendhaft sein, und es sol l sein, dieses Gesetz gibt mir meine Vernunft, und die Neigungen, sie mögen so l aut rufen, als sie immerhin wollen, müssen am Ende verstummen. Da Sie mir doch einmal die Erl aubnis gegeben haben zu schreiben, so will ich Ihnen von allem, was auf mich Beziehung hat, Nachricht ertei len. Mit dem Hobeln und Sägen gehts gut, ich habe darin ziemliche Fortschritte

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gemacht, verschiedene Stücke habe ich bereits verfertigt, die schon Lieb­ haber gefunden und gekauft worden, ich hoffe, daß ich während der dritte­ halb Jahre, die zu meiner Lehrzeit bestimmt worden, es dahin bringen werde, daß ich als ein geschickter Geselle mein Brot werde verdienen können; meine körperlichen Kräfte nehmen zu und ich habe die frohe Aussicht eine dauerhafte Gesundheit zu genießen vor mir. Verschiedene Bekanntschaften habe ich hier gemacht, zum Teil mit Männern, die diesem Ehrennamen keine Schande machen; der Geheimrat Schulz, der bei Ihnen gewesen, und ein Gewisser Professor Feßler interessieren mich am mehre­ sten, ersterer scheint mir ein sehr redl icher Mann zu sein, er hat mir Unterstützung angeboten, wovon ich bisher noch keinen Gebrauch ge­ macht, weil ich glaube, daß man sich lieber kümmerlich behelfen muß, als Andern zur Last zu fallen; letzterer ist ein Mann, durch dessen Umgang mein sittl icher Charakter mehr und mehr ausgebildet wird, sein Beipiel ist mir eine heilsame Lehre, daß Widerwärtigkeiten nie einen für die Sittlichkeit nachteil igen Einfluß auf unsere Handlungen haben müssen, dieser Mann war ehedem beim Fürsten zu Carolath engagiert, sein Engage­ ment hatte ein Ende, da der Fürst bankrott wurde, jetzt lebt er hier und wird nicht angestellt, sich seiner Würde bewußt, verachtet er alle die Schleich­ wege, die ihn zu einem Posten führen könnten, er leidet l ieber al les Ungemach, welches seine brave Frau gerne mit ihm tei let, und schränkt sich so sehr ein als möglich, um nur nicht nach Maximen handeln zu dürfen, die mit der Sittl ichkeit im Widerspruch stehen. - Was mich als Staatsbürger betrifft, so befolge ich treulich die Vorschriften der Vernunft, die Sie so vortrefflich in der Abhand lung über den Gemeinspruch »Was in der Theorie richtig sei , taugt aber nicht für die Prax is« auseinandergesetzt haben. Sie haben nichts zu befürchten, daß ich vielleicht durch Mißver­ stehen auf Abwege geraten könnte, ich habe kein Talent zu tiefsinnigen Spekul ationen, aber Einsicht genug, um Wahrheiten, die Beziehung aufs Praktische haben, nicht zu verfehlen, mit Ungeduld warte ich auf die Metaphysik des Rechts und die Tugendlehre , wo ich glaube über mehrere Gegenstände, die mir bisher dunkel geblieben, Licht zu erhalten. Madame Campe hatte mir aufgetragen, Ihnen unbekannterweise ein Kompliment zu machen, welches ich auch in meinem ersten Briefe bestellt. Kurz vor ihrer Abreise haben wir in Gesellschaft mehrerer Berliner Damen auf Ihre Gesundheit getrunken, ich habe es der Gesel lschaft versprochen, Ihnen davon Nachricht zu geben , und erfülle nun mein Versprechen, auch Damen schätzen den Weisen, der ohne Menschenfurcht Lehren der Wahr­ heit verkündigt. Herr Lagarde behandelt mich in Rücksicht der Empfehlungen, die Sie mir mitgegeben, sehr freundschaftlich, er hat sich nach Ihrem Befinden sehr genau erkundigt und nimmt an allem, was Sie betrifft, lebhaften Anteil. -

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D i e Berli ner i m Ganzen sind m i t meinem entworfnen Plane zufrieden, ich werde von einigen unterstützt; um diesen gutgesinnten Menschen, so wenig als möglich, beschwerlich zu sein, habe ich mich auf fünf Taler monatliche Ausgabe eingeschränkt, ich muß mich freilich kümmerlich genug behelfen, indem ich damit Quartier, Essen, Wäsche und Licht besorge, i ndessen beruh ige ich mich, wei l ich überzeugt bin, daß die Bestimmung des Men­ schen nicht ist, beständig auf Rosen zu tanzen. Daß ein Schreiben von Ihnen mir äußerst angenehm sein würde, ver­ sichere ich Ihnen aufs feierlichste, Ihre B riefe, womit Sie mich bisher beehrt haben, hebe ich als ein Heiligtum auf, indem eine einzige Zei le von der Hand eines so rechtschaffenen Mannes bei mir einen unendlichen Wert hat. Sollten Sie mich mit einem Schreiben beehren, so würde Kiesewetter, bei dem ich Sonntags Vorlesungen über physische Geographie häre , mir solches einhändigen. Inliegenden Brief bitte ich, Herrn Hofprediger Schultz abgeben zu lassen. Mit der innigsten Verehrung bin ich Ihr ganz ergebner Freund und Diener

Hahnrieder.

Brief Hahnrieders aus Berlin vom 12. Februar 1 797 Achtungswürdiger Mann ! Zwei Briefe habe ich Ihnen bereits geschrieben, ich weiß aber nicht, ob Sie s ie erhalten haben oder nicht, im Ietztern Fall wäre es mir insofern unangenehm , daß Ihre Erwartung, Nachricht von meinen Verhältnissen zu haben, nicht befriedigt worden wäre. - Herr Direktor Skopnik hat die Gefälligkeit gehabt, das Geschäft zu übernehmen Ihnen dieses Schreiben einzuhändigen, und zugleich zu sagen, daß der Schritt, den ich getan, mich noch nicht gereue, und wahrscheinlicher Weise auch nie gereuen werde, woran, wie ich vermute, Sie nicht zweifeln werden, denn sollte es wohl möglich sein, Vernunftgründen nicht Gehör geben zu wollen, wenn man überzeugt ist, daß die Bestimmung des Men­ schen ist, vernünftig zu sein? Es mögen alle Wetter des Schicksals felsen­ hoch über unserm Haupte s ich auftürmen und j eden Augenblick den schrecklichsten Untergang drohen, so steht das Vernunftgesetz unerschütter­ lich da, und erhebt sich stolz über alle Schrecken, die vor seiner Majestät in ein Nichts zusammenfallen. Zum Kampfe bin ich da, und kämpfen will ich, sollte ich auch alles, was Erdenglück heißt, aufopfern ! Was ist Aufopferung aller irdischen Güter gegen das erhebende Bewußtsein, seiner Bestimmung gemäß zu handeln? Mit meiner Arbeit gehts gut, ich hoble und säge aus allen Leibeskräften; Handwerksverständige versichern, daß ich über alle

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Erwartung vorwärtsrücke , und das freut mich mehr, als wenn mir alle buntscheckigen Bänder, die man Orden nennt, umgehängt würden. Kiesewetter empfiehlt sich Ihnen bestens, sein Plan, der Ihnen bekannt ist, ist noch nicht durchgesetzt. Sollten Ihre Geschäfte es erlauben, so wünschte ich wohl einige Zeilen von Ihnen zu lesen, es wird nicht allein mir, sondern einer Menge braver Männer hier in Berl in, die Ihnen von ganzem Herzen ergeben sind, viel Freude machen. Der Fortdauer Ihres Wohlwol lens und Ihrer Freundschaft empfehle ich mich und bin Ihr aufrichtiger Freund und Verehrer Hahnrieder.

Brief Hahnrieders aus Berlin vom 14. Apri/ 1 797 Achtungswürdiger Man n ! Überbringer dieses HE Mahlbeck, ein geschick­ ter Tischler und Instrumentmacher, dabei ein braver Mann , wird Ihnen sagen, wieweit ich i n meinem Studio fortgerückt bin, ich habe demsel ben etwas von den Sachen, die ich verfertigt, gezeigt, und können Sie von ihm die sicherste Nachricht haben, wie ich meine Zeit angewandt. - Ihr mir so angenehmes Schreiben vom 7ten März durch HE Doktor Fried länder habe ich erhalten ; für Ihr gütiges Anerbieten, mich zu unterstützen, sage ich Ihnen den herzlichsten D ank, meine jetzige Lage ist von der Art, daß ich nicht Not leide, und ich bin zufrieden, ich würde mir ein Gewissen machen, mehr haben zu wollen als ich bedarf, und in dieser Hinsicht habe ich noch neulich einige freundschaftl iche Anerbietungen ausgeschlagen. - Kiese­ wetter hat seinen Zweck erreicht, und es freut mich nun sehr, da er nun entschlossen ist hier zu bleiben, indem er nicht wen ig dazu beiträgt, die Menschen auf Vernunftgebrauch aufmerksam zu machen. - Sollten Ihnen bisweilen Augenblicke von wichtigem Geschäften übrig bleiben, so wünschte ich wohl daß S ie mir einige , seiens auch noch so wenige, davon schenkten; eine einzige Zeile von Ihrer Hand, d ie kürzeste Nachricht von Ihrem Befinden, ist mir mehr wert, als alle Schätze von Golkonda; glauben Sie i ndessen nicht, daß ich schmeichle, fürwahr das kann ich nicht, und mag es auch nicht können. - Einige Aufsätze über Livland habe ich in das dritte und vierte Stück des Archivs der Zeit einrücken lassen , diese Nach­ richt teile ich nicht in der Absicht mit, damit Sie dieselben läsen, de':ln was ich schreibe, darf Kant nicht lesen, aber ich bin überzeugt, daß Sie auf­ richtigen Anteil an allem nehmen, was mich betrifft, und so übergehe ich auch nichts mit Stillschweigen, was Beziehung auf mich hat. Lagarde empfiehlt sich Ihnen bestens. Kiesewetter wollte selbst schrei­ ben, und ich bin jederzeit Ihr aufrichtig ergebener Freund Hahnrieder.

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BriefHahnrieders aus Berlin vom 19. September 1 797 Achtungswürdiger Mann ! Die Nachricht, die mir HE Doktor B iester von Ihrem Wohlbefinden mitteilte, hat mir unendlich viel Freude verursacht, zugleich erfahre ich, daß Sie unerachtet Ihres hohen Alters doch noch arbeiten und der Menschheit dadurch nützen wol len. D ieser Vorsatz über­ zeugt mich vollends, daß Sie die Uneingeschränkteste Achtung aller redlich Gesinnten verdienen. Ohne Zweifel haben wir von Ihnen also noch Belehrungen zu erwarten, d ie gewiß sehr interessant sein werden und ich würde mich nicht erdreisten Sie zur Bearbeitung ei nes Gegenstandes aufzufordern, wenn er mir nicht so sehr am Herzen l äge, er betrifft die Verbreitung von Kenntnissen und die Berichtigung der Urteile u nter der großen Volksklasse; so schwierig dieses Unternehmen beim ersten Anblick scheint, so leicht ist es in der Ausführung, ich spreche hier aus Erfahrung; zu Anfange meiner Lehrzeit tat ich einer Gesellschaft von Tischlergesel len den Vorschlag, wöchentlich einige Abende dazu anzuwenden, um durch Lektüre und wissenschaftl iche Unterhaltungen den Geist zu kultiv ieren, mein Vorsch l ag wurde angenommen, und meine Bemühungen in Mit­ tei lung von Kenntnissen und Berichtigung der Urteile sind nicht fruchtlos gewesen, wenn es mir also geglückt hat etwas wirken zu können, so sehe ich gar keinen Grund ein, warum es j edem Andern mißglücken sollte, und wieviel Menschen in jedem Stande g ibt es nicht, die der großen Klasse auf diese Art nützlich sein könnten und hauptsächlich zu dem großen Zwecke hinarbeiten könnten, die Menschen auf ihren eignen Vernunftgebrauch aufmerksam zu machen ; Studenten, Professoren , Pred iger auf dem Lande und in den Städten, Güterbesitzer, Hofmeister auf dem Lande, Justiz­ personen und überhaupt jeder kultivierte Mann könnte ganz bequem dieser Pfl icht einige Zeit aufopfern, aber eine Hauptbed ingung dabei ist die, daß es unentgeltlich geschähe, denn eben dadurch kann das meiste bewirkt werden, wenn gezeigt wird, daß es Pfl icht ist für das Wohl seiner Neben­ menschen zu sorgen ohne weiter Vorteile davon zu haben. Beispiele, wie Sie selbst in der Tugendlehre sagen, tragen zur Kultur des großen Haufens das meiste bei, und ich habe diese Behauptung durch selbstgemachte Erfahrungen bestätigt gefunden. Wenn Sie sich daher bemühen wollten in dieser Hinsicht eine Aufforderung an alle Menschen, die ihrer hohen Würde gemäß handeln wollen, ergehen zu lassen und zugleich eine Methode vorschlügen, die dem Zwecke entspräche, so würde die Menschheit unend­ lich v iel gewinnen. 0 tun Sie es ! Ich bitte Sie bei allem, was Ihnen hei l i g i s t , darum, i c h versichere Ihnen, d a ß ein einziger Aufsatz v o n Ihnen in dieser Hinsicht eine außerordentliche Wirkung hervorbringen würde. In der festen Überzeugung keine Fehlbitte getan zu haben, bin ich mit aller Achtung Ihr aufrichtig ergebner Freund Hahnrieder.

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Brief Hahnrieders aus Berlin vom 18. November 1 797 Achtungswürdiger Mann ! Eine Unachtsamkeit in meinem Briefe hat zu dem Mißverständnisse, als wollte ich die Händearbeit aufgeben , Anlaß gegeben , mein Vorsatz bleibt, allein ich fand es meiner Überzeugung zuwider, nachdem ich mehr und mehr darüber nachdachte, bloß als eine Maschine in den Händen der Reichen zur Befriedigung ihrer Sinnlichkeit zu dienen, ich mußte nun, wenn ich nicht wider meine Überzeugung handeln wollte, diese Laufbahn verlassen, und es bl ieb mir weiter nichts übrig, als den Ackerbau zu wählen, aller Mühe ungeachtet war es nicht möglich, zu diesem Zwecke zu gelangen. Ich fing an, an ei ner moral ischen Welt­ regierung zu zweifeln, denn nach den Begriffen von derselben mußte ich in einen Wirkungskreis versetzt werden, der nicht wider meine Überzeugung war, und doch war auch nicht die m indeste Aussicht dazu da, in diesem Wanken zwischen Glauben und Zweifeln entschloß ich mich in Ge­ sel lschaft mit einem Tischlergesellen, der Meister werden wollte, eine Werkstätte zu etabl ieren, allein der damalige Kronprinz, zu dessen Re­ giment dieser Mann als Kantonist gehört, gab mir auf mein Gesuch um den Abschied für denselben einen Bescheid, der so beschaffen war, daß ich mein Gesuch nicht weiter fortsetzte, weil ich befürchten mußte, daß mein Freund Soldat werden könnte. D ieser Vorfall brachte mich zum Besinnen, ich hielt es für einen Wink, daß ich nicht i n dem Wirkungskreise stehen bleiben sol lte, der meiner Überzeugung zuwider war, nach vielem Hin- und Herwanken wendete ich mich an den Generaladjutanten des verstorbenen Königs Obersten v. Zastrow, dieser Mann empfahl mich Sr. Excel lenz dem Minister v. Schrötter, durch dessen VermitteJung ich in Westpreußen Land erhalten soll , so ganz zufrieden ist indessen der Minister mit meinem Plane nicht, weil derselbe wünscht, daß ich in Königliche Dienste treten möchte, zum Teil rührt seine Unzufriedenheit daher, wei l Sie mit meiner j etzigen Standesveränderung unzufrieden sein sollen, wie mir der Minister ver­ sicherte, inwiefern dieses sei ne Richtigkeit habe, weiß ich nicht, allein unerwartet wäre es mir eben nicht, denn ich habe schon das Schicksal v�rkannt zu werden, und ich muß aufrichtig gestehen, daß der Schein wider mich ist, und daß man mir wohl Wandelbarkeit zutrauen könne, wenn man mich und alle Verhältnisse nicht ganz genau kennt, allein ich kann mich vor allen vernünftigen Wesen rechtfertigen, denn die Maxime, das Land zu bauen, kann als allgemeines Gesetz gelten und die Maxime, jeden Stand in jedem Augenblick zu verlassen, um in den Ackerbauerstand herüber­ zutreten, qualifiziert sich auch zum allgemeinen Gesetz, übrigens überlasse ich mein Schicksal der Gottheit, von der ich nun völlig überzeugt bin, daß sie mich jederzeit in die Lage versetzt, die mir die zuträglichste ist, freilich laufe ich Gefahr, für einen Phantasten zu passieren, allein ich würde mich

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selbst verachten wenn das Urteil anderer Menschen mich zum Handeln bestimmen sollte. Daß der König den 1 6ten d. M. mit Tode abgegangen, werden Sie vielleicht schon wissen. Der neue König hat sogleich die Madame Rietz arretieren lassen, ihre Sachen sind versiegelt und ihre Häuser mit Wachen besetzt, man gibt ihr Schuld, als hätte sie Staatsverbrechen begangen, sie sol l eine russische Depesche erbrochen haben und Staatsgelder unter­ schl agen haben. Bisehaffswerder soll auch arretiert sein. Der Fortdauer Ihrer Freundschaft empfehle ich mich und bitte Sie zu glauben, daß ich nie wider meine Überzeugung vorsätzlich handeln werde. Mit aller Achtung bin ich Ihr aufrichtiger Freund Hahnrieder. Eben erfahre ich von einem Augenzeugen, daß Bisehaffswerder und Rietz im Dom bei der Beisetzung des Leichnams gegenwärtig gewesen, folglich nicht arretiert sind.

Brief Hahnrieders aus Langgrund im Amte Rhein vom 31. Juli 1800 Achtungswürdiger Mann ! Daß ich so lange geschwiegen, hat nichts weiter zum Grunde, als daß ich nicht eher schreiben wol lte, bis ich etwas Bestimmtes über mein Schicksal sagen könnte, dieses ist jetzt der Fal l , und nun würd ich es für unverzeihlich halten, länger zu schweigen. Daß man mir ein ländliches Etablissement in Westpreußen geben wol lte, ist Ihnen bekannt, allein das Generaldirektorium war mit den Vorschlägen die ich machte, nicht zufrieden, und ich war nicht Willens andere zu tun, die Sache zerschlug sich also und ich wartete nun, was endlich aus mir werden dürfte; endl ich bin ich zum Besitz ei nes kleinen kulmischen Gütchens von 5/4 Huben kulmisch gel angt und befi nde mich nun an dem Ziel mei ner Wünsche. Ob ich nun ausdauern werde kann nicht mehr die Frage sein, denn es ist das letzte, war ich wollte, und ich habe auch geheiratet, also ist mein Schicksal gänzlich entschieden. Jetzt stehe ich, meiner Meinung nach auf der höchsten Stufe, auf welcher ein Sterblicher stehen kann, denn es läßt sich in der Tat nichts Größeres denken, als unabhängig von den Launen Anderer, das Land zu bauen; ich fühle dieses Glück ganz und würde meine Lage mit keiner andern vertauschen. Mein Leben gleicht einem Roman, wo ich mir zum Tei l v iele Szenen selbst schuf, zum Teil auch in welche wider mein Wissen und W i l len versetzt wurde; i ndessen kann ich aus al len Nutzen ziehen und, wo ich gefehlt habe , jetzt verbessern ; in meinem gegenwärtigen Wirkungskreise kommt mir sehr vieles zu statten, woran ich vorher nicht gedacht. Bei meinem Aufenthalt in Rußland lernte ich so manches Nützl iche für

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Ökonomie und Menschenkunde, hauptsächlich lernte ich daselbst in den Gefängnissen der Inquisition Ihre Schriften kennen, welches für mich das größeste Glück ist, denn ohne diesen Leitfaden wäre ich ein bloßer fragmentarischer Mensch geblieben, und nie das geworden, was ich schon geworden bin, und insonderheit noch werden kann; an gutem Willen fehlt es mir nicht und durch mancherlei Mißgriffe bin ich eines besseren belehrt, so daß ich jetzt weniger fehlen werde, als ich gefehlt habe; ob ich gleich gar wohl weiß, daß Vollkommenheit eine Idee ist, zu welcher nur Annäherung, aber nie gänzl iche Erreichung sich denken läßt, so bin ich gleichwohl überzeugt, daß der, welcher sich dieselbe zum Ziel gesteckt, immer weniger der Gefahr ausgesetzt ist zu straucheln. Mein Aufenthalt und meine Beschäf­ tigung in Berlin ist für mich auch von großem Nutzen sowohl in praktischer als technischer Rücksicht, und nie werde ich es bedauern diese Laufbahn gemacht zu haben. Gerne würde ich noch mehr schreiben, allein was soll ich weiter sagen? und wenn ich gleich noch mancherlei zu sagen hätte, so ist es leicht möglich, daß der Brief für D ieselben zu lang würde, ich breche daher ab und bitte Sie - im Fall es Gesundheit und anderweitige Verhältnisse erlauben - mir auch nur durch ein paar Zeilen, von Dero Gesundheits­ umständen Nachricht zu geben. Leben Sie woh l , edler Mann, recht wohl und seien Sie versichert, daß ich nicht aufhören werde zu sein Dero ganz ergebner Freund und Diener Hahnrieder.

Vorbemerkungen zu den akademischen Einladungsschriften

Die akademischen Einladungsschriften waren sozusagen persönliche Vor­ lesungsverzeichnisse, die ein Privatdozent im eigenen Interesse zur Wer­ bung drucken l assen konnte. Von dieser Freiheit wurde namentlich dann gerne Gebrauch gemacht, wenn es sich um neue Lehrgegenstände oder eine neue Lehrart handelte. Der Anzeige war auch meist eine Kostprobe aus dem einen oder anderen Lehrgebiet beigefügt. H iernach konnten sich die Studenten für die Annahme der einen oder andern Vorlesung entscheiden. Der Privatdozent aber hatte auch die Mögl ichkeit das gedruckte Stück in erweiterter Form erscheinen zu J assen und so die Lehrprobe zu einer Forschungsprobe für die Gelehrtenwelt zu steigern. Diese Metamorphose der Einladungsschrift kam auch bei Kant vor. Sein letzter Einladungsdruck verriet nur in seinem Anfangssatz den eigentl ichen Zweck. Darum war es leicht, den einen Satz zu streichen und das Ganze mit Zusätzen als selbständigen Zeitschriftenbeitrag oder als selbständi ge Schrift zu ver­ breiten. Die k leinen vorkritischen Kantdrucke Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren , 1 762, und Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen , 1 763 , haben durc haus den Charakter von Lehrproben. In dem erstgenannten Druck wird ja auch und zwar gegen Schluß von § 5 ausdrücklich bemerkt: »Meine Absicht ist nur, Rechenschaft zu geben, weswegen ich in dem logischen Vortrag, in welchem ich nicht alles meiner Einsicht gemäß einrichten kann, sondern manches dem herrschenden Geschmack zu Gefal len tun muß, in diesen Materien nur kurz sein werde, um die Zeit, die ich dabei gewinne, zur wirklichen Erweiterung nützlicher Einsichten zu verwenden.« Durch Weg­ l assung einer Zeitangabe für das Semester mit der gekürzten Schlußlehre (Syllogistik) bei dem logischen Lehrvortrag gewann die kleine Schrift eine amphibiäre Existenzform. Sie konnte sowohl für jedes spätere Logik­ semester, das periodisch Sommer für Sommer wiederkehrte, als Einladungs­ schrift wi rken und daneben auch als selbständiger Sonderdruck, Leser finden. Noch interessanter ist der zweite Fall einer verkappten Einladungs­ schrift , der i n dem Versuch den Begriff der negativen Größen in die Welt­ weisheit einzuführen , 1 763 vorliegen dürfte. Das Sommersemester 1 763 war das letzte Semester, für das Kant »Mathematik« angekündigt hat. Seitdem ist nach den Faku ltätsakten n iemals mehr eine mathematische Vorlesung von ihm auch nur angezeigt worden. Die Mathematik ver­ schwand also vollständig aus seinem Lehrbetrieb.

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Vorbemerkungen

Im Sommer 1 763 wollte Kant (nach den Fakultätsakten) neben Mathe­ matik noch Logik und Physik lesen. Sol lte diese Zusammenstellung nicht einen besonderen Anreiz zu begriffl ichem Austauschverkehr abgegeben haben? Kant nennt als Anreger seiner kleinen Schrift über die negativen Größen den Göttinger Mathematiker Kästner, dessen A nfangsgründe der A rithmetik, sogar mit genauer Seitenangabe in einer Fußnote vorkommen. Inhaltlich bringt diese kleine Schrift nicht nur philosophische, sondern auch naturwissenschaftliche Anwendungen. Sie eignet sich also durchaus zur Werbung für alle drei angekündigten Fächer, die Kant i n dem letzten mathematischen Lehrsemester behandeln wollte. D ie erste unverkennbare Einladungsschrift darf als ein kostbares Kleinod gerühmt werden, M L Kants neue A nmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde, wodurch er zugleich zu seinen Vorlesungen einladet vom 25. Apri l 1 756. D ie mitgeteilte Probe ist ein Meisterstück eigener Forschung. Es wird nicht bloß ein glücklicher Einfal l vorgetragen. Kant weiß seine neue Einsicht aus sorgfältiger Prüfung der maßgebenden Faktoren der Winde zu rechtfertigen. Das Stoffgebiet, dem sein meteoro­ logischer Fund angehört, war wohl schon sein Geographiekolleg, das in dem gleichen Semester zum ersten Male wirklich gelesen wurde. Sein nach­ maliger Biograph Borowski hat dieses erste Kantische Geographiekolleg nachweislich gehört und damit seine historische Realität begl aubigt. Unter den fünf »Anmerkungen« , in welche die Schrift gegliedert ist, muß die dritte besonders beachtet werden. Sie spricht das Drehungsgesetz der Winde aus. Mit stolzer Bescheidenheit fügt Kant nur kurz hinzu: »Diese Rege l , welche so viel mir wissend ist, noch niemals angemerkt worden, kann als ein Schlüssel zur allgemeinen Theorie der Winde angesehen werden.« Aber im »Beschluß« bricht doch die Forscherfreude unverhohlen durch. Sie ist gedämpfter als die Verherrlichung des Forscherglücks in den j ubelnden Anapästen, die Euripides dichtete. Aber ihre schlichte Maj estät wirkt ungleich tiefer und darum nachhaltiger. »Es ist eine Quelle eines nicht geringen Vergnügens, wenn man, durch die obigen Anmerkungen vor­ bereitet, die Karte ansieht, worauf die beständigen oder periodischen Winde anzutreffen sind, denn man ist im Stande, mit Hinzuziehung der Regel , daß die Küsten der Länder die Richtung der Winde nahe bei denselben ihnen parallel machen, von allen Winden Grund anzugeben.« Aus den angehängten Ankündigungen über den Lehrbetrieb geht hervor, daß er im Physikunterricht den Vorzug der neueren durch »glückliche Anwendung der Geometrie« ausgezeichneten Behandlung in deutlichen und vollständigen Beispielen beweisen wolle. Demnach ist anzunehmen, daß das Methodenproblem obenan stehen soll und zugleich eine sorgfältige quellentreue Verwertung der Physikgeschichte angestrebt wird. Beides ist für jedes gründliche Physikstudium mustergültig, auch heute noch. Die

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Bemerkungen über die Schwierigkeiten, die dem Baumgartensehen Hand­ buch der Metaphysik anzuhaften scheinen, l assen durchblicken, daß der Metaphysiklehrer selbst daran Freude hat, Schwierigkeiten zu überwinden und andern in solcher Lage zu helfen. Die zweite Einladungsschrift für das Sommersemester 1 75 7 ist schon durch den Titel hinreichend gekennzeichnet. Diesmal hat das pädagogische Interesse den Vortritt. Es wird der Unterrichtsplan bestimmt, zumeist stichwortmäßig. Auffallen könnte eine gewisse Auszeichnung des Mineral­ reichs vor den andern Naturreichen. Bekanntlich hat Kant später, aber nur ein einziges Mal ein besonderes Mineralogie-Kolleg angezeigt und auch tatsächlic h gehalten. Es heißt j edenfalls: »Das Mineralreich, dessen ange­ nehmste und auf den menschl ichen Nutzen oder Vergnügen am meisten einfließende Merkwürdigkeiten auf eine historische und philosophische Art durchgegangen werden. « In den einleitenden Ausführungen, die dem Plan vorausgeschickt sind, betont Kant ausdrücklich, die auf »Vollständigkeit und philosophische Genauheit in den Teilen« verzichtende Art seiner Physi­ schen Geographie. Ihr eignet die »vernünftige Neubegierde eines Rei­ senden, der al lenthalben das Merkwürdige, das Sonderbare und Schöne aufsucht, seine gesammelten Beobachtungen vergleicht und sei nen Plan überdenkt.« Daß der Magister mit dem heroischen Vorsatz seine Kräfte an Baumgartensehen Schwierigkeiten zu üben nicht durchdrang, zeigt die Ankündigung, Metaphysik werde nach dem leichteren Baumeister gelesen. D ieser Wechsel sei schon im vorigen Semester auf Wunsch einiger Herren zu deren Befriedigung vorgenommen worden. Die dritte Einladungsschrift ist M Immanuel Kants neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft, wodurch zugleich seine Vorlesungen, in diesem halben Jahre angekündigt werden, den 1. April 1 758. Neu ist der Hinweis auf die »polemische« Betrachtung von vorher abgehandelten Sätzen. »Dies ist meiner Meinung auch eins der vorzügl ichsten Mitte l , zu gründlichen Einsichten zu gel angen.« Offenbar denkt hier unser Magister an einen engeren Zusammenhang der Übungsstunden mit den Vorlesungen. Die vierte Einladungsschrift, Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus, wodurch zugleich seine Vorlesungen auf das bevorstehende halbe Jahr angekündigt werden . D iese kleine Schrift entstand durch Zusammenstoß mit dem neuen M. D aniel Weymann. D ieser hatte als Anhänger von Crusius De mundo non optimo disputiert. Kant hatte sich geweigert als Opponent bei seiner Disputation zu fungieren, verteilte dagegen an seine Zuhörer jene akademische Einladungsschrift über den Optimismus. Er bekämpfte nicht etwa Weymann sondern Crusius. Seine ganze Untersuchung operiert methodologisch und ist i nsofern beachtl ich. Unverständl ich ist Kants spätere Verachtung d ieser Schrift. Er wünschte

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Vorbemerkungen

sogar ihre Kassation, wenn man sie noch auftreiben könnte. Ob ihm nur das Bekenntnis zum Optimismus n icht mehr tragbar erschien? Viel leicht war ihm die Erinnerung an die Weymann-Affaire pei nlich. Ü brigens urtei lte selbst Hamann, dieser Feinschmecker in paradoxen Schriften, recht ab­ fällig. Die Mitteilung über die Rückkehr zum schwierigen Baumgarten ist erfreulich. D ie fünfte Einladungsschrift ist die reichhaltigste der ganzen Schriften­ rei he. Sie weiht uns mit prophetischem Ernst in die Geheimnisse und Pfl ichten der philosophischen Geistespflege ein. Es wird ein aufgestuftes Verfahren empfohlen, das dem natürl ichen Entwicklungsgang der Erkennt­ nis entspricht. »Verstand« , »Vernunft« und »Wissenschaft« bezeichnen die drei Stufen, in denen sich die Ausbildung vollzieht. Am wichtigsten ist die berühmte Grundrege l , daß der Schüler »nicht Gedanken lernen, sondern denken lernen soll.« Sie gilt auch für das philosophische Studium. Und gera­ de diese Anwendung hat Kant selbst ausdrüc klich betont. »N icht Phi loso­ phie lernen, sondern philosophieren lernen ! « Darauf kommt es an. Der me­ thodische Geist, der Kants gesamte Forschung regiert, erweist sich auch im Lehrbetrieb als oberster Herr. Ü ber die Stellung der physischen Geographie in seinem Lehrprogramm gibt der Philosoph gegenüber den früheren Erklä­ rungen eine wesentlich vertiefte Ansicht kund. Dieses Fach wird gerade als phi losophische Vorschule aufgefaßt und demgemäß im Lehrbetrieb be­ handelt. Hierbei ist bezeichnend, daß die physischen Merkwürdigkeiten der Erde künftig abgekürzt werden sollen, um für moralische und politische Geographie mehr Raum zu haben. Die für Handel und Gewerbe bedeut­ samen Naturmerkwürdigkeiten sollen gleichfalls Berücksichtigung finden. Die Geographie gilt dem Philosophen als Fundament aller Geschichte. Noch eine sechste Einladungsschrift hat Kant herausgegeben. Sie führt den Titel : Von den verschiedenen Rassen der Menschen. Zur Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie im Sommerhalbjahr 1 775. Nochmals wird der B i ldungswert der physischen Geographie erwogen. Sie gehört, so meint Kant, zu jenem nütz l ichen akademischen Unterricht, der eine »Vorübung in der Kenntnis der Welt« bedeutet. Sie erfüllt aber jetzt nicht mehr den ganzen Zweck, sondern nur die eine Hälfte. Die Welt­ kenntnis umfaßt nämlich zwei Felder, die Natur und den Menschen. Nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbare Kenntnisse sind in beiden Feldern zu erwerben. Dazu ist ein »vorläufiger Abriß« erfor�erl ich, »um alle künftigen Erfahrungen darin nach Regeln ordnen zu können. « Nunmehr gibt Kant d i e Zweigl iederung seiner allgemeinen Bi ldungs­ vorlesungen bekannt, die er fortan regelmäßig im Lehrbetrieb praktisch durchführte. »Beide Stücke ( ' Natur' und ' Mensc h ' ) müssen (in dem ' vorläufigen Abri ß ' ) kosmologisch erwogen werden , nämlich nicht nach demj enigen,

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was ihre Gegenstände im einzelnen Merkwürdiges enthalten (Physik und empirische Seelenlehre) , sondern was ihr Verhältnis im Ganzen, worin sie stehen und darin ein j eder selbst seine Stelle einnimmt, uns anzumerken gibt. Die erstere Unterweisung nenne ich physische Geographie und habe sie zur Sommervorlesung bestimmt, die zweite Anthropologie, die ich für den Winter aufbehalte.«

Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie nebst dem Anhange einer kurzen Betrachtung über die Frage: ob die Westwinde in unseren Gegenden darum feucht seien, weil sie über ein großes Meer streichen? 1 757 Der vernünftige Geschmack unserer aufgeklärten Zeiten ist vermutlich so al lgemein geworden , daß man voraussetzen kann, es werden nur Wenige gefunden werden, denen es gleichgültig wäre, diejenigen Merkwürdigkeiten der Natur zu kennen, die die Erdkugel auch in andern Gegenden in sich faßt, welche sich außer ihrem Ges ichts kreise befinden. Es ist auch für keinen geringen Vorzug anzusehen, daß die leichtgläubige Bewunderung, die Pflegerin unendl icher Hirngespinste, der behutsamen Prüfung Platz gemacht hat, wodurch wir in den Stand gesetzt werden, aus beglaubigten Zeugnissen sichere Kenntnisse einzuziehen, ohne in Gefahr zu sein , statt der Erlangung ei ner richtigen Wissenschaft der natürlichen Merkwürdig­ keiten uns in einer Welt von Fabeln zu verirren. D ie Betrachtung der Erde ist vornehml ich dreifach. Die mathematische sieht die Erde als einen beinahe kugelförmigen und von Geschöpfen leeren Weltkörper an, dessen Größe, Figur und Zirkel, die auf ihm müssen gedacht werden, sie erwägt. Die politische lehrt die Völ kerschaften, die Gemein­ schaft, die die Menschen untereinander durch die Regierungsform , Hand­ lung und gegenseitiges Interesse haben , die Rel igion, Gebräuche usw. kennen. Die physische Geographie erwägt bloß die Naturbeschaffenheit der Erdkugel und was auf ihr befindlich ist: die Meere, das feste Land, die Gebirge, Flüsse, den Luftkreis, den Menschen , die Tiere, Pfl anzen und Mineralien. Alles dieses aber nicht mit derjenigen Vollständigkeit und philo­ sophischen Genauheit i n den Tei len, welche ein Geschäft der Physik und Naturgeschichte ist, sondern mit der vernünftigen Neubegierde eines Rei­ senden, der al lenthalben das Merkwürdige, das Sonderbare und Schöne aufsucht, seine gesammelten Beobachtungen vergleicht und seinen Plan überdenkt. Ich glaube bemerkt zu haben, daß die ersten zwei Gattungen der Erd­ betrachtung Hilfsmittel genug für sich finden, wodurch ein Lernbegieriger auf eine so bequeme als hinreichende Art fortzukommen im Stande ist. Allein eine vollständige und richtige Einsicht in der dritten führt mehr Bemühungen und Hindernisse mit sich. Die Nachrichten, die hiezu dienen, sind in vielen und großen Werken zerstreut, und es fehlt noch an einem Lehrbuche, vermittelst dessen d iese Wissenschaft zum akademischen Ge­ brauche geschickt gemacht werden könnte. Daher faßte ich gleich zu Anfan­ ge meiner akademischen Lehrstunden den Entschluß, diese Wissenschaft in besondern Vorlesungen nach Anleitung ei nes summarischen Entwurfes vorzutragen. D ieses habe ich in einem halbj ährigen Col legia zur Genug-

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tuung meiner Zuhörer geleistet. Seitdem habe ich meinen Plan ansehnlich erweitert. Ich habe aus al len Quellen geschöpft, al len Vorrat aufgesucht und außer demjenigen, was die Werke des Varenius, Buffon und Lulof von den allgemeinen Gründen der physischen Geographie enthalten, die gründl ich­ sten Beschreibungen besonderer Länder von geschickten Reisenden, die Allgemeine Historie aller Reisen , die Göttingisehe Sammlung neuer Reisen , das Harnburgische und Leipziger Magazin , die Schriften der Akademie der Wissenschaften zu Paris und Stockholm u. a. m. durchgegangen und aus allem, was zu diesem Zwecke gehört, ein System gemacht. Ich liefere hier hievon einen kurzen Entwurf. Man wird urtei len können, ob es, ohne dem Namen eines Gelehrten Abbruch zu tun, erlaubt sei , in diesen Dingen unwissend zu sein.

Kurzer Abriß der physischen Geographie Vorbereitung ie Erde wird kürzl ich nach ihrer Figur, Größe, Bewegung und den Zirkeln, die wegen dieser auf ihr müssen gedacht werden, betrachtet, doch ohne sich in diejenige Weitläufigkeit einzulassen, die für die mathematische Geogra­ phie gehört. Alles dieses wird auf dem Globus und zugleich die Einteilung in Meere, festes Land und Inseln, die Proportion ihrer Größe, die Klimata, die Begriffe der Länge, der B reite, der Tageslänge und der Jahreszeiten kürzlich gewiesen. Abhandlung L Allgemeiner Teil der physischen Geographie Erstes Hauptstück: Vom Meere Dessen Einteilung in den Ozean, die mittelländischen Meere und die Seen. Von Archipelagis. Von den Busen, Meerengen, Häfen, Ankerplätzen. Vom Boden des Meeres und dessen Beschaffenheit. Von der Tiefe desselben in verschiedenen Meeren gegeneinander verglichen. Vom Senkblei und der Taucherglocke. Methoden, versunkene Sachen in die Höhe zu bringen. Vom Druck des Meerwassers. Von seiner Salzigkeit. Verschiedene Meinun­ gen der Ursache derselben. Zubereitung des Meersal zes. Methoden, See­ wasser süß zu machen. Von der Durchsichtigkeit, dem Leuchten, den Farben desselben und den Ursachen ihrer Verschiedenheit. Von der Kälte und Wärme desselben in unterschiedlichen Tiefen. Ob das Weltmeer in allen seinen Teilen gleich hoch stehe. Warum das Meer von den Flüssen nicht voller werde. Ob Meere und Seen eine unterirdische Gemeinschaft haben. Bewegung des Meeres durch die Stürme. Wieweit sich d ieselbe i n der Tiefe erstrecke. D ie Meere u n d Seen, d i e a m unruhigsten sind. Von der Ebbe und Flut. Gesetze derselben und Ursache. Abweichung von diesen Gesetzen. Allgemeine Bewegung des Meeres. Wie diese durch die Küsten

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und Felsen anders besti mmt werden. Von den Meerströmen. Von Meer­ strudeln. Ursachen derselben. Von dem Zuge der Wasser in den Meer­ engen. Vom Eismeer. Schwimmende Eisfelder. Nordisches Treibholz. Einige andere Merkwürdigkeiten. Von Klippen und Sandbänken. Von inländischen Seen und Morästen. Merkwürdige Seen, wie der Zirknitzer und andere.

Zweites Hauptstück: Geschichte des festen Landes und der Inseln Von den unbekannten Ländern, die es entweder gänzlich oder zum Tei l sind. D i e Berge, Gebirge, das feste Land und d i e Inseln in einem systema­ tischen Begriffe betrachtet. Von Vorgebi rgen, Halbinseln, Landengen. Verglichene Höhe der namhaftesten Berge über den ganzen Erdkreis. Al lerlei Beobachtungen auf ihren Spitzen in verschiedenen Welttei len. Vom Gletscher oder dem schweizerischen Eismeere. Methoden, ihre Höhe zu messen. Von den natürlichen und künstlichen Höhlen und Klüften. Von der Struktur des Erdklumpens. Von den Stratis ihrer Materie, Ordnung und Lage. Von den Erzgängen. Von der Wärme, Kälte und der Luft in ver­ schiedenen Tiefen. Historie der Erdbeben und feuerspeienden Berge auf der ganzen Erdkugel . Betrachtung der Inseln, sowohl derer, die gewiß als solche erkannt werden, als von denen es zweifelhaft ist. Drittes Hauptstück: Geschichte der Quellen und Brunnen Verschiedene Hypothesen von ihrem Ursprung. Beobachtungen, daraus derselbe kann erkannt werden. Quellen, welche periodisch fl ießen. Verstei­ nernde, mineralische, heiße und überaus kalte Quellen. Vom Zementwasser. Entzündbare Brunnen. Vom Petroleo und Naphta. Von Veränderung, Ent­ stehen und Vergehen der Quellen. Vom Graben der Brunnen. Viertes Hauptstück: Geschichte der Flüsse und Bäche Ursprung der Flüsse. Vergleichung der merkwürdigsten auf der Erde in Ansehung der Länge ihres Laufs , ihrer Schnelligkeit, der Menge ihres Wassers, von ihrer Richtung, der Größe ihres Abhanges , Aufschwel lung, Überschwemmung, Dämmen und Buhnen, den berühmtesten Kanälen. Von solchen, die sich unter der Erde verbergen und wieder hervorkommen. Von Flüssen, die Goldsand führen. Methode, es abzusondern. Von der unter­ schiedenen Schwere des Wassers der Flüsse. Fünftes Hauptstück: Geschichte des Luftkreises Höhe der Atmosphäre. Die drei Regionen derselben. Vergleichung der Eigenschaften der Luft in verschiedenen Weltgegenden, in Ansehung der Schwere, Trockenheit, Feuchtigkeit, Gesundheit. Betrachtung ihrer Eigen-

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schaft in großen Höhen und Tiefen. Wirkung der Luft auf das Licht der Sterne in verschiedenen Ländern. Geschichte der Winde Die vornehmsten und geringeren Ursachen derselben. Ihre Eintei lung nach den Weltgegenden. Winde von verschiedenen Eigenschaften der Trocken­ heit, Feuchte, Wärme, Kälte und Gesundheit. Vom Passatwinde, dessen allgemeinen und besonderen Gesetzen, nach Beschaffenheit der Erdstriche. Von den Moussons. Von den abwechsel nden See- und Landwinden. Von denen, die in ei ner Gegend die mehreste Zeit herrschen. Von der Schnel­ ligkeit der Winde. Von den Windsti llen, den Stürmen, Orkanen, Typhons, der Wasserhose und Wolkenbrüchen, nach den Wel tgegenden, worin sie herrschen, ihren Gesetzen und Ursachen erwogen. Die Winde in verschie­ denen Erhöhungen von der Erde miteinander verglichen. Kurze Betrach­ tung einiger besandem Luftbegebenheiten.

Sechstes Hauptstück: Von dem Zusammenhange der Witterung mit dem Erdstriche oder den Jahreszeiten in verschiedenen Ländern Worin der Winter in der heißen Zone bestehe. Warum nicht in allen Erdstrichen, die eben dasselbe Klima h aben, der Winter oder Sommer zu gleicher Zeit und auf g leiche Art geschieht. Woher der heisse Erdstrich bewohnbar sei. Aufzählung der Länder, die unter einem Himmelstriche l iegen, und doch i n Ansehung der Wärme und Kälte sehr unterschieden sind. Von der Kälte i n dem südlichen Ozean und der Ursache derselben. Von den Gegenden der größten Hitze und Kälte auf dem Erdboden, den Graden und Wirkungen derselben. Von Ländern, darin es niemals, und andern, darin es fast beständig regnet. Siebentes Hauptstück: Geschichte der großen Veränderungen, die die Erde ehedem erlitten hat a) Von den Veränderungen, die auf derselben noch fortdauern. Wirkung der Flüsse in Veränderung der Gestalt der Erde aus den Exemplen des Nils, Amazonenstroms, Mississippi und anderer. Wirkungen des Regens und der Gießbäche. Ob das feste Land immer erniedrigt, und das Meer nach und nach erhöhet werde. Von der Wirkung der Winde auf die Veränderung der Erdgestalt Von der Veränderung derselben durch Erdbeben. Durch den Menschen. Bestätigung durch Beispiele. Von der fortdauernden Verän­ derung des festen Landes in Meer und des Meeres in festes Land. Beob­ achtungen hiervon und Meinungen von den Folgen derselben. Hypothese des Linne. Ob Bewegungen der Erde, die tägliche sowohl, als die j ährliche, einer Veränderung unterworfen sind. b) Denkmale der Veränderu ng der Erde in den ältesten Zeiten. Al les feste Land ist ehedem der Boden des Meeres gewesen. Beweistümer aus

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den in der Erde und auf hohen Bergen befi ndlichen Muschelschichten, versteinerten oder in Stein abgeformten Seetieren und Seepflanzen. Beweis­ tümer des Buffon aus der Gestalt der Gebirge. Daß die Veränderung des festen Landes in Meer und des Meeres in festes Land in l angen Perioden oftmals aufeinander gefolgt sei, aus den Stratis, welche Überbleibsel des Seegrundes enthalten, und mit denen, so Produkte des festen Landes in sich schl ießen, abwechseln, bewiesen. Von unterird ischen Wäldern. Lage ihrer verschütteten Bäume. Woher in diesen Erdschichten mehrenteils von indi­ anischen Tieren und Gewächsen Ü berbleibsel anzutreffen seien. Beur­ teilung der sogenannten Spiele der Natur. Von den Steinen, welche eigent­ lich versteinerte Teile aus dem Tierreich sind. c) Theorie der Erde, oder Gründe der alten Geschichte derselben. Ob eine einzige al lgemeine Ü berschwemmung, wie die Noachische alle diese Veränderungen habe hervorbringen können. A l l gemeine Betrachtung der Gestalt des festen Landes, der Richtung und des Abhanges der Gebirge, der Landesspitzen und Inseln, aus deren Analogie auf die Ursache ihres Ursprungs und ihrer Veränderungen geschlossen wird. Fol gerung aus der Beschaffenheit der Erdschichten und dem, was sie in sich enthalten. Ob die Achse der Erde sich seit ehedem verändert habe. Beurteilung der Hypo­ thesen des Woodward , Burnet, Whiston, Leibniz, Buffon u. a. m. Resultat aus den verglichenen Beurteilungen.

Achtes Hauptstück: Von der Schiffahrt Von den Rhombis, der Loxodrome, der Schiffsrose, der Schätzung des Weges und Korrektion derselben. Von Erfindung der Länge und Breite. Prüfung des Grundes. andere Merkwürdigkeiten bei der Seefahrt. Von den merkwürdigsten Seereisen alter und neuer Zeit. Von der Vermutung neuer Länder, und den Bemühungen, sie zu entdecken.

JL Der physischen Geographie besonderer Teil

1 . Das Tierreich, darin der Mensch, nach dem Unterschiede seiner natür­ l ichen Bildung und Farbe in verschiedenen Gegenden der Erde auf eine ver.gleichende Art betrachtet wird; zweitens die merkwürdigsten Tiere, sowohl die auf dem Lande, als in der Luft und auch im Wasser sich auf­ halten, die Amphibien und merkwürd igsten Insekten, nach der Geschichte ihrer Natur erwogen werden. 2. Das Pflanzenreich, davon alle diejenigen Gewächse der Erde, die die Aufmerksamkeit entweder durch ihre Seltsamkeit oder besandem Nutzen vornehmlich auf sich ziehen, erklärt werden. 3. Das Mineralreich, dessen angenehmste und auf den menschl i chen Nutzen oder Vergnügen am meisten einfl ießende Merkwürd igkeiten auf eine historische und philosophische Art durchgegangen werden.

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Ich trage dieses zuerst i n der natürl ichen Ordnung der Klassen vor und gehe zuletzt in geographischer Lehrart alle Länder der Erde durch, um die Neigungen der Menschen, die aus dem Hi mmelsstriche, darin sie leben herfließen, die Mannigfaltigkeit ihrer Vorurteile und Denkungsart, insofern dieses alles dazu dienen kann, den Menschen näher mit sich selbst bekannt zu machen, einen kurzen Begriff ihrer Künste, Handlung und Wissenschaft, eine Erzählung der oben schon erklärten Landesprodukte an ihren gehö­ rigen Orten, die Luftbeschaffenheit usw. , mit einem Worte, al les, was zur physischen Erdbetrachtung gehört, darzulegen. A lles wird in schriftl ichen summarischen Aufsätzen, welche zur leich­ teren Wiederholung d ieser ohnedem durch ihre Annehmlichkeit die Auf­ merksamkeit genug unterhaltenden Wissenschaft dienen sollen, zusammen­ gefaßt werden. Wenn man die Ursache der Naturbegebenheiten, die von der H immels­ gegend und Beschaffenheit der Erdstriche abhängen, einsehen will, so läuft man oft Gefahr, sein System durch eine nicht vorhergesehene Instanz über den Haufen fal len zu sehen, wenn man nicht vorher verglichene Er­ scheinungen und Beobachtungen anderer Länder zu Rate gezogen hat. Es fäl lt j edermann leicht ein, die nasse Witterung, die uns die Westwinde zuziehen, der Lage unseres Landes zuzuschreiben, welchem ein großes Meer gegen Abend l iegt. Allein diese so leicht, so natürl ich schei nende Erklärung wird durch Vergleichung mit der Witterung anderer Länder sehr zweifelhaft gemacht, wo nicht gänzlich aufgehoben. Musschenbroeck, der sonst eben derselben Meinung zugetan ist, wird dennoch darin ein wenig ungewiß, wenn er erwägt, daß der Nordwind in den Niederlanden ein trockener Wind sei, ob er gleich über das große deutsche Meer und selbst über den nordischen Ozean streicht. Er schreibt seine Trockenheit der Kälte desselben zu. Allein wenn im Sommer die Sonne diesen Ozean hinlänglich erwärmt, so fällt dieser Vorwand weg, und der Wind bleibt dem ungeachtet trocken. Man findet aber in der physischen Geographie noch stärkere Gründe wider die gemeine Meinung. In dem ganzen indischen Ozean, vom Archipelagus der Phi l i ppinen an bis in das arabische Meer, herrschen das Jahr hindurch zwei Wechsel­ winde, der Nordostwind vom Oktober bis in den Mai, und der Südwestwind vom Mai bis in den Oktober. Der erste führt eine heitere Luft mit sich, und der letzte ist die Ursache der Regenmonate in diesen Ländern, obgleich einer sowohl, als der andere über große Meere streicht. Bei den phil ippi­ nischen Inseln i n Mindanao und den übrigen, wird dieses noch sichtbarer. Der östliche Mousson kommt über das fast grenzenlose sti lle Meer her, und bringt dennoch heiter Wetter zuwege. Dagegen der westliche Wechselwind, der über Gegenden streicht, die mit Inseln und Landesspitzen besäet sind,

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die Regenzeit mit sich führt. Kolbe führt an, daß auf dem Vorgebirge der guten Hoffnung, sowohl auf der westl ichen als östlichen dazu gehörigen Gegend, die Ostwi nde das trockene Wetter, die Westwi nde aber die nasse Jahreszeit zuwegebringen, obgleich nicht abzusehen ist, warum der West­ wind lediglich feucht sein sollte, da gegen Osten ein eben so weites Meer, als gegen Abend l iegt. In dem mexikanischen Meerbusen an der Landenge von Panama, in Cartagena und anderwärts wechseln, sowie im indischen Meere die Nordost- und Westsüdwestwinde die zwei Jahreshälften hin­ durch. Die ersten, welche man Brisen nennt, sind trocken und machen eine heitere Luft. Die letzten, welche man Vendavalen nennt, sind feucht und mit ihnen kommt die Regenzeit. Nun kommen aber die Nordostwinde, über den großen atlantischen Ozean, und sind nichtsdestoweniger trocken. Die Westsüdwestwinde aber können von keinem großen Striche des stil len Meeres herkommen, wei l in einer mittelmäßigen Entfernung vom festen Lande beständige Ostwinde diese See beherrschen. Auf der Fahrt, die die manHisehe Galione von Acapulco nach Manila anstellt, und da sie, um den Ostwind zu genießen, sich nicht weit vom Ä quator entfernt, findet sich fast beständig heiteres Wetter. Allein bei der Reise von Manila nach Acapulco, da sie auf eine gewisse Höhe über den nördlichen Wendezirkel steuert, fährt sie mit Hilfe der daselbst herrschenden Westwinde nach Amerika, und ist so gewiß, daselbst öftere Regen anzutreffen, daß sie sich auf diese l ange Fahrt nicht einmal mit Wasser versorgt, und alle verloren sein würden, wenn sie ausbleiben sol l ten. Nun sage man mir, wenn man die gemeine Meinung behauptet, eine begreifl iche Ursache, warum der Ostwind, der auf dem stil len Meere und zwar in der wärmsten Gegend streicht, allein trocken, der Westwind aber, der über denselben Ozean weht, feucht und regenhaft sein müsse. Mich dünkt, dieses sei mehr, als zureichend, den Gedanken zum wenigsten zweifelhaft zu machen, daß bei uns die Westwinde ihre Feuchtig­ keit von dem gegen Westen gelegenen Meere entlehnen. Es scheint vielmehr, daß die Westwinde in allen Gegenden der Erde eine Ursache der feuchten Witterung abgeben, ob ich gleich nicht in Abrede sein w i l l , daß die Beschaffenheit der Gegenden, darüber sie streichen, öfters diese Eigen­ schaft verringern könne, so wie in dem südlichen Tei le von Pers ien ge­ schieht, da die Südwestwinde, welche über die verbrannten Gegenden von Arabien ziehen, dürre und heiße Luft mit sich führen. Die Enge des .Raums hindert mich, die Ursache von dieser Eigenschaft der Westwinde zu erklä­ ren . Sollten nicht dieselben da sie dem allgemeinen und natü rlichen Zuge der Luft von Morgen gegen Abend, der i n dem v ierten Kapitel der physi­ schen Geographie erklärt wird, entgegenstreichen, eben um deswil len die Dünste zusammentreiben und verdicken, damit die Luft jederzeit erfüllt ist? Zum wenigsten, wenn man die Luft als ein Auflösungsmittel (menstruum)

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der Feuchtigkeit auf der Erde ansieht, so ist es nicht genug, sie mit dieser bis zur Sättigung angefüllt anzunehmen, wenn man erklären will, warum sie dieselbe fal len lasse, d. i . warum es regne, sondern man muß eine Ursache anzeigen, die sie niederschlägt (präcipitiert) , d. i. die die Luft nötigt, sie aus ihren Zwischenräumen fahren zu lassen, damit die Dünste sich vereinigen und herabfal len können.

M. Immanuel Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1 765-1 766 1 765 Alle Unterweisung der Jugend hat dieses Beschwerl iche an sich, daß man genötigt ist, mit der Einsicht den Jahren vorzueilen, und, ohne die Reife des Verstandes abzuwarten, solche Erkenntnisse erteilen soll, die nach der natürl ichen Ordnung nur von einer geübteren und versuchten Vernunft könnten begriffen werden. Daher entspringen die ewigen Vorurteile der Schulen, welche hartnäckiger und öfters abgeschmackter sind, als die ge­ meinen, und die frühkluge Geschwätzigkeit junger Denker, die bli nder ist, als irgend ein anderer Eigendünkel, und unheilbarer, als die Unwissenheit. Gleichwohl ist diese Beschwerlichkeit nicht gänzlich zu vermeiden, wei l in dem Zeitalter einer sehr ausgeschmückten bürgerl ichen Verfassung die feineren Einsichten zu den Mitteln des Fortkommens gehören und Bedürf­ nisse werden, die ihrer Natur nach eigentlich nur zur Zierde >zerstreut in seinen Urteilen« soll es heißen. Narr ist der, der beleidigend hochmütig ist, der einen größeren Wert in sich selbst setzt, als ihm zukommt. Man lacht ihn aus. Den größten Teil der Menschen könnte man eher Narren als Bösewichter nennen. Deswegen sagt ein Autor: ein Narr stößt den andern an den Kopf und stößt mit sei nem leeren Kopf seinen Bruder an. Tor ist der, der einen größeren Wert in D inge setzt, als ihnen zukommt. Dahin gehört z. E. aller Aufwand und Eitelkeit, auch das Verl iebtsein, denn Verliebtsein und Klugsein ist ein Widerspruch, wei l der Verliebte im Affekt ist und der Affekt den Menschen zum Toren macht. Ein Sonderling der sich klug dünkt und auf seine eigene Manier ein Tor ist, ist ein Geck und, wenn er j ung ist, ein Laffe. Letzterer bewundert al les und wird von allen be­ trogen. Ersterer aber, der sich einbildet klug zu sein, wird am Narrensei l geführt, verachtet u n d gering geschätzt, wei l er d as A lter entehrt. - Weis­ heit ist der Torheit, Klugheit der Narrheit entgegengesetzt. Ein Hochmütiger, der sich bl icken l äßt, handelt unklug. Er fordert von Andern Zeichen der Achtung und er zeigt Verachtung. Alle Hochmütigen sind daher generaliter Narren. Denn sie wollen ihrer Torheit gemäß, die sehr beleidigend ist, daß Andere sie hochschätzen sollen. Ein solcher Narr handelt seinem Zwecke zuwider. Denn indem er es sich merken läßt, was er verlangt, verdirbt er sein Spiel. Man kann sei nen Vorzug erreichen , wenn man sich demütig stellt, wenn man herablassend , bescheiden ist, weil man den Andern von sich nicht abzwingt, sondern ihnen vielmehr Gelegenheit gibt, ihr wertes Ich zu zeigen, wodurch der Eigenl iebe geschmeichelt und sie nicht gekränkt wird, so daß sie auch darauf denken , den, der sie vor­ zieht, auch andern vorzuziehen. (Anmerkung. Asiatische Völ ker haben sonderbare Meinungen über die Erde. Die Perser sagen, sie sei der Abtritt, wohin der Engel die Menschen einmal aus dem Paradiese gebracht, wo sie aber unglücklicherweise durch ein Versehen gebl ieben wären. Die Indier sagen, sie sei das Zuchthaus, wohin sie der böse Engel Moasor gebrac ht, um sie dadurch zu reinigen; sie wären ehedem bloß Geister gewesen, jetzt wäre aber der Körper ihr Fegefeuer, ergastulum.) Torheiten werden gar nicht bemerkt und machen beliebt. Ein muster­ hafter, fehlerfreier Mann ist nicht beliebt. Denn wir mögen gerne Torheiten sehen, um die unsrigen entgegenzuhalten. Plato sagt: wir l ieben nicht den Gast, der nichts vergiBt. Wenn ein Frauenzimmer sagt: Ich bin ein Narr, so

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ist das falsch. Wenn sie sagt »Närri n« , so ist dies mehr affektiert. Narr beim Mann ist schon mehr. Denn wenn einer sagt: Ich bin ein Narr, so nimmts man ihm sehr übel. Närrin und Törin wird beim Frauenzimmer immer für gleich genommen. Es kann auch daher kommen, daß man dem Frauen­ zimmer zuschreibt, daß es nicht solche Klugheit wie Männer besitze. NB. Da nun die Krankheiten des Gemüts abgehandelt sind, folgt jetzt noch etwas von den Fähigkeiten desselben. Von den Fähigkeiten des Gemüts. - Man nennt die Erkenntnisfähig­ keiten im gemeinen Redegebrauch Kopf, so wie man die menschlichen Begierden und Neigungen durch das Wort Herz anzeigt. Man gibt einem Menschen einen solchen Beinamen, der von dem Vermögen zu dem er insbesondere inkliniert, entlehnt ist, und so unterscheidet man die Men­ schen ihren Gemütsfähigkeiten nach in witzige, kluge, findige, vorsichtige, verständige, zerstreute Köpfe , je nachdem eine unter den andern vorsteht, dem Obj ekte oder den Wissenschaften nach in mechanische, poetische, mathematische, philosophische, oder auch empirische Köpfe. Das Studium der Gemütsfähigkeiten eines jeden Menschen ist von der äußersten Wichtig­ keit, und es ist belohnend genug, zu untersuchen, was für Gemütsfähig­ keiten oder Kräfte dazu erfordert werden, einen Kopf oder eine Fähigkeit auszumachen. Es ist ein Mann von Kopf weniger, als der Mann von Geist. Der erstere weiß sich in al les zu finden , der letztere aber kann selbst erfinden. Kopf setzt man dem Pinsel entgegen. D ieser Ausdruck »Pinsel« ist von den Kleckmalern hergenommen, die nichts weiter können, als den Pinsel mechanisch führen. Der »Kopf« denkt selbst, der »Pinsel« ahmt nach. Es sind aber die meisten Menschen so beschaffen, daß sie nachahmen müssen. Dieses ist nicht Eingeschränktheit, sondern der Gebrauch des Verstandes und der Vernunft, insofern er fehlerhaft ist. - Es kommt beim Kopf am mehrsten auf Proportion an. Wenn man einen Kopf tadelt, so bezieht es sich nicht auf die einzelnen Erkenntnisse, sondern nur auf Proportion. Mancher würde ein guter Kopf sei n, wenn er nicht zu witzig wäre. Unter Kopf verstehen wir den, der zu allem fähig ist, er muß nicht das vorziehen, was nicht zu seinem Zweck gehört. Es ist besser, auf einer niedrigen Stufe Lob, als auf einer hohen Unehre zu erlangen. - Für einen Lehrer wäre es gut, wenn er die Fähigkeiten, die er zu einer Sprache hat, nicht so sehr als die andern kultivieren möchte, die nicht so groß zu einer Sache sind, um eine Proportion hervorzubringen. - Manche wissen sich mehr als Andere in Dinge zu bequemen. Sie können z. E. durch ein Mikro­ skopium mehr sehen und entdecken, als Andere. Dagegen besitzen wieder Andere das Talent, bessere Methoden zu erfinden. Durch d iese letztere Eigenschaft zeichnen sich vorzüglich die Schweizer aus. Viele B auern unter ihnen kann man mit Recht eleves de Ia nature nennen. Ohne je Unterricht empfangen zu haben, machen sie die geschicktesten Kunstwerke, z . E.

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B rücken über reißende Ströme, welche sie ganz selbst ausgedacht hatten. Ein von Sulzer dem verstorbenen König Friedrich II. empfohlener Schwei­ zer (mit Namen Hohlfeld) erfand ein Klavier, wobei durch eine Walze alles, was darauf phantasiert wird, ziemlich leserl ich auf Papier geschrieben wurde. Empirischer Kopf - ein solches besonderes Talent, Beobachtungen, Erfahrungen anzustellen. Mancher Mensch hat einen guten medizinischen Kopf. Hierzu gehört aber z. E. der Geist der Beobachtung und gesunder Verstand, der zugleich mitbeobachtet, d. h. ein empirischer Kopf. Dazu gehört eben nicht Feinheit der Vernunft, um in abstracto urteilen zu können (welches jedoch auch gut ist) , sondern er muß die Umstände und ihre Ver­ knüpfung untersuchen, um zu bemerken, was der Kranke für eine Krankheit hat. Als Kar! VI. gestorben war, stritten die Ä rzte noch, was er für eine Krankheit gehabt habe, und so geschieht es noch oft. Aber zum empirischen Kopf gehören nicht nur gute Sinne, sondern auch das Vermögen zu ver­ gleichen, also ein ausgebreiteter sensitiver intuitus. Er muß ein gut Ge­ dächtnis haben, sich der vorigen Umstände des Kranken erinnern zu können und sich auf viele andere Fälle zu besinnen. Wir finden in dem Harnburgi­ schen Magazin ein vortreffl iches Beispiel des Nutzens eines empirischen Kopfs. Es soll eines Bauern Sohn in S achsen eine so sonderbare Krankheit gehabt haben, daß er ganz ausgetrocknet und wenn er gegangen , alle Glieder an seinem Leibe geklappert haben. Die Medici stellten nun über die Art seiner Krankheit und über die Mittel , wie sie sie heben könnten, eine Beratschlagung an. Endlich erklärten sie sich, daß die Krankheit von einer Vertrocknung derjenigen Säfte herrühre, die sich in den Muskeln befänden und durch die die Gliedmaßen beisammen erhalten würde. Die Frage war aber nun, wie sie diesen Saft erweichen und wieder herstellen sollten. Man sann lange nach. Endlich besann sich ein empirischer Kopf auf die Erfah­ rung, daß sich das Quecksilber mit Speichel vermischen ließe und eine zähe Materie ergäbe. Hieraus schloß er, daß durch solche merkurialischen Mittel auch vielleicht die Säfte ihre vorige Flüssigkeit wieder erhalten könnten, das Gliederwasser wieder zu verschaffen. Er applizierte Merkurialsalbe und stel lte diesen kranken Menschen völlig wieder her. Hieraus l äßt sich nun erklären, wie Ä rzte mit wenig Theorie viel glückl iche Kuren machen können. Der Arzt also, zu dem ich Zutrauen habe, braucht von der Struktur des menschl ichen Körpers nicht so große Erfahrung zu haben, denn d iese ist sehr klein und die Erkenntnis sehr eingeschränkt, so hoch sie auch die Ä rzte treiben. Selbst Hippokrates, der an der Spitze der Ä rzte steht, und dessen Asche mit Recht von allen verehrt wird , und der so glücklich in seiner Praxis war, wußte nichts vom Kreislauf des B luts. Gute historische Kenntnisse können nebst einer sorgfältigen Beobachtung mehr dienen, als wenn einer eine Krankheit a priori nach sei nem System kurieren wollte,

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denn der menschl iche Körper sol l sich da nach dem System des Arztes, das er im Kopf hat, richten. Es ist daher besser, sich einem empirischen Arzt anzuvertrauen, als einem rationalen , der nur vernünftelt. Der empirische Kopf untersucht erst die Natur der Krankheit und dann kuriert er, da hin­ gegen derjenige Arzt, der viel Theorie hat, alle Kranken a priori heilen will, welches ihm denn oft fehlschlägt. Es wäre überhaupt nützlich, wenn das Genie eines jungen Menschen erst wohl probiert würde, denn die Wissenschaften sind sehr unterschieden und ei ner ist zu dem, der Andere zu j enem aufgelegt. So wird zur Mathematik ein anderer Kopf, als zur Phi losophie erfordert. Ein mathematischer Kopf taugt nicht zur Philosophie. Die Philosophie ist eine Wissenschaft des Genies , die Mathematik eine Kunst. Sie kann ordentlicherweise als ein Handwerk erlernt werden, und man kann es darin sehr hoch bringen, wenn man auch nicht selbst erfindet. Man braucht in der Mathematik nicht Conte­ nance zu haben, sondern Kopf, auf eben derselben Sache nur lange zu haften und ein gut Gedächtnis, damit man die Aufgaben im Kopfe behalte. Man muß dabei das Spiel des Witzes hemmen können, damit er nicht im Nachdenken störe. Ja es ist zuweilen gut, wenn ein Mathematicus einen stumpfen Kopf hat, und ob es gleich auch Genies darin gibt, so fließt dies doch aus einer ganz andern Quelle und gehört nicht wesentlich zum Studio der Mathematik. Hingegen wird zu einem philosophischen Kopf durchaus Witz erfordert, damit er die Sache von allen Seiten betrachten, auf die Folgen sehen und diese untereinander vergleichen könne. In der Mathe­ matik sind die einfachsten Begriffe von Punkten, Linien usw. die leich­ testen. In der Phi losophie aber die schwersten. Auch ist in der Philosophie notwendig, daß die gesunde Vernunft immer dem feinem Verstande zur Seite gehe und ihn kontrolliere. In der Philosophie geht das Concretum vor dem Abstracto, in der Mathematik das Abstractum vor dem Concreto. Und in der Phi losophie kann ich mir eine Sache nicht in abstracto denken, sondern ich muß erst einen Fall in concreto annehmen. Wenn man sich also in der Philosophie einen allgemeinen Begriff von der B i l l igkeit machen w i l l , so muß man sich einen Fal l in concreto denken und die B i l ligkeit davon abstrahieren. Z. E. ich habe bei einer Sache mehr Arbeit gehabt, als ich vorher glaubte, so habe ich zwar mehr verdient, als ich mit dem Andern bedungen habe, er darf mir aber nicht mehr geben, sondern wird es nur aus B i l ligkeit tun können. Die Mathematik redet erst von einer aufgerichteten Linie und appli ziert sie hernach auf Berge und kann also die Sache nicht zuerst in concreto betrachten, sondern in abstracto. D ie Mathematik sieht nicht erst auf die Materie einer Sache. Der Philosoph aber, wenn er die Ideen der Flüssigkeit abstrahieren will, muß sich erst mit den Eigenschaften des Wassers oder einer anderen flüssigen Materie bekannt machen. Was den poetischen Kopf betrifft, so differiert dieser von allen unge-

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mein. Denn er ist schöpferisch. Diej enigen aber, die schon selbst schaffen, bekümmern sich nicht viel um Geschöpfe, die schon da sind. Wenn aber Menschen schaffen, so muß etwas herauskommen, was mit der Anderen Schöpfung gar nicht stimmt. Ein Poet muß an die Stelle der Sachen Schat­ ten setzen können. Denn Schatten kann er erschaffen. Man sehe Mi ttons Reise des Engels. Beim Poeten kommen nur Manier, Art und Weise der Sachen vor, nicht aber d ie Sachen selbst, es sind nur Schattenbilder der­ selben. Er ahmt die Stimme eines Tugendhaften nach, ohne selbst tugend­ haft zu sein. Er scheint wie ein Held und hat doch kein Herz. Er ist wie jenes Tier, das al les i m Walde in Schrecken setzte, weil es sich in eine Löwenhaut gehüllt hatte, das man aber nachher an den langen Ohren er­ kannte. Ein Poet besitzt daher keinen einzigen Charakter, aber er weiß, alle anderen Charaktere nachzuahmen , so wie der Siegel lack an sich selbst keine sonderl iche Gestalt hat, aber geschickt ist, alle Gestalten anzuneh­ men. Der Poet muß also Witz und Leichtigkeit haben, seine eigene Den­ kungsart umzuwandeln und sich in die Stelle eines Andern zu versetzen. Er muß aber vor allen D ingen die Erscheinungen trennen, und wenn er von dem Ionern des Menschen redet, so muß es doch nur auf die inneren Er­ scheinungen ei ngeschränkt sein. Er muß auch Verg leichungen anstellen können, und man will beobachtet haben, daß ein Dichter, welcher dichten w i l l , auch die Miene desj enigen annehmen solle, dessen Sprache er redet. Und die Erfahrung lehrt, daß man den Charakter eines Menschen nicht voll­ kommen schildern könne, wenn man nicht auch seine Miene annimmt. Dies sieht man z. E. wenn i n Gesellschaften Leute etwas von jemandem erzählen. Man erzählt vom Professor Pietsch , daß er, wenn er einen Helden dichten wollte, sich Reitstiefeln angezogen und beim Dichten so herumgegangen sei. Ein kritischer Kopf, der nichts als Andere kritis ieren kann, ist ein tadelsüchtiger Mensch. Denn Kritik ist die Beurteilungskraft im Unter­ schiede. Es gibt ferner mechanische Köpfe. Man bemerkt, daß viele Kinder schon von ihrer Jugend an schnitzeln usw. und d ies zeigt schon an, daß sie ei nen mechanischen Kopf haben. (Man kann auch die Geschichte mechanisch lernen. Der hat kein historisches Talent, der sich den Kopf mit Erzählungen und Jahreszahlen vollpfropft.) - Wenn man den Kopf ei nes jeden jungen Menschen jederzeit analysieren möchte, so könnte man schon voraus a priori bestimmen, was für ein Metier er künftig ergreifen müsse. Man sollte aber nicht j unge Leute selbst hierin wählen lassen . Denn sehr oft will ein Kind, das vielleicht einen guten mechanischen Kopf hat, bloß darum ein Medicus werden , weil es solche Männer oft in Kutschen fahren sieht, oder wei l es krüppelhaft ist, oder wei l es hört, wieviel Staatsneuigkeiten ein solcher Mann seinen Eltern erzählt, oder weil es spazieren und im Vorbei­ gehen die Patienten besuchen kann. Es ist aber nichts klägl icher, als wenn

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ein Mensch auf eine Wissenschaft verfällt, wozu er nicht die geringste Fä­ higkeit hat. Daher kommt es, daß das Steckenpferd alle anderen wahren aus dem Stall j agt, und daß ein Mensch alles inkultiv iert läßt, wozu er geschickt ist, und das bearbeitet, wozu er im höchsten Grade ungeschickt ist. Die Ursache davon ist diese, weil die Menschen immer gern etwas anderes sein mögen, als sie wirklich sind. Sie denken, das kann dir doch keiner nehmen, was du schon bist, es ist aber doch gut, daß du noch suchst, was anders zu werden. So dichten z. B. viele Poeten, ohne daß sie j emand liest, und so klimpert mancher den ganzen Tag auf dem Klavier und kompo­ niert, und niemand will ihn hören. Er will aber doch gern ein Musikus sein. Menschen suchen die Veränderung, gleich als wenn sie Prometheus mit einem groben Ton beseelt hätte. Aus d iesem sieht man aber leicht, wie nötig und nützlich das Studium der Köpfe sei. Und obgleich Schulen und Examinatoria genug angestellt sind, so ist doch dafür wohl nicht gesorgt. Die Departements der Wissenschaften und Künste werden jetzt nur durch einen Zufall gut besetzt. Oft geschieht die Wahl aus Not oder aus Wahn, und daher kommt es, daß die Menschen mehrenteils i n der Welt an eine unrechte Stelle kommen. Es würde aber ein lustiger Plan sein, wenn man jeden Menschen an seine rechte Stelle setzen möchte, wohin ihn die Natur bestimmt hat. Mancher General würde Tambour werden, mancher Jesuit ein Minister, mancher schlechte Jurist ein guter Holzhacker, mancher, der in Gesel lschaft geht, um sie zum lachen zu bewegen und viel schnattert, ein ehrlicher Gastwirt, und mancher, der jetzt mit den Barbierbecken herum­ läuft, würde geschickter sein, gute Stücke auf dem Buckel zu tragen. Die menschliche Freiheit macht d iese Verwirrung, da die Menschen selbst fremde Stellen wählen und nicht aus Neigung, sondern aus Not, oft nicht aus Geschickl ichkeit, sondern aus Wahn. Da aber dieser Plan nicht zu hoffen ist, so muß man glauben, daß die verkehrte Versetzung vielleicht die schöne Mannigfaltigkeit der Welt ausmacht, ob sich gleich die Menschen so verwirren, daß sie nicht wieder herauskommen. Musikalischer Kopf ist ein Unding, man kann ihn nicht haben, wohl aber ein musikal isches Genie. Esprit universei (ingenium uni versale) ist die angeborene Anlage im Gebrauch der oberen Erkenntniskräfte, - Ingenium bedeutet auch soviel als Eigenschaft, z. E. ingenium al icujus rei. Vom Begriff des Genies. - Genie ist eigentlich Talent von höherem Range, ist die musterhafte Eigentümlichkeit des Talents. Genie besteht da­ rin, daß etwas ausgeführt wird, was ein Muster für Andere werden kann. Dieses Talent hat eine Eigentümlichkeit, was durch Nachahmung nicht be­ wirkt werden kann, und diese Eigentümlichkeit nennt man Originalität. Genie bedeutet einen Originalgeist. Das Wort Geist gebraucht man in v ie­ len Fällen. Denn man sagt oft von einer Gesellschaft, Gemälde, Rede,

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Diskurs, es ist ohne Geist, d. h. es ist nic hts Belebendes dabei. Und man sieht leicht, daß das Wort »Geist« das princ ipium des Lebens bedeutet. Es ist aber ganz was anderes, wenn man sagt Originalgeist Er ist nicht Geist der Nachahmung. (Nur den Geist der Nachahmung haben z. B. die Russen im Malen. Sie können gut kopieren, aber nichts selbst machen. Sie haben keine Eigentümlichkeit im Malen.) Der Deutsche hat für Genie kein Wort. Auch ist das Wort »Genie« nicht u rsprünglich französisch, sondern es kommt aus dem lateinischen Wort genius. Genius war bei den alten Römern der eigentüml iche Geist des Menschen, der bei der Geburt anfängt und mit dem Tode aufhört. D ieser Geist war den Menschen beigesellt um ihm an­ und abzuraten. Das ist eine Art Metapher und Allegorie. Doch hat das Wort bei den Lateinern nicht die Bedeutung, wie es bei uns hat. Es bedeutet näm­ lich nicht Genie, sondern ein reines ingenium. Das Kopieren der Gemälde ist ein unschätzbares Talent, aber die ursprüngl iche Originalität ist Genie. Im Genie ist Originalität der Einbi ldungskraft das Vorzüglichste und hauptsächlich Notwendigste, insofern sie ein Muster wird. Der Verstand und die Urteilskraft muß sie doch im Zügel halten, wei l sie sonst zügellos und regel los wird. Man hat auch gewisse Künste des Genies. Wissen­ schaften können durch anhaltenden Fleiß erlernt werden, vorausgesetzt, daß man das Mittelmaß der Talente, die dazu erfordert werden, habe: z. E. in Mathematik, Geschichte usw. kann man durch anhaltenden Fleiß zieml iche Fortschritte machen ohne sonderliche Talente. Allein mit allem Fleiß kann man es doch nicht weit in der Poesie bringen , wenn nicht schon natürliche Anlagen da sind. Das Genie geht eigentlich auf Kunst. Die Kunst unter­ scheidet sich dadurch vom Handwerke, daß, wenn man beim Handwerk etwas weiß, man es auch kann. Aber bei der Kunst geht es nicht, man kann da alles gut wissen, aber vermag nichts zu machen , z. E. beim Malen. Das Genie gehört zu den Künsten und diese Künste werden schöne Künste genannt. Schöne Wissenschaften gibt es gar nicht, denn sie gehören zum Verstande. Aber schöne Künste, wie z. B. Dichtkunst, Redekunst usw. Man kann denjenigen, der durch Nachdenken und Nachahmen es weit gebracht hat, bei weitem nicht ein Genie nennen, sondern es ist ein Gelehrter. Wenn ein solcher vielleicht mit dem größten Fleiß alle Dichter durchgelesen hat und er keine natürliche Anlage zum D ichten hat, so hilfts ihm nichts. Der Einbi ldungskraft ist Nachahmung zuwider. Zum Genie gehört daher Frei­ heit und Originalität der Einbildungskraft, die sich nicht in Schrank�n hält, und doch dem Verstande nicht widerspricht, ohne daß sie von ihm ge­ zwungen und ihr durch seine Regeln Grenzen gesetzt werden sollen. Dies kann geschehen , weil sie original eigentüm l ich und nicht nachgeahmt ist. Die Einbildungskraft ist auch beim Genie musterhaft, weil ihre Produkte Anlaß zu neuen Regel n geben. Sie wird nicht durch Zwang schon gege­ bener Regeln, sondern durch sich selbst dirigiert. - Die Ideen sind solche

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Vorstellungen der D inge, die angesehen werden als Originale der D inge selbst. Z. E. es w i l l jemand eine Rede beurteilen, so muß er eine Idee von der Rede haben, die eine Vorstellung a priori ist, und die ihm als eine Regel zur Beurteilung der Rede d ient. - Das Genie ist angeboren, und durch alle mögl iche Mühe kann man nie ein Genie erreichen. Einer, der es nicht hat, kann Verstand haben, aber es kann ihm an Witz oder Urteilskraft i n der Einbildungskraft fehlen. Da hörts dann auf, Genie zu sein. Denn wo eine Kraft fehlt, ist kein Genie, auch kein Geist. D ie bloße Originalität (Eigentümlichkeit) des Genies ist nicht hinläng­ l ich, sondern es muß auch nachahmungswürdig sein. So kann es z. E. eine originale Narrheit geben. Das nachahmungswürdig ist, ist ein positi ves Original. Virgil hat zwar den Homer nachgeahmt. In der Manier hat er aber doch Originalität. Diese Originalität des Virgil wurde aber durch den Homer auf­ geweckt und ohne Homer wäre nicht Virgil gewesen. Voltaire sagt sogar, wenn Homer den Virgil geschrieben hätte, so wäre es sein bestes Buch. Ein Maler kann nachahmen in der Manier, wenn er auch nicht dieselben Stücke zeichnet. Die Gruppierung (Stellungen) , Licht und Schatten kann er nachahmen. Denselben Sti l kann er zwar haben, aber nicht denselben In­ halt. Zum Nachahmen braucht der Mensch Verstand , zum Nachäffen aber Affenverstand. D iese sklavische Art der Nachahmung benimmt alle Eigen­ tümlichkeit und man findet sie bisweilen in Schulen z. E. die Nachäffung der Ciceronianisehen Reden. Wenn auch viele bei Einem Schreiben lernen, so hat doch ein jeder eine andere Manier. Dies beruht auf der Organisation der Finger. So hat auch jeder im Vortrage seine besondere Manier. Ein Talent ist j ede Eigenschaft unsrer Erkenntniskraft. Man setzt das Genie in der Freiheit vom Zwange der Regeln, z. E. in der Poesie. Regeln sind Gängelwagen, wovon wir geführt sind. Sind sie schon vorhanden, so ist man Nachahmer. Sofern d ie Malerei eine Kunst des Genies ist, besteht sie in der Nichthaltung an Regeln. - Es kann eine gewisse Methode im Unsinn sein , aber er ist nicht nachzuahmen. Es muß eine exemplarische (nachahmungswürdige) Originalität sein. Lernen ist nichts anderes als nach­ ahmen. Die Hervorbringung des Genies ist das, was man nicht lernen kann - z. E. man kann wohl reimen, aber nicht dichten lernen. Der D ichter wird geboren (Chesterfield) . In Ital ien gab es ehedem Erbprofessoren. Es wun­ derte sich jemand hierüber aber er erhielt zur Antwort: ei, hat man doch Erbkönige ! - ist es etwa leichter, einen Staat zu regieren, als eine Wissen­ schaft methodisch zu lehren? Regeln befolgen ist nachahmen. Von gewissen Regeln, die konventionell sind, können wir uns nicht so recht frei machen, weil die Vernunft sie uns lehrt. Die Poeten haben eine gewisse l icentia poetica, aber nicht so wie ein Papst, der, wenn in einer Zeile eine Si lbe zu wenig war, so nahm er auf der

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andern Zeile eine dazu. Der Dichter kann einmal ein Wort machen, welches nicht gebräuchlich ist, oder ein Wort in einer andern Bedeutung gebrau­ chen. - Es gibt Genieaffen. Diese weichen von aller Regel ab. Die Produkte des Genies sind immer Arten von Eingebungen, Sachen des Genies können nicht nachgeahmt werden . Durch das Genie gibt die Natur der Kunst die Regeln. - Geniemäßig, d. h. obenhin, Dinge behandeln, dient zum Spott. Ein Mann von Geist. Geist ist das Vermögen, die Einbildungskraft durch Ideen zu beleben, oder der Einbildungskraft ei nen Schwung zu geben. Schwung ist eine Bewegung, die immer fortdauert, wenn sie einmal ein­ gedrückt ist - eine Art von unwillkürlicher Bewegung, wie z. B. wenn etwas von einem Berge herunterfällt o. dgl. Dem freien Schwung des Geistes ist der Mechanismus entgegengesetzt. Ein mechanischer Kopf kann alle Talente haben, er bedarf aber immer einer Rege l , um gelenkt zu werden. Die Einbildungskraft hat nicht die Freiheit, ihre Kraft ins Spiel zu setzen. Mechanischer Kopf ist ohne Geist. Er hat zwar Verstand , aber er muß i mmer Regeln haben, nach denen er handelt, und da dies was alltägliches ist, so erregt es keine Bewunderung. Dennoch ist dieser Verstand sehr nützlich in Dingen, die erlernt werden sollen. Genie hat zwar sehr große Vorzüge. Mechanismus aber tut das mehrste im Talent. Genies machen wohl Epoche, mechanische Köpfe aber erhalten Ordnung und das gemeine Wesen, wenn Genies Revolution in der Welt hervor­ gebracht haben. Nachäffendes Genie mag lieber ein kollerndes Pferd als ein Schulpferd reiten. Die Ursache ist, um in die Augen zu fallen. Das Genie kann man von den V i rtuosen unterscheiden. Im Grunde betrachtet geben letztere keine Regel an die Hand. Der Musiker, der ein guter Kompositeur ist, ist ein Genie. Denn Erfi ndung gehört zum Genie. Die Exekution des Stücks erfordert ein eigentliches Talent in Ansehung der Ausführung, wozu Mechanismus in den Organen sehr beförderlich ist. Virtuosen haben eine besondere Organisation, die zur Kunst sehr vorteilhaft und von Natur sehr schön ist. Man kann zum Genie rechnen: 1 .) Ein­ bildungskraft, 2.) Urteilskraft, 3.) Geist, 4.) Geschmack. Einbildungskraft sowohl in Ansehung der Fruchtbarkeit als der Mannig­ faltigkeit ist die Basis des Genies. Sie muß aber nicht regel los und noch weniger zügellos sein. Urteilskraft ist die Kraft, welche die Einbildungskraft einschränkt und unter Regeln bringt, Behutsamkeit im Gebrauch des Verstandes, negative Klugheit. Sie ist ernsthaft, und glänzt am wenigsten. Geist, aus den beiden vorigen zusammengesetzt, ist das Vermögen, die Einbildungskraft durch Ideen zu beleben. D ies entsteht dann, wenn sie in Schwung gesetzt wird - beruht auf dem großen Gehalt der Ideen. Geschmack zeigt die Reife der Produkte des Genies an. D ies ist das Schwerste. Man kann ihn ästhetische Urteilskraft nennen.

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Ein kultiv iertes Genie hat Geist - Reichtum - und Geschmack - d. h. Mäßigung und Harmonie. Anmerkung. Als der Vater des berühmten Raphael Mengs diesen seinen Sohn taufen l ieß, wunderte man sich, warum er ihn Raffael genannt, da er doch n icht voraussehen könnte, ob er einstens soviel Genie zur Malerei zeigen würde, wie Raffael . Hierauf versetzte er: Ich w i l l ihm das Genie schon beibringen. Er hielt auch in der Tat Wort, indem er seinen Sohn durch Schläge dahin brachte, daß er die contours immer richtig zeichnete. Mengs gestand auch selbst, daß ihm d ieses v iel geholfen, indem er in der Folge stets gewiß war, d aß seine contours fehlerfrei wären, und deswegen nur auf Schatten, Licht, Ausdruck usw. sein Augenmerk richten durfte. Es hatte einmal j emand ein vortreffliches Gemälde verfertigt, welches aber tot schien. Mengs riet dem Verfertiger, er solle im Vordergrund noch eine Möwe malen, und durch d iesen Vogel wurde schnell das ganze Ge­ mälde gehoben und sah lebhaft aus. Wer solche Dinge empfindet, zeigt, daß er einen großen Kopf habe. Das Genie bei verschiedenen Nationen nimmt folgende Wendungen an. Bei den Italienern schießt das Genie in die Krone, d. h. sie lassen sich bei ihrem Genie durch die Sinnlichkeit hinreißen. Dies ist Einbi ldungskraft. Bei den Deutschen in die Wurzel , d. h. sie besitzen viel Urteilskraft in ihrem Genie. Bei den Engländern in die Frucht, d. h. in dem Genie, welches sie zeigen, ist viel Geist, und in ihren Büchern findet man am meisten Gedankenfü l le und Reichhaltigkeit am Verstande. Bei den Franzosen in die B lüte, d. h. sie haben viel Geschmack in ihre(ll Genie. Bei manchen Völ kern findet sich mehr Genie als bei andern. Es hängt von der Einbi ldungskraft ab. Italien ist ein Land, wo die Einbildungskraft viel Stoff findet. D aß es so wenig Genies gibt, daran haben wohl die Schulanstalten und selbst d ie Regierung schuld. In der Schule herrscht ein Zwang, Mecha­ nismus und ein Gängelwagen der Regeln. Dies benimmt den Menschen oft alle Kühnheit selbst zu denken und es verdirbt die Genies. Es ist wahr, daß die übrigen Gemütsarten sich immer nach Regeln sehnen. Diese Regeln sollten aber nur rektifizieren, das Mechanische - da es doch sehr nötig ist, muß sehr behutsam gebraucht werden, damit nicht alle Genies untergehen. Der Mechanismus erstreckt sich so sehr nachher auf die Denkungsart, daß man n icht anders als nach verlangtem Model l oder Muster denkt. Die deutsche Nation ist dazu sehr gestimmt. Zu einem Beweise d ient die Titelsucht dieser Nation, weil sie z. T. ein Naturell dazu hat, z. T. auch durch den Mechanismus dazu gebracht worden ist. Dieses Mechanische hängt auch von der Regierung sehr ab. Der Richter muß mechanisch nach den

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Buchstaben des Gesetzes in allen möglichen Fällen richten. Es ist aber doch in der Tat nicht möglich, daß ein Gesetz auf alle möglichen Fälle gemacht werden kann. Die affektierten und angemaßten Genies glauben, daß sie, wenn ihre vorherige Herumschweifung und Verwicklung der Einbildungskraft, die mit Worten bekleidet wird und dem Verstande etwas Angemessenes zu ent­ halten scheint, für wirkliche Genies gehalten zu werden verdienen. Sie prätend ieren Bewunderung und Befremdung. So lche Genies findet man häufig in Deutschland. Sie haben was Orakelmäßiges. Das gibt einen An­ schein, als sei es unmittelbar aus der Natur. Bei ihnen ist die rohe Stärke der Einbildungskraft, die nicht durch Geschmack kultiviert ist. Man nennt gewöhnlich einen außerordentl ichen Kopf Genie, welches nicht eigentlich ist, weil die Originalität, welche alle Kräfte proportioniert, fehlt. Newton war ein großer Kopf, aber kein Genie. Genie geht auf Ein­ bildungskraft, angemessen ihrer eigenen Freiheit des Geistes . Ein Genie unterscheidet sich vom Kopf nicht den Graden der Talente nach , sondern nach der glücklichen Proportion der Gemütskräfte, die durch Einbi ldungs­ kraft harmonisch belebt wird . Es ist ein glückl iches Talent, nach der Qualität durch Fleiß kultiviert. Milton, Shakespeare sind Genies. Wenn jemand wozu Naturhang hat, besitzt er auch dazu Naturtalent? Es ist schwierig auszumachen, daß die Natur die Talente so ausgeteilt habe, daß jedesmal , wo Neigung ist, auch Talent sei. Leider ist es oft nicht wahr. Denn es kommt gemeinhin auf Veranlassung und ersten Eindruck an, daß man einen Hang zu etwas bekommt, weil es gefällt. Z. E. ein junger Bursch, der den Arzt oder Prediger in einer Kutsche fahren sieht, sagt: o , ich w i l l Arzt werden. D aher i s t e s i mmer nötig , seine Geschickl ichkeit in d e r Zeit immer so zu kultivieren, damit man nachher zu al lerlei Zwecken geschickt sei . Es gibt gewisse Günstlinge der Natur. Solche sind die Eleves de Ia nature in der Schweiz. Ein frühzeitiger Kopf (ingenium praecox, frühreifes Talent) kann eigent­ lich nicht zum Genie gezählt werden. Es leistet nicht sov iel , wie es verspricht. Z. E. ein Kind, das sehr klug ist, bringt es hernach doch nicht weiter, als andere. Es ist zwar früher fertig, aber nicht besser, als andere. Am unerträgl ichsten ist die frühe Urteilskraft. Heinecke aus Lübeck, ein Kind das in seinem zehnten Jahr eine außerordentliche Klugheit zeigte und frühzeitig starb, wäre doch nichts anderes , als ein mittel mäßige� Kopf geworden. Hingegen findet man, daß große Köpfe in der Jugend nicht viel versprochen haben. Z. E. Fontenelle, der war ein Tausendkünstler der Wis­ senschaften. Die Spanier in Amerika werden sehr früh brauchbar, aber nach dem 30. Jahr haben sie ihr non plus ultra erreicht. - Überhaupt Talente tun nie einander Abbruch, wenn sie nur proportioniert sind. D ie Bauern haben erstaunlich viel mechanisches Genie. Bei der Astro-

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nomie und Mathemati k stellt sich ein solches Genie sehr früh ein, und wenn eine Anweisung da ist, so kann es sehr weit gebracht werden. Die Köpfe, die mikrologisch grübeln, sind von den Genies unterschieden. Sie können darin viel Scharfsinnigkeit beweisen, taugen aber nichts zu großen Sachen, wo sie viel umfassen sollen. Dem Mikrologen ist entgegengesetzt der extendierte Kopf. Es gibt zyklopische Gelehrsamkeit, wo viel historisches Wissen ist, wo aber die Urteilskraft fehlt, inwiefern die Kenntnisse richtig und wahr sind und angewandt werden können. Die Verein igung aller Talente nennt man ei nen Kopf. Dazu gehört Polyhi storie. ( Dieser Name kommt eben daher, weil das meiste darin in histori schen Kenntnissen be­ steht. Sulmasius [ Saumaise ] und Julius Cäsar Scaliger waren Polyhistoren. ) Ein solcher allgemeiner Kopf muß zu allen Wissenschaften aufgelegt sein. Er hat auch Geschicklichkeit in vielen Arten. Doch diese Vereinbarung hat Schwierigkeit. Denn Phi losophie und D ichtkunst läßt sich nicht füglieh zusammenbringen. Der Philosoph schildert die D inge nach der Wahrheit, der D ichter nach dem Schein und gewöhnt den menschlichen Verstand, statt an Begriffe an Bilder. Ein solcher Polyhistor, der al les weiß, weiß es nicht vernunftmäßig, sondern historisch. Bei Plato war mehr Genie, bei Aristoteles mehr Verstand. ( Montucla sagt in seiner Geschichte der Mathe­ matik, es habe im Altertum nur einen Arehirnedes und in der neueren Zeit nur einen Newton gegeben, der doch kein Originalgenie war. Auch Leibniz war kein Originalgenie. - Selbst nicht Leonardo da Vinci, welcher doch sozusagen alles war. Er besaß nämlich alle Wissenschaften und Kenntnisse, war der größte Maler und B i ldhauer seiner Zeit usw. , stellte dabei selbst eine sehr schöne Figur vor und, was noch weit mehr, als dieses alles ist, er war ein kompletter rechtschaffener Mann. Er starb in den Armen König Pranz I.) Naturalisten einer Wissenschaft sind die, welche ohne Anweisung Wis­ senschaften erlernt haben. Hiebei findet doch ein Mangel des Fundaments statt. Die Leichtigkeit einer Ausübung entsteht durch öftere Wiederholung, wodurch eine Fertigkeit entsteht, aber auch eine Notwend igkeit, die nennt man Angewohnheit. Z. E. Man kann sich das Flickwort oder die Miene eines Andern angewöhnen, wenn man es ihm oft nachmacht. Wenn ein Flickwort gleich ein gutes Wort ist, so taugt es doch nicht, denn das Gute muß nach Grundsätzen und nicht durch Angewohnheit ausgeübt werden. Bei der Angewohnheit findet Hilfe statt. Die Angewohnheit wird notwendig und bei der Erhaltung derselben schadhaft. Man muß al les in der Wel t tun und erdulden können, d . h. man muß an alle Handlungen und Leiden sich gewöhnen, und es ist nicht gut, wenn man es nur mit gewissen Handlungen und Empfindungen so macht. Denn eine Gewohnheit ist ein Mechanismus und der muß vermieden werden. Der Mechanismus in der Ausübung der Fähigkeiten ist dem Genie nicht zuwider. Aber der Mechanismus muß in

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der Unterweisung aufhören, wenn es auch die Gen ies nicht wol len. Der Mechanismus ist notwendig in Ansehung des Gedächtnisses und der Mate­ rialien, die gefaßt werden sollen. (Anmerkung. Hier ist der erste Tei l »Vom Erkenntnisvermögen« zu Ende und es fängt an der zweite. -)

Zweites Stück: Vom Gefühl der Lust und Unlust Nachdem wir die Erkenntniskräfte des Menschen erwogen haben, so gehen wir nun zu seinem Gefühl der Lust und Unlust und zu seinen Gründen der Tätigkeit über. Gefühl generaliter genommen, ist das Subjektive unserer Vorstellung, was keine Erkenntnis sein kann. Empfindung ist das genus (Gattung) und Gefühl die species (Art) . Empfi ndungen können auch Erkenntni sstücke werden. Alle unsere Vorstellungen von Farben oder vom sauren und süßen Geschmack sind Empfindungen. So auch Licht kann ein Erkenntnisstück werden. Man braucht diese Empfindungen, um s ich die Beschaffenheit eines Gegenstandes vorzustellen. Lust und Unlust sind subjektive Empfin­ dungen. Denn ich kann es von keinem Gegenstande außer mir sagen. Sie l iegen also bloß in mir. Lust ist die Beziehung meiner Empfindung auf mein Subj ekt. Gefühle können nicht im entferntesten Erkenntnisstücke werden, wenn ich z. B. sage: es ist angenehm. Gefühl der Lust ist dasjenige Gefühl , welches eine Ursache hat sich selbst zu kontinuieren (fortzusetzen) . Das Gefühl der Unlust ist solch Gefühl, das dem Gemüt widerstrebt oder sich selbst zu erhalten widerstrebt. Die Gegenstände, aus denen das Gefühl der Lust und Unlust entspringen, werden nach der Verschiedenheit desselben genannt 1. angenehm (oder schmerzlich) , 2. schön (oder häßlich) , 3. gut (oder böse) . Das Angenehme ist der Grund der Lust und Unlust durch den Sinn (oder Empfindung) - oder was uns in der Empfindung gefällt oder vergnügt. Das Schöne ist der Grund der Lust und Unlust durch die Reflexion (Geschmack) - oder was uns in der Erscheinung ohne Geschmack. (Es gefällt nur in der puren reflektierten Anschauung.) Das Gute ist der Grund der Lust und Unlust nur allein durch Begriff der Vernunft - oder was uns im Verstande gefällt. Das Angenehme vergnügt, das Schöne gefällt, das Gute wird gebilligt in Beziehung auf den Zweck. Diese Ausdrücke sind verschieden und oft einander entgegengesetzt. Wenn wir den Sokrates in Ketten und den Caesar vom ganzen Rat begleitet betrachten, so gefällt der Zustand des Caesar der Empfindung und dem Geschmack nach mehr. Erwägen wir aber den Zu­ stand beider durch den Verstand , so ziehen wir den Zustand des Sokrates

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dem Zustande des Caesar vor. Das Schmerzhafte ist vom Bösen sehr unter­ schieden. Vieles gefällt, aber vergnügt nicht. Z. B. wenn die Tugend uns so angenehm wäre, wie sie gefällt (gebilligt wird) , so würde jedermann tugend­ haft sein. Denn sie ist das höchste Gut und al les außer ihr gehört bloß zur Annehmlichkeit. Aber leider vergnügt sie an sich selbst nicht. Angenehm ist dasjenige, wovon uns das Dasein gefällt. So erkennen wir von vielen Dingen, daß sie schön sind, wie z. B. von einem prächtigen Palast mit Kolon­ naden. Aber angenehm finden wir ihn nicht. Denn an seinem Dasein können wir keinen Gefal len finden. - Also nur das, dessen D asein uns gefällt, vergnügt die Empfindungen. Das wahre Gute muß stets durch den Verstand erkannt werden und d ies sind die verschiedenen Arten der Lust und Unlust. Das Gefühl dersel ben aber ist vom Geschmack unterschieden. Geschmack ist nur eine gewisse Urteilskraft i m Reflektieren. Er gehört dazu, um das Schöne wahrzu­ nehmen. Er ist schon Talent. Ein dummer Mensch hat ihn nicht. Auch kein Tier kann Unterschied zwischen dem Schönen und Häßlichen machen. Es frägt sich nun hier, worauf der Unterschied zwischen Lust und Unlust beruhe? Wei l sich zuletzt al les aufs Gefühl reduzieren l äßt, so wollen wir zuerst das Gefühl erwägen und das Prinzip des Vergnügens und des Schmer­ zens aufsuchen. Wir fühlen in allen Fällen, daß das Gefühl des Lebens alles enthält, was da belustigt, und daß alles, was in uns zusammenstimmt, unser Leben uns füh len zu lassen, uns Lust verursacht, und hingegen al les, was unsere Lebensfähigkeiten bindet, in uns Unlust hervorbringt. Wenn uns etwas belustigt, so empfindet alsdann j edes Organ, wenn es nach seinem Mechanismo in die größte Tätigkeit gesetzt wird, sein Leben ganz. Mithin liegt das Prinzipium aller Lust und Unlust in der Begünstigung oder B in­ dung unserer Lebensfähigkeit. So empfindet z. B. unser Auge das größte Vergnügen, wenn es von Gegenständen in die möglichst größte Aktiv ität versetzt wird. Ist aber der Anblick von der Beschaffenheit, daß unser Auge gezerrt wird und ein Eindruck den andern hemmt oder auch, wenn es gar keinen Eindruck hat, so empfindet es Unlust, im Fall während der Zeit kein anderer Sinn vergnügt, d. h. in Aktivität gesetzt wird. So ist es auch mit dem Geschmack. Was unsere Geschmacksdrüsen in die größte Aktivität setzt, das schmeckt uns am besten. Es scheint, daß die Geschmacksdrüsen am Gaumen, der Zunge, mit dem Magen sehr genau zusammenhängen, weil man dasjenige, was gut schmeckt, auch gut verdauen kann. D iese Ge­ schmacksdrüsen sind pyramidal und also spitzig. Wenn nun die Salz­ tei lchen der Speisen d iese ihre Spitzen in Bewegung setzen, so empfindet man in Ansehung des Geschmacks das höchste Prinzip des Lebens. Ebenso ist ' s mit dem Gehör bewandt. D ie in gleicher Zeit aufei nander folgenden Eindrücke der Mus i k bringen i n einem Körper, der schwenkungsfähig ist, zuletzt eine starke Schwenkung hervor. Daher ist ' s nicht ratsam, daß

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Soldaten, welche Pontons besteigen, dabei Tritt halten, weil die Schlag auf Schlag folgenden Eindrücke der Brücke eine solche Schwenkung geben könnten, daß sie sänke. Nun ist jeder Ton gleichzeitig, denn dadurch unter­ scheidet er sich vom Schall. Und diese gleichzeitigen Töne bringen zuletzt im Ohr die stärkste Bewegung herfür. Daher verursacht die Zertrennung des Körpers ei nem Menschen v iel Schmerzen. Wenn aber Teile des Körpers gedehnt werden, so ist d ies ein langdauerndes Hindernis des Lebens und alsdann der größte Schmerz. Zum Vergnügen gehört bloß Sinn. Al les dasjenige aber, was uns ver­ gnügt, befördert nicht zugleich unser Leben, sondern es läßt uns solches nur stärker fühlen. So finden die mehresten Menschen an Ausschweifungen und Handlungen, die ihr Leben ruinieren, ein Vergnügen, und so scheinen viele Vergnügungen schädlich zu sein, z. B. der Soff. Wenn ein Mensch trinkt, so vergrößert er das Gefühl seines Lebens auf eine zwiefache Art: 1. in An­ sehung des Geschmacks, 2. in Ansehung der Berauschung. Die Organe schwellen durch das Trinken vom B lute an. Ein Berauschter ist gleich munterer und empfindet keine Sorgen. Und so lassen uns alle Rausche, außerdem daß sie die Geschmacksdrüsen reizen, auch unsere Tätigke it fühlen. D aher trinken die Türken Opium. D ieses macht zwar stumpf, aber im Anfange stark und herzhaft. Alles hingegen, was unsere Si nne bindet, das schmerzt. Aber Dinge, die den größten Schmerz verursachen, sind nicht immer die schädlichsten. So sind z. B . Zahnschmerzen entsetzlich und doch ist noch niemand davon gestorben. Andere sind ohne Schmerz und dabei die schädlichsten. So kann z. B . die Lunge fast ganz verzehrt sein, und der Kranke empfindet, wenn er etwa nicht hohe Treppen steigt, kei nen Schmerz. Die Ursache ist, weil d ie Lunge keine Nerven hat und also auch nicht empfindsam ist. Überhaupt macht die Verletzung kleinerer Gl ieder größeren Schmerz, als die größerer. Außer dem Vergnügen an der Tätigkeit ei nes einzigen Sinnes gibt es noch ein Vergnügen, welches aus den Tei len aller Sinne entsteht, ein Ver­ gnügen aus dem Gefühl des gesamten Lebens , wenn innerlich die Lebens­ kanäle bespeist sind und man nichts zu verlangen hat. Der lustige Abbe, der nach einer guten Mahlzeit die weichen Polster drückt, empfindet dies Ver­ gnügen. Sein ganzer Zustand besteht aus einer Empfindung aller Sinne, wo keiner vor dem andern hervorsticht. Der, welches sein ganzes Leben fühlt, ist zufrieden. Man kann die Summe aller Empfindungen fühlen ohne darüber zu reflektieren. Es ist wunderbar, daß die Gesu ndheit nicht das gesamte Leben fühlen läßt, ja daß der Mensch fast nie seine Gesundheit fühlt. Denn wir empfinden nichts als was da absticht. Viele j u nge Leute sind deshalb unzufrieden, daß sie gesund sind, denn sie sind in beständiger Unruhe durch Neigungen. Sie haben immer Appetit und werden von vielen Projekten des Vergnügens turbiert. Indes gibt es auch Augenbl icke, darin .•

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man seine Gesundheit fühlt, z. B. nach dem Essen bei der Decoction und Digestion. Es gibt Menschen , denen Schmerz und Vergnügen nicht bis ans Gemüt reicht, und andere können zufrieden im Zustande des Wohlseins sein, obgleich einige Schmerzen ihre Ruhe stören, denn ihr Leben im ganzen betrachtet gefällt ihnen doch. Vergnügen ist das Gefühl von der Beförderung des Lebens. Schmerz ist das Gefühl von der H inderung des Lebens. Das Vergnügen ist nicht die Beförderung des Gefühls des Lebens. Schmerz macht uns i n gewisser Art untaugbar etwas anders zu empfinden und ebend ies enthält immer gewisse Hindernisse des Lebens. Fühlen wir diese H indern isse, so ist dies Schmerz. Der Mensch fühlt sein Leben sowohl im Schmerz als im Vergnügen. Jeder Atemzug befördert unser Leben, nur vergnügt uns dies nicht mehr, weil wir es nicht mehr empfinden. D as Gefühl des Lebens an sich ist also kein Vergnügen, sondern das Gefühl von der Beförderung des Lebens. (Ein Hindernis des Lebens ist ein größerer Antrieb des Lebens.) Vor einer Beför­ derung muß ein H i ndernis gewesen sein. Also ist Vergnügen die Auf­ hebung des Schmerzes. Graf Verri hat ein sehr gutes Buch über die Beschaffenheit des Vergnü­ gens geschrieben. Er sagt, wir können nie unsern Zustand mit Vergnügen anfangen. Schon sobald das Kind auf die Welt kommt, sagt er ferner, legt es seinen Schmerz durch ein j äm merliches Geschrei an den Tag, wie es auch einem Wesen zukommt, dem so unzählige Übel bevorstehen. Viel leicht scheint dies etwas exageriert (übertrieben) , aber es ist doch wahr. Wir haben noch zu bemerken: 1. Schmerz ist immer vor dem Vergnügen. 2. Zwei Vergnügen können nicht unmittelbar aufeinander folgen. Es schleicht sich immer ein Schmerz dazwischen. Das Vergnügen im Leben kann nie größer werden als der Schmerz. Denn ist der Schmerz groß gewesen, so ist auch das Vergnügen, das durch die Aufhebung des Schmerzes entsteht, groß und so auch im Gegenteil. 3 . Die allmähliche Verschwindung des Schmerzes macht kein Vergnügen, sondern nur die plötzliche. Z. B. der Mann wird sich weit mehr freuen, wenn seine Frau, die sehr krank war, auf einmal genest, als wenn sie nach und nach konvalesziert. - Oder wenn ein Mensch auf einmal reich wird , wird die Freude größer sein , als wenn er es nach und nach wird. Man kann hier einen Vergleich machen mit einer Fontäne. Wenn man den Finger vor die Ö ffnung hält und dann plötzl ich wegnimmt, so springt das Wasser doppelt so stark. D as physische Vergnügen kann nicht ohne Schmerz genossen werden , denn nur der Schmerz macht den Genuß möglich. Z. B. wenn man anfängt Tabak zu rauchen, so ist es einem ganz zuwider. Aber auch noch dann, wenn man sich es angewöhnt hat, bedient man sich solcher Getränke, die den Geschmack geschwind wegnehmen. Jeder Zug macht Schmerz und

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indem man ihn wegbläst, macht es Vergnügen. Es ist eine Hemmung des Lebens der Wärzchen auf der Zunge und am Gaumen. Der Speichel belebt sie aber wieder, der durch das Getränke auf die Art plötzlich den Schmerz aufhebt. Überhaupt gewähren gemeinhin die Di nge, welche anfangs viel Mißvergnügen machen, in der Folge das größte Vergnügen. - In der Musik muß bisweilen eine Dissonanz sein, damit uns die folgenden angenehmen Töne desto besser gefallen. Ruhe ist nur dann angenehm, wenn Anstren­ gung vorhergegangen ist. Nur der, der den Vormittag über gearbeitet hat, genießt eigentlich den Nachmittag. Romane, Schauspiele lassen ihren Hel­ den immer erst große Trübsale erdulden und dann wird alles durch die Ehe gekrönt. Fielding hat einen bel iebten Roman Tom Jones geschrieben. Er wechselt mit Ungemächl ichkeiten, Hoffnungen ab, endigt sich auch mit einer Heirat und besteht aus vier Teilen. Nun hat j emand versucht noch einenfünften Teil dazu zu verfertigen (recht wie das fünfte Rad am Wagen) , w o sie schon verhei ratet sind. D ieser fiel aber sehr schlecht aus. - Sobald die Liebespein aufhört, hört auch die Liebe auf. Wir sehen also, daß Ver­ gnügen ohne Einmischung des Schmerzes nicht genossen werden kann. Die Natur hat uns zur Tätigkeit bestimmt und als Stachel der Tätigkeit Vergnügen und Schmerz gegeben. Die Unzufriedenheit mit dem gegen­ wärtigen Zustande ist jedem Menschen eigen. Er strebt nach einem andern Zustande, und wenn er in diesem wieder ist, so ist er doch nicht mit zu­ frieden. Der Mensch ist überhaupt nie im Genuß desselben Zustandes, sondern stets in Gedanken bei dem Übergange in einen neuen begriffen. Die Langeweile treibt uns aus dem gegenwärtigen Zustande, ohne zu wissen, in welchen man w i l l . Wei l bei der Lektüre ein immerwährender Wechsel und Übergang zu neuen Gegenständen ist, lieben wir selbige vorzüglich. Auch die Annehmlichkeit des Spiels beruht bloß auf dem fort­ währenden Wechsel der Zustände, und es ist nicht ganz zu verwerfen, wenn nur die interessierte Neigung moderiert ist. Es gibt unserm Gemüt eine gesunde Motion, die stark mit der Motion der Eingeweide korrespondiert. Im Schmerz wird uns das Leben lang, im Vergnügen kurz. Al les, was uns die Zeit l ang macht, ist Schmerz. Unsere Vergnügen gehen i mmer ruckweise. Währt einerlei Empfindung fort, haben wir Langeweile. Die­ jenigen, die am meisten über Langeweile klagen, beschweren sich am häufigsten über die Kürze des ganzen Lebens. Manchen Menschen wird jeder Tag lang. Dies sind die Müßiggänger. Es ist aber auch keiner, dem nicht wenigstens eine Stunde im Tage zu lang wird. Das verflossene Leben scheint allen kurz. Man glaubt beinahe gar nicht gelebt zu haben. Wir finden Menschen, deren Ruhe weder durch die Ergötz lichkeiten vermehrt, noch auch durch irgend einen Verlust vermi ndert wird, ob sie auch gleich Schmerz empfinden und stöhnen, weil dies ein Mittel der Erleichterung der Schmerzen ist, so wie durchs Schreien das Blut, welches

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in Schrecken nach dem Herzen zusammenfährt, wieder dissipiert wird. Wer unter dem Schmerz nicht stöhnt, der affektiert. Manche sind auch bei Schmerzen vergnügt, weil ihnen das Leben doch wünschenswert vor­ kommt. Wir müssen einen Unterschied machen zwischen dem, was miß­ fäl lt, und dem, was uns zufrieden macht. Man kann viel D i nge verlangen und dabei doch zufrieden sein, weil man d iese Dinge als zur Vergrößerung seiner Glückseligkeit dienlich ansieht. So kann man sich eine größere Anmut seines Lebens wünschen und, wenn man sie nicht erlangt, sie auf­ hören zu wünschen. Bei einem solchen Menschen ist das Leben gleichsam eine schwere Masse, und kein Vergnügen macht ihn sonderlich lustig, kein Schmerz sonderlich betrübt. Wer sie aber als Bedürfnisse zur Befriedigung ansieht, der ist bei seinem Verl angen unzufrieden. Lustigkeit und Traurig­ keit ist die Modifikation al ler Seelen. Standhaftigkeit aber gefällt und ist wünschenswert. Das gesetzte Gemüt bewundert jeder, und wenn es auch keine Annehml ichkeit hat, so hat es auch keine Traurigkeit. Jeder wünscht sich l ieber ein gesetztes Gemüt, als eine immerwährende Freude. Denn diese ist allezeit unsicher, und es darf sich nur etwas Weniges ändern, so ist es mit der Lustigkeit aus. Der gesetzte Mann aber hängt nicht vom Zu­ stande ab. Er ist zwar nie ein Gegenstand des Neides, aber auch kein Gegenstand des Mitleidens. Er besitzt sich selbst. Alles dasjenige, was nicht ein Gefühl von dem Hindernis des Lebens ist, trägt etwas zu unserem Wohlbefinden bei . Wird das Gefühl des H i ndernisses des Lebens weg­ geräumt, so bin ich zufrieden. Die Zufriedenheit ist nicht ein positi ves Vergnügen. Der Schmerz hingegen ist das Gefühl von dem wahren Hinder­ nis des Lebens und etwas Positives. Was mit der Zufriedenheit zusammen­ stimmt, erfreut mich nicht allemal. Wenn man weder im geistigen noch im körperl ichen Leben ein Hindernis empfindet, so befindet man sich wohl oder ist zufrieden. Epikur behauptete, daß die Glückseligkeit, welcher der Mensch teilhaftig werden kann, das fröhliche und das zufriedene Herz sei, wenn nämlich die Zufriedenheit oder das Vergnügen aus den Menschen selbst quillt. Wir müssen den Hang zur Fröhl ichkeit und Zufriedenheit vom Hang zur Lustigkeit und von der Neigung, alle Vorfälle zum l aunigen Spaße zu kehren, unterscheiden. Denn einige haben ein fröhliches Herz, andere sind lustig, andere haben eine scherzhafte Laune. Es zeigt sich, daß die D inge der Welt den Zustand des Menschen nicht notwendiger Weise schmerzhaft machen, sondern daß es bloß darauf ankommt, wie ein Mensch die Sache aufnimmt. D ie ganze Zufriedenheit beruht also nicht auf den Vorfällen und Gegenständen, sondern auf der Art, wie wir die Dinge aufnehmen und von welcher Seite wir sie ansehen. Es gibt Menschen, die die Tyrannei des Schicksals gleichsam verspotten und bei alle dem, was ihnen schmerzhaft sein könnte, Ausflüchte wissen. Ja selbst beim Sterben weiß sich ein solcher Mensch aufzurichten, indem er z. B. an die Kürze des

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Lebens denkt und daß er nicht ein Leben, sondern Jahre zurückgelegt hat. Das große Kunststück dazu zu gelangen, besteht darin, daß man sowohl den schmerzhaften als vergnügten Zufällen des Lebens ihre Wichtigkeit benehmen kann. Der Schmerz wird alsdann ei nen solchen Menschen nur matt affizieren, und der Mangel wird ihm ebenso gleichgültig sein, als sein Dasein. Es wird ihn kein Unglück niederschlagen , und er wird immer Ursache finden vergnügt zu sein. Wird er an ei nem Orte nicht gelitten, so geht er an einen andern. Er wird dadurch nicht fühllos, sondern er fühlt zwar den Schmerz und alles, was i hm begegnet, aber er wird sich nie seiner bemächtigen - glückliche Gemütsart! Ein Mensch zu sein, ist wirklich keine so wichtige Sache. Denn nur bloß das Wohlverhalten bestimmt den wahren Wert des Menschen. Daher ist die Rechtschaffenheit das Wichtigste bei ihm. Er muß also moralisch gut leben. Denn wohl leben und lange leben ist für den Menschen gar nichts Wich­ tiges, und vorzüglich begünstigt dies bloß den Wahn und die Eitelkeit. Wir müssen aber nicht darum eine Wichtigkeit daraus machen, wei l es andere tun. Vernünftiges Leben, Rechtschaffenheit und Tugend sind die Waffen gegen alle Ungemächlichkeiten dieses Lebens. Die Kürze desselben aber kann uns am besten in die Gemütsart setzen, zufrieden zu sein. Genaue Befolgung dessen, was die Moral vorschreibt, damit mir das Gewissen nichts vorwerfe, das macht mich zufrieden, das macht mich am Ende ruhig. Was kann ich dafür, daß die D inge der Welt nicht nach meinem W i l len gehen? Meine Zufriedenheit sollen sie mir nicht rauben, sondern ich will mich in sie schicken. Was kann es uns am Ende unserer Tage helfen, daß wir gut geschmaust haben und in Kutschen gefahren sind? Nur allein also im Wohlverhalten l iegt die Wichtigkeit des Lebens. Habe ich aber zeit­ lebens rechtschaffen und tugendhaft gelebt und gibt es noch eine andere Welt, so bin ich auch würdig daselbst "einen andern Posten zu bekleiden. So denkt der zufriedene Mann. August, auf einer Schaubühne vorgestellt, fragt seine Generale: Meint ihr wohl , daß ich die Rolle meines Lebens gut gespielt habe? Ja, antworteten sie, sehr gut ! Nun, sagte er, so klatscht und zieht den Vorhang zu. ( NB. D ies soll wirklich geschehen sein, vide Anek­ doten großer Männer.) Wenn wir mit dieser Zufriedenheit die Lustigkeit und Traurigkeit vergleichen, so scheint die Lustigkeit noch i mmer einen Vorzug vor der Zufriedenheit zu haben. Denn das Lustige besitzt gleichsam den Reichtum, das Zufriedene aber nur das Notdürftige. Fl ießt aber c:f araus, daß jemand mehr besitzt, als seine Bedürfnisse erfordern , daß er auch glücklich sei? Wenn jemand über die Zufriedenheit noch die Lustigkeit sucht, so sucht er etwas, was er entbehren kann. Man kann aber alle Vergnügungen so genießen, daß man dabei alle Entbehrlichkeit spürt. So kann z. B. ein Zufriedener eine Musi k mit Ver­ gnügen anhören. Er macht sich aber auch nichts daraus, wenn er sie ein

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ganzes Jahr nicht hört. Macht man es in al len Dingen so, so hat man schon das Wesentl iche der Zufriedenheit. Ein Leben ohne Vergnügen scheint zwar kaum wünschenswert zu sein. Allein die Vergnügungen tragen nicht allemal zur Glücksel igkeit etwas bei. Denn die Glücksel igkeit besteht in der Zufriedenheit, der Summe aller Neigungen. Wenn man sich alle Vergnü­ gungen des Lebens entbehrl ich macht, aller Glückseligkeit desselben ent­ sagt, so vergrößern alle Vergnügen unsere Zufriedenheit und tragen mehr zur Glückseligkeit bei. Überdies verlieren wir oft auf der andern Seite das, was wir auf der einen gewinnen. So schaffen uns z. B . die Komödien Vergnügen. Al lein wir verlieren dabei auf der andern Seite , i ndem wir zu Hause auch ein gutes Buch lesen können, oder ei nen guten Freund be­ suchen. In der Komödie frieren wir, und hier können wir unsere Gemäch­ lichkeit brauchen. Unbi llig aber ist es wohl , daß jeder Mensch nach Reichtum strebt, weil der Reichtum eine souveräne Gewalt gibt über al les, was in der Macht des Menschen steht. Der Mensch sucht dadurch alle seine Neigungen zu befriedigen, und je reicher er ist, desto mehr Gewalt besitzt er zu d ieser Befriedigung. Ob der alleinige Besitz dieses Geldes glücklich macht, ist noch nicht ausgemacht. Zwar ist das Bewußtsein, alle Mittel glücklich zu werden in Händen zu haben, sehr angenehm. Denn die Geld­ schatu l le ist gleichsam ein optischer Kasten, worin der Geizige Kutschen, prächtige Tafeln, Musik u. a. erblickt. Allein die bloße Macht glücklich zu werden, macht den Menschen noch nicht glücklich, sondern der Zustand muß wirklich sein. Reichtum vermehrt überd ies unsere Begierde nach Vergnügen. Denn man glaubt für Geld alles haben zu können, selbst Gesundheit und ein ruhiges Gewissen. Behält der Mensch nur i mmer das Geld als ein Mittel seine Neigungen zu befriedigen, so ist es Torheit, wenn er noch mehr damit zu verdienen sucht, indem er Mittel verwendet, um neue Mittel zu erlangen. Dies ist aber eine doppelte Kargheit, auf solche sonderbare Art sich des Geldes zu bedienen. Solche Leute weiden sich mit der Imagination. - Sie sehen andere ruhig i n die Komödie fahren und freuen sich, daß es nur auf sie ankommt, sich alle Arten von Vergnügen zu verschaffen. Denn ihr Geldklumpen ist einer zauberischen Macht gleich, die alles herfürbringen kann. Obgleich es nun ein Vergnügen ist, sich mächtig zu fühlen, ohne wirklich zu genießen, so verschafft doch d iese Macht keinen Zusatz zur Glückseligkeit. Außerdem nutzt sich das Vergnügen selbst ab. Denn es hat keine Mittel sich zu renovieren. Es gibt aber doch einige Vergnügungen, die zu unserm Glück wirklich etwas beitragen, aber nur im Anfange. Der Mensch kann bei sich nichts anderes zuwege bringen, als die Zufriedenheit. Die Lustigkeit aber, welche der Grad des Gefühls von der Verbesserung des Lebens heißt, ist ein positiver Grad des Vergnügens und größer als die Zufriedenheit. Das Gemüt aber ist bei der Lustigkeit nicht mehr im Gleich-

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gewicht und stimmt nicht mehr überein. Das Glück des Menschen besteht in der Abwesenheit des Schmerzes und des Mißvergnügens. Wenn aber Menschen, um bei der Tafel ihr Vergnügen zu vermehren, sich eine Tafel­ musik halten, so ist die Frage: ob sie dabei nicht mehr verlieren, als gewinnen, indem sie keinen vernünftigen discours führen können. Man überlege nun, ob es nicht besser sei , mit einem andern guten Freunde bei­ sammen zu sein, der so zufrieden ist, wie ich, oder sich in einer großen Gesel lschaft zu befinden, wo Musik und viel Lärm ist. Kommt aber wohl die Lustigkeit mit der Fröhlichkeit in Vergleich? Biswei len nicht. Die soge­ nannte Lustigkeit ist zerstörend und räuberisch und endigt sich mit Traurig­ keit. Sie ist mit einem englischen Windspiel zu vergleichen, welches man in der Stube hält, und das auf Tassen und Gläsern herumspringt. Es ist ein Art von konvulsivischer Bewegung beim Menschen, da der Nervensaft gleich­ sam über sein Ufer tri tt. D aher kommts, daß lustige Leute nach dieser Bewegung traurig werden, wegen Erschöpfung der Kräfte. Die Menschen sagen, sie sind glücklich, wenn sie gegen die ihnen zustoßenden Übel Mittel finden. Oft nennen sie auch das - - Glück, woran sie einmal gewöhnt sind. Daß dies wahr sei, sieht man aus dem Beispiel der Grönländer. Man brachte einstens welche nach Dänemark, um zu sehen, ob der Kontrast dessen, was sie da finden würden, mit dem was sie gewohnt waren i n ihrem Vaterlande zu sehen , eine angenehme Empfindung ihnen einflößen würde. Sie fanden in Dänemark in Betracht gegen Gränland eine herrl iche Natur. Sie sahen B äume, Gesträuche, Wälder, blumigte Wiesen, angenehme Dörfer, viele Menschen usw. Aber alles dies wurde ihnen bald unerträglich. Denn eben die Menge Menschen, die sie täglich umgab, wurde ihnen lästig, ohne andrer Dinge Erwähnung zu tun, deren sie nicht gewohnt waren, und da sie d iesen Übeln nicht abhelfen konnten, sehnten sie sich nach Gränland zurück. In der Arbeit finden wir Glück, denn die Natur hat uns Triebfedern zur Tätigkeit gegeben. Arbeit verkürzt die Zeit. D ieses zeigt an, daß wir gerne über das Unangenehme des Lebens wegwollen. Der Arbeitende hat immer einen Prospekt, nämlich Ruhe. Der Bräutigamszustand ist glückl icher, als der Ehezustand, weil er immer einen Prospekt hat. Geld erwerben ist angenehmer, als es besitzen. Das, was einer besitzt, vergnügt ihn nie. Der Kaufmann hat mehr Vergnü­ gen, wenn seine Handlung gel ingt, als wenn er von seinen Interessen lebt. Unser vergangenes Leben genießen wir nicht, sondern es scheint ver­ schwunden zu sein. Glückseligkeit ist eine Idee von etwas , dem wir nach­ j agen. Denn wenn wirs erreicht haben, so ist es keine Glückseligkeit mehr. - Es ist mehr der Würde des Menschen gemäß zu handeln, als zu genießen. - Wir können uns einen Fonds der Zufriedenheit denken, welchen ein jeder Mensch haben muß. Ein Mensch wird verächtlich, wenn er weibisch traurig

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beim Unglück ist und zu sehr sich freut bei seinem Glücke. Der letztere be­ trägt sich wie ein Kind und sieht nicht vorher, daß wenn er dies Glück lange besessen hat, er dieses Vergnügen wieder verl ieren kann, indem er neuen Wünschen nachhängen wird. Wer die Erbschaft im Prospekt hat, ist gewis­ sermaßen glücklicher, als der, welcher sie besitzt. D ie Idee von den meisten Dingen (denn v iele könnte man doch ausnehmen) ist angenehmer, als der Genuß, der Vorgeschmack angenehmer, als der Nachgeschmack. In den Sterbelisten in London findet sich, daß i mmer mehr Menschen aus zu großer Freude, als vor Betrübnis gestorben sind. Nicht als ob es mehr Freude in der Welt gäbe, sondern der Grund l iegt dari n: Der Betrübnis suchen wir zu widerstehen, der Freude aber nicht, dieser überlassen wir uns ganz. Der Mensch vertieft sich in den vorstellenden Genuß der Glücksel ig­ keit. Er hat keine Macht sich zu finden und die Natur wird zerrüttet. Zufrie­ denheit muß gesucht werden in dem Vermögen entbehren zu können. Wenn der Mensch fühlt, daß er Bedürfnisse hat, die in der Natur nicht gegründet sind, so ist er schon unglückl ich. Der Luxus und das Wohlleben ist dieser Zustand. (Z. B. Anmerkung. Zum Luxus gehören die schönen Tücher, die mit einer aus Fernambukholz verfertigten Farbe zubereitet werden. Ganze Schiffsladungen Fernambukholz werden zu dem Ende aus Brasilien geholt. Die Ei ngeborenen lachen hierüber. Einer fragte einmal den Besitzer des Schiffes, warum er es täte, und da er zur Antwort erhielt: Ich tue es, damit meine Nachkommen keinen Mangel an Tüchern haben, so erwiderte der Bras i l i aner: H ieraus sehe ich, daß ihr Mären alle Narren seid. Mären zeigt bei ihnen soviel als Europäer an. Man weiß aber gar nicht, woher dies Wort seinen Ursprung habe.) D ie Genügsamkeit kann alsdann leichter stattfinden , wenn j emand es noch nicht versucht hat viel zu genießen. In Ansehung des Wechsels des Guten (Angenehmen) und Bösen (Unan­ genehmen) sind zwei Ausdrücke (nämlich, wie man sich dabei verhält) . 1 . Gleichmütig ist der, der nicht gleich wodurch bewegt wird. 2. Gleichgültig ist der, der nicht gleich wodurch affiziert wird , »nicht bewegt« heißt »nicht aus seiner Fassung gebracht. « Ein solcher Mensch muß Grundsätze haben. Er erfreut und betrübt sich nicht oder tut doch we­ nigstens beides ohne Affekt. (Affekt ist die Bewegung des Gemüts, wo­ durch jemand aus seiner Fassung gebracht wird.) Freude und Traurigkeit entspringen aus der Reflexion über unsern Zustand. Nur nach der Vergleichung seiner selbst mit andern fühlt man sich glücklich oder unglücklich. Z. B. Wüßten wir, daß niemand etwas Besseres hätte, als Gerstenbrei, so würde er uns auch ganz vortrefflich schmecken. Gleichmütigkeit ist dem läunischen Gemütszustande entgegengesetzt. Läunisch ist ein Mensch, der wider seinen W i l len im Gemütszustande sich verändert, so daß man nie weiß, wessen man sich zu versehen hat. Das

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Läunische äußert sich da, wenn der Mensch aufgebracht wird, da andre sich dessen am wenigsten vermuten. Solche sehen am schärfsten auf jede nicht bedeutende, noch so geringe Abweichung von der Regel. Der Bauer nennt so ei nen einen lynischen Hund - wetterwendisch, lunatisch, der mit dem Monde wechselt. Wenn ich ihn freundlich anrede, so antwortet er mit Bitter­ keit. Manche Hunde sind von der Art. Sonst lassen sie gern mit sich spielen. Aber wenn man alsdann mit ihnen spielen will und sie beißen, so nennt man sie lynsch. Lynsch oder läunisch ist von launigt sehr unterschieden, welches die Eigenschaft eines Talents ist, welches original im Denken und Handeln ist. Jenes ist eine Gemütskomplexion, welche nachteilig ist. - Eine beharr­ lich gute Laune ist eine vortreffliche Gemütsstimmung, die auch für andre vorteilhaft ist. Sie fi ndet am häufigsten bei der Frömmigkeit, die in Reinheit des Herzens besteht, statt. - Wenn man die Übel des Lebens aus einem lächerl ichen Ges ichtspunkte betrachtet, so geschieht dies aus ei ner beson­ deren Gemütsdisposition, nach welcher man alles aus einem ganz andern Gesichtspunkte betrachtet, als die übrige Welt. So war auch Demokrit ein­ zig in seiner Art. Ebenso auch Heraklit, der den Menschen als ein Geschöpf betrachtete, das immer mit Elend und Kummer umgeben wäre. Die Laune des erstem ist der Laune des Ietztern vorzuziehen. Launigte Männer und launigte Schreibart lieben wir, denn die gewöhnliche Beurteilung hat nichts Aufweckendes. Empfindsamkeit ist verschieden von Empfindseligkeit. Empfindsamkeit ist eigentlich das Vermögen, sich den Empfindungen, die aus einer Idee entspringen, zu überlassen. Empfindseligkeit ist eine Affektibilität, Affek­ tation der Empfindsamkeit. Deikatesse ist wirklich nichts anderes als Emp­ findsamkeit. Man glaubt dies Wort nicht ins Deutsche übersetzen zu kön­ nen. Delicatesse hat man 1. in Ansehung der Frauenzimmer, d. h. wenn man gleich bisweilen Gelegenheit hätte, ihnen Reprochen zu geben, es aber doch nicht tut. 2. zeigt man sie in einer Art von Feinheit, andere zu beurteilen, ob es ihnen unangenehm ist oder nicht. Überhaupt besteht sie im Wohlwollen, andere gewisser Unannehml ichkeiten zu überheben. - Empfindseligkeit ist die Nachäffung eines teilnehmenden Gemüts. Diese Denkungsart ist bei den Männern am ekelhaftesten. Den Frauenzimmern, die damit Parade machen, über alles gleich gerührt zu sein, kann man es eher verzeihen. Aber eine solche Mannsperson, die immer beinahe schmilzt und kläglich tut, ist unaus­ stehlich. Er denkt, wenn er nur mitheult, so ist ' s genug. Es ist abt:: r nicht mehr als: es weinen nun ihrer zwei. Er muß helfen, wenn er kann. Er aber weiß sich nicht anders zu helfen, als daß er mit in den Klageton einstimmt. Gute Laune und beharrliche gute Laune ist eine glückliche Gemütsstim­ mung für den Menschen. Er ist immer zum Vergnügen disponiert. Er be­ trachtet alles aus einem fröhl ichen Gesichtspunkte. Derjenige, der eine mürrische Laune hat, ist auch wieder ausgelassen fröhlich. Das Beste ist

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dieses: Man kann nicht immer fröhl ich sein, aber man muß sich bemühen, gleichgültig zu sein, um zum Vergnügen anderer beitragen zu können und nicht hinderl ich zu sein. Gute Laune in Ansehung eines eigenen Unglücks ist eine gewisse Delicatesse. Andere nicht zu belästigen. Es gibt auch Leute, die eine scherzhafte Laune haben. Die Franzosen nennen sie humeur, wiewohl humeur eigentl ich eine üble Laune anzeigt. Die Menschen haben ein Vergnügen, den Dingen einen Wert zu geben, nach Beschaffenheit des Gesichtspunktes, in dem sie selbige ansehen wol­ len. So sieht z. B. jemand einen Aufzug oder große Zeremonie mit vieler Ehrerbietigkeit an, dagegen der andre dazu lacht. Es liegt also die Wichtig­ keit einer Sache bloß in der Art, wie sie jemand ansieht, und also ist nötig: 1. daß man die Sachen in ihrem waren Lichte besehe, 2. daß man sie so an­ sehe, wie es der Beschaffenheit der Seele am hei lsamsten ist. Bloß Wahn und Torheit haben den D ingen einen falschen Wert gegeben. Betrachtet man die Menschen daher von der falschen Seite, so scheinen sie uns bald beneidenswert, bald bemitleidenswert. Das forschende Auge aber sieht sie alle in der wahren Gestalt, nämlich in der Narrenkappe. Der Torheit hängt man nach aus Neigung zur Ernsthaftigkeit und den wichtigen Geschäften aus Zwang. Die Ernsthaftigkeit grenzt i mmer an Kummer. Ein ruhiger zufriedener Mensch findet bei al len Widerwärtigkeiten etwas, worauf er einen Scherz machen und sich beruhigen kann. Thomas Morus hatte eine so glückl iche launigte Gemütsart. Er war Großkanzler in Engl and und ein rechtschaffener Mann. Wenn ihm eine Sache widrig sein wollte, so sah er, ob er sie nicht zum Spaße brauchen könnte, aber nicht zu schalem Witze. Als er seinen Kopf bereits auf den B lock legte, so sagte er zum Henker: er sol lte ihm nur nicht den B art abhauen, denn dies stünde nicht in seinem Urteil. Und so haben manche Menschen von Natur die glückliche Gemüts­ disposition, daß sie den D ingen die Wichtigkeit nehmen können. Bei den Dingen in der Welt, denen man die größte Wichtigkeit beilegt, ist n ichts anders, als ein großer Lärm über törichte Absichten. Die Lustigkeit ist ein positiver Grad des Vergnügens. Sie ist räuberisch, indem sie uns andere Vergnügen nimmt, da wir dem einen nachhängen, und sie verschwendet die größten Kräfte der Seele, daher man lustige Leute ohne irgendeine Ursache auf einmal traurig sieht. Die Traurigkeit ist das Urteil über das Elend des Zustandes und kommt von der falschen Schätzung her. Wir finden, daß wir sie gar nicht leiden können. Daher entfernen wir uns gern von trau rigen Leuten, und verwei len wir auch bei ihnen, so geschieht es doch nur, um nicht den Namen ei nes kalten oder gar schlechten Freundes hören zu wollen. Dahingegen bleiben wir nicht ungern in der Gesellschaft des­ jenigen, der Schmerzen erduldet und sie großmütig und frisch erträgt. Aber auch einen lustigen Menschen ertragen wir nicht leicht, teils weil wir ihn verächtlich finden, teils weil wir sehen, daß ein Schmerz, der ihm zustoßen

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könnte, ihn ebenso kraftlos machen würde, tei l s aber auch, wei l wir nei­ disch zu werden anfangen über seine gute Gemütsart. Der Schmerz sowohl als die Freude müssen communicativ sein und dies geschieht, wenn sie die Mittelstraße nicht überschreiten und in der Empfindung bestehen. In ei nen solchen Zustand sich zu versetzen ist möglich, wenn man sich von Jugend auf übt, von angenehmen und unangenehmen Gegenständen die Gedanken sogleich abzuwenden. Denn das Gegenteil verschlimmert sogleich den Charakter. Die Traurigkeit und das Vergnügen bringen nicht allein die gegenwärtige Empfi ndung herfür, sondern auch das Voraussehen, daß es künftighin entweder besser oder ärger werden kann. Es ist doch etwas Besonderes, daß die Alten den Tod als ein Mittel der Aufmunterung brauchten. Daher auch der Beschluß ihrer Grabschriften beständig so lautet: Sei vergnügt, brauche d ieses Leben, wei l du in kurzem das bist, was der Verstorbene gegenwärtig schon ist. Die Alten suchten nicht wie wir Furcht und Schrecken durch den Tod zu erregen. Auch ist merkwürdig, daß einige von den alten Völ kern i hre Toten verbrannten, z. B. die Römer, die alten Preußen, andere sie einbalsamierten, wie die Ä gypter. Beide standen in der Meinung, dem Leichnam dadurch einen Gefallen zu erweisen. Die ersten setzten ihn darin , die Seele von der Verbindung des Körpers ganz und gar zu trennen, und letztere hingegen die Gemeinschaft der Seele mit dem Körper noch zu unterhalten. Der Geschmack ist von der Empfindung dadurch zu unterscheiden , daß die Empfindung eine Lust über meinen eigenen veränderten Zustand ist, der Geschmack aber eine Lust in der Anschauung ist, die wir von dem Objekte haben. In einigen Organen haben wir mehr Erscheinung, als Empfindung, in andern umgekehrt. Eine gar zu große Empfindung hindert das Urteil von der Aufmerksamkeit aufs Objekt. So können wir z. B., wenn wir aus einem finstern Keller auf einmal ins Licht oder an Schnee kommen, nicht auf die herumliegenden Gegenstände acht haben und sie bemerken. Ein Grund der Lust, der in der Erscheinung ist, heißt das Schöne. Der Grund der Unlust, heißt das Häßl iche. Ei ne Lust aus der Anschauung genommen vergrößert unsere Glücksel igkeit nicht im mindesten und ist weiter nichts, als das Verhältnis meiner Erkenntnis zum Objekt. Wenn aber die Schönheit unser Wohlbefinden vermehrt, so daß wir den Gegenstand noch einmal zu sehen wünschen, so ist sie schon mit einem Reiz verknüpft. Melancholische Personen sehen es ungern, wenn andre Menschen um sie heitern Sinnes sind. Sie gönnen niemandem Fröhl ichkeit, ja sogar - s ie lieben nicht einmal heiter Wetter, sondern haben es am liebsten, wenn der Himmel in heftigen Regengüssen auch so weint wie sie. Sich zu Gemüte ziehen heißt, sich ganz dem Schmerz über irgendeine Sache überlassen. Etwas sich zu Herzen nehmen heißt, sich insofern dem Schmerz überlassen, als er eine Triebfeder ist, Übel abzuhalten.

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Das Zu-Gemüte-Ziehen ist eine vergebliche Qual. Den Tod eines Andern kann man nicht zu Herzen, sondern zu Gemüte ziehen. Man muß eigentlich sich nichts zu Gemüte ziehen, aber al les zu Herzen nehmen. Dahin gehört die Buße als eine Herzensqual. Diese müßige Reue, wo man das Gesche­ hene nicht ungeschehen machen kann, ist das Zu-Gemüte-Ziehen, welches nichts nützt. Der Mensch muß eine geschwinde Resolution fassen, ein bes­ serer Mensch zu werden und nicht über dem Schmerz brüten. Alles Vergnügen muß steigen. Denn wenn es nicht steigt, so sinkt es. Es ist gut für junge Personen, daß sie sich viele Dinge ersparen, die für Männer gehören. Sie müssen sich den Genuß ersparen für die Zukunft. Gesetzt auch man stirbt, so wird man nicht darüber betrübt werden, daß man Vergnügen nicht genossen hat, besonders dann, wenn sie nur Genuß s ind und keine Kultur bei s ich führen. Denn was sind genossene Vergnügen in der Folge? - Nichts, noch zuweilen abgeschlagene angenehmer. - Nur das Gute, was man getan hat, nur das erfreut uns am Ende des Lebens. Nicht nach der Summe des Vergnügens und des Schmerzes schätzen wir das Glück, sondern nach dem Maßstabe, ob es vorher oder nachher gekom­ men. Denn wenn selbst das ganze Leben irgendeines Menschen unglücklich verflossen wäre und er nur den letzten Tag seines Lebens recht angenehm und zufrieden vollbracht hat, so hält man ihn für glücklich. Ebenso ist ' s auch m i t einer Tischgesellschaft, d i e während der ganzen Mahlzeit nicht sonderlich vergnügt gewesen ist. Kommt nur am Ende ein lustiger Einfall, so werden sie alle dadurch zu einer freudigen Stimmung gebracht. Also hat man Ursache stets auf den Nachschmack unserer Vergnügen zu sehen. Ist dieser gut, so sind sie vollkommen. Ob unsere Grundsätze fest sind, das kann man nur erst nach langem Zeit­ verlauf gehörig prüfen. Erst dann kann man mit Zuverlässigkeit sagen, ob sie Stich halten oder ob wir uns nur bloß mit dergleichen angenehmen Vor­ spiegelungen getäuscht haben. Es ist ein sehr falscher, trauriger Grundsatz, womit viele sich hinhalten Ende gut, alles gut. Sie rasen in das Leben hinein und denken, am Ende wollen sie auf einmal gute Menschen werden. - - Als ein Missetäter, der einige Zeit gefangen gesessen, gefragt wurde, inwiefern er sein Leben, wenn er sollte befreit werden, künftig bessern würde, antwortete er (klüger als die Frage war) : Darüber kenne ich mich noch nicht so genau. D asjenige Vergnügen, welches zugleich Kultur ist, kann am l ängsten genossen werden, denn es macht uns vermögend, das Vergnügen fernerhin zu genießen. Essen und Trinken ist keine Kultur; denn je mehr man geges­ sen hat, je weniger kann man noch essen. Unter die Vergnügungen der erstem Art, welche dauerhaft sind, gehören die des Geschmacks und des Umgangs, denn durch d iese werden wir immer mehr kultiviert und verfei­ nert. Man kann hieher rechnen die idealischen Vergnügen im Gegensatz

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von den physischen. Jene entspringen bloß aus der Einbildungskraft, aus Vorstellungen und Gedanken und sind am dauerhaftesten, diese nutzen sich selber ab (das Vermögen zu genießen) . Dieses Gefühl, welches abstumpft, steht also weit unter dem, welches Kultur bringt. Das physische Vergnü­ gen kann auch insofern zum idealischen gehören, wenn man es sich zum Prospekt macht. Z. B. jemand spart sich für den Geschlechtstrieb, bis er Mann sein wird. Vergnügen mit Geschmack verbunden stärkt das Vermö­ gen des ferneren Genusses. Von der Art ist auch der Umgang mit wohl­ erzogenen tugendhaften Frauenzimmern. Er ist ein Vergnügen, welches kul­ tiviert. Wir können attendieren auf Luxus. Üppigkeit drückt es nicht aus, denn dies bedeutet eine Unmäßigkeit, sich gewissen Vergnügen zu überlassen (und dies ist ein Tadel) , welches nicht Luxus ist. Luxus läßt sich gar nicht ins Deutsche übersetzen. Der Franzose gibt dem Wort eine französ ische Endung und sagt Juxe. D ies kann aber der Deutsche nicht, dessen Sprache den Vorzug (gleichsam eine gewisse Keuschheit) hat, daß man alle fremden Wörter, die sich in ihr befinden, sogleich erkennen kann. Luxus bedeutet eigentlich die Neigung des Zeitalters zu einem entbehrl ichen Aufwande mit Geschmack. Man nennt auch wohl denjenigen , der Aufwand macht in An­ sehung des Entbehrlichen einen Verschwender. Luxus ist: 1 . die Wirkung einer großen Kultur, 2. wirkt er selber auf die Kultur, wei l er mit Ge­ schmack eingerichtet überhaupt ideal ist. Der Geschmack wird dadurch Vergnügen, und Vergnügen läßt sich als solches in tausend Mannigfaltig­ keiten vermehren. Luxus ist eine Kultur, wodurch wir eine Mannigfaltigkeit bekommen. Wenn der Aufwand auch auf das Entbehrl iche verwandt wird, so folgt doch der große Nutzen, daß die Industrie dadurch befördert und ungemein belebt wird. Viele sonst müßige Hände erhalten dadurch Arbeit. Der Geschmack, die Zierlichkeit und Annehmlichkeit im Umgange wird dadurch kultiviert. Die sch l imme Seite des Luxus ist: er kann auch so be­ schaffen sein, daß das gemeine Wesen dadurch leidet in Ansehung des Unentbehrl ichen, wenn nämlich durch den Aufwand gar zu viele entbehr­ l iche Dinge verbraucht werden. So sagt Rousseau: Manche Menschen, die sich sehr viel Mehl auf den Kopf streuen, bewirken eben dadurch, daß viele keins in der Suppe haben. Gesetze wider den Luxus heißen auch Aufwandgesetze. Sie sind aber nicht ratsam. Denn der Luxus wird wirklich nicht dadurch vermindert. Sie verfehlen überhaupt ihre Wirkung. Denn die Menschen verfallen auf ein anderes Objekt, wenn i hnen eins untersagt wird. Die Industrie würde da­ durch gehemmt, und wo würde die Menge Menschen bleiben, die dadurch sich ihren Unterhalt erwirbt. Vor alten Zeiten war wen iger Luxus. Aber es war auch nicht ein so großer Antrieb zur Arbeit. Denn jetzt arbeitet man, um sich wieder viel anzuschaffen. Solche Artikel sind ratsam zu verbieten,

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d i e v o n auswärts kommen (da m a n überd ies scheint d e n einheimischen Vorzug zu gestatten) und deren Wert vorzüglich auf der Einbildung beruht, z. B. englisch Tuch. Überhaupt kann man nur durch Klugheit, nicht durch Zwang den Luxus einschränken. In einem Buch über den Nationalreichtum wird gesagt: - - Fürsten sind die größten Verschwender. Ein Friseur ist kein produktiver Arbeiter, aber wohl ein Perückenmacher. Bei dem letzteren bringt eine Arbeit die andere hervor. Auch Bediente sind nicht produktive Arbeiter. Sie bringen nichts Verdienstliches hervor. Ein Engländer gab folgende Definition des Luxus an: Luxus ist das Über­ maß der Vergnügen, welche weichlich machen. D ies kann wohl von dem schädl ichen Luxus gelten. Lord Horne (in seinen Betrachtungen über den Menschen ) kritisiert ihn und sagt: Fahren macht weichlich, aber nicht Reiten. Also gehören Kutschen zum Luxus, aber nicht Reitpferde. Er rühmt auch ferner, daß die Vergnügen seiner Nation von der Art wären, daß sie nicht weichlich machten, wie z. B. Wettrennen usw. Aber sie können auch so beschaffen sein, daß sie durch Überspannung die körperl ichen Kräfte ruinieren. D as »sustine et abstine« der Stoi ker, aushalten und ausdauern, i n Sum­ ma, daß wir uns Vergnügen versagen, ist das wahre Mittel, uns Vergnügen zu verschaffen. Der Mensch, der es auf das Vergnügen nicht anlegt, genießt gerade am leichtesten das Vergnügen, und der, welcher es sich versagt, genießt es am meisten. Wir sind auch noch fähig eines Vergnügens oder Schmerzes von höherer Art, nämlich eines Wohlgefal lens und Mißfal lens sowohl an Schmerz als auch an Vergnügen . Ein Gegenstand kann angenehm sein, aber doch miß­ fallen, weil wir nicht damit zufrieden sind, daß er uns angenehm ist. Z. B. Ein Sohn, der einen strengen Vater hat und in Verlegenheit ist, freut sich auf die Erbschaft. Er wird aber doch i m Grunde diese Freude sich sehr reprochieren, welche er nicht verhüten kann. Ein Adj unctus, wenn er sagt, Gott wolle den Prediger noch lange erhalten, so lügt er, und wenn er sich in Bedrängnis fühlt, so hat er doch wohl einen angenehmen Prospekt, den er nicht verhüten kann - tanquam vultur exspectat cadaver. Ein Gegenstand kann unangenehm sein, aber der Schmerz kann gefallen. Von d ieser Art sind d ie Schmerzen aller Leiden, von denen man sich nicht will trösten lassen, z. B. eine Tochter über den Tod ihres Vaters , eine Gattin über ihren Mann. Von der Art ist die Reue wegen eines Übels oder Ver­ sehens, daß wir über dem Schmerz brüten und ihn uns nicht entreißen lassen. Denn wir fühlen uns schuldig und schätzen uns hoch , daß wir den Schmerz haben, und der Schmerz gefällt uns, wir approbieren, daß wir uns selbst Vorwürfe machen. Ein solcher, der sich nicht innerlich betrübt und sagt: Was ist zu tun? es ist schon geschehen , ist kein guter Mensch. Die

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Ursache des Wohlgefal lens liegt auch dari n : die Vernunft sieht es als eine Art von Pfl icht an, einen Schmerz zu fühlen. Es ist aber auch viel Phanta­ stisches dabei, und der, welcher sich zu sehr härmt, ist auf immer verloren. Ein Vergnügen kann auch noch überdem gefallen, d. h. daß die Vernunft es b i l ligt, wenn die Empfänglichkeit für d ieses Vergnügen zu billigen ist. Z. B. das Vermögen alte Dichter zu lesen, hier ist zugleich Vergnügen und Wohlgefallen. Ein Schmerz kann zugleich mißfallen, z. B. Neid. Dem Neidischen ist es unangenehm, daß er neidisch ist. Betrübt zu sein über das Gute anderer, was einem gar nicht hinderlich ist, ist häßlich. Der Menschenhasser mißfällt sich selbst, indem er andere beleidigt. Das Vergnügen, das wir uns selbst erwerben, gefällt mehr, als das, welches wir durch den Zufall erhalten. Man freut sich immer, daß wir für die Arbeit Geld bekommen, und der Prospekt des Genusses enthält biswei­ len mehr Vergnügen, als der Genuß selbst. Der Besitz des Geldes durch Fleiß gefällt mehr, als der durch ein Los in der Lotterie. Diese Lottospiele sind wirklich dem gemeinen Wesen sehr schädlich. Sie erfül len die Men­ schen mit Phantasien, und mancher traut sei ner Phantasie und glaubt dadurch glücklich zu werden, welches doch nie angeht. Ein rechtschaffener Mann wird gewiß beschämt sein, wenn er das gewonnene Geld einsteckt, er wird sich gewiß vorwerfen, daß v iele Arme und Elende dazu ihr bißchen Geld beigetragen haben. Es ist schwer zu entscheiden, was schmerzhafter ist, schuldig oder un­ schuldig leiden. Doch betrübt wohl der selbstverursachte und verschuldete Schmerz mehr, als der, woran man nicht schuld ist. Wenn ein Mensch unschuldig leidet, ist es erträgl icher oder schmerzhafter. Die Menschen führen aber in diesem Fall oft zweierlei Sprache: Mein Gott, ich habe soviel leiden müssen und war doch unschuldig. Der andere sagt: ich hielt es für ein großes Glück, daß ich unschuldig war. Beides läuft am Ende darauf hinaus: wenn ich unschuldig von Menschen leide, so entrüstet das, wenn ich schuldig von Menschen leide, so schlägt es nieder. Derjenige, der aufs moralische Wohlgefallen sieht, findet Trost. Derjenige, der aufs physische Wohlgefallen sieht, findet Unwillen. Ihm ist es unerträglich, daß er unschul­ dig leiden muß. Er wünscht l ieber, daß er schuldig wäre, denn alsdann geschähe ihm doch wenigstens kein Unrecht. Vergnügen wächst durch die Vergleichung mit Anderer Leiden. Wenn man i m Winter bei dem kältesten Frost oder bei Regen und Sturm an seinem Spieltische in einer warmen Stube sitzt, die bunten Karten in der Hand, so kann man sich so voll Mitleiden anstellen. Mein Gott, sagt man, was mag jetzt der arme Wandersmann, der Seefahrer nicht auszustehen haben usw. Eigentlich aber stellt man sich, zu einer solchen Zeit, Fremder Leiden nicht eben aus Mitleid vor, sondern nur darum, damit man sei nen

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behaglichen Zustand desto besser fühlen könne. D ies zeigt aber eben nicht einen bösartigen Charakter. Es l iegt schon in der menschl ichen Natur und ist der Erfolg von der oppositio juxta opposita. Schmerz wächst durch die Vergleichung mit anderer Freude. Der Un­ glückliche ist boshaft, sagte einmal ein Parlamentsmitglied. Etwas ist wohl daran. Der Unglückliche kann es werden, wenn er soviele Glückliche sieht. Aber immer findet dies nicht statt, höchstens dann, wenn er sich für un­ glücklich hält. Dem Leidenden ist es Trost, wenn er hört, daß auch Andre Leiden haben. Ja selbst in dem Leiden unserer besten Freunde ist i mmer etwas , das uns nicht mißfällt. Der Mensch scheut sehr die Überlegenheit des Anderen, und aus d iesem Grunde kann man sagen, der Wohltäter macht sich Feinde. Das Spiel der Rivalität, welches überall sonst ohne Ausnahme herrscht, hat eigentlich die Triebfeder aller menschl ichen Handlungen in Bewegung gebracht. Es ist uns darum unangenehm, wenn wir an einem Andern keinen Fehler entdecken können, weil uns nun gar nichts zur Gegenrechnung übrig bleibt. Deswegen hassen wir stets die Superiori tät des Andern - Schaden­ freude ist dies Betragen nicht, nur Rivalität. Anmerkung. Man will immer gern mit andern Menschen in gewisser Gleichheit sein. Z. B. wir begnügen uns al lenfalls mit Käse und Brot, wenn es nur niemand sieht. Aber einen abgeschabten Rock mögen wir nicht gern tragen. Denn so können wir gar nicht in Gesellschaft gehen, weil uns dann jedermann unsere Armut ansieht und wir dadurch herabgesetzt werden. Es gibt noch eine Art, daß man meint, der Schmerz könne vermindert werden , wenn man sich vorstellt, er hätte wohl noch ärger sein können. Dieser Gedanke wiegt den Schmerz auf. Eulenspiegel sagt, Gott wolle ihn nur vor drei D ingen bewahren: 1. vor großem Glück, wei l die Menschen , wenn er etwa den Arm bräche, sagen: es ist ein großes Glück, daß er nicht den Hals gebrochen hat, 2. vor starkem Getränk, welches die Mühlen treibt, 3. vor gesunden Speisen (Medizin aus der Doktorapotheke) . Glück macht weichlich, Unglück verzweifelnd. Ersteres übt nicht die Kräfte, letzteres härtet ab, wenn man sich nicht ihm ganz überläßt. Über­ mütig durch Glück und niedergeschlagen durch Unglück ist verächtlich, es zeigt Schwäche des Geistes an.

Vom Geschmack Wir haben eine dreifache Art des Wohlgefal lens. 1. Das Wohlgefallen durch den Sinn ist Vergnügen , im Gegensatz von Mißfallen durch den Sinn, welches Schmerz ist. Vergnügen ist angenehm, Schmerz unangenehm.

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2. Woh lgefal len durch Reflexion. Dies ist das Wohlgefal len am Schö­ nen. Hierzu gehört Geschmack oder Vernunft und Sinn. Wesen, die bloß Vernunft und keine Sinne hätten , würden nirgends Schönheit finden. Sie erfordert nicht allein Sinn (Empfindung) und Verstand (Begriffe) , sondern auch Reflexion. Das Geschmacksvermögen ist ein schwer zu erforschendes Vermögen. 3. Das Wohlgefal len an ei nem Gegenstande durch den Begriff ist gut. Es ist das absolute Gute, was niemals schlecht sein kann. Das Angenehme ist also für den Sinn, das Schöne für die ästhetische (sinnl iche) Urteilskraft, den Geschmack, das Gute für den Verstand. D as Angenehme vergnügt. Das Schöne gefällt. Das 'Gute wird gebill igt. Vom Angenehmen muß man sagen: es ist mir angenehm, und nicht: es ist angenehm. Vom Schönen muß man sagen: es ist schön, und nicht: für mich ist es schön. Denn was schön sein soll , muß jedermann gefallen, nicht a priori durch die Vernunft, sondern durch die Erfahrung. Die Geschmackslehre ist die Ä sthetik. Wir können nicht davon ausführ­ l ich handeln. Denn man betrachtet in unseren Zeiten diese Lehre als eine besondere Wissenschaft. Wir wollen also nur die Hauptbegriffe anführen und bei der Erklärung einiger Sprichwörter anfangen. Von der Geschmackslehre oder Ä sthetik. - De gustibus non est dispu­ tandum. D ieses Sprichwort muß wie alle Sprichwörter sehr ei ngeschränkt werden. Man kann über den Geschmack wohl streiten, aber nicht ver­ nünfteln, nicht durch Gründe argumentieren, beweisen. Schönheit läßt sich nicht beweisen und vordemonstrieren. Ein jeder muß wissen , was ihm gefällt oder nicht gefällt. Also läßt sich über den Geschmack nicht dispu­ tieren, d. h. nicht mit Gründen argumentieren, was schön sei. Ein Gedicht z. B . ist ein Gegenstand des Geschmacks und kann einem schön, dem an­ dem nicht schön sein. Denn die Vernunft ist wohl der Richter des Wahren, aber nicht des Schönen. Man streitet also allerdings, denn einer sagt: es ist schön, der andere behauptet das Gegenteil. Aber über das Angenehme streitet man nicht. Wenn einer sagt: ich trinke roten, der andere: ich trinke weißen Wein, so wird man darin nie widerlegt werden. Jeder genießt das, was ihm am angenehmsten ist. Es ist aber ganz etwas Anderes, wenn von Gesundheit die Rede ist. Wenn ich etwas schön nenne, so kann ich nicht sagen: dies ist schön für mich, das für d ich usw. Z. B . wenn ein ganz vortreffliches Gefäß von Porzellan, worauf sich eine schöne Malerei befin­ det, herumgezeigt wird, und es findet sich etwa der eine oder der andere, dem es nicht gefällt, so sagt man von ihm: er hat keinen Geschmack. Wenn aber auch Sauerkraut nicht jedermann gefällt, so wird man darüber nicht getadelt. Hier liegt das zweite Sprichwort zum Grunde: ein jeder hat seinen besondern Geschmack (Chacun a son gout) . Ein gutes Prinzip der Ungesel­ ligen. Wer aber ei nen besondern Geschmack hat, hat keinen. Denn unter

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Geschmack verstehen wir eine solche Beurtei lung des Schönen, die für jedermann gültig sein muß. Ein Gegenstand heißt schön, wenn er j eder­ mann gefällt. Das Schöne soll etwas sein, das ein Gegenstand der Lust ist. Es ist aber unterschieden von dem Angenehmen , welches ein Priv atwohl­ gefal len anzeigt, auch von dem Guten (dies gefällt durch den Begriff) , denn es geschieht durch Reflexion. Das Intervalium zwischen den Vorstellungen und den Begriffen eines Gegenstandes ist Reflexion. Alles, was schön ist, gefällt in Gedanken, im Spiel , z. B . Musik. Der Mensch, welcher nicht reflektieren kann, findet keinen Geschmack an einer zusammenstimmenden Musik. In der Reflexion muß etwas l iegen , das dem Gemüt behagt. Die Chinesen l ieben nur die Musik eines einzigen Instruments. Sobald accom­ pagnement dabei stattfi ndet, so gefällt sie ihnen nicht mehr. Sie kommt ihnen dann vor, als ein konfuses Getöne, was sie ohne Zusammenhang sausen hören . D ies kommt daher, weil sie nicht reflektieren, nicht auf­ merken, wie die verschiedenen Töne aufei nander folgen und endlich zu einer Harmonie zusammenstimmen. Zwar haben die Chinesen ein musikali­ sches Tribunal, dessen Zweck ist, ihnen begreiflich zu machen, daß eine neue aus mehreren Instrumenten zusammengesetzte Musik besser klingt. Aber wahrscheinlich werden sie nie dies einsehen lernen. Aus dem näm­ lichen Grunde, weil sie nicht reflektieren können, statuieren sie nicht ein­ mal Schatten auf Gemälden. Sie wollen haben, daß alles Licht sein soll. Ja sie verl angen sogar dasselbe von der Natur und rechnen es ihr zum Fehler an, daß sie soviel Schatten gibt. Der Grund des Wohlgefallens i m Geschmack l äßt sich nicht beweisen. Es ist genug, wenn wir wissen, was im Geschmack vorkommt. Begriff der Schönheit. Winckelmann sagt, daß ein Unterschied sei zwi­ schen Reiz und Schönheit. D ie Farben am Gemälde geben den Reiz, das Wohlgefallen durch den Sinn. Die Zeichnung gibt die Schönheit oder das Wohlgefallen durch die Reflexion. Er sagt ferner: Die Schönheit in Gemäl­ den ist mit Neigung interess iert, und man kann sie reizend, aber selten schön nennen. So ist der Körperbau des weibl ichen Geschlechts ohne Zweifel nicht so regel mäßig, als der des männlichen, hat also auch, im strengen Sinne genommen, nicht soviel Schönheit. Aber die Schönheit des weiblichen Körperbaus besteht darin, daß er sehr reizend ist. Daraus läßt sich nun leicht erkl ären, woher es kommt, daß man an nackenden weib­ lichen Figuren mehr Schönheit findet. D ie Produkte der Schönheit (z. B . die Venus) waren bei den Alten sittsamer, als jetzt. Denn bei dem Urteil über Schönheit l iegt gemeinhin Neigung oder gar Leidenschaft zum Grunde, welche das Urteil verfälscht. Ein Maler pflegte sein Gemälde, wenn es schlecht geraten war, zu einem goldenen Rahmen zu kondemnieren, und es erreichte dadurch gewöhnlich seinen Zweck. - Der gemeine Mann sieht mehr auf Reiz, als auf Schönheit, d. h. ihm gefällt mehr die Materie, als d ie

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Form. Z. B. in Pracht findet er Vergnügen, denn hier ist mehr Empfindung durch den Sinn. Darunter gehören Vergoldungen. D ie Schönheit ist entweder Schönheit der Natur oder Schönheit der Kunst. Die Natur ist schön , wenn sie aussieht wie Kunst, und Kunst ist schön, wenn sie wie Natur aussieht. Z. B. wenn wir im Walde einen grünen Rasen antreffen, der rund herum von Bäumen ei ngeschlossen ist, und wie ein Amphitheater aussieht, so finden wir es sehr schön. Die regelmäßigen Blätter bei einer Narzisse sind schön, wei l sie aussehen wie Kunst, und eine gemalte Narzisse ist schön, wenn sie aussieht wie die natürliche. So muß man auch immer bei der Kunst sich bemühen, allenthalben Natur anzu­ bringen. Bei allen unsern Vorstellungen wollen wir, daß unsere Gemütskräfte im Spiel und nicht beschäftigt sind. Ein pei nl ic her Fleiß, der sich dabei zeigt, gefällt nicht. - Das Spiel des Verstandes und der Imag ination, das sich wechselseitig hilft, macht, daß uns Schönheiten der Natur, herrl iche Pro­ spekte wahlgefallen und daß wir solange dabei verweilen können. Denn die große Mannigfaltigkeit der Dinge, die in unser Auge fal len, verursacht daß wir stets neue Beschäftigung haben. Musik ist fürs Gehör, Baukunst, Male­ rei , Kupferstecherkunst fürs Sehen. Die größte Kunst ist Malerei viele Räume auf ei ner Fläche vorzustel len. Sie ist überhaupt in Darstellung des Schönen am weitesten gekommen. Einen dauerhaften Eindruck für die Nachkommen macht Baukunst. Gefühl des Erhabenen. Über das Schöne haben wir die besondre Benen­ nung Geschmack. Über das Erhabene aber haben wir keine dergleichen auszeichnende Benennung. Das Erhabene bedeutet eine Vergleichung, über­ treffend den gewöhnl ichen Maßstab der Größen, oder was über den gewöhnlichen Maßstab der Größen hinausgeht. Burke, ein aufgeweckter Kopf, hat vom Schönen und Erhabenen geschrieben und sagt: Erhaben ist das, dessen Vorstellung uns Schauder und Furcht einj agt, z. B. die See, der Sturm, steile oder herüberragende Felsen, j ähe Höhen , tiefe Einöden, darin der einsame grauenvolle Aufenthaltsort eines Eremiten, ferner die Nacht ist erhaben, aber der Tag ist schön. Aber er hat doch nicht so ganz Recht. Denn das, was in uns Schaudern erregt, finden wir nicht immer erhaben. Im Gegenteil bezeugen wir Widerwillen und Verabscheuung vor dem, was uns mit Furcht erfül lt. - Besser möchte folgende Definition sein: Erhaben ist dasjenige, wo die Imagination durch den Gegenstand so erweitert ist, daß der gewöhnl iche Maßstab nicht mehr hinreichend ist, sie zu fassen. Darum wol len wir jedoch gar nicht leugnen, daß manche erhabene D i nge einen heiligen Schauer in uns erregen können, z. B. ein ungeheures wüstes Schloß, dessen zum Tei l verfallene Ruinen uns das ganze Altertum anzeigen u. dgl. , oder von einer Seite die Anlagen zur Tugend , von der andern der Abgrund einer schwarzen Seele des Menschen. Doch müssen solche Dinge nie ganz

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oder z u sehr vom Gewöhnlichen abgehen. Denn das Gigantische, Mon­ ströse mißfällt immer. Z. B. wenn man sagt: Das russische Reich ist unge­ heuer groß, so ist d ies gar kein Lob. Wie weit etwas gehen könne, daß es nicht gigantesque werde, läßt sich nicht bestimmen. Der Jupiter Olympicus war, wenn er gestanden hätte - er saß - 60 Fuß hoch. Er enth ielt also 1 0 Menschen von 6 Fuß in sich. E i n witziger Kopf sagte: Wenn der Jup iter aufstünde, so würde er das Dach umreißen. Wir schätzen die Größe eines Menschen nach dem kubischen Inhalt. Wenn es aber darüber ist, so werden wir verlegen und dies ist analogisch dem Schreck. Wir ziehen dabei unsere Imagination und nicht die Vernunft zu rate. Der Geschmack gründet sich auf Interesse und dieses hat er nur in Gesellschaft. In ihr werden die Gegenstände des Geschmacks erst wichtig. Einer, der auf einer wüsten Insel allein lebt, wird nie ein Blumenbeet an­ legen oder auf geschmackvollen Schnitt und Farbe des Kleides sehen usw. So ist sogar zu vermuten, daß er mit ei ner häßlichen Frau zufrieden sein würde, denn der Wert einer schönen besteht nur darin, daß man sie andern vorzeigen könne. Überhaupt haben wir al les was zum Geschmack gehört, nur für fremde Augen. Geschmacksneigung ist Eitelkeit, Geschmackstalent ist gut. Geschmacksneigung ist eine sehr große Plage, wenn sie weit exten­ diert wird. Was dem echten Geschmack zuwider ist, das ist die Mode. Der Mensch, der guten Geschmack in Mobilien hat, bes itzt ihn nicht immer in Konversationen. Der Konversationsgeschmack ist ein ganz aparter Ge­ schmack und in Frankreich zu Hause. Aber den Geschmack in Ansehung der D inge (Mobilien) findet man in Ital ien. Der Konversationsgeschmack ist sehr der Mode unterworfen und nichts verdirbt ihn mehr, als sie. Es darf eine Sache nicht schön sein, wenn sie nur neu und durc h Beispiele emp­ fehlend ist. Mode ist ein Geschmack, dessen Wert bloß in der Neuigkeit besteht, z. B . unsere Frauenzimmer tragen jetzt wahre Matrosenhüte, bloß weil es Mode ist. Sie gestehen übrigens selbst, daß sie sehr häßl ich sind. Manchen Personen l äßt alles gut. Sie dürfen nur was aufbringen, so gefällt es allen, und alle machen es nach, ohne zu unterscheiden, ob es an sich hübsch läßt, ob es gut, dauerhaft oder nützlich sei. Ein Schneider in London wollte eine neue Mode aufbringen und versprach einem jungen Menschen, dem alles gut l ieß und der in viele Gesellschaften kam (diese beiden Stücke waren notwendig zu dem, was der Schneider wollte, erforderlich) ein Kleid von neuem, noch nie dagewesenen Schnitt ganz umsonst machen. (Wenn man einen solchen, dem alles gut läßt, prangen sieht, so wird man ordent­ I ich verwirrt, worin die Schönheit bei ihm zu suchen sei.) Der j unge Mensch ging es ein, und sobald er in Gesellschaft kam, so gefiel j edem der neue Rock. Alle drängen sich zu ihm und fragen, bei welchem Schneider er den Rock habe machen lassen. Er sagt es ihnen und nun entschl ießen sie sich, den folgenden Tag sogleich hinzugehen und sich ähnliche Kleider bei

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ihm zu bestellen - keiner bleibt aus und bald kam der Schneider unter Kunden. So bringen auch Actricen auf dem Pariser Theater, denen ebenfalls alles gut läßt, Moden auf, welche die Kön igin nachahmt - und dann unterl äßt es auch zuverlässig keine andre Dame. Es ist sehr natürl ich, daß die Franzosen Moden aufbringen. Denn sie haben von al len Nationen die größte Leichtigkeit. Junge Leute, die gar zu sehr (und fast allein) auf Musik verfallen, be­ kommen gewöhnlich nur einen seichten, schalen Charakter, und zwar des­ wegen, weil dergleichen Musikl iebhaber selten andre Geschäfte vornehmen oder, wenn sie es ja tun , doch nur überh in .. Denn sobald irgendwo ein Konzertehen ist, so müssen sie mit dabei sein. Es sagte einst j emand zu einem solchen Menschen: Sie sind jetzt wie Ihr Instrument, weiter läßt sich mit Ihnen nichts anfangen, als daß man auf Ihnen spielt. Dergleichen Leute machen es ungefähr so w ie die Komödi anten, welche denken, j edermann muß den Titel des gestern aufgeführten Stückes wissen, und sich außer­ ordentlich wundern, wenn s ie Leute finden, die nicht darin gewesen sind, weil sie nur einzig und allein mit diesem Gedanken erfüllt sind. Beim Schönen sieht man nicht immer auf den Nutzen , sondern nur unmit­ telbar auf die Vorstellung. (NB ein porzellanener Teller und ein si lberner.) Das Schöne muß immer so beschaffen sein, daß es das Wohlgefal len beför­ dert und mit dem Guten übereinstimmt. Das Schöne hat viele Analogie mit dem moralisch Guten. Derjenige Mensch, der Wohlgefallen an den Schön­ heiten der Natur findet, zeigt schon eine gute moralische Seite, in ihm liegt wenigstens ein guter Fond. Das Wohlgefallen an den Schönheiten der Kunst kann lauter Eitelkeit sein. Kann die Schönheit bestehen, wenn sie dem Nutzen widerstreitet? Gewiß nicht, das Nützl iche muß zum Grunde liegen. Das Nützliche macht zwar nicht das Wesen der Schönheit aus, aber es muß hervorleuchten und alle Arten von Schönheiten, die dem Zweck widerstreiten, gefallen nicht. Jede Nation hat viel leicht eine ganz andere Idee, wenn sie sich das höchste Ideal menschlicher Schönheit denkt. So werden sich z. B. die Neger nie einen andern Gegenstand als einen schwarzen darunter denken. - Der Schein des Guten gehört wenigstens mit zum Geschmack. Er bringt schon etwas Gutes hervor. Z. B. Höflichkeit ist ein Schein des Wohlwollens. Was das Gute selber betri fft, so versteht man oft unter einem guten Menschen einen gutmütigen Menschen, d. h. einen solchen, der sich alles gefallen läßt, von dem man sich alles Gute zu versehen und nichts Böses zu besorgen hat, der überhaupt - eigentlicher zu sprechen - eine Schlafmütze ist. (cocu bon­ homme, ein Hahnrei.) Ein guter Mensch ist eigentlich der, der gut von Charakter, der gute feste Grundsätze in seinen Handlungen hat. (Des j ungen witzigen Lords Rochester Grabschrift auf Carl 11. : Hier l iegt Carl , der in seinem ganzen Leben viel Kluges gesagt und nichts Kluges getan hat - dies

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war ganz richtig. Der König nahm es ihm auch nicht übel. ) Gut zu sein kommt uns leicht vor, aber es gehört dazu eine beharrliche Standhaftigkeit. Ehrlichkeit ist nichts weiter als der kleinste Grad, das Minimum der Aufrich­ tigkeit im Verkehr mit andern Menschen. Ein Zeitalter also, wo die Ehrlich­ keit so ganz vorzüglich gepriesen und geehrt wird, ist sehr im Verfall. Denn die Folge ist, daß auch sie selten ist. Dennoch ist es besser, als wenn sie gar verachtet würde. Gutes und Böses muß in der Welt vermischt sein. So hat es die Natur gewollt. Man macht sich immer gemeinhin d ie Vorstellung, wenn ein Volk alles Gute und das andere al les Böse hätte, so müßte das letztere notwendig besser werden. Die Mischung guter und böser Menschen gibt Anlaß zur Kultur. Gute Menschen unterei nander können nicht be­ stehen. Nichts würde ihre Gutmütigkeit erhalten. Denn das Böse unter den Menschen ist der Wetzstein zum Guten. Die Schönheit gefällt ganz allein unmitte lbar, da es hingegen ein mittelbar Angenehmes z. B. die Wissen­ schaft gibt. Vergrößern aber die Wissenschaften an sich selbst die Voll­ kommenheit des Menschen oder tragen sie nur etwas dazu bei? Die Schön­ heiten sind mehrenteils unnütze und das, was man wesentlich schön nennt, erhält einen andern Zuwachs. Ob nun eine Person schön oder häßlich ist, sieht man durch die Anschauung. Die schlechten Züge aber werden durch Geldsäcke nicht schön. Schönheit betrifft das Urteil über die Anschauung, und Anschauung ist etwas Unmittelbares, also auch die Schönheit. Wir wollen zuweilen etwas ganz rein haben und also auch den Geschmack. Das Vermögen über die Erfindung und Auflösung mathematischer Beweise ist ganz rein. Und hier findet der Mensch ein Vergnügen, wenn er die Tätigkeit einer ganz besondern Kraft verspürt. Wenn etwas im Geschmack ganz allein gefallen soll , so muß man auf den Nutzen der Sache gar keine Rück­ sicht nehmen. Vereinigt sich aber die Schönheit mit dem Nutzen, so wird der Gefallen daran desto gründl icher und dauerhafter. Indes ist die reine Schönheit, die bloß für den Geschmack ist und ein gewisses reines Ver­ gnügen gewährt, von al lem Nutzen leer. Daher gefällt uns eine wohl­ gemachte Dose von Papier-Mache weit besser, als eine künstl ich ausge­ arbeitete silberne, wei l aus d ieser gleichsam der Geiz herfürguckt und sie verkauft und zu Golde gemacht werden kann. D as Porzellan wird aus Mangel des Nutzens für schön gehalten, auch wohl ein wohlgearbeitetes goldenes Gefäß, wei l man s ieht, daß man, da doch Geld hiezu nicht ver­ wandt zu werden pflegt, g leichsam auf den Nutzen desselben renunziert. Der Nutzen ist ein Gegenstand der Reflexion, der Geschmack aber ein Vorwurf der Anschauung. Wir tun wohl auch stolz darauf, daß wir uns so fein fühlen, wenn wir im Geschmack und in der Anschauung Vergnügen empfinden. Ja wir haben von einem B auer, der sich statt eines Pfluges ein schönes Gemälde an­ schafft, und den die herumstehende Menge viel leicht auslacht, eine große

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Meinung, ob wir ihn gleich für einen schlechten Wirt halten werden. Gefühl und Geschmack unterscheidet sich unendlich. Vergnügen und Schmerz werden nur von Sinnen begleitet und von alldem verursacht, was einen Eindruck zuwege bringt. Hingegen ist der Geschmack eine Vorstellung der Sachen, wie sie im Wohlgefallen erscheinen, welches aus unserer eigenen Tätigkeit, Gegeneinanderhaltung und Vergleichung entsteht. Bei einigen Sinnen attend ieren wir mehr auf die Vorstellungen , als auf die Ei ndrücke. Man vergleicht zwar die Vorstell ungen im Geschmack mit ei nem Gefühl, aber doch nur i n Ansehung der Vorstellungen. Es gibt auch eine Art von Vergnügen, einen schönen Gegenstand gesehen zu haben, das aus der Zu­ neigung entsteht, wovon viele, die es von sich kennen zu erzählen wissen. Sonst gehört zum Geschmack Urteilskraft, zum Gefühl, als welches Reiz und Rührungen zum voraus setzt, gehören Sinne. Geschmack ist kein sinn­ liches Urtei l , nicht Urteilskraft der Sinne und der Empfindung, sondern die Anschauung und Vergleichung durch Anschauung, Lust oder Unlust zu bekommen. Daher haben manche Menschen zwar viel Gefühl, weil sie Reiz­ barkeit besitzen, aber keinen Geschmack, aus Mangel an Urtei lskraft. Der Geschmack muß beständig erlernt werden , dahi ngegen das Gefühl nur höchstens durch Übung verfeinert wird. Ferner richten auch alle Künste, die fürs Gefühl sind, den Geschmack zugrunde. Daher scheinen alle D ichter, die sehr stürmisch und süß rasen, desselben zu entbehren, weil das Gefühl ganz nichtig ist. Eben dies gilt auch von den Predigten, die gar keinen weitem Nutzen haben, als der sich auf einige Augenblicke bezieht, wenn sie nämlich das Gefühl rege zu machen suchen, welches man aber vom moral ischen Gefühl, da man das Gute n icht aus Nachahmung, sondern aus Anschauung erkennt, unterscheiden muß. Denn wenn der Donner der Bered­ samkeit aufhört, wird man bald ruhig, wei l das Gefühl nichts Beständiges herfürbringt. Überhaupt muß man Toren durchs Gefühl nur bewegen, und der größte Schaden entsteht daraus, wenn man sich bei Untersuchungen darauf beruft. Was im Geschmack gefallen soll, muß al lgemein sein. Auch das Urte i l , welches durch i h n gefällt wird, muß kein pri vates, sondern e i n al lgemeines Urteil oder ein allgemeiner Grund des Wohlgefal lens sein. So speist der­ jenige mit Geschmack, der sich nicht bloß nach dem Appetit akkommo­ diert, sondern seinen Tisch so besetzt , daß alle Menschen gern mitessen möchten, wie wohl man jetzt den Grund eines guten Wirts ganz umgekehrt hat und mit diesem Namen einen solchen belegt, der nicht für sich selbst und noch weit weniger für andere gut speist, sondern kurzgefaßt darunter einen Geizhals versteht. Es erwerben sich daher diejenigen, die beständig allein essen, keinen Geschmack. Es wäre hier wert zu untersuchen: ob auch wohl bei allen Arten von Empfindungen, ein allgemeiner Grund der Über­ einstimmung sei n kann. Daß ein solcher beim Geschmack sein müsse,

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erhellet daraus, daß es anders nicht möglich sein würde, für alle Personen eine schmackhafte Mahlzeit zuzubereiten und sie darauf einzuladen. Indes­ sen kennen wir den Geschmack, der auf Empfindungen hinausläuft, nur aus Erfahrungen, denjenigen aber, der sich auf Anschauung bezieht, oder den idealischen, können wir den Geschmack a priori nennen. Doch können wir zuweilen bei neuen Gerichten erraten, ob sie dem Geschmack gefallen werden oder nicht. Der Geschmack ist ferner gesellschaftlich und das Prinzip des Zusam­ menhaltens einer Gesellschaft und des allgemeinen Vergnügens. Der Punkt, daß ein Ding allen gefalle, wird endlich der stärkste. Wenn daher jemand in einer Gesellschaft dem andern einen Schnack erzählt, worüber er Jacht, so sieht man sich sehr um, ob nicht ein allgemeines Gelächter darüber ent­ stehe. Das Wohlgefallen kann groß sei n , obgleich das Vergnügen selbst sehr wenig dazu beiträgt, und hierin besteht das Edle des Geschmacks, da wir die Schätzung des Werts an einem D i nge nicht i n Rücksicht eines einzigen, sondern im Verhältnis auf alle vornehmen. In der Einsamkeit und auf dem Land gefällt uns bald ein Garten, bald ein Wal d, in der Stadt aber wirkt das Gegente i l , wei l er nämlich das Land in kleinem Maßstabe vor­ stellt. Denn es scheint überhaupt, daß der Mensch, allein betrachtet, gar keinen Begriff von Schönheiten haben würde, daher wir ihn auch bei unge­ selligen Leuten gar nicht bemerken. Wenn man nun aber immer ausspähen muß, was allgemein gefällt, so hat der Geschmack ja gar keine Regeln, die fest sind. Der Geschmack hat immer Prinzipien, die in der Natur der Menschheit gegründet sind. Al lein Beobachtungen müssen uns erst die Regeln desselben zeigen, und wir können sie nur durch die Erfahrung bekommen. Wollte man dawider einwenden, daß dasj enige, was man schön nennt wechselt, so müssen wir s agen , daß dies der modische Geschmack, der aber nicht den Namen ei nes Originalgeschmacks verdient. Wer aus Mode wählt, weil er sie für Prinzip des Schönen hält, der wählt aus Eitelkeit und Wahn, nicht aber aus Geschmack. Ob nun gleich die Einstimmung, die man der äußern Form gibt, daß sie mit der Form der mehresten überein­ stimmt, eine Art von Schönheit ist, und das Altväterliche anzeigt, wie man nichts als gut zu finden fähig ist, als dessen man schon gewohnt ist, so stimmen dennoch die Regeln und die Urteile des Schönen gar nicht mit der Mode überein, und Mode und Gewohnheit sind dem Geschmack entgegen. Der Mann von Geschmack richtet sich zwar auch nach der Mode, aber nach Prinzipien des Geschmacks. Das Frauenzimmer ist modisch im Urte i l , der Mann hingegen urteilt gewöhnlich nach Prinzipien. Einige Moden verfallen sehr geschwind, andere erhalten sich lange, vielleicht daher weil kein anderer Ton angegeben wird . Daher lassen sich viele eine römische Klei­ dung machen , weil diese beständig bleibt und unsere hingegen fast alle Tage geändert wird - und weil die alten Moden der Enkelwelt lächerl ich

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vorkommen. Manche Moden entstehen daher, weil man jemanden , den viel­ leicht al les gut kleidet, damit prangen sieht, und man verwi rrt wird, worin eigentlich die Schönheit bei ihm zu sehen sei. Der Geschmack zeigt eine Übereinstimmung einer sinnl ichen Beurtei­ lung an, und das Sprichwort: de gustibus non est disputandum, ist also falsch. Denn disputieren heißt soviel als beweisen, daß mein Urteil auch für den andern gültig ist, und der Satz: ein j eder hat seinen eigenen Ge­ schmack, ist also der Satz der Unwissenheit und ein gutes Prinzip der Ungesell igen . Man streitet nicht über den Geschmack, weil keiner darin dem Urteil des andern zu folgen verlangt. Wenn nun aber im Geschmacke nichts wäre, was al lgemein gefiele, so wäre es ein Gefühl. Mithin muß es sich über den wahren Geschmack disputieren lassen. Ein jeder nach seinem Geschmack, d. h. ein jeder genieße also sein Vergnügen allein. Daraus folgt, daß jeder allein bleiben soll. Wenn jemand gute Freunde zu sich bittet, wird er sich erst nach eines j eden Geschmack erkundigen? Nein, er wird sich nach dem allgemeinen richten. In den Prinzipien des Geschmack ist zwar vieles empirisch und bei Gelegenheit der Erfahrungen gesammelt, aber die Gründe der Beurteilung sind nicht bloß aus der Erfahrung abstrahiert, sondern sie liegen in der Menschheit, und dann wenn das Urteil des Geschmacks mit dem Urteil des Verstandes begleitet wird , so liegen sie gewiß in der Natur der Sinnlichkeit. Daher ist das Urteil des Geschmacks nicht privat, sondern die Menschen haben al lgemeine Regeln der Beurteilung des Geschmacks. H ieraus sieht man, daß sie niemals entgegengesetzt sein können, denn da sie von eben dem Objekt gelten oder da die Gesetze der Sinnl ichkeit bei allen einerlei sind, so würden entgegengesetzte Urteile des Geschmacks eine Kontra­ diktion herfürbringen. Eins muß wahr, das andre falsch sein. Urteile des Gefühls hingegen können sich opponiert sein, weil Empfindungen das Subj ektive ausdrücken. Nur müssen es nicht reflectiones sein, die man für Empfindungen hält. Wenn also dem einen in der Stube zu warm, dem andern zu kalt ist, so sind ihre Urteile zwar widersprechend , aber sie können doch beide Recht haben. Denn es sind zweierlei Subjekte, und jeder urteilt so, wie er affiziert wird. Die Menschen nehmen aber sehr oft ihre subjektiven Urteile für objektive. Einer sagt von einer Person, daß sie häß­ lich ist. Dem andern kommt sie unleidlich vor und der dritte findet gar keine Annehmlichkeit an ihr. Diese urtei len nicht von der Person, sondern von ihren Empfindungen und also nicht objektiv, sondern subjektiv über die Art, wie sie affi ziert werden. Vom Angenehmen und Unangenehmen muß man nicht streiten. Denn dies ist ein Streit über das Subjekt. Gutes und Böses ist eine Sache des Objekts. Wenn ich also sage, die Sache ist gut oder böse, so urteile ich vom Objekt. Schönheit und Häßlichkeit gilt also gewiß von den Obj ekten, und es werden sowohl allgemeine Gesetze der Sinn-

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lichkeit als des Verstandes ausgefertigt werden können, d. h. eine Wissen­ schaft, für jene eine Ästhetik, für diese eine Logik. Eines dieser Gesetze der Ästhetik heißt: Alles was die sinnliche An­ schauung erleichtert und erweitert, erfreut uns nach objektiven Gesetzen, die für alle gelten. Unsere sinnlichen Anschauungen sind entweder im Raum, nämlich die Figuren und Gestalten der Dinge, oder in der Zeit, näm­ lich des Spiels der Veränderungen. Es sind also gewisse allgemeine Regeln der Ästhetik. Reiz und Rührung müssen wir aber jetzt beiseite setzen. Die Vorstellungen der Gestalt oder der Figur der Dinge sol len nach Gesetzen der Sinnlichkeit gemacht werden. Nun haben alle Menschen gewisse einstimmige Gesetze, wodurch sie sich die Gegenstände formen. Dies sind Gesetze und Vorstellungen. Zweierlei gehört zur sinnl ichen An­ schauung im Raum, nämlich Proportion der Teile oder ihr Ebenmaß und ihre Richtigkeit, welche Symmetrie und Eurhythmie heißt. Eine Ordnung der D inge in der Zeit nennt man ein Spiel, und ein Spiel der Gestalten ist ein Wechsel derselben in der Zeit. Zu einer guten Musik wird gleichfal ls zweierlei erfordert, nämlich der Takt oder eine gleiche Abteilung der Zeit, dann aber auch, wenn viele Töne vereinigt werden, eine Konsonanz oder Proportion der Töne. Dieses gefällt, weil alles, was unser Leben vergrößert, diese Wirkung bei uns herfürbringt, welches man allerdings von ei ner Erleichterung des sinnlichen Anschauens sagen kann, indem der Mensch ein großes Mannigfaltiges sich nicht anders vorstellen kann. Was also die sinnliche Anschauung erleichtert, gefällt und ist schön. Es ist den Subjekt­ gesetzen der Sinnlichkeit gemäß und befördert das innere Leben, indem es die Erkenntniskräfte in Tätigkeit setzt. Diese Erleichterung geschieht durch Raum und Zeit. Symmetrie erleichtert die Begreifl ichkeit, Verhältnis der Sinnlichkeit. Bei einem unproportioniert gebauten Hause kann ich mir das Ganze schwer vorstellen. Bei einem wohlgebauten aber sehe ich Gleichheit auf beiden Seiten, Gleichheit der Teile, und dies befördert meine sinnliche Vorstellung. Eine Erweiterung unserer Erkenntnis und Mannigfaltigkeit aber wird zum sinnlichen Wohlgefallen erfordert. Nun vermehrt aber die Anschauung das Leben, die Tätigkeit und begünstigt sie. Daher muß es mir gefallen, aber deshalb auch allein. Denn diese Regel liegt bei al lem zum Grunde. Alle Menschen haben Bed ingungen, unter denen sie sich ein großes Mannigfaltiges sinnlich vorstellen können. Musici heißen Spieler. Wir können aber auch Tänzer Spieler der Gestalt nennen, so wie bei Pantomimen. Beim Garten finde ich Schönheit durch Begreiflichkeit. Ist keine Ordnung darin, so kann ich mir davon kein Bild machen, denn ich sehe zuviel auf einmal. Wenn ich einen Garten ansehe, so bin ich beim ersten Blick ernsthaft und sehe Proportion und Symmetrie. Er gefällt mir daher, weil ich Gemächlichkeit habe ihn mir vorzustellen. Es darf etwas nicht allen gefallen, deshalb

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1 . wei l dazu eine Kunst gehört. Ohne daß ich etwas verstehe, kann ich es nicht schön finden. 2. weil wir noch etwas Besseres kennen. Wenn wir das Bessere vergessen könnten , so würde uns die Sache gefallen. Aber sie gefällt uns doch auch wirklich, ohne daß wir es wissen. Diese scheinbare Geringschätzung kommt her von der Vergleichung der Gegenstände gegeneinander, die man anstellt. Daß aber die Vergleichung eine solche Veränderung hervorbringen kann zeigen die Beobachtungen. V. Bielfeld sagt in seinen Briefen : Heidegger glaubte wegen seiner Pocken­ narben der häßl ichste zu sein, und man stellte deshalb eine Wette an. Der andere zeigte eine Weibsperson, die freilich in Ansehung anderer ihres Geschlechts häßlich aussah. Heidegger aber setzte ihr seine Perücke auf, indem er wohl wußte, daß der Anschein der größten Häßlichkeit von der zwischen ihr und dem übrigen Frauenvolk angestellten Vergleichung her­ rühre, und sich zog er Frauenkleider an. Darauf sah er weit häßlicher, sie aber v iel leidl icher aus. Denn als Weib gekleidet vergl ich man ihn mit Weibern, sie hingegen in der Perücke mit Männern, und so verlor er noch weit mehr und sie hingegen gewann mehr. Die alten Frauen sehen gegen alte Männer gut aus , hingegen verlieren sie in Vergleichung mit hübschen Mädchen. Die schönste Mannsperson in Frauenkleider gehü llt sieht frech und unangenehm aus. Daher gibt man auch den Frauen so empfindl iche Beiwörter, z. B . Hexen, weil sie das Unglück haben, mit j ungen Mädchen verglichen zu werden, da sie in Rücksicht auf ihr Geschlecht mehr abgenom­ men haben, als Männer gleichen Alters, gegen welche jene noch immer schön genug aussehen. Wenn wir das Interessierte zu dem schönen Ge­ schlecht fahren ließen, so würden sie uns vielleicht nur erträglich sein. Der eine kann etwas häßlich nennen, was der andere gut nennt. Es ist hier etwas Komparatives. Das Prinzip: De gustibus non pp. bleibt also immer dumm, und es wird dem Verstande dadurch ein so schönes Feld der Beurteilung entzogen. Es ist aber ein wahrer Beweis der Weisheit der Vorsicht, daß sie solche Gründe des Geschmacks in den Menschen ge­ pflanzt hat, wodurch der Grund der Glückseligkeit bei den Menschen gelegt ist. Wir müssen einen Unterschied machen zwischen schönen Gegen­ ständen und schönen Vorstellungen von denselben. Denn wir können auch von häßlichen Gegenständen schöne Vorstellungen haben. So kann uns eine häßliche, aber gut gemalte Person gefallen. Einige Tiere mißfallen uns. Sind sie aber in Marmor wohl abgebildet, so gefällt uns das Bild wegen der Übereinstimmung der Gegenstände. Die logischen Gesetze sind die, welche zeigen, wie man zur richtigen Erkenntnis der Sache gelange, es sei durch Schwierigkeit oder Leichtigkeit. Etwas stimmt also mit den objektiven Gesetzen überein, wenn in der Erkenntnis Wahrheit und Deutlichkeit anzu­ treffen ist, wenn sie gleich mit Schwierigkeit erlangt wird, hingegen mit

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unsern subj ektiven Gesetzen, wenn sie die Tätigkeit unseres Verstandes in ein leichtes Spiel versetzt. Wenn die Ästhetik eine Wissenschaft wäre oder wenn ästhetische Gesetze existierten, so würden sie zeigen, wie man eine Demonstration leicht, faßlich, naiv und durch ein natürliches Licht klarer machen könne. Voltaire wußte die schwersten Sachen leicht zu machen, so daß man sich zuletzt wundert, bei dergleichen Dingen Schwierigkeiten gefunden zu haben. Bei aller Schönheit des Geschmackes aber muß man dennoch einen Unterschied machen zwischen dem was schön und was hübsch ist. Denn beim Schönen ist immer ein Reiz anzutreffen, beim Hübschen aber nicht. Ein Frauenz immer ist venusta, wenn ihre Schönheit mit dem Reize der Grazien verbunden ist, pulchra aber, wenn ihr diese fehlen. So gibt ' s Mäd­ chen und andere D i nge, die zwar gute Züge haben, jedoch von Reizen entblößt sind, und wiederum andere, welche reizen ohne schön zu sein. Z. B. die Züge der Sanftmut stimmen mit den sanften Empfindungen und machen Reiz, die Munterkeit stimmt mit der Delikatesse oder Höflichkeit und die Leichtigkeit wird im Umgange bald bemerkt. Bei Frauenzimmern, die Reize haben ohne Schönheit, kommt der Reiz überhaupt von der Ge­ schlechterneigung her, weil es ein Frauenzimmer ist. Was schön oder wohl­ gereimt ist, belustigt, läßt aber kalt. Eine Gesellschaft ohne Reiz nennt man tot. Der Reiz ist entweder körperlich oder ideal . Der körperliche ist grob, der idealische hat gemeiniglich die Moralität zum Gegenstande. Bei der Musi k l iegt der Reiz in dem, was meine Affekte in Bewegung setzt. Ein nach allen Regeln der Musik komponiertes Stück kann schön sein und gefallen und doch keine Reize haben. Es läßt uns ungerührt und wir appro­ bieren es nur. Oft sind es Nebenumstände, die uns eine Sache reizbar machen. So kann uns eine Sache der Neuigkeit wegen reizbar vorkommen, weil wir sie zum erstenmal sehen, weil sie neu ist, wei l ich sie allein sehe, weil sie mir oder meinem Verwandten gehört usw. Eine Gegend ist schön und hat besonderen Reiz für mich, weil ich sie aus mei nem Zimmer über­ sehen kann. Die Menschen sind dabei sehr eigen. Sie suchen oft aus den elendesten Dingen Reize heraus. Dieser Reiz aber ist der körperliche Reiz, weil er durch körperliche Bewegung hervorgebracht wird, und heißt der indirekte Reiz oder die Rührung. Es gibt gewisse Dinge, die sinnlich angeschaut werden und Ideen verur­ sachen. Diese Ideen wirken wieder zurück auf den Leib, bringen Be­ wegungen im Körper herfür, worauf eine Empfindung erfolgt, die uns in ihren Folgen gefällt. Von dieser Art ist das Lachen, wobei die Idee eine unerwartete Umkehrung des Vorhergesehenen ist, welches sonst gleich­ gültig wäre. Woher kommt es aber, daß uns dasjenige, was Lachen erregt, vergnügt? Und weshalb gefällt uns das, worüber man lacht? D ies Vergnügen kommt

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nicht von den Sachen her, denn d ies sind meistens schlechte, alberne und einfältige Dinge. Also nicht die Schönheit des Gegenstandes, auch nicht die Eigenliebe ist Ursache davon, denn sollte ich mich darüber freuen, daß ich besser bin, als ein anderer? Die Ursache aber ist vielmehr eine unerwartete Umkehrung der Idee, eine Herfürstechung einer Sache, die mich nicht inte­ ressiert. Sonst ist es entweder ernsthaft oder gleichgültig. Woher kommt's, daß wir ein schauernd Vergnügen empfinden und daß wir das gerne sehen, was wir uns mit beständigem Grausen vorstel len müssen? Woher erweckt das Melancholische durch Beklemmung der Brust ein Vergnügen? So stellen wir uns gern einen Menschen vor, der in einer wüsten Einöde in eine abscheuliche Tiefe fällt. Dies kommt daher, weil in unserm Körper ein sehr feines Gewebe von Nerven ist, zu denen keine Motion, kein Mittel durchdringen kann. Auf diese wirken nun unsere Ideen und zwar auf verschiedene Art. Auch kommt es daher, weil der Gegenstand uninteressant ist und uns nichts angeht. Denn interessiert uns etwas, so ist es Ernst und dann hört alles plaisir auf. Das Vergnügen dabei entsteht daher, weil eine ernsthafte Idee, die wir uns vom Unglück machen können, nachlassen kann, wenn wir wollen. Durch unsere Willkür können wir den Körper in eine Bewegung bringen, die keine Med izin verschaffen kann. Alles kommt wieder in ein Aequilibrium, wenn wir uns satt geweint haben, da die Nerven vorher subtil erschüttert wurden. Bei diesen Organen des menschlichen Körpers, die durch die verschiedenen Stellungen nicht in Bewegung gebracht werden können, hat es die Vorsicht so eingerichtet, daß die Ideen des Menschen auf die Empfindungen wirken , doch jede auf eine besondere Art. Einige Nerven werden zusammengezogen , andere dilatiert und so wird der ganze Körper durchgearbeitet, und es ist eine gute Repara­ tion des Körpers, die uns immer nützl ich ist. Die Vorsehung hat daher sehr weise gesorgt, daß wir nicht sehen, nicht hören usw. können, ohne Empfin­ dungen zu haben. Einige Personen werden dadurch gesund, daß sie sich ärgern, nur muß ihnen bei ihrem Poltern keiner widerstehen. Ein berühmter Arzt, der sich besonders mit Messung des Gewichts des Menschen abge­ geben, entdeckte, daß er beim Kartenspiel nicht nur einen größeren Appetit bekäme, sondern daß auch eine weit stärkere Transpiration ergehe, als durch Motion. Es ist also sehr vorteilhaft, daß wir nicht sehen, reden können, ohne daß die Ideen auf unsern Körper wirken. Der Alte mag gern lachen und ist daher gern in Komödien, die Jugend hingegen, die sonst weit häufiger lachen mag, sieht gern Tragödien. Die Ursache liegt darin, weil die Leichtsinnigkeil der Jugend darin ein Gegengewicht findet durch die Schwermut und Beklemmung des Herzens, welche aber bei ihnen nicht haftet, sondern nachläßt, wenn das Stück geendigt ist. Bei den Alten hin­ gegen haften die Eindrücke der Tragödie länger und sind dauerhafter, da im Gegenteil das Vergnügen bei i hnen bald aufhört und bei der Jugend länger

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haftet. Doch muß man auch sagen, daß sowohl Leute, die sehr viel lachen, als die ernsthaft sind, über einige Angelegenheiten keinen Geschmack zei­ gen. Das Vergnügen also, was man an Komödien und Tragödien empfindet, liegt nicht in den Ideen, sondern im Magen. Daher rührt es auch, daß einem ein Stück nicht tragisch genug ist und für den andern wieder zu viel traurige Auftritte hat. Der ernste Geschmack ist von dem al len unterschieden. Die wahre Schönheit ist ernsthaft und gelassen. Das wahre Schöne besteht nicht im Lachen. Das Leben gehört zum indirekten Reiz. Etwas im Ernste zu nehmen, ist keine Kunst und es zeigt wenig Genie an, wenn man bei Geschäften eine gravitätische Miene macht. (Die Neigung alles ins Lachens­ werte zu ziehen, zeigt die Heiterkeit des Genies nur an, und diese, wenn sie sich nun über al les verbreitet, ist nur eine Maske der gesunden Vernunft.) Es ist besser etwas bei gesunder Laune zu verrichten, wodurch der Mensch bei den Fähigkeiten erhalten wird. Und daher ist es auch besser, das Laster von der lächerlichen als von der schädlichen Seite zu schi ldern. Der Mensch bei einer ernsthaften und grav itätischen Miene sieht lächerl ich aus und je ernsthafter er auch sein Steckenpferd reitet, desto lächerlicher er­ scheint er. Vom Nutzen der Kultur des Geschmacks Die Beschäftigungen des Gemüts mit dem Schönen verfeinern es und machen es moral ischer Eindrücke fähiger. Auch schärft die Kultur des Geschmacks die Urteilskraft. Sie verfeinert den ganzen Menschen und ver­ ursacht, daß er eines idealischen Vergnügens fähig wird. Der Genuß der mehrsten Dinge ist im Verbrauch der Sache und ist also nicht eine Teil­ nehmung vieler. Die Vergnügen des Geschmacks aber sind edler. Sie sind teilnehmend und darin steckt eben das Feine. Ein schöner Garten, den ich sehe, kann viele vergnügen. Der Geschmack hat etwas Feines, etwas mit der Moralität Analogisches. Er vermehrt nicht mein Wohlbefinden, sondern es lassen sich meine Vergnügen nach Geschmack verteilen. Er richtet alle Vermögen der Menschen so ein, daß sie zum Vergnügen anderer beitragen. So kann ein Musicus von viel tausend Menschen mit Vergnügen angehört werden. Außer der Verfeinerung macht uns auch der Geschmack gesellig. Die Verfeinerung sogar unseres sinnlichen Urteils macht den Menschen fähig, nicht bloß an Eindrücken der Sinne zu hangen, sondern selbst Schöp­ fer seiner Vergnügen zu sein. Alle idealischen Vergnügen sind mehr aus der Reflexion, als aus dem Genuß der Sache genommen. Ein Autor sucht die leichtfertige Art, in Gedichten z. B. die Liebe, Wein usw. mit schönen Farben zu schildern, zu rechtfertigen. Er sagt: sie befördern die Moralität, verfeinern den Geschmack, das idealische Vergnügen und bessern den Menschen. Derjenige Mensch ist glücklich, der sich ein ideal isches Ver-

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gnügen machen kann, und ein Mensch, dessen Geschmack verfeinert ist, ist eo ipso besser geworden. Horne behauptet gegen Rousseau , daß die alten rauhen Sitten auch die Menschen einander ungesellig und der Moral ität unfähig gemacht haben, und daß die Verfeinerung des Geschmacks uns zwar nicht ganz allein, aber doch unvermerkt bessern kann. Das zu sehr Modische im Geschmack verrät einen Menschen ohne Grundsätze. Ein solcher Mensch denkt nicht immer für sich selbst, sondern sucht nur der erste zu sein in Sachen, von denen er es voraussieht, daß sie allgemein werden können. Der Gebrauch und die Mode im Geschmack sind aber unterschieden. Kleidet man sich nach dem allgemeinen, so kleidet man sich nach dem Gebrauch. Ist man aber der erste, der sich einer Kleidung bedient, die hernach al lgemein wird, so kleidet man sich nach der Mode. Die Mode ist mit dem Anfange des Gebrauchs. Für einen vernünftigen Menschen aber schickt es sich nicht, daß er sich nach den Grundsätzen im Gebrauch richte, viel weniger, daß er darin modisch sei. Bei Dingen , die bloß in die Augen fallen, kann er sich nach dem Gebrauch richten, weil diese die Einförmigkeit unter den Menschen stiftet und sie verbindet. Aber in Grundsätzen modisch zu sein, ist unanständig. Wenn man z. B. der Mode folgen wollte, seine Frau immer al lein gehen oder fahren zu lassen. In Frankreich sah ein Fremder einen Mann, ganz kaltblütig mit seiner Frau gehen und fragte einen Franzosen: Lieben sich diese? Der Franzose ant­ wortete: 0 nein ! es ist seine Frau, hier wäre die Mode, daß man seine Frau nicht lieben müsse. In Genua schämt sich eine Frau neben ihrem Manne auf der Straße zu gehen, und glaubt, es verstehe sich schon von selbst, daß dieses unanständig sei , denn eine jede Frau hat außer ihrem Mann noch einen Caval ier servant (cicisbeo) . Im Geschmack mod isch zu sein, ist ein Beweis, daß man gar keinen hat. In der Schreibart hat man in Deutschland viele Moden angenommen. Bald schreibt man gedrungen, bald weitläufig, bald war die Mode so kompreß zu schreiben, daß Demosthenes sich der Wörter hätte bedienen können, um sie statt Kieselsteine in den Mund zu nehmen, durch ihre VermitteJung eine reine Aussprache zu lernen. Bald war der Geschmack, die Gedichte mit Juwelen, Gold, Stürmen schwarzen Wol­ ken pp auszufüllen. Bald darauf kam die Mode auf, tändelnd zu schreiben. Man wollte witzig sein und so entstand etwas Fades und Schlechtes. Man sagte, es sollte eine Munterkeit sein. Diese steht aber nicht jedem an. Vielleicht bemühte sich jemand hier einen französischen Schriftstel ler, den er selbst nicht verstanden, nachzuahmen. Es gelingt aber nicht, hierin die Franzosen nachzuahmen. Nachher kam ein gew isses Spiel des Witzes in Antithesen auf. Man kann es einer Schreibart bald ansehen , wenn sie auf einem gewissen Leisten gemacht ist. Das Wesentliche der Schreibart ist Leichtigkeit. Sie muß gar nicht scheinen Mühe gekostet zu haben. Soll

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etwas gut geschrieben sein, so muß man dies nicht einmal bemerken, außer nur nachher in den Folgen. Verfeinerung des Geschmacks ist von der Verzärtelung unterschieden. Die Empfindung gehört zur Beurteilung. Aber empfindl ich zu sein gegen Vergnügen, ist eine Schwäche. Wer einen verfeinerten Geschmack hat, findet bald wo Beleidigungen stecken, aber er kann sie großmütig ertragen und braucht seine Kenntnis dazu, daß er sich hütet andere zu beleidigen. Die Verzärtelten aber sind empfindlich und nehmen auch die kleinste Beleidigung übel auf. An einer Mannsperson ist dies eine Schwäche, bei den Frauenzimmern leiden wir sie wegen ihres Geschlechts. An i hnen schätzen wir sie hoch und ein dreistes Frauenzimmer ist uns zuwider ebenso wie ein weibischer Mann. Ein Mann muß empfindend und zärtlich sein, nicht empfindlich und verzärtelt. Ein zärtl icher Ehemann oder Lieb­ haber ist der, der in der Wahl der Wörter behutsam und delikat ist und alles, was etwa beleidigen könnte, sorgfältig abhält. Dazu gehört ein feiner Ge­ schmack, d. h. quod emollit mores. Die Wissenschaften gewöhnen die Men­ schen nur zu reflektieren und können auch dadurch ihren Geschmack ver­ feinern. Unser Gefühl in Ansehung der Reize und Rührungen ist vom Geschmack sehr unterschieden und kann zwar mit ihm vergesel lschaftet werden, aber es macht den Geschmack nicht selber aus. Wer immer Reize und Rührungen verlangt, hat keinen Geschmack. In Schriften, Gedichten und allen Werken des Witzes können Rührungen schön angebracht werden. Allein es muß erst das Thema, der Gegenstand schön ausgemalt sein. Ich muß erst von der Sache selbst ein faßliches Bild haben, und die Rührungen werden nur mit untermengt und dienen zur Teilnehmung einer Sache. Reiz aber ohne Geschmack ist ein blinder Reiz. Prahlerei und Pracht sind dem wahren Geschmack entgegengesetzt, wenn man z. B. mit Reichtum prahlt. Durch Verschwendung verliert der Geschmack viel, wenn er auch wirklich dabei zu finden ist; denn er besteht eben darin, daß man mit Sparsamkeit und wenigen Kosten etwas schön habe. So sagt ein Maler von der Venus eines Andern: Da Du sie nicht besser hast malen können, malst Du sie sinnreich. Er hatte sie aber mit Juwelen behangen. Eine Person mit so vielem Reichtum behangen gefällt lange nicht so gut, als das Sanfte und dies ist nicht kostbar, sondern simpel und geschmackvol l . Pracht bezieht sich auf Ehrgei z und alles, was prächtig und gezwungen läßt, will nicht gefallen. Brabanter Kanten sind nur wegen der Kunst, die man darauf ver­ wendet, teuer. Wenn die Manschetten so herfürkommen, als ob sie nicht wollten gesehen sein, so lassen sie schön. Ein Kleid muß kommod zu sein scheinen, nicht als ob man sich ängstlich fürchte, irgendwo damit anzu­ stoßen, um es nicht zu beschädigen. Die jetzigen zuckerhütnen Moden sind offenbar wider den Geschmack. Die Köpfe sehen so spitzig aus wie die Wilden in Amerika, die die Köpfe ihrer Kinder so spitzig wachsen lassen.

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Es muß überhaupt immer etwas Legeres beim Geschmack sein. Wenn ich an einem Orte zu Gast und die Frau läuft samt den Bedienten viel herum, so gefällt es nicht, die Speisen mögen noch so schön sein. Denn das Vergnü­ gen muß man nicht mühsam suchen, wohl aber die Nahrung. Beim Ver­ gnügen selbst muß alles bequem scheinen, und es muß sich alles gleichsam durch eine Zauberkraft von selbst finden und dann gefällt es. Eine allgemeine Regel der Sitten brauchen wir nicht zu suchen, wir haben sie. In Ansehung des Geschmacks müssen wir etwas Festgesetztes, gewisse Urbilder haben, sonst zerstört die Mode alles. Der griechische und lateinische Geschmack hat sich noch am reinsten gehalten und d ient zum Muster. Gingen diese Dichter verloren, so würde der Geschmack großen Revolutionen unterworfen sein. Es muß eine tote Sprache sein, denn sonst ändern sich Wörter und Ausdrücke. Vor 1 00 Jahren lobte man den Reineke Fuchs und er war damals in den besten Versen abgefaßt. Jetzt lacht man da­ rüber. So werden verschiedene Versarten Mode, z. B. Lieder nach Klop­ stock. Die Franzosen fürchten den Verfall des Geschmacks sehr und haben auch Ursache. Denn alle lateinischen und griechischen Bücher werden in ihre Sprache übersetzt. Als zuletzt das Corpus juris in ihre Sprache über­ setzt wurde, sagte jemand: Jetzt wird auch keiner mehr Lateinisch lernen. Die Antiken der Bau- und Bildhauerkunst in der Poesie und Redekunst dienen zum Muster. Hörten diese auf und gingen verloren, so würden d ie Menschen auf vielerlei Empfindungen kommen, und es muß also ein Mu­ ster da sein, wenn etwas bleiben soll. Der Delikatesse des Gewissens bei dem, was zur Freundschaft gehört, ist der fähig, der seine sinnliche Urteilskraft geschärft, der Geschmack hat. Der Geschmack bringt den Menschen darauf, was allgemein gefällt und präpa­ riert ihn schon zum gesellschaftlichen Leben. Der Mensch von Geschmack wählt nicht, was ihn vergnügt, sondern was allgemein gefällt. Er sieht die Dinge aus einem gemeinschaftlichen Punkte an. Er muß aber natürlich wäh­ len aus innerer Beschaffenheit des Geschmacks, nicht aus Mode wählen. Denn das sehr modische Wählen verrät einen Menschen von wenig Grund­ sätzen. Alle Sinnlichkeit bereitet dem Verstande schon die Sache vor, so daß die Handlungen des Verstandes dadurch eine gewisse Leichtigkeit be­ kommen. Der Geschmack führt uns nicht durch allgemeine Regeln, sondern durch besondere Fälle. Die Vernunft ist eine Art von Hofmeisterin, mit der man sich nicht aus Neigung, sondern bloß aus Notwendigkeit beschäftigt. Der Verstand ist etwas, das durch die Länge beschwerlich wird. Daher ist uns alles, was die Funktion desselben mit mehrerer Leichtigkeit verwaltet, angenehm. Dies tut aber der Geschmack und stellt uns Fälle in concreto vor. Derjenige, der die Vernunft mit dem Geschmack verbindet, bestreichet gleichsam den Rand des Bechers, der voll von ei ner zwar etwas widrigen aber sehr nützl ichen Arznei ist, mit Honig. Aber viele Menschen sind wie

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Kinder. Sie lecken vom Rande den Honig ab, ohne die Arznei zu berühren. Sie lesen schöne Bücher, um bloß für den Geschmack etwas zu sammeln, als schöne Ausdrücke, Historien u. dgl. und denken nicht einmal an den Endzweck des Autors. Bei j eder Sache bemerken wir etwas selbständiges Schönes. Indes ver­ steht es sich von selbst, daß die Sachen, die an sich nichts Selbständiges haben, auch nichts selbständiges Schönes haben, denn ihr etwaniger Reiz ist nichts Selbständiges, z. B. das Modische. Jeder Mensch will original sein, und diese Idee rekommandiert ihn eine Mode zu machen, indem er sich vorstellt, wie viele ihm folgen werden, und eine Idee muß bei jeder Sache zum Grunde liegen. Wir können eine Sache nicht eher für schön halten, als bis wir wissen, was es für eine sei und was da schön sein soll. Denn eine Sache kann i n verschiedenen Verhältnissen schön und auch nicht schön sein. So kann man z. B. noch nicht urteilen, ob ein gemaltes Gesicht schön sei, wenn man noch nicht weiß, ob es ein Mann oder ein Frauengesicht sein soll, und ein gemachter Kopf kann als Mannsperson schön, als Frauenkopf aber häßlich sein. Ein Rock, den ich beim Schneider zuschneiden sehe, kann als Regenrock v ielleicht schön, als Galakleid aber häßlich sein. Ich muß also wissen, wozu die Sache bestimmt ist, ehe ich urteile. Man muß allemal die Idee der Sache voraussetzen. Diese Idee ist von v ielen Dingen zusammengenommen abgeleitet und gleichsam das Mittlere von allen Egres­ sen und Defekten vieler specierum. Das Muster der Schönheit liegt also im Mittlern der species (Arten) . In Ansehung aller Dinge ist die Übereinstimmung der Rührung mit der Idee die wahre Schönheit. Man muß aber die Materialien der Schönheit von der Schönheit selbst sehr wohl unterscheiden. Denn die Materialien machen nicht die Schönheit aus, sondern die Zusammenordnung, Verbindung und die Form. So sind z. B. hübsche Farben die Materialien der Schönheit. Allein die Schönheit selbst entsteht, wenn diese Materialien zusammen­ gesetzt werden. Hat man erst den Begriff einer Sache, so wird die Schön­ heit als ein accidens angesehen. Was aber der Absicht der Sache w ider­ streitet, ist der Schönheit zuwider und kann nicht lange gefallen, d. h. die Sache, die schön sein soll, muß mit der Idee zusammenstimmen. Ein Kleid z. B., welches enge ist, gefällt nicht, denn es widerstreitet der Absicht, weil es kommod sein sollte. D ie Alten machten an den Häusern Pfei ler nach einer Spirallinie, weil sie die Pfeiler unserer Art für plump hielten. Man sieht aber bald, daß dies mit der Idee des Hauses nicht übereinstimmt, wenn es fest sein soll , und die Schönheiten sind nur accidentia. Moden scheinen keine dauerhafte Schönheit zu haben, weil es viel Mühe gekostet sie einzu­ führen, besonders, wenn sie viel Peinlichkeit haben. Alle Annehmlichkeiten und Reize aber, die der Absicht der Dinge widerstreiten, sind dem Selb­ ständigen der Schönheit entgegen. In einem Gedicht oder in einer Rede

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besteht das Selbständige der Schönheit in der Beziehung der Sinnlichkeit auf Gründlichkeit, Wahrheit und Reinlichkeit. Die logische Vollkommen­ heit macht also das schönste Selbständige aus. Die Kenntnis des Menschen und der Wissenschaften gibt uns den Stoff an die Hand, über den wir alle Schönheit verbreiten können. Der Verstand macht dazu die Grundlage und wo er durch Schönheit sekundiert wird, da ist was Dauerhaftes. Alles hingegen ist umsonst, ein schöner Geist mit einem leeren Kopf werden zu wollen. Wenn man den David Hume, einen der neuesten Schriftsteller, und einen englischen Zuschauer liest, so weiß man nicht, ob man hier die Schönheit oder die Gründlichkeit und die Einsichten schätzen soll. Keiner unter den Schriftstel lern, die dies Selb­ ständige nicht gehabt, ist in seinem Geschmack bewundert geblieben. Schönheit aber kann vom Meister nicht erlernt werden, wenn man keine gründliche Kenntnis von Sachen hat. Denn die Lehre vom Geschmack (Ästhetik) ist keine Doktrin, sondern nur eine Kritik. Kritik ist d ie Unter­ scheidung des Werts in einem schon gegebenen Subjekt. Indem man ge­ wisse Produkte kritisiert, übt man den Geschmack. Wäre sie eine Doktrin, so könnte man lernen witzig werden. Denn Doktrin ist eine Unterweisung, wie man etwas Schönes herfürbringen soll. Das Silbenmaß und das Reimen kann man zwar ebenso gut lernen, wie drechsel n, aber D ichten, Neuigkeit der Gedanken, lebhafte B ilder, Abstechungen machen oder Bewunderung erregen, ist nicht zum Lernen. lndeß hat sie den Nutzen , daß man durch vielfältige Kultur, durch Kritik anderer sich in Übung und Wertigkeit setzt, sich selbst zu kritisieren und zu beurteilen, daß sie die Urteilskraft schärft und das Genie indirecte exzitiert. Man wird alsdann nichts oder wenn man etwas schreibt, etwas Schönes schreiben. Die Kritik lehrt uns den Vorrat den wir an Erkenntnissen haben, wohl anbringen. Was da gefällt, ist den ästhetischen Regeln gemäß, aber nicht alles, was nach ästhetischen Regeln abgefaßt ist, gefällt. Ästhetische Regel ist nur darum recht, weil etwas gefällt, wenn es so ist. Ist aber ein Fall, der unter einer Regel steht, nicht nach Geschmack und gefällt nicht, so ist die Regel falsch. Denn ästhetische Regeln können nicht a priori, sondern aus Beispielen, d. h. durch Erfah­ rungen (a posteriori) bewiesen werden. So kann man eine ganze Lehre der Kritik abfassen. Z. B. es macht jemand ein Gedicht nach allen Regeln, und doch gefällt es zuweilen nicht. Wem ist nun zu glauben? Den ästhetischen Regeln oder denen, denen es nicht gefällt? Den letzteren. Denn alle ästhe­ tischen Regeln sind nur vom Geschmack vieler Menschen abgezogen. Nichts aber schadet dem Genie mehr als die Nachahmung, wenn man nämlich glaubt, nur nach der Ästhetik entscheiden zu dürfen. Dies geschieht leider in den Schulen, und man kann sicher behaupten , daß der Mangel an Genies in unseren Zeiten bloß aus den Schulen herrühre, wo man Kindern Regeln zu Briefen, Chrien usw. vorschreibt, wo man sie lateinische phrases

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auswendig lernen l äßt, welchen Zwang man spät und oft gar nicht ablegt. Wie sehr aber möchte ein alter Römer, der die jetzigen lateinischen Schrif­ ten lesen sollte, lachen, wenn sie auch in zierlichem Latein abgefaßt wären. Denn man kann sich in der Verbindung der Wörter, wenn sie auch ebenso da sind , ungemein i rren. D as deutsche Wort »übersetzen« ist übel ange­ bracht, wenn man sagt: er hat das Deutsche ins Lateinische übersetzt. Das ist zwar grammatikalisch recht gesprochen, und doch ist der Ausdruck lächerlich. Bei den alten Griechen wurden die Autoren nur »zitiert« und die Genies dadurch »exzitiert«. Der Geschmack scheint nichts Wesentliches zu sein. Denn man s ieht wohl ein, daß er von der Vollkommenheit unterschieden ist, indem er uns nur Dinge als vollkommene vorstellt, die es nicht sind. Bloße Politesse zeigt eben noch nicht gute Gesinnungen, sowie ein guter Ausdruck noch keinen Verstand anzeigt. Eine Uhr kann richtig gehen, ohne viel Schönheit. Und Modenuhren sind schön geputzt und gehen oft sehr unrichtig. Der Geschmack scheint also etwas Überflüssiges und gewissermaßen ein B lend­ werk zu sein, womit Menschen sich hintergehen, um die Dinge sich an­ genehm vorzustel len und üble Stellen dadurch zu verdecken. Die artige Manier, sich gut auszudrücken, ist gleichsam nur ein Firnis, womit man al­ les überzieht, aber kein eigentliches Verdienst. Das Wohlgefallen durch den Verstand ist ganz etwas Anderes, als das durch Sinnlichkeit. Das erste heißt gut, das andere schlecht. Sollen aber alle unsere Urteile des Verstandes praktisch werden, so muß sich der Verstand zur Sinnlichkeit herablassen, denn allein ist er nicht hinreichend. Doch die Sinnlichkeit muß dem Verstan­ de, nicht der Verstand der Sinnlichkeit untergeordnet sein. So zeigt der Kompaß nur die Weltgegend an und gibt dadurch Anlaß zur Richtigkeit des Schiffs. Aber er bewegt das Schiff nicht. Dazu gehören Regeln. Und so schreibt auch der Verstand Regeln vor, deren Ausübung aber nur insofern möglich ist, als sie auf Gegenstände der Sinne angewandt werden. Es müs­ sen demnach die Menschen Geschmack haben, um die Regeln der Vernunft in Ausübung bringen zu können, vorzüglich in der Sittlichkeit. Und in der Tat ist der Geschmack auch nichts anderes, als die ganze Tugend, ange­ wandt auf Kleinigkeiten oder auf Gegenstände, die keine große Angelegen­ heiten des Menschen ausmachen. Z. B. Politesse, Artigkeit ist tugendhaftes Verhalten auf kleine Gegenstände (oft in hohem Grade) angewandt. Die Höflichkeit, so man den Frauenzimmern erweiset, und die Distinktion, mit der man ihnen begegnet, ist die nicht aus Großmut entsprungen? Begegne­ ten ihnen die Mannspersonen nicht großmütig, wie tief würden sie wegen ihrer Schwäche sinken. Und so erwarten alle Personen von der Großmut anderer Achtung. Wird aber nicht d ie Großmut hier auf etwas Unerhebli­ ches angewandt? Ein Mann von Politesse muß, wenn er Gäste hat, die unter­ ste Stelle an der Tafel einnehmen, um sich den letzten Teller zu bestimmen.

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Er muß seine größte Mühewaltung darin bestehen lassen, seine Gäste zu bewirten, die Gesellschaft aufzumuntern, wenn es auch auf seiner Seite mit den größten Unbequemlichkeiten verbunden ist. Was ist d ies aber anders als Freundschaft und Bemühung Anderer Wohl zu befördern? Was anders als Politesse, gutartige Gesinnung, und ist dies nicht Tugend, ob sie gleich nur auf einen Tag, auf einen Umstand angewandt wird? Auch muß ein Mensch von Geschmack i n Gesellschaft nicht von sich selbst sprechen. Denn es zeigt an, daß man sich ein vorzügliches Recht einräumen wolle, welches andere nicht gerne sehen. So geht es mit allen Regeln des Ge­ schmacks im Umgang. Der Geschmack in Kleidung oder Ameublement, Anlegung eines Gartens, indem er von den Menschen verfeinert wird, und einen Eindruck nach seinen kleinsten Teilen abwiegen lehrt, macht den Menschen zugleich fähig, in Ansehung des Wichtigen sehr leicht die Dishar­ monie zu empfinden. Und auf diese Art ist der Geschmack eine beständige Kultur der Tugend, indem er die Menschen fähig macht, bei wichtigen Din­ gen aufs Pflichtmäßige zu sehen und das Geringste gegeneinander abzuwie­ gen. Alles S ittliche enthält zugleich das Schöne. Wenn ein Mensch etwas Ungeziemendes spricht, so sagt man: Er hat keine Conduite. Oft kann man auch etwas sprechen, was sich zwar schickt, aber doch nicht gefällt. Es ist unser Geschmack gleichsam ein Augenmaß in allem Schicklichen. Es kann auch zuweilen ein Mensch, der Unschickl iches redet, Conduite und Artig­ keit besitzen. Ein Mensch, der schicklich ist, ist wohlerzogen, und derjeni­ ge, der darauf sieht, was gefällt, hat Geschmack. Schicken und Geziemen ist der Grund der Schönheit, und dies schreibt der Verstand vor. Al les Schöne, alle Manieren haben den Grund in der Moralität. Denn was boshaft ist, kann nicht schön sein. Man kann die Moralität in allen Handlungen der Menschen finden. Das Urteil, das wir in jeder Gesellschaft von jeder Miene anderer Personen, von dem Betragen der Kinder gegen ihre Eltern fällen, hat jederzeit seinen Grund in der Moralität, ob wir es gleich zur Politesse rechnen. Dies macht, daß die Moralität nicht ungesellig ist. Die Tugend nimmt uns ein, nicht durch den Gebrauch, sondern insofern sie uns gefällt. Auf diese Weise arbeitet der Geschmack der Tugend vor, gibt ihr das Gefällige und macht, daß sie auch in der Erscheinung gefällt. - Denn sofern sie nur durch oder in der Vernunft gefällt, ist sie ein Gebot. Gebote aber sind dem Menschen jederzeit verhaßt. Der Geschmack ist also ein Ana­ logon der Vollkommenheit und seine Verfeinerung von großer Wichtigkeit. Er ist in der Anschauung das, was Sittlichkeit in der Vernunft ist. Nun aber entsteht die Frage: Wie wird der Geschmack studiert? Man muß ihn lernen. Der Mensch ist eine besondere Kreatur, die al les lernen muß. Horne behauptet in Ansehung des Rousseau, daß auch Tugend müsse gelernt werden und so auch der Geschmack. Durch Erlernung kann man ihn nicht erzeugen, sondern indem wir unser natürliches Talent exkolieren.

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Welches ist nun die Art, zu einem richtigen und gesunden Geschmack zu gelangen? Nicht durch Regeln, denn er unterwirft sich keinen Regeln, sondern nur durch Anschauung, d. h. das Beispiel in der Sache selbst und das unmittelbare Anschauen, das die Sache selbst in mir hervorbringt, d. h. die Erscheinung selbst. Allein es kann mir jemand eine Sache zeigen wollen mit der Versicherung, daß es mir gefallen werde. Allein eigentlich kann niemand sagen, das soll mir gefallen. Denn der Geschmack gründet sich nicht aufs Sollen. Die Regeln mögen sagen , was sie wollen, so ge­ bieten sie nicht, sondern kritisieren nur. Zu allem andern kann ich gezwun­ gen werden, aber daß mir etwas gefallen soll, steht in keines Menschen Gewalt. Alle Regeln also, die etwas in Ansehung des Wohlgefallens gebie­ ten, sind lächerlich, weil sie sich auf Beobachtungen gründen und von der Menge der Fälle abstrahiert sind. Geschieht es nun, daß jemandem etwas, was nach allen Regeln des Geschmacks eingerichtet ist, doch nicht gefällt, so kann man nicht sagen, daß der Geschmack dieses Menschen unrichtig sei , sondern die Regel ist falsch. Es ist sonderbar genug, daß hier die Appellation vom Verstande zur Erscheinung gilt, da es sonst doch gerade umgekehrt ist. Lessing ist ein starker Kenner der theatralischen Regeln, und doch gefallen viele seiner Stücke im Zusammenhange nicht, unerachtet die Teile gefallen. Wenn er nun einem, dem seine Ged ichte nicht gefal len, zeigen wol lte, daß seine Spiele nach allen theatral ischen Regeln einge­ richtet wären, so würde er ihm antworten: Laßt mich mit euren theatrali­ schen Regeln zufrieden, genug, es gefällt mir nicht. D ies ist ein sicheres Kennzeichen, daß die Regeln unrichtig sind. Eine jede Regel erfordert eine besondere Bestimmung. Nun läßt sich durch solche Regeln eher anzeigen, was da mißfällt, d. h. negative, als was gefällt oder positive ist, weil der allgemeine Widerstreit leichter zu beobachten ist, als der Grund der Ver­ knüpfung. Der einzige Weg, unsern Geschmack zu bilden ist der, daß uns viele Gegenstände der Natur vorgelegt werden und daß wir an denselben das Reizende und das Rührende zu unterscheiden suchen. Der Reiz gehört zum Schönen, die Rührung zum Erhabenen - und zu beiden Urteilskraft. Zum Erhabenen gehört kein Geschmack, denn nur die Urteilskraft vom Schönen ist Geschmack. Alles, was durch die Mannigfaltigkeit die Tätig­ keit unseres Gemüts in Bewegung setzt, gehört zum Schönen und zum Reize. Was aber dem Grade nach die Tätigkeit des Gemüts befördert, ist erhaben. Das Erhabene erregt Achtung und grenzt an Furcht. Bei allem Erhabenen wird die Seele ausgedehnt und die Nerven werden gespannt. Das Schöne erregt Liebe und grenzt an Verachtung, denn was bloß schön ist, erregt Ekel. Beim Reize ist man zur Abstechung geneigt, denn alles ist uns zuwider was uns lange voreilt Alles aber, was den Menschen reizt, zwickt ihn. Das Schöne aber reizt, und daher wird der Mensch durch beständiges Drillen endlich ermüdet. Überhaupt kann man keiner Sache eher über-

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drüssig werden, als wo alles auf Schönheit angelegt ist. Daher auch die süßen Herren, d ie voll von Höflichkeit und Geschmack sind, zuletzt uner­ träglich werden. Was das Erhabene betrifft, so spannt es die Nerven aus und schmerzt, wenn es stark angegriffen wird. Ja, man kann es bis zum Schre­ cken und zur Atemlosigkeit treiben. Alles Wunderbare ist erhaben und daher angenehm, wenn man es in Gesellschaft erzäh lt, in der Einsamkeit aber schreckt es. Ja, selbst der gestirnte Himmel, wenn man sich bei dessen Anblick erinnert, daß dies alles Weltkörper und Sonnen sind, die wieder eine ähnliche Menge Weltkörper um sich drehen lassen, als unsere Sonne, erregt ein Grausen und ein Schrecken in der Einsamkeit, wei l man sich einbildet, daß man, als ein kleines Stäubchen in einer unermeßlichen Menge von Welten, nicht verdient von dem allmächtigen Wesen bemerkt zu wer­ den. Alle d iese Bewegungen nun, wie das Schöne und Erhabene laufen zuletzt auf etwas sehr Mechanisches hinaus, und alle diese Tätigkeit be­ fördert ihr Leben im Ganzen.

Vom Wohlgefallen und Mißfallen in Ansehung der Gegenstände, insofern sie als gut oder böse angesehen werden Nachdem wir nun geredet haben von dem, was in der Empfi ndung und Erscheinung gefällt, so gehen wir nun zur dritten Abteilung und reden von dem, was im Begriffe gefällt oder was gut ist. Die Gründe des Wohlge­ fal lens beim Vergnügenden und Schönen sind subjektiv, beim Guten und Bösen aber objektiv. Der Grund von dem, was in der Erscheinung gefällt, ist zwar zum Tei l auch objektiv, aber nur in Ansehung der Sinnl ichkeit. Was angenehm oder unangenehm ist, versteht ein j eder geradezu. Wenn aber j emand etwas beschreibt, z. B . der Apfel ist mit einer farbigen Röte umgeben und liebkoset gleichsam dem Auge, so redet er von einer Erschei­ nung. Nun erscheint zwar dieselbe Sache nicht allen auf die nämliche Art, aber es ist doch in jeder Sache etwas, was allgemein gefällt oder mißfällt. Und es sind mithin alle Beurteilungen in Ansehung des Wohlgefallens oder Mißfallens nach Gesetzen der Sinnlichkeit auch objektiv. Folglich muß mein Urteil von dem, was schön ist, wenn ich etwas schön zu nennen Recht habe, auch für andere gelten, da im Gegenteil mein Urteil über die Annehm­ lichkeit nicht für jedermann gilt. Streiten also zwei über etwas Schönes, so kann nur einer Recht haben. Hingegen wenn der Streit Annehmlichkeiten betrifft, so können beide Recht haben. Alle Urteile des Geschmacks sind allgemein gültig nach Gesetzen der Sinnlichkeit. Reiz und Rührung sind subj ektiv und gehören also fürs Gefühl. Daher kann ein Urteil von einem Gedicht, daß es reizend sei, nicht allgemein gelten. Denn es gibt keine allgemeinen Gesetze in der Empfindung. Und wenn ja einige darin überein-

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kommen, so geschieht es zufälligerweise. So weiß man vom Zucker und von der Süßigkeit überhaupt, daß es allen Tieren gut schmeckt, allein dies rührt aus uns unbekannten Gründen her. Es gibt aber auch gewisse al lge­ meine Gesetze der Sinnlichkeit, die ich a priori vor aller Anschauung und Erfahrung erkenne, und dies ist Raum und Zeit. - Nur allein die Musik ist imstande, bei uns ein Wohlgefallen zu erregen, das aus dem bloßen Spiele der Empfindung herrührt. Denn das bloße Klopfen der Luft auf der Ohr­ trommel kann uns nicht so sehr vergnügen, sondern die v ielen Bebungen der Luft i n einer bestimmten Zeit und die Proportion der aufeinander folgenden Töne erregt bei uns das Vergnügen. Denn eine einzige d ieser Empfindungen würde nicht vergnügen, obzwar ein einziger Ton schon ver­ gnügt, welches aber daher kommt, weil auch ein einziger Ton schon ein Spiel unserer Empfindungen verursacht. Es ist bekannt, daß ein Ton 500 und mehr Bebungen in einer Sekunde macht. Das Verhältnis des Mannig­ faltigen in der Zeit ist das Spiel. In der Zeit gefällt also das Spiel, im Raum aber die Gestalt, d. h. die Qualität in der Einschränkung des Raumes. Die Größe im Raum gefällt eigentlich gar nicht, sondern sie gehört zur Rührung - also zum Erhabenen, wenn sie gefällt. Schön bleibet schön, aber erhaben bleibt nicht erhaben, wenn ich es gewohnt bin. So sagt man, daß die nogai­ schen Tataren, wenn sie einen von unsern Officiers sehen, die Hände ausstrecken, um ihre Größe zu messen, da wir hingegen gleichgültig dabei sind. Werde ich durch die Größe nicht affiziert, so ist die Sache auch in Ansehung meiner nicht erhaben und mithin gehört die Größe gar nicht zum obj ektiven Urteil. Die Menschen können sich also in Ansehung des Erha­ benen widersprechen, aber in Ansehung des Schönen nicht, ohne daß einer Unrecht hat. Denn man kann etwas schön nennen, ohne davon gerührt zu werden. Die Urteile über Schönheit sind also allgemein für Menschen. Die Urteile über das Gute und Böse sind aber allgemein für alle vernünftigen Wesen, sie mögen sein, was sie wollen, Engel oder vernünftige Geschöpfe in andern Planeten. Das Schöne hingegen darf ihnen nicht gefallen, denn sie können andere Gesetze der Sinnlichkeit haben. Das Erhabene kann mit zum Gefühl gerechnet werden. Das Schöne gehört aber zum Geschmack. Eini­ ges ist zwar so erhaben, daß man sicher rechnen kann, es werde für alle erhaben sein. Z. B . der Ozean oder die Unermeßl ichkeit der Weltkörper. Allein es geht hier ebenso als wie mit der angeführten Empfindung der Süßigkeit. Es scheint eine allgemein größere Gültigkeit zu haben und für den Geschmack zu gehören. Es kommt hier aber nicht auf Proportion, sondern lediglich aufs Gefühl an und auf die Größe des Affekts. Was wohlgefallen kann, ohne daß es allgemeinen Regeln untergeordnet ist, darf auch nicht nach allgemeinen Gesetzen gefal len. Mithin gehört alles Urteil vom Erhabenen zum Subj ektiven. Ein Engländer sagte: Eine lange Linie ist ein mittlerer Umfang. Z. B. der Ozean ist erhaben, eine größere Höhe, ein

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größerer Fels ist noch erhabener, aber eine große Tiefe am erhabensten , denn eine große Tiefe gewähret uns am meisten den Schrecken. Ein franzö­ sischer Arzt schrieb, daß er niemals den Eindruck des Erhabenen vergessen würde, den er auf dem Berge Aetna empfunden, da er die ganze Insel Sizilien mit ihren Städten, Neapel, das adriatische Meer habe übersehen können. Beim Felsen kommt ' s nicht auf das Verhältnis, sondern auf den letzten Affekt, den ich davon habe, an. Was nicht auf Verhältnis geht, kann nicht für andere zur Regel dienen, und was also auf den Eindruck geht, kann nicht allgemeinen Regeln untergeordnet sein. Nur bloße Verhältnisse sind einer Regel fäh ig. Der Ozean ist erhaben, aber nicht mehr für einen Seefahrer, der schon einmal in Indien gewesen ist. Das Schöne aber gefällt jedermann. Ein Stieglitz z. B. muß wegen seiner vortrefflichen Farben und ganz besonderen Proportion jedermann gefallen, weil sich die Proportion unter allgemeine Regeln bringen und durch den Verstand erkennen läßt. Man wird das Schöne zwar gewohnt, es ist uns aber nie gleichgültig. Denn Ordnung und Ebenmaß mit Mannigfaltigkeit verbunden, wo mehr Ab­ stechung der Vorstel lungen ist, erleichtert das Spiel der Sinnl ichkeit. Ob­ gleich hier allgemeine Regeln sind, so dürfte es doch oft schwer fallen, sie herauszuklauben. Wenn mir etwas gefällt und ich sehe, daß es andern nicht gefällt, so halte ich es für keine eigene Beschaffenheit des Objekts, sondern meines Subjekts. Man würde gewiß keine Veränderung des Objekts auf uns für wahr halten, wenn andere nicht übereinstimmen sollten. Wenn mir etwas in den Ohren klingt und andere sagen: Es wird geläutet, so halte ich meine Empfindung für wahr.

Bemerkungen über den Geschmack Man hat bemerkt, daß es denjenigen Leuten, denen es an einer Art von Ge­ schmack fehlt, an allen Arten desselben fehle, vorausgesetzt, daß es Leute sein müssen , die Umgang und also Gelegenheit gehabt haben, ihren Geschmack zu kultivieren. Man sagt: »der Mensch hat einen schlechten Geschmack« und dies ist ebensoviel als »er hat keinen« . Denn Geschmack gefällt an und für sich selbst, und man versteht darunter die Fertigkeit zu wählen, was j edermann gefällt. Am Umgange, an der Kleidung lernt man den Geschmack kennen. Es gibt Menschen, die sich aus der Musik nichts machen, und an solchen findet man zugleich, daß sie gewöhnl ich auch nichts von einer schönen Schreibart und von Poesie halten, ja, daß sie wohl gar gegen die Reize der Natur ganz gefühllos sind. Eben die Singularität, die jemand in Kleidung und Umgang beweist, hat er auch in andern Sachen. Man kann immer glauben, daß man aus eines Menschen Schreibart wohl urteilen könne, wie er auf der Straße geht, steif oder flüchtig, und wie er in

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Gesel lschaft sich bezeigt. In anderer Art kann man aus der Wahl der Far­ ben, die ein Mensch in einer Reihe von Jahren getroffen hat, schließen, was er für eine Gemütsart habe. Das alte Sprichwort: Noscitur ex foro etc. möchte also hier eintreffen, denn im Geschmack offenbaren sich die übri­ gen Gemütszüge des Menschen sehr deutlich. Ob jemand ein Heuchler oder ein Aufrichtiger, ob er stolz oder eitel sei, kann man schon aus einem Briefe erkennen. Es findet zuweilen aber auch eine große Geschickl ichkeit ohne Ge­ schmack statt. So gibts Tonkünstler ohne allen Geschmack. Diese ersetzen den i hnen mangelnden Geschmack durch die ihnen eigentüml iche Kunst. Allein man vermißt in ihrer Musik doch das Gefällige. Wenn einem etwas nicht gefallen will, so sagt man »er versteht es nicht«. Freilich um zu wissen, ob eine Sache schön sei oder nicht, muß man wis­ sen, was die Sache vorstellen soll. Aber man braucht den Ausdruck gewöhn­ lich, wenn jemand ein� Sache, die künstlich ist, nicht zu schätzen weiß, wenn sie gleich an sich nicht schön ist. Es gibt Leute, die bloß die Kunst bewundern, z. B. daß jemand die Haut bois spielen kann, daß sie den Ton einer Flöte verrät. Allein solche Leute gehören in die Klasse derj enigen, denen eine Sache ihrer Seltenheit wegen gefällt. Der Geschmack am Künst­ lichen ist, wie der Geschmack am Seltenen, gar kein Geschmack. Ein mit großen Kosten angelegter Garten oder eine prächtige Tafel, wo lauter Auf­ wand herrscht, gefällt also nicht. Denn mit wenigen Kosten etwas so einzu­ richten, daß es gefällt, dies ist für den Geschmack. Die Pracht ist also dem Geschmack ganz entgegen, denn Magnificence und Geschmack sind unter­ schieden, obgleich auch Geschmack einigermaßen Magnificence sein muß. Als Zeuxis eine von einem Andern mit v ielen Perlen, Gold und Si lber gemalte Venus sah, sagte er: »Da Du sie nicht hast schön malen können, hast Du sie reich gemalt«. Das Spiel in Gesel lschaft zeigt keinen Geschmack, sondern es muß nur als Notmittel der langen Wei le vorzubeugen gebraucht werden, und als­ dann, wenn die Gesellschaft eine Monotonie bekommt. Es ist insoweit gut, weil bei demselben ein beständiger Wechsel von Leidenschaften stattfindet. Das Gemüt hat Motion, allein es ruht sich auch aus. Das Spiel befreiet uns in etwas von der beständigen Höflichkeit, weil ein jeder sein ganzes Recht dazu braucht, dem Andern zu schaden sucht und ihm Masken macht. Es vergnügt deshalb, weil durch die Leidenschaften das Prinzip des Lebens auf alle Art gezwickt wird. Sartorius sagt, daß man beim Spiel am mehresten transpiriere. Eine Gesellschaft ist nicht complet, wenn kein Frauenzimmer dabei ist. Denn diese müssen als Richterinnen in der Erscheinung des Schö­ nen angesehen werden. Es sind demnach die Gesellschaften Schulen des Geschmacks. Besonders tut der Umgang einer Mannsperson mit dem Frau­ enzimmer hierin sehr viel. Es ist aber sonderbar, daß der Umgang des

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Frauenzimmers mit Mannspersonen für erstere keine Schule des Ge­ schmacks ist, sondern die ist ihnen vielmehr der Umgang mit anderen Damen. Die Frauenzimmer haben nur darum das männl iche Geschlecht nötig, weil ihre Talente von demselben aufgefordert werden, nicht aber wegen der Ausbildung des Geschmacks. Ein Frauenzimmer putzt sich nicht für Mannspersonen, denn es weiß, daß es diesen im Neglige oft besser gefällt, als im Putz, sondern es putzt sich bloß für andere Frauenzimmer, deren Musterung durchzugehen nichts Leichtes ist.

Vom Geschmack verschiedener Nationen Wenn wir den Geschmack bei den Völkern betrachten, so finden wir in Europa eine Nation, die etwas Eigentümliches in Rücksicht aller Nationen in der Welt an sich hat. D ies ist die französische. Wir wollen hier ihren Wert nicht untersuchen, wei l die Urteile verschieden ausfallen würden. Diese Nation scheint sich schon seit Caesars Zeiten im Geschmack herfür­ getan zu haben. Im alten Griechenland aber findet man mehr, als bloß Geschmack. Es herrscht bei der französischen Nation eine besondere Fröh­ lichkeit und eine glückliche Art von Leichtsinn, vermöge dessen sie die wichtigsten Dinge en bagatelle traktiert und hingegen Kleinigkeiten zu­ weilen sehr erheben kann. Daher kommt es, daß ein sicheres Kennzeichen bei ihnen ist, wenn eine Sache im großen Ansehen steht, daß sie ihrem Untergang nahe ist, und daß im Gegenteil eine Sache, die ganz herunter­ gekommen zu sein scheint, eben deshalb ein Schicksal zu erwarten hat, welches sie bald emporbringt. Und in der Tat gehört auch für den Ge­ schmack ein beständiger Wechsel. Ein sehr munterer Geist macht diese Nation zum wahren Muster des Geschmacks, welches sie wohl auch nicht dürfte aufhören zu sein, wenn nicht eine besondere Regierungsart dies bewirkte. Die alten Griechen hatten noch etwas außer dem Geschmack, dem man aber keinen Namen geben kann, weil bei ihnen nicht nur die Leichtigkeit, sondern eine Art von Proportion und ein wahres Wohlgefallen nach Gesetzen der Sinnl ichkeit statthatte. Die Franzosen haben durchgängig, selbst bis auf die niedrigem Klassen, eine gute Erziehung, so daß die Tochter eines Handwerkers eben die Conduite hat, als eine vornehme Dame, und dies erstreckt sich auch selbst bis aufs männliche Geschlecht. Bei uns hingegen ist hierin eine erstaunl iche Gradation, und doch findet man oft auf der obersten Stufe plumpe Leute. Dasjenige, was bei den Fran­ zosen nur allein zu tadeln ist, ist der unbändige Leichtsinn der Jugend. Sie haben die sittsamsten Ohren und sind doch selbst nicht sittsam. Indes be­ sitzen sie doch keine wahre Höflichkeit, und die Deutschen sind eigentlich

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viel höflicher, als sie. In Gesellschaft des Frauenzimmers binden sie sich an keine Reinlichkeit im Ausdruck und in der Aufführung. Sie besitzen wegen des Bewußtseins, daß sie sich in alle Gestalten schicken können, hardiesse, aber keine Höflichkeit. Wenn sie aber zu Jahren kommen, so haben sie eine besondere Annehmlichkeit, die sie bis ins späte Alter behalten. Gegen Fremde ist man in Frankreich sehr höflich, aber man bittet sie niemals zu Gaste, da hingegen die Gastfreiheit in Deutschland im wirklichen Sinne herrscht. Im Geschmack möchten die Deutschen wohl nie original werden. Hingegen haben sie in Ansehung des Methodischen vieles vor andern voraus, und der Geist der D isposition, der Ordnung, Genauigkeit usw. ist ihnen ganz eigen. Ihre Schriften sind wie ein menschlicher Körper, dem die Haut abgezogen, wo zwar viele Zusammenstimmung in den Muskeln und Nerven herrscht, der aber nie in solcher Gestalt gefällt. Der Geschmack ist noch von der Reinlichkeit verschieden. Ob wohl ersterer ohne letztere nicht bestehen kann? Wir finden Nationen, wo zwar Geschmack herrscht, aber keine Reinlichkeit, welches man von Ital ien zu gestehen pflegt. Es ist daselbst ein recht hoher Geschmack, aber der Reinl ichkeit befleißigt man sich nicht sonderlich, sowie auch in verschie­ denen Gegenden Frankreichs. (Siehe britt. Museum 2ter Teil.) D ie Unrein­ lichkeit, wenn sie ja beim Geschmack ist, muß nicht in die Augen fal len. Denn der Geschmack geht bloß auf das in die Augen Fal lende. Die Holländer sind die reinlichsten und haben keinen Geschmack. Der Ge­ schmack unterscheidet sich vom Vergnügen in der Empfindung. Denn der Appetit wählt das, was ihm gefällt. Die Reinlichkeit und besonders Zier­ lichkeit findet nur unter mehreren Menschen statt, wo einer die Musterung des andern passieren muß. Von einem Menschen aber, der ganz isoliert auf einer wüsten Insel lebt, wäre es lächerlich, wenn er sich erst die Haare kräuseln wollte, ehe er aus der wüsten Insel heraustritt. D ies zeigt aber offenbar, daß der Geschmack sich nur aufs Äußere des Menschen beziehe. Was die englische Nation betrifft, so zeigt sie in ihren Verrichtungen Sentiment an. Man hat aber im Deutschen kein gutes Wort, was dem Sinn desselben genau anpaßte. Wollte man es durch »innere Empfindung« über­ setzen, so zeigt »Sentiment« mehr an. Sentiment muß gleichsam das Augen­ maß sein über alles, was vollkommen und gut ·ist und nach der Vernunft wohlgefällt, so wie Geschmack das Augenmaß ist von dem, was in der Er­ scheinung gefällt. Man sagt von einem Menschen, er sei vernünftig, wenn er durch eine willkürliche Anwendung der Vernunft den Wert und Unwert der Dinge unterscheiden kann. Wenn aber Menschen, die nicht studiert haben, eine ganz praemeditierte Vernunft in ihren Reden äußern, so gefällt solches noch mehr. Wenn z. B . jemand einem andern aus der Not geholfen und letzterer ihm hernach das Geld wiedergeben will. Wenn er sich aber erst vorgenommen hatte, es nicht wiederzunehmen, und sagt: Ich hatte

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schon, da ich Ihnen das Geld gab, im Sinne es Ihnen zu schenken, und ich muß also das Versprechen, das ich mir selbst getan habe, halten usw. D ies kommt daher, wei l die Sentiments-Urteile über intel lektuale Sachen so gefällt werden, wie die Urteile durchs Gefühl. Das Sentiment ist auch noch so beschaffen, daß derjenige, der es hat, auch noch eine Art von Gefühl der Erkenntnis des Guten und Bösen beweiset. D ie Menschen sind oft gleich­ gültig gegen das, was gut und böse ist. So schätzt der Lasterhafte oft die Tugend, aber sie vergnügt ihn nicht. Ein Menschenfreund kann für seine Person einem andern ganz gleichgültig sein, obwohl objektiv die Menschen­ freundlichkeit an ihm geschätzt wird. Aber alsdann hat der Andere kein Gefühl und kein Sentiment. Es gibt viele Lehrer, die die Tugend unablässig lehren, aber selbst gleichgültig gegen sie sind. Sie sind den Wegweisern nicht unähnlich, die zwar immer den Weg zeigen, aber nie sich selbst von der Stelle bewegen. Der Grund hiervon ist schwer einzusehen. Indes ist soviel gewiß, daß es keine große geistige Regung sein kann, indem es eine contradictio in adjecto wäre, sich eine solche zu denken, da alles Wohl­ gefallen bei dem Menschen vom Körper herrührt. Die Ursache also ist, weil kein Gefühl die Urteile der reinen Vernunft über das, was gut und böse ist, begleitet. Wie es aber zugeht, daß die Billigung des Guten und Mißbilli­ gung des Bösen mit Gefühl begleitet wird, mag v iel leicht daher kommen , daß wir uns in die Person des guten Menschen setzen und alsdann die Billi­ gung des Guten auf uns applizieren. Epikur schon behauptet, daß alles Ver­ gnügen körperlich sei. Ein Mann, der moralisch Gefühl hat, hat Sentiment. D ie Engländer haben eigentl ich gar keinen Geschmack, aber ein Ana­ logon des Geschmacks und Sentiment. Man bewundert billig die Richtig­ keit und Vollkommenheit in ihren Arbeiten, die die Gegenstände der Sinne betreffen. Bei einem Gegenstand sind bonitas und pulchritudo so nahe verwandt, daß man sie kaum unterscheiden kann. Die Engländer gehen immer auf die bonitas, auf die Vollkommenheit und aufs Zweckmäßige der sinnlichen Gegenstände. Der Richtigkeit halber, deren man sich in England befleißigt, läßt die französische Regierung auch alle ihre astronomischen Instrumente daselbst verfertigen, und diese Richtigkeit erstreckt sich auch auf grobe Arbeiten. Allein sie haben nicht soviel Geschmack, ob wir gleich alle unsere Sachen verpfuschen. Indes ist auch nicht zu leugnen, daß das­ jenige, was richtig ist, auch gewissermaßen schön ist, weil die Vollkommen­ heit und Schönheit stark aneinander grenzen. Was die Schriften betrifft, so ist die Hauptabsicht der Franzosen die Ver­ schönerung derselben. Sie suchen nicht Gründlichkeit, nicht Einsicht, son­ dern frappanten Witz, den sie nicht allein in der Mathematik und Experi­ mentalphysik, sondern auch sogar in der Metaphysik spielen lassen. Sie halten nur das für fruchtbaren Boden, worauf sie Blumen des Witzes streu­ en können. Sie gehen in ihrem Tändeln so weit, daß jetzt schon alle Gründ-

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lichkeit bei ihnen wegfällt, und daß man außer Metaphysik und Physik nichts aus ihren Schriften lernen kann, die bloß zum Vergnügen und nicht zum Unterricht sind. Die Engländer zeigen in ihren Schriften ein Analogon des Geschmacks und eine Art von Sentiment oder Genie. Das Genie liefert Stoff, Materialien zur Erkenntnis, die sowohl im Verhältnis der Sinnlichkeit und der Vernunft gefallen sollen. Der Geschmack ist davon unterschieden. Denn er disponiert und ordnet diese Materialien so, daß sie in der Erschei­ nung gefallen. Es ist hier ungefähr so, wie mit einer Tafel, worauf al les mögliche Essen ist, wo aber einer die Suppe, der andere den Braten ißt, und wo alles in Anordnung gesetzt ist, so daß sich die Seele sogleich ein Bild davon entwerfen kann. Aber selbst solche Schriften, die witzig sein sollen, haben nicht sowohl Geschmack als Empfindungen. Man könnte die Senti­ ments der Engländer den hohen Geschmack nennen. Denn selbst ihre größ­ ten Autoren, Young, Pope, Addison, haben mehr Hohes, als Gefal lendes in ihren Schriften. Hume selbst gesteht dies von seiner Nation. Beim Ge­ schmack kommt es nicht darauf an, ob die Sache was wert sei . Voltaire hat gewaltig v iel Geschmack, aber kein Mensch wird von ihm was lernen. Aus dem Geschmack einer Nation kann man leicht auf ihren Natio­ nalcharakter schließen. Ist jener prächtig, so zeigt er den Stolz an, wie z. B. bei den Spaniern. In Italien findet man den sogenannten edelen Geschmack, der auf Empfindungen geht. In der Malerei, Baukunst, Musik zeigt er sich besonders. Ihre besten Maler, als Raffael , Michelangelo, zeigen einen recht hohen Geschmack und haben die Empfindungen unnachahml ich ausge­ drückt. Und so auch in der Musik und Bildhauerkunst. Unerachtet des vor­ züglichen Geschmacks, der bei den Franzosen herrscht, vermißt man doch die Empfindung, besonders in der Musik. D ies gilt auch in ihrem Umgang mit den Frauenzimmern. Sie sind ungemein artig, aber dabei ohne Empfin­ dung. Man findet viele Komplimente, Galanterien, Koketterien, aber nichts für die Empfindung. Dies zeigen auch ihre Gebäude. Selbst in Versailles, ihrem Meisterstück, findet man viel Prächtiges, aber nichts Frappantes. Dagegen frappieren in England die großen Parks sehr, worin sie den Geschmack der Chinesen angenommen haben. Auch sind die englischen Gärten die besten, worin sie ebenfalls den Chinesen nachahmen. Daß wir in unseren Gärten nichts Unterhaltendes haben, kommt daher, wei l wir die Sorge dafür gemeinhin einfältigen Leuten überlassen. Ein gewisser Autor hat von den chinesischen Gärten geschrieben, und man findet auch i n der Bibliothek der schönen Wissenschaften Nachricht davon. In Asien ist keine Nation, die Geschmack hat, außer der persischen. Die Perser sind die Franzosen von Asien. Wo aber das tatarische Blut hin­ gekommen ist, da hat es die Nation grob und ohne Geschmack gemacht. Die Türken sind weit von allen feinen Empfindungen entfernt. Ihre Musik ist bis zum Melancholischen traurig und schwerfäl lig. Sie lieben lauter

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Gaukelspiele und haben gar keinen Geschmack. Sie tun nichts als Tabak rauchen und Kaffee trinken, und wenn sie verstohlenerweise Wein trinken, so schweifen sie aus. Dahingegen besitzen die Perser einen weit feineren Geschmack. Sie sind gute Dichter, besonders in Fabeln. Sie sind witzig, scherzhaft, satirisch und gegen die Religion sehr leichtsinnig, wie die Franzosen. Ihre Verse sollen gut klingen, wenn man sie auch nicht versteht. Doch sind sie nicht so gravitätisch in ihrem Umgange, wie die Türken. Die Perser trinken in ihren Moscheen auch Kaffee, plaudern und sagen zu­ weilen ihrem Prediger: »Ja, ja, Du hast ganz recht«, dahingegen die Türken von einer ganz unglaublichen Ernsthaftigkeit sind. Wir finden im . . . Passage, wo ein Türke erzählt, daß ein Franzose mit dem Teufel auf dem Wege zusammengekommen, worauf sie Gesellschaft gemacht und die Be­ dingung unter sich eingegangen wären, daß einer den andern wechselweise so lange auf den Achseln tragen sollte, als der Getragene würde singen können. Darauf soll sich der Franzose zuerst draufgesetzt und sich Triller vorgesungen haben und sich auf diese Weise immerfort haben tragen las­ sen. Darauf fügte der Türke die Anmerkung hinzu : Wer sich mit den Fran­ zosen in Singen einließe, wäre übel dran. China scheint einen Privatgeschmack zu haben, der nur alsdann gefällt, wenn man sich eine Zeitlang da aufgehalten hat. Man bemerkt dies an ihren Gebäuden, die alle nur eine Etage haben, aber doch sehr bequem gebaut sind. Unter den alten Nationen verdienen die Griechen in Ansehung des Sentiments oder des edlem Geschmacks den Vorzug. Die lndier von Hindo­ stan scheinen die ersten zu sein, die Künste und Wissenschaften aus der rohen Natur gezogen haben. Die Griechen haben al les, was zum Ge­ schmack gehört, nur zur Vollkommenheit gebracht. Sie trugen die Musik zuerst als eine Theorie vor. Pythagoras machte den Anfang und entwarf canones musices, nach ihm Aristoxenos von Tarent. Die Römer, die ihre Schüler waren, brachten es nie soweit, am wenigsten in den Werken des Geschmacks. Die Griechen trafen beinahe in der Bildhauerkunst, die sie nur roh aus Ägypten bekamen, die zum Grunde liegende Idee. Aber es ist auch wahr, daß die mystische Religion viel zur Vollkommenheit derselben bei­ getragen hat, sowie überhaupt eine bilderreiche Religion, die am Sinnlichen klebt, zur Beförderung der Künste v iele Vorteile gibt. Sie hatten viele Götter, also auch viele Urbilder, einen Donnergott, einen Bacchus, der aber in einer sehr schönen Gestalt präsentiert wurde und nicht wie heutzutage, eine Bellona (die kriegerische Wut) , Minerva (die kriegerische Klugheit) , Juno, Venus (übertraf alle an Schönheit) , lauter verschiedene Ideale. Sie hatten drei Weltalter angenommen: 1. die Zeit des Saturn, da das goldene Zeitalter war, 2. die Zeit des Jupiter, das silberne, da Gewalttätigkeiten im Schwange gingen, 3. das eherne, die Zeit des Bacchus, wo die Menschen fröhlich und guter Dinge sein sollten.

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Daß man es heutzutage in der Malerei etwas weitergebracht daran ist die Erfindung der Perspektive und der Ölfarben, von denen die Griechen nichts wußten, die Ursache. Man hat gewisse alte Gebäude, als die Nerisden in England u. d. m., von denen man sagt, daß sie in gotischem Geschmack ge­ baut wären. Man findet viel Edles in der Bauart, und es ist daher wohl nicht einer so rauben Nation zuzuschreiben, daher auch einige d ie Mauren für deren Verfertiger halten. Man sagt, die Barbaren hätten den Geschmack verwüstet. A l lein er war schon vorher zugrunde gegangen. Der orienta­ l ische Geschmack ist von ganz anderer Art und man muß ihn in keinem Stück nachahmen, auch nicht im Schreiben. Die v ielen B ilder in der Spra­ che zeigen ihre Unwissenheit an. Die englische Sprache ist auch von dieser bi lderreichen Beschaffenheit. Ein Bild, das einen Begriff anschauend macht, ist fürtrefflicher, als eine richtige Vergleichung. Das Bild aber muß als eine Folge der Idee angesehen werden. Die Vernunft braucht die Sinn­ lichkeit so wie große Herren ihre Bedienten. Allein die Morgenl änder setzen die Sinnlichkeit an die Stelle der Vernunft. Je weniger Begriffe man hat, desto mehr braucht man Bilder und Ähnl ichkeiten. Je länger eine Nation im rohen Zustande ist, desto bilderreicher ist sie. Denn sie lernt nicht abstrahieren. Daher kommt es, daß die Wilden in lauter Bildern reden. Sie sind wie Leute, die v iel mit den Händen fechten, aber mit dem Munde nicht zurechtkommen können.

Noch etwas von der vernünftigen Urteilskraft Die Beurteilung, ob etwas vollkommen oder unvollkommen, gut oder böse ist, das Urteil dieser vernünftigen Urtei lskraft muß für alle gelten, daher man auch gute und böse Maximen , d. h. Principia der Beurteilung a priori geben kann. Um aber zu bestimmen, was schön oder häßl ich ist, müssen wir v iele Erfahrungen haben, d. h. wir müssen es a posteriori herleiten. Etwas ist vollkommen entweder in Beziehung auf einen andern Zweck oder für sich selbst. Jenes macht die mittelbare Bonität oder die Nützlichkeit, dieses die unmittelbare Bonität aus. Es ist die Tugend im ganzen betrachtet immer nützlicher, als das Laster. Denn ich bin versichert, daß wenn ein jeder Mensch 1 00 Jahre leben möchte, alle Schelme zuletzt an den Galgen kämen und alle Tugendhaften zuletzt zu Ehren kommen möchten. Da nun aber ihre Lebenszeit kürzer ist, so kommen sie nicht an den rechten Mann, der die Tugendhaften zu belohnen und die Lasterhaften zu stürzen suchen möchte. Außer der Nützlichkeit hat die Tugend einen innern Wert, eine unmittelbare Bonität und ist achtungswert Die Dinge außer dem Menschen sind unmittelbar gut. Das Gute, was wir beurtei len sollen, kann gut sein entweder nach logischen Regeln, d. i. wahr, oder nach praktischen Regeln,

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d. i. brauchbar, es dient zur Vollkommenheit. Weil unsere Vernunft nichts desto weniger wirkt, ob wir uns gleich ihrer Tätigkeit nicht bewußt sind, so kommt es, daß wir bisweilen durch Vernunft urteilen, wo wir durch Sinn­ lichkeit glauben geurteilt zu haben und es anzuschauen gedenken. Dies nennt man Sentiment. Wir haben also auch ein Sentiment der gesunden Vernunft, welches man an Voltaire am meisten bewundern muß. Das Senti­ ment ist in Ansehung des Guten das, was gustus in Ansehung des Schönen ist. Bei Dichtern fordert man ein Urteil, was neben der Sinnlichkeit ist. Die Franzosen haben nicht soviel Sentiment, als die Engländer. Das Sentiment gehört nicht zur Vollkommenheit des Geschmacks. NB. Der dritte Tei l der Elementarlehre handelt vom Begehrungsver­ mögen. Drittes Stück: Vom Begehrungsvermögen

Begehrungsvermögen ist das Vermögen durch Gegenstände Ursache zu unseren Vorstel lungen in uns zu bekommen. Es ist das Vermögen durch seine Vorstellungen zu erkennen, daß Gegenstände die Ursache zu unsern Vorstellungen sind. Z. B . bläst jemand in ein Posthorn, so ist dieser Gegenstand die Ursache zu unserer Vorstel lung. Die Vorstellungen bestim­ men unsere tätige Kraft zur Hervorbringung des Gegenstandes und dann das Begehren. Alle unsere Begierden beziehen sich auf Ähnlichkeiten, und die nicht dahin abgezielt sind, werden Wißbegierde oder leere Begierde ge­ nannt. Das Begehrungsvermögen ist also die Bestimmung einer Kraft gewis­ se Gegenstände hervorzubringen. Es entstehen daher Wünsche und Sehn­ süchte. (Wenn ein Wunsch im Affekt geschieht, so heißt er Sehnsucht.) Nichts erschöpft das Gemüt so sehr, als leere Wünsche und Sehnsuchten, bei denen wir bewußt sind, daß wir die Kraft nicht haben, uns den Gegen­ stand zu verschaffen. Sie machen das Herz welk, besonders in Ansehung der Zukunft. Z. B. jemand hat ein Los i n der Lotterie. Nun wünscht er immer, bald einen Gewinn zu erhalten, obgleich er weiß, daß die Post darum nicht eher als gewöhnlich ankommen kann. Hierher gehören die Wünsche der künftigen Zeit. Die leere Reue kommt sehr damit überein. Der Wunsch, daß etwas ungeschehen sei , ist ein leerer Wunsch. Dennoch brüten gute Personen über der Reue. Durch phantastische Objekte werden leicht Sehnsuchten erregt. Mit Recht würden sie unsere Begierde hervorbringen, wenn es möglich wäre, sie zu erreichen. Dies ist aber nie bei phantastischen Vorstellungen mög­ lich. Phantastische Vorstellungen bringen Dinge hervor, die nie geschehen können. D as weibl iche Geschlecht hat viele leere Sehnsuchten. Die Ro­ mane sind nichts als leere Wünsche und das Herz welk machende Sehnsuch­ ten. Denn man findet kein Adaequat der Idee, immer ein unerreichbares

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Hirngespinst. Es gibt vage und unbestimmte Begierden, da uns immer unser Zustand verdrießlich ist, und wir in einen andern übergehen wollen. Gewöhnlich kommt dies aus der Langeweile oder aus dem Zustande des abgestumpften Genusses, des Ekels und Überdrusses an Gegenständen. D iese Langeweile beherrscht die vornehmen Weiber unter dem Namen vapeurs. Sie wünschen in solchem Zustande etwas und wissen nicht wozu. Sie sind so wie die kleinen Kinder, wenn sie grinsen, und sollten wie j ene die Rute bekommen. Die Langeweile bringt eine Menge von Ausschwei­ fungen hervor. Der Mensch, der immer genießen will, kann nicht der Lange­ weile entrinnen. Der Mensch muß sich pflichtmäßige Geschäfte auflegen lassen, nicht sich selber auflegen. Denn er muß in Zwangsgeschäften sein. Von den willkürlichen kann man sich selber lossprechen. Die erste Wirkung der Langeweile ist Spiel, wei l es durch den Wechsel der Gegenstände d ie Zeit vertreibt durch Zerstreuungen. Zweite Wirkung: die Gewohnheit zu starken Getränken, Tabakrauchen, Gesellschaften, Kaffeehäusern usw. Mittel wider die Langeweile kann man auf die Art Arzneimittel für die Krankheiten des Gemüts nennen. Wenn die Begierden von der Art sind, daß sie uns den Gegenstand als entbehrlich vorstellen, so heißen sie freie Begierden. Wir nennen die Begier­ den Neigungen, wenn wir i mmer in ihren Fesseln sind. Neigung ist habi­ tuelle Begierde. Z. B . Ein Mensch hat Neigung zu B lumen, zu Musik, Komödie ist ihm unentbehrl ich geworden, so ist er, wenn er sich gar nicht ohne eine solche Sache behelfen kann, ein Sklave derselben, und dies macht ihn natürlicherweise sehr oft unglückl ich. Finden wir aber an der­ gleichen Dingen dergestalt Vergnügen, daß wir sie auch entbehren können, so ist dies ein Zusatz zu unserm Glück. Manche Menschen befinden sich in einem Zustande, wo sie sich keiner Empfindung bewußt sind. Sie sind capable viele Stunden lang am Fenster zu stehen, die Leute vorbeipassieren zu sehen und eine Pfeife Tabak zu rauchen. Nicht selten bringen sie ihr ganzes Leben so hin, ohne sich des­ selben bewußt zu sein. D iese Leute glauben recht ordentl ich zu leben und wissen nicht, daß das Leben gar nicht allein darin besteht, daß man seinem Körper die nötigen Nahrungsmittel reicht. Dagegen gibt es andere Charak­ tere (die besonders den Reichen eigen sind) . D iese sind vol ler Sehnsucht, unruhig und voller Verdruß, ohne zu wissen, was sie begehren. Sie sind vol­ ler Grillen. Demnach ist der Zustand der erstem, die glückliche Gedanken­ losigkeit, besser als der Zustand der letzteren. Diesen Zustand der üblen Laune nennen die Franzosen vapeurs beim Frauenzimmer. D ie Menschen sind so beschaffen, daß manche sich an Einförmigkeit, andre an Wechsel , noch andre an Genuß gewöhnen. Ein Mensch aber, der sich an eine i mmerwährende Abwechselung des Vergnügens oder an eine

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unermüdete Geschäftigkeit gewöhnt hat, und auf einmal in die Einsamkeit gerät, der wird nicht allein durch Langewei le, sondern auch durch bestän­ dige Wünsche ohne Gegenstand gequält. Der Mensch kann sich an al les gewöhnen, doch aber hat er auch einen Hang zur Einförmigkeit oder auch zur Abwechselung, daher auch einige, wenn sie zu Hause sind, und nicht Abwechselung haben, unruhig sind. Es zeigt aber schon eine Krankheit an, wenn der Mensch wünscht und es fällt ihm nicht ein, wonach er sich sehnt. Dies ist der gri l lige Zustand, der sehr gefährlich ist. Die desperaten Selbst­ morde sind oft Wirkungen dieses sehnsuchtsvol len Zustandes gewesen. Es haben sich Menschen das Leben genommen, wei l ihre Fähigkeit zu ge­ nießen, unerachtet alles Vermögens sich Genuß zu verschaffen, stumpf geworden. Daher sagt ein gewisser Autor: der Engländer hänge sich auf zum Zeitvertreibe. Wenn der König von Persien eine gewisse Prämie auf die Erfindung eines neuen Vergnügens setzte, so ist dies gewiß Zeichen eines Unglücks. Ein Lord in England erschoß sich und man fand auf seinem Tisch ein Billet folgenden Inhalts: Alle Tage spielen, schmausen, reiten, in Kutschen fahren, Maitressen karessieren, auf Bälle und in Komödien gehen, ist immer dieselbe Abwechselung in der Welt. Man muß in eine andre gehn und neue Abwechselung suchen. Diese Abwechselung hätte man ihm auch nicht verdacht, wenn er nur wiedergekommen wäre. Wenn die Fähigkeit zu genießen matt wird , woher bei manchen Leuten die Zeit zwischen der Mittags- und Abendmahlzeit verlorengeht, so ist diese Krankheit nicht anders zu heilen, als durch Geschäfte, wenn man sie auch mit Zwang tut. Wird dies Mittel nicht gebraucht, so verl iert der Mensch endlich allen Geschmack an Vergnügen. Das Lesen füllt den Raum auf keine Weise aus, wenn man nicht eine Absicht dabei hat. Ein jeder Mensch hat die Aussicht, erst was zu lernen, um ein Amt zu bekommen, hernach eine Frau zu nehmen und sich dann zur Ruhe zu begeben. Faulheit ist also die letzte Aussicht, d ie ein Mensch intend iert. Derjenige, der sich selbst Arbeit auflegt und soviel arbeitet als ihm bel iebt, der arbeitet gar nicht, sondern das heißt nur occupatio in otio. Es muß demnach ein j eder Mensch zur Arbeit gezwungen sein und folglich muß seine Bemühung eine beschwerliche sein und auf eine solche folgt Ruhe des Gemüts. Daher kann ein Kaufmann nach dem Posttage, da er vormittags viel zu tun hat, den Nachmittag am vergnügtesten zubringen. Ein Mensch mag studieren, wie er will, er kann doch nicht vergnügt sein, wenn er nicht eine zweckmäßige Arbeit hat. Denn da wir durch die Arbeit unsere Gefäße vom Nervensaft ausleeren, so werden selbige bei unserer Ruhe wieder gefüllt, welches eben das Vergnügen herfürbringt Man wünsche sich also nie in die Ruhe und Muße, sofern man sich nicht dabei eine gezwungene Arbeit zum voraus besorgt. Denn sonst verfällt man in den verzehrenden Zustand der Grillen und Sehnsucht. (Der launische Zustand, von dem wir vorhin geredet haben ,

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ist voll von Sehnsucht.) D ie tätigen Begierden, die den müßigen (leeren) entgegengesetzt werden, gehen darauf, das, was in meiner Macht ist, zu erlangen. Die müßigen Begierden werden gereizt 1 . durch ein vorgemaltes ldealglück, 2. durch Beschäftigung mit einem wahren Ideal . Dies geschieht von denjenigen, die von nichts als von Vollkommenheit und Tugend reden und schreiben, aber niemals bemerkt haben, wie groß der Grad der Tugend sei , dessen ein Mensch fähig ist. Hierin hat Gel iert gefehlt. Denn er bläht das Herz gleichsam mit moralischem Winde auf und redet von nichts als von Wohlgewogenheit, Menschenliebe, Mitleiden und von einer aufstei­ genden Träne bei Erblickung eines Notleidenden. Aber er bemerkt nie, ob seine Forderung auch dem menschlichen Vermögen angemessen ist. Man setze nun einen Menschen in die Welt, der von allem diesem unterrichtet ist, und man wird finden, daß man einen solchen Charakter zwar bewun­ dert. Allein er häsitiert, wenn es zur Ausübung kommt. Solche Menschen sagen gemeiniglich: Wenn ich viel Geld hätte, wie gerne wollte ich es mit den Armen teilen ! und mit welchem Vergnügen wollte ich die Armen unterstützen ! Kommen sie aber zum Vermögen, so heißt es: Es wird mir niemand verargen, daß ich gemächlich leben will. Ich muß Wagen, Pferde usw. kaufen, und dann bleibt für die Armen nichts übrig. Erlangt er weit­ läuftige Landgüter, so denkt der Reiche sich in den Grafenstand erhoben zu sehen, und hier fordert es freilich die Ordnung, daß man anständig leben muß, und wo w i l l da für d ie Armen etwas bleiben. 0 , die hartherzigen Reichen ! Geliert flößt also Bewunderung solcher mitleidigen Charaktere, aber nicht wahre Menschenliebe ein. Im Hamburger Magazin findet sich eine schöne Anekdote dieser Art. Sie wird von zwei Vertrauten erzählt, die sich von der niedrigsten bis zur höchsten Stufe emporgeschwungen und dennoch in allen ihren Lebensumständen geklagt hätten , daß sie nicht mit genugsamen Lebensgütern versehen wären. Um also eine komplette Be­ queml ichkeit zu bewi rken, nahmen sie als Räte zu Betrügereien und Rän­ ken ihre Zuflucht, die sie auch wirklich zufrieden stellten. Al lein man schlage nur verbotene und gesetzwidrige Wege ein, so wird d ie Verräterei nicht fern sein. Der Ausgang zeigt es. Sie wurden entdeckt, und sie mußten den Rest i hrer Jahre im Zuchthause zubringen. Hier zeigte es sich, daß sie genug zu leben hatten. Die Menschen werden durch ihre müßigen Begierden oft h intergangen, z. B . in Ansehung der Frömmigkeit, und halten sich oft, durch den Wahn betört, für wirklich gute Menschen. Da der Mensch überzeugt ist, daß ein Gott sei , und daß es sich gezieme ihn zu ehren, und fürchten zu können, so wünscht er dies recht inniglich, ja er äußert es wohl mit Worten, die dem Anschein nach aus gutem Herzen fließen, und nun bildet er sich schon ein, er fürchte Gott, geht an seine anderweitigen Geschäfte und glaubt nun schon genug getan zu haben. Aber der beste Probierstein hiervon ist, daß

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man auf sein Leben sehe , und dies wird uns seinen Seelenzustand schon sichtbar machen. Denn gemeiniglich sind solche Leute nicht zu Hause, wenn es auf Gehorsam gegen Gott, Beobachtung seiner Gesetze und darauf ankommt, daß er seinen Nebenmenschen diene. Dieser Unterschied zwi­ schen tätigen und müßigen Begierden ist sehr wichtig. Denn man hat schon gemeinhin eine große Meinung von sich, wenn man auch nur b loße Wünsche nach etwas Gutem nährt, und hält gute Wünsche schon für guten Willen, da doch gute Wünsche nur ein Verlangen nach gutem Willen sind. Auch bringt das Wort schon viele leere Wünsche herfür. Es ist daher besser, standhaft, zufrieden und hart zu sein, als ein gar zu weichl iches Herz zu haben. Ich verlange nicht, daß andere Leute mit mir Mitleiden haben, sondern ich werde mein Unglück und Elend schon allein zu tragen suchen. Will mir jemand seine Affekte zeigen und mir helfen, so nehme ich ' s freudig an. Kann e r also, s o muß e r helfen, ohne z u weinen. Kann e r es aber nicht, so trifft die Meinung der Stoiker ein: Sei nicht ein Spiel der Empfin­ dungen anderer, sondern suche deinem Freund zu helfen, geht' s nicht an, so kehre dich um und sei hart. Menschen, die müßige Begierden nähren , sind gemeinhin verdrießlich. Sie wünschen und nichts ist ihren Wünschen gemäß. Da nun aber in der Wel t nichts unseren Wünschen entspricht, so ist' s am besten, daß man seinen Willen nach dem Lauf der Dinge zu richten und zu stimmen suche. Denn volentem fata ducunt nolentem trahunt. Der Lauf der Dinge wird durch unsern Willen nicht gehemmt, er reißt uns mit, wenn wir uns ihm gleich widersetzen. Ein hartnäckiges Wol len aber zer­ reißt das Herz mit leeren Begierden, und dies sind eben die heftigsten, weil wir unser Unvermögen fühlen. Denn wir sind nie mehr aufgebracht, als über einen Menschen, dem wir nicht schaden können , wei l wir zu unver­ mögend dazu sind und dennoch wollen. Die Desideria der Alten bedeuten eine wunderbare Sehnsucht nach Dingen, die schon geschehen. Nos omnes cepit desiderium defuncti. Ein Mensch kann begehren und doch zufrieden sein, wenn er seine Begierden nur für entbehrlich hält. Wir können unsere Begierden in sinnl iche oder niedere und in intellek­ tuelle oder obere eintei len. Die sinnlichen entspringen aus der Vorstellung des Angenehmen und Schönen. Sie sind unwil lkürlich und heißen Triebe. Die intellektuellen entstehen aus der Vorstellung des Guten und Bösen. Die sinnl ichen entspringen also aus der Art, wie man affiziert wird. Hang ist keine wirkliche Begierde, sondern ein Grund, warum eine sinnliche Be­ gierde beim Menschen entstehen kann, und woraus eine Neigung bei ihm entspringt. Daß Menschen Instinkt haben, ist nicht ihre Schuld. Aber wegen der Neigungen haben sie sich selbst anzuklagen, da man doch nach Grund­ sätzen handeln sollte. Alle Neigungen setzen mich in Sklaverei, und ich habe immer die Hände voll zu tun, um meinen Neigungen zu widerstehen. Triebe werden nicht zur Neigung außer durch Nachsicht und Mangel des

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Verstandes. Sie sind aber deshalb nicht zu verwerfen, sondern gleichsam ein Wink der Natur, wodurch sie uns zu etwas einladet. Auch zum Guten muß man Neigung haben. Man muß aber den Urteilen des Verstandes und nicht den Neigungen folgen. Einige Menschen fassen geschwind zu etwas Neigung. Aber sie verliert sich auch bald. Denn ein Baum, der lange Zeit währen soll , muß lange wachsen. Derjenige, dem kein Ding einen Trieb verursacht, heißt unempfindlich. Man sagt dies besonders von den India­ nern in Nordamerika und von den Negern. Es ist aber gut, daß der Mensch empfindsam ist. Denn alles ladet ihn zum Gebrauch der D inge ein, die um ihn liegen. Aber er muß der Vernunft folgen und diese Triebe nicht zu Neigungen werden l assen, sondern wie Feinde seiner Freiheit fl iehen und an keiner Sache aus Neigung kleben. Die Menschen trauen sich in Anse­ hung der Grundsätze wenig zu. Daher wünschen sie sich Neigungen. Wenn man aber auch einen Menschen hochschätzt, der nach Grundsätzen handelt, so ist man doch wenig mit ihm zufrieden, wenn er nie aus Neigung handelt. Wie würde sich z. B. eine Frau gebärden, wenn sie wüßte, daß der Mann ihr bloß darum beiwohnte, um den Stand der Ehe zu erfüllen, nicht aber aus Neigung. Indes bestätigt doch die Erfahrung, daß diej enigen Ehen, die einige bloß einer regelmäßigen Wirtschaft wegen eingegangen sind, viel dauerhafter, als alle enthusiastischen sind. Denn solche enthusiastischen Flammen sind allemal Vorboten einer unglückl ichen Ehe gewesen. Ein Mann hingegen, der der Wirtschaft wegen heiratet, erzeigt seiner Frau die gebührende Achtung, und mit der Länge der Zeit findet sich auch Neigung ein. Indes wünscht man immer die Neigung, wei l man die Tierheit am Menschen für stärker hält, als das Intellektuelle. Bei den Begierden finden folgende Stufen statt: Hang, Instinkt, Neigung und Leidenschaft. 1 . Der Hang ist eigentlich nur eine Rezeptivität (Empfänglichkeit) einer Begierde, er ist der Neigung fähig, wenn nur die Umstände danach wären , es fehlt nur an Gelegenheit. Der Mensch hat oft einen Hang zu etwas, wozu er noch keine Neigung hat. Z. B. Wilde Nationen, als die Grönländer, da sie in ihren Ländern nichts haben, was berauschen kann, haben dennoch einen Hang sich zu berauschen. Denn wenn sie einmal kosten, so entspringt der Hang und der Hang wird zur Neigung. Alle Menschen haben einen Hang zum Herrschen. Bei Kindern ist oft der Hang zum Bösen, wenn sie auch keine Neigung dazu kennen, und solche Kinder kann man daher unschuldig nennen, in Ansehung des Facti , aber nicht des Charakters. Diesen Hang rechnet man mit zum Temperament. Man kann ihn aber bei früheren Jahren zurückhalten und auf Gegenstände von Wichtigkeit lenken. Jedes Ge­ schlecht hat einen Hang zum andern. Man sagt aber unrecht: Der Mensch hat eine Neigung zum Bösen. Denn er hat nur Hang dazu, und wenn ihm wäre vorgebeugt worden, so könnte die Neigung abgehalten werden. Die heißt soviel: Sehen wir den Menschen in manchen Umständen, so können

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al le Tugenden , sie mögen so groß sein, als sie wollen, gestürzt und die größten Laster erweckt werden. Wie wenig Ursache hat also ein Mensch, sich über andere zu erheben ! Denn daß einer zum Galgen geführt wird, der andere die höchste Ehrenstufe erreicht, kommt viel leicht bloß von der Erziehung her, indem der erstere Gelegenheit gehabt, seinen Hang zum Bösen in Ausübung zu bringen, da er hingegen beim letzteren erstickt worden ist oder auch anders gelenkt ist. Denn der erste Hang des Menschen ist jederzeit tierisch, er muß zum wahren Zweck gelenkt werden. Der Hang ist eine hypothetische Möglichkeit zur Begierde, denn man hat zu derselben noch keine Empfindungen. 2. Der Instinkt (Trieb, stimulus) ist eine wirkl iche Begierde, aber zu einem Gegenstande, den wir noch nicht kennen, wo uns aber die Begierde antreibt ihn zu suchen. Z. B. der Naturtrieb zum andern Geschlecht. Die Enten gehen nach dem Wasser, ohne daß sie das Wasser weiter kennen. Instinkt ist also der Grund der Begierde, der der Kenntnis des Gegenstandes vorangeht. So hungert einen Menschen, wenn er gleich nie Essen gesehen hat. Der Trieb ist der Grund des Ursprungs einer sinnlichen Begierde und durch den Trieb (Instinkt) wird der Mensch zur Begierde gereizt, aber man begeht noch nichts. Die Gründe von dem Instinkt sind also objektiv. Die Triebe sind beim Menschen oft wegen Mangel der Vernunft sehr nötig. Aber die Natur gibt uns Triebe, wo die Vernunft vielleicht zu schwach ist, den Menschen zu überreden. Wenn wir z. B. bei der Geschlechtsneigung nicht Triebe hätten, wie wenig würde die Welt bevöl kert sei n ! Alle Triebe zusammengenommen machen das Fleisch, die Bewegungsgründe der Ver­ nunft aber den Geist aus. Diese streiten oft widereinander. Da nun aber alle Triebe blind sind, so müssen sie von der Vernunft im Zaum gehalten werden. Die Natur hat uns Triebe zur Fortpflanzung unseres Geschlechts und ebenso den Eltern für das Wohl ihrer Kinder zu sorgen gegeben (man könnte wohl sagen Neigung, aber es ist wirklicher Instinkt, denn die Neigung hängt nicht von der Erkenntnis ab) , aber nicht umgekehrt. Die Kinder haben Triebe für i hre Eltern, es sind nur Triebe der Reflexion, der Dankbarkeit. Ebenso ist es auch bei den Tieren. (NB. Schon oben ist die harte Meinung des Helvetius, warum Großeltern ihre Enkel mehr als ihre Kinder lieben, angeführt.) 3. Neigung ist eingewurzelte habituelle Begierde, die den Gegenstand (da er zu unserer Zufriedenheit unentbehrlich wird) zur Notwendigkeit (Bedürfnis) macht, und zwar im kleineren oder größern Grade. Neigung ist ein Grund von dauernden Begierden. Ein Antrieb ist keine Neigung, son­ dern dadurch, daß man diesem Antrieb oft folgt, bekommt man erst einen habitus und so entsteht Neigung. Neigung in dem Begehren ist ein sinn­ liches Begehren, indem wir abhängig vom Gegenstande werden. Z. B. Liebe ist Neigung zum Wohlwollen gegen eine Person. Sie kann aber entweder

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intellektuell, bloß Erkenntnis und Wohlgefal len des Gegenstandes oder sensual sein, wenn auch der Genuß damit verbunden ist. Man könnte j ene die theoretische, diese die praktische Liebe nennen. Die Liebe gegen Arme beruht auf Denkungsart, die Liebe der Eltern gegen ihre Kinder auf Nei­ gung oder gar Instinkt. Ein Bedürfnis ist ein Verlangen nach etwas, dessen Abwesenheit uns unzufrieden macht. Wenn man aber etwas in der Form des Entbehrlichen begehrt, so ist dies keine Neigung. Denn durch Neigung wird man gefesselt. Und es ist daher ratsam, daß kein Mensch, am wenigsten ein Phi losoph, sich durch Neigung an eine Sache hänge, sondern lediglich durch Bewegungsgründe. Es kann eigentlich keine Neigung auf etwas Gutes gehen, obgleich unsere Neigung auf etwas gerichtet sein kann, was auch gut ist, denn sie ist doch nie auf die Bonität gerichtet. Die Vernunft allein enthält die Gründe, wodurch wir zu etwas Gutem bewogen werden. Zum Guten müssen wir vernünftige Maximen haben. Aber es ist auch oft zuträgl ich, daß wir uns das Gute in einem sinnlichen vorteilhaften Lichte vorstellen und zugleich die Neigungen exzitieren, wei l wir nicht bloß Ver­ nunft, sondern auch Neigungen haben, die befriedigt werden wol len. Es kann aber der Mensch nicht nur ohne, sondern auch wider die Neigung handeln. Ja er reflektiert zuweilen darüber und wünscht andere zu haben. Die Neigungen sind also kein Fundament des menschl ichen Begehrungs­ vermögens, ob sie es schon vom tierischen sind. Eine Frau aber würde mit ihrem Manne nicht zufrieden sein, der sie aus Pflicht - die, wie man sagt, ohne Affektion ist - lieben und ehren wol lte, sie verlangt eine blinde Neigung. Denn wenn er durch Vernunft urteilt, so bemerkt er zu leicht ihre Fehler und Unvollkommenheiten und ist zu scharfsichtig. Und eben daher ist er nicht so gut zu regieren, wie einer, der durch die Neigungen blind ist. Ein Kind sollte man so gewöhnen, daß es weder zum Frühstücksessen noch zum frühen Schlafengehen noch zu sonst etwas Neigung hätte, sondern bloß natürlichen Trieb, damit es im Alter nicht durch Neigungen regiert würde. Denn diese unterj ochen den Menschen und schränken die Macht seiner vernünftigen Beweggründe ein. Und in der Tat macht nicht der Mangel der Sachen, sondern die Neigung zu Dingen, deren man nicht habhaft werden kann, den Menschen unzufrieden. Die Neigung ganz von Erkenntnis entblößt ist appetitus brutalis, und es ist daher wunderl ich, daß einige Moralisten Neigung zum Guten annehmen. Jede Neigung, die so groß ist, daß sie uns unfähig macht, ihr Verhältnis mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen, ist 4. Leidenschaft. Denn beim Wohlbefinden kommt es darauf an, daß man einen Gegenstand mit der Summe aller Neigungen vergleiche. Bei der Leidenschaft aber folgt man bloß einer Neigung. Z. B., man l iebt ein Frauen­ zimmer nicht wegen ihrer Schönheit oder etwas Anderm, sondern um sie zu besitzen. Ein Mensch kann l ieben, ohne verliebt zu sein, und d iese Liebe,

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obwohl sie kaltblütig zu sein scheint, ist gemeinhin die dauerhafteste. Denn sie erlaubt uns reife Überlegungen über die Vorzüge oder Mängel der Per­ son, d. h. ob die Person in guten Umständen sei, von guter Familie herstam­ me, ob sie gefällig, aufrichtig, tätig und keine von den schmachtenden Romanschönen sei, ob sie eine gute Wirtin und vernünftige Mutter sein werde usw. Schon in dem Begriff eines Verl iebten liegt die Torheit des­ selben. Es gibt auch eine Rachbegierde von der Art, da der Mensch noch Zeit zur Überlegung hat, ob es auch in seiner Gewalt stehe, den Andern seinen Zorn empfinden zu lassen, oder ob er auch selbst Gefahr laufe zu unterliegen. Insofern liegt aber die Torheit eines Verl iebten schon in termi­ nis, daß er eben dadurch seine Vorteile für nichts achtet, oder sie gern ver­ liert, wenn er seine Schöne nicht heiraten kann, und daß er alle ungereimten Befehle seiner Geliebten, bloß um ihr zu gefallen, ausübt. Denn blind oder in Leidenschaft sein ist einerlei . Pope hat hierüber eine hübsche Komödie geschrieben. Sie ist betitelt Januarius und Maja. Hier weiß die Frau dem Mann (welcher mit eigenen Augen gesehen hatte, wie seine Frau einen andern Liebhaber karessiert) das D ing so auszureden, daß er schon zwei­ felte, ob er mehr seinen Sinnen oder den Worten seiner Frau trauen sollte. Die Leidenschaft wird oft mit dem Affekt verwechselt, so groß auch der Unterschied ist. Der Affekt ist eine Gemütsbewegung und der Einfluß einer Vorstellung, ein Gefühl des gesamten Lebens zu erwecken. Affekt ist die Gemütsbewegung, welche macht, daß wir nicht in unserer Gewalt sind, die uns außer Fassung bringt. Es ist die Empfindung, welche das Gemüt außer­ stand setzt, das Gefühl mit der Summe alles Gefühls zu vergleichen. Wie es zugeht, daß der Mensch in Affekt kommt, ist nicht zu erklären, aber wohl zu beschreiben. Anmerk. In den Nerven l iegt unser körperliches Gefühl. Manche Nerven haben Knoten, besonders die, welche zu den Muskeln und der Lebensbewegung hingehen. Die Knoten halten die Nervenbewegung auf. Daher scheint es, daß der Affekt durch die Knoten bricht, und wenn dies sehr plötzlich geschieht, capable ist, die ganze Maschine über den Haufen zu werfen. Wenn wir hier vom Affekt reden, so reden wir vom Gefühl und nicht vom Begehrungsvermögen. Wir reden von ihm an diesem Orte, wei l er hierher am besten paßt, indem er mit Neigung und Leidenschaft zu ver­ gleichen ist. Leidenschaft gehört aber zur Begierde. Affekt ist gleichsam eine Bewegung wie im Sturm oder eine Überschwemmung und Durchbruch eines Damms. Leidenschaft aber ist wie ein Strom, der auf abschüssigem Boden immerwährend fortfließt. Der i n Affekt sowohl als der in Leiden­ schaft ist, kann sich nicht regieren. Aber der letztere kann wohl alles überlegen. Wenn das Böse bei einem zur Leidenschaft wird , so ist es ein­ gewurzelt und von Dauer. (Z. B. der Geiz - da brütet der Geizige über der Erhaltung seines Vermögens.) Was aber der Affekt nicht in der Geschwin-

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digkeit tut, tut er gar nicht. Wenn der Mensch beim Zorne beredt schimpft, so ist er nicht so sehr zornig, als der welcher abgebrochen spricht. Wenn der Zornige sich setzt, dann ist gute Zeit. Er kann nicht mehr so zornig sein, als wenn er steht, indem er gleichsam nicht in der rechten Positur zum Schlagen ist. Wenn man also seinem Rasen ein Ende machen will, darf man ihn nur höflich zum Sitzen nötigen. Mancher mag gern nach dem Essen schelten und zürnen. In manchen Fäl len scheint der Zorn wegen der innern Motion heilsam zu sein. Läßt man nämlich den Zürnenden so recht ausreden , so freut er sich ordentlich über seine gewählten Ausdrücke, bekommt auch wohl gar eine Wohlgewogen­ heit gegen den andern, wenn er ihm nicht widerspricht, sobald aber dies geschieht, wird der Zorn schädlich. Der Zornige ist bald versöhnt, der Rachbegierige spät. Die Leidenschaften sind grämisch, brütend , grübelnd, die Affekte stürmisch. Wo viel Affekt ist, ist wenig Leidenschaft, und große Leidenschaften verstatten keinen Affekt. Die Inder haben mehr Leiden­ schaft als Affekt. Die Franzosen umgekehrt (bei i hnen weni g Liebe, v iel Galanterie) . Eben daher aber scheint in Hindostao viel Selbstbeherrschung zu sein, näml ich aus Mangel an Affekt. Der Affekt ist gleichsam ein Rausch, den man ausschlafen kann, von dem man aber Kopfweh bekommt. Ira furor brevis est. (Zorn ist eine kurze Raserei.) Die Leidenschaft ist ein eingewurzelter Wahnsinn. Der Affekt macht blind, Leidenschaft sehend aber nur in Ansehung eines Einzigen. Ein Affekt läßt sich nicht verhehlen. Leidenschaften verhehlen sich aber gern. Affekte sind so bewandt, daß sie eine Wiederholung desselben Affekts hinter sich lassen. Sich ärgern heißt einen Unwi llen worüber empfinden (dessen Nachgefühl schmerzl icher als die Empfängl ichkeit selber ist) , der auch nachher bis ans Herz dringt und ein unangenehmes Gefühl hinter sich läßt. Man kann zürnen, ohne sich zu ärgern, betrübt sein, ohne sich zu grämen. Lebhaftigkeit muß unterschieden werden vom Affekt. Das, was bei den Franzosen Affekt ist, ist bisweilen Lebhaftigkeit. Die französischen Schauspieler exzell ieren in Aufführung von Tragödien, die englischen hingegen zeichnen sich bei Komödien aus. D ies kommt daher, weil der Schauspieler bei der Vorstellung nie in Affekt sein muß, weil der Affekt die Äußerung in Worten hindert. Und beide Nationen können wegen ihres Temperaments agieren (nämlich die Fran­ zosen Tragödien, die Engländer Komödien) , ohne das, was sie sagen, inner­ lich zu fühlen. Man kann schelten, ohne zornig zu sein , karessieren , ohne verliebt zu sein, traurig, ohne betrübt, scherzen, ohne lustig, in summa rühren ohne gerührt zu sein, und diese Talente muß ein acteur haben, wenn er es weit bringen will. Das Gemüt in Bewegung fühlt sich seiner Meinung nach stark, wenn die Bewegung aber vorbei ist, desto schwächer. Gewöhnlich sind Affekte wacker, einige erhebend , verzweifelnd und niederschlagend. Wenn man

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fragt: Kann man einen seines Affekts wegen tadeln? so kann man antwor­ ten: Eher darüber, daß er in Affekt geraten ist, als darüber, was er im Affekt tut. Hitzig nennt man den, der leicht in Affekt kommt. Man glaubt solche Leuchte entschuldigen zu müssen. Auch haben sie gewöhnl ich mehr Auf­ richtigkeit, als die Gleichgültigen, die gerne verhehlen mögen. Im ganzen genommen wird doch aus Übereilung viel Böses getan. Was hat es mit der Apathie für Bewandtnis, d. h. mit der Affektlosigkeit der Stoiker? Jeder Hund (?) im Affekt tut weniger. Beim Menschen ist ' s ebenso. Hier muß man gestehen: Die Natur will, daß wir uns disziplinieren. Die Vernunft muß Meister über uns werden. Man muß den Ernst nicht mit dem Affekt ver­ wechseln. Die Einteilung der Affekte in Affekte der Freude und Affekte der Betrüb­ nis ist aus der Vorstel lung des Angenehmen und Unangenehmen herge­ leitet. Es gibt einen Affekt, der bloß aus der Vernunft zu entspringen scheint. Er heißt Enthusiasmus (Begeisterung) . Es kann also das Wort nicht bei körperlichen Dingen gebraucht werden. Z. B. Man kann nicht sagen: Er ist enthusiastisch im Gelderwerben. Enthusiasmus ist eigentlich die Bewe­ gung des Gemüts durch die Vorstel lung des Guten, d. h. aus der Vernunft. Wenn die Vaterlandsl iebe soweit geht, daß sie Affekt wird, nennt man sie den patriotischen Enthusiasmus. Die enthusiastischen Patrioten sind solche, die dem Vaterlande allein wohlwollen, übrigens aber Menschenfeinde sind. Enthusiasmus ist die Vorstel lung des Guten mit Affekt. Enthusiasmus ist blind, weil er Affekt ist, und da kann mir mein bester Freund, indem er glaubt, mir einen großen Dienst zu erweisen, den ärgsten Possen spielen. Und dies kann schon deswegen geschehen, weil ein enthusiastischer Freund ein Feind aller andern ist, er nutzt aber seinem Freunde dadurch wenig. Der Affekt wird bewegt durch die Vorstellung des Vergangenen, Gegen­ wärtigen und Künftigen. Das Künftige ist's aber eigentlich, was interessiert. Denn das Gegenwärtige ist vorübergehend und das Vergangene schon vor­ bei. Und das Vergangene und Gegenwärtige können uns nur in Affekt setzen durch den Prospekt ins Künftige. Affectus ex praesenti vel futuro ex consequentia. Das Vergangene unterrichtet in der Art, weil wir künftige Folgen voraussehen. Hoffnung und Furcht sind eigentlich die aufs Künftige gerichteten Affekte. Ist alle Furcht und Hoffnung Affekt? Hoffnung kann Affekt werden, wenn sie das Gemüt aus der Fassung bringt. Z. B. der Pro­ spekt ein Amt zu bekommen. Aber nicht jede Hoffnung, so auch nicht j ede Furcht und Bekümmernis ist Affekt. Der Mensch im Affekt kann nicht im Selbstbesitz, nicht in Genügsamkeit sein. Die Affekte der Furcht und Hoff­ nung taugen insgesamt nichts. Traurigkeit ohne Hoffnung ist Verzweiflung. Zufriedenheit ohne Hoffnung und Furcht ist eine Gemütsstärke. Wir können sie Männlichkeit nennen. Bei Übeln des Lebens ist der Wechsel der Furcht und Hoffnung über denselben Gegenstand der Standhaftigkeit des Gemüts

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weit gefährlicher, als wenn das Übel schon gewiß ist. Z. B. ein Delinquent gewinnt Stärke, wenn er sein Urteil hört. Ein Kranker wird durch die Zweideutigkeit des Arztes i n einen noch üblern Zustand versetzt. Die Menschen, die mit Furcht und Hoffnungen hingehalten werden, sind sehr Krankheiten ausgesetzt. Denn bald steigen sie, bald sinken sie. Auch gibt es Menschen, die sich mit Hoffnungen nähren können. Man kann betrübt sein ohne Traurigkeit. Denn nur über einen unersetzlichen Verlust ist man traurig, allein Betrübnis ist vorübergehend, man begiebt sich. Traurigkeit ist gänzliche Ergebung in Betrübnis, im Brüten darüber, welches beharrlich ist. Dies ist gar nicht gut. Der Mensch muß sich dergleichen Dinge, die schon einmal nicht zu ändern sind, bald aus dem Gemüt schlagen. Z. B. Traurig­ keit über den Tod der Eltern, der Eltern über den Tod ihrer Kinder, beides kann nicht geändert werden. Fröhl ich zu sein ohne sich kindisch zu freuen, bedeutet den Zustand eines schmerzlosen Gemüts. Niedergeschlagenheit ist eine solche Betrübnis, die sich nicht wieder aufrichten kann. In den Reisen von Moor (ein recht gutes Buch ! ) ist hierüber eine Geschichte von einem Matrosen. Die Verzweiflung können wir einteilen: 1. in schwermütige Verzweiflung aus Gram und Niedergeschlagenheit, 2. in wilde Verzweiflung aus Entrüstung. Die erste kann auch feige Verzweiflung genannt werden. Manche urtei­ len: Alle Selbstmörder sind zaghaft. Dies nicht immer, sie sind nur unge­ duldig. Sie halten das Leben nicht für wert, es länger zu genießen. Man kann sich in der Fröhlichkeit üben, so daß man gute Laune sogar in al len Übeln des Lebens bekommt. Daher rät man in der Erziehung der Töchter gelind zu sein, damit sie beständig in dieser Disposition, die ihnen vorzüglich eigen ist, künftighin ihr Leben hinbringen und den Mann aufheitern. Zu dieser Fröhlichkeit oder Laune kann sich der Mensch selber stimmen. Die Furcht eines Menschen wird oft durch Scherz zerstreut. Z. B. Hannibal und Hanno, eine bekannte Anekdote (doch kein einziger unter den Feinden, welcher Hanno heißt, sagte ihm Hannibal). Furcht ist eine Art von kränklichem Zustand - Bangigkeit - Angst, Traurigkeit - Grauen - Ent­ setzen sind Ausbrüche der Furcht. Beim Entsetzen hat der Mensch schon allen Selbstbesitz verloren. Wenn man glaubt, daß Herzhaftigkeit und Mut einerlei sei, so irrt man sich. Eigentlich ist Herzhaftigkeit die Stärke (Eigen­ schaft) des Gemüts, über ein Übel nicht zu erschrecken, und dependiert vom Temperament. Aber Mut ist die Stärke (Eigenschaft) des Gemüts, sich vor keinem Übel zu fürchten und dependiert von der Vernunft und Grund­ sätzen. Also kann ein solcher, der Mut besitzt, zwar anfangs erschrecken, aber bald seine Stärke sammeln und dann mit Entschlossenheit dem Übel Trotz bieten, dagegen der Herzhafte leicht ohne alle Überlegung handeln kann. Herzhaftigkeit scheint auf die Reizbarkeit der Nerven zu gehen. Mut

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aber mehr auf den Charakter. Verzagtheit ist ein Mangel des Muts. Sobald aber dieser Mangel des Muts ehrlos wird, nennt man es Feigheit - pol­ tronnerie. Poltron kommt von pouce und tronc, d. h. der sich den Daumen abgehauen, damit er nicht in den Krieg ziehen könne, weil damals man mit Bogen die Pfeile abschoß und der D aumen unentbehrlich war. Der, den man für einen ehrlosen Feigen hält, ist poltron. D ies ist das beste Wort, womit man einen ehrlosen Feigen ausdrückt. Ein Offizier muß nicht allein Mut, sondern auch Herzhaftigkeit haben. Bei diesen beiden Eigenschaften scheint v ieles auf körperlicher Konstitution zu beruhen. So sagt man, daß Menschen, die eine breite Brust haben, unerschrocken sein sollen, z. B. Friedrich II. Der Grund l iegt darin: das Herz und die Lunge können sich besser bewegen, der Mensch wird nicht so leicht aus der Fassung gebracht. Dagegen sollen Menschen von kleiner Brust gemeinhin furchtsam sein. Selbst Männer von geprüftem Mut haben bisweilen Hang zur Furchtsam­ keit. So erzählt man von Aldermann, einem tapfern hol ländischen General, daß er einmal in der Schlacht ganz außer Fassung gebracht wurde und das Kommando einem andern übergeben mußte. Ein Mensch, wenn er ange­ zogen ist, besonders Stiefel anhat, ist mutiger und herzhafter, als wenn er in Pantoffeln und im Schlafrock ist. Anmerk. Erschrecken bringt Auslee­ rungen hervor. Dies ist ein Trieb der Natur, sich zu erleichtern und so zur Gegenwehr zu bereiten, daher man es al lerdings nicht für Verzagtheit an­ nehmen kann. Z. B. die Soldaten auf dem Kriegsschiffe machen gewöhn­ lich, i ndem es zur Schlacht geht, al le in die Hosen. Auch den Vögeln und andern Tieren geht es ebenso, wenn sie in Angst geraten. U. a. geschieht es bei der Reiherj agd, und die Jäger müssen sich wohl hüten, daß sie nicht unter dem verfolgten Reiher stehen. (NB Sie möchten nämlich sonst ziem­ lich besalbt werden.) Geduld wird eine weibliche und Mut eine männl iche Tugend genannt. Geduld ist eine Gewohnheit ein Übel zu ertragen, eine Ergebung. Mutige Leute sind gewöhnlich ungeduldig. Der Mutigste ist immer ungeduldig. Verzweiflung ist auch nur die auf den höchsten Grad gespannte Ungeduld. Ein Verzweifelter kann ungeduldig sei n, ohne daß ihm deshalb Mut fehlt. Die Herzhaftigkeit hat Laune, das macht die Säure im Magen, und depen­ diert also sehr vom körperlichen Zustande. Es war einst ein großer General , welcher, sobald er Säure im Magen hatte, Poltron wurde. Man sagt: der Mensch ist perplex, wenn er durch unvorhergesehene Dinge überrascht, in eine gewisse Unschlüssigkeit oder Verlegenheit gebracht wird. Einige Affekte sind wacker, andere weibliche oder schmelzende, welche aus Schwachheit entspringen. Der Zorn ist ein rüstiger, die Scham ein niederschlagender Affekt. Der Neid ist im Grunde die Niedergeschlagenheit des Muts durch Anderer Vorzüge, ist also kein rüstiger Affekt. Mitleid ist ein wackerer Affekt, wenn ich dem Leidenden beistehe, als praktische Teil-

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nehmung an Anderer Leiden. Mitleid kann aber auch nur pathologischer Affekt sein, wenn es nämlich nicht tätig, sondern bloß schmelzend ist. Scham ist ein besonderer und einer der stärksten Affekte. Denn man hat Beispiele, daß Personen für Scham gestorben sind. Zorn bringt Blässe, Scham aber Röte hervor. Vor dem, der beim Zorn errötet, hat man sich nicht so sehr zu fürchten, als vor dem , welcher blaß wird, denn er schämt sich wirklich im Grunde. Der Mensch wird durch Beschämung innerl ich sehr lädiert. Denn Scham ist Besorgnis der Verachtung, und der Mensch scheut die Verachtung mehr, als den Haß. D ies kommt daher, wei l , wenn man gehaßt wird, man nur relativ hassenswürdig ist, also wird auch nur der relative Wert abgesprochen. Wird man aber verachtet, so wird uns der absolute ( deutlicher: der innere ) Wert abgesprochen. Der Gehaßte wird doch manchmal noch hochgeachtet. Manchen muß man, obgleich man ihn haßt, doch achten. Beschämung macht untüchtig, das Übel abzuhalten. Scham ist eine besondere Eigenschaft, über die man noch nicht genügend Reflexionen angestellt hat. Warum hat die Natur in uns diesen Trieb gelegt? und noch dazu , daß sie den Menschen dabei ohnmächtig, untüchtig und ungeschickt macht? Ein Mensch, der sich schämt, glaubt den Anderen unvorteilhaft in die Augen zu fallen und dadurch macht er es eben, daß er in die Verwirrung gerät und beschämt wird. Überhaupt, glaube ich, Scham ist ein Affekt, ein Geheimnis zu verraten, welches die Natur verdeckt hat. Was für ein Geheimnis? wird man fragen. Nichts Anderes als Lügen. Aller Wahr­ scheinlichkeit nach ist Scham deswegen in uns gelegt worden, damit wir dadurch dasjenige, was wir nicht sagen wollen, durch unser Erröten ver­ raten, oder kürzer gefaßt, damit wir nicht lügen sollen. Es wäre also anzu­ raten, daß man Kinder, welche lügen, nur mit Verachtung bestrafte, sie würden alsdann einen innern Abscheu davor bekommen und, sobald sie eine Lüge sagen wollen, rot werden, sich also eben dadurch selbst verraten. Im Lügen l iegt eine Nichtswürdigkeit. Alle Lügner sind ganz unbrauchbar, besonders in Gesellschaft. Die wenigsten lügen zum Schaden Anderer, die meisten bloß, um sich die Zeit zu vertreiben, und eben deswegen sind sie zu verachten. Ärgernis ist nicht mehr Affekt, sondern schon eine Art von Rach­ begierde. Eine Empfindung, die auch nicht zum Affekt gehört, obgleich sie ebenfalls körperlich ist, ist der Ekel. Man kann ihn physisch, auch mora­ lisch betrachten: 1 . moralisch. Wenn ein Mensch eine Geschichte oder seine witzigen Einfäl le oft wiederholt, so sagt man: es ist zum Ekel, er treibt ' s bis zum Ekel. 2. körperlich betrachtet ist der Ekel ein Instinkt der Natur, etwas, das für uns Nahrung werden würde, auf dem leichtesten Wege von uns abzuwenden. Auch hierin hat die Natur sehr weise gehandelt. Wir können leicht bei gewissen Vergleichungen Ekel bekommen. Z. B. wollte man den Kaviar mit einem gall igten Schleim vergleichen, so könnte man ihn nicht mehr essen.

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Die Scham soll eigentlich das Lügen abhalten. Dazu scheint die Natur sie in uns gelegt zu haben. Hiermit sind folgende Stücke verwandt: 1 . Verschämtheit, bei Frauenzimmern Verzunftheit, wenn sie sich in der Gesellschaft nicht zu betragen wissen, 2. Verlegenheit, 3. Blödigkeit. Man kann zweierlei Arten von Mut in Ansehung des Wetteifers annehmen. Der­ jenige, welcher soviel Zutrauen zu sich hat, daß er nie befürchtet, im Ver­ hältnis gegen Andere in einem geringeren Lichte zu erscheinen, (daß er so gut wie jeder Andere von Andern beurteilt werde) , hat den rechten Grad der Freimütigkeit. Von ihm sagt man: er ist sans gene (ungeniert) . Dies ist ent­ gegengesetzt der Dreistigkeit, die man richtiger Dräustigkeit schreiben soll­ te, weil es eigentlich von D räuen herkommt. Man kann einen dräusten Menschen nicht leiden. Er ist unangenehm , wenn er auch nicht spricht. Denn schon in seinem Blick besorgt man immer eine Grobheit und Ver­ achtung. Solche Dräustigkeit kann nur ein Mann von großem Stolz haben. Er glaubt die Urteile aller anderen übersehen zu können. Dagegen ist auch Blödigkeit nicht gut, bei welcher man den andern zuviel ei nräumt. Alle Menschen sind gleichsam berufene Richter des Betragens anderer und des­ halb sind wir geniert. Wir besorgen dann (wenn wir geniert sind) kei ne andre Gefahr, als die zu mißfal len. D iese Verlegenheit äußert sich darin schon, daß man nicht weiß, wo man die Hände J assen sol l . Die Frauen­ zimmer helfen sich durch ihre Fächer, Männer mit der Tabakdose. Es zeigt dies immer Rohigkeit an. Nur ein Mensch von großem Stolz kann die Dräu­ stigkeit haben, daß er glaubt, er könne gar nicht mit Andern in Vergleich gestellt werden, der alle Urteile zu übersehen glaubt. Oft schämt man sich darüber, daß man sich schämt. Man kann zum Tei l die Selbstzuversicht, welche einige Dräustigkeit nennen, nicht erlangen. Viele, welche die Gabe der Unverschämtheit haben, können es mit wenig Talenten weit in der Welt bringen. Dagegen war David Hume, sonst ein so großer Kopf, von einer solchen Blödigkeit, daß man ihn gar nicht zu öffentlichen Unterhandlungen gebrauchen konnte. Daher sagt er auch: Ja, wer die glückl iche Gabe der Unverschämtheit hat, kann noch etwas in der Welt ausrichten. Ein Mensch, der sie besitzt, hat in allen Reden sehr was Zuverlässiges und Imposantes , xa't e!;OXTJV (vorzugsweise) ist Unverschämtheit mit Stolz verwandt. Schüchternheit ist nur eine Art von Verlegenheit und beruht auf der Wir­ kung der Blicke. Wir können nur dann verlegen sein, wenn wir den Blicken Anderer ausgesetzt sind, und eben daher kann ein Blinder nie in solche Ver­ legenheit kommen. In der Finsternis wird aus demselben Grunde der Blödeste dreist. Das Wort dummdreist wird nicht ganz durch etourderie ausgedrückt. Warum? Wei l dergleichen Charaktere nur immer in ei ner Nation sind, sowie es auch nur in Frankreich petits maitres gibt. Ein etourdi wäre z. B. der, welcher die gnädige Frau fragt: Wie alt sind Sie? Er will alles wissen. Dies ist sehr grob. Denn ein Frauenzimmer will niemals alt sein.

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Bescheidenheit kann man nicht künsteln. Denn sonst nimmt sie nicht ein. Für den aber, der sie besitzt, ist sie sehr vorteilhaft. Der Bescheidene ehrt den Andern, indem er sich sehr um seinen Beifall bewirbt und wenn dies nicht übertrieben wird, empfiehlt es. Bescheidenheit ist eine Art von Gelin­ digkeit in Ansehung der Ansprüche Anderer. Der größte Teil der Menschen will kommandiert sein, d. h. sie wollen, daß man ihnen Sittsamkeit gebiete. Die Bescheidenheit muß nicht mit der Blödigkeit verbunden werden. Nun kommen wir zu einer ganz besonderen Bewegung des Gemüts, die man selbst nicht füglieh zu den Affekten rechnen kann, sondern nur zu deren Ursachen, nämlich Fröhlichkeit und Traurigkeit. D ie Gemütsbe­ wegung selbst ist Lachen und Weinen NB Hiervon ist oben schon ausführlicher geredet worden, daher auch jetzt nur sehr in Kurzem. 1 . Beim Lachen findet ein starkes Ausatmen mit Intervallen statt, beim Weinen hingegen ein oft unterbrochenes Einatmen und Schluchzen. Der Maler kann mit einem Zuge aus einem lachenden Gesicht ein weinendes machen, denn es sind fast dieselben Gesichtszüge beim Lachen und beim Weinen. D ies kann man auch daraus sehn, daß man bei recht heftigem Lachen in der Tat weint. Eigentlich ist Lachen eine plötzlich abgespannte Erwartung dadurch, daß sie sich in nichts verwandelt. Z. B. Jemand sucht seinen Hut und hat ihn unter dem Arm - nun lacht er über sich selbst. Einige sind von der Art, daß sie wegen der Dummheit belacht werden. Ein Prediger predigt über die Vorsehung und sagte: wir könnten der Vorsehung nicht genug danken, daß sie den Tod an das Ende und nicht an den Anfang des Lebens gesetzt hätte, denn sonst würde man des Lebens nicht froh werden. Wenn jemand eine Ungereimtheit begeht, so liegt in dem Lachen nicht eine Freude. Denn wer wird sich darüber freuen, daß er nicht so stock­ dumm ist, als ein anderer recht stupider Kopf. Es beruht alles darauf, wenn die Erwartung in nichts verwandelt wird. Z. B. Ein Entrepreneur von den Bällen beschwerte sich, daß der erste Ball nie voll wäre. Dies hat nun seinen guten Grund. Denn die Leute wollen nicht immer die ersten sein. Sie setzen darin ein Verdienst. Nun denken sie: es werden nicht viele hingehen. Sie schicken wohl sogar jemand hin, um zu wissen, ob schon einige da sind. Also wartet immer einer auf den Anderen, und am Ende bleibt der erste Ball immer leer. Da antwortete ihm jemand: »Höre, ich will Dir einen guten Rat geben« (nun war man voller Erwartung über diesen Rat) , und sagte: »Warum gibst Du den zweiten Ball nicht zuerst?« Hier liegt das Lächer­ liche in der Dummheit des Einfalls. Die Engländer haben ein besonderes Sprechen, worüber gelacht wird, wenn ein Mensch so spricht, daß er sich

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selbst widerspricht, und das heißt einen Bull machen. Im Deutschen merkt man es nicht. Die Irländer sind Erzbullenmacher. Einer sagte z. B. da jemand die Sonne lobte: Ich lasse Euch die Sonne, die Ihr habt bei hellem Tage entbehren können, und lobe mir den Mondschein, der mir oft bei stock­ düstrer Nacht, daß man nicht eine Hand vor Augen sehen konnte, nach Hause geholfen hat. Dinge, die etwas unerwartet kommen, werden belacht. Z. B. Da König Carl II. in England den Rektor Busby in London besuchte, der eine pedantische Autorität gegen seine Schüler bewies, so war er in Gegenwart der Schüler gegen den König sehr grob. Denn wie der König hereintrat, so sagte er »guten Tag« und ging immer die Stube auf und ab. Nachher, wie er mit dem Könige allein war, so bat er höchl ich um Ver­ zeihung wegen seiner Grobheit. Denn, sagte er, wissen die Jungen erst, daß noch einer da ist, der ein größeres Ansehen hat, als ich, so habe ich keine Achtung und würde gar nicht mit ihnen fertig werden können. Das Lachen über einen Andern, wenn der Andere nicht mitlacht, ist ein boshaftes Lachen. Das geschieht beim Raillieren. Der Mensch lacht, wenn einer fällt, und besonders, wenn einer so fäl lt, daß er selbst, sein Hut, seine Perücke, sein Stock, alles apart l iegt und er es wieder aufsuchen muß. Dies ist dem Menschen eine wahre Freude. Es kommt ihm als eine Erniedrigung vor, daß der Andere unter ihm ist. Deswegen freut man sich über den Fal l des Andern, wenn man sich unter ihm erniedrigt glaubt. Ein Mensch, der sich seines Werts bewußt ist, läßt gerne über sich lachen. Z. B. Als Terrasson mit der Schlafmütze auf dem Kopf, mit der Perücke unter dem Arm , übrigens aber sehr galant mit dem Degen an der Seite, über die Straße ging und wie man leicht erachten kann, deswegen ausgelacht wurde, sagte er nachher in einer Gesellschaft: Ich habe heute den Parisern ein Vergnügen gemacht, das mir und ihnen nichts kostete. - Ein Vater, der seinem Ende nahe war, ver­ machte seinen Söhnen das, was er im Vermögen hatte. Er teilte es unter die beiden älteren, welche ihm dann zur Antwort gaben: Gott erhalte uns unsern Vater, auf daß er noch lange davon Gebrauch machen könne. Dem dritten und jüngsten wollte er, weil er nicht gut sparen konnte, nichts ver­ machen, gab ihm aber doch einen Schilling (dies ist in England Gesetz, daß Väter, wenn sie ihre Kinder enterben, ihnen wenigstens einen Schi l l i ng hinterlassen müssen) mit dem Zusatz, daß er sich einen Strick dafür kaufen könne. Der Schalk antwortete ihm: Gott erhalte uns unsern Vater, auf daß er noch selber davon Gebrauch machen könne. - Abelard fuhr mit einem Geistl ichen in einer Kutsche. Auf einmal sagt der Geistliche: Sehn Sie, da fliegt ein Ochs. Abelard sah schnell zum Kutschenfenster hinaus, jener aber fing aus vollem Halse an darüber zu lachen, daß ein so großer Philosoph so was glauben konnte. Abelard antwortete ihm: Ich glaubte eher, daß ein Ochs fliegen, als daß ein Geistlicher lügen könnte. - Das Lachen ist keine Freude, die auf dem Begriff beruht, sondern die Wirkung, wenn das Gleich-

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gewicht der gespannten Fasern aufgehoben wird. Denn z. B. wenn jemand was erzählt, so ist man aufmerksam, man hält ordentlich den Atem an sich und spannt dadurch die Fasern gleichsam wie eine Saite, und alsdann, wenn diese Spannung auf einmal aufgehoben wird, so werden die Fasern wie eine herabgelassene Saite hin und her bewegt, und das ist das Lachen. Erzählen, raisonieren, scherzen kommt bei der Tafel vor, und zwar macht der Scherz den Beschluß, ist das Dessert, verursacht, daß die Menschen mit Wohl­ behagen aus der Gesel lschaft gehen. Das Lachen entspringt aus dem Gefühl des körperl ichen Wohlbefindens, z. B . beim Kitzeln. D iese Oszillatorische Bewegung bringt mehr Umlauf im Geblüt zuwege und ist der Gesundheit vorteilhaft. Zu vieles Lachen ermüdet. Shaftesbury sagt, das Lächerliche wäre ein Probierstein der echten Wahr­ heiten und Ungereimtheiten, besonders in der Religion, nämlich: dasj enige, was die Angriffe durchs Lächerliche aushalten kann, habe echte und innere Würde, das aber, was lächerlich werden kann, habe wirklich keinen inneren Wert. Z. B. Die Raillerien über eine Wahrheit als das Dasein Gottes usw. werden niemanden zum Lachen bewegen, sondern jeder hört mit Ernst zu. Lachen scheint mehr eine männliche und Weinen mehr eine weibliche Eigenschaft zu sein. 2. Weinen hat mit dem Lachen Ähnl ichkeit, indem es auch Erschüt­ terung - Erleichterung ist. Denn der Mensch, der im größten Grad des Schmerzes ist, kann nicht weinen. Wer aber noch weinen kann, lindert da­ durch seinen Schmerz - es l iegt i n dem Bewußtsein sich ohnmächtig zu fühlen. Z. B. Jemand strebt nach etwas und er muß auf einmal nachlassen, so bringt dieser Rückfall die Bewegung des Weinens hervor. Das Frauen­ zimmer, wenn es zornig ist, fühlt seine Ohnmacht und weint daher auf der Stelle. Es kommen einem Tränen in die Augen, wenn man eine Handlung von außerordentlicher Großmut ausüben sieht oder auch nur auf dem Thea­ ter vorstellen sieht oder im Buche l iest, wei l man wünscht in einen eben­ solchen Fall zu kommen, um auch so großmütig handeln zu können. Es ist also eine Wehmut eines dankbaren Vermögens und das Bewußtsein des Unvermögens oder Demut eines dankbaren Gemüts , aus Bewußtsein des Unvermögens, die Wohltaten zu erwidern. Es gibt gewisse Empfindungen, welche man nicht erklären kann. So bringen z. B. gewisse Vorstellungen Schauer und Gräuseln hervor. Das letztere geht aufs Schreckhafte und ist vom ersteren unterschieden. Reizbarkeit der Nerven ist schon Schwäche. Der Affekt widerstreitet der Weisheit, Neigung aber der Klugheit. Wir können hier eine schöne Gradation merken: 1 . Jede Neigung widerstreitet der Klugheit, 2. der Affekt widerstreitet nicht nur der K lugheit, sondern auch der Weisheit. Um dies zu beweisen, bemerke man:

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I. Die Moralität besteht darin, daß man bei allen Vorschriften der Sinn­ lichkeit seine Handlungen doch nach Beweggründen der Vernunft dirigiere. Wer nun aber aus Neigung handelt, gibt nicht den Beweggründen der Vernunft, sondern der Sinnlichkeit Gehör. Und da wir zu al len sittlichen Handlungen durch Beweggründe angespornt werden, so sind wir desto mehr gebunden, je sinnlicher wir sind. Die Griechen verordneten deshalb, daß ihre Areopagiten im Finstern richten mußten, weil einmal eine verur­ teilte schöne Witwe durch Abnehmung ihres Sch leiers Recht erhielt. Nur allein die Neigungen machen arm. Sie sind gleichsam viele Mäuler, die alle gefüllt sein wollen. Sie sind Schreihälse, die dem Menschen keine Ruhe lassen. Daher ist der Mensch der größte Tor, der sich mit Neigungen belastet. Überhaupt ist es nicht gut und weise, sich Bedürfnisse notwendig zu machen, ehe man auf Mittel gesonnen hat sie zu befriedigen. II. Die Fähigkeit, die besten Mittel zur Glückseligkeit zu wählen, ist die Klugheit. Die Glücksel igkeit besteht aber in der Befriedigung aller Nei­ gungen. Um sie also wohl wählen zu können, muß man frei sein. Der Klug­ heit aber ist alles zuwider, was uns blind macht. Der Affekt macht uns bl ind und also ist er der Klugheit zuwider. III. Der blinde Affekt ist diejenige Stärke des sinnlichen Triebes, daß er den Verstand hindert selbst auf die Befriedigung des einzigen Triebes, der ihn bl ind macht, zu denken. Und so kann der starke Trieb selbst sein eigenes Ziel nicht erreichen. So weiß man, daß ein heftiger Zorn stumpf wird , und derj enige, der da recht zürnet, weiß selbst nicht, was er dem Beleidiger für empfindliche Worte sagen soll. Überhaupt scheint uns der Affekt in den Zustand der Stupidität zu versetzen. Der blinde Affekt ver­ stummt. So ist ' s mit Verl iebten. Der Heftigste kann keine Worte finden, weiß nichts zu sagen, wodurch er sich insinuieren (einschmeicheln) könnte. Dagegen ist der Gesprächigste gewiß immer derj enige, der am wenigsten empfindet. Auch ist der Ehrgeiz von der Art, welcher für bloße Titel wahre Vorteile dahingibt, da doch die Hochachtung für ihn nicht im geringsten wächst. Da nun aber die Geschickl ichkeit in der Kunst besteht, Mittel zu allen möglichen Endzwecken ausfindig zu machen, so widerstreitet der blinde Affekt dem Geschmack oder der Schicklichkeit. Einige englische Schriftstel ler machen einen Unterschied zwischen Affekt und Passion. Sie sagen: der Affekt ist eine so starke Regung des Gefühls, daß man sich dabei der Summe aller Regungen nicht bewußt sein kann, Passion aber ist eine so starke Begierde, daß man sich der Summe aller Begierden nicht bewußt sein kann. Dieser Unterschied scheint richtig zu sein. Denn der Affekt ist ein Gefühl, das uns unfähig macht, die Summe al ler Gefühle zu Rate zu ziehen. Alle bandenlose Lustigkeit macht uns unfähig auf andere Quellen des Vergnügens zu denken und vergnügt weniger . . . Ein dauerhaftes Vergnügen des Menschen besteht nicht darin, daß man es durch alle Organe

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empfinde. Das Gemüt muß zu allen Vergnügungen offen stehen. Wir finden daher, daß die Befriedigung einer Neigung jederzeit Unruhe und Verdrieß­ lichkeit nach sich zieht, weil alle Organe gleichsam in Tätigkeit gesetzt worden sind. Jede Neigung, die sehr vergnügt, wird erschöpft, dahingegen Mäßigkeit die Sinne für Vergnügen anderer Art offenhält Das gefühlvolle Gemüt mit Ruhe verknüpft ist des größten Vergnügens fähig. Nichts ist absurder, als eine Tafelmusik. Denn man hat weit feinere Arten des Ver­ gnügens bei der Tafel. Die Musik füllt nur den leeren Raum der Gedanken­ losigkeit aus, und kann höchstens etwas zur Verdauung beitragen.

Von den Leidenschaften Leidenschaft ist der Zustand des Gemüts, welcher uns unfähig macht, über unsere Neigungen herrschen zu können , d. h. er verursacht, daß wir die Gegenstände nicht nach der Summe aller Begierden wählen können. Die wahre Leidenschaft ist die, deren Neigungen bis zu dem Grad gehen, daß sie ihre eigene Befriedigung unmöglich machen. Der Mensch opfert dabei allemal etwas von seinem Zustande auf. Bei der Leidenschaft aber oder einer heftigen Begierde opfert er etwas von seiner Tätigkeit auf. Man nennt einen solchen Menschen einen Sklaven, wei l er den Leidenschaften dient. Einige Leidenschaften sind so beschaffen, daß sie ein anderer b i l ligt, weil man mit ihm sympathisiert, z. B . die von einer Beleidigung kommt, weil Beleidigung eine allgemeine Sache ist. Wenn aber jemand bestohlen wird, so findet das nicht so leicht statt, weil der Dieb öfters der Person nichts tun will, wenn er nur Geld bekommt. Ist aber jemand beleidigt, so denkt man mit dem Chremes im Terenz: homo sum et nihil humani a me alienum esse puto. Brutus, der den Caesar ermordet hatte, sah den toten Körper desselben vor der Türe des Sulla l iegen und fragte: Ist denn keiner, der dies rächen will? Man antwortete: Nei n ! und er sagte: So reicht mir den Degen. Er konnte die Beleidigung des Volkes nicht ertragen. Wir billigen Leidenschaften: 1 . wenn sie uns vorteilhaft sind, 2. weil kein genugsamer Ernst da zu sein scheint, wo keine Leidenschaft ist. Freilich ist der Affekt wohl der beste Beweis vom Ernste. Allein darum zeigt der Mangel des Affekts noch nicht den Mangel des Ernstes an. Viel­ mehr ist der überlegte Ernst von längerer Dauer. Es ist nicht gut, wenn man sein Glück zu hoch auf einmal treibt, so daß man es nicht mehr steigern kann. Denn hat uns einmal eine Sache sehr stark gerührt, so mißfällt uns hernach die mittlere Rührung. So tut man einem keinen Gefallen, wenn man ihn mit den größten Lobsprüchen überhäuft. Denn verd ient er sie hernach nicht ganz komplett, so mißfällt er schon, wei l man ihn sonsten für einen geschickten Mann gehalten und andere sich in ihrer gespannten

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Erwartung betrogen finden. A l l unser Wohlgefallen, wenn es in Abnahme gerät, zeigt uns schon den herannahenden Verdruß. Daher müssen wir es nie zur Abnahme kommen lassen. Haben wir nun unsere Empfindsamkeit auf einmal zu hoch gespannt und treiben es in der Empfindsamkeit zu weit, so können wir sie nicht lange aushalten. Komrots aber zum Abnehmen, so ist Ekel , Verdruß und Kummer da, weil wir die höchste Empfindung zum Maßstabe annehmen. Wie gut wäre es also, wenn man sein Leben so einrichtete, daß man immer seinen Zustand steigern kann. Denn dies ist das einzige Mittel zur Glückseligkeit. Oft glaubt ein Mensch betrogen zu sein und betrügt sich selbst. Wenn jemand in seiner frühesten Jugend aus seinem Vaterlande reiset und in seinem Alter wiederkommt, so glaubt er gemeinhin, daß sich vieles seit der Zeit verändert habe. Allein er hat sich selbst verändert. Wie kann er j etzt das Vergnügen empfinden, welches er damals empfand , als er da Ball spielte? So denkt auch ein Verliebter in seiner Trunkenheit, daß seine Geliebte der schönste Gegenstand in der Welt sei. Genießt er sie und die Funken brechen in Flammen aus und verlodern endlich, so glaubt er fest, wenn er sie hernach minder reizend findet, betrogen zu sein, da er sich doch in d iesem Fal le selbst betrogen hat. Beim Heiraten ist der Mann doch mehrenteils besorgter, als die Frau. Der Grund davon ist, weil die Frau da­ durch ihre Freiheit gewinnt, der Mann aber etwas davon verliert. Der fromme, heilige Affekt ist unter allen der ärgste. Denn j e erhabener der Zweck ist, um dessenwillen man eifert, desto größer ist der Zorn. Denn der Zorn bekommt hier eine Art von ijeschönigung. Daß aber die Natur Leiden­ schaften in uns gelegt hat, kommt daher, weil sie allemal den sichersten Weg wählt, zu ihrem Zwecke zu gelangen. Der sicherste Weg aber ist bei Menschen die Rührung der Sinnlichkeit. Man kann aber dadurch die Leiden­ schaften nicht rechtfertigen. Denn wir haben dazu die Vernunft, daß wir die Leidenschaften im Zaum halten können. Die Natur hat uns nur provisorio den Weg gegeben, wei l man oft nur zu spät zum Gebrauch seiner Vernunft kommt. Sie sind also einem Hofmeister gleich, der einem Kinde so lange gehalten wird, bis es zur Überlegung kommt und durch Vernunft geleitet werden kann. Z. B. konnte die Natur ihre Hauptzwecke, die Erhaltung und Fortpflanzung der Art nicht der Vernunft, dieser für den Menschen so unerläßlichen Führerin anvertrauen. Gleich in der zarten Kindheit hatte die Natur zur Absicht, den Menschen zu ihren Zwecken zu führen. Dieses aber konnte durch die erst angehende Vernunft nicht so gut geschehen, als durch Keime zu Affekten. So ist z. B. der Zorn eine Verteidigungsneigung. Wird aber die Neigung reif, so muß der Mensch den Affekten weiter kein Gehör geben, als nur insofern, daß er sich von ihnen an die Zwecke des Lebens erinnern läßt. Es ist aber doch sonderbar, daß beim Affekt der Teil der Bedürfnisse wirklich die Summe aller Bedürfnisse überwiegt.

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Alle Neigungen können zu Affekten werden, aber die Neigung selbst, wenn sie gleich sehr stark ist, behält doch immer eine Kl arheit, die im Affekt vermißt wird. Es gibt tätige Affekte, die mit der Unternehmung von Handlungen verbunden sind und den müßigen entgegengesetzt werden. Man sollte denken, die Chinesen und andere ostindische Nationen hätten keine Affekte, weil sie sie im allgemeinen sehr zurückhalten. Denn wenn ein Europäer z. B. Seide von ihnen kauft und sie den Unterteil des Fasses mit einer andern leichten Materie vol lgefüllt und die Seide daraufgestopft haben, welches der Europäer entdeckt, so fällt ein jeder auf die Vermutung, daß der ganze Zorn des Käufers darüber entbrenne und in die wütendsten Ausdrücke ausbrechen werde. Aber was erhält man vom Chinesen für eine Antwort darauf? Er sagt: Nun, warum seid Ihr so böse? Euer Mäkler sagte, daß Ihr die Seide nicht besehen würdet. Obgleich die Chinesen hierin die Europäer zu übertreffen scheinen, so haben sie doch eben dieselben Af­ fekte. Allein aus Furcht und damit sie sich mit mehr Überlegung aus der Sache ziehen können, sind sie so sehr zurückhaltend. Wir können alle Neigungen einteilen 1 . in formale, i nsofern sie allgemeine Bedingungen al ler Neigungen sind, welche man die Neigungen in abstracto nennen könnte. 2. in materiale, insofern die Objekte der Neigungen eingeteilt sind. Die allgemeine Bedingung aller Neigungen ist Freiheit. Freiheit bedeutet den Zustand, worin man seinen Neigungen gemäß leben kann, wo uns nichts hindert in der Wahl und in der Befriedigung unserer Neigungen. D ies ist die erste formale Bedingung und gewiß auch die größte. Lächerlich ist es daher, wenn ein Gutsherr seine Erbuntertanen nach seiner Weise behandelt und sie nach seiner Idee von Glückseligkeit zu leben zwingt, dabei aber zur Raison (zum Grunde) angibt, solche Leute wüßten nicht, was ihnen diene. Dieser Zustand ist für den Erbuntertanen der schrecklichste. Denn man ist nur glücklich, wenn man seinen Neigungen gemäß leben kann. Man darf daher einen Regenten nicht als Landesvater rühmen. Denn wir sind keine Kinder mehr, die einen Vater brauchen, die bei der Nase herumgeführt werden müssen. Wir müssen Freiheit haben, sonst haben wir kein Eigen­ tum. Ohne Freiheit haben wir kein Eigentum. Das Unglück des Menschen ohne Freiheit ist unabsehbar. Die formale Neigung zur Freiheit heißt negativ. Der Mensch verlangt nichts zu erwerben, er will nur seine Neigung befried igen. Die formale positive Neigung heißt das Vermögen, im Besitz der Mittel zu sein, um seine Neigungen befriedigen zu können. Es gibt zweierlei Arten von Freiheiten: 1 . die wi lde, tierische, gesetzlose Freiheit. Dies ist die natürliche. 2. die bürgerliche Freiheit. Diese ist immer einem gewissen Zwange unterworfen, sie sichert uns aber dafür auch vor Übeln, denen wir im Naturstande nicht entgehen können. Aber es gibt

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dennoch kein Beispiel , daß ein Wilder nicht sein Leben dem Leben unter Gesetzen vorziehen sollte. Die bürgerliche Freiheit ist sehr künstlich. Ihr Reiz besteht darin, daß der Mensch al les tun kann, wenn es nicht den Gesetzen widerstreitet. Diese Freiheit hat großen Nutzen. Sie veredelt nicht allein die Bürger, sondern auch nur die Meinung der Freiheit tut dies. Der Regent, der diese Meinung dem Vol ke benimmt, benimmt ihm auch zu­ gleich jeden Sporn zu edeln und guten Handlungen. Alle Nationen, je mehr sie der gesetzlosen Freiheit genießen, desto stolzer sind sie und verachten die Andern. Man hat viel Beispiele von kanadischen Wi lden, die schon Offiziere geworden waren, daß sie l ieber in ihre Hütten zurückkehrten, als noch länger unter Subordination standen. Überhaupt achtet der Wilde nichts, was unter Herrschaft steht. Die nomadischen Araber in den Wüsten reden mit Verachtung von den Arabern in den Städten. Die Grönländer schätzen alle dänischen Matrosen, darum weil sie sich befehlen lassen, so gering, daß sie nicht einmal mit ihnen sprechen, welche Ehre sie lediglich dem Kapitän erweisen. Und die Missionare bitten sich aus, daß der Schiffs­ kapitän keine Autorität über sie bl icken lasse, weil man sie sonst als nichtswürd ig betrachten möchte. Die Araber, die unter einem Scheik ste­ hen, wenn sie übel behandelt werden, so gehen sie gleich unter einen andern Scheik. Menschen j e näher sie der Freiheit kommen, desto stolzer sind sie. Dies zeigt sich im folgenden: Wenn der Tunguse, der ein Jäger ist, jemandem Unglück wünschen will, so sagt er: Daß Du Dein Vieh erziehen magst ! der Russe aber: Daß Du Dein Brot beim Weberstuhl wie ein Deutscher verdienen magst! Zu der negativen formalen Neigung muß noch hinzukommen die positive formale Neigung. Diese betrifft den Besitz des Vermögens, seine Neigun­ gen zu befriedigen. Denn man lasse einen Erbuntertanen laufen. Wenn er kein Geld, kein Ansehen, keine Fürsprache hat, so wird ihn zwar nichts an der Befriedigung seiner Neigungen hindern, allein er wird sie doch nicht befriedigen können. Dies positive Vermögen ist also die Kraft, wodurch man etwas, welches unserer Willkür gemäß ist, zustande bringen kann und schränkt sich also auf folgende drei Mittel ein: 1. Ehre - durch diese habe ich Einfluß auf andere Menschen in Rücksicht auf ihre Furcht. 2. Gewalt - durch dieses Mittel habe ich Einfluß wegen der Ohnmacht Anderer. 3. Geld - dadurch habe ich Einfluß wegen des Interesses und des Eigen­ nutzes der Menschen. Man kann also auf dreierlei Art Einfluß haben. Das Sicherste ist Geld ! Nichts kann die Neigungen mehr überstimmen, als Geld. Es ist das kräftigste Mittel, andere Menschen zu seinem Werkzeug zu brauchen. Z. B. die Anekdote, da der Brama allen seinen Untertanen Erlaub­ nis gab, sich etwas von ihm auszubitten, so fand es sich am Ende, daß alle

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mit einander ohne Ausnahme - Geld baten. Ja, wer Geld hat, kann sich gewissermaßen Verstand anschaffen. Denn man sagt: Ein guter Vorrat von Büchern ist Ersetzung des Verstandes. Man hat bemerkt, daß die Stärke, Andere zu überwältigen, mit ein Gegenstand der menschlichen Neigung sei. Bei allen rohen Nationen ist die Tapferkeit die größte Tugend. Unter den gesitteten Nationen sind die Dispu­ tationen der Gelehrten eingeführt, die in der Tat ein wahres Hahngefechte sind. Zum Vermögen kann man auch Dräustigkeit rechnen. Denn sie macht den Menschen fähig, etwas zu unternehmen, was ein Anderer unterlassen muß. Diese Dräustigkeit kann man nicht erlernen. Der Mangel davon schränkt unser Vermögen ein und macht uns schwach. Dräuste Menschen haben gemeiniglich keinen Mut, sondern wie Homer sagt, das Gesicht eines Hundes und das Herz eines Hirsches. Leute , die schon durch ihr Gesicht Dräustigkeit anzeigen, sind unleidlich. Wenn dieses aber keine verrät und der Mensch hat sie doch, so kann sie sehr vorteilhaft sein. Das Vermögen sich glücklich zu machen, ist ein unmittelbarer Gegenstand unserer Nei­ gung. Geschicklichkeiten sind nur Fähigkeiten einen vorgelegten Zweck auszuführen, und diese Geschicklichkeiten werden oft höher geschätzt, als alle Endzwecke. So ist die Tapferkeit ein Mittel , die Menschen zu sichern. Allein sie gefällt uns auch unmittelbar. Auch die Ehre vermehrt unser Vergnügen, weil wir dadurch mit v ielen Menschen bekannt werden, und unser zeitliches Glück hängt mehrenteils von der Gunst und dem Ansehen unter den Menschen ab. Sonderbar ist es, daß der Geizige sich gemeinhin hitzig bezeigt, Mittel zu erwerben. In Ansehung der Zwecke aber ist er ganz gleichgültig. Denn er sucht nur Geld zusammenzuscharren, wenn es auch mit Unrecht geschehen sol lte. Auf d ie Anwendung desselben denkt er gar nicht. Die Erklärung der Möglichkeit von dieser Ungereimtheit l iegt darin, daß bloß das Vermögen schon ein idealisches Vergnügen ausmacht. Denn ausgegebenes Geld hat nur einen einzigen Nutzen, der in den gekauften Sachen l iegt. Viel leicht auch darum, weil man sich gewöhnt hat, sich kei­ nen Genuß zu verschaffen, um desto mehr sammeln zu können. Das Geld aber hat einen allgemeinen Gebrauch. Allein diese Allgemeinheit muß man so betrachten, daß man sich zwar für das Geld alles anschaffen kann, aber nicht alles zusammen, sondern nur eins von allen, und durch diese Allge­ meinheit bekommt das liegende Geld einen Vorzug vor dem ausgegebenen. Ehre bringt immer einen Widerstand hervor. Denn sobald man welche erwirbt, so geschieht dies auf Kosten der Achtung anderer. Z. B. Jede Ehre ist ein Vorzug, den wir andern vor uns geben. Wenn sie auch nicht auf­ gehoben wird , so wird sie doch vermindert. Daher widersetzt sich jeder gern, denn Vorzüge räumen wir nicht gern ein. Wer Anspruch auf Ehre macht, tut gleichsam Unrecht, indem er w i l l , daß der Andere von seiner Ehre abstehen soll. Und darum, wei l wir keinem den Wahn lassen wol len,

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daß er Vorzüge vor uns haben soll, ist man auch so teuer mit Titeln. Wenn ich mir Gewalt erwerbe, so kann ich natürlicherweise Widerstand von Andern erwarten. Das Einzige, wobei dies nicht stattfi ndet, ist das Geld. Denn wenn ich welches habe, so l ieben Andre dies, und zwar darum, weil sie selber vielleicht davon Nutzen ziehen können. In allen Begierden kann man sich etwas Kontinuierendes vorstellen, und diese konti nuierl iche Begierde nennt man Sucht. So gibt ' s Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht. Diese gründen sich auf die drei formalen positiven Vermögen (Ansehen, Gewalt und Geld) und werden alle drei unter dem nach engl ischer Art geformten Worte Selbstsucht begriffen. D iese Sucht, welche vom Affekt deshalb unterschieden ist, wei l sie kontinuierlich ist, macht, daß der Mensch auf den geringsten Grad seines Vermögens erpicht ist. Ein Geldgieriger ist nicht allemal habsüchtig ; denn ein Habsüchtiger läßt auch nicht den geringsten Vorteil aus den Händen, durch den er sein Geld vermehren kann. Ein Ehrsüchtiger läßt s ich auch gern vom Narren loben. Wir wollen also nach der Reihe durchgehen: I. Ehrsucht. Ehrliebe muß jeder haben. Wir verlangen sie von jeder­ mann und sind nie darüber eifersüchtig. Aber Ehrsucht ist mehr. Ehrsucht oder Ehrbegierde beleidigt andere. D ies tut Ehrl iebe nicht. Ehrl iebe ist negativ, ein bloßer Abscheu, nicht die Verachtung anderer sich zuzuziehen. Daher kann ein ehrliebender Mensch verlangen, nicht bekannt zu sein, und wenn er gekannt wird , so will er nicht so gekannt sei n, daß er ein Objekt der Verachtung ist, sondern so, daß er sich nicht schämen darf und Ehre davon hat. Ein Ehrliebender flieht oft die Gesellschaft, damit er verhindere, daß er sich eine Verachtung zuziehe. Ohne Ehrl iebe ist keine Tugend, und der nicht ehrliebend ist, ist nicht tugendhaft, er ist deshalb untugendhaft, wei l er sich selbst zum Gegenstand der Verachtung macht. Von der Ehrbe­ gierde aber redet jeder. Ehrbegierig sein, heißt mit Andern um den Vorzug streiten, wodurch man natürlicherweise Andere offendiert. Denn indem dieser will vorgezogen sein, verliert der Andere und so entsteht Eifersucht. Ein Ehrbegieriger sucht die Gesellschaft, um auch durch die geringsten Kleinigkeiten seine Ehre vergrößern zu können. D ie Ehrbegierde wird end l ich zur Ehrsucht, wenn man die Ehre zum Hauptgegenstand seiner Neigungen macht, und zu Ehrgeiz, wenn man auf die geringsten Kleinig­ keiten bei der Ehre sieht. Ehrbegierde und Ehrgeiz sind Leidenschaften, die erhöht werden können. Es liegt in der Ehrbegierde das Ungereimte, daß eben durch die große Bestrebung nach Ehre sie ein Gegenstand der Verachtung wird . Jemand kann bereitwillig sein, einem Andern Ehre zu erweisen und dies macht ihm selber Ehre, aber es muß dieses frei ge­ schehen, er muß nicht Anspruch darauf machen. Ehrbegierde als Selbst­ sucht ist Hochmut (superbia) . Hochmut ist nicht ambitio. Denn ambitieuse Leute können sehr höflich sein, indem sie bei Andern durch Willfährigkeit

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eine vorteilhafte Meinung von sich, also Ehre erwerben wollen, welches auch wohl schon beleidigend ist. Je mehr ein vornehmer Mann auf seine Ehre Verzicht tut oder keinen Anspruch zu machen scheint, da nämlich, wo er es könnte, desto mehr erwirbt er sich willkürliche Ehre. Hochmut ist die Meinung von dem Vorzuge, wodurch man Andere im Verhältnis gegen uns zu erniedrigen sucht. Der Hochmütige will, daß der Andere sich gegen ihn gering schätze, und dies ist beleidigend, und er wird zuerst gehaßt und zweitens wird er ein Narr, weil er gerade seinem Zweck entgegenhandelt. Je mehr einer arrogant ist und sich brüstet, je mehr weigern andre sich ihm Achtung zu erweisen. Sobald er sich aber mit Andern in Gleichheit setzt, beweist man ihm weit lieber Achtung. Hochmut führt auch gewöhnlich Niederträchtigkeit mit sich. Man glaubt bemerkt zu haben, daß der Hoch­ mütigste, wenn er unter einen Mächtigern kommt, zugleich der Nieder­ trächtigste ist. Dies ist auch sehr natürl ich. Wie könnte er dieses sonst einem Andern zumuten, wenn er selber nicht von der nämlichen Denkungs­ art wäre. Hochmut ist vom Stolz verschieden. Stolz ist ein Anspruch auf d iejenige Achtung anderer, die er j edem andern auch erweisen w i l l , eine gewisse Halsstarrigkeit, die darin besteht, daß man seinen Wert nicht schmälern lassen will. Der edle Stolz fordert nur Gleichheit und alsdann ist er an sich billig. Er hat aber auch einen Zug des Tadels bei sich, weil er gleichsam eine Sorgfalt anzeigt, nichts von der Achtung, die er von andern fordert, etwa abzulassen, und er kann eher mehr Achtung fordern, indem er jederzeit bereit ist, auch mehr Achtung zu erweisen. Es ist dies eine Art von Präzision und gewissermaßen eine Krankheit. II. Herrschsucht. Diese ist ungerecht, die verlangt nicht nur Gewalt, sondern auch ein vorzügliches Vermögen über Andre. Es entsteht die Fra­ ge: Kann der Mensch eine Neigung zum Herrschen haben? findet Herrsch­ sucht als unmittelbare Neigung statt? Ja, alle Menschen mögen gern herr­ schen. Doch l iegt das stets im Gehei men zum Grunde, daß sie ein großes Mittel ist, seine Zwecke und Absichten durch Beihilfe anderer zu erreichen. Selten hat ein Fürst die Regierung niedergelegt (resigniert) , und wenn er es tat, so tat es ihm auch nachher leid. Z. B. Kaiser Carl V. und der König von Sardinien. Wenn man bloß Widersetzung vermutet, so ist es nicht ange­ nehm. Viele mögen deswegen nicht herrschen, weil sie Hindernisse voraus­ sehen, auch wohl oft deswegen, weil sie beherrscht kommoder leben. Viele geduldige Ehemänner sind kommode und wollen lieber beherrscht werden, als herrschen. Die gewöhnlichen Herrscher werden bewundert. III. Habsucht. Es gibt eine mittelbare Habsucht, da man nämlich des­ wegen viel zu haben verlangt, um viel genießen zu können, und eine unmittelbare Habsucht, die keinen andern Zweck vor sich sieht, als bloß um zu haben, ohne etwas davon zum Genuß zu bestimmen. Daher haben wir karge und gewinnsüchtige Geizige. Der karge Geizige will gar nichts ver-

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lieren. Ein Mensch, der viel hat, kann vielen nützen und dadurch erlangt er ein großes Ansehen. Es ist nach den Nationen verschieden, wie sie sich ausdrücken. Z. B. Der Holländer sagt: der Mann kommandiert eine Million. Der Engländer sagt: der Mann ist 1 00.000 Pfund Sterling wert. Der Deutsche sagt bloß: der Mann besitzt so und soviel Geld. D iese drei Begierden sind gewöhnlich nur Neigungen des Wahns, welche ohne Rücksicht auf den Zweck bloß auf die Mittel gehen. So ist ' s m i t der Ehrbegierde. Ehrbegierig sein, bloß u m Ehre z u haben. D i e mehre­ sten Monarchen setzen den Wert unmittelbar in Herrschaft, also darin, was nur Mittel zum Zweck ist. Geld hat nur als Mittel Wert und wer darin einen unmittelbaren Wert setzt, bei dem ist es Wahn. Die Leidenschaften, die im bloßen Wahn bestehen, schlagen doch am tiefsten Wurzel, deshalb weil sie die ungereimtesten sind, und desto schwerer sind sie auszurotten. Es l iegt eine recht wunderbare lächerl iche Komplikation in den Handlungen eines kargen Geizigen. Von den verschiedenen Objekten unserer Neigungen und Leidenschaften Ruhe und Genuß sind die Hauptobjekte, wovon die Extreme: Faulheit und Üppigkeit. Jeder Mensch hat große Neigung zur Ruhe, daß nämlich nichts wider seinen Willen sich bewegen soll. Er liebt Gemächl ichkeit. Die größte Ungemächlichkeit ist wohl der Zwang unter die Befehlshaberschaft eines Menschen, besonders dann, wenn dieser Befehlshaber den Naturgaben nach (in Absicht der Kapazität) dazu noch unter uns steht, so daß wir ihn im Herzen verachten und ihm doch gehorsam sein müssen. Man kann doch frei und ungemächlich leben, wie z. B . die Wilden. Denn die Freiheit versüßt alles und alle finden in der Unabhängigkeit die Ersetzung alles ihres Unge­ machs. Indessen haben sie doch alle einigen Hang zur Gemächl ichkeit. Gemächlichkeit begleitet fast alle Begierden und schwere Dinge werden uns deshalb unangenehm, weil sie der Gemächlichkeit widerstreiten. Indes­ sen gibt es doch Personen, die ein desto größeres Vergnügen empfinden, je größere Schwierigkeiten sie zu überwinden haben. Man kann aber gewiß glauben, daß solche Leute wiederum in andern Sachen ihre Gemächlichkeit suchen. Werke der Kunst m ißfallen uns oft bloß deshalb, wei l sie zuviel Schwierigkeit und Peinlichkeit verursachen. Ebenso wie eine Rede, wo man merkt, daß die Ausdrücke mit großer Mühe herbeigeholt worden sind. Die große Neigung zur Ruhe nehmen wir hier als Abneigung zur Arbeit. Arbeit ist eine Beschäftigung, die an sich selbst unangenehm ist, aber durch den Zweck angenehm wird. Spiel hi ngegen ist eine Beschäftigung, die an sich selbst angenehm ist, aber durch den Zweck unangenehm wird. Z. B. Jagen, Angeln sind Beschäftigungen, die an sich selbst angenehm sind. Unter allen

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diesen occupationibus in otio (nicht per negotium) ist das eigentliche Spiel zu bemerken. Der Hang zum Kartenspiel ist ein Hang zur Beschäftigung in der Muße. Von Natur ist der Mensch faul . Nur um einen Zweck zu er­ reichen, kann er sich zur Arbeit bequemen. Aus Neigung arbeitet man nicht. Wohl spielt man aus Neigung. Alle Menschen scheinen Hang zum Spiel zu haben. Die Chinesen können nicht müßig gehen, nicht daß sie immer beschäftigt sind, sondern sie l ieben das Spiel. D ies geht soweit, daß sie Haus und Hof, Weib, Kind , j a am Ende sich selbst verspielen und geduldig in die Sklaverei gehen. Der Spieler kennt keine andere Leidenschaft, als die seinige, er ist stumpf gegen die Liebe. Sonst können mehrere Leiden­ schaften zusammen bestehen. Das Gemüt scheint durch den unaufhörlichen Wechsel des Glücks gefesselt zu sein. Jede Beschäftigung, mit welcher Glück verbunden ist, macht, daß die, welche sie treiben abergläubisch sind, so z. B. Spieler, Jäger, Fischer, Bergleute. Man sagt nicht: Er spielt falsch oder nicht gut, sondern er hat kein Glück. Wie tief die Neigung zur Gemächl ichkeit in der menschlichen Natur liegt, kann man schon daraus sehen, weil der Mensch nur darum arbeitet, indem er sich im Prospekt Ruhe und Gemächlichkeit mit vorstellt und ausmalt. Nur der Sporn der zukünftigen Ruhe treibt ihn zur Arbeit. Kann man diesen Hang zur Gemächlichkeit unter dem Namen der Faulheit als ein Laster ausgeben? Oft ist der Hang zur Gemächlichkeit ein wohltätiger Wink der Natur, seine Kräfte zu schonen , um sie nicht zu erschöpfen. Und dann ist es nicht ein Fehler. Z. B. die Habsucht würde viele Menschen antreiben, ihre Kräfte bis zur Überspannung anzustrengen und sie zu zerstören. Der Hang zum Genuß ist zweierlei: 1. Hang zum Leben, 2. Hang zum Ge­ schlecht. Im erstern Fall genießt der Mensch sich selbst, im Ietztern einen andern Menschen. Voltaire sagt: beide Neigungen wird keine Kunst ausrotten. Sie sind die Fundamentalneigungen. Die Neigung zum Leben wächst mit den Jahren. D ies kommt daher, wei l die Kräfte abnehmen und der Mensch schwächer wird. Daher kommt es, daß Jünglinge oft mit weit mehr Mut und Resignation sterben, als Alte. Die Neigung zum Geschlecht nimmt mit den Jahren ab. Dies gründet sich auf das Unvermögen. D ie Furcht vor dem Tode ist unterschieden von der Liebe zum Leben. Denn man kann den Tod fürchten, ohne das Leben zu l ieben. Die Ursache ist diese: Der Mensch fürchtet den Tod aus physischem Abscheu, indem er nichts vor sich sieht. Der Grund l iegt in der Imagination. Denn man stellt sich immer vor, man würde sich bewußt sein, in der Erde im Sarge zu liegen. Das Grab ist eigentlich schauerl ich. Daß man den Tod fürchtet, ist tierisch. - Beide Neigungen werden überhaupt getadelt als erniedrigend für die Würde der Menschheit, weil sie Ähnlichkeit mit tierischen Neigungen haben. Eben deswegen hat man auch in al len Religionen nur die für heilig

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gehalten, die gar keinen Hang zum Geschlecht zeigten. Phantasten ver­ langen, daß man beide Neigungen nicht habe. Eine Art davon nennt man Puristen, weil sie sich in diesem Punkt so gerne vom Menschen losmachen wollten. Was den Genuß des Lebens betrifft, so ist es gut, daß die Natur etwas Feigheit und Zaghaftigkeit in uns gelegt hat. Die Liebe zum Geschlecht ist oft nicht so groß, als man angibt. Es steckt etwas Fei nheit und Großmut darin, und man affektiert damit. Die Liebe zum Leben affektiert man nicht, wohl aber die Geringschätzung desselben. Die Neigung zum Geschlecht nennt man Liebe, man muß sie eigentlich Geschlechtsl iebe nennen, und sie hat nichts mit der moral ischen Liebe zu tun. Denn sie besteht im Genuß und ist also nicht die Liebe, die in Moral und Wohlwollen besteht. Die Natur hat mancherlei Instinkte zu großen Zwecken in uns gelegt. Der kultivierte Mensch muß also diese Anl agen als Triebfedern von großen Handlungen zu guten Zwecken gebrauchen. Je mehr wir unsere Neigungen befriedigen, desto mehr multiplizieren sie sich. (Man hat bemerkt, daß auch das große Laster, was unter den Menschen so gewöhnlich ist, die Falsch­ heit, bei allem Schaden, den sie mit sich führt, doch auch einigen Nutzen stiftet, nämlich den, daß sich Menschen, welche böse Absichten haben, um dessen willen nicht so leicht vereinigen können.) Unser Autor teilt die Leidenschaften nach unserer Empfindsamkeit in Schmerz und Vergnügen. Es gibt aber eigentlich nur angenehme und unan­ genehme Affekte, wei l jenes Gefühle, dieses aber Begierden sind. Beim Affekt wird unser Zustand affiziert, und wir sind passiv, daher auch der Affekt seinen Namen hat. Es gibt also nicht angenehme und unangenehme Leidenschaften. Jeder angenehme Affekt ist Freude und jeder unangenehme ist Traurigkeit. Ein j eder Mensch aber, der ruhig ist, ist in keinem Affekt. Auch der nicht, der fröhl ich ist. Denn die Fröhl ichkeit ist bloß das Ver­ mögen, alle Vorfälle des Lebens aus dem Gesichtspunkte zu betrachten, der uns auf irgend eine Art in den unangenehmen Vorfällen Vergnügen ver­ schafft. So wie Epikur der Philosoph des fröhlichen Gemüts, nicht aber ein Philosoph der Wol lust war. Denn die Alten haben nur aus Versehen das Wort voluptas durch Wol lust übersetzt. Dies sieht man auch daraus, daß Epikur seine Gäste in seinem Garten, den er ihnen als den Ort des Ver­ gnügens anpries, mit polenta (einer Art schlechter Grütze) aufnahm. Jede Annehmlichkeit muß, um Freude zu heißen , bis zum Grade des Affekts steigen. Nicht jeder Schmerz ist eine Traurigkeit, wenn man ihn bis zum Gemüt dringen läßt, und alle Philosophie zweckt dahin ab, daß der Mensch kein Vergnügen, keinen Schmerz bis zu seiner Seele dringen lasse, außer dem Schmerz wegen Übertretung seiner Pfl icht. Und da es der Mensch wirklich soweit bringen kann, so sehen wir daraus, daß uns die

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Natur nicht so gemacht hat, daß wir dem Affekt der Traurigkeit unter­ worfen sein sollen. Aber ebensowenig sollen wir uns das Vergnügen bis in die Seele dringen lassen. Der Qualität nach gehören alle Affekte entweder zur Freude oder zur Traurigkeit. Dem Grade nach aber sind sie sehr unterschieden, ob es gleich zum Affekt gehört, daß die Neigung so hoch steige, daß sie das Gleich­ gewicht der Summe aller übrigen Neigungen aufhebe, d. h. alle andern verdunkele und vertilge. Man verachtet gemeinhin alle Menschen, die im Affekt sind. Aber doch hält man einige Affekte dem Menschen zu gut, z. B. den edeln Zorn, da jemand für die Rechte der Menschheit eintritt und zürnet, wenn etwa ein unschuldiger Armer unterdrückt wird. Jeder Affekt ist eine Degradation der Menschheit, weil der Mensch nicht mehr sein eigener Herr ist, und die obere Willkür nicht mehr disponiert, sondern viel­ mehr die Torheit prävaliert, und der Mensch nicht mehr nach Überlegung über seinen ganzen Zustand disponiert. Eine ausgelassene Freude ist kindisch, außer wenn sie aus der Bonität und dem Glücke der ganzen Menschheit entspringt. Alle Tiere sind der angenehmen Empfindung fähig, aber nicht der Freude darüber, sowie der unangenehmen Empfindung, aber nicht der Traurigkeit darüber. Denn letzteres entspringt aus der Vergleichung des jetzigen Zustandes mit dem vorigen, die ein Tier anzustellen nicht vermögend ist. Daß also d ie Menschen durch ihre Torheit etwas vergnügt und ergötzt werden und daß sie Schmerz empfinden, kann ihnen nicht verdacht werden. D aß sie aber über etwas freudig und traurig oder betrübt werden, steht ihnen nicht an. Der Affekt gehört zum Gefühl, die Leidenschaft zur Begierde. Die Empfind­ samkeit muß man aber sehr vom Gefühl unterscheiden. Die Empfi ndsam­ keit ist auch unterschieden von der Reizbarkeit, die man bei den Affekten verspürt, und die eben in dem baldigen Ursprunge einer Begierde besteht. Die Empfindsamkeit ist eine Feinheit in der Untersuchung, vermöge wel­ cher j emand leicht bemerken kann, was gefällt und nicht gefällt oder mißfällt. Sie dient also zum Urtei len und steht jedem Menschen gut. Das Gefühl aber entsteht, wenn diese Empfindsamkeit in eine Begierde versetzt wird , und dann schickt sie sich für keinen Mann. Es kann j emand ein Zartgefühl oder Delikatesse z. B. bei der Ehre haben, d. h. er kann durch den geringsten Umstand beleidigt werden. D ies Gefühl aber ist unerlaubt. Hingegen ist eine zarte Empfindung erlaubt. Das zarte Gefühl ist eine Ver­ wandlung der Empfindsamkeit in eine Begierde. Der Mann muß aber nicht verzärtelt oder weibisch sein. Das Frauenzimmer hält ungemein viel auf Vorzüge und ist in Ansehung des Ranges und der Ehre sehr deli kat. Die Frau verlangt jederzeit, daß der Mann die Ungemächlichkeiten über sich nehmen soll. Die Ursache ist, weil sie ein starkes Gefühl hat oder verzärtelt ist. Sehr reizbar sein, ist eine sehr

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große Schwäche. Aber die Empfindsamkeit oder Zärtlichkeit in Unter­ suchung ist gut. Wer viel Empfindsamkeit hat, wird in Gesellschaft bei einem Scherze, der persönlich gemacht wird, doch immer so sprechen, daß er keinen, besonders kein Frauenzimmer beleidige. Denn man muß wissen, daß ein Frauenzimmer am leichtesten sich in Ansehung der ihm gebühr­ lichen Achtung beleidigt findet. Die Ursache ist dies, weil alle Menschen in Ansehung des Punktes, der i hnen streitig gemacht werden könnte, am alleraufmerksamsten sind. Ist ein Ausdruck zweideutig, so bleibt man desto leichter bei ihm stehen, wei l man glaubt, daß man beleidigt sei. So geht ' s dem Frauenzimmer. Denn der Grund der Achtung derselben ist zweideutig genug, weil sie doch ebensoviel Achtung verdienen sollten, als eine Manns­ person, und eben deswegen sind sie in diesem Punkte so delikat. Allgemein kann man also anmerken, daß man auf einem Punkt, über den noch ge­ stritten wird, ungemein sehr hält und auf einen Vorzug desto mehr erpicht sei , je zweideutiger er ist. Die Frauenzimmer aber haben keine eigentl ichen Vorzüge weder durch Gelehrsamkeit noch Staatsmaximen, und keine rechten Verdienste, gegen die man Hochachtung haben sollte. Daher sind sie so eifersüchtig auf i hre Ehre. Die zärtliche Liebe besteht nicht in der Größe des Affekts, sondern in der Feinheit und Beurteilung al les dessen, was einem Andern i m mindesten unangenehm sein könnte. Also ist die Zärtlichkeit sehr weit von der Verzärtelung unterschieden. Denn man kann zärtlich lieben und eben deshalb die größte Ungemächl ichkeit übernehmen. Es können bei jemanden starke Affekte herrschen, aber sie sind darum noch nicht heftig. Denn die Heftigkeit besteht nicht im Grade der Affekte, sondern in dessen Überraschung. Menschen, die feig sind, haben gemeinhin große Leidenschaften, aber sie sind deshalb nicht auffahrend, heftig und ungestüm, sie lassen sie auch nicht ausbrechen, wei l sie ihr Unvermögen zu satisfazieren kennen. Beim Zorn sowohl als beim Haß l iegt ein Unwille gegen einen andern zum Grunde. Sie unterscheiden sich aber dadurch, daß der Haß dauernd, der Zorn aber nicht dauernd und dennoch heftig ist. Wahre Leidenschaften entspringen nur aus dem Verhältnisse gegen Sachen, ausgenommen wenn man das Tierische in der Liebe beim Menschen betrachtet. Denn hier hat gleichsam der Mensch Appetit zur Sache, zum Genuß, und er sieht den Menschen vom anderen Geschlecht bloß als eine Sache an, die man brauchen kann. Diese Liebe enthält auch keinen Affekt des Wohlwollens, sondern ein Mensch macht sich nichts daraus, den andern Menschen, wonach er als nach einer Sache Appetit hat, den er hier nur als Sache zum Gebrauch betrachtet, aber dadurch (durch den Gebrauch) un­ glücklich zu machen. In regula aber scheint es doch, als wenn es gegen Sachen von keiner Wichtigkeit wäre, sondern dies nur insofern einen Wert habe, als es auf den Menschen eine Beziehung hat. Nun können wir in Ansehung des Menschen noch folgendes merken:

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1 . Der Zustand anderer Menschen ist ein Grund der Sympathie, und diese ist ein großer Grund der Regemachung unserer Affekte. So heitert z. B. der lustige Gesel lschafter, der mit Scherz ins Zimmer tritt, die ganze Gesellschaft auf. 2. Alle Neigungen gehen entweder auf Menschen oder auf Sachen, letz­ tere aber sind bloß Mittel, unser Verhältnis gegen die erstem zu erhöhen. Denn die Sache scheint an und für sich selbst keine Wichtigkeit für uns zu haben, sondern sich nur den Menschen und dem Zustande derselben zu widmen. Die Urteile der Menschen sind bloß die Ursachen unserer Nei­ gungen. So ist Ehrl iebe die Neigung bei andern i n gutem Ruf, in guter Meinung zu stehen. Aber eigentlich ist sie keine Neigung, sondern nur eine Art von Billigung. Sie ist die vorzüglichste Neigung und liegt allen Affek­ ten wenigstens indirecte zum Grunde, ausgenommen bei dem tierischen Triebe nicht, wo bloß eine Neigung auf den Genuß der Person, als Sache betrachtet, geht. Mit der Ehrliebe hängen alle Neigungen zusammen. Man ist nicht mit seinem angenehmen Zustande zufrieden, sondern wir wollen noch in der Meinung anderer in Ansehung unserer Person und unseres Zustandes eine vorteilhafte Stelle. Es l äßt sich die Ehrliebe nicht nur mit der Tugend vergleichen, sondern auch vereinigen. Daher nimmt man die Redensarten: Er ist ein Mann von Ehre oder ein tugendhafter Mann in einerlei Bedeutung. 3. D ie Menschen haben einen gewissen Hang zur Gemeinheit, da wir die Dinge bloß nach dem Maße schätzen, als sie von andern gebill igt oder geschätzt werden. Denn einer w i l l , daß das, was ihm gefällt, auch andern gefallen soll . Die Vorsicht hat hierdurch unsre Neigungen vom Interesse des Ganzen abhängig machen wollen. Keiner verbirgt die Wissenschaften. Denn er sieht den Wert derselben im allgemeinen Beifall, und die Wissen­ schaften vergnügen uns also bloß wegen dieses Hanges. 4. Es gibt ferner eine gewaltige Rechtsl iebe, sowohl in Ansehung der Sachen, als auch der Personen, und im Ietztern Fall ist sie am heftigsten, d. h. wir haben einen Affekt an dem Moralischen oder an den Urteilen über Recht und Unrecht. Wir geraten oft in einen Affekt, nicht weil wir durch das Faktum eines Andern großen Schaden gelitten, sondern weil uns da­ durch Unrecht geschehen. Es wird durch das Unrecht entweder das Recht an der Sache oder das Recht, so der Person anhängt, beleidigt. Letzteres bringt den Affekt zuwege und wird mit der größten Empfindung aufge­ nommen. Gewisse Affekte bekommen ihren Namen nicht vom Objekt, sondern von der Art, wie sie entspringen. So sind Zorn, Haß und Erbitterung nicht dem Objekte nach, sondern nur dem Grade nach voneinander unter­ schieden. D aher man einen Menschen, der leicht zürnt, aber auch leicht wieder besänftigt wird, eher duldet, als einen, der l angsam zum Zorn

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bewegt wird, dessen Haß aber auch hernach desto langw ieriger ist. Wir lieben und bill igen aber keinen Zorn um deswillen, weil er ohne Über­ legung geschieht, obgleich er bald vergeht. Und es ist ein j ähzorniger Mensch, der durch die geringste Kleinigkeit in Harnisch gebracht wird , darum unleidlich, w e i l d a s ein habitueller Zustand i s t . Denn obgleich ein solcher Mensch wegen kurz vorher angetaner Beleidigung abbittet, so ist man doch keinen Augenblick sicher, daß er nicht wieder Grobheiten sagt. Diese Irritabilität des Zorns nennt man auch Empfindsamkeit, und diese ist höchst verwerflich. Die Ursache aber davon liegt mehrenteils in der Erzie­ hung und Menschen sind heftig und auffahrend, weil sie in der Jugend keinen Widerstand gefunden haben. Fast alle Geographen führen von den Kreolen - welches Leute sind, die in Amerika von europäischen Eltern geboren sind - an, daß sie ungestüm, stolz, auffahrend , zornig sein sollen. Indessen sagt ein anderer Autor von ihnen, daß sie die besten Leute wären und auch vielen Verstand hätten. Die Ursache ihres Ungestüms ist, weil sie von ihrer Kindheit an mit einer Menge von Negersklaven umgehen, die wie Pudelhunde abgerichtet sind, und schon für das bloße Geschrei der Kinder ohne Untersuchung abgeprügelt werden. Wenn bei uns die jungen Herren so erzogen werden, so können sie ebenfalls solche Kreolen werden . Der Mensch aber ist ein Tier, das Disziplin nötig hat. Die Romane erregen Affekte, unterhalten auch Leidenschaften. Es ist gefährl ich, eine Leidenschaft zu nähren, denn sie führt immer weiter und wächst. Der Affekt ist nur ein vorübergehender Sturm. Was das Schauspiel betrifft, so wird h ier der Affekt durch Vorstel lungen des Lebens erhalten. Komödien erregen nicht Leidenschaft, sondern nur Affekt. Auch Lachen ist Affekt. Daß Komödien nur veredeln, kann man nicht sagen, wohl aber, daß sie unsere Urteilskraft kultivieren. A l le Romane werden kalt, wenn sie in die Ehe kommen, und man kann sagen, das Ende der Liebespein ist das Ende der Liebe. Bücher, die die Grenzen überschreiten, kann man einteilen in: kopfbrechende, herzbrechende und halsbrechende. Der größte Teil der Romane gehört unter die Klasse der Herzbrechenden und ist bloß chimä­ rische Sache. D as Benehmen in der theatral ischen Vorstel lung ist unterschieden von dem Benehmen des Konversationstons, und daher ist es albern, wenn man vorgibt, daß durch die Aufführung der Komödien, z. B. der Kinder bei den Geburtstagen ihrer Eltern, die Sitten kultiv iert werden. Denn es ist etwas Anderes agieren und mit Menschen umgehen. Die j u ngen Leute, die oft agieren, nehmen gemeinhin einen theatral ischen , affektierten Ton an, der sich im gemeinen Leben nicht schickt. Komödien haben kein weiteres Inter­ esse, ihre Unterhaltung währt nur so lange, als die Aufführung des Stücks. Daß Trauerspiele jungen Leuten besser gefallen, als Komödien, kommt daher, weil die Affekte stark werden, steigen, aber auch bald verschwinden.

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Dies ist nicht der Fal l bei Lustspielen. Sie gefallen der Jugend nicht so sehr, als den Alten, weil diese dabei sich zu erholen suchen, hingegen mögen sie wieder nicht gerne Trauerspiele sehen, wei l bei ihnen die Eindrücke lange haften, welches bei dem j ugendlichen Alter nicht stattfindet. Komödien dienen zur Bewegung des Gemüts, aber nicht zur Besserung. Romane sind ganz zu tadeln, weil sie - die Verschwendung der Zeit abgerechnet - das Gedächtnis außerordentl ich schwächen. Und dieses des­ wegen, wei l wir die Romane immer nur i n futuram oblivionem lesen. Kommen wir nun an wichtigere Dinge, und lesen sie auch mit ganzem Ernst, so können wir sie doch nicht behalten. Der Mensch entwöhnt sich attent zu sein. Noch ein großer Schade ist der, daß wir uns durch das Romanlesen ganz in eine Feenwelt versetzen und Ereignisse, die nie geschehen können, für leicht und möglich halten. Dazu kommt, daß wir indem wir einen Roman lesen, wir selbst noch immer einen neuen dazu machen, indem nach unserer Meinung manche Begebenheiten ganz anders hätten sollen erzählt werden. Wenn man zu einem von beiden raten soll , so sind die Komödien ratsamer, wei l sie mit Laune und al lerhand Art von Ideen aus dem wirklichen Leben angefüllt sind. D ie Bewegungen der Affekte, wenn sie heilsam sind, können stattfinden in der Konversation, und diese Art von Gemütsbewegung geschieht zwie­ fach: 1. durch Gespräche, 2. durch Spiel. Zur Gesellschaft, aber nicht zur Konversation gehörig ist: 1. Musik, 2. Tanz - sozusagen stumme Gesellschaften. D as Spiel ist erstens eine heilsame Unterhaltung, wei l es den Affekt bewegt, zweitens eine gesellige Unterhaltung, es verhindert nicht nur die Langeweile, sondern auch v iele unangenehme Empfindungen und Unterhal­ tungen, besonders skandalöse, drittens eine Unterhaltung, die sehr zur Kultur beitragen kann. Das Gespräch wird am besten bei der Tafel kontinuiert. Die Engländer haben zwei Stücke von der Art. Denn sie rühmen: 1. den geselligen Kamin, 2. den geselligen Tee. In dem Tee schwelgen sie bis zum Übermaß. D ies sieht man schon daraus: Es kommen j ährlich 1 7.000.000 Pfund Tee nach Europa und davon nehmen die Engländer allein 1 0.000.000 Pfund. Sie trinken ihn außerordent­ lich stark und schwächen dadurch ungemein ihre Nerven. Sie suchen aber den Gebrauch des Tees dadurch zu verbessern, daß sie viel dabei essen. Jemand sagte, Tee wäre sehr schädlich, 1. weil die Gedärme der Schweine, die warme Getränke zum Saufen bekämen, nicht zum Wurstmachen taug­ ten, indem sie gleich entzweirissen, und 2. wei l die Menschen, die in den Teemagazinen arbeiten, gewöhnl ich ein Zittern in den Gliedern haben. Durch beide Geschlechter wird die Konversation am besten gehalten oder sie ist nicht angenehm. Der Ton, der zur Zeitkürzung und Aufweckung

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dient, ist der, wenn die Konversation kein Geschäft, sondern ein Naturspiel oder dergl. ist. Auch deswegen müssen bei solchen Unterhaltungen keine wichtigen Geschäfte abgehandelt werden, weil die Frauenzimmer keinen Teil daran nehmen. Und ihre Gegenwart ist deswegen auch bei der Tafel notwendig, wei l dadurch die Rechthaberei der Männer im Zaume gehalten wird. Das sieht man bei den Tafeln der Engl änder, wo sich die Damen gegen das Ende der Mahlzeit entfernen, alles abgenommen wird, und die Männer nun allein die Bouteille noch vornehmen, denn sobald dies geschehn, herrscht in der Gesellschaft gleich eine gewisse Rohigkeit. Bei Tisch muß es scheinen, als wenn das Essen nur Nebensache wäre. Lord Chesterfield sagt: Eine Tischgesellschaft muß nicht unter der Zahl der Grazien, aber auch nicht über die Zahl der Musen sein. Die Menschen müssen sich alles kommunizieren. D ies geht aber in einer großen Gesell­ schaft nicht füglieh an. Und es ist in der Tat beleidigend, wenn in einer Gesellschaft sich zwei ins Ohr zischeln. Zwei Personen sind entweder alle beide still oder sie haben keine rechte Unterhaltung oder es müßte denn sein, daß einer mit dem Andern Geschäfte abzumachen hätte. Eine Gesell­ schaft, die größer ist als neun, heißt ein Gelag, wo man zum Teil fremd ist, und j eder redet wie und wenn er Lust hat. Man hört in einer solchen Gesellschaft nicht darauf, was jemand spricht, und man antwortet oft das Gegenteil. Daher kommt der Ausdruck »ins Gelag hinein reden« . Solche Gelage, wenn sie bei Solennitäten gegeben werden, heißen Feten, Schmause. Man nennt sie auch mit Recht bisweilen »Abfütterungen«, weil es da nur ums Essen zu tun ist. Denn Unterhaltung ist höchstens nur unter zwei Personen möglich. Das Vergnügen bei der Mahlzeit ist das solideste, denn 1. es kann mehr als einmal des Tages, 2. es kann auf lange Zeit, 3. es kann zugleich mit Kultur genossen werden. Es gibt auch stumme Mahlzeiten, nämlich die, wo die sogenannte Tafel­ musik ist, und auch öffentlich stumme, die große Herren im Garten geben, wo alle Menschen zusehen können, wie z. B . der König von Spanien. Der genannte König sitzt alsdann ganz allein an einer Tafel , ebenso auch seine Gemahlin. Indes befinden sich die Adj utanten, welche das sogenannte Corps diplomatique ausmachen, im Zimmer. D ie Unterhaltungen bei der Tafel sind: 1 . das Erzählen, 2. das Raiso­ nieren, 3. das Scherzen. Was das Erzählen anbetrifft, so kommt man zuerst auf die Witterung, dann auf die Stadtneuigkeiten, Landneuigkeiten, zuletzt auf die, so ganz Europa betreffend usw. Dann geht ' s ans Raisonieren. Unter allen Raison­ nements scheint keines interessanter zu sein, als das über die Handlungen und Leidenschaften der Menschen. Das Raisonieren kommt dann, wenn der erste Appetit gestillt ist, und zuletzt kommt der Scherz. Eine Mahlzeit, wo

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immer gescherzt werden sol l , ist unerträglich. Daß eine Gesellschaft ani­ miert wird, beruht darauf, weil ein jeder mitreden kann, indem er gleiches Interesse hat. Mancher präpariert sich auch bisweilen darauf, was er in Gesellschaft sprechen will. Jemand las z. B. allemal , ehe er �n Gesellschaft ging, eine Seite aus Wolffs Naturrecht und wußte es dann hernach immer auf die Materie hinzuleiten, wo er mitsprechen konnte. Es ist recht gut, wenn man eben vorher die neueste Zeitung vorliest. Denn das gibt immer einen Stoff zum Anfange. Solche interessanten Mahlzeiten gefallen nicht allein, wenn man sie genießt, sondern auch nur die bloße Erinnerung daran gewährt schon Vergnügen. Übel ist es, wenn eine Gesellschaft stockstill wird. Es wagt nämlich alsdann keiner das Gespräch wieder anzufangen, denn er glaubt, alle werden nun auf einmal auf ihn sehen. Wenn eine Materie auf die Bahn gebracht wird, so muß man sie zu kontinuieren suchen und nicht unterbrechen mit dem »Erlauben Sie doch, vergessen Sie doch nicht Ihr Wort u. dgl.« Es zeugt von großer Geschicklichkeit, wenn jemand das Herz hat, die Gesellschaft aus der Stille zu bringen. Denn ist das Räderwerk nur erst aufgezogen, dann geht es von selbst fort. Man kann woh l Materien zum Goutieren geben, aber wenn sie nicht gefallen, auch nicht weiter daran denken, sonst bestände das Gespräch aus lauter Fragmen­ ten, die den Kopf verwirren. D ie Rechthaberei ist im Discours unerträg­ lich. Um so profitabler ist für die Gesellschaft die Willfährigkeit, womit einer dem Andern seine Behauptungen zugibt. Manchmal hat ein Mensch Recht in der Sache, aber nicht im Tone, wei l er zu apodiktisch spricht und dies ist tadelnswert. Die Franzosen haben bei einem Widerspruch die Gewohnheit, den Andern um Verzeihung zu bitten, damit sie ihm kein Dementi geben. Ein solches ist z. B. die Ausforderung der alten Ritter: So oft du dies gesagt, noch sagst und sagen wirst, hast Du gelogen, lügst und wirst in Deinem Hals lügen. Der Konversationston ist i n Frankreich der vollkommenste. Hier wurde auch zuerst das Frauenzimmer in Gesellschaft gebracht. Wir haben jetzt die Elementarlehre geendigt, worin alle innern Bestand­ teile des Menschen constitutive betrachtet wurden. Nun wollen wir zum zweiten Teil der Anthropol ogie gehen. D ieser ist die Methodenlehre oder eigentlich generaliter

[B.]

DIE CHARAKTERISTIK

Sie handelt davon, wie wir den Menschen beurteilen sollen, in Beziehung aller Eigenschaften. Dies ist die Anwendung der Elementarlehre. Charakter zeigt immer dasjenige an, woran man ein Ding erkennen kann. Der Cha­ rakter des Menschen ist zwiefach:

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1 . der Charakter des Menschen als Naturwesen. 2. der Charakter des Menschen als freihandelndes Wesen im engsten striktesten Verstande, insofern er die Denkungsart des Menschen nach fest­ bestehenden Grundsätzen anzeigt. Naturwesen und freihandelndes Wesen ist das Allgemeine. Wir werden nun folgende Teile des Charakters der Reihe nach durchgehen: I. den Charakter der Person, II. den Charakter des Geschlechtes, III. den Charakter des Volkes, IV. den Charakter der Rasse, V. den Charakter der Gattung. Wir werden jetzt auch von alledem Gebrauch machen, was bisher teil­ weise erwogen worden ist.

1 Charakter der Person

Der Charakter des Menschen enthält folgende drei Stücke: 1 . Naturell - Talent, Naturanlage, geht auf das Erkenntnisvermögen. 2. Temperament - Sinnesart, geht auf das Gefühl der Lust und Unlust. 3. Charakter - Denkungsart, geht auf das Begehrungsvermögen. 1. Von dem Naturell, das im Talent gesetzt ist

Im Talent sind zwei Stücke, nämlich: 1 . das Naturell oder die Fähigkeit und das Vermögen des Menschen zum Lernen, eine gewisse Empfängl ichkeit, Rezeptivität, 2. Geist oder das Vermögen, was schlechterdings nicht gelernt werden kann, was die Weise angibt, wie wir etwas aus eignen innern Quellen lernen können. So sagt man: der Mensch hat ein gelehriges Naturell, wenn er Fähigkei­ ten gelehrt zu werden oder auch Begierde zum Lernen hat. Ferner kann man sagen: der Mensch hat ein sanftes oder ungestümes Naturel l , denn es be­ steht in den Gemütskräften. Ein rohes Naturell nennt man das, was immer in Widersprüche ausbricht. Was das Naturell in Ansehung des Vermögens betrifft, so sagt man: der Mensch hat ein Naturell zur Dichtkunst, Geschich­ te usw. Ein Lehrer erforscht das Naturell sei ner Zöglinge, die Eltern das Naturell ihrer Kinder, Herren das Naturell ihrer Diener. Das Naturell be­ steht gleichsam in der Lenksamkeit. Daher erforschen umgekehrt die Zöglinge das Temperament i hres Lehrers, die Kinder das Temperament ihrer Eltern und Diener das Temperament ihrer Herren. Es ist kein Bedien­ ter, der nicht das Temperament und die schwache Seite seines Herrn sollte auszuspähen suchen, wenn er etwas Kopf hat. Findet er z. B . , daß der Herr furchtsam ist, so malt er ihm bei jeder ihm unangenehmen Unternehmung die dabei zu überstehenden Gefahren usw. Auch Kinder sind schlau genug

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zu beobachten, wie sie Einfluß haben können. Wenn wir nehmen das Na­ turell eigentümlich, so haben die Russen am mehrsten Naturell. Denn sie ahmen gern und mit vieler Genauigkeit nach. Sie machen alles selber und daher kann keine Kunst große Fortschritte bei ihnen machen. D aher brau­ chen sie auch so wenig Städte, weil sie die Handwerker ganz entbehren können. Es sind auch in dem russischen Reich verhältnismäßig außeror­ dentlich wenig Städte. Es fehlt den Russen an den ersten Grundbegriffen und Prinzipien, daher sie nie Lehrer werden können. Denn man lehrt nie gut, wenn man so lehrt, als man selber ist unterrichtet worden, nur mecha­ nisch. Sie besitzen kein Genie, ziehn auch daher immer auswärtige Gelehrte ins Land. Denn ein Gelehrter muß nie ohne Genie sein. Die Fähigkeiten in Ansehung des Kopfes heißen Talente, das Vermögen desselben in An­ sehung des Verstandes und Gedächtnisses heißt Genie. Beim Talent wird hauptsächl ich auf Geist gesehn. Geist ist das Ver­ mögen der Erkenntnis, was nicht gelernt werden kann. Geist bedeutet das Prinzip des Lebens, und daher nennen wir al les, was belebt, Geist. Der Geist ist zwiefach: 1. ein gewisser eigentümlicher Geist, 2. ein eigentlicher Geist. D as Wort »Geist« wird hier in dem Verstande genommen, worin es z. B. von einer Unterredung oder einem Buche genommen wird, wovon man sagt: Es ist ohne Geist, wenn etwa zwei gründliche, aber alltägliche Sachen ohne Geist vorgetragen sind. Nun bedeutet das Wort »Geist« eigentlich das Prinzip des Lebens. Geist in einem Buche nennt man eine Ingredienz, wodurch das Gemüt gleichsam einen Stoß bekommt und bewegt wird, oder alles, was unsere Gemütskräfte durch große Aussichten, Abstechung, Neuigkeit usw. erregen kann. Daher muß jedes Bon mot etwas Über­ raschendes und Unerwartetes oder einen Geist enthalten. D as Genie ist ein Geist, aus dem der Ursprung der Gedanken herzu leiten ist, und erfordert also einen eigentümlichen Geist, der dem Geist der Nachahmung entgegen­ gesetzt ist. Solche Genies sind selten und ob man gleich in einigen Wissen­ schaften z. B. in der Mathematik ohne Genie fortkommt, weil man hier nur nachahmen darf, so sind die erstem doch vorzuziehen. Das Genie findet man vorzüglich bei den Franzosen, Engländern und Ital ienern, doch ist das wahre und eigentümliche Genie nur bei den Engländern, weil sowohl bei ihnen als auch bei den Ital ienern die Freiheit und Regierungsform v iel beiträgt es zu begünstigen, wo es keiner für notwendig halten darf, sich dem Hofe, den Vornehmen oder irgend einem Andern zu akkommodieren. Denn wo schon der Hof allzu gewaltig und furchtbar ist und sich alles nach einer­ lei Muster bildet, da muß zuletzt alles einerlei Farbe bekennen. Bei den Deutschen findet man größtenteils den Geist der Nachahmung sowohl in großen als i n kleinen Sachen, woran unsere Schriftsteller v iel Ursache haben. Es besitzt zwar j eder etwas Eigentüm liches. A l lein die gegenwär-

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tigen Schulanstalten, wo alles zur Nachahmung genötigt wird, verhindern die Entwicklungen des Genies. Es ist in keinem Lande der Schulzwang größer als in Deutschland. In England treibt man die Kinder nicht sonder­ lich zum Lernen an. Allein bei jeder Gelegenheit weist man sie an, etwas zu profitieren. Die Laune gehört zum Eigentümlichen des Naturells und das Genie zum Eigentümlichen des Talents. Der Unterschied zwischen dem Naturell und Genie ist, daß wir leidend sind in Ansehung des Naturells und tätig in Ansehung des Genies. Wir wollen jetzt vom Geist abbrechen, da schon beim Genie davon gehandelt worden ist, und die Einteilung des Menschen vornehmen in: Kopf und Herz. So ganz richtig ist sie nicht. Es sollte noch das Gemüt dazwischen gestellt werden. Denn wir unterscheiden auch noch Gemüt und Herz. Wenn man sagt: der Kopf ist gut und das Herz ist böse, so teilt man den Menschen i n zwei Teile ein. Es ist aber nicht richtig. Denn man sagt auch: er hat ein gut Gemüt, hier ist also noch kein Bezug aufs Herz. Wenn es heißt: Er ist ein guter Mensch, da ist ordinär nicht viel dahinter. Das gute Gemüt gehört zum Gefühl der Lust und Unlust, dahingegen ein gutes Herz zum Begehrungsvermögen. Der Mensch, der ein gut Gemüt hat, hegt keinen Groll, hat keine Nachempfindungen und vergißt leicht das ihm angetane Unrecht. Überhaupt sagt man von dem, der sich alles gefal len läßt und niemandem Widerstand leistet, er habe ein gutes Gemüt. Gutherzig ist aber ganz etwas anderes. Es heißt soviel als: er hat Wohl­ wollen. Ein wahrhaft gutes Herz hat bei der Austeilung seiner Wohltaten gewisse feststehende Prinzipien. Das ist noch nicht Gutherzigkeit, wenn man niemand etwas abschlagen kann und zwar deswegen, weil man nur durch Sprechen von einem solchen etwas erlangen kann. Denn schriftlich schlagen sie es gewiß immer ab. D ies liegt an einer gewissen Weichmütig­ keit. Es ist in der Art ein Wohlwollen, daß er nur nicht andere über sich mißvergnügt sehen kann. Jeder muß seinen eigenen Sinn, d. h. feste Grund­ sätze haben, und sich nicht nach den Wünschen eines jeden andern stimmen lassen. (Denn ein solcher würde sich ja lediglich wegen dieser Eigenschaft zu jeder Missetat ebenso als auch zu bessern Handlungen verleiten lassen.) D ies ist lobenswert und notwendig. Sehr tadelnswert aber sind die Eigen­ sinnigen, d ie den Grundsatz haben, andern nie zu folgen. Gemeinhin ist hierbei viele Pedanterie und Affektation. - Man hält die Engländer im ganzen für solche Leute. 2. Vom Temperament Das Temperament oder die Sinnesart kann man körperl ich oder psycho­ logisch abhandeln. Der Arzt betrachtet das Temperament körperl ich, und zwar:

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1 . der Konstitution nach. Sie geht auf das Bauwerk. Ein Gelehrter muß eine starke Konstitution haben. Denn das viele und tiefe Denken ist sehr angreifend , daher ein sehr schwächl icher Körper es selbst in den Wissen­ schaften nicht weit bringen kann. 2. der Komplexion nach. So nennt er die Mischung der Säfte. Daher sagt man: Der Mensch ist von feuchter oder trockner Komplexion. Dieser Unterschied kommt bloß von der Lage und dem Sprung der Fasern her. Allein diese Materie gehört ganz zur Medizin, und wir wollen hier vom Temperament nur psychologisch handeln. Die Gemütsbeschaffenheit, insofern sie sich auf Komplexion bezieht, heißt Temperament. Unter dem Gemüte versteht man nicht das Vermögen der Seele, sondern nur die Kraft sich dieses Vermögens zu bedienen, und mithin die Beschaffenheit der Neigungen und Affekte, die aus seiner Kom­ plexion fließen. Man zählt gemeiniglich vier Temperamente. Wir wollen um mehrerer Deutlichkeit willen die Gemütsbeschaffenheit bei herrschen­ den Neigungen auf eine zwiefache Weise unterscheiden. Zuerst wollen wir die Temperamente auf zwei Gattungen reduzieren und hernach j eder Gattung zwei Temperamente zuordnen. Der Unterschied zwischen Gefühl und Begierde ist oben festgesetzt worden. Hieraus aber folgern wir, daß Menschen zuweilen gleiche Empfi ndungen haben und doch in Ansehung ihrer Begierden ganz unterschieden sein können. D as Temperament der Seele besteht also i n Gefühlen und Triebfedern und wird eingeteilt: I. i n das der Empfindung nach. D ies geht auf das Wohl- und Übel­ befinden, auf Fröhlichkeit und Betrübnis, und ist zwiefach: 1. das sanguinische, als Hang zur Fröhlichkeit, 2. das melancholische, als Hang zur Betrübnis. II. in das der Tätigkeit nach. Der Mensch hat Triebfedern zur Tätigkeit, und dies zuweilen, noch ehe er etwas begehrt. Man sieht dies schon an Kindern, welche, wenn man i hnen gar keine Arbeit gegeben, etwas Böses tun, z. B. Schabernack u. dgl. Auch dieses Temperament ist zwiefach: 1. das cholerische, als eine Triebfeder zur raschen Tätigkeit, 2. das phleg­ matische, als eine Triebfeder zur sauren, aber behenden Tätigkeit. Man sieht leicht, daß sehr viel auf den Zustand und die Beschaffenheit des Menschen ankomme, und daß er viel von der Seite tun kann, von der er die D inge der Welt betrachtet. Der Mensch kann nicht verhindern, daß ihn etwas vergnüge oder schmerze, aber Traurigkeit und Freude stehn in seiner Gewalt und Disposition. Die Benennungen , deren wir uns jetzt bei den Temperamenten bedienen, sind von den Ärzten hergenommen, die damit die körperlichen Temperamente bezeichnen. Sanguinisch heißt leichtblütig, melancholisch heißt schwerblütig (eigentl ich bedeutet es schwarzgallig) , cholerisch heißt warmblütig, phlegmatisch heißt kaltblütig. Wir bekümmern uns gar nicht um das Blut, obgleich vieles im Körper liegt.

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I. D ie Temperamente der Empfindung nach Sanguinisch ist der, bei dem ein Hang zur Fröhlichkeit, noch ehe er Grund dazu hat, stattfindet. D ies setzt Gesundheit voraus. Es gibt Leute von der Art, welche bis auf den letzten Odem spaßhaft sind. Ein auffal lendes Bei­ spiel hiervon gibt ein Mensch, der, als er in den letzten Zügen lag, gefragt wurde, wie es denn mit ihm stände, zur Antwort gab : Ach, nicht zum Besten, denn soeben hat man mir die Stiefeln geschmiert. Damit wollte er anzeigen, daß er schon die letzte Ölung bekommen habe. In unserm ganzen Körper ist doch kein Organ, wo Lebenskraft ist, welches das Wohlbefinden herfürbringt. Der Hang zur Fröhl ichkeit ist eine Wirkung von etwas, das wir nicht erklären können. Der Sanguinische wird leicht und stark affiziert, es dringt aber nicht tief ein und daher dauert die Empfindung nicht lange. Er verspricht leicht, hält aber schwer Wort. Es geschieht keinesweg aus Falschheit. Das macht, weil er gutmütig ist. Er denkt nicht an die Beschwer­ lichkeit. Denn er ist voll Hoffnung. Er ist leichtsinnig, legt keiner Sache eine große Wichtigkeit bei, macht sich daher auch so leicht keine Sorgen. Die geringste Art des Vergnügens nimmt ihn gleich ganz ein. Die franzö­ sischen Autoren haben eine gewisse Frivolität, die darin besteht, wichtige Sachen klein und kleine Sachen wichtig zu nehmen. Sie können nicht leiden, wenn eine Sache sehr wichtig gemacht wird. Sie bringen dann, ihre Meinung zu behaupten, unbeträchtl iche Dinge vor, denen sie für den Augenblick Wichtigkeit geben. Sie besitzen den Esprit de bagatelle vor­ züglich, obgleich er wohl allen Menschen eigen ist. Der Sangu inische ist scherzhaft, aufgeräumt, gesellschaftl ich, er wird sich nicht grämen. Er wünscht keinem etwas Böses, wird gleich gut nach einer Beleidigung, und tut er etwas Böses, so redet er auf die Art: Nun ist es auch zum letztenmal, dann zum ganz letztenmal, und zum allerletztenmal usw. Bei ihm ist Seich­ tigkeit, aber auch unterhaltende Leichtigkeit des Denkens. Ein sanguini­ scher Mensch, der in der Welt nichts für wichtig ansieht, hat die beste Situa­ tion, da ein melancholischer es nicht so bequem hat. Die Franzosen sind unter allen Nationen am meisten sangu inisch. Diese Nation hat die Quellen aller Freuden in sich selbst, ist beständig lustig und heiter. Die Lyonischen Weber, die alle Tage vom Morgen bis zum Abend am Webstuhl sitzen und arbeiten müssen, freuen sich auf den Sonntag, um in seidenen Strümpfen zu erscheinen und ein Mädchen, das ebenso stark hat arbeiten müssen, an der Hand führen zu können. Überhaupt machen es die meisten Fabrikanten so. Sie arbeiten die ganze Woche und essen schlecht, damit sie nur etwas sam­ meln und Sonntags ausgeputzt und mit einem Degen gehen, tanzen und sich lustig machen können. Die nordischen Nationen sind in Ansehung des Vergnügens ganz passiv. Sie können nicht anders vergnügt sein, als bis sie sich berauschen. Unsere

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Vorfahren machten es ebenso. Sie suchten ihr größtes Vergnügen im Essen und Trinken. Die Fröhl ichkeit aber, die im bloßen Genuß besteht, erschöpft wirklich unsere Kräfte und ist nicht dauerhaft, sowohl wenn er in der Anwendung eigener Kräfte, als auch in der Überladung besteht. Bei der Tätigkeit empfindet man sein Leben am meisten. Der Geschmack des Wirts zeigt sich darin, daß er seine Gäste so placiere, daß einer den andern vergnügen und unterhalten kann. Der eine hat Hofkenntnis, der andre hat Bücherkenntnis, der dritte versteht die Landwirtschaft. Nun kommt es nur darauf an, daß diese Köpfe gut geordnet sind. Denn hier hat j eder Gelegenheit seine Talente zu zeigen und dem Beisitzer ein Vergnügen zu machen. Es gibt Personen, die besonders dazu aufgelegt zu sein scheinen, einen Discours rege zu machen und den allgemeinen Anteil zu merken, der einem Gegenstand zufallen könnte, und die Gesellschaft, die i m Discours lässig geworden, wieder dazu aufzu­ wecken. Man muß aber erforschen können, was für eine Materie wohl fähig wäre, das Gespräch in Bewegung zu setzen. Der Effekt einer solchen Gesel lschaft ist, wie Sartorius, der in Ansehung des menschlichen Körpers al les nach Maß und Gewicht besti mmt, anmerkt, eine gute Transpiration. Man fühlt sich darauf wie neugeboren, wenn man aus einer solchen Gesellschaft nach Hause geht. Ärzte sollten hier genau Rücksicht nehmen. Ein Sanguineus findet immer Verlangen nach etwas Neuem, hinge­ gen beschwert ihn die Einerleiheit, wenn einerlei Organe auf ein und eben d ieselbe Art beschwert werden. Er ist modisch und kann die Dinge nach Belieben verwandeln, auch einem schlechten Spiel eine gute Wendung geben. Daß aber die Einerleiheit beschwere und der Wechsel erleichtere, sehen wir an der französischen Nation. Die Einförmigkeit der Kleidung zeigt wohl etwas Erhabenes an, aber sie muntert nicht auf. Der Sanguineus geht in seiner Unzufriedenheit über das Einerlei so weit, daß er oft das Gute mit dem Schlechten verwechselt. Wenn man zum Obj ekt des Sanguinischen die Wollust rechnet, so muß man dies von der epikureischen verstehn. Der Melanchol ische ist in Traurigkeit, er ist der, bei dem eine Emp­ findung zwar schwer und langsam, aber auch desto tiefer eindringt und tiefem Eindruck macht. Und darauf beruht es eben, daß ein solcher Mensch vorzüglichen Hang zur Traurigkeit hat, er hat wenig Wechsel. Er verspricht nicht leicht, aber hält das, was er verspricht. Denn ehe er es tut, bedenkt er immer schon alle Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich bei Ausübung der Sache finden möchten, und dies geht so weit, daß man solche Leute gewöhnlich Diffikultätenkrämer nennt. Er ist sehr hartnäckig und eigen­ sinnig in seinen Vorsätzen. Er ist dabei kein seichter, sondern tiefer Denker. Das melancholische Temperament enthält Quellen der Dauerhaftigkeit, Schwierigkeit und Verbindlichkeit etwas zu übernehmen und das Über-

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nommene beständig zu verfolgen. Der Mel ancholische ist ordinär voll Verdacht, mißtraut, tut sich nicht leicht Genüge. Bei ihm ist Haß, Feind­ schaft und Unwillen gegen Andre schwer zu vertilgen. Dagegen ist auch die Freundschaft, die mit einem melancholischen Temperament verbunden ist, weit dauerhafter und reeller, als beim sanguinischen. Denn bei letzterem erlischt die Freundschaft leicht. Überhaupt ist der Melanchol ische enthusia­ stisch in Religion, in Freundschaft und Vaterlandsliebe - fanatisch - wenn er mehr Einbildungskraft, als Verstand hat. Insofern die Einbi ldungskraft eines Enthusiasten zügellos ist, wird er Phantast, insofern sie aber regellos ist, wird er ein Schwärmer genannt. Wer seinem eignen Zweck zuwider handelt, ist ein Narr, wer gar keinen oder einen sehr dummen Zweck hat, ist ein Tor. Wir sehen aber doch noch nicht ein, daß achtungswürdige Charak­ tere j ederzeit ein Ingrediens von Melancholie haben müssen. Denn eine jede Achtung, die sich der Mensch erwirbt, beruht auf einem starken Zusatz von Melancholie. So sieht ein patriotisch gesinntes Gemüt diese Welt nicht als einen Schauplatz des Spiels, sondern vielmehr als einen Ort an, der zu ernsthaften, großen und wichtigen Sachen bestimmt ist. Man fordert, daß selbst in der Geschlechtsliebe eine melancholische Zärtlichkeit sein müsse, indem sie von einer weit größeren Delikatesse erscheint, als eine Lustigkeit im Leben. Der Melancholische brütet über Chimären, d. h. über Dinge, die nicht wirklich sind. Er ist entweder irreligiös oder beharrlich in seinen guten" Grundsätzen. Wenn wir hier den Unterschied zwischen einem melan­ cholischen und sanguinischen Menschen aus der Komplexion herleiten woll­ ten, so würden wir uns zu tief i n die Medizin wagen, wo es uns an genug­ samen Kenntnissen fehlen dürfte. Soviel ist indessen gewiß, daß das Gefühl des gesamten Lebens eine Disposition zu allem Vergnügen sei, daß dies Gefühl aber auf der Spannung der Adern und Fasern beruht, die jede Bewe­ gung anzunehmen fähig sind, und es hierbei auf ein verdünntes Blut an­ kommt, das recht transpiriert. Auch läßt sich leicht einsehen , daß eine Spannung der Adern und Fasern und ein verdünntes Blut den Menschen ein weit größeres Leben empfinden läßt, dahingegen dickes Blut und eine schlechte Spannung des Nervensystems ein großes Hindernis ist, das Leben zu fühlen. Die Verschiedenheit des Temperaments beruht eigentlich darauf, daß bei dem einen die Eindrücke länger haften, als bei dem andern, und aus der Verschiedenheit des Bluts und der Spannung der Nerven entspringt die Lust oder Unlust. Der Melancholicus hat die Quelle der Annehmlichkeit und des Mißvergnügens oder der Traurigkeit in sich. In der Art der Empfin­ dung ist zwischen einem Melancholischen und Sanguinischen kein Unter­ schied, aber wohl in Ansehung der Aufnahme der Empfindungen. Die Traurigkeit entspringt aus der Reflexion über schmerzhafte Eindrücke. Denn ein Melancholicus sieht immer auf die schlechten Folgen zum voraus. Ein Sanguinicus aber sieht auf dieselben gar nicht. Der Melancholicus sieht

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alles für wichtiger an, als es ist, dahingegen der Sanguinicus des Epikurs Wol lust oder ein fröhlich Herz zum Obj ekt hat. Der Melanchol ische soll nach einigen Autoren den Geiz und die Ungeselligkeit zum Objekt ha­ ben. Allein es gibt geizige Leute, die gar nicht melancholisch sind, sie sind zum Tei l großmütig. Hingegen sind viele von den Sanguineis geizig, welches man besonders an den Franzosen sieht. Denn d iese sind zwar gegen den Fremden höfl ich, aber zu Gaste bitten sie ihn nicht. Hingegen sind die Deutschen, die vom sanguinischen Temperament weit entfernt sind, viel gastfreier. Boswell in der Beschreibung von Corsica erzählt von einem Offizier, daß er sich mit Vergnügen der Gastfreiheit der Deut­ schen erinnert habe. Ein Melanchol icus ist der Natur nach standhaft, zur Rache, aber nicht zum Zorne geneigt. Er verfällt gemeinhin auf ernsthafte Sachen. D ie Engländer sind mehr melancholisch, als sanguinisch, und ihr Witz hat immer etwas Tiefes. Ihre Arbeiten haben eine gewisse Genauigkeit und Dauerhaftigkeit und ihre Schriften sind nicht wie die französischen Papil­ lons, die herumfliegen, aber bald verschwinden und in Abnahme geraten. Ein Melancholicus hat gemeinhin misanthropische Vorstellungen, er sieht die Menschen beständig als Feinde an und ist daher mißtrauisch. Das Schicksal der Menschen stellt er sich als traurig vor und wird dadurch öfters erhaben, weil er allein Dinge, die wichtig sind, zu übernehmen imstande ist, und daher trägt er viel zum Besten des menschlichen Geschlechts bei. Indes ist derjenige doch glücklicher, der allen Sorgen ihre scheinbare Wichtigkeit zu benehmen weiß. Denn für den Menschen ist auch wirklich nichts Wich­ tiges in der Welt. Wir müssen um unserer Bedürfnisse willen etwas besorgt sein, aber die Bedürfnisse müssen sich nie in Sorgen verwandeln. Das Physikalische vom Temperamente ist schwer zu determinieren und die­ jenigen irren, die es von der Beschaffenheit des Bluts herleiten. Denn ob­ gleich Melancholie soviel heißt als schwarze Galle, so findet man doch, daß ein Sanguinicus ein mit Galle vermischtes hat. Und obwohl ein lustiges Temperament dünnes Blut voraussetzt, so findet man doch auch Melancho­ lische und Schwermütige, die ein dünnes Blut haben. Das Physikalische des Temperaments ist uns überhaupt sehr unbekannt, indes aber muß der Unter­ schied eher von den festen als flüssigen Tei len herrühren, weil diese ver­ mittelst jener bewegt werden. Diejenigen, die das Temperament nach den Neigungen einteilen, irren gleichfalls. Denn die Menschen können gleiche Neigungen und doch verschiedene Temperamente haben und sie differieren bloß in der Art, wie sie ihren Neigungen nachhängen. Wir kommen jetzt

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II. zu den Temperamenten der Tätigkeit nach Der Cholerische ist affektvoll , d. h. er hat Triebfedern zur Tätigkeit, die rasch , aber nicht anhaltend sind. Der Phlegmatische ist nicht affektvo l l , d. h. er hat Triebfedern der Tätigkeit, die nicht rasch, aber anhaltend sind. Der Cholerische ist wirksam, der Phlegmatische emsig. Denn Emsigkeit ist sehr unterschieden von der rüstigen Tätigkeit. Man trifft gewöhnlich bei den Cholericis eine völl ige Gesundheit und eine Rezeptivität zu allen Emp­ findungen an. Man fühlt sein eigenes Leben dadurch, daß man in sich selbst die Rezeptivität zu allen Eindrücken findet. Bei einem solchen Menschen sind alle Fasern zur Geschäftigkeit gespannt, und er muß also immer etwas zu tun haben. Er geht daher immer gewissen Zwecken nach und überwindet gern Schwierigkeiten. Denn er läuft nicht des Vergnügens wegen der Arbeit nach, sondern um etwas zu tun zu haben. Eine Folge aus diesem Tem­ peramente ist die Tätigkeit, daher man es auch das Temperament der Tätig­ keit sowie das Phlegmatische das Temperament der Untätigkeit nennen kann. Der Melancholische ist vieltuend, aber nicht fortsetzend. - Vieltuerei :n:oA.uQa'Y!J.OOUVTJ . So fing Lessing sehr v iele Arbeiten an. Wahrscheinlich aber würde er alle diese Fragmente in Ewigkeit nicht vollendet haben. Denn er wurde alles in kurzer Zeit überdrüssig und fing dann wieder etwas Neues an usw. Der Cholerische wird leicht, aber stark, der Phlegmatische schwer, aber nicht stark bewegt. Der Cholerische hat einen Hang zum Zorn, wie der Phlegmatische zur Ruhe, wenn diese nicht rasche Bewegung erfordert, und zum Geiz, da er langsam brütet zum Zweck. Jedes Temperament hat ein Hauptobjekt So hat der Sanguinicus zum Objekt Geschlechtsl iebe, überhaupt Genuß, Wollust. Der Melancholische hat zum Objekt den Geiz, das Geldsammeln, Reich­ werden. Der Phlegmaticus hat zum Objekt die Ruhe, Gemächlichkeit, er empfin­ det bei allen Arbeiten Ungemächlichkeit, und die Anstrengung seiner Kräfte erweckt bei ihm den größten Widerwillen. Daß ein solches Phlegma öfters eine Ursache habe, die im Körper steckt und die Fähigkeiten des­ selben bindet, bezeugen viele wilde Tiere, die gar keine Lust haben, ihre Kräfte anzustrengen, z. B. das Faultier. Der Cholericus hat zum Objekt die Ehre. Denn der Antrieb, der der Empfindung am wenigsten nahekommt, erfordert die größte Tätigkeit. Nun aber ist die Ehre ein solcher Antrieb, welcher der Empfindung am wenig­ sten nahekommt, und also muß der Mensch, der durch Ehre bewegt wird , die größte Tätigkeit haben. Überhaupt paßt d a s cholerische Temperament der Tätigkeit immer mehr auf die Ehre, als auf andere Triebe, wei l man in Ansehung anderer Zwecke es nicht so sehr in unserer Gewalt hat, ihn zu

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erreichen, als bei der Ehre. D ie Ehre ist daher der Reiz, durch welchen cholerische Menschen angetrieben werden. Denn der Ehrgeizige kann sozusagen seinen Endzweck allenthalben aufstecken. Der Cholerische ist auffahrend, übereilend, geschäftig mit abwechseln­ den Arbeiten. Der mischt s ich in alle Händel, die ihn nichts angehen. Er ist unternehmend zu großen Dingen. Er handelt gern en gros, ungern en detail. Er ist herrschsüchtig und daher Rival von allen. Die mehresten Male ist er ordentlich. Dies gehört aber mit zu seinem befehlshaberischen Wesen, weil alle Ordnung immer mit einem gewissen Anstande verbunden ist. Er liebt keine Abgemessenheit, sondern Zierlichkeit. Er ist nicht fleißig oder anhal­ tend tätig, aber ordentl ich und schickt sich sehr gut zum Kommandieren, welches er auch sehr gerne mag. Er scheint ordinär klüger zu sein, als er es gewöhnl ich ist. Er sucht mehr Pracht wie Genuß, er kann aus Parade wohl­ tätig sein. Gemeiniglich ist er zur Heuchelei und Verstellung geneigt und dabei steif und geschroben. Dies kann man schon aus seinem steifen Gange und Tone beobachten. Ist er ein Geistlicher, so ist er allemal orthodox, weil Orthodoxie selten was anders als Religionsmeinung der herrschenden Kirche ist, und er immer herrschen will. Er glaubt sich allerwärts beob­ achtet. Er denkt sogar, wenn er auf der Straße geht, daß die Leute aus den Fenstern auf ihn sehen. Er ist nicht filzig, aber desto habsüchtiger, und seine Habsucht ist ungerecht. Ist er also liberal, freigebig, höflich, so ist es lediglich, um es andere sehn zu lassen, eine bloße Zeremonie. Er hat keinen Konversationston. Denn wenn er konversieren sol l , so kommandiert er. Wei l er immer herrschen w i l l , so sucht er einen Zirkel um sich, der unter seinesgleichen ist, damit er hier kommandieren und seine Geistessuperio­ rität zeigen kann. Zwei Cholerici passen nicht zusammen. Sie können nicht in einer Gesellschaft sein. Denn sie können sich wegen ihrer Herrschsucht nicht vertragen. Der Cholericus ist i n allem, was er tut, in seinen Werken des Geistes usw. methodisch und dadurch glänzt er. Er erobert sich eine Scheinachtung, und d ies ist das Nachgeben. Er ist ehrsüchtig - denn er verlangt geehrt zu sein - aber nicht ehrl iebend. Ehrl iebe ist negativ. Sie hütet sich nur vor der Verachtung anderer. Sie ist für alle Menschen Pflicht. Jeder Mensch muß sie haben, sonst gibt' s keine Tugend. Der Phlegmatische ist kaltblütig. Er hat einen Mangel der Triebfedern zur Tätigkeit. Einen Menschen kann man noch nicht darum, weil er Phleg­ ma hat, phlegmatisch nennen. Das ist soviel als: er hat einen Hang zur Faul heit. Denn die Temperamente werden nach dem betrachtet, was im Objekt nicht als Objekt l iegt. Man kann sagen, das Phlegma besteht in der Affektlosigkeit, wenn das Gemüt nicht leicht bewegt wird, aber in der Bewegung lange anhält. Es kann eine gute Mischung der Sinnesart sein. Der Choleriker wird leicht, der Phlegma hat, schwer, der Phlegmatische aber gar nicht in Affekt gesetzt.

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D as phlegmatische Temperament als Schwäche betrachtet, besteht in einer Art von Leblosigkeit oder Hang zur Ruhe. Das gewöhnl iche Laster desselben ist Geiz, eine ruhige Emsigkeit in Vermehrung seines Vermö­ gens. Der Phlegmatische läßt es gern beim Alten ( so wie der Sanguinische immer fürs Neue ist) , weil das Neue auch eine neue Anwendung der Kräfte erfordert. Er ist zufrieden mit dem niedrigsten Genuß, wenn er sich nur nicht bemühen darf. Er wird unnütz, weil er immer nach Ruhe strebt und zum Schlafe geneigt ist. Wer Ehrtrieb hat, ist immer mehr zur Cholera geneigt. Der Ehrbegriff fordert immer eine rasche Tätigkeit. Der Phlegma­ tische hat keine Triebfedern zur Tätigkeit. Also hat er auch einen Mangel des Ehrtriebs, und daraus entsteht oft Niederträchtigkeit. Ihm ist Gleich­ gültigkeit in Ansehung seiner und anderer Schicksal eigen. Reizbarkeit mangelt ihm fast gänzlich und eben darum hat er auch weit weniger Ehr­ sucht, als der Cholerische. Phlegma als Stärke betrachtet besteht in der Kaltblütigkeit, wenn einer al les überlegt, ehe er etwas tut, um sich n icht zu übereilen. Diese Kalt­ blütigkeit ist dem Menschen sehr vorteilhaft. Denn er bleibt dann noch in der Ü berlegung und kann Anschläge fassen, wenn ein andrer in der über­ ei lten Hitze die Sache schon lange getan. Zu einer richtigen Urtei lskraft wird Phlegma erfordert. Alle Bewegung des Gemüts eines Kaltblütigen ist wie ein Körper, der sich mit mehr Masse, aber auch desto größerm Erfolge bewegt. Z. B. eiserne ( cholerische ) und bleierne ( phlegmatische ) Kugeln zusammengehalten - die Ietztern sind die wi rksamsten. Ein kommandie­ render General muß Phlegma haben, damit er sich nicht übereile, sondern Zeit gewinne, lange über seine Entwürfe zu deliberieren, ehe er sie zur Ausführung kommen läßt. Vom gemeinen Soldaten aber fordert man Cho­ lera, damit er, ohne nach der Ursache zu fragen, gleich zuschlage, wenn es ihm befohlen wird. Wer sich so fassen kann, daß er überlegt, ob er mit Recht zürne, besi tzt sich ganz. Ein Zorniger ärgert sich, wenn der, über den er zürnt, gar nicht in Affekt gesetzt wird, und j e weniger dieser Kaltblütige erschüttert wird, j e unerträglicher wird er dem Zornigen, weil dieser in dem Fall sich tief unter ihm fühlt. Leute, die Phlegma haben, lassen sich keine Zeit verdrießen, wenn es auch lange dauern sollte, bis ihr Plan vollführt wird, und dann haben sie auch nicht leicht etwas zu bereuen, weil sie sich nicht übereilt haben. Ein gutes Phlegma ist ein Glück und vertritt oft die Stelle der Weisheit. Beim Phlegma ist wenig Eitelkeit. Wer Phlegma hat, kommt gut fort, denn er widerspricht nicht immer, sondern läßt manches gut sei n, und deswegen wird der Hitzige gegen ihn lächerlich. Er ist sozusagen dreihörig, d. h. er hat den Schalk hinter den Ohren. Er wird selten in seinem wahren Wert erkannt. Denn er mag nicht schimmern und strebt nach keiner Rivalität,

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sondern begnügt sich mit seiner Stelle. Er befindet sich in der besten Situa­ tion. Wenn er liebt, so ist er nicht verliebt, also auch kein Tor. Ein Phlegma­ tischer genießt, wenn er nichts tun kann, sich selbst. Dies alles ist angeführt, damit man vom phlegmatischen Temperamente das Phlegma unterscheide, und mit dem Ietztern nicht den Begriff der Geringschätzung verbinde, sondern es als eine gute Beimischung zu allen Temperamenten ansehe. Einem Manne steht jederzeit ein Phlegma wohl an, obgleich nicht ein phlegmatisches Temperament, weil es alsdann nicht mehr in seiner Gewalt steht, wie lange er es über den Entschluß einer Sache will anstehen l assen. Hingegen ist es kein Lobspruch fürs Frauenzimmer, wenn es Phlegma hat. Denn man will, daß sie alle cholerisch sein sollen. Generalvergleichung zwischen den Temperamenten Eine habituelle D isposition der Gefühle und Triebfedern muß unterschieden werden vom Temperament. Sie rührt von der Erziehung, Lebensart und Gewohnheit her. Z. B. Bei Seeleuten findet sich gemeinhin durch die lange Seefahrt das Phlegma ein, ihr Temperament mag auch so beschaffen sein wie es will. Die Ursache ist, weil sie auf ihrem Schiffe tei ls niemals weiter­ gehen können, als die Schiffslänge ist, tei ls weil sie sich in Absicht ihrer Speisen und ihres Umganges an eine große Einförmigkeit gewöhnen müs­ sen, teils auch weil sie alle Entschlüsse und Ordres, die sie geben, zuvor wohl überlegen müssen. Die Seefahrer haben gemeinhin Laune. (Peregrine Pickte ist ein launiger Roman und sehr angenehm zu lesen.) Das Seefahren ist für den Cholericum eine rechte Schule. Die Bramanen in Hindostan erzählen in ihrer Theogonie oder Theologie, daß der Gott Brama, der die Menschen erschaffen, die vier Temperamente ausgeteilt hätte. Er habe nämlich den Soldaten cholerisch, den Geistlichen oder Bramanen melancho­ lisch, den Handwerker (Sudra) sanguinisch, den Kaufmann (Banian) phleg­ matisch erschaffen. Wenn man die Funktion dieser Leute bemerkt, so wird man finden, daß die Temperamente vortrefflich ausgeteilt sind. Sonst drückt man durch das Wort »cholerisch« bloß den Zorn aus, weil der Zorn nichts anders ist, als das Bewußtsein einer großen Tätigkeit. Auch ist mit dem Cholerischen gemeinhin die Polypragmosyne (Vielgeschäftigkeit) vereinbart, indem ein cholerischer Mensch seine Hand in al les mischen mag. Das Cholerische steht mithin einem Geistlichen am wenigsten an. Überhaupt können wir sagen, je mehr die Menschen Anlaß haben, große Leidenschaften zu entwickeln, desto mehrere Besorgnisse entspringen, weil sie nicht alles richtig einsehen. Hingegen sind diej enigen am lustigsten, welchen es leicht wird, ihre Nahrung zu finden. Beim Soldaten trifft es gleichfal ls ein, weil er zornig sein muß. Dieses entspringt aber aus dem

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Bewußtsein des Vermögens. Beim Kaufmann ist es am besten ausgeteilt. Er muß beständig Phlegma haben, wenn er sich nicht durch die Traurigkeit der Sache will trügen lassen, um sie über ihren Wert zu bezahlen. Er muß nicht hitzig auffahren, wenn er betrogen wird , sondern bedenken , daß er es ins Künftige wohl dreifach bei Gelegenheit wiederbekommen kann. Zusammensetzung. Es ist fast allgemein, daß man den Menschen nicht ein einziges, sondern ein zusammengesetztes Temperament beimißt Man pflegt die Temperamente zusammenzusetzen. Nach unserer Einteilung der­ selben in Temperamente der Empfindsamkeit und Begierde ist nur eine vier­ fache Zusammensetzung möglich. Denn d ie sich entgegengesetzten Tem­ peramente können in keinem Menschen vereinigt werden. Ein sanguinisch­ melancholisches Temperament, ein cholerisch-phlegmatisches Tempera­ ment sind am Ende doch Undinge. Die vier Zusammensetzungen sind: 1. Das melancholisch-cholerische Temperament. D ies bringt allerlei Hirngespinste, große und blendende Handlungen herfür. Es ist der engli­ schen Nation eigen und hat zu vielen Revolutionen und Schwärmereien Anlaß gegeben. 2. Das sanguinisch-phlegmatische Temperament. Dies ist keiner Sache so sehr als dem Wohlleben ergeben. Ein solcher Mensch ist wie eine Milch­ suppe, die sich mit allem verträgt. Er tut nichts Böses, aber auch nichts Gutes, denn beides inkommodiert ihn. Er ist imstande den ganzen Tag am Fenster zu stehen und Leute vorbeigehen zu sehen. Er hängt zwar auch dem Vergnügen nach, aber es muß nicht so lebhaft sein. 3. Das sanguinisch-cholerische Temperament. Dies ist ein sehr nütz­ liches Glied im gemeinen Wesen, benimmt allen Dingen die Wichtigkeit und betrübt sich über nichts, sondern sucht in allem Vergnügen. 4. Das phlegmatisch-melancholische Temperament und endlich wenn man auch noch das Sanguinische mit dem Melancholischen vermischt, so scheint es zwar ein Widerspruch zu sein. Allein es will nur soviel sagen, daß sie gemäßigt sein und alle Temperamente sehr aneinander grenzen können. Überhaupt genommen hat die Zusammensetzung doch nicht so rechten Grund. Z. B. bei dem Sanguinisch-cholerischen. Denn den, der große Trieb­ federn zur Tätigkeit hat, kann man nicht sanguinisch nennen, also auch nicht füglieh zusammenstellen. Das Kombinieren taugt daher nicht v iel. Auch wollen die meisten Menschen gern für Sanguinisch-cholerische gehal­ ten sein, und zwar aus Eigenliebe. Eigentlich sollte man nie mehr als eins, und zwar das hervorstechendste nennen. Am besten schickt sich die Zusam­ mensetzung des melancholisch-phlegmatischen Temperaments. Und dies wäre wohl auch gewiß das unglücklichste. In der Religion ist der Sanguinische ein Spötter, der Melancholische ein Schwärmer, der Cholerische orthodox, aber mehrenteils ein Heuchler, der

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Phlegmatische indifferent, der alles für gut hält, und mehrenteils aber­ gläubisch. Die Ursache davon ist: Der Sanguinicus ist der Freigeisterei ergeben. Die Rel igion scheint ihm eine Mode zu sein, und weil er gar zu ungeduldig ist, sich an Regeln zu binden, so gibts auch eine moral ische Freigeisterei. D iese finden wir bei den Franzosen. Denn bei ihnen ist über­ haupt der Gebrauch alles dasjenige, was die Leute mit vieler Ernsthaftigkeit traktieren, lächerlich zu machen, und hingegen Kleinigkeiten eine anschei­ nende Wichtigkeit zu geben. Sie behandeln alles mit einem gewissen Leicht­ sinn, und daher findet man bei ihnen viel Konversation ohne Freundschaft, aber doch auch ohne Falschheit. Ihre Sache ist sich an nichts zu hängen, und doch glauben sie, daß ihre Frauenzimmer sehr zur Freundschaft auf­ gelegt sind. Die Engländer haben bemerkt, daß bei den Franzosen in Ansehung der Conduite nicht der mindeste Unterschied zwischen den Vor­ nehmsten und Geringsten sei, und daß des Handwerkers Tochter ebenso manierlich zu reden wisse, als die Prinzess in. In England ist hi ngegen die Kenntnis der Wissenschaften bis auf den geringsten Mann verbreitet und die Zeitungen daselbst sind so eingerichtet, daß sie vom gemeinsten Mann mit Nutzen können gelesen werden. Der Melanchol icus ist ein Schwärmer. Denn er sieht alles für wichtig an, traktiert alles ernsthaft. Die größte Ernsthaftigkeit nähert sich aber der Schwermut. Bei dieser fällt er in eine hei lige und vermessene Kühnheit. Wenn er sich nun solebergestalt Gott mit den allerdevotesten und zuver­ sichtlichsten Wörtern nähern will, artet er fast in eine Blasphemie aus, wo er sich oft solcher Ausdrücke bedient, die eine ganz ungeziemende Vertrau­ lichkeit mit Gott anzeigen. Der Cholerische ist orthodox. Obgleich man keine Nation nennen kann, die cholerisch wäre, so muß man doch vom Cholerischen merken , daß er die Triebfedern zur Tätigkeit hat. Er muß immer beschäftigt sein und steigt daher gerne zu Ämtern, wo er viel zu reden und zu ordnen hat. Er weiß sich ein Ansehen zu geben, als ob er andächtig und verständig wäre, ob er gleich weder Andacht noch Verstand hat. Da er gerne beschäftigt ist, so mag er auch gern die Regeln der Religion strikte befolgen und andre zur genauen Observanz derselben anhalten. Daher er auch Ketzer macht, wo keine sind. Der Aberglaube besteht i n einer gewissen Indulgenz und entsteht aus der Untätigkeit, die man bei dem Phlegmatischen findet. Denn weil er selbst nicht gern denken mag, so hört er auch gerne Wunderdinge erzählen, denen er bald Gl auben beilegt. Die Vernunft i nkommodiert ihn und er muß ihr gleichsam Ferien geben, um seinen Neigungen nachhängen zu können. Die Temperamente äußern sich auch in Ansehung der Schreibart. Also als Autor ist der Sanguinische witzig und populär. Der Cholerische geht auf Stelzen und ist methodisch, ordentl ich z. B. Haller. Der Melancholische dringt immer i n die Tiefen und Dunkelheiten der D inge ein. Er holt seine Ausdrücke aus dem Innersten der Wissenschaften und ist ganz originell.

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Anmerkung. Es ist artig, daß kei n Leser sich Di nge gar zu deutl ich machen lassen will, er hat es gern, wenn noch etwas bleibt, was er erraten kann, und freut sich, wenn' s getroffen ist. Der Phlegmatische ist peinlich und mühsam. Man hat den Deutschen vorgeworfen, daß sie ihre meisten Werke in großen Foli anten schrieben, und daraus auf ihr phlegmatisches Temperament geschlossen. Der Sanguinicus wählt das Gefallende in der Erscheinung, überhaupt das Schöne. Daher sind auch die sanguinischen Nationen Meister im Ge­ schmack. Bei den Deutschen findet das Methodische in der Schreibart statt. Daher haben ihre Schriften das Schulmäßige an sich und dies ist ihrem Phlegma angemessen. Die Ordnung, die bei ihnen herrscht, kommt von der Cholera her. Denn die cholerischen Nationen sind gemeinhin sehr ordent­ lich. Das Wort Phlegma bedeutet sonst das Wasser, das man zu einem Getränk hinzugießt, hier bedeutet es aber als phlegmatisches Temperament nur den Mangel an Lebhaftigkeit. Die nördlichen Nationen sind überhaupt mit viel Phlegma affiziert, daher sie auch in ihrem Anstande eine gewisse Sittsamkeit haben. Eben deshalb wird auch ein deutscher Acteur nie die Vollkommenheit des Franzosen erreichen. Denn dieser wird schon sozusagen als Acteur geboren. Denn es ist ausgemacht, daß die Engländer ein Lustspiel weit besser vorstellen, als ein Trauerspiel, und die Franzosen ein Trauerspiel besser, unerachtet der Engländer als Trauerspieldichter und der Franzosen als Lustspieldichter fertiger ist. Die Ursache ist diese, wie wir schon öfters erwähnt haben. Ein Mensch, der eine Person, die diesem oder j enem Affekt ergeben ist, recht vorstellen will, muß selbst nicht affiziert sein, und dies ist der Fall bei den Franzosen. So muß auch z. B. ein Herr, der seinen Bedienten recht aus­ schelten will und also die Rolle eines Zornigen macht, wenig affiziert sein. Denn ist er es, so wird er bloß reden wollen, aber wenig Worte finden, und der Bediente sieht also, daß sein Herr zornig ist, aber er hört es nicht. Ebenso muß der, welcher die Rolle eines Verliebten gut spielen will, selbst nicht verliebt sein. Denn ist er es, so wird er sich zwar zärtlich und demütig stellen, allein er wird dabei verstummen, rot werden und sich wohl gar pöbelhaft aufführen. Da nun die Engländer so wenig lustig sind, so ist nicht zu besorgen, daß sie bei der Vorstel lung des Lustspiels i n Affekt der Lustigkeit geraten werden. So haben sie Zeit genug, sich die Person eines Lustigen bei der Aktion recht vorzustel len und also gut nachzuahmen. Hingegen sind auch die Franzosen so weit von der Traurigkeit entfernt, daß sie bei einem Trauerspiel gewiß nicht in Affekt geraten werden und daher sind sie Meister in Aufführung des Trauerspiels. Im Amte ist der Sanguinische zerstreut, übereilt, unordentlich, abwech­ selnd. Ein jeder hat noch überdies gewöhnlich ein Steckenpferd. - Anmer­ kung. Eine Stelle aus dem Tristram Shandy : Laß doch j eden auf seinem

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Steckenpferd die Straßen auf- und niederreiten, wenn er dich nur nicht nötigt, hinten aufzusitzen usw. Der Melancholische ist ordentlich und skrupulöse. Der Cholerische ist herrschsüchtig und behält in seiner Ordnung den Geist der Formalitäten. Selbst mag er eben nicht viel tun, doch sehr gerne herrschen. Anhänglichkeit an Formalitäten ist Pedanterie. Sie findet vorzüg­ lich bei ihm statt, z. B. auf seinem Bücherschaff stehn viele herrliche Bücher mit schönen Titulaturen, doch selber l iest er nichts davon . . . Der Phlegmatische ist mechanisch, und wenn er etwas Außerordentliches zu besorgen hat, ein Ja-Herr, der - alles gehen läßt, so wie es geht. Im Umgange ist der Sangui nische scherzhaft, unterhält mit lustigen Einfällen. Der Melancholische ist vernünftelnd, grübelnd, l iebt grause und schauervolle Begebenheiten. Der Cholerische ist vernünftig, geht auf Erzäh­ lung von Geschäften, ist also eben nicht der amüsanteste. Der Phlegmatische erzählt nichts Komisches, lacht aber selber zu allem. Was den Punkt der Ehre betrifft, so verd ient d ies nach Verschiedenheit der Länder und Temperamente auch verschiedene Bemerkungen. In Frank­ reich hält man es für die größte Ehre, am Hofe gewesen zu sein und in England macht man sich nichts draus. Ein Franzose will in Gesellschaft für nichts l ieber, als für einen Mann von gutem Ton angesehen werden. Ein jedes Temperament kann eine Ehre besitzen. Zuletzt ist noch anzumerken, daß man nicht j ede starke Neigung gleich Temperament nennen muß. Die Ernsthaftigkeit grenzt z. B . sehr an Melancholie, sie ist aber nicht i mmer Melancholie. Nun wollen wir handeln von der Unterscheidung der Menschen aus ihrem Äussern ins Innere oder

Von der Physiognomik Die Menschen haben eine erstaunend große Begierde, jemanden von dem sie eine Beschreibung gehört haben, persönl ich kennenzulernen. Wäre es auch der boshafteste Mensch, so wünscht man ihn doch zu sehen, als wüßte man zum voraus, daß in den Augen eines solchen Boshaften das bösartige Herz zu lesen wäre und daß man bei einem solchen lernen könnte -, andere zu fliehen, die mit ihm einerlei Gesichtsbildung haben. Überhaupt wollen sie dem Menschen das Außerordentliche ansehen, gleichsam aus den Augen lesen, und ehe sie ihn kennenlernen, zum voraus wissen, was er tun wird. Woher aber kommt diese starke Neigung mit seinen Augen die Gesin­ nungen andrer Menschen auszuspähn? Die Natur hat v iel in das Äußere des Menschen gelegt, woraus man nach natürl ichen Gesetzen auf das Innere schließen kann. D aher lehrt die Erfahrung, daß man einem Fremden starr

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unter die Augen sieht und ihn von oben bis unten betrachtet, um ihn kennen­ zulernen. Daher mögen wir auch gerne einem Delinquenten , der zum Richt­ platz geführt wird, in die Augen sehen, gleich als ob wir bemerken könnten, was in demselben vorgeht. Kurz wir wollen ei nen Menschen, der wichtig ist, zum voraus kennenlernen und trauen seinen Gesichtszügen mehr, als seinem künftigen Betragen. Wir hören weniger auf seine Worte, als wir ihm unter die Augen sehen. Wir sehen also, daß die Natur dem Menschen diesen Instinkt schon gegeben, um mehr seinem Gesichte, als seinen Reden zu trauen. Der Ausspruch: loquere, ut te videam (sprich, damit ich dich sehe) , zielt nur darauf, daß wir aus den Reden eines Menschen seine Talente erken­ nen können. Was aber seine Gesi nnungen die aus dem Temperament ent­ springen, und seinen Gemütscharakter betrifft, so trauen wir hierin mehr unsern Augen, als seinen Reden. Die Natur führt uns also schon darauf auf seine Gestalt Achtung zu geben. Es hat aber mit der Physiognomik oder den Mitteln, aus dem Anblick die Gesinnungen des Andern kennenzulernen, eine solche Bewandtnis, daß man es hierin nie zur sichern Regel bringen kann. Ja die Vorsehung scheint absichtlich verhindert zu haben, daß d ies nie zu einer Kunst geworden. Denn l ießen sich davon allgemei ne Regeln angeben, so würden sich die Menschen oft hassen , ehe sie sich noch beleidigt hätten. Und da doch fast jeder Mensch etwas hat, das mißfällt, so würde das Zutrauen fast gänzl ich wegfallen. So würde die Einigkeit bald aufgehoben und die menschliche Gesellschaft würde getrennt werden. Indes hat die Vorsicht doch wirklich eine gewisse Marke in d ie Züge der Men­ schen gelegt, damit man sich vor solchen Leuten in Acht nehmen könnte. Allein das Urteil darüber ist ungewiß. Denn wie man bei der Uhr nicht nach dem Gehäuse das Innere erkennen kann, so ist es auch mit der Physio­ gnomik. Wir wollen aber doch soviel hiervon sagen, als sich sagen läßt. Die Physiognomik ist d ie Geschickl ichkeit oder Kunst aus Äußern das Innere zu erkennen, aus dem äußern Anblick des Menschen auf das Innere zu schließen. Das Äußere besteht: 1 . in der Gestalt, wenn der Mensch nichts tut, 2. im mechanischen Gebrauch seiner Organe, wenn er in Aktion ist, z. B. dem Ton seiner Sprache, 3. aus seinen Gebärden, z. B. Gang usw. Unter der Physiognomie versteht man den B au des ganzen Körpers, seine ganze Manier, den Geschmack in Kleidung und überhaupt dasjenige, was wir mit den äußern Sinnen an den Menschen bemerken können. Zuerst wollen wir von der Physiognomie insofern reden, als man den gegenwärtigen Zustand des Menschen beobachtet. Ein Mensch kann sich sehr vergnügt anstellen und dennoch erkennt man in seinen Augen die Trau­ rigkeit. Oft stellt einer sich frei und in seinen Augen liest man doch die Verlegenheit. Einige Menschen grinsein nur, wenn der andere uns zu lachen macht. Man kann aber denen, die so lächeln, an i hren starren Augen an­ sehen, daß es nicht ihr Ernst ist. Cholerici sind dieser Verstellung am fähig-

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sten. Denn sie sind ohnehin sehr tätig, ihre Fasern stark gespannt und daher kommt ihre Äquilibrität, vermittelst welcher sie ihre Muskeln alle am mehr­ sten in ihrer Gewalt haben. Sie gehen ordinär steif oder steigen v ielmehr. Ihre Sprache klingt etwas hoch über die Brust, und den Kopf tragen s ie grade, dahingegen der Sanguineus an seinen mannigfaltigen, unruhigen Stellungen zu erkennen ist. Der Cholericus kann den Ton eines Lobredners annehmen und jemandem sehr große Achtung bezeugen, allein es ist alles verstellt. Er hat einen guten Anstand, aber er ist gekünstelt. Seine Muskeln sind immer in seiner Gewalt, daher er auch, wenn er unwillig ist, gar selten die Mienen verzerrt. Die Fasern haben bei ihm eine große Spannung und daher gerät er leicht in Zorn. Es gibt einige Gesichter, die gar nichts be­ denken und anzeigen, woraus man den Zustand der Seele erraten könnte, wie z. E. die Phlegmatici in Ansehung der Rührungen. Von andern kann man nicht urteilen, ob sie vergnügt oder traurig sind, wie dies hauptsächlich von den Cholericis stattfindet. Oft aber kommt man auch dann nicht sonder­ lich zurechte, wenn man Mienen annimmt, welche d ie Gesinnungen ver­ bergen sollen. Wenn man z. E. lachen will bloß jemandem zu gefallen, so ist dies nur ein Grinsen, wo die Mienen zwar verzogen werden, die Augen aber ganz starr bleiben, und d ies sieht häßlich aus. Überhaupt ist alsdann die wahre Gemütsbeschaffenheit am leichtesten zu erkennen , wenn einer sich vergnügt stellt da er es doch nicht ist. So auch, wenn sich j emand freund­ schaftlich stellt. Niemand kann wohl so leicht sich so freundschaftl ich stellen, daß ein forschendes Auge es n icht merken sollte. Nach Lavater bedeutet auch der Gang des Menschen etwas und trägt viel dazu bei , den Menschen zu erkennen, wovon oben schon etwas gesagt wurde. Ein Chole­ ricus ist an seinem fast beständig steifen und steigenden Gange, der Sangui­ neus aber an seiner unruhigen Stellung zu erkennen. Mancher Mensch muß immer gestikulieren, wenn er spricht, oder den Mund aufhalten, wenn er in Ruhe ist. Beides sind große Fehler, die man ja vermeiden kann. Nach Lavater soll man sogar den Menschen aus den Schriftzügen seiner Hand (ob sie nämlich fest oder ungleich usw. sind) erkennen können. Doch ist dieses sehr zweifelhaft. Auf diese Weise kann man einem ungefähr aus dem Gesichte lesen, ob er verdrießlich, mutwillig, traurig oder zornig ist usw. Am öftesten beurteilt man den Gesunden und den Kranken, den Vergnügten und Mißvergnügten aus der Farbe des Gesichts und der Hell igkeit der Augen. Dies gehört vorzüglich für die Ärzte. Wenn das Weiße des Auges trocken ist (welches überhaupt bei großer Hitze zu geschehen pflegt) und die Farben des Regenbogens wohl determi niert und scharf abgeschnitten sind, so pflegt der Mensch wohl disponiert zu sein. Fließen die Farben am Rande aber unmerklich zusammen, oder es vermischt sich dieser Rand mit dem Weißen, so ist es ein Zeichen von Krankheit und Traurigkeit. Sind die Augenlider stark geöffnet, so ist man gesund, wenn nicht, so ist man krank.

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Sind die Farben im Regenbogen heller wie sonst, z. E. blauer, schwärzer, so ist man gesund, sind sie dunkler, so ist man traurig und krank. Wenn man aber auch den gegenwärtigen Zustand aus dem Äußern beurteilen kann, so differiert doch d ieser Zustand von dem habitus in der Gemütsart. Denn ein Mensch der jetzt vergnügt ist, kann dessen ungeachtet sonst immer schwer­ mütig sein. Man kann auch aus dem Anblick der Komplexion den Men­ schen beobachten. Diese ist aber die Beschaffenheit sei ner Natur und die Einrichtung, z. E. ob ein Mensch schwach, stark , gesund oder lebhaft ist. Hierauf pflegen besonders die Mannspersonen, wenn sie heiraten wollen, bei ihrer künftigen Frau zu regardieren. Z. E. die von phlegmatischer Kom­ plexion wird sich gern aufwarten lassen. Auch sieht darauf ein Herr, der Sklaven kauft oder Bediente annimmt. Man sollte ebenfalls bei Anwerbung der Soldaten auf ihre Komplexion sehen, wenn man nicht bei Umständen eine große Anzahl braucht, ob sie z. E. strenge Lebensart, rauhe Witterung ertragen könnten, auch auf ihr Naturell, wozu sie fähig sind, und was sie zu tun vermögend sei n werden. Oft haben aber Leute, die sehr hager sind die stärkste Komplexion, denn es kommt nur auf die Stärke der Elastizität und Muskeln an, besonders wenn die Muskeln im Gesichte stark sind. Man kann auch aus dem Äußern das Naturell eines Menschen erkennen. Die Fähigkeiten aber l assen sich nicht so leicht daraus beurteilen. D ie Talente wi l l man wenigstens ausspähen können. Denn man sagt z. E.: der Mensch sieht nicht verständig aus, oder diesem Menschen sieht man den Witz an, er sieht fein aus, usw. Allein man kann sich hier erstaunend i rren, besonders wenn man ihm die Talente des Muts ansehen und aus der B lödigkeit, der Sanftheit und dem Edeln der Mienen schl ießen will. Es geht hier wie Homer sagt: Mancher hat das Gesicht eines Hundes und das Herz eines Hirsches. Denn wenn solche Leute, die blöde scheinen mit ihrer Blödigkeit und Sanftmut nicht durchkommen, so bieten die der Gefahr die Spitze und dann zeigt sich der Mut der sich auch nicht bald entkräften läßt. Der Mut kommt nicht allein vom Bewußtsein der körperlichen Stärke her, sondern er ist auch eine natürl iche Folge des Bewußtseins des Besitzes der Vernunft, die kaltblütig ist und des festen Entschlusses, auf alles resignieren zu kön­ nen, wenn der Versuch nicht anders in Ausübung gebracht werden kann. Man weiß aber woh l , daß ein Mensch, der den schwächsten Körper hat, dennoch Mut haben kann und daß nicht allemal Stärke des Körpers zum Mute gehöre. Denn was braucht er einen starken Körper, wenn er auf sein Leben resignieren kann? Einem solchen Menschen sieht man den Mut nicht an, dagegen sich eine ungestüme Tapferkeit stark in der Stimme äußert und auch sehr bald in Frechheit verwandelt wird. Da im Gegenteil ein Mut von der ersten Art dauerhaft ist. Man glaubt auch einem Menschen den edlen Stolz ansehen zu können, allein man irrt darin. Denn man kann ihm wohl den Stolz ansehen, aber nicht den edlen, denn dieser ist bescheiden und

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äußert sich nicht im mindesten, äußert er sich aber, so ist er nicht mehr edel. Wir bemerken, daß wenn z. E. ein B auer von Königen oder Kaisern reden hört, er sich dieselben als Leute vorstellt, die nicht durch die Türe durch­ kommen können, und bei deren Anbl ick man i n die Knie sinken möchte. Sollte er sie aber zu sehen bekommen und wohl gar gebrechliche Körper an ihnen finden, so würde er sich nicht überreden können, einen König oder gar Kaiser in ihnen zu erkennen. Indes geht es uns auch so, wenn wir einen Autor, der viel Schönes geschrieben, gelesen und seine Kenntnisse und Gedanken bewundert haben, endlich aber sei nen Kupferstich zu sehen be­ kommen, so kommt es uns unglaublich vor, daß diese kleine und gebrech­ liche, hypochondrische Figur solche guten Gedanken soll gehabt haben. Überhaupt schadet die Anwesenheit viel, wei l man sich i n der Einbildung ein sehr vorteilhaftes B i ld formiert. D ies beweist, daß m an nicht aus den Gesichtszügen auf die Talente des Menschen schließen kann. Die Natur hat gewollt, daß sich alle Menschen für solche ansehen sollen, die eine gesunde Vernunft besitzen. Was aber weit übers Mittelmaß geht, pflegt die Natur zu markieren. So kann man einem erzdummen Menschen seine Dummheit und einem außerordentlichen Gelehrten seinen Verstand leicht ansehen. Alle unsere Affekte bringen Mienen hervor, und umgekehrt, wenn man die Miene dessen, der i m Affekt ist, wohl nach macht, so gerät man in den­ selben Affekt. Überhaupt ist Physiognomik eine Geschicklichkeit, die keine Regeln hat. Man kann sie sich durch Umgang, Menschenkenntnis und Erfah­ rung erwerben, keineswegs aber darf man sie als eine bloße Chimäre an­ sehen. Die Pantomimensprache übertrifft noch die Wörtersprache. S ie ist die allgemeinste. Denn im Gesicht l iegt überhaupt die ganze Prägung des Körpers, auf den doch die Seele einen Einfluß hat. Es wird also die Ge­ sichtsbildung der Beschaffenheit des Gemüts, mehrenteils konform sein. Wer zu einem Affekt eine Neigung hat, der wird auch seine Miene dazu bi lden. Wenn wir einen belauschen wollen, der ruhig ist, der an nichts denkt, was sein Gemüt in Bewegung setzen kann, so l iegen die Muskeln bereits in der Lage, die seinen Hauptneigungen gemäß ist. Es ist aber kein einziger Mensch ohne Mienen, und wenn man diese auslegen kann, so weiß man die Denkungsart des Menschen. So hat einer eine spöttische, höhni­ sche, der Andere eine neidische, bittere Miene und die behalten sie auch dann, wenn sie in Ruhe sind. Man kann sogar einem seine Grobheit an den Mienen ansehen, und einen solchen Menschen sieht man nicht immer gern lange an, weil man immer besorgt ist, von ihm beleidigt zu werden, wenig­ stens in Ansehung seiner Eitelkeit. Der Mensch ist aber immer zu der einen Neigung aus dem Affekt mehr, als zu der andern aufgelegt, und hiernach richten sich seine Mienen. Sie liegen aber im menschlichen Gesichte schon lange präpariert, so wie der Hang. Man könnte sich davon immer mehr belehren, wenn man sich mit verschiedenen, die man ausholen wollte, in

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ein Gespräch einließe. Allein dies ist nicht allemal ratsam, denn man belei­ digt beständig einen, wenn man sich in eine gar zu genaue Kritik über einen einläßt, und übereilt sich auch im Schließen. Gewisse Gesichter haben gar keine Mienen, aus denen man etwas abnehmen könnte und auch keine Fähigkeit, Mienen anzunehmen. Aber selbst diese Unbiegsamkeit ist wieder eine besondere Miene und zeigt, daß der Mensch gar keinen Charakter habe. Andere hingegen haben viele Mienen und können auch viele an­ nehmen und dies hält man für ein Zeichen des Witzes. Wenn sich das Spiel dieser nachgeahmten Pantomimen nur in Schranken hält und in keine Karikaturen oder Grimassen ausartet, die seine eigene Person lächerl ich machen, so macht es beliebt. Solche Leute können sich auch gemeiniglich in allerlei Gestalten schicken und haben sozusagen nichts Beständiges an sich. Hierzu können auch diejenigen gerechnet werden, die einen poeti­ schen Instinkt oder Kitzel in sich empfinden, ob sie gleich keine Talente dazu haben, die der Apollo gleichsam reitet. Solche Leute können alle Charaktere nachahmen, ob sie gleich keinen eigentümlichen haben. Von unserm Poeten Pietsch erzählt man, daß er, als er den Prinzen Eugen habe vorstellen wollen, mit großen Reitstiefeln in einer Art von Wut herum­ gegangen sei , in einer solchen Miene sich niedergesetzt habe, so daß ihn diese Miene auf gute Gedanken und Ausdrücke gebracht habe, denn eine solche passende Miene ruft alles herbei. D a nun ein Mensch sehr heftige und viele Neigungen haben kann, so werden sich auch solche in seinen Mienen ausdrücken. Wenn man also aus dem ganzen Zuschnitt des Ge­ sichts und dem Porträt d iejenigen, so besonders herfürstechen, also die Hauptneigungen bemerken will, so muß man den Charakter des Menschen so spalten lernen, wie Newton die Farbe des Lichts durchs Prisma. Bei einem jeden Menschen aber, der von Natur zu ei nem Charakter gestimmt ist, findet man auch in dem Zuschnitt seines Gesichts das Porträt. Die Mischung der Mienen kann unschuldig aussehen und alle Menschen sehen alsdann gleich aus, allein bei dem einen sticht dies, beim andern jenes herfür. Im Gesicht ist das Gepräge des Menschen und die Miene äußert also den Charakter. Das Herz unterscheidet sich vom Temperament und die Gestalt von den Mienen. Wenn man auch gleiche Gestalten annimmt, so kann doch das eine Gesicht l ändlich, das andere städtisch aussehen und dieser Unterschied findet gewiß unter den Menschen statt. Es geht dies ganz natürl ich zu. D iej enigen die auf dem Lande sind, sind der Luft mehr ex­ poniert. Die Landluft bringt lange nicht so wie die Stadtluft die Delikatesse und das Feuer in den Muskeln des Gesichts herfür. Die Ursache ist, wei l m a n a u f dem Lande beständig in die Weite sieht: da m a n hingegen in der Stadt gewohnt ist nur in einem engen Bezirk zu sehen, wodurch die Augen eine andere Bewegung bekommen. Die Stadtleute haben jederzeit etwas sanfteres in ihren Zügen, als die Landleute. Der Grund davon ist, weil die

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Landleute nicht immer wie Städtische mit Vornehmern zu tun haben, als sie selbst sind, denn sie haben nur mit Niedrigen, z. B. Knechten, Pferdejungen zu tun, wobei sie sich eine gebieterische Miene angewöhnen. Ob also gleich die Proportion des Gesichts eine und dieselbe sein kann, so ist doch bei der ländlichen Bevölkerung nicht eine solche Biegsamkeit der Mienen. Selbst die Stände geben eine unterschiedene Miene. So bemerkt man bei den Fleischern etwas Frostiges und Kühnes, weil sie ihr Vieh vom Lande zu holen haben, und beim Ein- oder Verkauf oft ein Gezänk anstellen müssen, wo sie es mit den schlechtesten Leuten zu tun haben, denen sie vorpochen und vorlärmen müssen. Überdies hat auch ihr Handwerk etwas Mannhaftes an sich. Ein Schneider hingegen hat etwas Geschmeidiges und Biegsames in seinem Gesichte. Wenn der Geistliche eine heilige Hitze affektiert, so kann man ihm das Beate und Selbstzufriedene in seinem Gesicht ansehen. Sie wollen in ihrem Gesicht etwas Verhimmeltes anzeigen. Wenn sie bloß so aussehen, so glauben sie die wahre Rel igion zu haben, und wer kann auch vergnügter sein, als wer die wahre Religion hat. Vor Alters präten­ dierte man von ihnen eine vorzügl iche Traurigkeit, da doch die, welche wahre Religion besitzen, die größte Ursache haben, vergnügt zu sein, wei l jeder wünschte m i t ihnen etwas z u tun z u haben. Oft verursacht auch schon die Geburt und das Herkommen, daß ein Mensch eine besondere Miene hat, vorzüglich beim weiblichen Geschlecht. Sie haben etwas Frostiges in ihren Augen, weil sie jeden starr ansehen, ohne etwas Übles von ihm zu vermuten. Wir wenden aber gemeiniglich die Augen von einem weg, der uns starr ansieht, weil wir beständig befürchten, wir möchten Händel mit ihm bekommen. Mancher große Mann hat schon eine Miene, die jeden zurückhält. Man sieht aber auch oft einen vornehmen Mann und sagt dabei: der hat auch ein recht gemeines Gesicht. D ies ist auch wohl wahr, wie jedes seinen Grund hat, was allgemein beurteilt wird, obgleich es schwer ist, den Grund aus­ findig zu machen. Die Raison von obigem Urteil ist: die Manieren mancher Menschen schlagen in das Platte ein und dies liegt schon mit in ihrem Naturell. Sind diese Züge nicht recht stark exprimiert oder auch gedrückt, so ändert die Erziehung sie in andere, aber die vorigen mischen sich doch mit ein. Mancher sieht vornehm aus und ist es nicht. Bei dem einen schla­ gen die Manieren ins Platte, beim andern ins Feine. Die Erziehung aber kann beide ändern. Das Platte ist, wenn einer zu seinen Manieren nicht fein genug ist. Der Charakter des Menschen läßt sich schwer aus den Gesichts­ zügen ziehen, weil man hier nicht nur die Temperamente, sondern auch das Herz untersuchen muß, welches vom Temperamente ganz unterschieden ist. Der Charakter aber betrifft bloß das Herz, und der Ausdruck gilt also nicht vom Temperament, nicht von der Gestalt noch auch von den Talenten. Es ist mithin eine große Feinheit denselben aufzusuchen und die Art der

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Gesinnungen erforschen zu können. Und doch sieht man in einer Gesell­ schaft am meisten darauf. Wenn man indes in einer Gesellschaft ist, wo man nicht alle kennt, so sucht man nur soviel als möglich ist mit seinem Auge das Herz des Menschen auszuspähn, damit man sich einen wählen kann, mit dem man sich unterhalte. Man adressiert sich alsdann gerne an einen, dem man etwas Gefälliges und Gutherziges ansieht und der Talente verrät. Das Al lermeiste aber, was sich in dem Charakter des Menschen äußert, ist die Gutherzigkeit, nach welcher man nicht gerne etwas tut, was einem mißfällt, und leicht über einen Ausdruck erröten möchte. Außer dies�m verlangt man von seinem Gesel lschafter auch Offenherzigkeit und Freimütigkeit, denn dadurch nähern sich die Menschen am meisten und fassen ein wechselseitiges Zutrauen zu sich, i ndem man keinen für böse ansieht. Er muß aber auch nächstdem noch Tugend besitzen, damit man wisse, ob er verschwiegen sei, wenn man ihm etwas anvertrauen will, oder wenn man ihm Geld lehnt, ob er auch Wort halte und es zu bestimmter Zeit wiedergebe. Was die Bücher betrifft, die von der Exegesis der Mienen handeln, so können zwar darin viele richtige Bemerkungen sein. Allein es läßt sich doch nichts mit Gewißheit sagen. Eine Bemerkung ist anzuführen, die ihre völlige Gewißheit hat. Es gibt zuweilen Augen, die ganz unruhig sind, und man kann sicher behaupten, daß ein Mensch, der sonst nicht schielt, es aber bei der Erzählung einer Sache tut, gewiß lügt. Das Rot- und Blaßwerden ist zweideutig, und geschieht zuweilen aus verschiedenen Ursachen. Der eine wird rot, weil er sich des Vergehens, dessen man ihn beschuldigt, bewußt ist, der Andere wird deswegen rot, weil er sich schon dadurch beleidigt findet, daß ein Anderer einen Verdacht auf ihn hat. Solche Leute sind gemeiniglich sehr empfindlich. Mancher General, der vor der Batterie nicht erschrickt, wird rot, wenn er öffentlich reden sol l , wei l dies einen Ehren­ punkt betrifft. Wenn ein Mensch sich so in seiner Gewalt hat, daß er sich durch nichts stören läßt und sich an eine gewisse Fermete gewöhnt hat, die ihn weder scheu noch blaß werden l äßt, so hat er ein groß Geschenk der Natur, muß er ein so vortreffl iches Talent nicht mißbrauchen, sondern gut anwenden. Artet aber diese Fermete in eine dumme Dreistigkeit aus, so ist sie unausstehlich. Man ist gemeinhin furchtsam, wenn man in einer Gesell­ schaft öffentlich reden sol l. Indes gefällt auch die B lödigkeit sehr oft und Cicero stellte sich bei seinen Reden blöde, ob er es gleich nicht war. Denn Zuhörer haben alsdann, wenn der Redner nur nicht stecken bleibt, eine gewisse Nachsicht gegen ihn, weil er aus Respekt gegen sie blöde ist. Auch empfiehlt sich die B lödigkeit, weil sie unser Mitleiden rege macht. Über­ haupt ist eine furchtsam angefangene und dreist geendigte Rede sehr einnehmend. Wer aus Vorsatz blöde tut, handelt großmütig. Der Mensch kann gebildet werden:

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1 . nach seinem Temperament. Dies geschieht durch die Disziplin. Denn der Mensch ist ein Tier, das Disziplin nötig hat. Wer ohne Disziplin auf­ wächst, ist einem wilden Tiere nicht unähnl ich. Hierin hat Rousseau wohl gefehlt, daß er glaubt, daß die Disziplin aus der Natur des Menschen fließe und daß die Menschen von selbst gut und böse würden. 2. nach seiner Komplexion, so daß er in Ansehung seines Körpers alles ertragen lernt, und dies geschieht durch die Erziehung. 3. nach seinem Naturell. Dies geschieht durch die Information. Allein solche Information haben wir selten, wo das Kind nicht nur i n Wissen­ schaften unterrichtet, sondern wo auch sein Naturell ausfindig gemacht und wenn man in demselben einen Keim des Genius findet, solches exkol iert (ausgebildet) wird. Indes kann ihm doch dadurch Geschicklichkeit beige­ bracht werden. 4. nach dem Charakter, und dies geschieht nur durch Beispiele. Denn dadurch, daß man ihm aus der Moral sagt, was rechtschaffen gut und tugendhaft heiße, lernt ein Mensch wohl von allem gelehrt reden. Allein nur Beispiele können ins Herz dringen. Unsere Eltern bilden aber nicht einmal die Komplexion des Kindes. Sie pflegen und vertändeln es, und wissen nicht, daß sie das Kind dadurch un­ glücklich machen. Bei B i ldung des Temperaments wird den Kindern der Willen gelassen, damit sie nicht etwa von Ärgernis krank würden. Die Information und Bildung des Herzens möchte nicht das Einzige sein, wofür sie sorgen, ob man sich auch gleich nicht v iel darum bekümmert. Man bringt dem Lehrlinge alle Wissenschaften bei und geht sie alle durch, ohne zu untersuchen, wozu er insbesondere Neigung und Fähigkeit hat. Man wählt auch nicht eine solche Methode, wobei sich das Genie entwickeln kann. Die Beispiele, die man den Kindern zur B ildung ihres Charakters gibt, sind öfters schlecht genug. Einige Menschen sind sehr aufgelegt auch die schwächesten Empfindungen und Veränderungen wahrzunehmen, die in ihrem Gemüt vorgehen. Andere hingegen sind gar nicht geschickt dazu und auch nicht vermögend Andere zu beobachten. Wenn nun erstere die Ver­ bindungen der Mienen, die sich in diesem oder jenem Fall bei ihnen äußern, merken und solche bei sich auch andere wahrnehmen, so kann sich oft mit vieler Zuversicht die Gemütsart des einen und andern verraten und man mag auf diese Art in der Physiognomik weit kommen. Je mehr sich ein Mensch verfeinert, desto redender wird seine Miene. Je kleiner der Umgang mit artigen Menschen ist, desto weniger Ausdrücke hat die Miene. Und an einem, der seine Zeit in der Einsamkeit mit einem Handwerk, aber in einem gedankenlosen Zustand zugebracht hat, kann man fast nichts bemerken. D iese physiognomischen Kennzeichen kann keiner dem andern mittei len, weil er ihm das Feine in der Erziehung nicht geben kann. Manches Gesicht erweckt Zutrauen, ein anderes Mißtrauen. Jedoch können dies einige gar

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nicht bemerken. Es wollen zwar einige bei Erratung des Charakters den ganzen Bau des Körpers und nicht allein die M ienen in Anschlag bringen. Aber man kann aus dem Bau nur die Komplexion und einen Teil des aus dem B au fließenden Temperaments erraten. Was aber den Charakter oder das Herz und die Gesinnungen des Menschen betrifft, so können solche allein nur aus dem Gesicht gelesen werden. Indes will man doch bemerkt haben, daß große Leute sanfter sind, als kleine; welches auch von allen Tieren gelten soll. Der Grund ist, weil bei einem jeden Tier die Bewegungs­ kraft der Muskeln und die Spannung der Fasern nach Proportion ihrer zunehmenden Größe abnimmt, wie solches -Gal ilaeus mathematisch be­ wiesen hat. Man kann auch ferner den Menschen beurteilen aus seinem ganzen äußer­ lichen Betragen und aus der Art der Kleidung, aus der Wahl der Gesell­ schaften, aus seinen Lieblingszerstreuungen. Derjenige, der weiße Wäsche, die er aber wenig sehen läßt, an seinem Körper trägt, will für einen ordent­ lichen Menschen gehalten werden. Man kann also die Richtigkeit des Ge­ schmacks eines Menschen schon an der Kleidung erkennen. Nur muß man viele seiner Kleider sehn, die er selbst sich gewählt hat. Bei dem, der das Harte in der Farbe liebt, kann man kein Mittelmaß in der Abstechung seiner Denkungskraft und hingegen viele widersprechende Eigenschaften in sei­ nem Charakter vermuten. Endl ich will man sogar am Gange das Tempe­ rament des Menschen erraten. Ein Cholericus geht gemeiniglich steif, und das Hüpfende im Gange des Sanguinischen zeigt auch das Flatterhafte im Denken an. Es ist die Frage, ob das Regel mäßige in der äußern Bi ldung des Men­ schen auch sein Inneres anzeigt, auf gleiche Beschaffenheit zu seinem Innern deutet. Zum Teil kann man es so annehmen, denn eine völlige Regel­ mäßigkeit i n der Bildung zeigt immer einen mittelmäßigen Menschen an. Das Mittlere ist gewöhnlich alltäglich, also ist auch der Mensch alltäglich. Alle Männer von großem Genie haben immer eine gewisse körperl iche Unregelmäßigkeit, z. E. Pope. (Hay, der bucklig war, hat ein Buch von der Häßlichkeit geschrieben, wo er die Vorteile derselben aufführt, welches ihn von einer guten Seite zeigt.) Die größten Genies haben eine bizarre B i l ­ dung, und der Grund liegt darin, weil, Genie z u sein, schon selbst Bizarrerie ist - eine große Proportion der Talente, wo eins vorzüglich vor dem andern hervorsticht ist Disproportion, ihre Größe geht i mmer auf Kosten eines andern und die Disproportion ihrer körperlichen Organe ist so groß, als die ihres Gemüts. Ist Häßlichkeit und Mißgestalt einerlei? Nein, ein Mensch kann mißge­ staltet und doch nicht häßlich sein, er kann groteskisch oder wahnschapig sein, wie der Holländer sagt, das heißt in Wahn geschaffen. Ein Charakter in der Übertreibung ist Karikatur. Häßlichkeit macht es

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nicht aus, wenn nicht Züge der Bösartigkeit da sind oder was Ekelhaftes im Gesichte oder ästhetisch Häßliches ist, Häßlichkeit ist immer relativ. D ies beweist das schon oben angeführte Beispiel vom Heidegger, einem Musicus in London. Es ist ein Unterschied zwischen Gesichtsbildung und Gesichts­ zügen. Gesichtsbildung ist bleibend. Gesichtszüge sind im Gesicht das, was sich verändert, aber auch noch von den Mienen unterschieden. Die Gesichts­ bildung sieht man am besten im Profil. Das Profil ist die leichteste Art die Gesichtsbildung zu zeigen. Wenige Menschen wissen, wie sie en profi l aussehen, wenn man ihnen ihr Bild zeigt, und dies kommt daher weil sie nie Gelegenheit haben, ihr Bild von der Seite zu sehen, überhaupt ist doch noch dabei Zusammenhang nötig. Das männliche Geschlecht unterscheidet sich im Gesichte vorzüglich dadurch vom weiblichen, daß es flache, dieses aber kugelichte B ildung der Stirn hat. Es gibt Nationen deren Stirnen mit Haaren bewachsen sind. Überhaupt sollen kleine Stirnen, d. h. wenn die Haare tief hineingehen, Eingeschränktheil der Gemütsfähigkeiten anzeigen. Man hielt vor kurzem kleine Stirnen für schön, daher man die Haare überkämmte wie pony. Von den Menschen, die einen Hiebe! auf der Nase (nasum Rhinoce­ rotis) haben, behauptet man, sie wären Spötter. Große und weite Ohren bedeuten nach Lavater einen schwachen Menschen , einen Menschen ohne Festigkeit. Wenn aber das Knorplige mehr zusammen gezogen ist, sol l es Festigkeit anzeigen. Auch die Augenbrauen sollen Einfluß haben. Sie heißen eigentlich Augenbrämen und sind dazu, daß der Schweiß nicht in die Augen läuft. Es gibt einige Menschen, bei denen die Zähne des untern Kinn­ backens über die des obern hervorragen, aber nicht die angenehmste Ge­ sichtsbi ldung. Sie sind zwar auch bei uns anzutreffen, doch in Europa nur selten. Dagegen sol l dieses in China und der dortigen Gegend ganz all­ gemein sein. Baptista Porta hat die Menschen mit Tiergestalten verglichen. Ein stolzer Mensch hat solch eine Nase wie der Schnabel des Adlers oder Habichts. Der Mensch muß Karikatur sein, wenn er Ähnlichkeit mit den Tieren haben soll. Es kann Nationalbilder geben. Doch bleibt es immer schwer sie darzu­ stellen. So z. B. die alten Griechen und Römer sollen alle so etwas Charak­ teristisches gehabt haben, erstere nämlich, daß bei ihnen Stirn und Nase ohne Einbug in gerader Linie fortging, letztere, daß sie lauter krumme Nasen gehabt. Noch hat die italienische Nation etwas eigentl ich Charak­ teristisches. Anmerkung. Durch die S i lhouetten verlor die Kupferstecherkunst sehr viel. Es ist zwar etwas daran zu erkennen. Doch fehlt das Beste. Gesichtszüge können wir ansehen als in Spiel gesetzte Mienen. Miene ist eine Form des Gesichts, insofern sie in Bewegung gesetzt wird. Gesichts­ züge könnte man nennen fixierte Mienen. Dadurch daß man den Gesichts­ zug eines andern nachahmt, kann man bei sich die Empfindung oder den

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Reiz zu derselben bemerken und daraus könnte man schl ießen, was j ener bei dem Gesichtszug, den wir nachzuahmen suchen, empfunden haben mag. Dieses Mittel ist nicht zu verwerfen. Miene bedeutet in der ganzen Welt einerlei und der Mensch hat auf die Art durch die ganze Welt eine Sprache. Mienen können zur Sprache hinzukommen, um sie verständlicher zu machen. Zur Mitteilung gehört: 1 . die Artikulation der Laute oder die Kunst zu sprechen, 2. die Gestikulation, worunter auch Mienen verstanden werden, vorzüglich Gebärden. Die Kunst in Rücksicht der Mienen allein heißt Mimik. 3. Modulation, die Kunst, mit der gehörigen Manier, dem passenden Ausdruck und Tone zu sprechen. ( Accent von accinere, singen. ) Durch bloße Modulation hat man noch nie versucht sich verständlich zu machen. Man könnte aber auf folgende Art den Versuch machen. Es müßte eine Komödie in einer ganz fremden Sprache bei herabgelassenem Vorhange aufgeführt werden, so daß da man nicht die Sprache versteht und auch nicht gestikulieren sieht sich vermuten läßt, daß man dennoch aus der Modula­ tion der Stimme viel erraten würde. Die Züge des Gesichts sind zu merken, die etwas Charakteristisches haben. Es fragt sich, ob die Gesichtszüge vor den Mienen gehen oder um­ gekehrt. Züge werden die Teile des Gesichts genannt, die mit den Gemüts­ bewegungen in Harmonie stehen. Jeder Affekt ist mit einer Miene begleitet. Hat also ein Mensch gewisse Affekte, so macht er oft die damit verbun­ denen Mienen, woraus zuletzt stehende Gesichtszüge werden. Mädchen soll man mit Gelindigkeit erziehen, weil alsdann in ihrem Gesichte eine Munter­ keit und Fröhlichkeit bleiben wird. - Man kann einen Hang zur Nieder­ trächtigkeit im Gesichte bemerken. Als ein Vater seinen Sohn auf die Akademie reisen l ieß, sagte er ihm beim Abschiede: Junge, bring mir das Gesicht wieder, - eine herrl iche moralische Lehre. - Wahrscheinl icher­ weise würde ein solcher Mensch, der selbst sein Gesicht verdorben hat, es mit der Zeit wieder verbessern können, wenn er wieder nämlich ganz moralisch lebte. Al lgemein kann man es doch nicht sagen , wei l einige Menschen gewisse unvorteilhafte Züge schon in der Kindheit haben. Men­ schen, die speziell miteinander umgehen, nehmen gewisse Züge vonein­ ander an, z. B. Eheleute, die sich sehr lieben und gemeinhin heiratet der Mann ein Frauenzimmer, das er mit sich zum Teil ähnl ich findet. Das, womit ein Mensch sich beschäftigt, läßt einen gew issen Ausdrucke im Gesichte zurück. Z. E. Land leute haben einen Ausdruck, der eigen ist. Gewöhnl ich hat das Gesicht etwas Steifes an sich und das sowohl bei Männern als bei Frauen. Der Grund l iegt darin: sie genieren sich unter sich nicht im mindesten, sie finden gar nicht nötig eine Geschmeidigkeit anzu­ nehmen, und spannen daher nie die Muskeln des Gesichts. Dies geht bis auf den Verwalter und Amtmann zu. Die Menschen in Städten hingegen wer-

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den genötigt eine Stellung anzunehmen, um den andern Höfl ichkeit zu erzeigen. Die devote Gemütsverfassung, welche ein Mensch sich mit Fleiß aufdringt, zeigt sich gemeinhin in solchen Ländern, wo man ein Geschäft daraus macht, und drückt sich in den Gesichtern ab. Nicolai nennt sie ge­ benedeiete Gesichter. Die Abbildung der Heil igen hat immer etwas Absur­ des, wenn sie mit schmachtenden Augen vorgestellt werden, als wenn sie jemanden sehen. Die starken Beschäftigungen der Gedanken bringen auch Mienen hervor, die beharrlich sind. Wenn Könige, Fürsten gewisse Majestät haben, so kommt es daher, wei l sie keinen Widerstand finden. Ihnen wird die Maje­ stät habituell, bloß weil sie die hohe Würde bekleiden. Es gibt eine gewisse Gesichtsform, die habituell wird und ein Naturfehler ist. Dies ist das Schielen. Es kommt daher, weil das eine Auge, welches schwach ist, sich versteckt damit das andere desto besser sehen kann. Wenn ein Mensch schielt, wenn er spricht und sonst nicht, so ist es immer gelogen. Nun fragt sich überhaupt 1 . inwieweit kann man sich auf Physiognomik verlassen? 2. läßt sie sich als Wissenschaft behandeln? d. h. kann sie gelehrt und gelernt werden? 3. oder ist sie nur bloß ästhetisches Urteil? Nun kann man sagen, ganz ohne Grund ist Physiognomik nicht. Ein physiognomisches Urteil ist uns natürlich. Lavater führt sogar an, daß auch Pferde und Hunde Physio­ gnomie haben. Man legt sich aber nicht darauf, sie zu beobachten. Bei einem lebenden Wesen ist i mmer doch etwas in dem Auge, was seinen innern Zustand anzeigt. Hat der Mensch Züge welche mit den Mienen, die einen Affekt hervorbringen, ähnlich sind, so hat er auch Anlagen dazu. Manche Menschen haben ein glückl iches Gesicht. Jedermann traut ihnen gleich. Ein glückl iches Gesicht ist das beste Empfehlungsschreiben. Was kann man aus der Physiognomie sehen? Man glaubt Verstand, Witz, das Nachdenken, Gründlichkeit und auch die Dummheit zu bemerken. Eigent­ lich ist das Temperament zu sehen. Physiognomik kann nie Wissenschaft, aber Kunst werden. Die Charaktere zu malen, die Gemütsverfassung in dem Gesichte, in den Mienen zu zeigen , dazu gehört v iel Kunst und es wird kaum erreicht. Denn ein Maler kann wohl einen malen als zornig, fröhlich usw. , aber gewiß nicht so leicht einen, der zum Zorn geneigt ist. Eine Kunst kann die Physiognomik also werden. Nur Regel n können dabei nicht gegeben werden. Denn man kann nur das, was nicht gefällt wegstreichen. Ob es ratsam ist, physiognomische Urteile zu fällen? Eigentlich soll ein jeder i n seinen Busen sehen. Im al lgemeinen gehts wohl an, aber nicht speziel l. Denn ein jeder nimmts übel, wenn sein Gesicht bemerkt wird, und er nimmt wirklich alsdann eine andere Miene an und die Ausspähungssucht verfehlt also ihren Zweck, denn sie kann nicht die Menschen bemerken, wie sie wirklich sind. Gibts auch eine Nationalphysiognomie? Ja, wenn man v iele Kupferstiche von i hnen gesehen hat, so kann man leicht unter-

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scheiden, und vorzüglich den Franzosen. Hübsch aussehen hat zweierlei Bedeutung: 1. eine physiologische, 2. eine moralische. Z. B. die Marquise de Brinvillier, eine berüchtigte Giftmischerin, die Vater, Mutter, Brüder usw. vergiftet hatte, sah außerordentlich schön aus, aber nur physiologisch, nicht moralisch. Denn ein Benediktiner, der nie etwas von ihr gehört, sah in einer Bildergalerie unablässig auf dasselbe Bild (es war das Bild der genannten Marquise) . Als ihn nun seine Begleiter um den Grund seines Erstaunens befragten, gab er zur Antwort: Wenn je eine solche Person gelebt hätte, so müsse sie der Teufel gewesen sein, sie verriete im Ges ichte bei aller ihrer außerordentlichen Schönheit einen schwarzen Charakter. Bösewichter von Profession sind gewöhnlich knochichte Leute und haben im Gesicht einen Ausdruck von Stärke. Also sind solche, die sich ihrer Überlegenheit bewußt sind und eben nicht die besten Grundsätze haben, stets in großer Ver­ suchung. Wenn so einer ins Verhör gebracht wird, so antwortet er nicht leicht, sondern sieht i mmer den andern starr an oder verrät eine große Dummheit. Das Menschen, die Bösewichter waren, nach dem Tode gut­ mütig aussehen, kommt daher, weil ihre Muskeln nachl assen und sie also ein ganz anderes Gesicht bekommen.

[L] Vom Charakter der Person Der Charakter ist das Kennzeichen des Menschen als freihandelndes We­ sen. Es scheint widersprechend zu sein, ist es aber nicht. Ein freihandelndes Wesen muß so handeln, daß es immer Maximen zum Grunde hat, und sind diese Maximen beharrlich, so ist dies sein Charakter. Wir sind uns unserer Maximen nicht immer bewußt, handeln aber danach. Charakter ist das innere Prinzip aller Anlagen, wonach einer handelt und hat auf Tempera­ ment und alles Einfluß. Der Charakter ist nicht angeboren, sondern er ist Inbegriff der Grundsätze, die sich ein Mensch macht und wird also erworben. Daß aber ein Mensch nicht wie der andere ist, und einer solchen Charakter, der andere solchen hat, ist wider unser Wissen. D ie Wil lens­ bestimmung des freien Wesens, daß einer schlecht, der andere gut handle, geht nach einem Gang, den wir nicht erklären können. Ein Mensch kann ein unglückliches Temperament, aber einen guten Charakter haben. Der Cha­ rakter bezieht sich auf die Camplexion des Körpers und besteht im Eigen­ tümlichen der oberen Kräfte des menschlichen Gemüts. In jedem Menschen liegen zwar große Zurüstungen und Triebfedern zu allerhand Tätigkeiten, allein es l iegt auch noch ein anderes Prinzip in ihm, sich aller der Trieb­ federn und Fähigkeiten zu bedienen, Empfindungen aufzufordern und zu hemmen. Die Beschaffenheit dieser obern Kraft macht den Charakter aus. Es kommt also bei Bestimmung der menschlichen Charaktere nicht auf ihre

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Triebe, Begierden, Fähigkeiten und Talente a n , sondern bloß auf d i e Art, wie einer dieselben modifiziert und gebraucht. Wir fragen demnach, wie der Mensch seine Kräfte und Vermögen gebrauche, zu was für einem End­ zweck er sie zuwende. Um also den Charakter des Menschen bestimmen zu können, muß man die in seine Natur gelegten Zwecke kennen, und alle Endzwecke wissen, die seine sämtlichen Handlungen dirigieren. Alle Cha­ raktere sind moralisch. Denn die Moral ist eben die Wissenschaft von allen obern Zwecken, die durch die Natur des Willens festgesetzt werden, und welche den objektiven Gesetzen des Willens vorschweben und nach denen wir also unser Vermögen richten und anfangen. Der Charakter ist eine gewisse subjektive Regel des obern Begehrungsvermögens, die objektiven Regeln desselben enthält die Moral , und mithin macht das Eigentümliche des obern Begehrungsvermögens den menschl ichen Charakter aus. Jeder Wille aber oder das oberste Vermögen ist besonders geartet und hat seine subj ektiven Gesetze, welche eben den Charakter konstituieren. Die Charak­ tere sind schwer zu bestimmen. So betrachtet mancher Mensch alles aus dem Gesichtspunkt der Ehre. Ein anderer hat einen l iebreichen Charakter des ganzen obern Begehrungsvermögens, der aufs Wohltun hinaus läuft. Da oft viele Zwecke in der Natur des Menschen liegen, so ist sein Charakter oft sehr ungemein verwickelt. Alsdann muß man aber die Hauptzwecke ab­ sondern und daraus seinen Charakter bestimmen. In den Jugendjahren ist er noch nicht kennbar und selbst ein Mensch von 16 bis 17 Jahren kann seinen Charakter noch nicht kennen lernen, wei l sich vielleicht noch kein Fall ereignet hat, wo sich sein Charakter könnte sehen lassen. Dann aber bildet sich sein Charakter aus. Man sagt: der Mensch hat seinen Charakter ver­ bessert oder verschlimmert, allein es ist falsch; denn man kann zwar den Hang, den man zu etwas hat, m ildern und lenken, aber einen bessern Charakter kann man nicht bekommen. Wer einen bösen Charakter hat, wird niemals den entgegengesetzten erlangen, weil der wahre Keim fehlt, der zu dem Ende i n unsere Natur gelegt sein muß. Mancher hat ein unglücklich Temperament, aber einen guten Charakter. Man kann nicht sagen, er hat einen glücklichen Charakter. Denn der Charakter hängt n icht von der Ge­ burt, oder vom Zufall ab, sondern ledigl ich von uns selbst. Charakter ist was uns selbst zugehört. Der gute Charakter übertrifft alles, geht über alles. Er hat ein glücklich Temperament, ist viel gesagt, aber, er hat einen guten Charakter, ist alles gesagt. Denn das Temperament ist angeboren und nicht seine Sache. Talent bestimmt den Marktpreis. Ein solcher Mensch wird alsdann wie ein Werkzeug angesehen, das zu allem gebraucht werden kann, weil er Geschicklichkeit hat, auch zum Bösen. Wo nichts weiter als Talent ist, findet nur Brauchbarkeit statt. Geschicklichkeiten werden als Früchte des Talents angesehen. Temperament macht den Affektionspreis aus. Wenn er auch keinen Nutzen schafft, so mag man doch gerne mit ihm umgehen.

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Hier kommt es sehr auf Liebhaberei an. Bald wählt man einen von dem, bald vom andern Temperament. Charakter fixiert den Begriff, den man sich von einer Person macht. Darin besteht der ganze Wert und ein guter Charakter muß jedermann gefallen. Charakter ist der ganze Wert. Überall muß der Mensch irgendeinen Charakter haben und nicht nach Launen oder Anwandlungen, sondern nach Grundsätzen handeln. Dem Engländer kommt ein Mensch, der gar keinen Charakter hat, sondern nach Laune handelt, unerträglich vor. Er sagt wohl gar: aut B rutus aut Catilina. Aus dem Grunde ließ Choiseul einen Kopf, der Voltaire vorstellt, oben auf einen Wetterhahn setzen, damit er sich auch hier stets nach dem Winde richten könnte. Das Kapital also ist Charakter. Der Mensch muß 1. überhaupt einen Willen (und nicht Laune) haben, 2. einen eigenen Willen (aber nicht Eigen­ sinn) , d. h. auf Grundsätzen gebauten, den hat der Lügner nicht, 3. einen eigenen und beständigen Willen. Diese drei Stücke machen den bestimmten Charakter des Menschen aus. Mit Unrecht nennt man diejenigen, die nur einen bestimmten Charakter haben, eigensinnig. Vom wirklichen Eigensinn hat man viele desperate Beispiele, vorzügl ich unter den Engländern, z. E. Ledyard. Der Lügner hat gar keinen Charakter, denn Lügen erfordert Ver­ änderlichkeit. Es nimmt keine Grundsätze an. Also muß der Lügner nach Umständen lügen. Wahrhaftigkeit ist die erste Grundlage zum Charakter. Dazu gehört ferner Beharrl ichkeit und ))nichts aufschieben«. Freiheit und Festigkeit des Vorsatzes determiniert alles beim Menschen. Das Aufschie­ ben der Besserung und Geschäfte ist eine innere Lüge, indem der Mensch sich vornimmt, es doch nicht zu tun. Daher ist es eine gute Regel beim Briefschreiben, daß man nicht eher den Brief aufbricht, als bis man sich mit der Feder in der Hand hingesetzt hat, damit man ihn sogleich beantworte. Es ist sehr gut, wenn man sich selbst als einen solchen kennt, der unver­ brüchlich Wort hält. Man kann dann versichert sein, daß man den einmal fest gefaßten Vorsatz auch in Ausübung bringen wird. Des Gemüts und Herzens wegen l ieben wir den Menschen, seiner Talente wegen schätzen wir ihn, aber seines Charakters wegen verehren wir ihn. Gutartig ist der Mensch wegen seines Temperaments, gut wegen seines Charakters. Gut­ artigkeit des Temperaments gleicht einem Gemälde mit Wasserfarben. Güte des Charakters einem mit Ölfarben. Ein steifer Sinn ist ein Analogon des Charakters. Er sieht so aus wie Charakter, ist es aber nicht und gehört also eigentlich nicht zum Charakter. Man fand ihn bei Karl XII. Von ihm muß man ja nicht glauben, daß er ein Sonderl ing war oder affektierte. Der, welcher nachäfft, zeigt einen gänzlichen Mangel des Charakters. Der steife Sinn hat Ähnlichkeit mit dem festen Charakter. Sulla hatte einen Charakter der böse war. Aber man bewundert doch die Größe seiner Maximen, als er resignierte. Denn auch bei einem bösen Charakter bewundert man die Größe und Standhaftigkeit der Maximen, obgleich der Mensch selbst nicht

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hochzuachten ist. So auch Cato v o n Utica. Erst durch Maximen bekommt das Gemüt Festigkeit. Der Schade, welcher entspringt, wenn wir unsern Vorsatz nicht ausüben, ist groß und der Festigkeit unseres Charakters schäd­ lich. Man muß lieber sich selbst nichts vornehmen , wenn man voraussieht, daß man es nicht halten kann. Vom guten Charakter. Was den guten Charakter betrifft, so können nur Züge angebracht werden. Die Bedingungen solches Charakters sind immer negativ. Der gute Charakter bedeutet das Minimum, was man vom Men­ schen annehmen kann, d. h. er soll aus Grundsatz gut sein. In der Tat ist ein guter Charakter das Minimum der Menschheit. Das erste Merkmal ist: die Wahrheit zu reden. Er darf nicht alle Wahrheit reden. Denn d ies wäre nicht immer ratsam. Aber alles, was er redet, muß wahr sein. Alle Lügenhaftigkeit setzt den Menschen herab. Kann man dabei versteckt sein, dissimul ieren? Es gehört freilich zur Befugnis eines Men­ schen und man muß sich oft verhehlen. Das gehört zum Ruhm eines jeden, wenn er sich nicht unvorsichtig offenbart, wenn er Dinge verhehlt, die er aus besondern Verbindungen nicht eben sagen darf, indem er andern da­ durch sehr schädlich werden könnte. Verstellung bleibt eben darum in jedem andern Fall schädlich. Das zweite Merkmal ist: im Versprechen Wort zu halten. Dies ist die Treue, welche im gemeinen Wesen für sehr wichtig angesehen und aner­ kannt wird. Menschen von Charakter versprechen nicht leicht, wei l sie immer halten und daher zuvor alle Beschwerden bedenken und genau prüfen. Bei den Orientalen ist keine Tugend seltener als die Wahrhaftigkeit. Man kann gerecht sein nicht al lein im Versprechen, sondern auch in der Äußerung aufrichtiger Meinungen. Man muß nicht allein im Versprechen, sondern auch in der Äußerung von aufrichtigen Meinungen Wort halten, und nicht das, was man einmal öffentlich bekannt hat, widerrufen. Das dritte Merkmal ist: man muß es dahin bringen, daß man selbst seine Meinung nicht widerrufen darf. D as vierte Merkmal ist: nicht zu affektieren. Sobald einer affektiert, so weiß man schon, er macht nicht seine Rolle, sondern agiert i m buchstäb­ l ichen Sinne die Rolle eines andern. Affektation ist immer eine Art von Falschheit. Ein Mensch, der etwas Plumpes, Ungeschicktes hat, verliert lange nicht so viel, als der, welcher affektiert. Einer tuts z. B. im Lieblich­ sein, in süßen Manieren, er w i l l lauter Gutherzigkeit sein und dann besitzt er sie gewiß am wenigsten. Auch Autoren affektieren in der Schreibart. Die Reden in der französischen Nationalversammlung sind voll Affektation. Sie fangen immer von D ingen an, die gar nicht zur Sache gehören. Sie wol len große Belesenheit verraten. Das fünfte Merkmal ist nicht nachzuäffen, wie z. B. manche Kandidaten. Das sechste Merkmal ist edle Simplizität. Ein Zug von gutem Charakter

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ist immer Einfalt, die dem Geziere entgegengesetzt ist. Je mehr Simplizität, desto edler ist er. Überdies hängen die Verzierungen von dem so veränder­ lichen Geschmack ab. Simplizität ist nichts weiter als die Abgemessenheit zum Zwecke, wenn der Mensch nicht mehr sagt als nötig ist. Die Quäker gehen ganz außerordentlich auf Simplizität. Doch ist bei ihnen der sonder­ bare Widerspruch einer affektierten Simplizität. Sie sagen »Du« auf jeden und nehmen für keinen den Hut ab , wollen nie Krieg führen, auch nichts dazu geben. Sie beweisen viel Festigkeit im Charakter. S ie haben den Ruf der Zuverlässigkeit. Das siebente Merkmal ist: nicht ausplaudern. Wer immer ausplaudert, ist ein Mensch von keinem Charakter. Er kommt i mmer in den Fall zu lügen. In einer Gesellschaft muß Freiheit der Mitteilung der Gedanken sein. Wenn dieses nicht stattfindet (welches der Fall bei den holländischen Gesell­ schaften sein soll) , so ist sie unangenehm. Ein Mensch, der i mmer alles herumträgt, der erzählt, es habe jemand dies und jenes Übles von ihm gesprochen, verdient die größte Strafe, denn er erregt beim andern einen innern Widerwillen gegen jenen. Durch das Ausplaudern ist der Bund jeder Gesellschaft zerrissen. Der D iskrete muß unterscheiden, was er andern erzählen und was er in sich selbst verschließen muß. Der Mensch geht nur in Gesellschaft, um sich mitzuteilen und nicht einander anzusehen. Ein Mensch, der sich zurückhalten muß, ist nicht i n Gesellschaft, sondern für sich allein, denn er kann nicht alles sprechen, was er will. Daher ist ein Freund, dem man sein Herz ausschütten kann, überaus schätzbar. Hume sagt: der ist ein böser Gesel lschafter, der nicht vergißt Denn eine Torheit muß vergessen werden, um der andern Platz zu machen. Das achte Merkmal ist Freundschaft. Sie muß, wenn sie gleich schon sollte erloschen sein, dennoch respektiert werden, und man muß keinen Haß blicken lassen. Im Zerreißen der Freundschaft steckt immer etwas Nieder­ trächtiges, weil ihr Begriff so sehr viel Edles mit sich führt. Der mit dem ich Freundschaft mache, muß nie mein Feind werden können. Das neunte Merkmal ist Ehrliebe. Sie gehört ganz notwendig zum guten Charakter. S ie strebt nicht wie die Ehrbegierde darnach, von allen gekannt zu sein, sondern hütet sich nur wenn man von andern gekannt wird, durch seine Handlungen ihre Verachtung zu verdienen. Ehrliebe ist die unzer­ trennl iche Begleiterin der Tugend. Sie ist die höchste weibliche Tugend. Bei Männern kann sich die Idee ihres Wohlverhaltens bloß auf ihre Pflich­ ten gründen. Das zehnte Merkmal ist: es muß kein Kriechen vor Mächtigen und Vor­ nehmen stattfinden. Es verträgt sich nicht mit dem guten Charakter. Denn dieser ist in seinem Werden, der andere bleibts. Das elfte Merkmal ist: kein Mensch muß ein Abzeichen haben, d. h. man muß keinen Wert i n Titel, Orden usw. setzen, oder durch absurde Mienen

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und Gebärden sich von andern unterscheiden. - Oder wenn er manchmal den Hut aufs eine setzt pp. Kein Titel verändert seine Person. Mit seines­ gleichen soll man umgehen. Wer mit Narren umgeht wird selbst dafür erkannt, und ist auch ein Narr. Noscitur ex socio qui non cognoscitur ex se (gekannt wird aus dem Genossen, wer nicht aus sich erkannt wird) . Das zwölfte Merkmal. Man muß sich nicht an die Reden anderer kehren, wenn man erst seiner Grundsätze gewiß ist. Es ist auch dem Charakter gar nicht gemäß, in Grundsätzen zu schwanken. Ein Mensch, der immer fragt: was werden die Leute davon sagen, oder: tun das auch andere, was ich tue? hat keinen bestimmten Charakter. Man muß sich insofern an das Urteil anderer kehren, daß man i hnen kein Skandal gibt, und nicht nach i hren Einfällen. Das dreizehnte Merkmal. Man muß in Empfindungen nicht süß und schmelzend sein. Durch diese Eigenschaft verraten sich eigenliebige Men­ schen. - Die Religion des Kultus ist a) Religion des Aberglaubens, b) Religion der Schwärmerei, al les zu tun aus Liebe zu Gott. (Der Mensch kann sich keine Vorstellungen von der Stärke einer Triebfeder machen, als wenn sie große Hindernisse hat überwinden können.) - Die eigentl iche moral ische Religion ist auf die Idee der Pfl icht und nicht ursprünglich auf die der Liebe gebaut. Denn Gott l ieben heißt nichts anderes , als willfährig seine Gebote halten, dem göttlichen Willen gemäß seine Pflicht tun. Also besteht die Religion nicht allein in der Liebe Gottes, sondern vielmehr in der Furcht Gottes, aber auch nicht in der Furcht vor Gott. Anmerkung. Es wird erzählt, daß man einst eine Frau mit einer Schaufel voll Kohlen und einem Eimer Wasser angetroffen , und als man sie um die Ursache ihres Aufzugs befragt, soll sie geantwortet haben: Ich gehe das Paradies zu verbrennen und die Hölle auszulöschen, damit man Gott nicht mehr aus Lohnsucht oder aus Furcht vor Strafe diene. Das vierzehnte Merkmal. Aus der Rel igion des Menschen kann man mit Gewißheit erkennen, ob er Charakter habe oder nicht. Das fünfzehnte Merkmal. Verschiedene Geschäfte des Menschen haben Einfluß auf ihn selbst und verhindern oft den Charakter. Z. B. Poeten, Komö­ d ianten müssen sich in einen andern Charakter finden können. Sie haben selbst selten einen bestimmten Charakter. Auch mit Musicis ist es größten­ teils so. Von spekulativen Gelehrten pflegt man anzunehmen, daß sie einen guten Charakter, wenigstens keinen bösen haben. Hume sagt: er ist immer ehrlich. Es sollte sagen: red l ich. Denn er könnte das erste aus Dummheit sein. D as sechzehnte Merkmal. Offenheit der Denkungsart gehört auch zum guten Charakter. Der gute Charakter wird erworben. Der böse Charakter wird zugezogen wie eine Krankheit. Ein j eder Mensch muß sich in der Folge durch eigenes Nachdenken immer selbst noch einmal erziehen. Dies

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geschieht durch öftere Selbstprüfung unserer Handlungen. Gewöhnlich sind die Menschen bei dem besten Willen ihrer Erzieher doch verkehrt erzogen. Aus Grundsätzen ehrlich sein heißt redlich sein. Bei Erziehung des männ­ lichen und weiblichen Geschlechts ist die Methode verschieden. Bei dem ersten muß man stets auf Ehre, bei dem letzten auf Grundsätze sehen. Nie müssen Eltern es leiden, daß sich ihre Kinder zu Delateurs von den Hand­ lungen anderer gebrauchen lassen, denn das zeugt von Bösartigkeit des Charakters. Wann erwirbt man den Charakter? Selten vor dem 40sten Jahre, weil der Mensch alsdann schon vielerlei Situationen des Lebens durchgegangen ist und jetzt einen Überschlag davon machen kann. Erst jetzt wird er sich von sehr vielen Dingen einen richtigen Begriff bilden können. Es gibt Menschen, die eine zwiefache Gestalt in ihrem Charakter haben, nämlich einen publiquen und einen Privatcharakter. So war Mirabeau ein Mann, der im ersten viel Gewissenhaftigkeit bewies, im letzteren aber nichts weniger als das tat. Jeder Mensch ist Patriot aus Eitelkeit. Es aus Grundsätzen zu sein ist Pflicht.

[IL] Vom Charakter des Geschlechts Man glaubte, es käme nur auf Erziehung an, so könnte man bei der großen Gleichheit, die die Natur in unsere beiden Gesch lechter gelegt, es auch dahin bringen, daß ihre Denkungsart von gleicher Beschaffenheit würde. Viele glauben, es wäre kein Unterschied in Ansehung des Charakters zwi­ schen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht. Aber obgleich es scheint, als wenn die Natur sie gleich gemacht, so gibts doch große Unter­ schiede. Das weibliche Geschlecht nennt man allgemein »Frauenzimmer«. Das Wort »Weib« scheint ganz abgekommen zu sein. Wie unterscheidet sich Frau vom Weibe? Frau gegen Weib ist so wie Herr gegen Nicht-Herr. Frau ist Herrin. Ich müßte alsdann auch sagen »Bauerherr« wie »Bauer­ frau«. In Ansehung der Titelsucht findet sich viel Absurdes in Europa. So ist man im Gebrauch der hier vorkommenden Wörter sehr peinlich. Man ist immer verlegen, ob man Sie, Ihr, Er sagen soll usw. Die Griechen hatten eine yuvaLxoovLn o (Zimmer für Frauen) im Innern des Hauses, wohin kein Fremder kommen durfte, und die Männer aßen auch bei Tische allein. In England ist beinahe noch eine ähnl iche Gewohnheit. Denn die Frauen­ zimmer entfernen sich g leich nach Tische, und alsdann fangen erst die Männer an zu trinken und recht lustig zu sein. Vermutlich ist diese Gewohn­ heit zuerst durch die Franzosen abgeschafft worden. Die ersten Deutschen ließen Komplimente an das Frauen-Zimmer machen und hernach nahm man die Personen dafür und endlich zuletzt wurde auch eine »Frauenzim-

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mer« genannt. E s ist überhaupt absurd und läuft ins Schale hinaus, und es käme nur auf die Hardiesse einiger bel iebter Autoren an, dies Wort zu verwerfen, und dem Worte »Weib« die Achtung, welche es verdient, wieder zu verschaffen. So gibt es noch mehr Wörter: Jungher, Junker und Frau Jungfrau, i mmer das Diminutivum. Die Franzosen sind bei ihrem Demoiselle geblieben.

Der Charakter des weiblichen Geschlechts Vorl äufig und allgemein genommen fragt s ich nun: Welches Geschlecht sol l man studieren? Man kann sagen: das weibliche. Denn bei dem weib­ l ichen Geschlecht unter den Menschen, welches die größte Schwäche bei sich führt, i n dessen Organisation die wenigste Dauerhaftigkeit und d ie m indeste Stärke ist, kann man s icher die mehreste Kunst voraussetzen, so wie bei kleinen Maschinen, welche mit wenig Kraft eine Wirkung hervor­ bringen, nicht die Dauerhaftigkeit der großen, jedoch aber mehr Kunst angetroffen wird. Überhaupt kann man bei der schwächsten Organisation immer die meiste Kunst voraussetzen. Der Mann hat mehr Kraft und daher mehr Simplizität, aber nicht so viel Kunst. Daraus folgt, daß man das weibliche Geschlecht studieren müsse und vorzügl ich darum, weil das Weib noch obendrein die Kunst hat, seine Kunstanlagen zu verbergen. Das Wort »Mensch« bezeichnet das Genus, »Mann« und »Weib« aber d ie Species. Im Englischen und Französischen ist es nicht so. Da bezeichnet ein Wort die Begriffe von Mann und Mensch. Der Mann ist für die Natur, das Weib für den Mann gemacht, d. h. der Mann ist zu herrschen, das Weib zu regieren gemacht oder den Mann zu i hren Zwecken zu gebrauchen. D ie Natur zu seinem Zweck zu gebrauchen, dazu gehört nicht viel Kunst. Da es aber weit künstlicher ist, kleine Maschinen so einzurichten, daß sie große in Bewegung setzen, als wenn große kleine in Bewegung bringen sollen, so muß auch der natürliche Charakter eines Weibes, das den Mann bewegen soll , eine angelegte Kunst sein. Daraus sieht man schon, daß in dem natür­ lichen Charakter eines Weibes viel List l iegt. Es ist bestimmt, den Mann zu reg ieren, und es muß also auch künstlich eingerichtet sein. Mithin besitzt das weibliche Geschlecht mehr Kunst, die den übrigen Mangel ersetzt. Dies sind die allgemeinen Betrachtungen, die uns zu dem Beweise vorbereiten, daß vom weiblichen Geschlecht alles durch die Kunst und unter einem gewissen Schein ausgerichtet werden müsse. Grundsätze. Alles, was in der Natur l iegt, ist gut, i ndem es seinen gehö­ rigen Zweck hat. Auch haben wir keinen andern Maßstab fürs Gute und Böse, als die Natur selber. Wie entdecken wir nun die Naturanlagen? Alles zusammengenommen, was das Weib vom Manne unterscheidet, nennt man

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die Weibl ichkeit. D ies ist eine besondere Anlage. Denn wenn man die Weiblichkeit wegnimmt, so ist Männlichkeit da. Männlichkeit ist aber nicht eine besondere, sondern - die menschliche Anlage. Wir müssen daher das Subjekt so betrachten, wenn es von der Kunst entfernt ist. Wir dürfen aber nicht darum das weibl iche Geschlecht unter den Wilden studieren. Denn wir suchen nicht auf die Roheit an ihnen, sondern die Kunst, und diese finden wir ja nur im Zustande der Kultur und des Luxus, wo das weibliche Geschlecht erst Gelegenheit findet, seine Anlagen zu entwickeln. Also wer­ den wir die Natur des Weibes am besten im Zustande des Luxus erkennen lernen. Dampier, einer der geschicktesten Reisenden, welcher dreimal eine Tour um den ganzen Globum gemacht, merket auch an, daß bei allen rohen, unkultivierten Völkern der Mann sich bloß mit den Waffen beschäftige, den Zug anführe, das Weib aber, welches das Geräte hinterher trage, nur als Haustier betrachtet werde. Ganz im Gegenteil aber fingen die Weiber im Stande der Kultur an, ein Obergewicht über die Männer zu bekommen. Nur durch Ku ltur können wir oft die Mannigfaltigkeit der Natur kennen. Die Kunst macht die Keime, die die Natur in die Dinge gelegt hat, erst sichtbar. Die Eigentümlichkeiten dieses. Geschlechts nennen wir Weibl ichkeilen und alle insgesamt heißen Schwächen, welches sie doch nur im Verhältnis gegen die Männlichkeit sind, weil wir die Männlichkeit als Menschlichkeit oder Stärke betrachten, aber mit besonderer Kunst verbunden. Allein durch diese Schwächen des Weibes kann die Natur ihre Zwecke mit demselben erreichen. Diese beruhen nämlich auf Erhaltung der Species, deswegen sie ihr liebstes Kleinod , das Kind, dem Schoße des Weibes anvertraute. Um dasselbe, nun sorgfältig zu erhalten, pflanzte sie Furcht in das Weib, und je mehr Schwäche dieses zeigt, desto mehr kann es auf den Mann w irken, welcher dann aus Großmut Schonung mit ihr hat. Furcht ist auch eine Schwäche, die den Weibern sehr gut ansteht. Daher affektieren sie sehr oft eine solche Schwäche, z. B. in öfteren Ohnmachten. D as hat eine große Wirkung auf den Mann. Je mehr sie sich stark erweisen, desto weniger Ein­ fluß haben sie auf den Mann. Sie können ihn alsdann nicht zu ihren Zwecken gebrauchen. Die Schwäche gehört also mit zu den Kunstanlagen, durch welche sie über den Mann herrschen. In der männlichen Seele liegt gleichsam ein Beruf der Natur, das Weib zu schützen. Der Mann hat An­ lagen zu Großmut und Beihilfe gegen das schwache Weib. Es ist sozusagen dem D iplom der Menschheit zuwider, das Weib mit harten Worten, viel­ weniger mit Schlägen anzugreifen, und es wird daher einem Manne unmög­ lich mit dem weiblichen Geschlechte rauh zu verfahren. Dies ist besonders bei verfeinerten Personen, wo überhaupt die Fähigkeiten am meisten ent­ wickelt sind, am besten zu bemerken. So scheint Großmut mit der Stärke verbunden zu sein. Die affektierte Schwäche fordert die Großmut der Männer auf. Solches sehen wir z. B. vor allem, wenn Mann und Frau an ein

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Wasser kommen, welches sie notwendig durchwaten müssen. Wenn auch hier der Mann ebenso dünne Schuhe und Strümpfe angezogen hat, als d ie Frau , so hilft es ihm doch nichts. Er muß die Frau auf die Arme nehmen und durchtragen. Daß der Mann d iese Beschwerde über sich zu nehmen verbunden sei, weiß das Frauenzimmer so gewiß, daß bei ihm, dem Manne eine Beschwerde verursachen, nur soviel heißt, wie ihm Gelegenheit geben, seinem , ihm von der Natur aufgelegten Amte genug zu tun. Überhaupt scheint es eine Gewogenheit gegen die Mannsperson zu sein, wenn ihnen das Frauenzimmer was aufträgt. Die äußern Dinge sind dem Manne wegen seiner Stärke unterworfen, dahingegen die Frau gemacht ist, ihn zu diri­ gieren (das kann sie nur durch die Neigungen des Mannes) , aber nicht ihn zu beherrschen. Denn die Sachen gehören alle zum Departement des Man­ nes, die Frau kann ihm hierbei nur raten und gewöhnlich wird er auch ihrem guten Rate gemäß handeln. Wenn also eine Sache im Hause fehlt, so muß der Mann für die Herbeischaffung derselben sorgen, al lein er muß doch hierin die Frau um Rat fragen und ihrem Wil len gemäß handeln. Die Frau besitzt also einen großen, oft den größten Tei l der Macht und mit v iel Bequemlichkeit. Ein bewunderungswürdiges Kunststück der Natur bemerken wir an der Einrichtung, daß sie den Mann physikal isch stärker als das Weib gebi ldet, ihn aber praktisch schwächer gemacht hat in Ansehung der Neigungen. Denn es ist gewiß, daß die Neigungen der Männer gegen die Wei ber die gegenseitigen weit übertreffen, und dies ist es eben, was die Männer schwach macht. Wir finden es sehr unanständig, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, oder ihr auch nur eine gewiße Beschwerlichkeit auflegt. Aus dieser Neigung, die das Weib immer auf eine besondere Art unterhält, ent­ springt das blinde Zutrauen des Mannes gegen das Weib und die Leicht­ gläubigkeit in Ansehung dessen, was ihm das Weib sagt. Der Mann aber bezeigt darin eine besondere Schwäche, daß er seiner Frau alle Geheim­ nisse entdeckt. Ja die Frau glaubt, daß es eine Schuldigkeit des Mannes sei , ihr alles geradezu zu glauben. Pope erzählt von Januarius und Maja, daß als ersterer d iese im Ehebruch ertappte, sie gesagt haben soll: »Ach, Verräter, Du liebst mich nicht mehr, denn Du glaubst mehr dem, was Du siehst, als dem, was ich Dir sage«. Die Natur wollte die vollkommenste Einheit beider Geschlechter be­ wirken, zwischen ihnen die innigste Verbindung errichten, welche nicht auf Willkür, sondern auf Bedürfnissen beruhte, die durchaus immer nur von dem andern erfüllt werden könnten. Es gehört also zur Vereinigung zweier Personen von verschiedenem Geschlecht nicht nur Einstimmung, Einerlei­ heit, Ähnl ichkeit, Gleichheit - denn wenn dies wäre, so könnte zwar eine Person an der andern einen Gefal len haben, sie könnten aber doch einander entbehren - sondern es wird auch eine Unentbehrlichkeit bei dieser Ver-

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einigung erfordert. Denn ein Geschlecht kann sich unter sich nicht be­ friedigen. Sie können sich aber nur unentbehrl ich sein, wenn der einen Person dasj enige fehlt, was die andere besitzt, so daß einer wechselseitig die Bedürfni sse des andern ersetzen kann. D iese wechselseitigen Bedürf­ nisse machen die größte Eintracht und die dauerhafteste Verbindung, welche nicht stattfinden würde, wenn die Natur nicht für diese Unentbehr­ l ichkeit beider Geschlechter gesorgt hätte, indem sie dem weiblichen Geschlechte versagt, was sie dem männlichen gegeben hat und so umge­ kehrt. Ein Mann kann mit einem andern Mann immer die Verbi ndung eingehen, er wird aber doch immer das Geschlechtsbedürfnis fühlen. Alle andern Bedürfnisse können wir befriedigen ohne Wechsel, nur nicht das Geschlechtsbedürfnis. D iese Verbindung muß ganz innigst sein, aber auch moralisch und dauerhaft, weil nicht allein ihre Art erzeugt, sondern auch erhalten werden sol l. Die Geschichte von den Amazonen hat gar keinen Grund. Anmerkung. Wenn die Männer die Weiber kritisieren - es muß aber nicht bloß Scherz sein - so hören die Weiber diese Satiren über ihre Schwäche sehr gern. Denn dies ist eben der Faden, womit sie sich hernach verwickeln, und sie selbst unter sich glauben ein Recht zu haben, über ihre Schwächen zu spotten. Der Mann ist hier einer Fliege nicht unähnlich, deren Erlösung, wenn sie einmal ins Gewebe kommt und noch soviel flattert, dennoch verwickelt ist. Die Weiber ziert die Männl ichkeit ebenso­ wenig, als die Männer die Weiblichkeit. Schreck und Furchtsamkeit steht dem weiblichen Geschlecht oft gut an, den Männern nie. Das Weib hat besondre Furcht vor körperlichen Verletzungen. Diese scheint ihm die Natur deswegen eingepflanzt zu haben, damit die Frucht nicht Schaden leidet. Das zeigt sich vorzüglich i n Prügeleien. Denn Weiber ziehen dabei alle sehr die Köpfe zurück.

Gegeneinandersetzung des Mannes und des Weibes Der Mann ist gegen das Weib schwach, weil er leicht zu erforschen ist, und das Weib dagegen die Kunst sehr wohl versteht, eigene Geheimnisse bei sich zu behalten, aber auch nur eigne, fremde nicht so leicht. - (Misogyn heißt Weiberfeind. - Bei der Gegeneinanderhaltung sehn wir, daß kein Geschlecht Ursache hat sich vor dem andern besonders zu rühmen.) - Der Mann ist leicht zu bereden. Die Frau, die sich einmal einen Plan gemacht und etwas in den Kopf gesetzt hat, ist gar nicht davon abzubringen und dann muß der Mann, welcher meistenteils den Hausfrieden erhalten w i l l , nachgeben. Dies i s t bei den Weibern nicht s o der Fall. Denn s i e lieben wohl gar bisweilen den Hauskrieg als eine Art von Motion. Sie befinden sich nach einem solchen Hauskrieg recht wohl. Der Mann, der im öffentlichen

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Stande ungesellig, hart ist, pflegt gemeinhin ein verträglicher Ehemann zu sein. Noch ein Mittel zur Schwächung des Mannes sind die Tränen, welche dem Frauenzimmer stets zu Gebote stehen und mächtig wirken. Frauen werden nicht sobald rot und die unschuldvollen Mienen, die sie anzu­ nehmen wissen, nebst den passenden Exklamationen bei ihrer Verteidigung, alles vereinigt sich in ihnen, den Mann zu unterwerfen, ihn zu entwaffnen und seine Großmut zu exzitieren. Die Natur hat ihnen ferner zu ihrer Verteidigung auch eine besondere Beredsamkeit ( besser: Redseligkeit) gegeben, die eine eigene Anmut hat und die eine weise und vortreffliche Anlage ist. Denn dadurch erheitern sie den Mann, und selbst die Kinder würden nicht so geschwind sprechen lernen, wenn sie nicht von Weibern erzogen würden, wenn nicht die Mutter oder die Amme immer mit ihnen tändelte und nicht müde würde ihnen vom Morgen bis zum Abend vorzu­ plaudern. Wenn sie auch nichts verstehen, so ahmen sie doch nach, welches sie beim Vater, der mit der Pfeife Tabak sich die Zeit vertreibt, nicht lernen würden. ( Anmerkung. Ein Autor sagte bei dieser Gelegenheit, daß auch Christus nach seiner Auferstehung zuerst den Weibern erschienen wäre, damit die Nachricht desto schneller unter die Leute käme. ) Frauen haben eine besondere Fertigkeit sich von allen Dingen eine leichte superfizielle Kenntnis zu verschaffen und darüber zu reden, wenn sie es auch nur halb wissen. Sie verteidigen sich mit vieler Lebhaftigkeit und ihre Beredsamkeit dient ihnen nicht bloß die Männer zu zerstreuen, sondern sie verschafft ihnen auch wirkliche Vorteile. Wenn z. B. ein Handwerker aufs Rathaus gehen soll , um die streitige Sache mit einem Nachbar abzumachen oder etwas mit einem Vornehmen zu tun hat oder ein großes Gezänk befürchtet, so schickt er seine Frau, weil er mit der Sprache nicht so gut fortkommt. Denn im Disputieren, wo es auf Gezänk ankommt, übertrifft wohl nichts das weibliche Geschlecht. Wenn Frauen auch über Kleinigkeiten einige Stunden gesprochen haben, so glauben sie doch noch nicht al les gesagt zu haben. Denn sie plaudern überaus viel. Die Geschwätzigkeit dient ihnen also zu einem doppelten Endzweck, um sich gut verteidigen zu können und um den Mann von seinen ernsthaften Geschäften ausruhen zu lassen. In Ansehung der Neigungen ist das weibliche Geschlecht nicht so schwach als das männliche. Denn die weibliche Neigung ist allgemeiner und gegen einzelne Männer indifferenter und hängt sich nicht so leicht an eine einzige Person. Bei Männern ist ' s umgekehrt. Ihre Neigung hängt sich an einen einzigen Gegenstand, wenn sie darauf verfallen. Und hierin ist das Weib stärker und der Mann schwächer. Die Natur mußte das Weib auch hierin stärker machen. Denn sonst wäre es, da es physisch schwächer ist als der Mann, eine völlige Sklavin desselben geworden. Das Frauenzimmer ist in der Wahl und Beurteilung der Männer nicht so fein, als diese in der Wahl der Weiber ( d. h. im ganzen) . Es hat hierin einen etwas derben Geschmack,

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und es kann den einen Mann leicht vergessen, den andern l ieben, dahin­ gegen Männer, besonders i n der Jugend, ehe sie zu reifer Überlegung kommen, wohl oft ihr ganzes Vermögen aufopfern, um bloß einer Person, die ihnen gefällt, habhaft zu werden. Die Ursache ist vielleicht diese, weil die Männer nicht so schön gebaut sind als die Frauenzimmer, wenigstens fehlen ihnen die feinen Gesichtszüge, die man bei den Frauenzimmern bemerkt. Die Natur mußte daher den Frauenzimmern einen derben und minder zarten Geschmack in der Wahl der Männer geben. Denn da alle Männer nicht recht schön sind, würden die Frauenzimmer so leicht keinen l ieben können. Hingegen mußte die Natur den Männern hierin einen ver­ fei nerten Geschmack geben, damit sie nicht umsonst die fei nen Gesichts­ züge am Frauenzimmer verschwendet hätte. Dieses ist daher auch nicht bestimmt, Männer zu erwählen, sondern sich wählen zu lassen. Und eben deshalb muß auch die Neigung desselben al lgemein und nicht auf einen Mann geheftet sein. Weiber stellen sich gemeinigl ich so, als ob sie nur deshalb den Mann nehmen, weil er sie durchaus haben will, und es schon nicht anders sein kann, und nehmen die Miene an, als ob s ie die Männer und ihre Caressen (Liebkosungen) höchstens nur dulden könnten. Äußerten sie eine starke Neigung gegen eine Mannsperson, so würden sie sich schwach machen. Denn jeder, der einer Neigung nachhängt, wird schwach. Mit v ieler Weisheit hat daher die Natur ihnen die Stärke mitgeteilt, gleich­ gültige Mienen anzunehmen, ob sie gleich oft vor Begierde brennen, einen Mann zu heiraten. Überdies geschieht es oft, daß ein Frauenzimmer den Mann, den es sich wünscht, nicht bekommt. Wäre nun sein Geschmack nicht indifferent, so wäre es unglücklich, und daher hat die Natur ihm eine allgemeine Neigung gegeben, die sich aufs ganze Männergeschlecht be­ zieht. In regula kann das Weib alle Männer dulden, wenn sie auch excessiv häßlich sind. Das Frauenzimmer sol l auch, wenn es gleich verheiratet ist, nicht aufhören zu gefallen, und deshalb läßt i hnen die Natur die reizenden Gesichtszüge noch i m Ehestande. Man kann es den Frauenzimmern nicht übelnehmen, wenn sie etwas kokett sind, wenn es nur nicht die Grenzen der Bescheidenheit überschreitet. Denn sie sollen kontinuierlich gefallen, weil es leicht geschehen kann , daß ihnen der Mann stirbt und sie keine Quelle des Unterhalts mehr haben und also eines Beschützers bedürfen. Auch bemerkt man, daß ein Frauenzimmer sich nicht sehr über den Verlust des Mannes härmt, sondern bald einem andern zu gefal len sucht. Aus diesem allem leuchtet die weise Sorge der Natur für die Erhaltung der Art hervor. Es ist aber diese philosophische Betrachtung über den Geschlechter­ charakter sowohl in Ansehung unserer künftigen Führung als auch bei Erziehung der Kinder nützlich. Hume führt in einer seiner philosophischen Untersuchungen an, daß j edes Frauenzimmer, ja auch die älteste Jungfer, alle Satiren und höfl ichen Spott über ihr Geschlecht verzeihen kann, nur

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nicht über den Ehestand. Denn sobald auf d iesen losgezogen wird, bringt man sie außer Fassung. Vielleicht weil sie weiß, daß der Mann alle Beschwerden des Ehestandes mit Recht auf ihre Rechnung bringen könne? Die wahre Ursache scheint diese zu sein, weil der Wert des Frauenzimmers in der Tat nur darauf beruht, daß es die einzige Bedingung ist, unter der das männliche Gesch lecht in einer ehelichen Verbindung leben kann. Ihr Wert besteht also bloß in der Vereinigung mit den Männern, daß sich die Männer notwendig in den Ehestand einlassen müssen und sie nur durch das männ­ liche Geschlecht leben sollen, da d ies hingegen für sich selbst lebt. Durch Aufhebung des Ehestandes möchte die ganze Würde des weiblichen Ge­ schlechts herabgesetzt werden. Außer diesem, wenn die Ehen sollten auf­ hören oder seltener werden, so würde das Frauenzimmer in wohlfeilerem Preise, also das elendeste Geschöpf sein und ihr Wert würde gänzl ich fal len, wenn sie bloß dem Appetite der Männer würden zu Gebote stehen müssen. Die Weiber aber bekommen durch den Ehestand die Herrschaft über die D inge und der Mann verliert bei dieser Verbindung einen Tei l seiner Freiheit. D i e Frau wird frei durch d i e Ehe, indem i h r als einer verehe­ l ichten Person v ieles freisteht, was ihr im ehelosen Zustande unanständig war. Die Freiheit ohne Vermögen ist auch von keinem Nutzen. Durch die Verbindung aber bekommt sie die Macht dieses Vermögen zu äußern. Wir finden, daß alle Frauenzimmer, sie mögen noch soviel Geld haben, dennoch heiraten, die Männer um desto mehr. D as Vermögen des Frauenzimmers wird durch den Mann nachdrücklich. Was das Hauswesen betrifft, so muß man hier die Regierung oder Ver­ waltung wohl von der Herrschaft unterscheiden. D ie Herrschaft im Hause führt der Mann, die Regierung die Frau. Der Mann sieht aufs Ganze des Hauses, schafft das Nötige herbei, die Frau aber ordnet den Gebrauch und sieht darauf, daß dasj enige, was schon zu Hause vorhanden ist, zu einem vergnügenden und angenehmen Genuß verwandt wird. Indes findet man nicht selten, daß die Herrschaft auf Seiten der Frau ist. Hier kann man sich eine allgemeine Regel merken: Ein j unger Mann ist allezeit Herr über die ältere Frau und umgekehrt. Es zeigt sich hier ein guter Prospekt in An­ sehung dieser allgemeinen Regel und Erfahrung. Wir wissen nämlich, daß jederzeit derjenige, der nicht zahlen kann, sehr höflich ist. Man kann daher bei einem Kaufmann zwei Leute leicht unterscheiden, wer von ihnen die Ware bezahlt und wer sie auf Kredit nimmt, jederzeit ist der letztere sub­ misser. Ebenso geht es mit den Ehen, und es ist kein Wunder, wenn alsdann die Frau die Herrschaft führt, wenn der Mann nicht zahlen kann. Hieraus sieht man, daß die vorhergehende Jugend des Mannes das Mittel der Herr­ schaft im Hause sei. Derjenige also, der ins künftige nicht ein Sklave seiner Frau sein und nicht eine Gebieterin, sondern eine Gesellschafterin an ihr haben will, muß in seiner Jugend alle Ausschweifungen vermeiden. Ob dies

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gleich keine Beobachtungen sind, so fließen sie doch ins künftige Leben. Führt aber die Frau wider die Natur die Herrschaft im Hause, so geht al les verkehrt zu. Denn wenn die Frau gleich einen großen Verstand hat, so ist er doch von einer ganz anderen Beschaffenheit, als der männl iche. Die Frau ist immer geschickter, Mittel zu einer Absicht zu finden, der Mann aber besitzt mehr gesunde Vernunft zu Erwählung eines Zweckes. Die Weiber sind erfinderisch, aber nicht so gut in der Exekution. Es ist aber in der Tat die größte Unehre für einen Mann, wenn er von den Einfällen seiner Frau abhängen soll. Das Frauenzimmer weiß wohl, daß es in d ie Rechte des Mannes greift, wenn es sich die Herrschaft anmaßt. Denn wenn die Frau den Mann ins Verderben gestürzt hat, heißt es: Du bist Mann, das hättest Du wissen sollen, was bin ich schuld. Der Hauptendzweck des Frauenzimmers ist der Glanz, womit sie andere ihres Geschlechts zu verdunkeln suchen, z. B. bei Feten. Die sind daher ge­ neigt, im Innern, was nicht jedermann sieht, zu kargen , so essen sie z. B. schlecht und speisen auch den Mann schlecht ab. Allein er hat dafür den Vorteil, daß alles desto prächtiger ist, wenn er eine Fete gibt. Überhaupt ist das Frauenzimmer mäßiger, als das männliche Geschlecht, aber nur für sich zu Hause. Bei der äußern Fa�on der Glücksel igkeit hingegen sparen sie nichts. Denn ihre ganze Bemühung geht nur dahin, daß sie gut in die Augen fallen, und diesen Instinkt hat ihnen die Natur deshalb gegeben, weil sie gewählt werden sol len. Sonderbar aber ist es, daß sich das Frauenzimmer niemals für Mannspersonen, sondern nur für andere Frauenzimmer putzt. Es betrifft dies seinen Ehrenpunkt in Ansehung anderer Frauenzimmer und ist schwer zu erklären. Indes scheint dies die wahre Ursache zu sein, weil sie untereinander in einer beständigen Jalousie (Eifersucht) und einem immer­ währenden Kriege leben, besonders wenn sie schön sind. Eine sucht als­ dann die andere zu übertreffen, und ist es erst recht was für sie, wenn sie einen Vorzug vor andern bekommen. Es hat daher kein Frauenzimmer an der andern eine wahre Vertraute, denn sie sind sich einander Neben­ buhlerinnen, sie trauen einander nie und keine gesteht der andern ihre Leidenschaften und Triebe, wie man es bei Männern häufig sieht. Sie sind beständig delikater auf die Titel und den Vorzug, als die Mannspersonen, denen der Wert des Titels das Wohlgefallen ihrer Frauen ist. Eine adlige Frau wird auf ihren Adel weit mehr stolz sein, als ihr Gemahl, ob er gleich von den Männern geehrt wird. Die Ursache ist: je zweideutiger der Unter­ schied zwischen zwei Ständen ist, desto erpichter ist jeder auf Vorzüge. Die Grafen werden immer vertrauter mit einem Bürgerlichen als mit einem Edelmann umgehen, weil sie glauben, daß dieser sich könnte eher einfallen lassen, sich mit ihnen zu vergleichen, als jener. Der Unterschied des Stan­ des beim Frauenzimmer ist sehr klein, weil ihr Stand in Ansehung der Erb­ folge von keiner Wirkung ist. Die Mannsperson betrachtet sie nach ihrem

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unmittelbaren Wert, und daher verdient auch ein schönes, artiges Frauen­ zimmer eher eine Prinzessin zu werden, wenn sie auch vom niedem Stande ist, als eine vom vornehmsten Stande, die sonst keine Verdienste hat. Ein vernünftiger Mann wird auch bei seiner Vermählung gar nicht auf den Rang des Frauenzimmers sehen, den er ihr überdies durch die Vermählung selbst geben kann. Auch schickt sich das Frauenzimmer besser in alle Stände, als der Mann. Ist sie aber aus einem gar zu niedrigen Stande, so verrät sie durch ihre gar zu große Höflichkeit ihre Herkunft. Indes kann ein wohl­ erzogenes armes Mädchen immer einen Vornehmen heiraten. Da also das Frauenzimmer dem Range nach so wenig unterschieden ist, ist seine Ja­ lousie um soviel stärker. Aber auch hier hat die Natur ihre Absicht gehabt, weil sie gewollt, daß j edes Frauenzimmer ihrem Manne allein anhängen sol l . Wäre d iese Jalousie unter i hnen nicht, so würden sie sich vereinigen und die Herrschaft der Männer über sie wäre schwer. Wir bemerken, daß das Frauenzimmer karger ist, als die Männer. Daher nehmen sie gerne Geschenke an, wenn sie auch noch so reich sind, weil sie durch Geschenke niemals obligiert (verpflichtet) werden. Der Mann hingegen wird durch sie zu etwas verbunden. Wenn die Sparsamkeit des Frauenzimmers nur nicht ausschweift, so ist sie sehr nützlich, da der größte Tei l selber nichts ver­ dienen kann. Das Geld, wofür sie sich Bänder kaufen, ist ihnen gleichsam ans Herz gewachsen und sie geben es nur für den Putz aus. Dem Manne hingegen steht die Freigebigkeit gut an, ob man gleich heutzutage den einen guten Wirt nennt, der karg ist. Diesen Namen kann man aber nur dem geben, der andere gut aufnimmt, und wer ist denn wohl weniger ein guter Wirt, als ein Karger, der sich selbst nicht einmal gut aufnimmt. Es ist eine plebej ische und p lumpe Art dadurch reich zu werden, daß man es seinem Munde entzieht. Es aber so zu machen, daß man ohne großen Aufwand doch gut lebt und andere auf eben die Art gut aufnimmt, heißt gut wirt­ schaften. Alles Frauenzimmer inkliniert zum Geize, und wenn sie ja etwas geben, so ist es entweder etwas, das ihnen gar nichts kostet oder das sie nicht brauchen können. Auch hier muß man die vortreffl iche Einrichtung der Natur bewundern, welche gewollt hat, daß derjenige Teil des mensch­ lichen Geschlechtes, der nichts erwirbt, auch nicht freigebig sein soll, denn es wäre ja lächerlich auf Rechnung eines andern freigebig zu sein. Es ist so gut, daß der Mann freigebig und die Frau karg ist, daß oft bloß dadurch ein Haus in Aufnahme kommt. Es gibt eine doppelte Art zu wirtschaften, nämlich viel auszugeben, wenn man v iel erwirbt, und wenig auszugeben, wenn man wenig erwirbt, oder daß man faul ist und spart. Das letzte ist eine plumpe Art, Vermögen zu erwerben. Das Frauenzimmer ist zum Verwahren mehr geneigt, daher sie auch weit mehr Kästchen, Schachteln und Schlüssel haben, weil ihnen die Ordnung im Hause anvertraut wird. Man sieht auch, daß das Frauenz immer dem Putz und der Reinlichkeit ergeben ist. Es gibt

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aber hier einen modischen und persönlichen Geschmack. Der persönliche Geschmack der Reinlichkeit ist dem Manne eigen. Er sieht nicht viel da­ rauf, ob es im Hause so reinlich ist, wenn es nur auf seinem Leibe reinlich ist, daher auch der Mann weit eher ein weißes Hemd anzieht, als wie die Frau. Das Frauenzimmer hat den modischen Geschmack, es sorgt nur dafür, daß äußerlich an ihrem Leibe und in dem Hause alles reinlich ist, was in die Augen fällt, allein um das, was keiner sieht, kümmern sie sich wenig. Über­ haupt geht beim Frauenzimmer alles auf den äußern Schein. Der Mann aber sieht mehr auf Solidität und den wahren Besitz der Sache. Beide, der Mann und das Weib, besitzen Ehrliebe und Ehrbegierde. Aber alle Eigenschaften, d ie sie gemein haben, sind doch ganz unterschieden. Denn der Mann sieht darauf, was man von ihm denkt, die Frau darauf, was man von ihr sagt. Wenn das Frauenzimmer nur versichert ist, daß man das, was man von ihnen weiß, nur nicht sagen darf, so sind sie schon unschuldig und kehren sich wenig daran, was man von ihnen denkt. Dies aber macht eine große Verschiedenheit des Ehrenpunktes zwischen Mann und Frau aus. Wie mag es kommen, daß das Frauenzimmer die Schmeicheleien des Man­ nes nach den Worten aufnehmen kann, und was ist die Ursache dieses unaufhörlichen Tributs, den ihnen die Männer erlegen müssen, da doch Schmeichelei ein Laster ist? D ies ist es. Der Mann gibt sich selbst den Wert. Der Wert des Frauenzimmers aber hängt von der Neigung der Manns­ person und von dem, was diese i hnen sagen, ab. Hätte aber das männliche Geschlecht keine Neigung gegen das Frauenzimmer, so wäre es die nie­ drigste Kreatur von der Welt und sehr zu beklagen. Es ist mithin eine Schuldigkeit des Mannes seine Neigung durch Schmeicheleien zu äußern und dadurch den Wert des Frauenzimmers zu bestimmen. Das Frauenzim­ mer weiß auch gut, daß die Schmeicheleien ein Tribut sind. Sie sind sogar stolz darauf. Die Männer billigen diesen Stolz auch so sehr, daß ohne den­ selben ihre Neigung wegfallen würde. Wegen des Wertes der Männer also, den sie schon von der Natur bekommen haben, müssen sie diesen Tribut an das weibliche Geschlecht bezahlen. Der Mann w i l l beherrscht sein und dies ist eine Art von Konvention. Denn da die Natur ihn zum Herrn gemacht hat, so hat sie ihm zugleich die starke Neigung gegeben, welcher zufolge er dem Weibe unterworfen sein soll . Wenn man nun aber einem recht schönen Frauenzimmer recht hoch­ getriebene Schmeicheleien vorsagt, worüber man insgeheim herzlich lachen möchte, ist ' s möglich, daß sie von ihr im Ernste angenommen werden? Man sollte glauben, sie nehmen sie ebensowenig im Ernst auf, als die Komplimente im gemeinen Leben. Aber nein, das Frauenzimmer glaubt sie gewiß, wenn ihnen der Spiegel gleich das Gegenteil dieser Schmeicheleien zeigt. Denn weil man doch keine Regel von dem hübschen Aussehen geben kann, so glauben sie, daß sie v ielleicht in den Augen desjenigen, der ihnen

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schmeichelt, wirklich hübsch sind und gleichsam eine Zauberkraft gegen ihn besitzen, und sie haben auch Grund dazu , wei l die Neigungen der Männer nicht können unter Regel gebracht werden , und dem einen das­ jenige schön ist, was der andere häßl ich findet, und mithin denkt sie, das könne wohl eben die Mannsperson sein, die sie zu bezaubern imstande ist. Diese Schmeicheleien nebst den Geschenken sind die beiden Versuchun­ gen, wodurch das Frauenzimmer so leicht verführt werden kann. Denn indem es die Schmeicheleien glaubt, so denkt es, daß es schade wäre, einen solchen Mann fahren zu lassen, in deren Augen sie eine Göttin ist, und dann ist es gefangen. Man bemerkt ferner, daß das Frauenzimmer die Verdienste nicht nach dem innern Wert schätze, sondern nach dem Verhältnisse, wel­ ches die Verdienste auf sie selbst haben. Sie wollen nicht selber die Ver­ dienste haben, sondern einen Mann, der sie besitzt. Wenn sie z. B. die Frei­ gebigkeit eines Mannes rühmen hören, so denken sie: was hilft ' s , wenn er dir doch etwas gäbe ! Anders denkt der Mann. Denn wenn er z. B. mit seiner Frau die Schilderung eines großmütigen Mannes (in einem Roman) liest, so wird er denken: ach, wärest du doch auch so, die Frau aber wünscht nur einen solchen Mann zu haben, ist zufrieden, wenn sie von eines andern Verdienst profitieren kann. Diese verschiedene Schätzung der Verdienste aber macht eine große Verschiedenheit in Ansehung der Moralität der Handlungen. Es ist aber dieser große Zwiespalt der Natur bei den Geschlechtern sehr merkwürdig und wichtig, und die Kenntnis davon hat im Umgang und in der Erziehung einen sehr beträchtlichen Einfluß. Ein Engländer sagt: eine gute Hausfrau muß sein wie drei D inge, aber auch nicht wie dieselben drei Dinge 1 . sein wie eine Schnecke, d. h. häus­ lich, nicht sein wie eine Schnecke, d. h. sie soll nicht alles auf dem Puckel tragen oder nicht zuviel Geld auf Putz verwenden, 2. sein wie eine Stadtuhr, d. h. ordentlich, sie muß Ordnung halten, nicht sein wie eine Stadtuhr, d. h. sie muß nicht gleich alles laut werden lassen, daß es die ganze Stadt erfährt, 3. sein wie ein Echo, d. h. sie soll nicht zuerst ihres Mannes Wort reden, nicht sein wie ein Echo, d. h. sie soll nicht immer das letzte Wort behalten. Der beleidigte Mann ist leicht zu versöhnen, nicht so die beleidigte Frau. Diese ist in den meisten Fällen gar nicht zu versöhnen. Dies kommt von der Schwäche her. Man sagt, der theologische und Weiberhaß sind unversöhn­ lich. D as Weib will herrschen und sonderbar, der Mann läßt sich nicht allein beherrschen, sondern will auch beherrscht sein. Er sieht es sehr gerne, wenn ihm seine Geliebte etwas aufträgt. Dieses findet auch noch einiger­ maßen im Ehestand statt. Hierauf gründet sich die Gal anterie, die zur Zeit der Ritterschaft auf höchste gestiegen war. Denn die Damen wurden außer­ ordentlich geschätzt, indem jeder mit seinem Nebenbuhler oder demje­ nigen, der seine Dame .beleidigt hatte, gleich die Lanze brach. Jeder mußte

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eine Dame haben. Dieses brachte nachmals auch den berühmten Don Qui­ xote dahin, sich eine Dulcinea von Toboso zu wählen, wenn er einen echten Ritter vorstellen wollte, welches er doch in seiner großen Narrheit zu sein glaubte. Die Ritter standen zur Zeit der Chevallerie gleichsam im Dienste der Damen. - Der j unge Mann von 1 6 - 17 Jahren ist in einer Gesellschaft verlegen, er glaubt als tölpisch, ungeschickt in die Augen zu fal len. Das Frauenzimmer in den Jahren ist nicht im geringsten verlegen, es glaubt im Selbstbesitze zu sein, weil es schon heiraten kann. Überhaupt gelangt es eher zur Reife. Wenn z. B. der Bruder noch kein Geld halten kann, so kann man es der jüngeren Schwester anvertrauen. Das Frauenzimmer rechnet auf jemandes Achtung durch die Vorzüge ihres Geschlechts. Der junge Mann dagegen besorgt immer, ihm werde die Achtung nicht zukommen, er habe sie nicht erworben. Haller führt an, daß das weibliche Geschlecht nicht den großen Hang zum männlichen Ge­ schlecht habe, als das männliche zum weiblichen; daher kommt es, daß sie sich so führen, als wenn sie Anspruch auf unsere Gunst machen könnten. Verliebt tun ohne es zu sein, oder große Ergebenheit zu beweisen, ist Galanterie. Das weibliche Geschlecht hat einen eigenen Stolz, das männ­ liche l iebt diesen Stolz, es betrachtet ihn als Gunst. Einen Mann von Ver­ dienst, sollte man glauben, müsse das Frauenzimmer achten, aber sie sieht ihn wie ein Spielwerk an, wei l sie weiß, sie kann ihn mitsamt seiner Geschicklichkeit fangen, indem er nichts als Gunst und Liebe verlangt. Der Jüngl ing ist geneigt sich phantastische Vollkommenheiten vom Frauen­ zimmer vorzustel len, und diese werden durch Romane erweckt. Sie sieht auch l ieber auf Kutsche und Pferde. Wenn Rousseau sagt: die Kultur des männlichen Geschlechts beruht auf der Kultur des weibl ichen, so redet er sehr wahr. Adone können sie nicht gut vertragen. In ihren Augen mögen Mannspersonen häßlich sein. Eine übertriebene abenteuerliche Art von Ergebenheit war die Galanterie zur Zeit der Cheval lerie. Das weibl iche Geschlecht nennt man das schöne. Aber es ist noch eine große Frage, welches Geschlecht schöner ist. Denn es ist gewiß, daß das männliche schöner ist. Aber unsere Begriffe von Schönheit sind mit Wol­ lust verbunden, und wer den Appetit hat, dem ist al les schön. Daher muß der Appetit vom Begriff des Schönen abgezogen werden, sowie die Beur­ teilung der Alten vom Schönen immer Regel des Geschmacks und mit keiner Begierde verbunden war. Und eben diese Alten, die Griechen und Römer, wenn sie eine schöne Figur darstellen wollten, wählten stets die männliche Gestalt, indem sie dieser den ganzen Ausdruck von Kraft des Körpers und Geistes bei legen konnten. Winckelmann hat am besten ge­ schrieben von den Künsten der A lten . Darin haben die Alten weit besser getan, indes die Neuern, um eine Schönheit auszudrücken, sich immer des Geschlechtsreizes bedienten, z. B. der Venus, welche die Alten sittsam vor-

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stellen, immer etwas Anziehendes beilegen. Man kann aber die Weiber das schöne Geschlecht nennen wegen der mit i hrer Schönheit verbundenen Nützl ichkeit, wei l s ie nämlich in der Tat das Mittel sind, wodurch alles in der Welt verschönt wird. Der männliche Verstand hat keinen andern Maß­ stab, er nimmt alles aus sich selbst. Der weibliche Verstand richtet sich nach dem Ton, Beispielen usw. In der Religion schickt sich nicht einmal , daß sie viel denkt. Vom Manne wird Selbstdenken in der Religion erfordert. Die Frau aber, die dieses tut, geht aus i hrem Kreise heraus. Sie wagt auf ihre Gefahr, und dies ist wider ihre Geschlechtseigenschaft, die Behutsam­ keit. Eine freidenkerische Frau ist ein besonderer Kontrast. In Ansehung der Sitten sind die Prinzipien anders. Das Weib glaubt: was die ganze Welt tut, ist gut. Sittsamkeit ist ihre Haupttugend und ganze Moralität. Sittsamkeit ist eine Angemessenheil mit dem Ehrenruf - zu dem, was andere rühmlich finden - sie sind sittsam um des Ehrenrufs willen. Der Mann geht auf wirk­ liche Ehre, d. h. Ehre zu erwerben und er nimmt sie von der Tugend her. Das Weib geht darauf Ehre zu verdienen. Der Mann kann sich über das, was von ihm gesagt wird , oft wegsetzen, das Weib nicht. Der Schein bloß muß ihr nicht gleich sein. Das Frauenzimmer hat den Kopf voll Intriguen. Dies rührt von ihrer Schwäche her, die sie immer darauf denken läßt. Es kommt darauf an, daß bei der Schwäche ihres Geschlechts mehr Kunst angewendet wird. Der Mann hat Verstand für den Zweck, das Weib für die Mittel. Sie können andere leicht zu ihren Absichten gebrauchen. Sie würden sich sehr gut zu Gesandtschaften schicken. Ihre Schwäche erfordert es, daß sie List und Kunst anwenden. Man hat ein Beispiel von der Mademoiselle d ' Eon, die unter männl ichem Namen mit so großem Glück Negociationen getrieben hat. Sie können weit leichter und besser reden, als die Männer, welches sie auch weit l ieber tun. Sie haben ein natürliches Rednertalent Dies zeigt sich i m Briefschreiben, wenn sie auch nicht gelernt haben, wie sie einen Brief schreiben sollen. Ihre Plauderhaftigkeit ist auf eine ange­ nehme Art, z . B. die Briefe der Sevigne. Sie schreiben also recht nette Briefe, wenn sie auch nicht orthographisch sind. Was die Empfindung anbetrifft, so könnte wohl die Zartheit von der Zärtl ichkeit unterschieden werden, so wie die Empfindsamkeit von der Empfindlichkeit. Von Frauenzimmern sagt man, sie sind empfindlich, zärt­ lich, d. h. sie werden in dem, was Leid und Freude betrifft, leicht affiziert. Dies muß man aber von einem Manne nicht sagen können. Doch muß er empfindsam und zart sein, damit er Feinheit genug besitzt, seiner Frau Unannehmlichkeiten zu ersparen. Dies ist eine Delikatesse, worin Großmut liegt. Jede Sehnsucht mit dem Bewußtsein der Ohnmacht bringt Seufzen und Tränen hervor. Für ein Frauenzimmer schickt sich nicht Rauhigkeit. Der Mann hat Geschmacksneigung, das Weib nicht soviel oder v ielmehr gar nicht. Denn sie ist selber ein Gegenstand des Geschmacks. Sie hat zwar

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ein Geschmacksurteil, aber aus Neigung hat sie keinen Geschmack, und wenn sie ihn hat, so ist es bloß zur Parade. Ihre gesamte Neigung geht immer auf Eitelkeit. D ies kommt daher, weil sie sich selbst zum Gegen­ stand des Geschmacks nimmt. Der Mann paradiert durch seine Frau. Im Häuslichen ist des Mannes Wirtschaft - erwerben, des Weibes Wirtschaft ersparen. (Diese Ersparnis geht in vielen Fällen so weit, daß sie nicht einen Bissen essen oder alte Kleidungsstücke umkommen lassen.) Jedes Frauen­ zimmer nimmt für sein Leben gern Geschenke an, je mehr je besser, es gibt aber Männer, die keine annehmen. - Je weniger Vermögen einer hat, desto mehr ärgert er sich über den Mächtigem, besonders wenn er ihn über­ wältigt. Hieraus erklärt es sich auch, daß kleine Leute so karsch sind. Der Mann ist eifersüchtig, wenn er l iebt, die Frau selbst dann, wenn sie nicht l iebt, und was das Sonderbarste ist, auch auf andre Frauen. Sobald eine andere Person bewundert wird , ist dies für sie schon eine Art von Läsion. Auch während der Ehe sucht die Frau zu gefallen aus der Vorsicht, daß sie, gesetzt der Mann stirbt, nicht sitzen bleibt. Die meiste Zeit ge­ schieht dies aber nicht in der Absicht, der Person besondere Neigung für sie einzuflößen. D iese unaufhörliche Ausübung ihres Vermögens zu reizen, Leute ohne Absicht zu gewinnen, wird nicht übel durch - »erobern« ausgedrückt. Ist diese Eroberungsbegierde sichtbar, so nennt man sie Koket­ terie. Buhlerei ist dafür ein ungeschicktes Wort, es zeigt schon ein gröberes Verfahren an. Die Koketten sind oft die kältesten Personen, sie wollen nur gefallen, erobern. Im Umgange bei wohlgesitteten Personen ist Koketterie sehr angenehm. Es ist eine Art von Lebhaftigkeit. Die Männer müssen immer eine Art von Huldigung leisten. Die Frau sucht das häusliche Inter­ esse - was bei der Frau noch hinzukommt, als Gesellschafterin - der Mann woh l auch, aber im äußern Verhältnis gegen andre als Bürger des Staats. Xanthippe und Hiobs Weib verdienen nicht den Tadel, der ihnen so häufig zuteil wird. Sie suchten nichts weiter, als ihr häusliches Interesse. Xan­ thippe war nicht dafür, daß ihr Mann Änderungen vornahm, denn sie l itt dadurch mit ihren Kindern, Hiob war wohldenkend , gesellig, wohltätig, sehr freigebig und daher fröhlich. Weil er aber hernach selber in Armut geriet und traurig ward, so machte sein Weib ihm Vorwürfe. Einige Anmerkungen. Das Frauenzimmer b i ldet sich zum Tei l selbst in der Erziehung, und die Entwicklung ihres Verstandes geht eher vor sich. Das männliche Geschlecht reift langsam. Sie bekommen eher den Verstand für Umgang und auch den Grad der Urteilskraft. Der Mann muß mit der Natur und den Gegenständen derselben bekannt werden. Sie studiert aber nur den Mann. Wissenschaften schicken sich eigentlich nicht für Frauen­ zimmer. Sie haben die Bücher sowie die Uhren, die selten aufgezogen sind, sie haben sie nur um daß sie sie haben. Unter sich sind sie immer rival und will immer eine die andere übertreffen. Bei ihren Zänkereien werden sie nie

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ein Frauenzimmer zum Richter nehmen, sondern sie haben gleich den Mann bei der Hand. Denn der weibliche Richter ist immer sehr streng. Ein Mann kommt den andern nicht ins Gehege. Das Frauenzimmer aber sucht dem ganzen männlichen Geschlecht zu gefallen. Sie putzen sich, wie be­ kannt, nicht für die Mannspersonen, sondern für ihr Geschlecht. Denn wenn sie jenen gefallen wollen, so kleiden sie sich nur in ein geschmackvolles Neglige und sind überzeugt, daß sie viel mehr Eindruck machen. Die Vielweiberei im Orient zeigt den Mangel al les Geschmacks. Die Weiber werden genötigt in den Harem sich einsperren zu lassen, wo sie doch noch immer unter sich lustig sein sollen, und dessen ungeachtet daß ihr Wert so gefallen ist, herrschen sie doch auch. Den Spott über ihr Alter vertragen die Weiber schlechterdings nicht, wei l sie alsdann nicht zum Zwecke taugen. Ein Frauenzimmer hat nicht solche Feinheit des Geschmacks als der Mann. Denn sie l ieben auch häßliche. Da das Frauenzimmer nicht den Antrag tun kann, so hängt es vom Schicksal ab, wer sie wählt. Denn wenn sie auf Schönheit beim Manne sieht, so steht ' s übel mit ihr. Die Ausschweifungen des weiblichen Geschlechts im ehelosen Zustande setzt es in kei ne Nach­ frage. Beim Manne findet dies nicht im geringsten statt. Wenn ein Frauen­ zimmer also heiratet, so w ird es frei. Der Mann verl iert aber von seiner Freiheit. Von Rechts wegen soll der Mann bei der Verheiratung ein paar oder mehrere Jahre voraus haben. Wenn der Mann jünger ist, so herrscht er über sie, und wenn sie j ünger ist, so herrscht sie über ihn. Es liegt in der Überlegenheit des Geschlechtsgenusses. Denn der ältere Teil kann allemal nicht so viel Geschlechtsgenuß erteilen auch nicht mit der Annehmlichkeit, als wenn er jünger wäre, und ist wohl mit zufrieden, aber nicht der jüngere Tei l , der mehr verlangt. Der Tei l hat die großmütigste Zärtl ichkeit, der die Beschwerden übernimmt. Das Frauenzimmer klagt, daß die Männer soviel Schmeicheleien zur Zeit der Erwerbung ihnen erweisen, nach der Hochzeit aber kalt würden. Man muß ihnen hierauf sagen : es kann nicht anders sein. Denn im Prospekt ist alles weit angenehmer, als hernach in der Wirklich­ keit, und die Frauen lassen auch nach in den Mitteln zu gefallen. Der Mann ist traurig, daß er nicht durch die Reize der Person mehr beherrscht wird. Wer soll Herr in der Ehe sein? - Wir haben davon schon oben gesprochen - auf galante Weise aber kann auch die Frau herrschen (vermittelst der Neigung, die sie einflößt) und der Mann regieren (weil der Verstand immer regieren muß) . Der Mann muß Neigung zur Frau , die Frau muß Gunst gegen den Mann haben. Wer Gesetze gibt herrscht, wer sie aber anwendet, den Fall dafür bestimmt und eigentlich zeigt, wie man handeln soll - wozu mehr Klugheit gehört - regiert und dies kann nur der Mann. Bei sehr ver­ kehrten Herrschern , aber sehr klugen Regierern, die das Gesetz zu modifi­ zieren verstehen, kann der Staat doch bestehen. Ebenso geht es auch im kleinen mit der Wirtschaft. Der Mann muß mit Höflichkeit die Wünsche der

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Frau zu lenken suchen, daß d ie Wirtschaft bestehen kann. Es taugt nicht, wenn die Frau so eingeschränkt ist, daß sie nicht einmal ihre Wünsche äußern kann. Ein blöder Mann gefällt in Gesellschaft den Frauenzimmern nicht, weil er der bewerbende Tei l ist. Sie glauben, er habe nicht Geist zur Erwerbung. Etwas Erdreistung ist ihnen angenehm und lieb. Eifersucht ist entweder mißtrauisch oder sie kann bloß Intoleranz sein. Ein Mann, der intolerant in der Ehe ist, kann doch ohne Mißtrauen sein. Ein toleranter Ehemann ist der, welcher wohl dulden kann, daß sich andere Lieb­ haber finden. Es ist billig i ntolerant zu sein und man darf deswegen n icht mißtrauische Eifersucht haben. Es ist nur die Verhütung, Vorsorge für die Möglichkeit des Mißtrauens. Die Frauenzimmer spotten gemeinhin über die Intoleranz der Männer. Es ist aber nicht ihr Ernst, daß sie Intoleranz wün­ schen. Denn sie erkennen darin ihren Wert, den sie in Ansehung des Mannes haben, weil er nicht Eingriffe in seine häuslichen Rechte leiden will. Die Intoleranz ist die Ursache von der Stiftung der Ehen. Der Vater verzieht die Töchter und die Mutter d ie Söhne und besonders, die am lebhaftesten und wildesten sind, welche Eigenschaft das Frauen­ zimmer überhaupt gern an Mannspersonen sieht. Es kommt vom Hange zum Geschlecht her. Denn jedes Frauenzimmer sieht gern, wenn eine Mannsperson aufgeweckt ist. Der Vater sieht in seiner Tochter, im Fal l daß die Mutter stirbt, eine Hauswirtin , die Mutter in ihrem Sohne nach des Vaters Tode einen Beschützer. Daß die Fehler im ehelosen Zustande beim Frauenzimmer im Punkte der Ehre besonders schlechter ausgelegt werden, als im Ehestande, kommt daher. Der Ehrenpunkt des weiblichen Geschlechts besteht nicht in Morali­ tät, sondern darin, daß sie keine üble Nachrede von sich tragen lassen. Ein Frauenzimmer, wenn es fäl lt, setzt herunter und beleidigt das ganze Ge­ schlecht, weil die Rechte des ganzen Geschlechts dabei verlieren und wohl keine Nachfrage mehr sein könnte. Die Ausschweifungen des Weibes in der Ehe sind nicht von so großen Folgen, denn da werden nur die Rechte des Mannes übertreten. Sie müssen sich vor der Ehe nicht weggeben, denn dies ist nur die einzige Bedingung, unter der sie einen Wert haben. Anmerkung. Weiber sind eitle, eingebildete, abergläubische und neidische Geschöpfe, die gern bri llieren wollen, die sich bloß am Schein belustigen, in Kleinig­ keiten Kabalen spielen, sich durch Nachäffung formieren, keinen Charakter haben, Götter und Pfaffengunst durch geistlose Koketterie zu erschleichen suchen und, wie das Wetter im Apri l , bald sanft, bald gut, bald stürmisch und tigermäßig grausam sind. Leucards Leben.

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[1/L] Vom Charakter des Volkes oder der Nationen Hume und viele andere haben völlig leugnen wollen, daß es National­ charakter gebe, aus der Ursache, weil uns oft etwas gleich zu sein scheint, wobei wir doch, wenn unsere Erkenntnisse erweitert sind, viele Unter­ schiede bemerken. So kann man in der Ferne ein paar Menschen für Brüder ansehen, weil sie sich ähnlich zu sein scheinen. Allein je näher man ihnen kommt, desto mehr Unterscheidungszeichen bemerkt man an ihnen. Es bleibt also die Frage: Hat j edes Volk einen Charakter, etwas Allgemeines, Angeborenes, das nicht von zufälligen Eindrücken oder gar von der Regie­ rungsfarm abhängt? - Vorher wollen wir nur bemerken, daß unter National­ charakter nicht verstanden werde, daß ein jeder von dem Vol ke eben den­ selben Charakter haben müsse, sondern ob bei einem Volke nur etwas vorzüglich abstechendes gefunden werde. Wenn wir aber wissen, daß durch den Charakter die Gesinnungen unseres Gemüts verstanden werden, wobei viel aufs Temperament ankommt (so kann ein Mensch jähzornig sein, weil er sich tätig fühlt) , daß ferner das Temperament zum Teil aus der Kom­ plexion herkommt und diese nach Verschiedenheit der B lutmischungen, der B ildung der mechanischen Tei le des Körpers und der Reizbarkeit der Nerven unter verschiedenen Klimaten auch sehr verschieden sein kann, so ist es wohl nicht zu leugnen, daß es einen Nationalcharakter gebe. Denn obgleich der Charakter nur das Herz und die Gesinnungen angeht, so kommen doch die Keime immer auf die Komplexion an. Der Engländer Lind behauptet in seinem Buche von den Krankheiten der Europäer und in anderen Teilen der Welt, daß auch eine korrumpierende Luft ganz beson­ dere Wirkungen habe. Er führt z. B. an, daß es unter den Negern, die häufig gekauft und nach den amerikanischen Plantagen gebracht werden, einige sehr witzige und einige sehr stupide und dumme Menschen gebe, j e nach­ dem sie entweder auf den Bergen, oder in den niedem Gegenden geboren und erzogen worden. Manche sagen, das Vol k ist das, was die Regierung aus ihm macht. Dagegen aber kann man einwenden: Woher kommt' s , daß ein Volk bei j eder Veränderung der Staatsverfassung in Ansehung seines Charakters dasselbe bleibt? Die Beschreibung, welche Caesar von den alten Galliern und Tacitus von den alten Germanen gibt, paßt noch heutigen Tages in vielen Stücken auf die nunmehrigen Franzosen und Deutschen. Wir müssen insbesondere bei der Verschiedenheit oder Ähnlichkeit des Charakters mehrerer Völker Rücksicht auf ihre Abstammung nehmen. Z. B. die Russen haben sonst einerlei Klima mit den Schweden und doch ist ihr Charakter verschieden. Denn die Russen stammen von asiatischen Völkern ab, die Schweden aber nicht. Die Deutschen haben sich unter Franzosen, Italienern, Engländern, allenfalls auch Spaniern, in Menge ausgebreitet unter alle diese Länder hat der Deutsche sich gemischt, sie erobert und

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den Schlag ihrer Bewohner fast gar nicht verändert. Sie selbst hingegen scheinen immer von ihnen profitiert zu haben. Dies sieht man zum Teil schon daraus, daß die Sprache der überwundenen Völker, welche doch gewiß zu ihrer Kultur geschickter war, als ihre eigene, stets die herr­ schende blieb. Wir können sagen, daß, wenn v iele Personen einer Nation einen beson­ deren und unterschiedenen Charakter haben, die ganze Nation eigentlich keinen habe, wie dies auch wirklich mit den Engländern der Fall ist. Bei den Franzosen ist das Gegenteil. Jeder einzelne hat keinen bestimmten Charakter. Alle sind variabel und daher hat die Nation einen Charakter. Wir wollen also zuerst die Franzosen nehmen, da sich von ihnen am meisten sagen läßt. I. Frankreich. Die Franzosen haben außerordentlichen Hang zur Gesellig­ keit. Ein jeder sucht immer die Form des andern anzunehmen und ihn nach­ zuahmen. Und schon daraus ersieht man, daß keiner einen Charakter hat, welcher ganz und gar von dem eines andern unterschieden wäre. Man kann Frankreich nennen das Land des Geschmacks, aber nicht so in Ansehung der Sachen, als in Ansehung der Konversation. Sie haben die meisten An­ lagen das zu wählen, was in Gesellschaft angenehm ist. Ihre Gewandtheit, Munterkeit belebt die Gesellschaft. In dem Konversationsgeschmack findet kein Zeremoniell, sondern nur Höflichkeit statt, die zwar nicht viel bedeu­ tet. Diesen Konversationston zu lernen, muß man notwendig in Frankreich gewesen sein. Denn alle Länder sind darin nur Schüler. Die Franzosen sind gesprächig, lebhaft, und bringen mit Interesse Kleinigkeiten hervor. Hierzu gehört einiger Leichtsinn. Frivolität ist die Eigenschaft, kleine Dinge groß und große Dinge klein zu machen, welche Eigenschaft bloß den Franzosen eigentümlich ist. Wir haben dafür kein deutsches Wort. Der Konversa­ tionston fordert Anständigkeit, denn sonst ist es kein Geschmack. Die Franzosen beobachten diese Anständigkeit sehr. Sie können die Gesell­ schaft animieren mit einer Art von Leichtsinn. Die eigentliche Galanterie­ Conduite, die Art, sich wichtig zu machen, ist auch ganz Produkt der Franzosen. Vom Franzosen sagt man: il veut toujour representer. Der Aus­ druck »Petit maitre« bezeichnet das eben Gesagte vorzüglich. Sehr unei­ gentlich ist dafür das Wort »Stutzer« , der sich steif ausgeputzt hat. Denn zur Zeit Ludwigs XIV. verstand man unter petit maitre einen, der sich den Anschein gab, als hätte er einen großen Einfluß, wüßte wichtige Geheim­ nisse usw. Die Art sich wichtig zu machen, ist also französisch. Das Point d ' honneur ist bei den Franzosen sehr groß. Es geht bis auf den gemeinsten Soldaten . Daher sind auch die Duel le so häufig. D ies beruht darauf, kleine Dinge groß zu machen. Der hat ein Point d ' honneur, der viel auf Ehrenwort hält, und nicht, der ehrliebend ist. Es ist eigentlich ein punctum juris oder casus conscientiae.

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Man kann Frankreich das Land der Moden nennen. Mode ist Manier sich zu zieren, ist ein Gegenstand der Nachahmung aus Geschmack, um des Geschmacks willen, ohne Gebrauch zu werden. Denn sobald dies geschieht, ist es nicht mehr Mode. Dann wäre es ein Gegenstand der nützlich ist, ein Gegenstand des Interesse, nicht des Geschmacks. Ferner erfordert die Mode das Veränderl iche, welches etwas Wesentliches dabei ist. Ehedem setzte der Franzose darin die größte Ehre, von seinem König gekannt zu sein, den er vergötterte, weil dieser alles und sie nichts vermochten. Dieses hat sich aber seitdem gar sehr geändert, und jetzt ist es fast das gänzliche Gegenteil, und dies läßt denn wohl auch in verschiedener Rücksicht eine Veränderung im Charakter des Franzosen vermuten. Gewiß wird es immer den Franzosen charakterisieren, daß er einen äußeren Schein um sich macht. Persönlich ist der Franzose durch seine Manieren beliebt, wenn er sich aber als Franzose denkt, so ist er arrogant und verachtet j eden andern. In der Tat ist er der größte Egoist, obgleich seine Sprache dem äußern Scheine nach die teil­ nehmendste ist. Die etourderie, sich mit Fleiß andern vorzuziehen, das air degage ist nur ihm eigen. Er ist nicht skrupulös in Ansehung eines schmut­ zigen Kleides, sonst übrigens mäßig. Er hat einen Hang zu Großmut, ist aber nicht gastfrei. Das Spielen mit Floskeln, Einfällen, Embellisements , auch in den wichtigsten Fällen, verliert er nie. Bonmots (im Deutschen etwa Witzsprüche) sind bei den Franzosen von der größten Wichtigkeit. Sie können nie einen Mann beschreiben, ohne von ihm viele bonmots anzu­ führen. Ihre Weiber sind nicht so schön, als sie angenehm sind. Sie sollen mehr Solidität der Denkungsart haben, als ihre Männer. Rousseau be­ hauptet, sie wären vernünftig, wenn auch nicht häuslich. Dieser Wider­ spruch ist mit ihrem Leichtsinn und ihrer Lebhaftigkeit gut zusammenzu­ reimen. Ihre Kriminalgerechtigkeit ist Härte. Davon zeugt die Bastil le, die ein Schrecken des Volkes war, das Schicksal des unglücklichen Calas, dessen Familie später rehabilitiert wurde usw. Der Franzose hat eine Menge von Tugenden, aber aus andern Prinzipien. Was andre aus Grundsätzen sind, ist er oft nur aus Eitelkeit, nämlich höflich, gesellig, ehrliebend, patrio­ tisch usw. II. Spanien. Die Spanier unterscheiden sich sehr von den Franzosen, und sind dadurch schon unvereinbar. Die Spanier in den Seehäfen sind verschieden von den Spaniern, die mitten im Lande sind. In Kastilien muß man den echten Schlag der Spanier suchen, und nicht in und um die See­ häfen. Ihre grandezza ist air der Größe, ein Rang, der etwas sehr wichtiges vorstellt. Ihre große Ernsthaftigkeit scheint einigermaßen aus dem mauri­ schen oder sarazenischen B lute herzustammen. Schon ihre Sprache hat Grandiloquenz - etwas Hochtönendes, was ihnen gut ansteht. Der geringste Bauer spricht ohne Verlegenheit mit dem Vornehmsten, ja selbst mit dem Könige. Sie bleiben gern beim Alten und sind überhaupt das Gegenteil von

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den Franzosen, auch in dem Punkte, daß sie aus den wichtigsten Dingen Bagatellen machen. Ein Charakterzug von einer Nation ist, wenn aus der­ selben keine auf Reisen gehen. In Spanien gibt es wenige oder doch nicht zu viel Reiche, nur diese sind es auch in außerordentlichem Grade, z. B. der Duc von Medina Sidonia. Sie reisen fast nie außerhalb des Landes, lernen auch keine fremden Sprachen. Letzteres tun die Engländer auch nicht, aber sie reisen desto häufiger. Gewöhnlich sind 1 0.000 Engländer außerhalb Landes auf Reisen. 1 77 7 waren allein zu Paris 3.000. Anmerkung. Andre Nationen, z. B . Hindostaner, Perser usw. können nicht begreifen, warum Europäer so weite Reisen tun, um z. B. eine Statue zu sehen oder dgl. und glauben immer, daß eine andre Ursache zum Grunde l iege, etwa Schätze graben - man zeigt ihnen die leeren Hände dann erwidern sie, daß man es wohl verstehen würde, sie unter die Erde fortzuschaffen. In den Wissen­ schaften sind die Spanier sehr zurück. Alle ihre Literatur schränkt sich auf Religion ein. Sie leben schlecht und stolz. Ob bei ihnen der Stolz die Faulheit oder diese Stolz verursacht, ist unausgemacht. Doch könnte man wohl sagen, daß ihre Armut auf Faulheit und diese auf Stolz beruhe. Man erstaunt, wenn man hört, Spanien werde zu den ärmsten Ländern wie Polen gerechnet. Allein sie müssen für Fabrikware ihre Schätze geben. Sie haben einen Hang zu Grausamkeiten, und zwar aus Überlegung, und sind ein hartes Volk. Sie haben aber auch rühmliche Eigenschaften, z. B. ungemein viel Ehrlichkeit. D ie ehrl ichsten Kaufleute sind gewiß die spanischen. Wenn die Musik ihres Fandangotanzes - er ist uralt und schreibt sich von Mauren her - gehört w ird, so ist nichts vermögend , sie zu halten. Alles läuft hin. Alle ihre Freuden sind immer mit Pomp verbunden. Also hat die Nation keinen eigentlichen Hang zur Lustigkeit. III. Italien. Die Ital iener haben eine vorzügliche Lebhaftigkeit, aber mehr durch Klugheit geleitet, als die der Franzosen. Sie zeigen viel Affekt und starken Ausdruck in den Mienen. Zu Rom und Neapel findet man viel Mordtaten. Fast jeden Tag ist ein Mord. Dies ist sehr natürlich wegen ihrer außerordentlichen Heftigkeit, da über irgend einen unbedeutenden Streit sogleich ein Duell entsteht, und weil niemand den Sbirren, die für halb unehrlich gehalten werden, ins Amt greifen, d.h. die Mörder anhalten, will. Dazu findet jeder Mörder im nächsten Kloster seine Zuflucht. Wie Rous­ seau sagt, schlafen die Italiener in Ratzennestern. Ihre Konversationen sind an gewissen Tagen in der Woche. Sie leben fast von Schokolade, wenn sie viel Visiten machen. Denn allenthalben wird sie präsentiert. Ihre meisten und l iebsten Beschäftigungen zwecken auf öffentl iches Aufsehen ab. Da­ von zeugen ihre Schauspiele, Carnevals, Maskeraden, Prozessionen, Pferde­ rennen, schönen Häuser usw. Nirgends als in Italien wird soviel auf Archi­ tektur verwandt. Man findet die prächtigsten und geschmackvollsten Ge­ bäude und Paläste. - C icisbei eigentlich Flüsterer, eine Gewohnheit einzig

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in ihrer Art. Es sind Mannspersonen, die die Führer der Frauen sind. Die Italiener haben einen vortrefflichen Kunstgeschmack, sind sehr überlegend und erfinderisch. Die Banken, Buchhand lungen, Lotterien, Wechsel sind Erfindungen der Italiener. Die italienische Buchhaltung ist eine besondere, sehr wohl ausgedachte Ordnung. Sie haben systematische Verschlagenheit oder tiefgelegte Schlauigkeit (vid. hierüber Pufendorfs Geschichte . Pufen­ dorf ist gut wegen der Religion zu lesen) . Die Gewohnheit durch Banditen oder gedungene Meuchelmörder andere aus dem Wege räumen zu lassen, und Giftmischereien sind recht zu Hause in Italien. (Keyßlers Reisebeschrei­ bung durch Italien u. a. m.) Wenn sie einmal auf Wissenschaften kommen, so beweisen sie darin viel Bedachtsamkeit und Gründlichkeit. In Frankreich hat der gemeine Mann mehr Conduite, in Italien mehr Kunstkenntnis, als in irgend einem andern Lande. Anmerkung. Diese Schilderungen sind nur als eine Art von Vorspiel gegeben über die Methode, den Charakter kennenzulernen, keineswegs als entschiedene Wahrheiten. IV. England. (Großbritannien kann man nicht füglieh hier nennen, we­ gen des Unterschiedes zwischen England und Schottland.) Die Engländer selbst sagen, daß, weil jeder einzelne seinen eigenen Charakter hat (affek­ tiert) , die ganze Nation keinen habe. Dazu trägt ihre Freiheit viel bei , die ihnen persönliche Würde gibt. Jeder Engländer hat Anteil an der Regierung oder glaubt ihn wenigstens zu haben. Er darf sich nicht schmiegen, sondern kann auf seinem Kopf bestehen. Er darf sich nicht den Neigungen anderer akkommodieren. Er kehrt sich nicht daran, wenn andere mit ihm im Ge­ schmack verschieden sind. Klima, Boden und Nahrung sind von andern Gegenden verschieden. Die Nahrung ist besonders kraftvoll. Die Engländer essen das meiste Fleisch in ganz Europa. Nach der Franzosen eigenem Ge­ ständnis gibt es in England ein schöneres Grün auf dem Boden als in Frank­ reich. Dies kommt von der Nässe. Die Seeluft ist sehr gesund und stärkend, besonders deswegen, weil sie den Grad der Hitze und Kälte gehörig mode­ riert. Dieses scheint alles Einfluß auf den Charakter der Engländer zu haben. Daher ist ihr Eigensinn, ihre Beständigkeit eine Wirkung vom Natu­ rell . Das Wohlverhalten manches Menschen beruht bloß auf seiner Schwä­ che, wobei er oft den bösesten Willen hat. Die Tugend ist die rühmlichste, die mit Stärke verbunden ist. Daher entstand auch das Wort virtus. (Suavi­ ter in modo, fortiter in re.) In Frankreich hat al les conduite (dieses emp­ fiehlt Lord Chesterfield seinem Sohne, wenn er ihm schreibt: die Gratien, die Gratien ! ) . In Italien ist jedermann gescheut, d. h. er hat das savoir faire, weiß in al len Stücken seinen Vorteil in acht zu nehmen, sich andrer Men­ schen zu seinen Absichten zu bedienen. (Ja m. H. Summus.) In England ist die ganze Nation mehr kultiviert - bis auf den gemeinsten Mann in Anse­ hung der Kenntnisse belehrt. Dazu tragen nun wohl vorzüglich die Zeitun-

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gen viel bei , (eine Erfindung, wovon die Alten nichts wußten) , die j eder­ mann liest wegen ihres mannigfaltigen Inhalts - es sind nämlich nicht allein die allgemein interessanten Neuigkeiten, sondern auch literarische und spezielle Nachrichten und Beschreibungen des Landes. Wenn nun das Gesinde diese Zeitungen gelesen hat und hört bei Tische darüber rai­ sonieren, so werden natürl icherweise seine Kenntn isse dadurch vermehrt. Die Engländer sind unwissend in Ansehung dessen, was in andern Ländern vorfällt, und dies ist zum Teil wahr und kommt von Grundsätzen her, daß sie alle andern verachten und nicht aus Unwissenheit. In keinem andern Lande erstreckt sich das Wohlleben so sehr bis auf den gemeinsten Mann etwa Schweiz und Holland ausgenommen, wo sich gleichfalls die gute Nahrung bis auf den gemeinsten Mann erstreckt - und das vorzügl ich des­ halb, weil sie ihre Kunstprodukte weit wohlfeiler als andre Nationen liefern können, indem sie so erfinderisch sind, daß sie fast al les fabrikenmäßig traktieren. Fabrikenmäßig heißt, wenn mehrere an einer Sache arbeiten, als z. B . an der Näh- und Stecknadel , wo einer den Draht zieht, der andere pol iert, der dritte schneidet usw. D ie Engländer haben einen public spirit, d. h. es vereinigen sich oft viele zu einer entreprise, zum gemeinsamen Besten eine gute Anstalt zu stiften oder zu befördern. Solche Associationen sind häufig. Sie wagen etwas auf den gehofften Vorteil - machen sich nicht viel daraus, wenn sie ihn nicht erhalten. Nur die Möglichkeit eines vorteil­ haften Gewerbes reicht schon bei ihnen zu, um alles zu wagen. Unter j eder andern Nation hört man i mmer sprechen: ja, wer weiß, ob es so ist, wie man es vorgibt, es ist doch sehr riskant, man kann viel dabei verlieren usw. D ies ist so ein vorzüglicher Charakterzug der Engländer. Vid. Archenholz, Briti­ sche Annalen , ein angenehmes und nützliches Buch. Da fi ndet man verschiedene Entreprisen der Engländer erzählt, z. B. Reisen ins Innere von Afrika, woraus sich in kurzem wichtige Erweiterungen für die Erdbeschrei­ bung dieses Weltteils erwarten lassen. Ein andermal wurde in einer Gesell­ schaft erzählt, daß an der Westküste von Südamerika viel Walfische wären. Gleich traten Leute zusammen und rüsteten Schiffe aus. Der Engländer ist zum größten Tei l Original. D ies hat seinen Grund in der Freiheit. D iese Originalität, die bisweilen gesucht ist, zeigt sich auch in der Mannigfaltig­ keit der Religionen. In der Religion sucht jeder etwas Eigentümliches. Der Engländer ist so ungesellig, daß er in einem Wirtshause nie mit einem andern zusammen ißt, sondern jeder hat ein apartes Tischchen, und wenn er auch an einem Tisch sitzt so spricht er nichts. Wenn er reist, so tut er es nur, um andre Nationen zu verachten und Geld auszugeben und nicht welches zu erwerben. A. 1 777 waren 3.000 Engländer zu Paris bloß zum Vergnü­ gen. Sie verteuern die Gasthäuser ungemein. Ihr Geschmack in der Kunst ihrer Arbeiten ist vol lkommen, allein die Fac;:on gefällt nicht. Sie zeigen in allem Gründl ichkeit. Ihre Tücher sind berühmt wegen ihrer Tüchtigkeit.

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Die Frauenzimmer in England sind gepriesen wegen i hrer Schönheit. Doch haben sie nur den zweiten Rang, wei l ihnen das air degage mangelt und sie geniert und zurückhaltend sind. In England erweist man den Damen mehr Achtung, in Frankreich mehr complaisance. Die Herrschaft des männlichen Geschlechts ist nicht so groß, als in Frankreich. Dies mag darauf beruhen, daß sich die Frauenzimmer sozusagen isolieren und ihren Eigensinn haben. V. Deutschland. Den Deutschen messen fremde Nationen viel Phlegma bei als etwas Charakteristisches und derivieren daher ihre unerschütterliche Geduld, große und wichtige Dinge auszuführen, selbst so mühsam voluminöse Folianten zu schreiben, als z. B. Krynitz, Ökonomisches Hand­ buch nach dem A lphabet, 50 B . Sie pflegen viel Belesenheit, große Gelehr­ samkeit zu zeigen. Die Ausländer sagen auch, daß es ihnen an Originalität mangelt, daß sie meist gerne nachahmen. Sie sind zwar Erfinder einer Menge von Künsten. Dieses findet man aber doch nur da, wo anhaltender Fleiß zu suchen ist. So haben sie in der Chemie viel getan und das Funda­ ment davon ist bei ihnen zu suchen. Doch zeugt dies noch nicht von Genie, welches das Talent zu einer Kunst ist, die nicht gelernt werden kann. Jedoch wäre es unrecht, wenn man die Deutschen beschuldigen wollte, ihnen mangelte Genie. S ie haben es wirklich in sich, wenn man es nur excitieren könnte. Daß dies nicht geschieht, dazu trägt wohl die verkehrte Schulbeschaffenheit viel bei, i ndem viel Phrasen gelernt werden müssen, welche sehr das Genie unterdrücken. Es ist zwar gut, daß sie den Geist der Ordnung und Methode haben, wenn sie es nur nicht übertrieben bis zur sklavischen Abhängigkeit von einmal angenommenen Regeln und Vor­ schriften. Ordnung ist wesentlich nur ein Mittel zum Zweck. Sie machen sie aber zum Zweck selbst. Für Tabu latur sind sie auch sehr eingenommen. Al les dieses aber setzt viel Mühe voraus. D aher rührt nun auch z. T. i hre außerordentliche Titelsucht, wodurch sie sich von andern Ländern auszeich­ nen, und daß sie so viel auf Standesvorzüge halten. Denn ein solcher Mensch, der keinen Stand, wenigstens keinen Titel hat, wird nicht viel geachtet. Sie sagen von ihm: er ist meines Herrn Nichts, und wenn man jemanden bei Namen nennt, so wird gleich gefragt: was ist er? was hat er für eine Bedienung usw. Die Titelsucht macht die Höfl ichkeit bei den Deutschen außerordentl ich schwer, i hre Briefe können n ie anders als steif und peinlich werden, i ndem die Worte D ieselben, Dem-Hochgeboren, Hochwohlgeboren, Hochedelgeboren beständig vorkommen, wo der Fran­ zose mit sei nem Monsieur, Monseigneur al lenthalben durchkommt. Titel­ sucht ist UnterscheidungsmitteL - Die Deutschen haben den Stiftsadel und den andern Adel. D ies zeugt von großer Subti l ität. Der Deutsche hat nicht die Freiheit des Genies vom Zwange der Regeln und daher ist er auch bescheiden. Er taugt nicht zum Komödianten, denn ihm fehlt ganz das air degage des Franzosen. Die deutsche Nation lernt alle Sprachen und unter-

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scheidet sich dadurch von allen andem Nationen. In Deutschland wird alles übersetzt, Englisches, Französisches, Spanisches, Schwedisches, Polnisches usw. D ieses Lernen aller Sprachen zeugt von vieler Wißbegierde. Der Deutsche kann sich in alle Verhältnisse schicken. Daher kommt ' s , daß in allen Ländern Deutsche angetroffen werden, ausgenommen in Portugal, wo selten ein Fremder Stich hält. Andere Nationen täten daher sehr wohl, wenn sie die deutsche Sprache lernten, indem sie damit in den meisten Ländern fortkommen würden. Dies ist sehr natürlich, da mehrere Länder, wie Schwe­ den und Holland, ganz von germanischem Stamm sind. Sie hängen nicht so sehr an ihrem Vaterland und nehmen leicht den Schlag eines andern Volks an. Sie sind vortreffliche Kolonisten, j a sogar mit der mindesten Unter­ stützung. Sie sind die besten Cultivateurs. Die Deutschen lassen sich nicht allein gut regieren, sondern sie bedürfen sogar desselben, sie unterwerfen sich gern einer Obrigkeit. Das kommt mit von dem Hange zum Systema­ tischen. Sie halten sich nicht i mmer für die erste Nation, verachten daher auch keine andre, haben überhaupt keinen Nationalstolz. D ieser ist auch in der Tat absurd. Denn wenn man glaubt, VorzUge zu haben, so bewirbt man sich um keine. Die Sprache der Deutschen selbst macht, daß wir beim Lesen von dem Fortschritte des Geistes in andern Sprachen gar nicht so profitieren können. Man könnte sie jungfräul ich nennen. Denn sie leidet keine Beimischung aus fremden Sprachen. Der Franzose hingegen kann jedes fremde Wort metamorphosieren. Es ist schwer, neue Worte in der Deutschen Sprache aufzubringen, z. B. groß und hehr klingt immer noch fremde. Dafür hat sie aber auch einen außerordentlichen Reichtum (durch die Zusammensetzung) an eigenen Worten und nähert sich darin der griechi­ schen. Der Deutsche ist sehr gesellschaftl ich und zugleich gastfrei , nicht, wie der Franzose, der zwar ersteres, aber nicht letzteres ist. Er sucht gemein­ hin die Fremden auf aus Neugierde. Er ist ein gutes Glied der bürgerlichen und Umgangsgesellschaft Das Geistvolle scheint dem südlichen Teile mehr eigen zu sein, als dem nördlichen. Die deutsche Sprache hat den weitesten Umfang in allen Ländern, außer vielleicht in England. Völker, die noch nicht genugsam aus der Barbarei herausgekommen und die noch einen Hang haben zurückzufal len, es dürften nur gewiße Um­ stände dazu kommen, sind: 1 . Polen, 2. Russen, 3. Türken. Polen und Russen sind slavische Völker. Diese machten einen besonderen Stamm aus, der sich weit bis nach Westen ausgebreitet hatte. Auch Leipzig war noch eine slavische Stadt. Die Wenden sind zu diesem Stamm zu rechnen. Man findet bei ihnen n ichts anders, als Herren und Knechte. Der Name Slav bedeutet Sklave. Leibeigener verstand man unter Slavonier oder Sclavonier. Es ist doch große Verschiedenheit im Charakter der slavischen Völker. - Die Türken haben nicht Herren und Leibeigene, sondern im Grunde sind sie alle Sklaven und Despoten.

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VI. Polen. Polen ist ein besonderes Land. Es hatte gleichsam nur einen wirklichen Stand, nämlich den Adel. Nur dieser machte den Staat aus. Es gab wohl freie gewerbtreibende Bürger. Aber nie haben sie den Rang eines Staatsbürgers behauptet. Sie verlangen Freiheit, Gesetz, aber keine Gewalt über sich. Was Absurderes läßt sich wohl denken? Sie wollen den Stand der Natur und Freiheit, nämlich so, daß jeder frei und ungestraft den andern totschlagen kann, und dennoch verl angen sie ein Gesetz dagegen und dies muß Gewalt haben, wenn es Wirkung haben soll , und dies wollen sie auch nicht. Die Polen werden als leichtsinnig beschrieben, von keiner festen Ent­ schl ießung und sehr veränderlich. Sie machen Schulden, ohne daß sie daran denken, wie sie sie bezahlen werden, und zwar geschieht dieses nicht aus Grundsätzen, sondern weil sie immer schlechte Haushalter sind. Bei ihnen findet man Mangel an Ordnung, große Güter, aber v iel Schulden. Sie sind reich, aber es fehlt ihnen al lenthalben, bald an Gläsern, Schuhen usw. Sie erregen immer ein großes Geschrei nach Freiheit, aber unter dieser Freiheit verstehen sie nur einzelne Freiheit und nicht Staatsfreiheit Wei l es bei ihnen keinen Mittelstand gibt, so haben sie auch wenig Kultur, sowohl in Ansehung der Künste als auch der Wissenschaften. Denn gewöhnlich geht die Kultur nur vom Mittelstande aus. Der Adel, der reich ist, bekümmert sich nicht darum und die anderen ebensowenig. Man findet nicht so leicht unter den Polen einen Mann, der sich in irgendeinem Fache oder in irgend­ einer Wissenschaft besonders hervorgetan hätte. Man zählt wohl einige darunter, aber mit Unrecht. Ein gewisser Herzensanteil am Vorteil des Ganzen, wie z. B. bei den Engländern Public spirit, fehlt ihnen gänzlich weil ein jeder sich als eine Art von Souverain dünkt, und nur alsdann kann der Anteil am Ganzen stattfinden, wenn sein eigener Vorteil mit ins Spiel kommt. Die Polen haben etwas Weiches an sich. Aus dem, was jetzt unter den Polen vorgegangen ist, läßt sich gar nicht mit Zuversicht auf die Zu­ kunft schl ießen. - Die polnischen Damen sind diejenigen, die unter al len andern Nationen den ausgebreitetsten Verstand, die größte Staatsklugheit, Umgang und die mehrste Welt haben. Die Polen sind vol ler Höfl ichkeit gegen sie. D ieses Volk ist eben nicht zur anhaltenden schweren Arbeit gemacht, überhaupt zu keiner Anstrengung der Kräfte. VII. Rußland. Die Russen haben Adel , aber dieser hat lange nicht die Freiheit wie in Polen. Denn sie stehen unter despotischer Regierung und haben keine andere Freiheit, als die, welche ihr Souverain ihnen gestatten will. In Polen ist der Edelmann nicht Sklave. Die Russen sind wahre Unter­ tanen des Staats im eigentlichen Sinn des Wortes und doch sind sie auch Herren, die wieder Untertanen haben. Die vornehmen Polen sind Aristokra­ ten, keinesweg die vornehmen Russen. (Aristokraten sind die Vornehmen des Volkes, die an der Gesetzgebung tei l nehmen.) D ie Russen unter­ scheiden sich von den Polen schon im Gesichte. Der Russe hat den Aus-

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druck des Eigensinns, ist ein Starrkopf, fest im Vorsatze, brauchbar zu schwierigen Unternehmungen, die Beharrl ichkeit und Anstrengung erfor­ dern, weil er hart, fest und beharrlich ist. Er liebt die Veränderung nicht und ist voll steifer Anhängl ichkeit an seine Nation: d ies ist ein Zeichen der Eingeschränktheit seines Geistes. Daher kommt es auch, daß Russen selten desertieren. Er haßt fast alle andern, die nicht Russen sind. Er gibt den besten Stockmeister ab, wei l er außerordentlich mißtrau isch und verdacht­ voll ist. Sie sind außerordentlich treue D iener, präzis in al len Dingen, die der Herr ihnen befiehlt. Sie verbergen aber den heiml ichen Haß, den sie bisweilen gegen ihn gefaßt haben und sind, wenn er gestürzt wird, die ersten die sich darüber freuen. Der Russe nimmt die Kultur, die auf Conduite geht, nicht so leicht wie der Pole an, aber er ist desto besser zu disziplinieren, weil er nicht so leichtsinnig ist. Er ist daher der beste Soldat als Instrument des Krieges, wenn nur die Befehlshaber klug sind; denn er gehorcht absolut. Er hat viel Geschick alles selbst zu machen. Anmerkung. D ie Völker, wovon einzelne so künstlich sind, sich alles machen zu können, sind die rohesten. Dies beweisen die Russen. Der Bauer macht im Notfall sich selber Schuhe, Wagen und bastelt immer, wie wir es nennen , und pfuschert es so, daß es zu seinem Zwecke hi nreicht, wenn es auch nicht von Dauer ist. Er baut sogar sein eigenes Haus, macht sich seine Kleider und i n der Art ist er klüger und geschickter als alle anderen Nationen. Aber eben weil hier sich ein jeder selbst alles macht, sind Künste und Gewerbe im schlechten Zustande. Der Städte und Künstler sind wenig. Wenn Städte bestehen sollen, so müssen die Landleute nur den Boden bearbeiten und ihre Bedürfnisse aus der Stadt holen. So entsteht nicht nur eine Menge Städte, weil die Bedürfnisse groß sind, sondern diese verzehren auch wieder die Produkte des Landmanns, die er verkauft, damit er sich wieder aus der Stadt kaufen kann, was er nötig hat. Auf die Art bleibt alles Getreide und Geld dafür im Lande, welches nur in kultiv ierten Ländern stattfindet, Schlesien ist daher berühmt wegen seiner schönen vielen und volkreichen Städte. Der Russe kann alles lernen. Sie erreichen al les. Nur Tücher wollen sie nicht machen, obgleich sie prächtige Zeuge Drap d ' or und d ' argent zu Westen verfertigen. Die Stahl arbeiten, die in der Gewehr­ fabrik zu Tula verfertigt werden, geben den englischen nichts nach. Sie sind Nachahmer und können daher wohl alles lernen, aber nichts wiederlehren, sie können alles nachmachen, aber nichts selbst machen. So können sie gut malen, aber nichts selbst erfinden. Sie nehmen gerne die Lehrer von aus­ wärts. Obgleich Rußland 80 Jahre i m Stande der Zivilisierung ist, so ist noch kein einziger großer Kopf von ihren Universitäten gekommen. Es muß etwas im Naturschlage l iegen, was man nicht so kennt, aber es trifft bei allen slavischen Nationen ein. - Ob man von den Slaven überhaupt wiede­ rum eine große Revolution zu besorgen hat? Im Grunde könnte man sagen:

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ja. Denn es scheint, als werden sie nie Kultur erlangen, und doch sind sie kriegerisch. Ob sie aber von Dauer sein werde? Alle solche Revolutionen sind von keiner Dauer, wenn sie nicht zusammenschmelzen sondern in Opposition bleiben. Man kann das schon an den Russen sehen. Es l iegt an ihrer Sprache und Abneigung zu Kultur und Wissenschaften, und schmel­ zen sie j e zusammen, so bleiben sie nicht mehr Russen. Auch würde die Macht wahrscheinlich sich selbst wieder vernichten, sofern nicht die Bar­ barei alles niederdrückt. Es scheint der Wille der Vorsehung, daß viele Menschen verschiedene Religionen haben sollen, um dadurch das Zusammenschmelzen in eine Masse in einer Monarchie zu verhindern. Engländer können nicht einmal mit den Schotten zusammenschmelzen, größtenteils wegen Verschiedenheit der Religion, auch sonst sind ihre Sitten äußerst verschieden. Jede Nation besonders erhält besser in sich die Freiheit und Kultur. Wir haben ein Beispiel an den Römern: Wie sie anfingen die Welt zu beherrschen fielen sie in Barbarei. VIII. Die Türkei. Die Türken und Tataren (welche meist ein Volk aus­ machen - man rechne aber hierher nicht d ie Nogaj ier und Bedziker, denn obgleich sie die näml iche Religion haben, so sind sie dennoch nicht von derselben Rasse -) , kann man sagen, sind noch fast ganz in der Barbarei und diese können auch gar nicht mit andern Nationen zusammenschmelzen, vorzüglich die Mohammedaner, die entsetzlich stolz sind. Ihre Religion ist die insoziabelste. Sie unterscheidet sich durch Stolz von al len anderen Religionen. Würden sie die halbe Welt erobern, so bl ieben sie dennoch gew iß ganz abgesondert. In ihren Moscheen haben sie bloß Zeremonien, nicht das Demütige, was bei der christlichen Rel igion ist. Sie glauben die einzigen zu sein, die den wahren Gott anbeten, indem sie den andern die Bilder vorwerfen. Meistenteils verlieren sie ihre Eroberung ebenso schnell, als sie sie machten. Sonst sind sie ehrlich, tapfer, nüchtern , voll starker Triebfedern, ernsthaft, zuverlässig, mutig und überhaupt ein wohlgebi ldetes Volk mit treffl ichen Eigenschaften begabt. Aber ihr unermeßl icher Stolz gereicht ihnen sehr zum Tadel, ferner ihre Rohigkeit und daß nur Gewinn und Vermögen sie aufmuntert. D ies macht sie zwar niederträchtig in dem Auge jedes Menschen, aber ein jeder muß doch ihre natürlichen Anlagen rühmen. Auch verlangen sie i mmer Geschenke. Jeder Gouverneur will von jedem Reisenden was haben. Das Merkmal roher, barbarischer Völker ist, daß sie keine unmittelbare Achtung vor dem Gesetz haben, welches bei kultivierten nicht so ist. Sie suchen ihr Heil und Glück in Gesetzlosigkeit und wähnen sich frei, wenn ohne ihre Bewilligung sie von Steuern frei sind, und ertragen übrigens die gleichsam mit Sturm ausgeübten himmelschrei­ endsten Ungerechtigkeiten, wenn z. B . ein unschuldiger Pascha stranguliert oder geköpft wird, welches leider im osmanischen Reiche nichts Neues

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wäre. Dabei trösten sie sich damit, daß sie vor der Hand immer noch frei sind, wenn auch einem Andern der Kopf genommen wird. Selbst die gemeinsten Weiber haben in i hren Mienen einen Blick von Selbstzuversicht und Gefühl von Freiheit. Geburtsvorzüge sind ihnen unbekannt. Unter­ ordnungen leiden sie nicht und haben sie auch nicht. Die Eigenschaft, durchs Gesetz diszipliniert zu werden, kann nur bei kultiv ierten Nationen stattfinden. Man kann überhaupt jedes Land mit einem besondern Namen belegen. Frankreich könnte man nennen das Modenland, Spanien das Ahnenland, Italien das Prachtland, England das Land der Launen , Deutschland das Titelland, Polen das Prahlland und Rußland das Land der Tücken. Obgleich die Völker ganz verschiedene Nahrungsmittel haben, so muß man gestehen, daß wenn man die russische Armee gesehn, sie einen Vorzug hat, der ihr allein eigen ist. Der Nationalcharakter ist also keine bloße Chimäre, denn so wie ein kalmückisches oder mongolisches Gesicht gleich in die Augen fällt, so leicht bemerkt man auch, von welcher Nation jemand ist, wenn man den Nationalcharakter kennt. Ein französisches Gesicht kann man sogar in Hogarths Kupferstichen gleich erkennen , wenn er es auch selbst verschwiege. Von den Preußen kann man wegen ihrer großen Ver­ mischung mit andern Völkern, die sich seit kurzer Zeit hier aufhalten, nichts Bestimmtes festsetzen. Indes will man i hnen doch durchgehends Falschheit beimessen, wie auch Zurückhaltung, und dies kann wohl auch sein, weil sich die Zurückhaltung gewöhnlich da einfindet, wo die Familien nicht genug ausgebreitet, ganz verschieden und sich einander fremd sind. Dazu kommt noch d ies, daß die Regierung zu einem auswärtigen Ort geführt wird, woraus eine Zurückhaltung und Neid gegen die, so ihnen vor­ gezogen werden, entsteht. - Von den Czeremissen, welches Heiden sind, die an den Grenzen des Gebirges, welches Rußland von dem Asowschen Gouvernement absondert, wohnen, hat man versichert, daß sie alle Fremde unterscheiden können, sie mögen gekleidet sein, wie sie wollen.

[IV.] Vom Charakter der Rasse

Wo wir den ganzen Menschenstamm nach Ästen nehmen und betrachten. Rasse ist ein notwendiger, angeborener, erblicher Unterschied von andern. Es sind vier Hauptrassen: 1 . Die Amerikaner. Ihr Charakter ist eine große Unempfindlichkeit und die daher entspringende Gleichgültigkeit, so daß selbst die Kreolen, die daselbst von europäischen Eltern geboren werden, an dieser Gemütsbe­ schaffenheit Tei l haben. Ihre Farbe ist kupferrötlich wie Eisenrost mit Öl vermischt. Sie können entsetzliche Operationen aushalten. Ebenso sind sie

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auch unempfindlich in Affekten. Diese Leute affiziert nichts und sie werden weder durch Versprechungen noch durch D rohungen gerührt. Ja, sie sind selbst in Ansehung der Geschlechterneigung kaltsinnig. Zur Rache haben sie große Neigung. Die Freiheit bei ihnen ist nicht wie die in Europa, sondern tierische Freiheit. Dieser natürlichen Freiheit aber opfern sie auch alle Süßigkeiten des Lebens auf. Sie haben keine Sorgen. Des Morgens verkauft er seine Hängematte und des Abends wundert er sich wohl gar, daß er nichts hat, worauf er liegen kann. Sie sind eben nicht gesprächig. Die Weiber nehmen oft Wasser ins Maul, daß sie nicht reden dürfen. Dies kann man auch schon daraus erkennen, daß die amerikanischen Hunde die Men­ schen nicht lieben, sondern vielmehr vor ihnen fliehen, weil sie nie ge­ wohnt sind von ihnen geschmeichelt zu werden. 2. Die Neger oder Afrikaner haben einen ganz entgegengesetzten Cha­ rakter, obgleich Afrika mit Amerika in einem Klima l iegt. Sie sind voller Lebhaftigkeit, Leidenschaft, Affekt. Der Neger ist eitel , geschwätzig, scherzhaft, nimmt Kultur an, aber entweder die eines Knechts oder eines Umtreibers. Man hat nie bemerkt, daß wenn einer von ihnen frei geworden ist, er ein Handwerk ergriffen hätte. Lieber mag er ein Kaffeehaus oder Gasthaus haben. Er scheint dazu gemacht zu sein, andern zu dienen, aber nie zivilisiert zu werden. Sie sind bei ihrem lebhaften Naturell l äppisch. Denn obschon ihre Fasern reizbar sind, so fehl t ihnen doch eine gewiße Festigkeit in denselben, daher es ihnen an Standhaftigkeit mangelt und sie zu allem ungeschickt sind, wozu Verstand erfordert wird. Sie sind wie die Affen sehr geneigt zum Tanzen, so daß sie auch an dem einzigen Tage, den sie von ihren Arbeiten frei haben, übermäßig viel tanzen. Sie plaudern ganze Nächte hindurch, wenn sie auch den ganzen Tag über gearbeitet haben, und schlafen wenig. 3. Die Inder in Asien oder Hindostaner haben eine Art von Selbst­ beherrschung, ein sich selbst besitzendes Gemüt. Sie geraten fast nie in Hitze. Allein sie haben starke Leidenschaft und tragen alles dieses nach. Sie nehmen alle bürgerliche Kultur an, sind aber keiner Aufklärung fähig. Sie haben ein Maß, über das sie nicht kommen. Ihre Religion bleibt ganz unverändert. Sie haben wohl Künste, aber keine eigentlichen Wissenschaf­ ten. Als Bürger sind sie geduldig und gehorsam. Sie haben keine eigent­ lichen Begriffe von Ehre und Tugend. Denn dies setzt Geist und Genie voraus. Sie legen sich auf List und Ränke. Sie können am meisten in tiefen Gedanken sein. Sie tun entweder gar nichts oder legen sich auf Glücks­ oder Wagespiele, besonders in der Jugend. Dahin gehören auch die Würfel. Dies ist an sich schon ein melancholisches Spiel. Bei zunehmenden Jahren können sie wohl einige Stunden hintereinander bei einer Angel sitzen, obgleich kein Fisch da ist, der anbeißt. Der Charakter der Ostinder ist zurückhaltend und behutsam. Sie sehen alle wie Philosophen aus. Wenn ein

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Europäer sie anfährt, so besänftigen sie ihn und entfernen sich gerne, um nicht Streit zu haben. Die Ursache ist die Feinheit ihrer Fasern, da sie sehr leicht aus al ler Fassung gebracht werden. 4. Die Europäer oder Weißen sind gemeinschaftlich zum Ungestüm aufgelegt. Bei ihnen findet man alle Triebfedern, Affekte, Leidenschaften, aber auch alle Anlagen und Talente zu Künsten und Wissenschaften. Sie haben die Eigenschaft durch Gesetze zivilisiert zu werden und doch frei zu sein. Sie nehmen nicht allein Disziplin an, welche auch der Neger annimmt, sondern auch Kultur des Geistes. Ohne Geist bleibt der Mensch borniert, ohne Naturell roh, d. h. er lernt nichts, und ohne Instinkt ist keine Kultur. ­ Was soll man sagen, werden die Rassen zusammenschmelzen oder nicht? Sie werden nicht zusammenschmelzen und es ist auch nicht zu wünschen. Die Weißen würden degradiert werden. Denn jene Rassen nehmen nicht die Sitten und Gebräuche der Europäer an. Es gibt nun noch außer diesen Rassen die mongolische oder kalmücki­ sche Rasse, die sich von den andern unterscheidet. Sie haben platte und schmale Gesichter, kleine Nasen und Augen und bartloses Kinn. Der Schnitt ihrer Augen ist schief einwärts nach der Nase zu. Sie haben viel Tapferkeit und Fähigkeiten alles zu lernen. Sie machten nie große Erobe­ rungen, ohne sie wieder zu verlieren. Es kommt mit von ihrem Hange zum Hirtenleben her. Rußland hatten sie 200 Jahre. Sie waren berühmt unter dem Namen der Hunnen. Die weiße Rasse ist die vorzüglichste und hat sich schnell allenthalben ausgebreitet.

[V.] Vom Charakter der Menschengattung

Um ein Wesen zu charakterisieren, müssen wir es mit andern vergleichen. Womit können wir die Menschen vergleichen? 1. mit der Tiergattung, 2. mit der Gattung vernünftiger Wesen überhaupt. - Der Mensch ist ein vernünftiges Tier.

1 . Charakterisierung des Menschen im Vergleich mit der Tiergattung

Es fragt sich, ob er vier- oder zweifüßig ist, d. h. ob er bestimmt war, auf vieren oder zweien zu gehen. Es scheint, als wäre es keine vernünftige Frage. - Ein Gelehrter in Pavia, Moscati, hat geschrieben, ob die Natur den Menschen bestimmt habe auf zwei oder vier Füßen zu gehen. Er ist für das letztere und zeigt die Beschwerlichkeiten von dem Gehen auf zwei Füßen. Er sagt:

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1 . Es ist schädl ich um der Eingeweide willen. Sie drücken nach unten

zu. 2. Bei einer schwangern Frau ruht die Frucht zu sehr auf dem Mutter­ munde und kann leicht abortus hervorbringen. 3. Das Blut müsse beim Zirkulieren immer steigen usw. Aber dies ge­ reichte ihm zum Verderben. Maria Theresia setzte ihn ab, und nun weiß man nicht, wo er geblieben ist. Indes hat seine Meinung bei näherer Unter­ suchung nicht völlig Grund , wenn auch schon der Mensch an den Wald­ menschen grenzt, daß es wirklich Affen gibt, die häufig auf zwei Füßen gehen. Camper, ein Arzt in Franeker, hat am besten davon geschrieben. Er sagt es von Affen, der die höchste Höhe gehabt hat (4 1 /2 Fuß) , er habe mit seinen Füßen greifen können, aber keine Kniescheibe gehabt. Er hatte auch eine ganz andere B auart im Schlunde, nach welcher er nie sprechen lernen kann. Es ist also umsonst zu glauben, daß der Mensch eine Affengattung wäre. Der Gibbon oder langbändige Affe ist dem Menschen am ähnlichsten und der Orang-Outang. Die holländische Sozietät in Batavia behauptet, daß noch nie ein Orang-Outang in europäische Hände gekommen. Der echte Orang-Outang ist auch darin dem Menschen ähn l ich, daß er nicht wie ein anderes Tier sich mit seinen eigenen Gliedmaßen (Füßen, Händen, Zähnen) wehret und verteidigt, sondern er bedient sich dazu starker Stöcke, er reißt Äste ab von den Bäumen und wirft sie nach denen, die ihn fangen wollen. Ist der Mensch ein fruchtfressendes oder fleischfressendes Tier? Ist er das letztere, so wäre er ein Raubtier. Dies ist er aber nicht, nach dem Bau seiner Zähne, seines Magens wegen ebenfalls nicht. Hat die Mutter oder Amme Fleisch gegessen, so bekommt die Milch dem Kinde am besten. Bekommt die Amme nicht gut zu essen, so gerinnt ihre Milch wie Kuhmilch. Der Magensaft ist ein wenig salzig, aber nicht sauer, und nur, wenn er die Säure versüßt, kann er zum Nahrungssaft dienen. Der Mensch muß also wohl gemacht sein für beides, hauptsächlich für Fleisch. Die Früchte sind auch nicht zu aller Zeit. Die wenigsten sind auch von der Beschaffenheit, daß sie sich bis zum Winter halten, und die Kunst, sie aufzubewahren , findet nur bei kultivierten Völkern statt. Die Tiere sind aber auch eher gewesen , als die Menschen, und die rohen Nationen essen meist nur das Fleisch von wilden Tieren. Ist der Mensch ein geselliges oder einsames Tier? Er ist wohl ein gesel­ liges, denn er hat viel Bedürfnisse, die er wohl unmöglich allein befriedigen kann. Der Mensch muß sich selbst Kleider machen, Hütten bauen, wie das Kaninchen und jedes andere Tier. D ie Vorsicht hat ihn so eingerichtet, daß er ohne andere nicht sein kann. Die Fam i l ien werden sich zusammen­ gehalten haben, wei l der Mensch Beistand brauchte. Sie haben sich durch die Erziehung einander unentbehrl ich gemacht. Auf der Westküste von Amerika findet man unter Felsen sowie in Kamtschatka Kolonien von Men-

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sehen. Sie waren einander unentbehrlich in den unentbehrlichsten Bedürf­ nissen. In Summa: die Menschen bedurften einander, trennten sich al lein bei der Vergrößerung. Von der andern Seite ist der Mensch auch wieder das ungeselligste Tier. Denn sobald die Familie größer wurde, sich erhalten konnte und der andern nicht mehr bedurfte, sonderte sie sich ab. Dies war das Mittel der Vor­ sehung, die Völker über die ganze Erde zu verbreiten. D ieses Absondern findet noch bei den Indianern statt. Unter den Eskimos sucht oft ein Stamm den andern auf 1 00 Meilen auf, um ihn totzuschlagen. Sieht ein Mensch in der Wildnis einen andern, so erschrickt er vor ihm weit mehr als vor einem Tiger oder sonst einem reißenden Tier. Vor dem Tier kann er sich schützen, er weiß voraus, was er tun kann, aber vor dem Menschen nicht. Denn er weiß nicht, was er im Schilde führt. Man sieht dies auch bei kultivierten Staaten. Jeder rüstet sich im Fall , daß es nötig wäre, zur Verteidigung, und täte er es nicht, so würde man ihn gewiß angreifen. Obgleich Friede ist, steht alles in Kriegsrüstung. In der Natur liegt also Mißtrauen und Ungesel­ ligkeit. Der Mensch hat keinen ihm von der Natur gegebenen Instinkt zum Gebrauch desjenigen, was er äußerlich bedarf. Er kann nicht riechen, ob etwas schädl ich oder unschädlich in der Nahrung ist. Er muß erst al les lernen. Nicht einmal den Instinkt zu schwimmen hat er oder sich vor dem Wasser in acht zu nehmen. Das Kind l äuft gewiß hinein.

[2.] Charakterisierung des Menschen als vernünftiges Wesen Die Natur hat ihm keine Kunsttriebe gegeben, sondern er muß erzogen, d. h. gebildet und belehret, und nicht bloß aufgefüttert werde, denn dies muß jedes Tier. Den ersten Menschen sich zu denken, wie er hat sprechen, sich in alles finden, auch erhalten können, geht über unsere Vernunft. Der Mensch bedarf also Erziehung, d. h. 1. Unterweisung, 2. Disziplin, weil er, ob er gleich von Natur widerstrebend ist, gesellig sein muß, wenigstens in seiner Familie, so muß er dazu gezwungen werden. Disziplin ist Ein­ schränkung des eigenen Willens eines Geschöpfs unter gewisse Regeln, die mit dem Zweck übereinstimmen. Ein Mensch ist gut diszipliniert worden , d. h. er hat oft die Rute bekommen, bis er das geworden ist, was er nun nach den Regeln der Disziplin ist. Aller Gesang der Singvögel ist kein Instinkt. Die Jungen müssen von den Alten lernen. Die Vögel haben verschiedene Organlaute. Sie haben solche Töne unter sich zusammengesetzt, die für ihre Organe am passendsten sind. Ein Vogel , der einen Gesang von der andern Gattung abgelernt hat, lernt den von seiner Gattung nicht wieder. D ies zeigt, daß es nicht angeboren ist.

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Da der Mensch gewußt hat, den Hund zu erziehen, so wurde er Herr darüber. Ebenso war es mit allen andern Tieren. Der Mensch ist von der Natur gemacht, sich alles selber zu erfinden. Er soll sich seiner Geschicklichkeit al les zu verdanken haben. D ie Natur hat ihm dazu nichts weiter als eine geschickte Hand gegeben. Die Hand ist sonderbar dazu gemacht. In ihr liegt der künstl ichste Bau. Das zeigt an: er muß sie mannigfaltig gebrauchen, und d ies setzt Vernunft voraus. Das Individuum gelangt nicht vollständig zur Erfül lung seiner Bestimmung, sondern die Spezies, d. h. das Kind tut immer wieder etwas zur Vermehrung der Kenntnisse des Vaters. Der Mensch lernt anfänglich, dann lehrt er es seinen Kindern, diese denken mehr hinzu und lehren es wieder. Der Vorrat der Kenntnisse wächst und so geht es auch mit den Arbeiten. Der Vater baut ein Haus. Das Kind tut einen Stall dazu. Es sind also die Menschen zum Fortschreiten durch Generationen bestimmt. Die Gattung erreicht nur die menschliche Bestimmung. Was ist die Bestimmung des Menschen? Das Existieren macht noch keinen Zweck aus. Ist es zum Genuß oder zur Kultur? Der Mensch hat nicht die Bestimmung zu genießen, sondern nur Kultur, d. h. die größtmögliche Entwicklung der Naturanlagen zu erreichen. Man kann wohl nicht mit Rousseau annehmen, daß der Mensch hier nicht glücklich sein soll, sondern im rohen Zustande bleiben wird. Der letzte Naturzweck ist Kultur. D ies muß die größte moral ische Vollkommenheit bewirken, und Moralität der Sitten scheint der Endzweck zu sein , das Ende aller Bestimmung. - Wel­ ches ist der Zustand des Menschen, in dem er d iese Bestimmung der höchsten Kultur erreichen kann? Dies ist der bürgerliche Zustand. Der Mensch ist nicht nur für das Leben im Naturstande, sondern für das im Zivilstande bestimmt, was wieder moralische Sittlichkeit zur Absicht hat. Rousseau hat diese Lehre vorzüglich rege gemacht. Er sagt, der Mensch wäre zum Naturstande geschaffen, weil in diesem weniger Keime zu mannigfaltigen Übeln, als in jenem wären, in dem es wohl Rohigkeit, aber nicht solche Laster wie im Zivilstande gäbe, wo sie wenn auch hie und da eine Tugend ist, überwiegen. Dieses ist aber gewiß falsch. Denn sonst hätte der Mensch nicht nötig die Anlagen der Natur zu haben, die ihm doch eigen sind. Die Vorsehung hat nur das Leben mühsam machen wollen, so daß, wenn man schon einen Zweck erreicht hat, man einem andern nachstrebt. Rousseau sagt sogar, die Natur habe uns für Wälder gemacht. Der Zustand der Entwicklung, wenn der rohe Mensch zur S ittlichkeit oder Kultur übergeht, ist der schwerste und auch gefährlichste. Der Mensch ist be­ stimmt zum Zustande der Kultur, und dies geht auf Grade, die man nicht absehen kann. Eine Generation erlangt immer mehr Kultur als die andere. Der Mensch z. B. sollte, wenn wir ihn betrachten nach der sittlichen Bestim­ mung, sich niemals den Genuß, auch nicht die Neigung zum Geschlecht

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erlauben, als unter der sittlichen Bedingung der Ehe. Nach dem Naturstande hat er schon im sechzehnten Jahr das Vermögen und den Antrieb zu zeugen. Aber dies ist nicht genug. Er muß auch Weib und Kinder ernähren können. Im Naturzustande ginge es wohl an. Dies zeigen die warmen Länder. Weil mehr Ausübung der Kunst im gesitteten Zustande ist, so ist auch v iel mehr nötig zur Erhaltung des Hauswesens , und da ist er im sechzehnten Jahre, vielleicht im zwanzigsten noch Lehrling, noch ein Kind, wenn er schon als Naturmensch ein Mann ist, d. h. einem Weibe beiwohnen kann. Jüngl ing kann man denjenigen nennen, der wohl zeugen, aber nicht ernähren kann. Es ist also ein wunderbarer Widerspruch. Die Zwischenzeit, als Naturmensch Mann und im bürgerlichen Stand Mann, zwischen 16 und 24 oder 30 Jahren füllt der Mensch mit Lastern aus. D iese Zwischenzeit zeichnet sich dadurch aus, daß der Mensch sich Gewalt antun, d. h. seiner Naturbestimmung Abbruch tun muß. Es scheint der Bestimmung der Menschheit zuwidergehandelt zu sein. Etwas Unbegreifliches bleibt immer übrig. - Die Jahre, welche der Mensch lebt, scheinen zu kurz zu sein für die Wissenschaften und die Begierde zu lernen. Dies dient zum Einwurf gegen die Kultur des Menschen, die doch bei größerer Lebenslänge leichter ge­ wesen wäre. D ieses gehört zur Bestimmung der Menschengattung aber nicht des Individuums. Bengelhaft hieß vor 200 Jahren ein sechzehnj ähriger Mensch, soweit im guten Sinne, der wohl ein Weib nehmen, aber es nicht ernähren konnte. Der Mensch hat Talente und Anlagen in sich, die weiter gehen, als zum Natur­ erfordernisse nötig ist. Die ganze Lebensart eines Gelehrten oder Künstlers ist dem Körper nicht gut. Denn Wissenschaft unaufhörlich mit Fleiß zu betreiben, erschöpft des Menschen Lebenskraft. Es ist der Natur des Menschen nichts angelegener, als frei zu sein. Dies zeigt sich auch schon bei Tieren. Den Verlust der Freiheit fühlt jederzeit der Mensch. Freiheit bringt auch Kultur mit. Sie verliert bei jeder Vereinigung der Menschen. Die Natur mit der Kultur harmonisch zu machen, ist die schwerste Aufgabe. Rousseau hat immer am tiefsten nachgedacht. Er hebt den Naturzustand heraus und preist ihn ausnehmend: 1 . in Ansehung des Lebensgenusses, 2. in Ansehung der Freiheit von den Übeln des Lebens in der Kultur, 3 . in Ansehung der Freiheit von den Lastern in der Kultur. Er will, der Mensch soll zurück in den rohen Zustand, er soll die Wissen­ schaften fliehen, indem er den Schaden derselben zeigt, daß sie auf Kennt­ nisse ihr Leben verwenden usw. Etwas ist wohl wahr, denn einigen Scha­ den haben die Wissenschaften wirklich getan, aber - wie überwiegend bleibt der Nutzen ! (vid. Terrasson) . Wenn Rousseau so spricht, so haben viele ihn nach den Worten verstanden. Aber er w i l l nicht, daß wir zurück­ kehren, sondern nur auf die Natur zurücksehen sollen, damit es nicht bloß Kunst wird !

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Es sind hier drei Schäden genannt, die von den Wissenschaften her­ rühren, worüber denn Rousseau besondere Werke geschrieben: 1 . Emile oder über die Erziehung. Hier sagt er: a) nichts verliert von der Natur, b) nichts von der Glückseligkeit, die die Natur gewährt. In seinem 2. Buch von der Ursache der Ungleichheit unter den Menschen . Da spricht er: a) von dem Mein und Dein des Bodens und endlich, wie die Gewalt entspringt: b) vom Unterschiede zwischen Herr und Knecht, der so ganz der Natur zuwider ist. 3. Der Sozialkontrakt. Der Stand der Natur kann heißen Stand der Un­ schuld, weil keine Gewalttätigkeiten stattfinden. Der Mensch ist nicht zum Genuß allein gemacht, sondern zur Kraftäußerung. Das Böse, was in seiner Natur l iegt, ist auch eine Triebfeder zum Guten. Wei l das Böse nicht be­ stehen darf, kann es dem Guten Platz machen. Der Mensch hat zum Stachel der Tätigkeit: 1. Neigungen, 2. eigene Übel, 3. anderer Übel. Der Mensch ist für die Gesellschaft gemacht, wie die B iene für den B ienenstock. Er hat keine Ruhe, bis er sich mit dem andern auf irgend eine Art assoziiert. Der bürgerliche Zustand besteht: 1 . aus Freiheit, 2. aus Gesetz, 3. aus Gewalt. Soll die Freiheit gesichert sein, so wird Gesetz erfordert. Das Gesetz ist eine bloße Idee, die der Mensch befolgen kann, wenn er will. Also muß auch Gewalt damit verbunden sein, daß er es befolgt. Es gibt viererlei Verfassungen: 1 . Freiheit ohne Gesetz und ohne rechtmäßige Gewalt ist der Zustand der Wi ldheit oder eine völlige Anarchie. - Anarchie sol l im Bürgerl ichen etwas vorstellen, ist aber nichts. 2. Freiheit und Gesetz, aber ohne Gewalt, z. B. die polnische Freiheit, sie wollen Freiheit durch Gesetze haben, aber keine Gewalt. 3. Gewalt ohne Gesetz und ohne Freiheit ist Tyrannei. 4. Gesetz mit Gewalt, aber ohne Freiheit ist Despotismus, z. B . in vollem Maße in der Türkei. Die Vollkommenheit der bürgerlichen Verfassung beruht darauf, wie Freiheit, Gesetz, Gewalt vereinigt werden können. Dies ist die größte Auf­ gabe, die uns die Natur schon gegeben hat. Wie dies Problem aufzulösen ist, daran hat bis jetzt die ganze Menschheit gearbeitet, nicht allein Ge­ lehrte, sondern auch d ie Völker selbst. Die ganze Völkergeschichte ist anzusehen als eine Bestrebung eine vollkommene bürgerliche Verfassung hervorzubringen. Aber dies ist nicht planmäßig geschehen, gewiß auch aus weiser Absicht der Vorsehung. Die Menschen rücken fort in der Kultur, aber das Wesentliche ist die Bestrebung nach vollkommener Verfassung, und d ies ist Kultur. Der Zustand, ehe sie unter Gesetze treten, ist der

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Nomadenzustand oder der Zustand der bandenlosen Freiheit. Die Errich­ tung der bürgerlichen Verfassung wäre die Realisierung des juris naturae. Das jus gentium zu realisieren, müssen die Völker unter sich einen Bund machen. Es ist zu hoffen die Realisierung des juris gentium, d. h. es wird zu einem allgemeinen Völkerbunde, zu einem ewigen Frieden kommen, wenn auch dieses noch in der Ferne ist. Man kann die Geschichte ansehen als die Entwickelung aller natürlichen Anlagen der Menschengeschlechter und die Fortrückung zu ihrer Bestimmung. Rücken wir vorwärts oder zurück in der Kultur? Wir gehen zum Tei l bisweilen zurück , aber kommen doch im ganzen um einen Schritt weiter, so wie der Nilstrom, der solche Wen­ dungen und Krümmungen hat, daß er zuweilen zurückzugehen scheint, aber doch endlich bis zu seinem Ziele in die See kommt. (Die Zeit des Aberglaubens in der Religion hat v iel für die Kunst getan. Man fände gewiß nicht die vortrefflichen Gemälde in Italien, auch nicht die Bildhauerkunst, die damals aufs höchste gestiegen war, wenn nicht das Interesse der Religion die Menschen zu dieser Kunst begeisterte, indem sie al les durch Gemälde und Statuen vorzustellen suchten. Und wäre das Christentum von jeher gleich rein und unverfälscht gewesen, so wären auch diese Werke der Kunst nie gemacht worden.) Keine Regierung muß versuchen den Untertan glücklich zu machen. Er muß es selbst tun. Sie muß nur negativ dabei verfahren, d. h. verhüten, daß keiner dem andern etwas Böses tut. Rousseau sagt: 1 . die Erziehung muß negativ sein. Auch dieses handelt er in seinem schon genannten Buche Emile ab. 2. Gesetzgebung muß negativ und positiv sein. 3. D ie Religionsunterweisung muß auch negativ sein. Wir können auf zweierlei Art unmündig sein: 1. in einer bürgerlichen Unmündigkeit, d. h. man weiß nicht die Gesetze und wird danach gerichtet (ausgenommen die Furcht) . Dies setzt den Wert des Menschen herab. Die Menschen sind so unmündig geworden, daß sie, wenn sie auch frei würden, nicht bestehen könnten. Menschen können 2. in einer frommen Unmündigkeit sein. Der größte Tei l muß der Schrift gehorchen, die er nicht einmal kennt, d. h. nicht so kennt, daß er sie hinlänglich versteht. Die Bedingungen einer allgemeinen Verbesserung oder eines vollkommenen bürgerlichen Zustandes sind: 1. Bürgerliche Freiheit, 2. Freiheit der Erziehung, 3 . Religionsfreiheit. -

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Vorbemerkungen zum L ogikkolleg*

Die hier mitgeteilten Proben entstammen einem sehr merkwürdigen der Univ. Bibliothek gehörigen Kollegheft, das seinen Besitzer gewechselt zu haben scheint. Der Name Grünheide ist ausgestrichen und Petrenz daneben geschrieben. Die ursprüngl iche Nachschrift ist durch Eintragungen auf eingehefteten Einlegeblättern von anderer Hand ergänzt. Es liegt wohl eine Verschmelzung von zwei Semesternachschriften vor. Es sind in den nach­ stehenden Proben solche Stücke gegeben, die allgemeine erkenntnistheo­ retische Fragen berühren. Von größtem Interesse sind die Ausführungen über die »Grenzen der menschlichen Erkenntnis«. Erwägt man, daß Kant j ahrzehntelang vor seiner Kritik der reinen Vernunft nach dem benutzten Handbuch über dieses Thema (namentlich das Stichwort »Horizont«) nach­ denken und reden mußte, so ist begreiflich, wie tief er sich in die Grund­ haltung eines Erkenntniskritikers hat einleben können. Die schlichten Winke für das philosophische Studium werden manchen Leser aufmuntern, aber auch vor einer Überstürzung warnen.

Um mögliche M ißdeutungen zu vermeiden, erschien es ratsam, abweichend vom bis­ herigen Verfahren den folgenden Passagen aus den Vorlesungen über Logik und Metaphysik textkritische Noten beizugeben; wobei die Kursive Textänderungen anzeigt. - Die relative Kürze beider Stücke bot die Möglichkeit hierzu. Für einzelne H inweise danke ich M ichael Oberhausen (Trier) und Steve N aragon (South Bend, USA) ; W. St. •

Aus den Vorlesungen über L ogik

(nach dem Kollegheft von Grünheid-Petrenz) Logik nach den Vorlesungen des Herrn Professor Kant cod. MS 2444, K. u. Univ. B. Königsberg

Petrenz

Prolegomena Logices1 In der Natur geschieht alles nach Regeln sowohl in der leblosen und körper­ lichen, als auch in der belebten Welt. Das Wasser fl ießt nach Regeln. Die Tiere gehen nach Regeln. Von allen diesen Regeln des freien Gebrauchs unserer Kräfte gibt es: a) natürliche Kräfte, die da beobachtet werden, ehe man sie kennt, b) erworbene, die man kennen muß, ehe man sie gebraucht. Z. E. das Rechnen erfordert Regeln, die man kennen muß, ehe man danach handelt. Vom Feldmessen muß man auch die Regeln vorher kennen. Ein Mensch geht nach Gesetzen, deren er sich nicht bewußt ist, indem er seinen einen2 Fuß aufhebt, so lenkt er seinen Körper so, daß er ihn gleich auf den andern Fuß stellt. Es ist also hier zu sehen, wieviel Regeln der Mensch unwissentlich beobachtet, darauf er mit Fleiß und Kunst nicht gekommen wäre. Der Gebrauch geht hier also vor der Kenntnis vorher und dies ist ein natürl icher Gebrauch. Es ist aber noch ein Gebrauch unserer Kräfte, der zwar nicht künstl ich, aber doch erworben ist, und dieses ist die Sprache. Diese ist nicht natürlich und muß gelernet werden. Mithin sind die Regeln des Gehens angeboren. Sie werden durch keine Unterweisung beigebracht. Das Vermögen zu sprechen, ist jederzeit etwas Erworbenes. Es ist also eine Ausübung unserer Kräfte nach Regeln und diese gehen nicht als Vor­ schriften vorher, sondern sie sind bei der Nachahmung erworben. Es gibt also Regeln, deren Erkenntnis vor dem Gebrauch und andere, deren Gebrauch vor der Erkenntnis vorhergeht. Die Regeln des Geschmacks sind keine Praecepta und Vorschriften. Praecepta sind solche Regeln, durch deren Erkenntnis ein gewisser Gebrauch entspringen kann. Z. E. die Arith­ metik3 gibt gewisse Vorschriften. Wenn ich dies weiß, so kann ich rechnen. Hier kommt eine wichtige Anmerkung vor. Es ist in den Schulen ein großer Fehler, daß die Grammatik der latei nischen Sprache zur ersten Grundlage und zum Organon der Sprache dienet. Man muß zuvor das Sprechen lernen, und alsdann kann die Grammatik zur Berichtigung dienen. Unter die Kräfte, 1

Vgl. Logik-Bauch (ed. Pinder 1 998, S. 3 - 1 4) , p. 1 -6.

2 einen] Bau] eigenen Kow] 3 Arithmetik] Arthimetik Kow]

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wovon der Mensch Gebrauch machen kann, gehöret der Verstand. Der Verstand praesidiert über alle Kräfte. Er handelt nicht nur nach Regeln, sondern er ist selbst das Vermögen der Regeln, deren er sich bewußt ist. Die unbelebte Natur wirket und handelt nach gewissen Gesetzen. Das Wetter ändert sich nach Regeln. Die Tiere handeln auch nach Gesetzen, obgleich sie ihnen unbewußt sind. Dem Menschen, der mit Vernunft begabt ist, ist es leichter, sich den Vorschriften zu unterwerfen und darnach zu tun. Allein oft sind ihm dieselben unbekannt, obgleich er nach ihnen verfähret. Wir handeln nach Regeln: 1 . ) Wei l sie schon in der Natur sind, die Ausübung, ohne die Regel n zu wissen, geschieht durch die Nachahmung. Solange man in Schulen durch Nachahmung lernet und nicht die Talente eines j eden seiner natürlichen Disposition überl assen bleiben, solange werden keine Genies, nur bloß Nachahmer sein. Denn der Geist der Nach­ ahmung verdirbt sehr das natürliche Talent. Große Männer, z. B. Leibniz, Wolff, Milton haben zwar großen Nutzen geschafft. Aber dadurch, daß sie groß waren, hat man sie nachgeahmt und folgl ich sind sie auf d ieser Seite so nachteilig, als sie auf der andern Nutzen gestiftet haben. Auf diese Art erlernen wir die Sprache. 2.) Durch eigenen Gebrauch und Ausübung. Durch das öftere Fallen lernt man gehen. Wir werden entweder durch andere erzogen, oder wir erziehen uns durch uns selbst. Nach vielen be­ gangenen Fehlern gelangen wir zur richtigen Erkenntnis. Hier nehmen wir die Fehler aus, die wir durch die Gewohnheit immer an uns behalten und für gut achten. Anmerkung. Wir haben einen Gebrauch des Verstandes, welcher der gemeine genannt wird. Dieser kann4 durch Übung ein guter ausgebreitete,.S, ja gesunder Verstand werden, wenn er regelmäßig ge­ braucht wird. Die Logik ist die Wissenschaft der Regeln des Gebrauchs des Verstandes und der Vernunft, ist nur mögl ich, wenn der gemeine Verstand vorher­ gegangen ist. Obgleich hier also die Regeln auf die Ausübung folgen, so sind sie doch so bewandt, daß man sie, wenn man einmal darauf gekommen ist, a priori einsehen kann. Die Regeln der Grammatik haben keine Richtig­ keit a priori , sie beruhen auf dem Gebrauch, folglich machen sie keinen Kanon aus. Dies ist der gemeine Verstand, und wenn er richtig ist, so heißt er: der gesunde Verstand. Es ist der Gebrauch des Verstandes in Ansehung der Gegenstände der Erfahrung, der nur auf die Erfahrung eingeschränkt und weiter nicht gehet. Dieser Verstand wird durch die bloße öftere Übung zur Richtigkeit gebracht. Der Verstand, der über die Gegenstände der Erfah­ rung gehet, ist nicht der gemeine Verstand. Man könnte es den gelehrten Gebrauch des Verstandes nennen. 4

kann] Bau] Raum Kow] 5 ausgebreiteter] Bau] angebreiteter Kow]

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Vorlesungen Vom Begreifen6

Unser Autor sagt/ wir begreifen eine Sache, wenn wir eine deutliche Erkenntnis davon haben. Wenn wir aber eine deutl iche Erkenntnis nur von einer Sache haben, dann begreifen wir sie nicht, sondern wir verstehen sie nur. Haben wir davon eine deutliche Erkenntnis a priori, dann sehen wir sie ein. Wir begreifen aber eine Sache, wenn unsere Erkenntnis davon deutlich, aber auch8 ausführlich, d. i. wenn wir alle Merkmale haben, d ie zur Sache gehören. Hier wollen wir die verschiedenen Grade unserer Erkenntnis bemerken, nämlich 1. sich etwas vorstellen, 2. etwas kennen, d. i. daß man sie von andern unterscheiden kann, 3. etwas verstehen, 4. etwas wissen, d. i. daß man sich der Wahrheit bewußt ist. Zu diesen 4 Graden gehört auch »etwas einsehen« . 5. etwas begreifen, d. i. vollständig erlernen. Durch den Verstand verstehen wir, und durch die Vernunft sehen wir etwas ein. Begreifen können wir kein Stück der Natur, noch weniger a priori einsehen, die Gedanken aber davon können wir begreifen. Wir können aber etwas comparative (vergleichsweise) begreifen, z. E. das Wasser, wenn wir es zu hydraulischen Arbeiten, Mühlen und Wasser­ künsten gebrauchen. Aber schlechthin begreifen wir kein Objekt, obgleich wir den Begriff davon einsehen.

Von dem Unterschiede des Fürwahrhaltens9 Wir können uns 3 modos des Fürwahrhaltens vorstellen, nämlich: 1. etwas kann sein, 2. etwas ist, 3. etwas ist notwendig. Dieses ist eine apodiktische Assertion. Der Unterschied dieser modorum in den Urteilen heißt die Modalität. Diese werden nun auf folgende Art ausgedrückt. Der erste Modus des Fürwahrhaltens heißt Meinung. Dieses ist ein Fürwahrhalten mit dem Bewußtsein, daß es möglich. Man kann es nennen ein Fürwahrhalten ohne Behauptung. Hier halte ich die bloße Möglichkeit für wahr. Hingegen gibts ein Fürwahrhalten, dessen Gegenteil mögl ich ist, und das ist der zweite Modus des Fürwahrhaltens und heißet Glaube. Hier ist es nicht ausgemacht, 6

Vgl. Logik-Bauch (ed. Pinder 1 998, S. 1 23 f.) p. 75 f. 7 Meier Auszug aus der Vernunftlehre § 1 40 (AA-Kant XVI: 34 1 f.) ; vgl. auch den H inweis von Adickes in XVI: 343 ad Ms p. 1 30 f. bzw. zu R 2394. 8 auch] Bau] nicht Kow] 9 Vgl. Logik-Bauch (ed. Pinder 1 998, S. 1 24-1 25) p. 76.

Logik-Kolleg

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ob etwas notwendig ist oder nicht, weil noch dessen Gegenteil mögl ich ist. Beim Glauben ist also eine Behauptung, die problematisch ist. Der dritte Modus des Fürwahrhaltens ist Wissen, wenn wir etwas so für wahr halten, daß wir uns bewußt sind, daß es notwendig ist. Das Fürwahrhalten um des Zeugnisses willen ist nicht Glauben, sondern es kann auch ein Wissen sein. Bei der Meinung ist ein gewisser10 Grad der Möglichkeit. Beim Glauben denkt man, daß auch das Gegenteil möglich sein kann, für meinen Tei l aber, d. i . wenn ichs glaube, admittiere ich es nicht, sondern ich halte es fast für ein Wissen. Nur das Bewußtsein der Notwendigkeit beim Fürwahrhalten ist das Wissen.

Von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis 1 1 E s ist von großer Wichtigkeit, den Menschen ihrer Erkenntnisse Grenzen, die ihrem Zwecke angewiesen sind, zu zeichnen. Der Inbegriff aller Erkenntnis, insofern sie mit der menschlichen Vol lkommenheit überein­ kommt, heißt d ie Sphäre der Erkenntnis. Die Kongruenz der Erkenntnisse mit den Zwecken eines Menschen ist der Horizont. Unter den Zwecken kann ich auch die mögl ichen Zwecke verstehen. Daher wird der Horizont verschieden determiniert sein. 1. Logisch wird er determiniert durch die Grenzen der bloßen Fähigkeit oder durchs Verhältnis der Erkenntnis zum Vermögen. 2. Praktisch durch den Nutzen, wo der Mensch nichts mehr erkennen darf oder durchs Verhältnis der Erkenntnisse zum Zweck, zum Wollen und zur moralischen Vollkommenheit. Wir haben eine Grenze, wo wir nichts mehr verstehen, eine andere, wo wir nichts mehr einsehen, und dann wieder eine, wo wir nichts mehr begreifen. Gesetzt, es l iegt eine Erkenntnis im logischen Horizont, so ist noch die Frage, ob mir auch die Erkenntnis nützt oder nicht. Den Horizont muß man also praktisch determinieren. D ies geschieht durch Geschicklichkeit, Klugheit und Weisheit. Der logische Horizont muß immer größer sein, als der praktische. Denn ich kann von keinem verlangen, er soll mehr wissen, als er Fähigkeiten hat. Ich mag auch sonst hier auf den Nutzen sehen. 3. Der ästhetische Horizont, insofern die Erkenntnis ästhetisch d. i. durch Schönheit und Geschmack determiniert ist. Wenn man nie ein 1 2 Frauen­ zimmer eine Disziplin lehrt, so muß man bloß den Horizont determinieren. Denn der praktische kann bei ihnen sehr klein sein. Die Kinderstube und 10 11 12

gewisser] großer Bau] Vgl. Logik-Bauch (ed. Pinder 1 998, S. 68-73) p. 43-46. nie e in] ein Bau]

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Vorlesungen

die Küche sind die Grenze ihrer Geschäfte, die ihnen die Natur gezeichnet zu haben scheint. Es ist aber eine törichte Art, die Erkenntnisse, die bloß allgemein 13 sind, zu wählen. Wenn der Gelehrte wie ein Künstler ist, der bloß der Nachfrage wegen fürs Publikum arbeitet, so hat er etwa das Verdienst eines Friseurs. Die meisten Wissenschaften scheinen nur ein Luxus und nur eine bloße Zierde zu sein. Die Bedürfnisse gehen ihnen also vor. Diejenigen Staaten sind untergegangen, wo die Künste, die nur zur Nachfrage sind, florierten, und der Ackerbau und die gemeinen Künste, die zum menschlichen Unterhalt gehören, verabsäumt wurden. Ebenso müssen wir zuerst auf unsere vornehmsten Zwecke sehen, uns zu rechtschaffenen Bürgern des Staats bilden, in allen Handlungen gewissenhaft sein, und alsdann können wir auch auf den Luxus, auf die Wissenschaften, die uns zieren, denken. Praktisch wird der Horizont unserer Erkenntnisse durch unsere Zwecke bestimmt. Hier ist die Frage, welches ist der Grad derjenigen Erkenntnisse, die wir brauchen? Durch Geschicklichkeit14 und Weisheit wird dieser Horizont bestimmt. Die Logik ist nur 1 5 eine Lehre der Geschickl ichkeit, aber nicht der Weisheit. Die Weisheit gehöret für Männer, Geschicklichkeit aber für Jünglinge. Alle auf etwas angewandte Müh, die größer ist, als der Zweck, ist überflüssig, sowie eine Auflösung, die mehr enthält, als die Quaestion. Derjenige, der mehr unterweiset, mehr unterrichtet, als nötig ist, ist ein Schwätzer16• Wir sagen, es ist über unsern Horizont, wenn wir entweder nichts erkennen können, wenn es heißt, ich darfs nicht wissen. Oder es ist überflüssig, so sagt man, es ist über unsern praktischen 1 7 Horizont, und man sagt auch gar, es ist schädlich. Woher? 1 8 Denn man konnte die Zeit auf etwas anderes wenden. Es ist ebenso, als wenn jemand, der wenig Vermögen hat, für Dinge, die ihm nicht unentbehrl ich sind, Geld ausgibt, da er' s doch auf etwas notwendigeres hätte anwenden können. Der ästhetische Horizont ist derjenige, welcher nicht logisch oder19 praktisch, sondern ästhetisch determiniert ist, d. i. der sich nach dem Geschmacke des Zeitalters richtet. Hier schwimmt gleichsam das Fett oben. Man weiß etwas obenhin, man lernet einige Kunstwörter auswendig. Hierzu wird eine Art von Etourderie (Unbesonnenheit) gefordert. Sonst läßt sich

13

14 15 16

17 18 19

allgemein] Bau] angenehm Kow] Geschicklichkeit] Bau] Geschmacklichkeit Kow] nur] mit Kow] Schwätzer] Schwärmer Bau] praktischen] pr sehen Kow] Läsion. Woher?] her? Kow] Läsion. oder] sondern Bau]

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der Mensch durch die Kenntnisse anderer einschränken, aber hier findet das nicht statt. Bei einer solchen Beschaffenheit kann ein Mensch wohl nicht bei Kennern, aber bei einem großen gemeinen Haufen ziemlich schimmern. Wenn j edermann sich auf die Art nur die Oberfläche bekannt macht, bloß zur Nachfrage etwas lernt, so fallen die Wissenschaften. Überhaupt, je all­ gemeiner eine Wissenschaft wird, desto seichter wird sie auch. Wenn sie auf wenige eingeschränkt ist, so erhält sie sich bei ihrer Vol lkommenheit. So pedantisch es auch i mmerhin klingen mag, so ist es doch wahr, daß solange die Bücher lateinisch geschrieben wurden, so erhielten sich die Wissenschaften bei ihrer Vol lkommenheit. Allein dadurch, daß man ange­ fangen hat, die Bücher in der Muttersprache zu schreiben, haben die Wissen­ schaften einen entsetzlichen Stoß bekommen. Zwei Absichten hat ein Autor bei m Schreiben, eine des Richters20, und die andere des Publici. Der logische Horizont ist: 1. rational und 2. historisch. Der letzte muß weitläufig sein, weil uns die historische Erkenntnis am natürlichsten ist. Um dieselbe müssen wir uns am ersten bewerben, und dieselbe lernen, denn so sind auch unsere Fähigkeiten eingerichtet. Das Kind hat eine Neigung zur Historie, und solche Sachen imprimieren sich ihm auch leicht. Im 80. Jahre wird niemand etwas lernen. Hier denkt man nur dem nach, was man weiß. Ein Polyhistor ist derjenige, der, was die Historie anbetrifft, die Horizonte anderer in sich enthält. Ein Philosoph, ein Physiker, ein Theologe können in historischen Sachen sich bei ihm erkundigen. Magliabecchi war am Ende des vorigen und am Anfang dieses ( 1 8.) Jahrhunderts ein solcher Poly­ histor. Ein solcher Mann muß aber nicht ein bloßer Polyhistor sein. Die Philologie21 ist ein Werkzeug zu den Wissenschaften. Der Horizont wird immer kleiner, je vollkommener die Erkenntnis in ihrer Art wird. Die historischen Erkenntnisse haben das weitläuftigste Feld. Diejenige22, die wir einsehen, hat ein kleineres Feld, und diejenige23, die wir a priori erkennen, hat den kleinsten Horizont. Derj enige, der eine Kenntnis von allen Wissenschaften hat, ist wie eine herumwandelnde Bibliothek anzu­ sehen, und derjenige ist ihm sehr vorzuziehen, der zwar nur von einer Wissenschaft eine Kenntnis hat, d ieselbe aber in ihrer wahren Vol l kom­ menheit besitzt . . .

zo

Richters] Lehrers Bau] zt Philologie] - Danach ist Logik-Bauch (ed. Pinder 1 998, S. 73, Z. 2) statt in >>Philo· sophie« in >>Philologie« zu korrigieren. zz ZJ

Diejenige] Diejenigen Kow] diejenige] d iejenigen Kow]

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Vorlesungen

Die historischen Kenntnisse machen den Menschen gemeinhin hoch­ trabend, die philosophischen demütigen ihn dagegen. Daher gehen hier so viele Irrtümer vor. Dazu gehöret ein Talent von dem Gegebenen zu urteilen. Die Philosophie läßt sich nicht examinieren. Das ist oft der beste Philosoph, der stillschweigt und sagt, ich weiß nichts. Man kann die Philosophie auf zweierlei Art behandeln. 1 . wenn man bloß des Autors Sätze sich bekannt macht, und 2. wenn man den Autor kritisiert. Doch muß man in dem zweiten Fall nicht wieder des Kritikers Sätze gleich für Orakelsprüche annehmen, sonst lernt man wieder eine fremde Philosophie. Die wahre Philosophie besteht darin, daß man die natürlichen Fähigkeiten schärft. Im ersten akademischen Jahr wird man noch kein Philosoph. Denn die Philosophie gehöret für den Mann. 24

24 Zu den beiden letzten Absätzen vgl. Logik-Bauch (ed. Pinder 1 998,

S. 60) p. 38.

Vorbemerkungen zum Metaphysikkolleg

Kants Vorlesungen über Metaphysik stehen in innigster Beziehung zu seinem berühmten Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft. Es handelt sich hier um die Lösung der letzten Fragen alles Wissens. Welt, Seele und Gott bezeichnen nach alter Überlieferung die Hauptstücke, auf deren Klärung es ankommt. Eine Analyse der allgemeinen Wesenszüge des Seins, die sogenannte Ontologie (Wesenslehre) , bildet die methodische Operations­ basis der Metaphysik. Da Kant bei diesen Vorlesungen als Leitfaden das Lehrbuch des Wolffianers Baumgarten benutzte, mußte er seinen Hörern die Aufstellung des »Autors« Punkt für Punkt vorführen und erläutern, ehe er seine eigene Auffassung zusammenhängend entwickelte. Aus der Metaphysik-Nachschrift des Gr. Heinrich zu Dohna-Wundlacken, die sich auf das Wintersemester 1 792/93 bezieht, läßt sich unzweideutig solche planmäßige Gliederung des Vortrags erkennen. Das ganze Kollegheft weist eine Abteilung in 73 Stunden auf. Davon sind 31 Stunden der Interpretation des »Autors« gewidmet. Al lerdings werden hierbei auch schon manche Berichtigungen und Zusätze angebracht. Sie stellen aber mehr Zwischen­ bemerkungen dar. Offenbar wollte Kant den wesentl ichen Besitzstand der damaligen Schulmetaphysik zunächst genau feststellen und sozusagen inventarisieren. Die 32. Stunde aber begann er, wie die Dohna-Nachschrift bezeugt, mit folgenden Worten: »Wir haben die Ontologie bisher dogma­ tisch vorgetragen, d. h. ohne darauf zu sehen, woher diese Sätze a priori entstehen. Wir wollen sie jetzt kritisch abhandeln. Hier kommt es darauf an: 1. wie Begriffe a priori entstehen, 2. wie die synthetischen Sätze, die wir in der Ontologie haben, möglich sind. Auf diese Weise wollen wir also gegenwärtig die Ontologie kritisch abhandeln«. Der Kantische Vortrag gewinnt ungemeine Lebendigkeit durch häufigen Gebrauch der Frageform, die wirksam zum Mitdenken ermuntert. Historische Anknüpfungen kom­ men nur wenige vor, und sie sind in der Regel unbestimmt gehalten, wei l die literarischen Nachweise fehlen. Vielleicht wollte Kant absichtlich die Hörer vor ablenkenden Nebengedanken schützen und zur Konzentration auf die sachl iche Systematik anhalten. Löblich ist auch die knappe Art des Gedankenausdrucks, die immer das Kennzeichen echter Wissenschaftlich­ keit bedeutet. Es ist unwürdig bei ernsten geistigen Entscheidungen Phrasen­ schmuck anzulegen. Die nachfolgende Auswahl enthält charakteristische Kernstücke aus dem Metaphysikkolleg, nach einer Nachschrift, die aus demselben Semester herrühren dürfte, wie das Dohnasche Kollegheft. Diese Nachschrift, welche

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Vorbemerkungen

der hiesigen Staats- und Universitätsbibliothek gehört, trägt zwar den Ver­ merk Winter 1 794. Aber die Datierung ist woh l , wie schon Emil Arnoldt (Kritische Exkurse im Gebiete der Kant-Forschung , Königsberg 1 894, Seite 430) vermerkt, auf das Wintersemester 1 793/94 zu beziehen. Dieses Seme­ ster kann eigentlich auch nicht in Betracht kommen, da Kant damals statt der gewöhnlichen theoretischen Metaphysik ein ethisches Kolleg hielt, und zwar unter dem Titel »Metaphysik der Sitten« ! Also bleibt nur das Winter­ semester 1 792/93 übrig, auf dem die spätere Ausarbeitung mit der Auf­ schrift Winter 1 794 fußt. Deshalb ist es erlaubt gewesen, bei der Texther­ stellung der Proben aus dem Metaphysikkolleg die Dohnasche Nachschrift und die spätere Ausarbeitung zur wechselseitigen Kontrolle zu verwerten.

Aus den Vorlesungen über Metaphysik

( 1 793)

Kosmologie1 Vom Begriff einer Welt.2 - In Ansehung des Transscendenten ist unsere Erkenntnis dialektisch, d. h. ich kann einen synthetischen Satz im Trans­ scendenten ebenso gut beweisen, als sein Gegenteil. Es ist ein sonderbares Spiel der Vernunft, daß sie gerade in ihrem höchsten Zweck aller Speku­ lation dialektisch ist. D ies ist ein eigenes Phänomen der Vernunft. Man nennt es Antinomie, Widerstreit in ihren eigenen subj ektiven Gesetzen. Alle Metaphysik hat immer die Erforschung des Übersinnl ichen zum Zweck und zur Triebfeder gehabt. Ohne dies wäre sie gar nicht entstanden und bearbeitet worden. An immanenten Begriffen zweifelt kein Mensch, z. B . daß jede Veränderung ihre Ursache habe, obgleich es noch niemand gelungen ist, d iesen Satz objective zu beweisen. Aber beim Sinnlichen will die Vernunft nicht bleiben, sondern hat die Triebfeder zum Übersinnlichen zu gehen, wei l alles Sinnliche bedingt ist. Und so kommen wir aufs praktische Interesse, welches die Vernunft hat, ins Unbedingte zu gehen. Was bedeutet in dieser metaphysischen Weltlehre, in der Kosmologie, Welt? Welt ist totum substantiarum, quod nonest pars alterius, das Ganze von Substanzen, das kein Tei l eines Andern ist. (Eine Monas war ein Teil, der kein Ganzes ist.) Man kann auch sagen: Welt ist ein totum absolutum substantiarum, ein Ganzes schlechthin, ein unbedingtes Ganzes, d. h. das in keiner Beziehung wieder ein Teil eines Andern sein kann. Es ist ver­ schieden vom toto hypothetico, was respectiv ein Ganzes, in anderer Beziehung aber ein Teil ist. Das Materiale in der Welt sind Substanzen, nicht Accidentien. - Der Autor spricht auch von einem mundo egoistico,3 d. h. wo der Mensch denkt,

1

D. i . der zweite Te il (§§ 35 1 ff.) der Metaphysica von A . G. Baumgarten; vgl. den

Abdruck in AA-Kant XVII: 1 03 ff. - Die W iedergabe der folgenden Passagen der anonymen Königsherger Handschrift (Ms 1 73 1 ) ergänzt die paraphrasierende und zitierende Darstellung in AA-Kant XXVIII: 727 ff. , die auf eine Arbeit von Max Heinze ( 1 894) zurückgeht. Selt­ samerweise scheint Kowalewski diese nicht benutzt zu haben; herangezogen hat er jedoch wie er selbst angibt - die Metaphysik-Dohna; vgl. entsprechend AA-Kant XXV I I I : 657 ff. Die Formatierung (Absätze und Zeilenfall) sind teilweise von mir eingefügt (WSt) . Die Noten erheben keinen Anspruch auf vollständigen Abgleich, offens ichtl iche Tippfehler sind still­ schweigend gebessert. 2 D. i. Kapitel I (§§ 354 ff.) der Kosmologie: Notio mundi. 3 Baumgarten Metaphysica § 392.

Vorlesungen

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er sei die einzige Substanz, das einzige existierende Wesen. Aber ein solcher leugnet die Welt. Denn Welt ist nicht eine Substanz, sondern ein Ganzes von Substanzen. Also ist mundus egoisticus eine contradictio in adjecto. Das Formale in der Welt ist der nexus realis dieser Substanzen, die die Welt ausmachen. Reale Verknüpfung ist die wechselseitige Einwirkung, Handeln und Leiden. Eine Menge von Substanzen ohne Verbindung machten keine Welt. Eine Menge kann aus isol ierten Teilen bestehen. D ie Einheit vieler Substanzen in nexu reali (als Ganzes) macht die Welt aus. Man muß also Welt nicht definieren: »das All der Substanzen«, sondern: »das Ganze derselben«. - Wenn ich auch von vielen Substanzen mir in meinem Kopfe einen ganzen Begriff mache, so ist deshalb noch nicht in den D ingen selbst eine reale Verbindung, oder d ie Dinge selbst machen deshalb noch nicht ein Ganzes aus. Das dritte Moment im Begriff der Welt ist die absolute Total ität. Diese macht uns die größte Schwierigkeit. Es ist ein Begriff, zu dem kein Gegenstand möglicher Erfahrung dargelegt werden kann, eine Idee. Der größte Raum ist immer noch ein Tei l von einem noch größeren. Die absolute Totalität kann nicht als gegeben gedacht werden, obgleich sie gedacht werden kann. Der Autor sagt:4 mundus est series, multitudo, actualium finitorum. Aber das ist nicht nötig. Denn ein Ganzes von Substanzen ist j ederzeit ein Ganzes von endl ichen Substanzen. Eine Welt als ein Ganzes von Sub­ stanzen, das infinitum wäre, ist ein Widerspruch. Infinitum metaphysicum ist das, was nicht limitiert ist, was alle Realität hat, ein realissimum. Denn jede einzelne Substanz kann nicht alle Real ität haben, ist also endlich. Daher macht ein Ganzes von endl ichen, metaphysisch endl ichen Substan­ zen nicht ein unendliches Ganzes aus, weil es nicht möglich ist, ein Ganzes von unendlichen Substanzen zu denken, da jeder einzelnen endlichen Sub­ stanz Negationen anhängen. Ferner j edes Ganze von Substanzen ist j eder­ zeit ein Ganzes von zufälligen Substanzen, denn die Bestimmung einer jeden Substanz hängt von einer andern ab. Folglich haben wir bloß nicht absolutes Ganzes von Substanzen zu sagen und können das endliche und zufällige in der Definition fortlassen. Ist nur eine Welt? und keine neben ihr oder keine statt i hrer? Letztere Frage ist j etzt gar nicht zu beantworten, weil sie die feinste Spekulation erfordert. Wir verschieben sie auf die Theologia rationalis.5 Es ist die Materie von der besten Welt. Das Gegenteil ist wohl von keiner Wirklich-

4 Baumgarten Metaphysica § 354. 5

D. i. Teil IV der Kosmologie (§§ 800 ff.) .

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keit möglich. Wenn ich alle Konnexionen in der Welt einsehen könnte, würde ich wohl einsehen, daß keine andere Welt statt dieser sein könnte. Kann keine andere Welt noch neben dieser sein? Hier muß man wieder Phaenomena und Noumena unterscheiden. Mundus phaenomenon, die Er­ scheinungswelt, kann nur als einzige gedacht werden, denn sie kann nicht anders als im Raum existieren, und nun gibt es nur einen Raum und eine Zeit. Alle Dinge, die im Raum sind, sind in respectu der Aktion in nexu reali, daher kann nur eine Welt im Raum sein, denn alle Substanzen zusammen machen erst eine Welt aus. Es gibt keine zwei Alle des Raumes. Die Welt durch einen reinen Vernunftbegriff gedacht, wo Raum und Zeit nicht einfließen, kann vielfach sein. Als noumenon kann ich mir mehrere Welten denken. Hat die Welt eine Ursache, so steht sie mit dieser (mit Gott) in nexu, aber nicht in nexu der Aggregation (Komposition) , sondern der Dependenz. Jede Substanz kann existieren, ohne in Aggregation mit andern zu sein. Daher kann eine Welt von Substanzen als Noumenon gedacht, neben einer anderen oder vielmehr als völlig isoliert existieren, ohne Rück­ sicht, ob noch eine andere Welt da ist. Jede Welt existiert subsistendo und nicht adhaerendo. - Substanzen werden durch ihre Notwendigkeit so isoliert, daß sie nicht al lein mit anderen nicht in Verbindung stehen, sondern durchaus nicht von anderer Dasein abhängen können. Ein Ganzes von schlechthin notwendigen Substanzen ist also ein Unding, aber eine Menge von Substanzen, die in keiner Verbindung stehen, läßt sich wohl denken. Daher werde ich mir zwei absolute Ganze von Substanzen denken, als Noumena, die aufei nander gar nicht einen Einfluß haben , obgleich ich sie mir in Gedanken zusammen denken kann. Auch die Urheber zweier solchen Welten würden weder aufeinander noch einer auf des andern Welt den mindesten Einfluß haben. Denn jeder der Urheber ist ein absolut notwendiges Wesen, das also mit dem andern nicht in der geringsten Ver­ bindung stehen kann. Da wir das Unbedingte zu dem Bedingten suchen, so entstehen Anti­ nomien, d. i. Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, dadurch daß wir das Unbedingte in den Erscheinungen suchen und d iese Obj ekte des Raumes und der Zeit für Dinge an sich selbst halten. Aber die Objekte in Raum und Zeit sind al le bedingt, und es ist nichts unbedingtes in ihnen. Daraus entsteht nun ein Widerstreit und wir werden nach den Prinzipien, wodurch wir Dinge an sich selbst (Noumena) betrachten, nicht die Phaenomena betrachten können. D ie Antinomien sind: 1 .) solche, die die mathematische Synthesis, d. i . d i e Aggregation des Gleichartigen betreffen, 2 . ) solche, d i e d i e dynamische Synthesis, d. i. Verbindung als Grund und Folge, als Unbedingtes und Bedingtes betreffen.

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1 .) Bei den Antinomien der mathematischen Synthesis werden wir fin­ den, daß beide falsch sind. 2.) Bei denen der dynamischen Synthesis werden wir finden, daß beide wahr sein können. Ursache und Wirkung können verschieden sein und dürfen nicht wie i n der mathematischen Synthesis gleichartig sein. Wir verbinden also in der dynamischen Synthesis ungleichartige Dinge, Grund und Folge, und beide Sätze in der dynamischen Synthesis, wenn wir sie als Gegenstände über dieser Sinnenwelt betrachten, können wahr sein.

Antinomien in der mathematischen Synthesis Hier ist 1 .) der Progressus von den Tei len zu dem Ganzen. Hier sagt man: eine unendliche Größe ist in ihrer absoluten Totalität gegeben. 2.) der Regressus6 von dem Ganzen zu den Tei len. Hier sagt man : eine unendliche Menge Teile in dieser Größe ist gegeben. Das Unendliche sowohl in der Zusammensetzung als auch in den Teilen wird hier als gegeben betrachtet. Wären Raum und Zeit D inge an sich selbst, so müßte sie auch ganz gegeben sein, aber sie sind bloß Formen unserer Anschauung. Thesis. A. Die Welt hat einen Anfang in der Zeit. Denn es wäre jeder Zustand in der Welt bedi ngt und keine absolute Totalität der Bedin­ gungen da, wenn sie keinen Anfang hätte. Antithesis. B. Die Welt hat keinen Anfang. Man kann hier sagen: beide Sätze sind falsch. Denn ewig kann ich die Welt nicht nennen, weil sie kein Ding an sich selbst ist. Bliebe man bloß dabei, daß man sagte: die Welt hat keinen Anfang, so würde man so doch dem vorigen Satze contrarie widersprechen7, aber dadurch, daß man positiv sagte sie ist ewig, irrt man. Die Welt hat keinen Anfang. Anfang ist das Dasein, worauf die ganze Zeit folgt. Vor dieser Folge muß doch eine Zeit vorhergedacht werden. Denn sonst wäre eine Folge ohne Ursache. Widersprechend ist es nur, wenn man hier eine leere Zeit annimmt. In der Zeit läßt sich kein erster Anfang denken , wei l die Zeit immer bedingt ist. Daß die Welt von Ewigkeit her gewesen ist, läßt sich auch nicht denken. Das Widersprechende und Falsche beider Sätze l iegt darin, daß ich mir die Welt als ein Ding an sich und so auch die Zeit als ein Ding an sich selbst denke. Die zweite Antinomie der mathematischen Synthesis Thesis. A. Die Welt im Raume ist unendl ich. Die Welt kann nicht begrenzt sein. Denn sonst nehme ich die Absonderung eines leeren Raumes 6

Regressus] Progressus XXVIII: 729, 04] - Zur Korrektur vgl. XXV I I I : 659,06. 7 widersprechen] widersprachen Kow]

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von dem übrigen Raume an, denn das ist die Grenze. Das ist aber absurd. Locke sagte: ich kann doch etwas die Hand herausstrecken. 8 Antithesis. B . Die Welt dem Raume nach hat ihre Grenzen. Daß die Welt unendlich sei , ist auch falsch. Denn jeder Raum ist doch durch einen andern begrenzt, und so ist auch die Welt in diesem Raum. Wenn ich die durch den reinen Verstand vorgestel lte Welt unendlich nenne, so ist kein Widerspruch. Aber es ist ein Widerspruch ein gegebenes Unendl iches vorzustellen. - Wäre der Raum ein Ding an sich selbst, so wäre er seiner absoluten Totalität nach gegeben. Aber dies ist er nicht, sondern es ist immer ein Progressus im Raum. Also ist er kein Ding an sich selbst. Antinomien des regressus Thesis. A. Jeder Körper besteht aus einfachen Teilen. Die letzte Bedingung alles Teilbaren ist das Einfache. Denn wäre die letzte Bedin­ gung des Teilbaren wieder zusammengesetzt, so müßte das Unendliche der Teilung gegeben sein. Denn dasselbe geschieht doch in Raum und Zeit. Es sind aber soviel Teile gegeben, als der regressus in der Tei lung geschieht. Ich kann also nicht sagen, daß eine unendliche Menge von Teilen gegeben sei. Die Teile werden aber nur durch den regressus der Teilung gegeben, so wie das Ganze durch den progressus in der Zusammensetzung gegeben wurde. Ich kann weder eine endl iche noch eine unendl iche Menge von Teilen im Körper gegeben denken, sondern ich muß sagen: der regressus der Teilung geht ins Unendliche. Antithesis. B. Jeder Körper besteht aus immer zusammengesetzten, d. i. unendlichviel Teilen. Ersteres ist unmöglich. Denn der Körper besteht aus soviel Tei len, als der Raum Schritt hat, den er einnimmt. Der Raum besteht nun nicht aus einfachen Teilen, also auch nicht der Körper. D iese Sätze sind sich nicht contradictorie wie a und non-a opponiert. Denn sonst müßte einer wahr sein, sondern sie sind sich contrarie oppo­ niert. Der eine Satz sagt mehr, als daß er bloß den andern negieren sol lte.

Antinomien der Totalität in der dynamischen Synthesis Hier wird die Totalität in Ansehung des Daseins der Dinge betrachtet. Thesis. A. Es ist eine Freiheit der Handlungen der Substanzen in der Welt, der Menschen. Antithesis. B . Es ist keine Freiheit, sondern al les geschieht durch Naturnotwendigkeit, nach Naturgesetzen. 8 John Locke Essay concerning human understanding ( 1 690) . II 13 § 2 1 . Ed. Peter H.

N idditch (Oxford 1 975).

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Beweis von A. Man sagt: Freiheit ist das Vermögen der Substanz sich von selbst, unbedingt zu Handlungen zu bestimmen, ohne daß irgendein anderer Bestimmungsgrund zum Subjekt hinzukäme. Wenn nichts in der Welt eine Substanz unbedingt bestimmen könnte, so würde die Begebenheit geschehen, ohne daß die Ursache vorherginge; denn das Subjekt bestimmte sich alsdann selbst und diese Bestimmung ist schon wieder eine Handlung. Ferner, eine Reihe von Ursachen, in welcher keine Totalität ist, ist nicht denklich. Wo aber keine Freiheit ist, da ist kein erstes. Denn, jede Hand­ lung hat ihren Bestimmungsgrund in der vorigen Zeit. Geschieht aber eine Handlung, ohne daß ihre Bestimmung in der vorigen Zeit, so geschähe die Handlung durch ein bloßes Ungefähr. In beiden Fäl len widersprechen wir uns in Grundsätzen. Wenn etwas spontan geschieht, so würde eine unend­ liche Reihe von Ursachen sein, in der keine Totalität angetroffen würde. Bei der Annahme der Freiheit wird dem Satz widersprochen, daß j ede Begebenheit eine Ursache habe. Denn die freie Handlung hat nicht ihren Grund in der vorigen Zeit. Der Handelnde hatte die vorige Zeit gar nicht in seiner Gewalt. - Dies war die Freiheit theoretisch betrachtet. Durch die moralischen Gesetze betrachten wir uns notwendigerweise als frei. Also müssen wir die absolute Spontaneität in unsern Handlungen annehmen, d. h. daß die Handlung stets in unserer Gewalt sei. Nach unserm moralischen Vermögen können wir gar nicht annehmen, daß die Handlung ihren Bestimmungsgrund in der vorigen Zeit habe, die nicht in meiner Gewalt ist, denn die Handlung könnte mir alsdann nicht imputiert werden. Alle beide Sätze können wahr sein. Denn alle Handlungen stehen unter dem Gesetze der Naturnotwendigkeit, denn sonst nehmen wir das blinde Ungefähr an, den Tod aller Philosophie. Aber von der andern Seite müssen wir auch einige Handlungen bloß von unserer Spontaneität abhängig be­ trachten, denn sonst fällt alle Moral weg. Der Widerstreit wird gehoben, wenn wir den Menschen als Phaenomenon und auch als Noumenon betrach­ ten, und so lassen sich selbst seine freien Handlungen nach den Gesetzen der Naturnotwendigkeit erklären. Der Mensch als Noumenon wird gar nicht in der Zeit und also auch nicht nach den Bestimmungsgründen der Zeit betrachtet und als solcher handelt er frei. Daß ich mich selbst als Nou­ menon erkennen könne, weiß ich nur erst, wenn ich diesem Vermögen etwas Korrespondierendes geben kann, und dies ist das bloße Bewußtsein des moralischen Gesetzes in mir. Wer9 durch dies Gesetz bestimmt wird, wird durch kein Phaenomenon bestimmt. D ieser Bestimmungsgrund wird in mir selbst als intellektuellem Wesen angetroffen. Dies Vermögen sich selbst nach moralischen Gesetzen zu bestimmen ist ganz intel lektuell und 9 Wer] Was XXVIII: 729,23]

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dies Vermögen der Freiheit erkenne ich bloß durch die moral ischen Gesetze. Aus der Erfahrung kann ich nicht abnehmen, daß ich frei bin, denn als Phaenomenon bin ich nicht frei , sondern da ist jede Handlung in der vorigen Zeit bestimmt. Aber durch das Bewußtsein des moralischen Gesetzes in mir, erkenne ich, daß ich frei bin, als Noumenon , wo ich gar nicht in der Zeit bin, auch nicht die geringste theoretische Erkenntnis lO von mir habe, sondern wo ich mich durch bloße Vorstellung des Gesetzes unnachläßlich zu Handlungen bestimme, und als Noumenon werden mir alle meine Handlungen zugerechnet. Von Begebenheiten kann ich nicht sagen, sie sollen, sondern sie werden geschehen, von freien Handlungen aber, sie sollen geschehen. Die moralische Notwendigkeit ist etwas anderes als die physische. Die zweite dynamische Antinomie Thesis. A. Es gibt etwas absolut Notwendiges in der Welt. Antithesis. B. Es ist nichts absolut Notwendiges i n der Welt, sondern alles ist zufällig. Was in der Zeit von andern abhängt, ist bedingt und daher zufällig und so ists in der Welt. Ich muß aber etwas Notwendiges an­ nehmen, weil sonst die Reihe von Bedingungen keine Totalität ausmacht. Nehme ich dieses Notwendige außer der Welt an, so kann es nicht in die Welt wirken, und wirkt dieses notwendige Erste in der Zeit, so hängt es mit der Welt zusammen und gehört zur Welt, und seine Ursache, die ist die Ursache der Welt und auch zufällig. Ich kann mir aber die Ursache der Welt als Noumenon denken, welche doch mit der Welt verknüpft ist, aber nicht als ein Teil zum Ganzen. Denke ich mir dies Wesen als Noumenon so kann ich es mir als ein absolut notwendiges Wesen denken, welches als Phae­ nomenon gar nicht denklieh ist. Alle Antinomien beruhen darauf, daß wir im mundo phaenomeno ein Unbedingtes finden wollen. Aber es gibt nur einen progressus und re­ gressus in 1 1 der Sinnenwelt nicht absolute Totalität. Vom Commercio der Substanzen. 1 2 - Der influxus physicus ist: a) origina­ rius, d. h. durch ihr Dasein sind die Substanzen schon in commercio ohne einen Grund anzunehmen, b) derivativus (rationalis) . Aller influxus physi­ cus setzt ein derivativum voraus; denn dieser nur ist der wahre. - Es versteht sich nicht schon von selbst, daß Substanzen in commercio sind, denn Substanzen sind gerade das , was allein für sich existiert, ohne von 10 11 12

Erkenntnis] Kenntniss XXV I I I : 729,3 1 ] einen progressus und regressus in] im progressus und regressus Kow] D. i. Tei l II der Kosmologie, Metaphysica §§ 448 ff. Vgl. XXV I I I : 7 3 1 , 3 7 ff. bzw.

XXVIII: 666,06 ff. (Dohna)

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einem andern abzuhängen. Bei dem mundo phaenomeno (der in Raum und Zeit ist) ist es eben der Raum, der die Substanzen verbi ndet, wodurch sie in commercio sind. Aber wie sind die Substanzen in mundo noumeno in commercio? - Die Harmonie der Substanzen soll darin bestehen, daß ihr Zustand aufeinander, d. i. nach allgemeinen Gesetzen übereinstimmt. Die Welt wird entweder als totum ideale betrachtet und hier ist dann eine harmonia absque commercio; oder die Welt ist totum reale und hier ist eine harmonia substantiarum in commercio. D ieses letztere System heißt das Systema influxus physici. Das System aber Harmonia substantiarum absque commercio ist das Systema influxus hyperphysici, d. i. von einer causa extramundana schreibt sich die Welt her, d. h. von Gott. Dies letztere kann nun sein: 1 . Systema adsistantiae - 2. Systema harmoniae praestabilitae. Leibniz wollte dadurch nicht das commercium der Substanzen, sondern nur das commercium zwischen Seele und Körper erklären, wei l dies ein paar so heterogene Substanzen sind. Ursache und Wirkung können aber realiter verschieden sei n ; also kann ich annehmen, daß etwas von etwas ganz ungleichartigem, z. B . Bewegung des Körpers von der Vorstellung der Seele, wie Wirkung von der Ursache voneinander abhängen. D ies läßt sich aber nicht weiter erklären, sondern wir nehmen solche Sätze an, weil durch sie die Erfahrung möglich wird. Das System influxus physici hat wieder eine zwiefache Vorstellungsart, sich dasselbe als möglich zu denken; 1. commercii originarii , wenn Substanzen dadurch, daß die existieren, in commercio sind, 2. derivativi, wenn noch etwas hinzukommen muß, um dies commercium zu bewirken. Das commercium originarium ist qualitas occulta (verborgene Beschaffenheit) , es wird zu seinem eigenen Erklärungsgrund angenommen. Es bleibt also nichts als das systema i nfluxus physici und zwar in commercio derivativo übrig, wo ich annehme, daß alle Substanzen durch eine Kausalität existieren, wodurch sie alle in commercio sind. Diese Idee hat etwas Erhabenes. Wenn ich alle Substanzen als absolut notwendig annehme, so können sie nicht in der geringsten Gemeinschaft stehen. Nehme ich aber an die Substanzen als existierend in Gemeinschaft, so nehme ich an, daß sie alle durch eine Kausa­ lität existieren, denn dadurch läßt sich nur eine Gemeinschaft erklären. Raum selbst ist die Form der göttlichen 1 3 Allgegenwart, d. h. die Allgegen­ wart Gottes ist in Form eines Phaenomens ausgedrückt, und durch diese Allgegenwart Gottes sind alle Substanzen in Harmonie. Aber hier kann unsere Vernunft nichts weiter einsehen. - Diejenigen, welche den Raum für eine Sache an sich selbst oder für eine Beschaffenheit der D inge an sich annehmen, werden genötigt, Spinozisten zu sein, d. i. sie nehmen die Welt als einen Inbegriff der Bestimmungen von einer einigen notwendigen -

13

Form der göttlichen] Form der göttlichen Form der göttlichen Kow]

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Substanz, also nur eine Substanz an. Raum als etwas Notwendiges wäre alsdann auch eine Eigenschaft Gottes, und alle Dinge existieren im Raum, also in Gott . . . Psychologia rationalis,t4 lehrt die Natur der menschlichen Seele. Seele ist das Subjekt der Emp­ findung. Es zeigt im Deutschen immer etwas Inneres an als z. E. die Seele einer Feder, einer Kanone, d. h. 1 5 die Linie des Centrums des Mundes bis aufs Centrum des Bodens gezogen. lJlUXTJ für Papillon. Es liegt also in dieser Benennung der Seele die Analogie für einen Schmetterling, der prae­ formiert in der Raupengestalt, die nichts weiter als der Balg desselben ist. Dies lehrt, daß das Sterben im D iesseits nichts weiter als Regeneration ist. Anima ist das belebende Prinzip im Tier. Die Materie kann für sich nicht leben. Dies ist ein Satz wider den Hylozoismus . . . Was ist die Seele im Leben? Eine negative Eigenschaft der Seele ist: sie ist ein immaterielles unkörperliches einfaches Wesen. Dies behauptet man gegen die Materialisten. Materiell ist nicht bloß, was Materie ist, sondern auch, was Tei l einer Materie sein kann. Was Einfaches kann unmöglich Teil einer Materie sein. Jede Materie ist im Raum, was aber im Raum ist, ist stets teilbar und nie einfach. Die Seele ist nicht materiel l . Die Materie hat kein Vorstellungsvermögen, mithin kann sie nicht zugleich ihr eignes Lebensprinzip sein. Der Autor sagt : 1 6 die Materie kann nicht denken. Wir sagen: sie hat kein Vorstellungsvermögen, und dann paßt der Beweis auch auf Tiere. Materia non est substratum repraesentationum. - Alle Vorstel­ lungen sind entweder einfach oder zusammengesetzt. Zwei Vorstel lungen müssen in Einem Subjekt vereinigt sein, um eine Vorstellung auszumachen. Alle Vorstellungen beziehen sich auf ein Objekt, d. i. eine Einheit, in deren Vorstel lung was Mannigfaches vereinigt ist. Vorstel lungen können also nicht unter mehrere Subjekte verteilt werden und dann Eine Vorstel lung ausmachen, sondern die vereinigte Vorstellung kann nur i n einem Subjekt als eine Einheit stattfinden. Ein Wesen kann daher keine Vorstel lungen haben, ohne diese absolute Einheit des Subj ekts. Wenn einzelne Vorstel­ lungen unter mehrere Subj ekte verteilt werden, so können diese isoliert zusammengenommen nicht eine Einheit ausmachen; denn diese besteht aus dem Mannigfachen der Vorstellung. - Jede Materie ist aber ein Aggregat von Substanzen außereinander, also kann die Materie keine Vorstellungen

14 D. i. Tei1 3, Kapitel II der Metaphysica § § 740 ff. - Vgl. XXVIII: 753 ff. 1 s d. h. ) XXV I I I : 753,04] die Kow] 1 6 Baumgarten Metaphysica § 742.

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haben. Materie ist keine Einheit des Subj ekts, sondern eine Vielheit der Substanzen. Wenn ein Aggregat von Substanzen denken sollte, so müßte ein partieller Teil der Vorstellungen in den ei nzelnen Teilen liegen; diese aber zusammen machen keine Einheit der Vorstellungen aus. Eine Menge von Substanzen kann nie eine Vorstellung in Gesellschaft haben. Das Prinzip des Lebens ist das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände (dieser Vorstellungen) zu sein. Zum Denken wird etwas Einfaches erfordert, aber alle Materie ist zusammen­ gesetzt, folglich kann sie nicht denken. - Der Ungrund des Materialismus ist also wohl jetzt erwiesen, aber darum nicht die Pneumatologie. Denn daß diese als einfach anerkannte Substanz auch ohne Verbindung mit dem Körper denken könne, läßt sich daraus nicht folgern. Die Wirkungen aus dem Vermögen eines Wesens kann man nur aus der Erfahrung erkennen. Ob die Seele auch außer dem Körper zu denken kontinuiere (fortfahre) , das läßt sich nicht a priori entscheiden. Man müßte hierüber Erfahrungen anstellen. Erfahrungen können wir nur im Leben anstellen. Hier aber erfahren wir nur, wie die Seele in commercio mit dem Körper denkt. Es bleibt daher unausgemacht, ob die Seele nach dem Leben auch ohne commercium fortfahre zu denken. Die Spiritualität der menschlichen Seele gehört zu den transscendenten Begriffen, d. h. wir können von ihr keine Erkenntnis bekommen, weil wir diesen Begriffen keine objektive Realität d. i . keinen korrespondierenden Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung geben können. Es ist nicht auszumachen, ob der Körper nicht ein unentbehrliches adminiculum (eine Stütze) zum Denken der Seele sei. Denn wir können uns nicht aus dem Körper heraussetzen, um dies zu erfahren. Die Gemeinschaft der Seele mit dem Körper1 7 im Leben zu erklären ist jetzt unser Zweck. Seit Cartesius hat dieser Punkt die Philosophen be­ schäftigt. Es gibt eine harmonia zwischen Substanzen in commercio und absque commercio, letzteres gibt nur einen nexum idealem. Soll aber zwischen Seele und Körper eine harmonia in commercio sein, so ist hier ein influxus physicus. Hier entsteht also ein System des idealen und realen Einflusses zwischen Seele und Körper. Substanzen harmonieren, wenn der Zustand der einen Substanz mit dem Zustand der anderen korrespondiert. Die Heterogeneität der Wirkungen mit den Ursachen im commercio zwischen Seele und Körper, da körperliche Bewegungen Vorstellungen hervor­ bringen, hat gemacht, daß man anstatt eines influxus physici (realis) einen influxum idealem angenommen hat, der aber eigentlich kein influxus ist. 1 7 Sectio II der rationalen Psychologie, Metaphysica § § 76 1 ff. Vgl. XXVIII: 757,36 ff.

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Denn hier müßte Gott unmittelbar assistieren (d. i. das Systema assistentiae oder des Occasionalismus) , oder Gott hätte schon im Anfange der Welt bestimmt, daß Vorstellungen sich gerade in der Seele entwickeln sollten, wenn gewisse körperliche Bewegungen vorgehen würden, und dieses wäre das Systema harmoniae praestabilitae. Aber die Heterogeneität der Wirkung mit der Ursache macht nicht die geringste Schwierigkeit, sondern wie Substanzen überhaupt aufeinander wirken können, macht die Schwierigkeit, sie mögen homogen oder heterogen sein. Nehmen wir einmal die Existenz der Seele an, so macht das weiter keine Schwierigkeit, wie sie nun in dem Körper wirke. Die Körper als Körper können auf die Seele nicht wirken und umgekehrt, wei l Körper gar nicht Relationen auf ein denkendes Wesen haben können. Die äußere Relation, in der ein Körper mit seiner Substanz steht, ist nur im Raum, also muß diese Substanz auch im Raum, mithin ein Körper sein. Örter sind pure Relationen. Veränderung der Örter ist Ver­ änderung der Relationen. Die Erfüllung des Raumes, die Figur des Körpers, d. i . die Veränderung der Grenzen, sind l auter Relationen. Bei der Seele können wir benennen, was innerlich verändert wird; d ies sind aber nicht Relationen, sondern nur Accidentia, z. E. Vorstellungen etc. Da die Relation des Körpers nur im Raum besteht, so kann der Körper nicht Grund der inneren Bestimmungen, z. E. der Vorstellungen sein. Der Körper als Phae­ nomenon ist nicht mit der Seele in Gemeinschaft, sondern die von der Seele verschiedene Substanz, deren Erscheinung Körper heißt. Dies Substrat des Körpers ist ein äußerer Bestimmungsgrund der Seele. Wie aber dieses commercium beschaffen ist, wissen wir nicht. Am Körper kennen wir bloße Relationen, aber das Innere (das Substrat der Materie) kennen wir nicht. Nicht das Ausgedehnte qua extensum (als ausgedehntes) wirkt auf die Seele; sonst müßten beide Correlata im Raum, mithin die Seele ein Körper sein. Wenn wir sagen: Das Intelligible des Körpers wirkt auf die Seele, so heißt dies: dieses äußern Körpers Noumenon bestimmt die Seele, es heißt aber nicht: ein Teil des Körpers (als Noumenon) gehe als Bestimmungs­ grund in die Seele über; er ergießt sich nicht als Kraft in die Seele, sondern er bestimmt bloß die Kraft, die in der Seele ist, wo also die Seele aktiv ist. Diese Bestimmung nennt der Autor influxum idealem, 1 8 aber dies ist ein influxus realis; denn ich kann mir unter Körper auch nur einen solchen Einfluß denken. Der Körper enthält also einen Grund, die Kraft, die in der Seele ist, zu determinieren, und so wieder enthält die Seele einen Grund, die Kraft des unbekannten Etwas (Noumenon des Körpers) zu determi­ nieren, daß eine äußere Bewegung entsteht. Ohne daß aber beide Sub­ stanzen schon Kräfte haben, kann kein influxus realis zwischen ihnen sein. Cartesius sagt: Gott bringt Vorstellungen unmittelbar hervor, wenn z. B. 1 8 Baumgarten Metaphysica §§ 768, 769.

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mein Auge sich bewegt. Das dritte, nämlich das Auge etc. ist dann ganz entbehrlich, weil Gott auch ohne Auge die Vorstel lungen hervorbringen könnte. Leibniz nimmt diese Vorstellungen praestabiliert von Gott an; dies ist nicht viel besser. Wenn die Seele nicht Materie ist und als solche nicht denken kann, so ist sie v ielleicht ein Substratum der Materie, d. h. das Noumenon, wovon die Materie bloß das Phaenomenon ist, und dann ent­ steht der Materialismus virtualis. Phaenomenon substantiatum ist eine zur Substanz gemachte Erscheinung, die an sich keine Substanz ist. Materie ist das letzte Subjekt der äußeren Sinne, sie beharrt, wenn auch ihre Form verändert wird, und daher heißt Materie auch eine Substanz. Weil Materie nur möglich ist durch den Raum, so ist sie nicht an sich Substanz, sondern als Erscheinung. Das Substrat des Phaenomens der Materie ist uns gänzlich unbekannt, und wir wissen nicht, ob es nicht sogar ein einfaches Wesen sei. Wir können nicht wissen, wie das Substrat innerl ich beschaffen sein mag, ob es denken und Vorstellungen haben könne. Also läßt sich wenigstens denken, daß der Materie ein Substrat zum Grunde liege, welches denken könne. Dies wäre der transcendentelle Materialismus. - Das Lebens­ vermögen wird vielleicht in aller Materie angetroffen, aber die Materie hat an sich kein Lebensvermögen, sondern es liegt ihr als ein Substrat zum Grunde. Zwischen Bewegungen und Vorstellungen ist nicht der mindeste Zusammenhang, also kann die Materie weder positiv noch negativ ange­ nommen werden. Alle Vorstellungen sind etwas in uns, und wir können nicht sagen, daß sie Objekte der äußeren Sinne sind. Aber alle Materie ist Objekt der äußern Sinne, und wir können von ihren innern Vorstel lungen nichts annehmen. Bei der Materie haben wir nichts anderes, als äußere Relationen und Veränderungen äußerer Relationen. Da Körper keine Substanzen an sich sind, so können wir ihnen keine Vorstellungen beilegen, sondern wir kennen an ihnen bloß äußere Relationen. Vorstellungen sind aber innere Bestimmungen. - Wie Materie könne Vorstellungen haben, ist uns gänzlich unfaßlich und unbegreiflich, also ist es ganz umsonst, so etwas anzunehmen. - Wer behauptet, daß das Substrat der Materie und das Substrat unseres eigenen Denkens gleiche Wesen sind, dem können wir das wohl zugeben, aber er sagt dadurch doch nichts , denn wir können davon nichts herleiten, weil wir davon nichts kennen und einsehen. Es fragt sich , 1 9 ob das Leben der Seele ein bloß tierisches oder ein spiritu­ elles sei , ob sie auch nach dem Tode des Menschen zu denken vermöge. Jede Materie ist leblos, denn Materie sein, heißt: zusammengesetzt sein. Leben heißt: durch eigene Vorstellungen Ursache von Handlungen sein. Vorstellungen können aber in einem Compositum nicht stattfinden. Denn 1 9 Gemeint ist wohl Sectio IV der rationalen Psychologie § § 776 ff. der Metaphysica.

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hier sind sie unter mehrere Subjekte verteilt. Man kann daher annehmen, daß die Absonderung eines Subjekts von der Materie kein Verlust seines Lebens, vielmehr Beförderung desselben sei. Ist daher Materie mit einem Prinzip des Lebens verbunden, so muß die Leblosigkeit von jener diesem Hindernisse in den Weg legen. Diesem scheint zu widersprechen, daß der Körper das Denken nicht immer hindert, sondern ihm auch zuweilen nütz­ lich ist. Da beide in commercio sind, daß keines von beiden sich aus dem andern herauszusetzen i mstande ist, so verhält es sich mit ihnen ebenso, als mit einem Menschen, der an eine Karre geschmiedet ist. Es ist gewiß, daß der Mensch, ohne d ieselbe weit besser geht, als mit ihr. Da er aber ange­ schlossen ist, so ist ein adminiculum seines Gehens, wenn das Rad sich gut dreht und keine Reibung hat. So lange also Körper und Seele noch in commercio sind, so muß die Seele ein Subsidium des Lebens haben. Darum scheint aber das Prinzip des Lebens doch nicht von der leblosen Materie abzuhängen. Ein Aufhören des ganzen Lebens ist Tod der Seele. Es ist nicht bloß die Frage, ob die Seele aufhören wird, als Substanz zu sein, sondern ob sie nach dem Tode des Menschen gänzlich aufhören wird zu leben. Ferner fragt sich, ob wir bloß Ursache haben anzunehmen, daß die Seele künftig leben werde oder ob sie notwendig leben müsse. Die Fortdauer des Lebens nach dem Tode ist nicht Unsterblichkeit der Seele, d. h. nicht die Unmöglichkeit der Sterblichkeit. Spes v itae futurae (Hoffnung auf ein zukünftiges Leben) nach einem decreto divino (göttlichen Ratschluß) ist nicht Unsterblichkeit. Vita futura als notwendig aus der Natur der Seele ist Immortalität. Ersteres nimmt das System der Resurrection an, daß die Seele aus dem Zustand ihres Todes, wenn sie gleich als Substanz bleibe, bloß durch Gottes Willen erweckt werde. Unsterblichkeit ist die Notwendigkeit der künftigen Dauer aus der Natur der Seele. Attribute Gottes20 Creare, aus nichts etwas hervorbringen, ist nicht bestimmt, besser: Hervor­ bringung der Substanz. Wann hat Gott die Welt geschaffen? ist eine absurde Frage, denn wir können weder Gott noch die ganze Welt in die Zeit setzen. Die Zeit ist keine Sache an sich selbst, bloß Phaenomen. Gott ist Schöpfer der Welt als Sache an sich selbst, der Wel t an sich. Die Welt wie

20 Werden von Baumgarten verhandelt in den § § 926 ff. : Kapitel l i der natürlichen Theo­ logie unter »operationes dei«, sectio I >>creatio mundi«. - Ein Vergleich der von Kawalewski gegebenen Passagen zeigt, daß er den Leittext gewechselt hat: an die Stelle des etwas kryptischer formulierenden anonymen Ms 1 731 tritt Dohna; vgl. XXV I I I : 809, 1 6 ff. mit XXV I I I : 70 1 , 1 4 ff.

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sie uns erscheint, die Sinnenwelt, ist ein Geschöpf unserer eigenen Sinnlich­ keit. Dinge in der Zeit können wir nie als ein gegebenes Ganze betrachten. B loß durch unsere Zusammensetzung wird es gegeben. Hätte Gott in der Zeit geschaffen, so entstünde die Frage: was hat Gott vorher getan? und wie lange ging er mit der Welt schwanger. So kommen wir auf lauter Absurdi­ täten, verflossene Ewigkeiten. Ein Ding in der Welt kann nicht Schöpfer, nur Kreatur sein, denn es steht im commercio, influxu mutuo mit andern, ist a/soZ1 abhängig von ihnen. Also ist ein ens extramundanum (außerwelt­ l iches Wesen) Weltschöpfer. Es ist Urheber der besten Welt. Dies lehrt uns nicht die gegenwärtige, auch keine Erfahrung, nur a priori - denn sonst wäre sein Wille nicht der beste, als er die Welt hervorbrachte. Ist Gott Urheber des Übels? - Das metaphysische Übel ist bloß Mangel des Bösen? (Es ist wohl malum privationis, n icht bloß defectus, denn das ist nicht bloßer Mangel, was einem positiven entgegensteht.) Nein aber er kann Ursache desjenigen physischen sein, welches Mangel ist, und wegen unserer Moralität nach unserer Würdigkeit mit uns stimmt. Zweck - Objekt des Wil lens, Endzweck, das, was jemand unmittelbar w i l l , Mittel, was jemand zu einem andern Zweck will. Der Endzweck Gottes: das höchste Gut. Von diesem können wir keinen Grund mehr sagen. Davon ist ver­ schieden Triebfeder, welche gar nicht bei Gott stattfindet. Denn er hängt von nichts Äußerm, von keinem Interesse ab - (hier muß man ganz vom Menschen abstrahieren -) . In seiner Omnisufficienz liegt die Kausalität der Hervorbringung des Guten. Die wahre Gottesfurcht und Ehre ist Achtung und Befolgung seiner Gebote. - Alles dies läuft auf den Begriff des höchsten Guts hinaus. Erhaltung22 - eine Substanz, die nur durch Tätigkeit einer andern existie­ ren kann, kann auch nur dadurch fortdauern. Doch der Ausdruck continua creatio (fortdauernde Schöpfung) ist ungereimt. Denn Schöpfung ist Anfang, und kontinuierlicher Anfang widerspricht sich. Intima praesentia, die innigste Gegenwart, Ursache in allem. Die Form kann durch die Substanz selbst fortdauern. Allein die Veränderung der Form hängt von der göttlichen Regierung und Gubernation an. Hier können wir uns denken: Direction, Bestimmen des Laufs, und concursus - als Übereinstimmung mit seinen Zwecken - Vorsehung - Providenz wird angesehen als Bestimmung gleich im Anfange; in der Fortdauer heißt es Gubernation - allgemeine Regeln enthält die Direction. Ist Vorsehung allgemein oder speziel l? Al les in der Welt steht unter der ordentlichen und außerordentl ichen Providenz. Zl

also]

XXVI II: 701 ,23] als Kow] Das Stichwort fällt in § 950 der Metaphysica, dem ersten von Sectio I I I des in Rede stehenden Kapitels I I . zz

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Dies wissen wir im allgemeinen. Vermessenheit wäre es, im einzelnen Fall dies zu bestimmen. (Hoher Wert der Aufrichtigkeit.) Ein freies Wesen - causaturn alterius (verursacht von einem Andern) ? Wir können uns davon keinen Begriff machen. Gott konkurriert zum Mora­ lischen. Praedestination - unbedingter Ratschluß, decretum absolutum. In Ansehung der Natur findet d ies statt. Ist der göttliche Wille Ursache der freien Handlungen? - Nein, das läßt sich nicht sagen. Noch weniger ein absolutum decretum in Hinsicht auf das künftige Wohl der Menschen. Denn dies hängt ganz von der Moralität ab, von ihrer Würdigkeit glücklich zu sein.

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Es ist eine durch den Zwe i ten Wel tkrieg geschaffene Tats ache, daß die deutsch­ sprachige Kant-Forschung in Königsberg mit dem Jahr

1 945

zu einem historischen

Ende gekommen ist. Ebenso unzweifel haft ist das bleibende Verd ienst der lokalen Kant-Tradition in Altpreußen, noch vor dem Einsetzen einer philosophischen Rück­ bes i nnung auf die Lehrgehalte der großen Werke des Königshergers Immanuel Kant in der Mitte des

1 9.

Jahrhunderts auch ein Interesse an den m ateriellen Über­

l ieferungsträgem des intel lektuellen Erbes genommen zu haben: Die an der Al ber­ tus-Univers ität wirkenden Professoren Karl Rosenkranz W i l helm Schubert

( 1 799- 1 868)

ergriffen

1 836/37

( 1 805-1 8 79)

und Friedrich

die Initiative zu einer ersten

Gesamtausgabe des Kantischen Oeuvres. In zwöl f Bänden haben sie

1 838- 1 842

das

gedruckte Werk, Fragmente aus dem handschriftlichen Nachlaß und einige Teile aus dem Briefwechsel zusammengefaßt. Abgeschlossen wurde das Unternehmen durch eine werk- und wirkungsgeschichtliche Stud ie des Hegel ianis ierenden Philo­ sophen Karl Rosenkranz1 und eine B iographie aus der Feder des H istorikers Schubert2• Hervorzuheben ist insbesondere Rosenkranz ' Engagement als Redner in der Königsherger Kant-Gesellschaft-1 und sein schließlich erfo l greiches E intreten für die Errichtung des vom Berl iner Bildhauer Daniel Rauch

( 1 777-1 857)

geschaf­

fenen Kant-Denkmals.4 In bewußter Pflege al tpreußischer Trad itionen haben dann der B i b l i othekar Rudolf Reicke

( 1 825-1 905)

und der Jurist Arthur Warda

( 1 87 1 - 1 929)

bis in die

Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zahlreiche weitere handschriftl iche Zeugnisse und Dokumente von Kants Leben und Wirken gesammelt und so nachhaltig dazu beige­ tragen,5 daß die mit dem Neukantianismus des W i l he l m i n ischen Kaiserreichs ein­ hergehende Aufmerksamkeit für eine quel lengestützte Kant-Forschung im engeren Worts inn mög l ich wurde. Bestrebungen wie d iese mündeten in das große - bis

1

Vgl. dazu den 1 987 von Steffen Dietzsch herausgegebenen Neudruck. Vgl. zu den näheren Umständen Stark 1 993, S. 64-67. 3 Die Gesellschaft konstituierte sich nach Kant ' s Tod. Mitgl ieder waren zunächst Per­ sonen, die Kant selbst an seinen M ittagstisch geladen hatte. Im 1 9. Jahrhundert entwickelte sich aus d iesem Nukleus eine feste Institution im Königsherger Geistesleben. Regelmäßig wurde an Kant' s Geburtstag eine zunehmend auf öffentliche Wirksamkeit hin angelegte Rede gehalten. - Eine Auswahl davon bietet die 1 992 von Rudolf Malter herausgegebene Samm­ lung. - Im Untersch ied zu d ieser Königsherger Kant-Gesellschaft verfolgte die 1 904 von Hans Vaihinger in H alle begründete Kant-Gesellschaft eine eher wissenschaftspol itisch zu nennende Zielrichtung. Bis in die Jahre des nationalsozialistischen Unrechtsregimes fungierte sie de facto als der deutsche philosophische Fachverband; vgl. Leaman I Sirnon 1 994. - Die derzeitige Kant-Gesel/schaft e. V. ist in den 1 950er Jahren von Gottfried Martin (Bonn) und Paul Menzer (Halle) neu begründet worden. 4 Vgl. Rosenkranz 1 852, Möller 1 864 und Dönhoff 1 992. 5 Zum weiteren Engagement in Königsberg vgl. Anderson 1 936 und 1 936a, Borkowski I Diesch 1 937, Wasianski I Gusche (Hg) 1 94 1 und schließlich Ziesemer 1 942. 2

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An ha n g

heute unabgeschlossene - Editionsvorhaben der in Berl in ansässigen Preußischen Akademie der Wissenschaften und der ihr nachfolgenden Einrichtungen. Inkompetenz in der Sache, Mängel in der Organisation und die mit der Instal­ l ierung des NS-Regimes einhergehenden pol itischen Veränderungen in der Berl iner Akademie haben die Arbeiten an der Ausgabe schl ießlich bis in die 1 940er Jahre hinausgezögert - mit der bis heute nicht aufgeklärten Folge, daß der entl iehene Teil genauso verschollen ist, wie die in Königsberg aufbewahrten Material ien und Dokumente. 6 Obwohl die westdeutsche Kant-Forschung, insbesondere der 1 994 in Mainz ver­ storbene Rudolf Malter,7 sich auch für die lokale Königsherger Kant-Tradition interess iert hat, ist das mit dem vorl iegenden Band in concreto dokumentierte Vor­ haben einer eigenen Kant-Ausgabe bisher praktisch unbekannt�! geblieben : Ende Januar 1 941 wurde der Professor für Philosophie Amold Kowalewski ( 1 873- 1 945) von seiner Heimatstadt Königsberg mit der Real isierung beauftragt.9 Kowalewski war zu seiner Zeit innerhalb der Kant-Forschung kein Unbekannter, denn ihm verdankt s ie seit 1 924 die erstmalige Publikation von drei Nachschriften Kantischer Vorlesungen, die auf die Studienzeit ( 1 79 1 - 1 795) des Grafen Heinrich Ludwig Adolph zu Dohna-Wundl acken zurückgehen. Dennoch scheinen - wenn man die sonstigen Arbeitsgebiete von Kowalewski betrachtet1 0 - besondere Um­ stände im Spiel gewesen zu sein, die die Stadt Königsberg bzw. ihn selbst dazu ver­ anlaßt haben, s ich im Pens ionärsalter noch des mühevollen Geschäfts einer auf fünf B ände hin angelegten ' Volks-Ausgabe ' unterziehen zu wollen. Verwunderlich ist jedenfalls auch, daß die Stadt und nicht etwa die Univers ität den Auftrag zu der Edition erteilt hat. - Vielleicht sollte die Ausgabe eines der zahlreichen Gedächtnis­ werke d arstellen, die im B l ick auf das vierhundertj ährige Jubi läum der Univers ität im Jahr 1 944 geschaffen wurden. 1 1 Möglich erscheint auch, daß mit einem solchen Unternehmen, das der historischen Wahrheit verpflichtet sein muß und ist, ein deut­ l iches Gegengewicht zu den in Königsberg12 unter dem Signum der Philosophie 6 Vgl. Stark 1 993. 7 Vgl. insbesondere Malter I Staffa 1 983 und Malter 1 992. 8 Der kurze Bericht von Kurt Leider im Königsherger Tageblatt, Nr. 44, 1 3. Februar

1 94 1 scheint außerhalb Königsbergs kein nachvollziehbares Echo hervorgerufen zu haben. 9 Der Wortlaut der Schreibens: »Königsberg (Pr) , den 29. Januar 1 94 1 . I Der Oberbürger­ meister I Sehr verehrter Herr Professor! I Ich danke Ihnen für Ihre Bereitwill igkeit, eine Volksausgabe der Werke Kants zu bearbeiten. Die Feierlichkeiten, bei denen die Ü bertragung dieses Auftrages an Sie als besondere Ehrung Ihres Wirkens bekannt gegeben werden soll, finden am 12. Februar d. J. um 1 1 Uhr in der Neuen Aula der Albertus-Universität statt. Ich habe die Ehre, Sie, verehrter Herr Professor, h ierzu einzuladen. I Ich würde es dankbar begrüssen, wenn ich vorher mit Ihnen eine kleine Besprechung über den Auftrag als solchen haben könnte und bitte Sie um gelegentl ichen Anruf zur Festlegung e ines Termins. I Mit besten Empfehlungen und Heil Hitler! I Ihr sehr ergebener I Will« 10 Vgl. dazu die unten folgende Bibliographie. 11 Herauszuheben sind h ier von Seile 1 944 (2 1 956) und Glasenapp 1 954 [ 1 945] . Vgl . auch R ichter 1 994, Serczyk 1 994, Lavrinovic 1 995, Rauschning I Neree (Hgg) 1 995. 12 Vgl . Lorenz 1 94 1 /42, bzw. Baumgarten 1 94 1 /42 und 1 943144. - Es ist zu wünschen. daß die in j üngster Zeit wieder aufgenommenen Studien zur Rolle der Universitäten in der Zeit des Nationalsozialismus auch die östlichste der deutschen Universitäten in den B l ick nehmen.

Zu dieser Ausgabe

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versuchten biologistischen Umdeutungen des Kantischen Werkes aufgebaut werden sollte. Festzuhalten ist, das vorl iegende Typoskript von Arnold Kowalewski ist das unwiderrufl ich letzte tätige Zeugnis einer deutsc hsprachigen wissensc haftl ichen Kant-Tradition aus Königsberg. 1 3 Es ist insofern auch unabhängig von seinem Quellenwert und seiner Funktion, Überl ieferungsträger verschollener Handschriften des 1 8 . Jahrhunderts zu sein, als eigenständiges Dokument für die Nachwelt zu kon­ servieren. Der nunmehr - nach über S O Jahren - erscheinende erste und einzige B and der Königsherger Kant-Ausgabe ist so auch Monument einer vergangenen Epoche. Die außer dem Typoskript erhaltenen Unterl agen (Briefe, Zeitungsartikel und Druck­ fahnen) zeigen in groben Umrissen die verschiedenen Phasen der Arbeit an der Ausgabe. Sicher ist - wie gesagt - Arnold Kowalewski im Januar 1 94 1 von der Stadt Königsberg beauftragt worden, eine ' Kant-Volks ausgabe ' zu erarbeiten. Am 3 1 . Mai 1 944 hat er das Vorwort des ersten B andes während der l aufenden S atz­ arbeiten 14 abgeschlossen. Ganz offens ichtlich haben dann die beiden großen Born­ bardierungen der Stadt im August 1 944 die Fertigstel lung unterbrochen. Im Januar 1 945 wurden die letzten Fahnen- und Umbruchkorrekturen1 5 aus Doberlug­ Kirchhain 16 (Niederlausitz) an den Kanter-Verl ag (Königsberg) gesandt. Per Karte vom 1 8 . Januar 1 945 bestätigte der Verlag den Erhalt der Unterlagen. Die Arbeiten in Verlag und Setzerei sind also wegen der Kriegsumstände - in der zweiten Januar­ hälfte 1 945 hat die Rote Arrnee Königsberg eingekesselt - abgebrochen worden. Das Typoskript von rund 400 Seiten, verschiedene frühere maschinenschriftl iche Fassungen von ' Vorrede ' und ' Einführung ' bl ieben erhalten, desgleichen erhebl iche Teile der Korrekturfahnen. Die vorl iegenden Bl ätter des Typoskripts , bestehend aus unterschiedl ichen Papiersorten, weisen überwiegend das Format ' D i n A 4' auf. ' 7 Einzelne Bl ätter s ind durch ein- oder angeschnittene Abschnitte etwas größer, andere durch Beschnitt etwas kleiner; auch finden sich acht Bl att l ängl iche Druckfahnen (147, 1 48 , 1 49, 1 50, 1 5 1 , 1 5 2, 1 53 , 1 54) darunter. Obwohl das Papier teilweise sehr spröde geworden und vom Zerfall gefährdet ist, s ind Textverluste nur in sehr geringem Umfang an einigen Rändern zu notieren (z. B. Einschub nach p. 1 4 1 : Blatt 4, p. 262, p. 408, p. 4 1 4) . In etlichen Fällen konnten mit ' Fi l mopl ast P' die B l ätter wieder einigermaßen handhabbar gemacht werden. Es finden sich außer den Fahnen Typen von wenigstens vier verschiedenen Schre ibmaschinen und handschriftl iche Eintragungen mehrerer Hände mit Tinte, Kopier- , Blei- und Buntstiften. Während 1 3 Der Beginn e iner unter völlig veränderten Bedingungen stehenden, zunächst sowjeti­ schen, dann russischen Kant-Trad ition in Kaliningrad kann mit einigem Recht auf das Jahr 1 974 datiert werden; vgl. Malter I Staffa 1 983. 1 4 Ein Setzervermerk auf der letzten erhaltenen Fahne Nr. 1 67 lautet: >>Helge Schroeder ­ Manus.-Seite 289 - 1 4. 4. 1 944.«. 1 5 Bei der Fam i l ie verblieben sind - neben dem Typoskript. das als Satzvorlage gedient hat - korrigierte Fahnen zu Kant und acht Blatt Ms mit B leinotaten zu den letzten - woh l im Januar 1 945 versandten - Fahnen. 1 6 Bei Freunden hat Kawalewski sich mit seiner Familie in Sicherheit gebracht. 1 7 Um Verwechslungen vorzubeugen werden die Se iten des Typoskripts mit ' p. ' , die Seiten des vorliegenden Buches hingegen mit ' S . ' bezeichnet.

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drei Typen im Lauf des Textes einander abwechseln, 1 8 zeigt sich eine vierte nur auf eingeschnittenen oder aufgeklebten kleinen Schnipseln oder eingeschobenen Blät­ tern. Durchgehend sind Spuren einer Überarbeitung des Textes bzw. einer ver­ gleichenden Kontrolle der Abschrift mit der Vorlage zu beobachten. - D i verse Setzerauszeichnungen und andere Hinweise zeigen, daß es sich um eine Satzvorlage gehandelt hat. Die von geringen Ausnahmen abgesehen stets einseitig eng19 maschinenbe­ schriebenen Blätter weisen nur eine auch den genannten Teil der Druckfahnen ein­ schl ießende kohärente Paginierung auf. Diese setzt ein mit einer römischen Beziffe­ rung von I-IX für ' Vorrede ' und ' Einführung '. Mit dem mehrfach rot unter­ strichenen Wort »Anfang« beginnt eine arabische Zählung der Bl ätter bei der Zahl »50« . Auf der Nr. 1 29 ist der handschriftliche Vermerk »Manuskript- Seiten 1 30- 1 4 1 fehlen ! ! « zu lesen: Der Sache nach enthält p. 1 29 den Schluß eines als Nr. 1 1 gezählten Briefes . Auf p. 1 29 folgen nun 25 teils sehr angegriffene B lätter: ein Blatt mit Brief-Nr. 12 (mit B l au bezeichnet als 1 28b) ; zwölf Blatt mit den Brief­ Nm. 1 2- 1 6 (maschinenschriftl ich gezählt 1 30- 1 4 1 ) ; drei Blatt mit den Brief-Nm. 17 und 1 8 (mit Blei gezählt als 1 42- 1 44) und schl ießlich neun Blatt (handschrift­ l ich bezeichnet 1 , 3- 1 0) mit den Brief-Nm. 1 9-26. Der rückwärtig des einen Blattes angebrachte Vermerk von Frau Sabina Kowalewski »da unvol lständig wurde 1 9-22 weggelassen« bezieht sich offens ichtlich auf das fehlende Blatt 2 und geht zurück auf einen - 1 997 erfolgten - Ansatz, daß Typoskript in das gegen­ wärtige elektronische Zeitalter zu überführen. Die Ausführungen auf B l att 1 be­ sagen jedoch, daß die Bl ätter 1-10 sieben Briefe von Hahnrieder an Kant und einen Antwortbrief von Kant unter den Nm. 1 9-26 enthalten werden; die Texte sind sämt­ lich in der Akademie-Ausgabe von Kant's gesammelten Schriften enthalten, so daß eine gute Kompensationsmögl ichkeit zum Ausgleich des Textverlustes gegeben ist.

1 8 1J!pe A: I-IX, 50- 1 29; 1 45- 1 73. 1 75-239. 254-262. 268-270, 354-374, 388-426; 1j!pe B: 1 30- 1 4 1 ; 1j!pe C: 1 28b, 1 42 ff: Einfügung, 1 74, 1 76 [anscheinend die häusliche Maschine] ; 1j!pe D: 240-253, 27 1 -358, 375-387. Abgesehen von vereinzelten Ausnahmen handelt es sich um je ein Originalblatt; bei den Ausnahmen liegen erste Durchschläge vor. 19 Mit ca. 60 Zeilen; bei einem l i nken Rand von ca. 40-45 mm, oberen Rand von ca. 20 mm, unteren Rand nach Maschinentype variierend zwischen 15 mm und 35 mm und rechts bis in die Papiergrenze hinein. - Zu den kaum noch ganz aufzuklärenden Eigenarten des TYpo­ skriptes zählen v ier paarweise zueinander passende Schnittstellen. Erstens: p. 200; an das ursprünglich mit Maschinentype als 1 97 gezählte Blatt s ind oben 18 Zeilen eines anderen Blattes angeklebt; dazu von Hand zwei Vermerke »von Seite 1 96 abgeschni tten« bzw. quer und stark verblaßt »des Original Anfang der falsch p. 1 79 [?] numeriert« . Die obere Schnitt­ kante des angesetzten Stücks hat ihr Gegenstück p. 270 unten. Damit übereinstimmend war die p. 200 zunächst als p. 1 97 gezählt und p. 270 als p. 1 96. Zweitens p. 27 1 oben ist angeschnitten ein stark lädierter Abschnitt von 5 1/ Text-Zeilen, mit dem marginalen Vermerk >>forts. z. 2 Blatt 1 96«. D ieser Vermerk fungierte offens ichtlich als Kustos für die angeklebte Passage; denn er ist auch zu lesen auf dem oberen Rand von p. 27 1 . Das Gegenstück zur Schnittkante ist p. 253 unten. Entsprechend die vorhergehende Paginierung d ieser beiden Blätter als 250 und 25 1 . Ganz offensichtlich ist das zunächst als 250 gezählte Blatt mit Text der Maschinen­ type C auseinandergeschnitten worden. Eingefügt s ind die jetzigen Seiten 254-270, die teils als Maschinentype A, teils als Druckfahne vorliegen. Der Text liest sich - nach den vor­ genommenen Verschiebungen - nun ohne inhaltl iche Brüche : Der Wortlaut stimmt überein mit der Anthropologie-Brauer p. 98; entsprechend Dohna p. 96 bzw. Col/ins p. 1 40.

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Einige Eigentümlichkeiten dieser Typoskriptseiten übergehend, l äßt sich zusammen­ fassend sagen, daß Arnold Kowalewski mit einigen zusätzlichen Blättern die Satz­ vorlage erweitert hat. D ie durchgehende Zählung ist teils mit Tinte, teils mit Blei bis p. 426 ausgeführt als Korrektur einer vorausgegangenen Bezifferung mit Maschinentype von 1 63-283. In der gleichen Weise ersetzt p. 304 bis p. 426 eine ältere von Hand ge­ schriebene Ziffernfolge. Es fehlen die Bl ätter mit den Seiten p. 26 1 , 263, 264, 265 , 266 und 267. Ihr Text ist überl iefert durch die bereits genannten Druckfahnen mit der gedruckten Zählung 147-1 54. Von Hand ist auf den Fahnen vermerkt, welche Typoskriptseiten j eweils gedruckt sind (p. 259-268) ; da meist auch die Bl attüber­ gänge durch einen Strich auf den Fahnen markiert sind, ist anzunehmen, daß diese Markierungen angebracht wurden, als die inzwischen verloren gegangenen Bl ätter des Typoskriptes noch verfügbar waren. Eine weitere, anfangs rund umklammerte Zählung in Maschinentype wird oben l i nks auf dem Rand mitgeführt ab p. 2 7 1 : 20 beginnend mit 207, endend auf dem letzten Blatt p. 426 mit »290«. Anscheinend ist so die Paginierung oder Fol iierung der dem erhaltenen Typoskript vorausgehenden Unterlagen festgehalten worden. Da diese vorhergehende Zählung über die Grenzen der einzelnen Textzeugen (Anthropologie, Logik, Metaphys ik) bruchlos hinweg­ zieht, kann nicht angenommen werden, daß darin die Seitenzahlen der Manuskripte des 1 8. Jahrhunderts überl iefert sind. 2 1 Ein p. 302 mit rot unterstrichener Vermerk »bis hier gesetzt«, scheint zu impl i­ zieren, daß der Satz danach nicht fortgeführt worden ist. Dem widerspricht aber, daß in der weiteren Folge (p. 3 1 0) mit Blei der Beginn einer »Spalte 1 80« notiert ist. Vermutl ich s ind die ausgedruckten Fahnen als Spalten bezeichnet worden, sodaß auf p. 3 1 0 der Beginn der Fahne 1 80 markiert sein dürfte. An Fahnen sind erhalten die Nrn. 52- 1 6 7 (d. i. die Seiten 86-3 1 9 des nun vor­ l iegenden Drucks 22) , wobei die Nr. 66 doppe lt und zwar mit identischen Kor­ rekturnetaten vertreten ist. Für die Neued ition ist unerhebl ich, ob aus diesem Umstand geschlossen werden darf, daß d iese Nr. versehentl ich nicht an den Verlag zurückgegangen ist. Wichtiger sind die durch Fahnen, Typoskript und handschrift­ l iche Beizeichnungen gegebenen Möglichkeiten vergleichender Erwägungen: Zahl­ reiche, durch Korrekturnotate schon äußerl ich auffäll ige Stel len zeigen, daß Kawa­ lewski stil istische Härten und grammatikal ische Ungereimheiten der Vorlesungs­ skripte noch während der Fahnenkorrektur zu mildern oder ganz zu berein igen bemüht war. Die nunmehr erfolgte Drucklegung geht aus von einer elektronisch gestützten Ab­ schrift des Typoskripts, die anschl ießend - unter Beachtung der alten Fahnen einer mehrfachen kontroll ierenden Durchsicht23 unterworfen worden ist. Bei der

20 Gleichzeitig mit dem Wechsel zur Maschinentype C. 21 So erklärt sich zwanglos, weshalb d ie von Adickes in Bd. XV bei seinen gelegentlichen

Zitaten aus der Anthropologie-Matuszewski angeführten Seitenangaben andere Zahlen bieten als die im Typoskript mitgeführten. 22 S. 86 unten: »erhob sich Lambert« I S. 3 1 9 Mitte >>schön sein, wenn sie«. 23 Für e ine Vielzahl von H inweisen danken die Herausgeber Melanie W i tte (Marburg) , die einen Ausdruck mitgelesen hat.

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Nachschrift der Anthropologie-Vorlesung ist darüber hinaus auch der für Bd. XXV geschaffene Datenpool der Marburger Arbe itsstelle der Kant-Ausgabe herange­ zogen worden. 24 Auf diese Weise haben einige der bei Kawalewski noch vorhande­ nen m ißverständl ichen Formulierungen und eindeutigen Versehen (Fehllesungen?) präzisiert und nachgebessert werden können. 25 Auch bei der Identifizierung der im Text genannten Personen ist den bemerkten Irrtümern der Nachschrift bzw. des Typoskripts stillschweigend abgeholfen worden. Freil ich war hier Zurückhaltung geboten, denn eine Neubearbeitung ist keineswegs das Ziel der vorl iegenden Ausgabe. Ein eigener gelehrter Apparat war nicht vorgesehen, entsprechend war die Neuausgabe einzurichten . Auch die Vorlesungstexte sollten flüssig l esbar sein. Weil jedoch die gleich noch vorzustellenden Passagen aus Vorlesungen über Logik und über Metaphysik bereits mehrfach in der textkritischen Diskussion standen, wurde hier in Anmerkungen ein Bezug geschaffen. Typographie und Layout sind - unter Beachtung der Regul arien der Reihe der Kant-Forschungen - orientiert an den in den Druckfahnen befol gten Usancen, wo­ nach beispielsweise eine vorherige Numerierung der ' Gespräche ' und der ' kurzen Niederschriften ' (d. i. Reflexionen) unterbl ieben ist. Hinzugefügt wurde ein Perso­ nenverzeichnis, um die Benutzung zu erleichtern. Fragt man nach einer Bewertung des Typoskripts als Überlieferungsträger für heute verschol lene Quellen, so ist folgendes festzuhalten: Der Anzahl nach sind die Texte überwiegend im Druck, meist in der Akademie-Ausgabe überl iefert. Mit den ' Ge­ sprächen' hat Kawalewski ein ähnl iches Z iel verfolgt, wie es Rudolf Malter mit seinem 1 990 ersch ienenen Band Immanuel Kant in Rede und Gespräch angestrebt hat. Mit Ausnahme der kurzen Nrn. 86 und 93 sind diese sämtl ich bekannt. 26 Span­ nender und wichtiger sind die wiedergegebenen Passagen aus den Vorlesungsnach­ schriften, die mehr als zwei Drittel der Buchseiten einnehmen. Zunächst zum umfängl ichsten Text, dem Manuskript S 123 der Königsherger Stadtbibliothek. Es handelt sich dabei um die auf Daniel Thomas Matuszewski (1 774- 1 835?) zurückgehende Nachschrift von Kant ' s Kolleg über Anthropologie des Winters 1 79 1 192 (p. 1 77-408 des Typoskripts) . Eine Orientierung über den Inhalt der Handschrift war vor allem gegeben durch zwei Pub l ikationen von Kawalewski ( 1 924, 1 925) und den Band XV ( 1 9 1 3) der Akademie-Ausgabe. Der Text steht, wie in Bd. XXV ( 1 997) S. cxlviii schon auf dieser Grundlage vermutet,

Z4 Siehe http://www. uni-marburg.de/kantl. Eine elektronische, WordCruncher geeignete Version des Typoskripts Matuszewski nach Kawalewski wird gleichzeitig mit dem Erscheinen des vorliegenden Buches dort eingestellt. 25 Einige Beispiele zur Begründung für dies Vorgehen mögen hier angeführt sein: Meta­ physik � Mathematik (S. 206,0 1 ) I Freiheit � Feinheit (S. 237,03) I Empfindung � Erfin­ dung (S. 238, 1 6) I Todesurteil � Jedes Urteil (S. 272,06) I durch � auch (S. 300, 1 8) I morali­ scher Würde � moral ischem Winde (S. 3 5 1 ,08) I Torheit � Vorteile (S. 356, 1 1 ) . Nur in solcherart eindeutigen Fällen wurde der von Kowalewski festgestellte Text geändert. lnbeson­ dere in der Anthropologie s ind verdeckt oder offen rätselhafte Stellen verblieben, z. B. S. 201 unten bzw. S. 358 oben, wo das i n Klammern gesetzte Fragezeichen ganz eindeutig von Kowalewski als Lesehilfe eingefügt ist. 26 Vgl. hier S . 73 Warnung vor Frühreife bzw. S. 75 Kurze Beratung. - Es s ind insgesamt 99 Nummem:

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in sehr enger Beziehung zum Dohna' schen Heft. Ein summarischer und stichproben­ artig übers Ganze gezogener Vergleich des Typoskripts mit den vorhandenen elektronischen Vers ionen der bislang in ihrem ganzen Umfang verfügbaren Texte ändert die in Band XXV vorgenommene Einschätzung nur unwesentl ich: Dohna und Matuszewski, die beide auch als Personen miteinander befreundet waren, s ind keinesfalls unabhängig voneinander verfaßt worden ; der verwandtschaftl iche Cha­ rakter beider Texte trägt gewissermaßen zwi l l ingshafte Züge.27 Ein äußerl ich­ formaler Unterschied beider Hefte ist jedoch auf den ersten Blick wahrnehmbar: bei Matuszewski fehlen die von der Marburger Arbeitsstelle der Kant-Ausgabe längst als fiktiv erkannten ' Stundeneintragungen ' des Dohn a ' schen Heftes. Gleichwohl könnte nun, da beide Texte vollständig verfügbar sind , eine genauere Analyse durch­ geführt werden, um die ' alten ' , auf die frühen 1 770er Jahre zurückgehenden, Pas­ sagen von den aktuelleren Äußerungen vom Ende der 1 780er und dem Beginn der 1 790er Jahre zu trennen. 28 Jedoch ist weder eine vollständige separate Publ ikation noch eine nachträgl iche Aufnahme des Textes in die Akademie-Ausgabe erforderl ich. Wegen des kompila­ torischen Charakters und der Überschneidung eines erhebl ichen Teils des Textes mit bereits in kritischer Edition vorl iegenden (Bd . XXV der Akademie-Ausgabe) Nachschriften wäre ein solches Vorgehen schl icht abwegig. Gleichwohl b ietet der in Kowalewsk i ' s Ausgabe enthaltene Text hinreichend eigene Substanz zur Spät­ entwicklung des Kantischen Anthropologie-Kollegs, so daß hier der Forschung weiteres Quellenmaterial bereitgestellt wird: Der in der vorl iegenden Ausgabe ent­ haltene Text verschärft die Lage, indem nunmehr auch feststeht, daß auch der von Busolt gebotene Text in der Studienze it von Dohna und Matus zewski von den Kompil atoren mit herangezogen worden ist. 2 9 - Merkmale zu einer chronolo­ gischen Differenzierung zwischen Dohna und Matuszewski sind - bei einer Aus­ nahme30 - nicht ausgemacht worden. Sodann zu den Auszügen aus dem Logik-Kolleg (p. 409-4 1 4) : Es handelt s ich um das Ms 2444 der Königsherger Staats- und Uni versitätsbibl iothek. »Logic nach den Vorlesungen des Herrn Professor Kant« , ohne Angabe einer Jahreszahl und mit zwei Besitzereinträgen: Grünheyd und Petrenz. Das Ms ist von Erich Adickes zur Edition des Log ik-Nachlasses in Bd. XVI ( 1 9 1 4) der Akademie-Ausgabe mit heran­ gezogen worden. Aus den kurzen Bemerkungen über verwandtschaftl iche Beziehun­ gen zwischen verschiedenen Logik-Heften, d ie Adickes schon in seine Unter-

2 7 Näheres dazu im Internet auf der Marburger Kant-Seite; vgl. auch die h ier weiter unten

beigegebene Gliederung der Anthropologie von Matuszewski. - Mit den Anthropologie-Hef­ ten Dohna, Matuszewski und Brauer, denen eine kompilatorische Verarbeitung der ursprüng­ l ichen Linien Collins und Paro w gemeinsam ist, ist reiches Datenmaterial zur Eru ierung der näheren Umstände und Verfahrensweisen der anzunehmenden Königsherger Schreibstuben zur Herstellung von Nachschriften Kantischer Vorlesungen gegeben. 2 8 Vgl . AA-Kant XXV: S. cxlvii oben. 29 Vgl . hier S. 295-298 mit Dohna p. 1 20- 1 23 bzw. Busoft p. 92-96. 30 S. 434 am Schluß des Abschnittes über den ' Charakter des Geschlechts ' liest sich der Text ab »Anmerkung