Kleines Lexikon der Afrobrasilianistik: Eine Einführung mit Bibliografie 9783737001823, 9783847101826, 9783847001829

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Kleines Lexikon der Afrobrasilianistik: Eine Einführung mit Bibliografie
 9783737001823, 9783847101826, 9783847001829

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Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie

Sonderband 3

Herausgegeben von Hannes Stubbe und Chirly dos Santos-Stubbe

Chirly dos Santos-Stubbe / Hannes Stubbe

Kleines Lexikon der Afrobrasilianistik Eine Einführung mit Bibliografie

Mit 15 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0182-6 ISBN 978-3-8470-0182-9 (E-Book) ISSN 0949-1821 Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Abdias do Nascimento »Oxum no Þxtase« (1975) Druck und Bindung: a Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort

125 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei in Brasilien (1888) erscheint es den Autoren an der Zeit ein kleines einführendes Lexikon herauszugeben – das Ergebnis einer über 30jährigen Forschungstätigkeit -, das eine Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Forschung der Afrobrasilianistik gibt. Es handelt sich um das erste Lexikon im deutschsprachigen Raum, möglicherweise aber auch weltweit. Das Lexikon liefert eine Art Bestandsaufnahme der Erkenntnisse der Afrobrasilianistik in wissenschaftshistorischer Beleuchtung und soll Anregungen für weitere Studien geben, sowie die internationale Vernetzung, insbesondere der europäischen und brasilianischen Afrobrasilianisten vorantreiben. Afrobrasilianistik wird hier nicht aus einer einzigen Perspektive zum Beispiel der Religionswissenschaft, der Sprachwissenschaft oder (Sklaverei-)Geschichte heraus betrieben, sondern die Autoren versuchen eine interdisziplinäre und vielfältige Sicht zu wagen. Wir befassen uns mit den Afrobrasilianerinnen nicht nur aus einer akademischen »Elfenbeinturm-Perspektive« heraus, sondern betrachten auch Alltagsphänomene und die afrobrasilianische Lebenswirklichkeit in Vergangenheit und Gegenwart. Somit kann dieses Lexikon auch als Prolegomena zu einer afrobrasilianische Anthropologie verstanden werden. Zur Afrobrasilianistik liegt weit zerstreut bereits eine !Bibliografie von mehreren Tausend Titeln vor. Die Literaturhinweise werden im vorliegenden Lexikon bei jedem Stichwort nach Erscheinungsjahr wissenschschaftshistorisch aufgeführt. Bei der Auswahl der Literatur haben wir uns auf die wichtigsten Literaturquellen, die oftmals ebenfalls weiterführende Literaturhinweise enthalten, beschränkt. Die angeführte ältere Literatur ist zwar oftmals hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse und gesellschaftlichen Bewertung überholt. Sie ist aber dennoch von wissenschaftshistorischem Interesse und und großer Bedeutung für das Verständnis des sozialen und kulturellen Wandels der brasilianischen Gesellschaft. Die meisten der aufgeführten Werke befinden sich in der Privatbibliothek der Autoren. Beide Autoren haben unterschiedliche Stichworte bearbeitet, manchmal stellen die Stichworte jedoch auch eine Gemeinschaftsleistung dar. Die Autorin,

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Vorwort

geboren in Niterûi, ist Sozialpsychologin, Pädagogin, Afrobrasilianistin und Psychotherapeutin und der Autor ist Anthropologe/Ethnologe, Psychologe, Wissenschaftshistoriker und Brasilianist, der über zwölf Jahre in Brasilien zugebracht hat. Wir verwenden oftmals die männliche Form, gemeint sind aber im Allgemeinen immer beide Geschlechter. Grundkenntnisse des Brasil-Portugiesischen werden teilweise vorausgesetzt. Ein Lexikon ist so etwas wie eine »ewige Aufgabe«, denn es gibt nie eine allerletzte Fassung. Alle Benutzer werden daher um kritische Hinweise und Vorschläge gebeten, die in künftigen, korrigierten und erweiteren Auflagen berücksichtigt werden können. Wir danken InayÞ Behring Soares für die Hilfe bei der Literaturbeschaffung, sowie Frau Susanne Franzkeit und Frau Ruth Vachek vom V& R unipress Verlag für die freundliche und kompetente Betreuung. Chirly dos Santos-Stubbe & Hannes Stubbe Niterûi & Mannheim, 23. August 2013 Internationaler Gedenktag an Sklavenhandel und Abolition

Einführung

Zur Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik – Grundprobleme und Tendenzen der Forschung Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, Wissenschaftsgeschichte zu schreiben. Wissenschaftsgeschichte kann sich auf eine chronologische summarische Darstellung des Forschungsgeschehens, der Methoden und Theorien beschränken, ohne eine Einbettung in ihre zeitgeschichtlichen, ökonomischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen zu versuchen. Sie kann aber auch »ideologisch« gefärbt sein, indem sie alle solche Forschungstendenzen ausläßt, die mit der vertretenen Ideologie des Historikers nicht in Einklang stehen, und schließlich kann sie als Ideengeschichte oder Sozialgeschichte dargestellt werden. Schließlich ist es möglich, eine Geschichte der Wissenschaftsgeschichte eines Landes zu schreiben (vgl. Garcia et al., 1980), in der sich der Wandel der Gesellschaft und des Selbstverständnisses der Wissenschaftler widerspiegelt. Thomas Kuhn (1962) hat im Hinblick auf die Physik zwei Typen der wissenschaftlichen Entwicklung unterschieden: den normalen, ständig wachsenden, sich stetig perfektionierenden Duktus und den revolutionären, nicht kumulativen Umbruch, wo die Gedankenfragmente sich immer wieder neu zusammensetzen und Denkmuster offenbar werden, wie sie nie zuvor sichtbar waren. Aus vielen Aspekten erst ergibt das Ganze einen Sinn, der aus den isolierten Teilen nicht ersichtlich war. Es genügt nicht, die Strömungen in ihre Elemente zu zerlegen; revolutionäre Verhältnisse haben in der Wissenschaftsgeschichte eine ganzheitliche Struktur und liefern ein System von Generalisierungen, als deren Prüfstein uns z. B. die wissenschaftliche Sprache dienen kann. Hier zeigt sich aber zugleich deren janusköpfiger Charakter, weil sich mit jeder wissenschaftlichen Sprache auch unabdingbar verbunden unser Wissen über die Natur verändert. Karl Jaspers hat bereits in seiner »Allgemeinen Psychopathologie« davor gewarnt, daß die »Veränderung des Jargons« (1913) nicht schon als Fortschritt der Erkenntnis gelten könne.

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Einführung

Die Wissenschaftsgeschichte Brasiliens, als eines Landes der sog. Dritten Welt, macht besonders eindringlich die Bedeutung ökonomischer, gesellschaftlicher, kultureller und politischer Faktoren für die Entwicklung der Wissenschaften deutlich. Garcia (1980) unterscheidet im Hinblick auf die Naturwissenschaften für die brasilianische Neuzeit drei wissenschaftsgeschichtliche bedeutsame Phasen: 1. Von der Mitte des 19. Jh.s bis ca. 1940 2. Von den 40er Jahren bis Mitte der 60er Jahre des 20. Jh.s 3. Die Jetztzeit In die erste Phase fallen vor allem Biographien von Naturwissenschaftlern, etwa die »InvestigaÅþes histûricas e scient†ficas sobre o Museu Imperial e Nacional« (1870) seines Direktors Ladislau Neto (1837 – 1898). Das im Jahre 1818 gegründete Museu Nacional in Rio de Janeiro ist eine der ältesten naturwissenschaftlichen Institutionen Brasiliens (1818: »Museu Real«, später nach der Unabhängigkeit Brasiliens im Jahre 1822: »Museu Nacional e Imperial«; seit 1892 in der Quinta da Boa Vista untergebracht, einem ehemaligen Kaiserpalast). Auch die Schrift »The present state of science in Brazil« (1883) des englischen Geologen Orville A. Derby (1851 – 1915) stellt einen wichtigen Beitrag zur Wissenschafts-geschichte der Geologie und Paläontologie in Brasilien dar und macht zugleich die politische und ökonomische Bedeutung der Engländer in Brasilien deutlich (vgl. z. B. Handelsvertrag von Methuen, 1703; Rippy, 1959; Furtado, 1975). Auch in der deutschsprachigen (!Reise-) Literatur zu Brasilien finden sich in dieser Epoche vielfältige Angaben zur Geschichte der Botanik, Zoologie, Geologie, Ethnographie und Medizin (vgl. Cannstatt, 1967; Rescher, 1979; Stubbe, 1982, 1987; Oberacker, 1985). 1912 hält der bedeutende afrobrasilianische Psychiater Juliano Moreira (1873 – 1933) einen vielbeachteten Vortrag über »O progresso das ciÞncias no Brasil«, worin er die Frage diskutiert, ob der Brasilianer dem Wesen nach oder durch Unbildung unfähig zur Wissenschaft sei. Anhand der wissenschaftlichen Leistungen brasilianischer Gelehrter in den verschiedenen Wissenschaftszweigen wie Naturgeschichte, Mathematik, Geologie, Mineralogie, Paläontologie, Ethnographie und Medizin weist Moreira nach, daß in Brasilien eine wissenschaftliche Mentalität vorhanden ist: »Vejamos se nos v‚rios ramos da ciÞncia temos dado prova de n¼o se ter esgotado no paiz a seiva que produziu t¼o poderosa mentalidade.« (Moreira, 1912: 38). Moreira hebt auch zu Recht die wissenschafts-stimulierende Rolle der Holländer in Brasilien (vgl. seine Schrift »Marcgrave e Piso«, 1917; zu Piso, der als einer der Begründer der Tropenmedizin gelten kann, vgl. Piso, 1981; Pereira, 1980) und die kastrierende der Portugiesen hervor. Klar erkannt wird von ihm auch die für die Wissenschaftsgeschichte Brasiliens entscheidende Zäsur der Ankunft des portugiesischen Königs Jo¼o VI. in Rio de Janeiro im Jahre 1808 und der damit

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verbundenen Öffnung des Landes für Wissenschaft und Handel. Moreira betont darüberhinaus die außerordentliche Bedeutung der wissenschaftlichen Institutionen, wie der »Academia de Sciencias e de Historia Nacional« (gegr. 1771), der »Academia Militar« (gegr. 1810), die gleich nach der Ankunft des o.g. Königs Jo¼o VI. gegründet wurde, oder dem »Instituto Histûrico e Geographico Brazileiro« (gegr. 1838), der »Escola Central« (gegr. 1858), die im Jahre 1874 in »Escola Polytechnica« umbenannt wurde, sowie der Museen: »Museu Nacional« (gegr. 1818); »Museu de Histûria Natural« (gegr. 1891) in S¼o Paulo, »Museu Emilio Goeldi« in Bel¦m (gegr. 1894) (vgl CiÞncia e Cultura, 35 (12), 1983: 1965 – 1972), »Jardim Bot–nico« (gegr. 1834) in Rio de Janeiro und die von Oswaldo Cruz gegründete Forschungseinrichtung »Manguinhos« (gegr. 1903) (vgl. Stephan, 1976). Besonders gewürdigt werden von Moreira die wissenschaftlichen Leistungen des Universalgenies Jos¦ Bonifacio de Andrada e Silva (1763 – 1838), des »Patriarca da IndependÞncia do Brasil«, der während seiner Reisen durch alle wichtigen Forschungszentren Europas der damaligen Zeit auch einige Monate zusammen mit Alexander von Humboldt in Freiberg an der Bergakademie studierte. Jos¦ Bonifacios Bedeutung für Brasilien liegt sowohl im politischen und legislativen Bereich (z. B. Gesetzesvorschläge zur Aufhebung der Sklaverei, Indianerschutzgesetze, Verfassungs-entwurf), als auch im wissenschaftlichen Bereich insbesondere auf den Gebieten der Geologie (1. geologische Karte Brasiliens) und Mineralogie (4 neue Spezies: Petalith, Espudumenio, Kryolith, Escapolith). (zu J. Bonifacio vgl. Silva Costa, 1974; Tarqu†nio de Sousa, 1974; zu Moreira: vgl. Litaiff, 1982; Passos, 1975; Lopes, 2006:92; Stubbe, 2011:21 – 23). 1922 erscheint Rodolfo Garcia’s zweibändiger »Diccion‚rio Histûrico, Geogr‚fico e Ethnogr‚fico«, in dem besonders ausführlich die Geschichte der Forschungsreisen in Brasilien, aber auch z. B. die Geschichte der Medizin oder die Ethnografie, sowie alle wichtigen Brasilien betreffenden Aspekte dargestellt werden (vgl. auch Gusinde, 1946; Schaden, 1953; Azevedo, 1955; Baldus, 1954ff; Becher, 1988; Stubbe, 2007:35 – 58; Kümin, 2007). Die zweite Phase der brasilianischen Wissenschaftshistoriographie setzt mit dem Erscheinen des epochemachenden Werkes »A cultura brasileira« (1943) von Fernando de Azevedo (1894 – 1974) ein, als eine Konsequenz der geistigen Unruhe der brasilianischen Intelligenz, die seit den 20er und 30er Jahren datiert, aber auch der jüngst geschaffenen Universitäten (insbesondere Philosophischen Fakultäten) und der ersten großen Industrialisierungswelle im Lande. Schließlich macht sich hier vor allem der Einfluß der französischen Sozialwissenschaftler wie Claude L¦vi-Strauss und Roger Bastide bemerkbar. Zu den Innovationen dieses Buches von Azevedo gehört nicht nur die bis heute gültige Periodisierung der brasilianischen Kulturentwicklung, sondern vor allem die Diskussion der Frage nach den Ursachen des wissenschaftlich-kulturellen Zurückbleibens Brasiliens. Nelson Werneck Sodr¦ liefert 1945 mit seinem »O que se

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Einführung

deve ler para conhecer o Brasil« eine Pionierleistung auf dem Gebiet der Brasilianistik, die durch reiche !Bibliografien und nach Fachgebieten gegliederte Kritiken gekennzeichnet ist, so daß es sich noch heute unter Berücksichtigung der zeitgeschichtlich bedingten Sicht des Autors als gute Einführung eignet. 1955 erscheint das erste Standardwerk über die wissenschaftliche Kultur Brasiliens: »As ciÞncias no Brasil« (1954/55), das Fernando de Azevedo mit den führenden Fachgelehrten Brasiliens herausgibt. Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich bei diesem zweibändigen Werk um deskriptive Wissenschaftsgeschichte, die vor allem den wissenschaftlichen Fortschritt Brasiliens dokumentieren will. Die letzte und jüngste Phase der Wissenschaftsgeschichte Brasiliens ist durch einen rapiden Aufbau der wissenschaftlichen und universitären Einrichtungen, den hohen Bedarf an wissenschaftlichen Fachkräften, aber auch durch instabile politische und ökonomische Verhältnisse gekennzeichnet. Ende der 60er Jahre erfolgt eine Universitätsreform, in deren Zuge auch der Wissenschaftsgeschichte eine größere Bedeutung zugemessen wird. Die ersten Dissertationen und Monographien über die brasilianische Wissenschaftshistoriographie werden verfaßt (vgl. Baldus, 1954ff; Garcia, 1980, Ferri & Motoyama, 1979ff; Stephan, 1976; CorrÞa, 1987; Stubbe, 1987). Eine »Sociedade Brasileira de Histûria da CiÞncia« wird gegründet (vgl. Stubbe, 2001:27 – 31; 2007:35 – 58). Auch die Geschichte der !Afrobrasilianistik läßt sich grob in verschiedene Phasen einteilen (vgl. Renato MendonÅas dreistufige Einteilung in seinem Vorwort zu den »Culturas negras« von A. Ramos). In Anlehnung an MendonÅa teilen wir die Forschungsgeschichte der Afrobrasilianistik idealtypisch in fünf Abschnitte ein: 1. Die Prä-Nina Rodrigues Phase der frühen Kolonialzeit und spezifisch des 19. Jh.s bis zur Abolition im Jahre 1888 (vgl. !Reiseberichte) 2. Die Phase des Nina Rodrigues (1862 – 1906) ab ca. 1890 3. Die Post-Nina Rodrigues Phase (ab 1906) seiner Schule als Übergangsphase z. B. O. Vianna 4. Die 30er Jahre bilden ebenfalls eine Zäsur mit ihren neuen methodischen und theoretischen Ansätzen wie sie sich z. B. in den Werken von G. Freyre, M. Querino und A. Ramos, aber auch in den »Congressos Afro-Brasileiros« manifestieren. 5. Ab der 40-er Jahre befassen sich Historiker, Sozialwissenschaftler (mit sozialwissenschaftlichen Methoden), Wirtschaftswissenschaftler, Humanwissenschaftler etc. wie z. B. R. Bastide, Fl. Fernandes, T. de Azevedo, D. Pierson, O. Nogueira, Ch. Wagley, O. Ianni, H. Klein, F. H. Cardoso, Th. Skidmore, A. do Nascimento u.v.a.m. mit den Afrobrasilianern. Auch in anderen Wissenschaften wächst nun stetig das Interesse an afrobrasilianistischen Themen (vgl. auch Barros Laraia, 1979).

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Bereits in der Kolonialzeit (1500 – 1822) gab es Studien über die Afrobrasilianer und die !Sklaverei. Eine wichtige Rolle spielt z. B. das Werk »Cultura e opulÞncia do Brasil por suas drogas e minas« (1711) des Jesuitenpaters Andr¦ Jo¼o Antonil (1649 – 1716), das auf einer 25jährigen Erfahrung in Brasilien basiert. Wichtig sind vor allem seine Ausführungen über die Sklavenarbeit in den »engenhos de aÅucar« (Zucker) und den »minas« (Gold), den damaligen ökonomischen Grundlagen der kolonialen portugiesischen Wirtschaft (vgl. Furtado, 1975; Azevedo, 1978; Mota, 2004:55 – 73). Die portugiesische Kolonialverwaltung betrieb in Brasilien von Anfang an u. a. durch eine gezielte Mischungspolitik bzgl. der ethnischen Herkunft der Sklaven, eine Art »glottocidia«, einen Sprachenmord, an den indigenen und afrikanischen !Sprachen. Dennoch gab es auch einige rühmliche Ausnahmen wie z. B. die Grammatik der agolanischen Sprache des Jesuitenpaters Pedro Dias: »Arte da lingua de Angola, oefericida a virgem senhora N. do Rosario, M¼y & Senhora dos mesmos pretos …« (Lisboa, 1697), die jedoch der teilweise gewaltsamen katholischen !Missionierung der Sklaven dienen sollte. Auch in den Werken der Reisenden und Künstler des 19. Jh.s wie z. B. Langsdorff, Spix & Martius, Rugendas, Debret, Baron von Eschwege, Koster etc. finden sich ebenfalls wichtige Informationen und aufschlussreiche Abbildungen über den afrobrasilianischen Sklavenalltag (vor allem jedoch in den Städten!) (vgl. z. B. Berger, 1964; Manizer, 1967; Rescher, 1979; Augel, 1980; Stubbe, 1992) (!Ikonografie der Sklaverei !Reiseberichte) Die eigentliche systematische, akademische Afrobrasilianistik beginnt in Brasilien jedoch erst mit Nina Rodrigues. Wer war Raymundo Nina Rodrigues? Nina Rodrigues wurde am 4. Dezember 1862 in Vargem Grande im Estado do Maranh¼o als Sohn eines »Coronels« geboren und starb am 17. Juli 1906 im »Nouvel Hotel« in Paris. Seine medizinische Ausbildung erhielt er an der »Faculdade de Medicina do Rio de Janeiro«, die er am 10. Februar 1888 – im Jahr der Sklavenbefreiung! – mit einer Dissertation über »Das amyotrophias de origem periph¦rica« abschloß. Er wurde 1891 »Professor Adjunto de Clinica Medicina Legal e Toxicologia« und 1895 »Cat¦dratico de Medicina Legal« an der »Faculdade de Medicina da Bahia«. Seine wissenschaftliche Produktion umfaßt zwischen 1886 und 1906 ca. 51 Arbeiten vor allem aus den Gebieten der Allgemeinen Kriminal-Anthropologie, sowie Rechtsmedizinische Studien, die oftmals mit psychiatrischen Aspekten verbunden sind. Die vorherrschende Thematik bildeten für Nina Rodrigues jedoch vor allem die Afrobrasilianer (!»negros«), ihre Religiosität, Sitten und Gebräuche (vgl. A. Peixoto in: Nina Rodrigues, s.a.; S:17 – 22). Nina Rodrigues gilt auch als Gründer der »Escola M¦dico-Legal Brasileira«. Das »Instituto de Medicina Legal da Bahia« in Salvador wurde später nach ihm »Instituto Nina Rodrigues« benannt und sein Name wurde in das Portal eingraviert (vgl. Blake, 1902:118 f; Uchúa, 1981:78; Stubbe, 1987:124 f, 1994, 1998; Santos Filho, 1980:117; Lins e Silva, 1945; Nina Rodrigues, 1939;

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Peixoto in: Nina Rodrigues, o. J., S:10ff). Das Interesse Nina Rodrigues für Kollektivphänomene begann mit der Beobachtung und Beschreibung einer choreaformen »Abasie-Astasie-Epidemie«, die seit dem Jahre 1877 in Maranh¼o und seit 1882 in Bahia grassierte. Er interpretierte die Epidemie in Maranh¼o als Kollektiv-Hysterie und trennte sie differentialdiagnostisch von Beri-Beri. Mit den !»Canudos« und Antúnio Conselheiro kam Nina Rodrigues durch folgende kuriose Geschichte in Berührung: Nachdem der Chef des Sanitätsdienstes des letzten Expeditionskorps gegen die »Canudos« Dr. Miranda Curio und andere Ärzte den Leichnam Antúnio Conselheiro’s exhumiert und fotographiert hatten und zu dem Entschluß gelangt waren, daß eine Autopsie wegen ihres starken Verwesungszustandes nicht mehr möglich wäre, befahl der BrigadeGeneral Jo¼o da Silva Barbosa den Ärzten die Enthauptung Antúnio Conselheiros, gleichsam als Siegespreis! Die Kopftrophäe schickte man danach an die »Faculdade de Medicina da Bahia«, wo er von Nina Rodrigues nach allen Regeln der damaligen anthropologischen Wissenschaft untersucht wurde (vgl. Moniz, 1987:256; Nina Rodrigues, 1939:130). Die europäischen und us-amerikanischen Rassenideologien der damaligen Zeit zeigten im Denken Nina Rodrigues einen starken Widerhall. Hierbei sollten wir uns auch daran erinnern, daß einer der bedeutendsten europäischen Rassentheoretiker Arthur de Gobineau (1816 – 1882) in den Jahren 1869/70 französischer Botschafter in Brasilien gewesen ist und intensiv mit Kaiser Dom Pedro II korrespondierte (Raeders, 1997; Gobineau, 1990). Gobineau charakterisiert z. B. die damalige brasilianische Bevölkerung folgendermaßen: »nenhum brasileiro ¦ de sangue puro, as combinaÅþes dos casamentos entre brancos, ind†genas e negros multiplicaram-se a tal ponto, que os matrizes da carnażo s¼o infflmeros, e tudo isso produziu, nas classes baixas e nas altas uma degenerescÞncia do mais triste aspecto.« (zit. nach Raeders, 1997:39) Vorher, in den Jahren 1865/66, hatte bereits der amer.-schweizer. Naturforscher Louis Agassis (1807 – 1873), von dem ebenfalls eine sehr einflussreiche Rassenlehre stammt, in Brasilien eine 15-monatige Expedition durchgeführt (vgl. Gould, 1999:39 – 48; !Reiseberichte). Thomas Skidmore (1976:75) bezeichnet Nina Rodrigues als den »principal doutrinador racista da sua ¦poca«. Dies wird nicht nur durch Nina Rodrigues Studien über die Afrobrasilianer (posthum: Os africanos no Brasil, 1932; O animismo fetichista dos negros baianos, 1935) bestätigt, sondern auch in seiner Beurteilung der ! »mestiÅos« (vgl. »Os mestiÅos brasileiros«, 1890) und !jagunÅos. Raimundo Nina Rodrigues hatte, europäischen evolutionistischen, sozial-darwinistischen (vgl. Gumplovicz: Der Rassenkampf, 1883; Euclides da Cunha, 1994:7; Stubbe, 1998), massenpsychologischen und (kriminal-) psychopathologischen Konzeptionen verhaftet, die Afrobrasilianer, »†ndios« und »mestiÅos« im negativen Sinne stereotypisiert, ihre biologische Inferiorität herausgestellt und dabei die Hoffnung gehegt: »Os negros existentes se diluir¼o na populażo e ester‚ tudo

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terminado« (Rodrigues, 1945: 46). Die !»jagunÅos« (nordestino, caipira, capanga, fan‚tico de A. Conselheiro, etc.) des Sert¼o sind für ihn ein »produto t¼o mestiÅo no physico que reproduz os caracteres anthropologicos combinados das raÅas de que prov¦m, quanto hybrido nas suas manifestaÅþes soci¼es que representam a fus¼o quasi inviavel de civilizaÅþes muito desigu¼es« (Nina Rodrigues, 1939:64). Für Nina Rodrigues verkörpert der »jagunÅo« in sich die unbezähmbare Natur des »wilden †ndio« mit seinem Drang zum Herumschweifen, seiner großen Widerstandskraft gegenüber physischen Leiden und seinem kriegerischen Sinn. Sein »espirito« ist »infantil e inculto«. Es handelt sich bei den »jagunÅos« um »raÅas inferiores«, für die er die Degenerationshypothese (degenerescencia de mestiÅagem, ein Ergebnis der »Rassenmischung«) zugrundelegt. Die »degenerescencia da mestiÅagem« ist für Nina Rodrigues die eigentliche Ursache sozialer Nichtangepaßtheit. Seine anthropologische Position basiert hauptsächlich auf dem biologischen (»rassischen«) Determinismus und dem Rassenfatalismus (vgl. Lins e Silva, 1945:86). Auch Antúnio Conselheiro, der Anführer der !»Canudos«, ist für Nina Rodrigues ein solches »individuo degenerado« (s.oben). Hier hat nun die Psychiatrie ihre Funktion zu erfüllen. Nina Rodrigues hat sich auch als einer der ersten über die !Kunst der Afrobrasilianer geäußert: »Nina Rodrigues, m¦dico baiano, pela primeira vez divulga algumas peÅas de candombl¦s da Bahia no seu trabalho ›As belas artes dos colonos pretos no Brasil‹ (Revista Kosmos, Rio de Janeiro, vol.1, n8 8, agosto de 1904), o que ¦ repetido e ampliado nos livros O animismo feticista dos negros baianos (1928) e Os africanos no Brasil (1932). As peÅas apresentadas em fotografias preto-e-branco exibem algumas esculturas em madeira e ferramentas rituais em bronze e lat¼o, atestando de forma curiosa os fetiches dos negros. Estando os objetos fora de seus contextos – locais sagrados -, distantes dos seus fabricantes e dos usu‚rios, e sem ter preocupażo cultural e sim m¦dica, Nina Rodrigues enfrentou questþes muito mais raciais e f†sicas do que problem‚tica do fundo social e econúmico, orientando neste sentido muitos trabalhos e alguns at¦ bem recentes …« schreibt Raul Lody (2003:24 f). Hatte Raimundo Nina Rodrigues, evolutionistischen, sozialdarwinistischen, massenpsycho-logischen und psychopathologischen Konzeptionen verhaftet, die Afrobrasilianer im negativen Sinne stereotypisiert, ihre biologische Inferiorität herausgestellt und dabei die Hoffnung gehegt: »Os negros existentes se diluir¼o na populażo e ester‚ tudo terminado« (Rodrigues, 1945:46), so propagierte Oliveira Vianna (1883 – 1951) später in seinem Werk »Evolużo do povo brasileiro« (1923) den »Arier-Mythos« und setzte auf das »branquecimento«, d. h. die »Arisierung« der brasilianischen Bevölkerung. Er schreibt im Hinblick auf die europäische Einwanderung: »Esse admir‚vel movimento imigratûrio n¼o concorre apenas para aumentar rapidamente, em nosso pa†s, o coeficiente da massa ariana pura; mas tamb¦m cruzando e recruzando-se com a populażo

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mestiÅa, contribui para elevar, com rapidez, o teor ariano do nosso sangue« (Vianna, 1956:175). Manuel Querino (1851 – 1923), selbst Afrobrasilianer und Aktivist, publizierte im Jahre 1916 »A raÅa africana e seus costumes« und im Jahre 1918 »O colono preto como fator de civilizażo«, die 1938 nach seinem Tode unter dem Titel »Costumes africanos no Brasil« erschienen. Seine aus der Praxis entstandenen, heute klassischen, ethnografischen Studien führte er gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhs. in Bahia durch. Mit Arthur Ramos de Araujo Pereira (1903 – 1949) hat sich wieder ein Psychiater mit der afrobrasilianischen Problematik beschäftigt. Der bedeutende afrobrasilianische Künstler und Politiker Abdias Nascimento (1978) wies später mit einer gewissen Ironie darauf hin, daß es anfänglich Psychiater und Kriminalanthropologen waren, die sich der Afrobrasilianer »annahmen«. So wurde das »Fremde« zum »psychopathologisch Auffälligen«. Die Ethno-psychoanalytikerin Maya Nadig (1992:50) spricht in diesem Zusammenhang von einer »Psychopathologisierung des Fremden« und erkennt darin einen Abwehrmechanismus, ein zentrales Thema der modernen Transkulturellen Psychiatrie und Ethnopsychoanalyse. Arthur Ramos’ insgesamt 458 Titel umfassende Bibliographie enthält psychologische, ethnopsychoanalytische, psychiatrische, soziologische, religionswissenschaftliche und folkloristische Studien. Hervorzuheben sind hier besonders die »Estudos de Psican‚lise« (1931), »O negro brasileiro« (1934), »Introdużo — psychologia social« (1936), »As culturas negras no Novo Mundo« (1937), »Introdużo — antropologia brasileira« (1948/49, 2 vol.s) und die »Estudos de Folklore« (1952, posthum). Dieses überaus reichhaltige Gesamtwerk Arthur Ramos’ ist für jeden Psychoanalyse-Historiker, Sozialpsychologen, Ethnologen und (Afro-) Brasilianisten noch heute eine wahre heuristische Fundgrube. Im Jahre 1941 gründete Ramos die »Sociedade Brasileira de Antropologia e Etnologia«. Später leitete er bis zu seinem Tode die sozialwissenschaftliche Abteilung der UNESCO in Paris. In der frühen Geschichte der (Ethno-)Psychoanalyse und Afrobrasilianistik in Brasilien (vgl. Stubbe, 1997, 2011) kommt Arthur Ramos eine hervorragende Rolle zu, die hier chronologisch dargestellt werden soll: *1926 Von Arthur Ramos de Araujo Pereira(1903 – 1949) wird die 1925 abgeschlossene medizinische Doktorarbeit »Primitivo e loucura« publiziert. Sie wird mit dem Alfredo Brito-Preis ausgezeichnet und in französischen, nordamerikanischen und argentinischen Fachzeitschriften besprochen. Auch Sigmund Freud schreibt einen Lobesbrief an ihn. Ramos zitiert in seiner Arbeit nicht nur Freud, Jones, Spielrein, Regis, Hesnard u. a., sondern vor allem Schilder und Ferenczi. Ramos übt in zwei Punkten Kritik an Sigmund Freud: die Überbetonung der Sexualsymbolik und die Anwendung der Psychologie des

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Individuums auf die Psychologie der »Primitiven« (vgl. Perestrello, 1986:204; Gusm¼o, 1974:29; Stubbe, 1987, 1997). *1932 Es erscheint von Arthur Ramos »O mito de Yemanj‚ em suas raizes inconscientes«. !Yemanj‚, eine Art afrobrasilianische Meeresgöttin, spielt im religiösen Alltag Brasiliens und den sykretistischen Kulten bis heute eine hervorragende Rolle (vgl. Unterste, 1973; Oliveira et al., 1986). *1934 Arthur Ramos (Rio de Janeiro) publiziert ein einflußreiches Werk der Afrobrasilianistik »O negro brasileiro« (vgl. Ramos, 1934, 1934; Gusmao, 1974; Leite, 1983; Stubbe, 1987; D. Ribeiro, 1985:798). *1935 In seinem Werk »O Folklore Negro do Brasil. Demopsychologia e Psychoanalyse« gibt er eine (ethno-)psychoanalytische Interpretation der afrobrasilianischen !»Folklore«. In diesem Jahr unterzeichnen Roquette Pinto, Arthur Ramos und Gilberto Freyre und andere Intellektuelle das »Manifesto Antinazista« und üben Kritik an den Rassentheorien in Deutschland (vgl. Ramos, 1935; D. Ribeiro, 1985:804,806) *1936 Ramos (Rio de Janeiro) veröffentlicht eine »Introdużo — psychologia social« (!Sozialpsychologie). In diesem Jahr veröffentlicht er auch *»O desenho infantil e sua significażo psychanalytica« in der »Rev. Med. da Bahia« (fevr., N8 2), eine psychoanlytische Interpretation von Kinderzeichnungen (vgl. Stubbe, 1997) *1937 organisiert er zusammen mit dem Volkskundler Edson Carneiro den »II. Congresso Afro-Brasileiro« (vgl. Stubbe, 1987; D. Ribeiro, 1985:886) *1938 Arthur Ramos publiziert eine ›ethno-psychoanalytische‹ Studie über »O espirito associativo do negro«. *1943 gibt Ramos eine »Introdużo — antropologia brasileira« heraus. Posthum erscheinen dann noch die beiden völkerkundlichen Werke »As culturas ind†genas«(1971) und »As culturas negras no Novo Mundo« (1979) A. Ramos verfolgte die afrobrasilianischen Studien des baianischen Psychiaters und Kriminologen Nina Rodrigues (1862 – 1906) weiter (vgl. Stubbe, 2001:261ff), indem er als erster in Brasilien die österreichische Psychoanalyse auf Phänomene der afrobrasilianischen Kultur anwandte. Ramos wirft Nina Rodrigues Position vor, daß sie von den Theoretikern der Rassenungleichheit wie Gobineau (1816 – 1882) und Lapouge imprägniert sei (Ramos, 1951:18). Die These von der biologischen Inferiorität der Afrobrasilianer ersetzte er dann aber unglücklicherweise durch die ebenso fragwürdige These von ihrer vermeintlichen kulturellen Inferiorität. Auch sündigte er indem er die ethnozentrische (später revidierte) Hypothese des prälogischen Denkens von L¦vy-Bruhl (1857 – 1939) übernahm (vgl. etwa Ramos, 1951:295; Stubbe, 2012:121 – 127). Wollten Rodrigues und Vianna die Übel der »biologischen Inferiorität« in der brasilianischen !Gesellschaft durch ein »embranquecimento« (Weißmachung)

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bekämpfen, sah Ramos die Lösung in der Herstellung einer »verdadeira cultura«, in der die prälogischen Elemente durch rationale ersetzt würden (vgl. Ramos, 1951:296). In den frühen 30er Jahren des 20. Jh.s, noch vor der Gründung des »Estado Novo« (1937 – 1945), als die Afrobrasilianer sich politisch zu organisieren begannen (z. B. Frente Negra Brasileira, gegr. 16. Sept. 1931, 1. Gründungsversuch bereits 1928; die FNB existierte bis 1937; vgl. FGV-Cpdoc, 1984:1393) fand in Recife der »I. Congresso Afro-Brasileiro« (1934) statt. Unter der Beteiligung renommierter Fachleuten (z. B. Artur Ramos, Ulisses Pernambuco, CunhaLopes, Melville J. Herskovits, Edison Carneiro, Renato MendonÅa, Rodolfo Garcia, Mario de Andrade, Roquette-Pinto), wurden wichtige Aspekte der Geschichte, Kultur, Gesundheit, Sprache etc. der Afrobrasilianer diskutiert. Vielfältige Themen standen auf der Tagesordnung: der »negro« in der Folklore und Literatur (MendonÅa), Wörterlisten des nagú (Garcia), anthropometrische Untersuchungen nach L. Lapicque (zum Nachweis der Afrodescendenz!) (Avila), »Calunga dos Maracatffls« (M. de Andrade), der Mythos des !Xangú (A. Ramos), die »negros« in der Geschichte von Alagúas (Brand¼o), drei Jahrhunderte der Sklaverei in Parahyba (Vidal), die Abolition und ihre Ursachen (Camargo Jun.), Blutgruppen der »raÅa negra« (Duarte), die Republik von !Palmares (Mello), »branco, negro e mulato«- Neugeborene (Cavalcanti), der »negro« als Arbeiter zur Zeit des »bangüÞ« verglichen mit dem Arbeiter zur Zeit der Zuckerfabriken (Raiz), Herkunft der »negros« in der Neuen Welt und Bronze- und Stoffkunst in Dahom¦ (Herskovits), Ernährung und gesundheitlicher Zustand des Sklaven in Brasilien (Coutinho), das Problem der Tuberkulose bei »brancos« und »pretos« und die »rassische« Resistenz (Faria), die Situation des »negro« in Brasilien (Carneiro), afrikanische Sekten in Recife (Cavalcanti), Rezepte des »quitutes afrobrasileiros« (Ialorix‚ Santa & Babalorix‚s O. Almeida & A. Gomes), anthropologische Bemerkungen über die »mulatos« in Pernambuco (Andrade), Toadas de Xangú do Recife (mit Noten) (Braga) und die Rede des Repräsentanten der »Frente Negra« von Pelotas (M. Barros). Es ist hierbei auffällig, dass sich unter den Vortragenden auch vier bekannte brasilianische Psychiater befanden. Bereits Abdias do Nascimento hat mit einer gewissen Ironie auf die Tatsache hingewiesen, ein wie starkes Interesse die Psychiatrie der damaligen Zeit, beginnend mit Nina Rodrigues, für die Afrobrasilianer entwickelte (s. oben). Zu welchen Ergebnissen über die Afrobrasilianer/»negros« kam die Psychiatrie der damaligen Zeit? J. R. Cavalcanti, ein Schüler von Austreg¦silo (1876 – 1960), stellt generell die höhere Langlebigkeit (longevidade) der »negros« (unter denen er auch einige Hundertjährige fand! vgl. auch Scis†nio, 1997:236) gegenüber den Weißen fest. Hierbei ist jedoch kritisch anzumerken, dass allgemein die Kindersterblichkeit bei den Afrobrasilianern beträchtlich höher war. Ulysses Pernambuco stellt einen höheren

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Anteil von »doenÅas mentaes« (Geisteskrankheiten) bei den Afrobrasilianern Pernambucos fest (institutionelle Inzidenz): bei den »konstitutionellen Psychosen« (psychoses constitucionaes z. B. Schizophrenie, manisch-depressives Irresein etc.) findet er eine geringere Häufigkeit, bei den »organischen Psychopathien« (psychopatias organicas; z. B. Epilepsie, Involutionspsychosen, Oligophrenien etc.) und den »toxischen und infektiösen Psychosen« (psychoses toxicas e infecciosas; z. B. !Alkoholismus, etc.) dagegen eine höhere. Cunha Lopes & Reis stellen fest, dass zwischen 1931 und 1933 in der Psychiatrischen Klinik von Rio de Janeiro 19,02 % »negros«, 22,76 % »mulatos« und 58,21 % »brancos« aufgenommen wurden. Kritisch läßt sich allgemein zu all diesen Untersuchungen sagen, dass sie nicht repräsentativ waren, sondern die ungleiche (ungerechte) psychiatrische Versorgungssituation in Brasilien wiederspiegeln und dass ihnen ein Rassenkonzept bzw. ein »Rassendeterminismus« zugrundeliegt, der die »negros« grundsätzlich als minderwertiger als die »brancos« betrachtete. Eine kritische Sozial- bzw. Transkulturelle Psychiatrie war noch nicht bekannt (vgl. Estudos Afro-Brasileiros, 1988). !Gesundheit Aber nicht alle brasilianischen Intellektuellen ließen sich von den in Europa und den USA grassierenden Rassenideologien anstecken. Z. B. stellte der Arzt Manoel Jos¦ do Bomfim (1868 – 1932) in seinem Werk »A Am¦rica Latina-Males de origem« (1905) klar heraus, daß die den Afrobrasilianern zugeschriebenen negativen Attribuierungen nicht aus der biologischen »Rasse« kommen, sondern Ergebnisse der !Sklaverei sind. Da der Afrobrasilianer eine passive Rolle bei der Bildung der nationalen Gesellschaft gespielt habe, könne man ihn nicht für die »Unterentwicklung« der gegenwärtigen Gesellschaft verantwortlich machen (vgl. Bomfim, 1905: 270 f, 278, 280ff)(vgl. !Sündenbock-Rolle). Das Problem der »mestiÅagem« entlarvt er als eine Pseudo-Theorie, die versuche, die Rassenvermischung als schädlich hinzustellen. Mit Recht weist er bereits darauf hin, daß es in der lateinamerikanischen Geschichte keine Beweise dafür gebe, daß die !»mestiÅos« in irgendeiner Weise »degeneriert« seien, ganz im Gegenteil. Ihre Tugenden und Untugenden hingen allein davon ab, welches Erbe auf ihnen laste, welche Erziehung ihnen angedeiht worden sei und wie sie sich an die ihnen angebotenen Lebensbedingungen anpassen würden (Bomfim, 1905: 310 f; zu Bomfim vgl. auch D. Ribeiro, 1984: 48ff; Stubbe, 2001). Ein anderer Autor, Alberto Torres (1865 – 1917), zeigte in seinem Buch »O problema nacional brasileiro« (1917), sich auf den Anthropogeographen und Umweltdeterministen Ratzel (1844 – 1904) und den Begründer der nordamerikanischen »cultural anthropology« Franz Boas (1858 – 1942) berufend, daß !»raÅa« nicht mit Kultur gleichzusetzen sei, und daß es keinerlei wissenschaftliche Beweise für eine Rassenungleichheit gebe (Torres, 1938:130). Torres sah auch schon deutlich mit fast 20jähriger Antezedenz den Aufstieg der national-sozialistischen RassenLehre, die ihre imperialistischen und kriegerischen Ambitionen mit einer

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Ideologie der Rassenüberlegenheit der Weißen begründete. Für ihn ist das eigentliche brasilianische Problem in Wahrheit ein ökonomisches. Der Anthropologe Roquette-Pinto (1884 – 1954) vertrat die Ansicht (obgleich er die Existenz der Rassenvorurteile negierte und eine gewisse Sympathie für die Eugenik hegte), daß die Ursachen der brasilianischen Problematik von der »rassischen« Konstitution der Bevölkerung unabhängig und Resultat sozialer Faktoren sei. In seinem bekannten »Ensaio de Antropologia Brasileira« (1933) zeigt er sich vertraut mit den wichtigen zeitgenössischen Arbeiten von Davenport und Melville J. Herskovits (1895 – 1963) (z. B. The american negro, 1928). Gilberto Freyre’s (1900 – 1987) (der in den USA studiert hatte) »Casa grande e senzala: formażo da familia brasileira sob o regime de economia patriarcal« (1933), ein sehr einflußreiches Jahrhundertwerk, dient dann vor allem dazu die Verbreitung einer bestimmten Ideologie voranzutreiben, die sich aus den Mythen des »LusoTropikalismus«, des »Senhor am‚vel« (einer Spielart des »homem cordial brasileiro« S¦rgio Buarque de Hollanda’s, 1936) und der »democracia racial« zusammensetzt. Freyre begeht auch den Fehler, das »mestiÅamento« (»Rassenvermischung«) als eine Bereicherungsform anzusehen und den portugiesischen Kulturbeitrag zu idealisieren (vgl. dagegen z. B. Paula, 1971; zu Freyre, vgl. z. B. Nery da Fonseca, 1977; D. Ribeiro, 1979; FUNARTE, 1985; Dantes Mota, 2004:217 – 234). Ab Mitte der 30er des 20. Jh.s begannen verschiedene ausländische Sozialwissenschaftler die »Rassenbeziehungen« zwischen Weißen und Schwarzen in Brasilien zu erforschen. Hier ist vor allem der US-Amerikaner Donald Pierson zu nennen (ein Schüler von Robert Park ,1864 – 1944), der von 1935 bis 1937 die Situation der Afrobrasilianer in Bahia untersuchte. Die Resultate dieser Untersuchung publizierte er in dem Werk »Negroes in Brazil: A study of race contact at Bahia« (1942). Pierson erklärte in diesem Band das !Vorurteil gegenüber den Afrobrasilianern ähnlich wie Gilberto Freyre durch die Klassensituation und argumentiert mit den (vermeintlich) sozialen bzw. psychologischen Vorurteilen gegenüber den »rassisch-gemischten« Ehen (vgl. Nogueira, vol. 3, 1981:181 – 234; CorrÞa, 1987:29 – 116). Die us-amer. Anthropologin Ruth Landes (1908 – 1991) führte 1938/39 Feldforschungen in Bahia über die Konstruktion der Identität im Candombl¦ durch und veröffentlichte ihre Studien unter dem Titel »City of women« (1947; port. »Cidade das mulheres«, 1967). Der afro-us-amerikanische Soziologe Edward Franklin Frazier (1894 – 1962) studierte im Jahre 1941 das Familienleben in Bahia und publizierte im Jahre 1942 »The negro family in Bahia«. L. A. da Costa Pinto (Universidade do Brasil, RJ) publizierte im Jahre 1953 eine ähnliche Arbeit über »O negro no Rio de Janeiro. RelaÅþes de raÅa numa sociedade em mudanÅa«. Der frz. Soziologe und Religionswissenschaftler Roger Bastide (1898 – 1974) kam 1938 (bis 1954) als Nachfolger von Claude L¦vi-Strauss (vgl. Tristes tropiques, 1955) an die Universität von S¼o

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Paulo (USP). Er war ein »Grenzgänger zwischen Kontinenten und Kulturen«. In Brasilien wurde er als »mystischer Sohn« des Gottes !Xangú in eine afrobrasilianische Kultgemeinschaft aufgenommen. Vor allem interessierten ihn das »wilde bzw. mystische Heilige« in den Gestalten des Fremden, des Mystikers und des Wahnsinnigen. Mit ihnen sucht er im Rahmen der Religionswissenschaft und Soziologie das Gespräch, da er meint, dass sie einer existentiell bedeutsamen Erfahrung zum Ausdruck verhelfen, die dem modernen (westlichen) Menschen in seiner Gesellschaft abhanden gekommen ist (vgl. Reuter, 2000). Von Bastide stammen eine Vielzahl von wichtigen soziologischen (z. B. »Brancos e negros em S¼o Paulo«, 1955; Soziologie und Psychoanalyse, 1960) und religionswissenschaftlichen Arbeiten (z. B. »Le candombl¦ de Bahia«, 1958; »Les religions africaines au Br¦sil«, 1960) über die Afrobrasilianer. Andere Sozialwissenschaftler wie z. B. der us-amer. Kulturanthropologe Marvin Harris waren fasziniert von der Vielzahl der Kategorien zur Definition der !Hautfarbe in Brasilien (vgl. auch Stephenson, 1990; Stubbe, 1992:88ff). Eine der von Harris in Bahia durchgeführten Untersuchungen macht dies deutlich: Harris legte 100 Versuchspersonen 9 Fotographien vor, die ein Kontinuum vom Schwarzen bis zum Weißen enthielten mit 7 intermediären Typen. Das Ergebnis war überraschend, denn es ergaben sich 40 verschiedene Rassebezeichnungen (vgl. Harris, 1952, 1956, 1964). Ähnliche Arbeiten stammen von Charles Wagley (1952, 1963), Harry Hutchinson (1952) und Ben Zimmermann (1952). In den 50er Jahren finanzierte die UNESCO eine Reihe von Untersuchungen über die »Rassenbeziehungen« in Brasilien. Zu nennen sind hier vor allem die großangelegte Untersuchung über »Brancos e Negros em S¼o Paulo« (1959) von Roger Bastide und Florestan Fernandes, sowie L. A. Costa Pinto’s »O Negro no Rio de Janeiro. RelaÅþes de raÅas numa sociedade em mudanÅa« (1953). Weitere wichtige Titel, die sich der Problematik der Afrobrasilianer widmen, sind: »As metamorfoses do escravo« (1962) des Paulistaner Soziologen Oct‚vio Ianni, »Capitalismo e escravid¼o no Brasil meridional« (1962) von Fernando Henrique Cardoso (dem späteren Präsidenten Brasiliens!), »Cúr e mobilidade social em Florianûpolis« (1960) von Cardoso und Ianni und »A integrażo do negro na sociedade de classes« (1965) von Fernandes. Alle diese Arbeiten, die im Süden Brasiliens (in dem der Anteil der Afrobrasilianer geringer ist) realisiert wurden, haben gemeinsam, daß sie die Existenz von Rassenvorurteilen konstatieren. Oracy Nogueira (1955) nimmt eine Unterscheidung der Rassendiskriminierung in Brasilien und den USA vor: in Brasilien wird ein »Mischling« nicht mehr als Schwarzer angesehen, wenn er dem biologischen Prozeß des »embranquecimento« ausgesetzt ist, d. h. glatte Haare, eine hellere Hautfarbe und eine geringere Prognathie besitzt. In den USA wird selbst ein völlig weißer »Mischling« diskriminiert, aufgrund des Wissens um seine biologischen afrikanischen Vorfahren. In seiner Untersuchung »Cor, profiss¼o e mobilidade: O negro e o r‚dio

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em Sao Paulo« (1967) zeigt Jo¼o Baptista Borges Pereira, daß der Radiosender einer der hauptsächlichen Kanäle der vertikalen ökonomischen Mobilität der Schwarzen in S¼o Paulo ist, was jedoch nicht heißt, daß in dieser Institution das Rassenproblem bereits gelöst sei. Für die Sozialwissenschaftler der 70er Jahre gibt es keine Zweifel mehr an der Existenz der Rassenvorurteile und sie versuchen nun, die verschiedenen Aspekte des Problems zu studieren. Der Soziologe Thales de Azevedo (1975) wendet sich scharf gegen solche (verbreiteten) Meinungen, die das Rassenproblem in Brasilien verharmlosen und die rassendiskriminierende Verhaltensweisen als Einzelfälle abtun wollen. Azevedo berichtet über zahlreiche Vorfälle, die die Existenz von Gewalt im Zusammenhang mit Rassendiskriminierung, zumindest auf individueller Ebene, beweisen. Auch räumt er völlig mit dem beliebten Mythos von der »democracia racial« auf, indem er nachweist, daß es in Brasilien eine systematisierte rassistische Doktrin gibt. Der Soziologe Florestan Fernandes macht schließlich in dem Sammelband »O negro no mundo dos brancos« (1972) die historische Perspektive des Problems deutlich, indem er schreibt, daß die Abolition (1888) eine entscheidende soziale Revolution war, die von den Weißen für die Weißen gemacht wurde (vgl. Fernandes, 1972: 47). Der Afrobrasilianer wurde doppelt ausgebeutet: »Primeiro, porque o ex-agente de trabalho escravo n¼o recebeu nenhuma indenizażo, garantia ou assistÞncia; segundo, porque se viu, repentinamente, em competiżo com o branco em ocupaÅþes que eram degradadas e repelidas anteriormente, sem ter meios para enfrentar e repelir essa forma mais sutil de despojamento social« (Fernandes, 1972: 47; vgl. auch Fernandes, 1989). Mit Thomas Skidmore’s (1976, 1998) historischer Analyse des Rassen- und Nation-Konzeptes im brasilianischen Denken seit Ende des 19. Jahrhunderts wird dann die Existenz einer rassistischen Ideologie in Brasilien sowie das Ideal des »branqueamento« klar herausgearbeitet. Es ist oftmals behauptet worden, daß die Rassenbeziehungen in Brasilien »humaner« seien, weil das Sklaverei-System hier humaner gewesen sei. Die Arbeits-, Lebens- und Wohnverhältnisse, die!Suizidstatistiken, die an den Sklaven praktizierten !Strafen, der !»banzo«, die hohe Mortalität und Morbidität der Sklaven(-kinder) sprechen hier jedoch eine deutlich andere Sprache! Alles spricht dafür, daß sich das Sklavereisystem in Brasilien in keiner Weise von dem Sklavereisystem an irgendeinem anderen Ort der Welt unterschied (vgl. Stubbe & Santos-Stubbe, 1990; Stubbe, 1985, 1987, 1994; Martin, 1988; N’Diaye, 2011). !Genozid !Gesundheit !Reparationen Bisher haben noch wenige Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer die Problemstellungen der Afrobrasilianistik bearbeitet. Zu nennen ist hier vor allem der Künstler und Politiker Abdias do Nascimento z. B. mit seinem engagierten Buch »O genoc†dio do negro brasileiro« (1978), in dem u. a. nachgewiesen wird, wie die katholische Kirche das Sklavereisystem aktiv aufrechterhalten hat (vgl. auch CEHILA, 1987 !Missionierung). Die afrobrasilia-

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nische Psychiaterin Neusa Santos Souza legte z. B. eine mit vielen eindrucksvollen biografischen Skizzen versehene psychoanalytische Studie »Tornar-se negro« (1983) vor. Sie stellt darin u. a. fest (Santos-Souza, 1983:29), daß in Brasilien !»negro« mit »sujo« (= schmutzig) assoziiert wird. Sie kritisiert, daß sogar das wichtigste Sprachlexikon, der »Aur¦lio«, bei dem Begriff »negro« 10 pejorative Attribute aufführt, nämlich: sujo, triste (= traurig), maldito (= verflucht), melancûlico, perverso, escravo (= Sklave), funesto (= finster), lutuoso (= traurig), sinistro (= unheimlich), encardido (= vergilbt). Die Sozialwissenschaftlerin und Afrobrasilianistin Chirly dos Santos-Stubbe (1990ff) hat in vielen Publikationen vor allem die Situation der afrobras. Frauen sozialpsychologisch bearbeitet und eine kurze Einführung in die Afrobrasilianistik vorgelegt. Moema Parente Augel (1980ff) hat nicht nur !Reiseberichte (vor allem in Bahia) analysiert, sondern auch in vielen Schriften die künstlerischen und literarischen und kulinarischen Aktivitäten der Afrobrasilianer dargestellt. Im Rahmen des 100jährigen Jubiläums der Abolition in Brasilien (1888) entstand um das Jahr 1988 eine Vielzahl von Forschungsarbeiten über die fast 350 Jahre existierende !Sklaverei. Die afrikanische Sklaverei in Brasilien läßt sich grob in drei verschiedene Phasen einteilen: 1. Die erste reicht vom Beginn der Kolonisation (1500) bis Mitte des 17. Jh.s. In diesem Zeitabschnitt wurde das Zuckerrohr-Plantagensystem errichtet, das vor allem auf der Arbeit afrikanischer Sklaven beruhte. Nach 1620 übertraf die Anzahl der afrikanischen bereits die der indianischen Sklaven. 2. In der zweiten Phase von Mitte des 17. Jh.s bis 1791 kam es zu einer Expansion der Plantagenwirtschaft und einem rapiden Aufschwung der Ausbeutung von Gold-und Diamanten-Minen, in denen Sklaven arbeiteten. Neben Zucker (aÅucar), wurden auf den Plantagen auch zunehmend Produkte wie !Tabak, Indigo, Kakao und Baumwolle angebaut. Diese wirtschaftliche Entwicklung führte zu einer grossen Nachfrage nach afrikanischen Sklaven (möglicherweise ca. 2 Millionen). 3. Die letze Phase von Ende des 18. Jh.s bis zur !Abolition (1888) ist geprägt von der Expansion der Kaffeeproduktion, der europ. Einwanderung und stufenweisen Einschränkung der Sklaverei. Insbes. in den Provinzen Rio de Janeiro, S¼o Paulo und Minas Gerais kam es zu einem grossen Zustrom von neuen Sklaven (vgl. Cardoso, 1982:20 – 22; Marcondes de Moura, 1994:9) Grundsätzlich lassen sich in der Forschung über die afrikanische Sklaverei in Brasilien mindestens folgende verschiedene (sich teilweise auch überschneidende) Richtungen unterscheiden: 1. Die historische Forschungsrichtung (z. B. Malheiro, 1976; Skidmore,1998; Cardoso, 1982; J. Jobson de A. Arruda et al., 2005; !Sklaverei in der

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Weltgeschichte und als weltgeschichtliches Phänomen, z. B. Meyer, 1990; Osterhammel, 2000) Die ökonomische Forschungsrichtung (z. B. Sombart, 1928; Furtado, 1975; Cardoso & Brignoli, 1984; marxistische Analysen: z. B. Ihde, 1975; Gorender, 1978, Buescu, 1982; Hell, 1986; Tanezini, 1994:1 – 18) Die quantitative, statistische Forschungsrichtung (z. B. Anzahl der »importierten« Sklaven auf den »tumbeiros«, vgl. B. Conrad, 1985; Klein, 1978, 1987; Scis†nio, 1997) Die soziologische und sozialpsychologische Forschungsrichtung (z. B. Ramos, 1936; Fernandes, 1965; Ianni, 1962, 1978; Santos-Stubbe, 1995; Stubbe, 2001) Die sprachwissenschaftliche Forschungsrichtung (z. B. Sprachenvielfalt der Sklaven, vgl. Garcia, 1934; MendonÅa, 1948; Scis†nio, 1997; Lopes, 2006) Die kulturanthropologische Forschungsrichtung (z. B. Rassenideologie: Skidmore, 1976; Harris, 1967; Stubbe, 1987, 2001, 2012) Die politische Forschungsrichtung (z. B. »Quilombismo«; Slaverei im internationalen politischen System; die afrobras. polit. !Organisationen, vgl. A. do Nascimento, 1982; !Quilombo als politische Utopie der Zukunft) die Auswirkungen der Sklaverei auf die brasilianische Gesellschaft, Kultur, Religion und Wissenschaft bis in die Gegenwart (z. B. Psychologie: SantosStubbe, 1992; !Anthropologie: Schwarcz, 1993; Sprachwissenschaft: Cunha-Henckel, 2007; Medizin/!Gesundheit: Pies, 1981; Scis†nio, 1997; ! Musik: Houaiss, 2006; !empregadas dom¦sticas: Santos-Stubbe, 1995; ! Religion/Synkretismus: Lody, 2003 etc.) Die gender-bezogene Forschungsrichtung/Frauenforschung: z. B. SantosStubbe, 1994ff, !Frauen Die lebensalterbezogene und biografische Forschungsrichtung (z. B. ! Sklavenkindheit, !Biografien, z. B. Priore, 2000; Stubbe, 1994, 2012:573ff) Die historische !Quilombo-Forschung, die interdisziplinär, und heute auch archäologisch arbeitet (vgl. z. B. !Palmares) Kunsthistorische Forschungsrichtung, z. B. Nina Rodrigues, 1904; Carneiro da Cunha, 1994; Lody, 2003 !Kunst !»Made in Africa«-Forschung: die afrikan. Wurzeln der bras. Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit, Sprache etc. (z. B. C–mara Cascudo, 1965; Diegues Jfflnior, 1977, 1997; vgl. auch zur Sklaverei in Afrika, z. B. N’Diaye, 2010) Die literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung (z. B. Sayers, 1958; Trigo, s.d.; Carvalho FranÅa, 1998 !Literatur)

In der Revista do Patrimúnio Histûrico e Art†stico Nacional (N8 25, 1997) werden viele wichtige Aspekte der neueren Afrobrasilianistik (Kultur, Medien,

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Sport, Kunst, Literatur etc.) der Gegenwart von Fachleuten wie J. R. dos Santos, M. Di¦gues Junior, M. Sodr¦, H. Buarque de Hollanda, M. Augras, A. do Nascimento, N. Lopes, L. S. de Almeida, M. B. Nascimento, C. Vogt & P. Fry, E. Ferraz u. a. übersichtsartig behandelt. Der afrobras. Jurist Alaúr Eduardo Scis†nio (1927 – 1999) hat in seinem wertvollen »Dicion‚rio da escravid¼o« (1997) akribisch vor allem die historischen und legislativen Aspekte der Sklaverei herausgearbeitet. Nei Lopes (*1942), Jurist, Sprachwissenschaftler, Musiker und afrobras. Aktivist, legte eine Vielzahl von Publikationen, Enzyklopädien (2004) und Lexika (2003, 2006) über afrobrasilianische Themen vor. Raul Lody (*1951) hat die afrobras. Religiosität vor allem in ihren künstlerischen, kulinarischen, technischen und liturgischen Aspekten erschöpfend behandelt (vgl. z. B. Lody, 2003). Auch viele deutschsprachige Forscher und Forscherinnen haben vor allem im Rahmen der Lateinamerikakunde bzw. Brasilianistik (vgl. z. B. Cannstatt, 1902; Rescher, 1979; Stubbe, 1980ff; Holtz, 1981; Werz, 1992; Institut für Iberoamerika-Kunde, 1993; Universität Bielefeld, 1990; Briesemeister et al., 1994; SantosStubbe, 1995ff; Costa et al., 2010) afrobrasilianische Themen bearbeitet. Ebenfalls in Portugal, Frankreich, den USA und England existiert eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen, Periodika, !Bibliografien und Sklavereispezialisten (vgl. Bastide, Ribeiro, Boxer, Skidmore, Klein, Conrad, Karash, Slenes, Levine, etc.), die sich intensiv mit den Afrobrasilianern, ihrer Geschichte, ihrer Religion, ihrer Kultur, den »Rassenbeziehungen« etc. beschäftigt haben. Die gegenwärtige Situation: Um sich ein umfassenderes Bild der soziologischen und sozialpsychologischen Gegebenheiten der Afrobrasilianer der Gegenwart machen zu können sollen noch einige Aspekte ihrer Situation beleuchtet werden: Zunächst einmal ist die Erfassung der !Hautfarbe ein sozialpsychologisches Problem. Harris (1970) fand allein 492 verschiedene Ausdrücke für die Hautfarbenbeschreibung in Brasilien! (vgl. auch Stephens, 1989; Stubbe, 1992). Der Soziologe und Afrobrasilianer Clûvis Moura (188: 63) berichtet, daß bei der Volkszählung von 1980 die nicht-weiße Bevölkerung nach ihrer Hautfarbe gefragt, insgesamt 136 verschiedene Hautfarben angab. Moura interpretiert dieses Phänomen als eine Identitätskrise und Flucht vor der ethnischen Realität. Über die Afrobrasilianer liegen bereits einige umfangreiche !Bibliografien vor, die insgesamt einige Tausend Titel umfassen (vgl. z. B. Biblioteca Nacional, 1962; Alves, 1979; Biblioteca Amaral, 1988; Casa Ruy Barbosa, 1988; CEAA, 1991 etc.). Dabei ist auffallend, daß die meisten Arbeiten in die Kategorien ! »Folklore«, !»Geschichte«, !»Religion« und !»Sklaverei« fallen. Die 100Jahrfeier der Sklavenbefreiung im Jahre 1988 hat eine Fülle von Untersuchungen

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und Projekten zu diesem Thema hervorgerufen. (Sozial-)Psychologische Untersuchungen zu afrobrasilianischen Themen sind dagegen bisher noch äußerst selten (vgl. Stubbe, 1987, 1988, 1994; Santos-Stubbe, 1998; Journal of African Psychology, 1988ff; Peltzer & Ebigbo, 1989). Betrachtet man z. B. die Ergebnisse der Volksbefragungen von 1940 bis 1980 so kann man ein allmähliches Anwachsen des afrobrasilianischen Bevölkerungsteils feststellen (!Demo-grafie): 1980 werden bereits 45 % der brasilianischen Bevölkerung als Afrobrasilianer bezeichnet (vgl. IGBE, 1987; IBASE, 1989:11). Hinsichtlich der Altersstruktur der Afrobrasilianer ergibt sich folgendes Bild: 0 – 14 Jahre (42 %), 15 – 24 Jahre (21 %), 25 – 44 Jahre (23 %), 45 – 54 Jahre (7 %), 55 Jahre und älter (7 %) (IBASE, 1989: 12). Es handelt sich also um eine ausgesprochen junge Bevölkerungsgruppierung. Gegenüber den Weißen ist bei den Afrobrasilianern eine höhere Kinderzahl, sowie eine geringere Lebenserwartung zu beobachten (vgl. auch IGBE, 1990). Die afrobrasilianische Bevölkerung ist nicht gleichmäßig über das Land verteilt. Während in den urbanen Zentren das weiße Element dominiert (60 % gegenüber 40 %), findet man das afrobrasilianische Element stärker in den ruralen Gebieten (56 % gegenüber 44 %). Im Vergleich zu den Weißen nehmen die Afrobrasilianer im brasilianischen Wirtschaftsleben eine eindeutig ungünstigere Position ein. Man findet Afrobrasilianer vorwiegend in geringer qualifizierten Tätigkeiten, sie stellen auch die Mehrheit der Arbeitslosen und erhalten geringere Löhne. Außerdem besitzen sie schlechtere berufliche Aufstiegschancen auch bei gleicher Qualifikation (vgl. Hasenbalg, 1979; Oliveira et al., 1985; Moura, 1988; IBASE, 1989; Lovell, 1994; Lopes, 2006). Eine !Diskriminierung läßt sich also deutlich auf dem Arbeitsmarkt beobachten. Selbst wenn die Afrobrasilianer über eine ebenbürtige Schulausbildung verfügen wie die Weißen, werden ihnen dennoch geringere Aufstiegs-chancen eingeräumt. Im Hinblick auf die Arbeitsstundenzahl liegen die Afrobrasilianer entgegen einem verbreiteten Vorurteil jedoch über derjenigen der Weißen. Auch hinsichtlich der Löhne und Gehälter wird die Diskriminierung in den späten 80er Jahren sichtbar (!Ökonomie und Arbeitswelt). Vor allem die Afrobrasilianerin wird diskriminiert. Auf den Verwaltungsposten finden wir im Jahre 1980: 34 % gelbe, 19,6 % weiße und nur 3,9 % schwarze Frauen (vgl. IBASE, 1989:44). Dagegen arbeiten 56,4 % der Afrobrasilianerinnen im Dienstleistungssektor, d. h. vor allem als !»empregadas« (= Hausangestellte) (vgl. Carneiro & Santos, 1985; Santos-Stubbe, 1995). Hinsichtlich der Bildungssituation der weißen und schwarzen Frauen ergibt sich in den späten 80er Jahren ein ähnliches Bild. ! Bildung Unter den Alleinerziehenden fanden sich allein im Jahre 1980: 2.030.898 schwarze Mütter (IBGE, 1980). Ihre spezifischen sozialpsychologischen Probleme wurden von Rosane da Silva Ferreira in ihrer Dissertation »Vida de mulher – Um estudo em classe popular« (1987) für Rio de Janeiro ausführlich

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bearbeitet. R. Lustosa Bastos (1987) hat in seiner Magisterarbeit die !Suizide in verschiedenen Stadtteilen (u. a. Favela St. Marta, Copacabana) Rio de Janeiros miteinander verglichen (vgl. Stubbe, 1996:93 – 117). Verschiedene Versuche wurden in Brasilien unternommen, die Situation der Afrobrasilianer zu verbessern. Von staatlicher Seite wurde in die neue !Verfassung von 1988 ein »Rassismus-Paragraph« aufgenommen der die Praktik des !Rassismus unter Strafe stellt (T†tulo II, Cap. I, Art. 6, § III). Verschiedene pädagogische Projekte versuchen, in der schulischen !Bildung den bedeutenden kulturellen Beitrag der Afrobrasilianer und ihre !Geschichte stärker in das Bewußtsein der Schüler und Schülerinnen zu bringen (vgl. z. B. IBASE, 1989: 28 f; Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N825, 1997; Lopes, 2006). Auch haben sich viele !Organisationen gebildet, in denen sich Afrobrasilianer aus politischen, religiösen, sozialen und kulturellen Motiven zusammengeschlossen haben, sowie Institutionen, die der afrobrasilianischen Forschung dienen (vgl. z. B. IBASE, 1989: 55ff; Santos-Stubbe, 2001). Heute wird die !Afrobrasilianistik interdisziplinär und in methodischer Vielfalt im Rahmen der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, der Sozialwissenschaften, der Humanwissen-schaften, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften betrieben. !Anhang !Afrobrasilianistik !Anthropologie !Bibliografien !Demografie !Folklore !Geschichte !Gesellschaft !Reiseberichte !Sklaverei ! Sozialpsychologie !Vorurteile A. J. Antonil (Jo¼o Antonio Andreoni, SJ) (1711, 1923): Cultura e opulencia do Brazil por suas drogas e minas. S¼o Paulo (Introd. A. de E. Taunay); E. de Castro Almeida (1913 – 1921): Invent‚rio dos documentos relativos ao Brasil existentes no Arquivo de Marinha e Ultramar de Lisboa. (Biblioteca Nacional, RJ). Rio de Janeiro; M. Bomfim (1929): O Brasil na America. Caracterizażo da formażo brazileira. Rio de Janeiro; P. Calmon (1933). Histûria da civilizażo brasileira. S¼o Paulo; G. Freyre (1933, 1969): Casa grande e senzala. 2 vol.s. Rio de Janeiro; ders. (1936, 1985): Sobrados e mucambos. 2 vol.s. Rio de Janeiro; Nina Rodrigues (1935): Os africanos no Brasil. S¼o Paulo (2. ed.); 1. Congresso Afro-brasileiro. Pernambuco, anno de 1934. Recife (reed. Fundażo Joaquim Nabuco (ed.) Estudos Afro-Brasileiros. Recife, 1988); Ramos (1935): O Folk-Lore Negro do Brasil. Rio de Janeiro; ders. (1934): O Negro Brasileiro. Rio de Janeiro; ders. (1971): O negro na civilizażo brasileira. Rio de Janeiro; ders. (1979): As culturas negras no Novo Mundo. S¼o Paulo (4.ed.); 2. Congresso Afro-Brasileiro. Bahia 1937. Rio de Janeiro, 1940; A. Arinos de Melo Franco (1937, 1976): O †ndio brasileiro e a revolużo francesa. As origens brasileiras da teoria da bondade natural. Rio de Janeiro (2. ed.); ders. (1939): Terra do Brasil. S¼o Paulo; M. Querino (1938, 1988): Costumes africanos no Brasil. Recife (2. ed.); E. Franklin Frazier (1942): The negro family in Bahia. New York; R. Landes (1947): City of women. New York (port. Cidade das mulheres, 1967); W. Hoffmann-Harnisch (1948): Goethe e o Brasil. Cultura (RJ), ano 1, set-dec, N8 1, p. 139 – 162; A. Lins e Silva (1945): Atualidade de Nina Rodrigues. Estudo bio-bibliogr‚fico e cr†tico. Rio de Janeiro; L. A. Pinto (1953): O

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negro no Rio de Janeiro. RelaÅþes de raÅas numa sociedade de mudanÅa. S¼o Paulo; F. de Azevedo (ed.) (1954): As ciÞncias no Brasil. 2 vol.s. S¼o Paulo; F. Nery (1955): Rui Barbosa. Ensaio biogr‚fico. Rio de Janeiro: Casa R. Barbosa; R. Bastide & Fl. Fernandes (1955): RelaÅþes raciais entre negros e brancos em S¼o Paulo; F. H. Cardoso (1962): Capitalismo e escravid¼o no Brasil meridional. O negro na sociedade escravocrata do Rio Grande do Sul. S¼o Paulo; E. de Cerqueira Falc¼o et al. (1963): Jos¦ Bonif‚cio, o Patriarca. Santos; A. Prinz von Bayern (1963): Die Herzen der Leuchtenberg. München; M. Harris (1964): Racial identity in Brazil. Luso-Brazilian Review, 1 (2), S. 21 – 28; ders. (1970). Referencial ambiguity in the calculus of Brazilian racial identity. Southwestern Journal of Antropology, 26, S. 1 – 14; Fl. Fernandes (1965): A integrażo do negro na sociedade de classes. S¼o Paulo; L. da C–mara Cascudo (1965): Made in Africa. Rio de Janeiro; G. Arciniegas (1966): Kulturgeschichte Lateinamerikas. München; G. G. Manizer (1967): A expediżo do acadÞmico G. J. Langsdorff ao Brasil (1821 – 1828). S¼o Paulo; A. Jacobina Lacombe (1974): Introdużo ao Estudo da Histûria do Brasil. Sao Paulo (wichtige Einführung für Historiker); M. Gusm¼o (1974): Arthur Ramos. O homem e a obra. Maceiû; T. Guldimann (1975): Lateinamerika. Die Entwicklung der Unter-entwicklung. München; P. Malheiro (1976): A escravid¼o no Brasil. Ensaio histûrico, jur†dico e pol†tico. 2 vol.s. Petrûpolis; Th. E. Skidmore (1976): Preto no branco. RaÅa e nacionalidade no pensamento brasileiro. Rio de Janeiro; E. Nery da Fonseca (1977): Cronologia da vida e da obra. Em: Gilberto Freyre, obra escolhida. Rio de Janeiro; J. Gorender (1978): O escravismo colonial. S¼o Paulo (2. ed.); V. Paiva (1978): Oliveira Vianna: nacionalismo ou racismo? Civilizażo Brasileira (RJ), (3), P.127 – 156; J. L. de Azevedo (1978): Êpocas de Portugal econûmico. Lisboa; H. S. Klein (1978): The middle passage: Comparative Studies in the Atlantic Slave Trade. Princeton; ders. (1987): A escravid¼o africana. Am¦rica Latina e Caribe. S¼o Paulo; H. Rescher (1979): Die deutschsprachige Literatur zu Brasilien von 1789 – 1850. Frankfurt/ M.; R.de Barros Laraia (1979): RelaÅþes entre negros e brancos no Brasil. bib. Boletim Informativo e Bibliogr‚fico de CiÞncias Sociais (RJ), (7), p. 11 – 21; M. G. Ferri & Sh. Motoyama (ed.s) (1979ff): Histûria das ciÞncias no Brasil. 3 vol.s. S¼o Paulo; J. H. Rodrigues (1979): Histûria da histûria do Brasil. S¼o Paulo; D. Ribeiro (1979): Gilberto Freyre: »Casa grande e senzala«. Em: Ensaios ensûlitos. Porto Alegre; P. Waldmann (Hrsg.) (1980): Politisches Lexikon Lateinamerika. München; L. de Lima (1980): Roteiro de Nina Rodrigues. Salvador : UFBa-CEAO; M. P. Augel (1980): Visitantes estrangeiros na Bahia oitecentista. S¼o Paulo; U. Holtz (Hrsg.) (1981): Brasilien. Eine historisch-politische Landeskunde. Paderborn (gute dt. Einführung); Biblioteca Nacional (ed.) (1981): Primeiro centen‚rio de Fundażo da Igreja Positivista do Brasil (1881 – 1981): Cat‚logo. Rio de Janeiro; M. CorrÞa (1982): As ilusþes da liberdade. A escola de Nina Rodrigues e a antropologia no Brasil. Doutorado. S¼o Paulo: USP; M. Buescu (1982): Uma interpretażo marxista da escravid¼o. Revista do Instituto Histûrico e Geogr‚fico Brasileiro (RJ), (346), p. 183 – 190; C. H. Davidoff (1982): A ideologia da modernizażo em Gilberto Freyre e Oliveira Vianna. Perspectivas (SP), 5, p. 29 – 38; E. Rodr†guez Monegal (Hrsg.) (1982): Die Neue Welt. Frankfurt/M.; C. Fl. S. Cardoso (1982): A Afro-Am¦rica: a escravid¼o no Novo Mundo. S¼o Paulo; M. I. Pereira de Queiroz (coord.) (1983): Roger Bastide. Sociologia. S¼o Paulo; E. Galeano (1984): As veias abertas da Am¦rica Latina. Rio de Janeiro; C. Fl. Cardoso & H. P¦rez Brignoli (1984): Histûria econúmica da Am¦rica Latina. Rio de Janeiro; P. C. da Silva Telles (1984): Histûria da engenharia no Brasil. Rio de Janeiro; F. Fanon (1985): Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt/M.; D. Ribeiro (1985): Aos trancos

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e barancos como o Brasil deu no que deu. Rio de Janeiro; FUNARTE (ed.) (1985): Casa grande & senzala. 50 anos depois. Um encontro com Gilberto Freyre. Rio de Janeiro; E. Carone (1986): O marxismo no Brasil (das origens a 1964). Rio de Janeiro; M. A. D’Incao (org.): O saber militante. Ensaios sobre Florestan Fernandes. Rio de Janeiro; L. A. de Castro Santos (1987): E Pernambuco falou para o mundo: O impacto de Gilberto Freyre na historiografia norte-americana (1946 – 1971): Novos Estudos (SP), Cebrap (18); H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Von den indianischen und afrobrasilianischen Kulturen bis in die Gegenwart. Berlin; ders. (1997): Sigmund Freud in den Tropen (1). Zur Frühgeschichte der Psychoanalyse in Brasilien (bis 1939). Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie (Göttingen), N8. 3; ders. (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Eine ethnopsychologische und wissenschaftshistorische Studie. Bonn; ders. (2011): S. Freud in den Tropen (2). Die erste psychoanalytische Dissertation in der portugiesischsprachigen Welt. Aachen; L. Moritz Schwarcz (1987): Retrato em branco e negro: jornais, escravos e cidad¼os em S¼o Paulo no final do s¦c. XIX. S¼o Paulo; R da Silva Ferreira (1987): »Vida de mulher – Um estudo em classe popular«. Diss. de Mestrado, PUC-RJ; R. Ribeiro (1988): O negro na atualidade brasileira. Lisboa; R. B. Santana & I. del Nero da Costa (1988): A escravid¼o brasileira nos artigos de revistas (1976 – 1985). S¼o Paulo:Fipe; S. M. Giacomini (1988): Mulher e escrava. Uma introdużo histûrica ao estudo da mulher negra no Brasil. Petrûpolis; Th. M. Stephens (1989): Dictionary of Latin American Racial and Ethnic Terminology. Gainesville; Fl. Fernandes (1989): Significado do protesto negro. S¼o Paulo; N. Werneck Sodr¦ (1990): Formażo histûrica do Brasil. Rio de Janeiro (13.ed.); J. Meyer (1990): Sklavenhandel (bebildert). Ravensburg; J. Lutzenberger (1990): Gaia – O planeta vivo. Porto Alegre; Universität Bielefeld/ Entwicklungssoziologie (Hrsg.) (1990): Deutsche Veröffentlichungen zu Brasilien 1979 – 1988. Dokumentation Nr. 25. Bielefeld; CEAA (ed.): Escravid¼o e relaÅþes raciais no Brasil. Cadastro da produżo intelectual (1970 – 1990). Rio de Janeiro; N. Werz (Hrsg.) (1992): Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde. Freiburg/Brsg.; Hamburgisches Museum für Völkerkunde (Hrsg.) (1992): Afrika in Amerika. Hamburg; Brasilien. Entdeckung und Selbstentdeckung. Bern: Benteli; Institut für IberoamerikaKunde (Hamburg) (1993): Deutschsprachige Lateinamerika-Forschung. Frankfurt/M.; D. Briesemeister et al. (Hrsg.) (1994): Brasilien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt/ M.; A. do Nascimento (1994): O quilombismo: uma alternativa pol†tica afro-brasileira. In: Nascimento, Elisa Larkin (org.), Sankofa: resgate da cultura afro-brasileira (vol. I, S. 197 – 215). Rio de Janeiro; Weltmission (1994): Schwarz ist nur eine Farbe, 2, S. 20 – 23; S. Trigo (s.d.): Ensaios de literatura comparada afro-luso-brasileira. Lisboa: Vega; R. Sevilla & D. Ribeiro (Hrsg.) (1995): Brasilien. Land der Zukunft? Unkel/Rh.; Revista do Patrimúnio Histûrico e Art†stico Nacional (IPHAN), N8 25, 1997: »Negro Brasileiro Negro«; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; Th. E. Skidmore (1998): Uma histûria do Brasil. S¼o Paulo (2.ed.); ABP (Zeitschrift zur portugiesischsprachigen Welt) (1999): Das Bild Brasiliens in Deutschland. ABP (Frankfurt/M.), Heft 1; M. Sodr¦ (1999): Claros e escuros. Identidade, povo e m†dia no Brasil. Petrûpolis; J. Osterhammel (2000): Sklaverei und die Zivilisation des Westens. München; A. Reuter (2000): Das wilde Heilige. Roger Bastide (1898 – 1974) und die Religionswissenschaft seiner Zeit. Frankf./M.; A. H. de Oliveira Marques (2001): Geschichte Portugals und des portugiesischen Weltreichs. Stuttgart; A. Niskier (2001): Educażo brasileira. 500 anos de histûria. Rio de Janeiro; Ch. dos Santos-Stubbe (2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef (2. Aufl.); ABP (Zeitschrift zur

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portugiesischsprachigen Welt) (2001): Brasilien an der Schwelle zum dritten Jahrtausend: Religion, Medien, Film, Literatur. ABP (Frankfurt/M.), Heft 4; N. Lopes (2004): Enciclop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo; ders. (2006): Dicion‚rio escolar afrobrasileiro. S¼o Paulo; L. Dantas Mota (org.) (2004): Introdużo ao Brasil. Um banquete no trûpico. S¼o Paulo (4.ed.); O. Ianni (2004): Pensamento social no Brasil. Bauru (SP); L. Sansone (2004): Negritude sem etnicidade. Salvador ; J. J. de A. Arruda (2005): Toda a histûria. Histûria geral e histûria do Brasil. S¼o Paulo (12. ed.); G. O. Alvarez & L. Santos (2006): TradiÅþes negras, pol†ticas brancas. Bras†lia; B. Kümin (2007): Expedition Brasilien. Von der Forschungszeichnung zur ethnografischen Fotografie. Zürich; A. Hug et al. (Hrsg.) (2008): Die Tropen. Ansichten von der Mitte der Weltkugel. Katalog. Ethnologisches Museum. Berlin; W. Bader (Hrsg.) (2010): Deutsch-brasilianische Kulturbeziehungen. Bestandsaufnahme, Herausforderungen, Perspektiven. Frankfurt/M.; S. Costa, G. Kohlhepp, H. Nitschack & H. Sangmeister (Hrsg.) (2010): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt/M.; T. N’Diaye (2011): Der verschleierte Völkermord. Die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels in Afrika. Reinbek (frz. Le g¦nocide voil¦, Paris); H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; Filme: »G. Freyre: O sociûlogo de Apipucos« (Regie: P. de Andrade), »Casa grande & senzala« (Regie: Geraldo Sarno), »Regi¼o, tradiżo e modernidade« (Regie:L. de Miranda Correa); »Zeichen von allem« (D)

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Abolicionismo (lat. abolitio, engl. abolition = Abschaffung) Der A. (Abolitionismus) war eine internationale, oftmals religiös (z. B. Quäker, MaÅonaria; vgl. z. B. Thoreau, 1973) oder humanistisch/philanthropisch (z. B. »Positivistas do Brasil«) motivierte Bewegung zur Sklavenbefreiung, vor allem in den USA (Nordstaaten: 1787, allgemein: 1863/65), in England (1833) und in Brasilien (1888) im Gefolge der europ. Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s. Aber auch ökonomische Interessen förderten die Abolition. Furtado (1975:114 f) konstatiert z. B. im Hinblick auf einige Regionen: »Tatsächlich beschränkte sich die Abschaffung der Sklaverei nur unter ganz besonderen Bedingungen auf eine lediglich formale Umwandlung der Sklaven in Lohnarbeiter.« In Brasilien stand die Abolition bereits auf dem Programm der »Conjurażo Mineira« im Jahre 1789, die von der Französischen Revolution inspiriert worden war. Auch Jos¦ Bonif‚cio Andrada e Silva (1763 – 1838), der »Patriarch der bras. Unabhängigkeit«, hatte in seinem Verfassungsprojekt bereits die Befreiung der Sklaven gefordert. Eigentlich hatte aber der A. bereits mit der Bildung der !Quilombos in Brasilien begonnen, denn in ihnen waren die Sklaven bereits »befreit«. 1757 forderte der Pater Manuel Ribeiro da Rocha in seinem Werk »Et†ope Resgatado« schon die Befreiung der Kinder von Sklavenmüttern. 1798 protestierte Lucas Dantas, einer der Führer der »Conjurażo Baiana«, gegen die Diskriminierung der !»mulatos«. 1809 schlug Hipûlito Jos¦ da Costa im »Correio Brasiliense« eine gradative Befreiung der afrobras. Sklaven durch »freie« Arbeiter vor. Trotz des engl. Druckes intensivierte sich dennoch aufgrund der hohen Nachfrage der Plantagenwirtschaft der Sklavenhandel nach Brasilien. In den frühen 30 Jahren des 19. Jh.s schlug der Abgeordnete Antúnio Ferreira FranÅa ein Projekt der gradualen Abschaffung der Sklaverei vor (was endgültig erst am 25. März 1881 geschehen sollte). 1831 deklarierte die bras. Regierung ein wenig beachtetes Gesetz, wonach alle ab diesem Zeitpunkt eingeführten Sklaven frei sein sollten (Padre Feijû, 1784 – 1843). Auf Druck der engl. »Bill Aberdeen« (1845) wurde im Jahre 1850 mit dem »Lei Eus¦bio de Queirûs«

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der Sklavenhandel nach Brasilien definitiv verboten. Im Jahre 1853 untersagte man auch den internen Sklavenhandel (vgl. auch die beiden eindrucksvollen Anti-Sklaverei-Gedichte der damaligen Zeit: »Das Sklavenschiff« (1853/54) von Heinrich Heine (1797 – 1856) und »O Navio Negreiro« (1883) von Castro Alves (1847 – 1871); Stubbe & Santos-Stubbe, 1990:131 f). Am 28. September 1871 wurde das »Lei do Ventre Livre« erlassen, das die Kinder von Sklavinnen befreite. Es bildete sich u. a. eine »Sociedade Brasileira contra a Escravid¼o«, die von dem afrobras. Ingenieur Andr¦ RebouÅas gegründet, sowie eine »Confederażo Abolicionista«, die von Jo¼o Clapp, Joaquim Nabuco, Jos¦ do Patrocinio u. a. organisiert wurde (zu den »Sociedades abolicinistas«, vgl. z. B. Scis†nio, 1997:3001 f). Berühmte afro-bras. »abolicionistas« des 19. Jh.s waren Luiz Gama (1830 – 1882), Andr¦ RebouÅas (1838 – 1898), Jos¦ do Patroc†nio (1854 – 1905), Ferreira de Menezes (1845 – 1881) und die Afrobrasilianerin Adelina Charuteira (vgl. Lopes, 2006:13). Am 24. Mai 1884 führte der Präsident der Provinz von Manaus die sog. »Emancipażo em Manaus« durch, die völlige Befreiung der Sklavenbevölkerung (vgl. Scis†nio, 1997:134 f). Unter dem Ministerium des Bar¼o de Cotegipe (1815 – 1889), wurde am 28. September 1885 dann das »Lei dos Sexagen‚rios« bzw. das »Lei Saraiva-Cotegipe« erlassen, das die über 65jährigen Sklaven befreite. In Abwesenheit des nach Europa gereisten Kaisers Dom Pedro II. (1825 – 1891) wurde dann endlich durch die Prinzessin D. Isabel (1846 – 1921) am 13. Mai 1888 das sog. »Lei Ýurea«, die völlige, definitive Sklavenbefreiung erlassen (die Originalurkunde befindet sich im »Arquivo das šndias«, Sevilha!; vgl. Núvo Dicion‚rio de Histûria do Brasil, 1970:16ff), aber die Leidens- und Emanzipationsgeschichte der Afrobrasilianer war damit noch nicht beendet. !Abolition !Anhang !Geschichte der Afrobrasilianer !Quilombos ! Sklaverei !Zumbi M. Ribeiro Rocha (1758, 1992): Et†ope resgatado. Empenhado, sustentado, corrigido, instru†do e libertado. Petrûpolis; H. D. Thoreau (1848, 1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. (darin: Die letzten Tage des John Brown (1860), S. 63 – 69). Zürich; J. do Patroc†nio & A. RebouÅas (1863): Manifesto da Confederażo Abolicionista do Rio de Janeiro. Rio de Janeiro; J. Nabuco (1883): O abolicionismo (conferÞncias e discursos abolicionistas). London; R. Barbosa (1884): Emancipażo dos escravos. Rio de Janeiro; A. G. de Azevedo Sampaio (1890): Abolicionismo. … S¼o Paulo; A. J. de Macedo Soares (1923): Campanha jur†dica pela libertażo dos escravos (1867 – 1888). Obras Completas. Rio de Janeiro; E. de Morais (1924): A campanha abolicionista 1879 – 1888. Rio de Janeiro; S. Menucci (1938): O precursor do abolicionismo no Brasil: Luiz Gama. S¼o Paulo; I. Monteiro de Barros Lins (1938): TrÞs abolicionistas esquecidos (B. Constant, M. Lemos, T. Mendes). Rio de Janeiro; J. E. de Oliveira Morel (1949): Drag¼o do mar! O jangadeiro da aboliżo. Rio de Janeiro; Núvo Dicion‚rio de Histûria do Brasil. Ilustrado. S¼o Paulo, 1970; A. T. d’Albuquerque (1970): A maÅonaria e a libertażo dos escravos … Rio de Janeiro; J. Capela (1974): Escravatura, a emprensa de saque, abolicionismo (1810 –

Abolition und was geschah nach der Abolition?

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1875). Porto; C. Furtado (1975): Die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens. München (bras. 1970, 10.e d.); R. Conrad (1975): Os fflltimos anos da escravid¼o no Brasil – 1850 – 1888. Rio de Janeiro; O. Orico (1977): O tigre da aboliżo. Rio de Janeiro (1. ed. 1953); M. L. Xavier Sales (1977/78): Abolicionismo. Atualidade do pensamento de Nabuco. Revista do Arquivo Pfflblico (Recife), 31 – 32 (33 – 34), p. 4 – 15; P. Beilguelman (1981): A crise do escravismo e a grande imigrażo. S¼o Paulo (2. ed.); A. C. Ferreira Reis (1983): Os movimentos para libertażo dos †ndios e dos escravos negros. Anu‚rio do Museu Imperial (Petrûpolis), 37/41, p. 94 – 103; D. ProenÅa Filho (1988): A participażo da literatura no processo abolicionista. Tempo Brasileiro (RJ), (92/93), p. 9 – 32; A. J. Lacombe (1988): O abolicionista Rui Barbosa. Rio de Janeiro; A. Torres Montenegro (1988): Aboliżo. S¼o Paulo; Minist¦rio da JustiÅa (ed.) (1988): Memûrias sobre a escravid¼o (J. S. M. da Costa, J. B. de Andrada e Silva, D. A. B. Muniz Barreto, F. L. C. Burlamaque). Rio de Janeiro; L. A. da Fonseca (1988): A escravid¼o, o clero e o abolicionismo. Fund. J. Nabuco. Recife; L. Silva (1989): Luiz Gama: uma trajetûria al¦m do seu tempo. Estudos Afro-Asi‚ticos (RJ), (16), p. 59.69; J. do Patric†nio (1996): Campanha abolicionista. Colet–nea de artigos. Rio de Janeiro; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro, p.11ff; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Abolition und was geschah nach der Abolition? Am 13. Mai 1888 wurde die afrikanische Sklaverei in Brasilien de jure aufgehoben, sie hat aber de facto wenig positive Veränderungen in der Lebenssituation dieser Bevölkerungs-gruppe bewirkt. Der 14. Mai war ein Feiertag für die meisten Sklaven, insbesondere in den Städten, die sich aus ihren Sklavenketten befreit fühlten. Der Glaube nun vollkommen befreit zu sein und als egalitärer Bürger einen würdigen Platz innerhalb aller gesellschaftlichen Instanzen zu erhalten, blieb in der Tat nur eine Illusion. Dieser historische Augenblick kann als der Anfang des immer noch existierenden Kampfes der Afrobrasilianer für den Erhalt ihrer vollständigen Bürgerschaft (=cidadania) in Brasilien gelten. Sie waren jetzt zwar de jure frei, aber befanden sich weiterhin in einem eingeengten Bewegungsraum innerhalb dieser »Freiheit«, der für ihre sozio-ökonomischen Chancen bis heute immer noch bedeutende Auswirkungen besitzt. Die Integration der Ex-Sklaven/innen in die sich industrialisierende !Gesellschaft und darüber hinaus in den wachsenden Arbeitsmarkt der Post-Abolitionszeit wurde ihnen selbst überlassen. Ein effektiver Eingliederungsversuch in den allmählich wachsenden Wirtschaftssektoren wurde ihnen nicht angeboten, da sich der urbane Zweig der Wirtschaft stark an der Arbeitskraft der europäischen Immigranten orientierte und diesen Arbeitsraum für sie reservierte. Ab ca. 1850 wurde eine starke Einwanderungsbewegung nach Brasilien gefördert als Lösung für die nach der Sklavenbefreiung potenziell fehlende Arbeitskraft. Diese Einwanderungspolitik hatte auch eine starke rassen-ideologische Basis. Der »imi-

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grantismo« (im Jahre 1866 wurde die Internationale Gesellschaft für Einwanderung in Brasilien gegründet) zielte auf ein »branqueamento« (= Weißwerdungsprozeß) bzw. eine »Arianisierung« der brasilianischen Bevölkerung ab, die durch den Ersatz der Europäer stattfinden sollte. Der afrikanische Bevölkerungsanteil würde sich nach Meinung der Vertreter dieser Immigrantismusbewegung im Laufe der Zeit von selbst auflösen. Diese Bewegung wurde stark sowohl von Politikern als auch von Wissenschaftlern (z. B. Nina Rodrigues, Oliveira Vianna) unterstützt. Die europäische Einwanderungsbewegung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jhrs. seitens der Brasilianer u.a . konzipiert wurde, hatte zum Ziel einen vollständigen Ersatz der Afro-Bevölkerung in allen Wirtschaftssektoren zu erreichen, insb. in den urbanen Zentren, wo sie eine potenzielle Konkurrenz für die Migranten darstellen könnten. Als die erste brasilianische Volkszählung im Jahre 1872 durchgeführt wurde, waren 72 % der AfroBevölkerung bereits von der Sklaverei befreit, aber arbeiteten noch überwiegend im Agrarsektor. Im Laufe der sukzessiven Sklavenbefreiung wuchs eine Masse von Menschen heran, die keine reguläre Arbeit besaß. Im Jahre 1882 gab es z. B. in den fünf Hauptprovinzen des Landes nach offiziellen Statistiken 2.822.583 »desocupados« (= Beschäftigunslose): fast alle waren freigelassene Sklaven. Die Afro-Bevölkerung wanderte ab Anfang der achtziger Jahre des 19. Jh.s allmählich vom Zentrum eines Ökonomie-agrarsystems, in dem sie durch ihre Arbeitskraft Jahrhunderte als Sklaven gedient hatten, in die Peripherie des neuen kapitalistischen urbanen Sytems ab. Für das neue Produktions- und Arbeitssystem wurden sie aber als nicht geeignet angesehen. Sie besaßen einerseits für die expandierende industrielle Manufakturproduktion keine schulische, technische oder zusätzliche berufliche Ausbildung, die sie an dieses neue Produktionsverhältnis angepaßt hätte, um eine freie Konkurrenz mit den zum Teil besser ausgebildeten Immigranten überstehen zu können. In dieser Hinsicht können wir feststellen, daß die verprochene und zum Teil von den Abolitionisten durchaus geplante Veränderung der Lebensbedingungen der befreiten Sklaven in keinerlei Form stattgefunden hat. Ideologische rassistische Barrieren blockierten zusätzlich die Integrations-möglichkeiten der Afrobrasilianer auf dem freien Arbeitsmarkt nach der sog. Sklavenbefreiung. Sie wurden abgelehnt gegenüber den bevorzugten weißen Immigranten, da diese letzteren als Mitglieder einer »höheren« Rasse, als »intelligenter«, ehrlicher, fleißiger, moralischer etc. galten, sowie als Besitzer eines gehobenen Ausbildungsniveaus und »Zivilisationsgrades«. Die aus Afrika abstammende Bevölkerung wurde, im Gegensatz zu den idealisierten Einwanderern, als dumm, faul, gefährlich, ohne Moral, unzivilisiert, etc. betrachtet und als Hindernis für die zivilisatorische Entwicklung Brasiliens angesehen. Durch diese positiven Eigenschaften der europäischen Immigranten und die negativen der Afro-Bevölkerung, wie sie in den Augen der weißen brasilianischen Elite existierten, sollten die ersteren die brasilianische

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Nation von dem Unheil der Afro-Sklaven (aber auch der »Indianer«!), die auch durch die »Rassenmischung« das Land degradiert und »degeneriert« hätten, befreien und durch »neues reines Blut« (sangue puro) die brasilianische Nation »entwickeln und heilen.« Anhand dieser Barrieren wurde der »befreiten« AfroBevölkerung keine neue Chance gegeben auf der gleichen Ebene und unter den gleichen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu konkurrieren und dadurch einen vertikalen Aufstieg zu erreichen, so daß ihnen schließlich nur ein marginaler Arbeitbereich übrig blieb. Für ihr Überleben mußten sie weiterhin sklavenähnliche Tätigkeiten ausüben. Die Aktivitäten, die die Mehrzahl der Afro-Bevölkerung ausübte, wurden teilweise auch mit der zunehmenden Immigrationswelle umstrukturiert, da die neuangekommenen europäischen Einwanderer sich anfänglich in die niedrigeren urbanen Tätigkeiten eingliedern mußten, aber dies nur als Übergangsaktivitäten. Diese überließen sie wieder den als niedriger angesehenen ethnischen Gruppen, sobald sie aufsteigen konnten. Auch eine Agrar- und Landreform, in der den befreiten Sklavinnen und Sklaven Land (das es in Brasilien zur Genüge gibt!) zur Bewirtschaftung zur Verfügung gestellt worden wäre, fand (obwohl solche Pläne existierten) nicht statt. Projekte der Abilitionisten und solche aus dem Anfang des Jahrhunderts wie beispielsweise der Entwurf von Jos¦ Bonif‚cio (1763 – 1838), der eine Übergabe von Grundstücken an die früheren Landarbeitersklaven und die Gründung von Handwerkerschulen und Einrichtungen von Grundschulen vorsah, wurden nicht realisiert, so daß der soziale Gegensatz weiterhin latent blieb und bis in die Gegenwart hineinwirkt. Aus der Schilderung des Sozialwissenschaftlers Fernandes (1965) über die Arbeitsalternativen der Afro-Bevölkerung in der Industrialisierungs-Zeit um dreißig Jahre nach der Sklavenbefreiung in S¼o Paulo werden diese Hindernisse noch deutlicher : »In den Fabriken kommt die Gelegenheit zur Arbeit selten in ihre Hände (der Afro-Bevölkerung), nur wenn es sich um »Neger-Dienste« handelt … , solche, die die Italiener nicht machen wollen; nämlich die schweren und lebensgefährlichen Arbeiten. Die schwarzen Frauen, ihrerseits, hatten bisher Schwierigkeit sich auszubilden und Weberinnen zu werden, sie mußten sich begnügen mit den Arbeiten als »dom¦sticas«, hauptsächlich bei traditionellen Familien … So mußten die Schwarzen und »Mulatten«, die ihr Leben verdienen wollten sich den »Neger-Diensten« unterwerfen (das Putzen, das Tragen, Schaufeln …). In ihrer Mehrzahl waren diese Tätigkeiten schlecht bezahlt und verlangten wenige oder gar keine Qualifikation« (apud Rissone, 1968:145). Die hier zusammengetragenen rassistisch-ideologischen Barrieren, die in der PostAbolitionszeit entscheidend waren für die Ausgliederung der Afrobrasilianer aus dem Entwicklungsprozeß der brasilianischen Gesellschaft, haben eine Nachwirkung von über 100 Jahren. Sie können u. a. für die Notsituation der Mehrzahl dieser Bevölkerungsgruppe gegenwärtig verantwortlich gemacht

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werden, sowie für das vorurteilsreiche Bild, das sowohl in den !Schulbüchern gezeigt wird, als auch Bild in der Gesellschaft vorhanden ist. 13. Mai oder 20. November? »A Princesa Imperial Regente, em nome de Sua Majestade o Imperador, o Senhor Dom Pedro II, faz saber a todos os sfflditos do Imp¦rio que a Assembl¦ia Geral declarou e ela sancionou a lei seguinte: Art. 18 – Ê declarada extinta desde a data d’esta lei a escravidao no Brasil. Art. 28 – Revogam-se as disposiÅoes em contr‚rio.« (»Die regierende kaiserliche Prinzessin, im Namen ihrer Majestät des Kaisers, Herrn Dom Pedro II., macht allen Untertanen des Reiches bekannt, daß die General-Versammlung folgendes Gesetz erklärt und somit anerkannt hat: Art. 18 – Es wird ab dem Datum dieses Gesetzes die Sklaverei in Brasilien für abgeschafft erklärt. Art. 28 – Gegenteilige Anordnungen werden widerrufen.«) Was ist schon ein Datum? Am 20. November 1695 wurde !Zumbi dos Palmares ermordet, der Held und Führer eines demokratischen !Quilombos, in dem allediejenigen, die mit den offiziellen politischen und ökonomischen Verhältnissen nicht einverstanden waren, Zuflucht fanden, unabhängig von ihrer Hautfarbe und ihrem Glauben. Dieses Datum wurde in der brasilianischen Historiographie jahrhundertelang vollkommen »vergessen« bzw. verdrängt. Erst ab den 70er Jahren dieses Jahrhunderts begann ein allmählicher Prozeß des Wiedererinnerns. Dieser verstärkte sich noch in den 80er Jahren, da zahlreiche Gruppierungen der afrobrasilianischen Bewegung dieses Ausgangsdatum für ihren Widerstand gegen !Sklaverei, !Rassismus und !Diskriminierung in Brasilien einsetzten. Dieses Datum wurde nun als Repräsentation für die eigene Stärke und Kampfbereitschaft von »unten« von der versklavten Bevölkerung und von der unterprivilegierten Afro-Bevölkerung erlebt, um gesellschaftliche, politische und ökonomische Veränderungen zu erzielen. In diesem Sinne wurde dieser Tag als symbolischer Jahrestag der schwarzen Widerstandsbewegungen und als »Tag des Schwarzen Bewußtseins« (= Dia da ConsciÞncia Negra) gefeiert. Offiziell durchgesetzt hat sich aber eher der 13. Mai. An jenem Tage des Jahres 1888 hatte die Prinzessin Isabel die afrikanische Sklaverei in Brasilien offiziell abgeschafft. Die Resonanz dieses Datums in der Geschichte Brasiliens ist unvergleichbar größer, weil hier eine juristische und strukturelle Veränderung seitens der Machtinhaber in Gang gesetzt wurde und dadurch die soziale und ethnische Teilung des Landes sowie seine Produktionsweise (-von der Sklave-

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reiwirtschaft zum Kapitalismus-) und einer neuen Regierungsform (ein Jahr später, 1889 erfolgt der Übergang von der Monarchie zur Republik) offiziell, das erste Mal mit einer solchen Komplexität neudefiniert wurde. Dieses Datum bewirkte die erste und komplexeste Restrukturierung des Landes. Der 13. Mai 1888 kann heute angesehen werden als das juristische und politische Ergebnis dessen, was seit !Palmares in Gang gesetzt wurde, d. h. als Folge des 20. November 1695 und als Teil des »schwarzen« Widerstandes. Der Akt des 13. Mai hatte jedoch nur juristisch das Ende der Institution Sklaverei bestätigt, die zu dem Zeitpunkt bereits kaum noch existierte. Im Jahre 1818 beispielsweise bestande 50,5 % der brasilianischen Bevölkerung aus Sklaven, dagegen lag im Jahr der offiziellen Sklaven-Befreiung (1888) die Prozentzahl der versklavten Bevölkerung nur noch bei 5,6 %. Der 13. Mai repräsentiert nicht nur ein Datum für die ersehnte Freiheit der versklavten afrikanischen Bevölkerung, die dadurch nur juristisch konkretisiert wurde, sondern vielmehr ein nationales Datum mit dem sich alle Brasilianer unabhängig von ihrer !Hautfarbe und sozio-ökonomischen Herkunft identifizieren können. Hierbei hängt es nur von der Auslegung jeder Seite ab, d. h. wie ein jeder für sich und seine Interessen dieses Ereignis betrachtet, aber die Anerkennung der offiziellen Tat, »Abschaffung der Sklaverei«, ist für die bras. Nation insgesamt einigend, was für eine breitere Demokratisierung und Entdiskriminierung der Afro-Bevölkerung ein grundlegendes Datum sein könnte. Trotz aller Bekanntheit beider Daten können wir heutzutage feststellen, daß der Kampf für die breitere Aufnahme und Akzeptanz des 20. November immer noch unterdrückt und diskriminiert wird. Dieser Tag wird heute oftmals als ein Datum verstanden, dessen Hauptbedeutung die Trennung zwischen Weißen und »Schwarzen«, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen politisch Engagierten und Unpolitischen, zwischen »macumbeiros« (diejenigen Anhänger des synkretischen afro-brasilianischen Kults !»macumba«) und Katholiken hervorhebt. Er wird oftmals als eine Gegen-Feier einer kleinen Gruppe von intellektuellen Afrobrasilianern zu der des 13. M ai verstanden, der wiederum als eine allgemeine, populäre Feier angesehen wird. Gegenwärtig wird versucht durch den 20. November eine tatsächliche »Abschaffung der Sklaverei« der afrobrasilianischen Bevölkerung aus Armut, aus diskriminierenden und rassistischen ungerechten Verhältnissen auf der sozialen, politischen und ökonomischen Ebene im Land zu bewirken. Dieses Datum versucht durchzusetzen, was der 13. M ai proklamierte, aber nicht durchsetzen konnte, da die wirtschaftlichen Machtinteressen dies nicht zuließen. Es scheint in einigen Augenblicken widersprüchlich, aber der 20. November beabsichtigt genau die Umsetzung dessen, was am 13. Mai rechtlich auf einem Dokument festgehalten wurde. Der 20. November kann betrachtet werden als der Ursprung eines Befreiungs- und

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!Emanzipationsprozesses und der 13. Mai als offizieller Meilenstein für ein populäres Fest. Gegenwärtig können wir eine starke Tendenz beobachten, insbesondere in den aktiven politischen und intellektualisierten afro-brasilianischen Gruppierungen, den 13. Mai auf der politischen Ebene zu negieren. Gegen ihn wird argumentiert, daß dieser Tag eine »Lüge« (mentira, farÅa) sei, da die effektive »Freiheit« für die Afro-Bevölkerung sich immer noch nicht konkretisiert habe. Diese Auslegung muß jedoch mit Bedacht betrachtet werden: Die großen Entbehrungen in der Lebenssituation der Mehrzahl dieser Bevölkerungsgruppe, unter denen sie seit der »Abschaffung der Sklaverei« bis heute lebt, können den juristischen Akt der »Abschaffung« in seiner Vollkraft nicht in Frage stellen. Man kann sich fragen, wie wäre es, wenn dieser Akt nicht vollgezogen worden wäre und das vom Kaiser D. Pedro II. bevorzugte Modell der allmählichen »Entsklavung« sich durchgesetzt hätte? Effektiv kann behauptet werden, daß nicht die Schwäche der »Lei Ýurea« (des Goldenen Gesetzes) für die prekäre Lage dieser Bevölkerung veratwortlich ist. Wenn nach ihrer Proklamierung keine Initiative zur Integration dieser Bevölkerungsgruppe in die wachsende kapitalistische Gesellschaft von der offiziellen Seite angestrebt wurde, kann dieses Gesetz nicht beschuldigt werden, aber die ökonomischen und politischen Machtinhaber – insb. zu Beginn der republikanischen Regierung -, die kein Interesse an einer Verteilung des Landes, an einem breiteren Zugang zur ! Bildung für die Bevölkerung im Allgemeinen, etc. hatten. Außerdem wird häufig argumentiert, daß der 13. Mai ein offizielles Datum sei, das von oben, also von den Herrschenden, nach unten institutionalisiert bzw. aufoktroyiert wurde. Trotz alledem hat der 13. Mai eine tiefe Bedeutung in zahlreichen afro-brasilianischen Kulten. An diesem Tag werden die »Pretos Velhos« (=alte weise Schwarze) gefeiert, d. h. es ist der Tag, an dem alle spirituellen afrikanischen Vorfahren, die Macht und Wissen in religiöser Hinsicht über Gesundheit, Wohlbefinden, Magie, etc. besitzen, feierlich angerufen werden. Dieser Tag ist sehr präsent im populären Denken und Handeln. In den Schulen, in den religiösen Zentren, in den Rathäusern, in den Kirchen, auf den Straßen, von Reichen, Armen, Monarquisten, Republikanern, von Weißen, Schwarzen und ! pardos wird der Tag freudig begrüßt und hat auch die Unterstützung des Staates, obwohl er trotz seiner Wirkung nicht als Feiertag gilt. Diese Tatsache zeigt wiederum deutlich, daß der Akt der »Abschaffung der Sklaverei« noch immer nicht allgemein als ein würdiger Tag akzepiert und betrachtet wird. Dies kann noch als Zeichen eines tiefsitzenden Ressentiments gegenüber dieser »Freiheit« seitens der Herrschenden gedeutet werden. Der 20. November wird trotz seiner noch etwas schwächeren Bedeutung vom Staat unterstützt im Rahmen des Kultus- und Erziehungs-ministeriums. Wesentlich bei der Diskussion dieser beiden Daten ist ihre Repräsentation für

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die brasilianische Gesellschaft: Es ist und es soll ein Kampf sein der afro-brasilianischen Bevölkerung, mit dem Ziel einer egalitären Gesellschaftsordnung für alle sozialen Gruppierungen im Lande. Die Bewußtwerdung beider Daten bedeutet einen Schritt nicht nur für eine Neufassung der afro-brasilianischen Geschichte, sondern auch den ersten Schritt, um die Geschichte aller Brasilianer/ innen bzw. des Landes selbst umzuschreiben. Die gefeierten Tage eines Kalenders besitzen in jeder Kultur wichtige Funktionen, beinhalten eine tiefgehende Symbolik und haben ebenfalls eine starke Aussagekraft, deshalb kann man zu beiden Daten sagen: Sowohl der 20. November, als auch der 13. Mai! !abolicionismo !Anhang !Geschichte der Afrobrasilianer !Sklaverei D. A. B. Moniz Barreto (1837): Memûria sobre a aboliżo do comercio da escravatura. Rio de Janeiro; L. Gama (1881): Quest¼o jur†dica. Abolicionista, n8 6 e 9, (1. abril e 1.julho). Rio de Janeiro; Duque Estrada (1918): A aboliżo: esboÅo historico, 1831 – 1888. Rio de Janeiro; J. Nabuco (1938): O abolicionismo. S¼o Paulo; Cons. Macedo Soares (1938): Campanha juridica pela libertażo dos escravos (1867 – 1888). Rio de Janeiro; I. Monteiro de Barros Lins (1938): TrÞs abolicionistas esquecidos (B. Constant, M. Lemos, T. Mendes). Rio de Janeiro; Th. Davatz (1941): Memûrias de um colono no Brasil. S¼o Paulo; R. Gir¼o (1956): A aboliżo no Cear‚. Fortaleza; A. T. D’Albuquerque (1970): A maÅonaria e a libertażo dos escravos … Rio de Janeiro; M. O. Andrade (1972): A aboliżo antes da Lei Ýurea. Rio de Janeiro; E. F. Moran (1973): Rui e a aboliżo. Rio de Janeiro: Fund. Casa de R. Barbosa; O. J. Ferreira Guilhon (1974): Jos¦ do Patroc†nio. S¼o Paulo; R. Conrad (1975): Os fflltimos anos da escravatura no Brasil – 1850 – 1888. Rio de Janeiro; P. Beiguelman (1981): A crise do escravismo e a grande imigrażo. S¼o Paulo; M. Correia de Andrade (1987): Aboliżo e reforma agraria. S¼o Paulo; Comiss¼o Estadual do Centen‚rio da Aboliżo (org.) (1988): Libertador. ­rg¼o da Sociedade Cearense Libertadora: 1 – 1 – 1881 a 9 – 4 – 1892. Ed. fac-similar. Fortaleza: Secretaria da Cultura, Turismo e Desporto; A. Torres Montenegro (1988): Aboliżo. S¼o Paulo; J. M. Pedro et al. (1988): Aboliżo e branqueamento. CiÞncia Hoje (RJ), 8(48), p. 28 – 30; E. J. Reis & E. P. Reis (1988): As elites agr‚rias e a aboliżo da escravid¼o no Brasil. Dados (RJ), 31(3), p. 309 – 341; F. da Cruz Gouveia (1988): Aboliżo: a liberdade veio do norte. Recife; L. A. da Fonseca (1988): A escravid¼o, o clero e o abolicionismo. Fund. J. Nabuco. Recife; C. Fl. S. Cardoso (ed.) (1988): Escravid¼o e aboliżo no Brasil. Novas Perspectivas. Rio de Janeiro; M. R. dos Reis Luna & E. M. Bezerra CoÞlho (1988): Cem anos de aboliżo ou sem anos de aboliżo? Cadernos de Pesquisa (S¼o Lu†z), 4(1), p. 21 – 28; Cem anos de aboliżo. A liberdade passada — limpo. Isto¦ (Especial), N8 591, 20 de abril 1988; Fl. Fernandes (1989): Significado do protesto negro. S¼o Paulo, p.30ff; A. L. D. Lanna (1989): A transformażo do trabalho. Campinas; S. Chalhoub (1990): Visþes da liberdade: uma histûria das fflltimas d¦cadas da escravid¼o na corte. S¼o Paulo; N. Werneck Sodr¦ (1990): Formażo histûrica do Brasil. Rio de Janeiro (13.ed.); A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; Ch. dos SantosStubbe (2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef: DSE (2. Aufl.); N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

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Abwehrmagie (auch: apotropäische Magie) Einführung: Zauberische Abwehr. Wenn sich der Mensch bösen Einflüssen ausgesetzt fühlt, sei es von Seiten unpersönlicher Kräfte, sei es von !Geistern, setzt er eine A. ein. Gegen diese Gefahren kann man sich mit Kraftmitteln aller Art schützen: Worte (magische Sprüche), Blut (Blutzauber), Speichel (Bespucken), !Tatauierung, Abwehrauge (vgl. Stubbe, 2012:15) etc. Die magische Abwehr beruht häufig auf dem Prinzip der Analogie (z. B. blaue Glasperlen gegen den bösen Blick der blauen Augen). Amulette dienen als bleibende Abwehrmittel. Die gefahrdrohende Macht kann auch durch Schleier/Verhüllung, !Masken etc. abgelenkt bzw. getäuscht werden oder man versucht sie durch Lärmen, Helligkeit, Gerüche, Stahl etc. zu vertreiben. Auch Opferhandlungen, Beschwörungen und !Gebet können einen apotropäischen Charakter annehmen. Das Abwehrauge und »mal olhado« in Brasilien: Das Abwehrauge ist ein magisches Symbol in unterschiedlicher Darstellung und starker Verbreitung. Das Grundschema entspricht in allen Fällen einer deutlich als Auge oder Augenpaar erkennbaren Darstellung. Anbringungsort und Bedeutung gehören in den Funktionsbereich des Beaufsichtigens, Abwehrens, Ablenkens und Schützens, aber auch des Wahrnehmens und Blickfanges wie z. B. im Heilzauber oder in der modernen Werbepsychologie. Der »Böse Blick« (mal olhado) ist eine in vielen Gebieten der Erde (vor allem im Mittelmeerraum und LA; vgl. Coluccio, 1984:182ff) verbreitete Vorstellung von der Schadenswirkung des Auges bzw. des Blickes. Ethnopsychologisch wird der »mal olhado« durch Neid motiviert verstanden. Gegen den bösen Blick gibt es in Brasilien eine Vielzahl von Abwehr- und Schutzmitteln wie das !Amulett, die !»figa« (Brasilien), Halsketten, augenähnliche Broschen etc. In Lateinamerika und im Mittelmeerraum gilt der böse Blick als mögliche Krankheitsursache und wird oftmals von traditionellen !HeilerInnen behandelt. ! Amulett ! Figa !Krankheitsvorstellungen !macumba !patu‚ !Zauber S. Seligmann (1922): Die Zauberkraft des Auges und das Berufen. Hamburg; ders. (1927): Die magischen Heil- und Schutzmittel aus der unbelebten Natur mit besonderer Berücksichtigung der Mittel gegen den bösen Blick. Stuttgart; O. Koenig (1970): Kultur und Verhaltensforschung. Einführung in die Kulturethologie. München; ders. (1975): Urmotiv Auge. Neuentdeckte Grundzüge menschl. Verhaltens. München; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do folclore brasileiro. S¼o Paulo(5.ed.); T. Hauschild (1982): Der böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen. Berlin; F. Coluccio (1984): Diccionario de Creencias y Supersticones. Buenos Aires; O. Monteiro (1986): Magia e pensamento m‚gico. S¼o Paulo; A. Dundes (ed.) (1992): The evil eye. Madison;

Africanos livres

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T. Morone (1998): Malocchio. Die latente Gefahr des Neides. Ethnopsychologische Mitteilungen,7(2), S. 163 – 174; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, p.86

Adoption Während der Sklavereizeit war es möglich, dass weiße Familien !Sklavenkinder rechtmäßig adoptierten oder als »filhos de criażo« hielten. Nei Lopes (2006:13) weist darauf hin, dass solche Kinder in psychologischer Hinsicht oftmals Persönlichkeitskrisen bzgl. ihrer Identität und Selbstwertprobleme entwickeln können. !Sklavenkindheit !Sozialpsychologie A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, p.

Africanismos (auch: Afrikanismen) Die vielen Afrikanismen im Brasil-Portugiesischen (vgl. ähnlich auch in Angola, Mosambik und der übrigen port. sprachigen Welt) entstammen in ihrer überwiegenden Zahl den afrikanischen Bantu-Sprachen, aber auch das Yorub‚ und die rel. Sprache im afrobras. Synkretismus haben einen bedeutenden Einfluss ausgeübt. Die von den Sklaven gesprochenen afrikanischen !Sprachen (z. B. quimbundo, conguÞs, herero, lulundo, bassutu, bitonga, sua†li, etc.) behandelt z. B. Scis†nio (1997:233 – 236) ausführlich. !Bibliografien !Kultur !Literatur !Made in Africa !Sprache D. de Laytano (1936): Os africanismos do dialeto gaucho. Revista do Instituto Histûrico e Geogr‚fico do Rio Grande do Sul (Porto Alegre); R. MendonÅa (1948): A influÞncia africana no portuguÞs do Brasil. Porto (2. ed.); C. Bandeira (1962ff): Vocabul‚rio afro luso-brasileiro. Jornal do Comm¦rcio (RJ), 16.dec. 1962, 30.dec. 1962, 20.jan. 1963, 3.feb. 1963, 24. feb. 1963, 10. Mar. 1963, 31 mar. 196321. abr. 1963; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Michaelis. Dicion‚rio escolar lingua portuguesa. S¼o Paulo, 2008

Africanos livres Bezeichnung für Afrikaner, die nach dem Verbot des Sklavenhandels (1831) nach Brasilien kamen. Sie wurden als »emanzipiert« betrachtet und arbeiteten

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unter dem Schutz der Regierung (tutela do governo) in öffentlichen städtischen Projekten, insbes. den langwierigen. Sie warteten auf ihre Rückreise (auf Kosten der Sklavenhändler), was jedoch nie geschah, ganz im Gegenteil wurden sie allmählich unter die allgemeine Sklavenbevölkerung gemischt d. h. auch versklavt. Erst im Jahre 1864 wurden durch ein kaiserliches Dekret alle »africanos livres« emanzipiert. !Alforria !Emanzipation !Fluxus und Refluxus !Geschichte !Sklaverei E. de Mesquita Samara (1988): Os testamentos de libertos como fonte para a histûria da escravid¼o. Revista Brasileira de Histûria (SP), 8(16), p. 266 – 268; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Afrobrasilianer Nei Lopes (2006:15) definiert klar : »afro-brasileiro – qualificativo do indiv†duo brasileiro de origem africana e de tudo que lhe diga respeito. Relativo, ao mesmo tempo, — Ýfrica e ao Brasil, como o indiv†duo brasileiro de ascendÞncia africana.« A. hebt also vor allem die qualitativen Kennzeichen eines brasilianischen Individuums mit afrikanischem Ursprung hervor und bezieht sich gleichzeitig auf Afrika und auf Brasilien«. »Afro-brasileiro« wird oft mit !»negro« gleichgesetzt. !»mulata/mulato« !»negro« Cl. Moura (1977): O negro. De bom escravo a mau cidad¼o. Rio de Janeiro; ders. (1989): Histûria do negro brasileiro. S¼o Paulo; A. Dzydzenyo (1979): Afro-Brazilians. London; R. Motta (org.) (1985): Os afrobrasileiros. Anais do III. Congresso Afro-Brasileiro. Recife; D. J. Davis (2000): Afro-Brasileiros Hoje. S¼o Paulo (engl. Ausg. 1999); N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afrobrasileiro. S¼o Paulo

Afrobrasilianistik (auch: Estudos afrobrasileiros) A. ist die Wissenschaft von den Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianern in ihrer ca. 500jährigen Geschichte und Kultur in Brasilien. Sie erforscht als wissenschaftliche Disziplin jedoch nicht nur ihre !Geschichte (insbes. die ca. 350 Jahre dauernde Sklaverei), sondern auch ihre !Kultur, (Kultur-)Anthropologie, !Religionen, Soziologie, !Politik, !(Sozial-) Psychologie, ! (interkulturelle) Philosophie, !Kunst(wissenchaft), !Musik, !Literatur, ! Sprachen, !Bildung, Arbeitsverhältnisse, Bedingungen des !Wohnens, ! Gesundheit etc. (vgl. Santos-Stubbe,1998:4). Die Forschungsthematik der A. erstreckt sich demnach historisch grob auf drei Zeitabschnitte: die Vergan-

Afrobrasilianistik (auch: Estudos afrobrasileiros)

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genheit dieser Gruppen in Afrika, den Zeitraum der afrikanischen !Sklaverei in Brasilien (ca. 1538 – 1888) und den neuzeitlichen Zeitabschnitt bis zur Gegenwart (1888 bis heute) (zur Geschichte der A. und ihrer anthropologischen Theorien vgl. !Einführung; z. B. Ribeiro, 1988:63 – 110). A. ist somit eine interdisziplinäre Wissenschaft und eine »Schnittwissenschaft« zwischen Afrikanistik (auch: Afrikanologie) und (Latein-)Amerikanistik bzw. Brasilianistik, die sowohl naturwissenschaftliche, als auch geisteswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und humanwissenschaftliche Methoden verwendet. A. ist auch eine internationale Wissenschaft, die allein schon wegen der jahrhundertelangen (kolonialen) ökonomischen und politischen (kolonialen) Abhängigkeit Brasiliens (dependÞncia), vor allem während der Sklavereizeit, nicht nur in Brasilien betrieben werden kann, da wichtige (z. B. politische bzw. den Sklavenhandel betreffende) Dokumente und wissenschaftliche Institutionen und Publikationen auch außerhalb Brasiliens existieren z. B. in Portugal und anderen Ländern Europas, Amerikas und Afrikas. Bisher existiert bedauerlicherweise noch kein Lehrstuhl der Afrobrasilianistik! Abdias do Nascimento & E. Larkin Nascimento (2000ff) sprechen bzgl. der A. kurz und klar von »Sankofa« d. h. einer »recuperażo e valorizażo da rica tradiżo cultural africana« (vgl. auch die gleichnamige Zeitschrift, N. F. 2007ff) und der »afrocentricidade« in den Wissenschaften (vgl. z. B. in der Psychologie: Azibo, 1996). In einer neueren Bibliografie der wissenschaftlichen Literatur über die Sklaverei und die »Rassenbeziehungen« (relaÅþes raciais) in Brasilien (1970 – 1990) werden folgende Häufigkeiten der Forschungsthemen der A. aufgelistet: Sklaverei und Abolition (47 %), polit. Teilnahme, Kultur und Identität (18,4 %), Religion (16,7 %), »Rassenbeziehungen« und »desigualidades« (10,9 %) und Bibliografien, allgemeine Studien, Drucke (7 %) (vgl. CEAA, 1991:19 f; Skidmore, 1998:335 – 351). A. ist nicht mit »Sklavereiforschung« gleichzusetzen, aber letztere bildet einen grundlegenden Teil der A. Die Sklaverei, die um 1538 begann, wurde in Brasilien erst im Jahre 1888 abgeschafft. Auch die afrikanischen Wurzeln der (afro)brasilianischen Kultur sind ein wichtiges Forschungsthema (!Made in Africa). A. ist jedoch keine »museale« Wissenschaft (vgl. »Musealisierung« des Anderen bzw. Fremden, Dean, 2010), auch wenn sie schon über 100 Jahren betrieben wird (vgl. Nina Rodrigues, 1862 – 1906), sondern sie erforscht die Afrobrasilianer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (soweit dies überhaupt möglich ist!) in allen ihren Lebenslagen und -bereichen. Eine Übersicht über wichtige Institutionen, !Bibliografien und Periodika, Biblioteken, !Museen, !Organisationen und universitäre Kurse bzgl. der A. findet man z. B. in Santos (1985), IPCN (gegr. 1975, RJ), CEAA (1991:239 – 259), IBEA, Institut für Brasilienkunde (Mettingen), USP, Martius Staden-Institut

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(S¼o Paulo), Brasilien-Bibliothek der Robert Bosch GmbH (1986), Instituto Joaquim Nabuco de Pesquisas Sociais (Recife), Biblioteca Nacional, IberoAmerikanisches Institut/Bibliothek (Berlin), etc. Seit 2000 finden in regelmäßigen Abständen der »Congresso Luso-Afro-Brasileiro de CiÞncias Sociais« (auch unter dt. Beteiligung, vgl. Manfred Prinz, UNI-Gießen, 2011) oder die von Helmut Siepmann (ZPW- Köln) organisierten Tagungen und die »DeutschPortugiesischen Arbeitsgespräche« statt (vgl. Atas). A., wie sie in diesem Lexikon vorgestellt wird, sollte nicht aus einer einzigen Perspektive z. B. der Religionswissenschaft, der Sprach- und Literaturwissenschaft oder Geschichtswissen-schaft heraus betrieben werden, sondern es sollte versucht werden eine interdisziplinäre, internationale, vielfältige, lebenswirklichkeitsnahe Sicht der Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianerinnen und Afrobrailianer zu wagen. !Anhang !Anthropologie !Bibliografien !Bildung !Einführung ! Folklore !Frau !Geschichte !Gesellschaft !Gesundheit !Kunst !Museen !Ökonomie und Arbeitswelt !Organisationen !Religionen !Sklaverei ! Wohnen R. Nina Rodrigues (1904): As belas artes nos colonos pretos do Brasil. A escultura. Revista Kosmos (RJ), vol. 1, n8 8, agosto de 1904; ders. (1932, 1935): Os africanos no Brasil. S¼o Paulo (posthum, 2. ed.); ders. (1935): O animismo fetichista dos negros baianos. S¼o Paulo (posthum); G. Freyre (1933, 1969): Casa grande e senzala. 2 vol.s. Rio de Janeiro; ders. (1936, 1985): Sobrados e mucambos. 2 vol.s. Rio de Janeiro; 1. Congresso Afro-brasileiro. Pernambuco, anno de 1934. Recife (reed. Fundażo Joaquim Nabuco (ed.) Estudos AfroBrasileiros. Recife, 1988); Ramos (1935): O Folk-Lore Negro do Brasil. Rio de Janeiro; ders. (1934): O Negro Brasileiro. Rio de Janeiro; ders. (1971): O negro na civilizażo brasileira. Rio de Janeiro; ders. (1979): As culturas negras no Novo Mundo. S¼o Paulo (4.ed.); 2. Congresso Afro-Brasileiro. Bahia 1937. Rio de Janeiro, 1940; R. Bastide (1939): Ensaios de metodologia afro-brasileira. Revista do Arquivo Municipal (SP), 5(59), jul., p. 17 – 32; ders. (1945): Êtudes afro-br¦siliennes, ¦tude bibliografique (1939 – 1944): Bulletin des Êtudes Portugaises et de L’Institut FranÅais au Portugal; ders. (1983): Estudos afro-brasileiros. S¼o Paulo; A. G. Mesquitela (1963): Da import–ncia dos estudos bantos para a compreens¼o da problem‚tica sûcio-cultural brasileira. Luanda: I. I. C. A.; A. Dzidzienyo (1970): A Ýfrica vista do Brasil. Afro-Ýsia (Salvador), (10/1), p. 79 – 97; R. Guimar¼es (1974): Êdison Carneiro e os estudos afro-brasileiros. Revista Fluminense de Folclore (Niterû†), 1(2), jul., p. 34 – 36; E. Bredford Burns (1974): Manuel Querino’s interpretation of the African contribution to Brazil. Journal of Negro History (Washington), 59(1), p. 78 – 86; W. Freitas Oliveira (1976): Desenvolvimento dos estudos africanistas no Brasil. Cultura (Bras†lia), 6(23), p. 110 – 117; ders. & V. da Costa Lima (1987): Cartas de Êdison Carneiro a Artur Ramos (4. 1. 1936 – 6.12. 1938). S¼o Paulo: Corrupcio; R. M. Cortez Motta (1976): Carneiro, Ruth Landes e os candobl¦s bantus. Revista do Arquivo Pfflblica (Recife), 30(32), p. 58 – 68; ders. (1977/78): De Nina Rodrigues a Gilberto Freyre; estudos afro-brasileiros (1896 – 1934). Revista do Arquivo Pfflblico (Recife), 31/32, (33/34), 1977/78: 50 – 59; M. Acosta Saignes (1976): Ideias de Bastide sobre as Am¦ricas negras. Afro-Ýsia (Salvador),

Afrodescendentes

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(12), P. 109 – 116; D. Menezes (1978): Teses brasilianistas e ant†theses brasileiras. Revista de CiÞncia Pol†tica (RJ), 21(2), p. 17 – 22; M. I. Pereira de Queiroz (1978): Uma nova interpretażo do Brasil: a contribuiżo de Roger Bastide — sociologia brasileira. Revista do Instituto de Estudos Brasileiros (SP), (20), p. 101 – 122; R. de Barros Laraia (1979): RelaÅþes entre negros e brancos no Brasil. bib (RJ), (7); L. Nogueira Negr¼o (1979): A cr†tica de Douglas Teixeira Monteiro — sociologia da religi¼o de Roger Bastide. Religi¼o e Sociedade (RJ), 4, p. 31 – 36; E. Beuchelt & W. Ziehr (1979): Schwarze Königreiche – Völker und Kulturen Westafrikas. Hamburg; E. Beuchelt (1981): Die Afrikaner und ihre Kulturen. Berlin; M. CorrÞa (1982): As ilusþes da liberdade: a escola de Nina Rodrigues e a antropologia no Brasil. Doutorado. S¼o Paulo: USP-FFLCH; R. Ribeiro (1982): Antropologia da religi¼o e outros estudos. Recife; ders. (1988): O negro na atualidade brasileira. Estudos de Antropologia Cultural e Social, N8 15. Lisboa; E. dos Santos (1982): Pierre Verger e os residuos coloniais. O »outro« fragmentado. Religi¼o & Sociedade (RJ), (8), jul., p. 11 – 14; H. Jungraithmayr & J. G. Möhlig (Hrsg.) (1983): Lexikon der Afrikanistik; C. Moreira Henriques Serrano (1983): Contribution de l’histoire et de l’anthropologie aux nouvelles ¦tudes afro-br¦siliennes. Recherche: P¦dagogie et Culture (Paris), 64, p. 11 – 14; W. Hirschberg (1984): Die Kulturen Afrikas. Frankfurt/M.; P. R. dos Santos (1985): InstituiÅþes afro-brasileiras. Rio de Janeiro: CEAA; O. R. de Morais Simon (org.) (1986): Revisitando a terra de contrastes. A atualidade da obra de Roger Bastide. S¼o Paulo: USP; J. V. Freitas Marcondes (1987): Gilberto Freyre »Casa Grande e Senzala« e a escravid¼o negra. CiÞncia & Trûpico (Recife), (15), p. 41 – 54; H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Von den indianischen und afrobras. Kulturen bis in die Gegenwart. Berlin; M. J. Maestri Filho (1988): Notas de Artur Ramos de um depoimento de um ex-escravo. Estudos Ibero-Americanos (Porto Alegre), 14 (2), p. 215 – 230; R. Nagel & E. I. Schirmer Richter (1988): Elementos de arquivologia. Santa Maria: UFSM; C. Christoforo (1988): A Ýfrica no Instituto de Estudos Brasileiros. Revisa do Instituto de Estudos Brasileiros (SP), (28), p. 157 – 185; Centro de Estudos Afro-Asi‚ticos (CEAA) (ed.) (1991): Escravid¼o e relaÅþes raciais no Brasil. Cadastro da produżo intelectual (1970 – 1990). Rio de Janeiro; D. A. Azibo (1996): African Psychology in historical perspective and related commentary. Trenton: Africa World Press Inc.; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; Revista do Patrimúnio Histûrico e Art†stico Nacional (IPHAN), N8 25, 1997: »Negro Brasileiro Negro«; Th. E. Skidmore (1998): Uma histûria do Brasil. S¼o Paulo (2.ed.); Ch. dos Santos-Stubbe (1998, 2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef (2. Aufl.); N. Lopes (2003): Enciclop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo; ders. (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; I. Dean (2010): Die Musealisierung des Anderen. Stereotype in der Ausstellung ›Kunst in Afrika‹. Tübingen; W. Schicho (2010): Geschichte Afrikas. Stuttgart; Internet: www. EUBRAS.de; www.cibera.de

Afrodescendentes Nei Lopes (2006:15) definiert kurz und knapp: »afro-descendente – termo modernamente usado no Brasil para designar o indiv†duo descendente de africanos, em qualquer grau de mestiÅagem.« A. – bezeichnet also gegenwärtig in Brasilien ein von Afrikanern abstammdes Induviduum, in allen Abstufungen

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der »mestiÅagem«. In einer neueren repräsentativen IBGE-Untersuchung (2008) bezeichneten sich 21,5 % der Interviewten als »afrodescendentes«. !Afrobrasilianer !»mestiÅo« !»mulata/mulato« !»negro« !»pardo« R. F. Ferreira (2000): Afro-Descendente. Identidade em construżo. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Film: DVD: 2011 International Year for People of African Descendent; Internet: wikipedia.org/wiki/Afro-brasileiros

Afrolateinamerikaner Es ist sozialpsychologisch nicht korrekt, die Afrolateinamerikaner als eine »Minorität« zu betrachten, wenn man darunter eine zahlenmäßige !Minderheit versteht, denn in vielen lateinamerikanischen Regionen liegt ihr Bevölkerungsanteil nämlich weit über 50 % (z. B. Haiti: über 80 % Schwarze und 15 – 20 % »Mulatten«; Kolumbien: ca. 25 % »Mulatten« und 5 % Schwarze; Venezuela: ca. 33 % »Mulatten« und ca. 9 % Schwarze; vgl. Nohlen, 2000; Lopes, 2004, 2006). Brasilien kann man mit Recht als zweitgrößtes »afrikanisches« Land der Erde (nach Nigeria) bezeichnen. Santos-Stubbe (1995) und Stubbe (1987, 1988, 2001) haben mehrfach darauf hingewiesen, daß bereits die Erfassung der !Hautfarbe (die in vielen offiziellen Dokumenten und Ausweisen immer noch erfaßt wird) in LA ein sozialpsychologisches Problem ist. Allein in Brasilien existiert eine über 900 verschiedene ethnische und rassische Ausdrücke umfassende Terminologie (vgl. Stephens, 1989; Harris, 1970) und bei der Volksbefragung im Jahre 1980 kennzeichnete der nichtweiße brasilianische Bevölkerungsanteil seine Hautfarbe mit insgesamt 136 verschiedenen Ausdrücken (vgl. Stubbe, 1992)! Viele Soziologen und Sozialpsychologen konnten konstatieren, daß den offiziellen Hautfarbenstatistiken in LA nur eine geringe Objektivität zukommt, da sie auf Selbsteinschätzung beruhen und wir im allgemeinen eine Tendenz zum »branqueamento« (Skidmore, 1976) beobachten können. Insgesamt kann man feststellen, daß deutschsprachige (Sozial-)Psychologen bisher den (sozial-) psychologischen Problemen dieser großen Bevölkerungsgruppe wenig Interesse entgegengebracht haben, wohingegen über den afrolateinamerikanischen Synkretismus schon viele Aufsätze und Dissertationen vorliegen (vgl. z. B. Woehlcke, 1972; Kasper, 1984; Richeport, 1987; Figge, 1980; Stubbe, 1987, 1989, 1991; Hohenstein, 1991). Die von Peltzer, Ebigbo, SantosStubbe, Stubbe und Collignon 1988 gegründete internationale Fachzeitschrift »Journal of Psychology in Africa (South of the Sahara, the Caribbean and AfroLatinamerica)« versucht die Psychologie der Afrolateinamerikaner stärker ins Bewußtsein der psychologischen Fachwelt zu rücken. Die Frage, ob es in LA eine Rassenideologie und Rassendiskriminierung gibt,

Ahnen (auch: Vorfahren, ancestrais)

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wurde vor allem von Historikern (vgl.z. B. Geiss, 1988) und Soziologen (z. B. Moura, 1988) untersucht. In seiner sozialhistorisch und kulturanthropologisch orientierten Monographie »Geschichte der Psychologie in Brasilien« ist H. Stubbe (1987) erstmalig ausführlich auf verschiedene ethnopsychologische Aspekte der Afrobrasilianer wie !Banzo !Candombl¦ !indigene Psychologie !Suizide, !Trauer(-Riten), !Ethnotherapie etc. eingegangen. Die !Sozialpsychologie der Sklaverei ist von der Forschung bisher stark vernachlässigt worden. Psychische Reaktionen auf diese Extremsituation wie suizidales Verhalten und !»banzo« wurden von Stubbe (1985, 1987, 1990, 1995, 2001) und Santos-Stubbe (1986, 1988, 1998) untersucht. Sie interpretieren »banzo« als eine kulturspezifische und sozio-ökonomisch bedingte Form eines psycho- bzw. soziogenen Todes bei den afrobrasilianischen Sklaven (vgl. Stubbe & Santos-Stubbe, 1990). Die Zusammenhänge von Rassenideologie und der politischen Entwicklung diskutiert z. B. Max Paul (1982) am Beispiel Haitis und Bermudas. Er vertritt die These, daß sog. Rassenprobleme eher in einem sozioökonomischen als in einem politischen Kontext verwurzelt sind und in letzterem mehr eine instrumentale Bedeutung haben. Paul zeigt auf, daß Rassenideologien in Haiti und Bermuda von den jeweiligen Eliten mobilisiert oder bekämpft werden, je nachdem wie es dem Aufbau oder der Verteidigung ihrer Machtposition gerade nütze. In beiden Ländern ist jedoch eine grundsätzliche Konstanz der sozialen Strukturen hinsichtlich der Klassenschichtung und der Formen der Machtausübung der jeweiligen Eliten festzustellen. !Afrobrasilianer !Bibliografien !Hautfarben R. L. Lûpez Vald¦s (1985): Componentes africanos en el etnos cubano. La Habana; H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Berlin; ders. (1992): Psychologie, In: Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde. Freiburg/Brsg.; ders. (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; E. Heinemann (1990): Mama Afrika. Das Trauma der Versklavung. Eine ethnopsychoanalytische Studie über Persönlichkeit, Magie und Heilerinnen in Jamaica. Nexus; H. Stubbe & Ch. dos Santos-Stubbe (1990): Banzo- Eine afrobrasilianische Nostalgie? Curare, vol.13, 1990:123 – 132; B. NuÇez (1980): Dictionary of Afro-Latinamerican Civilization. Westport; N. Lopes (2003): Enciclop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo; ders. (2006): Dicion‚rio escolar afrobrasileiro. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Ahnen (auch: Vorfahren, ancestrais) Einführung: Unter A. versteht man die nach dem physischen Tod im Gedächtnis ihrer Verwandten weiterexistierenden Familienmitglieder. A. erfahren oftmals eine be-

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sondere Verehrung, weil sie schon zu Lebzeiten Ansehen genossen und eine große Nachkommenschaft hinterlassen haben. Bei ihrem Tod werden sie durch kulturspezifische Rituale als A. in die Verwandtengruppe aufgenommen. Manchmal ist ein Prozeß der »Sanktifizierung« der A. zu beobachten (A.kult). A. gelten als Wächter über die Traditionen und üben eine gewisse Kontrolle über ihre Nachkommen aus. Über Opfer und !Gebete wird Kontakt zu ihnen aufgenommen und gepflegt. In der evolutionistischen Ethnologie des 19. Jh.s galten die A. als Ursprung der Religion überhaupt (vgl. Tylor, Manismus, Animismus). Der Psychologe und Ethnologe Meyer Fortes (1906 – 1983) sah aufgrund seiner afrikanischen Feldforschungen die A. als eine Erweiterung der Sozialordnung an. In manchen Teilen Afrikas werden A. wie die Ältesten der Familie behandelt, weshalb manche Forscher (z. B. Driberg, 1936) der A.verehrung jegliche religiöse Natur abgesprochen haben. Im antiken Rom existierte als Teil des A.kultes ein »ius imaginum« (Recht auf Bilder), ein Vorrecht vornehmer Römer, von Verstorbenen ihrer Familie, die ein höheres Amt verwaltet hatten, eine Wachsmaske herstellen zu lassen. Starb ein anderes Mitglied der Familie, so legten Schauspieler diese Masken, die man über Generationen sorgfältig aufbewahrte, und die Amtstracht des in der Maske Dargestellten an und fuhren so vor dem Leichenwagen her. »Welch ein Anblick muß es gewesen sein, wenn bei der Bestattung eines Scipio die Scipionen vergangener Jahrzehnte, ja Jahrhunderte ihren Toten in die Unterwelt abholten und dann an dem Sarge oder Scheiterhaufen ein Verwandter, meist der Sohn des Verblichenen, die Leichenrede hielt!« (Wörterbuch der Antike, 1976:348) Ahnenkult der Afrobrasilianer: Auf der Insel Itapar†ca (BA) findet im Rahmen des !Candombl¦ ein Ahnenkult (culto dos ancestrais) statt (vgl. Elbein dos Santos, 1976). Nei Lopes (2006:19) betont, dass der Ahnenkult in einer Verehrung der Ahnengeister besteht, um die von ihnen ausgehende Energie zu empfangen. In der afrikanischen Tradition, war der Glaube an das Überleben der Seele nach dem Tode immer eine Garantie für die innere soziale Stabilität und familiäre Einheit (zur Ahnenseele vgl. auch Frikel, 1995:98 – 102). Der hochgeehrte »Mestre Didi« (*1917), der Sohn der ialorix‚ M¼e Senhora, hat sich als ein direkter Nachfahre von Afrikanern (Ketu) für den Ahnenkult (nagús) in Bahia eingesetzt. !Geister !indigene Psychologie !Literatur J. H. Driberg (1936): The secular aspect of ancestor worship in Africa. Journal of the Royal African Society, 35; P. Frikel (1941, 1995): Die Seelenlehre der GÞge und Nagú. Brasilien Dialog, 3/4/95, S. 89 – 196; M. Fortes & G. Dieterlen (ed.s) (1965): African system of thought. Oxford; J. Elbein dos Santos (1976): Os nagú e a morte. Petropolis; dies. & D. M. Santos (1981): O culto dos ancestrais na Bahia: O culto dos Êgun. In: R. Bastide et al. (ed.),

Akkulturation

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Escritos sobre a religi¼o dos orix‚s. S¼o Paulo; H. Stubbe (1983): Verwitwung und Trauer im Kulturvergleich. Mannheim/Rio de Janeiro; ders. (1986/87): Tod, Trauer und Verwitwung in der brasilianischen Folklore. Staden Jahrbuch, 34/35, p. 11 – 29; J. Santana Braga (1990): Ancestralidade afro-brasileira. Em: J. Santana Braga (org.), Religi¼o e cidadania. Salvador : UFBa/EGBA, p. 11 – 28; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Akkulturation Einführung: Unter A. versteht man den Wandel der Kultur einer ethnischen Gruppe oder auch eines Einzelnen durch Übernahme von Elementen aus einer fremden Kultur. Der Begriff A. wird häufig mit !Assimilation verwechselt. A. entsteht aus nachhaltigem Kontakt und mehr oder minder kontinuierlicher Interaktion zwischen kulturell verschiedenen Gruppen. Im Prozeß der A. werden Techniken, Gegenstände der materiellen Kultur, Verhaltens- und Erlebensmuster, Werte, Institutionen etc. übernommen und je nach den Bedingungen modifiziert oder angepasst. Aus dem A.sprozeß können durch Verschmelzen von Elementen aus beiden Systemen neue, eigenständige Kulturprodukte entstehen z. B. ein afrobras. religiöser Synkretismus. A. ist häufig ein selektiver Vorgang bei dem aus einer bestimmten Machtposition der dominanten Kultur nur bestimmte Kulturelemente übernommen, andere jedoch abgelehnt werden. A. kann mit Streß verbunden sein (akkulturativer Streß, s. u.). Der Akkulturationsprozeß kann in vier Richtungen (Formen) verlaufen: der Integration, der !Assimilation, der !Ausgrenzung bzw. der !Segregation (Ghettoisierung, Separation) und der Marginalisation. Kritiker werfen der A.forschung vor, daß sie das Ziel einer Assimilierung in die dominante euro-amerikanische Kultur propagiere und lehnen sie deshalb als ethnozentrisch ab. Akkulturativer Streß bei Afro-Amerikanern: Die A., besonders wenn sie abrupt verläuft, ist häufig mit Streß verbunden. Unter Streß wird hierbei n. H. Selye die Verletzung der Integrität des Organismus durch abnorme Belastungen vorwiegend der vegetativen Funktionen verstanden, die ein allgemeines Adaptationssyndrom des Leibes auslösen kann. In diesem Sinne kann akkulturativer Streß ein belastendes Erlebnis sein, das in Zusammenhang mit anderen Faktoren oder allein eine körperliche, psychische oder psychosomatische Krankheit zur Folge haben kann, wie bei Migranten als eine potentielle Risikogruppe oftmals zu beobachten ist. Die Life events-For-

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schung (z. B. mit der Holmes-Rahe-Skala) versucht akkulturativen Streß individuell messbar zu machen. J. W. Berry (1994) hat z. B. ein Modell des akkulurativen Streß entwickelt nach dem besonders die Situationen der Marginalisation und Segregation einer ethnischen Minorität einen stärkeren akkulturativen Streß bedeuten d. h. gesundheitliche Risiken darstellen. Faktoren, die das Verhältnis zwischen Akkulturation und Streß moderieren sind hiernach vor allem: – Die Art der Akkulturation: Integration, Assimilation, Separation, Marginalisation – Die Phase der Akkulturation: Kontakt, Konflikt, Krise, Adaptation – Die Ausrichtung der Bezugsgesellschaft: Multikulturalismus vs. Assimilationismus; !Vorurteil und !Diskriminierung – Die Charakteristika der akkulturierenden Gruppe: Alter, Status, soziale Unterstützung – Die Charakteristika des akkulturierenden Individuums: Schätzung (appraisal), Coping, Attitüden, Kontakt (vgl. Berry, 1994:213) Migranten und ethnische !Minderheiten sind oftmals einem stärkeren akkulturativen Streß unterworfen. So ist z. B. bekannt, daß die körperliche wie psychische !Gesundheit der Afro-Amerikaner und »Indianer« in den USA und Brasilien schlechter ist als die der Weißen (z. B. AIDS, Bluthochdruck, Suizide, Adipositas, !Alkoholismus etc.). Es besteht in der Forschung kein Zweifel, daß ein großer Teil des Problems mit der Armut der Afro-Amerikaner (damit verbunden schlechte Ernährung, hohes Maß an Gewalt, unzureichende Gesundheitfürsorge etc.) und einer Fülle von psychosozialen Belastungsfaktoren (z. B. Außenseiterstatus, Fremdheitsgefühl) zusammenhängt. In einer Studie über akkulturativen Streß bei Afro-Amerikanern unterschied Anderson (1991), sich auf das Streß-Modell von Richard S. Lazarus (1922 – 2002) stützend, drei allgemeine Kategorien von Stressoren: 1. Stressoren der Ebene 1 (chronisch). Hierunter fallen Stressoren wie !Rassismus, hohe Wohndichte, Lärmbelastung, schlechte Lebensbedingungen (daraus folgend eine höhere psychiatrische Hospitalisierungs-rate). 2. Stressoren der Ebene 2 (wichtige Lebensereignisse). Hierunter werden die Ereignisse verstanden, die auf der Life-Events-Skala von Holmes & Rahe aufgelistet sind. Soziökonomische Probleme gehören zu den wichtigsten Stressoren für Afro-Amerikaner. 3. Stressoren der Ebene 3 (tägliche Ereignisse, Mikrostressoren). Darunter sind alltägliche Ärgernisse, Verkehrsbeeinträchtigungen, unfreundliche Vorgesetzte, unerwünschte Telefonanrufe etc. zu verstehen. Anderson warnt jedoch davor, dieses Modell zu deterministisch zu interpretieren. Wie bei vielen Minoritätsgruppen gibt es auch bei den Afro-Amerikanern einen Zwang zur !Assimilation (die u. a. darin zum Ausdruck kommt, daß die weiße !Hautfarbe mit Überlegenheit gleichgesetzt wird

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und Mittel zur Straffung des !Haares und zur Aufhellung der Haut eingesetzt werden; vgl. !Ethnoästhetik), während gleichzeitig Hemmnisse bestehen, von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu werden. Der akkulturative Streß kann auf allen Ebenen bestehen, wird jedoch meistens auf der Ebene des alltäglichen Ärgers wahrgenommen (vgl. Attributionen). Das Selbstwertgefühl der Angehörigen dieser !Minderheit kann hierunter beträchtlich leiden und der akkulturative Streß sich hierdurch verstärken. Williams & Anderson haben auch eine »Akkulturelle Streß-Skala« (Acculturative Stress Measure) entwickelt. Wie kann der akkulturative Streß abgebaut werden? Anderson betont die Veränderung potentiell belastender Umweltbedingungen und die Entwicklung effektiver Coping-Strategien (Bewältigungsstrategien d. h. Verhaltensweisen und Einstellungen, mit deren Hilfe belastende Situationen bewältigt werden können: z. B. Informationssuche, direkte Aktion, Aktionsaufschub, intrapsychische Verarbeitung, professionelle Hilfe, Sinnstiftung). Im Hinblick auf die Afro-Amerikaner wird herausgestellt, daß diese häufiger die !Religion und das !Gebet benutzen, um ihre emotionalen Reaktionen auf negative Situationen zu kontrollieren. Das Selbstwertgefühl kann auch durch die Schaffung einer positiven Identität mit der !»raÅa« verstärkt werden (z. B. »black is beautiful«, RastafariBewegung, Black-Muslims etc.), um der in der Gesellschaft vorherrschenden negativen !Stereotypen gegenüber den Afro-Amerikanern zu begegnen. Auch Formen der sozialen Unterstützung und gegenseitigen Hilfe (Mutualismus) wie sie in familiären, religiösen, sportlichen, kulturellen (vgl. Jazz), sozialen und politischen !Organisationen gelebt werden, können für Afro-Amerikaner wichtig sein und stressreduzierend wirken. Minoritäts- bzw. Migrantengruppen besitzen ihr eigenes Profil des akkulturativen Streß wie z. B. die »Latinos«, die asiatischen (Süd-)Amerikaner, die »Indianer« und Juden in den USA und in Brasilien. In Deutschland und Brasilien liegen bisher nur sehr vereinzelt systematische Studien über akkulturativen Stress und seine Auswirkungen auf die körperliche, soziale und seelische ! Gesundheit der Afrobrasilianer vor. !Favela !Gesellschaft !Migration !Minderheiten !Schönheitsoperationen E. Ozer (1986): Health status of minority women. Washington DC; US Department of Health and Human Services, Report of the secretary’s task force on black and minority health, vol. 1 – 8,1986; L. P. Anderson (1991): Acculturative stress: A theory of relevance to black Americans, Clin. Psychol. Review, 11, p. 685 – 702; W. J. Lonner & R. Malpass (1994): Psychology and culture. Boston; D. L. Sam & J. W. Berry (2006): The Cambridge Handbook of Acculturation. Cambridge; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

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Alforria (arab. al-hurriiâ) Akt der Freilassung des Sklaven. Nei Lopes (2006:17) schreibt: »No Brasil, a alforria, conseguida por compra, doażo ou imposiżo legal, podia ser feita: por carta, no caso do escravo adulto que comprava ou recebia gratuitamente a liberdade; por testamento, na circunst–ncia de o escravo ser declarado manumisso no testamento do propriet‚rio falecido; de pia, quando a libertażo occoria no ato do batismo catûlico, mediante o pagamento, ao dono do escravo, de uma quantia previamente estipulada. Outra forma de concess¼o da alforria era a carta de liberdade condicional, na qual o outorgante estipulava a libertażo do escravo em data determinada, por exemplo, para depois do falecimento do propriet‚rio.« Die »carta de alforria« kann auch als ergiebige historische Quelle der Afrobrasilianistik genutzt werden (vgl. Queiroz Matoso, 1976; Gattiboni, 1990). Alaúr Scis†nio (1997:21 f) hat die legislativen Aspekte der A. eingehend bearbeitet. !africanos livres !Sklaverei K. M. Queirûs Matoso (1976): A carta de alforria como fonte complementar para o estudo de m¼o obra escrava urbana (1819 – 1886): Em: C. Bala¦z & M. Buesco (ed.s), A moderna histûria econúmica. Rio de Janeiro; R. Gattiboni (1990): Cartas de alforria em Rio Grande (1874 – 79 e 1884 – 89). Estudos Iberoamericanos (Porto Alegre), 16(1/2), p. 117 – 136; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Alkoholismus (auch: Trunksucht, alcoolismo) Einführung: Unter A. versteht man i.w. S. jeden über das sozial erlaubte Maß hinausgehenden Genuß von alkoholischen Getränken, einmalig oder dauernd, aus Gewohnheit oder in Form einer Sucht. Feuerlein (1989) betont, daß es außer den biologischen und psychologischen Sucht-Theorien gegenwärtig keine zusammenfassende oder gar eigenständige Theorie gesellschaftlicher Wurzeln des A. gibt. An soziokulturellen Einflüssen des A. lassen sich folgende aufzählen: 1. Einstellungen zum A.konsum. Hier werden üblicherweise 3 Grundeinstellungen unterschieden: Ritueller Konsum z. B. bei sakralen Handlungen, sozialkonvivialer Konsum z. B. tradierte Trinksitten, utilitaristischer Konsum z. B. zur Stimulation, Angstreduzierung, Enthemmung, Machtbefriedigung, aus hedonistischen oder geschmacklichen Gründen etc. In der strukturell-funktionalistischen Theorie werden vor allem die Spannungsreduktion, Ersatzbefriedigung,

Alkoholismus (auch: Trunksucht, alcoolismo)

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Untersozialisation bei mangelnden tragfähigen Primär- und Se-kundärbeziehungen, soziale Rollenkonflikte und Anomie hervorgehoben. 2. Regionale Unterschiede (»Kulturkreise«): Man unterscheidet vier Kulturformen des A.konsums bzw. -mißbrauchs: »Abstinenzkulturen« (z. B. islamische, hinduistische Gesellschaften), auf asketisch-puritanischen Auffassungen basierende »Ambivalenzkulturen« (z. B. Skandinavien, England, Kanada, USA), die seit der späten Kindheit an limitierten A.konsum gewöhnten »Permissivkulturen« (z. B. mediterrane Länder), die den Exzeß billigenden und den Rausch sozial akzeptierenden »Permissiv (funktions-gestörten) Kulturen« (z. B. Osteuropa, Russland, Südamerika). 3. »Griffnähe« der Alkoholgetränke: Sie reicht von dem totalen Alkoholverkaufsverbot (Prohibition) über ambivalenter zur permissiven Einstellung z. B. dem Ausschank in Werkkantinen sowie durch Automaten. 4. Sozialer Wandel und Wertewandel: Die Einstellungen zum Alkoholkonsum schwankten in den meisten Ländern im Laufe der Jahrhunderte zwischen der Verherrlichung und der völligen Verdammung vgl. Temperenzbewegung (D 1878), Prohibition (USA 1917): Wichtig sind in westlichen Industriegesellschaften außerdem die Alkohol-Sozialisation und En-kulturation, die Schichtzugehörigkeit, die Arbeitssituation, die Herkunftsfamilie, die Primärgruppen, Migration, Flüchtlingsschicksal, Arbeitslosigkeit, Nichtseßhaftigkeit, Emanzipation, Reizüberflutung, Konsumismus, Desintegration etc. (vgl. Feuerlein, 1989). Sowohl in Afrika als auch in (Süd-)Amerika (vgl. Trenk, 2000) wurde Alkohol von den Kolonisatoren gezielt eingesetzt, um die Kampfmoral und Widerstandskraft der unterworfenen Bevölkerung zu schwächen (vgl. Opium in China!) bzw. ihre Kultur und Gesellschaft zu zerstören. Z. B. konnten im südlichen Afrika die Kolonialsoldaten ihren spär-lichen Sold durch Alkoholverkaufslizenzen aufbessern. Die traditionellen Chiefs wandten sich häufig gegen diese Institution, was häufig zu Konflikten führte. Die Insel an der Mündung des Hudsonflusses, heute New York, erhielt den indianischen Namen »Manhattan« d. h. »Ort der Trunkenheit«, weil die Entdecker (H. Hudson, 1609) die lokalen »Indianer« mit Branntwein gefügig machten (Lokotsch, 1926). Auch der dt-bras. Ethnologe Nimuendajffl berichtet in seinen Briefen aus den 30er Jahren über die kulturvernichtende Wirkung des Alkohols bei den indianischen Ethnien Brasiliens im Zuge der Landbesetzungen durch die Neobrasilianer (mittels der »vendedores de cachaÅa«). Über die Kultur der Peb-kah‚k schreibt er z. B. am 30. 6. 1930 sie habe sich »wortwörtlich im Alkohol aufgelöst« (Welper, 2002:55, 56, 62). In der staatssozialistischen DDR wurden nach Paul Brieler (1992) »17 Millionen Menschen mit Alkohol ruhiggestellt«. 1988 konsumierte jeder der 17 Millionen DDR-Bürger durchschnittlich 143 Liter Bier, 12 Liter Wein oder Sekt und 16 Liter Spirituosen d. h. 24 Gramm reinen Alkohol pro Tag. Alkohol war die Droge Nummer eins in der DDR. Schätzzahlen für das Jahr 1989 gehen

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von bis zu 290.000 Alkoholabhängigen und bis zu 1.160.000 Alkoholmißbrauchern aus. Brieler hält den Alkohol für einen »Garant für die Existenz der DDR«. Einer von zehn Todesfällen in Europa ist auf den Konsum von Alkohol zurückzuführen. In Russland sterben z. B. jährlich 500.000 bis 700.000 Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums. Die Hälfte der Todesfälle bei Männern zwischen 15 und 54 Jahren steht dort in direktem Zusammenhang mit exessivem Alkoholkonsum. Weltweit stirbt einer von 25 Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums. Mehr als die Hälfte der Menschheit (vor allem in muslimen Ländern) lebte im Jahre 2009 abstinent. In vielen ökonomisch aufstrebenden Ländern wie z. B. Indien, China und Brasilien wird jedoch immer mehr getrunken mit allen damit verbunden gesundheitlichen Problemen (Leberzirrhose, Krebsarten, Herzkrankheiten, Verkehrsunfälle, Gewalt etc.). In Thailand trinken die Menschen z. B. heute 33mal mehr als noch vor 40 Jahren (vgl. Lancet, jun. 2009). In den beiden von G. Völger herausgegebenen reichbebilderten Bänden »Rausch und Realität« (1981) wird das Thema Alkohol in historischer und kulturvergleichender Sicht erschöpfend behandelt. Der Kölner Ethnologe Th. Schweizer kommt in seinem Aufsatz über »Alkoholkonsum im interkulturellen Vergleich« zu dem Ergebnis, daß Alkohol in unserer Kultur und auch weltweit eine der verbreitesten Drogen ist. Vier voneinander unabhängige Dimensionen des Gebrauchs von Alkohol haben sich kulturvergleichend als bedeutsam erwiesen: 1.die kulturelle Integriertheit des Alkoholkonsums, 2. Betrunkensein als Folge des Alkoholgenusses, 3. Aggressivität während des Trinkens, 4. Quantität des Alkoholkonsums (inkl. der Alkoholabhängigkeit). Wenn Alkohol in einer Kultur vorkommt, unterliegt sein Gebrauch meist Regeln und Normen. Kulturspezifisch sind neben der Herstellung von Alkohol, auch der Umgang mit Alkohol, sowie die Form des Betragens im Zustand des Berauschtseins. Ein erster Ansatz zur Beschreibung des Alkoholkonsums versucht diese Regeln explizit zu machen. Ein zweiter Ansatz möchte darüber hinaus die symbolischen Bezüge zu anderen kulturellen Bereichen bestimmen, die im Alkoholkonsum sichtbar werden wie z. B. Rang und Status, Zugehörigkeit zu Gruppen und zu sozialen Netzwerken. Angst, soziale Disorganisation, Kindheitstraumen und Machtlosigkeit sind einige der Gründe für den exzessiven Gebrauch von Alkohol in einer Kultur. Ohne Berücksichtigung des kulturellen Hintergrundes kann man weder den »normalen« noch den »exzessiven« Alkoholkonsum verstehen. In August Forel’s (1935) (des Schweizer Psychiaters und Begründers der internationlen Anti-Alkoholbewegung) Autobiografie »Rückblick auf mein Leben« finden sich interessante Ausführungen über seine eigene Abstinenz und den Beginn der internationalen Anti-Alkoholbewegung. In der Belletristik der sog. Dritten Welt existieren viele für die Kulturanthropologie aufschlußreiche Romane und Erzählungen, die das A.problem behandeln, wie z. B. »Reca†da« (Rückfall) des kapverdischen Schriftstellers Antûnio Aur¦lio

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GonÅalves (1901 – 1984). Auf die welthistorische Bedeutung des Alkohols macht Reichholf (2007:64) aufmerksam, wenn er schreibt: »Was jedoch in der amerikanisch-indianischen Bevölkerung die Krankheiten, denen sie hilflos ausgeliefert waren, nicht schafften, erledigte der Alkohol, das Feuerwasser. Kolumbus’ Inseln wurden zum Hauptquell eines teuflischen Gebräus, dessen Benennung in der deutschen Sprache zu Recht jener Buchstabe fehlt, der es in falscher Weise rühmen würde, der Rum. Zuckerrohr, ein uramerikanisches Gewächs, ist die Pflanze, aus der bald Alkohol in stärkster Form produziert wird. Mit dem Zucker bekommt die Alte Welt eines ihrer größten Übel aus der Neuen Welt, die dabei in Sklaverei blutet und leidet unter der Sucht nach Alkohol.« Cachaça in Brasilien: Die Etymologie des Wortes »cachaÅa« ist ungeklärt (vgl. da Cunha, 1982:133). Scis†nio (1997:76) weist auf einen möglichen afrikan. Ursprung hin. Das Thema cachaÅa (Zuckerrohrschnaps) (auch: pinga, marafa, aguardente) wurde exhaustiv lexikalisch von dem Pernambukaner M‚rio Souto Maior (1985) bearbeitet. 1927 heißt es z. B. in einem »folheto« in Recife: »Antigamente quem bebia Era o negro ou o mulato, Mas hoje gente de trato Bebe de noite e de dia, ..…………………..…» (zit. nach Souto Maior, 1985:19) Wir geben noch einige andere Beispiele: »beber« ist eine »obrigażo do pobre«, »banzeiro« bedeutet »meio embriagado«, »beijar o santo« bedeutet »ingerir bebida alcoûlica«, »esponja« gleich »cheio de cachaÅa«, »mulata« heißt ein Arguardente de Cana, !»mulata« und »mulatinha« dienen überhaupt als Euphemismen des cachaÅa, »Mata-Bicho« gleich »cachaÅa« (mata-bicho ist in Mosambik das Frühstück!), »Otim« Afrikanismus (nagú) für arguardente, »Omim-Fun-Fun« cachaÅa in den Candombl¦s von Bahia, »orogange« cachaÅa bei den afrobras. garimpeiros etc. Der Ethnomediziner Araffljo (1979) hat die Bedeutung der cachaÅa in der »medicina rfflstica« herausgearbeitet. Er schreibt: »A cachaÅa ¦ muito usada. Serve para esquentar, para esfriar, para abrir apetite, para as comidas gordurosas n¼o fazerem mal, para melhorar a voz, para matar as tristezas, afogar m‚goas e saudades, para dar coragem para brigar, para evitar um resfriado. Al¦m destas h‚ uma infinidade de usos e beneficios at¦ medicinais atribuidos — cachaÅa.« (Araffljo, 1979:130). Jos¦ C. Curto (1999) betont die besondere Bedeutung der bras. cachaÅa im Sklavenhandel aus Luanda (Angola).

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Von Reisenden wurde immer wieder der (geförderte?) Alkoholabusus der Sklaven beobachet. »Sowohl in Afrika wie in Amerika wurde der Alkohol von den Kolonisatoren gezielt eingesetzt, um die Kampfmoral der unterdrückten Bevölkerung zu schwächen.« (Hoffmann, 1992:37; vgl. auch Welper, 2002:55ff; Stubbe, 2012:32). Octavio Ianni (1991:147) weist z. B. darauf hin, dass die »m‚scara de folha-de-flandres«, eine eiserne Gesichtsmaske, die den Mund verschloß, als !Strafe dazu diente die Sklaven von dem Alkoholismus, den Reisende wie z. B. Freyreiss immer wieder beobachteten (vgl. Freyreiss, 1968:99), zu befreien (vgl. hierzu auch Machado de Assis »conto« (Erzählung) »Pai contra m¼e«). !Anthropologie !Gesundheit !Maconha !Phytotherapie !Reiseberichte !Religion !Sklaverei !Strafen A. Seekirchner (1931): Der Alkohol in Afrika. In: Atlas Africanus, 8; A. Forel (1935): Rückblick auf mein Leben. Zürich; M. de Andrade (1944): Os eufemismos da cachaÅa. Hoje (SP), 75, 1 – 5, abril; A. A. GonÅalves (1947/48, 1993): Reca†da. Lisboa; G. Hartmann (1958): Alkoholische Getränke bei den Naturvölkern Südamerikas. Berlin; A. Maynard Araffljo (1979): Medicina rfflstica. S¼o Paulo; G. Völger (Hrsg.) (1981): Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich. 2 Bd.e. Köln:Rautenstrauch Museum; W. Schivelbusch (1983): Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel. Frankfurt/M. (insbes. S: 159 – 214); M. Souto Maior (1985): CachaÅa. Recife; D. B. Heath (1987): Anthropology and alcohol studies. Current issues. Annual Review of Anthropology, 16; W. Feuerlein (1989): Alkohol-Mißbrauch und Abhängigkeit. Stuttgart; O. Ianni (1991): Ensaios de sociologia da cultura. Rio de Janeiro; P. Brieler (1992): Der Suff im Osten oder wie man 17 Millionen Menschen ruhigstellt. Psychologie Heute, S. 66ff; W. Pfeiffer (1992): Transkulturelle Psychiatrie. Stuttgart (2. Aufl); Kl. Hoffmann (1992): Psychiatrie in Afrika. Frankfurt/M.; J. C. Curto (1999): Vinho verso CachaÅa – A luta lusobrasileira pelo com¦rcio do ‚lcool e de escravos em Luanda (1648 – 1703). Em: S. Pantoja & J. Fl. Sombra Saraiva (org.s), Angola e Brasil nas rotas do Atl–ntico do Sul. Rio de Janeiro, p. 69 – 126; M. Trenk (2000): Die Milch des weißen Mannes. Die Indianer Nordamerikas und der Alkohol. Berlin; W.-S. Tseng (2001): Handbook of cultural psychiatry. N.Y.; E. M. Welper (2002): Curt Unckel Nimuendajffl: um cap†tulo alem¼o na tradiżo etnogr‚fica brasileira. Rio de Janeiro: Museu Nacional (PPGAS), 2002; J. H. Reichholf (2007): Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends. Frankfurt/M.; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Amulett (lat. amuletum = Abwendungsmittel bei Plinius d.Ä.; arab. hammalat = Halsband) Mit geheimnisvoller Kraft/Macht geladene Gegenstände, die passiv als abwehrendes (apotropäisches) vorbeugendes Mittel vor Gefahren, Schaden, Krankheit, Verhexung etc. schützen sollen. Sie sind zu unterscheiden von dem im Sinne

Amulett

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eines Aneignungszauber wirkenden glück- oder erfolgbringenden Talisman (griech. t¦lesma = geweihter Gegenstand; arab. tilsaman = Zauberbilder). A. sind weltweit verbreitet und innerhalb aller Religionen vorhanden. In Viktor Hugos’s berühmten Mittelalter-Roman »Notre-Dame de Paris« (1832) sagt Esmeralda bezüglich ihres unter dem Mieder getragenen A.s folgende für alle A.e gültigen Sätze: »Rühre es nicht an! Es ist ein A. Du würdest dem Zauber schaden, oder der Zauber würde dir schaden.« A. werden besonders während kritischer Lebensabschnitte wie Geburt, Säuglingszeit etc.) oder zu bestimmten Anlässen wie Reise, Hochzeit) am Leib (oftmals verdeckt), in der Kleidung, aber auch unter dem Ehebett, an bestimmten Stellen des Hauses z. B. hinter der Tür oder im Auto befestigt. Im antiken Rom bekamen die Kinder kurz nach der Geburt eine Kapsel mit einem Amulett (bulla) um den Hals gehängt, die die Knaben bis zum Eintritt ins Mannesalter d. h. dem Anlegen der toga virilis mit 15 – 17 Jahren, und die Mädchen wohl bis zur Hochzeit trugen. In wohlhabenden Familien war die bulla eine runde oder herzförmige Kapsel aus Goldblech (bulla aurea), in einfachen Verhältnissen begnügte man sich mit einer Leder-Ausführung (bulla scortea) (vgl. Weeber, 2000). Das Abbild eines Gegenstandes kommt dem Gegenstand selber an Kraftwirkung gleich: runde Sönnchen oder sichelförmige Möndchen stellen den Träger unter den unmittelbaren Schutz der Sonnen- oder Mondgottheit. Koransprüche werden in kleinen Hüllen von Muslimen am Leibe getragen. Die A.anwendung spielt in der traditionellen Medizin in der Türkei eine bedeutsame Rolle. Der Glaube an die Djinnen, unsichtbare, übernatürliche, vorwiegend bösartige Krankheits-dämonen, aber auch an den !bösen Blick bestimmter neidischer Mitmenschen ist sehr verbreitet. Neben der Frömmigkeit, religiösen Sprüchen, !Gebeten, werden A. als die wirksamsten Schutzmittel gegen krankheitsverursachende und unglücksbringende Einflüsse. Die von berufenen Personen handgeschriebenen oder durch bestimmte Zaubersiegel abgestempelten Papierblätter werden umwickelt und in einem Schutzumschlag am Leib oberhalb der Gürtellinie getragen. Sie enthalten Wörter und Sätze aus dem Koran, neben Geheimzahlen, Zeichnungen, überlieferten Zaubermotiven, magischen Quadraten und nicht selten vom Träger selbst hergestellte und geheiligte Zeichen (vgl. Özek, 1994). Die Verwendung von A.en kann als eine autosuggestive kraftsteigenernde Maßnahme interpretiert werden und spielt in vielen Kulturen, so auch bei den Afrobrasilianern, im Gesundheitsverhalten eine bedeutende Rolle. !Abwehrmagie !Figa !Krankheitsvorstellungen !patu‚ E. A. W. Budge (1961): Amulets and talismans; L. Hansmann & L. Kriss-Rettenbeck (1966): Amulett und Talisman. München; L. Hansmann (1977): Amulett und Talismann. Erscheinungsform und Geschichte. München; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore Brasileiro. S¼o Paulo; A. & J. Knuf (1984): Amulette u. Talismane. Symbole des magischen Alltags. Köln; P. W. Schienerl (1992): Dämonenfurcht und böser Blick. Studien

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zum Amulettwesen. Aachen; M. Özek (1994): Traditionelle Heiler in Anatolien. Berlin; H. Stubbe (2012). Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; A. Epelboin et al. (2013): Un art secret: les ¦critures talismaniques de l’Afrique de l’Ouest. Catalogue. Paris

Anthropologie (O. Casmann, 1594/96) Einführung: Die umfassende Wissenschaft vom Menschen. Der Begriff A. geht bis in die Zeit des Humanismus zurück: der protestantische Humanist Otto Casmann (1562 – 1607) publizierte ein Buch mit dem Titel »Psychologia anthropologica« (1594/96) und gilt als Begründer der philosophischen A. In Frankreich, den angelsächsischen und südamerikanischen Ländern ist A. zugleich Ethnologie (etnologia). In der dt. Wissenschaftsgeschichte unterscheidet man die »biologische A. (Physische, Somatische, Naturwissenschaftliche A.)«, die »philosophische A.«, die »religiöse A. (theologische A.)«, die »Kultur-A.« und die »Psychologische A.«. Die »neue A.« (H. G. Gadamer, 1972ff) beabsichtigte die Isolation der Fächer zu überwinden und eine Zusammenschau aller Strömungen (Biologie, Sozial-, Geistes- und Kulturwis-senschaften) zu bieten. In den USA umfasst die »Anthropology« vier Subdisziplinen: die »Cultural Anthropology« (wozu auch die »Psychological A.« gehört), die »Physical Anthropology«, die »Linguistics« und die »Archaeology«. »Die Begriffe Anthropologie und Kulturanthropologie im Boas’ Sinne konnten sich in Deutschland nicht durchsetzen – unter A. verstand man die hier so wichtig genommene Forschung über die Beziehung von Rasse und Kultur. Erst in den letzten Jahren ist der amer. Sprachgebrauch auf diesem Gebiet in den dt. Sprachraum zurückgekehrt.« (DTV-Atlas Ethnologie, 2005:11). In Brasilien wird »etnologia« weitgehend mit »antropologia« gleichgesetzt. Man spricht hier z. B. von »antropologia social« (Sozialanthropologie) (zur Geschichte der Ethnologie in Brasilien, vgl. Baldus, 1954, 1968, 1984; Carneiro da Cunha, 1986; CorrÞa, 1987; Stubbe, 2007, 2012:158 – 160). Die Anthropologie und die Afrobrasilianer: Nicht nur die bras. »Indianer«, sondern auch die Afrobrasilianer, !»negros« nannte man sie damals, waren (rassen-)anthropologisch »falsch vermessene Menschen« (Gould, 1999). In ihrer wertvollen historischen Arbeit über »O espect‚culo das raÅas. Cientistas, instituiÅþes e quest¼o racial no Brasil 1870 – 1930« hat Lilia K. M. Schwarcz (1993) diese Geschichte der physischen (Rassen-) Anthropologie in Brasilien gründlich aufgearbeitet. In diesem Zusammenhang

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soll auch daran erinnert werden, dass sich zwei sehr einflußreiche frz. und usamer. Rassentheoretiker, nämlich Gobineau (1869) und Agassiz (1865/66), in Brasilien aufgehalten und darüber publiziert haben (vgl. Schemann, 1910:286; Raeders, 1997; Gould, 1999; Kümin, 2007). Gobineau charakterisiert z. B. die bras. Bevölkerung folgendermaßen: »Uma populażo toda mulata, com sangue viciado, esp†rito viciado e feia de meter medo« … »nenhum brasileiro ¦ de sangue puro; as combinaÅþes dos casamentos entre brancos, ind†genas e negros multiplicaram-se a tal ponto que os matizes da carnażo s¼o infflmeros, e tudo isso produziu, nas classes baixas e nas altas, uma degenerescÞncia do mais triste aspecto.« (zit. nach Raeders, 1997:39) (vgl. !Reiseberichte)

Cesare Lombroso (1836 – 1910) in Brasilien: Eine weitere Variante des europäischen Rassismus (vgl. z. B. Mosse, 1978; Saller, 1999) findet sich in Italien, das zwischen 1882 und 1900 sein afrikan. Kolonialreich aufbaut, in der damals sehr einflussreichen (auch in Brasilien rezipierten) kriminalanthropologischen und psychopathologische Schule um Cesare Lombroso (1836 – 1910). Lombrosos Konzeption stützte sich nicht nur auf die unbestimmte Behauptung, daß Verbrechen erblich sei, sondern auf eine besondere, auf anthropometrische Daten gestützte Evolutionstheorie, wonach Verbrecher und Verbrecherinnen (Prostituierte) eigentlich »Rückfälle der Evolution« (Atavismushypothese) seien. Lombroso vergleicht in rekapitulationstheoretischer Weise atavistische Verbrecher mit Tieren, Wilden und »Menschen niederer Rassen«. Das Kind ist für ihn ein vorgeschichtlicher Erwachsener, ein lebender Primitiver. Stephen Jay Gould hat in seiner lesenswerten Studie »Der falsch vermessene Mensch« (1999) die vielen Irrwege der quantifizierenden Rassen-Anthropologie und –Psychologie, auf der diese Konzeption basiert, bis in die Gegenwart klar herausgearbeitet. »Lombroso wagte sich auf das Gebiet der Ethnologie, um die Kriminalität als Normalverhalten unter tiefstehenden Völkern zu identifizieren. Er schrieb eine kleine Abhandlung (Lombroso, 1896) über das Volk der Dinka am oberen Nil. Darin sprach er von ihrer starken Tätowierung und ihrer hohen Schmerzschwelle – in der Pubertät werden ihnen die Schneidezähne mit einem Hammer ausgebrochen. Sie wiesen äffische Stigmata als normale Bestandteile ihrer Anatomie auf: ›Ihre Nase ist nicht nur abgeplattet, sondern dreiflügelig und ähnelt der von Affen.‹« (Gould, 1999:132) Diese kriminalanthropologischen Vorstellungen vom »degenerierten, angeborenen Verbrecher«, die mit der ital. Einwanderung nach Brasilien kamen (wie auch die ital. Freiheitsbewegung und der Anarchismus, vgl. z. B. Garibaldi), ließen sich leicht auf die !»negros« anwenden und haben lange Zeit nachgewirkt (vgl. Scis†nio, 1997:108 – 110; Lopes, 2006:47 f).

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Die Liga Brasileira de HigieneMental (LBHM): Auch die in den 20er Jahren des 19. Jh.s von brasilianischen Medizinern gegründete »Liga Brasileira de Higiene Mental« (LBHM) wirft ein deutliches Licht auf die medizin-anthropologische, biologistische und rassistische Konzeption der damaligen brasilianischen Medizin, insbes. der Psychiatrie. Im Angesicht der ökonomischen, sozialen und politischen Krisen Brasiliens der 20er und 30er Jahre waren auch Psychiater bemüht Interventionen vorzuschlagen, die eugenische und rassenhygienische Maßnahmen und Gedanken enthielten. Bereits im Jahre 1923 war auf Initiative des Psychiaters Gustavo Riedel die »Liga Brasileira de Hygiene Mental« (LBHM) gegründet worden (Riedel hatte noch im gleichen Jahr auf der Internationalen Ausstellung für Hygiene in Straßburg den großen Preis gewonnen). Ursprüngliches Ziel dieser Gesellschaft war die Verbesserung und Humanisierung der psychiatrischen Versorgung durch eine Neuschaffung psychiatrischer Institutionen und Dienste im Lande und eine Reformierung der Berufsausbildung im Bereich der Psychiatrie (vgl. Lopes, 1939). Ab 1925 gab die Liga bereits ein eigenes Publikationsorgan heraus, die »Archivos Brasileiros de Hygiene Mental«. Man kann feststellen, daß zu dieser Zeit die psychiatrische Elite Rio de Janeiros, möglicherweise ganz Brasiliens, der Liga angehörte (Costa, 1981). In ihrer ersten Phase (1923 – 1925) verfolgte die Liga das von Riedel entwickelte Programm, indem sie z. B. ein »Ambulatorium für die Prophylaxe der Geisteskrankheiten« (Colúnia do Engenho de Dentro, RJ), einen »Offenen Dienst für Psychopathen«, ein Laboratorium der Psychologie (vgl. Stubbe, 1987:125 – 128; 2001:206 – 223) und eine Schwesternschule schuf. Ab 1926 begannen dann die Psychiater der Liga ihre theoretischen Grundkonzepte zu verändern, indem sie sich immer stärker als (Sozial-) Hygieniker (higienistas) verstanden und ein stärkeres Gewicht auf die Prävention, Eugenik und individuelle Erziehung legten. Das eugenische Gedankengut, das auf den Engländer Francis Galton (1822 – 1911) zurückgeht, begann in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jh.s. die brasilianische Intelligenz immer stärker zu beschäftigen. Die Eugenik fiel in Brasilien auf einen fruchtbaren Boden, weil einige Psychiater dazu neigten, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die durch die Sklavenbefreiung (1888), die massive europäische Einwanderung, die wachsende interne Migration der ländlichen Bevölkerung und ehemaligen Sklaven in die Städte und die allmähliche Industrialisierung mit ihren sozialen Spannungen entstanden waren, klimatologisch und rassenpsychologisch zu erklären, indem sie behaupteten, daß sich die brasilianische Gesellschaft nicht harmonisch und höher entwickeln könnte, weil einmal die tropische Hitze und zum anderen die Vermischung mit »minderwertigen Rassen« (= »Indianern«, Afrikanern) das brasilianische Volk »faul«, »passiv«, »undiszipliniert« und »unintelligent« werden ließen (Costa, 1981;

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Stubbe, 1987; !Nationalcharakter !Sündenbockrolle). Da man aber unglücklicherweise gegen das Klima nichts unternehmen könne, komme es jetzt darauf an, die Rassenfrage im Sinn einer »Reinrassigkeit« bzw. eines »branqueamento racial« der brasilianischen Bevölkerung zu lösen (vgl. Skidmore, 1976). Die Eugenik war das biologistische Instrument, von der sich die Psychiater eine kulturelle Erneuerung der brasilianischen Gesellschaft erhofften. Autoren wie Oliveira Viana, Nina Rodrigues und Euclides da Cuhna hatten in diesem Sinne ideologische Vorarbeit geleistet. Politische Vorschläge der Liga gipfelten in der für Brasilen absurden !Apartheids-Forderung einer »Demokratie für die Weißen« und einer »Diktatur für die Schwarzen bzw. Farbigen« (vgl. Costa, 1981). Auf dem Boden einer vorwiegend biologistisch orientierten (Erb-) Psychiatrie machte man in der Folgezeit immer stärkere Anleihen bei der deutschen Rassenhygiene (vgl. Weingart et al., 1988; Beck, 1995) und Vererbungs-Psychiatrie (vgl. Costa, 1981). Ernani Lopes schlug z. B. in seinem Aufsatz »Menores incorrig†veis« (= unkorrigierbare Minderjährige, 1930) 3 prophylaktische Maßnahmen in diesen Fällen vor: 1. Kampf gegen den Alkoholismus und die Syphilis der Erzeuger 2. Verhinderung der Verbindung erblich belasteter Individuen 3. Segregation und Sterilisierung der Degenerierten gemäß der Entscheidung einer technischen Kommission. Der deutsche Erbpsychiater und Direktor des Kaiser-Wilhelm Institut für Psychiatrie (München) Ernst Rüdin (1874 – 1952) (der 1932 auf der Internationalen Vereinigung eugenischer Gesellschaften in New York zum Präsidenten gewählt wurde!) publizierte 1931 im »Arch. Bras. de Hygiene Mental« (IV) einen Aufsatz mit dem Titel »A significażo da eugenia e da eugenÞtica«, in dem er seine Konzeption der Eugenik und Erbgesundheitslehre darstellte. Seine Ausführungen basierten auf einem Vortrag, den er als führender deutscher Delegierter auf dem »First International Congress for Mental Hygiene« (Washington, 1930) hielt. Rüdin war im Dritten Reich maßgeblich an der Formulierung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (erlassen am 14. Juli 1933) beteiligt und erhielt zu seinem 65. Geburtstag die »Goethemedaille für Kunst und Wissenschaft« (zu Rüdin vgl. Wistrich, 1987; Weingart et al., 1988; MüllerHill, 1985; Saller, 1961; Stubbe, 2012:185ff). Ähnlich wie in der deutschen Rassenhygiene war auch in der Liga die Verwendung des Begriffes »Rasse« vieldeutig und verwirrend (vgl. etwa Melk-Koch, 1989:30ff). Man sprach von der !»raÅa« als »Menge der normalen Individuen« oder »Rasse des brasilianischen Volkes« oder »überlegenen/unterlegenen Rassen« etc. Die Liga engagierte sich vor allem in der Antialkoholbewegung und erhielt hierin Unterstützung von der Revolutionsregierung von 1930. 1931 wurde von

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dem Psychiater Renato Kehl eine »Comiss¼o Central Brasileira de Eugenia« geschaffen, zu deren Aufgaben das Studium und die Verbreitung eugenischer und erbbiologischer Fragen gehören sollte. Auch mit der Einwanderungsfrage beschäftigte sich die Liga, indem sie Vorschläge unterbreitete, welche ethnischen Gruppen für Brasilien »wünschenswert« seien und wie man sich vor psychisch kranken Einwanderern »schützen« könne (vgl. Oliveira, 1932). Die Sterilisationsfrage kollidierte, dies zeigte der Aufsatz des Neuropsychiaters Alberto Farani »Como evitar as proles degeneradas« (1931), mit der katholischen Morallehre. Die brasilianischen Eugeniker propagierten eine »Rassen- bzw. Kollektiv-Moral«, die der individualistischen katholischen Moral sowie den liberaldemokratischen Institutionen entgegengesetzt war. Costa (1981: 49, 51) stellt fest, daß die Ähnlichkeit des Denkens der Liga mit der psychiatrischen Ideologie des Nationalsozialismus außerordentlich groß war. Dies gelte sowohl für die dem Psychiater zugeschriebene Rolle als auch für die Funktion der Psychiatrie in der Gesellschaft. Der direkte Einfluß der deutschen Rassenhygiene auf die Liga läßt sich auch an den häufigen Zitaten deutscher Autoren wie E. Rüdin, F. Meggendorfer, H. F. Hoffmann etc. und der als modellhaft dargestellten neuen deutschen Gesetzgebung des Dritten Reiches ablesen (vgl. Nürnberger Gesetze vom 15. 9. 1935; Kühl, 1997; Stubbe, 2001:190ff).

Die Gegenwart: Die moderne biologische Anthropologie, die sich von den traditionellen »Rassenkonzepten« weitgehend gelöst hat, untersucht heute die brasilianische Bevölkerung mit Hilfe von DNA-Analysen, Blutgruppenuntersuchungen, Erbkrankheiten etc. (vgl. z. B. Freire-Maia, 1973; Bergmann, 1977; Azeredo, 1978; Internet: wikipedia.org/wiki/afro-brasileiros). In einer IBGE-Befragung aus dem Jahre 2008 in verschiedenen Bundesstaaten Brasiliens bezeichneten sich bzgl. ihrer !Hautfarbe (cúr) 49 % als »branco«, 21,7 % als !»moreno«, 13,6 % als !»pardo«, 7,8 % als !»negro«, 1,5 % als »amarelo«, 1,4 % als »preto«, 0,4 % als »ind†gena«, 4,6 % gaben andere Antworten. Als !»afrodescendentes« bezeichneten sich 21,5 % der Interviewten. Die bisher nicht repräsentativen und gesicherten genetischen bzw. DNAAnalysen ergaben für BrasilianistInnen keineswegs verwunderliche Ergebnisse. So fand man z. B. bei der bekannten Sportlerin Daiane dos Santos 40,8 % europäisches, 79,7 % subsaharisch-afrikanisches und 19,6 % amerindisches Erbgut oder bei der Schauspielerin Ildi Silva 71,3 % europ., 19,5 % subsaharischafrikanisches und 9,3 % amerindisches Erbgut. Die genetische Zusammenset-

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zung der Bewohnerinnen in den !Quilombos scheint bereits eine ähnliche Komposition gehabt zu haben. !Alkoholismus !Canudos !Folklore !Gesundheit !Hautfarben !interkulturelle Philosophie !»raÅa« !Rassismus !Reinheit !Reiseberichte ! Strafen !Vorurteile I. Kant (1798, 1983): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Stuttgart; N. Rodrigues (1898): Metissage degenerescente et crime. Archive d’Anthropologie criminelle (Lyon); L. Schemann (1910): Gobineaus Rassenwerk. Stuttgart; R. Martin (1914): Lehrbuch der Anthropologie in systematischer Darstellung. Jena; E. Roquette Pinto (1915): Anthropologia (Guia das ColleÅþes). Rio de Janeiro; Fr. da Rocha (s.d): Contribuiżo ao estudo da loucura na raÅa negra. Revista M¦dica de S¼o Paulo, 14; Roquette-Pinto (1933): Ensaios de antropologia brasileira. S¼o Paulo; A. Austreg¦silo (1933): A mestiÅagem como fator eugÞnico. Novos Estudos afro-brasileiros. Rio de Janeiro; L. Ribeiro (1938): Estudos biotipolûgicos de negros e mulatos brasileiros normais e delinquentes (Col. de W. Bernardinelli e J. Brown). Novos Estudos Afro-Brasileiros (RJ); M. J. Pourchet (1939): Contribuiżo ao estudo antropofisico da crianÅa de cúr. Bahia. Atas do XVII Congresso Internacional de Americanistas. M¦xico; International bibliography of social and cultural anthropology. 6 vol.s. Paris: UNESCO, 1955 – 1960; E. Th. Santana (1955): Higiene mental para o negro brasileiro. Anhembi (SP), 56; Fl. Fernandes (1958): A etnologia e a sociologia no Brasil. S¼o Paulo; W. E. Mühlmann (1968): Geschichte der Anthropologie. Frankfurt/ M.; M. Landmann (Hg.) (1962): De homine, 1962 (Bibliografie). Freburg/Brsg.; ders. (1969): Philosophische Anthropologie. Berlin (weitere Aufl.n); Cl. L¦vi-Strauss (1969ff): Strukturale Anthropologie. Frankfurt/M.; Y. de Oliveira (1970): Sobre o processo retroarticular em cr–nios de brancos, negros, mulatos e amarelos, em ambos os sexos. S¼o Paulo: USP-FFLCH; R. König & A. Schmalfuß (1972): Kulturanthropologie. Düsseldorf; Neue Anthropologie (Hg. H. G. Gadamer & P. Vogler), 7 Bd.e, 1972 – 75; Museu do AÅucar (Recife) (1972): Antropologia do aÅucar. Recife; N. Freire-Maia (1973): Brasil: Laboratûrio racial. Petrûpolis; Th. E. Skidmore (1974): Black into white: race and nationality in brazilian thought. New York; P. Mercier (1974): Histûria da antropologia. Rio de Janeiro; G. C. Leite Zazur (1976): Envolvimento de antropûlogos e desenvolvimento da antropologia no Brasil. Boletim do Museu do šndio (RJ), N8 4, abril, p. 1 – 9; M. Bergmann (1976): Nasce um povo. Estudo antropolûgico da populażo brasileira: como surgiu, composiżo racial, evolużo futura. Petrûpolis; G. Balandier (1976): Politische Anthropologie. München; J. Freire Costa (1976): Histûria da psiquiatria no Brasil. Rio de Janeiro; W. Rudolph & P. Tschohl (1977): Systematische Anthropologie. München; P. R. Azeredo (1978): Jos¦ Martins da Cruz Jobim: sua prioridade na percepżo de um distfflrbio hematolûgico heredit‚rio em negros escravos africanos. Mens‚rio do Arquivo Nacional (RJ), 9(1), p. 3 – 6; G. L. Mosse (1978): Rassismus. Königstein/Ts.; R. Girtler (1979): Kulturanthropologie. München; R. da Matta (1981): Relativizando. Uma introdużo — antropologia social. Petrûpolis; L. G. de Mello (1982): Antropologia cultural. Petrûpolis; R. Micela (1982): Antropologia e psican‚lise. S¼o Paulo; R. Vainfas (org.): Histûria e sexualidade no Brasil. Rio de Janeiro; M. A. Albite Ulrich (1983): Brancos e negros no Brasil, segundo M. Harris e outros autores. 2. partes, Veritas (Porto Alegre), 28 (111, 112), p. 313 – 328 e 435 – 454; Centro de Estudos Africanos (Coimbra) (1983): Angola. Os s†mbolos do poder

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na sociedade tradicional. Coimbra: Instituto de Antropologia; S. W. Mintz (1985): Die Zeit, der Zucker und das Süße. Zu Geschichte, Ökonomie und Bedeutung des süßen Geschmacks. Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium, 2, S. 85 – 95; A. M. de Queiroz Monteiro (1985): Castanho. Etnografia de um bairro rural de negros. Recife; M. Carneiro da Cunha (1986): Antropologia no Brasil. Mito-histûriaetnicidade. S¼o Paulo; M. CorrÞa (1987): Histûria da antropologia no Brasil (1930 – 1960). Testimunos: E. Willems, D. Pierson. S¼o Paulo; R. Ribeiro (1988): O negro na atualidade brasileira. Lisboa: Centro de Antropologia cultural e social; M. L. Tucci Carneiro (1988): Preconceito racial. S¼o Paulo (2.ed.); St. J. Gould (1988): Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt/M.; R. Vainfas (1989): Trûpico dos pecados: moral, sexualidade e Inquisiżo no Brasil. Rio de Janeiro; M. Harris (1989): Kultur-anthropologie. Ein Lehrbuch. Frankfurt/ M.; R. Andrews (1991): Blacks and whites in S¼o Paulo, Brazil, 1888 – 1988. Madison; Fr. Laplantine (1991): Antropologia da doenÅa. S¼o Paulo; P. A. Lovell (ed.) (1991): Desigualidade racial no Brasil contempor–neo. Belo Horizonte; N. do Valle Silva & C. A. Hasenbalg (1992): RelaÅþes raciais no Brasil contempor–neo. Rio de Janeiro; D. J. Hellwig (ed.) (1992): African-American reflections on Brazil’s racial paradise. Philadelphia; C. Mendes Ribeiro (1993): Apresentażo de Darcy Ribeiro na Academia Brasileira de Letras. Bras†lia; L. M. Schwarcz (1993): O espect‚culo das raÅas. Cientistas, instituiÅþes e quest¼o racial no Brasil 1870 – 1930. S¼o Paulo; dies. (1998): Histûria da vida privada no Brasil. S¼o Paulo; G. Raeders (1997): O conde de Gobineau no Brasil. S¼o Paulo; St. Kühl (1997): Die Interrnationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internat. Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jh. Frankfurt/M.; D. Baker Lee (1998): From savage to negro: Anthropology and construction of race (1896 – 1954). Berkeley ; H. Kaupen-Haas & Ch. Saller (Hrsg.) (1999): Wissenschaftlicher Rassismus. Eine Kontinuität in den Humanund Naturwissenschaften. Frankfurt/M.; U. Frevert & H. G. Haupt (Hrsg.) (1999): Der Mensch des 20. Jh.s. Frankfurt/M.; IBGE (2000): 500 anos povoamento. Rio de Janeiro; H. Stubbe (2001) : Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn ; G. W. Stocking (2004) : A formażo da antropologia americana (1883 – 1911). Rio de Janeiro ; DTV-Atlas Ethnologie. München, 2005 ; D. Ribeiro (2006) : O povo brasileiro e o sentido do Brasil. S¼o Paulo; B. Kümin (2007): Expedition Brasilien. Zürich; M. del Priore (2011) : Histûrias †ntimas. Sexualidade e erotismo na histûria do Brasil. Teresina: Planeta; H. Stubbe (2012) : Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; Internet: Wikipedia (!afro-brasileiros); Brazilian Journal of Medical and Biological Research (2011): DNA-tests probe the genomic ancestry of brazilians

Antirassistisches Training Trainingsprogramme, die das Ziel verfolgen ihre Teilnehmer für das Problem der rassistischen Diskriminierung im Alltag zu sensibilisieren. Der Alltag in D und in vielen gegenwärtigen pluriethnischen Gesellschaften ist von rassistischen Faktoren durchsetzt, die in der Kinderkultur (z. B. Lieder, Spiele etc.), der Sprache, den Schulbüchern, der Arbeitswelt, den Medien, den Reden von Politikern, bis hin zum institutionalisierten !Rassismus zum Ausdruck kommen

Antirassistisches Training

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und teilweise den Akteuren gar nicht voll bewusst sind. Antirassistische Trainings richten sich vor allem an Einzelpersonen (wenn auch in Gruppen durchgeführt) und bearbeiten weniger den institutionellen oder sog. wissenschaftlichen und strukturellen Rassismus. Den antirassistischen T.s und Workshops liegen verschiedene Modelle zugrunde: Wird Rassismus als Folge von Sozialisation betrachtet, so wird eine Bewusstmachung der lebensgeschichtlichen Sozialisations- und Konditionierungsbedingungen ange-strebt. In diesem Sinne möchte die Holländerin Anja Meulenbelt (1988:26) erreichen, »daß wir uns unserer Sozialisation stärker bewusst werden und unsere Aufmerksamkeit stärker darauf richten, wie wir miteinander umgehen.« Im »Antirassismus-Training« von van den Broek (1988), das auch in D rezipiert wurde, werden Möglichkeiten gesehen, »um Rassismus auch auf der Bewusstseinsebene anzupacken und dadurch eine wirksamere und langfristigere Veränderung zu bewirken. Eine Befreiung von Rassismus muß primär davon ausgehen, daß rassistisches Verhalten auf Konditionierung beruht.« (Broek, 1988:99; zur Kritik an diesem Ansatz vgl. Varela, 1997:243ff) Wird Rassismus als individuelle Einstellung bzw. !Vorurteil angesehen, werden Einstellungsränderungsseminare durchgeführt mit vorheriger und nachfolgender Einstellungsmessung zur Kontrolle der Wirksamkeit. Rassismus kann auch als ein »Krankheitssymptom der Mehrheitsgesellschaft« angesehen werden, dann wird im Rahmen von »Racism AwarenessProgrammen« die antirassitische Arbeit auf die Mehrheitsangehörigen beschränkt. Es geht bei diesem Ansatz ausdrücklich um eine Änderung des Verhaltens. Diese soll erreicht werden durch eine »sukzessive Bewusstmachung der Diskrepanz zwischen a. Kenntnissen über die Minderheit und den realen Fakten, b. den Fakten und den Einstellungen, c. den Einstellungen und dem Verhalten. Angeschlossen wird dieser Prozeß der Bewusstmachung durch Einübung in Fertigkeiten zur Überbrückung der festgestellten Diskrepanzen.« (Kongidou & Tsiakolos, 1992:68). Diese Vorgehensweise erinnert an die kognitive Verhaltensmodifikation der Depressionen bei der sog. negative Gedanken schrittweise durch rationalere und positivere ersetzt werden. Rassismus erfährt hier also eine ähnliche Behandlung wie psychische Störungen (zur Kritik vgl. Varela, 1997). Die US-Amerikanerin Jane Elliott entwickelte ein Diskriminierungs-Selbsterfahrungs-Gruppen–Programm »Blaue Augen« (»blue eyed«, auch als Film erhältlich!), das sie in Betrieben einsetzt und bei dem eine Teilnehmergruppe von den übrigen Gruppenmitgliedern aktiv wegen bestimmter körperlicher Merkmale z. B. blauen Augen diskriminiert wird. R. Schmitt (1979) hat ein »problem-orientiertes Rollenspiel« entwickelt, in dem z. B. die Benachteiligung eines Migranten/afrobras. Kindes beim Spielen dargestellt werden soll. Auch (einzel- und gruppen-) psychotherapeutische Verfahren können in modifizierter Form in der antirassistischen Arbeit eingesetzt werden. Ein ge-

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lungener bibliotherapeutischer Ansatz stellt T. B. Jelloun’s frz. Buch »Papa, was ist in Fremder?« dar, das zur Pflicht- und Diskussionslektüre in Schulen werden sollte. Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Deutsche Sportjugend haben einen nützlichen Sprechbaukasten »Kontra geben« (2002) entwickelt, der zum Ziel hat, daß die Teilnehmer sicher und gekonnt reagieren lernen, wenn rassistische und menschenverachtende Sprüche die Runde machen. Die Lernenden werden über kurze Videospots aus ihrem Alltag an Problemfelder herangeführt und können mit ihrer Sprache mittels Kopfhörer und Mikrofon in das Geschehen eingreifen. In der in Deutschland und Brasilien noch selten in die Praxis umgesetzten antirassistischen – interkulturellen Pädagogik könnten folgende Ziele verfolgt werden: Förderung der Toleranz, Erziehung zu Empathie und Solidarität, zum interkulturellen Respekt und gegen Nationaldenken, Akzeptanz einer kulturellen Vielfalt und kultureller Unterschiede, Aufklärung über institutionellen und alltäglichen Rassismus, Erkennen des eigenen Ethnozentrismus, der eigenen kulturellen Befangenheit im Denken und Handeln, Wecken eines politischen Bewusstseins und Identifizierung ideologischer Botschaften in den Medien, Trivialliteratur, Wissenschaft etc., Hinführung zu reflektiertem, kritischen Denken, Erkennen von Rahmenbedingungen, die Rassismus hervorbringen und Lösungsmöglichkeiten, diese zu verändern, Sprach- und Kulturpluralismus als Bereicherung erfahren, Aufwertung von Sprache und Kultur der in Brasilien/ Deutschland lebenden Minoritäten, Einübung vernünftiger Formen der Konfliktbewältigung, Hereinnahme von Elementen fremder Kulturen in den Unterricht, um die lebendige Begenung mit fremden Kulturen zu ermöglichen, Vorurteile abbauen und den Umgang mit fremden Kulturen selbstverständlich werden lassen und Berührungsängste abzubauen, sowie den Kindern und Jugendlichen von Minderheiten den Wert ihrer eigenen Kultur und Sprache zuzugestehen, multi-perspektivische Bildung quer zu den Fächern sowie die Verknüpfung von Themen wie Migration, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus mit Themen wie »Unterentwicklung«, »Dritte-Welt«, Globalisierung, Nord-SüdKonflikt oder kapitalistische Wirtschaftsordnung. !Diskriminierung !Menschenrechte !»raÅa« !Rassismus !Sozialpsychologie !Stereotype !Vorurteile R. Schmitt (1979): Kinder und Ausländer. Einstellungsänderungen durch Rollenspiel. Eine empirische Untersuchung. Braunschweig; E. Balibar (1989): Gibt es einen »neuen Rassismus«? Das Argument, 175; DIR (Hrsg) (1995): Rassismus und Menschenrechte; M.del M. C. Varela (1997): Psychologie und Antirassismus, In: P. Mecheril & T. Teo (Hrsg.), Psychologie und Rassimus. Reinbek; K. Weber (1997): Kann Psychologie zur Überwindung des Rassismus beitragen? In: P. Mecheril & T. Teo (Hrsg.), Psychologie und Rassi-

Apartheid (engl. apartness = Trennung, Auseinanderhalten)

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mus. Reinbek; B. Kossek(Hg) (1999): Gegenrassismen. Hamburg; T. B. Jelloun (2000): Papa, was ist ein Fremder? Gespräch mit meiner Tochter. Reinbek (frz. Ausg.); S. Schlüter (2004): Villigster Trainingshandbuch zur Deseskalation von Gewalt und Rassismus. Bochum; Internet: www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr335.htm www.antirassismus-training.de www.freudenbergstiftung.de/html/antirassismustraining.htm http://europa.eu.int/comm/dg10/publications/jeunes/raciste_de.pdf www.kontra-geben.de

Apartheid (engl. apartness = Trennung, Auseinanderhalten) A. hat sich im internationalen Sprachgebrauch als Fachausdruck zur Beschreibung der staatlich verordneten Trennung verschiedener (»rassischer«, ethnischer) Bevölkerungsgruppen durchgesetzt. A. wird auch auf alle Fälle von staatlicher Rassendiskriminierung angewendet (vgl. Rassentrennung in den USA bis 1964). Das Wort A. stammt aus dem Afrikaans, der Sprache der Buren Südafrikas, und war spätestens seit der Konstitution der Südafrikanischen Union (1910) bis 1994 das grundlegende Prinzip der weißen Regierungpolitik in Südafrika. Die A. wurde 1949 zur offiziellen Staatspolitik erhoben und durch eine Fülle von Gesetzen abgesichert z. B. der berüchtigte »Population registration act« (1950) oder der »Prohibition of mixed marriages act« (1949) (bereits seit 1927 waren intime Beziehungen zwischen den »Rassen« verboten; Immorality Act). Vom Amt für Rassenklassifizierung wurde jeder Bürger Südafrikas in eine der definierten Bevölkerungsgruppen eingestuft: »Weißer«, »Asiat«, »Farbiger«, »Schwarzer«. So gab es im Alltag Südafrikas nach »Rassen« getrennte Schulen, Kirchen, Universitäten, Toiletten, Wasserhähne, Restaurants, Busse, Brücken etc. (»Kleine A.«) Die ideologischen Wurzeln der A. finden sich in der christlichen Religion und den biologischen Rassenlehren des 19. Jh.s. Die evangelische und niederländische Kirche (NGK) in Südafrika verfolgten eine ähnliche Trennung ihrer Gläubigen. In Brasilien hatten die Holländer während ihrer Kolonialzeit im Nordosten Brasiliens (1630 – Frieden von Den Haag, 1661) bereits das A.– Prinzip in ihren Grund-Schulen (die übrigens auch für afrikan. Sklaven eingerichtet wurden) praktiziert (vgl. z. B. Guerra Duarte, 1986:89; Niskier, 2001). In Brasilien gab es zwar keine staatlich und ideologisch-politisch organisierte A. wie in Südafrika (bis 1994), Nei Lopes (2006:21) weist aber zu Recht darauf hin, dass es sehr wohl eine nicht offizielle und nicht direkt wahrnehmbare Trennung zwischen Weißen und Afrobrasilianern gibt und gab.

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!Empregada dom¦stica !Favela !Gesellschaft !»raÅa« !»Rasse« ! Rassismus !Vorurteile C. Gonz‚les (1985): Sobre los hombros ajenos. La Habana; S. Guerra Duarte (1986): Dicion‚rio brasileiro de educażo, Rio de Janeiro; Niskier (2001): Educażo Brasileira 500 anos de histûria. Rio de Janeiro; RaÅa Brasil, n8 93, dez., 2005; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S.49 f; Film: Schrei nach Freiheit (DVD, GB, 1987); Mississippi Burning (DVD, USA, 1988)

Assimilation Einführung: Unter A. versteht man die soziale oder kulturelle Angleichung eines Individuums oder einer Gruppe an die soziale oder kulturelle Umgebung durch Übernahme ähnlicher Verhaltens- und Erlebensweisen, Einstellungen, Wertorientierungen, Kleidung, Sprache etc. A. kann als aufgezwungene (ideologisch erwünschte), notwendige (aber nicht zureichende, wie im Falle der sog. assimilierten Juden in Deutschland und Österreich vor 1933) oder freiwillige Bedingung angesehen werden für die Verschmelzung von Minoritäten mit ihrer sozialen und kulturellen Umwelt. A. wird im öffentlichen Diskurs häufig mit Integration verwechselt. Eigentlich sollte unter A. nur die volle oder teilweise A. einer unterlegenen Gruppe an die dominante Kultur verstanden werden. Volle A. fällt mit dem völligen Verlust früherer kultureller Identität zusammen Die Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen der sog. Dritten Welt haben die meisten Regierungen veranlaßt ihre Minderheitenpolitik in Richtung einer ethnisch-linguistischen Autonomie zu verändern. Die moderne Ethnologie und Psychologische Anthropologie plädiert für die Anerkennung, die Toleranz und die Bewahrung und Förderung der kulturellen Verschiedenheit und Vielfalt d. h. für die »Einheit der Menschheit in der Vielfalt der Kulturen« (Koepping). Jabutikaba oder »preto de alma branca«: Eine bestimmte A.form unter den Afrobrasilianern nennt man »jabuticaba« oder »preto de alma branca«. Außen »Schwarzer«, innen »Weißer«! Die Frucht des Jubutikababaumes (myricaria cauliflora) ist eine tropische Frucht, die von Konrad Sehrwald (Joinville) in seinem Werk »Das Obst der Tropen« (1908/09) folgendermaßen beschrieben wird: »Der Jabutikababaum besitzt einen niedrigen , glatten, weißlichen Stamm, wächst wie ein Strauch und wird sehr alt und sehr groß; seine Blätter sind klein und elliptisch; die kleinen weißen Blüten

Aufstände und Rebellionen (auch: insurreições, rebeliões, revoltas)

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erscheinen am Stamm und an den dickeren Ästen; ihnen folgen schwarze, kugelige Früchte nach, die so groß wie Kirschen werden. Unter der dünnen Schale der Jabutikabafrucht liegt ein sehr saftreiches, weißliches Fleisch, das nach dem Kern in der Mitte zu sehr faserig wird.« In einem ausführlichen Interview hat der bekannte Soziologe Florestan Ferrnandes (*1920) das Thema »A classe m¦dia e os mulatos: A quest¼o ›Negros de alma branca‹« ergiebig behandelt. !Akkulturation !Gesellschaft !Migration !»mulata« K. Sehrwald (1908/09): Das Obst der Tropen. Berlin; Fl. Fernandes (1989): Significado do protesto negro. S¼o Paulo, p. 65 – 76; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Aufstände und Rebellionen (auch: insurreições, rebeliões, revoltas) Die !Geschichte der Afrobrasilianer ist vor allem während der Sklavereizeit von einer Vielzahl von Rebellionen und Aufständen durchzogen. Die bekanntesten waren »A Confederażo de Palmares« (Pernambuco und Alagoas), die »Revolużo dos Alfaiates« (Bahia) (1798), der »Levante do Engenho da Vitûria« (Bahia) (1827), die »Revolta de Carrancas« (MG) (1833), die »Revolta dos MalÞs« (Bahia) (1835)(mit einigen Vorläufern seit 1807), die »Insurreiżo de Manuel Congo« (Rio de Janeiro) (1838), der »Movimento do Preto Cosme« (Maranh¼o) (1840), die »Revolta do Quebra Quilos« (Para†ba) (1874) und die »Revolta da Chibata« des mutigen Seemannes Jo¼o C–ndido (1880 – 1969) (Rio de Janeiro, 1910). Insbesondere die islamisierten (und oftmals alphabetisierten) Sklavengruppen führten gut organisierte A. und R. durch. Der Islam war seit dem 7. Jh. in Afrika stärker verbreitet worden. Nach Brasilien kam der Islam (»isl¼ negro«) vor allem mit den »malÞs« (vgl. Scis†nio, 1997:241; Lopes, 2006:83; N’Diaye, 2010). Auch in anderen Regionen der Welt gab es A. der Unterdrückten und R. Hobsbawn (1978) hat dieses Thema der »Sozialrebellen« im 19. und 20. Jh. eindrucksvoll monografisch behandelt. !Anhang !Biografien !Canudos !Geschichte !Palmares !Quilombo ! Reiseberichte !Sklaverei !Soldaten !Suizid A. Jurema (1935): InsurreiÅþes negras no Brasil. Recife; R. Ot‚vio (1942): A Balaiada. Rio de Janeiro; A. Duarte (1958): Negros muÅulmanos nas Alagoas – os malÞs. Maceiû; J. A. Goulart (1972): Da fuga ao suic†dio. Aspectos de rebeldia dos escravos no Brasil. Rio de Janeiro; Cl. Moura (1972): Rebeliþes da senzala, quilombos, insurreiÅþes, guerrilhas. Rio de Janeiro; ders. (1986): Os quilombos e a rebeli¼o negra. S¼o Paulo (6. ed.); D. Ramos (1976): Social revolution frustrated: The Conspiracy of the Tailors in Bahia (1798). LusoBrazilian Review (Madison), 13(1), p. 75 – 90; D. Freitas (1976): InsurreiÅþes escravas. Porto Alegre; ders. (1985): A revolużo Farroupilha: Histûria e interpretażo. Porto

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Alegre; ders. (1982): Palmares – A guerra dos escravos. Rio de Janeiro; G. I. Joffily (1976): O Quebra-Quilo. A revolta dos matutos contra os doutores (1874). Revista de Histûria (SP), 54(107), p. 69 – 145; A. Figueiredo (1978): O negro e a violÞncia do branco. Rio de Janeiro; R. Vieira da Cunha (1978): Escravos rebeldes em Porto Alegre. Mens‚rio do Arquivo Nacional (RJ), 9(8), p. 9 – 14; E. Hobsbawn (1978): Rebeldes primitivos. Estudos de formas arcaicas de movimentos sociais nos s¦culos XIX e XX. Rio de Janeiro (2. ed.); E. Morel (1979): A revolta da chibata (1910). Rio de Janeiro; E. Larkin Nascimento (1980): Pan-Africanismo na Am¦rica do Sul. EmergÞncia de uma rebelli¼o negra. Petrûpolis; D. Freitas (1981): Palmares, a Guerra dos escravos. Rio de Janeiro; Cl. Moura (1983: Os voluntarios da p‚tria. S¼o Paulo; A. do Nascimento (1982): O negro revoltado. Rio de Janeiro; M. J. Vilela Santos (1983): A Balaiada e a insurreiżo de escravos no Maranh¼o. S¼o Paulo; E. D. Genovese (1983): Da rebeli¼o — revolużo. S¼o Paulo; M. C. Fagundes (1985): Histûria da revolużo Farroupilha. Caxias do Sul-Porto Alegre; D. Freitas et al. (1985): A revolużo Farroupilha: histûria e interpretażo. Porto Alegre; J. Lee Allen (1987): Tailors, soldiers and slaves: the InconfidÞncia Baiana (1798). Madison: University of Wisconsin; J. L. Pinaud et al. (1987): Insurreiżo negra e justica. Paty do Alferes (1838). Rio de Janeiro; J. J. Reis (1987): Rebeli¼o escrava no Brasil. A histûria do levante dos malÞs (1835). S¼o Paulo; P. Martin (1988): Das rebellische Eigentum. Reinbek; J. J. Chiavenato (1988): As lutas do povo brasileiro do »descrobrimento« a Canudos. S¼o Paulo; Cl. Moura (1989): Histûria do negro brasileiro. S¼o Paulo; M. Araffljo (1994): Insurreiżo de escravos em Viana (1867). S¼o Luis; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; T. N’Diaye (2010): Der verschleierte Völkermord. Reinbek

Ausgrenzung (K. Dörner)(auch: Exklusion) Aus der Sozialpsychiatrie entnommener Begriff, der sich auch in der Kultur- und Sozialanthropologie heuristisch anwenden läßt. Unter A. versteht man den in vielen modernen Gesellschaften zu beobachtenden Vorgang, daß alle als »anormal«, »abnorm«, »marginal«, »verrückt«, »sittenlos«, »arbeitsuntüchtig«, »minderwertig«, »gesetzlos« etc. bewerteten Menschen »ausgeschieden« und in eigenen Institutionen (oftmals »totalen Institutionen«, »Asyle« nach Goffmann) verwahrt werden: Bettler, Vagabunden, Homosexuelle, Besitz- und Arbeitslose, Verbrecher, politisch Oppositionelle, Geisteskranke, Huren, Alkoholiker, Sonderlinge, Fremde, ethnische !Minderheiten etc. In totalitären, aber auch in kolonialen Gesellschaften, werden diese Menschen oftmals »durch Zwangsarbeit bzw. !Sklaverei vernichtet« oder (in)direkt getötet. !Diskriminierung !Exklusion !Genozid !Kolonialismus !Segregation ! Sozialpsychologie P. Singer (1995). Um mapa da exclus¼o social no Brasil. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

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Baianas: Die Acarajé-Verkäuferinnen Die Baianas, die afrobrasilianischen Garküchen-Verkäuferinnen von afrobrasilianischen Leckereien, spielen in Brasilien eine wesentliche kulturelle Rolle. Unter »Baianas« ist dreierlei zu verstehen: Frauen, die im Bundestaat Bahia geboren wurden, traditionelle Straßenverkäuferinnen und die bei populären Festen, wie beispielsweise in jeder Escola de Samba (=Samba-Schule) während des Karnevals sich mit dem Kostüm der in die afrobrasilianischen Religionen Eingeweihten Bekleideten. Jeder Tourist, der die Südost- und Nordost-Regionen Brasiliens bereist, begegnet diesen Frauengestalten insb. in den Zentren der Großstädte. Kulturgeschichtlich gesehen ist die Entstehung dieser Straßenverkäuferinnen in der weiblichen afrikanischen Sklaverei zu suchen, die Entstehungsquelle vieler brasilianischer Institutionen. Als freigewerbliche Sklavinnen (=»escravas de ganho«) mußten viele Frauen das Einkommen ihrer Besitzer aus dem Straßenverkauf erwirtschaften: Sie verkauften Wasser, Obst, Gemüse, Heilkräuter, religiöse Gegenstände, Speisen und sogar ihren eigenen Körper. Trotz der Modernisierung des Landes blieben diese Frauen in ihrer afrikanischen bzw. afrobrasilianischen Tradition gleichsam als ein Relikt im Straßenbild erhalten. Die Baianas sind gegenwärtig in verschiedenen Städten Brasiliens zu finden und nicht ausschließlich im Bundesstaat Bahia, wo sie ursprünglich entstanden und daher ihre Bezeichnung erlangten. Die Tätigkeit als Baiana ist eine reine weibliche. Diese Frauen stammen aus den niedrigen sozio-ökonomischen Schichten des Landes und haben als einzig festes Einkommen den Straßenverkauf, womit sie ihre mehrköpfige Familie, in der Regel als Alleinstehende, unterhalten. Nicht selten kann man beobachten, daß sie auf den Straßen mit ihren kleinen Kindern arbeiten. Baianas unterscheiden sich von anderen Straßenverkäuferinnen u. a. aufgrund ihrer besonderen Bekleidung, obwohl sie sich die prachtvollen Kleider für die tägliche Arbeit finanziell oftmals nicht mehr leisten können. Diese bleiben dann für die religiösen Festtage reserviert. Weiterhin wird aber die

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traditionelle Bekleidung in ihren Teilen beibehalten. Im allgemeinen ganz in weiß oder mit der Farbe ihres entsprechenden Heiligen/orix‚, tragen die Baianas einen TorÅo um den Kopf – wir fangen hier mit dem Kopfteil an, da dieser in den afrobrasilianischen Religionen als der wichtigste Körperteil betrachtet wird – der wie ein Turban stilvoll gewickelt und gebunden wird. Die Tradition einen »TorÅo« bzw. einen Turban zu verwenden, der in Brasilien ausschließlich von Frauen, insb. Afrobrasilianerinnen getragen wird, stammt von den islamisierten afrikanischen Sklaven her, die hauptsächlich als ethnische Gruppen der Mandigo und Hauł nach Brasilien kamen (vgl. Scis†nio, 1997:166,242). Als magischreligiöse Komponente stecken die Baianas hinter das linke Ohr ein Blatt der Heilpflanze Raute (=»falho de arruda«), die sie gegen den !Bösen-Blick (=»mau olhado«) schützen soll. Außerdem tragen sie eine Bata (= Bluse), die bestickt oder mit Spitzen besetzt ist und über dem Rock hängt; darunter ein kragenloses Unterhemd (=»camiseta de crioula«). Der Rock überdeckt in der Regel mehrere andere, die steifgestärkt sind (=»engomados«), und darunter versteckt sich schließlich noch eine knielange, spitzenverzierte Unterhose. Die Funktion dieser Unterhose ist zweierlei. Einerseits soll sie den Frauen erlauben bei ihrem ständigen Bücken und im Sitzen sich frei zu bewegen, ohne daß ihre Unterwäche zum Vorschein kommt. Anderseits wird diese Unterhose in den afrobrasilianischen Religionen ausschließlich von Frauen getragen, die männliche orix‚s inkorporieren, da diese in ihren heftigen Bewegungen und während des Tanzens den Unterkörper der Frauen bloß stellen könnten. Die Straßenverkäuferinnen tragen auch Sandalen. Diese Bekleidung wird bei religiösen Zeremonien durch eine Art Stola (=»pano da costa«) ergänzt. Dies ist ein mehrfach gewebtes breites Tuch, das die !Medien über beide oder nur über eine Schulter tragen, je nach Stellung der Frau in der Kultgemeinschaft. In solchen Situationen sind sie meistens barfuß. Ergänzt und verschönert wird ihre Tracht noch durch den prächtigen Schmuck. Die Baianas tragen zahlreiche Halsketten in den Farben ihrer Orix‚s und Armreifen aus Silber oder Messing. !Bfflzios (=Kaurimuscheln) und eine !Figa sind ebenso unerläßliche Bestandteile ihres Schmuckes, der als Schutz gegen negative Einflüsse dienen soll. Zu der Funktion einer Straßenverkäuferin-Baiana gehört außer ihrer Verkaufstätigkeit ihre religiöse Gebundenheit. Die meisten Baianas sind Angehörige des !Candombl¦s oder andere afrobrasilianischer Religionen. Sie können angesehen werden als diejenigen, die seit der Sklavereizeit durch ihre unkontrollierbare Beweglichkeit im städtischen Raum als Hauptträgerinnen des religiösen Wissens in den Städten fungierten. Aufgrund ihres Handels und ihrer Gemeindekontakte, wurde beispielsweise insbesondere in Bahia der »culto dos ancestrais« (=!Ahnenkult), die »curanderias« (=Heilkunst) und die »rezas« (=!Gebete) in diesem Bereich aktiviert. Diesen Frauen kann somit die wesentliche Rolle der kulturellen Umstrukturierung und Erhaltung der afrikani-

Baianas: Die Acarajé-Verkäuferinnen

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schen !Kultur im Stadtraum zugeschrieben werden. Ihre religiöse Funktion haben sie bis heute beibehalten, obwohl es bereits Baianas gibt, die zu den protestantischen Religionen übergetreten sind, aber ihre Erwerbstätigkeit als »Baiana« weiterführen. Dennoch bieten viele Baianas »Ratschläge und Deutungen an, sie vereinbaren Termine für Säuberungsrituale, sogenannte Limpezas. Damit übernimmt die Baiana an ihrem angestammten Platz, ihrem Ponto, vor allem die ältere, die Mae de Santo, wieder eine Funktion, die ihrer ursprünglichen Stellung innerhalb der Sippe am nächsten kommt.« (Buettner, 1985:13). Ihre religiöse Aktivität beschränkt sich nicht nur auf die Gemeindearbeit, sie betrifft wesentlich ihren eigenen Alltag: Eine Baiana verläßt nie das Haus bevor sie bestimmte Gebete und magische Handlungen für den erfolgreichen Verkauf ihrer Waren und für den eigenen Schutz auf der Straße verrichtet hat.

Abb. 1: Baianas Quelle: Santos-Stubbe, 2001: 75

Was befindet sich auf dem Tabuleiro der Baiana? Der Tabuleiro, das Tablett, auf dem die Baianas ihre Quitutes ausstellt, besteht ausschließlich aus Speisen der afrikanischen/afrobrasilianischen !Küche). Es sind beispielsweise Acaraj¦, Vatap‚, Abar‚, gebratene Fische, dazu Soßen und Salate sowie Süssigkeiten wie cocada (branca e morena), cuscuz, quindim, etc.

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Diese Speisen werden mit DendÞ-Öl und über Holzkohle frisch gegrillt, obwohl aufgrund des Kulturwandels heute viele Baianas ihre Garküche bereits mit Gas betreiben. Viele Gerichte der brasilianischen Küche, die auch von den Baianas verkauft werden, haben afrikanische Namen und sind an der Westküste Afrikas immer noch zu finden. Nei Lopes (2006:25 f) hebt hervor, dass die Kleidung der b. sich von der Bekleidung der »escrava de ganho« in der Kolonialzeit herleitet und dass sie in stilisierter Form von Carmen Miranda in den 40er Jahren des 20. Jh.s verbreitet und damit zum typischen Bild der bras. !Frau überhaupt wurde. !Fluxus und Refluxus !Küche E. R. von Buettner (1985): Baianas. Priesterinnen der Straße. St. Gallen; J. Muniz jr. (1988): Baiana, uma tradiżo negra. Leopoldinum (Santos), 15(42), p. 37 – 42; A. E. Sicis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; Ch. dos Santos-Stubbe (2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef: DSE (2. Aufl.); N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afrobrasileiro. S¼o Paulo

Banzo – Ein kulturgebundenes Syndrom der Sklavereizeit Die afrikanischen Sklaven waren seit Beginn des 16. Jahrhunderts in Brasilien dazu bestimmt, die »†ndios« zu ersetzen, welche der Zwangsarbeit auf den Zuckerrohrplantagen physisch, sozial und psychisch nicht gewachsen waren. So trat neben der portugiesischen und indianischen die dritte Hauptwurzel der neobrasilianischen Kultur in Erscheinung. In Extremfällen reagierten die afrobrasilianischen Sklaven auf ihre menschenunwürdige Situation kollektiv mit Widerstand, !Aufständen und Rebellionen und individuell mit Mord, Flucht, !Suizid und »banzo«. Daß es dauernd zu Fluchtversuchen kam, obwohl die Aussicht auf Erfolg gering war (es gab nämlich eigens auf das Einfangen entlaufener Sklaven spezialisierte »capit¼es do mato«, vgl. Scis†nio, 1997:84 f, 287,307), zeigt wie sehr die Sklaven unter ihrem elenden Dasein litten. Die erbarmungslosen !Strafen, die man an entlaufenen Sklaven vollzog, Folterung, Verstümmelung und qualvolle Exekution hatten nur wenig abschreckende Wirkung. Das Äußerste, was sich ein Sklave von der Flucht erhoffen konnte, war, daß es ihm gelingen würde, sich ins Hinterland durchzuschlagen und sich einem !»Quilombo«, d. h. einer Fluchtburg geflohener Sklaven anzuschließen. Die bisherige Historiographie hat die (sozial-)psychologischen und -psychopathologischen Aspekte der !Sklaverei in Brasilien bisher stark vernachlässigt und sich vor allem den ökonomischen, ethnologischen, rechtlichen, sozialstatistischen und sozialhistorischen Aspekten zugewandt. So blieb bisher auch ein Phänomen relativ unbeachtet, das schon in den frühen (Reise-)Berichten auftaucht und bereits die Sklavenhändler stark beunruhigte: »Banzo«.

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Etymologisch entstammt das Wort »banzo« dem Kimbuno-Wort »mbanza«, gleichbedeutend mit »Dorf«, »Siedlung der afrikanischen ›Negros‹« (da Cunha, 1982: 97). MendonÅa definiert in seinem Lexikon der !Afrobrasilianismen: »em quimbundo mbanza ¦ aldeia e da† pensamos ter vindo banzo, saffldade da aldeia e, por extens¼o, da terra natal. ›Uma mol¦stia estranha, que ¦ a saffldade da p‚tria, uma esp¦cie de loucura nost‚lgica, suic†dio forÅado, o banzo, dizimaos pela inaniżo e fastio, ou os torna ap‚ticos e idiotas‹ (Joao Ribeiro, 1929, p‚g. 248).« (MendonÅa, 1948: 198). Senna (1952: 29) faßt in seinem »Estudo histûrico-cl†nico das doenÅas que afetavam o gentio e o negro« banzo als »Nostalgie oder morbide Traurigkeit des afrikanischen Sklaven, als einen Zustand körperlicher Depression, der im äußersten zum Suizid infolge allmählicher Auszehrung und völliger Apathie führt.« Der Psychiater Lucena (1968:8) leitet das Wort von banzar ab, was soviel bedeutet wie »erstarrt sein vor Kummer und Schmerz«. Handelt es sich beim banzo um eine afrobrasilianische Nostalgie, einen verzehrenden Gram, eine Form des (psycho-) soziogenen Todes? Zum besseren Verständnis und einer möglichen Erklärung dieses Phänomens sollen die folgenden Hypothesen diskutiert werden: 1. Die psychopathologische Erklärung betrachtet banzo als ein kulturspezifisches Krankheitsbild (Syndrom) wie Amok, Latah, Windigo etc., das während der brasilianischen Kolonialzeit (1500 – 1822) und während des Imperiums (1822 – 1889) als eine spezifische tödliche psychische Reaktion unter den afrikanischen Sklaven grassierte. Sattamini-Duarte (1952) kommt in seiner medizinhistorischen Untersuchung, die stark die biologischen Aspekte hervorhebt, zu folgendem Ergebnis: »Pensamos que se possa identificar o banzo com uma das formas cl†nicas da esquizofrenia ou demÞncia precoce dos antigos autores, predominamente simples, hebefrÞnica ou catatúnica.« (Sattamini-Duarte, 1952:85). Diese Diagnose einer möglichen Schizophrenie wird von dem Altmeister der brasilianischen Psychiatrie Leme Lopes (1966) entschieden bestritten. Denn, so wendet er mit Recht ein, wenn man die Beschreibungen des banzo von Antonio de Oliveira Mendes (1793) und Sigaud (1844), sowie die medizinischen Doktorarbeiten von Macedo (1844) über die Nostalgie, von Sacramento (1849) über die »saudade« und von Almeida (1846) über »alienażo mental« (in denen jedoch nicht über banzo gesprochen wird!) betrachte, komme man unweigerlich zu dem Ergebnis, daß es sich beim banzo um eine »Entwurzelungsdepression« (depresiûn de desenraizamiento) gehandelt haben müsse. Besonders wenn man die !Ikonographie der Sklaverei z. B. von Debret und Rugendas berücksichtige, wäre eine solche Diagnose sehr wahrscheinlich. Leme Lopes gibt auch zu bedenken, daß sich die psychischen Reaktionen der gerade in Brasilien angekommenen Sklaven möglicherweise auch als »reaktive Depression« interpretieren lassen, deren Psychogenese leicht einfühlbar sei aus

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dem Freiheits-, dem Heimat-Verlust und dem Verlust der Familien- und Stammes-Bindungen. Es ist bekannt, daß die Sklavenhändler darauf achteten, Familien- und Stammes-Angehörige möglichst rasch nach der Ankunft in Brasilien zu trennen, um die Möglichkeit künftiger Konspirationen zu verringern. Durch dieses unmenschliche Verfahren wurden die Afrikaner ihrer Kultur, ihren !Sprachen und den Traditionen ihrer Ethnie schnell entfremdet. Der Psychiater Nobre de Melo (1954) stellt heraus, daß die Anpassung schriftloser Ethnien an eine komplexe Gesellschaft, die auf Wettbewerb und Individualismus aufgebaut ist, beträchtliche Kulturkonflikte verursachen könne, zu denen er auch den banzo rechnet. »Fixed melancholy« nannten zeitgenössische englische Beobachter die Schwermut der afrikanischen Sklaven, die eine Geißel der Sklaventransporter und Plantagen war (vgl. auch Heinrich Heines Gedicht »Das Sklavensschiff«, 1853/54). »Dr. Isaak Wilson, Chirurg der königlichen Britischen Marine, der eine Guineafahrt auf der ›Elisabeth‹ unter Kapitän John Smith mitgemacht hatte, hielt diese Krankheit, sicherlich etwas übertreibend, für die Todesursache in zwei Dritteln aller Sterbefälle unter den Sklaven auf dieser Reise … ›Die Symptome sind gedrückte Stimmung und Verzagtheit. Deshalb verweigern sie Nahrung. Dies vermehrt nur die Symptome. Deshalb schmerzt der Bauch, Ausfluß war die Folge und sie wurden hinweggerafft.‹ » (zit. nach Martin, 1988:152). Martin (1988), der als einer der wenigen Autoren den Kampf und Widerstand der Afroamerikaner gegen ihre Versklavung bearbeitet hat, spricht vom »verzehrenden Gram« der Afroamerikaner. Er weist darauf hin, daß auf den Sklavenschiffen während der »middle passage«, der Überfahrt von Afrika nach Amerika, weit häufiger als kollektive oder gar organisierte Gewaltanwendung gegen ihre Unterdrücker hier die »nach innen, gegen die eigene Person gewendete Gewalt« einzelner Sklaven zu beobachten war.« Vielen Gefangenen schien ihre Lage so hoffnungslos, daß sie verzweifelten und der Schwermut verfielen. Berichte über Männer und Frauen, ja selbst über Kinder, die in geistige Umnachtung sanken, finden sich überall in der kolonialen Literatur. Andere hörten auf, bewußt an den Ereignissen ihrer Umwelt teilzunehmen, und ›versanken in eine Gleichgültigkeit und fatalistische Dumpfheit, aus welcher sie nur die Peitsche wecken konnte‹ (Bitterli, 1976:155). Insbesondere während der ersten Anpassungsphase auf den amerikanischen Plantagen, während des sog. ›Saisonierens‹, ließen zahlreiche Sklaven willenlos alles mit sich geschehen und ertrugen selbst grausame Strafen in einer Art abwesender Apathie.« (Martin, 1988:151) In der europäischen Psychiatrie des 17., 18. und 19. Jahrhunderts war die »Nostalgie« eine allgemein bekannte Gemütskrankheit, die als Krankheitseinheit ein großes Kapitel der damaligen Psychopathologie darstellte. Bekanntlich schrieb noch im Jahre 1908 Karl Jaspers (1883 – 1969) seine medizinische Dissertation über »Heimweh und Verbrechen« (vgl. auch Jaspers, 1973:324). »Als

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besonders klimatisch bedingte Form der Geisteskrankheit wird im 17. Jahrhundert die besonders den Schweizern eigentümliche Nostalgie (Heimweh) von J. J. Harder (1678) und J. Hofer (1685) aus Basel beschrieben,« konstatiert der Medizinhistoriker Erwin Ackerknecht (1967: 28). Ernst (1949) berichtet, daß die »Heimwehkrankheit« vor allem bei Soldaten und Personen vorkam, die ihr Heimatland verlassen hatten; sie entbehrten es, sahen es ständig in Tagträumen vor sich, konnten sich auf nichts anderes konzentrieren und starben oft daran, falls sie nicht heimkehren konnten. Wenn sie aber heimkehrten, trat eine prompte und auffallende Genesung ein. Später wurde dann die Nostalgie bei Soldaten und Kriegsgefangenen aller Kriege und in den Kolonien beobachtet. Man unterschied gewöhnlich 3 Stadien: 1. Stadium: Der Kranke wird müde, traurig, schweigsam, sucht die Einsamkeit; er denkt an die Heimat, spricht jedoch nicht darüber. 2. Stadium: Das Denken an die Heimat wird zur »id¦e fixe«; Schlaf- und Appetitlosigkeit, Verdauungsstörungen und Druck im Kopf treten als Symptome auf. 3. Stadium: Wahnideen der Verwirrtheitszustände entwickeln sich. Der Zustand kann zum (psychogenen) Tod in allgemeiner Erschöpfung führen. Manchmal trat die Nostalgie auch in Form von Epidemien (z. B. in den napoleonischen Heeren) auf (vgl. Peters, 1997:356). Dieses Krankheitsbild und der Verlauf entsprechen einigermaßen den frühen Beschreibungen des banzo, wie sie z. B. der französische Arzt J. F. X. Sigaud (1797 – 1856), der längere Zeit in Brasilien gelebt hat, in seinem Werk »Du climat et des maladies du Br¦sil« (1844) als »forma de nostalgia que provoca morte lenta, esp¦cie de consunżo produzida pela inaniżo e devido a causa moral« (zit. nach Miller de Paiva, 1982:32) beschrieben hatte. Der Psychiater und Anthropologe Artur Ramos schreibt in seiner Arbeit »Castigos de escravos«: »O banzo ¦ um estado psicologico especial que acometeu o negro no Novo Mundo: uma doenÅa de tristeza, de nostalgia, a ansia de regresso ‚ terra natal, o suic†dio lento.«(Ramos, 1938:100) Auch für den Medizinhistoriker Senna (1952:29) ist banzo eine Nostalgie. Andere Autoren wie der Soziologe Gilberto Freyre (vol. 2, 1969:648 f) oder der Historiker Goulart (1972: 123) sprechen von banzo als einer »saudade da Africa«. In Freyre’s klassischem Werk »Casa grande e senzala« (1933) heißt es zum banzo: »O banzo – a saudade da Africa. Houve os que de t¼o morreram: mas ficaram penando. E sem achar gústo na vida normal entregando-se a exessos, abusando da aguardente, da maconha …« (Freyre, vol. 2, 1969: 648 f). Saudade ist ein Schlüsselbegriff der brasilianischen Gefühlskultur bis auf den heutigen Tag (vgl. Orico, 1940; Stubbe, 1987, 2010:20 – 30). Dieses Wort ist unübersetzbar und entspricht etwa dem deutschen »Gefühl der Sehnsucht«, »Heimweh« (vgl. Santos-Stubbe, 1986, 1988).

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2. Die suizidologische Hypothese des banzo geht auf den deutschen Botaniker Martius (1794 – 1868) zurück, der in seinem Reisewerk (Kap. Atrav¦s da Bahia, p. 91) eine Verbindung von banzo und !Suizid aufstellt. Stubbe (1987: 74ff) hat eine Fülle von Berichten zusammengestellt, die deutlich machen, daß die afrobrasilianischen Sklaven eine auffallend hohe Suizidrate (ca. 24/200 000) besaßen. Er kommt zu dem Schluß, daß sich im Laufe der brasilianischen Geschichte das suizidale Geschehen von den Indianern im 16. Jahrhundert (aufgrund des portugiesischen Kolonialismus kam es zu Suizidepidemien) über die Afrobrasilianer im 17. bis 19. Jahrhundert (aufgrund der Sklaverei) auf die weißen europäischen Einwanderer (insbes. ab Beginn des 19. Jahrhunderts) verlagert hat (vgl. Stubbe, 1985, 1997). Als der Quilombo !»Palmares« (ca. 1650 – 1696) mit holländischer Unterstützung erobert wurde, kam es der Legende nach zu einem Massensuizid der Palmaresier, die Münch in seiner »Geschichte von Brasilien« folgendermaßen beschreibt: »Der oberste Anführer in der bitteren Wahl zwischen Tod und Knechtschaft wählte den ersteren. Er stürzte sich von einem Felsen der Stadt herunter. Seine Gefährten folgten diesem Beispiel. Der Sieger habsüchtige und gemeine Wuth erreichte nur noch die Weiber und Wehrlosen.« (Münch, 1829: 88) Für die Suizide der Afrobrasilianer hat man vielfach Rachemotive (Lasch, 1898), die Reinkarnationslehre der Afrobrasilianer (Tschudi, Bd. 2, 1866), Gefühlsambivalenz (Bastide, 1953) u.v.a.m. verantwortlich gemacht. Dabei reicht es, sich die wirkliche Lebenssituation der Sklaven vor Augen zu führen, um die häufigen suizidalen Impulse verständlich zu machen und die Sklaven als eine Gruppe mit sehr hohem Suizidrisiko zu identifizieren. Tschudi (1866, Bd. 2, S. 76ff) berichtet in seinem Reisewerk »Reisen in Südamerika«, daß Suizide häufiger bei Sklaven vorkommen, die eine gute Behandlung erfahren. Man erklärte ihm diesen merkwürdigen Sachverhalt mit dem Einfluß der Padres und Quilombos. Für ihn selbst ist jedoch folgende Interpretation angebracht: möglicherweise, meint er, seien unter den Sklaven afrikanische Fürsten und Herrscher gewesen, die sich töteten, um sich mit ihren !Ahnen im Jenseits wieder zu vereinen. Beide Erklärungen, darauf hat Bastide (1953: 4) hingewiesen, sagen jedoch nichts über die Relation Suizid und gute Behandlung durch den Senhor aus. Bastide sieht in solchen Suiziden das Ergebnis einer Gefühlsambivalenz des afrobrasilianischen Sklaven seinem Senhor gegenüber, gegen den sich aufgrund der guten Behandlung jedoch nicht das Haßgefühl richten kann, sondern das sich statt dessen gegen die eigene Person wendet. Lasch (1898:38) hat ähnlich wie später der Individualpsychologe Alfred Adler besonders die Rache als Selbstmordmotiv herausgearbeitet. Hiernach begingen die häufig aus Westafrika stammenden afrobrasilianischen Sklaven Suizid, um ihre Herren pekuniär zu ruinieren und so eine Art Rache an ihnen zu üben (vgl. Beispiel bei Koster, vol. 2, 1817). Die Neigung zum Suizid variierte jedoch von

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Ethnie zu Ethnie: Der Mina revoltierte und tötete, der Galinha, der Gabonese und der MoÅambique tötete sich (Braz de Amaral, o. J.: Galinha; Koster, vol. 2, 1817: 213: Gabonese; Taunay, vol. 3, 1939: Gabonese; Walsh, 1830:331: Gabonese; Koster, vol. 2, 1817:213: MoÅambique; Nelson da Senna, Rev. da Lingua Portuguesa, IV, p. 240: MoÅambique; Taunay, vol. 3, 1939:240: Mina; Walsh, 1830:350, 244 – 245, 344 – 349; Ewbank, 1856:440; Rocha Pombo, s.d., p. 559p; Antonil, 1711, cap. IX; Estudos Afrobrasileiros, 1935:125 – 126; Dornas Filho, 1939:61; Querino, 1938:147; Freyreiss, 1824:160; Goulart, 1972). Goulart (1972) hat in seiner lesenswerten Studie »Da fuga ao suic†dio« aufgrund der Berichte der Präsidenten der Provinzen und der Polizeichefs einige Quellen über Sklavensuizide zusammengestellt, deren Zahlenmaterial in Tabelle 1 wiedergegeben wurden. Tab. 1: Suizide afrobrasilianischer Sklaven während des Imperiums (1822 – 1889) Jahr 1848

Anzahl Quelle Chefe da pol†cia 33 (26S) (2C) 1861 43 Antonio da Costa Pinto (19S) 1864 9 (6S) 1865 5 Cincinato Pinto da Silva (4S) 1866 23 Pol†cia da corte (16S) 25T Pol†cia da corte (10S) 1868/69 10 Pol†cia (7S) 1870 17 (11S) S – afrobrasilianische Sklaven C – »Crioulos« T – Suizidversuche Quelle: Goulart, 1972: 123ff; Stubbe, 1987:76

Region Bahia Bahia S¼o Paulo Sergipe Rio de Janeiro Rio de Janeiro Bahia S¼o Paulo

Bemerkenswert ist hierbei, daß in den offiziellen Jahresberichten Suizide überhaupt erwähnt werden (bekanntlich waren Sklaven Marktware »ohne Seele« und suizidales Verhalten stand demnach unter hoher Strafe). Diese Quellen sind jedoch für die historische Suizidforschung in Brasilien bisher noch nicht ausgelotet worden (vgl. Bastide, o. J., p. 6; Stubbe, 1985, 1987, 1996, 1997). Selbstverständlich lassen alle diese Angaben nur ungefähre Schätzungen zu (in die offiziellen Statistiken wurden nur solche Fälle aufgenommen, bei denen sich die Todesursache eindeutig feststellen ließ. In S¼o Paulo wurden z. B. im Jahre 1874

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8 Leichen von Afrobrasilianern gefunden, bei denen nicht geklärt werden konnte, wie sie umgekommen waren. Es darf auch vermutet werden, daß afrobrasilianische Sklaven, die durch die drastischen Torturen umkamen, oftmals ebenfalls in die Kategorie Suizid aufgenommen wurden; vgl. Bastide, o. J., p. 6). Der erste Zensus in Brasilien fand im Jahre 1872 statt. Bastide (o. J., p. II) errechnete für den Zeitraum von 1876 bis 1880 eine hohe Suizidrate von 24,1/100 000 für die afrobrasilianische Bevölkerung S¼o Paulos. Wichtig zur !Ikonographie der Sklaverei im Brasilien der Kaiserzeit sind vor allem die eindrucksvollen Bild-Werke von Moritz Rugendas (1802 – 1858) (Hinweis auf Suizide: Rugendas, 1972:149) (zu »Rugendas in Brasilien« vgl. Carneiro, 1976) und Jean Baptiste Debret (Hinweise auf Suizide: Debret, 1940:185, 250, 215 – 256). Über die Suizide auf den Sklavenschiffen während der Überfahrt von Afrika nach Brasilien schreibt Debret (1940:185): »bestimmte Sklaven wurden auf dem Sklavenschiff mit der Peitsche gezwungen, an der allgemeinen Freude teilzunehmen, um die Trauer zu bekämpfen; andernfalls bleiben sie angekettet, um Rebellion oder Selbstmord durch einen Sprung ins Meer zu verhindern.« Inwieweit religiöse Vorstellungen, etwa die Reinkarnationslehre, bei den Sklavensuiziden eine Rolle spielten, läßt sich nicht klar entscheiden (vgl. d’Assier, 1867:26pp). Zumindest existiert ein Yoruba-Mythos über !Xangú, den Sohn ! Yemanj‚s, in dem sich dieser Kriegerkönig auf der Flucht an einem Baum erhängt, um dann als »orix‚« (Gottheit) wiederaufzuerstehen (vgl. Ramos, 1958:161pp). Die häufigste Art der Sklaven sich zu töten, war das Erhängen. Aber auch das Essen von Erde, das Verschlingen der eigenen Zunge und Giftgetränke werden erwähnt. Über das Essen von Erde (!Geophagie) existieren vor allem drei Hypothesen (wovon die erste die unwahrscheinlichste ist): 1. Erdessen als »afrikanisches Laster« (z. B. Week, 1828: 113), 2. Erdessen als Ergänzung zur einseitigen und eisenarmen Nahrung (z. B. Galeano, 1976: 76) und 3. Erdessen als Suizidmittel (auch der »Indianer«, vgl. Soares de Sousa, 1971: 314p). Der Reisende Schlichthorst (1829:170) stellt heraus, daß während der lebensmüde Engländer sich erhänge und der Franzose sich eine Kugel in den Kopf jage, der Afrikaner anders handele: »Er fängt an Erde zu essen und verkürzt dadurch sein Leben auf eine langsame und schmerzhafte Weise.« Für den Zeitraum von 1870 bis 1887 existiert eine Suizidstatistik des kaiserlichen Hofes in Rio de Janeiro (Viveiros de Castro, 1894), die wir in Tabelle 2 wiedergeben. Diese Statistik verdeutlicht, daß die Mehrzahl der Suizide eindeutig auf das Konto der Sklaverei geht, und daß Suizidversuche bei Weißen und Suizide bei Afrobrasilianern häufiger sind. Interessant ist weiterhin zu beobachten, daß die Anzahl der Sklavensuizide bis zum Jahre der Sklavenbefreiung (»lei aurea«, 1888) allmählich abnimmt und sich auf ihr heutiges niedriges Niveau einpendelt. Pires Cordeiro (1971) und Santos-Stubbe (1995) fanden jedoch eine hohe Sui-

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zidversuchsrate bei der Gruppe der afrobrasilianschen »empregadas dom¦sticas« d. h. der Hausarbeiterinnen, die teilweise noch heute unter sklavenartigen Verhältnissen leben müssen. Freyreiss (1824:160) hat in seinem Werk »Beiträge zur näheren Kenntnis des Kaiserthum Brasiliens« die Beobachtung berichtet, daß die Suizide der afrobrasilianischen Sklaven fast ausschließlich von Männern verübt wurden. Er erklärt diese Fakten damit, daß die Afrobrasilianerin aufgrund der Arbeitsteilung in ihrer Ursprungskultur sich an die Sklavenarbeit auf den Fazendas habe besser anpassen können als der Mann. Wenn diese Beobachtung für den Zeitraum der Sklaverei Allgemeingültigkeit haben sollte, so ist einmal zu fragen, wieso Suizide heute unter Afrobrasilianern wie auch ! »mulatos« bei Frauen wie Männern fast gleich stark ausgeprägt sind (im Gegensatz zu den Weißen, bei denen Männer-Suizide dominieren), und ob dieses Phänomen mit dem Verschwinden der Sklavenarbeit verbunden ist (vgl. Bastide, o. J.). Allgemein läßt sich jedenfalls feststellen, daß während der Periode der Sklaverei, der !»negro« und »mulato« häufiger Suizid begingen, als der Weiße (für S¼o Paulo gilt für den Zeitraum von 1876 bis 1880: 6,3/100 000 Suizide in der weißen Bevölkerung, 9,0/100 000 Suizide bei der !»pardo«-Bevölkerung und 24,1/100 000 Suizide bei der »negro«-Bevölkerung; vgl. Bastide, o. J., p. II; vgl. auch Sombart, Bd. 1 – 2, 1928:687ff). Tab. 2: Suizide in Rio de Janeiro (1870 – 1890) Jahr Suizide Suizidversuche Freie Sklaven Ausländer Freie Sklaven 1870 15 13 9 27 27 1871 24 9 8 22 17 1872 22 18 11 40 22 1874 17 8 9 29 10 1877 31 15 16 42 21 1878 31 14 14 58 15 1879 37 7 21 47 17 1880 27 7 10 43 11 1881 35 3 14 62 10 1882 41 13 11 63 11 1883 34 4 20 41 9 1884 31 – 8 11 2 1885 35 – 15 49 2 1886 14 2 5 35 2 1887 41 1 17 52 1 Quellen: Viveiros de Castro, 1894; Stubbe, 1987: 78

Ausländer 11 10 11 17 24 24 24 15 21 – 17 4 9 – –

Gesamt Freie Sklaven 28 54 33 39 40 62 25 39 46 63 45 73 44 64 34 54 38 72 54 74 38 50 31 13 35 51 16 37 42 53

Ausländer 82 72 102 64 109 118 108 88 110 128 88 44 86 53 95

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Wenn man jedoch Suizid als eine absichtliche Vernichtung des eigenen Lebens bzw. als ein Handansichlegen auffaßt (Selbsttötung) (zum Begrifflichen vgl. Bronisch, 1995; Stubbe, 1995), so liegt darin ein beträchtlicher Unterschied zum banzo, bei dem man nicht von einer mehr oder minder bewußten Absicht zum Tode sprechen kann. Vielmehr handelt es sich bei banzo um einen Prozeß, der quasi autogen zum Tode führen kann. Der Sklave im banzo-Zustand (banzeiro) unternimmt nichts um sein Leben direkt zu vernichten, er legt nicht Hand an sich. 3. Die soziologische Hypothese stellt den Prozeß der Desozialisation der Sklaven, d. h. die Reduktion von sozialen Aktivitäten und Interaktionen in einer Situation sozialer Isolation in den Vordergrund. In diesem Sinne läßt sich Versklavung als ein radikaler Ausgliederungs-prozeß größten Ausmaßes verstehen, als eine »soziale Todeserklärung«. Studien über die Mortalität der Sklaven haben zu dem Ergebnis geführt, daß zwischen 20 % und 70 % der Sklaven im ersten Jahr ihrer Gefangenschaft starben. So kommt z. B. Sombart (Bd. I, 2, 1928: 702) sich auf Buxton’s »The African Slave Trade« (1840) beziehend zu folgendem Ergebnis: »Von den 400 000 Objekten (!, Anm. des Verf.) des christlichen Sklavenhandels gehen 280 000 beim Fang, auf dem Transport und im ersten Jahre zugrunde, so daß nur 120 000 Sklaven schließlich zur Verfügung bleiben.« D.h. 70 % der Sklaven wären im ersten Jahr ihrer Gefangenschaft gestorben! Martin (1988) demonstriert am Schiffstagebuch des dänischen Sklaventransporters »Fredensborg« aus dem Jahre 1768, daß die Mortalitätsrate allein während dieser atlantischen Überfahrt 11 % betrug. Klein (1987) kommt aufgrund von eingehenden statistischen Untersuchungen über die Sterblichkeit der Sklaven während der »middle passage« zu dem Ergebnis, daß die mittlere Mortalitätsrate der nach Brasilien transportierten Sklaven während des 18. und 19. Jahrhunderts zwischen 63/1000 und 234/1000 variierte. Rescher (1979: 198) macht in seiner lesenswerten Dissertation »Die deutschsprachige Literatur zu Brasilien von 1789 – 1850« einige Angaben zur Sterblichkeit der Sklaven im Goldminengebiet Minas Gerais und stützt sich hierbei auf die Beobachtungen des deutschen Berg- und Hüttenfachmannes Wilhelm von Eschwege (1777 – 1855). Hiernach ergibt sich z. B. für das Jahr 1821 folgendes Bild: Weiße 2,83 % (Geburtsrate: 4,04 %) Schwarze 5,38 % (Geburtsrate: 4,76 %) Sklaven 6,86 %

Die Angaben über die Zahl der bis 1850 eingeführten Sklaven schwanken erheblich, da das Dokumenten-Material über die Sklaverei sehr lückenhaft ist, weil der Landwirtschaftsminister Ruy Barbosa anläßlich der Abolition (1888) in

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einer Geste moralischer Entrüstung (oder zur Verunmöglichung späterer exakter historischer Forschung und eventueller !Reparationsforderungen?!) alle diesbezüglichen in staatlichen Archiven aufbewahrten Dokumente verbrennen ließ. Die Zahlenangaben bewegen sich jedenfalls zwischen 4 und 18 Millionen. Der wahre Wert dürfte irgendwo dazwischen liegen, bedeutete aber nicht nur für die damalige Zeit eine ungeheure Zahl und macht deutlich, in welchen Größendimensionen sich die Sterbeziffern der Sklaven bewegt haben müssen, so daß man objektiv von einem »afrobrasilianischen Holocaust« bzw. !Genozid sprechen muß, den jedoch die »weiße Historiographie« bisher nicht aufgearbeitet hat (vgl. Stubbe, 1988; Santos-Stubbe, 1995; Nascimento, 1978). 4. Die Deprivations-Hypothese des banzo interpretiert die Sklaverei als »Isolationsfolter«, die zu den aus der Kriminal- und Folterpsychologie bekannten Reaktionen wie Haftpsychose, Haftdepression, Gefängniskoller, Isolationsstupor, Isolations-Mutilation etc. führen kann. Die Sklaverei ist dabei nur ein Extremfall unter anderen, nicht weniger bekannten Phänomenen wie z. B. Hospitalismus, Käfigsyndrom (bei Zootieren), Sinnesisolation, Konzentrationslagerhaft. Für die Deprivationsforschung sind im Rahmen der Life-events-Forschung die Verlustereignisse (hier Heimat-, Familien-, Partner-, Freiheits-Verluste etc.) von vorrangiger Bedeutung. Der hohe Grad der Bedrohung, in dem sich die Sklaven befanden, wird hierdurch verstehbar. Auch die Umwelt- bzw. kulturelle Isolation läßt sich als eine starke psychische Belastung der Sklaven anführen. Arbeiten zu diesem theoretischen Ansatz im Hinblick auf die Sklaverei liegen bisher noch nicht vor. Man kann überhaupt feststellen, daß das Thema Sklaverei noch auf eine (ethno-)psychologische und -psychiatrische Bearbeitung harrt (vgl. Fanon, 1971). 5. Banzo als Ergebnis einer gelernten Hilflosigkeit (Seligman, 1979). Dieses Erklärungsmodell erlaubt eine experimentelle Überprüfung im Tierversuch: Hunde, die einem unausweichlichen elektrischen Schock ausgesetzt werden, denen also jede Reaktions-möglichkeit genommen wird, werden »depressiv«. Die Entstehungsbedingungen des banzo nach diesem Modell ließe sich folgendermaßen beschreiben: bei der Begegnung mit Bestrafungsreizen (aversiven Reizen) wird die Möglichkeit, sich durch eigene Aktionen Erleichterungen zu verschaffen, aufgrund der Sklavereisituation minimalisiert. Dabei ist zu beachten, daß gelernte Hilflosigkeit nicht nur ein Verhaltenszustand ist, sondern sich auch zu einem Persönlichkeitszug entwickeln kann, einer zur Persönlichkeitsstruktur gewordenen Erwartung, daß alle Versuche hoffnungslos sind. Die Kontrolle über die Verstärker in der Umgebung haben diese »banzeiros« völlig verloren. Banzo tritt auf, wenn dieser Kontrollverlust bemerkt wird und anschließend dann diese Hilflosigkeit auch auf andere Situationen übertragen, also generalisiert wird. Es entsteht somit ein tödlicher circulus vitiosus.

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6. Die ethnopsychoanalytische Hypothese kann sich auf Sigmund Freuds (1856 – 1939) Schrift »Das Ich und das Es« (1923) berufen, die auf die mächtige Wirkung der Trennungsangst hinweist, die dann eintritt, wenn das Ich »sich in einer übergroßen realen Gefahr befindet, die es aus eigenen Kräften nicht glaubt überwinden zu können. Es sieht sich von allen schützenden Mächten verlassen und läßt sich sterben.« (Freud, 1978:207) Wenn einige Autoren im Hinblick auf afrikanische Ethnien von »Clan-Gewissen«, »Gruppen-Ich« etc. gesprochen haben, so wollten sie damit u. a. ausdrücken wie stark entwickelt die sozioemotionalen Bindungen in diesen Gemeinschaften waren. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie abrupt und brutal die Sklaven von allen familiären und ethnischen Bindungen abgeschnitten, von allen Funktionen und Betätigungen in ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, durch die das Individuum sich seiner selbst bewußt wird und durch die es lebt, dann wird verständlich, daß die physische Existenz der Auflösung der sozialen Persönlichkeit schließlich keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte. Ob die von Ren¦ Spitz (1946) beschriebene »anaklitische Depression« und der psychische Hospitalismus sich auch als ein Modell für die Erklärung des banzo eignen könnte, müßte noch kritisch analysiert werden. Bekanntlich war das Sklaverei-System eine bis in alle Details hinein durchgeplante totale Institution, deren Aufgabe darin bestand, junge, gesunde Menschen in »seelenlose« Waren und Objekte umzuwandeln, »ein Regime kalkulierter Brutalität« (Martin, 1988). 7. Banzo kann auch als psycho-(sozio-)gener Tod interpretiert werden. Eine Fülle von wissenschaftlichen Untersuchungen hat die Existenz dieser Form des Todes sehr wahrscheinlich gemacht (vgl. etwa Kaechele, 1970; Stumpfe, 1973; Stubbe, 2012:520). »In der völkerkundlichen Literatur werden zahlreiche unerklärliche Todesfälle bei Naturvölkern nach Tabuübertretung, Verzauberung, Verfluchung oder sonstigen unangenehmen Situationen beschrieben. Die Menschen ziehen sich in ihre Hütten zurück, legen sich ergeben nieder und sterben still nach kurzer Zeit, ohne daß entsprechende Hinweise auf äußere Gewalteinwirkungen oder innere Erkrankungen bestehen. Dies wird als psychogener Tod bezeichnet, d. h. ein Tod, der durch psychische Beeinflussung ausgelöst wird« (Stumpfe, 1980:124) Alles was Stumpfe über die Ursachen, den Verlauf und die Symptomatik des psychogenen Todes zusammengetragen hat, kann man auch auf den banzo anwenden. Die körperliche Symptomatik ist durch eine völlige Passivität gekennzeichnet, verbunden mit Nahrungsverweigerung und Vernachlässigung der Hygiene. Beschrieben wird der Zustand oftmals als ›dahinsiechen‹, ›wegschwinden‹, ›von tödlicher Mattigkeit ergriffen werden‹. Der psychische Zustand ist durch eine Apathie, Resignation und starke Regression gekennzeichnet. Die Menschen ziehen sich in sich selbst zurück, wenden sich von der Welt ab, wollen mit niemandem mehr sprechen und ihr Interesse für die Umwelt erlischt völlig. Sie härmen sich, grämen sich, sind

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entmutigt, geben sich selbst auf und verlieren alle Hoffnung. Sie sind durch keine Maßnahmen zu einer Gefühlsäußerung zu bringen. Ihnen ist alles gleichgültig und keine Drohung oder schwerwiegende Strafen schrecken sie mehr. Der Sterbeakt ist verhältnismäßg kurz und dauert oftmals nur wenige Tage. Der Sterbende sinkt in den Tod ohne Zeichen für eine Gegenwehr oder einen Willen zum Leben zu zeigen. Er stirbt still, ergeben und gelassen. »Es handelt sich um eine allgemein menschliche psychosomatische Reaktion, die in jedem Menschen ablaufen kann, wenn er sich in einer entsprechenden Situation befindet. Der psychogene Tod ist nicht an eine bestimmte Kultur oder spezielle Geisteshaltung gebunden.« (Stumpfe, 1980: 125) Nach Patterson (1982) stellt die Sklaverei eine bedeutsame Form des sozialen Sterbens oder sozialen Todes dar und er hat zu diesem Thema ein wichtiges Werk verfaßt. Sklaverei ist für ihn eine dauerhafte gewaltsame Beherrschung und Unterdrückung von ihren Primärgruppen entfremdeten und generell entwürdigten Personen. In der Regel wurde Sklaverei als Substitut oder Äquivalent für den gewaltsamen Tod angesehen. Nachdem der Sklave aus seinen Bindungen gerissen wurde, mußte er in die Sklavenhaltergesellschaft eingeführt werden. Da er sozial tot war, wurde er oftmals als »NichtMensch« oder als »Sozial-Nicht-Geborener« definiert. Patterson unterscheidet zwei Formen des sozialen Todes: 1. den »Modus des Eindringens«. Der Sklave wird als ein feindlicher Fremder im Land definiert, der keine Verbindung mit der Kultur den Werten, Göttern, Ahnen und anderen zentralen sozialen Funktionen und Strukturen besitzt. 2. den »Modus des Ausstoßens«. Der Sklave ist der Ausgestoßene, der Kriminelle, der zentrale Werte und Normen verletzt hat. Er verliert seine kulturellen Rechte, wird sozial für tot erklärt. Der soziale Tod bewirkt direkt und indirekt auch eine Verringerung der Lebenserwartung, worauf wir bereits hingewiesen haben. Daß Versklavung auch eng mit Todesriten verbunden sein kann, läßt sich an Beispielen aus verschiedenen Kulturbereichen zeigen. Bei den ostbrasilianischen Indianern, den Tupinamb‚ z. B., wurden Gefangene oft viele Jahre lang als Sklaven gehalten, bis sie in der Regel verspeißt wurden. Bevor die Gefangenen das Dorf betreten durften, mußten sie sich ihrer Kleidung entledigen und wurden in Tupinamb‚ »verwandelt«. Danach führte man sie zu den Gräbern jüngst Verstorbener, wo sie sich reinigen mußten. Dann wurden ihnen die Waffen und andere Gegenstände dieser Verstorbenen für kurze Zeit überlassen, in dem Glauben, daß diese Objekte der Toten gefährlich seien und sich die Gefahr magisch gleichsam auf die Sklaven übertrage. Da die Sklaven sozial tot waren, konnten sie diese Funktionen der Vermittler zwischen den Toten und den Lebenden übernehmen (vgl. Stubbe, 1988, 1990, 1996; Feldmann, 1990; Carneiro da Cunha, 1992). Die Rituale der sozialen Entkleidung wurden von Goffman vielfach auch in modernen totalen

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Institutionen wie Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten beobachtet und analysiert. Für diese »modernen« Sklaven gibt es allerdings keinen Herrn mehr. Es ist die Gesellschaft als anonyme Macht, die durch ihre Stellvertreter personalisiert Gewalt ausübt. Auch ist es oftmals nur ein »Sklavendasein auf Zeit« und eine generelle Entwürdigung findet nicht immer statt. Patterson weist auch darauf hin, daß der Sklave in einem überraschend modernen Sinn vereinzelt und individualisiert war, jedoch in einer Gesellschaft mit starker Solidarbindung, in der ein solches vereinzeltes Wesen nicht als Vollmensch angesehen wurde. Er stellt die interessante These auf, daß Freiheit, Emanzipation und Individualisierung gerade durch die Sklaverei im Laufe der Geschichte herausgebildet worden seien. Hiernach wäre die Sklaverei also eine (notwendige?) Vorstufe der modernen westlichen Menschheit. Durch die Sklaverei haben die Menschen gleichsam gelernt, (sozial) zu sterben und trotzdem physisch und psychisch weiterzuleben. Als ein Beweis für die rein psychische Auslösung dieser Todesfälle durch banzo werden im Allgemeinen die manchmal erfolgreichen Gegenmaßnahmen angeführt. Eine Art Prävention des banzo empfahl der französische Reisende Saugnier, indem er betonte, wie wichtig es wäre, den Sklaven vor der Einschiffung in Amerika Hoffnungen auf eine erfreuliche Zukunft in Amerika zu machen und vorzuspiegeln, daß in Amerika das Glück auf sie warte (vgl. Bitterli, 1976). Andere aufgeklärte Beobachter wie Abb¦ Raynal schlugen vor, man solle den Sklaven auch auf den Plantagen etwas Lebensfreude gönnen. !Musik, !Tanz und andere Belustigungen würden sie »vor dem verzehrenden Gram verwahren, der sie aufreibt und ihr Leben abkürzt« (zit. nach Martin, 1988: 152). Der französische Künstler Debret (1768 – 1848), dem wir eine sehr wertvolle und realistische !Ikonographie der Sklaverei in Brasilien verdanken, schreibt in seiner »Voyage pittoresque et historique au Br¦sil …« (1834), daß auf den Sklavenschiffen während der Überfahrt nach Brasilien einige Sklaven unter Peitschenhieben gezwungen wurden an den Tanz- und Musikvergnügungen teilzunehmen, um den banzo zu bekämpfen (vgl. Santos-Stubbe, 1988,1995). Die Verwendung von Musik und Tanz zur Behandlung und Prävention des banzo scheint auf die Jesuiten zurückzugehen (vgl. Sattamini-Durate, 1952; Ramos, 1940). Bekanntlich trieb die katholische Kirche in Brasilien teilweise auch einen florierenden Sklavenhandel (vgl. Pires, 1982:233ff) und war somit mit den Problemen der Sklaverei bestens vertraut. Diese Musik- und Tanz-Therapie des banzo scheint erfolgreich gewesen zu sein, wurde sie doch auch von den Zuckerei-, Fabrik-, Minen- und Plantagen-Besitzern übernommen. Möglicherweise liegt hier auch eine wesentliche Quelle der brasilianischen Musik-Kultur (vgl. z. B. !Karneval, !Samba) verborgen. Alle oben geschilderten Hypothesen schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern legen das Schwergewicht nur auf jeweils andere Bestandteile des banzo.

Berimbau (wahrscheinl. afrikan. Herkunft)

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Vielleicht sollte man in Zukunft banzo im Sinne von Marcel Mauss als ein »totales Sozialphänomen«, ein »fait social total« analysieren, das nicht von einer einzigen Forschungs-Ebene her sondern nur interdisziplinär erforscht und begriffen werden kann. In den Vereinigten Staaten von Amerika, in Brasilien und Frankreich hat gegenwärtig eine Diskussion über die !Reparationen der Nachkommen der afro-amerikanischen Sklaven begonnen (vgl. z. B. Die Woche, 21. 7. 2000, S:18 – 19; Frankfurter Rundschau, Nr. 108, 10. Mai 2006, S.2). Ob eine solche Diskussion, die auch in Brasilien stattfindet, das beträchtlich mehr afrikanische Sklaven aufgenommen hat, erfolgreich sein wird und welche Entschädigungsforderungen im Einzelnen gestellt werden sollten (individuelle oder institutionelle Entschädigungen wie z. B. Schaffung eines zentralen Sklaverei-Museums mit Forschungs-einrichtungen, Denkmale, Revision der Schulbücher, Universitäts-Forschungsinstitute, etc.) bleibt abzuwarten (vgl. Lopes, 2006:143 f). Wer sollte aber solche Entschädigungen zahlen? Bekanntlich haben sowohl Juden, wie auch Christen und Muslime, sowie viele Nationen, den florierenen Sklavenhandel betrieben (vgl. z. B. Studemund-Hal¦vy, 1997:51ff; Martin, 1993; N’Diaye, 2010). !Genozid !Gesundheit !Missionierung !Sklaverei O. S. Duarte (1951): Contribuiżo ao estudo cl†nico-histûrico do banzo. Revista Fluminense de Medicina (RJ); H. Stubbe & Ch. dos Santos-Stubbe (1990): Banzo- Eine afrobrasilianische Nostalgie? Curare, vol.13, 1990:123 – 132 (Bibliografie); M. Agnier (1990): Banzo, quilombo: a lûg†ca simbûlica do »Mundo Negro«. Revista da Bahia (Salvador), (17), p. 23 – 28; A. E. Scis†no (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006). Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; T. N’Diaye (2010): Der verschleierte Völkermord. Reinbek; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S. 57 – 66

Berimbau (wahrscheinl. afrikan. Herkunft) Das zentrale Musikinstrument bei der !capoeira ist der »berimbau de barriga«, ein einfaches Saiteninstrument. Ein an den zwei Enden einer biegsamen Rute des Arac‚-, Gabioba- oder Birib‚-Baumes gespannter Stahldraht erzeugt den typischen Klang der Capoeira-Musik (vgl. z. B. Schreiner, 1977:45ff). Als Resonanzkörper dient eine am Bogen angebrachte Kalebasse, deren Öffnung auf den Bauch des Spielers gerichtet ist. Angeschlagen wird die Saite mit einem etwa 30 cm langen Holzstäbchen, der »baquet‚«. Um höhere Töne zu erzeugen, verkürzt der Musiker mit Hilfe einer Münze oder eines anderen Gegenstandes die Länge der schwingenden Saite. In der Anschlaghand hält er oftmals neben der baquet‚ auch noch eine kleine Gefäßrassel, mit der er den Grundschlag

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rhythmisch ergänzt. Dieses Konstruktions-prinzip des »berimbau de barriga« deutet auf seinen Ursprung im afrikanischen Kalebassebogen bzw. Musikbogen hin, wie er sich in Süd-West-Angola und im Raum von Luanda findet. Die Ähnlichkeit des »berimbau de barriga« mit dem Pfeilbogen weist auch darauf hin, daß dieses Musikinstrument von Anfang an mit dem Bereich des Todes, der Jagd und des Krieges in Verbindung steht. Im afrokubanischen Bereich z. B. heißt der Kalebassebogen »burumbumba«, was wörtlich übersetzt »Instrument, das mit den Toten spricht« bedeutet (zur Musiksprache der capoeira vgl. Schreiner, 1977; Onori, 1988; zur Folklore vgl. Cascudo, 1979; Colonelli, 1979). Andere typische Musikinstumente afrikanischen Ursprungs sind: atabaque, adufe, agogú, carimbû, caxambu, cucumbi, fungador, ganz‚, gongo, mulungu, marimba, pu†ta (cu†ca), piano de cuia, pandeiro, quissanje, roncador, perenga, socador, tambu, ubat‚, vuvu, vu, xequerÞ ou xeguedÞ (xequer¦) e tri–ngulo (vgl. Alvarenga, 1960; Scis†nio, 1997:18 f, 125 f, 127ff, 157, 300, 305, 326; Lopes, 2006: 81). Die Trommel (vgl. afrobras. Tanz und Rhytmus: batuque, batucada) gilt als typisches afrobras. Perkussionsinstrument (vgl. Scis†nio, 1997:258 f), hat aber ihren Ursprung nicht in Afrika, sondern ist weltweit verbreitet (vgl. Schamanentrommel). Die Trommeln gehören zu den Membraphonen, aber auch einige Idiophone (z. B. Schlitztrommel, Kesselgong) werden Trommeln genannt. Am verbreitesten sind die Schlagtrommeln, die mit den Rasseln die häufigsten Rhytmusinstrumente sind. »Vor allem in den sakralen Königreichen Afrikas hatte sich eine Reihe von Trommelbräuchen herausgebildet; als Nachhall solcher Traditionen kann die große Paukenfeier in Dafur angesehen werden, die als Staatsfest mit Neujahrscharakter gefeiert wurde. … J. Roskoe zufolge gab es in Uganda 93 verschiedene Königstrommeln, denen je ein Wächter beigesellt war.« (Wörterbuch der Völkerkunde, 1988:491). Der afrobras. »atabaque« (auch: atabal, atabale, carimbû, tabaque, tambaque) wird in seinen verschiedenen Ausführungen in den afrobras. Kulten eingesetzt. Er besteht aus einem zylindrischen ausgehöhlten Holzkörper, der mit einer Tierhaut bedeckt ist (vgl. z. B. Scis†nio, 1997:32; Lopes, 2006:22). !Capoeira !Folklore !Made in Africa !Musik !Tanz H. Wieschoff (1933): Die afrikanischen Trommeln und ihre außerafrikanischen Beziehungen; O. Alvarenga (1948): Tambor-de-mina e tambor-de-criolo. S¼o Paulo (registros sonoros); O. Boone (1951): Les tambours du Congo Belge et du Ruanda-Urundi. Tervuren; A. M. de Oliveira (1958): Berimbau, o arco musical da capoeira. Salvador ; O. Alvarenga (1960): Mfflsica popular brasileira. Porto Alegre; Fundażo Cultural do Maranh¼o (1979): Tambor de crioula. S¼o Luis; Cl Schreiner (1979): Musica popular brasileira. Darmstadt; W. Hirschberg (1980): Die Kulturen Afrikas. Wiesbaden, S. 89 – 92; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore brasileiro. S¼o Paulo; J. Moraes et al. (1981): Tambor de crioula. Rio de Janeiro:FUNARTE; S. Figueiredo Ferretti (coord.) (1995): Tambor de

Besessenheit (auch: possessão)

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crioula. Ritual e espectaculo. S¼o Lu†s; A. E. Scis‡nio (1997): Dicion‚rio da Escravid¼o. Rio de Janeiro; Chr. Brade (1992): Synkretismus in brasilianischer Musik. Das Beispiel Capoeira- ein afrobrasilianischer Kampftanz. Das Oberstufen-Kolleg. Unterrichtsmaterialien Bd.47, Bielefeld: Universität Bielefeld; H. Stubbe (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; R. Lody (2003): Dicion‚rio de arte sacra e t¦cnicas afro-brasileiras. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Abb. 2: Berimbau Quelle: Santos-Stubbe, 2001: 81

Besessenheit (auch: possessão) Bis ins 19. Jh. in Europa und heute in der sog. Dritten Welt weit verbreitete Krankheitstheorie oder in institutionalisierter Form vorhanden, dann meist religiös begründet und ein kulturell »normales« Phänomen. Sowohl psychische wie körperliche Krankheiten werden auf !»Geister« zurückgeführt, die in den Kranken eingedrungen sind und »von ihm Besitz ergriffen« haben d. h. sein Handeln bestimmen bzw. aus ihm heraus reden. Vom Besessenen wird die Krankheit als eine Art »intrapsychischen Parasitismus« erlebt.

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Bereits die Bibel kennt das Phänomen der Besessenheit und versteht darunter das Innewohnen eines »Dämonen« (= frühere von Gott abgefallene Engel) in einem Menschen, dessen ganzes Denken, Fühlen und Wollen unter dämonischen Einfluß gebracht wird (z. B. Lk 22,3 – 6). Als besondere Kennzeichen der Besessenheit hebt die Bibel folgende Merkmale hervor: – das Sprechen eines anderen aus dem Besessenen – Hellsichtigkeit – Wahrsagen – zeitweilig unruhiges Verhalten(Schreien, Zähneknirschen, Toben) – heftiges Widerstreben gegen alle göttlichen Einflüsse, auffallend starke Körperkraft – ein mit Schreien, zu-Boden-fallen, Auftreten von Krämpfen verbundenes Ausfahren des Dämons aus dem Besessenen – völlige Genesung des Besessenen nach erfolgreichem Exorzismus (vgl. Lexikon zur Bibel,1991:211) Im NT (z. B. Mk 5,1ff) wie auch weltweit verbreitet in der Religionsgeschichte z. B. im afrobras. Synkretismus finden sich Besessenheitsphänomene (vgl. zur »possess¼o e cura« im Synkretismus z. B. Ribeiro, 1988:37 – 62). In der traditionellen Psychiatrie wurden diese Phänomene oftmals als »neurasthenisch«, »hysterisch« oder sogar »schizophren« diagnostiziert. Bonin (1988) gibt folgende psychologische Erklärungen für Besessenheit: – ambivalente Gemütslage – Bewußtseinsspaltung aufgrund des Glaubens besessen zu sein – »psychische Infektion« – Identifikation mit einem anderen(evtl. nach vorhergehender Halluzination) – unwillentliche Induktion durch Arzt oder Priester – Schuldbewußtsein ruft autosuggestiv Besessenheit hervor – telepathischer Rapport Wichtig ist die soziokulturelle Voraussetzung der Besessenheit, daß sowohl der Besessene als auch seine Gemeinschaft überhaupt an die Möglichkeit der Besessenheit glauben. Besessenheit ist demnach ebenso wie der Exorzismus auch ein soziales »Drama« bei dem das Publikum mitspielt. Sie können deshalb auch unter dramaturgischen bzw. psychodramatischen Gesichtspunkten analysiert werden (vgl. z. B. Spinu & Thorau, 1994). Für die B. als ätiologische !Krankheitsvorstellung kommen drei Behandlungsformen in Betracht: 1. Exorzismus (am häufigsten) im Rahmen spezifischer Rituale, 2. Mechanische Geisteraustreibung z. B. durch Aderlaß, Lärm, ekelerregende Gerüche, Schläge etc. 3. Übertragung auf ein anderes Lebewesen z. B. ein Tier (vgl. !Sündenbockrolle).

Besessenheit (auch: possessão)

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Nach religions-ethnologischer, bzw. -wissenschaftlicher Definition, die diesen Begriff im Gegensatz zum negativen christlichen Sprachgebrauch (vgl. Teufelsbesessenheit) wertneutral faßt, versteht man unter B. einen Zustand, »bei dem das Ich einer Person, wenigstens erlebnismäßig, von einer übermenschlichen Macht oder einem Geist besetzt oder ausgelöscht wird, so daß der Geist oder die Macht die Stelle des Ichs einnimmt, der Mensch nur noch als Sprachrohr oder Medium für die von außen eindringende Macht dient. Es gibt sehr verschiedene Arten von Besessenheit, die häufig auf die Verschiedenheit der Geister zurückgeführt werden, die besessen machen. …. Besessenheit setzt immer eine Art Trance voraus, in der das menschliche Ich ausgeschaltet wird.« (Hirschberg, 1988:53) Danach wird oftmals eine Amnesie beobachtet. Man kann verschiedene Formen der Besessenheit unterscheiden: bei der dämonischen Besessenheit kommen sowohl fratzenartiges Aussehen als auch gewaltige motorische Leistungen vor. Liegt ein Doppelbewußtsein vor d. h. ist der Besessene passiver Zuschauer dessen, was geschiet, spricht Oestereich (1921) von luzider Besessenheit im Gegensatz zu dem häufigeren Fall der somnambulen Besessenheit (auch: dämonischer Somnambulismus), in der nur die besitzende ! Persönlichkeit auftritt. Im Rahmen der sog. Besessenheitsreligionen wie z. B. der brasilianischen !Umbanda oder dem !Candombl¦ können wir von kultischer Besessenheit sprechen, da hier das Verhalten und Erleben oftmals ritualisiert ist und sich aufgrund der Ausdrucksphänomene des Besessenen eindeutige Hinweise auf die besitzende Gottheit (orix‚) ziehen lassen. Rouget (1985) unterscheidet zwischen der selten (zu exorzierenden) »Obsession« und der häufigeren (nicht zu exorzierenden) »Possession«. Der Geist wird dabei nicht ausgetrieben sondern der Kranke oder Adept wird nach Opfern mit ihm versöhnt, was tiefenpsychologisch als eine rituell-psychotherapeutische Reintegration des Unbewußten interpretiert werden kann. !Candombl¦ !Medium !Religion !Trance !Umbanda !Veränderte Bewußtseinszustände T. K. Oesterreich (1921): Die Besessenheit. Langensalza; J. Zutt (Hrsg.) (1972): Ergriffenheit und Besessenheit. Bern; H. Ellenberger (1973): Die Entdeckung des Unbewussten. 2 Bd.e. Bern; H. Figge (1971): »Besessenheit« als Therapie. Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, 12, S. 207 – 225; ders. (1973): Geisterkult, Besessenheit und Magie in der Umbanda-Religion Brasiliens. Freiburg/Brsg.; ders. (1980): Typen brasilianischer Besessenheitskulte. In: H. Figge, Beiträge zur Kulturgeschichte Brasiliens. Berlin; W. Sargant (1975): A possess¼o da mente. Uma fisiologia da possess¼o, do misticismo e da cura pela f¦. Rio de Janeiro (engl. The mind possessed, 1973); V. Craponzano & V. Ganhson (eds.) (1977): Case studies in spirit possession. London; G. Hofer (1984): Besessenheit, Curare, 8, 1984; M. Goldman (1985): A construżo ritual da pessoa. A possess¼o no candombl¦. Religi¼o & Sociedade (RJ), 12(1), p. 22 – 54; R. Ribeiro (1988):O negro na atualidade brasileira. Lisboa: Centro de Antropologia cultural e social,

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p. 37 – 62; W. M. Pfeiffer (1994): Transkulturelle Psychiatrie, Stuttgart (2. Aufl.); P. Birman (1995): Fazer estilo criando gÞneros. Possess¼o e diferenÅas de gÞnero em terreiros de umbanda e candombl¦ no Rio de Janeiro. Rio de Janeiro; S. Figueiredo Ferretti (1995): Repensando o sincretismo. S¼o Paulo: Edusp; G. Wahl & W. Schmitt (Hg.) (2001): Wiss. Beiträge zur Geschichte der Seelenheilkunde, Bd.4. Besessenheit und Hysterie. Reichenbach; W.-S. Tseng (2001): Handbook of Cultural Psychiatry. Boston; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Bibliografien, Lexika und Periodika Zur Thematik des vorliegenden Lexikons bzw. der !Afrobrasilianistik liegen bereits einige reichhhaltige Bibliografien, Lexika und Periodika vor : Bibliografien: – O. Cannstatt (1902): Kritisches Repertorium der deutsch-brasilianischen Literatur von Oscar Cannstatt. Berlin – A. de Carvalho (1929 – 1930): Bibliotheca exotico-brasileira por Alfredo de Carvalho. 3 vol.s. Rio de Janeiro – British Museum (1931): General Catalogue of Printed Books. 48 vol.s. London – G. da Fonseca (1941): Bibliografia do jornalismo carioca (1808 – 1909). Rio de Janeiro – Bibliograf†a de Histûria do Brasil. Rio de Janeiro, 1946 – H. A. Wieschoff (1948): Anthropological bibliography of Negro Africa. New Haven (Connect.) – Biblioteca Nacional (Ed.) (1957): Cat‚logo de Livros súbre Folclore Brasileiro. Rio de Janeiro – A Catalog of Books by Library of Congress. New York, 1958ff – G. Raeders & E. Nery da Fonseca (1960): Bibliographie Franco-Br¦silienne (1551 – 1957) par Georges Raeders. Rio de Janeiro – A. L. Garraux (1962): Bibliographie Br¦silienne. Rio de Janeiro – Biblioteca Nacional (Ed.) (1962): Bibliograf†a Afro-Asi‚tica. Rio de Janeiro – P. Berger (1964): Bibliografia do Rio de Janeiro de viajantes e autores estrangeiros (1531 – 1900). Rio de Janeiro – L. J. P. Gaskin (1965): A Bibliography of African Art. London: I. A. I. – N. Monroe Work (1965): A bibliography of the negro in Africa and America. New York – E. W. Miller (1966): The negro in America. A bibliography. Cambridge/Mass. – O. Cannstatt (1967): Repertûrio cr†tico de literatura teuto-brasileira. Rio de Janeiro

Bibliografien, Lexika und Periodika

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– Z. G. de Araujo (1969): Guia de bibliografia especializada. Rio de Janeiro – S. Martins Couceiro (1971): Bibliografia sobre o negro brasileiro. Escola de ComunicaÅþes e Artes (USP), S¼o Paulo – B. do Nascimento (1971): Bibliografia do Folclore Brasileiro. Rio de Janeiro – P. C. Hoog (1973): The african slave trade and its suppression: a classified and annoted bibliography. – S. Martins Couceiro (1974): Bibliografia sobre o negro brasileiro. S¼o Paulo: Centro de Estudos Africanos (USP), 2. ed. (857 Titel) – Cl. J. Ferreira et al. (1976): Boletim bibliogr‚fico: Assuntos afro-brasileiros. Salvador : UFBA – F. A. A. Mour¼o & C. S. Morais (1977): Contribuiżo a uma biliografia de bibliografias sobre o continente africano. S¼o Paulo: USP-C. E. A – Minist¦rio da Educażo e Cultura & Museu do Folclore (ed.s): Bibliograf†a Folclûrica. Rio de Janeiro, 1977ff – R. E. Conrad (1977): Brazilian slavery. An annotated research bibliography. Boston – D. B. Porter (1978): Afro-Braziliana; a working bibliography. Boston (294 p.) – R. Borba de Moraes (1979): Livros e bibliotecas no Brasil colonial. Rio de Janeiro – H. L. Alves (1979): Bibliograf†a afro-brasileira. Bras†lia (2274 Titel) – C. Argenton Colonelli (1979): Bibliograf†a do Folclore Brasileiro. S¼o Paulo – H. Rescher (1979): Die deutschsprachige Literatur zu Brasilien von 1789 – 1850. Frankfurt/M. – R. de Barros Laraia (1979): RelaÅþes entre negros e brancos no Brasil. bib (RJ), (7) – Fundażo Carlos Chagas (ed.) (1979, 1981): Mulher brasileira. Bibliografia anotada. 2 vol.s. S¼o Paulo; – R. M. Levine (1980): BRAZIL since 1930: An annotated bibliography for social historians. New York – L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore Brasileiro. S¼o Paulo – U. Holtz (Hrsg.) (1981): Brasilien. Eine historisch-politische Landeskunde (Quellen). Paderborn – H. J. Becco (1981): Contribuciûn para una bibliografia de las ideas latinoamericanas. Paris – Universidade Federal da Bahia. Centro de Estudos Afro-Orientais (Ed.) (1982): Boletim Bibliogr‚fico. Assuntos Afro-Brasileiros II. Salvador – R. Borba de Moraes (ed.) (1983). Bibliographia Brasiliana. 2 vol.s. Los Angeles – R. M. Levine (1983): BRAZIL, 1822 – 1930. An annoted bibliography for social historians. New York – M. L. Rodrigues de Areia & I. Figueiras (1984): Angola. Bibliograf†a Antropolûgica. Coimbra: Universidade de Coimbra

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Auch in den landeskundlichen (z. B. Lynn Smith, 1972:746 – 766), den historischen (z. B. Freyre, 1933ff; Skidmore, 1998), sprachwissenschaftlichen, sowie religionswissen-schaftlichen etc. Publikationen finden sich oftmals reichhaltige Literaturverzeichnisse. Lexika: – J. Lopes Cardoso Machado (1823): Diccionario m¦dico-practico para uso dos que trat¼o da safflde pfflblica, onde n¼o h‚ professores de medicina. 2 vol.s. Rio de Janeiro – S. Blake (1902, 1970): Diccionario Bibliographico Brazileiro. 7 vol. s. Rio de Janeiro, reimpress¼o de off-set – Dicion‚rio Histûrico, Geogr‚fico e Etnogr‚fico do Brasil. 2 vol.s. Rio de Janeiro, 1922 – D. Menezes (1935): Dicion‚rio Psico-Pedagogico. S¼o Paulo – B. J. de Souza (1939): Dicion‚rio da terra e da gente do Brasil. S¼o Paulo (4. ed.) – H. Baldus & E. Willems (1939): Dicion‚rio de etnologia e sociologia. S¼o Paulo – M. Viotti (1945): Dicion‚rio da G†ria Brasileira. S¼o Paulo – G. Friederici (1947): Amerikanistisches Wörterbuch. Hamburg – A. Amaral (1955): O dileto caipira. Gram‚tica – Vocabul‚rio: S¼o Paulo – J. Ribeiro (1963): Dicion‚rio africano de umbanda. Rio de Janeiro – A. Tacla (1968): Dicion‚rio dos Marginais. Rio de Janeiro – Bittencourt (1969): Dicion‚rio bio-bibliogr‚fico de mulheres ilustres, not‚veis e intellectuais do Brasil (ilustrado). Rio de Janeiro – J. P. Paes & M. Mois¦s (1969): Pequeno Dicion‚rio de Literatura brasileira. S¼o Paulo – Núvo Dicion‚rio de Histûria do Brasil. Ilustrado. S¼o Paulo, 1970 – A. Pinto (1971): Dicion‚rio de Umbanda. Rio de Janeiro – C. Cavalcanti (1973): Dicion‚rio brasileiro de artes pl‚sticas. Bras†lia – O. G. Cacciatore (1977): Dicion‚rio de Cultos afro-brasileiros. Rio de Janeiro – E. Dorin (1978): Dicion‚rio de Psicologia. S¼o Paulo – Assis Brasil (1979): Dicion‚rio pr‚tico de literatura brasileira. Rio de Janeiro – Ý. Cabral & E. Nick (1979): Dicion‚rio t¦cnico de psicologia. S¼o Paulo – H. de Almeida (1979): Dicion‚rio Popular Paraibano. Jo¼o Pessoa – R. M. Levine (1979): Historical dictionary of Brazil. Metuchen – P. Waldmann (Hrsg.) (1980): Politisches Lexikon Lateinamerika. München – L. da C. Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore brasileiro. S¼o Paulo – M. Souto Maior (1980): Dicion‚rio do Palavr¼o e Termos afins. Recife – B. NuÇez (1980): Dictionary of Afro-Latinamerican Civilization. Westport

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– H. de Almeida (1981): Dicion‚rio de Termos Erûticos e Afins. Rio de Janeiro – T. Cabral (1982): Novo dicion‚rio de termos e expressþes populares. Fortaleza – A. G. da Cunha (1982): Dicion‚rio Etimolûgico Nova Fronteira da L†ngua Portuguesa. Rio de Janeiro – E. Fonseca Jfflnior (1983): Dicion‚rio Yoruba (Nagú) – PortuguÞs. Rio de Janeiro – H. de Almeida (1983): Cat‚logo de dicion‚rios portugueses e brasileiros. Rio de Janeiro – Fundażo Getffllio Vargas-Cpdoc (ed.) (1984): Dicion‚rio Histûrico-Biogr‚fico Brasileiro 1930 – 1983. 4 vol.s. Rio de Janeiro – F. Coluccio (1984): Diccionario de creencias y supersticiones (argentinas y americanas). Buenos Aires (2. ed.) – C. H. Oberacker, Jr. (1985): A contribuiżo teuta a formażo da nażo brasileira. 2 vol.s. Rio de Janeiro (4.ed.) – S. Guerra Duarte (1986): Dicion‚rio brasileiro de educażo. Rio de Janeiro – J. Medeiro (1988): Dicion‚rio dos Pintores do Brasil. Rio de Janeiro – Th. M. Stephens (1989): Dictionary of Latin American Racial and Ethnic Terminology. Gainesville – B. Gretenkord (1993): Künstler der Kolonialzeit in Lateinamerika. Ein Lexikon. Berlin – A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da Escravid¼o. Rio de Janeiro – A. Gomes & F. Cavacas (1997): Dicion‚rio de autores de literaturas africanas de lingua portuguesa. Lisboa – J. B. Serra e Gurgel (2000): Dicion‚rio de G†ria. Bras†lia, 6.ed. – S. Schumaher & E. Vital Brasil (2000): Dicion‚rio Mulheres do Brasil de 1500 at¦ a atualidade biogr‚fico e ilustrado. Rio de Janeiro – Das Afrika-Lexikon. Ein Kontinent in 1000 Stichwörtern. Wuppertal, 2001 – Das kleine Afrika-Lexikon. Stuttgart, 2002 – R. Lody (2003): Dicion‚rio de Arte sacra e T¦cnicas afrobrasileiras. Rio de Janeiro – N. Lopes (2003): Novo Dicion‚rio Banto do Brasil. Rio de Janeiro – R. Hofmeier & A. Mehler (Hg.) (2004): Kleines Afrika-Lexikon. München – N. Lopes (2004): Enc†clop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo – N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo – R. Cr. Albin (2006): Dicion‚rio ilustrado mfflsica popular brasileira. Rio de Janeiro (mit Diskografie) – S. Schumaher & E. Vital Brasil (2006): Mulheres negras do Brasil. Rio de Janeiro – H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen – A. Buarque de Holanda Ferrreira: Novo Dicion‚rio Aur¦lio. (Viele Auflagen mit Bibliografie)

Bibliografien, Lexika und Periodika

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Zeitschriften/Perodika: – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

P. Brito (ed.): O Homen de Cor. Rio de Janeiro, gegr. 1833 O Exemplo. Porto Alegre (RS), 1892 – 1930 O Menelik. S¼o Paulo, gegr. 1915 A Rua. S¼o Paulo, gegr. 1916 Liberdade. S¼o Paulo, 1919 Elite. S¼o Paulo, gegr. 1924 O Clarim da Alvorada, gegr. 1924 A Voz da RaÅa. Frente Negra Brasileira, gegr. 1933 A RaÅa. Legi¼o Negra de Uberl–ndia (MG), gegr. 1935 Tribuna Negra, gegr. 1935 Alvorada. Pelotas (RS), gegr. 1936 Uni¼o. Uni¼o dos Homens de Cor, Curitiba (PR), gegr. 1943 Senzala, gegr. 1946 Quilombo. Teatro Experimental do Negro (TEN), gegr. 1948 Staden Jahrbuch (S¼o Paulo) (später : Martius Staden Jahrbuch) (1953ff) Mutir¼o, gegr. 1958 Biblioteca Nacional (Ed.) (1962): Bibliograf†a Afro-Asi‚tica. Rio de Janeiro, p. 55 Correio d’Êbano, gegr. 1963 Journal of African History Latin American Research Review (University of New Mexico, gegr. 1965) Afro-Ýsia (Salvador) Estudos Afro-Asi‚ticos. Cadernos Candido Mendes. Rio de Janeiro, 1978ff Cadernos Negros (SP) (seit 1978) Curare. Journal of Medical Anthropology (seit 1978) Universidade Federal da Bahia. Centro de Estudos Afro-Orientais (Ed.) (1982): Boletim Bibliogr‚fico. Assuntos Afro-Brasileiros II. Salvador, p. 42 – 43 University of Missouri-Columbia (Ed.) (1982ff): Afro-Hispanic Review. A Publication of Black Studies and Romance Languages Afrodi‚spora (Ipeafro; PUC-SP) (E. Larkin & A. Nascimento). S¼o Paulo, 1983ff University of Illinois (Afro-American Studies) (Ed.) (1986ff): The Afroamericanist. Newsletter Maioria Falante. Rio de Janeiro, gegr. 1988 – 1995 Journal of African Psychology. Enugu, 1988ff (ab 1995: Journal of Psychology in Africa) RaÅa Brasil. S¼o Paulo, gegr. 1990ff Zentrum portugiesischsprachige Welt (ZPW). Universität zu Köln (Hrsg.):

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Afrika, Brasilien Portugal (ABP). Zeitschrift zur portugiesischsprachigen Welt. Frankfurt/M.: IKO, 1996ff Negro Year Book (Tuskegee Institute, Alabama) Journal of Negro History, London Nossa Histûria (gegr. 2004), Bibliot¦ca Nacional (RJ) Sankofa (2007ff) (E. Larkin Nacimento), Rio de Janeiro Afrika (siehe jeweils letzte Ausg.). Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Afrika südlich der Sahara. R. Hofmeier (Hg.). Opladen

Die obigen Angaben, die sicher noch ergänzungsbedürftig sind, ermöglichen einen Überblick über die hundertjährige wissenschaftliche Produktion in der ! Afrobrasilianistik. Weitere Angaben zu Institutionen, Zeitschriften (vgl. z. B. Jackson, 1964: 105 – 147; Giacomini, 1988:93 – 95), Bibliotheken (vgl. z. B. die Biblioteca Nacional, RJ, das Real Gabinete PortuguÞs de Leitura, RJ oder die reichhhaltige Biblioteca do Senado, Bras†lia), »Cat‚logos de teses« und »Cursos de Pûs-Graduażo« (vgl. Capes: Cat‚logo de cursos de mestrado e doutorado) finden sich z. B. in Santos (1985) und CEAA (1991:239 – 259). Im Jahre 1999 schlossen die Bibliothek des us-amerikanischen Kongresses und die Biblioteca Nacional (RJ) ein Abkommen über die Digitalisierung wichtiger Werke der bras. Geschichte (virtuelle Bibliothek) (vgl. Nossa Historia, ano 1, n8 7, 2004, p. 10 – 11). Solche Abkommen wären in Zukunft auch mit europäischen Bibliotheken abzuschließen. !Afrobrasilianistik !Anhang !Einführung !Museen Minist¦rio da Educażo e Safflde (ed.) (1945): Cat‚logo das obras raras ou valiosas da Biblioteca da Escola Nacional de Belas Artes. Rio de Janeiro; V. CorrÞa Filho (1963): Como se fundou o Instituto Histûrico (RJ). Revista do Instituto Histûrico e Geogr‚fico Brasileiro, vol. 255, abril-jun.; W. Vernon Jackson (1964): Library Guide for Brazilian Studies. Pittsburgh; T. Lynn Smith (1972): Brazil. People and institutions. Louisina State University Press, 4.ed.; Real Gabinete PortuguÞs de Leitura (ed.) (1975): Uma pequena-grande histûria. Rio de Janeiro; IBGE (ed.) (1976): Guia das bibliotecas brasileiras. Rio de Janeiro; M. N. Ferrara (1981): A imprensa negra paulista (1915 – 1963). Mestrado. S¼o Paulo: USPFFLCH; Biblioteca Nacional (ed.) (1984): Biblioteca Nacional. Rio de Janeiro; R. Seckinger & F. W. O. Morton (1979): Social science libraries in greater Rio de Janeiro. Latin American Research Review, vol. XIV, N8 3, p. 180 – 201; A. J. R. Russel-Wood (1985): United States scholary contributions to the historiography of colonial Brazil. Hispanic American Historical Review (Durham), 65(1), p. 683 – 723; P. R. dos Santos (1985): InstituiÅþes afrobrasileiras. Rio de Janeiro: CEAA; IUPERJ (ed.) (1985ff): šndice de ciÞncias sociais. Rio de Janeiro; S. M. Giacomini (1988): Mulher e escrava. Petrûpolis; PUC-RS (1989): Cat‚logo de teses e dissertaÅþes (1948 – 1988). Porto Alegr/RS; Centro de Estudos Afro-Asi‚ticos (CEAA) (ed.) (1991): Escravid¼o e relaÅþes raciais no Brasil. Cadastro da produżo intellectual (1970 – 1990). Rio de Janeiro; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2004): Enciclop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo; ders.

Bikulturelle Ehen und Partnerschaften/casamentos e relações interétnicos

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(2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; Internet: BIREME; Biblioteca virtual de Safflde: www.bvs.br ; EUBRAS: www.EUBRAS:de; CIBERA: www.cibera.de; Literatura Latinoamericana e do Caribe (LILACS); šndice de Revistas Latino-americanas em CiÞncias (PERIODICA); Sociedad Iberamericana de Informaciûn Cientifica (SIIC); Sum‚rios de Revistas Brasileiras: www.sumarios.org

Bikulturelle Ehen und Partnerschaften/casamentos e relações interétnicos (auch: binationale, interethnische, interkulturelle Ehen; veraltet: Mischehen, Fernehen, interrassische Ehen, casamentos interraciais) Einführung: Unter bikulturellen Ehen und Partnerschaften wird die Ehe bzw. Partnerschaft zwischen zwei Angehörigen unterschiedlicher Kultur verstanden, wobei beide durchaus die gleiche Nationalität besitzen können z. B. besitzen viele Kurden und Armenier einen türkischen Paß oder viele Aus- und Übersiedler aus Russland und Polen einen deutschen Paß oder bras. Juden einen israelischen Paß. Bikulturalität wird hierbei als Folge eines Kulturkontaktes betrachtet, der besagt, daß sich einzelne Personen oder ganze ethnische Gruppen abwechselnd in zwei verschiedenen kulturellen Systemen bewegen. Dies kann freiwillig geschehen wie z. B. bei Händlern oder Studenten, meist handelt es sich aber um eine erzwungene !Assimilation in eine dominante Kultur. Damit einher geht auch in der Regel Bilingualität. Von binationalen Ehen bzw. Partnerschaften spricht man, wenn beide Partner unterschiedliche Nationalitäten besitzen. Interethnische Ehen sind Ehen zwischen Mitgliedern verschiedener Ethnien oder ethnischer Minderheiten. Von interkulturellen Ehen spricht man, wenn die Kultur der Herkunftsgruppen (Ethnie, Nation) unterschiedlich ist. Von »Intermarriage« (Merton, 1964) bzw. heterogamer Ehe spricht man, wenn sich die Herkunftsgruppen der Partner in einem nicht näher bestimmten Kriterium wie z. B. Religion, Schicht, Kaste, Klasse, Nation, Ethnie (früher : »Rasse«), Verwandtschaftsgruppe unterscheiden. Bei Hypergamie heiratet die Frau/der Mann in die höhere Schicht des Mannes/der Frau, bei Hypogamie in die niedrige Schicht des Mannes/der Frau. Bikulturelle Ehen können auch ein Ergebnis von Heiratsmigration d. h. einer geographischen Mobilität in Zusammenhang mit der Heirat sein wie Bettina Beer (1996) am Beispiel der deutsch-philippinischen Ehen gezeigt hat. Menschen in (freiwilliger) b. P. und E. können zur »Avantgarde der Menschheit« gerechnet werden, weil sie Nationalismus, Grenzen und ! Rassismus überwinden helfen und die kulturelle Vielfalt und Verständigung

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unter den Menschen entwickeln. In Deutschland sind solche Partnerschaften und Ehen nicht mehr selten, obwohl ihnen kirchliche Restriktionen (»religiöse Mischehen«) und ausgeprägte (teilweise rassistische) Vorurteile entgegenstehen (vgl. »Scheinehen«-Problematik). Selbst die Bibel (vgl. z. B. Buch Esther) ist »Mischehen« gegenüber alles andere als nachsichtig, setzt sie diese doch dem Heidentum gleich. Von daher erklärt sich auch die Strenge des jüdischen Gesetzgebers. Im letzten 10. Kapitel des Buches Esra wird eine massenhafte Scheidung von Ehen und die Vertreibung von Kindern geschildert. »Nachdem Israel massenhaft mit den Priesterinnen des Baal-Peor Unzucht getrieben hatte und abtrünning geworden war (4. Mose 25) tötete der Herr 24.000 Israeliten durch die Plage und forderte von Moses, alle hinzurichten, die bei ausländischen Frauen gelegen hatten, und sie mit dem Gesicht zur Sonne aufzuspießen.« (Miles, 1998:437). In dem künstlerisch hochstehenden und eindrucksvollen Film »Kadosh« (= »heilig«) des bekannten israelischen Regisseurs Amos Gitai (1999) werden die rigiden Ehegesetze der fundamentalistischen ultra-orthodoxen jüdischen Gemeinde der Haredim geschildert, deren ganzes Leben um das Studium der Bibel und die Einhaltung der »Halacha« (jüdisch-religiöse Gesetze) zentriert ist. Ein junges Paar wird nach 10jähriger Ehe wegen Kinderlosigkeit vom Rabbi zwangsweise geschieden. Die Frau stirbt einen soziogenen Tod. Auch die Beurteilung der Stellung der Frau in den islamischen Menschenrechten stellt sich aus westlicher Sicht kritisch dar. Das gilt vor allem für die Frage von Eheschließungen und ihre politischen Aktivi-täten sowie ihre Rechte im juristischen Bereich. Zwar dürfen Muslime Christinnen oder Jüdinnen zur Frau nehmen, Musliminnen ist dagegen nur die Ehe mit einem Muslim erlaubt. Im Hinblick auf die weltweit noch bestehenden religiösen Heiratsrestriktionen kann man nur Titus Lucretius Carus (»Lukrez«) (97 – 55 v.) wohl berühmtesten Vers seines Lehrgedichtes »De rerum natura libri sex« (I, 101) zitieren: »Tantum religio potuit suadere malorum.« (=Soviel Unheil vermochte die Religion zu erzeugen). Im Hochmittelalter scheinen die Ritter im Zeitalter der Kreuzzüge bikulturellen Ehen und Partnerschaften gegenüber nicht ablehnend gewesen zu sein. Im »Parzival« (ca. 1200/10) des Minnesängers Wolfram von Eschenbach (ca.1170 – 1220) heißt es über die Liebes- bzw. Ehebeziehung des europäischen Ritters Gachmuret mit der afrikanischen Königin Belakane: »Da genoß die Königin einer lieben süßen Minne mit Gachmuret, ihres Herzens Bräutigam, so ungleich auch beider Haut war.« Gachmuret sagt: »Herrin, ich habe bereits ein Weib, die ist mir lieber als mein Leben.«… »Mancher, der mich nicht kennt, meint, daß ich vor ihrer schwarzen Haut geflohen bin – ach, diese Dunkelheit war mir Sonne!« (Wolfram von Eschenbach, 1950:30, 55, 57). Edward W. Said (1981) hat uns in seiner »Orientalismus«-Studie darüber aufgeklärt, daß der Orient (und möglicherweise auch »Afrika«) nichts anderes sei als eine »Erfindung« bzw. phantastische Projektion europäischer Reisender

Bikulturelle Ehen und Partnerschaften/casamentos e relações interétnicos

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und Forscher auf der Suche nach der fremden Frau. Europäer bleiben also unter allen Umständen das Opfer ihrer Vorstellungen und gelangen nie aus Europa hinaus. Ein hübsches, gut dokumentiertes Beispiel einer interethnischen Partnerschaft unter kolonialen Bedingungen ist »Pocahontas« (vgl. Theweleit, 1999). Die theoretischen und methodischen Grundlagen der Erforschung interethnischer Ehen hat Hilke Thode-Arora (1999) sachkundig und kritisch mit einer umfangreichen Bibliographie zusammengestellt (vgl. Stubbe, 2012:77ff). Interethnische Ehen und Partnerschaften in Brasilien: Bereits in den 40er Jahren des 20. Jh.s haben sich Sozialwissenschaftler wie Donald Pierson (1942, 1945:202 – 218) mit den »casamentos interraciais« beschäftigt. Nei Lopes (2006:40) betont zu Recht, dass es solche Verbindungen immer schon in Brasilien gegeben habe (z. B. vor allem während der Sklavereizeit als gewaltsamer Akt zwischen Herr/Kolonisator und afrobras. Sklavin bzw. Indianerin), dass aber solche Verbindungen heute immer noch vielen ! Vorurteilen unterlägen und allgemein abgelehnt werden: wenn der Mann Afrobrasilianer sei und die Frau eine Weiße vermute man dahinter den Versuch eines sozialen Aufstiegs des Mannes, im gegensätzlichen Fall habe eine solche Verbindung jedoch soziale Nachteile für die (afrobras.) Frau. Schon in Alu†sio Azevedos Roman »O CortiÅo« (1890) heißt es: »Ele propús-lhe morarem juntos e ela concordou de braÅos abertos, feliz em meter-se de novo com um portuguÞs, porque, como toda a cafuza, Bertoleza n¼o queria sujeitar-se a negros e procurava instintivamente o homem numa raÅa superior — sua.« (Azevedo, 2001:16). Der bras. Sozialpsychologe Aroldo Rodrigues (1975) behandelt das Thema der »interrassischen« Ehen (wir sprechen heute von »bikulturellen, interethnischen oder binationalen Ehen«) und das Vorliegen von Rassen- und Klassenvorurteilen in Brasilien. Die Frage, ob die Hautfarbe ein wichtiger Faktor in der Ehe sei, wurde von einer nichtrepräsentativen Stichprobe in Rio de Janeiro zu 60 % teilweise oder völlig bejaht. Die gleiche Frage im Hinblick auf die Bedeutung der Klasse bejahten 76 % völlig oder teilweise. Rodrigues schließt daraus (etwas voreilig?), daß das Klassenvorurteil in Brasilien bedeutungsvoller sei als das Rassenvorurteil. !Einführung !Migration !Rassismus !Sozialpsychologie !Stereotype ! Vorurteile E. Zola (1893): Comment on se marie. Paris; E. Lûpez Albuj‚r (1928, 1986): Matalach¦. Lima/Peru; D. Pierson (1945): Brancos e pretos na Bahia. S¼o Paulo (engl. Ausg. 1942); St. M. Cohen (1977): Socioeconomic determinants in intraethnic marriage and friendship. Social Forces, 55, 4, 1977:997 – 1010; C. Pond¦ de Sena (1979): RelaÅþes inter¦tnicas atrav¦s de casamento: Inhamhupe (1780 – 1800). Universitas (Salvador), (24), p. 71 – 82; E. W. Said (1981): Orientalismus. Frankfurt/M.; M. B. M. Nizza da Silva (1984): Sistema de

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casamento no Brasil colonial. S¼o Paulo; N. Do Valle Silva (1987): Dist–ncia social e casamento inter-racial no Brasil. Estudos Afro-Asi‚ticos (RJ), (14), p. 54 – 84; E. M. R. Goldschmidt (1986/87): A motivażo matrimonial nos casamentos mistos de escravos. Revista da SBPH (SP), (3), p. 1 – 16; G. Mahmud (1994): Menschenrechte im Islam, Concilium, 30, 1994:248 – 255; B. Beer (1996): Deutsch-philippinische Ehen. Interethnische Heiraten und Migration von Frauen. Berlin; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro, p. 90; P. Nerel (1998): Der Umgang mit dem Fremden in einer bikulturellen Partnerschaft am Beispiel deutsch-türkischer Paare und Familien. Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie, Jg.4, N8 4, S. 1 – 32; H. Thode-Arora (1999): Interethnische Ehen: theoretische und methodische Grundlagen ihrer Erforschung. Berlin; G. Brunold, Kl. Hart & R. K. Hörst (1999): Fernstenliebe. Ehen zwischen den Kontinenten. Frankfurt/M.; Kl. Theweleit (1999): Pocahontas in Wonderland. Basel; H. Stubbe (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; Th. Klein (Hg.) (2001): Partnerwahl und Heiratsmuster. Soziostrukturelle Voraussetzungen der Liebe. Opladen; K. Kita (2003): Afrikanische und europäische Mentalitäten im Vergleich. Mit Beispielen aus der Beratungsarbeit. Münster ; IAF (Hrsg.) (2003): Westafrika. Informationen für binationale Paare. Frankfurt/M.; Cl. Moln‚r (2004): Binationale Paare. Radolfzell /B.; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo, p.40; Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Stuttgart, 2007; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Bildung Die Schule als Unterdrückungsapparat: Die Schule als ein ideologisches Instrument des Staates (vgl. z. B. Althusser, 1976) prägt natürlich auch in Brasilien einen Diskurs der menschlichen Gleichheit auf allen Ebenen und verurteilt jegliche diskriminatorische Behandlung und dies auch auf die ethnische Frage bezogen. Aber wie kann dieser Diskurs sich durchsetzen, wenn die brasilianische Gesellschaft in ihrem Kern doch diskriminierend, nicht egalitär, und geteilt ist, sowohl ideologisch als auch in ihrer Alltagspraxis? Mit dieser Frage ist die brasilianische Schule heute stark konfrontiert. Die Mehrzahl der afrobrasilianischen Kinder besucht städtische oder staatliche Schulen, wenn sie überhaupt die Chance haben eine Schule zu besuchen. Die Erziehung in diesen Schulen ist kostenlos, aber das allgemeine Niveau oftmals sehr niedrig: Es fehlt an Material, die Lehrer sind oft schlecht ausgebildet, schlecht bezahlt und unmotiviert und übertragen ihre Überforderung auf ihre unterernährten, ebenfalls unmotivierten und erschöpften Schüler, die oftmals nach ihrer Arbeit in die Schule gehen und nicht selten nur um die Schulspeisung zu empfangen. Von den privaten Schulen bleiben die afrobrasilianischen Kinder in der Regel fern. Die Kosten (Uniform, Material etc.) sind viel zu hoch für die meisten afrobrasilianischen Familien (oft übersteigen diese

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Kosten die Studiengebüren an einer Universiät!). Es ist in Brasilien immer noch sehr selten, daß eine Klasse in einer privaten Schule mehr als 10 % afrobrasilianische Kinder oder Jugendliche umfaßt. Wie in anderen Gesellschaften bedeutet die Fähigkeit des Lesens, Schreibens und Rechnens die Bildung einer potenziell kritisch denkenden Elite, die bereit wäre ihre sozio-politischen und ökonomischen Rechte auch einzufordern. Die Unterdrückung »unwissender« Menschen fällt einem Staat jedoch leichter. Die Schule in Brasilien ist für die afrobrasilianischen Kinder der erste Ort in der Gesellschaft, in dem sie mit Unterschieden aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit konfrontiert werden. Das Erlebnis der kulturellen Unterdrückung, die Negation der Werte der Afrobrasilianer sowie ihre !Diskriminierung innerhalb dieser Institution, prägt entscheidendermaßen die Identifikation dieser »kleinen« Menschen mit ihrer eigenen Kultur und Lebenswelt. Hier entwickeln sie oftmals die ersten Schamgefühle, Minderwertigkeits-komplexe und ein »Selbsthaß« Afrobrasilianer zu sein. Flucht vor der Schule (absentismo) ist häufig auch ein Versuch dieser Situation zu entgehen. So erzählt die Mutter von der 11 jährigen Sabrina, die Einwohnerin einer !Favela in der Südregion von Rio de Janeiro ist: »Sabrina will nicht mehr in die Schule gehen. Es ist jeden Tag ganz schwierig sie dazu zu bewegen. Sie ist viel größer als die anderen Kinder und auch viel dunkler, obwohl fast alle Kinder in dieser Favela-Schule »schwarz« sind. Dennoch wird sie ständig als »Negerin«, »Äffin«, schmutzig, »Crioula de morro«, »favelada« beschimpft. Sie kann sich dagegen nicht wehren. Was kann sie sagen? Sie hat wenige Argumente. Die Lehrerin sagt, daß sie nicht darauf achten soll. Aber einige Kinder spielen sogar nicht mit ihr. Sie war aber immer eine gute Schülerin«. Kinder werden selten von ihren Eltern vorbereitet auf eine ethnische Konfrontation mit anderen Gruppen außerhalb ihrer eigenen Familien. Diese, genauso wie die Lehrer, sind selbst oftmals überfordert mit der Problematik der Diskriminierung und des !Rassismus. Sie tragen oftmals selbst zahlreiche Vorurteile gegenüber den Afrobrasilianern mit sich. Das Schulbuch: Vergleicht man die Abbildungen in den !Schulbüchern stellt man schnell fest, daß die Bilder unter Weißen, Afrobrasilianern und Personen aus anderen Ethnien bei Menschen in gehobenen sozialen Stellungen die Figuren der weißen Personen eindeutig bevorzugen: Sie besitzen in der Regel die Entscheidungsposition und werden in hevorgehobener Form dargestellt. Afrobrasilianische Personen werden dagegen überhaupt seltener dargestellt, sie haben fast nie eine mächtigte soziale Position und werden fast nie auf der Umschlagshülle des Buches abgebildet. Die Afrobrasilianer werden in der Regel in grotesken Figuren

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repräsentiert: Es ist der Mann, der kein korrektes Portugiesisch sprechen kann oder die Frau, die als !»empregada dom¦stica« einer weißen Familie mit übertriebenen negroiden Gesichtszügen dargestellt wird. Weiße Figuren werden in den Schulbüchern auch allgemein differenzierter dargestellt. In einer Studie in Salvador im Jahre 1987 anhand von 81 Schulbüchern konnte festgestellt werden, daß die Weißen 83 unterschiedliche Berufe ausübten im Gegensatz zu den Afrobrasilianern mit nur 13 verschiedenen Berufen. Außerdem wird deutlich, daß die ausgeübten Tätigkeiten der Weißen vor allem Berufe sind, die mit mehr Macht und Ansehen verknüpft sind. Dagegen sind die Afrobrasilianer in beruflichen Zweigen tätig, die einfacher, körperlich, schmutziger und weniger angesehen sind, obwohl in diesen Büchern der häufigste »Beruf« der Afrobrasilianer, der des Sklaven ist. Im Text dieser Bücher wiederholt sich praktisch, was in der Illustration bereits abgebildet wird, wie aus der folgenden Tabelle 3 differenzierter zu ersehen ist. In den Schulbüchern erscheint in den Texten eine große Anzahl von weißen historischen Helden, dagegen stammen die historischen afrobrasilianischen Figuren aus der brasilianischen !Folklore. Die meisten der afrobrasilianischen Figuren sind bereits tot. Im Verlauf der Buchgeschichten leben sie auch selten innerhalb eines familiären Kontexts. Eines der größten Probleme hinsichtlich der Diskriminierung der Afrobrasilianer in den Schulbüchern und in der Schulstruktur besteht darin, daß diese !Vorurteile selten offen zu erkennen sind, d. h. sie bilden sich fast immer in einer unbewußten Form heraus. Die Vorurteile existieren, sie sind präsent, aber nicht verbal expressiv (vgl. z. B. Lopes, 2006:98). Tab. 3: Darstellung der Afrobrasilianer in den Schulbüchern der ersten acht Schulklassen – Afrobrasilianer werden als faul, als böse, als tierisch, als häßlich, als Favela-Bewohner, als unfähig, als verrückt und als clownhaft dargestellt; – Afrobrasilianer üben Tätigkeiten aus, die innerhalb der Gesellschaft als wertlos gelten; – Afrobrasilianer dienen als Karrikatur ; – Afrobrasilianer sind resigniert und nicht kämpferisch; – Afrobrasilianer werden von Weißen erniedrigt; – Afrobrasilianer werden als Objekte, namenlos -nur durch Spitznamen- und ohnFamilie und ohne Ursprung dargestellt; – Entwertung der afrobrasilianischen Kultur und des afrobrasilianischen Aussehens; – Verbale Aggressionen gegen die Afrobrasilianer ; – Vollkommene Abwesenheit der Afrobrasilianer in einigen der Bücher ; – Afrobrasilianer an der letzten Stelle innerhalb der Gesellschaft oder in Gruppen; – Afrobrasilianer als numerische Minderheit; – Abwesenheit von afrobrasilianischen Vätern und Müttern; – Afrobrasilianer als arme Menschen Quelle: Figueira, 1994

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Die Interethnische Pädagogik: Seit ca. 30 Jahren sind in verschiedenen Bundesländern zahlreiche Projekte entwickelt worden, um eine egalitäre und vorurteilsfreie schulische Ausbildung für die afrobrasilianischen Kinder und Jugendlichen zu entwickeln, darunter ist auch die Interethnische bzw. !interkulturelle Pädagogik zu nennen. Als Ergebnis einer Untersuchung der Abteilung für Sozialwissenschaften des »Nfflcleo Cultural Afro-Brasileiro« über interethnischen Beziehungen in Salvador (Bahia) im Jahre 1978 entstand diese pädagogische Richtung, deren Ziele u. a. folgende sind: Erforschung des Ethnozentrismus und des Rassismus im pädagogischen Prozeß, Veränderung des Schulcurriculums, Einführung einer dramatotherapeutischen Methode in der Schule als Bekämpfungsmodus des Rassismus, Aufbau einer Schule, die die kulturellen Werte der unterdrückten ethnischen Gruppierungen lehrt etc. Bis 1984 hat der »Nfflcleo Afro-Brasileiro« in Salvador (BA) zwei Schulen erfolgreich mit dieser Methode geführt. Dennoch ist das Projekt abgebrochen worden aufgrund finanzieller Schwierigkeiten. Bildungssituation der Afrobrasilianer: Der !Rassismus und die ethnische !Diskriminierung in Brasilien sind dermaßen determinierend für das gesamte Leben der Afrobrasilianer, daß wir hier ihre Verstrickung hinsichtlich des Zugangs und Erfolges innerhalb des Schulsystems nicht zu vertiefen brauchen; sie sind offensichtlich, wenn die afrobrasilianische Mutter unterbezahlt den ganzen Tag arbeiten muß und ihre Kinder nur schlecht ernähren kann. Wenn ihr Ehemann, falls sie einen hat, als Autowächter ebenfalls noch nicht das Lebensnotwendige verdient und die ältesten (d. h. 8,10, 11-jährigen) Kinder der Familie bereits arbeiten müssen, um zum Haushalt mitbeizutragen, ist es nicht verwunderlich, daß die meisten schulischen Chancen bereits verloren sind. Dies ist eine sehr häufig anzutreffende familiäre Konstellation. Wenn wir als erstes die gesamte Gruppe der Afrobrasilianer bezüglich des Bildungsgrades analysieren, werden wir behaupten können, daß fast die Hälfte, d. h. ca. 48 % dieser ethnischen Gruppe Analphabeten sind im Gegensatz zu den Weißen, die in den Statistiken 25 % der Analphabeten stellen. Die Evasionsrate der afrobrasilianischen Kinder aus der Hauptschule bis zur 4. Klasse beträgt ca. 40 %. Ihre Austiegschance bis zum Universitätsstudium ist fast null. Im Fall der Frauen sieht es noch »schwärzer« aus: Fast die Hälfte, d. h. 48,6 % der Afrobrasilianerinnen besitzen nur ein oder weniger als ein Jahr Schulbildung und weniger als 1 % (ca. 0,4 %) erreichen 12 oder mehr Jahre Schulbildung. Das bedeutet, daß um so höher das Bildungsniveau ist desto heller die Hautfarbe. In

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dieser Logik des Bildungssystems stehen die Afrobrasilianer wieder an der Basis der Pyramide. Tab. 4: Bildungssituation der weißen und afrobrasilianischen Frauen weiße Frauen 58 % 54 % 67 % 78 %

Anzahl der Schuljahre Ohne oder bis 1 Jahr 1 bis 3 Jahre 4 bis 8 Jahre 9 oder mehr Jahre Quelle: IBASE, 1989: 47

Afrobrasilianerinnen 42 % 46 % 33 % 22 %

Diese traurige Feststellung hat eine enge Beziehung mit dem allgemeinen Entwicklungsstand der unterschiedlichen Regionen des Landes, wie aus der unteren Grafik 1 ersichtlich wird: im Nordosten, wo der allgemeine Analphabetismusgrad beträchtlich höher ist als beispielsweise in der Südostregion, sind die Afrobrasilianer am stärksten betroffen, obwohl es ebenfalls erkenntlich ist, daß ihre Position in allen Regionen, die der Benachteiligten ist. Analphabetismus in der Schule (%) 50 45 40 35 30 Südosten

25

Nordosten

20 15 10 5 0 Weiß

Pardos

Schwarze

Graphik 1 Quelle: Singer, 1995

Der Wunsch ein Universitätsstudium zu absolvieren bleibt für die meisten Afrobrasilianer eine Utopie. Auch wenn dieser Wunsch in Erfüllung geht, zeigen sich die sozialen, ökonomischen und ethnischen Barrieren für ihren weiteren

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Aufstieg als sehr wirksam. Deshalb ist ihre Anwesenheit in den höheren Bildungsebenen immer noch extrem gering bis inexistent, ebenso die Anzahl der afrobrasilianischen Professoren und derjenigen Afrobrasilianer mit einem Doktortitel und dies sowohl in den öffentlichen als auch in den privaten Universitäten. Eine der wenigen Chancen für die Afrobrasilianer hinsichtlich eines Studiums aufgrund ihrer allgemeinen prekären ökonomischen Situation besteht in dem Besuch einer Abenduniversität, die sie nach einem anstrengenden Arbeitstag besuchen. Die Anerkennung solcher Studiengänge ist jedoch wesentlich geringer. Wie oben dargestellt, sichert ein Schulabschluß den Afrobrasilianern noch keine vertikale Aufstiegsmöglichkeit, da in der Gesellschaftsstruktur nicht nur das Zeugnis, Diplom oder der Magistertitel zählen, sondern auch die passende Hautfarbe dazu. Darauf basiert die Diskussion in Brasilien über die gesetzliche Festlegung einer freien Quote von Schul- und Universitätsplätzen, die den Zugang der Afrobrasilianer in diesen Bereich garantieren würde (»ażo afirmativa« oder »ażo compensatûria«, vgl. Lopes, 2006:12; Internet unten). Obwohl die Mehrzahl der städtischen Afro-Bevölkerung für diese Festlegung ist, können wir beobachten, daß viele Militante, besser Ausgebildete und akademische Afrobrasilianer die Gegenmeinung vertreten. Sie bringen zur Sprache, daß die Afrobrasilianer eine beständige brasilianische Gruppe sind, die genauso wie die Weißen dieselben allgemeinen Chancen bekommen und nicht als »Sondergruppe« innerhalb der Gesellschaft betrachtet werden sollten. Für diese Afrobrasilianer soll die Beseitigung des Rassismus und der ethnischen Diskriminierung durch die Bewußtseinswerdung der Brasilianer im allgemeinen und nicht durch eine quasi »positive« Apartheid-Gesetzgebung stattfinden, diese würde ihrer Meinung nach nicht zu einer Integration beitragen. !Apartheid !interkulturelle Pädagogik !Kinder !Missionierung !Schulbücher A. Peixoto (1933): NoÅþes da histûria da educażo. S¼o Paulo, p. 212 – 249; D. Menezes (1935): Dicion‚rio psico-pedagûgico. S¼o Paulo; L. Franca S. J. (1960): O m¦todo pedagûgico dos jesu†tas. Rio de Janeiro; P. Freire (1973): Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek; M. Nazar¦ Salvador et al. (1979): A crianÅa negra e a educażo. Cadernos de Pesquisa (SP), (31), p. 69 – 72; S. Guerra Duarte (1986): Dicion‚rio brasileiro de educażo. Rio de Janeiro; RaÅa negra e educażo. Cadernos de Pesquisa (Fund. Carlos Chagas, SP), N8 63, nov. 1987. S¼o Paulo; R. Pahim Pinto (1987): A educażo do negro: uma revis¼o da bibliografia. Cadernos de Pesquisa (SP), (62), p. 3 – 34; L. A. de Oliveira GonÅalves (1987): Reflex¼o sobre a particularidade cultural na educażo das crianÅas negras. Cadernos de Pesquisa (SP), (63), p. 27 – 29; M. C. Lopes Fontoura (1987): A exclus¼o da cultura afrobrasileira dos curr†culos escolares. Uma quest¼o sû de desconhecimento histûrico? Mestrado. Porto Alegre: UFRS; Instituto de Recursos Humanos Jo¼o Pinheiro (org.) (1988): Educażo e discriminażo dos negros. Belo Horizonte:IRHJP; M. R. N. Rodrigues (1988): A escola e a quest¼o da seletividade da crianÅa negra. Cadernos de Pesquisa (S¼o Lu†s), 4(1), p. 29 – 38; A. J. Alves et al. (1990): A quest¼o das desigualidades raciais na

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escola: o papel do professor de primeiro grau. Forum Educational (RJ), 14(1), p. 97 – 109; A. Niskier (2001): Educażo brasileira. 500 anos de histûria. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Internet: Percentual de negros no Ensino Superior ¦ metade do de brancos: http://www.brasil.gov.br/ noticias/arquivos/2011/05/13/percentual-de-negros-no-ensino-superior-e-metade-do-debrancos Escolaridade da populażo negra avanca, mas ainda n¼o alcancou n†vel que brancos tinham h‚ dez anos [‚udio]: http://cbn.globoradio.globo.com/editorias/economia/2012/ 12/19/ESCOLARIDADE-DA-POPULACAO-NEGRA-AVANCA-MAS-AINDA-NAO-ALCAN COU-NIVEL-QUE-BRANCOS-TIN.htm IBGE: 69,4 % dos analfabetos do pa†s s¼o negros: http://noticias.terra.com.br/brasil/no ticias/0,,OI1947001-EI10361,00-IBGE+dos+analfabetos+do+Pais+sao+negros.html Metas do MilÞnio: Educażo, Escola e Aprendizagem: http://www.ipea.gov.br/desafios/ index.php?option=com_content& view=article& id=888:reportagens-materias& Itemid=39 Acesso da populażo negra — educażo ainda deixa a desejar, segundo dados: http://www.inesc. org.br/noticias/noticias-gerais/2011/agosto/acesso-da-populacao-negra-a-educacaoainda-deixa-a-desejar-segundo-dados IBGE: em 10 anos, triplica percentual de negros na universidade: http://seducma.blog spot.de/2012/11/ibge-em-10-anos-triplica-percentual-de.html AÅþes afirmativas: Educażo e populażo afro-descendente no Brasil: avanÅos, desafios e perspectivas: http://www.fundacioncarolina.es/es-ES/publicaciones/avancesinvestigacion/Documents/ AI76.pdf AÅþes afirmativas para a populażo negra: articulando reconhecimento e redistribuiżo: http://www.gecec.pro.br/downloads/01_As_acoes_afirmativas.pdf AÅþes afirmativas nas universidades [como funciona em cada universidade]: http://ve stibular.brasilescola.com/cotas/acoes-afirmativas-das-universidades.htm Aos meus queridos anti-cotas: http://desensinando.wordpress.com/2013/01/24/aosmeus-queridos-anti-cotas/ O negro na Universidade: o direito — inclus¼o: http://www.uel.br/projetos/leafro/pages/ arquivos/O%20Negro%20na%20Universidade.pdf Acesso e permanÞncia da populażo negra no Ensino Superior : http://www.dominiopu blico.gov.br/download/texto/me004866.pdf Ministra prevÞ entrada de 56 mil estudantes por ano nas Universidades Federais : http://agenciabrasil.ebc.com.br/noticia/2012 – 08 – 29/ministra-preve-entrada-de-56-milestudantes-negros-por-ano-nas-universidades-federais Governo ter‚ programa para garantir permanÞncia de estudantes cotistas nas Universidades Pfflblicas : http ://agenciabrasil.ebc.com.br/noticia/2012 – 09 – 11/governotera-programa-para-garantir-permanencia-de-estudantes-cotistas-nas-universidades-publicas Cotistas s¼o 44 % dos inscritos no Sisu: http://agenciabrasil.ebc.com.br/noticia/ 2013 – 01 – 14/cotistas-sao-44-dos-inscritos-no-sisu Cota n¼o ¦ concess¼o, mas resultado de luta: http://www.brasildefato.com.br/node/11028 Brasil tem mais de 22 mil cotistas negros em faculdades pfflblicas; eles representam 1,7 % do corpo discente das pfflblicas: http://educacao.uol.com.br/ultnot/2009/11/20/ ult105u8906.jhtm

Biografien

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Lei das Cotas: http://vestibular.brasilescola.com/cotas/lei-das-cotas.htm Desigualdades regionais, sociais e raciais no atraso escolar diminuem: http://ultimose gundo.ig.com.br/educacao/2012 – 11 – 28/desigualdades-regionais-sociais-e-raciais-no-atra so-escolar-diminuem.html

Biografien Einführung: Die biographischen Methoden, die ›makroskopisch‹ große Strecken des menschlichen Lebenslaufs umfassen oder ›mikroskopisch‹ z. B. als Tageslaufanalyse (vgl. Pauleikoff, 1960, 1963) betrieben werden können, lassen sich als Herstellung und Analyse von Lebensläufen den Einzelfallstudien zurechnen. Dorsch (1994:119) unterscheidet bei der biographischen Methode einmal die allgemeine Methode, den Lebenslauf und seine erlebnismäßige Spiegelung zu erfassen und für die psychologische Diagnostik und Therapie zu verwerten und zum anderen den hauptsächlich von der Tiefenpsychologie beschrittenen Weg zur psychologischen Erfassung eines Menschen, im Gegensatz zur beobachtenden und zur experimentellen Methode. Die biographische Methode zielt zwar auf das Historisch-Einmalige ab, aber man will oftmals auch aus dem Vergleich mehrerer intensiv erarbeiteter Lebensläufe zu einer Aggregation d. h. integrierenden Zusammenfassung von Einzelbefunden kommen. Die heutige psychologische Lebenslaufforschung ist breit gefächert: Psychoanalyse (z. B. Schraml, 1965), Ich-Psychologie, Psychiatrie (z. B. Jaspers, 1973), Soziologie (z. B. Szczepanski, 1967; Voges, 1987; Endruweit & Trommsdorff, 1989:98ff), Psychometrie, Humanistische Psychologie (z. B. Bühler,1971; Jüttemann & Thomae, 1998) u. a. bemühen sich um eine Klärung dieses Zentralproblems. Biographien in kulturvergleichender Absicht wurden bereits in der griechisch-römischen Antike verfaßt. Ein berühmtes Beispiel sind die zwischen 105 und 115 n. Chr. entstandenen »Bioi paralleloi« des Plutarchos aus Chaironeia (ca. 46 – 120 n. Chr.). Überliefert sind hierin zweiundzwanzig Paare von Lebensbeschreibungen je eines griechischen und eines römischen Feldherrn oder Staatsmanns (z. B. Demosthenes-Cicero, Alexander-Caesar, Theseus-Romulus) mit je einer »Synkrisis« d. h. vergleichenden Würdigung von Persönlichkeit und Leistung. Seine biographische Tätigkeit kennzeichnet Plutarch selbst treffend: »Ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder, und hervorragende Tüchtigkeit und Verworfenheit offenbart sich nicht durchaus in den aufsehenerregendsten Taten, sondern oft wirft ein geringfügiger Vorgang, ein Wort oder ein Scherz ein bezeichnenderes Licht auf einen Charakter als Schlachten mit tausenden von Toten und die größten Heeresaufgebote und

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Belagerungen von Städten. Wie nun die Maler die Ähnlichkeiten dem Gesicht und den Zügen um die Augen entnehmen, in denen der Charakter zum Ausdruck kommt, und sich um die übrigen Körperteile sehr wenig kümmern, so muß man es mir gestatten, mich mehr auf die Merkmale des Seelischen einzulassen und nach ihnen das Lebensbild eines jeden zu entwerfen, die großen Dinge und Kämpfe aber anderen zu überlassen.« (zit. nach Ziegler, 1954/64). Seine Parallel-Biographien sollten schon damals dem Kulturaustausch und der gegenseitigen Anerkennung von Griechen und Römern dienen. Diese Rolle haben in der Folgezeit auch andere biographische Darstellungen fremdkultureller Persönlichkeiten in Europa gespielt. Erinnert sei z. B. an Alexander Puschkin’s Biographieversuch »Der Mohr Peter des Großen« (begonnen 1827), in dem er die Lebensgeschichte seines abessinischen Urgroßvaters mütterlicherseits des Generals Ibrahim Hannibal schildert oder Brentjes (1976) Biographie über den schwarzen Philosophen in Halle Anton Wilhelm Amo. Wie weit das biographische Interesse der Völkerkundler zurückreicht, macht u. a. die bereits von J. F. Blumenbach (1752 – 1840) in seinen »Beyträgen zur Naturgeschichte« (1790) zusammengestellte Sammlung von Kurzbiographien bedeutender Afrikaner sichtbar (vgl. Tiedemann, 1984; Sadji, 1980; Stubbe, 1988, 2012; Martin, 1993; Firla, 2001) In methodischer Hinsicht wurden 1935 von Dollard Kriterien für »life-history-Studien« aufgestellt, die auch für die Ethnologie/Anthropologie und gesamte sozial-anthropologische Schule von Malinowski bis Kimball Young maßgebend geworden sind, nämlich die genaue Spezifizierung der kulturellen, soziologischen, psychologischen und ökonomischen Faktoren, welche die Entwicklung der Persönlichkeit beeinflussen können. Aus dem lateinamerikanischen Raum liegen bereits eine Vielzahl von wertvollen Biographien vor wie z. B. die Biographie eines brasilianischen »Indianers« Tiago Marques (Baldus, 1979), die Lebensgeschichte der mexikanischen Familie Sanchez (Lewis, 1967) und die Biographie eines Afrokubaners und ehemaligen Sklaven (Barnet, 1969). An biographische Studien fremdkultureller Persönlichkeiten müssen generell folgende Forderungen gestellt werden: – die Forderung nach Überschaubarkeit der Bedingungen, unter denen ein berichtetes Phänomen und der Bericht darüber zustande kam – die Forderung nach Unvoreingenommenheit ist eine wesentliche Vorbedingung der Vergleichbarkeit von Untersuchungen verschiedener Autoren zum gleichen Thema. Gemeint sind hier vor allem Behinderungen der Unvoreingenommenheit, die durch theoretische Einflüsse (»Grundannahmen« des Untersuchers), durch die persönliche, soziale und berufliche Interessiertheit des Berichtenden an gewissen Ergebnissen bedingt sind – die Forderung nach Konkretheit der Aussagen bezieht sich vor allem auf die keinen Fall zu entbehrenden Hinweise auf die soziologische Einbettung eines

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Lebenslaufes oder auf seine Färbung durch spezifische Temperamentslage und seine Determination durch eine spezifische historische Begebenheit – die Forderung nach Vollständigkeit der darzustellenden Lebensgeschichte. Karl Jaspers, dem wir einige eindrucksvolle Pathographien verdanken, schreibt hierzu: »Es gibt keinen Befund, der nicht zur Biographie gehörte, und keinen, bei dem nicht sein Ort in der Zeit relevant wäre, und sei es sein Charakter der Dauer durch ein Leben.« (Jaspers, 1973:563) Generell ist man sich heute in den anthropologischen Wissenschaften darin einig, daß biographische Studien als Erkundungsstudien und Instrument der Hypothesenentwicklung wertvolle heuristische Dienste leisten können. Obwohl sich Einzelfallanalysen in erster Linie mit Befunden an einzelnen Individuen beschäftigen, so ist es nach Leeper (1964) sehr wahrscheinlich, daß man Gesetzmäßigkeiten entdeckt, die auch für andere Individuen gelten, aber bei diesen nicht entdeckt werden können, solange sie nicht an einer Person, bei welcher sie sich in prägnanter Form manifestieren, studiert werden. Als ausschließlich benutzte Forschungsmethode ist die biographische Methode jedoch nur sehr beschränkt erkenntnis-gewinnend, weil immer wieder die Repräsentativität und Validität der von ihr gesammelten Materialien bezweifelt werden kann. Ihr Sinn liegt vor allem in der Thematisierung der Selbstreflexivität menschlichen Handelns im Rahmen der Sinnfrage, der Lebenszeit und !Kultur. In der Klinischen Ethnopsychologie wurden bisher vor allem Biographien traditioneller !Heilerinnen (vgl. Pollak-Eltz, 1987; Peltzer, 1992), Lebensgeschichten von (psychisch) Kranken in den Ländern der sog. Dritten Welt (vgl. Borofka, 1980; Quekelberghe, 1991; Pfeiffer, 1994; W.– S. Tseng, 2001), (Auto-)Biographien von Frauen (de Jesus, 1968; Souza da Silva, 1983) und Angehörigen von Minoritäten (vgl. z. B. Santos-Stubbe, 1995) gesammelt und analysiert. Kulturvergleichende Biographieforschung ist dagegen kaum betrieben worden. Auch fehlen noch kulturvergleichende Life-Events-Studien. Hierbei dürfte sich jedoch zeigen, daß in fremden Kulturen andere lebensverändernde Ereignisse bzw. Traumen zu psychischen Belastungen führen als dies z. B. in Europa der Fall ist (vgl. Jüttemann & Thomae, 1998; Stubbe, 2012:449ff). In den biografischen Lexika Brasiliens (vgl. z. B. Blake, 1902; Lopes, 2004, 2006; Schumaher & Vital Brasil, 2006 etc.) finden sich viele Einzelbiografien bedeutender Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer wie z. B. !Zumbi dos Palmares, Padre Antúnio Vieira (S. J.), Jo¼o Fernandes Vieira (Gouverneur von Angola und Para†ba; vgl. Arruda e Piletti, 2005:199), Andr¦ RebouÅas (vgl. Telles, 1984; Juc‚, 1986), Jo¼o C–ndido (Revolta da Chibata, 1910), Carolina Maria de Jesus, Abdias do Nascimento, Friedenreich, Pel¦, Frei Davi etc. Auch tiefergehende biografische Interviews wurden vereinzelt mit Afrobrasilianerinnen durchgeführt (vgl. Costa, 1982; Santos Souza, 1983; Santos-Stubbe,

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1995a, 1995b; Ferreira, 2000). Aufschlußreich bzgl. der Sklaverei sind auch das Interview mit Mariano Pereira dos Santos, einem 122-jährigen Ex-Sklaven (Graf, 1986/87), die Biografie Jo¼o de Oliveiras (Ende des 18. Jh.s) (Costa e Silva, 2004) oder die Biografie Mahommahs Baquaqua (Moore, 1988), die das Sklavenleben zwischen 1840 bis 1850 schildert. !abolicionismo !Anhang !Aufstände und Rebellionen !Bibliografien ! Frau !Geschichte der Afrobrasilianer !Kunst !Literatur !Musik !Organisationen !Politik !Soldaten !Sport A. RebouÅas (1938): Di‚rio e notas autobiogr‚ficas. Rio de Janeiro; Y. de Souza (1963): Grandes negros do Brasil. Rio de Janeiro; C. M. de Jesus (1968): Tagebuch der Armut (Quarto de despejo). Frankfurt/M.; J. Louzeiro (1968): Andr¦ RebouÅas. Rio de Janeiro; R. Magalh¼es Jfflnior (1969): A vida turbulenta de Jos¦ do Patroc†nio. Rio de Janeiro; O. J. Ferreira Guilhon (1974): Jos¦ do Patroc†nio. S¼o Paulo; H. Costa (1982): Fala, crioulo. Depoimentos. Rio de Janeiro; N. Santos Souza (1983): Tornar-se negro. Rio de Janeiro; P. C. da Silva Telles (1984): Histûria da engenharia no Brasil. (s¦c. XVI a XIX). Rio de Janeiro; S. M. G. dos Santos (1985): Andr¦ RebouÅas e seu tempo. Rio de Janeiro; M. E. de Campos Graf (1986/87): Entrevista com Mariano Pereira dos Santos, um ex-escravo de 122 anos. Revista da SBPH (SP), (3), p. 117 – 124; M. J. de Melo Juc‚ (1986): Andr¦ RebouÅas. A study of his life and ideas in historical context. Essex: University of Essex; Fr. Souza da Silva (1986): Tagebuch eines brasilianischen Dienstmädchens (Ai de vûs). München; M. Furtado Hartung (1987): Depoimentos de alguns descendentes de escravos e ex-escravos de Santa Catarina. Boletim de CiÞncias Sociais (Florianûpolis), (47), S. 41 – 65; M. G. Florentino & J. L. Ribeiro Fragoso (1987): Marcelino, filho de InocÞncia Crioula, neto de Joana Cabinda. Um estudo sobre fam†lias escravas em Para†ba do Sul (1835 – 1872). Estudos Econúmicos (SP), 17(2), p. 151 – 173; M. A. de Aguiar Medeiros (1987): Mulheres negras. Histûrias de vida. Dados (RJ), 30(2), p. 207 – 222; »Negros«. Veja, N8 19, ano 20, 11 de maio 1988; M. J. Maestri Filho (1988): Notas de Artur Ramos de um depoimento de um ex-escravo. Estudos Ibero-Americanos (Porto Alegre), 14 (2), p. 215 – 230; ders. (1988): Depoimentos de escravos brasileiros. S¼o Paulo: šcone; L. R. de Barros Mott (1988): A vida m†stica e erûtica do escravo Jos¦ Francisco Pereira (1705 – 1736). Tempo Brasileiro (RJ), (92/93), p. 85 – 104; S. Hunold Lara (1988): Biografia de Mohammah G. Baquaqua. Revista Brasileira de Histûria (SP), 8(16), p. 269 – 284; S. Moore (1988): Biografia e narrativa do exescravo afro-brasileiro Mahommah Baquaqua. S¼o Paulo; L. Raposo (1989): Marcas de escravos. Listas de escravos emancipados vindos a bordo de navios negreiros (1839 – 1841). Arquivo Nacional. Rio de Janeiro; Ch. dos Santos-Stubbe (1995a): Arbeit, Gesundheit und Lebenssituation afrobras. empregadas dom¦sticas (Hausarbeiterinnen). Frankfurt/M.; dies. (1995b): Suic†dio como fator de alto risco entre as empregadas dom¦sticass no Rio de Janeiro. Journal Brasileiro de Psiquiatria (RJ), 44(10), p. 519 – 527; G. Jüttemann & H. Thomae (Hrsg.) (1998): Biografische Methoden in den Humanwissenschaften. Weinheim; R. F. Ferreira (2000): Afro-Descendente. Identidade em construżo. Rio de Janeiro; A. Costa e Silva (2004): Francisco F¦lix de Sousa, mercador de escravos. S¼o Paulo; Arquivo Nacional & IPEAFRO (ed.) (2004): Exposiżo Abdias Nascimento 90 anos Memûria viva. Rio de Janeiro; N. Lopes (2004): Enc†clop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo; ders. (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o

Búzios (lat. bucinum=Trompetenmuschel; auch: Kaurimuschel)

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Paulo; J. Jobson de A. Arruda & N. Piletti (2005): Toda a histûria. Histûria geral e histûria do Brasil. S¼o Paulo; S. Schumaher & E. Vital Brasil (2006): Mulheres negras do Brasil. Rio de Janeiro; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Búzios (lat. bucinum=Trompetenmuschel; auch: Kaurimuschel) Allgemeines: Bei B. handelt es sich um ein afrobras. Orakel. Das Orakel ist eine in vielen Kulturen vorhandene Institution zur Erkundung des Zukünftigen und der Weissagung. Orakel (lat. oraculum = Spruch, Orakelstätte) werden nicht nur an offiziellen Kultstätten/Tempeln z. B. Delphi, Dodona, Olympia, sondern schon aus der umgebenden Natur z. B. dem Rauschen der Blätter, dem Rieseln der Quelle, Donner und Blitz etc. wahrgenommen. Neben den Spruchorakeln (z. B. Delphi) existierte in der europäischen Antike auch ein Losorakel (z. B. Fortuna Primigenia in Praeneste), das im Rahmen eines Heiligtums Lostäfelchen mit einfachen Ja/Nein Antworten gab. Traumorakel waren als Heilungsorakel vor allem mit dem Asklepios-Kult im antiken Griechenland verbunden. Hier offenbarte ein Traum die Ursache der Krankheit (Inkubation). Van Quekelberghe (1991) hat gezeigt, daß viele Menschen gegenwärtig in China, Taiwan und im südostasiatischen Raum bei Problem- und Krisensituationen zu einem Tempel gehen und dort Rat durch »Chu-chien« (= das Ziehen eines göttlichen Stäbchens) suchen, eine bestimmte Orakelmethode, die in vielerlei Hinsicht an das altchinesische Orakel par exellence, das I-Ging, erinnert. Es handelt sich hierbei mehr um eine erfolgreiche psychologische Beratung (folk-style-counseling) als um ein religiöses Ritual. Das afrobras. »Búzio«: Auch im afro-bras. Orakel, dem »Bfflzio«, werden im Rahmen der afro-bras. Kulte 12 bis 32 (weißlich-gelbe, eierförmige) Kauri-Muscheln Kulte geworfen, aus deren Lage Zukünftiges vorausgesagt werden kann (dilogun). In diesem verhältnismäßig einfachen und populären Verfahren finden sich eine Reihe grundlegender therapeutischer Merkmale und Prozesse wie z. B. Hoffnung wecken, Angst beseitigen, das Selbstwertgefühl stärken, sowie die Förderung von sozialangepassten Verhaltensweisen. Der Folklorist Lu†s da C–mara Cascudo (1980) gibt eine ausführliche Darstellung über die weltweite Verwendung des »bfflzio« als Schmuck-gegenstand, Zahlungsmitttel und Grabbeigabe etc. Er schreibt über das afro-bras. »bfflzio«: »Die ›babalaús‹ (Priester) befragen die ›orixas‹ (Gottheiten) über die Zukunft, indem sie kleine ›bfflzios‹ auf eine Matte

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auswerfen, und die Antwort des ›encantado‹ (Bezaubernden) aus der Lageanordnung der Muscheln deuten. Die Halsketten, Armbänder, Ohrringe und Broschen aus ›bfflzios‹, wie sie in Bahia verkauft werden, besitzen eine apotropäische Funktion und dienen als Amulette um schlechte Einflüsse und Unheil abzuwehren.« (Cascudo, 1980:156). Cacciatore (1977:71) weist auch darauf hin, dass sich diese Orakeltechnik sowohl in Afrika wie auch in Brasilien findet und die Muscheln je nach ihrer Erscheinung als männlich und weiblich identifiziert werden. Exu, der die Antworten im divinatorischen Prozess des »dilogun« gibt, gilt als einer der größten Beurteiler des »bfflzio« vor allem im !Candombl¦. Ein »bfflzio encastoado« ist ein phallisches, in Gold oder Silber gefasstes ! Amulett, das den Kindern um den Hals gebunden wird. Es hat die gleiche Bedeutung wie die !Figa (vgl. Lody, 2003:225). J. Ribeiro (1963) : O jogo dos bfflzios e as grandes cerimúnias ocultas da umbanda. Rio de Janeiro; O. G. Cacciatore (1977) : Dicion‚rio de cultos afro-brasileios. Rio de Janeiro; L. da C. Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore Brasileiro. S¼o Paulo; M. Loewe & C. Blake (ed.s) (1981): Oracles and divination. Boulder/Con.; Oju-Ob‚, babalawú (1984): O verdadeiro jogo dos bfflzios. Rio de Janeiro; U. Ritz (1988): Das Bedeutsame in den Erscheinungen. Divinationspraktiken in traditionalen Gesellschaften. Frankfurt/M.; J. Santana Braga (1988): O jogo de bfflzios. Um estudo da adivinhażo no candombl¦. S¼o Paulo; W. Andritzky (1988): Wahrsagen und Lebensberatung: Ethno-psychologische Aspekte des Koka-Orakels in Peru. Curare, vol.11, 1988:97 – 118; Delphi – Orakel am Nabel der Welt. Ausstellungskatalog des Badischen Landesmuseums Karlsruhe, 1996; J. Rickenbach (Hg.) (1999): Orakel. Zürich: Rietberg Museum; Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte. griech./dt. Stuttgart, 2001; R. Lody (2003): Dicion‚rio de arte sacra e t¦cnicas afro-brasileiras. Rio de Janeiro

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Cachaça !Alkoholismus

Cafuné Das Wort stammt möglichweise aus dem Kimbundo (vgl. MendonÅa, 1948:207; Lopes, 2003:55). In einem klassischen !Reisebericht der brasilianischen Kaiserzeit (1822 – 1889) beschreibt der französische Reisende Charles Expilly (1814 – 1886) 1864 den C. folgendermaßen: »Zur Stunde der großen Hitze … legen die Herrinnen in der Zurückgezogenheit der inneren Gemächer sich auf den Schoß ihrer Lieblingshaussklavinnen und übergeben ihr den Kopf. Die Lieblingssklavin krault mit ihren trägen Fingern das volle Kopfhaar, das sich vor ihr entrollt. Sie führt kreisende Bewegungen in der üppigen Haarpracht aus. Sie kratzt zärtlich die Haarwurzeln, zwickt die Kopfhaut mit Geschick und läßt von Zeit zu Zeit ein trockenes Schnalzen der Fingernägel des Daumens und Mittelfingers hören. Dieses Empfinden wird zu einer Quelle der Lust für die Sinnlichkeit der Kreolinnen. Eine lustvolle Gänsehaut durchströmt ihre Glieder in Kontakt mit den Zärtlichkeit spendenen Fingern. Eingedrungen, besiegt durch das Fluidum, das sich in ihrem ganzen Leib ausbreitet, einige unterliegen den Köstlichkeiten dieses Empfindens und schlummern aus Lustgefühl auf den Knien der Sklavin ein.« Roger Bastide (1941), dem wir eine Vielzahl bedeutender afrobrasilianischer Untersuchungen verdanken, interpretiert die erotisierende Wirkung des C. psychoanalytisch als einen symbolischen Sexualakt bzw. eine lesbische Liebespraktik weißer Herrinnen in einer für sie sexualrepressiven Sklavenhaltergesellschaft. Diesen Ansatz ergänzt Stubbe (2012:102 f), der in einer Umfrage 1985 bei seinen großstädtischen Universitätsstudenten und –innen in Rio de Janeiro zeigen konnte, daß es sich um eine noch heute geläufige zärtliche Liebespraktik unter heterosexuellen Paaren handelt. Er führt auch

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noch andere mögliche Interpretationen an, wie die humanethologische, die C. als ein »soziales Lausen« versteht, oder die Interpretation einer indigenen Einschlaftechnik, die in Brasilien bis heute bei Kindern und Männern durchgeführt wird. In einem Land und einer Zeit, in denen Flöhe und Läuse zur Alltagswirklichkeit gehören, sind Lausen und C. oftmals nicht klar voneinander zu unterscheiden. Ladurie (1983:40) schreibt z. B. über das mittelalterliche Montaillou um 1300 folgendes: »Flöhe und Läuse hatte jeder. Jeder kratzte sich und auf jeder Stufe der gesellschaftlichen, freundschaftlichen und familiären Rangordnung war es üblich, einander die Flöhe abzulesen. So ist es kein Wunder, daß man in Okzitanien den kleinen Finger, den ›tue-poux‹, den ›Flohtöter‹, zu nennen pflegte. Die Geliebte flöhte den Geliebten, die Magd die Hausfrau, die Tochter die Mutter.« Die Behandlung setzte eine gewisse Intimität der Behandelnden mit dem Behandelten voraus. Zwar bestand allgemein in Montaillou eine relativ große körperliche Intimität aller mit allen, man könnte von einer »Kultur der Promiskuität« sprechen, doch fehlte es nicht an streng beachteten Schicklichkeitsgeboten. Von dem angolanischen Volkskundler ­scar Ribas (1965:189 – 193) findet sich im Anhang von C–mara Cascudos !»Made in Africa« eine interessante Arbeit über »O cafun¦ em Angola«. !Haare !Fotografie !Made in Africa !Reiseberichte Ch. Expilly (1864): Les femmes et les moeurs du Br¦sil. Paris; R. Bastide (1941): Psican‚lise do cafun¦. S¼o Paulo; L. da C. Cascudo (1976): Histûria dos nossos gestos. S¼o Paulo; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2003): Novo Dicion‚rio Banto do Brasil. Rio de Janeiro; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Candomblé (von Bantu: candombe = Perkussionsinstrument) Der C. ist eine synkretistische afrobrasilianische Religion, der das Bantu-Wort Candombe (= Perkussionsinstrument) zugrunde liegt. Die afrikanischen Wurzeln des Candombl¦ gehen wahrscheinlich auf die westafrikanische YorubaKultur zurück. Nach neueren Schätzungen stehen in Brasilien zwischen 20 und 30 % der Bevölkerung in engem Kontakt mit dieser Religion, die einen eigenen Kult besitzt, in dem auch !Trancen stattfinden. In den mündlich überlieferten afrikanischen Mythen Brasiliens (vgl. z. B. Lorenz, 1983; Cascudo, 1978; Djaima, 1979) finden sich psychologische Charakterisierungen der orix‚ (= Gottheiten, Geistwesen; Vermittler zwischen Gott und den Menschen; vgl. Berkenbrock, 1995), die von der Sozialpsychologin Monique Augras (1979, 1980) als Spuren einer »intuitiven Persönlichkeitspsychologie« aufgefaßt werden. Augras analysierte verschiedene afrobrasilianische Göttermythen und verglich sie mit den Ergebnissen einer Rorschachdiagnostik

Candomblé (von Bantu: candombe = Perkussionsinstrument)

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von 15 (auf einem bestimmten orix‚) initiierten Mitgliedern eines Candombl¦Terreiros in Rio de Janeiro. Zwischen den Persönlichkeitsmerkmalen der »filhas da santo« (Göttertöchter) und ihren orix‚s konnte sie auf diese Weise viele Übereinstimmungen finden. Wenn auch in streng methodischer Hinsicht die kleine Stichprobe, die nur aus einem »terreiro« (= Kultstätte) stammt, die Rorschachdiagnostik in einer fremden Kultur (nach europäischen Auswertungskriterien) und die Auffächerung der verschiedenen orix—s in Unter-Typen problematisch sind, so spielen dennoch diese religiösen Persönlichkeitstypen in der Alltagspsychologie vieler Millionen Brasilianer heute eine bedeutende Rolle. Es gibt kaum eine Brasilianerin oder einen Brasilianer, der nicht durch bestimmte Ketten, !Amulette, Armbänder, Götterabzeichen etc. eine Verbindung zu der afrobrasilianischen !Mythenwelt herstellt. Wir geben in der folgenden Vergleichstabelle 5 eine Übersicht über die wichtigsten orix‚, ihre Attribute, ihren Wochentag, ihre speziellen Speisen und Getränke, ihre eigentümlichen Farben und ihre psychologische Charakterisierung. !Besessenheit !Bibliografien !Einführung !Initiation !Musik !Patu‚ !Personkonzepte !Religion !Tanz !Trance !Xangú !Yemanja Ê. Carneiro (1948): Candombl¦s da Bahia. Salvador ; M. J. Herskovits (1954): Estrutura social do Candombl¦ afrobrasileiro. Bol. do Inst. Joaquim Nabuco, vol.3. Recife; R. Bastide (1971): As religiþes africanas no Brasil. 2 vol.s. S¼o Paulo; ders. (1978): O candombl¦ da Bahia. S¼o Paulo; Y. Maggie (1975): Guerra de Orix‚. Um estudo de ritual e conflito. Rio de Janeiro: UFRJ; R. G. Lody (1976): Afox¦. Rio de Janeiro; G. Cacciatore (1977): Dicion‚rio de cultos afro-brasileiros. Rio de Janeiro; M. A. Pereira Barreto (1977): Os voduns do Maranh¼o. Fundażo Cultural do Maranh¼o (S¼o Lu†s); R. Ribeiro (1978): Cultos afrobrasileiros do Recife. Recife; Caryb¦ (1980): Iconografia dos deuses africanos no candombl¦ da Bahia. S¼o Paulo; P. Fatumbi Verger (1981): Orix‚s. Deuses iorub‚s na Ýfrica e no Novo Mundo. Salvador ; C. Ribeiro (1983): Religiosidade do †ndio brasileiro no candombl¦ da Bahia: influÞncias africana e europ¦ia. Afro-Ýsia (Salvador), 14, p. 6 – 80; M. Augras (1983): O duplo e a metamorfose. A identidade m†tica em comunidades nagú. Petrûpolis; B. de Gûis Dantas (1984): De feitiÅeiros a comunistas: acusaÅþes sobre o candombl¦. D¦dalo (SP), (23), P. 97 – 115; M. M. Marzal (1985): El sincretismo iberoamericano. Un estudio comparativo sobre los quechuas (Cusco), los mayas (Chiapas) y los africanos (Bah†a). Lima; J. Batista dos Santos & M. Augras (1985): Uma casa de Xangú no Rio de Janeiro. D¦dalo (SP), (24), p. 43 – 62; A. Vogel et al. (1985): A moeda dos orix‚s. Religi¼o e Sociedade (RJ), 14(2), p. 4 – 17; Fr. C. Rehbein (1985): Candombl¦ e salvażo. A salvażo na religi¼o nagú — luz da teologia crist¼. S¼o Paulo; L. M. S. Trindade (1985): Exu. Poder e perigo. S¼o Paulo; N. l. Ferreira (1986): A repress¼o policial aos cultos afro-brasileiros em Porto Alegre nas d¦cadas 20 e 30. Porto Alegre: UFRS-NEPLA; W. I. Oliveira (1986): Iemanj‚-Um mito brasileiro em florażo, J. Bras. Psiquiat., 35(5), p. 267 – 271; C. Eugenio Moura (org.) (1987): Candombl¦: desvendando identidades. S¼o Paulo; C. E. Marcondes de Moura (org.) (1987): Candombl¦: desvendando identidades. S¼o Paulo; ders. (1989): Meu sinal

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Tab. 5: Orix‚s des Candombl¦ Quellen: Cacciatore, 1977; Lody, 1979; Augras, 1979; Verger, 1981; Stubbe 1987:80 f, 2001:130 f

est‚ no teu corpo. Escritos sobre a religi¼o dos orix‚s. S¼o Paulo:EDUSP; H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Berlin; ders. (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; A. Vergolino Henry et al. (1988): Orix‚s das aguas. ComunicaÅþes do ISER (RJ), 7(28), p. 79 – 83; J. Teles dos Santos (1989): O caboclo no candombl¦. PadÞ (Salvador), (1), p. 11 – 21; M. von Conta (1990): Geister, Götter, Opfergaben. Die geheimnisvolle Welt von Macumba und Candombl¦. In: I. Seibert & H. Irnberger (Hrsg.), Brasil, Brasil (S. 125 – 132). Berlin; E. J. de Hohenstein (1991): Das Reich der magischen Mütter. Eine Untersuchung über dei Frauen in den afro-brasilianischen Besessenheitskulten Candombl¦. Frankfurt/M.; L. Linz (1992): Krankheit als Niederlage und die Rückkehr zur Stärke. Candombl¦ als Heilungsprozeß. Bonn; W. do Nascimento Barbosa & J. Rufino dos Santos (1994): Atr‚s do muro da noite. Din–mica das culturas afro-brasileiras. Bras†lia; H. Waldenfels (1995): Die Erfahrung der orix‚s – Eine Studie

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über die religiöse Erfahrung im Candombl¦. Bonn; Institut für Brasilienkunde (1995). Candombl¦: Heil oder Heilung. Brasilien Dialog, 3,4; Th. Kockmeyer (1995): Candombl¦ (30er Jahre). Brasiliendialog (Mettingen), 3/4/95, S. 74 – 88; A. do Nascimento (1995): Orix‚s. Os Deuses vivos da Ýfrica. Rio de Janeiro; Brasilien Candombl¦ (1996). Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika, 198, Sept.; R. Lody (2003): Dicion‚rio de arte sacra e t¦cnicas afro-brasileiras. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; H. Teodoro Lopes (2010): Ians¼. Rio de Janeiro: Pallas; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Canudos Die sozioreligiöse Bewegung der »Canudos«(1897): Euclides da Cunha gibt in seiner berühmten Triologie »Os Sertþes«(1902) bereits eine sozio-psychopathologische Interpretation der C.: »Isoliert gesehen, geht der ›Conselheiro‹ in der Masse der landläufigen Nervenkranken unter, läßt sich irgendeiner Spielart fortschreitender Psychose zuordnen. Im Kontext seines Milieus jedoch flößt er Schrecken ein. Er ist ebenso eine Diathese wie eine Synthese.« Die sozioreligiöse Befreiungsbewegung der »Canudos« in Bahia, unter denen sich auch viele Afrobrasilianer befanden (z. B. der Großvater der Autorin), wurde von Antonio Vicente Mendes Maciel (1828 – 1897), genannt der »Conselheiro«, begründet. In seinen Volkspredigten als Wanderprediger im »sert¼o« stellte er das »Gesetz Gottes« dem »Gesetz der Menschen« gegenüber, das er im Agnostizismus der Eliten der brasilianischen Republik (seit 1889) verkörpert sah. Für ihn gilt nur »Deus ¦ grande« (vgl. Otten, 1990). Er verkündet ihn als »Vater der Armen« und Jesus als »armen, einfachen und leidenden Menschen«. Aus heutiger Sicht eine frühe befreiungstheologische Interpretation! Von der offiziellen katholischen Kirche abgelehnt, wurde er aber von den ehemaligen Sklaven, Indianern, und recht- und landlosen Armen als »beato« (= Gottesmann) verehrt und begründete mit ihnen auf dem »Heiligen Berg« die Siedlung Canudos, mit ca. 25.000 Einwohnern, die nach mehreren anfänglichen gescheiterten militärischen Feldzügen der Republikarmee nach einer Kanonade mit Krupp-Geschützen am 5. Oktober 1897 völlig vernichtet wurde. Der bedeutende brasilianische Schriftsteller Euclides da Cunha (1866 – 1909), der als Kriegsberichterstatter den letzten Feldzug begleitete, hat 1902 in einem der wichtigsten Werke der brasilianischen Literatur »Os Sertþes« (dt. vgl. Zilly, 1994), diesen schweren Sozialkonflikt im Sinne des Comteschen Dreistadiengesetz als »Sieg der Wissenschaft über die Religion, des Menschen über Gott« gedeutet. Die sozialreligiöse Bewegung der »Canudos« und die Persönlichkeit ihres

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Anführers Antúnio Vicente Mendes Maciel (genannt Antúnio Conselheiro) haben in den vergangenen hundert Jahren sehr unterschiedliche Deutungen gefunden. Wenig bekannt sind die Interpretationen des damals wohl bekanntesten Rechtsmediziners, Psychiaters und Afrobrasilianisten Brasiliens Raymundo Nina Rodrigues (1862 – 1906), zu denen im Folgenden einige Anmerkungen gemacht werden sollen. Schon in seinen ersten Studien über die sog. Kollektiv-Psychose der Canudos (1898) gibt Nina Rodrigues eine massenpsychopathologische Interpretation französischer und italienischer Prägung der Sertanejo-Bewegung (= Canudos) um Antúnio Conselheiro (1828 – 1897). Diese Konzeption einer Massen-Psychose hat er in seinen Arbeiten »A loucura epidemica de Canudos. Antúnio Conselheiro e os JagunÅos« (1. 11. 1897), »Epid¦mie de folie religieuse au Br¦sil« (Mai/Juni 1898), »A loucura das multidþes. Nova contribuiżo ao estudo das loucuras no Brasil« (1898), »La folie des foules – Epid¦mie de folie religieuse« (1901) und »As coletividades anormais« (1939 posthum von Arthur Ramos herausgegebene Aufsätze) niedergelegt. Das Interesse Nina Rodrigues für Kollektivphänomene begann mit der Beobachtung und Beschreibung einer choreaformen »Abasie-Astasie-Epidemie«, die seit dem Jahre 1877 in Maranh¼o und seit 1882 in Bahia grassierte. Er interpretierte die Epidemie in Maranh¼o als Kollektiv-Hysterie und trennte sie differentialdiagnostisch von Beri-Beri. Mit den »Canudos« und Antúnio Conselheiro kam Nina Rodrigues durch folgende kuriose Geschichte in Berührung: Nachdem der Chef des Sanitätsdienstes des letzten Expeditionskorps gegen die »Canudos« Dr. Miranda Curio und andere Ärzte den Leichnam Antúnio Conselheiro’s exhumiert und fotographiert hatten und zu dem Entschluß gelangt waren, daß eine Autopsie wegen ihres starken Verwesungszustandes nicht möglich wäre, befahl der Brigade-General Jo¼o da Silva Barbosa den Ärzten die Enthauptung Antúnio Conselheiros, gleichsam als Siegespreis! Die Kopftrophäe schickte man danach an die »Faculdade de Medicina da Bahia«, wo er von Nina Rodrigues nach allen Regeln der damaligen anthropologischen und forensisch-medizinischen Wissenschaft untersucht wurde (vgl. Moniz, 1987:256; Nina Rodrigues, 1939:130). Zu welchen Ergebnissen kam nun Nina Rodrigues? Als Hauptbestandteile seiner Diagnosen und Interpretationen der »Canudos« und des Antúnio Conselheiro beschränken wir uns auf folgende vier Aspekte: 1. Das Modell einer »Massenpsychose« bzw. die Diagnose einer »epidemia de loucura politico-religiosa« (Rodrigues, 1939:125,135), »loucura das multidþes« (Rodrigues, 1939:78ff), »epidemia ves–nica de caracter religioso« (Nina Rodrigues, 1939:71) etc. Nina Rodrigues stützte sich in seinen Ausführungen auf die zwischen 1890 und 1895 boomende französische und italienische MassenPsychologie (vgl. van Ginneken, 1984; Lück, 1991; Le Bon, 1963; Zusne, 1984), deren Anfänge oftmals als »Römische oder Lateinische Schule der Massenpsychologie« bezeichnet werden, da es sich um italienische Autoren handelte, die als

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erste den Versuch der Systematisierung von Massenwirkungen unternahmen. Gemeinsam war diesen Italienern wie Scipio Sighele (1868 – 1913) (»La folla delinquente«, 1891)(vgl. Cunha, 1994:331,731) oder dem eher physisch-anthropologisch eingestellten Cesare Lombroso (1836 – 1909) der Versuch, die verminderte Zurechnungsfähigkeit des Einzelnen in der Masse nachzuweisen. Es handelte sich also vor allem um kriminologische Interessen (vgl. Gould, 1999). In Frankreich waren es weniger Kriminologen, sondern Soziologen wie Gabriel Tarde (1843 – 1904) (vgl. »Les lois de l’imitation«, 1890) oder Mediziner wie der äußerst einflußreiche Gustave Le Bon (1841 – 1931) mit seinem Werk »La psychologie des foules« (1895). Im Gefühl des Bedrohtseins durch den Sozialismus, Revolutionen und die steigende Macht von Massenorganisationen, untersucht Le Bon in phänomenologisch-deskriptiver Weise die Charakteristika, Reaktionsweisen und Erscheinungsarten der Massen. Es sind insbesondere folgende Eigenschaften, die nach Le Bon die Massenseele, die dem »Gesetz von der seelischen Einheit der Massen« (loi de l’unit¦ mentale des foules) folgt, kennzeichnen: geistige Übertragung (contagion mentale), Gefühl unüberwindlicher Macht, Beeinflußbarkeit (suggestibilit¦) und Leichtgläubigkeit, Triebhaftigkeit (impulsivit¦), Reizbarkeit (irritabilit¦), Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle (exag¦ration des sentiments) und Einseitigkeit (simplisme), Unduldsamkeit, Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus etc. d. h. vor allem intellektuelle Gehemmtheit (abaissement du niveau mentale) und gesteigerte Emotionalität, Zunahme der Triebhaftigkeit und des Unbewußten (vgl. Le Bon, 1961). Die Massenseele denkt nicht logisch, sondern in Bildern und erliegt daher leicht den Suggestionen ihrer Führer, sie kann sich sowohl heldenhaft und opferwillig, als auch grausam zeigen, sie hat eine unbewußte Abscheu gegen alle Neuerungen und sie urteilt durch vorschnelle Verallgemeinerungen von Einzelfällen und ihre Vorstellungen nehmen leicht religiöse Formen an. Es ist nach dieser kurzen Aufzählung der Massencharakteristika nicht verwunderlich, daß Nina Rodrigues gerade in diesem Werk Le Bon’s einen Schlüssel zum Verständnis bzw. zur Erklärung der »Canudos« zu finden glaubte (vgl. Nina Rodrigues, 1939:86ff). Nina Rodrigues kennzeichnet die Bewegung der »Canudos« als »loucura epidemica de Canudos«, als deren Diffusionsausgangspunkt er die pathologische und stark auf sein mystisches Milieu suggestiv wirkende Persönlichkeit Antúnio Vincente Mendes Maciel’s (= Conselheiro) ausmacht. 2. Nina Rodrigues’ Persönlichkeitsdiagnose Antúnio Conselheiro’s: Nina Rodrigues legt eine umfassende klinische Diagnose seiner »loucura« vor: »No caso de Antúnio Maciel, o diagnostico de delirio chronico (Magnan), de psychose systematica progressiva (Garnier), de paranoia primaria dos italianos, etc.«(Nina Rodrigues, 1939:53). Er ist eine »figura anachronica« (Nina Rodrigues, 1939:51), ein »alienado meneur« (Nina Rodrigues, 1939:125) und

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befindet sich vor seinem Tode im Zustand eines »delirio … no terceiro periodo da sua psychose progressiva« (Nina Rodrigues, 1939:52 f). Anhand biographischer Daten Antúnio Conselheiro’s versucht Nina Rodrigues nun die drei Phasen seiner »psychose primitiva« zu rekonstruieren. Ständiger Streit mit der Schwiegermutter und Ehefrau, häufiger Orts- und Arbeitswechsel etc. sind für Nina Rodrigues(1939:54 f) deutliche Symptome eines Verfolgungswahns (delirio de perseguiżo), einer Periode der inneren Unruhe (periodo de inquietażo) oder »loucura hypocondriaca«. Auch zeige sich hier bereits der Einfluß von Halluzinationen. Er ist in dieser ersten Phase ein »alienado migrador« (Favilla). Nachdem er um 1876 den »sert¼o« Bahias durchquert hatte und getauft wurde, beginnt er seine Karriere als Progandist und Missionar und tritt darauf in die zweite Phase der »loucura religiosa«, der megalomanen Phase seiner Psychose (Nina Rodrigues, 1939:55) ein. Seine Predigten und sein christusähnliches Verhalten bei seiner Gefangennahme und leidvollen Überführung nach Cear‚ offenbaren für Nina Rodrigues »a coherencia logica do delirio na transformażo da personalidade do alienado« (Nina Rodrigues, 1939:56). Die Ausrufung der Republik im Jahre 1889 habe Antúnio Conselheiro dann in die dritte Phase seiner progressiven Psychose geführt, die durch ein »delirio religioso do alienado, salientando o fundo de perseguiżo« (Nina Rodrigues, 1939:57 f) gekennzeichnet gewesen sei. Die großen Reformen der Republik wie die Trennung von Kirche und Staat, die Säkularisierung der Friedhöfe, die Einführung der Zivilehe etc. hätten bei ihm eine starke Reaktionsbildung ausgelöst und eine Identifikation mit der früheren Monarchie. So sei es zu einer immer wachsenden Oppositionsbewegung gekommen, die anfänglich teilweise auch von der offiziellen katholischen Kirche unterstützt worden sei, schließlich aber zu einem Schisma führte. »A coherencia do seu delirio se demonstra na correcżo com que desempenha o papel de enviado de Deus« … »O seu viver ¦ uma orażo continua e continuo o seu convivio com Deus, provalvelmente de origem allucinatoria.« (Nina Rodrigues, 1939:59 f). Aber der Erfolg der Canudos-Bewegung läßt sich nach Nina Rodrigues nicht allein aus der »simples loucura de um homem« (= Verrücktheit eines Menschen) erklären, sondern aus der »psychologia da ¦poca e do meio em que a loucura de Antúnio Conselheiro achou combustivel para atear o incendio de uma verdadeira epidemia ves–nica« (Nina Rodrigues, 1939:63). Die Ausbreitung dieser Epidemie folge dem dreiphasigen Modell der »folie — deux«(1877) nach Ernst Charles LasÀgue (1816 – 1883) und Jules Falret (1824 – 1902). Das passive Element spiele in dieser Epidemie der ! »jagunÅo«, der die »loucura mystica« des Antúnio Conselheiro mit aktuellen politischen und sozialen Fragen gefärbt habe. Was die religiösen Wahninhalte des Conselheiro angehe, so entstammen sie seinem !»fetichismo instinctivo dentro da educażo religiosa christan que essa populażo recebe desde o berÅo, embora sem poder assimilal-a sufficientemente« (Nina Rodrigues, 1939:74).

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Neben der biographischen Analyse verwendet Nina Rodrigues (1898) auch die Kraniometrie d. h. Schädelmessung (vgl. Nina Rodrigues, 1939:131ff), von der er 1902 behauptete: »Para um povo de populażo heterúgena como o brazileiro, a identificażo craniologica das raÅas adquire em medicina legal uma importancia maxima« (zit. nach Schwarcz, 1993:210; vgl. auch Gould, 1999). Aber zu welchem unerwarteten Ergebnis kommt er als er einen »normalen« Schädel (sic!) vorfindet: »O craneo de Antúnio Conselheiro n¼o apresentava anomalia que denunciasse traÅos de degenerescencia: ¦ um craneo de mestiÅo onde se associam caracteres anthropologicos de raÅas differentes … Ê pois um craneo normal.« (Nina Rodrigues, 1939:131,133) Aufgrund dieser quantitativen Tatsache revidiert er aber nun nicht seine bisherige Beurteilung, sondern sieht in diesem Ergebnis, ganz im rassenbiologischen Determinismus der damaligen Zeit befangen, nur noch eine Bestätigung seiner früheren Diagnose »delirio chronico de evolużo systematica« … denn »Antúnio Conselheiro era realmente muito suspeito de ser degenerado, na sua qualidade de mestiÅo.« (Nina Rodrigues, 1939:133). Dies beweist nach Nina Rodrigues auch seine biologische »Erbgeschichte«, in der seinem »kriegerischen Temperament« (temperamento bellicoso) eine hervorragende Bedeutung zukomme (Nina Rodrigues, 1939:134). Es handelt sich also insgesamt um eine rassenbiologische und -psychologische Argumentation, wie sie auch in den USA und in Europa der damaligen Zeit üblich war. 3. Die Bedeutung des Rassefaktors im Denken Nina Rodrigues: Die europäischen und us-amerikanischen Rassenideologien der damaligen Zeit zeigten im Denken Nina Rodrigues einen starken Widerhall. Hierbei sollten wir uns auch daran erinnern, daß einer der bedeutendsten Rassentheoretiker Arthur de Gobineau (1816 – 1882) in den Jahren 1869/70 französischer Botschafter in Brasilien gewesen ist und intensiv mit Kaiser Dom Pedro II korrespondierte (Raeders, 1997; Gobineau, 1990). Er schreibt z. B. über die brasilianische Bevölkerung: »nenhum brasileiro ¦ de sangue puro, as combinaÅþes dos casamentos entre brancos, ind†genas e negros multiplicaram-se a tal ponto, que os matrizes da carnażo s¼o infflmeros, e tudo isso produziu, nas classes baixas e nas altas uma degenerescÞncia do mais triste aspecto.« (zit. nach Raeders, 1997:39) Auch der einflußreiche us-amer. Rassentheoretiker Louis Agassiz (1807 – 1873) hielt sich längere Zeit (1865/66) in Brasilien auf (vgl. Gould, 1999:39ff; Kümin, 2007:45 – 47)(!Reiseberichte). Skidmore (1976:75) bezeichnet Nina Rodrigues als »o principal doutrinador racista da sua ¦poca«. Dies wird nicht nur in Nina Rodrigues Studien über die Afrobrasilianer deutlich, sondern auch in seiner Beurteilung der »Mestizen« (vgl. »Os mestiÅos brasileiros«, 1890). Raimundo Nina Rodrigues hatte, evolutionistischen, sozial-darwinistischen (vgl. Gumplovicz: Der Rassenkampf (1883); Cunha, 1994:7) massenpsychologischen und (kriminal-) psychopatho-

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logischen Konzeptionen verhaftet, die Afrobrasilianer, »Indianer« (vgl. Stubbe, 2012:300 f) und !»mestiÅos« im negativen Sinne stereotypisiert, ihre biologische Inferiorität herausgestellt und dabei die Hoffnung gehegt: »Os negros existentes se diluir¼o na populażo e ester‚ tudo terminado« (Rodrigues, 1945: 46). Die !»jagunÅos« des Sert¼o sind für ihn ein »produto t¼o mestiÅo no physico que reproduz os caracteres anthropologicos combinados das raÅas de que prov¦m, quanto hybrido nas suas manifestaÅþes soci¼es que representam a fus¼o quasi inviavel de civilizaÅþes muito desigu¼es« (Nina Rodrigues, 1939:64). Für Nina Rodrigues verkörpert der »jagunÅo« in sich die unbezähmbare Natur des wilden »Indianers« mit seinem Drang zum Herumschweifen, seiner großen Widerstandskraft gegenüber physischen Leiden und seinem kriegerischen Sinn. Sein »espirito« ist »infantil e inculto«. Es handelt sich bei den »jagunÅos« um »raÅas inferiores«, für die er die Degenerationshypothese (degenerescencia da mestiÅagem) zugrundelegt. Die »degenerescencia da mestiÅagem« ist für Nina Rodrigues die eigentliche Ursache sozialer Nichtangepaßtheit. Seine anthropologische Position basiert hauptsächlich auf dem biologischen Determinismus und dem Rassenfatalismus (vgl. Lins e Silva, 1945:86). Auch Antúnio Conselheiro ist, wie wir bereits gesehen haben, für Nina Rodrigues ein solches »individuo degenerado« (s.oben). Hier hat nun die Psychiatrie ihre Funktion zu erfüllen. 4. Zur Situation der Psychiatrie gegen Ende des 19. Jh.s.: Nina Rodrigues Interpretation der Canudos-Bewegung kann heute als ein hervorragendes und zugleich typisches Produkt des »goldenen Zeitalters des Irrenwesens« (vgl. Castel, 1983; Stubbe,1983:86ff; 2001:185ff) angesehen werden, nämlich eines alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Bevormundungsprozesses, durch den man soziale, künstlerische (vgl. z. B. van Gogh, Camille Claudel), religiöse (vgl. A. Schweitzer : Die psychiatrische Beurteilung Jesu, 1913) und politische Konflikte (vgl. z. B. das »Ferngutachten« von Dr. Gudden über Ludwig II. vom 7. 6. 1886) zunehmend mit psychiatrischen Mitteln zu lösen versuchte. Die Entstehung der modernen Psychiatrie in der Mitte des 19. Jh.s ist unauflöslich mit den Problemen verquickt, die sich mit Beginn des industriellen Zeitalters stellen: Normalisierung und Überwachung der Kinder, der Delinquenten und Vagabunden, der Armen und schließlich vor allem der Arbeiter. Eine Folge der »Lösung« dieser Probleme ist u. a.: seit dem 19. Jh. ist jeder einzelne grundsätzlich »psychiatriesabel«. Wie lassen sich Nina Rodrigues Interpretationen aus heutiger Sicht beurteilen? Die Canudos, als eine soziale, religiöse und politische Sertanejo-Bewegung, waren keine »Masse« und daher läßt sich der Begriff einer »Massenpsychose« auch nicht auf sie anwenden. Unter Masse wird heute eine Menschenansamm-

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lung mit einer geringen Binnenstruktur verstanden. Bei den Canudos handelte es sich aber um eine differenzierte und strukturierte Großgruppe mit festen sozialen, politischen und religiösen Zielen, einer eigenen Siedlung und vielen sozialen Institutionen (vgl. Stubbe, 1998:97). Die Canudos waren also weder eine »aggressive Masse« (wie sie bei Straßenschlachten, Lynchen, Aufruhr zu beobachten ist), noch eine »Flucht-Masse« (wie wir sie bei einer Panik-Flucht beobachten können), noch eine »kaptative Masse« (z. B. bei Hamsterkäufen, BankRun) oder eine »expressive Masse« wie bei Jubel-Veranstaltungen und Festen) (vgl. z. B. Dorsch, 1994:462). Selbst im Sinne der älteren Massenpsychologie kann ein Verlust der rationalen Kontrolle bei den Canudos nicht nachgewiesen werden, sonst hätten sie sich sicher nicht so lange erfolgreich verteidigen können und wären nicht als eine so große Gefahr für die Republik angesehen worden. Nina Rodrigues stützt sich ebenso wie Le Bon nicht auf eigene Beobachtungen in loco oder gar direkte Untersuchungen/Befragungen der Beteiligten, sondern auf teilweise sensationelle Zeitungsberichte, zweifelhafte Anekdoten etc. (vgl. Galv¼o, 1974). Er verwendet ebenso wie Le Bon den Massenbegriff äußerst unspezifisch und es gelingt ihm nicht die Bedingungen und Ursachen dynamischer sozialer Prozesse wie z. B. der Führerschaft Antúnio Conselheiro’s bzw. der Führer-Masse-Beziehungen überzeugend darzulegen. Das Psychose-Modell Nina Rodrigues ist vor-kraepelinisch und vor-freudianisch d. h. weder durch klare klinische Kriterien bestimmt, noch psychodynamisch oder lerntheoretisch fundiert. Nina Rodrigues verwendet die Begriffe »folie«, »loucura«, »psychose«, »ves–nia« etc. sehr unspezifisch. Die Konstruktion eines progressiven pathologischen Persönlichkeits-prozesses bei Antúnio Conselheiro ist keineswegs überzeugend. Antúnio Conselheiro’s Entwicklung ist im Jasperschen Sinne (seiner »Allgemeinen Psychopathologie«) durchaus verstehbar. Was die Persönlichkeitsschilderung und Biographie des Conselheiro durch Nina Rodrigues angeht, so stützt er sich hierbei ebenfalls auf sehr zweifelhafte Quellen. Mit Hilfe der Kraniometrie läßt sich keine Persönlichkeitsdiagnose vornehmen. Arthur Ramos, selbst Psychiater, wirft der Position Nina Rodrigues’ vor, daß sie von den Theoretikern der Rassenungleichheit wie Gobineau (1816 – 1882) und Lapouge imprägniert sei (Ramos, 1951:18). Nina Rodrigues wollte nämlich wie später Oliveira Vianna die Übel der »biologischen Inferiorität« in Brasilien durch ein »embranquecimento« bekämpfen. Wir können heute nicht mehr entscheiden, ob Antúnio Conselheiro wirklich ein psychisch kranker Mensch gewesen ist, aber wir können feststellen, daß die Art und Weise wie Nina Rodrigues diesen »Fall« untersucht und schlußfolgernd interpretiert hat, aus heutiger Sicht sicher nicht als ein überzeugender Ausdruck seiner geistigen Gesundheit und kritisch-wissenschaftlicher Argumentationsweise gelten kann.

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Die Sertanejo-Bewegung um Antúnio Conselheiro war jedenfalls damals ein völlig »normaler« soziopolitischer Prozeß im Sert¼o. Auch andere messianische Bewegungen fanden starken Zulauf von Afrobrasilianern. Nei Lopes (2006:110) führt folgende Beispiele auf: die Bewegung des »beato« Z¦ LourenÅo (nach dem Tode Padre C†ceros, 1844 – 1934) im Nordosten (Ju—zeiro), Antúnio Resende, der sich zu Beginn des 20. Jh.s in der Serra do Salitre (MG) für eine Inkarnation des Hl. Antonius hielt und Jo¼o de Camargo, der in Sorocaba (SP) 1904 eine »Kirche« gründete. Von den fundamentalistischen us-amerikanischen (tele-evangelikalen) Sekten wird diese religiöse Sehnsucht gegenwärtig stark ausgenutzt und manipuliert (vgl. auch Alvim, 1975; Ribeiro, 1982: 221 – 266; Stubbe, 2012:206 f). !Aufstände und Rebellionen !Missionierung !Rassenanthropologie A. Martins Horcades (1899): Descriżo de uma viagem a Canudos. Salvador ; E. da Cunha (1902, 1985): Os sertþes (1902). S¼o Paulo; M. B. LourenÅo Filho (s.d.): Ju—zeiro do Padre C†cero. S¼o Paulo (3.ed.); R. Ribeiro (1968): Movimentos messi–nicos no Brasil. Am¦rica Latina, ano 2, N8. 3, p. 35 – 56; M. I. Pereira de Queiroz (1971): A participażo do negro brasileiro em movimentos messi–nicos e o problema da marginalizażo. Revista do Instituto de Estudos Brasileiros (SP), (10), p. 111 – 121; W. Nogueira Galv¼o (1974): No calor da hora. S¼o Paulo; V. M. CorrÞa de Alvim (1975): Movimentos prof¦ticos pr¦-pol†ticos e contraculturais dos negros islamizados na Bahia do s¦c. XIX. Magisterarbeit. Salvador : UFBa; A. Zaluar Guimar¼es (1978): Os movimentos ›messi–nicos‹ brasileiros: uma leitura. bib (RJ), (6); E. Moniz (1978): A guerra social de Canudos. S¼o Paulo; R. Ribeiro (1982): Antropologia da religi¼o e outros estudos. Recife; J. J. Chiavenato (1988): As lutas do povo brasileiro do »descrobrimento« — Canudos. S¼o Paulo, 10.ed.; O fuzil e a c–mera. Imagens da Guerra de Canudos pelo fotûgrafo Fl‚vio de Barros. Recife: Fund. Joaquim Nabuco, 1991 (bebildert); A. Farias (1994): Pe. C†cero e a invenżo do Juazeiro. Bras†lia; R. M. Levine (1995): O sert¼o prometido. O massacre de Canudos. S¼o Paulo; Museu da Republica (ed.) (1997): Canudos Imagens da guerra. (Bebilderter Katalog). Rio de Janeiro; H. Stubbe (1998): Die sozioreligiöse Bewegung von »Canudos«. Eine brasilianische Kollektivpsychose? Anmerkungen zu den Interpretationen des Rechtsmediziners und Psychiaters Nina Rodrigues (1862 – 1906). Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie, 4 (4), 89 – 108 (bebildert); ders. (1998): Nina Rodrigues (1862 – 1906), a Psiquiatria e »Os Canudos«. Jornal Brasileiro de Psiquiatria (RJ), vol.47, 1998:57 – 60; Minist¦rio do Ex¦rcito/Arquivo Histûrico do Ex¦rcito (ed.) (1997): Canudos. Campanha militar (IV Expediżo). Rio de Janeiro (bebildert); F. Pernambuco de Mello (1997): Que foi a guerra total de Canudos. Recife

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Capoeira: Eine afrobrasilianische Körpertechnik Capoeira als »Technik des Körpers«: Unter »Technik des Körpers« wollen wir mit Marcel Mauss (1978) die Weisen verstehen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft und Kultur ihres Körpers bedienen. »Der Körper ist das erste und natürlichste Instrument des Menschen. Oder genauer gesagt, ohne von Instrument zu sprechen, das erste und natürlichste technische Objekt und gleichzeitig technische Mittel des Menschen ist sein Körper«, betont zu Recht Mauss (1978: 206). Zum Studium und Verständnis der Körpertechniken ist mindestens eine dreifache Betrachtung, d. h. biologische, soziologische und psychologische notwendig, eben die des »totalen Menschen«. Außerdem dominieren in allen diesen Elementen der Kunst, sich des Körpers zu bedienen, die Einflüsse der Erziehung (Sozialisation), die sich über den Begriff der Nachahmung einstufen läßt. Nach dieser Auffassung darf man bezweifeln, ob es beim erwachsenen Menschen überhaupt eine »natürliche« Art der Körperbewegungen wie z. B. des Gehens gibt. Techniken des Körpers sind traditionelle und wirksame Handlungen, unterscheiden sich also grundsätzlich nicht von magischen, religiösen und symbolischen Handlungen. Es gibt keine Körpertechnik, wenn es keine Tradition gibt. Mauss unterscheidet 4 Klassifikationsprinzipien der Techniken des Körpers: 1. nach den Geschlechtern z. B. das Schließen der Faust bei Mann und Frau 2. nach dem Alter z. B. das Hocken des Kleinkindes 3. in Bezug auf ihre Leistung z. B. motorische Geschicklichkeit 4. in Bezug auf die Überlieferung der Form der Techniken z. B. Erziehung, Dressur, Händigkeit Man kann auch eine biographische Aufzählung der Techniken des Körpers vornehmen und dann z. B. Techniken der Geburt, der Kindheit, der Adoleszenz, des Erwachsenenalters und des Alters unterscheiden, was einer genetischen Sichtweise entspräche und sich am Lebenszyklus in einer jeweiligen Kultur orientierte. Bisher wurde die afrobrasilianische »Capoeira« nicht unter dem Gesichtswinkel der Körpertechnik studiert, sondern man untersuchte vor allem ihre ! Folklore (vgl. etwa Cascudo, 1980). Die Biologie, Soziologie oder gar (Sozial-) Psychologie der »capoeira« sind dagegen fast unbekannt. Was ist »capoeira«? Das bedeutendste brasilianische Lexikon der portugiesischen Sprache, der »Aur¦lio«, definiert: »(aus dem Tup† Kapu’era) 1. Landstück, in dem der Urwald gerodet oder

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verbrannt wurde für Pflanzungen oder zu einem anderen Zweck … 4. Athletisches Spiel, bestehend aus einem System des Angriffs und der Verteidigung, von individuellem Charakter und ursprünglich aus der brasilianischen Folklore hervorgegangen, entstand sie unter den Bantu-Sklaven, die aus Angola kamen. Obwohl sie seit der brasilianischen Kolonialzeit bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jhs. intensiv verfolgt wurde, überlebte sie die Repression und breitet sich gegenwärtig aus bzw. wird in institutionalisierter Form als reglementierter Sport praktiziert.« (Aurelio, 1975:276) Da Cunha (1982:151) gibt noch eine zweite Etymologie des Wortes: bereits 1583 findet sich »capoeira« in der Bedeutung eines Vogelbauers, in dem Vögel und Kapaune zum Markt gebracht oder von Tür zu Tür verkauft wurden. Die Sklaven, die diese Vögelkörbe trugen und nach ihnen benannt wurden, praktizierten in den Arbeitspausen das CapoeiraKampf-Spiel. Für den brasilianischen Folkloristen Cascudo (1979:194) leitet sich der Name »capoeira« von den Bewohnern der o.g. gerodeten Urwaldflächen (capoeiras) ab. Capoeira (auch uru) ist auch ein hühnerartiger Vogel Südamerikas, der am Boden in kleinen Gruppen lebt und sich von Früchten und Insekten ernährt. In der Paarungszeit liefern sich die capoeira-Hähne aufregende Rivalenkämpfe (vgl. Ihering, 1968: 718ff). Inwieweit sich alle diese Etymologien des Wortes capoeira auf einen gemeinsamen Nenner bringen lasen, wie Onori (1988) es versucht, erscheint uns gegenwärtig noch nicht gesichert genug zu sein (vgl. Colonelli, 1979). Historisch gesehen besteht jedenfalls kein Zweifel darüber, daß die capoeira ihren Ursprung in Angola hat. Cascudo (1979) schreibt, daß man auf der Insel Luanda im Süden Angolas ein Kampfspiel n’golo kenne, das zum weiblichen Initiationszyklus gehöre und dessen Sieger heiraten könne ohne den Brautpreis bezahlen zu müssen. Mit den angolanischen Sklaven kam dann vor allem die traditionelle Fuß-Kampf-Technik dieses »Kampf-Tanzes« nach Brasilien. Da es den afrikanischen Sklaven strengstens verboten war, irgendeine Waffe zu tragen, entwickelten sie diese wirksame Kampftechnik zu ihrer Verteidigung. Auch hier können wir wieder wie bei anderen afrobrasilianischen kulturellen Erscheinungen ein eigentümliches Phänomen beobachten, daß man ein kulturelles »Mimikry-Phänomen« nennen könnte, weil sich die capoeira nach außen in oberflächlicher Sicht als ein harmloser afrikanischer !»Tanz« darstellt, während sie sich bei eingehenderer Analyse als wirksame (evtl. auch tödliche) Angriffs- und Verteidigungs-Waffe entpuppt. Analoges gilt auch für den afrobrasilianischen Synkretismus, der christliche Heilige afrikanischen Gottheiten zuordnet, sich also nach außen als christlich »angepaßt« zeigt, im Kern aber eine afrikanische !Religion auf brasilianischem Boden ist. Carvalho (1976) stellt fest, daß sich die erste Erwähnung des Ausdrucks capoeira bereits in den Schriften über den Krieg gegen Palmares (= afrobrasilianischer Binnenstaat im 17. Jh.) findet: »Die entlaufenen negros, ohne genügend Waffen, um den zu ihrer

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Ergreifung ausgesandten Sklavenfängern begegnen zu können, versteckten sich im Dickicht des Busches und lauerten ihnen aus dem Hinterhalt auf; sie benutzten dabei die einzige ihnen zur Verfügung stehende Waffe: ihren Körper. Tatsächlich liegen die Ursprünge der capoeira in den Sklavenhütten selbst, wo die ›negros‹ sich ihrer alten rituellen Tänze aus Afrika erinnerten und dazu übergingen, sich in ihnen zu üben und eine Kampfform zu entwickeln, die es ihnen erlaubte, die Aufseher niederzuwerfen und zu entfliehen.« (Carvalho, 1976: 19; zit. nach Martin, 1988: 203) Es ist nicht verwunderlich, daß die capoeira die schärfsten Sanktionen der Kolonial- und später kaiserlichen Regierung hervorrief. Selbst nach der Sklavenbefreiung (1888) und Ausrufung der Republik (1889) blieb die Unterdrückung durch die Polizeibehörden bestehen. Zu Beginn der brasilianischen Republik erließ General Deodoro das Gesetz Nr. 487 (vom 11. Okt. 1890), das bestimmte: »Wer die körperlichen Geschicklichkeitsübungen, die unter dem Namen der capoeira bekannt sind, betreibt, wird mit 2 bis 6 Monaten Zwangsarbeit auf der Insel Fernando Noronha (noch während der Militärdiktatur eine Gefangeneninsel für politische Gefangene!, Anm. des Verf.) bestraft.« (zit. nach Carvalho, 1976). Die capoeria blieb bis heute oftmals Sache der Unterdrückten und Ausgebeuteten. In manchen Gegenden Brasiliens wurde früher »capoeiro« mit Dieb gleichgesetzt, wodurch man die capoeira verunglimpfen wollte (vgl. Aur¦lio, 1975:276). Die Verfolgung der capoeira ließ erst in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts nach, als es den »mestres de capoeiras« (= capoeira Meister) gelang diese Kunst bzw. Sportart zu institutionalisieren und zu entkriminalisieren. Im Jahre 1932 gründete Mestre Bimba die erste Capoeira-Schule in Bahia. Die !Musik ist der Lebensnerv der capoeira. »Sie versetzt die Spieler in die notwendige Spannung und belebt sowohl Kampf als auch Tanz. Gleichzeitig setzt die Musik aber auch Grenzen. Sie steuert die wachgerufenen geistigen und körperlichen Kräfte, ordnet den wilden Kampf zu einem rhythmischen Schlagabtausch und macht die wirren, lebensgefährlichen Bewegungsabläufe durchsichtig und berechenbar. Nur dank der Macht des Rhythmus, jede Handlung an Zeitmaß und Zeitraum zu binden und sowohl die Körperbewegungen des einzelnen Tänzers als auch den eigentlichen Zweikampf zu synchronisieren und gleichermaßen zu durchpulsen, kann sich der Kampftanz zu seinem atemberaubenden Tempo steigern. Der Einfluß der Musik bleibt aber stets zurückhaltend und zwingt die Spieler nie zu marionettenhafter Hörigkeit. Musiker und Kampftänzer inspirieren einander gegenseitig aufgrund eines feinen, auf Rhythmus und Körpersprache beruhenden Mitteilungssystems, das keiner Worte bedarf. Dank der wechselseitigen Initiative der Beteiligten bleibt der Capoeira-Kreis in jedem Augenblick für das Unvorhersehbare offen.« (Onori, 1988:49)

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Zentrales Musikinstrument bei der capoeira ist der !»berimbau de barriga«, ein einfaches Saiteninstrument. Ein an den zwei Enden einer biegsamen Rute des Arac‚-, Gabioba- oder Birib‚-Baumes gespannter Stahldraht erzeugt den typischen Klang der Capoeira-Musik (vgl. z. B. Schreiner, 1977: 45ff). Als Resonanzkörper dient eine am Bogen angebrachte Kalebasse, deren Öffnung auf den Bauch des Spielers gerichtet ist. Angeschlagen wird die Saite mit einem etwa 30 cm langen Holzstäbchen, der »baquet‚«. Um höhere Töne zu erzeugen, verkürzt der Musiker mit Hilfe einer Münze oder eines anderen Gegenstandes die Länge der schwingenden Saite. In der Anschlaghand hält er oftmals neben der baquet‚ auch noch eine kleine Gefäßrassel, mit der er den Grundschlag rhythmisch ergänzt. Dieses Konstruktions-prinzip des »berimbau de barriga« deutet auf seinen Ursprung im afrikanischen Kalebassebogen bzw. Musikbogen hin, wie er sich in Süd-West-Angola und im Raum von Luanda findet. Die Ähnlichkeit des »berimbau de barriga« mit dem Pfeilbogen weist darauf hin, daß dieses Musikinstrument von Anfang an mit dem Bereich des Todes, der Jagd und des Krieges in Verbindung steht. Im afrokubanischen Bereich z. B. heißt der Kalebassebogen »burumbumba«, was wörtlich übersetzt »Instrument, das mit den Toten spricht« bedeutet (zur Musiksprache der capoeira vgl. Schreiner, 1977; Onori, 1988; zur Folklore vgl. Cascudo, 1979; Colonelli, 1979). Die capoeira läßt sich im Sinne der !Sozialpsychologie auch als »Körpersprache« d. h. als ein nonverbales Kommunikations- bzw. Ausdrucks-Phänomen vermittels des Körpers interpretieren. Sie gehorcht dann vor allem 3 Hauptbedingungen: einmal den Abwandlungen durch den Sender der Körpersprache, zweitens der Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit durch den Empfänger und schließlich der Gesellschaft/Kultur mit ihren tradierten und konventionellen Vorschriften. Die Mehrzahl der Körperstöße (toques) in der capoeira basierte auf den Verteidigungs- und Angriffs-Bewegungen von Tieren z. B. des Ausschlagens des Pferdes, des Stoßens des Stieres mit dem Kopf etc. Andere toques beruhen auf der direkten Beobachtung der Arbeitsgeräte, deren Wirkungsweise sie zu imitieren versuchten z. B. der schlagende Hammer, die mähende Sense etc. Onori (1988) hat einige dieser wichtigsten Kampfbewegungen zusammengestellt, die zum Grundstock eines jeden »capoeirista« zählen, und auf die traditionellen Figuren der »capoeira Angola« zurückgehen (vgl. Tab. 6). Die capoeira-Sozialisation beginnt früh. Den Autoren sind einige afro-brasilianische Familien bekannt, in denen Jungen bereits mit 18 Monaten capoeiratoques nachzuahmen versuchen. Capoeira ist nicht nur Körpersprache und Musik, sondern auch ein afrobrasilianisches Widerstandsphänomen (vgl. Hegmanns, 1993), denn sie wurde von Sklaven entwickelt. Bereits Roger Bastide (1971) hat die Verwandlung des ursprünglichen Eros dieser Tänze in einen Agon herausgestellt. »Es lohnt sich, darüber nachzudenken, ob nicht die afrikanischen Sklaven, denen jeder Besitz

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und jedes Tragen von Waffen bei Androhung schwerster Strafen verboten war, unter dem Deckmantel harmloser Tanzvergnügungen heimlich militärisches Treiben absolvierten, dessen Ziel die ›Agonie‹ der Sklavenhalter war.« (Martin, 1988:196 f) Als eine Manifestation unterdrückter Sklaven kann man die capoeira sicher als eine Form körperlicher und seelischer Ertüchtigung mit aggressiver Zielsetzung und Initiationscharakter ansehen. Auch Onori (1988) weist auf die magisch-reinigende oder psychohygienische Funktion der capoeria hin, wenn er schreibt: »In der Capoeira-Runde wird die Musik als körperlicher Konflikt ausgetragen, oder umgekehrt: Dank der Musik verfeinert sich der körperliche Kampf zur Kunstform. Psychologisch gesehen bedeutet dies die elementarste Form von Sublimation, die überhaupt denkbar ist: Im Tanz werden zurückgestaute Aggressionen symbolisch ausgelebt, der Kampf wird dadurch in berechenbare Bahnen gelenkt. War die Schulung der Kampftauglichkeit mit ihrem initiatorischen Charakter darauf ausgerichtet, den Schutz der Gemeinschaft gegen äußere Gefahren zu gewähren, verhalf die Umwandlung des Kampfes in Tanz die inneren, psychischen Konflikte der Gruppe zu entschärfen.« (Onori, 1988:30). Diese Auffassung trifft sich auch mit der humanethologischen, die betont, daß in solchen geregelten und hoch ritualisierten Kampfspielen aggressive Spannungen zwischen Gruppenmitgliedern abgebaut werden können (vgl. z. B. Eibl-Eibesfeldt, 1976). In diesem Sinne besitzt die capoeira auch eine soziale !»Ventilfunktion«. Sozialpsychologisch kann capoeira als ein Gruppenphänomen mit spezifischer Struktur analysiert werden (wobei es sich um »Männerbünde« handelt). Schreiner (1977) gibt folgenden alten Ehrenkodex der capoeiristas, der deutlich macht, welche sozialen Normen in diesen Gruppen herrschen: 1. Niemals Feuerwaffen zu verwenden, es sind nur Messer und Knüppel erlaubt. 2. Montags nicht zu arbeiten und in Beachtung dieser Vorschrift jedwedes Geschäft ihr zu opfern. 3. Sich in charakteristischer Weise zu kleiden: Lange Hose, die Jacke immer offen, Tuch um den Hals. 4. Sich charaktervoll aufzuführen, d. h. wiegenden Schrittes zu gehen nicht nahe bei jemandem zu sprechen (auch nicht, wenn es eine schöne Frau ist). 5. Den Hut wie eine Waffe der Verteidigung zu gebrauchen, gefaltet und gehalten in der linken Hand. Onori (1988) hat m. E. mit Recht auf die Philosophie der Komplementarität von !candombl¦ und capoeira hingewiesen. »Wie der terreiro, die candombl¦Kultustätte, sich während der Rituale in afrikanische Erde verwandelt, zum Ort, wo die Brücke in die Vergangenheit, zu den Göttern und Ahnen geschlagen wird, so durchbricht capoeira die Zeit in umgekehrter Richtung, wenn sie die

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Kampftänzer auf die zukünftigen physischen und psychischen Gefahren des Lebens vorbereitet. Candombl¦ als Rückbindung, Religion im wörtlichen Sinn, und capoeira als zukunftsgerichtete, praktische Weltanschauung bilden die sich ergänzenden Teile desselben religiös-philosophischen Universums.« (Onori, 1988: 64) (vgl. auch Museu Afrobrasileiro-Salvador, 1983; Caryb¦, 1955; Carneiro, 1968; Areias, 1983) Tab. 6: Traditionelle Figuren der »Capoeira de Angola« Verteidigungsbewegungen: Negativa: Um einen gegnerischen Schlag zu unterlaufen, läßt man sich rückwärts fallen. In der Hocke bleibt ein Bein angewinkelt, das andere in Richtung Gegner ausgestreckt Queda-de-quatro: Man läßt sich aus dem Stand rückwärts fallen und fängt sich mit beiden Händen auf Affl: Man schlägt ein Rad, um zu fliehen, dem Gegner zu imponieren oder um einen Schlag aus dem Handstand vorzubereiten ResistÞncia: Man läßt sich diagonal nach hinten fallen und fängt den Sturz mit einer Hand und einem Bein auf Cocorinha: In die Hocke fallend, schützt sich der Angegriffene indem er einen Arm und die geballte Faust über den Kopf hält Queda de rins: Im schrägen, auf eine Schulter abgestützten Kopfstand schützt der Angegriffene mit angezogenen Beinen seine empfindlichsten Körperteile (z. B. Nieren) Compasso: Mit einem einhändigen Überschlag zieht man sich aus dem Wirkungskreis des Gegners zurück oder bereitet Schläge aus dem einhändigen Handstand vor Angriff: Rasteira: Aus einer rückwärtigen Ausweichbewegung wird der Gegner mit einem gestreckten Bein zu Fall gebracht Tesoura: Aus der ›Queda de quatro‹ öffnen sich die Beine zur Schere, umfassen die Knie des Gegners und reißen ihn zu Boden Cruz: Man weicht einem gegnerischen Fußschlag aus und läßt den Angreifer, indem man der Wucht des Schlages »nachhilft«, rückwärts fallen Banda de costas: Nach einem schnellen Griff vorwärts stößt man den Gegner mit den Händen oder der Schulter über das Schrittbein Boca de calÅa: In einer raschen Bewegung umfaßt man die Fußknöchel des Gegners und zieht ihm die Beine weg Schläge: Martelo: Mit einem seitlichen Fußschlag erreicht man aus der Negativen heraus den Körper des Gegners Martelo em p¦: Das angewinkelte Bein streckt sich als seitlicher Fußschlag blitzartig in Richtung des Gegners Benżo: Frontaler Fußschlag, der den Gegner am Kopf oder in der Herzgegend trifft Chapa de costas: Aus tiefer Lage mit dem Rücken zum Gegner schnellt das Bein rückwärts (charakteristisch für die capoeira de Angola) Meia-lua: Dem Gegner zugewandt, schlägt man mit dem Fuß in Richtung des Kopfes des Gegners Meia-lua de compasso: Man täuscht einen Rückzug vor und bückt sich, ohne die Knie zu beugen, bis eine Hand den Boden berührt. Beinahe gleichzeitig schlägt ein Bein in einem Halbkreis zum Gegner zurück

Capoeira: Eine afrobrasilianische Körpertechnik

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(Fortsetzung) Armada: Dieser Schlag beginnt mit einer Körpertäuschung: Die Drehbewegung, mit der man sich scheinbar vom Gegner abwendet, wird weitergeführt und der Schwung in einen seitlichen Fußschlag umgesetzt. CabeÅada: Der Kopf schlägt in Richtung des Solarplexus oder Kinn des Gegners Dieser Schlag geht häufig aus einem Täuschungsmanöver hervor, als wolle man etwas aufheben, das zu Boden gefallen ist Rabo de arreia: Aus einem Überschlag, bei dem ein Bein am Boden bleibt, erreicht der Fuß des anderen Beins den Kopf des Gegners Pe¼o: Aus einer Kreisbewegung des ganzen Körpers im freihändigen Kopfstand schlägt ein Fuß in Richtung des Gegners Quellen: Onori, 1988; Areias, 1983; Colonelli, 1979; Cascudo, 1980; Stubbe, 2012

Gegenwärtig findet man hautsächlich zwei Hauptlinien der capoeira: Die »Capoeira de Angola« und die »Capoeira Regional«. Die erste richtet sich nach den alten Capoeira-Traditionen, die als Ritual dienen und eine tiefe Bindung mit dem afrikanischen-brasilianischen Kulturgut besitzen. In dieser Richtung finden wir fast ausschließlich männliche Afrobrasilianer in den »rodas«. Die afrobrasilianischen Religionen, insbesondere der Candombl¦, spielt innerhalb dieser Richtung eine wesentliche Rolle. Die Capoeira de Angola ist ein lebendiger Teil des afrobrasilianischen kulturellen Widerstandes. Schon die Capoeira Regional, die von den traditionellen Vertretern der Capoeira de Angola abgelehnt wird, ist eine unorthodoxe Form der Capoeira-Ausübung: Hier findet man zahlreiche Elemente der meditativen östlichen Kampftechniken und sie hat keine einheitliche Konzeption. In dieser Richtung der capoeira sind in der Mehrzahl Weiße aus den oberen sozio-ökonomischen Schichten und viele Frauen zu finden. Auch Polizisten, Militärs und Sicherheitsmänner suchen in dieser Richtung der capoeira eine profissionelle Kampftechnik. !Bibliografien !Folklore !Musik !Tanz M. Querino (1938): Costumes africanos no Brasil. Recife (1988, 2. ed.); Caryb¦ (1955): O jogo da capoeira (bebildert). Salvador ; Ê. Carneiro (1971): Capoeira. Rio de Janeiro; ders. (1977): Capoeira. Cadernos de Folclore 1. Rio de Janeiro; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore brasileiro. S¼o Paulo; A. de Areias (1984): O que ¦ capoeira? S¼o Paulo; P. Onori (1988): Sprechende Körper. St. Gallen; M. Pastinha (1988): Capoeira de Angola. Salvador (BA); Th. H. Holloway (1989): A healthy terror. Police repression of capoeiras in 19-century Rio de Janeiro. Hispanic American Historical Review (Durham), 69(4), p. 637 – 676; Chr. Brade (1992): Synkretismus in brasilianischer Musik. Das Beispiel Capoeira- ein afrobrasilianischer Kampftanz. Das Oberstufen-Kolleg. Unterrichtsmaterialien Bd.47, Bielefeld: Universität Bielefeld; D. Hegmanns (1993): Capoeira. Die Kultur des Widerstandes. Ein Lese- und Übungsbuch (Musikkassette). Stuttgart; H. Stubbe (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

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Demografie Das Profil der afrobrasilianischen Bevölkerung: Es wird viel über die Ungleichheiten und Gegensätze innerhalb der brasilianischen Gesellschaft gesprochen: Reichtum und Armut, Gewalt und Friedfertigkeit, Dritte, Erste und Vierte Welt in einem. Diese Gegensätze (»terra dos contrastes«) kennzeichnen das Gesicht Brasiliens vor der Weltöffentlichkeit. Was aber noch oft verdeckt liegt ist das Profil der Benachteiligten der bras. Gesellschaft. Auf der Armutsseite fällt sofort die !Hautfarbe der Armen, der Gefangenen und der Kriminalitätsopfer, sowie die der !Favela-Bewohner, der Straßenverkäufer, der Prostituierten, der Hungernden in die Augen. Sie sind nämlich in ihrer großen Mehrzahl !Afrobrasilianer. Einige der Mechanisnen, die dazu beitragen, daß sie sich so repräsentativ auf der unterprivilegierten Seite ansammeln sind unter vielen anderen in der rassistischen Verteilung der Arbeitschancen auf dem Arbeitsmarkt, in den rassischen !Vorurteilen innerhalb der Parteienstruktur und der geringen Ausbildungschancen dieser Bevölkerung zu suchen. Alle diese Faktoren hängen eng miteinander zusammen und bilden dadurch einen circulus visiosus der ethnischen Benachteiligung und !Exklusion, der diese Bevölkerungsgruppe unterliegt (aktuelle Daten, s. unten: Internet). Im Jahre 2000 verteilte sich die afrobras. Bevölkerung (aufgrund von Selbsterklärung !»preto« bzw. !»pardo«) in folgenden Bundesstaaten: Bahia (73 %), Maranh¼o (71,9 %), Par‚ (71,9 %), Pernambuco (57,8 %), Minas Gerais (45,4 %), Rio de Janeiro (44,1 %), S¼o Paulo (27,2 %), Paran‚ (21,1 %), Rio Grande do Sul (12,6 %) und Santa Catarina (9,7 %) (IBGE, 2000; Lopes, 2006:8). Betrachtet man z. B. die Ergebnisse der Volksbefragungen von 1940 bis 1980 so kann man ein allmähliches Anwachsen des afrobrasilianischen Bevölkerungsteils feststellen: 1980 werden bereits 45 % der brasilianischen Bevölkerung als Afrobrasilianer bezeichnet (vgl. IGBE, 1987; IBASE, 1989:11). Hinsichtlich

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der Altersstruktur der Afrobrasilianer ergibt sich folgendes Bild: 0 – 14 Jahre (42 %), 15 – 24 Jahre (21 %), 25 – 44 Jahre (23 %), 45 – 54 Jahre (7 %), 55 Jahre und älter (7 %) (IBASE, 1989:12). Es handelt sich also um eine ausgesprochen junge Bevölkerungsgruppierung. Gegenüber den Weißen ist bei den Afrobrasilianern eine höhere Kinderzahl, sowie eine geringere Lebenserwartung zu beobachten (vgl. auch IGBE, 1990). Die afrobrasilianische Bevölkerung ist nicht gleichmäßig über das Land verteilt. Während in den urbanen Zentren der weiße Bevölkerungsanteil dominiert (60 % gegenüber 40 %), findet man den afrobrasilianischen stärker in den ruralen Gebieten (56 % gegenüber 44 % Weißen). !Segregation Im Vergleich zu den Weißen nehmen die Afrobrasilianer im brasilianischen Wirtschaftsleben eine eindeutig ungünstigere Position ein. Man findet Afrobrasilianer vorwiegend in geringer qualifizierten Tätigkeiten, sie stellen auch die Mehrheit der Arbeitslosen und erhalten geringere Löhne. Außerdem besitzen sie schlechtere berufliche Aufstiegschancen auch bei gleicher Qualifikation (vgl. Hasenbalg, 1979; Oliveira et al., 1985; Moura, 1988; IBASE, 1989; Lovell, 1994; Lopes, 2006:10). Auch in der Politik (z. B. im »Congresso Nacional« 1999: 4 Senatoren), in der Funktion als Gouverneure, im Militär (in den hohen Rängen), im diplomatischen Korps, in der »Ordem dos Advogados«, in den Universitäten (als Professoren), in der »Associażo Brasileira de Imprensa«, in der »Federażo das Indfflstrias« (SP und Rio) und in der »Confederażo Nacional do Com¦rcio« etc. ist ihr Anteil gering und nicht repräsentativ (vgl. z. B. Lopes, 2006:10). Vor allem die Afrobrasilianerin wird diskriminiert. Auf den Verwaltungsposten finden wir im Jahre 1980 34 % gelbe, 19,6 % weiße und nur 3,9 % schwarze Frauen (vgl. IBASE, 1989:44). Dagegen arbeiten 56,4 % der Afrobrasilianerinnen im Dienstleistungssektor, d. h. vor allem als !»empregadas« (= Hausangestellte) (vgl. Carneiro & Santos, 1985; Santos-Stubbe, 1995). Hinsichtlich der Bildungssituation der weißen und schwarzen Frauen ergibt sich ein ähnliches Bild (vgl. !Bildung): Unter den Alleinerziehenden fanden sich z. B. im Jahre 1980: 2.030.898 schwarze Mütter (IBGE, 1980). Ihre spezifischen sozialpsychologischen Probleme wurden von Rosane da Silva Ferreira in ihrer von Stubbe orientierten Dissertation »Vida de mulher – Um estudo em classe popular« (1987) ausführlich bearbeitet. Verschiedene Versuche wurden in Brasilien unternommen, die Situation der Afrobrasilianer zu verbessern. Von staatlicher Seite wurde in die neue !Verfassung von 1988 ein »Rassismus-Paragraph« aufgenommen der die Praktik des Rassismus unter Strafe stellt (T†tulo II, Cap. I, Art. 6, § III). Verschiedene pädagogische Projekte versuchen, im schulischen Bereich den bedeutenden kulturellen Beitrag der Afrobrasilianer und ihre Geschichte stärker in das Bewußtsein

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der Schüler und Schülerinnen zu bringen (vgl. IBASE, 1989: 28 f; Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N825, 1997; Lopes, 2006). Auch haben sich viele !Organisationen gebildet, in denen sich Afrobrasilianer aus politischen, religiösen und kulturellen Motiven zusammengeschlossen haben, sowie Institutionen, die der afrobrasilianischen Forschung dienen (vgl. IBASE, 1989: 55ff; Santos-Stubbe, 1998, 2001). !Anhang !Bibliografien !Bildung !Diskriminierung !Einführung ! Frau !Gesundheit !Kinder !Ökonomie und Arbeitswelt !Religion ! Verfassung IBGE (1958): A populażo do Brasil. Dados censit‚rios (1872 – 1950). Rio de Janeiro; M. L. Marc†lio (1973): Crescimento histûrico da populażo brasileira at¦ 1872. Cadernos CEBRAP (SP), (16), p. 1 – 26; B. Lamounier (1973): Composiżo da populażo brasile ira: cor. Cadernos CEBRAB (SP), (15), p. 25 – 37; H. S. Klein (1974): O crescimento da populażo n¼o-europ¦ia antes do in†cio do desenvolvimento: O Brasil do s¦c. XIX. Anais de Histûria (Assis), 6, p. 51 – 70; L. Henry (1976): Temas de pesquisa. Fontes e m¦todos da demografia histûrica do Brasil. Revista de Histûria (SP), 53(105), p. 63 – 80; W. Th. Fernandez de Andrade (1977): A estratificażo social no Rio de Janeiro na ¦poca da corte portuguesa (1808 – 1821). Leopoldianum (Santos), 4(9), abr., p. 19 – 36; I. del Nero da Costa (1979): Vila Rica. Populażo (1719 – 1826). S¼o Paulo: IPE-USP; ders. (1981): PopulaÅþes mineiras. Sobre a estrutura populacional de alguns nfflcleos mineiros no alvorecer do s¦c. XIX. S¼o Paulo: IPE-USP; H. S. Klein & St. L. Engerman (1984): A demografia dos escravos americanos. Em: M. L. Marc†lo (ed.), Populażo e sociedade: evolużo das sociedades pr¦industriais. Petrûpolis, p. 208 – 227; E. S. Berquû et al. (1987): Nupcialidade da populażo negra no Brasil. Campinas: UNICAMP/NEPO; IBGE (1987): Estat†sticas histûricas do Brasil (1550 – 1985). Rio de Janeiro; Ch. H. Wood & J. A. Magno Carvalho (1988): The demography of inequality in Brazil. Cambridge Latin American Studies, 67; IBASE (ed.) (1989): Negros no Brasil. Dados da realidade. Petrûpolis; IBGE (1993): O traÅo da desigualidade social no Brasil. (J. Souto de Oliveira, org.). Rio de Janeiro; IBGE (1995): Cor da Populażo. S†ntese de indicadores 1982 – 1990. Rio de Janeiro; IBGE (2000): 500 anos de povoamento. Rio de Janeiro; Ch. dos Santos-Stubbe (2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef (2. Aufl.); Institutionen: IBGE (RJ), IBASE (RJ) Internet: Allgemeine Daten über die afrobras. Bevölkerung: Perspectivas negras: construindo pol†ticas pfflblicas na intersecżo entre Juventude e Promożo da Igualdade Racial: http://www.seppir.gov.br/publicacoes/arquivos/relatoriojuventude Observatûrio do negro: http://www.observatoriodonegro.org.br Observatûrio da Populażo Negra em Numeros: http://www.observatoriodonegro.org.br/ imagens/noticias/ODPN_em_numeros.pdf AÅþes afirmativas para negros no Brasil: o in†cio de uma reparażo histûrica: http://www. scielo.br/pdf/rbedu/n29/n29a13.pdf Negro hoje: desigualdade e nova resistÞncia: http://artigos.netsaber.com.br/resum o_artigo_1375/artigo_sobre_negro_hoje:_desigualdadede_e_nova_resistencia Populażo negra aumentou no Brasil, revela Censo: http://exame.abril.com.br/brasil/no ticias/populacao-negra-aumentou-no-brasil-revela-censo

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IBGE divulga resultado de estudos sobre cor e raÅa: http://www.ibge.gov.br/home/presi dencia/noticias/noticia_visualiza.php?id_noticia=1933& id_pagina=1 Wichtig !Censo demogr‚fico 2010 – caracter†sticas da populażo e dos domic†lios (populażo negra tabelas a partir do item 1.3) http://www.ibge.gov.br/home/estatistica/ populacao/censo2010/caracteristicas_da_populacao/resultados_do_universo.pdf Dados do IBGE sobre caracter†sticas raciais (v‚rias tabelas a partir do item 2) http://www. ibge.gov.br/home/estatistica/populacao/caracteristicas_raciais/default_pdf.shtm O Brasil dos brancos ¦ rico. Dos negros ¦ muito, muito pobre http://www.conversaafiada. com.br/brasil/2010/05/19/o-brasil-dos-brancos-e-rico-dos-negros-e-muito-muito-pobre/ Extrema pobreza no Brasil: a situażo do direito — alimentażo e moradia adequada http:// www.gajop.org.br/arquivos/publicacoes/Extrema_Pobreza_no_Brasil.pdf Desigualdades raciais, racismo e pol†ticas pfflblicas: 120 anos apûs a aboliżo (cont¦m dados tabelados) http://www.ipea.gov.br/sites/000/2/pdf/desigualdaderaciais_abolicao. pdf As pol†ticas pfflblicas e a desigualdade racial no Brasil 120 anos apûs a aboliżo http://www. ipea.gov.br/sites/000/2/livros/Livro_desigualdadesraciais.pdf Sobre populażo em situażo de mis¦ria no Brasil http://mtv.uol.com.br/memo/brasiltem-mais-de-16-milhoes-de-pessoas-vivendo-em-condicoes-de-extrema-pobreza Populażo negra ¦ a maior parcela da classe m¦dia brasileira http://www.sae.gov.br/site/ ?p=13987

Depilation (auch: Epilierung) Entfernung der Behaarung des Leibes oder bestimmter Körperteile. D. gehört zu den künstlichen Veränderungen des Leibes, die weltweit zu finden sind. Die D. muß von dem sog. Haaropfer unterschieden werden. Besonders von frühen Kulturanthropologen wie Tylor (1832 – 1917) oder Wilken (1886) wurde das Abschneiden des Haupthaares als ein (Haar-) Opfer interpretiert. In der Bibel (vgl. Simson, Richt. 16) und bei den antiken Griechen wurde das !Haar oftmals als Sitz des Lebens oder der Kraft betrachtet, es enthält »Seelenstoff«. Der Raub des Haares macht kraftlos, so z. B. im Grimmschen Märchen vom »Teufel mit den drei goldenen Haaren«. Manchmal wurde das Haaropfer auch als pars pro toto für ein ursprüngliches Menschenopfer angesehen. Auch in den Trauerriten spielt die Haar- und Bartschur, sowie das Haaropfer eine besondere Rolle (»Haartrauer« vgl. Stubbe, 1985). So legen z. B. die neuzeitlichen Beduinenfrauen ihr Haar auf das Grab, um sich dadurch wahrscheinlich mit dem Verstorbenen in Verbindung (communio) zu setzen und ihm ihre Liebe zu bezeugen. Wenn arabische Krieger sich vor der Schlacht das Haar schoren, so bedeutete dies, daß sie sich dem Tode weihten (Buhl, 1955). Im religiösen Brauchtum Brasiliens ist das Haaropfer sehr gebräuchlich. »Auch heute noch erscheinen an den Wallfahrtsorten in Begleitung ihrer Mütter etwa siebenjährige Jungen und Mädchen, denen in der ›Kapelle der Gnadenbeweise‹ zum ersten

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Male das Haar geschnitten und einem elterlichen Gelöbnis gemäß, unter den Votivgeschenken, den ›milagres‹ aufgehängt wird. Noch heute ist das Haaropfer unter den Indianern üblich. So schneiden die Caiapû-Eltern ihr Haar ab und binden es zu einem einzigen Knäuel zusammen, um es auf das Grab ihres Kindes zu legen, wie Bruder Albert Scheier C. PP. S. von den Kubenkraken, einer Untergruppe der Caiapû am oberen Xingffl, mitteilt.« (Willeke, 1958:108) Kutsch (1965) nennt sinnvoller Weise die Trauerbräuche (z. B. Haarschur) des AT »Selbstminderungsriten«. Wenn man bei den Irokesen Haarlocken eines Verstorbenen an die nächsten Verwandten verteilte, sollten die lebens- und Zauberkräfte des Toten auf diese übergehen. Für Leach (1978) stellt die Entfernung des Kopfhaares als einer vorübergehenden »Körperverstümmelung« eine besonders geeignete Metapher für die Umkehr der sozialen Zeit dar, die bei Übergangsriten stattfindet. Denn eine Witwe kann sich nach dem Tode ihres Mannes das Haar abschneiden und nach dem Ende der !Trauer(zeit) wieder wachsenlassen (vgl. Stubbe, 1983). Haarschur kann auch ein asketisches Motiv haben und wird dann verstanden als Zeichen der Weihe und Hingabe an die Gottheit (vgl. Tonsur) wie z. B.bei der !Initiation in den afrobras. Kulten und im !Candombl¦ (»Initiationsschur«). Das Haar spielt auch im Liebes- und Schadenszauber eine bedeutende Rolle (vgl. Cascudo, 1980). In der Hand des Zauberers verschafft das Haar des Opfers ihm Macht über den Träger und deshalb darf es nicht in unberufene Hände fallen. In vielen Kulturen, vor allem der heißeren Regionen z. B. in Brasilien, aber auch in islamischen Ländern und der Türkei werden die Achsel- und Schambehaarung entfernt (vgl. z. B. Kammerer, 1984). Hier mögen vor allem hygienische Gründe eine Rolle spielen. Aber man gibt oftmals auch ästhetische und gefühlsmäßige Gründe (Scham, Ekel) dafür an. Die Behandlung des Haares und die Haarschur der brasilianischen Indianer und Afrobrasilianer besitzt eine kulturspezifische Semantik (vgl. Revista de Atualidade Ind†gena, 1977; Vidal, 1992) und gibt Hinweise auf den Lebenszyklus, den Status (»Soziales Haar«) und emotionalen Ausdruck (»Emotionales Haar«; vgl. !Trauer). !Ethnoästhetik !Initiation !Haare E. Leach (1958): Magical Hair. J. of the Royal Anthr. Institute, 88. London; C. R. Hallpike (1969): Social hair. Man (n.s.), 4(2); Revista de Atualidade Ind†gena, ano 1, n8 3, 1977; H. Stubbe (1985): Formen der Trauer. Berlin; E. Kammerer (1984): Die »blanke« Orientalin. Sexualmedizin, 11, S. 657 – 659; L. Vidal (1992): Grafismo ind†gena. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S. 274 – 280

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Diskriminierung D. ist eine nach Gleichheits- und Gleichbehandlungs-Prinzipien festgestellte oder wahrgenommene Ungleichbehandlung in Form von sozialer Benachteiligung. Im engeren Sinn bedeutet D. Verweigerung von gesellschaftlich legitimierten Mitteln und Chancen zur Erreichung gesellschaftlich allgemein akzeptierter Ziele und Einflussmöglichkeiten mit der Konsequenz der Ausschließung und !Ausgrenzung aus allgemein angestrebten, für die Majorität zugänglichen Lebensbereichen (!Bildung, !Ökonomie und Arbeitswelt, ! Wohnen, !Gesundheit, !Politik etc.). Eine soziale D. liegt dann vor, wenn die Ausschließung explizit oder implizit unter Hinweis auf mehreren Menschen gemeinsame, sozial bedeutsame Merkmale (z. B. »rassisch«-ethnische, nationale, religiöse, Körpermerkmale, !Hautfarbe, Behinderung, Geschlecht, Alter, soziale Herkunft) erfolgt, wenn also dadurch die Mitglieder einer sozialen Kategorie (Minoritäten, Migranten, !Afrobrassilianer etc.) betroffen sind. D. bildet in der !Sozialpsychologie, Migrations- und Vorurteilsforschung ein zentrales Thema. Gordon W. Allport (1971) hat verschiedene Reaktionsformen auf Diskriminierung und !Vorurteile im Hinblick auf die afro-us-amerikanischen und jüdischen Minderheiten in den USA analysiert, die auch für Brasilien gültig sind. Er nennt fünf Formen »negativer« Aktionen gegen eine ethnische Gruppe: 1. verbale Angriffe, 2. Sich-aus-dem-Wege-gehen, das zur räumlichen Trennung führen kann (z. B. Ghetto, !Apartheid), 3. Diskriminierung, 4. der direkte körperliche Angriff und 5. Ausrottung, die bis zum !Genozid gehen kann (vgl. Tab. bei Santos-Stubbe, 1995:196). Viele ethnische Minderheiten (z. B. Afrobrasilianer, vgl. Santos-Stubbe, 2001) besitzen geringere Bildungschancen, wodurch ihre Arbeitsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt verringert sind, was wiederum zu ihrer sozioökonomischen Marginalisation beiträgt etc. Unterschichtsituation und ethnische Minderheit gehören in vielen Ländern zu einem Zustand, der zu einem circulus vitiosus der Benachteiligung führt. Das Minderwertigkeitsgefühl, das als Gruppengefühl in vielen ethnischen Minoritäten vorherrscht, wird oftmals noch verstärkt durch einen Intergruppenvergleich wie auch durch die Introjektion (Verinnerlichung) der degradierenden Attributionen durch die Majorität. Die Bezeichnung der eigenen (Minoritäts-) Gruppe als »minderwertig« und Verursacher der eigenen Diskriminierung, sowie der Versuch sich als Nichtangehöriger dieser Minderheit zu bezeichnen, können als eine Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls gedeutet werden. Bei dieser selbszerstörerischen Intragruppen-attribution werden einerseits die Existenz der D. bestätigt, andererseits aber die Erklärungen und die Schuld dafür intropunitiv in der Eigengruppe gesucht. Einige Forscher sprechen in diesem Zusammenhang von dem sozialpsychologischen Phänomen des »Selbsthasses«, wobei die Mitglieder der ethnischen !Minderheit sich nicht als solche akzep-

Diskriminierung

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tieren wollen und die Gruppe (zum Teil auch sich selbst) zu »hassen«, zu beschuldigen und zu diskriminieren beginnen (vgl. Lopes, 2006:52; Stubbe, 2012). Antonio S. A. Guimar¼es (2004) hat die bei der Polizei in S¼o Paulo registrierten »queixas de discriminażo« im Hinblick auf die Afrobrasilianer in den Jahren 1993 bis 1997 untersucht. !Apartheid !Assimilation !Exklusion !Frau !Menschenrechte !Minderheit !Segregation !Sozialpsychologie !Stereotype !Verfassung ! Vorurteile C. A. Hasenbalg (1979): Discriminażo e desigualidades raciais no Brasil. Rio de Janeiro; F. M. de Barros Mott Rosemberg (1979): DiscriminaÅþes ¦tnico-raciais na literatura infanto-juvenil brasileira. Revista Brasileira de Biblioteconomia e Documentażo (SP), 12(3/ 4), p. 155 – 166; Cl. da Silva Maciel (1987): DiscriminaÅþes raciais: negros em Campinas (1888 – 1921). Campinas: UNICAMP; Ch. dos Santos-Stubbe (1995): Arbeit, Gesundheit und Lebenssituation afrobrasilianischer Empregadas Dom¦sticas (Hausarbeiterinnen). Frankfurt/M.; A. S. A. Guimar¼es (2004): Preconceito e discriminażo. Queixas de ofensas e tratamento desigual dos negros no Brasil. S¼o Paulo (2.ed.); H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

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Ekstase (griech. ]jstasir = »Außersichsein«, »Aus-sich-selbst-heraustreten«, êxtase). Entrückung, psychischer Ausnahmezustand, rauschhafter, den Menschen überfallender, ins Extreme gesteigerter Affekt, Einschränkung oder Auslöschung der Ichhaftigkeit, gesteigerte Ausdrucksbewegungen. Meist glückhaft, manchmal ängstlich, manchmal beides zugleich. Häufig fälschlicherweise als »Geisteskrankheit« gedeutet. E. wird, wenn sie sich nicht spontan einstellt, künstlich durch Askese, Fasten, Nichtschlafen, Drogen, Alkohol, !Tabak, ! Musik, !Tanz etc. hervorgerufen, um die »Seele vom Leib zu lösen« und z. B. im Schamanismus oder ekstatischen Religionen in Verbindung mit der übersinnlichen Welt zu treten. Ekstatische Phänomene sind aus fast allen Religionen bekannt. Z. B. war das Ziel des Dionysoskultes im antiken Griechenland die ¦kstasis, »was wiederum alles bedeuten konnte, vom ›Jemanden-aus-sich-selbstHeraugehenlassen‹ bis zur tiefgreifenden Veränderung der Persönlichkeit. Seine psychologische Funktion bestand darin, den Drang, die Verantwortlichkeit abzuschütteln, Genüge zu tun und ihn abklingen zu lassen, einen Drang, der in jedem von uns vorhanden ist und unter gewissen sozialen Bedingungen zur unwiderstehlichen Begierde anwachsen kann. Als mythisches Vorbild für diese ›homöopathische Therapie‹ kann man die Geschichte des Melampos betrachten, der den dionysischen Wahnsinn der argivischen Frauen heilte ›mit Hilfe von rituellen Schreien und einer Art besessenen Tanzes‹.« (Dodds, 1970:49) Dodds betont auch die kathartische Funktion der frühen Rituale des Dionysoskultes. Die Ekstase wurde ursprünglich von Plotin (ca. 204 – 270 n. Chr.) als Austritt aus den Grenzen der Individualität und als Verschmelzung mit einem geliebten Wesen verstanden. Ähnliche Vorstellungen entwickelten auch Hegel und Nietzsche. In moderner psychologischer Bedeutung wird unter Ekstase ein übersteigerter psychischer Ausnahmezustand mit dem Gefühl der Verzückung, des Glücks, der Entrücktheit von der Realität und der höchsten Begeisterung

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und Ergriffenheit verstanden. Es handelt sich manchmal um einen Rauschzustand, in dem auch Halluzinationen gesehen und Stimmen gehört werden, wobei Zusammenhänge mit psychotropen Stoffen, !Trance, Fasten, Askese, !Musik (vgl. Bruhn, Oerter & Rösing, 1993), !Tanz und psychopathologischen Zuständen (Schizophrenie, Epilepsie) (vgl. Pfeiffer, 1994) bestehen können. Oft findet sich in der Ekstase auch Glossolalie. Eine Beziehung der Ekstase zum Gefühlszustand während des Orgasmus ist besonders eng. Hier wie dort schwindet die Individuation. In diesem Sinne sah bereits P. Beck (1925:50) in der Ekstase einen Rückfall in einen uralten Bewusstseinszustand, in das Urbewusstsein, das der Differenzierung des modernen Bewusstseins in Ich und Außenwelt vorangeht. Manche Autoren setzen die Ekstase auch mit dem religiösen Erlebnis schlechthin gleich (vgl. Goodman, 1993), wieder andere beobachten in !Trance und Ekstase zwei grundverschiedene Zustände (Rouget, 1985:11). In den sog. primitiven Religionen und bei den Mystikern aller Zeiten und Kulturen spielt die Ekstase eine hervorragende Bedeutung. Die Ekstase, oft durch künstlich erzeugte tranceartige Zustände herbeigeführt, dient im Schamanismus z. B. der Kontaktaufnahme mit der übersinnlichen Welt (Findeisen & Gehrts, 1993; Müller, 1997; Clottes & Lewis-Williams, 1997). Der Enthusiasmus ist im ursprünglichen Sinne der dionysischen Mystik der griechischen Antike ein Zustand, in welchem »der Gott im Menschen ist«. Arabische Mystiker wie AlGhazz–li (1058 – 1111) unterscheiden zwischen wajd (Trance), tarab (musikalische Emotion als profane Ekstase) und sam– (religiöser Audition) (Schimmel, 1992). Die Psychologin Oezelsel (1993) hat einen eindrucksvollen Selbsterfahrungsbericht einer traditionellen Derwischklausur (hal-vet) vorgelegt, in der sie auch mystische Verschmelzungsgefühle und veränderte Bewußtseinszustände erfuhr. In der Religionspsychologie wird die neurophysiologische Komponente der E. als religiöse Trance bezeichnet und gehört als Verhaltensmuster zu den sog. veränderten Wachbewusstseinszuständen klinisch gesunder Personen und spielt in praktisch allen nichtwestlichen religiösen Ritualen eine zentrale Rolle. Die (ethno-) psychologische Komponente der religiösen E. ermöglicht das kulturgebundene Erlebnis der anderen, sakralen Wirklichkeit. Goodman hat die E. im Zusammenhang mit den fünf Hauptkulturen der Menschheit (Jäger und Sammlerinnen, Gartenbauer, Ackerbau, Hirtennomaden, Stadtkultur) dargestellt (vgl. Dunde, 1993). In Brasilien gehört die (auch von Afrobrasilianern stark frequentierte) Pfingstbewegung (pentecostalismo, z. B. IURD gegr. 1977; Assemblies of God, Assembleia de Deus, gegr. 1911) seit dem II. Weltkrieg zu den am schnellsten wachsenden Teilen der christlichen Kirchen, vor allem in Lateinamerika und Süd-Korea, aber auch in Afrika (z. B. Mosambik) und Europa (z. B. Portugal). Der »Televangelismus« der Pfingstler, deren Gottesdienste durch ungezügelten

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Überschwang und ekstatische Freude gekennzeichnet ist, beansprucht neben Zungenreden (Glossolalie) auch andere »Geistesgaben«, einschließlich Prophetie, geistiger Heilung und Exorzismus (Clark, 1995:82; Oro et al., 2003). !Trance !Veränderte Bewusstseinszustände P. Mantegazza (1988): Die Ekstasen des Menschen, Jena; P. Beck (1923): Die Ekstase. Leipzig; C. Albrecht (1951): Psychologie des mystischen Bewusstseins. Bremen; M. Eliade, (1962): Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M.; D. Langen (1963): Archaische Ekstase und Meditation. Stuttgart; E. Arbman (1963 – 1970): Ecstasy or religious trance. 3. vols. Uppsala; H. Leuner (1967): Die toxische Ekstase. In: Th. Spoerri (Hrsg.), Beiträge zur Ekstase. Bibl. Psychiat. Neurol.; R. Dodds (1970): Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt; I. M. Lewis (1971): §xtase religioso. S¼o Paulo; I. P. Culianu (1984): Exp¦rience de l’extase. Paris; ES. R. Dunde (Hrsg.) (1993): Wörterbuch der Religionspsychologie. Güterloh; M. Düe (1993): Konzentration und Entrückung: Aus der Geschichte des Verhältnisses von ekstatischer Erfahrung und wissenschaftlicher Begriffsbildung. Heidelberg; P. B. Clarke (1995): Atlas der Weltreligionen. München (2. Aufl.); H. Stubbe (1999): Gefühle In: Metzler Lexikon Religion , Bd.1, Stuttgart; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; A. P. Oro, A. Corten & J. P. Dozon (org.) (2003): Igreja Universal do Reino de Deus (IURD). S¼o Paulo

Emanzipationsbewegungen Zu den Emanzipationsbestrebungen der Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer in Politik, Religion, Kunst und Schaffenskraft: Die Emanzipationsbewegungen der Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer bilden auf der einen Seite eine konkrete und fassbare Realität. Die Realität der Geburt: einer Geburt zwischen Afrika und Brasilien d. h. der Realität der Verwurzelung in zwei Kontinenten. Auf der anderen Seite impliziert diese Geschichte eine Quase-Fiktion. Die Fiktion der Wünsche, der Träume, die Fiktion des Blickes nach ganz vorne, dorthin, wo Schatten entstehen, deren Gestalt diese Bevölkerungsgruppe selbst skizzieren kann wie sie es braucht. Zwischen Realität und Fiktion bewegen sich Afrobrasil bzw. die Afrobrasilianer ständig. Die Dynamik zwischen diesen beiden Extremen hat dazu beigetragen, dass diese Bevölkerung überleben konnte und sich in ihrer !Geschichte Stück für Stück verschiedene Emanzipationswege prozesshaft aufgebaut haben. Die Geschichte der Afrikaner/innen in Brasilien bzw. der !Afrobrasilianer/ innen oder !»Afrodescendentes« (Nachfahren der Afrikaner) beginnt bereits im 16. Jh. Wann genau ist immer noch umstritten: Es werden in unterschiedlichen Quellen unterschiedliche Jahresangaben gemacht bzgl. der Einfuhr der

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afrikanischen Sklaven nach Brasilien. Für Conrad kamen z. B. die ersten Afrikaner bereits im Jahre 1525 (Conrad, 1985: 209) nach Brasilien, dagegen gibt die moderne brasilianische Historiographie meistens das Jahr 1538 an, obwohl »offiziell« das Jahr 1549 gilt. !Sklaverei Der transatlantische Sklavenhandel, der ca. 5 Millionen afrikanische Männer, Frauen und Kinder nach Brasilien brachte (die Schätzungen hierfür schwanken zwischen 3,8 bis 18 Millionen, vgl. Scis†nio, 1997:141ff; Santos-Stubbe, 1998:19 f), dauerte offiziell bis 1850 und inoffiziell mindestens 20 Jahre länger. Er funktionierte nach dem Prinzip des Dreieckhandels Europa-Afrika-Amerika und zurück nach Europa. D.h. aus Europa gelangten Tauschwaren direkt nach Afrika, wo sie in »Menschenware« umgetauscht wurden. Nach diesem gewinnträchtigen Tausch brachten die Schiffe ihre menschliche Fracht in die Neue Welt, in deren Kolonien die Sklaven wiederum Produkte wie Zucker, !Tabak, Baumwolle, Kaffee etc. erzeugten. Diese Produkte wurden dann nach Europa exportiert, wo sie für die Händler einen noch beträchtlicheren Gewinn einbrachten. Eine nicht zu unterschätzende Form der Prä-Globalisierung. Für den Historiker Conrad war »Der Sklavenhandel von Afrika nach Brasilien eine der größten Tragödien in der Menschheitsgeschichte. Vermutlich mehr als fünf Millionen Afrikaner gingen an den brasilianischen Stränden während der Jahre 1525 und 1851 von Bord, ungefähr mehr als 1,5 Millionen pro Jahrhundert. Diese Bevölkerungsmasse bildete jedoch nur einen kleinen Anteil aller Menschen, die von diesem Handel betroffen waren, da viele bereits auf ihrem Geburtskontinent starben, bevor sie eingeschifft wurden, viele andere starben auch während der Schiffsreise. In Brasilien angekommen, starben die Überlebenden, nach der langen transatlantischen Überfahrt schnell durch Krankheiten und durch weitere Entbehrungen. So blieb nur ein kleiner Prozentsatz der Personen, die in Afrika in Gefangenschaft genommen und verkauft wurden, am Leben für die Arbeit in der Neuen Welt« (Conrad, 1985: 209).

Abb. 3: Navio Negreiro/Sklavenschiff Quelle: Rugendas, entstanden ca. 1830

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Sombart (1928) kommt z. B. zu dem Ergebnis, dass während der Sklavenjagd, des Transportes und des ersten Jahres der Gefangenschaft von 400 Tausend Versklavten nur 280 Tausende überlebten, d. h. 70 %. Klein (1987) stellt fest, dass z. B. von eintausend Versklavten, die in 13 Schiffen aus Mocambique in den Jahren 1795 – 1811 nach Brasilien deportiert wurden, 234 (d. h. 23,4 %) schon während der Überfahrt starben.

Abb. 4: Tumbeiro Quelle: Meyer, 1990:60 f

Speziell für den Transport der Afrikaner wurden die sog. »Tumbeiros« erbaut. Sie besaßen dafür einen besonderen Laderaum, in dem die Gefangenen in verschiedenen Richtungen lagen – um Platz zu sparen- und aneinander gekettet waren, was ihre Bewegung vollkommen verhinderte. Ein solcher »Tumbeiro« transportierte in der Regel zwischen 300 und 500 versklavte Afrikaner, was oft den Untergang des Schiffes aufgrund von Überladung bewirkte. Die gefangenen Afrikaner litten außerdem während der transatlantischen Reise (eine Reise z. B. von West-Afrika nach Brasilien dauerte je nach Schiffstyp ca. 35 bis 60 Tage!) an Hunger, Durst, unhygienischen Verhältnissen, an Krankheiten und Epidemien und an anderen seelischen und physischen Traumata. Die Afrikaner/in, die jetzt keine Personen mehr waren sondern Sklaven, wurden bei ihrer Kommerzialisierung nicht als Menschen betrachtet: sie waren Sachen, Dinge, Handelsobjekte geworden. Dies wird in der Handelssprache deutlich, wenn sie als »pecas« (=Stücke, Teile) eines »estoques« (=Haufens, Lagervorrates, Lagerbestandes) bezeichnet wurden. Die Afrikaner, die nach Brasilien deportiert und in Sklaven verwandelt wurden, betrachtete man (anders als viele Sklaven in der griechischen und römischen Antike) als Dinge, Ware ohne eine Art von Seele (»instrumento falante«, vgl. Scis†nio, 1997:177) und

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wurden als solche auch behandelt. Dies trug in entscheidendem Maße zu ihrer psychischen, sozialen und kulturellen Abwertung bei.

Abb. 5: Sklavenmarkt Quelle: Debret, entstanden ca. 1816 – 1828 »Mercado de escravos na rua do Valongo«/ »Sklavenmarkt in der Valongo-Straße«

Abb. 6: Bestrafung Quelle: Debret, entstanden 1828, »Feitores acoitando negros na roca«/»Aufseher peitscht Sklaven auf dem Lande«

Für die Kommerzialisierung dieser seelenlosen Menschen wurden sie auf den Sklavenmärkten in Brasilien gesammelt und ausgestellt. Die potentiellen Käufer überprüften sie nach dem physischen Gesundheitszustand, aber auch ihre Zähne, Genitalien und Muskulatur. Daraufhin wurden sie in verschiedene Regionen des Landes verkauft. Der transatlantische Sklavenhandel brachte Millionen von AfrikanerInnen nach Brasilien, die ein Leben in einer sozialen, psychischen und kulturellen Diaspora zu erleiden hatten. Dieser Handel wird heute »als die größte und dauerhaft erzwungene Umsiedlung von Völkern in der Menschheitsgeschichte und mit unzählbaren Konsequenzen, die keine Studie vollkommen erfassen kann« betrachtet (Novo Dicion‚rio da Histûria do Brasil, 1970: 256). Hier können wir im Sinne des französischen Antropologen Marcel Mauss sagen, dass die afrikanische Sklaverei in der europäischen Kolonialzeit ein fait social total war. Da sie alle Bereiche des Lebens betraf und dadurch eine solche Komplexität erlangte, die in ihrer Vollständigkeit kaum zu erfassen ist. Anders als es noch in den brasilianischen !Schulbüchern gelehrt wurde, haben sich die Afrikaner dieser Situation nie ganz gefügt. Bereits bei der Gefangenheit – vor dem Transport in die Neue Welt – rebellierten sie, sie flohen, töteten die Händler oder sich selbst. Debret beschreibt, dass bestimmte Sklaven auf dem »Tumbeiro« unter Androhung der Peitsche gezwungen wurden an der allgemeinen (befohlenen) Freude teilzunehmen, um Traurigkeit und Depression zu bekämpfen. Die Gewohnheit, sie nur angekettet ans Deck kommen zu lassen, um Suizidversuche (viele von ihnen suchten den freiwilligen Tod, indem sie ins Meer sprangen) und Revolten zu vermeiden, war Teil ihrer neuen Realität. Sich als afrikanischer Sklave oder Sklavin in Brasilien zu erleben, bedeutete,

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sich mit aller Kraft einen Weg zu suchen sich zu befreien, sich zu emanzipieren und dafür wurde auch der Tod als ein Mittel zur Erlangung dieser Emanzipation betrachtet. Es entsteht die Frage, ob der Tod als eine Form von Emanzipation betrachtet werden kann. In diesem geschichtlichen und lebenssituativen Kontext war der Tod aber sicherlich eine Form von Emanzipation. Die SklavInnen versuchten sich zu befreien von den ihrem Leib und ihrer Psyche zugefügten härtesten !Strafen und von der Erniedrigung, der Scham und dem Schmerz von ihren Familienmitglieder getrennt zu sein, öffentlich – vor den eigenen Familienmitglieder –ausgepeitscht und verstümmelt zu werden und von der psychischen Eingeschränktheit anderen ausgeliefert zu sein. Denn ein fester Bestandteil in der Logik der Sklaverei bestand darin, die versklavten Afrikaner/innen vor ihrem Verkauf von ihren Familien- und Stammesmitgliedern zu trennen. Charles Darwin (1875:64) berichtet z. B., dass »Infolge eines Streits … der Besitzer darauf und dran war, alle Frauen und Kinder den männlichen Sklaven wegzunehmen und sie einzeln in den öffentlichen Auktionen in Rio zu verkaufen. Sein Interesse und nicht irgendein Gefühl von Mitleid verhinderten diese Tat. Ich glaube wirklich, dass es ihm gar nicht in den Sinn gekommen ist, daran zu denken, dass es unmenschlich sei, dreißig Familien, welche viele Jahre lang zusammengelebt hatten, auseinanderzureißen«. Die kulturelle und familiäre Zersplitterung galt u. a. als eine durchaus bewusste Maßnahme der Sklavenhändler und Sklavenbesitzer gegen kulturelle Bindung, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit einer Flucht oder von !Aufständen verringert werden sollte. Es wurde dadurch eine Entfremdung herbeigeführt und sprachliche Barrieren aufgebaut, was den Zerfall der verschiedenen afrikanischen !Sprachen bzw. Dialekte in Brasilien provozierte, da die versklavten Afrikaner/innen dadurch gezwungen wurden portugiesisch zu sprechen. Vor diesem situativen Hintergrund ist auch das Phänomen !Banzo zu verstehen. Als Versklavter sich selbst zu töten oder »sich sterben zu lassen« hat sicherlich unterschiedliche Motive: Zum einen ein Racheakt gegenüber dem Sklavenhalter, für den die Versklavten das gesamte Vermögen, sein »lebendiges Geld«, darstellten. Zum anderen die Befreiung vom Sklavendasein und, damit verbunden der Wunsch bzw. die Hoffnung in Afrika als Wiedergeborener aufzuerstehen. Die religiöse Vorstellung der Reinkarnation – ein fester Bestandteil des religiösen Denkens in den afrikanischen !Religionen in Brasilien- mag hier, insb. im Falle des Banzo eine bedeutende Rolle gespielt haben. Auch Banzo war u. a. ein Emanzipationsweg. Emanzipation ist hier zu verstehen als ein individueller Akt des Sich-Befreiens von der aktuellen Situation. Es ist der Weg für die Wiedererlangung der

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eigenen Unabhängigkeit und der Definition der eigenen Person und Menschenwürde, da diese alle Aspekte waren, die die versklavten Afrikaner in Brasilien bzw. ihre Nachkommen nicht selbst definieren konnten. Emanzipation anzustreben war in Afrobrasil nie ein passiver Akt, dies haben die Afrikaner und die Afrobrasilianer immer aktiv gesucht und dafür gekämpft.

Abb. 7: Capit¼o-do-Mato Quelle: Rugendas, 1824 »Sklavenfänger«

Emanzipationsprozesse in Afrobrasil haben immer verschiedene Gestalt angenommen. Eine dieser Formen war die Flucht und damit verbunden die Bildung der sog. !Quilombos, über die bereits im Jahre 1559 berichtet wurde. Der bekannteste quilombo war der von !»Palmares«. »Palmares« bestand am längsten (bis 1654) mit einer Bevölkerungszahl von bis ca. 30.000 Einwohner und wurde erst nach zahlreichen Eroberungsversuchen mit holländischer militärischer Unterstützung erobert. Als der »Quilombo dos Palmares« erobert wurde, kam es der Legende nach zu einem Massensuizid der Palmares-Bewohner, die Münch bereits in seiner »Geschichte von Brasilien« (1829:88) folgendermaßen beschreibt: »Der oberste Anführer (genannt Zumbi. Anm. der Autoren) in der bitteren Wahl zwischen Tod und Knechtschaft wählte den ersteren. Er stürzte sich von einem Felsen der Stadt herunter. Seine Gefährten folgten seinem Beispiel. Der Sieger … erreichte nur noch die Weiber und Wehrlosen«. !Suizid als aktiver oder passiver Akt – wie wir im Fall des Banzo gesehen haben- finden wir auch schon in den religiösen afrikanischen Mythen. Beispielsweise in dem Yoruba-Mythos, in dem !Xango, der Kriegskönig, auf der Flucht sich an einem Baum aufhängt um als »Orix‚« (=Gottheit) wiederaufzuerstehen. Trotz der sehr großen Anzahl der existierenden quilombos, war der von »Palmares« der bekannteste und bis heute am stärksten präsent im kollektiven Bewußtsein der Afrobrasilianer und repräsentiert immer den alltäglichen Kampf für die Emanzipation und Gleichberechtigung und wird auch in der Historiographie als ein »Staat im Staate« betrachtet. Abdias do Nascimento nennt den quilombismo eine politische afrobrasilianische Alternative auch in den heutigen Tagen. Der 20. November –Todestag des !Zumbi, des Anführers von Palmares – wird gegenwärtig in Brasilien als »Feiertag der Schwarzen Unabhängigkeit« gefeiert. Dies ist ein sym-

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bolträchtiger Moment des Emanzipationsprozesses der Afrobrasilianer/innen insb. gegenüber der Feierlichkeiten des 13. Mai, dem Tag der offiziellen Unterzeichnung der !Abolition der afrikanischen Sklaverei in Brasilien durch die damals regierende Prinzessin Isabel. Der Zwiespalt der afrobrasilianischen Bevölkerung und oft sogar die Negation des offiziellen Tages der »aboliżo«, d. h. des Tages der Sklavenbefreiung durch die Monarchie wird offen zum Ausdruck gebracht wie im folgenden Gedicht von Êle Semog mit dem Titel »Wenn sie ja sagt, sage ich nein«: Zum dreizehnten Mai Wird öffentliche Trauer Angeordnet Für die Gemeinschaft der »Negros«, Und es wird Schief angesehen Wer ihn festlich begeht Diesen unnützen Dreizehnten. Und nicht vergessen: Freiheit erringt man Erhält man nicht Würde erwirbt man Gewährt man nicht. In dieser Phase der Geschichte von Afrobrasil, nämlich von der Gefangenschaft in Afrika, dem Sklavendasein in Brasilien bis hin zur !»abolic¼o«, d. h. der gesetzlichen Beendigung der Sklaverei, wird deutlich, dass der Kampf der afrikanischen Sklaven und Sklavinnen nicht nur darauf abzielte die weißen Herrn wirtschaftlich zu ruinieren, sondern auch eine Rückdeportation zu erzwingen. In diesem Sinne wurden sie »Amerikaner (bzw. Brasilianer) wider willen«, wie Rüdiger Zoller (1994) das von ihm herausgegebene Buch betitelt hat. Die Verbindung und Projektion in Richtung Afrika ist in Afrobrasil geblieben. Bis heute werden afrobrasilianische Kinder im Geist dessen was Afrika war und was sie für Afrobrasil bedeutet, sozialisiert. Diese Bindung zu Afrika war, zwangsläufig noch während der afrikanischen Sklaverei viel lebendiger und offensichtlicher : z. B. wie die Kinder getragen wurden, wie die Frauen sich kleideten und frisierten, wie und was gegessen wurde und welche Sprache gesprochen wurde und woran man glaubte, entstammte aus Afrika (!Made in Africa). So blieb die Verbindung zu Afrika in zahlreichen Räumen bzw. Enklaven der afrobrasilianischen Kultur und des Alltagslebens mehr oder weniger sichtbar (!Sklavenkindheit).

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Abb. 8: »Crioulas« Quelle: Rugendas, ca. 1836 »Crioulas«

Ein Raum, in dem die tiefsten Emanzipationsprozesse stattgefunden haben, waren die religiösen Stätten. Insbesondere in der !Religion !Candombl¦ ist dies offensichtlich. In dem »terreiro«, einem religiösen Areal, wird oft immer noch eine Ableitung des »Yorub‚« (die Hauptsprache aus Nig¦ria) gesprochen, wodurch alle außerhalb dieser kultischen Gemeinschaft im Verständnis ausgeschlossen bleiben. Eine Abkapselung als Schutz und als Emanzipation gegenüber dem aufoktroyierten Anpassungszwang der Übernahme des Katholizismus und der portugiesischen Sprache. Der »terreiro« ist immer noch »Afrika pur« und in ihm gehen die Eingeweihten während der religiösen Zeremonien auf Wanderschaft gehen. Aber auch der sog. religiöse Synkretismus kann als emanzipatorisch betrachtet werden: Aus dem katholischen Ritus wurde ein afrikanischer gemacht, in dem katholische Heilige afrikanische Namen, Symbole und Persönlichkeitsmerkmale erhielten. So wurde beispielsweise St. Georg zu Ogum, der für die Gläubigen gegen das Böse kämpft und sie dagegen schützt und Maria zu Oxum, die weibliche Göttin, die uns bemuttert und Zärtlichkeit und das Gute spendet. Durch die Versklavung, familiäre Trennung und soziale Isolierung entstand in Brasilien eine vielfältige Diaspora der afrikanischen Bevölkerung. Wie wir heute aus den Forschungen der Religionswissenschaft und Religionspsychologie und –soziologie wissen, stellt die Zuwendung zum Religiösen einen äußerst bedeutenden seelischen Anker für Menschen in einer marginalen emotionalen oder sozialen Stellung dar. Vor diesem Hintergrund müssen wir die Entstehung der Religiosität und der Religionen in Afrobrasil verstehen. Transformation und Emanzipation entstehen oft in weiblichem Kontext. Seit der Ankunft der Afrikaner in Brasilien bildeten die !Frauen feste Einheiten für die Durchsetzung der Emanzipationsprozesse. Die Ausübung der afrikanischen Religionen in Brasilien und die Entwicklung der afrobrasilianischen Religionen lag und liegt immer noch in Händen der Afrobrasilianerinnen. Trotz ihres bis heute sehr niedrigen sozialen Status setzten die Frauen afrikanischer Abstammung einen Transformationsprozess in der brasilianischen Gesellschaft durch, der kaum sichtbar war und ist, aber dennoch äußerst

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wirksam. Sie machten aus Brasilien ein Afrobrasil. Sie wurden am stärksten gezwungen in der Nähe der Herrschaftsfamilien zu leben, wodurch sie diese Familien »infiltrierten« mit afrikanischen Begriffen, mit Lebensformen, mit Essenskultur (vgl. z. B. »Möchten Sie das Essen kalt oder heiß (=scharf gewürzt)?« hier »verbrennen« sich die Weißen oftmals von innen!) und mit Glaubensvorstellungen. Sozialpolitisch gründeten sie soziale Einrichtungen für ihre Bevölkerungsgruppe und setzten Maßstäbe für Veränderungen. Auch die Versammlung des »Conselho Nacional das Mulheres Negras« (=Nationalrat der Schwarzen Frauen) im Jahre 1950 ist ein Meilenstein ihrer Emanzipation, die nicht mit der Emanzipation der Nicht-Afrobrasilianerinnen zu vergleichen ist. !Organisationen !Anhang

Abb. 9: Plakat des ersten nationalen Treffens der Afrobrasilianerinnen

Das Kulturleben Brasiliens ist nicht ohne die Emanzipationsbestrebungen der Afrobevölkerung zu verstehen: Von den Geschichten, die in den Puppentheatern erzählt werden, über die international bekannte !Capoeira bis hin zu den unterschiedlichen !Musik- und !Tanzgattungen, wissen wir, dass diese aus den Emanzipationsbestrebungen dieser Bevölkerungsgruppe entstanden sind und assimiliert wurden durch die Makrokultur. »Quem canta seu males espanta« sagt ein brasilianisches !Sprichwort, das originär den Gesängen der Versklavten entstammt und besagt, »wer singt, vertreibt das Maleur, den Schmerz«. Ab Anfang des letzten Jahrhunderts verstärken sich die politischen, sozialen und kulturellen Emanzipationsbestrebungen von Afrobrasil, jetzt aber aus einer anderen Perspektive, nämlich aus der Perspektive der Suche nach Annerkennung ihres bürgerlichen Status. 1926 wird der »Centro C†vico dos Palmares« (=Bürgerzentrum von Palmares) in S¼o Paulo gegründet. 1931 ist das Gründungsjahr der »Frente Negra Bra-

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Abb. 10: Capoeira Quelle: Rugendas, ca. 1825

sileira« (=Brasilianischer Front der Schwarzen), einer landesweiten politischen Bewegung, die 1936 zur politischen Partei wird und 1937 nach dem Staatsstreich von Getffllio Vargas verboten wird. 1944 gründete der 2011 verstorbene Abdias do Nascimento (1914 – 2011) das !»Teatro Experimental do Negro« (=Experimentelles Theater der Schwarzen) in Rio de Janeiro. Eine Theatereinrichtung, die.a. Theaterstücke aufführte, die von Afrobrasilianern geschrieben, inszeniert und gespielt wurden über spezifische afrobrasilianische Themen. Das war eine Revolution in der Theaterlandschaft Brasiliens und ein fundamentaler Schritt um diese Bevölkerungsgruppe aus dem Schatten der Nebenrollen zu befreien. Sie wurden hierdurch im weitesten Sinn des Wortes AKTEURE ihrer Geschichte. Derselbe Abdias do Nascimento brachte u. a. die afrobrasilianische Malerei bzw. die Malerei mit afrobrasilianischen Motiven in die Szene der brasilianischen und internationalen !Kunst. Seine Malerei knüpft wieder an Afrika an und integriert zugleich Afrobrasil. Er zeigt dadurch einen neuen, eigenen, emanzipierten Weg Afrobrasil mit seinen »encantos«, Fiktionen und Vorstellungen zu repräsentieren. Der Movimento Negro Unificado (= MNU: Einheitliche Schwarzenbewegung) mit ihrer immer noch einflussreiche Positionierung zu Fragen der Diskriminierung, des Rassismus, Sexismus gegenüber Afrobrasilianerinnen, sowie zu politischen Fragen (heute sitzen bereits mehr AfrobrasilianerInnen in den Parlamenten, jedoch ist ihr Anteil noch nicht repräsentativ), organisierte sich im Jahre 1978 und hat als Gründungsjahr 1979. Aus der ersten Phase dieser Bewegung heraus, die bereits 1975 anfing, erwuchsen in verschiedenen Bundesländer zahlreiche Forschungseinrichtungen, die sich mit afrobrasilianischen Themen beschäftigen, wie z. B. der IPCN (=Forschungsinstitut der Schwarzen Kulturen) in Rio de Janeiro. Auch das Gesetz der sog. »AÅþes Afirmativas« (=Affirmativen Aktionen) das im Jahre 2003 verabschiedet wurde und den Angehörigen der brasilianischen ethnischen Minderheiten – darunter auch den Afrobrasilianern – sowohl Studienplätze als auch Unterstützung für ein Hoch-

Empregada doméstica (Hausarbeiterin)

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schulstudium garantiert, soll, trotz ihres umstrittenen Gehaltes, als ein Schritt in Richtung Akademisierung, Bildungsverstärkung, Minderung der Marginalisierung und Emanzipation betrachtet werden (!Diskriminierung). !abolicionismo !Anhang !Geschichte der Afrobrasilianer !Gesellschaft !Ikonografie !Organisationen !Politik !Sklaverei A. C. Tavares Bastos (1863): Cartas do solit‚rio. Rio de Janeiro (reed. S¼o Paulo, 1938); R. Barbosa (1884): A emancipażo dos escravos. Rio de Janeiro; R. E. Conrad (1973): Neither slave nor free: the emancipados of Brazil (1818 – 1868). Hispanic American Historical Review (Durham), 53 (1), p. 50 – 70; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; Ch. dos Santos-Stubbe (2010): Vortrag: Afrobrasil und Emanzipation. Zu den Emanzipationsbestrebungen der Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer in Politik, Religion, Kunst und Schaffenskraft. Tagung »Zur Kultur und Entwicklungsgeschichte Lateinamerikas. 200 Jahre nach der Unabhängigkeit«. Haus der Geschichte BadenWürttemberg: Stuttgart.

Empregada doméstica (Hausarbeiterin) Das System der Hausangestellten in Brasilien hat seinen Ursprung eindeutig in der Zeit der afrikanischen !Sklaverei und behält viele Residuen aus dieser Zeit immer noch bei. Die heutigen Hausarbeiterinnen, die erst im Jahre 1988 durch die brasiliansiche Verfassung den Status »Arbeiterinnen« errungen haben, können in zwei wesentlich unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden. Als erstes gibtes die sog. »internas«, d. h. diejenigen Frauen, die im Haus ihrer Arbeitgeber wohnen. Bei dieser Gruppe gibt es keine Trennung zwischen Arbeit und Privatsphäre. Obwohl seit den 90er Jahren per Gesetz definiert wurde, daß ihre Wohnräume (Schlafzimmer und Toilette) über mindestens ein Fenster verfügen müssen, leben viele dieser Frauen noch in Häusern/Wohnungen, in denen das ihnen zur Verfügung stehende Schlafzimmer nur ca. die Hälfte der Veranda des Hauses beträgt. In das winzige Zimmerchen passen nicht mehr als ein Bett und ein kleines Schränkchen. Sie verfügen selbst auch über ganz wenige persönliche materielle Gegenstände. Da sie Tag und Nacht abgerufen werden können, besitzen sie in der Regel keine feste Arbeitszeit. Auch ihre wöchentlichen freien Tagen und Ferien werden oft nicht eingehalten. Diese sind oft reglementiert durch die Arbeitgeber (z. B.: sie dürfen sonntags nur zwischen 12 und 18 h. Ausgang haben). Es ist nicht ungewöhnlich, dass sie mitten in der Nacht von den Arbeitgebern gerufen werden, um spät angekommene Gäste zu bedienen. Ihre täglichen Arbeitsstunden betragen selten weniger als 9 Stunden. Ein weitaus wesentlicher Aspekt ihres Leben besteht darin, daß sie aufgrund der Arbeitszeit und Eingebundenheit in das Leben der Arbeitgeber keine eigenständige Familie gründen (können). Oftmals leben sie ihr Leben lang bei einer

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Arbeitgeberfamilie aus den gehobenen sozio-ökonomischen Schichten, und werden dann von Generation zu Generation – wie ein »wertvolles Objekt«weiter gereicht. Eine Anknüpfung an das Leben der frühereen Haussklavinnen ist direkt herstellbar. Wie die Haussklavinnen in der Kolonialzeit verfügen die »empregadas dom¦sticas internas« kaum über einen privaten Spielraum. Nicht selten werden sie immer noch Opfer von Vergewaltigung durch die Hausherren oder müssen sich den Söhnen der Familien als sexuelles Objekt hingeben. Im Falle einer Schwangerschaft werden sie ausnahmslos entlassen und das Kind wird nicht anerkannt. Viele dieser Afrobrasilianerinnen sind aus unterschiedlichen Gründen alleinerziegende Mütter, die aber -wie in der Sklavereizeit – sich um die Familie und Kinder der Arbeitgeber kümmern müssen und das eigene Kind in der Obhut anderer lassen müssen und somit nicht bei ihrem Kind sein dürfen und dieses nur unregelmässig sehen können. Die Mehrheit der empregadas dom¦sticas aus der o.g. Gruppe, gehört immer noch in weitesten Teilen des Landes zu der Gruppe der !Afrodescendentes. Damit verbunden sind viele !Vorurteile, !Diskriminierung, niedrige Bildung und Lohn. Die Arbeit als empregada dom¦stica wird, trotz der fundamentalen Bedeutung für die entsprechende Familie und für die Emanzipation der gebildeten und reichen Frauen, äußerst niedrig sozial bewertet und viele der Hausarbeiterinnen empfinden tiefen Schamgefühl diese Tätigkeit ausüben zu müssen. Die zweite klare abtrennbare Gruppe der empregadas dom¦sticas sind die sog. »externas«. Diese Frauen leben in prekären Wohnverhältnissen an der Peripherie der Städte, in den Morros oder !Favelas und fahren tagtäglich in die besser situierten Wohngegenden, um im Haushalt der reichen Familien zu arbeiten. Im Gegensatz zu den »internas«, wird diese Gruppe besser bezahlt, obwohl sie maximal zwischen ein und zwei Minimallöhnen erhalten. Ein weiteres Kennzeichen dieser Gruppe besteht darin, daß sie in der Regel sozialversichert sind und über Wochenruhe und Ferien – die sie oft »verkaufen«- verfügen. Die »externas« schaffen es aufgrund einer flexiblere Arbeitsgestaltung und geringeren Bindung an die Arbeitgeberfamilie in ihrer Biographie oftmals eine eigene Familie zu gründen. Ihre familiäre Belastung besteht aber darin, daß sie im Regelfall ebenfalls alleinerziehende Müttern von mehreren Kindern sind, denen sie dann als alleiniges Familienoberhaut dienen müssen. Gemeinsamkeiten bestehen in beiden Gruppen der empregadas dom¦sticas dahingehend, daß die Afrobrasilianerinnen beider Gruppen sehr früh (ab dem 7. Lebensjahr), d. h. noch als Kind oder Jugendliche mit der »professionellen« Ausübung dieser Tätigkeit anfangen und dies aus der Perspektivlosigkeit hinsichtlich der Bildung und finanziellen Situation der Familie heraus. Zum größtem Teil stammen sie aus Familien, deren Mütter und weitere weibliche Verwandeten ebenfalls bereits empregadas dom¦sticas sind/waren. Die Arbeit

Empregada doméstica (Hausarbeiterin)

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Graphik 2: Impact-System der afrobrasilianischen Empregadas Dom¦sticas Quelle: Santos-Stubbe, 1995: 293

als empregada dom¦stica wird als Anknüpfung an die weibliche häusliche Sozialisation angesehen und dient als die verbreiteste Möglichkeit erwerbstätig zu sein bei marginalisierten und diskriminierten Frauen. Die Tätigkeiten, die beide empregadas Gruppen im Haus der Arbeitgeber ausüben müssen, unterscheiden sich kaum: sie waschen die Wäsche, kochen, servieren, putzen, bügeln, kümmern sich um die Kinder, kaufen ein, dienen oftmals als Mutterersatz, etc. Kulturhistorisch ist dieses System in der Sklavereizeit entstanden. Ab dem Zeitpunkt in dem die port. Kolonialherren ein starkes Interesse entwickelten mehr Frauen in die brasilianische Kolonie einzuführen, entstand gleichzeitig die Absicht afrikanerinnen als Sklaverinnen nach Brasilien zu deportieren, um »Familien« unter den Sklaven zu bilden (damit mehr Sklavenkindern geboren werden konnten und somit die Erhöhung des eigenen »menschlichen und ökonomischen Kapitals« erreicht wurde, was miteinander verwoben war). Aber auch um die »sexuelle Frage« bei den Eroberern zu lösen, die dann die Sklavinnen als Sexualobjekt zur Verfügung haben konnten. Diese Frauen waren auch dienlich sowohl in der Arbeit auf den Plantagen, im Haushalt und später, in den Städten, im Straßenverkauf. Daraus entwickelten sich im Laufe der Sklavereizeit die unterschiedlichsten beruflichen Tätigkeiten der afrikanischen und afrobrasilianischen Frauen und diese prägen immer noch den Status und das Ansehen dieser Frauen in der brasilianischen Gesellschaft. Aus den »escravas de ganho« (= freischaffende Sklavinnen) wurden die !Baianas, die camelús, etc.

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der Gegenwart. Aus den Plantagen-Sklavinnen sind z. T. empregadas dom¦sticas externas geworden oder auch Landarbeiterinnen und letztlich aus den Haussklavinnen entwickelte sich »organisch« das empregada dom¦stica System mit den mehrheitlich internas aber auch mit den externas. Die Haussklavinnen haben ganz eng und nah mit ihren Besitzern gewohnt und gelebt. Sie haben für sie gekocht, genäht, sich um die Kinder gekümmert und den Hausherrinnen in allen Belangen des Alltags gedient. Es kann anhand der wissenschaftlichen Literatur eindeutig aufgezeigt werden, wie die »weißen«, europäischen Familien durch !Mythen, Märchen, !Musik, Glaubensvorstellungen und !Religion, Essenskultur, Kommunikation, Körperlichkeit (wie der !Cafun¦ bspw.) und unterschiedlichen afrikanischen !Sprachen, geprägt wurden und daraus die Entstehung der brasilianischen Kultur von innen des Hauses und im Zentrum des Familienlebens der Eroberer beeinflusst wurde.

Abb. 11: Hausklavinnen Quelle: Debret, Uma senhora de algumas posses em sua casa, 1823

Die Gruppe der empregadas dom¦sticas weist in gesundheitlicher Hinsicht gegenwärtig eine hohe Quote an Depressionen, !»nervosismo« und !Suizidversuche auf. Das Selbstwertgefühl und das Selbstbild der afrobrasilianischen empregadas dom¦sticas sind allgemein sehr niedrig. Sie werden von der Gesellschaft in Zusammenhang mit ihrem Beruf niedrig eingestuft und verinnerlichen dieses Bild, obwohl sie die Bedeutung des Berufs einsehen, aber die Rahmenbedingungen dessen wie bspw. niedrige oder keine Bildung zu besitzen, schlecht bezahlt und ausgebeutet zu werden, aus einer ethnischen Minderheit zu stammen (»trabalho de empregada ¦ trabalho de preto!«), isoliert und marginalisiert zu leben, kulturell und religiös stereotypiert zu werden (der massive Zulauf der empregadas dom¦sticas zu den evangelikalen Sekten ist nicht zu übersehen!) als negativ verinnerlichen. Gegenwärtig arbeiten viele enpregadas dom¦sticas, insb. die internas und die

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Migrantinnen, untertariflich, aufgrund der großen Anzahl der zur Verfügung stehenden Frauen, die eine solche Arbeit ausüben können. Sie verfügen oftmals immer noch nicht flächendeckend über (Sozial- und Gesundheits-)Versicherungen und leben extrem sozial isoliert. Aspekte, die vor allem im Alter große Probleme mit sich bringen. Aufgrund dieser Problematik existieren gegenwärtig in allen größeren brasilianischen Städten bereits Gewerkschaften dieser Berufsgruppe. In kleineren Städten heißen diese Einrichtungen »associaÅþes das empregadas dom¦sticas«. Trotz der hohen Anzahl dieser afrobrasilianischen Hausarbeiterinnen, ihrer Probleme und ihrer gesellschaftlichen Rolle, werden sie immer noch sehr wenig wissenschaftlich erforscht. Sie sind zwar im Alltag ihrer Arbeitgeberfamilien, in der Wissenschaft als auch gesellschaftlich-politisch existent, aber gleichzeitig unsichtbar. »Minha empregada ¦ ûtima, ela ¦ bem quietinha, nem se percebe que ela esta em casa!« (= Meine empregada ist ausgezeichnet, sie ist ganz ruhig, man merkt gar nicht, dass sie im Hause ist). !Bildung !Frau !Ökonomie und Arbeitswelt ! Sklavenkindheit !Sklaverei H. I. B. Saffioti (1978): Emprego dom¦stico e capitalismo. Petrûpolis; E. Alterman Blay (1978): Trabalho domesticado: A mulher na indfflstria paulista. S¼o Paulo; A. M. Barrow (1983): N¼o tem tempo: domestic organization and migratory patterns of afro-brazilians in S¼o Paulo and New York. Berkeley ; S. Lauderdale Graham (1988): House and street. The domestic world of servants and masters in nineteenth-century Rio de Janeiro. New York; dies. (1992): Proteżo e obedÞncia. Criadas e seus patrþes no Rio de Janeiro 1860 – 1910. S¼o Paulo; Ch. dos Santos-Stubbe (1990): Zur Geschichte der »empregadas«. Zeitschrift für Lateinamerika-Wien, 38/39, S. 83 – 92; dies. (1995): Arbeit, Gesundheit und Lebenssituation afrobrasilianischer empregadas domesticas (Hausarbeiterinnen). Frankfurt/M. (umfangreiche Bibliografie); dies. (1995): Krankheit und Heilung bei afrobrasilianischen Hausarbeiterinnen. Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie & Transkulturellen Psychologie (Bonn), 1, S. 11 – 34; dies. (1995): Suic†dio como fator de alto risco entre as empregadas dom¦sticas no Rio de Janeiro. Jornal Brasileiro de Psiquiatria, 44 (10), p. 519 – 527; dies. (1996). Aspectos psicolûgicos e sociolûgicos da tentativa de suic†dio entre as empregadas dom¦sticas afro-brasileiras. Journal of Psychology in Africa: South of the Sahara, the Caribbean and Afro-Latin America (Frankfurt/M.:IKO), 2, p. 29 – 50

Ethnoästhetik Einführung: Die Erforschung der künstlerischen Gestaltungen fremder Kulturen läßt sich methodisch unter emischen (kulturimmanenten) wie auch etischen (kulturübergreifenden) Gesichtspunkten durchführen. Der »westliche« Blick auf die

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Ethnoästhetik fremder Kulturen und Menschen ist durch eine Fülle von Denkund Wahrnehmungsbarrieren, !Vorurteilen und anderen geistigen Hemmnissen verstellt. Zum ersten hat die Begrifflichkeit des ethnologischen Evolutionismus und der naturalistischen Ästhetik des 19. Jh.s die Kunst nichtwestlicher »primitiver« Kulturen als entwicklungsgeschichtlich Frühes, vor allem aber als künstlerisch Unvollkommenes dargestellt. Man sprach von »Primitiver Kunst« (arte primitiva), »Kunst der Primitiven«, »Kunst der Naturvölker«, »Kunstlosigkeit«, »Traditioneller Kunst«, »Stammeskunst«(tribal art), etc. Das Kunstschaffen dieser Kulturen wurde im Sinne des evolutionistischen Denkens mit dem der Kinder, Geisteskranken und sogar der Tiere verglichen bzw. gleichgesetzt. Die Auffassung, »primitive Kunst« sei eine Art unkontrolliert aus dem Unbewußten des Künstlers strömender kreativer Ausdruck, ist für den psychologischen Vergleich von »primitiver Kunst« und Kinderzeichnungen verantwortlich (vgl. Price, 1992:56). Die Begriffe »primitive Kunst« oder »Kunst der Primitiven« werden in der wissenschaftlichen ethnologischen Literatur heute abgelehnt, ebenso wie die Begriffe »Naturvölker«, »Wilde«, »Primitive« (vgl. Stubbe, 2012:483 f). Um den Begriff »primitive Kunst« zu vermeiden hat sich immer mehr der Begriff »Ethnokunst« eingebürgert. Mit Alland (1977:39) können wir Ethnokunst definieren als »das Spiel mit den Formen, das eine gelungene Transformation bzw. Darstellung hervorbringt« (zit. nach Harris, 1989:317). Die Vielfalt des künstlerischen Ausdrucks und der Mangel an Einheitlichkeit in den Gestaltungen z. B. der Afrobrasilianer oder »Indianer« machen es von vornherein unmöglich, sie als primitive Kunst zu klassifizieren. Dockstader (1965) schreibt hierzu im Hinblick auf die Indianerkunst Nordamerikas – und dies ist auch auf die südamerikanischen Indianer und Afrobrasilianer übertragbar : »Wenn der Begriff ›primitiv‹ die Vorstellung von ›primär‹ in sich schließt, dann trifft er für die Indianerkunst nicht zu, denn sie ist ja aus Brauch, Praxis und Unterricht erwachsen. Wenn man das Wort ›primitiv‹ als Wertbestimmung nehmen und darunter ›nicht besonders kunstfertige‹ Dinge verstehen wollte, dann wäre dies ebenfalls nicht zutreffend; denn es handelt sich bei den Arbeiten der Indianer vielfach um ausgesprochen kultivierte Kunstäußerungen, sowohl inhaltlich als auch technisch. Auch im Sinn von ›unausgebildet‹ stimmt die Bezeichnung nicht; viele der Arbeiten setzen eine ganz spezielle Ausbildung voraus. Eine Reihe von Stämmen verfügte sogar über ein hochentwickeltes Lehrprogramm für ihre Künstler. Allenfalls könnte man den Begriff ›primitiv‹ in dem Sinn anwenden, daß man sagt, es handle sich bei den Indianerstämmen um illiterate Gesellschaftsgruppen. Aber auch diese Interpretation ist nicht richtig; denn viele Afro- und Indianerkünstler haben sich in Veröffentlichungen als sehr schreibgewandt erwiesen.« (Dockstader, 1965:34 f) (vgl. auch Price, 1992) Zweitens sollte man nicht leichtfertig von »Kunstlosigkeit« oder »Ästhetik der

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Kunstlosen« sprechen, sondern bedenken, daß z. B. die Kunst der Körpergestaltung, des Federschmuckes, des Tanzes, der Musik, der oralen Literatur, der Rhetorik, des (Musik-) Theaters etc. bei ihnen mit Meisterschaft herausgebildet wurde, worauf bereits Marcel Mauss in seinem »Manuel d’Ethnographie« (1967) hingewiesen hat. Andere Ethnologen wie D’Azevedo (1973) fordern deshalb von den Kunst-Ethnologen doch endlich explorativer zu arbeiten und künstlerische wie ästhetische Aktivitäten in ihren vielfältigen Ausdrucksformen zu erforschen, was jedoch bisher nur wenig beherzt wurde. Drittens sollten wir als eine weitere Einschränkung bei der ästhetischen Bewertung dieser Kunstwerke bedenken, daß viele Künstler den Beitrag verstandesmäßigen und in Worte zu fassenden Denkens zur Beurteilung von Kunst überhaupt radikal in Frage gestellt haben: »Wer sich der Malerei hingeben will, sollte sich zunächst einmal die Zunge herausschneiden« (Matisse), »in der Kunst kommt es nur auf eines an, auf das, was nicht erklärt werden kann« (Braques) und »die einzige Sprache der Malerei ist die Malerei« (Malraux). (vgl. Price, 1992:29) Viertens ist es in diesem Zusammenhang bedeutsam darauf hinzuweisen, daß in den Sprachen vieler Ethnien Begriffe wie »Kunst«, »Künstler«, »Ästhetik«, »Schönheit« etc. in der Weise wie in westlichen Sprachen nicht vorhanden sind und demnach (europäische) kulturfremde kunsthistorische Theorien mit einem anderen kunsthistorischen Hintergrund oftmals in diese Werke hineinprojeziert werden. Fünftens bestehen die Wahrnehmungsbarrieren eines westlichen Betrachters gegenüber künstlerischen Gestaltungen fremder Kulturen vor allem darin, daß seine eigene Wahrnehmung kulturgebunden ist und dazu neigt Eigenes in Fremdes zu projizieren. Der deutsch-amerikanische Anthropologe Franz Boas (1858 – 1942) hätte vielleicht gesagt: ›das sehende Auge ist ein Organ der Tradition‹. Man kann sich also fragen, ob ein solcher westlicher Beobachter überhaupt in der Lage ist, sich vorurteilsfrei fremdem Kunstschaffen zu stellen. Sechstens muß die gefühlsmäßige Einstellung eines westlichen Beobachters fremder Kunst gegenüber beachtet werden. Fremdes Kunstschaffen kann bei ihm z. B. Aversion oder gar Ekel auslösen, obwohl dieser Kunstgegenstand z. B. Bestandteil eines ganz »normalen« und gefühlsneutralen (religiösen) Rituals ist. Siebtens sollte gefragt werden, auf welchem Wege die Ethnographika vieler Ethnien, die wir heute als bedeutende Kunstwerke der Menschheit bewerten, in die Museen und Galerien gekommen sind. Oftmals wurden sie gegen den Willen dieser Menschen gesammelt oder sogar mit Gewalt geraubt bzw. für Tand »gekauft«. Es handelt sich also oftmals um so etwas wie »Beutekunst«. (Beispiele aus Afrika vgl. Price, 1992:105ff) Man rechtfertigt diese Sammeltätigkeit noch heute damit, daß die Dokumentation und Erhaltung dieser Kunstwerke einen wichtigen Beitrag zum Wissen der Menschheit leistet – auch wenn man dafür einige

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ethische Bedenken opfern muß. Die Kunst der Indianer z. B. ist also oftmals eine »Kunst der Wehrlosen und Entrechteten«. Auch afrobras. Kunstwerke wurden bekanntlich von der Polizei requiriert. Man hat z. B. in der brasilianischen Kulturgeschichte die Indianer oder Afrobrasilianer entweder als »heidnische Barbaren und Menschenfresser« oder als »Edle Wilde« betrachtet. Diese Einstellungen hatten auch Einfluß auf die Bewertung ihrer künstlerischen Gestaltungen. Entweder sah man in ihren Werken die »Nachtseite des Menschen« d. h. eine Betonung von Nacktheit und Sexualität, Unbewußtheit und Triebhaftigkeit, stellte sie also als kulturell abweichend par exellence dar oder man idealisierte ihre künstlerischen Gestaltungen was sich in der Rezeption des !›Primitivismus‹ in der Kunst des 20. Jahrhunderts (vgl. z. B. Rubin et al., 1995; Wentinck, 1974/75; Internationale Tage Ingelheim, 1997; Stubbe, 1997/98) zeigt. In den beiden Katalogbänden »›Primitivsm‹ in XXth century art« von Rubin et al. (1994, 5. Aufl.) wird auf die Indianer Südamerikas leider nicht eingegangen. Ein Forschungs-desideratum! Der Drang der Menschheit nach künstlerischem Ausdruck ist wie die Fähigkeit zu ästhetischer Schätzung allen Kulturen und Ethnien gemeinsam und zählt zu den »transkulturellen Konstanten« d. h. allgemein menschlichen Erscheinungen, die sich allerdings nur sehr allgemein und unvollkommen definieren lassen, für ihre kulturspezifischen und lokalen Ausgestaltungen in Form von »kulturellen Variablen« jedoch von beträchtlicher Bedeutung sind (vgl. Neues Wörterbuch der Völkerkunde,1988:132). Ist Kunst somit als etische Denk- und Verhaltenskategorie universell so ist die emische Unterscheidung zwischen Kunst« und »Nicht-Kunst« relativ. Wenn Europäer oder US-Amerikaner von Kunst sprechen, meinen sie damit eine spezifische emische Kategorie der modernen euroamerikanischen Zivilisation. In den westlichen Gesellschaften gibt es spezielle Autoritäten/Institutionen (z. B. Kunstestablishment, Kunstkritiker, Kunstpolitik), die Kunst machen oder beurteilen (vgl. etwa die »entartete Kunst« im Dritten Reich oder der »sozialistischer Realismus« in der UDSSR). Viele Ethnien kennen aber ein derartiges Kunstestablishment nicht d. h. aber nicht, daß sie keine Kunst oder keine künstlerischen Maßstäbe hätten. Eine Malerei auf einem Tongefäß oder einem Felsen, eine geschnitzte Maske, ein Lied oder Gesang in einem Pubertätsritual- sie alle sind einer kritischen Beurteilung von Seiten der Ausführenden wie der Zuschauer unterworfen. Alle diese Kulturen unterscheiden auch im Hinblick auf dekorative, bildliche und expressiv e Ausdrucksformen zwischen befriedigenderen und weniger befriedigenden ästhetischen Erfahrungen. Die meisten Ethnologen sehen deshalb heute in dem geschickten Schnitzer, Korbflechter, Töpfer, Weber oder Sandalenhersteller einen wirklichen Künstler. Für die »Airport-Art« (Souvenir-, Touristen-Kunst) stellt Beuchelt drei Cha-

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rakteristika heraus: Die Serienproduktion, die Standardisierung und die Konzentration. Dabei wird die Arten-vielfalt traditioneller Kunstproduktion wie Masken, Kalebassen, Tücher etc. auf einige wenige marktgängige Muster reduziert. Nicht nur die Produktion dieser Kunstartikel ist auf Großwerkstätten oder Genossenschaften, sondern auch der Vertrieb ist auf Flughäfen oder Touristenmärkte konzentriert. Eine Serienproduktion findet statt, um den Preis für alle erschwinglich zu halten und trotzdem allen Touristen das Gefühl zu geben, das Richtige zu kaufen, weil alle anderen es auch erwerben (vgl. Stubbe, 2012:29). Die Kunst in westlichen Industriegesellschaften läßt sich gegenüber der Kunst in traditionellen Gesellschaften folgendermaßen charaktersisieren: A. Kunst in westlichen Industriegesellschaften: wird von Experten interpretiert und erklärt, damit sie verstanden und geschätzt wird 2. seit dem Ende des 19. Jh.s sind für das westliche Kunstestablishment diejenigen Künstler die größten, die mit der Tradition brechen, neue formale Regeln einführen und damit ihr Werk zumindest eine gewisse Zeit für viele unverständlich machen (vgl. van Gogh, Cezanne, Munch) 3. mit dieser Abwertung der Tradition ist die Vorstellung vom einsamen Künstler verbunden (vgl. Genie-Mythos) 4. Originalität ist wichtiger als Verständlichkeit 5. Kunst (vor allem in ihrem Zwang originell zu sein) ist eine Reaktion auf die Massenproduktion der industriellen Gesellschaft 6. ein Großteil der modernen Kunst ist Ausdruck der Einsamkeit, Ratlosigkeit und Angst des kreativen Menschen in einer entpersönlichten und feindseligen (groß-) städtischen und industriellen Welt (vgl. etwa Brücke-Bilder aus Berlin) 7. der Künstler ist von einem kommerziellen (Geld-)Markt abhängig (Angebot und Nachfrage); sein Kunstwerk ist eine Ware; vgl. »Autor $ Kritiker $ Publikum«-Triade 8. Kunst unterliegt einem rapiden technischen, sozialen und kulturellen Wandel 9. Kunst ist eine Institution mit einer Geschichte; besitzt eine grundlegende Struktur durch die menschliche Tätigkeit organisiert und aufgebaut wird, um menschlichen Elementarbedürfnissen zu dienen 10. Kunst dient oftmals als »Ersatz« für Religion 11. Kunst führt ein halbautonomes Dasein in der Gesellschaft 12. Kunst dient als »Erholung«, um ein Gegengewicht zu bilden, gegen die Auswirkungen der Arbeit oder als »Sicherheits-Ventil-Institution«, um offene Konflikte zu verhindern 1.

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B. Kunst in traditonellen Kulturen: 1.

Wiederholung verschiedenartiger traditioneller und vertrauter Elemente (Motive, Ornamente, Farben etc.) 2. Originalität ist nur insofern interessant, als sie das ästhetische Vergnügen an der künstlerischen Arbeit vergrößert 3. der Lebensunterhalt hängt nicht davon ab, daß der Künstler (=Handwerker) eine künstlerische Identität und eine persönliche Anhängerschaft erwirbt 4. Kontinuität und Integrität der Kunststile sind eine wichtige Voraussetzung dafür, daß eine Ethnie Kunst versteht und Gefallen an ihr findet 5. ein Mangel an »Ähnlichkeit« läßt sich oftmals feststellen 6. die Idee des »Schöpferischen«/ »Genialischen« ist dieser Kunst fremd 7. Kunstwerke sind in individuelle, kollektive und öffentliche religiöse Kulte eingebunden und in ihrer Ikonographie von den !Mythen dieser Kulte geprägt 8. diese Kunst ist gewollt vergänglich 9. oftmals wird die gültige, allgemeine Kunst (der !Ahnen) verborgen gehalten, damit sie die Lebensprinzipien der Gegenwart nicht allzusehr belastet; eine strikte Beschränkung der Sichtbarkeit z. B. der !Masken im Maskenritual läßt sich häufig beobachten. 10. es existiert kein Kunstmarkt (vgl. Ausnahme: »Airport-Art«) (vgl. Albrecht, 1978; Stubbe, 1992, 1999/2000, 2012)

Zur Ethnoästhetik der Afrobrasilianer: Bereits in den !Reiseberichten aus dem 19. Jh. liegen viele ästhetische Beobachtungen über Afrobrasilianer vor. So scheibt z. B. der 26-jährige Freyreiss im Jahre 1815: »Die Neger zeichnen sich gewöhnlich durch schönes Ebenmaass der Gliedmaassen aus und dieses ist mitunter auch bei den Weibern der Fall. Herr Langsdorff gehet jedoch meiner Meinung nach zu weit, wenn er glaubte unter den Negerinnen eine medicaeische Venus finden zu können und würde wahrscheinlich ohne den Kopf der Venus und die blühende Farbe, einer Europaeerin beim Suchen viele Zeit verlieren (Freyreiss nimmt hier Bezug auf G. H. von Langsdorffs »Bemerkungen auf einer Reise um die Welt in den Jahren 1803 bis 1807 …« aus dem Jahre 1812, Anm. der Verf.) Die Negerinnen haben gewöhnlich hängende Brüste und nur Mädchen von zartem Alter, siehet man, so lange sie noch kein Kind hatten, mit Brüsten, die selbst nach unsern Begriffen von Schönheit, gefallen.« (Freyreiss, 1968:92 f) Mit der »Black Power-Bewegung« und dem Slogan »Black is beautiful« in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts haben sich die Schönheitsvorstellungen in

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der westlichen Welt grundlegend geändert. Nei Lopes spricht von der »beleza negra« (vgl. Birman, 1990) und argumentiert folgendermassen: die Erfolge in den Schönheitswettbewerben seien eine Bestätigung für Afrobrasilianerinnen gewesen, denn sie konnten durch ihre Existenz nachweisen, dass es auch andere als europäische Schönheitsideale und –standards (die der griech. Klassik entstammen) gibt. Zwar hätten die Feministinnen solche Wettbewerbe scharf verurteilt, diese seien jedoch bereits von dem !Teatro Experimental do Negro bzw. später von dem »Carioca RenascenÅa Clube« initiiert worden. In den 70er Jahren organisierten Gruppen des »Movimento Negro« Festivals wie »A Noite da Beleza Negra« und wählten Repräsentantinnen aus wie »A Deusa de Êbano« (vgl. Lopes, 2006:29, 114, 128). Seit den 60er Jahren gibt es afrikan. Modelle und Mannequins auf den Laufstegen. Am bekanntesten wurden die Engländerin Naomi Campbell (*1970) und die Sudanesin Alek Wek (*1977). Die zentrale Rolle, die Afrobrasilianerinnen in den Samba-Schulen, im !Karneval und in den »Boates« (Nachtclubs) spielen, muss hier nicht eigens hervorgehoben werden. !Biografien !Haare !Kunst !»mulata« !»negro« !Schönheitsoperationen !Primitivismus !samba !Tanz !Tatauierung A. Berliner (1924): Geometrisch ästhetische Untersuchungen mit Japanern und an japanischem Material. Arch. für die gesamte Psychologie; R. Karsten (1925): Body painting and tatooing in South America. IPEK, 1925:151 – 164; Eckart von Sydow (1927): Primitive Kunst und Psychoanalyse. Wien: Imago; G. Murdock (1971): Cross sex patterns of skin behaviour. Ethnology, vol. 10, n8 3, 1971:359 – 368; A. Alliz Body (1975): The concept of black esthetics as seen in selected works of three Latin American writers: Machado de Assis, Nicolas Guillen and Adalberto Ortiz. Stanfort University ; L. S. Wygotski (1976): Psychologie der Kunst. Dresden; M. H. F. Costa (1978): A arte e o artista na sociedade Karaj‚. Bras†lia: FUNAI; Mus¦e d’Ethnographie (GenÀve) (1985): L’art de la plume br¦sil. GenÀve; S. Vogel (1986): African aesthetics. New York; Berta G. Ribeiro (1989): Arte ind†gena, linguagem visual. Indigenous art, visual language. S¼o Paulo; P. Birman (1990): Beleza negra. Estudos Afro-Asi‚ticos (RJ), (18), p. 5 – 12; I. Kreide-Damani (1992): KunstEthnologie. Zum Verständnis fremder Kunst. Köln; K. Gröning (1997): Geschmückte Haut. Eine Kulturgeschichte der Körperkunst. München; H. Stubbe (1999/2000): Probleme der Ethnoästhetik brasilianischer Indianer. Institut Martius-Staden. Jahrbuch, Nr. 47/48, 1999/2000: 121 – 130; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S. 145 – 152; B. Varela de Barros (2003): Vielfalt der Ausdrucksformen. Kunst und Künstler in Mosambik. Weltmission Heute, Nr. 49, 2003:224 – 231; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

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Ethno(psycho-)therapie Einführung: Der Begriff »Ethnopsychotherapie« ist nicht eindeutig festgelegt (vgl. etwa Dittrich & Scharfetter, 1987; Quekelberghe, 1991). Man kann hierunter sensu latu kulturgebundene Psychotherapieformen verstehen, worunter dann auch die sog. westlichen Psychotherapie-verfahren fallen würden. Beatrice Vogt-Fry´ba (1991) spricht in ihrer ethnopsychologischen Schrift über das Tovil-Heilritual in Sri Lanka von einer »kultureigenen Psychotherapie«. In den meisten Ländern der sog. Dritten Welt können wir einen Versorgungs-Dualismus beobachten, der sich aus einem offiziellen psychiatrisch-psychotherapeutisch-psychosozialen Netzwerk und einem »alternativen« bzw. »komplementären« System zusammensetzt, das als »medicina popular«, »psiquiatria folclorica«, »Ethno-Psychiatrie bzw. –Psychotherapie«, »traditionelles Heilsystem«, !»Phytotherapie«, »Trancetherapie« etc. bezeichnet werden kann. Diese traditionellen Heilsysteme, ihre Institutionen und Spezialisten (»curandeiro«, »rezadeira«, »erveira«, »pai de santo«, »benzedor« etc.) sind bisher noch wenig systematisch erforscht worden. Wichtig sind die in diesen traditionellen Krankheitssystemen vorhandenen Krankheitskonzepte (z. B. »mal olhado«, »encosto«, »Eindringen eines Geistes«, »Tabubruch«, »susto«, !»macumba«, »Seelenverlust« etc. !Krankheitsvorstellungen, ätiologische), weshalb Stubbe (2012) vorgeschlagen hat, mit Hilfe der Ätiologiekonzepte eine heuristische Systematik der traditionellen Heilsysteme zu erarbeiten. Auch in der Arbeit mit Migranten ist die E. von Bedeutung. Banning (1995) weist darauf hin, daß Störungen und Krankheiten kulturell bedingt sind und daß eine Behandlung nur aus der Kultur des Pat. heraus sinnvoll sei. Als westlicher Helfer sollte man in schwierigen Fällen möglichst die Hilfe eines Fachmanns aus der Kultur des Pat. in Anspruch nehmen. Banning weist auch darauf hin, welche Bedeutung Amulette, Kräuterhändler, Heiligenverehrung etc. in der Ursprungskultur der Migranten haben können (vgl. auch für Brasilien: Santos-Stubbe, 1995)

Ethnopsychotherapie in LA: Die Krankenbehandlung mit »Extraktionszauber«, die von Medizinmännern aus dem westpazifischen und südamerikanischen Raum betrieben wird, hat Schiefenhövel (1986) ethnomedizinisch betrachtet. Der Extraktionszauber wird in das Konzept eines stofflichen oder immateriellen Agens eingeordnet und auf einem Schnittpunkt zwischen empirisch-naturwissenschaft-licher und magisch-religiöser Medizin gesehen. Die häufig in LA anzutreffende Kombination aus traditonalen Heilern, Volksmedizin und »catolicismo popular« hat Pollak-Eltz (1982, 1987, 1989,

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1998) exemplarisch an dem venezolanischen Wunderheiler Dr. Jos¦ Gegorio Hern‚ndez dargestellt. Sie gibt auch eine gute Übersicht über die »medicina popular« in Venezuela und die Religionen in Afro-Amerika. Horst Figge hat seit seiner psychologischen Dissertation über »Sarava Umbanda« (1972), in der er 29 Kultstätten während einer teilnehmenden Beobachtung von 14 Monaten in Brasilien untersuchte, verschiedentlich über »Wirkungsweisen magischer Praktiken«, »Besessenheit als Therapie«, »Trance-Mediumismus als Gruppentherapie« und »Typen brasilianischer Besessenheitskulte« berichtet (vgl. Figge, 1972, 1980). Figges Arbeiten, die sich auch in die Sozial- bzw. Religions-Psychologie einordnen lassen, sind auch deshalb so wertvoll, weil sie auf langjährigen persönlichen Erfahrungen in Brasilien basieren. Über »Geistheiler« in Rio de Janeiro, Bras†lia und S¼o Paulo berichtet Geuter (1987) aufgrund einer Stippvisite. Anette Leibing verfasste 1995 eine originelle medizinethnologische Dissertation über Kultur und Psychiatrie in Brasilien. Eine systematische Feldforschungsstudie über die Geist-Heilungen im »Hospital Esp†rita Andr¦ Luiz« in Belo Horizonte hat Andr¦ Urben im Jahre 1999 in Zürich vorgelegt. Er bringt auch einige eindrucksvolle Fallstudien und gibt eine wertvolle Übersicht über den Stand der gegenwärtigen Forschung zu diesem Thema. In Brasilien existieren bereits eine große Anzahl von kardezistischen Kliniken, Ambulatorien, Kinderheimen etc. Verschiedene Versuche wurden unternommen das traditionelle und offizielle Gesundheitsversorgungssystem zu integrieren. Katrin Greifeld (1986) konnte jedoch zeigen, daß ein von der WHO propagiertes Programm zur Integration der traditionellen Heiler bei den Mayo bzw. Yoremen in Nordwest-Mexiko in das nationale mexikanische Gesundheitswesen zu Lasten der Heiler geht, die häufig mit einem Verlust ihrer Ethnizität bezahlen. »Wahrsager« in LA betreiben auch psychologische Lebensberatung. Hinz (1984) zeigt in seiner Feldstudie über einen Wahrsager der Kanjobal-Maya in Guatemala, daß dieser den altindianischen 260 tägigen Kalender aus vorspanischer Zeit benutzt, wenn er den Ratsuchenden berät. Bei den Beratungen handelt es sich nach Hinz um eine psycho- bzw. sozio-therapeutische Sitzung, in der Existenzprobleme, Nöte und Alltagskonflikte der Klienten zu lösen versucht werden. Den Heilern und Seher/innen (Machi) der Mapuche im Süden Südamerikas hat Schindler (1990: 65ff) in seinem reich bebilderten Ausstellungskatalog ein eigenes Kapitel gewidmet. Hartnäckige Krankheiten, die nach Überzeugung der Machi auf Hexerei oder übelgesinnte Dämonen im Körper des Patienten zurückzuführen sind, können nur durch ein langwieriges und teures Heilritual (Machitun) beseitigt werden. In dem von Dittrich & Scharfetter (1987) herausgegebenen Sammelband »Ethnopsychotherapie« finden sich verschiedene Aufsätze zu »Außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen in indigenen Heilritualen« LA’s und zwar: »Die heiligen Pilze in der Heilbehandlung der Maria Sabina« (Mittelamerika) von A. Hofmann, »die peruanischen ayahuasca-Sitzungen-Schamanen und Heilbehandlungen« von G. Baer, »Hypnose als Heilverfahren in außereuropäischen Gesellschaften: das Beispiel

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Brasilien« von M. Richeport, »Heilungszeremonien in den Kulten von Umbanda (Brasilien) und Voodoo (Haiti)« von E. Pressel, und »Schamanismus und andere rituelle Heilungen bei indianischen Völkern Südamerikas« von M. Califano et al. Über die »Ethnopsychiatrie in Brasilien« hat Stubbe (1979) ein Übersichtsreferat vorgelegt. Aus historischer Sicht hat Andritzky (1987) »Die Volksheiler in Peru während der spanisch-kolonialen Inquisition« und den »Schamanismus und rituelles Heilen im alten Peru« untersucht. Der Autor betrachtet das Medizinwesen als getreuen Spiegel des kulturellen und historischen Entwicklungsstandes der peruanischen Gesellschaft (vgl. auch Andritzky,1990). Afrobrasilianische Ethnopsychotherapie: Die afrobrasilianischen Kulturen haben eine Vielzahl kulturspezifischer Formen der Psychotherapie entwickelt, deren besondere Wirksamkeit darin besteht, daß sie mit der (Glaubens-)Gemeinschaft und den Traditionen der afrobrasilianischen Kultur verwoben sind. Bestandteile dieser therapeutischen Praktiken sind die vielfältigen Formen des Orakels (z. B. !»bfflzios«), der gemeinschaftliche !Tanz und die Gesänge, die !Trance und die !Beses-senheit, das Opfer, die !Phytotherapie, die !Gebete und Riten. Die Ursachen für seelische und körperliche Krankheiten werden oft in externen Mächten und Einflüssen gesucht. In den Ausführungen über den !Candombl¦› wurde die Wirkungsweise dieser Therapie bereits dargestellt. Die afrobrasilianische Psychotherapie ist bisher selten untersucht worden. Das Interesse an diesen Fragen wächst jedoch, wie der XII. Internationale Kongreß für Psychotherapie in Rio de Janeiro bereits gezeigt hat (vgl. Kongreßakten; Almeida, 1982). Der bekannte afrikanische Psychiater Lambo (1974) hat aufgezeigt, daß eine Verbindung zwischen abendländischer Wissenschaft und afrikanischem Denken durchaus möglich ist, wenn Psychiater, bzw. Klinische Psychologen mit den traditionellen Heilkundigen zusammenarbeiten (vgl. auch Edgerton, 1971; Peltzer, 1989, 1995). Der nigerianische klinische Psychologe und Psychotherapeut Peter Ebigbo (1982) hat die Konflikte zwischen schwarzer Kultur und »weißer Psychologie« eindrücklich am Beispiel Nigerias dargestellt. Diese in Afrika gemachten Erfahrungen haben für Brasilien entscheidende Bedeutung. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die Ergebnisse der Ethnopsychoanalyse und transkulturellen Psychiatrie in Afrika (vgl. Parin, 1963; Pfeiffer, 1971 1980, 1994; Peltzer, 1989, 1995; Stubbe, 2008, 2012). Eine afrobrasilianische Psychologie kann sich auf die vielfältigen Kulturleistungen der Afrikaner in Brasilien stützen, wie ihre ! Sprache, !Mythen, !Religionen, !Kunst, !Musik etc. Zum anderen haben bereits einige Afrobrasilianisten hierzu wichtige Vorarbeiten geleistet (vgl. z. B. Alves, 1979). Auch die Arbeiten afrikanischer Psychologen und Psychiater sind in diesem Zusammenhang wertvoll. Was z. B. der Togolese Kwadzo Tay (1984) über

Exklusion (auch: Ausgrenzung)

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die afrikanische !Persönlichkeitsauffassung schreibt, ist auch weitgehend im afro-brasilianischen Bereich gültig. Hiernach wird die afrikanische Persönlichkeit aus 4 Elementen zusammengesetzt gedacht: dem Körper (als Hülle), dem biologischen Prinzip (das die inneren Organe und die automatischen und psychosomatischen Systeme umfaßt), dem Lebensprinzip und dem Geist (als unsterblicher Substanz). Die afrikanische Persönlichkeit wird durch 3 Bezugsachsen bestimmt: die vertikale Achse, die sie mit den transzendeten Mächten, Gott und den !Ahnen verbindet, die horizontale Achse, die die Verbindung zur sozialen Ordnung und der kulturellen Gemeinschaft herstellt und schließlich die eigentlich existentielle Dimension der !Person. Das seelische Gleichgewicht der Persönlichkeit, wie auch die seelische !Gesundheit hängen von diesem psychologischen Universum ab, das eingebettet ist in eine mythische wie auch rationelle Welt. !Bibliografien !Gesundheit !Heilerinnen !Initiation !indigene Psychologie !Krankheitsvorstellungen !Person-Konzepte !Phytotherapie !Spiritismus !Tanz !Trance M. Augras (1986): Cura m‚gica e cl†nica psicanal†tica : semelhanÅas ? ComunicaÅþes do ISER (RJ), 5(20), p. 52 – 55 ; H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Von den indianischen und afrobrasilianischen Kulturen bis in die Gegenwart. Berlin ; A. Dittrich & Chr. Scharfetter (Hrsg.) (1987): Ethnopsychotherapie. Stuttgart ; K. Peltzer & P. Ebigbo (ed.s) (1989): Clinical psychology in Africa (South oft he Sahara, the Caribbean and Afro-Latin-America). Enugu ; R. Wiedersheim et al. (Hrsg.) (1991): Traditionelle Heilsysteme und Religionen. Ihre Bedeutung für die Gesundheitsversorgung in Asien, Afrika und Lateinamerika. Saarbrücken ; P. Dilthey (1993): Krankheit und Heilung im brasilianischen Spiritismus. München ; R. van Quekelberghe (1991): Klinische Ethnopsychologie. Heidelberg ; ders. (1993): Symbolisches Heilen im Kulturvergleich. Curare, 17 (1), 1993 :175 – 178 ; E. de Rosny (1994): Heilkunst in Afrika. Mythos, Handwerk und Wissenschaft. Wuppertal ; K. Peltzer (1995): Psychology and health in African cultures. Frankfurt/M. ; C. E. Gottschalk-Batschkus & C. Rätsch (Hrsg.) (1998): Ethnotherapien. Therapeutische Konzepte im Kulturvergleich. Curare Sonderband 14 ; Fr. T. Gottwald & Chr. Rätsch (2000): Rituale des Heilens. Aarau; WenShing Tseng (2001): Handbook of cultural psychiatry. New York ; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Exklusion (auch: Ausgrenzung) !Apartheid !Ausgrenzung !Diskriminierung !Favela !Gesellschaft !Segregation P. Singer (1995). Um mapa da exclus¼o social no Brasil. Rio de Janeiro.

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Favela (Name eines morros in Rio de Janeiro; auch: slum) Einführung: »Conjunto de casebres ou cortiÅos (Nome de um morro carioca)«, definiert der »Dicion‚rio Escolar da Lingua Portuguesa« (1981:483). Nei Lopes (2006:65) definiert: »Nfflcleo habitacional constru†do de forma desordenada e em geral prec‚ria, em terrenos pfflblicos, de dom†nio n¼o definido ou mesmo alheio, caracterizando-se como ‚rea sem urbanizażo ou melhoramentos.« D.h. eine Wohngruppe, die unkoordiniert und in der Regel prekär, auf öffentlichen Grundstücken, die nicht definiert oder Eigentum anderer sind, aufgebaut werden. Charakteristisch ist die fehlende Urbanisierung und Verbesserung. Nach seinen Angaben entstand die Bezeichnung »favela« im 19. Jh. in Rio de Janeiro, um einen Teil des Morro da ProvidÞncia zu benennen, der eine Ähnlichkeit mit dem »Morro da Favela« im Inneren Bahias hatte, von dem seine ersten Bewohner nach dem Krieg von !Canudos (1897) kamen. Diese Siedlung entwickelte sich zu einem wichtigen und einflussreichen Zentrum der afrobrasilianischen Kultur, wie auch andere Siedlungen auf dem Morro do Salgueiro, Morro dos Tel¦grafos (Mangueira), Morro S¼o Carlos etc. Hierher wanderten vor allem afrobras. Familien aus dem Norden von Fluminense und dem Vale do Para†ba ein. Die Bildung von Favelas ist im Zusammenhang mit gewaltigen Urbanisationsprozessen, Bevölkerungswachstum, einer steigenden internen !Migration vom Land in die Städte und Marginalisations- bzw. !Exklusionsprozessen zu verstehen. Man kann die favela aufgrund ihres hohen Anteils von Afrobrasilianern auch als Ausdruck einer »städtischen !Apartheid« interpretieren. Die mit der Bevölkerungsexplosion und Binnenmigration in Brasilien und Lateinamerika eng verbundene rapide Verstädterung und Bildung von »Favela«(Barrio-)Gürteln um die Großstädte stellt für die Sozialwissenschaften und ! Politik eine beträchtliche Herausforderung dar. Eine weitere wesentliche Erscheinung dieses Verstädterungsprozesses ist die »Metropolisierung«, d. h.

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Konzentration der Stadtbevölkerung auf einige wenige, aber in ihren Dimensionen gewaltige Ballungsräume (z. B. Rio de Janeiro, S¼o Paulo, Recife, Salvador). Dieses Phänomen ist in allen lateinamerikanischen Ländern zu beobachten. Die Gründe für die Urbanisierung liegen außer im rapiden Bevölkerungswachstum vor allem in den die Landflucht auslösenden Faktoren, in den starren sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, den geringen Entwicklungschancen und dem Massenelend auf dem Lande. Sie ist aber auch eine Folge der bisher eingeschlagenen Entwicklungsstrategie des Vorrangs der Industrie gegenüber der Landwirtschaft, dem Ausbau der Städte als Produktions- und Dienstleistungszentren, was in den ländlichen Massen die Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse in den Städten aufkommen läßt. Die Industrie konnte jedoch bisher nicht ausreichend Arbeitsplätze bereitstellen. In den Favelas/Slums der Großstädte der lateinamerikanischen Länder leben durchschnittlich 1/4 bis 2/5 der Bevölkerung unter menschenunwürdigen Bedingungen (vgl. z. B. Singer, 1995). Die politischen Reaktionen auf die Urbanisation schwanken in Brasilien zwischen des Extremen des Ignorierens vor allem der Slum/Favela-Entwicklung und der gewaltsamen, aber oftmals erfolglosen »Slumbeseitigung« (slum clearing). Entwicklungspolitisch wird eine zweigleisige Strategie gefordert: zum einen den weiteren Zuzug in die Millionenstädte zu verringern z. B. durch ländliche Entwicklung und die Gründung kleinerer und mittlerer funktionierender Städte und zum anderen durch die Bekämpfung der Urbanisationsfolgen wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Verkehrs- und Transportprobleme, ökologische Probleme etc., Selbsthilfeorganisationen, Stärkung der Planungs-, Organisationskapazitäten, urbaner Verwaltungen und schließlich auch der (interdisziplinären) Forschung. W. Kramer (1984) hat z. B. in seiner Dissertation die »Sozialpsychologischen Dimensionen von Urbanisationsprozessen in Mexico-Stadt« im Rahmen einer Fallstudie in einer »colonia popular« untersucht. Er hebt die Verelendungsprozese auf dem Lande als Ursachen der Binnenmigration hervor und setzt sich kritisch mit der Modernisierungstheorie auseinander, die die staatliche Siedlungs- und Sozial-Politik leitet. Die wichtige Funktion der (Gemeinde-) Psychologie in Stadtteilprojekten in LA hebt Manfred Wettler (1984) hervor. Der peruanische Psychoanalytiker C¦sar Rodriguez Rabanal (1990, 1995) hat ethnopsychoanalytische Feldforschungen in peruanischen Elendsvierteln durchgeführt, die die Lebenswirklichkeit auch der bras. »favelados« besser verständlich machen können. Thema seiner Studien ist der Zusammenhang zwischen den Lebensbedingungen der Slum-Bewohner, den Eigentüm-lichkeiten ihrer psychischen Struktur und den Formen ihrer sozialen Organisation. Diese wichtige Arbeit, die auch für andere Länder der sog. Dritten Welt von großer Bedeutung ist, steht in einem soziokulturellen und politischen Kontext, der sich

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zusehends zuungunsten großer Teile der Bevölkerung Perus und anderer lateinamerikanischer Staaten verändert hat. Interessant ist hierbei auch die Art und Weise, wie der Forscher, der in den Slum kommt, von den Bewohnern erlebt wird: »Abwechselnd als Erlöser oder Retter idealisiert und als Spione der früheren Eigentümer oder allgemein als Vertreter der feindlichen Welt der Großstadt denunziert, dienten wir als Projektionsschirme für mannigfaltige verdrängte Inhalte, mobilisierten Ängste in den Slumbewohnern, was uns jedoch auch erlaubte, grundlegende Aspekte im Zusammenhang mit der Landbesetzung ans Licht zu bringen.« (Rabanal, 1990:197). Übrigens ein Phänomen, über das auch Nadig in ihrer mexikanischen Feldforschungsstudie berichtet. Rabanal beobachtete nicht nur einen Niveauverlust der kommunalen Organisation, sondern auch, daß zunehmende Teile der Bevölkerung von der Befriedigung der Grundbedürfnisse fast ausgeschlossen sind, was zur Folge hat, daß die Voraussetzungen für die Heranbildung von einigermaßen integrierten Persönlichkeiten immer seltener oder überhaupt nicht gegeben sind. Angesichts der massiven Gefühle von Unrechtmäßigkeit wird bei den Slumbewohnern auf die in der Andenkultur wie in der christlichen Tradition verwurzelte Idee des Opfers zurückgegriffen. An der Wurzel der Schwierigkeiten bei der organisatorischen Entwicklung der Gemeinde traf Rabanal häufig auf unbewussten Neid, der in Reibereien der Siedler untereinander, wie auch in Neidgefühlen gegenüber den Therapeuten/Feldforschern zum Ausdruck kam. Bei den Kindern stellte Rabanal fest, daß ihre Eltern nicht in der Lage sind, einen Raum zu schaffen, der die kindliche Entwicklung fördert und in dem empathisch auf die Besonderheiten des Kindes eingegangen würde. Er konstatiert tiefgreifende Mängel ihrer Sozialisation und Persönlichkeits-deformationen. Die Jugendlichen, die unter ungünstigen und entfremdeten Bedingungen arbeiten müssen, haben das Gefühl bei ihrer Arbeit nichts lernen zu können. Sie entbehren Privatheit und Empathie. Im Bereich der sexuellen Beziehungen fällt das Vorherrschen aggressiver Impulse auf. Die Männer suchen häufig die sexuelle Entladung unter fast völligem Fehlen von Zärtlichkeit, während die Frauen diese Angriffe, gleichsam symmetrisch, mit Frigidität beantworten. Dabei haben die sexuellen Phantasien der Frauen Männer zum Inhalt, die sie ins »Paradies« entführen. An der Wurzel von Armut und Unterentwicklung konstatiert Rabanal regressive Haltungen, die Bräuche und Gewohnheiten zur Folge haben. »Die regressiven Impulse der ersteren müssen ebenso entschieden bekämpft werden, wie die paternalistischen Neigungen der Mitarbeiter solcher Hilfsprogramme.« In einer späteren Studie über »Elend und Gewalt« in Peru hat Rodriguez Rabanal (1995) diese Themen weiter bearbeitet.

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Die Afrobrasilianer und die favela: Seit dem Anfang der Befreiung der Sklaven durch die ersten Gesetze und durch immer häufiger werdenden Kaufes des eigenen Freiheitsbriefes (carta de ! alforria) wurden die Vorläufer der Favelas die Hauptwohnform der afrobras. Bevölkerung. Dieser Zustand hat sich bis in unsere Tage perpetuiert. Insbesondere Afrobrasilianer in marginalisierten Berufszweigen (MüllsammlerInnen, empregadas dom¦sticas, ohne Arbeitsversicherung arbeitende Personen wie die internen Migranten auf den Baustellen) bewohnen die Favelas, obwohl sie manchmal auch von Personen, die viel besser sozio-ökonomisch situiert sind, bewohnt werden. Gekennzeichnet für afrobrasilianische Einwohner dieser Siedlungen ist u. a. die Prekarität ihrer Wohnverhältnisse, mit einer Vielzahl von dicht aufeinander lebenden Personen in kleinsten Räumen, das häufige Fehlen eines Elternteils, eine hohe Anzahl von Minderjährigen, Gewalt und Kriminalität, sowie der hohe Grad an ethnischen und sozialen !Diskriminierungen. Viele Favelas sind auf den Morros (Hügeln, z. B. in Rio de Janeiro) lokalisiert. Die Sozialstruktur und der Status der Einwohner werden u. a. hierarchisiert anhand der Lokalisation der Wohnung/des Hauses, d. h. um so höher auf dem Morro oder tiefer in der Favela eine Person wohnt, und desto prekärer die bauliche Konstruktion ist (z. B. eine Behausung aus Brettern und Plastik) umso niedriger ist auch ihr Status in der Gemeinschaft. Die Ambivalenz in der Sicht und Beurteilung dieser Wohngegenden ist offenkundigt: sie werden einerseits oft idealisiert und besungen wie u. a. im u.g. Samba »Encanto da paisagem« des afrobras. Samba-Komponist Nelson Sargento (*1924), der selber auf verschiedenen morros gelebt hat, und andererseits wird darin eine alltägliche Realität und Perspektivlosigkeit der Einwohner deutlich vor Augen geführt: Morro, ¦s o encanto da paisagem Suntuoso personagem de rudimentar beleza Morro, progresso lento e prim‚rio Ês imponente no cenario Inspirażo da natureza Na topografia da cidade Com toda a simplicidade, Ês chamado de elevażo, Vielas, becos e buracos Choupanas, tendinhas, barracos Sem discriminażo. Morro, p¦s descalcos na ladeira Lata d’‚gua na cabeca

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Vida rude alvissareira CrianÅas sem futuro e sem escola Se n¼o der sorte na bola Vai sofrer a vida inteira Morro o teu samba foi minado Ficou t¼o sofisticado, j‚ n¼o ¦ tradicional. Morro, ¦s lindo quando o sol desponta E as mazelas v¼o por conta do desajuste social. Auch auf den Morros und in den Favelas herrschen !Vorurteile und !Diskriminierungen, die nicht immer leicht erkennbar, aber virulent sind. Die afrobras. Einwohner, deren Behausungen aus Brettern, Blech und Plastik gebaut sind, leiden offenkundig mehr unter Ausschluss und Missachtung durch die Gemeinschaft als diejenigen, die in Steinhäuser leben. Diese Diskriminierungen und Vorurteile sind nicht nur innerhalb der Favelas und auf den Morros zu erkennen. Vor allem außerhalb dieser Siedlungen werden deren afrobras. Einwohner tagtäglich diskriminiert, sodaß viele in der Öffentlichkeit verheimlichen, wo sie wohnen, aus Befürchtung noch stärker aus unterschiedlichen Kontexten ausgeschlossen zu werden. Schon die intensive Polizeikontrolle in und um diesen Wohngegenden herum als auch die polizeiliche Durchsuchungen innerhalb der Siedlungen zeigt eindeutig, daß insb. die afrobras. Bevölkerung als »potentiell Verdächtige« im Fokus steht. Gegenwärtig existieren vor allem in der Südostregion Brasiliens zahlreiche Urbanisierungsprojekte für die Morros und Favelas. Auch die sog. Friedenspolizei ist ständig präsent und das Wirtschaftsleben floriert. Die sog. Tendinhas (= kleine Hütten), die früher von AfrobrasiliannerInnen betrieben wurden und alle Produkte in einer minimalen für den Käufer notwendige Menge verkauften (man konnte z. B. eine Zigarette und drei Streichhölzer kaufen) existieren kaum noch. Diese werden heute abgelöst von Supermarktketten und von Markenboutiquen, die in den Händen von Nicht-AfrobrasilianerInnen sind und von deren Konsum sie mehrheitlich ausgeschlossen sind. Heute verfügen die Favelas über Banken, evangelikale Kirchen und mehr Schulen, etc. Dennoch sind viele AfrobrasilianerInnen, die Favelas und Morros bewohnen weiterhin von diesem Modernisierungsprozeß ausgeschlossen. Auch hier gilt, umso dunkler die ! Hautfarbe desto niedriger der Status, auch unter den Armen und derselben ethnischen Gruppe. Für viele Afrobrasilianer ist die Miete außerhalb solcher Siedlungen nicht finanzierbar, was bedeutet, daß ihre marginale Bildung, Arbeitsverhältnisse, wirtschaftliche Lage, etc. den Weg in die Favela/auf den Morro bahnt. Hier kann man von einem Teufelskreis eines sozialen und ethnischen Determinismus sprechen, da die Tatsache, daß jemand in einer Favela geboren wurde und dort

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lebt, sich auch dahin auswirkt, daß seine gesamten gesellschaftlichen Chancen sich beträchtlich verschlechtern, um den Weg hinaus aus der Favela zu schaffen. Die Afrobrasilianische Favela-Bewohner prägen nicht nur das äußere Bild einer favela, sondern sie bilden auch die Kultur der Favelas seit Anfang ihrer Existenz. Der !Samba, die Escolas de Samba und unterschiedliche Tanzrichtungen sind in den Favelas und auf den Morros entstanden und von dort aus haben sie sich in weitere nationale und internationale kulturelle Kreise ausgebreitet. !Apartheid !Exklusion !interkulturelle Sozialarbeit !Karneval !Kultur der Armut !Wohnen D. R. Vaughan (1970): Urbanization in twentieth century Latin America. A working bibliography. University of Texas at Austin; E. Willems (1971): Barackensiedlungen und Urbanisierung in Lateinamerika. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Nr. 23, 4; ders. (1980): Die Barackensiedlungen Lateinamerikas als städtische »Frontier«. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2; A. Southall (ed.) (1973): Urban anthropology. Cross-cultural studies of urbanization. N.Y.; G. F. Schühly, S. J. (1981): Marginalidade. Um estudo do »migrante estabelecido« no Brasil. Rio de Janeiro; E. J. Schütz (1987): Städte in Lateinamerika. Barrio-Entwicklung und Wohnbau. Aachen: Misereor ; U. Craemer (1987): Favela-Kinder. Stuttgart; J. Gugler (ed.) (1988): The urbanization of the Third World. Oxford; S. Chalhoub (1990): A Guerra contra os cortiÅos na cidade do Rio de Janeiro (1850 – 1906). Campinas:IFCH/UNICAMP; M. Lacerda (1993): Favela hightech. S¼o Paulo; C. R. Rabanal (1995): Elend und Gewalt. Frankfurt/M.; Nohlen (Hrsg.) (2000): Lexikon Dritte Welt. Reinbek; H. Stubbe (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien Bonn; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; T. Töpfer (2009): Stadtentwicklung und Freiflächennutzung im Widerstreit der Interessen. Das Beispiel Recife. Martius-Staden Jahrbuch, Nr. 56, 2009:105 – 126; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psycho-logischen Anthropologie. Gießen; Filme: Favela Rising (Regie: J. Zimbalist & M. Mochary, GB 2005); Cidade de Deus (Regie: F. Meireiles, BR 2002)

Fetischismus(m). (Ch. de Brosse, 1760; lat. factitius = künstlich gemacht; von port. feitiço) In der Ethnologie versteht man unter ›Fetisch‹ (lat. facticius, port. feitiÅo = hergestelltes) einen verehrten Gegenstand, dem schützende oder abwehrende Kräfte zugeschrieben werden. Unter F. wird demnach der Fetisch- Kult verstanden. In der evolutionistischen Ethnologie z. B. bei Tylor war der F. eine frühe religiöse Stufe in der Entwicklung zum Monotheismus. Wilhelm Wundt (1912:218ff) sah in dem F. einen »direkten Ausläufer der Körperseele insofern, als ja auch an die Teile des menschlichen Leibes schon solche Zauberwirkungen gebunden sind. In diesem Sinne gilt z. B. in Australien und anderwärts besonders die Niere als zauberkräftig, ebenso das Blut und das !Haar, das, wie wir

Figa (port. von lat. ficus = Feige; ital. fica)

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aus der biblischen Simsonlegende wissen, als ein spezifischer Sitz dämonischer Kraft angesehen wird und als Zaubermittel noch im modernen Aberglauben eine Rolle spielt.« Der Literaturwissenschaftler Martin Steins hat das Bild des Schwarzen in der europäischen Kolonialliteratur (1870 – 1918) untersucht und in dem Kapitel »Les f¦ticheurs« gezeigt, daß der Schwarzafrikaner im religiösen Bereich vor allem in der Klischeefigur des »f¦ticheur« im Sinne eines gefährlichen Quacksalbers oder auch des »sorcier«, des Hexenmeisters, personifiziert wird. Der Terminus F. wurde in der Wissenschaft oftmals sehr lax verwendet, so daß Panoff & Perrin (1982:104) in ihrem »Taschenlexikon der Ethnologie« feststellen: »Heute wird der Begriff F. in der Ethnologie sehr selten verwendet, da man bemerkt hat, daß unter diesem Begriff je nach der betreffenden Gesellschaft sehr verschiedenartige Phänomene zusammengefasst worden sind, die, aus ihrem kulturellen Zusammenhang herausgelöst, keine brauchbare Kategorie bilden.« Auch Marcel Mauss lehnte den Begriff F. vehement ab, vor allem aufgrund seiner mit dem !Kolonialismus verquikten Geschichte. »Der Terminus Fetisch oder F. ist aus dem Vokabular der Ethnologie verbannt worden. Ihn zu benutzen, hieß (und heißt noch immer), sich auf die Seite der Missionare oder Kolonisatoren schlagen, die mit ein und demselben Wort eine Gesamtheit von Gegenständen und Praktiken zusammenfassen, die heidnischen (d. h. nichtchristlichen) oder primitiven (d. h. nicht-europäischen) Bevölkerungen zugeschrieben werden.« (Bonnaf¦, 1972:234; zit. nach Museum für Völkerkunde, Frankfurt/M., 1986:37) Der Begriff »fetichismo« (ähnlich wie Animismus, ! Totemismus) wurde lange in der frühen !Afrobrasilianistik und !Folklore verwendet, um die Religiosität der Afrobrasilianer zu charakterisieren bzw. zu degradieren, z. B. sprach Nina Rodrigues vom »L’animisme fetichiste des n¦gres de Bahia« (1900) (zur feitiÅaria, vgl. Scis†nio, 1997:153 f; Lopes, 2006:65). !Einführung !Folklore !Religion !Totemismus !Zauber Nina Rodrigues (1935): Os africanos no Brasil. S¼o Paulo (2. ed.); J. F. Thiel (1977): Grundbegriffe der Ethnologie. St. Augustin; K.-H. Kohl (1983): Fetisch, Tabu, Totem. Zur Archäologik religionswissenschaftlicher Begriffsbildung. In: B. Gladigow & H. G. Kippenberg (Hrsg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft. München. S. 59 – 74; Museum für Völkerkunde (Frankfurt/M.) (1986): Was sind Fetische? Frankfurt/M.; E. Apter & W. Pietz (ed.s) (1993): Fetishism as cultural discourse. London; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Figa (port. von lat. ficus = Feige; ital. fica) Eines der ältesten !Amulette gegen den »bösen Blick«. Die F. ist eine menschliche Hand, bei der der Daumen durch den Zeige- und Mittelfinger

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gesteckt wird. Sie wird als Repräsentation des Sexualaktes angesehen und soll negative lebensfeindliche Einflüsse der Sterilität unwirksam machen. Die F. wird (von vielen AfrobrasilianerInnen) am Körper getragen. Im antiken Rom (möglicher Ursprung?), bei vielen Mittelmeervölkern und inbes. in LA weit verbreitet und auch in den afrobrasilianischen Kulten vorhanden. Bei dem latein-amerikanischen Volkskundler Coluccio (1984:194) heißt es: »Amuleto de uso en casi toda Am¦rica, para evitar la mala suerte y el mal de ojo, especialmente. Se le representa por una mano, con el pulgar metido entre los dedos †ndice y medio, simbolizando el acto sexual, la fertilidad, contra las circunstancias negativas de la vida.« Schon in Ovid’s »Fasti« (V, 433), aber auch in Dante’s »Divina Comedia« (inferno, XXV) und in Shakespeare’s »Otelo« (I,III) finden sich Hinweise auf die F. !Abwehrmagie !Amulett C. Sittl (1890): Die Gebärden der Griechen und Römer. Leipzig; R. C. Scheuer (1956): Die symbolische Bedeutung der Figa. Südamerika, Jg.6, N8.5, S. 468 – 469; O. G. Cacciatore (1977): Dicion‚rio de cultos afro-brasileiros. Rio de Janeiro; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do folclore brasileiro, S¼o Paulo, 1980:326 f; F. Coluccio (1984): Diccionario de creencias y supersticiones (Argentina y Americas). Buenos Aires; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Film Einführung: Die Gebrüder LumiÀre haben mit ihrer Filmvorführung am 25. 12. 1895 die Geburtsstunde des Films gesetzt. Der Film wurde auch frühzeitig als Forschungsmitttel in der Ethnologie/Anthropologie eingesetzt (vgl. z. B. Spannaus, 1961; Jordan, 1992). Die modernen Medientechniken ermöglichen durch ihre außerordentlich gesteigerte Mobilität die filmische bzw. elektronische Fixierung weiter Bereiche des alltäglichen Lebens fremder Kulturen. Allerdings erweisen sich die Speicherkapazitäten dieser potentiell umfassenden Dokumentierung als begrenzt. Sowohl die Haltbarkeit des elektronischen (Video-) Materials wie die Archivierungspolitik der Medienzentralen bilden Hindernisse für den Traum der Ethnologen, einen Kosmos von Ereignissen und Strukturen visuell oder zumindest hörbar zu finden. Die »Lesbarkeit« dieser F.e kommt allerdings an den klassischen Fragen der Quellenkritik nicht vorbei. Die scheinbare Originalität des Bildes oder gesprochenen Wortes erweist sich als besonders verführerisch, sie als »Wirklichkeit« mißzuverstehen. Tatsächlich sind Bildaufnahmen jeder Art und nahezu alle Tonaufnahmen inszeniert (vgl. auch Fälschungsmöglichkeiten!). »Dass auch Filmszenen gestellt werden können, um

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eine Realität zu suggerieren, die eher den theoretischen Vorannahmen des Forschers entspricht, zeigt nicht zuletzt N. Chagnons Film »The Ax Fight« (1968): Er wollte die Aggressivität der Yanomamö beweisen, filmte deswegen lediglich aggressive Szenen und bat Eingeborene, Aggression zu ›spielen‹.« (DTV Atlas Ethnologie, 2005 :153) Wissenschaftliche Untersuchungen werden dennoch auf diesen Quellentypus heute nicht mehr verzichten können. Insbes. die visuelle Anthropologie/Ethnologie beforscht diesen Bereich. Im Rahmen der ethnologischen Feldforschung wurden spezifische Methoden der Herangehensweisen entwickelt. Die moderne Videotechnik ermöglicht auch das sog. indigenous filmmaking, das die Filmführung den (beforschten) Ethnien selbst in die Hand gibt. Weitere Forschungsthemen sind die Filmanalyse und Filmrezeption. Ethno-psychologische Filmanalysen können sich der Freudschen Traumtheorie, den Konzepten der imaginativen Psychotherapie z. B. KB (vgl. »Bildbewusstsein«), Methoden der Inhaltsanalyse und der sozialpsychologischen Fernsehforschung (vgl. Zimbardo, 1999) bedienen. Wichtig ist auch die Erforschung der durch Film, Radio und Fernsehen vermittelten !Vorurteile und !Stereotype über fremde Kulturen und Menschen. Die Afrobrasilianer im Film: Die Afro-Brasilianer haben nie eine herausragende und eigenständige Rolle im brasilianischen Film gespielt, wie wir sie z. B. im !Theater erkennen können: Sie waren bisher Randfiguren und stehen immer noch an der Peripherie der Entwicklung dieses Kunstzweiges. Aber !Karneval, !Samba und andere Elemente der afro-brasilianischen Kultur waren stets Bestandteile des brasilianischen Films, wie z. B. in »A voz do Carnaval« (= Die Stimme des Karnevals, 1933) und »Alú, alú carnaval« (1937): Hier wurde auch die Tontechnik und die industrielle Film-Produktion im Stil Hollywoods erprobt und ein neues Genre des brasilianischen Films entwickelt, nämlich die »chanchadas« (vgl. Lopes, 2006:41). In diesem Rahmen stellten die Afro-Brasilianer nur das musikalische Grund-Gerüst her : sie tanzten, sangen und spielten den dienerischen Clown für die Weißen. Hieraus entstand aber z. B. das Komikertalent Grande Otelo (1915 – 1993) (vgl. Lopes, 2006:73), der mit Oscarito jahrelang in einer Art Nachahmung von Dick und Doof zusammenspielte und sehr populär wurde: Oscarito – der Weiße- und Grande Otelo – der Schwarze- in der »Stellung des Doofen«. Die »chanchadas« waren ungefähr eine brasilianische Version der Ufa-Filme für das breite Publikum, das nach Musik und Unterhaltung suchte als Ablenkungsform aus der diktatorischen Situation während der Regierung von Getffllio Vargas (1930 – 1945). Hier wurde die Frage nach !Diskriminierung und !Stereotypisierung der Darsteller und der Handlungen nicht gestellt. Im Jahre 1935 er-

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schienen jedoch zwei Filme, die die Afrobrasilianer in ihrer Lebenssituation und im Rahmen ihrer Realität darstellten, nämlich »Favela de meus amores« (= Favela meiner Lieben), gedreht von Humberto Mauro, in dem er die elenden !»favelas« auf den Hügelns Rios zeigte, und »Moleque Ti¼o« von Jos¦ Carlos Burle, in dem erstmals die Rassenproblematik im brasilianischen Film behandelt wird. Afrobrasilianische Schauspieler/innen waren weiterhin auf der Leinwand zu sehen, aber nur in Nebenrollen. Ihre Stellung in den Filmstreifen gab ihre marginalisierte Position in der gesellschaftlichen Realität wieder : Schauspielerinnen repräsentierten die Hausangestellten (!empregadas), die Ammen, die Prostituierten und die rechtslosen Geliebten. Männliche Schauspieler waren auf der Leinwand in der Rolle des Kriminellen zu sehen bzw. des Verbrechers und erschienen überall dort, wo es Gewalt gab, oder als Diener beispielsweise in der Position eines vertrauensvollen Chauffeurs. Der bedeutende Filmregisseur Nelson Pereira dos Santos stellte in den 50er Jahren nach Schumann’s (1988:21) Ansicht die »wenigen kritischen Bestandsaufnahmen der brasilianischen Kinematografie der ersten Jahrzehnte« dar. In den neorealistischen Streifen »Rio, quarenta graus« (= Rio, bei vierzig Grad, 1955) und »Rio zona norte« wird das Lebens in den Armenvierteln Rios – in einer !Favela und im Norden der Stadt – gezeigt und das Schicksal deren Einwohner. Die Afro-Brasilianer und deren Realität sind grundlegende Bestandteile dieser Kunstwerke. In den beiden oben genannten Filmen sehen wir wieder Grande Otelo, der ein Charakterdarsteller wurde und im brasilianischen Kino in Filmen wie »Macuna†ma«, »Jubiab‚«, etc. die Stellung der Afrobrasilianer zum Ausdruck brachte. Mit ihm sind Namen wie Ruth de Souza (*1921) (vgl. Lopes, 2006:149) und L¦a Garcia als afrobrasilianische Schauspielerinnen hervorzuheben, die insbesondere ab den 60er Jahren den brasilianischen Film kennzeichnen. Die französisch-italienische Produktion »Orfeu Negro« von Marcel Camus (1959) verlegt den Mythos von Orpheus und Eurydike in den tropischen Karneval Rio de Janeiros und bedient sich afrobrasilianischer Schauspieler wie Lourdes de Oliveira, L¦a Garcia und Adhemar da Silva. Dieser bedeutende und wirksame Film besticht weniger durch filmkünstlerische Originalität, sondern vor allem durch die erregende Atmosphäre der Favelas von Rio de Janeiro (= »Unterwelt«). Mit dem »Cinema Novo« (= Neues Kino) in den Jahren 1960 – 1969 tritt auch eine neue Darstellungsform der Afrobrasilianer im Film hervor. Obwohl die alten einseitigen und diskriminierenden Rollen weiter bestanden, entdeckten die Filmmacher eine andere Dimension dieser Bevölkerungsgruppe, nämlich ihre !Geschichte. Diese Geschichte kann aber nicht isoliert aus der allgemeinen Geschichte des Landes betrachtet werden, obwohl sie im Film auf den ersten Blick so dargestellt wird. Das »Cinema Novo« wollte Schluß mit der falschen Interpretation der Realität machen. Der Prozeß der nationalen Bewußtseinwerdung war in Gang gesetzt worden, die Kulturtradition sollte zum Vorschein kommen. Künstler und In-

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tellektuelle entdeckten die Arbeiter und brachten sie auf die Leinwand. Das »Cinema Novo« erscheint zur Zeit der Gründung von Bras†lia, der hypermodernen Hauptstadt, in der Hochblüte der Musikgattung »Bossa Nova« und mußte unter den Bedingungen der Militärdiktatur und Terrorzeit existieren. Das »Cinema Novo« wurde von weißen Intelektuellen entwickelt, Afrobrasilianer blieben diesem Prozeß praktisch fern. Der Versuch dieser Filmemacher entstand aus Analysen und Kritiken, ferner aus dem Zusammenleben mit jener armen Wirklichkeit, die sie darstellten. In diesem Rahmen muß auch die historische Darstellung der Afrobrasilianer betrachtet werden. »Ganga Zumba« (1963), in der Regie des 28jährigen Theoretikers und Publizisten Carlos Di¦gues, der Wortführer des »Cinema Novo«, ist der erste Film unter der Rubrik eines historischen Films, der die Geschichte der Afrobrasilianer darstellt. In diesem Film geht es um die ersehnte Freiheit und Hoffung nach Autonomie und Frieden bei den schwarzen Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen des 18. Jahrhunderts: Ganga Zumba (König der Sklaven) verkörpert diese Hoffnung. Mit diesem historischen Hintergrund versuchte Di¦gues aber etwas mehr zu erreichen. Schumann (1988:23) schreibt hierzu: »Doch es ging Di¦gues nicht nur um die Rekonstruktion von Geschichte und die Wiederherstellung von Geschichtsbewußtsein, sondern um eine andere Form der Sozialkritik: Die entrechteten Sklaven des 18. Jahrhunderts stehen stellvertretend für die Elenden in der Favela oder im Sert¼o. Die Darstellung der Selbstbefreiung des jungen Ganga Zumba sollte dazu anregen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen«. Obwohl es sich hier um die Geschichte der Afro-Brasilianer handelte, kann behauptet werden, daß die Mehrzahl des brasilianischen Kinopublikums, unter ihnen vermutlich eine geringe Anzahl von Afrobrasilianern, diesen Film nur aus seiner historischen Perspektive verstehen konnte. Zu der in ihm enthaltenden Sozialkritik hatte das breite Publikum möglicherweise keinen Zugang, da für deren Erfassung die Zuschauer ein gehobeneres Bildungsniveau besitzen mußten. In den meisten Fällen verharrten diese Werke aber auf der Ebene der historischen Darstellung. Einer der größten Erfolge bezüglich der Darstellung der Afrobrasilianer und deren Geschichte im Film war der von Carlos Di¦gues 1976 gefilmte »Chica da Silva« (Die Mätresse), der in fünf Jahren von über drei Millionen Brasilianern gesehen wurde (vgl. Lopes, 2006:41 f). Hier kann behauptet werden, daß das »Cinema Novo« mit seinem Streben Politik, cultura popular und bis zu einem gewissen Grad auch Humor miteinander zu verbinden, sich stark von der alltäglichen, realen Lebenssituation und Gegenwartskultur der Afrobrasilianer entfernt hat und diese Bevölkerungsgruppe streng in einem historischen Kontext betrachtete. In »Xica da Silva« sehen wir einen der wenigen brasilianischen Filme, in dem die Geschichte der Afrobrasilianerin im Zentrum der Handlung steht. Diese mythische weibliche Sklavenfigur des zweiten Hälftes des 18. Jhr. in Minas Gerais repräsentiert eine anarchistische und befreiende Persönlichkeit

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innerhalb der unterdrückenden Ordnung der damaligen Sklaverei-Gesellschaft. Dennoch hinterläßt der Film einen sexistischen Beigeschmack, indem in »Chica da Silva« das alte vorurteilsbeladene Bild der afrobrasilianischen Sklavinnen wiederbelebt wird: sie ist die erotische, extravagante »negra«, die ihre sexuellen Impulse nicht kontrollieren kann und nur durch ihre Erotik und Zauberkunst zu ihren Zielen gelangt. Eine gutgelungene Verbindung aus Geschichte und Gegenwart stellt die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jorge Amado »Tenda dos Milagres« (Bazar der Wunder, 1977) durch Nelson Pereira dos Santos dar. Hier werden die Afrobrasilianer im Bahia der Jahrhundertwende während des Industrialisierungsprozesses der brasilianischen Gesellschaft dargestellt. Die afrobras. !Geschichte wurde in den letzten Jahrzehnten zum Spetakel innerhalb des brasilianischen Films gemacht, da die Regisseure und Produzenten diese u. a. als eine Geld- und Erfolgsquelle entdeckt haben: Es geht hierbei vor allem um ihre Geschichte. Einer der letzten Filme in dieser historischen Perspektive war »Quilombo« (1984) ebenfalls von Carlos Di¦gues. Hier erzählt er die Geschichte des »!Quilombo dos !Palmares« in der Art eines großen Filmspetakels, mit sehr vielen afrobrasilianischen Schauspielern, die jedoch nicht integriert werden und dann quasi als Nebenfiguren fungierten. »Quilombo« ist trotzalledem sehr schön und zeigt ein wesentliches Moment der afrobrasilianischen Geschichte. Er wurde auch von vielen Afrobrasilianern gesehen, da sie sich mit dieser Geschichte gut identifizieren konnten. In der Entwicklung des brasilianischen Films, die bereits im Jahre 1898 (Segreto) begann, sehen wir bis heute keine bedeutende Präsenz der Afrobrasilianer als Filmregisseure und -produzenten. Anderseits existiert eine Vielzahl von bedeutenden Darstellern wie Antonio Pompeu, Zez¦ Motta, Paul¼o, Antúnio Pitanga, Norton Nascimento, Marcus Vin†cius, Camila Pitanga u. a., die sowohl im Film als auch im Theater und insbesondere in den Telenovelas ihr Talent zeigen. Dennoch kann festgestellt werden, daß diese Künstler immer noch in einseitigen und stereotypisierten Rollen einen Platz bekommen, wenn es sich um die Darstellung der Gegenwart handelt (als eines der wenigen Gegenbeispiele soll hier der Film »Pedro Mico« aus dem Jahre 1987 mit dem weltbekannten Fußballspieler und früheren Sportminister Pel¦ in der Hauptrolle erwähnt werden). Außerhalb dieses eingeengten Kontextes erscheinen sie nur als historische Figuren, was ihre Teilnahme an der Konstruktion und Erhaltung der brasilianischen Gesellschaft ausgesprochen begrenzt, weil sie nur als historische Elemente – außerhalb des Hier und Heute – betrachtet werden. Es kann hier resümiert werden, daß der brasilianische Film der letzten Jahrzehnte die Frage der !Vorurteile und !Diskriminierung der Afrobrasilianer und ihrer ! Kultur, aber auch die soziale, politische und wirtschaftliche Situation der ›real existierenden‹ Afrobrasilianer stark venachlässigt hat, um sie fast ausschließlich als »Geschichte« zu betrachten.

Fluxus und Refluxus

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!Biografien !Fotografie !Musik !Teatro Experimental do Negro G. Spannaus (1961): Der wissenschaftliche Film als Forschungsmittel in der Völkerkunde. Entwicklung-Probleme-Zukunftsaufgaben. In: Der Film im Dienste der Wissenschaft, Göttingen, S. 67 – 83; C. W. Ceram (1965): Eine Archäologie des Kinos. Darmstadt; S. Martins Couceiro de Lima (1971): O negro na televis¼o de S¼o Paulo. S¼o Paulo: USPFFLCH; V. de Paula Araffljo (1976): A bella ¦poca do cinema no Brasil. S¼o Paulo; Filme e cultura. Rio de Janeiro: Empresa Brasileira de Filmes, 1978/79; C. R. Souza (1982): A fascinante aventura do cinema brasileiro. S¼o Paulo; P. B. Schumann (1982): Handbuch des lateinamerikanischen Films. Frankfurt/M.; ders. (1988): Handbuch des brasilianischen Films. Frankf./M.; R. Stam (1982): Slow fade to afro: the black presence in Brazilian cinema. Film Quarterly (Berkeley), 36(2), winter, p. 16 – 32; S. Martins Couceiro de Lima (1983): O negro na televis¼o de S¼o Paulo. S¼o Paulo:USP-FFLCH; P. Paranagu‚ (1984): Cinema na Am¦rica Latina. Longe de Deus e perto de Hollywood. S¼o Paulo; Museu Lasar Segall (1988): O negro no cinema. S¼o Paulo; J. Carlos Rodrigues (1988): O negro brasileiro e o cinema. Rio de Janeiro; Der Blick der Medien auf die Dritte Welt. Trickster, 18, März, 1990; P.-L. Jordan (1992) : Cin¦ma. Kino. Premier contact-premier regard. Erster KontaktErster Blick. Katalog. Mus¦es de Marseille; R. Husmann & I. Wellinger (1993): A bibliography of ethnographic film. Manchester ; E. Ballhaus & B. Engelbrecht (Hrsg.) (1995): Der ethnographische Film. Einführung in Methoden und Praxis. Berlin; R. Rother (Hrsg.) (1998): Mythen der Nationen. Völker im Film. München; Th. Kirsch (1998): Brasiliens bewegende Bilder. Die Entwicklung der bras. Film- und Fernsehwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung staatlicher Interventionen. Frankf./M.; H. Schanze (Hg.) (2001): Handbuch der Mediengeschichte. Stuttgart; ABP (Zeitschrift zur portugiesisch-sprachigen Welt) (2001): Brasilien an der Schwelle zum dritten Jahrtausend: Religion, Medien, Film, Literatur. ABP (Frankfurt/M.: IKO), Heft 4; D. Haller (2005): DTVAtlas Ethnologie. München, S:152 f; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; J. Hörisch (2010): Theorie-Apotheke. Berlin; Institutionen: IWF-Göttingen; EMBRAFILM

Fluxus und Refluxus Die Rückkehr von Brasilien nach Afrika: Nicht nur Brasilien ist von Afrika geprägt worden, sondern auch Afrika wurde von Brasilien beeinflußt, insbesondere die Westküste im Laufe des 19. Jh.s. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Charakteristisch für diese Prägung war der Einfluß der »Rückkehrer-Sklaven« (Remigranten, »retornados«; vgl. Carneiro da Cunha, 1985; Lopes, 2006:144). Dabei handelte es sich um deportierte Ex-Sklaven, die aufgrund von !Aufständen, Rebellionen, Revolten oder anderen »ordnungsstörenden Handlungen« vom brasilianischen Boden verbannt wurden. Wie bereits erwähnt, war die Rückdeportation auch als eine !Strafe für Sklaven gedacht. Eine andere Gruppe von Rückkehrern waren diejenigen Ex-Sklaven, die sich in Brasilien ihre !»alforria« (=Freiheitsbrief) kauften, sie vom Bezitzer

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erhielten oder durch andere Gesetze erreichten. Ab der großen »Revolta dos MalÞs« von 1835, bei der diese islamisierten Sklaven sogar die Regierung der Stadt Salvador (Bahia) übernahmen, begann die offizielle Provinzregierung von Bahia eine Politik der systematischen Rückdeportation nach Afrika. Andererseits waren die bereits freilebenden Afrikaner durch eine gewisse Idealisierung des weitliegenden Afrikas eher dazu geneigt zurückzukehren. Auch positive Nachrichten über die ökonomische Mobilität von Ex-Sklaven in Afrika, sowie über die positive Aufnahme von Rückkehrern bewegten sie dazu den Rückweg über den Atlantik auf sich zu nehmen, wie einst ihre Eltern und Großeltern es unfreiwillig getan hatten. In Afrika bildeten sie oftmals eigene Stadtviertel, die sog. »Brazilian Quarters« bzw. »Quartiers Br¦siliens«, da diese Rückkehrer als »Brasilianer« bezeichnet wurden (vgl. Santos-Stubbe, 2001:37 f; Lopes, 2006:33). Ihre stärkere Ansammlung fand sich in den Ländern Togo, Ghana und Nigeria, wo sie sich hauptsächlich in den Städten niedergelassen haben. Die gesetzliche Einschränkung für den Kauf von Ackerland für Ausländer kann als einer der Hauptgründe hierfür betrachtet werden, außerdem hatten viele dieser Rückkehrer in Brasilien bereits in Städten gelebt. Im Zeitraum 1820 – 1868 wurden in Brasilien 2154 Reisepässe für Rückkehrer nach Afrika ausgestellt. In der nigerianischen Stadt Lagos war die Konzentration dieser »Brasilianer« besonders stark: Im Jahre 1880 lebten dort schon 3221 aus Brasilien zurückgekehrte Afrikaner (zu den »retornados«, vgl. Carneiro da Cunha, 1985; Lopes, 2006:144). Diese »Brasilianer« brachten zahlreiche brasilianische kulturelle Elemente nach Afrika mit, wie beispielsweise die Bekleidung (in Lagos finden wir die Straßenspeisenverkäuferinnen wieder, auch dort !»Baianas« genannt), die katholische Religion, die luso-brasilianische Kolonialarchitektur (die Rückkehrer bauten viele Kirchen, Kapellen und Häuser in diesem Stil in Afrika), andere Ernährungsgewohnheiten, die portugiesische Sprache, u. a. Dieser »fremde« Lebensstil in Afrika hat aber für sie einen Kulturschock ausgelöst. Die Anpassung an die afrikanische Kultur und das Aufgenommen-Werden von den »richtigen« Afrikanern bereitete ihnen große Anpassungsschwierigkeiten. Die Tatsache, daß sie als die »Brasilianer« bezeichnet wurden, deutet auf eine Fremdeneinstellung in Afrika hin. Joel Silva aus Ghana, erzählte uns in Deutschland oft Geschichten über seinen Urgroßvater aus Brasilien, der auch innenhalb seiner Familie wegen seiner Eigenart als »der Brasilianer« galt. Diese afrikanischen zurückgekehrten Brasilianer erlangten dennoch einen relativ hohen ökonomischen und sozialen Status in Afrika. Durch ihre unterschiedlichen Tätigkeiten als Sklaven in Brasilien, erlangten sie oftmals Kenntnisse im handwerklichen Bereich, die sie auch in Afrika gut anwenden konnten. Durch die »fremden« Techniken, die sie mit sich brachten, waren sie deshalb in dieser Hinsicht den »einheimischen« Afrikanern oftmals überlegen. Wir können in diesem Zusammenhang behaupten, daß diejenigen »Brasilianer«, die sich ent-

Folk-Lore (auch: Folclore, Volkskunde, lateinamer. Ethnologie)

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schlossen nach Afrika zurückzukehren bereits eine bessere Ausbildung besaßen sowie wirtschaftlich etwas etablierter waren; außerdem kann man ihnen eine kritischere sozio-politische gesellschaftliche Betrachtung Brasiliens zuschreiben. Wir können ebenfalls von einer wohlhabenden Elite sprechen, die sich aus diesen Rückkehrern in Afrika herausgebildet hat. Die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den ehemaligen afrikanischen Kolonien Portugals und Brasilien haben sich in den letzten Jahrzehnten beträchtlich intensiviert (vgl. z. B. C–mara dos Deputados, 1994). !africanos libertos !Made in Africa !Migration !Strafen Cl. R. de Lessa (1957): Viagem de Ýfrica em o reino de Daom¦ – Crúnica de uma embaixada luso-brasileira — costa D’Ýfrica em fins do s¦c. XVIII , incluindo texto do padre Vicente Ferreira Pires. S¼o Paulo; L. da C–mara Cascudo (1965): Made in Africa. Rio de Janeiro; P. Verger (1968): Flux et reflux de la traite des n¦gres entre le Golfe de B¦nim et Bahia de Todos os Santos. Paris; ders. (1976): Trade relations between the bight of Benin and Bahia 17th – 19th century. Ibadan; ders. (1992): InfluÞncias Ýfrica-Brasil, Brasil-Ýfrica. Em: Exposiżo Brasil Ýfrica Brasil. Rio de Janeiro; Pierre Verger 90 anos. S¼o Paulo: Pinacoteca; C. Medeiros dos Santos (1973): RelaÅþes de Angola com o Rio de Janeiro (1736 – 1808). Estudos Histûricos (Mar†lia), (12), p. 7 – 68; Tempo Brasileiro (38/39, 1974): Brasil, Ýfrica e Portugal. Rio de Janeiro; M. Carneiro da Cunha (1985): Negros. Estrangeiros. Os escravos libertos e sua volta — Ýfrica. S¼o Paulo; G. A. Pirio & T. Meade (1988): In search of the Afro-American »El Dorado«: attemps by North American blacks to enter Brazil in the 1920s. Luso-Brazilian Review (Madison), 25(1), p. 85 – 110; Associażo dos Arquivistas Brasileiros (org.) (1988): Guia brasileiro de fontes Brasil-Ýfrica. Arquivo & Administrażo (RJ), jul.; M. Parente Augel & Ch. Walger (1991): Transatlantik. Begegnung zwischen Afrika und Brasilien. Afrika-Hefte Nr. 5. Bremen; C–mara dos Deputados (Comiss¼o de RelaÅþes Exteriores) (ed.) (1994): Interc–mbio Brasil Ýfrica. Bras†lia; S. Pantoja & J. Fl. Sombra Saraiva (org.s) (1999): Angola e Brasil nas rotas do Atl–ntico do Sul. Rio de Janeiro; N. Lopes (2003): Enciclop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo; ders. (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Internet: Wikipedia (!afro-brasileiros)

Folk-Lore (auch: Folclore, Volkskunde, lateinamer. Ethnologie) In der älteren !Afrobrasilianistik, bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein, wurden die Afrobrasilianer wissenschaftlich einseitig im Rahmen der Folklore erforscht (vgl. z. B. Coluccio, 1949; Nascimento, 1971; Colonelli, 1979; C–mara Cascudo, 1980). Die offizielle Ethnologie/Anthropologie befasste sich dagegen ausschließlich mit den »Indianern« Brasiliens (vgl. z. B. Stubbe, 2007:35 – 58). Der bekannte Afrobrasilianist (Psychiater und Sozialpsychologe) Arthur Ramos hat unter dem Einfluss der (Ethno-) Psychoanalyse z. B. in seiner

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frühen, mit Abb.n versehenen, »O Folk-Lore Negro do Brasil« (1935) z. B. folgende Themen behandelt: Das mythisch-religiöse Überleben (z. B. Olorun, Obatal‚, Orix‚s, !Xangú, Prozessionen etc.), das historische Überleben (z. B. Congos und !Quilombos), das totemistische Überleben: Feste und »autos« (z. B. afrikanischer !Totemismus, Clans, maracatffl), das totemistische Überleben: der Zyklus des Stieres (z. B. bumba meu boi, reisados, congos), das Überleben in !Tanz und !Musik (z. B. batuque, !samba, atabaques), die populären Tierfabeln (die Psychologie des afrikanischen Erzählers, der Zyklus der Schildkröte, des Jabut†), die Erzählungen des Kibundo und der Zyklus der Verwandlung (z. B. Monster, Stiefmutter, Däumeling), Psychoanalyse der populären Erzählungen (z. B. Klassifikation nach Frobenius, Angst und Kastrations-Komplex, phallische Mutter, Initiation), Folklore des »Pae Jo¼o« (z. B. !Sprichwörter, Rätsel, Folklore Angolas, Folklore der ›engenhos‹ und Plantagen), Zusammenfassung: das folkloristische Unbewußte (o inconsciente folk-lorico). Die !Afrobrasilianer sind jedoch keine Folklore-Gruppe! Auch wenn sie in vielen !Bibliografien und Veröffentlichungen der Folklore (die immer noch eine wichtige wissenschaftliche und heuristische Quelle der !Afrobrasilianistik darstellen) behandelt werden. Auch ihre »Musealisierung« ist problematisch (vgl. Dean, 2010). Heute wird die !Afrobrasilianistik interdisziplinär und in methodischer Vielfalt im Rahmen der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, der Sozialwissenschaften, der Humanwissen-schaften, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften betrieben. !Einführung !Bibliografien !Kultur !Literatur !Made in Africa !Musik !Mythen und Märchen !Religion !Tanz Sant’Ana Nery, Baron de (1889): Le Folk-Lore br¦silien. Paris; A. Ramos (1935): O FolkLore Negro do Brasil. Rio de Janeiro; Fl. Rodrigues Valle (1936): Elementos de Folk-Lore Musical Brasileiro. S¼o Paulo (vor allem cap. III); F. Coluccio (1949): Folklore de las Americas. Primera Antologia. Buenos Aires; L. da C–mara Cascudo (1958): SuperstiÅþes e costumes. Rio de Janeiro; ders. (1965): Made in Africa. Rio de Janeiro; A. Maynard Araffljo (1967): Folclore Nacional. 3 vols. S¼o Paulo (bebildert); ders. (s.d.): Brasil, Histûrias, costumes e lendas. S¼o Paulo (bebildert); G. Freyre (1969): AÅfflcar. Em torno da etnografia, da histûria e da sociologia do doce no nordeste canavieiro do Brasil. Instituto do AÅfflcar e do Ýlcool (2. ed.); B. do Nascimento (1971): Bibliografia do Folclore Brasileiro. Rio de Janeiro; M. de Andrade Marconi (1976): Folclore do Caf¦. S¼o Paulo; Chr. A. Colonelli (1979): Bibliografia do Folclore Brasileiro. S¼o Paulo; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore Brasileiro. S¼o Paulo; ders. (1983): Rede de dormir. Uma pesquisa etnogr‚fica. Rio de Janeiro; V. de Melo (1981): Folclore infantil. Rio de Janeiro; W. Valente (1986): Aspectos espirituais da presenÅa africana no folclore brasileiro. Recife (Fund. J. Nabuco); N. Lopes (2004): Enciclop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo; H. Stubbe (2007): Nimuendajffl (1883 – 1945) in der Geschichte der Ethnologie

Fotografie

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Brasiliens. In: J. Born (Hg.), Curt Unckel Nimuendajffl – ein Jenenser als Pionier im Brasilianischen Nord(ost-)en. Wien; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S. 158 – 160; I. Dean (2010): Die Musealisierung des Anderen. Tübingen

Fotografie Einführung: Fotografien – es gibt sie seit Mitte des 19. Jh.s – sind eine wichtige anthropologische, sozial- und kulturgeschichtliche Quelle. F. können Informationen über soziale Strukturen und Mentalitäten, über Alltag, Kleidung und Mode, Ernährung, Wohnverhältnisse, Handwerk und ökonomische Tätigkeiten etc., aber auch koloniale Verhältnisse und !Sklaverei vermitteln. Berühmt sind die etwa 25.000 Fotografien, die Bateson und Mead zwischen 1936 und 1939 in Bali herstellten, um ein gemeinsames »Ethos« d. h. eine Art emotionales Grundmuster dieser vielschichtigen Kultur herauszuarbeiten und zu einem »ground plan of the culture« zu gelangen. F. bieten jedoch immer nur einen Ausschnitt aus vergangenen Lebenswelten. Zu ihrer ethnologischen und sozialwissenschaftlichen Analyse reicht bloßes Betrachten des Abgebildeten in der Regel nicht aus. Vielmehr sind dazu zusätzliche, aus anderen schriftlichen oder mündlichen Erzählungen (oral history) gewonnene Informationen notwendig. Darüber hinaus bedürfen F. als visuelles Medium, ebenso wie schriftliche Quellen, der Quellenkritik, d. h. u. a., daß ihre Entstehungsbedingungen und die Perspektive des Fotografen, sein »fotografischer bzw. ethnografischer Blick« reflektiert werden müssen. Welche Interessen leiten den Fotografen? Worauf konzentriert er seinen Blick? Was spart er aus? Welche Inzenierung liegt vor? Welche z. T. unbewussten kulturellen Implikationen müssen bedacht werden? Außerdem können heute F. nachträglich manipuliert werden (was gar nicht so selten vorkommt, wie bereits der frz. Historiker Alain Jaubert gezeigt hat), um z. B. bestimmten politischen Zwecken zu dienen. Bei der Wiederherstellung ihrer »Wahrheit« ist der sachkundige Blick des Historikers unverzichtbar. In der interkulturellen Begegnung wird bekanntlich sehr viel fotografiert und gefilmt (vgl. Hahn & Kagelmann, 1993:447ff; zu den Medientheorien vgl. Hörisch, 2010:205ff) Die Afrobrasilianer in den Fotografien: In Brasilien wurde die Fotografie im Jahre 1840 von Louis Compte eingeführt (vgl. Ferrez, 1985:17ff; nach Kossoy, 1983:870 f, war es Hercule Florence im Jahre 1832; so auch Kümin, 2007:35ff). Es existieren gegenwärtig bereits einige wertvolle Sammlungen von Fotografien der Afrobrasilianer aus der Sklavereizeit des 19. Jh.s

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(z. B. Freyre, 1983; Ferrez, 1985; Ermakoff, 2004) und eine Ikonografische Sammlung in der Biblioteca Nacional (RJ). Pierre Fatumbi Verger (1902 – 1996) hat eine Fotosammlung mit über 60.000 Negativen hinterlassen (vgl. Fundażo/Stiftung Pierre Verger). Wir geben im Folgenden kommentarlos einige Beispiele aus dem fotografierten Sklavereialltag des 19. Jh.s: Rückentrageweise der Säuglinge (Ermakoff, 2004:176, 233) Amas-de-leite (Freyre, 1983:16 f, 66) Amas-de-leite und Bab‚s (Ermakoff, 2004:98 – 103) Escrava dom¦stica (Ermakoff, 2004:161 – 163) Rauchende Fruchtverkäuferin in Rio de Janeiro ca. 1870 (Ermakoff, 2004 :191) Schuhputzer (Ermakoff, 2004:160) Marktfrauen (Ermakoff, 2004:142 f) Cesteiro (Ermakoff, 2004:137) Rendeiras (Ermakoff, 2004:151) Lavadeiras (Ermakoff, 2004:61) Carregadores (Ermakoff, 2004:72 f) Sklave mit berimbau (Ermakoff, 2004:66) Cafun¦ (?) (Ermakoff, 2004:150) KaffeeernterInnen (Ermakoff, 2004:46ff, 114 f) Garimpeiros (Ermakoff, 2004:26, 28, 35) Mineiros (Ermakoff, 2004:31, 33) Congada (Ermakoff, 2004:111 – 13) Soldaten (Ermakoff, 2004:80 – 83) Escravos presos (Ermakoff, 2004:21) Revolta da armada (1893 – 94) (Ermakoff, 2004:166 f) Casa interracial e fam†lia (ca. 1900) (Ermakoff, 2004:92)

Eine Liste der in Brasilien im 19. Jh. tätigen Fotografen findet man in Kossoy (1980:103 – 121). Pierre Vergers Werk »Orix‚s« (1981) enthält wertvolle Fotografien zum afrobrasilianischen Synkretismus und der !Initiation. Ein bekannter bras. Fotograf der Gegenwart ist Walter Firmo (*1937), der bereits viele internat. Preise gewonnen hat und Direktor des »Instituto Nacional de Fotografia« war. Er hat seit 1968 seine besondere Aufmerksamkeit den Afrobrasilianern zugewandt. Der gegenwärtig berühmteste bras. Fotograf ist Sebasti¼o Salgado (*1944), der durch seine eindrucksvollen Fotografien aus der Arbeitswelt (z. B. garimpeiros in den Goldminen der Serra Pelada) bekannt wurde. !Film !Ikonografie der Sklaverei G. Bateson & M. Mead (1942): Balinese character. A photographic analysis. New York; W. Hirschberg (1968): Der Quellenwert früher ethnographischer Bilddokumente. Anthropos, 63; P. Bourdieu et al. (Hrsg.) (1983): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt/M.; B. Kossoy (1980): Origens e expans¼o da fotografia no Brasil s¦c. XIX. Rio de Janeiro; Fotografie Lateinamerika von 1860 bis heute. Katalog von

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E. Billeter. Zürich, 1980; P. Verger (1981): Orix—s. Salvador; H. L. Hoffenberg (1982): Nineteenth-century South America in photographs. New York; B. Kossoy (1983): Fotografia. Em: W. Zanini (coord.), Histûria da arte no Brasil. Vol. II, S¼o Paulo, p.867ff; G. Freyre et al. (ed) (1983): O retrato brasileiro: fotograf†as da coleżo Francisco Rodrigues, 1840 – 1920. Rio de Janeiro; G. Ferrez (1985): A fotografia no Brasil (1840 – 1900). Rio de Janeiro; G. Spitzing (1985): Foto-Psychologie. Weinheim; R. Husmannn (Hrsg.) (1987): Mit der Kamera in fremden Kulturen. Emsdetten; G. Ferrez (1988): Bahia. Velhas fotografias (1858 – 1900). Salvador; P. C. Azevedo & M. Lissovsky (orgs.) (1988): Escravos brasileiros do s¦c. XIX na fotograf†a de Christiano Jr. S¼o Paulo: Ex Libris; C. Kubruski (1988): O que ¦ fotografia. S¼o Paulo; Der geraubte Schatten. Photographie als ethnographisches Dokument. Haus der Kulturen. Katalog. Berlin, 1989; S. Olszewski Filha (1989): A fotografia e o negro na cidade do Salvador (1840 – 1914). Salvador: Fund. Cultural do Estado da Bahia; Die ethnographische Linse. Photographien aus dem Museum für Völkerkunde. Katalog, 1989; Über die Wichtigkeit der Bewahrung photographischer Kulturzeugnisse. Teil 1 + 2. Zeitschrift für Kulturaustausch, 40. Jg., 3+4, 1990; J. Collier & M. Collier (1992): Visual anthropology – Photography as a research method. Albuquerque; E. Edwards (ed.) (1992): Anthropology and photography 1860 – 1920. New Haven; H. Hahn & H. J. Kagelmann (Hrsg.) (1993): Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. München; Kunstmuseum Wolfsburg (Hrsg.) (1999): Brasilianische Fotografie 1946 – 1998. Wolfsburg (mit Bibliografie); DU: Im Sert¼o. Eine brasilianische Begegnung. DU (Zürich), März 2000 (viele schwarz-weiß-Fotos); P. Karp Vasquez (2000): Fotûgrafos alem¼es no Brasil do s¦c. XIX. Deutsche Fotografen des 19. Jh.s in Brasilien. S¼o Paulo: Metalivros; B. Kossoy (2002): Dicion‚rio Histûrico- Fotogr‚fico Brasileiro. Instituto Moreira Salles (SP); H. Wolf (Hg.) (2003): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd.1. Frankfurt/M.; G. Ermakoff (2004): O negro na fotografia brasileira do s¦c. XIX. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006). Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; B. Kümin (2007): Expedition Brasilien. Von der Forschungszeichnung zur ethnografischen Fotografie. Bern; J. Hörisch (2010): Theorie-Apotheke, 2010; Zeitschriften: Visual Anthropology, Visual Anthropology Review

Frau A mulher nos pús no mundo; Por isso nûs somos seres humanos. A mulher ¦ a inteligÞncia da terra Dobrem os joelhos para a mulher. Pierre Verger, 1979

Soziale Stellung und Rolle der afrobrasilianischen Frau: Wichtig ist es zu erwähnen, daß bisher immer noch relativ wenige Arbeiten über Afrobrasilianerinnen vorliegen. In den aktuellen brasilianischen statistischen Erhebungen werden die Afrobrasilianer (in ihrer Gesamtheit), und die Frauen

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im besonderen quasi ignoriert, da spezifische Fragen nach dem Zusammenhang zwischen !Hautfarbe, Geschlecht und anderen relevanten sozio-ökonomischen Indikatoren nicht gestellt werden und somit die sozialen Gegebenheiten dieser ethnischen Gruppe weiterhin unbekannt und »verdeckt« bleiben. Eine Tatsache ist jedoch, daß die Afrobrasilianerinnen einer dreifachen Diskriminierung unterworfen sind, nämlich weil sie Frauen, »Schwarze« in einer sie diskriminierenden Gesellschaft und in ihrer Mehrzahl arm sind. Außerdem unterliegen sie zahlreichen Bedingungen, die innerhalb der brasilianischen Gesellschaft sehr wichtig sind wie beispielsweise oftmals Nicht-Christin zu sein, unverheiratete Mutter oder in einer Beziehung zu leben, die weder durch die Kirche noch vom Staat legitimiert ist etc., was ihnen die Last des sozialen Alltags noch zusätzlich erschwert. Zur Sozialhistorie der Afrobrasilianerinnen: Am Anfang der afrikanischen !Sklaverei in Brasilien haben die afrikanischen Sklavinnen kaum eine Rolle gespielt. Sie waren während der ganzen Sklavereizeit hindurch zahlenmäßig unterrepräsentiert. Der »Import« afrikanischer Frauen beabsichtigte in erster Linie die Unterzahl der Frauenbevölkerung in der Kolonie zu erhöhen, was u. a. bedeutete, daß sie als sexuelle Lösung für die weißen Männer fungieren sollten. Darüberhinaus war auch die Geburtsratenerhöhung ein wichtiges Motiv dieses geplanten Frauenimports. Sie mußten die Männer befriedigen und gleichzeitig das Patrimonium ihrer Herren mit der Geburt von Kindern vergrößern. In diesem Rahmen war das Leben der Sklavinnen durch gewaltsame Trennungen von ihren Familien- und Stammesmitgliedern, Nötigung, Vergewaltigung und harte !Strafen gekennzeichnet. Ihr Wert war im Allgemeinen niedrig, dies läßt sich auch an ihrem Einkaufspreis erkennen, der viel niedriger als der eines Sklaven war. Sie gehörten deshalb meistens kleinen, ärmeren Besitzern bzw. Besitzerinnen. Ihr Bild stand in der Sklavereimentalität im Gegensatz zu dem der weißen Frauen. Sie wurden als Kindesmörderinnen (obwohl die Sklavinnen in allen Widerstandsbewegungen auch aktiv teilnahmen, waren der Infantizid und die Abtreibung, und damit ihr Reproduktionsverzicht auch eine Art weiblichen Widerstandes, sowohl auf den »fazendas« und »engenhos« auf dem Lande als auch in den Städten. Die Sklavinnen wollten hierdurch ihren Kindern das Sklavenlos ersparen), als unmoralisch, als »Heidinnen« und als »erotisch« bezeichnet, dabei sollte man aber nicht vergessen, daß die Hautfarbe als erstes Attribut zu dieser Differenzierung diente, da sie ihre soziale Stellung determinierte. Die afrikanischen bzw. afrobrasilianischen Sklavinnen waren hauptsächlich in drei Hauptarbeitsbereichen tätig, nämlich in der Plantagenarbeit, in der Hausarbeit und als freigewerbliche Sklavinnen. Die Sklavinnen wurden auch massiv in der Plantagenarbeit eingesetzt als die soge-

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nannten »escravas de eito«. Nach der ersten brasilianischen Volkszählung des Jahres 1872 waren 43 % der Sklavinnen auf den Plantagen tätig, was ohne Zweifel ihre Lebensbedingungen insgesamt erschwerte: schlechte Ernährung, anstrengendere Arbeit, schwere Bestrafungen, häufige Schwangerschaften und Fehlgeburten. Für die Hausarbeit im Hause der Sklavenbesitzer als »escrava dom¦stica« wurden Sklavinnen ausgewählt, die die »positivsten Eigenschaften« besaßen, darunter verstand man die schönsten, saubersten, zuverlässigsten und hierbei orientierte man sich ebenfalls an der Tönung der !Hautfarbe, da sie mit der weißen Familie zusammen im Haus leben sollten. Die Haupttätigkeiten dieser Haussklavinnen waren die Kinderbetreuung, »ama-de-leite« (=Amme), »mucama« (=Zimmerfrau), »dama de companhia« (=Begleiterin), Kochen (escrava dom¦stica, escrava cozinheira, escrava copeira), Waschen (escrava lavadeira), usw. Viele dieser Frauen mußten auf die eigene Familie und Kinder verzichten, um die Sorge für die Besitzerfamilie zu übernehmen. Häufig wurden ihnen ihre Kinder durch den Besitzer geraubt und die Kinder ein paar Tage nach der Entbindung von der Mutter separiert. Die Kinder wurden dann ausgesetzt, verkauft oder Institutionen (roda dos expostos) als Waise übergeben (!Sklavenkindheit). Die Gründe dafür waren entweder das Interesse der Herren, daß die Sklavin als »ama-de-leite« den Säugling der Herrin stillen und sich um ihn kümmern sollte oder daß sie vermietet werden sollte, um andere Kinder für ein paar Jahre zu stillen. In diesem Zusammenhang wird es ganz deutlich, welch bedeutende psychologische Rolle die schwarzen Frauen während der Sklaverei – und noch bis heute – für die frühe Kindheit der weißen Kinder gespielt haben müssen. Sie waren die wichtigsten Bezugspersonen dieser Kinder in moderner wie traditioneller Hinsicht. Sie waren diejenigen, die den weißen Kindern die Sprache beigebracht haben, die !Mythen, Märchen und Kindergeschichten erzählten, Schlaflieder sangen und ihnen Zärtlichkeit und Mutterliebe gaben. Um das psychische Wohlbefinden dieser Kinder zu ermöglichen, waren sie gezwungen auf ihre eigenen Kindern zu verzichten, sowohl was die psychische Entwicklung betraf, aber auch bezüglich des körperlichen Wohlbefindens. Aus diesem Zustand ist das romantische Bild der liebevollen »m¼e-preta« (=Schwarze-Mutter) entstanden, eine Mutter, die die Mutterrolle ihrer eigenen Kinder nicht übernehmen durfte. Obwohl die städtischen Sklaven nur eine Minderheit im Gesamtbild der brasilianischen Sklaverei darstellten (nur ca. 10 %) und deshalb atypisch für dieses sozio-ökonomische System waren, bildeten die freigewerblichen Sklavinnen die »escravas de ganho« denoch eine wichtige Gruppe für das Verständnis und die Herausbildung der urbanen Zentren. Diese so häufig durch die europäischen Maler des 19. Jh.s abgebildeten Sklavinnen mußten ihren Unterhalt und den ihrer Besitzer verdienen mit dem Verkauf unterschiedlicher Waren. Sie waren verpflichtet dem/der Besitzer/in am Ende des Tages, der Woche oder des Monates ein festes Gehalt abzuliefern. Diese

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Sklavinnen trugen überhaupt von dem Übergang der Frauenarbeit zu dem der freien Arbeiterinnen bei, da viele von ihren durch den Straßenverkauf ihre ! »alforria« (=Freiheitsbrief) kaufen konnten. Gegen Ende der Sklaverei wurde jedoch ihre völlige Ausschließung von den neuen Arbeitsverhältnissen und der sozialen Eingliederung deutlicher : Man kaufte lieber von einer weißen Einwanderin auf der Straße Nahrungsmittel oder andere Produkte als von ExSklavinnen. Werte wie Sauberkeit, Hygiene, etc. wurden dann mit der Helligkeit der Hautfarbe und sozialen Stellung gleichgesetzt. Noch erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die große soziale Verantwortung der Afro-Frauen während der gesamten Sklavereizeit, denn sie waren für das Überleben ihrer Familie und Stammesmitglieder, d. h. ihrer engsten Gemeinschaft verantwortlich und erfüllten außerdem noch ihre Rolle als Trägerinnen der afrikanischen kulturellen und religiösen Traditionen. Sowohl auf dem Lande als auch in den Städten waren sie diejenigen, die ihr Wissen über Heilkunst, !Phytotherapie, !Gebete, !Ahnen(kult), etc. behalten und aktiviert haben. Ihr Handel mit – oftmals verbotenen- Objekten wie Messer, Salz, !Tabak, Olivenöl und rituellen Tieren erlaubte ihnen im Stadtbereich die religiösen Traditionen weiterzuführen, da sie ebenfalls die Möglichkeit zu Gemeindekontakten besaßen. Aktuelle Situation: Nach der Abschaffung der Sklaverei (1888) blieben die Afro-Frauen weiterhin die Hauptstütze ihrer Familien und Gemeinden. Da die Afro-Männer auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen erhielten, waren die Frauen diejenigen, die solche Tätigkeiten übernahmen, die sie vor dieser Phase bereits ausgeübt hatten, z. B. der Straßenverkauf oder die bezahlte Hausarbeit, die heute immer noch eine der Haupttätigkeiten der Afrobrasilianerinnen ist. Z. B. umfaßten im Jahre 1980 die !»empregadas dom¦sticas« (=Hausarbeiterinnen) in Brasilien in den offiziellen Statistiken über ca. 20 % der gesamten ökonomischen aktiven weiblichen Bevölkerung. Innerhalb dieses Umfangs sind in den urbanen Zentren der Südostregion ca. 70 % dieser Berufstätigen Afrobrasilianerinnen (vgl. Santos-Stubbe, 1995). Dies ist ein Relikt der Sklavereizeit! »Die Afrobrasilianerinnen, die Niedrigsten unter den Niedrigen«, wie sie die US-amerikanische Historikerin Hahner (1976:119) bezeichnet, stehen in der Tat in allen sozio-politisch-ökonomischen Sektoren der brasilianischen Gesellschaft an der letzten Stelle. Als Teil der unterprivilegierten Masse der afrobrasilianischen Bevölkerung sollten sie hervorgehoben werden als diejenigen, die am meisten diskriminiert und unterprivilegiert werden, die verkauft und exportiert werden und die als Hauptopfer unter der Ideologie des »branqueamento« (=Weißwerdung) leiden. Aber anderseits sind sie immer noch die Haupter-

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nährerinnen ihrer Familien, verantwortlich für den Unterhalt des kommunalen Lebens und die obersten Priesterinnen der afrobrasilianischen !Religionen (babalorix‚). Daß Frauen in Brasilien in allen möglichen Berufsgruppen repräsentiert sind, steht außer Frage, aber welche Frauen in welchem Beruf zu finden sind, das wäre doch eine wesentliche Frage, da sowohl die geschlechtsgebundene als auch die »rassische« !Diskriminierung noch am deutlichsten auf dem Arbeitsmarkt festzustellen ist. Es gibt immer noch beispielsweise kaum afrobrasilianische Bankangestellte, Rezeptionistinnen oder hohe Offiziere im militärischen Apparat. Im Gegensatz dazu finden wir sie überwiegend bei der Ausübung von Tätigkeiten wie Müllfrauen bzw. Straßenkehrerinnen, als Putzfrau bei Firmen, als Soldaten(-innen) bei der (Militär-) Polizei und als Hausangestellte. Die Unterrepräsentativität der Afrofrauen in den technischen und wissenschaftlischen Berufen ist nicht zu übersehen, obwohl die Gesamtheit der Frauen in diesen Bereichen sich allgemein ständig erhöht. Die erhobenen offiziellen Daten zeigen uns z. B., daß 16,8 % der beschäftigten Frauen in diesen Bereichen weiße Frauen sind, 17,6 % Asiatinnen und dagegen nur 4,9 % Afrobrasilianerinnen. Praktisch bedeutet dies, daß die Afrobrasilianerinnen in dem formalen geistigen Leben des Landes bisher ihren Beitrag nicht leisten können. Afrobrasilianische Professorinnen, Richterinnen oder Computer-Expertinnen sind so gut wie nie zu finden. Die Unterbewertung der Afrobrasilianerinnen auf dem Arbeitsmarkt ist deutlich zu erkennen, egal, ob wir sie mit weißen Frauen oder mit schwarzen Männern vergleichen. Trotz des Rückgangs der beschäftigten Frauen in der Landwirtschaft seit den 60er Jahren (im Jahre 1960 waren es 30,1 % Frauen und im 1980 nur noch 14,8 %) finden wir eine überproportionale Anzahl von Afrobrasilianerinnen, die in diesem Sektor tätig sind, nämlich 9,6 % weiße Frauen und 34,9 % Afrobrasilianerinnen, in einem Bereich also, wo die Infrastruktur sehr prekär ist und wo die Arbeiter/innen in der Regel noch ohne jegliche soziale Absicherung arbeiten und sehr schlecht bezahlt werden. Tatsächlich repräsentativ für die Stellung der Afrobrasilianerinnen auf dem Arbeitsmarkt sind die Daten des informellen Sektors. Hier finden wir wiederum die überwiegende Mehrzahl von afrobrasilianischen Frauen tätig. Sie bilden 56,4 % dieses Sektors gegenüber 24,2 % der weißen Frauen. Wir können daraus ableiten, daß die Mobilität und hohe Repräsentativität der Afrobrasilianerinnen auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich von dem Primärsektor zu dem niedrigen tertiären geht, der mit dem Urbanisierungsgrad gekoppelt ist. Charakteristisch für den tertiären Sektor ist das geringe Ausbildungsniveau der Beschäftigten, die niedrigere Bezahlung, die schlechteren Arbeitsbedingungen, die geringere Arbeits-sicherheit und das Fehlen von Sozial- und Gesundheits-Versicherung; Faktoren, die eng mit dem Nichtvorhandensein eines regulären Arbeitsvertrags zusammenhängen. Auch hier ist ein Unterschied festzustellen bezüglich der

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Prozenzahl von weißen und schwarzen Frauen, die einen unterschriebenen Arbeitsvertrag besitzen: die ersteren mit ca. 30,9 % gegenüber den Afrobrasilianerinnen mit nur 22,4 %, trotz ihrer Mehrzahl in diesem Sektor. Untersuchungen zeigen beispielsweise, daß 45,2 % der im tertiären Sektor beschäftigten Afrobrasilianerinnen weniger als einen halben Minimal-Lohn (ca. 60 U$) monatlich erhalten gegenüber 36,8 % der weißen Frauen (IBASE, 1989, S.46). In ihrer größten Mehrzahl leiden sie noch ständig unter fristloser Kündigung und haben selten Recht auf Ferien, Sozial- und Gesundheits-versicherung, Lohnerhöhung, etc. Wir können hier feststellen, daß die Afrobrasilianerinnen diejenigen Stellen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt besetzen, die nicht gut genug für die weißen und asiatischen Frauen sind. Die bisher eingeführten statistischen Daten deuten bereits auf ein klares Problem innerhalb der Kategorie Frau hin, nämlich die !Hautfarbe. Dies wird noch deutlicher, wenn festgestellt wird, daß die geschlechtsspezifische Ungleichheit zwischen afrobrasilianischen Männer und afrobrasilianischen Frauen geringer ist als zwischen den Frauen mit unterschiedlichen Hautfarben, wenn beide Gruppen verglichen werden. Auf dem niedrigsten Ausbildungs-niveau, d. h. Personen ohne oder bis zu einem Jahr Ausbildung, finden wir 56,8 % afrobrasilianische Männer gegenüber 65 % Frauen (8,2 % Unterschied). Bei einem hautfarbebezogenen Vergleich finden wir auf dem untersten Niveau 25,6 % weiße gegenüber 48,6 % schwarzen Frauen (23 % Unterschied). Diese beträchtliche Ungleichheit zwischen weißen Frauen und Afrobrasilianerinnen zeigt sich in allen Sektoren und Niveaus stärker als die Geschlechtsungleichheiten innerhalb der afrobrasilianischen Gruppe. Die untere Grafik verdeutlicht den Bildungsunterschied hinsichtlich Hautfarbe und Geschlecht. Anhand der oberen Daten wird deutlich wie stark die Afrobrasilianerinnen in allen Bereichen der modernen brasilianischen Gesellschaft diskriminiert werden. Die hier dargestellten spezifischen Probleme der Afrobrasilianerinnen sind nicht nur entstanden, weil sie Frauen und deshalb einer geschlechtsbezogenen Diskriminierung ausgesetzt sind, sondern deutlich auch, weil sie »schwarz« sind und sich aus der Sklaverei herleiten. Zusätzliche Aspekte ihrer Situation: Rassische !Diskriminierung, Patriarchalismus sowie die existierenden ökonomischen Grundsätze des Neo-Liberalismus gekoppelt mit einem »wilden« Kapitalismus (capitalismo selvagem) sind kausale Elemente für die Benachteiligung der afrobrasilianischen Frauen innerhalb der brasilianischen Gesellschaft. In diesem ökonomischen System leiden sie bereits am Verlust ihrer Kindheit: 80 % der afrobrasilianischen Frauen fangen in der Arbeitswelt im Alter von unter 15 Jahre an. Sie werden ebenfalls entsprechend früh Mütter – das

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Problem der Kindermutterschaft betrifft in erster Linie Afrobrasilianerinnen, auch die Abtreibungsraten sind dementsprechend hoch. Abtreibungen werden oftmals auch ohne Wissen der Frau von Ärzten im Vorgang der Entbindung durchgeführt. In ihrer Sexualität werden sie oftmals nicht respektiert. Sie werden als Slogan der freien sexuellen Beziehungen in Brasilien dem Ausland vorgezeigt, was u. a. eine gezielte Prostitution dieser Frauen und häufige Nötigung verursacht, ohne daß wir dabei vergessen sollten, daß afrobrasilianische Mädchen von der Kinder-prostitution und dem Verkauf überhaupt am stärksten betroffen sind. Ebenfalls in der Arbeitssphäre werden sie sehr häufig nicht genügend respektiert, auch nicht hinsichtlich ihrer Sexualität. Da man mit einer afrobrasilianischen Frau eine geringe Verantwortungshaltung verbindet (was sich im Sprachgebrauch durch Sätze wie »neguinha gostosa« (= schmackhafte kleine »Negerin«), !»mulata«, »neguinha suja« (= schmutzige kleine »Negerin«), etc, und in verschiedenen !Sprichwörtern bereits ausgedrückt findet. Auch sind ihre Heiratschancen geringer als die der Frauen mit helleren Hautfarben, oder anders gesagt, umso heller eine Afrobrasilianerin ist, desto höher ist ihre Chancen auf eine Ehe bzw. eine feste Partnerschaft. Wir finden aufgrunddessen eine hohe Prozentzahl (48,5 %) der Afro-Frauen in ganz Brasilien, die ihre Kinder ohne Partner großziehen. Diese verdienen aber in 71,6 % der Fälle maximal nur bis zu 3 Minimal-Löhne im Vergleich zu den weißen Frauen in derselben Situation, die in nur 54 % der Fälle so schlecht verdienen (vgl. IBASE, 1989). Die generelle Situation der Afrobrasilianerinnen und ihr Kampf gegen die Diskriminierungen, die sie so sehr betreffen, sind durchgehende Themen der modernen afrobrasilianischen Schriftstellerinnen. Sie bringen in ihrer Lyrik und Prosa die Traumata eine schwarze Frau und arm zu sein zu Sprache, auch die Bewußtseinswerdung ihrer Personen, ihren »Schönheitsdruck«, unter dem sie so zu leiden haben (Stichworte sind hier das »krause !Haar«, das wie bei den Weißen glatt gemacht werden soll, um durch die Übernahme der weißen Ästhetik die eigene Akzeptanz zu erhöhen oder der Po (bunda) und der Busen, die in den Phantasien der Männer unterschiedlicher ethnischer Herkunft mit einer übermäßigen Erotik der Afro-Frauen in Verbindung gebracht wird, etc.), sowie ihre gesellschaftliche Partizipation und ihre religiöse Betätigung. Es ist eine Literatur, die den Afrobrasilianerinnen zu einem Impuls verhelfen will und sie auch historisch einzubinden sucht. Die Afrobrasilianerinnen und die Frauenbewegung: Im Jahre 1932 endete der Kampf der brasilianischen Frauen für ihr Wahlrecht. Bereits 3 Jahre später, 1935 (Constituinte) und 1947 wurde die Lehrerin Antonieta de Barros (1901 – 1952) (auch: »Maria da Ilha«) gewählt als die erste

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F Alphabetisierungsniveau von Personen von 10 Jahren oder me hr nach Hautfarbe und Geschlecht für ganz Brasilien

100 90 80 70 60 %

Männer

50

Frauen

40 30 20 10 0 Gesamte Bevölkerung

Schwarz Weiß

Parda

Gelb & ohne Angaben

Graphik 3 Quelle: IBGE, 1989

»schwarze« Bundesabgeordnete des Landes. Sie vertrat das Bundesland Santa Catarina im Süden des Landes (vgl. z. B. Lopes, 2006:20). Zuvor und danach nahmen afrobrasilianische Frauen aktiv an der Bewegung der Frauen, die oftmals eine Bewegung für allgemeine Gerechtigkeit war teil. Dennoch gehören die Afro-brasilianerinnen nie richtig dazu, d. h. zu der brasilianischen Frauenbewegung, die von weißen Frauen aus der Mittel- und Oberschicht ideologisch konzipiert wird. Es ist eine Tatsache, daß die grundlegenden Fragen der brasilianischen Frauenbewegung sich nur am Rande mit der Problematik der Afrobrasilianerinnen beschäftigt, da u. a. in diesen Gremien die »rassische« !Diskriminierung zwar angesprochen, aber nicht bekämpft wird. Weiße Frauen aus den oberen sozio-ökonomischen und Bildungsschichten, haben eine sichtbare Ausgangsbasis für ihre Diskussion, da fast alle von ihnen eine »Vertreterin« zu Hause haben, wenn sie Frauenfragen diskutieren, nämlich die afrobrasilianische !empregada dom¦stica, die in verschiedener Hinsicht in dieser Tätigkeit den Grad ihrer Ausbeutung und Diskriminierung verdeutlicht. In diesem Sinn müssen wir hier die grundsätzliche Frage vieler afrobrasilianischer Frauen zum Ausdruck bringen, nämlich, ob die weiße Frau sich emanzipieren kann, weil sie sich eine schwarze Frau leisten kann, die sie schlecht bezahlt und ausbeutet und die für sie die Hausfrauenrolle übernimmt in einer Gesellschaft, in der es keine familiäre Arbeitsteilung gibt, während sie selbst eine gut bezahlte Berufstätigkeit ausübt, studieren kann, etc. In der Zeit, in der die weiße Frau aus der Elite für die ideologische Emanzipation ihrer eigenen Berufstätigkeit kämpft, geht die große

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Mehrzahl der Afrobrasilianerinnen für sie arbeiten: Dies ist für die letzteren jedoch weder Ideologie noch !Emazipation; sie müssen arbeiten, um ihre Familie zu ernähren und um zu überleben. Hunger, Gewalt, Unterbezahlung, die oftmals erzwungene Rolle der alleinstehenden Mutter mehrerer Kinder, schlechte Wohnbedingungen, !FavelaLeben, !Migration, etc. sind grundsätzliche Fragen der Afrobrasilianerinnen, die sie bewegt haben, in !Organisationen wie den »associaÅþes de moradores« (= Einwohnerversammlung), »associaÅþes de favelados« (= Favela-Bewohnerversammlung), »ligas camponesas« (= Landwirtschaftliche Gremien), »Sindicato der Empregadas Dom¦sticas« (= Gewerkschaft der Hausarbeiterinnen), in dem »Movimento Negro Unificado« (MNU) und in andere afrobrasilianische Bewegungen einzutreten und sich im Allgemeinen aber als Frauen zu organisieren. Daraus entstanden neue Fragestellungen für diese Frauen, die nicht im Einklang mit den Grundfragen »der anderen« Frauenbewegung standen. Aus dieser Auseinandersetzung mit den verschiedenen Realitäten und gegenwärtigen Zielen bildeten afrobrasilianische Frauen aus unterschiedlichen Bereichen auf dem Lande, aber hauptsächlich im städtischen Raum Frauengruppen zu einer afrobrasilianischen Frauenbewegung bzw. afrobrasilianischen feministischen Bewegung. Das Hauptziel der Organisierung der Afrobrasilianerinnen war eine ethnische Trennung zu bewirken, obwohl es eine Tatsache ist, daß kaum afrobrasilianische Frauen am Anfang der Organisierung der zahlreichen »weißen« Frauengruppen eingeladen noch miteinbezogen wurden, was immer noch festzustellen ist. Ein weiterer Grund der Afrobrasilianerinnen war mitunter auch das Bestreben sich als eigenständige Frauengruppe zu behaupten, die auf allen Ebenen »dieselbe Sprache sprechen«, die dieselbe Realität teilen, die dieselben gesellschaft-lichen Vorraussetzungen haben. Seit Anfang der 80er Jahre erweitert sich die Anzahl der Gruppierungen und !Organisationen afrobrasilianischer Frauen (Aqualtune, 1979; Luiza Mahin, 1980; Grupo de Mulheres do Rio de Janeiro, 1982; Nzinga/Coletivo de Mulheres Negras, 1983, etc.) ständig. Sie organisieren Kongresse auf regionaler und nationaler Ebene und tauschen ihre Probleme, Grundfragen und Vorschläge für eine Gesellschaftsveränderung und für die Beseitigung des »machismo«, Rassismus, Kapitalismus und Sexismus, unter denen sie am stärksten zu leiden haben, auf internationalen Frauenkongresse z. B. Peking aus. Die Afrobrasilianerinnen besitzen außerdem eine unermeßliche Bedeutung innerhalb der afrobrasilianischen Gemeinden, was ihnen Ehre und Respekt durch Schwarze und Weiße, Reiche und Arme verleiht, nämlich durch ihr religiöses Wissen und ihre Macht in der Vermittlung zwischen den orix‚s und den Menschen, was für den Halt der Afrobrasilianer vom Anfang ihrer !Geschichte bis in die Gegenwart überliefert wurde. Dennoch, solange die »rassische« Benachteilung der Afro-Bevölkerung Brasiliens nicht tatsächlich

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aufgehoben ist, werden die Afrobrasilianerinnen immer noch ein Stück mehr benachteiligt sein als die anderen Mitglieder der Gesellschaft. !Anhang !Baianas !Bibliografien !empregadas dom¦sticas !Ethnoästhetik !Gesundheit !Haar !Kinder !»mulata« !Reiseberichte !Samba !Schönheitsoperationen !Sklavenkindheit !Sprache !Tanz !Vorurteile Ch. Expilly (1935): Mulheres e costumes do Brasil. S¼o Paulo; M. C. de Jesus (1968): Tagebuch der Armut. Frankfurt/M.; N. Rissone (1968): Quem libertou a mulher negra? In: Cadernos Brasileiros, Nr. 3, 47, ano 10, S. 139 – 148; S. Rabelo et al. (1969): Participażo da mulher no mercado de trabalho. Recife; A. dos Santos Moraes (1971): Hero†nas do romance brasileiro. Rio de Janeiro; H. Studart (1974): Mulher. Objeto de cama e mesa. Petrûpolis. (19. ed.,1989); R. Bastide (org.) (1974): La femme de couleur en Am¦rique Latine. Paris: Anthropos; I. del Nero da Costa (1977): Vila Rica: Casamentos (1727 – 1826). Revista de Histûria (SP), 56(111), p. 195 – 208; J. E. Hahner (1978): A mulher no Brasil. Rio de Janeiro; Fundażo Carlos Chagas (ed.) (1979, 1981): Mulher brasileira. Bibliografia anotada. 2 vol.s. S¼o Paulo; A. R. J. Russel-Wood (1979): The black family in the Americas. Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas (Köln), 16, S. 267 – 309; E. Gianini Belotti (1979): Educar para a submiss¼o. Petrûpolis; B. Moreira Alves (1979): Ideologia & feminismo. A luta da mulher pelo voto no Brasil. Petrûpolis; I. A. Cardoso (1980): Mulher & trabalho. S¼o Paulo; M. I. d’Avila Neto (1980): O autoritarismo e a mulher. Rio de Janeiro; F. V. Luna & I.del Nero da Costa (1981): Vila Rica. Nota sobre casamentos de escravos (1727 – 1826). Ýfrica (SP), 4, p. 105 – 109; E. Vasconcellos Leit¼o (1981): A mulher na l†ngua do povo. Rio de Janeiro; R. Glasgow (1982): Nzinga. ResistÞncia Africana — investida do Colonialismo portuguÞs em Angola, 1582 – 1663. S¼o Paulo; P. E. Lovejoy (1982): The volume of the Atlantic slave trade: a synthesis. Journal of African History (London), 23(4), p. 473 – 501; P. Montero et al. (1982): O lugar da mulher. Rio de Janeiro; M. L. Moreira Leite et al. (1982): A mulher no Rio de Janeiro no s¦c. XIX. Um †ndice de referÞncias em livros de viajantes estrangeiros. S¼o Paulo: Fund. C. Chagas; I. Stein (1983): As figuras femininas nos romances de Machado de Assis. Phil. Diss. Bonn; M. A. Duran (1983): A dona-de-casa. Rio de Janeiro; H. Saffioti (1984): Mulher brasileira: opress¼o e explorażo. Rio de Janeiro; L. Boltanski (1984): As classes sociais e o corpo. Rio de Janeiro (3.ed.); E. R. von Buettner & H. Fichte (1985): Baianas. St. Gallen; M. da Glûria Marcondes Gohn (1985): A forÅa da perifer†a. A luta das mulheres por crÀches em S¼o Paulo. Petrûpolis; S. Carneiro (1985): Mulher negra. In: S. Carneiro, Th. Santos & A. G. de Costa (ed.s), Mulher negra; Pol†tica governamental e a mulher (S. 1 – 54). S¼o Paulo; Fr. Souza da Silva (1986): Tagebuch eines bras. Dienstmädchens. München (bras. A† de vûs, 1983); IDAC (ed.) (1986): Os direitos da mulher : A empregada dom¦stica. Rio de Janeiro; F. Quintas (1986): Sexo e marginalidade. Um estudo sobre a sexualidade feminina em camadas de baixa renda. Petrûpolis; Th. Linard de Guertechin et al. (1987): Controle da natalidade X planejamento familiar no Brasil. Rio de Janeiro; Peripherie (1988): Frauen: Arbeit Organisation. Peripherie (Berlin), 8. Jg., 30/31; NEM (PUC-RJ) (1988): A mulher como objeto de estudo. Rio de Janeiro (3.ed.); S. M. Giacomini (1988): Mulher e escrava: uma introdużo histûrica ao estudo da mulher negra no Brasil. Petrûpolis; J. F. Motta (1988): Fam†lia escrava: uma incurs¼o pela historiografia. Histûria: Questþes & Debates (Curitiba), 9(16), p. 104 – 159; T. Creusa G. M. Negreiros

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Friedhöfe der Sklaven (cemitérios de escravos) Die Themen Sterben, Tod, Bestattung, !Trauer und F. der Sklavinnen und Sklaven sind bisher wenig systematisch beforscht worden. Schon allein wegen der hohen Morbidität, Mortalität und Kindersterblichkeit der Sklaven ist dieses Thema jedoch forschungsrelevant. Friedhöfe sollten Gedenk- und Erinnerungsstätten sein! Die Sklavinnen und Sklaven wurden oftmals in anonymen Massengräbern verscharrt. So anonym wie sie gelebt hatten, wurden sie auch begraben. Ihre Herren und die Adeligen beerdigte man dagegen bis 1850 in den Kirchen (vgl. Scis†nio, 1997:96, 136 f; Abb.n bei Debret und Rugendas). Jo¼o J. Reis (1991) und Nei Lopes (2006:40) geben einige Hinweise auf »cemit¦rios de escravos«: im Jahre 1694 wurde die »Irmandade da Misericûrdia« damit beauftragt alle Beerdigungen der Sklavinnen und Sklaven in Rio de Janeiro vorzunehmen. Sie nutzte zu diesem Zweck das Gelände hinter dem Hospital, unten am »Morro do Castelo« (heute in der Nähe des »Museu da Imagem e do Som«). Im Jahre 1722 wurde der Friedhof »Cemit¦rio dos Pretos« auf dem heutigen »Largo de Santa Rita« geschaffen und später nach Valongo, der heutigen Rua Pedro Evaristo (Gamboa) transferiert (früher : Rua do Cemit¦rio). Hier wurden im 18. Und 19. Jh. die Sklaven beerdigt, die bei Ankunft (oder vorher) starben (»pretos novos«, vgl. Scis†nio, 1997:96). Im 19. Jh. existierte auf dem heutigen »Largo da Carioca« in Rio de Janeiro ein Friedhof der Sklaven der Franziskaner-Patres. An der Ecke der Av. Presidente Vargas und der Rua dos Andradas existierte ein »Cemit¦rio dos Mulatos«. Manche Hinweise auf F. finden sich schon in den !Reiseberichten: »Nahe bei der Strase Valongo ist der Begräbnisplatz dieser auf immer der Sklaverei entrissnen. Mit meinem Freunde dem Herrn Dr. Schaeffer, der auf seiner Reise um die Welt mit dem russischen Schiff Suwarow, im May 1814 hier einlief, besuchte ich diesen traurerigen Schauplatz. Beim Eintritte in einem mit einer Mauer umgebnen Raum ohngefähr von 50 Quadratruthen, sass ein Greis im Priestergewande und lass in einem Buche, Gebete zum Seelenheil der armen Unglücklichen, die von gefühllosen Menschen, ihrem Mutterlande, ihrem Glücke waren entrissen worden. Ohngefähr 20 Schritte von ihm war ein Schwarzer beschäftiget seine todten Landsleute mit Erde zu bedecken: ohne sich die Mühe zu nehmen, eine Grube zu graben, scharrete er nur etwas Erde über den Toden und fing darauf beim folgenden an. In der Mitte des Raumes war ein Erdhaufen, aus welchem hier und da, die Reste der Toden heraussahen, von denen Regen, die leicht bedekkende Erde abgewaschen hatte. Noch lagen mehrere da, die wahrscheinlich schon lange musten hierher gebracht worden sein. Nackend waren die in eine Matte gewickelt, die am Halse und den Füssen festgebunden war. Wahrscheinlich beerdigt man nur alle Woche einmal und die hergebrachten Toden denn schon grössentheils in Verwesung übergegangen, so ist der Gestank

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zuweilen fürchterlich. – Zulezt wurde man jedoch etwas klüger und verbrannte von Zeit zu Zeit einen Haufen halbverfaulter Toden«, schreibt Freyreiss (1968:95 f) im Jahre 1815. !Ahnen !Ikonografie !Trauer !Reiseberichte !Sklavenkindheit G. W. Freyreiss (1815, 1968): Reisen in Brasilien. Stockholm; J. Ribeiro (s.d.): As festas dos Eguns. Rio de Janeiro; M. Souto Maior (1974): A morte na boca do povo. Rio de Janeiro; J. Ziegler (1977): Die Lebenden und die Toten. Darmstadt (bras. 1977); L.-V. Thomas (1982): La mort africaine. Id¦ologie fun¦raire en Afrique noire. Paris; R. Feijû et al. (org.s) (1982): Death in Portugal. Studies in portuguese anthropology and modern history. Oxford: Jaso; L. F. D. Duarte (1983): De bairros oper‚rios sobre cemit¦rios de escravos: um estudo de construżo social da identidade. Comunicażo (Rio de Janeiro): PPGAS/MN/UFRJ (7); J. de Souza Martins (org.) (1983): A morte e os mortos na sociedade brasileira. S¼o Paulo; H. Stubbe (1983): Verwitwung und Trauer im Kulturvergleich. Mannheim; ders. (1985): Formen der Trauer. Berlin; ders. (1986/87): Tod, Trauer und Verwitwung in der brasilianischen Folklore. Staden Jahrbuch (SP), 34/35, 1986/87, S. 11 – 29; R. M. Cortez Motta (1985): Le syllogisme sacr¦: l’homme, le bouc et la mort dans le candombl¦ br¦silien. Societ¦s (Paris), 5, p. 29– 30; Th. de Azevedo (1987): Ciclo da vida: ritos e mitos. S¼o Paulo; A. Arantes Campos (1988): Notas sobre os rituais de morte na sociedade escravista. Revista do Departamento de Histûria da UFMG, 6, p. 109– 122; J. J. Reis (1991): A morte ¦ uma festa. Ritos ffflnebres e revolta popular no Brasil do s¦c. XIX. S¼o Paulo; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo.

Fußball !Sport

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Gebet Das G. ist eine der typischen religiösen Kommunikationsformen. Mit dem G. wendet sich der Mensch, ob laut, leise, wortlos, rein gedanklich, als Einzelner oder in Gruppen, an Gott, die Götter (orix‚s) oder die Heiligen. Im Allgemeinen zielt das G. nicht auf das Erscheinen der Gottheit (Epiphanie) ab. Das G. kann sich in einer Vielfalt von Motiven, Emotionen, Bewäl-tigungsweisen, Psychotechniken und Bewusstseinszuständen vollziehen. Ausdrucks-psychologisch zeigt das G. die größte Verschiedenheit und reicht von der Drohung bis zur Demut, von der Bitte bis zum Vertrauen und wird im Wesentlichen zum Dialog, zur Anrufung. Religionspsychologisch kann man vier Komponenten unterscheiden: 1. einen subjektiven Gefühlszustand (Erleben), 2. kognitive Prozesse (z. B. Auffassungen von der Beziehung Gott-Mensch), 3. expressiv-behaviorale Aktivitäten (Verhalten: Körperhaltung, Stimme, Mimik) und 4. physiologische Begleiterscheinungen (vgl. Dunde, 1993:126ff; Hauenstein, 2002). In christlichen Kulturen kann das G. zu Hymnen, Klage- und Bußliedern werden, während in der indischen Mystik anstelle des G. die Versenkung, das wortlose Schweigen tritt. Der G.umgang mit Gott ist kultur/religionsgebunden und an bestimmte Zeiten, Orte, Sprachen (z. B. Latein, Arabisch, Yoruba), G.richtung und G.haltung gebunden. Hinzu kommen oftmals äußere G.hilfen und G.vorbereitungen wie Rosenkranz, Gebetsmühlen, Waschungen etc. Im Islam gehört das tägliche fünfmalige G. (sal–t) zu den »fünf Säulen des Glaubens«. Es ist das am einheitlichsten und präzisesten geregelte islamische Glaubensritual (vgl. Maier, 2001:56ff). Als »negatives G.« wird der verwünschende Fluch (Fluchgebet) verstanden. Heute wird in vielen Ländern das gemeinsame G. auch via Fernsehen vermittelt. Man kniet dabei teilweise vor dem TV-Gerät (z. B. Brasilien). G. und Heiligenbildchen (die immer bei sich getragen werden) spielen in Brasilien in allen Schichten eine grosse Rolle. !Akkulturation !Candombl¦ !Heilerinnen !Missionierung !Religion

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F. Heiler (1918): Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung. München (weitere Auflagen); Th. Ohm (1948): Die Gebetsgebärden der Völker und das Christentum. Leiden; R. Guardini (1949): Das Gebet des Herrn. Mainz; S. R. Dunde (1993): Wörterbuch der Religionspsychologie. Gütersloh; A. E. Scis†no (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; B. Maier (2001): Koran-Lexikon. Stuttgart; RGG 4, 2001ff; H. U. Hauenstein (2002): Auf den Spuren des Gebets. Methoden und Ergebnisse empirischer Gebetsforschung. Heidelberg; Metzler Lexikon Religion. Stuttgart

Geister In der Alltagssprache werden G. als selbständige numinose Wesen im (Aber-)Glauben vieler Religionen angesehen, die einen Zwischenbereich zwischen Göttern und Menschen bilden (ähnlich wie Gespenster, Engel und Dämonen). »Geister bezeichnen übernatürliche Wesen, die weder eindeutig menschlicher noch göttlicher Abstammung sind. G., Gespenster und Dämonen voneinander abzugrenzen ist schwierig, meist werden diese Begriffe synonym gebraucht.« (Metzler Lexikon Religion, Bd.1, 1999:463) Das Wörterbuch der Religionen von A. Bertholet (1976:195 f) definiert eher psychologisch: »G. sind die vom Menschen mit Gestalt und Willen begabten Mächte seines Erlebens.« In der angloamer. Literatur wird zwischen »spirits« und »ghosts« unterschieden. Spirits besitzen meist keine individuelle, sondern kollektive Identität. Ghosts sind menschlichen Ursprungs oder stehen am Anfang des menschlichen Lebens (Geistkinder). Allgemein werden Natur-G. und Toten-G. (Ahnen-G.) unterschieden. Beide kannte schon das germanische Altertum. Wichtig sind auch die persönlichen Hilfsund Schutzg. Das Christentum schuf in seiner Dämonenlehre neue G. gemischten Charakters z. B. Teufel oder formte ältere Vorstellungen stark um z. B. Hexe, Arme Seelen. Der Glaube an Geisterbesuche ist universal. Die frühere Vorstellung eines wohlwollenden Familiengeistes findet sich heute noch in der identischen Aussprache (Nordengland) von »ghost« (= G.) und »guest« (= Gast). Der Zorn eines G.s wurde eher von Menschen gefürchtet, die sich weigerten, ihn als Gast zu ehren, bzw. ihm zu opfern. In eigenen Geisterhäusern (auch: Männerhäuser) wurden Schädel verstorbener Verwandter, Ahnenbilder, !Masken, kultische Musikinstrumente z. B. Flöten etc. aufbewahrt. In seiner religions-soziologischen Schrift »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« (1912) hat Emile Durkheim den »Geist(er) begriff« ausführlich analysiert. Während S. Freud die G. als Ergebnis von Projektionen ansah, interpretierte C. G. Jung die G. als Ausdruck autonomer archetypischer Komplexbildungen des kollektiven Unbewussten. G. sind hiernach Schattenaspekte der Psyche. Der Geisterglaube spielt auch in den afrobras. Religionen eine bedeutende Rolle.

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!Ahnen !Candombl¦ !Friedhof !Indigene Psychologie !Mythen und Märchen !Religion !Spiritismus !Trauer C. G. Jung (1919): Die psychologischen Grundlagen des Geisterglaubens. Gesammelte Werke. Zürich; J. Engert (1923/24): Zur Psychologie von Naturmystik und Spiritismus. Anthropos, 18/ 19; HDA; P. Radin (1951): Die religiöse Erfahrung der Naturvölker. Zürich; A. E. Jensen (1951): Mythos und Kult bei den Naturvölkern. Wiesbaden; A. Hultkrantz (1953): Conceptions of the soul among North American Indians. Monogr. Ser. The Ethnogr. Museum of Sweden, Publ. N8 1, Stockholm; H. Stoutjesdijk (1960): About spirits and macumba (mit Fotos). Rio de Janeiro; Wörterbuch der deutschen Volkskunde. Stuttgart, 1974; W. F. Bonin (1988): Lexikon der Parapsychologie und ihrer Grenzgebiete. München; Metzler Lexikon Religion, Stuttgart, 1999ff; Chr. F. Fest & K. H. Kohl (Hrsg.) (2001): Hauptwerke der Ethnologie. Stuttgart; B. G. Walker (2003): Das geheime Wissen der Frauen. Engerda; DTVAtlas Ethnologie. München, 2005

Genozid (Lemkin, 1933,1944)(griech. cemor=Volk, lat. caedere=töten; auch: ethnische Säuberung, Ethnozid, Völkermord) Völkermord d. h. die geplante, systematische Vernichtung von ethnisch, religiös oder »rassisch« definierten Gruppen durch physische Mittel z. B. Waffen, Gas, Deportation, Konzentrationslager, !Sklaverei, Vernichtung durch Zwangsarbeit, Hunger, Zwangssterilisierung etc. Die UNO erklärte 1948 G. zu einem international zu ächtenden Verbrechen. Zur ideologischen Begründung des G. werden meistens Rassenlehren angeführt. !Rassismus Z. B. haben der Ku-Klux-Klan, Nationalsozialismus, Faschismus, die Neonazis, aber auch die christlichen Kirchen (!Missionierung), der !Kolonialismus und auch die Humanwissenschaften die geistigen Wurzeln des G. geliefert bzw. ihn praktiziert. Der Pole Raphael Lemkin (1900 – 1959), der diesen Begriff vorgeschlagen hat, definiert: »Mit ›Genozid‹ meinen wir die Zerstörung einer ethnischen Gruppe … Im allgemeinen bezeichnet G. nicht unbedingt die unmittelbare Zerstörung einer Nation, es sei denn, sie wird erzielt durch Massentötungen aller Mitglieder einer Nation. Vielmehr soll er einen koordinierten Plan verschiedener Maßnahmen bezeichnen, die auf die Vernichtung wesentlicher Grund-lagen des Lebens nationaler Gruppen abzielen mit der Absicht diese Gruppen selbst zu vernichten. Die Ziele eines derartigen Plans bestünden in der Auflösung der politischen und sozialen Einrichtungen, der Kultur, der Sprache, der Nationalgefühle, der Religion und der wirtschaftlichen Existenz nationaler Gruppen und in der Zerstörung der persönlichen Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Würde und sogar des Lebens der Individuen, die zu solchen Gruppen gehören … Der G. besteht aus zwei Phasen: zum einen aus der Zerstörung der nationalen Struktur der unterdrückten Gruppe; zum zweiten aus der Aufoktroyierung der nationalen Struktur des Unterdrückers. Diese Aufoktroyierung kann wiederum auf die unterdrückte Bevölkerung erfolgen, der zu bleiben

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gestattet wird, oder nur auf das Gebiet nach Entfernung der Bevölkerung und der Kolonisierung des Gebietes durch die eigenen Angehörigen des Unterdrückers.« (zit. nach Guttmann & Rieff, 1999:462) Kurz nach den Nürnberger Prozessen (1945), in deren zugrundeliegendem Statut der Begriff Völkermord oder G. nicht verwendet wurde, nahm die UN-Vollversammlung eine Resolution an, die Völkermord zu einem »Verbrechen nach Völkerrecht« erklärte. In der Resolution von 1946 heißt es in der Präambel, daß Völkermord »bedeutet, ganzen Menschengruppen das Existenzrecht zu verweigern, so wie Menschenmord die Verweigerung des Lebensrechts einzelner Menschen bedeutet.« (zum G. im XX. Jahrhundert vgl. Gutmann & Rieff, 1999:464 f; zur Geschichte der Völkermordforschung vgl. Heinsohn, 1999: 37ff) Beispiel: Massenmorde und Genozid in der Bibel Die christliche Bibel, insbes. das Alte Testament (oder der jüd. »Tanach« vgl. Miles, 1998:30 f) ist voll von Massenmorden und Genoziden. »Die Söhne Levis nun handelten nach dem Wort des Mose; und es fielen vom Volk an jenem Tag etwa dreitausend Mann.« (2. Mose, 32, 26 – 29) Miles Kommentar hierzu: »…›Bruder, Freund und Verwandten‹ zu töten. Das ähnelt sehr stark der demonstrativen Gewalttätigkeit von Bandenmitgliedern, die ihre Fähigkeit zum Töten und ihre Bereitschaft, die Loyalität zum Anführer höher als alle anderen Werte zu stellen, unter Beweis stellen.« (Miles, 1998:144) Die abendländische Kultur hat ihr Bild von der Gottheit primär aus der Bibel, aber sekundär aus der germanischen und grie-chisch-römischen Antike bezogen. Während die Götter Griechenlands, Roms und Germaniens viele Schwächen hatten, so sind sie aber nicht durch Reizbarkeit, Denunziation und zornige Klage gekennzeichnet, wie dies für die Bibel typisch ist. In 4. Mose bestraft der Herr die Rebellen auf spektakuläre Weise: Die Erde verschlingt sie bei lebendigem Leibe. Am nächsten Tag versuchen die Israeliten, durch diese Todesfälle noch mehr erzürnt, einen umfassenden Aufstand. Diesmal erschlägt der Herr 14.700 von ihnen, bevor er sich durch ein Bußritual versöhnen läßt. Nach der Episode mit dem goldenen Kalb erschlugen die Leviten auf Drängen Moses 3000 Israeliten, und der Herr, welcher Moses Bitte um Gnade zurückwies, erschlug eine Unzahl von anderen. Diesmal schickt der Herr eine Plage, die 24.000 tötet, bevor Pinhas den Herrn besänftigt, indem er einen Israeliten und eine Midianiterin, welche kopulieren, mit einem einzigen Stoß seines Speeres durchbohrt (4. Mose, 25,7 – 9). Danach sendet Mose eine siegreiche Strafexpedition gegen Midian. Die Zahl derer, die in dem darauffolgenden Gemetzel umkommen, läßt sich nach Miles (1998:164) an der Zahl der einzig überlebenden Jungfrauen – 32.000 – ermessen. »Und was die Bestrafung angeht, die damals an den Midianitern vollzogen wurde, dafür, daß sie die Israeliten verführt hatten, so hatte sie den Charakter eines Völkermordes.«(Miles, 1998:437) In 5. Mose, 20,10 – 18 heißt es: »Jedoch von

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den Städten dieser Völker, die der Herr, dein Gott, dir als Erbteil gibt, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat. Sondern du sollst an ihnen unbedingt den Bann vollstrecken: an den Hetitern und an den Amoritern, den Kanaanitern und den Perisitern, den Hewitern und den Jebusitern, wie der Herr, dein Gott, dir befohlen hat…« Miles resumiert, daß die deuteronomistische Geschichte in Völkermord eingerahmt sei: »zu Beginn der Völkermord, den Israel an seinen Feinden begeht, und am Ende der Völkermord, den die Feinde an Israel begehen. Beides ist der Wille und das Werk des Herrn.«(Miles, 1998:186) Unter Moses Stellvertreter und nun-mehrigem Nachfolger Josua überziehen die Israeliten etwa 31 kanaanitische Städte mit einem völkermöderischen Gemetzel. Bei der Vernichtung der Stadt Ai beginnen die Israeliten damit, sie zuerst in Brand zu stecken. Die Einwohner fliehen aufs Land, wo sie von den Israeliten aufgespürt und erschlagen werden. Danach kehren die Eroberer in die Stadt zurück und bringen die verbliebenen Bewohner um, wobei sie sich den König für den Schluß aufsparen: »Die Zahl aller Männer und Frauen, die an diesem Tag fielen, war zwölftausend, alle Leute von Ai.«(Josua, 8, 24 –29) Zum Fall Sauls kommt es, als er versäumt, das vom Herrn beschworene Urteil über Amalek richtig auszuführen. Der Herr hatte ihn gewarnt: »Ich habe bedacht, was Amalek Israel angetan, wie es sich ihm in den Weg gestellt hat, als Israel aus Ägypten heraufzog. Nun zieh hin und schlage Amalek! Und vollstrecke den Bann an Ihnen, an allem, was es hat, und verschone ihn nicht, sondern töte Mann und Frau, Kind und Säugling, Rind und Schaf, Kamel und Esel.«(1. Samuel, 15, 2 – 3) Im 1. Könige, 19,9 – 18 heißt es: »Und es wird geschehen: wer dem Schwert Hasaels entkommt, den wird Jehu töten; und wer dem Schwert Jehus entkommt, den wird Elisa töten. Aber ich werde 7000 in Israel übriglassen, alle die Knie, die sich nicht vor Baal gebeugt haben, und jeden Mund, der ihn nicht geküsst hat.« In Ester 9,5 erschlagen die Juden 75.000 Menschen und im Übrigen verfahren sie »mit ihren Hassern nach ihrem Belieben«. »Später schaffen sie zur Erinnerung an ihre Rettung und an diese Rache das zweitägige Purim-Fest, das nach dem pur d. h. nach dem Los benannt ist, welches Haman geworfen hatte, um den Adar als den Monat auszuwählen, in dem die Juden sterben würden, »daß sie den vierzehnten Tag des Monats Adar und den fünfzehnten Tag desselben Jahr für Jahr feiern sollten – als die Tage, an denen die Juden vor ihren Feinden zur Ruhe gekommen waren, und als den Monat, der sich ihnen von Kummer zur Freude und von Trauer zum Festtag verwandelt hatte (Ester 9, 21 – 22).« (Miles, 1998:415) Das systematische (Massen-)Töten und Genozide »im Namen Gottes« hat in den jüdischen, christlichen und islamischen Gesellschaften eine lange Tradition. Die notwendige Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs könnte für G. zuständig sein (vgl. Kriegsverbrechen). Im Hinblick auf die Inuit (man könnte dies auch über viele andere weltweit verfolgte oder ausgelöschte Ethnien sagen), schreibt Michel Onfray (2003:101 f):

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»Ein Buch fehlt – was sage ich?, ein Lexikon, eine monumentale Enzyklopädie – das im Detail nachzeichnete, mit welch vollendeter Begabung die westlichen, weißen, christlichen (Waren-)Gesellschaften einst Ethnozide vollführten. Ungerührt, ohne Tränen, ohne Zögern und Gewissensbisse, blutbefleckt, Waffen in der Hand, mit Schwertern und Flinten, Erhängungen, Vierteilungen, Vergewaltigungen und anderen Vorzüglichkeiten, die unserer raffinierten Kultur würdig sind – ein beträchtliche Zahl an Kulturen und Völkern ist in diese Falle gegangen. Der Eroberer, der Missionar und der Kaufmann, drei Gestalten der Negation des Fremden, haben ihre Fetische allen Kontinenten aufgedrängt. Ordnung, Christus und Geld, diese drei Gottheiten des Übels forderten, daß sich die Menschen ihnen unterwarfen und ihr strahlendes Wesen aufgaben. Todestrieb gegen Lebenstrieb, Erbsünde gegen die Unschuld des Werdens, Arbeit gegen Muße, Akkumulation von Waren gegen Produktion von Lebensmitteln, Körperhaß gegen Lust ohne Hemmungen, das Leben als Strafe und nicht als Gelegenheit zum Feiern: All das brachten die Eroberer in den Laderäumen der Galeonen.« Der Politiker und Künstler Abdias do Nascimento publizierte ein wichtiges Buch über den »Genoc†dio do negro brasileiro« (1978). Nei Lopes (2006:78) betont, dass der Begriff »holocausto« (rituelles Opfer) auch auf die afrikan. !Sklaverei in Amerika angewandt wird, auf die »milhþes de indiv†duos africanos durante os quase quatro s¦culos em que durou o tr‚fico de escravos para as Am¦ricas.« (vgl. auch Ribbe, 2005). !Gesundheit !Reparationen !Sklavenkindheit !Sklaverei A. do Nascimento (1978): O genoc†dio do negro brasileiro. Rio de Janeiro; J. J. Chiavenato (1979): Genoc†dio americano, a guerra do Paraguai. S¼o Paulo; R. Jensen & R. L. Cohn (1982): Mortality in the Atlantic slave trade. Statistical evidence on causality. Journal of Interdisciplinary History (Cambridge), 13(2), p. 317 – 329; St. Engerman & H. S. Klein (1983): Facteurs de mortalit¦ dans le trafic franÅais d’esclaves au XVIII siÀcle. Annales: Economie, Soci¦t¦, Civilizations (Paris), 31(6), p. 1213 – 1224; R. Cohn (1985): Deaths of slaves in the middle passage. Journal of Economic History (Wilmington), 45 (3), P.685 – 692; B. Graefrath (1990): Formen der Durchsetzung eines Kodex der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit. Neue Justiz, 44, H.2; F. Chalk & K. Jonassohn (1990): The history and sociology of genocide. New Haven; H. Stubbe (1992): Wilhelm Wundt und die Herero, Psychologie und Geschichte, Jg.4, H.1/2, S. 121 – 138; R. J. Lifton & E. Markusen (1992): Die Psychologie des Völkermordes. Atomkrieg und Holocaust. Stuttgart; J. Miles (1998): Gott. Eine Biographie. München; R. Gutmann & D. Rieff (1999): Kriegsverbrechen. Was jeder wissen sollte. Stuttgart; G. Heinsohn (1999): Lexikon der Völkermorde. Reinbek; Ch. Herzog & M. Gichon (2000): Die biblischen Kriege. Augsburg; M. Onfray (2004): Den Schnee entziffern. Lettre International, 61, II, S. 100 – 103; Jahrestage: Völkermord in Ruanda und Namibia. Entwicklungspolitik, 7, 2004; Cl. Ribbe (2005): Le crime de Napol¦on. Paris: Ed. Priv¦; H. Stubbe (2008): S. Freuds ›Totem und Tabu‹ in Mosambik. Göttingen; D. J. Goldhagen (2009): Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist. München; T. N’Diaye (2011): Der verschleierte Völkermord. Die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels in Afrika. Reinbek (frz. Ausg.

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Le g¦nocide voil¦, Paris, 2008); Zeitschrift: Zeitschrift für Genozidforschung, Ruhr Universität Bochum; Internet: Internat. Komitee des Roten Kreuzes: www.icrc.org; Vereinte Nationen: www.un.org/ law ; www.crimesofwar.org ; Institut für Friedenssicherungsrecht und humanitäres Völkerrecht/Bochum: www.ifhv.de ; Gesellschaft für bedrohte Völker: www.gfbv.de ; Genozidprävention: www.preventgenocide.org/de

Geophagie (griech.) Essen von (mineralreicher) Erde. Bei vielen Ethnien als ritueller Brauch vorkommend. In Hungerszeiten, vielfach auch bei chronisch Geisteskranken beschrieben. Verursacht über längere Zeit durchgeführt, Anämie und Kaliumverlust. Bei den afrikanischen Sklaven in Brasilien häufiges Suizidmittel. Nei Lopes (2006:72) argumentiert dagegen, dass die G. eine gezielte (lebenswichtige) Mineralzufuhr zur Gesunderhaltung bei den Sklaven, Schwangeren undd Kindern gewesen sei. !banzo !Suizid N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen Es handelt sich um eine gezielte Konstruktion der kulturellen und individuellen Differenzen, die ihren Ausdruck in einer mächtigen und starren Dualität fand: die mit Geschichte gegen jene ohne Geschichte. Jaques Depelchin, 2005

Geschichte der Afrobrasilianer Nach der Dekolonisierung Afrikas – Portugal entließ erst im Jahre 1975 seine letzten Kolonien in die Unabhängigkeit – erschien das grundlegende von der UNESCO unterstützte Werk »Histûria geral da Ýfrica« (1978) des afrikianischen Historikers Joseph Ki-Zerbo (*1922) aus Burkina und leitete damit eine neue Ära der afrikanischen Geschichtsschreibung, die bisher nur marginal (und teilweise abwertend) bearbeitet worden war, ein. Dies hatte auch beträchtliche Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung in der afrikanischen Diaspora z. B. in Brasilien, sodass sich von nun an auch immer mehr afrobras. Historiker mit ihrer eigenen Geschichte befassten (vgl. z. B. Moura, 1989; Santos-Stubbe, 1995, 2001; Scis†nio, 1997; Lopes, 2003, 2006). Dabei galt naturgemäß der ca. 350 Jahre andauernden afrikanischen !Sklaverei eine besondere Aufmerksamkeit.

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Grundsätzlich läßt sich die Geschichte der Afrobrasilianer nach folgenden Gesichtspunkten ordnen: 1. Die Geschichte Afrikas seit dem Zeitalter der Entdeckungen bis heute (vgl. Sklavenhandel, !Fluxus und Refluxus, diplomatische, kulturelle und ökonomische Beziehungen zwischen Brasilien und Afrika) (vgl. z. B. Davidson, 1969; Ki-Zerbo, 1978; UNESCO, 1990ff; Das Afrika-Lexikon, 2001; Schicho, 2010; N’Diaye, 2011). Die Quellenlage ist komplizierter als bei einer Darstellung Europas, auch sind die archäologischen Quellen erst in geringem Umfang zugänglich. Zudem sollte auch die oral history der griots, der afrikan. Sänger und Bewahrer der Traditionen an den Höfen westafrikanischer Königreiche zu Rate gezogen werden. Es gilt eine Geschichte zu schreiben »wie sie ist« (Schicho, 2010:11). Der Wiener Historiker Walter Schicho (2010:12) stellt klar : »Seit den 1950er Jahren schreiben Historiker, darunter immer mehr Afrikaner, gegen die fremdbestimmte Historiographie an. Dem Eurozentrismus begegnen manche darunter mit Afrozentrismus. Damit ist keine Lösung gefunden. Es gilt vielmehr für alle Beteiligten, die eigene Geschichte als Teil einer globalen Geschichte zu sehen, mit wechselseitiger Abhängigkeit und gegenseitiger Verantwortung.« Eine solche Geschichte, die auch die Sichtweisen der Unterdrückten angemessen berücksichtigt ist jedoch erst ansatzweise erkennbar. 2. Die Geschichte der fast 350 Jahre bestehenden afrikanischen Sklaverei auf dem brasilianischen Territorium bis zur !Abolition (1888) (!abolicionismo), sowie des transatlantischen und inneramerikanischen Sklavenhandels. Sie ist durchzogen von vielen !Aufständen und Rebellionen und führt zur allmählichen !Emanzipation der Afrobrasilianer, ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. »Die ganze Arbeit wird von den Schwarzen gemacht, der gesamte Reichtum wird durch schwarze Hände erworben«, so kennzeichnet Ina von Binzer, die im Jahre 1887als Erzieherin auf einer grossen Kaffee-Fazenda im Inneren von S¼o Paulo tätig war, kurz und knapp diesen Abschnitt der bras. Geschichte. In seinem reichhaltigen »Dicion‚rio da escravid¼o« bietet Alaúr Scis†nio (1997:110 – 125, 267 – 269) eine ausführliche Chronologie der Sklaverei (und von !Palmares) von 1549 bis 1888 (vgl. auch !Anhang) 3. Die Geschichte der Afrobrasilianer in den letzten 125 Jahren in der bras. ! Gesellschaft und !Kultur Bereits in seiner Preis-Schrift »Como se deve escrever a historia do Brasil« (»Wie soll man die Geschichte Brasiliens schreiben«) (1845) hat der Botaniker und Forschungsreisende Karl Friedrich Philipp von Martius (1794 – 1868) den brasilianischen Historikern folgende fünf noch heute bedenkenswerte Ratschläge mit auf den Weg gegeben:

Geschichte der Afrobrasilianer

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1. einmal sollte der brasilianische Historiker von der Existenz dreier Menschengruppen, der amerikanischen, der europäischen und der afrikanischen ausgehen, die die Basis der brasilianischen Bevölkerung bilden, »j‚ que a vontade da ProvidÞncia predestinou ao Brasil esta mescla.« (»wo schon der Wille der Vorsehung Brasilien diese Mischung vorbestimmt hat«) (Martius, 1845: 391) 2. zum anderen dürfe man niemals vergessen, daß »nos pontos principais a historia do Brasil sempre (seria) a histûria de um ramo portuguÞs« (»in den prinzipiellen Punkten die Geschichte Brasiliens immer die Geschichte eines portugiesischen Zweiges sein würde«) (Martius, 1845:406). Der Portugiese sei von den drei »Rassen« »com suas condiÅþes morais e fisicas« »o mais poderoso e essencial motor para (a formażo) de um (novo) reino independente.« (»mit seiner moralischen und physischen Art; der mächtigste und wesentlichste Motor für die Bildung eines neuen unabhängigen Köngireiches«) (Martius, 1845:391). 3. Es seien die Portugiesen, die Brasilien entdeckt und die Fundamente des brasilianischen Imperiums gelegt hätten. Eine Vielzahl von portugiesischen Institutionen hätten sie nach Brasilien verpflanzt (vgl. etwa die Munizipien, Milizen, Mönchsorden, insbesondere der Jesuiten etc.), aber sie hätten auch den Import und die Akklimatisation vieler Pflanzen und Tiere veranlaßt. Weiterhin hätten die Portugiesen den wirtschaftlichen Bereich, den Ackerbau, Schiffsbau, den Handel, Import und Export, die dualistische Sozialsituation von Herren und Sklaven, die Indianer-Missionen, die Instruktion und die entscheidende Rolle der katholischen Kirche in der Gesellschaft geprägt. 4. Auch den wichtigen Beitrag der Afrikaner dürfe man nicht vergessen »pois n¼o h‚ dfflvida que o Brasil teria tido um desenvolvimento muito diferente sem a introdużo dos escravos negros.« (»denn es besteht kein Zweifel, daß Brasilien eine sehr unterschiedliche Entwicklung genommen hätte ohne die Einführung der afrikanischen Sklaven«) (Martius, 1845:405) 5. Letztlich sei auch die Vielfältigkeit des riesigen brasilianischen Raumes, mit seinen verschiedenen Rohstoffen, Bodenarten, Klimazonen, landwirtschaftlichen und industriellen Formen, seinen Sitten und Gebräuchen, seiner Verteilung der »Rassen« und Ethnien und seiner verschiedenartigen historischen Entwicklung differenziert zu berücksichtigen. Wenn auch einige dieser Argumente von Martius (der Zeit entsprechend) biologistisch oder gar ethnozentrisch anmuten (vor allem in Hinblick auf die »Indianer« und Afrikaner ; vgl. Martius, 1838: »Die Vergangenheit und Zukunft der amerikanischen Menschheit«; Schaden, 1953), so haben diese Empfehlungen nicht nur wesentliche Gesichtspunkte der brasilianischen Historiographie hervorgehoben, sondern auch eine Vielzahl von brasilianischen Historikern später beeinflußt (vgl. z. B. Lacombe, 1974; Oberacker, 1984).

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!abolicionismo ! Anhang !Aufstände und Rebellionen !Bibliografien ! Biografien !Einführung !Fluxus und Refluxus !Palmares !Quilombo ! Reiseberichte !Sklaverei !Zumbi I. von Binzer (o. J., 1887): Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien. Berlin; G. Freyre (1933): Casa Grande & Senzala (14. ed., 1969). Rio de Janeiro. (dt. Übers. Herrenhaus und Sklavenhütte. Ein Bild der brasilianischen Gesellschaft. Suttgart); G. Friederici (1925 – 1936): Der Charakter der Entdeckung und Eroberung Amerikas durch die Europäer. 3 Bd.e. Stuttgart; P. Calmon (1941): A princesa Isabel, a redentora. S¼o Paulo; ders. (1961): Histûria do Brasil. 7 vol.s. Rio de Janeiro; M. Perdig¼o (1944): A escravid¼o no Brasil. S¼o Paulo; Anais do Arquivo Pfflblico da Bahia. Autos de devassa do levantamento e sediżo intentados na Bahia em 1798. V. 35 – 6. Salvador (der andere Teil wurde abgedruckt in: Anais da Biblioteca Nacional, vol. 43 – 5, 1931); E. Carneiro (1947): O quilombo dos Palmares. S¼o Paulo; B. Davidson (1969, 1981): Os africanos. Uma introdużo — sua histûria cultural. Lisboa (engl. Ausg. 1969); R. Reichert (1970): Os documentos ‚rabes do Arquivo do Estado da Bahia. Salvador : UFBa; G. S. P. Freeman-Grenville (1973): Chronology of African History. Oxford; A. J. Lacombe (1974): Introdużo ao estudo da histûria do Brasil. S¼o Paulo; M. O. Leite da Silva Dias (1974): O fardo do homem branco: Southey, historiador do Brasil. S¼o Paulo; S. D. Teixeira de Macedo (1974): Crúnica do negro no Brasil. Rio de Janeiro; H. Ihde (1975): Von der Plantage zum schwarzen Ghetto. Leipzig; E. Galeano (1976): Die offenen Adern Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents von der Entdeckung bis in die Gegenwart. Wuppertal; U. Bitterli (1976): Die Wilden und die Zivilisierten. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München; J. E. A. Fraquelli (1977): M¦todos usados para avaliar o volume do tr‚fico de escravos africanos para o Brasil. Revista do Instituto de Filosofia e CiÞncias Humanas (Porto Alegre), 5, p. 305 – 318; J. Fage & R. Oliver (ed.s) (1977 – 1986): Cambridge History of Africa. 8 vol.s. Cambridge; E. Morel (1979): A revolta da chibata. Rio de Janeiro; U. Holtz (1981): Brasilien. Eine historisch-politische Landeskunde (Quellen). Paderborn; J. G. (1981): Os magnatas do tr‚fico negreiro. S¼o Paulo; T. Todorov (1982): La conquÞte de l’Am¦rique. La question de l’autre. Paris (dt. 1985); R. Lima (1983): As fontes documentais e a escravid¼o. Arquivo. Boletim Histûrico e Infomativo (SP), 4(2), p. 37 – 52; R. W. A. Slenes (1983): O que Rui Barbosa n¼o queimou. Novas fontes para o estudo da escravid¼o no s¦c. XIX. Estudos Econúmicos (SP), 13(1), p. 11 – 49; A. M. Barros Santos (1985): Die Sklaverei in Brasilien und ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen. München; J. Rufino dos Santos (1985): Histûria do negro no Brasil. S¼o Lu†s: Centro de Cultura Negra do Maranh¼o; D. Ribeiro (1985): Aos trancos e barrancos, como o Brasil deu no que deu. Rio de Janeiro; R. Nodal (1986): The black man in Cuban society. From colonial times to the revolution. Journal of Black Studies, vol. 16, N8 3, p. 251 – 267; J. Chiavenato (1986): O negro no Brasil. S¼o Paulo; J. Hell (1986): Sklavenmanufaktur und Sklavenemanzipation in Brasilien 1500 – 1888. Akademie der Wissenschaft. Berlin; M. N. Ferrara (1986): A imprensa negra paulista (1915 – 1963). S¼o Paulo; L. C. Lopes (1987): O espelho e a imagem: o escravo na historiografia brasileira (1808 – 1920). Rio de Janeiro; H. Stubbe (1987): Beiträge zur Kulturanthropologie: Geschichte der Psychologie in Brasilien, von den indianischen und afrobrasilianischen Kulturen bis in die Gegenwart. Berlin; H. Teodoro Lopes, J. J. Siqueira & M. B. Nascimento (1987): Negro e cultura no Brasil. Rio de Janeiro; O. Ianni (1988): Escravid¼o e racismo. S¼o Paulo (2.ed.); Z. de Paula

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Gesellschaft (sociedade) Die Integration der Afrobrasilianer in die brasilianische Gesellschaft: »Brasilien hat – und die Bedeutung dieses großartigen Experiments scheint mir vorbildlich – das Rassenproblem, das unsere europäische Welt verstört, auf die einfachste Weise ad absurdum geführt: indem sie seine angebliche Gültigkeit einfach ignorierte. … Die brasilianische Nation beruht seit Jahrhunderten einzig auf dem Prinzip der freien und ungehemmten Durchmischung, der völligen Gleichstellung von Schwarz und Weiß und Braun und Gelb.«, schreibt Stefan Zweig (1881 – 1942) in seinem Buch »Brasilien, ein Land der Zukunft« (1941).

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Wenn man wie Stefan Zweig aus einer priviligierten Position heraus durch Brasilien reist, wird man anfänglich sicher davon überzeugt sein, daß die Afrobrasilianer vollkommen sozial integriert sind und daß sie dieselben Chancen innerhalb der nach Klassen hierarchisierten Gesellschaft besitzen, wie einst Zweig zu beobachten glaubte. Im Laufe der Zeit, wenn die anfängliche Faszination Platz für ein kritisches Beobachten macht, wird man bemerken, daß diese Integration wohl nicht in das Klassensystem eingedrungen ist und daß sie nur eine oberflächliche ideologische Haltung ist. Der Soziologe Florestan Fernandes (1965) hat bereits deutlich gezeigt, daß diese Integration nicht stattgefunden hat, wobei er als Hauptgrund dafür die fehlende technische und formale Bildung dieser Bevölkerungsgruppe ansah. Wie bereits gezeigt, wurde die Integration der afrobrasilianischen Bevölkerung nach der Abschaffung der !Sklaverei in die sich modernisierende brasilianische Gesellschaft nicht unterstützt, sondern im Gegenteil stark verhindert durch zahlreiche Barrieren, wie die !Segregation aus dem urbanen Arbeitsmarkt, die !Wohn- und !Bildungssegregation, etc.. Diese Faktoren waren aber die Konsequenz einer jahrhundertelang bestehenden Sklaverei, deren Grundsatz die Minderwertigkeit der Afrikaner war, d. h. ihrer !»raÅa«. Dieser Grundsatz ist auch noch immer entscheidend für die fehlende Integration der Afrobrasilianer in der z. T. post-modernen brasilianischen Gesellschaft. Leider müssen wir feststellen, daß die große Proklamation der Chancengleichheit und der Gleichheit aller Bürger innerhalb der brasilianischen Gesellschaft bis heute nicht existiert. Das Beispiel aller vereinigten Brasilianer im »Maracan¼-Fußballstadion« in Rio de Janeiro, in dem alle für 90 Minuten gleich sind, ist zu oberflächlich als das es gültig wäre für das Verstehen der ethnischen Schichtung in diesem Lande. Sogar dort, im »Maracan¼«, können wir beobachten, daß die Mehrzahl des afrobrasilianischen Publikums die unteren Stehplätze besetzt, die billiger sind, wohingegen oben die weiße bzw. hellere Bevölkerung sitzt. Von einer Integration der verschiedenen ethnischen Gruppen in die brasilianische Gesellschaft kann hier nicht die Rede sein, was existiert ist ein Übereinanderleben, wobei hier die Afrobrasilianer (und »†ndios«) die Basis der Pyramide in dieser Stratifikation bilden. In allen Sektoren der brasilianischen Gesellschaft erkennen wir den Hautfarbenmechanismus als zentrales Merkmal der sozio-politisch-ökonomischen Unterschiede. Diese Struktur basiert auf dem Prinzip der Helligkeit der ! Hautfarbe. Darunter ist zu verstehen, daß um so heller die Hautfarbe ist, desto wahrscheinlicher die Zugehörigkeit zu der ethnischen Mehrheit d. h. zu den ökonomisch besser Situierten, zu den besser Ausgebildeten, zu den Machtinhabern in den politischen Gremien, etc. ist. Umgekehrt bedeutet in dieser Hautfarbenhierarchie, daß um so dunkler die Hautfarbe ist, desto wahrschein-

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licher eine Person zu der ethnischen !Minderheit gehört und somit ökonomisch unterprivilegiert ist, d. h. arm, nicht oder nur wenig formal ausgebildet und außerhalb aller politisch entscheidenden Gremien steht, d. h. machtlos ist. In diesem Zusammenhang können wir nur von einer Pseudo-Integration sprechen. Sogar bei der Analyse der Armutsindikatoren wird deutlich, daß innerhalb der Armut eine ethnische Schichtung im oben geschilderten Muster zu erkennen ist. In Bezug auf das Gesamtein-kommen einer Familie, die beispielsweise bis zu 3 Minimallöhnen verdient, finden wir 50 % der weißen Familien im Gegensatz zu 75 % der afrobrasilianischen, was bedeutet, daß viel mehr afrobrasilianische Familien sich mit einem niedrigen Einkommen begnügen müssen im Vergleich zu gleichgestellten weißen Familien. Dasselbe läßt sich beobachten bezüglich der räumlichen Segregation. In den priviligierten Wohnvierteln insbesondere der Großstädte trennt sich die Bevölkerung eindeutig nach der Hautfarbe: Oben in den !favelas und auf den morros die afrobrasilianische Bevölkerung und unten, in den konfortablen Wohnungen die Weißen. Innerhalb einer !Favela, wo zweifelsohne die Mehrzahl der Bevölkerung afrobrasilianisch ist, besteht dieselbe ethnische und ökonomische Teilung: In den Bereichen, wo noch eine gewisse Infrastruktur vorhanden ist, z. B. Wasser, elektrisches Licht, etc. finden wir in diesen Armen-Vierteln eine »hellhäutigere« Bevölkerung, die !Pardos. Dort wo die vollkommene Armut innerhalb der Favela existiert, sind die Einwohner »dunkler« d. h. erkennbar Afrobrasilianer. Die ethnische Schichtung Brasiliens hat ihre Repräsentation auch geographisch, da wo die Lebensbedingungen am schlechtesten sind, wie z. B. auf dem Lande, wo es oftmals nicht die geringste Infrastruktur gibt und die Besitzverhältnisse entweder ungeklärt sind oder deutlich in den Händen von weißen Großgrundbesitzern liegen,finden wir eine Mehrzahl von Afrobrasilianern, d. h. 56 % im Gegensatz zu 44 % Weißen. Die gesamten Lebensbedingungen, die den Afrobrasilianern innerhalb der klassenorientierten brasilianischen Gesellschaft eingeräumt werden, macht sie zu einer marginalisierten Masse des »Dritte-Welt-Teils« Brasiliens: Sie besitzen die schlechtesten fachlichen Qualifikationen und verdienen die niedrigsten Gehälter, die Lebenserwartung afrobrasilianischer Männer lag am Anfang der 90er Jahre bei 50 und die des weißen Mannes bei 63 Jahren, die Sterblichkeit der afrobrasilianischen ! Kinder liegt um 30 % höher als die der weißen etc. Aufgrund dieser beunruhigenden Tatsachen erkennen wir eine ungleiche Entwicklung innerhalb der brasilianischen Bevölkerung, die die Afrobrasilianer von der Möglichkeit sich in die Gesellschaft einzugliedern ausschließt. Die moderne aber konservative brasilianische Gesellschaft schließt die Mehrzahl ihrer Bevölkerung aus dem allgemeinen Entwicklungs-prozeß des Landes aus, indem sie unter anderen Mechanismen die Afrobrasilianer in ihren Statistiken unsichtbar macht und indem sie ihnen keine Chancen zu einer wahren Intregration einräumt. Ihre

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Funktion im brasilianischen sozialen und wirtschaftlichen System ist die der billigen Arbeitskräfte für das Funktionieren des expandierenden Kapitalismus (»capitalismo selvagem«). Die reale Integration einer Bevölkerungsgruppe innerhalb einer (ethnischen) pluralistischen Gesellschaft läßt sich u. a. auch an der kulturellen Betrachtung dieser Gruppe messen d. h. in ihrer Akzeptanz oder Entwertung. Die !Geschichte, !Kultur und Situation der Afrobrasilianer werden immer noch nicht vollkommen als ein fester Bestandteil der allgemeinen brasilianischen Kultur betrachtet. Dies läßt sich erkennen an der Behandlung, die diese Fragen sowohl praktisch als auch wissenschaftlich, erfahren. Alles was man vielleicht als »typisch« afrikanisch/afrobrasilianisch zu erkennen glaubt, wird sofort mit dem Begriff !»Folclore« (=Volkskunde) charakterisiert. Und als »folclore« erhalten die Afrobrasilianer einen gesonderten Platz im gesellschaftlichen Komplex: Sie werden angeschaut, bewundert, aber als fremd und »exotisch« deklariert. In den Buchhandlungen, allgemeinen und Universitätsbibliotheken findet man alles, was mit Afro-Brasilien zusammenhängt unter »folclore« eingeordnet: Sklaverei neben Märchen, afrobrasilianische Religion neben ukrainischem Volkstanz, etc. Dieses Fehlen an Integration können wir auch beobachten im Bereich der !Menschenrechte. Dort wo die Rechte der Afrobrasilianer verletzt, und sie und ihre Kultur mißachtet werden, wird daran appelliert das Kulturministerium aufzusuchen und nicht das Justizministerium, was bei Bürgern anderer Abstammung nicht der Fall ist. Ihre Probleme gehören hierbei zu der »exotischen« Kultur und werden nicht als ein Politikum betrachtet. Ideologien der Integration: Für die Pseudo-Integration der Afrobrasilianer in der brasilianischen Gesellschaft gibt es eine Reihe von Ideologien, die wie bereits erwähnt, ihren Ursprung in der sog. rassischen Minderwertigkeit der Afrikaner, der Rechtfertigung ihrer Nutzung als Sklaven bis hin zu der immer noch häufigen Behauptung findet, daß die Afrobrasilianer für die körperliche Arbeit von Natur aus geeigneter seien als die Weißen und als Konzequenz dessen weniger fähig zu intellektuellen Tätigkeiten wären. Für das Funktionieren solcher Ideologien gibt es eine Reihe von Praktiken, auf denen sie basieren und die die Barrieren gegen den sozio-ökonomisch-politischen Aufstieg der Afrobrasilianer rechtfertigen sollen, wie aus dem Folgenden deutlich wird. Luso-tropicalismo: Diese sehr wirksame Ideologie der brasilianischen Gesellschaft, die bisher sogar »liberale« Intellektuelle als der eigentlichen Kern des »brasilianischen Seins«

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hochgepriesen haben, stammt aus dem Werk des Soziologen aus Pernambuco Gilberto Freyre, der in seinem »Casa Grande e Senzala« (1933) diese These vertrat. In einer Zeit als die Rassenideologien sich in Europa und den USA im vollen Ausmaß ausbreiteten und die Überlegenheit der »weißen, arischen Rasse« hervorgehoben wurde, vertrat Freyre eine pro-rassische Mischungsthese. Er sah eine positive Eigenschaft in der Bereitschaft sich mit anderen Rassen zu mischen, eine ethnische Offenheit, die sich künftig als positiv erweisen und zu einem demokratischen Charakter der brasilianischen Gesellschaft führen würde. Daher die immer noch verbreitete Ideologie der »Rassen-Demokratie« (democracia racial), die jedoch eine Verleugnung der rassischen !Vorurteile und !Diskriminierungen in Brasilien enthält. Für Freyre war die Offenheit der portuguiesichen Kolonisatoren sexuelle Beziehungen mit »Indianerinnen« und Afrikanerinnen einzugehen der Hauptfaktor für die Entstehung der »gemischtrassischen-brasilianischen« Gesellschaft. Was Freyre aber nicht betrachtet hat war, daß von Demokratie in diesem Prozeß keine Rede sein kann, da wir nicht behaupten können, daß diese kolonisierten Frauen, die Chance hatten sich anders zu entscheiden oder daß diese Kolonialherren sich an die kolonisierte Kultur angepaßt hätten und eine gegenseitige Mobilität hervorgerufen worden wäre. Diesen Prozeß der Vermischung der »Rassen« (mestiÅagem) hat es in erster Linie gegeben aufgrund der Machtposition der weißen-europäischen Kolonisatoren: Brutalität und Vergewaltigungen herrschten gegenüber den von ihnen als »minderwertig« betrachteten Frauen« und Kolonisierten. !Aufstände, Revolten, Flucht, Ermordung von Kolonialherren, etc., die während der Sklaverei häufig vorkamen, zeigen deutlich, daß dieses Zusammenleben nicht demokratisch und friedlich war. Die Unterdrückungssituation der eroberten Bevölkerung im Rahmen dieses Vermischungs-prozesses berücksichtigt Freyre nicht. Dennoch ist »Herrenhaus und Sklavenhütte« noch immer eine wichtige soziologische Quelle, die aber kristisch gelesen werden muß (vgl. !Reiseberichte). Branqueamento: Die Theorie der »Weißwerdung« der brasilianischen Bevölkerung fand ihre Ausgangsbasis bereits in der Zeit der europäischen Immigration nach Brasilien, die im letzten Zeitabschnitt der Sklavereizeit begann. Der Rechtsmediziner und Psychiater Nina Rodrigues, der selbst ein !»mulato« war, erhoffte sich, daß »os negros existentes se diluir¼o na populażo e estar‚ tudo terminado« (=die vorhandenen Neger sich in der Bevölkerung auflösen werden und damit ist das alles erledigt«, d. h. es gäbe dann keine »Schwarzen« mehr in Brasilien). Damit wurde ein Meilenstein im Arier-Mythos Brasiliens gesetzt und eine Arianisierung (arianizażo) der Nation angestrebt. Diese Ideologie begründete das

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»Weißwerdungsideal« in Brasilien, das bis heute tiefgreifende soziale und psychologische Konsequenzen für die Gesellschaft besitzt, wie z. B. die Angabe einer helleren Hautfarbe bei den Bevölkerungs-statistiken und die Minderung des Selbstwertgefühls vieler Afrobrasilianer, da sie dieses Ideal nicht erfüllen können. Hierauf basiert auch einer der größten Unterschiede zwischen der Hautfarbenproblematik in den USA und Brasilien, nämlich die Bezeichnung »preconceito de cúr« (=Hautfarbenvorurteile) für Brasilien und »preconceito de raÅa« (=Rassenvorurteile) für die USA. Das bedeutet, daß sobald ein Mitglied der brasilianischen Gesellschaft eine etwas hellere Hautfarbe besitzt, wird es weniger oder nicht mehr diskriminiert, im Gegensatz zu den USA, wo die Tönung der Haut nicht das wesentliche ist, sondern die biologischen afrikanischen Vorfahren, die es in dieser Familie gab. So versucht Brasilien seine afrikanische Bevölkerung zu integrieren, indem diese die »Weißwerdung« anzustreben versuchen sollen. Damit verbunden ist ebenfalls ein Verzicht auf die afrobrasilianische Kultur und ihre Werte (vgl. z. B. Skidmore, 1998:351; Lopes, 2006:8 f). »Preto rico é branco«: Bereits durch Freyres Gedanken entstand eine weitere Theorie, die oft für die Nicht-Integration der Afrobrasilianer in der brasilianischen Gesellschaft angeführt wird, nämlich die ihrer Klassensituation. Nach Freyres These gründet sich die Diskriminierung nicht auf die ethnische Zugehörigkeit, da für ihn bisher eine indiskriminierte Mischung stattgefunden hatte, sondern auf der unterprivilegierten ökonomischen Stellung der Afro-Bevölkerung. Danach gilt, daß sobald Afrobrasilianer Kapital akkumulieren und reich werden, die Vorurteile und die Diskriminierung unter denen sie bisher zu leiden hatten, beseitigt wären. Diese Frage wird sowohl seitens der Ökonomie, Soziologie, Politologie und innerhalb des »Movimento Negro Unificado« heftig diskutiert: Werden die Afrobrasilianer diskriminiert, weil sie Afrobrasilianer sind oder weil sie arm sind? Werden die Afrobrasilianer als weiß betrachtet und behandelt, wenn sie Geld haben? Ist das eine ethnische oder eine soziale und ökonomische Frage? Zahlreiche Beispiele beweisen jedoch, daß bekannte, reiche und einflußreiche Afrobrasilianer dennoch gehindert werden sich frei in allen Räumen der Gesellschaft zu bewegen. Andererseits stimmt es dennoch, daß wenn man in Brasilien Geld besitzt, sich verschiedene Türen einfacher öffnen lassen, aber das gilt für alle Bürger und nicht gesondert für die Afrobrasilianer (vgl. Korruption). Wenn wir von einer historischen Perspektive ausgehen, werden wir feststellen, daß es einen ergänzenden Gedanken gibt, der mit Ursache und Wirkung in der Geschichte zusammenhängt. Die Afrikaner waren nur Afrikaner, d.h nur »schwarz« als sie zu Sklaven gemacht wurden. Zu Menschen ohne Rechte, ohne Seele und ohne Macht; zu Menschen, die in jeder Hinsicht »arm« wurden. An-

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derseits ist es in Brasilien offensichtlich, daß die Afrobrasilianer zu den am niedrigsten sozio-ökonomischen Schichten gehören, daß sie aufgrund ihrer schlechten Ausgangsbasis nach der Abschaffung der Sklaverei keine Möglichkeit besaßen sich in die modernisierende, aber äußerste ideologisch-geprägte konservative und ausgrenzende Gesellschaft einzugliedern und anderseits aufgrund zahlreicher gesellschaftlicher Barrieren dies auch nicht durften. Sie sind hierdurch zu einer armen ethnischen Gruppe gemacht worden. Es steht heute fest, daß die Afrobrasilianer diskriminiert werden, weil sie arm sind. Aber in erster Linie sind sie arm, weil sie Afrobrasilianer sind und vor den sozialen, politischen und ökonomischen Mechanismen in die Armut gezwungen wurden und werden, indem zuerst auf ihre Hautfarbe geschaut wird, um ihnen dann eine gute oder schlechtere Stelle zu geben. Die Afrobrasilianer besitzen in diesem Sinne zwei »negative« Merkmale: Ihre ethnische Zugehörigkeit in Form der Hautfarbe und das Fehlen an Geld, d. h. ihre Armut. Sie erfahren somit eine doppelte Diskriminierung. Diese komplexe und reduktionistische Ideologie in der ökonomischen Diskussion ist in Brasilien sehr verbreitet. Im Gegensatz dazu könnte man am Beispiel von USA und Südafrika argumentieren, daß dort viele Afro-USAmerikaner und »Schwarz-Afrikaner« doch Macht, Geld und eine positive soziale Stellung errungen haben und dennoch rassisch diskriminiert werden. (vgl. !Assimilation) »O negro conhece o seu lugar«: Letztlich kann man sich fragen, ob der Glaube an die Integration der Afrobrasilianer in der brasilianischen Gesellschaft nicht daher stammt, daß die Afrobrasilianer immer noch »ihren Platz kennen« und im allgemeinen nicht versuchen andere »Plätze« in der Gesellschaft zu erobern. Die rassistischen und diskriminatorischen offenen Handlungen gegen Afrobrasilianer fangen in der Regel dort an, wo die Afrobrasilianer ihren Platz als Hausmeister oder Hausangestellte nicht erkennen und Anwälte oder Ärzte werden, und ein feines Restaurant besuchen möchten. Ab diesem Zeitpunkt sind sie offensichtlich nicht mehr an ihrem dienenden Platz und somit nicht mehr »integriert«. Wir möchten hier aber behaupten, daß solche Afrobrasilianer sich erst ab diesem Zeitpunkt eigentlich integrieren können, weil sie in der Lage sind, die für sie reservierten Plätze zu verlassen und die ethnischen Abgrenzungs-mechanismen in Frage zu stellen und alle gesellschaftlichen Räume für sich in Anspruch zu nehmen. Interethnische Beziehungen: Wer hat bisher nicht gehört, daß das Verhältnis zwischen den »Rassen« in Brasilien freundlich und unbelastet sei, daß Brasilien nicht zu vergleichen sei mit

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den manifesten rassischen Vorurteilen der USAmerikaner, daß es in Brasilien keine !Apartheid wie im früheren Südafrika gäbe. An jedem dieser Gedanken ist etwas Wahres, dennoch entsprechen sie nicht der Realität dieser Beziehungen. Da wir bereits in verschiedener Hinsicht die herrschende Diskriminierung innerhalb der brasilianischen Gesellschaft behandelt haben, sollen hier nur einige Aspekte dieser komplexen Situation behandelt werden. (vgl. !Bikulturelle Ehen und Partnerschaften) Rassismus à brasileira: Eine Besonderheit der interethnischen Beziehungen in Brasilien besteht darin, daß die Mitglieder der unterschiedlichen ethnischen Gruppen die Existenz von !Rassimus im allgemeinen verleugnen, obwohl die damit verbundene rassische !Diskriminierung in ihrer Praxis sehr häufig zugegeben wird, was ein Widerspruch darstellt. Die Schwierigkeit der Erfassung des ideologischen Rassismus hängt zwielfellsohne mit der subtilen Form zusammen, in der er ausgeübt wird. Die typische brasilianische Haltung hinsichtlich dieser Frage beginnt sich jedoch langsam zu ändern. Zwischen den entscheidenen Personen, die behaupten, daß Brasilien vollkommen gemischt sei und deshalb keine rassischen Vorurteile möglich seien, und denjenigen, die zugeben das Vorurteile doch existieren, beobachten wir gegenwärtig eine eher offenere Haltung bzgl. der Offenlegung der Vorurteile. Am Anfang des Jahres 1997 hat sogar der damalige Präsident der Republik Fernando Henrique Cardoso öffentlich erklärt, daß es in Brasilien rassische Diskriminierung gibt, was bisher nie auf der politischen Ebene offiziell zugegeben wurde. Dies verändert jedoch noch wenig die alltägliche Praxis der Beziehungen insbesondere zwischen Afrobrasilianern und Weißen. Anhand einer Erhebung der renommierten Tageszeitung »Folha de S¼o Paulo« von 25. 06. 1995 unter dem Titel »Herzlicher Rassismus« (racismo cordial), die hier nur exemplarisch angeführt werden kann, obgleich sie eigentlich die Ergebnisse zahlreicher wissenschaftlicher Forschungen bestätigt, können wir feststellen, daß der Rassismus doch existiert, aber in einer oftmals nicht konfrontrativen Art und Weise gedeutet und als »herzlicher« interpretiert wird: Herzlicher Rassismus (racismo cordial), welch ein Widerspruch! Tatsache ist, daß im Jahre 1991 beispielsweise 86 % der ermordeten Personen Afrobrasilianer waren, was als ein sehr deutliches Indiz für die ethnische Problematik Brasiliens angesehen werden kann. Die Eindeutigkeit der Existenz dieses Rassismus zeigt sich in der Aussage von 87 % aller nicht-afrobrasilianischer Befragten über 16 Jahre, die zugaben doch in einem bestimmten Ausmaß rassische Vorurteile gegen die Afrobrasilianer zu hegen, wobei der Nordosten Brasiliens und insbesondere Pernambuco als die stärkste rassistische Region bezeichnet werden kann. In sprachlichen Bildern oder !Sprichwörtern wie beispielsweise »Wenn

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der Schwarze nicht am Eingang scheißt, dann scheißt er am Ausgang«, oder in der lobenden und abgrenzenden Aussage »Du bist schwarz, aber Du hast eine weiße Seele«, oder noch »ich habe keine rassischen Vorurteile, das Kindermädchen meiner Kinder ist sogar eine Afrobrasilianerin« erkennen wir offensichtlich die vorurteilsbeladene Sichtweise über die Afrobrasilianer wieder. Dies sind oft Aussagen von Personen, die sich als nicht-rassistisch bekennen, was uns die Unbewußtheit ihrer Haltung deutlich macht. Interessant scheint in diesem Zusammenhang auch das Ergebnis, daß 48 % aller befragten Afrobrasilianer ebenfalls der Meinung sind, daß »ein guter Schwarzer eine weiße Seele besitzt« und 8 % von ihnen glauben sogar, daß die Weißen intelligenter sind als die Afrobrasilianer im Allgemeinen. Die Ausdrucksweise des Rassismus — brasileira hat solche subtilen Mechanismen herausgebildet, die bewirken, daß indirekt und unbewußt die negative Sichtweise zu sich selbst und zu der eigenen ethnischen afrobrasilianischen Gruppe von den Afrobrasilianern selbst übernommen wird (Introjektion), was den allgemeinen Rassismus noch verstärkt. Es ist eine alltägliche Erfahrung, mit der die Mittelschicht-Afrobrasilianer ständig konfrontriert werden, daß z. B. die Angeklagten, unabhängig von der eigenen Hautfarbe keinem afrobrasilianischen Richter trauen, daß die Kranken sich von Afrobrasilianern nicht operieren lassen wollen, etc. Aus der Erhebung der »Folha de S¼o Paulo« wurde ebenfalls deutlich, daß 67 % der Afrobrasilianer der Südostregion glauben, daß auch ein Anti-Weißen-Rassismus latent existiert. Zusätzliche Aspekte derselben Frage: Das IBASE zeigt deutlich, daß ethnische Diskriminierung gegenüber den Afrobrasilianern hauptsächlich im öffentlichen Bereich ausgeübt wird, d. h. in Vereinen, Clubs, Restaurants, Hotels, Läden, wo Afrobrasilianern nicht bedient und oft vor Weißen übergangen werden oder, daß ihnen der Zugang zu diesen Bereichen verwehrt wird. Angesichts dieser Tatsache wurde festgestellt, daß 58 % aller diskriminierten Afrobrasilianer nichts dagegen unternommen hat. Trotz der häufigen Verneinung der rassischen Vorurteile gegen die Afrobrasilianer ist deutlich, daß diese sich ebenfalls stark ausgedrückt finden, wenn es sich um familiäre Beziehungen handelt. 25,6 % der befragten Brasilianer sagen, daß sie nicht akzeptieren würden, wenn das eigene Kind oder die eigenen Geschwister eine Ehe mit einem Afrobrasilianer schließen würden. Ein Hauptmerkmal dieser Aussage ist die wirtschaftliche Stellung der befragten Familie: Umso mehr eine weiße Familie verdient, desto intolerranter, d. h. rassistischer, ist sie gegenüber der Aufnahme von Afrobrasilianern als eingeheiratete Familienmitglieder. Allgemein kann behauptet werden, daß in den unteren sozioökonomischen Schichten eine etwas größere Toleranz gegenüber der Heirat einer helleren Frau mit einem Afrobrasilianer besteht, insbesondere wenn dieser

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eine eher stabile Arbeitssituation aufweist: Er wird dann eher akzeptiert in der Familie der Frau wegen der Möglichkeit ihrer ökonomischen Sicherheit. Dies bedeutet bei weitem noch nicht, daß die aufgenommenen Afrobrasilianer innerhalb einer weißen Familie von rassischen Diskriminierungen befreit sind, sie werden oftmals sowohl von Weißen als auch von Afrobrasilianern kritisiert oder sogar aus den früher bestehenden sozialen Gruppierungen ausgeschlossen.

»A entrada de serviço«: Das brasilianische Bewußtsein und der brasilianische Alltag sind, was ethnische Beziehungen betrifft, geteilt bzw. gespalten. Dies läßt sich sehr gut beobachten, wenn wir die getrennten Eingänge in den ökonomisch bessergestellten Hochhäusern der Großstädte betrachten. Obwohl kein weißer Brasilianer zugeben wird, daß der »soziale« Eingang und Aufzug dazu da sind, um Weiße und NichtWeiße zu trennen, ist es eine Tatsache, daß deren Benutzer nur die Eigentümer und deren Freunde sind, die fast ausschließlich Weiße sind, die den gehobenen sozio-ökonomischen Schichten angehören. Auf der anderen Seite besteht das Personal, für das angeblich allein der Diensteingang (entrada de serviÅo) und -aufzug existiert, fast auschließlich aus den ethnischen Minderheiten, d. h. Afrobrasilianern. Obwohl getarnt – soziale Trennung, um die ethnische Separation zu verschleiern -, kommt es sehr häufig vor, daß dieser Schein nicht eingehalten wird und die wahre Funktion dieser Eingänge erkannt wird. So war es beispielsweise im Falle der sehr berühmten afrobrasilianischen Komponistin und Sängerin Lecy Brand¼o, die beim Besuch von Freunden in einem vornehmen Stadtteil vom Wächter angewiesen wurde den Diensteingang zu benutzen. Nachdem diese militante Afrobrasilianerin den Hausverwalter rufen ließ, sagte dieser, daß sie, weil sie Lecy Brand¼o sei, den sozialen Eingang ausnahmsweise betreten dürfe. In einer noch deutlicheren Art der rassischen und sozialen Diskriminierung verhielt sich der weiße Hausverwalter eines Hochhauses im teuren Stadteil Leblon (Rio de Janeiro): Er hatte eine afrobrasilianische ! empregada dom¦stica (Hausangestellte) im sozialen Aufzug für zwei Stunden zur »Strafe« eingeschlossen, und dies weil der Dienstaufzug kaputt war und sie deshalb den Sozialaufzug benutzt hatte. Er wollte ihr »beibringen«, daß sie ihren »richtigen Platz« erkennen und akzeptieren sollte. Solche Fälle sind in Brasilien alltäglich und zahlreich, obwohl diese Handlungen gesetzlich verurteilt werden können. Verhängnisvoll ist dabei auch die Verstrickung der Afrobrasilianer in diesem Kontext als befehlsausübende Personen. Damit ist gemeint, daß viele der Hausmeister, Hauswächter und Pförtner in diesen Häuser Afrobrasilianer sind, das bedeutet, daß sie diese rassistischen diskriminierenden Handlungen als erste gegenüber der eigenen ethnischen Gruppe ausführen müssen, was sowohl

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intra- und interethnische Konflikte entstehen läßt, als auch zu einer Anpassung dieser Berufstätigen an die rassistischen Werte der weißen Elite führen kann. Die Afrobrasilianer in den Medien: Ein wichtiger Bereich für die Meinungsbildung sind in Brasilien die Massenkommunikations-mittel, darunter insbesondere das Fernsehen. Hierbei wird u. a. deutlich wie sehr die interethnischen Beziehungen belastet sind und wie einseitig die Afrobrasilianer in der Öffentlichkeit immer noch betrachtet werden (vgl. z. B. Lopes, 2006:160). Außer der Tatsache, daß in nur 11 % aller Werbungen in Brasilien afrobrasilianische Personen überhaupt gezeigt werden, werden sie in der Regel in negativen Rollen oder in pejorativen Bildern dargestellt. Die Zeitungsnachrichten betrachten die Afrobrasilianer nur von der negativen Seite her : als Kriminelle, !Straßenkinder, als Angehörige der niedrigen sozio-ökonomischen Schichten und in ihrer Marginalität. Ein aufwertendes, nicht diskriminierendes Bild dieser Bevölkerungsgruppe existiert kaum in den Medien, was für eine tiefgreifende rassistische Haltung dieser Medien spricht, aber auch als Abbild der diskriminierenden Stellung der Afrobrasilianer in der bras. Gesellschaft angesehen werden kann. Da die Darstellung der Afrobrasilianer in den Medien kaum stattfindet (visibilidade) und ihre gesellschaftliche Situation ohne diskriminierenden Hintergrund nie berücksichtligt wird, gründeten Afrobrasilianer kürzlich die erste spezifische Zeitschrift für diese Bevölkerungsgruppe mit dem Titel »RaÅa Brasil« nach einem USAmerikanischen Vorbild. Darin wird alles, was die Afrobrasilianer betrifft, angesprochen von der Haarfrisur bis hin zur Sklavereigeschichte. Die Aufwertung des Images dieser Gruppe ist in der Zeitschrift eine deutliche Linie, wodurch sie den herrschenden subtilen und »herzlichen« Rassismus bekämpfen will und den sozio-ökonomischen Aufstieg der Afrobrasilianer zu verbreiten sucht. Mit einer Auflage von 300.000 Exemplaren ist die Zeitschrift »RaÅa Brasil« bisher ein voller Erfolg. Über die Rolle der Afrobrasilianer in den beliebten »telenovelas« liegt eine aufschlussreiche Untersuchung von Araffljo (2000) vor: die »Negation Brasiliens«. !Anhang !Apartheid !Bibliografien !Bildung !Diskriminierung !Einführung !Exklusion !Film !Literatur !Ökonomie und Arbeitswelt !Organisationen !Politik !Rassismus !Segregation St. Zweig (1941,1981): Brasilien. Ein Land der Zukunft. Frankfurt/M.; Th. de Azevedo (1966): Cultura e situażo racial no Brasil. Rio de Janeiro; R. Cardoso de Oliveira (1976): Identidade etnica e estrutura social. S¼o Paulo; Th. E. Skidmore (1976): Preto no branco: raÅa e nacionalidade no pensamento brasileiro. Rio de Janeiro; Cl. Moura (1977): O negro de bom escravo a mau cidad¼o? Rio de Janeiro; ders. (1988) : Sociologia do negro brasileiro. S¼o Paulo; Fl. Fernandes (1977): Circuito fechado. S¼o Paulo; ders. (1989): Si-

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gnificado do protesto negro. S¼o Paulo; A. do Nascimento (1978): O genoc†dio do negro brasileiro. Rio de Janeiro; C. Hasenbalg (1979): DiscriminaÅþes e desigualdades raciais no Brasil. Rio de Janeiro; P. Singer (1981): Dominażo e desigualidade. Estrutura de classes e repartiżo da renda no Brasil. Rio de Janeiro; Brasilien Dialog (1981). Informationen: Rassen-Demokratie. Mettingen, 2; J. A. Giannotti (org.) (1983): Auguste Comte. S¼o Paulo; L. E. G. de Oliveira, R. M. Porcaro & T. C. N. Araffljo (1985): O lugar do negro na forÅa de trabalho. Rio de Janeiro; G. Seyferth (1986): A estrat¦gia do branqueamento. CiÞncia Hoje (RJ), 5 (25), p. 54 – 56; Cl. Moura (1988): Sociologia do negro brasileiro. S¼o Paulo; IBASE (1989). Negros no Brasil. Dados de realidade. Petrûpolis; IBGE (1989). Pesquisa nacional por amostra de domic†lios – 1987; cor da populażo. Rio de Janeiro; Ý. de Vita (1989): Sociologia da sociedade brasileira. S¼o Paulo; O. Ianni (1989): Sociologia da sociologia. S¼o Paulo; Fûrum de ONGs Brasileiras (1992). Meio Ambiente e Desenvolvimento: Uma vis¼o das ONGs e dos Movimentos Sociais Brasileiros. Rio de Janeiro; B. Silva (1992): ViolÞncia, exterm†nio: para onde v¼o nossas crianÅas? Bras†lia; J. Burdick (1993): Die brasilianische Bewegung für schwarzes Selbstbewußtsein. In Lateinamerika – Analysen und Berichte, 16, S. 125 – 135; W. do Nascimento Barbosa & J. Rufino dos Santos (1994): Atr‚s do muro da noite (Din–mica das culturas afro-brasileiras). Bras†lia; L. Gonzalez (1994): Mulher Negra. In Carta’: falas, reflexþes, memûrias, 4, 13, S. 171 – 182; IBGE (1994). Cúr da populażo: S†ntese de Indicadores 1982 – 1990. Rio de Janeiro; P. Singer (1995): Um mapa da exclus¼o social no Brasil. Rio de Janeiro; IBGE (1997): Pesquisa Nacional por Amostra de Domic†lios – 1993. Rio de Janeiro; IPHAN (1997): Negro Brasileiro Negro. Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N8 25; Kl. Hart (1997): Gangster, Favelados, Bischöfe. Sozialreportagen aus Brasilien. Mettingen; Th. Skidmore (1998): Uma historia do Brasil. S¼o Paulo (2.ed.); D. Nohlen (Hg.) (2000): Lexikon Dritte Welt. Reinbek; J. Z. Araffljo (2000): A negażo do Brasil: o negro na telenovela brasileira. S¼o Paulo; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Gesundheit G. ist nach einer allgemein gültigen Definition der WHO (OMS) der »Zustand vollkommen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheiten und Gebrechen.« Zur G. der Sklavinnen und Sklaven: Systematische Studien über den allgemeinen Gesundheitszustand, die Krankheits-, Geburts- und Todesraten der Sklavinnen und Sklaven liegen bisher nur vereinzelt vor (vgl. z. B. Freitas, 1935; Karasch, 1987:92ff; Scis†nio, 1997:131 f). Karasch (1987), die vor allem die städtische Sklaverei in Rio de Janeiro im Zeitraum von 1808 bis 1850 untersuchte, führt folgende häufigste Erkrankungen auf: Tuberkulose (als Haupttodesursache), Dysenterie, Diarrhoe, Gastroenteritis, Pneumonie, Syphilis, Hepatitis, Malaria, Rheumatismus, Apoplexie und

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Krämpfe bei Kindern. Gefunden wurden auch Epilepsie, !Suizid, akute Manie, Tetanus. Die gesundheitliche Situation der ländlichen Sklaven auf den grossen »fazendas« war jedoch eine gänzlich andere. Z. B. kam bei den barfuß laufenden Sklaven häufig der parasitäre »bicho de p¦« (Scis†nio, 1997:66; Lopes, 2006:153) vor. Eine andere, häufig tödlich verlaufende Erkrankungen waren »quizila« (aus dem Kimbundo: !Tabu) oder »maculo« (Scis†nio, 1997:239, 286). Die Krankheitsbilder der Sklaven können allgemein als eine »Mischung« aus Tropenkrankheiten, Armuts- bzw. Mangelkrankheiten, chronischen Erschöpfungszuständen und von Europäern eingeschleppten Krankheiten beschrieben werden. Freyreiss (1789 – 1825) schreibt z. B. im Jahre 1815 über den Gesundheitszustand der Sklaven folgendes: »Die Krankheiten dieser neuangekommenen Sklaven sind sehr zahlreich und scheinen mit dem Ungemach und Beschwerden die sie erlitten und deren Folge sie sind, im Verhältnis zu stehen. Durch ansteckende Fieber, die Ruhr, den Scorbut, das Heimweh und so weiter, sterben viele ehe sie noch an den neuen Herrn kommen und auch oft nachher. Aber auch die Pocken raffen jährlich eine grosse Menge solcher Unglücklichen dahin, ohngeachtet alle unentgeldlich geimpft werden können: wozu auf königliche Kosten, an vielen Orten, Anstalten errichtet sind. Allein so gross ist die Gleichgültigkeit der Sklavenhändler für das Leben dieser unglücklichen Schwarzen; dass sie von diesen nützlichen Anstalten wenig Gebrauch machen und selbst Sklavenhändler die solche nach dem Innern abführen, verlassen oft die Hauptstadt, ohne einen einzigen Sklaven, vacciniert zu haben. – Es ist jedoch nicht zu leugnen dass auch hier die meisten Kranken aus Mangel an Sorgfalt und geschikten Ärzten umkommen.« (Freyreiss, 1968:95) Die Sklaven waren also eine ausgesprochen hohe Risikogruppe hinsichtlich Mortalität und Morbidität. Die fehlenden hygienischen Bedingungen (auf die bereits einige bras. Ärzte aufmerksam machten), die mangelhafte Bekleidung, die prekäre Ernährungs- und Wohnsituation, die harten, völlig erschöpfenden Arbeitsbedingungen, die geringe ärztliche Versorgung erhöhten nicht nur die Kindersterblichkeit, sondern auch die allgemeine Mortalität und Morbidität der afrikanischen Sklaven (zur gesundheitlichen Situation der !Sklavenkinder, vgl. Stubbe, 2001:101 – 121). Manche Afrobrasilianisten (z. B. Abdias do Nascimento, 1978) sprechen deshalb auch von einem !Genozid. Die G. der Afrobrasilianer: Auf dem I. Afrobrasilianischen Kongress in Recife (1934) wurde bereits die seelische G. der Afrobrasilianer behandelt. Zu welchen Ergebnissen über die Afrobrasilianer/»negros« kam die bras. Psychiatrie der damaligen Zeit? J. R. Cavalcanti, ein Schüler von Austregesilo (1876 – 1960), stellt generell die höhere Langlebigkeit (longevidade) der »negros« (unter denen er einige Hundertjährige

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fand!) gegenüber den Weißen fest (vgl. auch Scis†nio, 1997:236). Hierbei ist jedoch kritisch anzumerken, dass die Kindersterblichkeit bei den Afrobrasilianern beträchtlich hoch war. Ulysses Pernambuco stellt einen höheren Anteil von »doenÅas mentaes« (Geisteskrankheiten) bei den Afrobrasilianern Pernambucos fest (institutionelle Inzidenz): bei den »konstitutionellen Psychosen« (psychoses constitucionaes z. B. Schizophrenie, manisch-depressives Irresein etc.) findet er eine geringere Häufigkeit, bei den »organischen Psychopathien« (psychopatias organicas; z. B. Epilepsie, Involutionspsychosen, Ologophrenien etc.) und den »toxischen und infektiösen Psychosen« (psychoses toxicas e infecciosas; z. B. !Alkoholismus, etc.) dagegen eine höhere. Cunha Lopes & Reis beobachten, dass zwischen 1931 und 1933 in der Psychiatrischen Klinik von Rio de Janeiro 19,02 % »negros«, 22,76 % »mulatos« und 58,21 % »brancos« aufgenommen wurden. Kritisch läßt sich allgemein zu all diesen Untersuchungen sagen, dass sie nicht repräsentativ waren, sondern die ungleiche (ungerechte) medizinische bzw. psychiatrische Versorgungssituation in Brasilien wiederspiegeln und dass ihnen ein Rassenkonzept bzw. ein »Rassendeterminismus« zugrundeliegt, der die »negros« grundsätzlich als minderwertiger als die »brancos« betrachtete. Eine kritische Sozial- oder Transkulturelle Medizin und Psychiatrie war noch nicht bekannt (vgl. Estudos Afro-Brasileiros, 1988). Beim »nervosismo« (1. Syn. für Neurasthenie. 2. Syn. für Nervosität) handelt es sich um eine häufige Beschwerde im modernen Brasilien – ein kulturgebundenes Leidensphänomen -, das in allen Schichten, aber besonders bei der urbanen (afrobras.) Arbeiterklasse angetroffen wird. Duarte (1988) untergliedert in seiner sozialanthropologischen Untersuchung »nervosismo« in 96 verschiedene Unterbegriffe, je nach Symptomatik, Dynamik, medizinisch-religiösem Verständnis, Erscheinungsform etc. In der (afro)brasilianischen »medicina rfflstica« (z. B. Araffljo, 1979) und ! Phytotherapie findet man eine Fülle afro-brasilianischer Heilmittel und –praktiken, die bereits bei den Sklaven Verwendung fanden (vgl. Scis†nio, 1997). !Einführung !Alkoholismus !Banzo !Bibliografien !Ethnopsychotherapie !Frau !Heilerinnen !Krankeitsvorstellungen !maconha !Phytotherapie !Reiseberichte !Sklavenkindheit !Sklaverei !Suizid C. A. Taunay (1839): Manual do agricultor brazileiro. Rio de Janeiro; J. B. Imbert (1839): Manual do fazendeiro ou tratado dom¦stico sobre as enfermidades dos negros. Rio de Janeiro; J. F. X. Sigaud (1844): Du climat et des maladies du Br¦sil, ou statistique m¦dical de cet Empire. Paris; H. A. Cunha (1845): Dissertażo sobre a prostituiżo, em particular na cidade do Rio de Janeiro. Faculdade de Medicina (RJ). Rio de Janeiro; D. Gomes Jardim (1847): Algumas consideraÅþes sobre a higiene dos escravos. Faculdade de Medicina (RJ). Rio de Janeiro; J. R. de Lima Duarte (1849): Ensaio sobre a higiene da escravatura no Brasil. Faculdade de Medicina (RJ). Rio de Janeiro; J. A. de Oliveira Botelho (1850): A escravid¼o. Faculdade de Medicina (RJ). Rio de Janeiro; R. Teuscher (1853): Algumas observaÅþes

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sobre a estat†stica sanit‚ria dos escravos nas fazendas de caf¦. Faculdade de Medicina (RJ). Rio de Janeiro; P. da Silva (1869/70): Memûria sobre a amamentażo e as amas de leite. Annaes Brasilienses de Medicina, vol. 1869 – 1870; J. Alves de Macedo Jfflnior (1869): Da prostituiżo no Rio de Janeiro. Rio de Janeiro; O. Clark (1918): A s†filis no Brasil e suas manifestaÅþes viscerais. Rio de Janeiro; A. Botelho (1932): Estudos sobre a demÞncia precoce entre negros e pardos realizados no Rio de Janeiro em 1917. Boletim de Eugenia; O. de Freitas (1935): DoenÅas africanas no Brasil. S¼o Paulo; C. Lopes (1935): Aspectos psicopatolûgicos das raÅas no Brasil. Revista de Patologia Cl†nica. Rio de Janeiro; ders. (1935): Ensaio etno-psiqui‚trico sobre negros e mestiÅos. Estudos Afro-Brasileiros (RJ); (Vifflva) Jul. Moreira (1938): Juliano Moreira e o problema do negro e do mestiÅo no Brasil. Novos Estudos Afro-Brasileiros (RJ); C. de Araffljo (1939): Sobre a incidÞncia da tuberculose no preto da Bahia. Revista de Tisiologia da Bahia, (julho/agosto); R. Bastide (1950): Medicina e magia nos candombl¦s. Boletim Bibliogr‚fico, N8 XVI, S¼o Paulo; J. MendonÅa Castro (1951): A medicina do portuguÞs, do †ndio e do negro no s¦c. XVI. Anais do Congresso de Histûria Nacional; C. Ott (1960): A Santa Casa de Misericûrdia da cidade do Salvador. Rio de Janeiro: PHAN; L. Ribeiro (1972): Medicina no Brasil colonial. Rio de Janeiro; L. Mesgravis (1973): A Santa Casa de Misericordia de S¼o Paulo (1599 – 1884). 2 vol.s Doutorado. S¼o Paulo: USP-FFLCH; J. B. de Castro et al. (1973): A mortalidade entre os filhos de trabalhadores pretos e brancos estrangeiros numa regi¼o cafeeira paulista: 1875 – 1930. Revista de Histûria (SP), 46 (94), abr./jun., p. 603 – 617; I. del Nero da Costa (1976): An‚lise da morbidade nas Gerais (Vila Rica, 1799 – 1801). Revista de Histûria (SP), 54 (107), p. 241 – 262; M. E. Vianna Nery (1977): Psiquiatria folclûrica do candombl¦. Mestrado. Salvador : UFBa; R. Machado et al. (1978): Danżo da Norma. Medicina Social e Constituiżo da Psiquiatria no Brasil. Rio de Janeiro (gute Bibliografie); A. Maynard Araffljo (1979): Medicina rfflstica. S¼o Paulo; L. Santos Filho (1980): Pequena Histûria da Medicina Brasileira. S¼o Paulo; P. Carvalho de Melo (1983): Estimativa da longevidade de escravos no Brasil na segunda metade do s¦c. XIX. Estudos Econúmicos (SP), 13 (1) S¼o Paulo; E. M. G. Tamburo et al. (1987): Mortalidade infantil da populażo negra brasileira (1960 – 1980). Campinas: UNICAMP; M. C. Karash (1987): Slave life in Rio de Janeiro (1808 – 1850). New Jersey ; M. G. Gonz‚lez de Morell & R. de Souza Silva (1988): A mortalidade intra-uterina por cor : um estudo no munic†pio de S¼o Paulo. In: Encontro Nacioinal de Estudos Populacionais, 6, Olinda, Anais…, v.3, p. 359 – 392; W. P. Carvalho (1988): O escravo chirurgi¼o. Campos dos Goitacases: Damad‚; A. Púrto (1988): A assistÞncia m¦dica aos escravos no Rio de Janeiro: o tratamento homeop‚tico. In: Reflexþes sobre a escravid¼o. Rio de Janeiro: Fund. Casa Rui Barbosa; L. F. D. Duarte (1988): Da vida nervosa nas classes trabalhadoras urbanas. Rio de Janeiro; G. Pereira (1989): A nutriżo e a safflde do escravo. CiÞncia & Trûpico (Recife), 17 (1), p. 51 – 61; J. Birman (1989): O negro no discurso psiqui‚trico. Rio de Janeiro: Instituto de Filosofia e CiÞncias humanas/UERJ, p. 44 – 58; D. A. Azibo (1989): African-centered theses on mental health and a nosology of black/African personality disorders. Journal of Black Psychology, vol. 15 (2), p. 173 – 214; S. Carneiro & E. Roland (1990): A safflde da mulher no Brasil: a perspectiva da mulher negra. Revista da Cultura Vozes (Petrûpolis), 84 (2), mar./abr., p. 204 – 210; J. M. Gertze (1990): Notas para o estudo da mortalidade infantil entre a escravid¼o negra no Rio Grande do Sul (1850 – 1872). Estudos Ibero-Americanos (Porto Alegre), 16 (1/2), p. 137 – 159; G. Burkhart (1994): Die Kinder Omulffls. Der Einfluß afrobrasilianischer Kultur auf Wahrnehmung von Körper und Krankheit. Frankfurt/M.; A. Leibing (1995): Blick auf eine

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Haare (cabelos) Einführung: H. spielen als Forschungsgegenstand in Kulturanthropologie eine wichtige Rolle. Sie werden oftmals als Kraftträger oder als Träger eines »Seelenstoffes«, im Haaropfer (pars pro toto), als Heilkraft, im Liebeszauber etc. verwendet und in Zusammenhang mit !Initiation, !(Haar-, Bart-)Trauer, Verwitwung abgeschnitten (!Depilation) bzw. verändert. Eine psychische Auffälligkeit ist das Knabbern, Beissen, Aufessen (Trichophagie) oder zwanghaftes Ausrupfen der H. (Trichotillomanie). Als ethnisches Identifikations-Merkmal zeigen Haartrachten in traditionellen Gesellschaften eine spezifische Symbolik, Semantik und Formenvielfalt (vgl. etwa Frehn & Krings, 1986). Afroamerikanische und asiatische Dreadslocks sind eine Zeiterscheinung: kunstvoll ineinander verknotete, winzige Zöpfe, prächtige gewundene Strähnen. Im hinduistischen Glauben symbolisieren sie das unbeirrbare Streben nach spiritueller Erfüllung. Im westlichen Kulturkreis sind Dreadlocks ein relativ neues Phänomen, das von der Black Power Bewegung der 60er Jahre ausgelöst wurde. Zur Einführung mögen einige aufschlussreiche Zitate dienen, die zugleich wichtige Aspekte einer »Kulturanthropologie des Haares« beleuchten können: »Die Nacktheit des Menschen ist eines seiner auffälligsten Merkmale. Der während seiner Evolution eingetretene Verlust der Körperbehaarung verweist mit Nachdruck auf seine Tropenherkunft.« (Campbell, 1979:306) »Segffln creencia muy generalizada, los cabellos juegan un importante papel para evitar enfermedades, atraer el amor de alguien que se muestra reticente, favorecer la maternidad, etc.« (Coluccio, 1984:79) »… es standen mir die Haare zu Berge an meinem Leibe.« (Hiob, 4,15) »Sû quero mulher, que faÅa caf¦, n¼o ronque dormindo e dÞ cafun¦.« (Brasilianische Redensart)

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»Die direkte Beobachtung des Haares hat vor allem die Farbe und die Form zu berücksichtigen. Sie ist, wenn möglich, auszudehnen auf Kopf-, Bart-, Scham- und übriges Körperhaar. Wo wesentliche Unterschiede vorliegen, ziehe man auch Augenbrauen und Wimpern in die Untersuchung ein.« (Martin, 1914:187) »… the social anthropologist ordinarily has little interest in the individual as such; his major concern is with individuals acting as members of groups. His unit of observation is not one human being in isolation but rather a ›relationship‹ linking one individual to another within a wider social field.« ( Leach, 1958:151) »Der auffallendste, wenn auch seltene und abnorme Fall, welcher für den directen Einfluss des Nervensystems auf den Körper angeführt werden kann, wenn erstres heftig afficirt wird, ist das Erbleichen des Haars, welches gelegentlich nach äusserst heftigem Schreck oder Kummer beobachtet worden ist. Ein authentischer Fall ist von einem Manne in Indien berichtet worden, welcher zur Hinrichtung geführt wurde und bei welchem die Veränderung der Farbe so schnell eintrat, dass sie für das Auge wahrnehmbar war.« (Darwin, 1872:67 f) »In der Halle stehe ich, der ewige Student, mit meinen ganz weissen Haaren. Ich ziehe rasch hintereinander den Duft der Blüten ein, den der Wind mir zuführt, und der Gedanke an die Vergänglichkeit dieser Blüten entlockt mir Tränen.« (Tu Fu (712 – 770), Klage über den Herbstregen) »A agua n¼o tem cabellos« (Brasilianisches Sprichwort aus Amazonien) »Cabelo branco ¦ capim de cemit¦rio« (Brasilianisches Sprichwort; Mota, 1982:83) »Nachdem die Soziologen gezwungenermaßen etwas zu viel zergliedert und abstrahiert haben, sollten sie sich nun bemühen, das Ganze wieder zusammenzusetzen.« (Mauss, Bd.1, 1974:20)

ZurKulturanthropologie des Haares: Das Haar als »fait social total«: Unter »fait social« (dt. etwa soziale Tatsache, Tatbestand) versteht man eine von Êmile Durkheim (1858 – 1917) geprägte soziologische Kategorie zur Entwicklung einer eigenständigen (insbes. von der Psychologie abgrenzbaren) soziologischen Theorie. Durkheims Neffe Marcel Mauss (1872 – 1950), der 1925 zusammen mit Paul Rivet (1876 – 1958) das »Institut d’Etnologie« in Paris gründete, entwickelte aufgrund seiner vergleichenden Studien über den Gabentausch (Essai sur le don, 1925; dt. 1978, vgl. Brandstetter, 2001:289 – 294) später den Begriff »fait social total« weiter : damit sind soziale Phänomene gemeint, in die alle Aspekte der gesellschaftlichen Praxis und alle Institutionen und Gruppen verwoben sind d. h. Phänomene, die sich durch sämtliche Bereiche des menschlichen Denkens und Handelns (z. B. Kosmologie, Recht, Wirtschaft, Politik, Ästhetik, Morphologie etc.) hindurch bemerkbar machen. »Wir haben es immer mit seinem Körper (des Menschen, Anm. des Verf.) und

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seiner Mentalität im ganzen zu tun, wie sie zugleich und auf einen Schlag gegeben sind. Körper, Seele, Gesellschaft – im Grunde vermischt sich hier alles miteinander. Es handelt sich nicht mehr um Spezialtatsachen dieses oder jenes Teils der Mentalität, sondern uns interessieren Tatsachen einer sehr komplexen, der komplexesten vorstellbaren Ordnung. Ich schlage vor, sie Totalitätsphänomene zu nennen, an welchen nicht nur die Gruppe teilhat, sondern durch sie alle Personen, alle Individuen in ihrer moralischen, sozialen, mentalen und vor allem körperlichen oder materiellen Gesamtheit.« (Mauss, Bd.2, 1978:166) Wendet man diese Maussche Herangehensweise auf die menschlichen Haare an, so bedeutet dies daß es sich zufriedenstellend nur aus einer interdisziplinären Perspektive (d. h. medizinisch, soziologisch, ethnologisch, psychologisch, kommunikationswissenschaftlich, historisch, rechtlich etc.) heraus gleichsam »mit Haut und Haaren« wissenschaftlich erforschen läßt. Die Kulturanthropologie als eine Basis- und Integrativ-Wissenschaft aller Humanwissenschaften bietet hierfür die beste Grundlage (vgl. Girtler, 1979). Das biologische Haar: In den medizinischen und physisch-anthropologischen Lexika werden die täglich wachsenden Haare (pili) als ein- oder mehrzellige, meist fadenförmige Bildungen der Epidermis (Hautanhangsgebilde) mancher Tiere und des Menschen beschrieben. Unter den Wirbeltieren haben nur die Säugetiere Haare. Bei ihnen dienen diese Hornfadengebilde v. a. der Temperaturregulation und als Strahlenschutz, haben aber auch Tastsinnesfunktion und stellen einen Schmuckwert oder Tarnschutz dar. Wir verzichten auf weitere anatomische Details, möchten aber noch erwähnen, daß die Gesamtzahl der Haare beim Menschen etwa 300.000 – 500.000 beträgt und rd. 25 % auf die Kopfbehaarung entfallen (zur klassischen physisch-anthropologischen Literatur und Forschung des ausgehenden 19. Jh.s vgl. Martin, 1914:1111 – 1114,1115 – 1116). Das biologische Haar gibt auch Hinweise auf Ernährungsgewohnheiten und Gifte (vgl. Toxikologie). In einer kürzlich veröffentlichen bras. Studie berichten E. C. Oliveira Santos et al. (2003:199 – 206) über den (durch Elektrofotometrie erfassten) Quecksilbergehalt (Hg) in den Haaren der Pakaanûva (Guajar‚ Mirim und Nova Marmor¦ in Rondúnia, Amazonien) (N=910). Die Mittelwerte lagen bei 8,37lg/g und waren erhöht. Durch die »garimpeiros« (Goldwäscher) werden verschiedene Bäche in den indianischen »Reservas« ständig mit Quecksilber verseucht. Quecksilbervergiftungen schädigen bekanntlich die Nieren und das Nervensystem (Gedächtnisverlust, Muskelzuckungen, Fingertremor etc.). Wir können somit nicht nur eine »Zerstörung der indianischen Seelen« (Gambini, 1988, 2000; Stubbe, 1996) vor allem durch Missionare konstatieren, sondern auch eine schleichende »Intoxikation der indianischen Leiber«.

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Das soziale Haar: In seinem Werk »De origine et situ Germanorum« (98 n. Chr.) hat Cornelius Tacitus (55- ca.120 n. Chr.) geschildert, wie Ehebruch bei den Germanen bestraft wurde: »abscisis crinibus nudatam coram propinquis expellit domo maritus ac per omnem vicum verbere agit.« (Tacitus, 1957:44) (entblößt, mit abgeschnittenem Haar jagt sie der Mann im Beisein der Verwandten aus dem Hause und treibt sie unter Peitschenhieben durch das ganze Dorf). Kahlschur bedeutete hier in der Regel Erniedrigung, Schande oder Ehrverlust, denn die freien männlichen Germanen trugen das Haar lang und nur die Knechte und Sklaven kurz. Von den Chatten berichtet Tacitus in dem genannten Werk: »sobald sie herangewachsen sind, lassen sie Haupt- und Barthaar wachsen und entledigen sich erst nach Erlegung eines Feindes der Haartracht, die ein Gelöbnis der Tapferkeit und ihr gleichsam als Pfand gegeben ist.« (Tacitus, 1957:73) Nach Tacitus (1957:87,137) waren die Sueben dadurch charakterisiert, dass sie das Haar schräg nach hinten kämmten und in einen Knoten(an der rechten Schläfe) hochbanden. Darin unterschieden sich die freien Sueben von den Sklaven, die kurzgeschnittenes Haar trugen. Oftmals wurde auch ein Scheitelknoten verwendet. Die Führer hatten eine noch kunstvollere hörnerartige Haartracht, um größer und schrecklicher auszusehen (vgl. auch die Soldaten der chinesischen Terrakotta-Armee). Im europäischen Mittelalter schor z. B. der Adoptivvater (als Zeichen der Aufnahme in die Familie) seinem Adoptivsohn die Haare. Das Kennzeichen der Ehefrau war im Mittelalter die Verschleierung des Haares (vgl. Hauben), während die Jungfrau es lang und unbedeckt und bisweilen zum Zopf geflochten trug (vgl. Pauler, 2007:78). Die Thematik »Behaarung = Tierhaftigkeit/ nicht-soziales Leben« ist durch verschiedene Kulturen hindurch anzutreffen. »§tre poilu« (frz.) bedeutet z. B. mutig sein. Die frz. Soldaten im I. WK. nannte man deshalb »poilus«, die Behaarten. Der weltberühmte »Struwwelpeter« (1847) des Psychiaters Dr. Heinrich Hoffmann (1809 – 1894) mit seinen ungekämmten Haaren wird zum bürgerlichen Schreckgespenst der Wildheit: »Pfui! Ruft da ein jeder : Garst’ger Struwwelpeter!«. »Nicht nur die Titelgestalt gehört zum festen Bestandteil bürgerlicher (literarischer) Sozialisation, sondern ist Ausdruck und Modell autoritärer Erziehung zur Anpassung durch Hemmung der Motorik und Triebunterdrückung.« (Wilpert, vol.2, 1993:1254) Christopher R. Hallpike (1990:184ff), ein Vertreter der kognitiven Anthropologie, der den Begriff »soziales Haar« 1969 eingeführt hat, spricht in Bezug auf die allgemeine Verbreitung des symbolischen Themas der Haare und des Haareschneidens im Zusammenhang mit Ritualen von universellen Aspekten des Symbolismus und ihren nicht-kulturellen Wurzeln. »Man versteht deshalb, daß der rituelle Haarschnitt als Symbol

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für die Sozialisierung, daß langes Haar als Symbol für ein in gewisser Weise Außerhalb-der-Gesellschaft-Stehen verwendet werden kann und daß kurzes Haar die durch die Gesellschaft auferlegten Einschränkungen symbolisiert. Die Tiere wiederum sind stark behaart, während der Mensch verhältnismäßig unbehaart ist, und dieser Gegensatz ist ein weiteres Thema. Haare bieten auch vielerlei Möglichkeiten für Manipulationen, denn sie können schmerzlos abgeschnitten und auf verschiedenste Weise frisiert werden; und Haare können schließlich für magische Zwecke oder für Selbstverstümmelungen als pars pro toto des ganzen Körpers verwendet werden.« (Hallpike, 1990:185) Bei manchen Ethnien so z. B. den Aborigines in Australien wird das Haar des Sterbenden bzw. Toten geschnitten (vgl. den indigenen Film »Zehn Kanus, 150 Speere und drei Frauen«, Australien, 2006). In seinem Werk »Rondonia« (1912) weist der bras. Anthropologe Edgard Roquette-Pinto (1884 – 1954) auch auf die weit verbreitete Depilation bei den Indianerinnen hin: »Die Männer reißen sich weder die Scham- noch die Achselhaare aus; manchmal lassen sie sogar einen dünnen Schnurrbart oder einen noch dünneren Backenbart wachsen. Die Frauen dagegen entfernen alle Körperhaare.« (Roquette-Pinto, 1954:209) Dem Chronisten Pero Vaz de Caminha (gest. 15. 12. 1500), der zur Besatzung der Armada Pedro Alvares Cabrals gehörte, die am 22. 4. 1500 Brasilien wiederentdeckte, verdanken wir das »erste Blatt brasilianischer Geschichte« (H. Andrä). Er schreibt über die !Depilation der Schambehaarung der Pataxú von der Ostküste Brasiliens (Porto Seguro, Monte Pascoal) (vgl. Andrä, 1956; Instituto Nacional do Livro, 1964:22 f, 135; Novo dicion‚rio de historia do Brasil, 1970:128 f): »Hier konnte man schmucke Männer sehen, schwarz und rot bemalt, Körper und Beine gewürfelt, und machten so sicher einen guten Eindruck. Unter ihnen befanden sich auch vier oder fünf junge Frauen, die, nackt wie sie, keinen schlechten Eindruck machten. Eine von ihnen hatte den Schenkel vom Knie bis zur Hüfte und Hinterbacken mit jener schwarzen Farbe bemalt; der übrige Teil zeigte die Körperfarbe. Wieder eine andere hatte beide Knie und Kniekehlen sowie die Fußrücken bemalt, sie trug die Schamteile völlig nackt und mit solcher Unschuld entblößt, daß darin nicht die geringste Schamlosigkeit lag.« (»e suas vergonhas tam altas e t¼ Åaradinhas e tam limpas das cabeleiras que as nos mujto beem olharmos nþ tijnhamos nhuua vergonha« (Fol.4, 27ff) (In einer Medien-Quelle aus dem Jahre 2008 findet sich die Angabe, daß auch in Deutschland heute 41 % der Frauen ihren Intimbereich rasieren. Hier zeigt sich ein sozialer Wandel! Vgl. TV-Film: Der Durchschnittsdeutsche – So sind wir wirklich, D 2008) Bei den alten Tupinamb‚ der Ostküste schoren sich nur die Frauen zum Zeichen der Trauer völlig die Haare, während die Männer, die ja gewöhnlich eine Tonsur trugen, im Trauerfall sich die Haare wachsen ließen (vgl. Gabriel Soares de Sousa, 1938: 403). Bereits Herodot (ca. 484 – 425 v. Chr.), der »Vater der Geschichte« (Cicero, de leg.1,1,5), machte in seinen »Historien« (2,36) auf ein von

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Stubbe (1985:95) so genanntes »Trauerparadox« in Ägypten aufmerksam: Wo Bart und langes Haar im Alltag gelten, fallen sie in der Trauer der Schere zum Opfer und umgekehrt: »An anderen Orten lassen die Priester das Haar wachsen, in Ägypten aber scheren sie sich. Bei den übrigen Menschen ist es Sitte, das bei einer Trauer, die, welche es zunächst angeht, sich das Haupt scheren; die Ägypter aber lassen, sowie ein Todesfall eintritt, am Haupt und am Kinn ihre Haare wachsen, welche sie bis dahin geschoren hatten.« (Herodot, 2004:160) Dies gilt in vielen anderen Ländern und Religionen z. B. im Judentum auch in der Gegenwart (vgl. Alon, 1995:1 – 10). !Mundus inversus Das emotionale Haar: Die deutsche Illustrierte der »Stern« bezeichnete in ihrer Augustausgabe (2007) das Haar als »Spiegel der Seele«, als eine Art »Psycho-Schaufenster«. Auch Psychotherapeuten wissen aus ihrer Praxis, dass Veränderungen der Haartracht der Patientin auch manchmal für Persönlichkeitsveränderungen sprechen können. Insbes. in den Trauerbräuchen (»Haartrauer«) kommt der Behandlung des Haares eine besondere Bedeutung zu. ! Trauer Ästhetischer Aspekt: Das »schöne« Haar:

Über die Schönheit und Attraktivität des (insbes. weiblichen) Haares gibt es in der Weltliteratur- und Kunst-Geschichte, aber auch in der modernen HaarWerbung eine Vielzahl von Lobpreisungen und Darstellungen. Man denke z. B. an Heinrich Heines »Lorelei« (1827). Der Pariser »sculpteur« Jean-Philippe PagÀs hat es seit der Mitte der 80er Jahre mit seinen bunten Haarkreationen als »art vivant« zu Ruf und Ruhm gebracht. (vgl. Zeitmagazin, Nr. 3, 1988:26 – 30; Abb.n S. 29) Das magische Haar: Das Haar wird auch in einer Vielzahl von Zauberhandlungen verwendet. Das HDA bietet einen Überblick über den deutschsprachigen Raum. Der englische Sozialanthropologe Edmund Leach (1958) kommt in seiner Studie über »Magical hair«, die sich vor allem kritisch mit der psychoanalytischen Schrift von Charles Berg (1951) über »The unconscious significance of hair« (das Haupthaar als universelles Symbol der Genitalorgane, als phallisches Emblem und die Haarschur als symbolische Kastration; die libidinöse Natur des Haarrituals ist unbewußt) auseinandersetzt, zu dem Ergebnis, daß Berg’s Quellen vor allem auf James George Frazer (1854 – 1941) und nur selten auf modernen Feldforschern (z. B. Malinowski, Roheim) basieren und von daher von zweifelhafter ethnographischer Reliabilität seien. Er führt zu Recht G. A. Wilken’s Studien über das »Haaropfer« (1886) in Indonesien (vgl. Stubbe,

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1985:92ff), Haarrituale in Südindien und auf Ceylon, sowie die buddhistische Ikonographie an, die zeigen, »that the ritual cutting of hair is a substitute for human sacrifice on a pars pro toto basis, the hair being appropriate for the purpose because the head is the seat of the soul.« (Leach, 1958:149). Wir müssen nach Leach zwischen öffentlich-soziologischen Symbolen (public-sociological symbols) und den privaten-psychologischen Symbolen (private-psychological symbols) (der individuellen Patienten eines Psychoanalytikers), sowie zwischen Statuskategorien (z. B. verheiratet, verwitwet) und Verhaltenskategorien bei den Haarritualen unterscheiden. Er kommt zu dem Schluß: »The anthropologist and the psycho-analyst are in agreement that certain types of symbol are ›phallic emblems‹ in a universal rather than an accidental way. The psychoanlyst assumes that the potency of these symbols is derived from something innate in every particular individual, namly sexuality as a psycho-physical motive force. The anthropologist on the other hand assumes that public ritual symbols are given potency by society and not by individuals. For society, sexuality itself is a ›symbol‹ rather than a first cause; it stands for the creative reproductive element in the world at large.« (Leach, 1958:159) Auf die Ethnopsychoanalyse nimmt Leach jedoch keinen Bezug. Leach gibt schließlich auch noch den wichtigen Hinweis, daß die psychologische Theorie der Magie von Frazer entwickelt wurde, während sich die soziologische Theorie von Durkheim, Mauss und Radcliffe-Brown herleitet. Das religiöse Haar: Im Anschluß an die Jungsche Tiefenpsychologie hat Erich Neumann (1905 – 1960) in seinem Werk »Ursprungsgeschichte des Bewußtseins« (1949) den Zusammenhang zwischen den kollektiven archetypischen Phasen der Bewusseinsentwicklung und der Entwicklung des einzelnen Ich und Selbst darzustellen versucht. Über das sakrale Haaropfer schreibt er : »Ebenso tritt das sakrale Haaropfer als Symbol der Entmannung auf, wie umgekehrt der reiche Haarwuchs symbolisch als Zeichen verstärkter Männlichkeit gilt. Das Haaropfer der Männer ist ein altes Priesterzeichen, von der Kahlköpfigkeit der ägyptischen Priester bis zur Tonsur der katholischen Geistlichen und buddhistischen Mönche. Immer ist das Haaropfer trotz verschiedenster Gottesauffassung und Religion verbunden mit Sexualverzicht und Zölibat, d. h. mit einer symbolischen Selbstkastration. Die Haarschur spielte auch im Kreise der Großen Mutter (über die Neumann 1956 eine Monographie vorgelegt hat; Anm. des Verf.) offiziell diese Rolle, und zwar nicht nur als Trauerritus um Adonis, wobei wieder Fällung des Baumes, Ernte des Getreides, Sterben der Vegetation, Haarabschneiden und Kastration identisch sind.« (Neumann, 1949:58) Auch im katholisch geprägten Brauchtum Brasiliens ist das Haaropfer be-

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kannt. Bis heute kann man in fast allen brasilianischen Wallfahrtsorten Haaropfer feststellen. So in den Wallfahrtskirchen Nossa Senhora de Nazar¦ in Belem do Par‚, S¼o Francisco das Chagas in Canind¦ (Cear‚), Nossa Senhora da Aparecida in S¼o Paulo etc. (vgl. Stubbe, 1985:94). Der Franziskanerpater Willeke (1958:108) führt dieses Brauchtum auf indianische Überlieferung zurück: »Auch heute noch erscheinen an den Wallfahrtsorten in Begleitung ihrer Mütter etwa siebenjährige Jungen und Mädchen, denen in der »Kapelle der Gnadenbeweise« zum ersten Male das Haar geschnitten und einem elterlichen Gelöbnis gemäß, unter den Votivgeschenken, den ›milagres‹, aufgehängt wird. Noch heute ist das Haaropfer unter den Indianern üblich. So schneiden die Kayapû-Eltern ihr Haar ab und binden es zu einem einzigen Knäule zusammen, um es auf das Grab ihres Kindes zu legen, wie Bruder Scheier C. PP. S. von den Kubenkraken, einer Untergruppe der Caiapû am unteren Xingffl, mitteilt.« Haarschneiden ist z. B. bei vielen brasilianischen Ethnien, aber auch im ! Candombl¦ ein wichtiger Akt im Rahmen einer !Initiation, eines Übergangs (rites de passage), in einen neuen Stand, Lebensabschnitt etc. Das politische Haar: Die Haartracht kann auch ein Kennzeichen politischer Gruppierungen sein vgl. etwa die lang-haarigen Hippies, den Afrolook (z. B. Angela Davis), die Skinheads, Punks und Neonazis. Auch der Schnurrbart Adolf Hitlers wurde bekanntlich vor und während des Dritten Reiches (1933 – 1945) oft kopiert als Ausdruck der politischen Identifikation mit der national-sozialistischen Ideologie. Haare und Macht sind überhaupt ein Forschungsdesideratum! Das Haar der Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer: Alle die o.g. Sicht- und Vorgehensweisen und Forschungswege sind jedoch für das (nach europäischen Quellen) über 500jährige Brasilien nur eingeschränkt einsetzbar bzw. nicht völlig übertragbar, da die kulturellen Phänomene hier äußerst komplex und hinsichtlich ihrer Wurzeln anders gelagert sind als in Europa. Zum einen gibt es in Brasilien indigene Kulturen mit einem Alter von mehreren 10.000 Jahren (vgl. Carneiro da Cunha, 1992), dann die aus der afrikanischen !Sklaverei (seit ca. 1538 – 1888) hervorgegangenen afrobrasilianischen Kulturen und zuletzt die vor allem seit 1500 europäisch/portugiesisch und christlich geprägte Kultur (daneben auch jüdische, asiatische und arabisch/ islamische kulturelle Einflüsse, vgl. Di¦gues Jun., 1977). Kulturelle und ethnische Akkulturationsphänomene sind daher in Brasilien äußerst häufig in ! Sprache, !Religion, !Küche, !Musik, !Tanz, etc. anzutreffen. Methodisch muß ein kulturanthropologisch eingestellter (Afro-)Brasilianist

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deshalb bei diesem »haarigen« Thema auf unterschiedliche Quellen stützen, die vor allem der !»folclore«, der Afrobrasilianistik, der Ethnologie/Anthropologie, der Soziologie, der !Reiseliteratur, der Psychologie, der Religionswissenschaft und (teilnehmenden) Feldforschungen entstammen. Mit dem Ordnen und dem Schmuck der Haare (Haartracht) will der Mensch seinen Mitmenschen gefallen (»ästhetisches Haar«), einen psychischen Zustand (»emotionales Haar« z. B. Kahlscheren der Witwe), ein bestimmtes religiöses Verhalten (»religiöses Haar« z. B. Tonsur der Mönche) oder einen sozialen Status (»soziales Haar« z. B. Initiation, Häuptlinge) zum Ausdruck bringen. Auch im Zusammenhang mit magischen Handlungen oder in der Pychopathologie spielt das Haar oftmals eine bedeutende Rolle (»Haarzauber« z. B. Liebeszauber, »erotisches Haar«, Haarfetischismus; vgl. z. B. Marcuse, 2001:260 – 263; Institut für Sexualforschung /Wien, 1930:361 – 364; Krafft-Ebing, 1918:180 – 184; C–mara Cacudo, 1980; Stubbe, 2012:274 – 280). Der starke soziale Druck, dem ethnische !Minderheiten in vielen Ländern ausgesetzt sind, sich dem dominanten Schönheitsideal (meistens der Weißen) im Hinblick auf die Hautfarbe, die Glätte des Haares, die Lippen, die Ohren, Nasen etc. zu unterwerfen (vgl. !Schönheitsoperationen), ist auch in Brasilien vorzufinden. Der kürzlich verstorbene Claude L¦vi-Strauss (1908 – 2009) berichtet in seinen klassischen »Tristes tropiques« (1970), einem Kultbuch der Studenten der 68er, über folgendes Plakat, das er am Zusammenfluß des Madeira und Machado in Amazonien fand: »GLATTE HAARE, selbst für die Farbigen. So kraus und gewellt Ihre Haare auch sein mögen, so glatt werden sie bei Gebrauch des neuen Mittels Alisante. Zu kaufen in der großen Flasche, Rua Uruguyana, Manaus.« (L¦vi-Strauss, 1970:342). Darüberhinaus werden auch (elektr.) Geräte für das Haarglätten (»alisamento«) eingesetzt. Es gibt in Brasilien auch heute noch (trotz »black power« und »black is beautifull«! der späten 60er Jahre und 70er Jahre) AfrobrasilianerInnen, die nicht nur ähnlich wie Michael Jackson versuchen ihre Haut teilweise mit gefährlichen chemischen Stoffen aufzuhellen, sondern auch darum bemüht sind ihr Haar mit Cremes oder erhitzten Eisenkämmen zu glätten (»fritar o cabelo«) bzw. Perücken zu verwenden. Andererseits kann man aber auch seit ca. den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Renaissance der aus Afrika mitgebrachten geflochtenen Haarfrisuren beobachten, die für ein neues ethnisches Selbst-Bewußtsein der afrobrasilianischen Minorität sprechen (vgl. Santos-Stubbe, 2001; Lopes, 2006). Frehn & Krings (1986) haben eine gute Übersicht über afrikanische (geflochtene) Frisuren (tranÅas) gegeben, die auch den Afrobrasilianern als Modelle dienen. Eine aufschlussreiche innovative Felduntersuchung bei afrobrasilianischen Friseusen hat Figueiredo (1994) vorgelegt. Nei Lopes (2006) betont zu Recht die Bedeutung des H. für die afrobrasilianische Identität: »Denominado depreciativamente ›carapinha‹ ou adjecti-

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vado como ›pixaim‹ ou ›cabelo ruim‹, diante do ›cabelo bom‹ dos n¼o-negros, o cabelo crespo de africanos e descendentes ¦ o principal elemento definidor de sua origem. Por isso, no Brasil e nas Am¦ricas, nas tentativas de fugir a essa marca, por imposiżo do padr¼o branco de beleza, quase sempre se empregaram expedients como o de raspar ou alisar os cabelos.« (Lopes, 2006:34) Die Technik des »alisamento« wurde um 1910 in den USA entwickelt und verbeitete sich vor allem über den Film trotz Kritik der afroamerikanischen Aktivstenführer. Die Haartracht »cabelos esticados a frio« findet man bis in die 60er Jahre vor allem bei den »sambistas« und Frequentierern der »gafieiras« in Rio de Janeiro und S¼o Paulo. Mit der »Black Power Bewegung« in den 70er Jahren setzte sich dann die natürliche volle Haarpracht durch. Die »trancinhas de nagú« (geflochtene Haartrachten), die eine grosse Kunstfertigkeit des Flechtens voraussetzen und ursprünglich von baianischen Afrobrasilianerinnen getragen wurden, setzten sich seit den 70er Jahren in den bras. Großstädten wieder durch (vgl. Lopes, 2006:165). Die Rastafari-Bewegung verbreitete dann wiederum die »dreadloocks« (vgl. Mastalia & Pagano, 1999) in den afroamerikanischen Gemeinden und der Diaspora, als Ausdruck der »Afrikanität«. !Cafun¦ !Depilation !Ethnoästhetik !Initiation !Schönheitsoperationen Wilken (1886/87): Über das Haaropfer und einige andere Trauergebräuche bei den Völkern Indonesiens. Revue Coloniale Internationale, III u. IV ; R. Martin (1914): Lehrbuch der Anthropologie. Jena (S.187ff); HDA III,S:1239 – 1288; K. Knortz (1909): Der menschliche Körper in Sage, Brauch und Sprichwort; O. F. Scheuer (1926, 2001): Haar. In: M. Marcuse (2001): Handwörterbuch der Sexualwissenschaft (1926), Berlin; H. Mötefindt (1928): Studien über die Geschichte und Verbreitung der Barttracht. Anthropos, XXIII; E. E. Sikes & L. H. Gray (1931): Hair and nails. Encyclopaedia of Religion and Ethics, VI; E. Roquette-Pinto (1954): Rondonia. Wien-Stuttgart; E. Leach (1958): Magical Hair. J. of the Royal Anthr. Institute, 88; Hallpike (1969): Social hair. Man (n.s.), 4(2); Cl. L¦vi-Strauss (1970): Traurige Tropen. Köln; V. Chiara (1975): A sem–ntica do cabelo. Revista do Museu Paulista (S. P.), vol.22, p. 189 – 194; Revista de Atualidade Ind†gena, ano 1, n8 3, 1977; Br. Schliephacke (1979) Bildersprache der Seele. Lexikon zur Symbolpsychologie. Berlin; L. Mota (1982): Adagi‚rio brasileiro. Fortaleza; M. Mauss (1978): Soziologie und Anthropologie. Frankfurt/M.; H. Stubbe (1985): Formen der Trauer. Berlin; B. Frehn & Th. Krings (1986): Afrikanische Frisuren. Symbolik und Formenvielfalt traditioneller und moderner Haartrachten im west-afrikanischen Sahel und Sudan. Köln; M. Jedding-Gesterling & G. Brutscher (Hg.) (1988): Die Frisur. Eine Kulturgeschichte der Haarmode von der Antike bis zur Gegenwart. München; N. Peseschkian (1993): Haarausfall. In: N. Peseschkian, Psychosomatik und Positive Psychotherapie, 1993:293ff; A. Figueiredo (1994): O mercado da boa aparÞncia: as cabeleleiras negras. An‚lise e Dados (Salvador, BA), 3, 4, p. 33 – 37; K. Gröning (1997): Geschmückte Haut. Eine Kulturgeschichte der Körperkunst. München; Fr. Mastalia & A. Pagano (1999): Dreadlocks. Einf. von Alice Walker. Köln; M. Goldenberg (Ed.) (2002): Nu e vestido. Dez antropûlogos revelam a cultura do corpo carioca. Rio de Janeiro; E. C. Santos Oliveira et al. (2003): Avaliażo dos n†veis de exposiżo ao mercfflrio entre †ndios Pakkan’va, Amazúnia, Brasil. Cad. Safflde Publica, 19(1),

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2003:199 – 206; SESC Pomp¦ia (Galp¼o) (ed.): Decifrando Cabelo. Exposiżo (7.3.–1.5.2007). S¼o Paulo; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Hautfarben (cor) Einführung: Die klassische physische (Rassen-) Anthropologie seit der europ. Aufklärung im 18. Jh. hatte den H. immer eine besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen und versuchte sie im 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jh.s mit Hilfe somato-skopischer Techniken (vgl. z. B. die H.tafel von Luschan mit 36 Steinchen aus opakem Glas oder das »tableau chromatique« von Broca) zu erfassen. So schreibt z. B. Rudolf Martin in seinem klassischen »Lehrbuch der Anthropologie« (1914): »Unter allen Eigenschaften, welche die äußere Bedeckung des menschlichen Körpers darbietet, ist die Hautfarbe am frühesten als Rassenmerkmal beachtet und beschrieben worden. Schon auf den Wandgemälden ägyptischer Gräber z. B. des Rekhmara-Grabes in Theben aus der 18. Dynastie, erscheinen die einzelnen Rassen scharf durch ihre verschiedene Färbung charakterisiert. Neben dem rotbraunen Ludu oder Rudu (Aegypter) sind der schwarze Nasi (Neger), der gelbliche Amu (semitische Asiate) und der hellfarbige Tamahu (Nord-Afrikaner) dargestellt. Viele Völkerbezeichnungen gehen auf die Hautfarbe zurück, und verhängnisvolle Urteile und Vorurteile knüpfen sich noch heute an die Begriffe des »Weißen« und »Farbigen«. Auch in allen Klassifikationsversuchen der Menschheit seit Linn¦, Blumenbach, Kant und Cuvier bildet die Hautfarbe eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale. Allerdings ist mit der Trennung in eine weiße europäische (poikiloderme), braune asiatische (xanthoderme), schwarze afrikanische (melanoderme) Rasse heute nichts mehr anzufangen, weil die Verhältnisse der Hautpigmentierung sehr kompliziert sind und feinere Gruppierungen nötig machen.« (Martin, 1914:341 f). Bereits Immanuel Kant (1724 – 1804) hatte als Verteter der monogenetischen Position bzgl. der Abstammung der Menschheit in seiner Abhandlung zur »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse« (1785) das offensichtlichste Merkmal zur Unterscheidung der vier »Rassen« in der Färbung der Haut gesehen. Er führte auch mit allem Nachdruck die Vererbung als wesentliches Kriterium in die Rassenlehre ein. Die moderne Kulturanthropologie (z. B. Harris, 1989:43ff) vertritt dagegen heute den Standpunkt, daß für soziokulturelle Übereinstimmungen und Unterschiede vor allem kulturelle, nicht biologische Faktoren verantwortlich sind. Zur Rassenkunde im 19. Jh. schreibt Harris: »Indem man die politische Dominanz der Europäer mit ihrer rassischen Überlegenheit erklärte, hatte

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man eine bequeme Entschuldigung sowohl für den Kolonialismus wie für die Ausbeutung und Versklavung der Menschen gefunden, die sich nicht gegen die technisch überlegenen europäischen Waffen zur Wehr setzen konnten … Kulturelle Erklärungen für das Auf und Ab im Leben menschlicher Gruppen sind rassischen Erklärungen deshalb vorzuziehen, weil sie von Faktoren wie Regenmenge, Bodenbedingungen und Bevölkerungsdichte ausgehen, die sehr viel konkreter und fassbarer sind als für technologische Erfindungen und wirtschaftliche Erfolge verantwortlich gemachte hypothetische Gene.« (Harris, 1989:43,44) Für Sozialpsychologen sind H. und andere körperliche und kulturelle Merkmale durchaus Forschungsthemen, weil ihre Träger in verschiedenen Gesellschaften (vgl. Kasten, ethnische !Minderheiten) !Diskriminierungen und Benachteilungen erleiden. Hautfarben in Lateinamerika: Santos-Stubbe (1995) und Stubbe (1987, 1988, 2001) haben mehrfach darauf hingewiesen, daß bereits die Erfassung der Hautfarbe (die in vielen offiziellen Dokumenten und Ausweisen immer noch erfaßt wird) in LA ein sozialpsychologisches Problem darstellt. Allein in Brasilien existiert nämlich eine über 900 verschiedene ethnische und rassische Ausdrücke umfassende Terminologie (vgl. Harris, 1970; Stephens, 1989). Viele Sozialwissenschaftler wie z. B. der Kulturanthropologe Marvin Harris waren fasziniert von der Vielfalt der sprachlichen Kategorien zur Definition der Hautfarbe bzw. der »rassischen« und ethnischen Terminologie in Brasilien. Harris legte in Bahia 100 Versuchspersonen 9 Fotographien vor, die ein Kontinuum vom »Schwarzen« bis zum »Weißen« enthielten mit 7 intermediären Typen. Das Ergebnis war überraschend, denn es ergaben sich 40 verschiedene Bezeichnungen. Später fand Harris 492 verschiedene sprachliche Ausdrücke für die Hautfarben in Brasilien. Als daraufhin der afrobrasilianische Soziologe Clovis Moura (*1925) die Ergebnisse der Volksbefragung des Jahres 1980 untersuchte, kam er zu dem Ergebnis, daß die nichtweiße Bevölkerung Brasiliens nach ihrer eigenen Hautfarbe befragt insgesamt 136 verschiedene Hautfarben angab. Moura interpretiert dieses Phänomen als Identitätskrise und Flucht vor der ethnischen Realität. Viele Soziologen und Sozialpsychologen konnten konstatieren, daß den offiziellen Hautfarbenstatistiken in LA nur eine geringe Objektivität zukommt, da sie auf Selbsteinschätzung beruhen und wir im Allgemeinen eine Tendenz zum »branqueamento« (Skidmore, 1976) beobachten können. Insgesamt kann man feststellen, daß (Sozial-) Psychologen bisher den (sozial-)psychologischen Problemen dieser großen Bevölkerungsgruppen in LA wenig Interesse entgegengebracht haben, wohingegen über den afrolateinamerikanischen Synkretismus ujnd die Gescchichte schon viele Arbeiten und Dissertationen vorliegen (!Candombl¦ !Umbanda).

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Die von Peltzer, Ebigbo, Santos-Stubbe, Stubbe und Collignon 1988 gegründete internationale Fachzeitschrift »Journal of Psychology in Africa (South of the Sahara, the Caribbean and Afro-Latinamerica)« versucht die Psychologie der Afrolateinamerikaner stärker ins Bewusstsein der psychologischen Fachwelt zu rücken.

Hautfarbenbezeichnungen in Brasilien: Wie es der afrobras. Dichter Jos¦ Carlos Limeira in seinem Gedicht »Identidade« ausdrückt, ist die Hautfarbenbestimmung und ihre sprachliche und begriffliche Festlegung in Brasilien eine höchst komplexe Streitfrage. In den vom IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estat†stica, RJ) seit 1940 durchgefführten Volkzählungen wurden 4 Hautfarbenkategorien festgelegt und erfasst (vgl. z. B. IBGE, 1958, 1987, 1995; Araujo Costa, 1974): »branco«, ! »pardo«, !»negro« und »amarelo«. Unter »pardo« werden alle diejenigen Menschen eingestuft, die sich mit den übrigen Hautfarbenkategorien nicht erfassen lassen z. B. !»mulata/mulato«, »cafuzo« ( = »Mischung« von »negro« und »ind†gena«) etc.

Graphik 4: »MestiÅagem« (»Rassenmischungen«) in Brasilien Quelle: Santos-Stubbe, 2001: 9

Diese ›Streifrage‹ bei der Hautfarbenerhebung zeigt sich nicht nur bei der konflikthaften Entscheidung des Einzelnen, die eigene Hautfarbe durch Selbsteinschätzung zu bestimmen, sondern auch bei der offiziellen Erhebung des IBGE um objektivere Normen für die Erfassung dieses Merkmals. Dies zeigt deutlich, dass die Frage der ethnischen Zugehörigkeit innerhalb der bras. Gesellschaft Unbehagen verursacht. Das Hautfarbenbekenntnis gehört in Brasilien nicht nur für die ethnischen !Minderheiten zu einer politisch-ideologischen Frage, sondern auch bei den offiziellen Instanzen, die ein ›helles‹ Brasilien anstreben. Dies kann bestätigt werden durch die Aufhebung dieser Kategorie in der alle 10 Jahre durchgeführten Volkszählung während der Militärregims im Jahre

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1970. Erst aufgrund des grossen Drucks seitens zahlreicher Gesellschaftsgruppen (z. B. Kulturvereine, Kirche etc.), wurde diese Frage bei der Volkszählung des Jahres 1980 wieder eingeführt. Die Tendenz der Hautfarben-verteilung in den letzten fünfzig Jahren wird aus der folgenden Tabelle ersichtlich. Tab. 7: Verteilung der Hautfarben in Brasilien von 1940 – 1990 (%) 1940 63,47 Weiß Schwarz 14,64 Gelb 0,59 Pardos 21,20 Keine Angaben 0,10 Quelle: IBGE, 1993 Quelle: Santos-Stubbe, 2001:10

1950 61,66 10,96 0,63 26,54 0,21

1960 61,03 8,71 0,69 29,50 0,07

1980 54,23 5,92 0,56 38,85 0,44

1990 55,3 4,9 0,5 39,3 –

Wie deutlich erkennbar, geht die Tendenz in Richtung auf eine Verringerung der ›weißen‹ Bevölkerung und auf eine Erhöhung der Kategorie ›pardo‹. Die Anzahl derjenigen, die sich als ›schwarz‹ bezeichnen, verringerte sich im Laufe dieser 50 Jahre um 10 %. Wie ist diese Verschiebung zu erklären? Darauf gibt es viele wissenschaftliche Antworten, aber eine soll hier wegen ihrer umfassenden Gesichtspunkte angeführt werden. Aufgrund der massiven Diskriminierung der afrobras. Werte (z. B. im ästhetischen Bereich) und Kultur, sowie der allgemeinen Verschlechterung ihrer Lebenssituation und gleichzeitigen Aufwertung von allem, was ›weiß‹ und europäisch bzw. westlich ist, fühlen sich viele ›Schwarze‹ nicht wohl in ihrer Haut. Die Identifikation mit dieser ethnischen Gruppe kann oftmals kaum ertragen werden, da die Vorbilder, die diese Gruppe anbietet, in der Regel durch die Presse und auch durch den diskriminierenden Alltag belastet sind. Auf der Suche nach einer ethnisch positiven Identität neigen deshalb viele Afrobrasilianer dazu, sich bei der Selbsteinschätzung während der statistischen Erhebung ihrer Hautfarbe als heller einzustufen, und dadurch die Erlangung einer sozialen Aufwertung zu versuchen. Diese verhängnisvolle Strategie, anerkannt und respektiert zu werden durch die ›Erwerbung‹ einer helleren Hautfarbe, um dadurch bessere soziale Chancen zu erhalten, führt entscheidendermaßen zu einem tiefgreifenden ethnischen Konflikt, der große gesellschaftliche und psychische Auswirkungen hat. Afrobrasilianer, die diesen Weg auf der Suche nach sozialen und gesellschaftlichen Chancen wählen, kommen leicht in eine zwiespältige Situation: Sie werden dann zum Teil von der eigenen afrobras. Gruppe abgelehnt und gelten als Menschen, die einen ›complexo de jabuticaba‹ haben (Jabutikaba ist eine tropische Frucht,

Hautfarben (cor)

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die äußerlich ganz dunkel ist und innerlich weiß !Assimilation). Andererseits werden sie auch nicht von den ›Weißen‹ mehr akzeptiert, weil deren Mehrheit ihnen eindeutig die Zugehörigkeit zu der Minderheitsgruppe zuschreibt. In diesem Zusammenhang kann das Werk ›Schwarze Haut, weiße Masken‹ von Frantz Fanon (1985) von Bedeutung sein. Diese Ambivalenz in dieser Selbstdefinition einer ethnischen Zugehörigkeit zeigt sich in Brasilien beispielsweise bereits deutlich in der Studie von Harris (1964) in Bahia: er legte 100 Versuchspersonen 9 Fotografien vor, die in 7 Hautfarbenkategorien unterschieden waren. Als Ergebnis erhielt er 40 verschiedene Bezeichnungen. In einer anderen Studie aus dem Jahre 1970 erhob er insgesamt 492 unterschiedliche Ausdrücke für Hautfarbenbezeichnungen. Stephens (1989) kam sogar auf 950 Ausdrücke. Die Verfasserin Santos-Stubbe (1995) kam in ihrer Studie über 130 Afrobrasilianerinnen zu einem ähnlichen Ergebnis: Bei der Beurteilung ihrer Hautfarbe gaben die Befragten 13 verschiedene Bezeichnungen an. Auch in offiziellen Volkserhebungen, wie in der des IBGE aus dem Jahre 1980, bei der insgesamt 136 verschiedene Hautfarben angegeben wurden, wird dies deutlich. Anhand der oben angeführten Daten wird deutlich, daß die ethnische Differenzierung hinsichtlich der Hautfarbe in Brasilien extrem ›Unter- und Zwischentöne‹ betont, obgleich Brasilien augenscheinlich eine ethnisch-pluralistische Struktur besitzt. Trotz – oder genau wegen der ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierung des Landes fungieren diese Differenzhierungsversuche als Zeichen der ethnischen Abgrenzung gegenüber den ›Afrikanern‹ bzw. zu der ›dunkel-schwarzen Hautfarbe‹, die negative Assoziationen hervorruft und eine niedrige sozio-ökonomische Stellung repräsentiert. Das sind nur einige Gründe für das ständige Anwachsen der ›pardos‹ und ›mestiÅos‹ in den Statistiken, was dazu führt, daß sich der Bevölkedrungsanteil der ›Hellhäutigen‹ oder ›Nicht-Schwarzen‹ als größer darstellt als er in der Tat ist. Ideologisch hängt dieses Dilemma der bras. Bevölkerung mit der in den 20er Jahren entstandenen ›ideologia do branqueamento« (= Ideologie des Weißwerdungsprozesses) zusammen. Im Grunde ging es dabei um die Aufwertung von allem, was aus der weißen, europ. Kultur stammt: Von den Schönheitsidealen bis hin zu den Philosophien, dem Glauben und der Weltanschauung. Damit verbunden war anderseits die Entwertung von allem, was nicht dazu gehörte. Das Bestreben, am Strand in der Sonne zu liegen, soll nicht verwechselt werden mit der Intention ›dunkel‹ oder ›schwarz‹ werden zu wollen. Diese ›Morena‹-Hautfarbe, die sowohl im In- als auch im Ausland für das wahre ›Symbol‹ der Brasilianer gilt, soll künftig als eine der neuen Hautfarbenalternativen in den Volkszählungen eingeführt werden. Als Begründung dafür wird angeführt, daß die Brasilianer sich am stärksten mit dieser Hautfarbe identifizieren.

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Nach der Meinung des afrobras. Denkers, Politikers und Künstlers Abdias do Nascimento (1994:207) sollte in Brasilien im allgemeinen der Begriff !›Afrobrasilianer‹ übernommen werden, »um die Ausbeutung der Nutzung unterschiedlicher Hautfarben wie ›mulato‹, ›cafuzo‹, ›moreno‹, ›escurinho‹ etc. zu vermeiden. Dieser Euphemismus, der immer das, was dem rassistischen Schönheitsideal des Europäers näher steht, aufwertet d. h. das Bild des blonden Europäers, dient nur dazu unsere Gemeinschaft zu verwirren, diese Gemeinschaft, die Einheit braucht, um dem Rassismus Widerstand zu leisten, einen Rassismus, der sowohl den ›mulato‹ als auch den dunkelsten ›Schwarzen‹ betrifft.« (Santos-Stubbe, 2001:9ff) !Anthropologie !Apartheid !Gesellschaft !Haare !»negro« !Menschenrechte !»mestiÅo« !»moreno« !»mulata/mulato« !»pardo« !»raÅa« !Rassismus !Sozialpsychologie !Vorurteile IBGE (Ed.) (1958): A populażo do Brasil (1872 – 1950). Rio de Janeiro; A. H. Richmond (1961): The colour problem. Baltimore; M. Harris & C. Kottak (1963): The structural significance of Brazilian racial categories. Sociologia, 25, 1963:203 – 8; T. C. Nascimento Araujo Costa (1974): O princ†pio classificatûrio »cor«, sua complexidade e implicaÅþes para um estudo censit‚rio. Revista Brasileira de Geografia (RJ), 36(3), jul./set., p. 91 – 103; dies. et al. (1987): A classificażo de »cor« nas pesquisas do IBGE. Cadernos de Pesquisa (SP), 63, nov., p. 14 – 16; U. Bitterli (1976): Die Wilden und die Zivilisierten. München; IBGE (Ed.) (1987): Estat†sticas histûricas do Brasil. Rio de Janeiro; Cl. Moura (1988): Sociologia do negro brasileiro. S¼o Paulo; Th. M. Stephens (1989): Dictionary of Latin American Racial and Ethnic Terminology. Gainesville; H. Stubbe (1992) : Psychologie. In: N. Werz (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde. Freiburg/Brsg., 1992:559 – 590; W. Dehmel (1992): Wie die Chinesen gelb wurden. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Rassentheorie. Historische Zeitschrift, 255, 1992:625 – 666; A. do Nascimento & E. Larkin (org.) (1994): Sankofa: resgate da cultura afro-brasileira. Vol. I, Rio de Janeiro; IBGE (1995): Cor da Populażo. S†ntese de indicadores 1982 – 1990. Rio de Janeiro; Ch. dos Santos-Stubbe (1995): Afrobrasilianische Hausarbeiterinnen (empregadas dom¦sticas). Frankfurt/M.; dies. (2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef (2. Aufl.); Fr. Böckelmann (1998): Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen. Frankfurt/M.; S. Arndt & A. Hornscheidt (Hg.) (2004): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster

Heilerinnen und Heiler (auch: Schamane, traditioneller Heiler, Medizinmann, pajé, curandeiro, rezadeira, mãe de santo) Der Psychiatriehistoriker Ellenberger (1973) hat in seiner Geschichte der dynamischen Psychiatrie folgende grundlegende Merkmale der »primitiven« Heilkunst zusammengestellt: 1. Der »primitive« Heiler spielt in seiner Gemeinde eine viel wesentlichere Rolle, als es unsere heutigen Ärzte tun. 2. Wenn eine

Heilerinnen und Heiler

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Krankheit vorliegt, setzt der Pat. seine Hoffnung und sein Vertrauen in die Person des Heilers, nicht so sehr in seine Heilmittel und andere therapeutische Methoden. Maeder (1963) charakterisiert drei Typen des »primitiven« Heilers: a. der Laien-Heiler, der mit rationalen oder vorgeblich rationalen Methoden behandelt, b. der Magier, der durch sein Prestige und durch Suggestion wirkt und c. der religiöse Heiler, auf den der Pat. den Archetyp des »Erlösers« projiziert, während der Heiler im Patienten dessen Selbstheilungstendenzen weckt und entwickelt (vgl. Birnbaum, 1990) 3. Der »primitive« Heiler ist ein sehr geschickter und gelehrter Mann, der seinen Status durch eine lange und schwierige Ausbildung erwirbt. Ackerknecht (1942) unterschied drei Typen von »Medizinmännern«: a. die nicht durch Inspiration geleiteten, deren Visionen, ! Trancezustände usw. durch Fasten, Alkohol, Drogen und dergleichen zustande kommen, b. die durch Inspiration geleiteten, die rituelle !Besessenheit erleben d. h. eine Variante der Selbsthypnose, die den Trancezuständen unserer westlichen Medien ähnelt und c. echte Schamanen d. h. diejenigen, die erst zum Schamanen werden, nachdem sie einen eigenartigen Zustand einer Krise (»Geisteskrankheit«?) durchgemacht haben. L¦vi-Strauss (1969) hat in seiner »Strukturalen Anthropologie« der Psychologie des Schamanen ein eigenes Kapitel gewidmet. Für ihn besteht der Schamanenkomplex aus drei untrennbaren Elementen: a. Aus der Erfahrung des Schamanen, selbst, der, wenn seine Berufung echt ist (und sogar, wenn sie es nicht ist, aufgrund der Ausübung), spezifische Zustände empfindet, die psychosomatischer Natur sind. b. Dann die des Kranken, der eine Besserung verspürt oder auch nicht. c. Und schließlich die der Öffentlichkeit, die auch an der Heilung teilnimmt, wobei das Mitgerissensein, dem sie unterliegt, und die intellektuelle und gefühlsmäßige Befriedigung, die sie daraus zieht, eine kollektive Zustimmung erzeugen, die selbst wieder einen neuen Kreislauf inauguriert. Diese drei Elemente gruppieren sich also um zwei Pole, von denen der eine in der intimen Erfahrung des Schamanen besteht, während der andere den kollektiven Konsensus bildet. Das schamanistische Heilverfahren steht nach L¦vi-Strauss’ Ansicht zwischen unserer organischen Medizin und psychologischen Heilmethoden, wie etwa der Psy-choanalyse. Durch einen Vergleich mit der Psychoanalyse versucht er verschiedene Aspekte des schamanischen Heilverfahrens zu erklären, zugleich aber auch die Psychoanalyse als die moderne Form der schamanischen Technik zu charakterisieren (vgl. dazu besonders L¦vi-Strauss, 1969: 217ff, 221ff). 4. Der Heiler kann in der Behandlung von Knochenbrüchen, in der Drogenkunde, in Massage und anderen empirischen Therapiemaßnahmen, die oft Laien-Heilern überlassen werden, bewandert sein oder auch nicht. 5. Die Heilung ist bei »indigenen Völkern« bzw. in traditonellen Gesellschaften fast immer eine öffentliche und kollektive Prozedur. Therapeutische Beziehung, Rahmensituation (z. B. Behandlungsort, Tempel,

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Klinik), Behandlungs-Theorie (!Mythen, !Krankheitsvorstellungen) und Verfahren (z. B. Anleitung des Pat. zu Aktivitäten) beeinflussen nach Jerome Frank (1981) zusammenwirkend den Pat. auf folgende fünf Weisen, die ineinandergreifen und von denen jede als notwendig erscheint: a. Sie bieten dem Pat. neue Lebenschancen, sowohl kognitiv als auch durch Erfahrungen, b. Sie steigern seine Hoffnung auf Besserung, c. Sie gewähren Erfolgserlebnisse, die in ihm das Bewusstsein von Lebenstüchtigkeit oder zwischen-menschlicher Kompetenz anheben, d. Sie helfen dem Leidenden, seine demoralisierende Entfremdung von den Mitmenschen zu überwinden und e. Sie wirken, wenn sie gelingen, emotional erregend. Pfeiffer (1974) führt in seinem transkulturellen Vergleich der »primitiven« und modernen Psychotherapie folgende Vergleichskategorien auf: Stellung des Therapeuten, Beziehung zu Klient und Gruppe, Deutung der Störung, Ort des Konfliktes, Form der Behandlung, Nachbehandlung und Wertsetzung. Traditionelle H. finden sich auch in Europa z. B. in der Schweiz und D (z. B. Eifel). In Brasilien existiert neben dem offiziellen ein alternatives Gesundheitsversorgungssystem, in dem (afrobrasilianische) rezadeiras, erveiras, m¼es de santo, spiritistische ambulatûrios und Kliniken, Medien, Phytotherapie etc. eine zentrale Rolle spielen (vgl. Figge, 1971; Tiller, 1979; Moffat, 1980; Loyola, 1984; Stubbe, 1976, 1979, 1987:62 – 67, 2001, 2012; Dilthey, 1994; Santos-Stubbe, 1995; Urben, 1999). !Ethnopsychotherapie !Gebet !Gesundheit !indigene Psychologie ! Krankheits-vorstellungen !Medium !Spiritismus !Phytotherapie Handbuch des deutschen Aberglaubens (HDA) Bd.1, p. 1157 – 1172 (besprechen), Bd.3, p. 772 – 780 (gesund-beten), Bd.3, p. 1398 – 1401 (Hand auflegen); W. La Barre (1946): Primitive psychotherapy in native American cultures: peyotism and confession. J. abnorm. Soc. Psychol., 42, p. 294 – 309; K. Ker¦nyi (1956): Der göttliche Arzt. Darmstadt; H. Figge (1971): »Besessenheit« als Therapie. Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, 12, S. 207 – 225; M. Aleksandrowicz (1972): The art of a native therapist. Bull. Menninger Clin., 36, p. 596 – 608; E. Torrey (1972): What western psychotherapist can learn from witch doctors. Amer. J. Orthopsychiat., 42, p. 69 – 76; W. G. Jilek (1974): Wtchdoctors succeed where doctors fail. Can. Psychiatr. Ass. J., 19, p. 351 – 356; W. Pfeiffer (1974): »Primitive« und moderne Psychotherapie. Ein transkultureller Vergleich. Hippokrates, 45, S. 1 – 35; C. A. Seguin (1974): What folclore psychotherapy can teach us? Psychotherapy, Psychosomatics, 24, p. 293 – 302; H. Stubbe (1976): Zur psychotherapeutische Funktion des südamerikanischen Medizinmannes. Confinia Psychiatrica, 19, S. 68 – 79; ders. (1979): Zur Ethnopsychiatrie in Brasilien. Social Psychiatry, 14, p. 187 – 195; A. Q. Tiller (1979): The brazlian cult as healing alternative. Journal of Latin American Lore, 5 (2), winter, p. 255 – 272; N. Figueiredo (1979): Rezadores, paj¦s e puÅangas. S¦rie Pesquisas, 8. Bel¦m: UFPa; A. Kleinmann (1980): Patients and healers in the context of culture. Berkeley ; J. Moffat (1980): Psicoterapia do oprimido. Ideologia e t¦cnica da psiquiatria popular. S¼o Paulo; J. D. Frank (1981): Die Heiler. Stuttgart; A. T.

Heilserwartungsbewegungen

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Delgado Sobrinho (1983): A umbanda em Araraquara: uma contribuiżo para o estudo da psicoterapia religiosa. Perspectivas (SP), 6, p. 37 – 48; M. A. Loyola (1984): M¦dicos e curandeiros – conflito social e safflde. S¼o Paulo; A. Pollak-Eltz (1987): La medicina popular en Venezuela. Caracas; K. Peltzer (1992): Traditionelle Heilkunde bei Ashanti und Shona. Afrika Hefte Nr. 6, Bremen; ders. (1995): Psychology and Health in African Cultures. Examples of ethnotherapeutic practice. Frankfurt/M.; P. Dilthey (1994): Krankheit und Heilung im brasilianischen Spiritismus. München; J. Achterberg (1993): Die Frau als Heilerin. Die schöpferische Rolle der heilkundigen Frau in Geschichte und Gegenwart. Bern; T. Nathan & L. Hounkpatin (1999): La gu¦rison Yoruba. Paris; M. A. Urben (1999): »Espiritismo« und Psychiatrie in Brasilien. Das »Hospital Esp†rita Andr¦ Luiz« in Belo Horizonte. Magisterarbeit. Universität Zürich; Fr. T. Gottwald & Chr. Rätsch (2000): Rituale des Heilens. Aarau; K. D. Stumpfe (2007): Glaubens-heilungen in Geschichte und Gegenwart. Köln; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen Filme: Institut für den Wiss. Film: Tukurina (Brasilien, oberer Purus): Krankenheilung durch Zauberärzte. Göttingen, 1968; Der Handaufleger (CH, 2008), 3SAT, 25. 3. 2009, 20:15

Heilserwartungsbewegungen (auch: Chiliastische Bewegungen, Millenarismus, Messianis-mus, messianismo) Religiöse Bewegungen , in deren Zentrum die Heilserwartung d. h. ein baldiger (imminenter) Eintritt einer perfekten, »heilen« und heiligen Welt durch übermenschliche Kräfte (Fischer, 1987) steht. Beispiele sind die Geistertanzbewegung der nordamerikanischen »Indianer«, die Cargo-Kulte Melanesiens, die (afro-)brasilianische Bewegung der !»Canudos« (1897), die »Igreja Catûlica Militante e Triunfante« (1912) (vgl. Lopes, 2006:79). !Canudos !Religion W. E. Mühlmann (1964): Chiliasmus und Nativismus. Berlin; H. Fischer (1987): Heilserwartung. Frankfurt/M.; N. Cohn (1988): Das irdische Paradies. Reinbek; G. W. Trompf (ed.) (1990): Cargo cults and millenarian movements. N.Y.; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

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Ikonografie der Sklaverei Unter I., als Teilgebiet der Kunstgeschichte, versteht man die Kunde von Inhalt und vom Sinn bildlicher Darstellungen. Vor allem in den (Buch-)Illustrationen, Zeichnungen und Gemälden der reisenden Künstler im Brasilien des 19. Jh.s z. B. bei Thomas Ender, Moritz Rugendas und Jean-Baptiste Debret findet man noch vor der Erfindung der !Fotografie viele Aspekte des Sklavenalltags visualisiert, die für die Sklavereiforschung auch heute noch heuristisch von großem Wert sein können. Es handelt sich jedoch oftmals bei diesen Bildwerken um eine ästhetisierende Verarbeitung der Sklaverei (mit wenigen Ausnahmen, vgl. z. B. Debrets Bild »Markt in der Straße Valongo«; Bandeira & Correia do Lago, 2008:184), bzw. um eine Unfähigkeit die Greuel der Sklaverei realistisch bildlich darzustellen, was Psychoanalytiker heute als einen Abwehrmechanismus deuten würden. Die Realität war einfach zu grausam. Außerdem waren die Künstler bestrebt dem damaligen (europ.) Lesepublikum gefällig zu sein. Bildwerke müssen deshalb, wie andere historische Quellen auch, einer eingehenden Quellenkritik unterworfen werden. Wie die Weißen in der Kunst der Afrikaner dargestellt wurden, ist dagegen bisher selten bearbeitet worden (vgl. z. B. Lips, 1937; Burland & Forman, 1972; Wolf, 1972). In der Biblioteca Nacional (RJ) existiert eine reichhaltige Ikonografische Sektion. !Bibliografien !Film !Fotografien !Geschichte der Afrobrasilianer ! Kunst !Literatur !Reiseberichte !Vorurteile M. Rugendas (1835). Malerische Reise in Brasilien. Paris; ders. (1972): Viagem pitoresca atrav¦s do Brasil. S¼o Paulo; J. Lips (1937, 1983): Der Weisse im Spiegel der Farbigen. Leipzig (engl. The savage hits back, London, 1937); G. Richert (1959): Johann Moritz Rugendas. Ein deutscher Maler des XIX Jahrhunderts. Berlin; Cl. Do Prado Valladares (1969): Iconograf†a africana no Brasil. Revista Brasileira de Cultura, n.1, 44, jul./set.; ders. (1976): Aspectos da iconografia afrobrasileira. Cultura (Bras†lia), 6(23), out./dec., p. 64 –

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77; C. A. Burland & W. Forman (1972): So sahen sie uns. Das Bild der Weißen in der Kunst der farbigen Völker. Leipzig; S. Wolf (1972): Benin. Europäerdarstellungen der Hofkunst eines afrikanischen Reiches. Staatliches Museum für Völkerkunde. Leipzig; N. Carneiro (1979): Rugendas no Brasil. Rio de Janeiro; Caryb¦ (1980): Iconografia dos deuses africanos no candombl¦ da Bahia. Salvador : UFBA; C. M. Marinho de Azevedo (1987): Onda negra medo branco. O negro no imagin‚rio das elites s¦c. XIX. Rio de Janeiro; M. Pessoa Monteiro (1989): A mulher negra no imagin‚rio das elites do s¦c. XIX. Clio (Recife), (12), p. 93 – 102; J. Silva Rocha et al. (1989): Imagin‚rio da escravid¼o. Clio (Recife), (12), p. 71 – 92; J. M. Carvalho FranÅa (1998): Imagens do negro na literatura brasileira. S¼o Paulo; H. E. Robert (1998): Encyclopedia of Comparative Iconography. Chicago; B. Kümin (2007): Expedition Brasilien. Von der Forschungszeichnung zur ethnografischen Fotografie. Zürich; J. Bandeira & P. CorrÞa do Lago (2008): Debret e o Brasil. Obra completa 1816 – 1831. Rio de Janeiro

Indigene Psychologie: die Seelenvorstellungen der Afrobrasilianer »Die Naturvölker«, schreibt bereits Bastian (1875: 10), »haben im Durchschnitt eine äußerst komplizierte Psychologie ausgebildet, und es tritt bei der Seelenlehre der eigenthümliche Fall ein, daß sich sagen läßt, sie sei bei den Naturvölkern sorgfältiger entwickelt, als bei den Culturvölkern. Während sich die letzteren mit ziemlich vagen Benennungen begnügen und die Scheidungen schon in Folge philosophischer Deutungen schwankend und unbestimmt werden, besitzen die Naturvölker eine fest umgrenzte Bezeichnung für jede Modification und Erscheinungswelt der Seele. Auch liegt die Erklärung hierfür nicht fern. Der Wilde lebt noch in ununterbrochener Wechselwirkung mit den in seiner Mitte Verstorbenen, in unmittelbarem Connex; die Geister der Abgeschiedenen weilen ihm unter den Zurückgebliebenen, beständig in die täglichen Lebensverhältnisse eingreifend, er erhält Rath und Hülfe von ihnen, so oft er deren bedarf, und er hat es noch nicht verstanden, sich ein mythologisches System aufzubauen, mit einem Himmel und Hölle, um dort die Seelen zu lokalisieren.« Afrobrasilianische Seelenvorstellungen: Franz Boas (1910) hat einige wichtige Quellen herausgearbeitet, auf die die Seelenanschauungen zurückzugehen scheinen. Er unterscheidet: 1. den Begriff des Wollens, das im Körper lebt, aber dennoch vom Körper unabhängig ist z. B. Leben und Lebenstätigkeit 2. Begriffe, die von den subjektiven Gefühlen abhängen, die mit den Vorstellungen der Phantasietätigkeit verbunden sind z. B. in Träumen und Visionen 3. andere Begriffe, die auf den objektiven Vorstellungen beruhen, die mit dem Erinnerungsbilde verbunden sind.

Indigene Psychologie: die Seelenvorstellungen der Afrobrasilianer

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Wir können in diesem Rahmen nicht auf die vielfältigen Seelen- und Alter-EgoVorstellungen auf dem afrikanischen Kontinent eingehen, sondern wollen uns hier auf das brasilianische Beobachtungsgut beschränken (zu den Seelenvorstellungen in Afrika vgl. z. B. Ankermann, 1918; Boas, 1920/21; Baumann, 1950/ 54; Damann, 1963; Rudolph, 1982). Die afrobrasilianischen Kulturen unterscheiden sich je nach Region voneinander (vgl. Ramos, 1979; Diegues Junior, 1977). In Salvador (Bahia) z. B. überwiegt der Einfluß der Yorub‚ aus Nigeria. Bastide (1958) hat die Seelenvorstellungen dieser Afrobaianer folgendermaßen beschrieben: Sie glauben an die Existenz zweier Seelen: 1.»Ori« ist die Seele, die im Kopf sitzt und die Körperfunktion lenkt. »Ori« bedeutet in der Yorub‚-Sprache cabeÅa = Kopf; vgl. Fonseca, 1983:310). Sie ist eine Lebenskraft. Um diese Seele zu stärken, müssen ihr in gewissen Abständen Speiseopfer dargebracht werden (vgl. Lody, 1979). Ori bezeichnet auch den Intellekt, die Sensibilität und die geistige Kraft des Menschen. Sie ist eine »materielle« Seele und verschwindet mit dem Tode. 2. »Emi« dagegen ist eine Geistseele, die unsterblich ist und reinkarnieren kann, zumindest teilweise, z. B. in ein Neugeborenes derselben Familie. »Emi« bedeutet in der Yorub‚-Sprache: vida, respirażo, esp†rito = Leben, Atmung, Geist; vgl. Fonseca, 1983:123). Während des Schlafes kann diese Geistseele umherwandeln und bei dieser Gelegenheit in Gefangenschaft geraten, was zur Folge hat, dass dieser Mensch aufgrund des »Seelenverlustes« (!Krankheitsvorstellungen) »geisteskrank« wird. Stirbt eine Person, deren Seele gefangen wurde, verwandelt sich ihr »emi« in »zumi«, einen Geist, der dem Fänger in der schwarzen Magie zu Diensten sein muß. »Emi«, die Schattenseele, entsteht im Bauch der Mutter während der Schwangerschaft oder reinkarniert sich dahinein. Es werden weibliche und männliche Seelen, starke und schwache unterschieden. »Emi« ist auch verantwortlich für die guten und schlechten Charaktereigen-schaften eines Menschen. Darüberhinaus glauben die Afrobaianer an die Existenz der »Eleda« (in der Yorub‚-Sprache: criador, ser supremo = Schöpfer, höchstes Wesen; vgl. Fonseca, 1983:121), eine Art Schutzengel, der ätherisch ist und außerhalb des Leibes existiert (vgl. Jo¼o do Rio, 1951:14). Nach Pater Frickel (1940/41) ist »Eleda« nicht nur ein Beschützer des Menschen, sondern auch ein Geistwesen, das Beschwerden bei den Menschen verursachen kann. In einem gewissen Sinne ist auch »emi« ein Beschützer des Menschen. Manchmal vermischen sich auch »emi« und »eleda« mit der Schutzgottheit, dem »santo de devożo especial« (dem Heiligen der besonderen Devotion), dem »oriÅa« (auch »orixa«, im Yorub‚: anjo da guarda, divinidade elementar da natureza, guardi¼o da cabeÅa = Schutzengel, elementare Naturgottheit, Beschützer des Kopfes; vgl. Fonseca, 1983:311), den der Adept des !Candombl¦,

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während seiner !Initiation erhält. Dieser »orixa« hat seinen Sitz auch im Kopf seines Anbeters. Wegen der Ähnlichkeit der Ausdrücke »ori« und »oriÅa« werden sie leicht verwechselt. Nach dem Tode verwandelt sich die Schattenseele in »ara orun«, den Totengeist. Die Geister der Verstorbenen, die mehrmals gestorben sind oder getötet wurden, müssen sieben Jahre lang durch die Welt streifen. Sie sind dann Vasallen der Trikstergestalt »Legba Exffl«, des Götterboten des Yoruba-baianischen Pantheons. Diese Geister werden auch während der magischen Praktiken zu Hilfe gerufen (vgl. Frickel, 1940/41:197, 200, 201). Da Costa (1948) hat besonders die afrobrasilianischen Kulte im Norden Brasiliens untersucht. In S¼o Lu†s do Maranh¼o wird z. B. die Seele als ständige Begleiterin des Menschen aufgefasst, kann aber während des !Traumes herumwandeln. Der »Schutzengel« wird als eine andere Seele oder als zweiter Schatten aufgefasst. Er kann stark oder schwach sein und wird durch !Gebete gestärkt. Wenn es einem Zauberer gelingt, den Schutzengel zu rauben, muß diejenige Person sterben. Man glaubt, dass der Schutzengel nach dem Tode in den Himmel kommt. Das Schicksal der Seele hängt von ihren guten Taten während ihres irdischen Lebens ab. Wenn sie nicht in den Himmel aufgenommen wird, muß sie auf der Erde umherirren. Man kann ihr durch Gebete und Opfer helfen. Hier zeigen sich bereits starke christliche Einflüsse (zur magischen Folklore im Nord-Osten Brasiliens vgl. auch Fernandes, 1938). !Ahnen !Candombl¦ !Einführung !Folklore !Friedhöfe !Geister ! Gesundheit !Masken !Sozialpsychologie A. Ramos (1938): O esp†rito associativo do negro brasileiro. Revista do Arquivo Minicipal (SP). 4(47), maio, p. 105 – 126; M‚scaras que refletem a alma africana. Di‚rio de S¼o Paulo (SP), 26. jun.; Cl. Lepine (1978): Contribuiżo ao estudo do sistema de classificażo dos tipos psicolûgicos no candombl¦ ketu em Salvador. Doutorado. S¼o Paulo:USP-FFLCH; H. Stubbe (1979): Ethnopsychiatrie in Brasilien. Social Psychiatry,14, 4, 1979:187 – 195; ders. (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Von den indianischen und afro-brasilianischen Kulturen bis in die Gegenwart. Berlin; ders. (1992): Psychologie. In: N. Werz (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde. Freiburg/Brsg., S. 559 – 590; ders. (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; P. O. Ebigbo (1982): Psychotherapie in Afrika. Schwarze Kultur und weiße Psychologie. Psychologie Heute, April, S. 64 – 71; Ch. dos Santos-Stubbe & H. Stubbe (1989): Afrobrazilian culture and clinical psychology. In: K. Peltzer & P. O. Ebigbo (ed.s): Clinical psychology in Africa. South of the Sahara, the Caribbean and Afro-Latin America. Enugu: Chuka Printing, p. 68 – 79; K. Peltzer & P. O. Ebigbo (ed.s) (1989): Clinical psychology in Africa. South of the Sahara and Afro-Latinamerica. Enugu: Chuca Printing; D. A. Azibo (1996): African Psychology in historical perspective and related commentary. Trenton: Africa World Press; H. Stubbe (2010): Indigene Psychologien am Beispiel Brasiliens. Psychologie & Gesellschaftskritik, 34. Jg., Nr. 134, H. 2, S. 83 – 111; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie.

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Gießen, S.306 f; J. E. Oshodi (2012): History of psychology in the black experience perspectives now and then. Lanham: UPA

Initiation (lat. initium = Anfang, Eintritt; auch: Pubertätsriten, Übergangsriten, rites de passage; J. F. Lafiteau, 1724; iniciação) Zur Forschungsgeschichte: Der Begriff I. wurde 1724 von dem jesuitischen Missionar Joseph FranÅois Lafiteau (1670 – 1740) eingeführt, der die Reifefeiern der Irokesen und Karaiben mit den Weihefeiern antiker Mysterien verglich. Bereits im 19. Jh. lag ein reichhaltiges ethnographisches Material über Knaben-, Jünglings-, Jugend- und Mädchenweihen vor. 1905 interpretierte James Georg Frazer (1854 – 1941) den Ausgang der Reifefeiern als »Wiedergeburt«. Die erste systematische Bearbeitung der I.berichte erfolgte durch van Gennep (1909), der sie in sein allgemeines Konzept der »rites de passage« (Übergangssriten) einordnete. Wie Geburt, Heirat und Tod löse auch die Adoleszenz eine gesellschaftliche Krise im Sinne einer Status-veränderung aus, die rituell zu bewältigen sei. Auch komme bei dem Übergang von der ungeschlechtlichen Welt des Kindes zur geschlechtlichen der Erwachsenen der »sozialen Reife« d. h. der Mündigkeit, eine größere Bedeutung zu als der biologischen Pubertät. Die I.riten lassen sich nach van Gennep in drei typische (universale?) Phasen unterteilen: 1.die Phase der Loslösung vom alten Status (s¦paration), 2. die Übergangszeit (marge) und 3. die Einführung in den neuen Status (agr¦gation). Der Psychoanalytiker Theodor Reik (1888 – 1969) unterschied in »Die Pubertätsriten der Wilden« (1919) aggressive Elemente (z. B. Beschneidung) von versöhnlichen Motiven, die vor allem dann zum Ausdruck kämen, wenn die Initianden auf Vatermord und Mutterinzest verzichtet hätten. Er stellte die These auf, daß das Thema der Reifefeiern die Problematik des Freudschen UrhordenMythos sei d. h. die Angst der »Vatermörder« (Brüderclan) vor der Vergeltung seitens der neuen Generation und die Einbeziehung der ersatzkastrierten Knaben in die Gemeinschaft der Männer. Die Beschneidung wird hier als blutige Implantation der Seniorität oder als Biß des mythischen Ungeheurs (= Großvater) gedeutet. Die Belohnung der Beschnittenen seien soziale !Ventile wie sexuelle Exzesse, Massenvergewaltigungen, Außenleitung der Aggressionen (Tötungskulte), ritualisierter Sadismus. Durch die I. werde das Triebleben einer neuen Generation domestiziert d. h. sozial verträglich gemacht. Adolf E. Jensen (1899 – 1965) erkennt 1933 in den Reifezeremonien den stärksten Ausdruck einer Weltanschauung, die im Kulturkreis der Altpflanzer sich an vielen Stellen der Erde noch erhalten habe. Die I. gestalte die »dämo-

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nische Einheit von Leben und Tod, Lebenskraft und –freude und schrecklicher Grausamkeit.« In einer frühzeitlichen »Ergriffenheit« seien die Reifezeremonien geschaffen worden als »Wiederholung des mytischen Urzeitgeschehens«, die als Akt des Gehorsams gegenüber der Weltordnung zu verstehen sei. In der Kulturerneuerung, die zugleich Welterneuerung sei, liege der tiefere und ältere Sinn der I. Der Ethnopsychoanalytiker Geza Rûheim (1891 – 1953) betont 1945 bei der I. den entscheidenden Schritt in der Sozialisation von der ›Mutter-Kind-Schlafgemeinschaft‹ ins Männerhaus. Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim spricht 1954 im Zusammenhang mit der I. von den »symbolischen Wunden«. Beatrice Whiting betont 1961 ebenfalls wie Rûheim die Dramatik der »Mutter-SohnTrennung«, die schon in den australischen Berichten als sehr blutig beschrieben worden waren. 1961 gibt Mircea Eliade eine religionsphänomenologische Interpretation der I. In der bildlichen Darstellung von Tod und Wiedergeburt sieht Eliade den Ausdruck des nie verstummenden menschlichen Sehnens nach einem Neubeginn. Er weist mit Nachdruck auf den religiösen Charakter der I.riten hin. Der Strukturfunktionalist Victor Turner (1920 – 1983) stellt 1964 die gemeinschaftsstiftende Erfahrung des kollektiven Leidens heraus. In der 2. Phase der I. (»Schwellenphase«) erfolge eine »Entpersonalisierung« durch extreme Körpererfahrungen z. B. Schmerz (»Liminalität«). Die »gemeinsame Grenzerfahrung« im Ausnahmenzustand körperlicher Schmerzen rücke die Initianden in die Nähe des Außergewöhnlichen wie Tod, Unsichtbarkeit, Bisexualität, Asexualität, Zügellosigkeit, Sonnen- und Mondfinsternis, Wildheit, Nacktheit, Besitzlosigkeit und Anonymität. Alle Initianden seien sich in dieser Phase gleich, sie seien gesellschaftlich nicht strukturiert d. h. in Rollen eingebunden, sondern schlichte Mitglieder einer »communitas«. In die Gesellschaft (»societas«) kehrten die Initianden erst in der 3. Phase zurück, wenn sie neue Rechte und Pflichten erhielten d. h. resozialisiert würden. Das gemeinsame Erlebnis halte sie aber auch zusammen: sie hätten im Ausnahmezustand der I. Ungewöhnliches und Unheimliches geschaut und würden sich Zeit ihres Lebens gemeinsam daran erinnern. Georges Balandier (1976) stellt in seiner »Politischen Anthropologie« heraus, dass der ordo rerum und der ordo hominum von Entropie bedroht sind, von den inneren Kräften der Zerstörung, von der Abnutzung der sie erhaltenden Mechanismen. »Jede Gesellschaft, und wenn sie noch so gefestigt ist, ist von dem Gefühl der Verletzlichkeit besessen.« … »Das gleiche Ziel verfolgen im Allgemeinen die Rituale und die Unterweisung, die für die Initiation vorgeschrieben sind, mit welcher die Volljährigkeit und das ›Vollbürgerrecht‹ erreicht werden; die Gesellschaft erneuert ihre Strukturen und die Ordnung der Welt, indem sie eine neue Generation aufnimmt. Das im alten Kongo mit »Kimpasi« bezeichnete Initiationsverfahren hat in erster Linie diese Funktion, zumal es dann angewandt wird, wenn die Gemeinschaft geschwächt

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oder gefährdet ist. Sie versucht sich dadurch zu retten, dass sie ihre Jugend die Anfänge der Gemeinschaft erleben lässt, die ihre Ordnung geformt haben, ihre Kultur und ihre Geschichte; die besonderen Riten verweisen nämlich symbolisch auf die Zeit der Entstehung. Die Gesellschaft findet dadurch wieder zu ihrer Jugendkraft, dass sie ihre eigene Entstehungsgeschichte spielt, sie entsteht neu, indem sie in der Initiation die jungen Menschen nach ihren Vorbildern entstehen lässt.« (Balandier, 1976:120,121; vgl. auch Clastres, 1988). Huber (1979) und Grohs (1980) betonen die pädagogische Funktion der I., das Lernen neuer Rollen oder wie Meyer Fortes (1906 – 1983) sagte, die »Zurichtung auf ein neues Amt«. Koepping führt 1983 den Unterschied der Jünglings- und Mädchenweihen auf die Physiologie zurück: die Gebärfähigkeit der Frau statte diese von Natur mit »Sozialität« aus, während den Männern die Begriffe »Sorgen« und »Versorgen« erst beigebracht werden müssten. Jede I. umfasst also eine Trennung von der bisherigen Gruppe, eine Ablösung vom bisherigen Status des Individuums, eine »Neutralisierungsphase« und eine Zeit der Einführung in den neuen Zustand. Jede I. stellt auch auf symbolische Weise den Kreislauf von Leben, Sterben und Wiedergeburt dar. Der Initiand lernt während der I. die sacra, die heiligen Gegenstände (z. B. Schwirrholz, ! Masken, Flöten) und !Mythen seiner Ethnie kennen. Ethnopsycho-analytisch wurde die I. als Männerverschwörung gegen Kinder und Frauen interpretiert. In ihnen würden sich die Konflikte zwischen den Generationen und Geschlechtern kreuzen und zur Tragödie des Ödipus verdichten. Nach der Auffassung des Ethnopsychoanalytikers Mario Erdheim (1984) schirmen sich »kalte« Kulturen (L¦vy-Strauss, 1962) gegen den Kulturwandel ab, indem sie die Adoleszenz mittels der I. einfrieren, wohingegen die zu schnellem kulturellen Wandel drängenden industrialisierten »heißen Kulturen« die Initiationsriten abbauen, um das in der Adoleszenz liegende Veränderungspotential freizusetzen. Die Initiation im Candomblé: Auch im !Candombl¦ finden Initiationen statt (vgl. hierzu z. B. die eindrucksvollen !Fotografien von Pierre Verger). Zu ihnen gehören Kahlscheren der Initianten, Seklusion, Einhaltung bestimmter (Speise-)!Tabus, Schweigen, bestimmte Kleidungen, (Blut-) Opferhandlungen etc. Die Einweihungszeit variiert von wenigen Tagen bis zu sechs Monaten. In dieser Zeit lernt der Novize bzw. die Novizin nach einer ersten, heftigen und ungeübten !Trance, die Inkorporation eines Gottes oder einer Göttin (orix‚) und alles was diese charakterisiert (Rhythmen, Tänze, Gesänge, Farben, Trommelschläge, etc.). Auch bestimmte Bäder, Räucherungen, das Trinken von Pflanzenabsuden (mit manchmal psychotropen Wirkungen), Diät, Fasten etc. gehören zur I., in der eine Art Persönlichkeits-veränderung (»ela/ele sai como uma crianÅa«; eine »Wieder-

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geburt«) stattfindet. Die Erforschung der I. im Candombl¦ erweist sich als äußerst schwierig, da von einer eigenen I., »Einweihung«, der ForscherIn im Allgemeinen abgeraten wird (mangelnde Objektivität, »Persönlichkeitsveränderungen«, fehlende weitere Forschungsmotivation etc.). Andererseits erbringt eine nur teilnehmende Beobachtung nicht die gewünschten Resultate und läßt mehr Fragen offen, als sie beantwortet. !Bessessenheit !Haare !Namen !Religion !Tabu !Tatauierung ! Trauer A. van Gennep (1909): Les rites de passage. Paris; M. Zeller (1923): Die Knabenweihen. Eine psychologisch-ethnologische Studie. Bern; I. Walk (1928): Initiationszeremonien und Pubertätsriten der südafrikanischen Stämme. Anthropos, XXIII; A. Jensen (1933): Beschneidung und Reifezeremonien bei Naturvölkern. Stuttgart; Die Initiation. Ciba Zeitschr., Nr. 88, Bd. 8, 1958; M. Eliade (1961): Das Mysterium der Wiedergeburt. Initiationsriten. Ihre kulturelle und religiöse Bedeutung. Zürich; F. W. Young (1965): Initiation ceremonies. A cross-cultural study of status dramatization. Indianopolis; V. Popp (Hrsg.) (1969): Initiation. Frankfurt/M.; A. van Gennep (1969): Initiationsriten (rites de passage). In: Popp,V. (Hrsg.), Initiation. Frankfurt/M.,S. 13 – 44; B. Le Vine & R. LeVine (1969): Die Initiation der Mädchen in Nyan-songo (Kenia) und die Initiation der Jungen in Nyansongo. In:V. Popp (Hrsg.), Initiation. Frankfurt/M., S. 45 – 70; M. Eliade (1969): Initiationskrankheiten und -träume. In: V. Popp (Hrsg.), Initiation. Frankfurt/M., S. 139 – 159; H. Fichte (1976, 1984): Xango. Die afroamerikanischen Religionen Bahia – Haiti – Trinidad. Frankfurt/M.; G. Balandier (1967, 1976): Politische Anthropologie. München; E. Biasio & V. Münzer (1980): Übergänge im menschlichen Leben. Völkerkunde-museum der Universität Zürich. Zürich; P. F. Verger (1981): Bori, primeira cerimúnia de iniciażo ao culto dos ýris— n—gû na Bahia, Brasil. In: R. Bastide et al. (ed.s), Olûýr‡s‚ – Escritos sobre a religi¼o dos orix‚s. S¼o Paulo; M. C. Lopes dos Santos (1985): Transe, transas e tramas num rito de iniciażo afro-brasileiro. CiÞncia & Trûpico (Recife), 13(2), p. 265 – 276; P. Clastres (1988): Über die Folter in primitiven Gesellschaften. Curare, vol.11, 1, 1988:45 – 50; V. W. Turner (1989): Das Ritual. Frankfurt/M.; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S. 309 – 312

Interkulturelle Pädagogik (auch: multikulturelle Erziehung; veraltet: Ausländerpädagogik; pedagogia intercultural) I. P. (IKP) ist ein eigener aktueller Zweig der Pädagogik, der sich in seiner veralteten Konzeption mit der pädagogischen Assimilierung der »ausländischen« nicht zur dominanten Kultur gehörigen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen in Forschung, Theorie und Praxis befaßte. Dieser Ansatz wurde in Vielvölkerstaaten mit einer dominanten Kultur (z. B. USA, UDSSR, Österreich) sowie in der Kolonialpädagogik, die bis 1920 in nahezu allen Kolonien fast ausschließlich in den Händen der Missionen lag, praktiziert. In multiethnischen

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Gesellschaften ist heute von einer IKP zu fordern, daß sie nicht nur die einzelnen Kulturen in ihrem Eigenwert anerkennt, sondern einen pädagogischen Dialog der Kulturen, Gesellschaften und Religionen betreibt, also prinzipiell interkulturell und multikulturell konzipiert ist. Diese Ausrichtung der IKP betrifft sowohl die Sprachen (Mehrsprachigkeit), als auch die Lehrmittel (z. B. !Schulbücher), Lehrmethoden (vgl. interkulturelles Training, !antirassistisches Training) und pädagogischen Ziele etc. Die IKP will die Beteiligten in die Problematik der Globalisierung und der plurikulturellen Gesellschaft einführen und zu einem Abbau von rassischen, religiösen und nationalen Vorurteilen, zu Respekt, Toleranz und zu einem besseren gegenseitigen Verständnis Andersdenkender, -fühlender und –handelnder verhelfen. In Brasilien wird die IKP bisher noch wenig praktiziert. Santos-Stubbe (2000) hebt folgende Merkmale der interkulturellen Pädagogik (IKP) hervor: – Die IKP ersetzt die »Ausländerpädagogik«. – Sie stellt ein übergeordnetes Konzept innerhalb der Pädagogik dar und bildet einen eigenständigen Begriff der Pädagogik. – Die IKP richtet sich in erster Linie an die Mitglieder der Dominanzkultur. In diesem Sinne ist sie eine Pädagogik für alle. – Sie ist keine Pädagogik für die »Anderen« und auch nicht eine Sonderpädagogik für »Ausländer«. – Die IKP ist eine Pädagogik, die partizipativ ist (Pädagogik der Mündigkeit). Sie fordert eine verstärkte Gemeinwesen- und Stadtteilorientierung (z. B. im Rahmen von Spielplatz- und Freizeitgestaltung, Einbeziehung von Erwachsenen und älteren Men-schen, etc.). – Sie stellt kritische Fragen nach den Lehrinhalten und den Inhalten der Lehrbücher und nach deren pädagogischen und sozial-psychologischen Konsequenzen. – Sie fordert eine eigene Stellung bei der Lehrerausbildung, sowie innerhalb der Curricula (z. B. in der Aufnahme von interkultureller Literatur). – Die IKP beschränkt sich nicht auf die traditionellen Bildungseinrichtungen (z. B. Schule), sondern umfasst alle Bereiche des Lernens. – Sie richtet sich nicht nur an Kinder und Jugendliche, sondern auch an Erwachsene und ältere Menschen. – Eine IKP erarbeitet Konzepte für die Akzeptanz von anderen kulturellen Lebensformen ohne sie zu isolieren und ohne sie »integrieren« bzw. »assimilieren« zu wollen. – Eine IKP darf weder ein Instrument eines pädagogischen internen !Kolonialismus gegenüber Minderheiten sein, noch ein Instrument des Assimilations- oder Integrationszwangs sein. – Sie strebt bewusst eine Reflexion über ihren »Eurozentrismus« bzw. »Eth-

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nozentrismus« und über ihre Perspektive aus der Position der Dominanzkultur an. Darüber hinaus befaßt sich die IKP mit einer Reflexion über die pädagogischen Konzepten, Theori-en und Praxen (Begriff: Pädagogischer Wandel). IKP bezieht sich allgemein auf Kultur-Kontakt und kulturellen Dialog zwischen Personen unterschiedlicher Kulturen und/oder Herkunft (hier spielt der soziale, politische, wirtschaftliche und rechtliche Status des Gegenübers keine Rolle). Sie hebt den Diskurs der Monokulturalität auf zugunsten eines plurikulturellen Diskurses. Sie geht von einer Position der Gleichwertigkeit der Menschen und der Kulturen aus. Kulturelle Hierarchien darf es hier nicht geben! (Die Herrschaftsverhältnisse innerhalb der Pädagogik werden hinterfragt). Die IKP erfordert Verschiedenheit und Gleichberechtigung im pädagogischen Kontext. Sprache wird als eine unter vielen anderen Aspekten des kulturellen Kontaktes (oder des potentiellen Konfliktes) betrachtet (vgl. Zweisprachigkeit) Die IKP fördert den Bilingualismus und setzt sich für die Koordinierung des muttersprachlichen und zweisprachlichen Unterrichts ein. Die IKP ist auch eine Aufforderung zu allgemeiner Toleranz und Akzeptanz innerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Hier geht es um die allgemeinen !Menschenrechte, um die Friedenserziehung und um einen Beitrag zum Umgang mit Differenz (d. h. nicht harmonisierend sondern auf Konfliktlösungskonzepte hin orientiert). Sie wird betrachtet als die pädagogische Antwort auf Plurikulturalität, ! Migration und Globalisierung. Sie konzentriert sich nicht auf eine bestimmte Migranten-Bevölkerungsgruppe, auch nicht im Hinblick auf eine statistische Mehrheit innerhalb der Minderheitsgruppe. Sie ist keine »Exotik« und nicht auf Folklore-Veranstaltungen zu reduzieren. Die IKP basiert auf einem erweiterten Kulturbegriff. Sie fordert nicht nur !Bildung sondern auch Erziehung. Die IKP verlangt keine Identifikation (»geistige Loyalität«) mit der Mehrheitsgesellschaft bzw. –Kultur. Die IKP kann nicht in einer bzw. durch eine pädagogischen Institution verwirklicht werden. Sie braucht die Vernetzung und Einbindung verschiedener Instanzen und Arbeitsfelder, sowie anderer gesellschaftlicher Gruppen. Sie setzt sich intensiv (theoretisch und pragmatisch) mit Ethnozentrismus, Nationalismus, !Rassismus, Exotismus, mit Klichees, Xenophobie und Xenophilie, mit !Stereotypen, !Vorurteilen, !Diskriminierungen, !Se-

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gregation und mit den politischen und sozialen Migrationsdiskursen (z. B. mit dem »Integrationsdiskurs«) auseinander. – Die IKP besitzt noch keine eigenständige Theorie. Sie bedient sich der theoretischen Ergebnisse, der pädagogischen Grundlagenforschung und der Nachbarwissen-schaften. (vgl. Santos-Stubbe, 2000ff). Besondere Fragestellungen der i. P. sind u. a. die Mehrsprachigkeit bzw. der Bilingualismus, die politisch-soziale Partizipation und Integration, die soziale, kulturelle und personale Identität, die !Akkulturation, die !Migration, die Fremdenfeindlichkeit, der !Rassismus, die !Menschenrechte. !antirassistisches Training !Akkulturation !Assimilation !Bildung ! Geschichte der Afrobrasilianer !Interkulturelle Sozialarbeit !Kinder !Kultur !Missionierung !Schulbücher !Straßenkinder I. Hern‚ndez (1981): Educażo e sociedade ind†gena. Uma aplicażo bilingüe do m¦todo Paulo Freire. S¼o Paulo; L. Silva Santos (1987): A capoeira como opżo de educażo f†sica infantil no ensino de primeiro grau. Porto Alegre : PUC-RS; W. Böhm (1993): Multikulturelle Erziehung und Fremdenhaß, Vjschr. f. wiss. Päd., 69; A. Markmiller (1995): »Die Erziehung des Negers zur Arbeit«. Wie die koloniale Pädagogik afrikanische Gesellschaften in die Abhängigkeit führte. Berlin; G. Auernheimer (1995): Einf. in die interkulturelle Erziehung. Darmstadt, 2. Aufl.; W. Jungmann (1996): Kulturbegegnung als Herausforderung der Pädagogik. Münster ; I. Gogolin et al.(Hrsg.) (1997): Pluralität und Bildung. Opladen; E. Johann, H. Michely & M. Springer (1998): Interkulturelle Pädagogik. Methodenhandbuch für sozialpädagogische Berufe. Berlin; M. Gemende et al. (Hrsg.) (1999): Zwischen den Kulturen. Pädagogische und sozialpädagogische Zugänge zur Interkulturalität. Weinheim; Ch. dos Santos-Stubbe (2000ff): Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Vorles.n. Mannheim (University of Applied Sciences); N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Fr. Hamburger (2009): Abschied von der interkulturellen Pädagogik. Weinheim; P. Mecheril (2010): Migrationspädagogik. Weinheim; H. Rademacher & M. Wilhelm (2009): Spiele und Übungen zum interkulturellen Lernen. Berlin; H.-E. Tenorth & R. Tippelt (2012): Beltz Lexikon Pädagogik. Weinheim, S.350 f

Interkulturelle Philosophie Der Philosoph Karl Jaspers (1883 – 1969) sagte einmal treffend: »Die Philosophie ist universal. Es gibt nichts, was sie nichts angeht. Wer philosophiert, interessiert sich für alles.« Seit dem Anfang des 19. Jh.s gab es an den europäischen Universitäten zwar das Fach »vergleichende« oder »komparative Philosophie«, in dem westliche und (fern-)östliche Philosophien nebeneinander gestellt wurden. Dies blieb jedoch ein sehr äußerliches Verfahren, bei dem die philosophischen Inhalte nicht wirklich aufeinander bezogen wurden. Auch Kultur-anthropologen

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und Ethnologen registrierten bei den Ethnien, die sie besuchten und untersuchten, gelegentlich auch deren Denksysteme (systems of thought). So schrieb z. B. Paul Radin (*1883) bereits 1927 eine Monographie »Primitive man as philosopher« (1957, 3. Aufl.). Einige wenige Philosophen im Westen und auch in anderen Teilen der Welt haben sich in jüngster Zeit unter dem Namen i. P. der philosophischen Herausforderung gestellt, die mit den Problemen der Vereinheitlichung und Vermischung der Kulturen gegeben sind, und sie suchen und praktizieren den Austausch mit den Philosophien anderer Kulturen. Die i. P. will nicht eine neue philosophische Disziplin sein, sondern sie sollte alle philosophischen Disziplinen und Beschäftigungen durchdringen; diese sollten jeweils die Dimension des Interkulturellen in sich aufnehmen. Das Verhältnis der Kulturen zueinander, das seit der Aufklärung eurozentrisch gedacht worden ist, gilt es philosophisch neu zu bestimmen. Als eine wissenschaftliche Grundlage hierfür kann u. a. der originelle »Philosophie-Atlas« von Elmar Holenstein (2004) dienen, aber als gegenwärtiges und zukünftiges philosophisches Fundament auch der »Kosmopolitismus«, die Philosophie des Weltbürgertums, die sich bereits in der griech.– röm. Antike findet (vgl. Panitz, 1974; Appiah, 1999, 2007; Beck, 2004; Stubbe, 2012:340). Die Philosophie und die Afrikaner bzw. Afrobrasilianer:

Über die Philosophie und die Afrikaner bzw. Afrobrasilianer liegen bisher nur sehr wenige Studien vor. Während sich Historiker, Soziologen, Anthropologen, Religionswissenschaftler, Psychologen und Literaturwissenschaftler bereits tiefergehend mit der Lebenswirklichkeit der Afrobrasilianer befaßt haben, fehlt es noch an philosophischen Studien, obwohl genügend Quellen vorhanden sind. Z. B. ist eine »Philosophie der Sklaverei« noch nicht vorhanden. Quellen für eine indigene afrikanische bzw. afrobras. Philosophie können !Sprichwörter, Fabeln, !Mythen und Märchen und Lebensweisheiten sein (vgl. z. B. Lips, 1959; Märchen aus Angola, 1986; Schuhmacher & Schuhmacher, 2008). Der Afrikaner bzw. Afrobrasilianer ist jedoch manchmal ein Gegenstand der Philosophie gewesen: Was haben westliche Philosophen über die Afrikaner geschrieben? Ein Forschungsdesideratum! Bekanntlich haben sich Philosophen wie Kant (vgl. z. B. »Anthropologie aus pragmatischer Hinsicht«, 1798, Kap. D, 2. Teil), Hegel, Voltaire u.v.a.m. über Afrikaner geäußert (vgl. Meyer, 1990:137 – 147). Dabei waren oftmals abwertende rassistische Untertöne nicht überhörbar. In der »Philosophie der Geschichte« (1822ff) hat Hegel, der niemals Afrika bereist hat, z. B. Afrika als ein Land »das jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist« (Hegel, 1966:153) beschrieben, und Ausführungen über die Religion, Sklaverei und den Charakter der Afrikaner gewagt. Poliakov et al. (1992) haben auf die Licht- und Schattenseiten der Auf-

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klärung in anthropologischer Hinsicht aufmerksam gemacht: Einmal ist die Aufklärung eine Zeit der Neuerungen, der Kritk an den herrschenden Mächten und Glaubenssätzen, eine Zeit der franz. und amer. Revolution, der Toleranz, der Menschenrechte und Freiheitsdeklarationen und zum anderen wird eine Katalogisierung der Menschheit (»Rassenhierarchie«) im Geiste der erwachenden Naturwissenschaften (Anthropologie) vorgenommen. Das 18. Jh. war nach diesen Autoren gleichzeitig »Gegner und Ursprung des modernen Rassismus«. Als Beispiel für diesen Zwiespalt führen Poliakov et al. Voltaires historiografisches Hauptwerk »Essay sur l’histoire g¦n¦rale et sur les moeurs et l’esprit des nations depuis Charlemagne jusqu’— nos jours« (1756) an: Zum einen kritisiert Voltaire darin die Sklaverei heftig: »Wir sagen, daß sie Menschen sind wie wir, daß sie von einem Gott, der für sie starb, erlöst werden, und wir halten sie wie Lasttiere zur Arbeit an; man ernährt sie schlechter als diese. Wollen sie fliehen, so hackt man ihnen ein Bein ab. Und bei all dem wagen wir, von Menschenrechten zu sprechen.« (zit. nach Poliakov et al., 1992:77). In schroffem Widerspruch dazu steht aber folgende Passage: »Die Rasse der Neger ist eine von der unsrigen völlig verschiedene Menschenart, wie die der Spaniels sich von der der Windhunde unterscheidet … Man kann sagen, daß ihre Intelligenz nicht einfach anders geartet ist als die unsrige; sie ist ihr weit unterlegen.« (zit. nach Poliakov et al., 1992:77). Anregend für eine zukünftige afrobras. Philosophie kann z. B. Anthony Kwame Appiah’s Buch »Na casa do meu pai – A Ýfrica na filosofia da cultura« (1997) sein. !Anthropologie !Indigene Psychologie !Kosmopolitismus !Literatur ! Mythen und Märchen !N¦gritude !Personkonzepte !Rassismus !Sprichwörter I. Kant (1798, 1983): Anthropologie aus pragmatischer Hinsicht. Stuttgart; G. W. F. Hegel (1822ff; 1966): Philosophie der Geschichte. Stuttgart; C. von Prantl (1858): Die Philosophie in den Sprichwörtern. München; R. Basset (1903): Contes populaires d’Afrique. Paris; B. Gutmann (1909): Dichten und Denken der Dschagganeger. Beiträge zur ostafrikanischen Volkskunde. L. Frobenius (1913): Schwarze Seelen. Berlin; L. L¦vy-Bruhl (1927): Die geistige Welt der Primitiven. München; Leipzig; J. Cruz Costa (1956): Contribuiżo — histûria das ideias no Brasil. Rio de Janeiro; E. Lips (1959): Weisheit zwischen Eis und Urwald. Leipzig; D. Zahan (1970): Religion, spiritualit¦ et pens¦e africaines. Paris; R. Bastide (1973): Le principe d’individuation: contribution — une philosophie africaine. In: Colloques Internationaux du Centre de la Recherche Scientifique, 544, Paris, 11 – 17. Oct. 1971: La notion de personne en Afrique Noire. Paris: CNRS; H. Panitz (Hg.) (1974): Stoische Weisheit. (gr.dt.lat.). Münster ; Märchen aus Angola. Der Streit mit Kalunga. Leipzig, 1986; J. Meyer (1990): Sklavenhandel. Ravensburg; L. Poliakov et al. (1992): Rassismus. Über Fremdenfeindlichkeit und Rassenwahn. Hamburg (frz. Le racisme, Paris, 1976); A. L. M. Valls (1994): Auf der Suche nach einer brasilianischen Philosophie. Lateinamerika-Studien, Bd. 33, S. 451 – 472; K. A. Appiah (1997): A casa do meu pai. A Ýfrica

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na filosofia da cultura. S¼o Paulo; ders. (1999): Africana: the Encyclopedia of the African and African American Experience. New York; ders. (2007): Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums. München; ders. & H. L. Gates, jun. (1997): The dictionary of global culture. New York; IPHAN (1997): Negro Brasileiro Negro. Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N8 25; H. Kimmerle (2002): Interkulturelle Philosophie. Zur Einführung. Hamburg; E. Holenstein (2004): Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens. Zürich; U. Beck (2004): Der kosmopolitische Blick. Berlin; M. Schuhmacher & St. Schuhmacher (2008): Wenn die Wurzeln sich umarmen. Die Weisheit Afrikas. München; M. Gessmann (2009): Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Interkulturelle Sozialarbeit Ein in Brasilien noch wenig praktizierter Anwendungsbereich der Sozialarbeit (serviÅo social) mit Migranten, Minoritäten, auf der Straße (street working), mit Afrobrasilianern und in Subkulturen. Auch die Sozialarbeit in fremden Kulturen z. B. im Rahmen der Entwicklungs-zusammenarbeit ist hiermit gemeint. In allgemeiner Betrachtung besitzen hierbei KlientIn und SozialarbeiterIn unterschiedliche kulturelle Backgrounds. Für Brasilien als ein typisches Einwanderungsland, das Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen, Religionen und Kontinenten aufgenommen hat, stellt die i. S. eine beträchtliche Herausforderung dar. !Gesellschaft !interkulturelle Pädagogik !Kultur der Armut !Migration ! Minderheiten !Straßenkinder P. J. Meireilles Vieira (1981): Gloss‚rio de ServiÅo Social. Rio de Janeiro; U. Craemer (1987). Favela-Kinder. Sozialarbeit am Rande der Gesellschaft. Ein brasilianisches Tagebuch. Stuttgart; H. Banning (1995): Bessere Kommunikation mit Migranten. Ein Lehrund Trainingsbuch. Weinheim; W. R. Leenen et al. (2002): Interkulturelle Kompetenz in der Sozialen Arbeit. In: G. Auernheimer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Opladen, S. 81 – 102; Ch. dos Santos-Stubbe (Hrsg.) (2005): Interkulturelle Soziale Arbeit in Theorie und Praxis. Aachen

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Jagunço (auch: cangaceiro, capanga, guarda-costas, valentão, curimbaba, nortista, nordestino, caipira, rústico,assalariado, fanático e revolucionário de Antônio Conselheiro, bandido) Das maßgebliche bras. Lexikon der port. Sprache, der »Aur¦lio«, leitet j. etymologisch von »zaguncho«, einem luso-afrikan. Wort für »arma de arremesso« (= kleines Beil, Wurfmesser, Speer) ab (Aur¦lio, s.d., p. 795,1482; vgl. auch da Cunha, 1982:452). Im »Aur¦lio« finden sich auch Regionalismen von j., z. B. in Bahia: »šndividuo do grupo de fan‚ticos e revolucion‚rios de Antúnio Conselheiro (1818 – 1897), na Campanha de Canudos« oder in Alagoas und Pernambuco: »ChuÅo« (= Speer). Der Aur¦lio und andere Lexika führen auch verschiedene Synonyme (s. o.) von j. auf. Die j. des »interior« (»sertanejos« im Inneren des Landes/»sert¼o« z. B. BA) sprechen oftmals ein »caipira« (vgl. Amaral, 1955). Stephens (1989:308) definiert j.: »1. person whose racial ancestry is a mixture of Indian, white, and a small part black, 2. caboclo who is part black, 3. Outlaw or other ruffian, usually a caboclo«. Souza (1939:222) verweist zu Recht auf die Bedeutung der j.s in Euclydes da Cunhas »Os Sertþes« (1902) hin. !Canudos !Einleitung !»mestiÅo« !»mulata« Museu da Repfflblica (1897): Um jagunÅo preso. Fotografia de Fl‚vio de Barros; B. Jos¦ de Souza (1939): Dicion‚rio da Terra e da Gente do Brasil. S¼o Paulo, p.222; A. Amaral (1955): O dialeto caipira. S¼o Paulo; Dicion‚rio escolar da l†ngua portuguesa. Rio de Janeiro, 1981, p.624; A. G. da Cunha (1982): Dicion‚rio etimolûgico Nova Fronteira da L†ngua portuguesa. Rio de Janeiro, p.452; Th. M. Stephens (1989): Dictionary of Latin American racial and ethnic terminology. Gainesville, p.308; Michaelis. Dicion‚rio escolar Lingua portuguesa. S¼o Paulo, 2008, p.491; Aur¦lio (s.d.). Rio de Janeiro (viele Aufl.n)

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Jeje-Nagô Bezeichnung für Kulturprodukte, die aus einem Kulturkontakt zwischen den afrikan. Ethnien Jeje und Yoruba auf bras. Boden resultieren, wie z. B. der ! »Candombl¦ da Bahia«. Die Mehrzahl der Yoruba, die nach Brasilien kamen, stammen aus Ketu (Queto), einer Grenzregion zum alten Dahom¦, dem Gebiet der Jeje. !Kultur !Made in Africa !Sprachen E. Fonseca Jfflnior (1983): Dicion‚rio Yorub‚ (Nagú) – PortuguÞs. Rio de Janeiro: Sociedade Yorubana Teolûgica de Cultura Afro-Brasileira; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

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Karneval (auch: Fastnacht, Fasching, carnaval; von lat. carnem levare = Wegnehmen von Fleisch) Allgemein: K. wurde früher vor allem im Rahmen der !Ahnenverehrung gesehen oder als Vegetationsfest interpretiert. Heute betont man eher die Funktion der ! »Ventilsitte«, der Selbstdramatisierung oder die Interpretation als !»mundus inversus«, als Phänomen der verkehrten Welt, als Umkehrung geltender Zustände. Dieses Phänomen ist weltweit verbreitet und in fast allen abendländischen Sprachen findet sich hierfür ein eigener Ausdruck (z. B. le monde renvers¦, mundus inversus). Der Ursprung dieser Vorstellung liegt nach Kenner (1970) wahrscheinlich im Zweistromland. Für Kenner sind alle diese Feste der verkehrten Welt »Stirb- und Werderiten«, also Feste des Umbruchs, rites de passage, Durchgangsriten. Es mag jedoch auch sein, daß viele dieser Feste, vor allem die Saturnalien, von Staatswegen als ein Ventil revolutionärer Dynamik gepflegt wurden, d. h. um die in der Bevölkerung gärenden Umsturzgelüste einmal im Jahr sich frei verpuffen zu lassen. Mühlmann (1961) spricht in diesem Zusammenhang von einem »festlichen Sozialritus«, in dem die Revolution durch eine Institution entschärft werde. In dem Schema der verkehrten Welt manifestiere sich hiernach ein schlichtes »Ausgleichs- und Vergeltungsdenken«. Stubbe (1985, 1988) hat herausgearbeitet, daß sich dieses Phänomen weltweit auch in vielen Trauersitten beobachten läßt. Bereits Herodot (ca. 484 – 425 v. Chr.), der »Vater der Geschichte« (Cicero, de leg.1,1,5), machte in seinen »Historien« (2,36) auf ein von Stubbe (1985:95) so genanntes »Trauerparadox« in Ägypten aufmerksam: Wo Bart und langes Haar im Alltag gelten, fallen sie in der Trauer der Schere zum Opfer und umgekehrt: »An anderen Orten lassen die Priester das Haar wachsen, in Ägypten aber scheren sie sich. Bei den übrigen Menschen ist es Sitte, das bei einer Trauer, die, welche es zunächst angeht, sich das Haupt scheren; die Ägypter aber lassen, sowie ein Todesfall eintritt, am

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Haupt und am Kinn ihre Haare wachsen, welche sie bis dahin geschoren hatten.« (Herodot, 2004:160) Dies gilt in vielen anderen Kulturen und Religionen z. B. im Judentum auch in der Gegenwart (vgl. Alon, 1995). Auch der Hexereivorstellung liegt ein Inversionsmotiv zugrunde (vgl. Behringer, 2008:7). Carnaval in Brasilien: Vor allem Roberto da Matta (1983) und Monique Augras (1998) haben ausgezeichnete sozialwissenschaftliche/sozialanthropologische Darstellungen des brasilianischen K.s als ein »Gesamtkunstwerk« vorgelegt, in dem die Afrobrasilianer heute eine zentrale Rolle als TänzerInnen, Texter, Handwerker, Schneiderinnen, MusikerInnen, Choreographen, etc. spielen (vgl. SambaSchulen in Rio de Janeiro). Der bras. K. ist weltweit bekannt und die Stadt Köln hat mit Rio de Janeiro im Jahre 2012 eine »Karnevals-Partnerschaft« geschlossen. Die politischen Implikationen des bras. Karnevals haben Dulce Tupy (1985) und Karin Egell (1994) herausgearbeitet (vgl. auch Lopes, 2006:38 f). Der bras. K. kann ähnlich wie der !Fußball auch als eine moderne Form von »panem et circenses« interpretiert werden (vgl. Weeber, 1994). !Haar !Ikonografie der Sklaverei !Kunst !Musik !Samba !Tanz ! Trauer !Politik !Ventilsitten Eneida (1958): Histûria do carnaval carioca. Rio de Janeiro; E. de Alencar (1965): O carnaval carioca atrav¦s da mfflsica. 2 vol.s. Rio de Janeiro; H. Kenner (1970): Das Phänomen der verkehrten Welt in der griechisch-römischen Antike. Bonn; R. da Matta (1978): Carnavais, malandros e herûis. Rio de Janeiro (1983, 4.ed.); H. Stubbe (1985): Formen der Trauer. Berlin; ders. (1988): Trauerverhalten und das Phänomen der verkehrten Welt. Zeitschrift für Ethnologie, Bd.113, H 2, S. 199 – 205; D. Tupy (1985): Carnavais de guerra: o nacionalismo no samba. Rio de Janeiro; D. R. Moser (1986): Fastnacht – Fasching – Karneval. Das Fest der »Verkehrten Welt«. Graz; J. Küster (1987): Die Fastnachtsfeier. Über Sinn und Herkunft der Narrenbräuche. Freiburg/Brsg.; K. Engell (1994): »Dreh Dich Baiana … in den Farben meines Herzens!« Karneval in Brasilien Spiegel politischer Kultur. Opladen; K.-W. Weeber (1994): Panem et circenses. Massenunterhaltung als Politik im antiken Rom. Mainz; IPHAN (1997): Negro Brasileiro Negro. Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N8 25, p.279ff; M. Augras (1998): O Brasil do SambaEnredo. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; W. Behringer (2008): Hexen. München

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Kinder Status und soziale Lage der afrobrasilianischen Kinder: !Vorurteile und !Diskriminierung gegenüber der afrobrasilianischen Bevölkerung bringen dramatische Konsequenzen für die Kinder und Jugendlichen, die aus dieser Gruppe stammen, mit sich. Obwohl in dem sozio-ideologischen Kontext der brasilianischen Gesellschaft Kinder sehr geliebt werden und die Brasilianer im allgemeinen als sehr kinderfreundlich gelten, ist auch das Verhalten gegenüber Kindern und Jugendlichen nicht ohne Diskriminierungen. Ein »Kind« (crianÅa) gilt dann als solches, um so heller seine Hautfarbe ist. Ein »schwarzes« Kind, das im Zentrum einer Großstadt oder in einem mittelständigen Stadtteil spazierengeht, gilt als potenzieller Dieb oder !Straßenkind. So erkennen wir, daß diese Kinder ihren Status verlieren, um als »moleques«, »menores« (gegenwärtig fast ausschließlich verwendet, um vernachlässigte und institutionalisierte Kinder zu bezeichnen), »pivetes«, »trombadinha«, etc. charakterisiert zu werden. Die diskriminatorische Situation der Afrobrasilianer innerhalb der Gesellschaft überträgt sich ebenfalls auf die Kinder, mit dem Unterschied, daß die allgemeinen Konsequenzen für sie noch dramatischer sind. Deutlich soll hier herausgestellt werden, daß die benachteiligende Situation dieser afrobrasilianischen Gruppe in erster Linie eine sozio-politische Problematik darstellt, die aber oftmals als ethnische umgedeutet wird. In den offiziellen statistischen Daten Brasiliens wird eine Differenzierung der Lebensituation der Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer ethnischen Abstammung nur selten durchgeführt. Dies bedeutet, daß es kaum Daten über sie gibt, obwohl die brasilianische Gesellschaft von ca. 45 % Bürgern unter 20 Jahre gebildet wird, unter denen 34,4 % jünger als 15 Jahre sind. Bei dieser Tatsache ist es wichtig zu betonen, daß die Geburtsraten innerhalb der afrobrasilianischen Bevölkerungsgruppe höher sind als unter den »Weißen«.

Historische Aspekte der afrobrasilianischen Kindheit: Die aktuelle Situation der afrobrasilianischen Kinder und Jugendlichen hat eine enge Beziehung zu der Entstehungsgeschichte der brasilianischen Gesellschaft, die durch die afrikanische !Sklaverei gekennzeichnet war. Kinder waren in dem Sklavereisystem unerwünscht. Dies ist bereits aus den Daten des Sklavenimports zu ersehen: In der ersten Hälfte der 19. Jhrs. wurden nur 5 % männliche und 11 % weibliche Sklaven bis zum neunten Lebenjahr gekauft. In der Regel wurden die Kinder von ihren Müttern bereits in Afrika getrennt. Afrobrasilianische Sklavinnen waren gezwungen ihre Kinder an die zweite Stelle bei der Versorgung zu stellen: Entweder kam zuerst die Verpflichtung bei der Feldarbeit

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(zeitgenössische Dokumente berichten über verschiedene erzwungene Praktiken, wie z. B. das Kind bis zum Bauch in die Erde einzugraben, damit es still bleibt und die Mutter arbeiten kann) oder die Betreuung der Kinder ihrer Besitzerin. Im letzteren Fall kam es regelmäßig vor, daß die Besitzer die Sklavenkinder im frühesten Alter verkauften, aussetzten (vgl. roda dos expostos) oder wie es später häufig geschah, in Institutionen auslieferten, um die Mutter als Milchamme für die eigene Familie zu nutzen oder sie an fremde Familien zu vermieten, wie Hannes Stubbe (1994) ausführlich dargestellt hat (!Sklavenkindheit). Wie wir sehen können ist die Entwicklung der afrobrasilianischen Kinder in ihrer Mehrzahl seither von Trennungen, gezwungener Vernachlässigung sowie durch Unterernährung und Gewalt (Traumatisierungen) gekennzeichnet. Gegenwartssituation: Als Konsequenz der prekären Lebenssituation der Mehrzahl der afrobrasilianischen Bevölkerung leben Millionen afrobrasilianischer Kinder und Jugendlicher am Rande der menschlichen Existenz. Es ist leider eine Tatsache, daß unter den ca. 7 Millionen Kindern, die in Brasilien auf den Straßen leben ca. 90 % eine afrobrasilianische Abstammung haben bzw. Afrobrasilianer sind. Die Ursachen hierfür sind vielfälltig: Armut, Analphabetismus, prekäre Familienstruktur, alleinerziehende Mütter, sozio-ethno-ökonomische Diskriminierung, Rassismus, Binnenmigration und vor allem Fehlen an politischen Initiativen für die Lösung grundlegender sozialer Probleme. 1990 fand in ganz Brasilien die Kampagne »Tötet meine Kinder nicht!« statt, die von zahlreichen afrobrasilianischen !Organisationen ins Leben gerufen wurde in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen politischen und religiösen Institutionen. Diese Kampagne konzentrierte sich hauptsächlich auf die Bekanntmachung zweier Themen: Die Sterilisierung afrobrasilianischer (und indianischer) Frauen und die Hinrichtung afrobrasilianischer Kinder und Jungendlicher, da diese verbreitete Form der Vernichtung der Afrobrasilianer sich nicht -wie oft argumentiert wird- auf Marginale und Banditen, Diebe und Mörder beschränkt, sondern gezielt auf die arme Bevölkerung der Favelas und der Peripherie der Großstädte. Was der ehemalige afrobrasilianische Senator Abdias Nascimento (1978) als »genoc†dio do negro brasileiro« bezeichnet hat, können wir gegenwärtig als »Genozid der afrobrasilianischen Kinder und Jugendlichen« bezeichnen. Diese Form des !Genozids besitzt in ihrem Kern eine tiefgreifende rassistische Ideologie, die aber in der öffentlichen Diskussion einen eher ökonomischen Charakter erhält. So argumentieren Geschäftsleute, Unternehmer, Zivil- und Militär-Polizisten, Drogenhändler, illegale Spielhöllenbesitzer und Bürger der besten ökonomischsituierten Stadtteile, die Grup-

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pierungen, die die Tötung dieser Kinder anordnen oder befürwörten, daß diese jungen Menschen »marginal« und »kriminell« seien und ihre ökonomische Sicherheit, durch Diebstahl oder Überfälle, im Gefahr brächten, d. h. vor allem diejenigen, die ihr Vermögen/Eigentum in Gefahr zu sehen glauben. Anderseits verwenden diesselben Personen in ihrer Argumentation Bezeichnungen, die eindeutig den rassistischen und diskriminierenden Gehalt ihres Denkens offen legen wie z. B.: »Diese Neger sind alle kriminell, wir müssen dieses Böse gleich eliminieren« oder »Diese Rasse ist ganz schlimm, man muß sie von klein auf begrenzen«, etc. Solche Einstellungen gegenüber der »jungen schwarzen Gefahr« wird auch noch durch die Medien verstärkt, wie beispielsweise auf einem Straßenplakat in Salvador Ende der 80er Jahre, auf dem ein afrobrasilianischer Jugendlicher abgebildet wurde mit einer (Drogen-) Spritze neben sich und darauf eine großer Stempel mit dem Satz »erro de fabricażo« (=Fabrikationsfehler). Wie bereits erwähnt besitzen wir in Brasilien wenige statistische und wissenschaftliche Daten, die sich ausschließlich mit der Situation der afrobrasilianischen Kinder und Jugendlichen im Vergeich zu anderen Gruppen befassen. Auch die Gesetze sind so allgemeinen formuliert, so daß oftmals die am stärksten davon Betroffenen die ethnischen Minderheiten des Landes sind. Z. B. steht es fest, daß 82 % der durch Willkür, Armut und Rassismus getöteten Kinder und Jugendlichen Afrobrasilianer sind. Die am stärksten betroffene Altersgruppe ist die zwischen 15 – 17 Jahren, mit ca. 15 % kommt danach das Alter zwischen 10 – 14 Jahren und zuletzt in ca. 8 % der Fälle diejenigen zwischen 0 – 9 Jahren. Den prinzipiellen Verdacht gegen afrobrasilianische Kinder und Jugendliche, der auf Aussehen und !Hautfarbe basiert und immer noch stärker das männliche Geschlecht betrifft, hat die Santos-Stubbe selber in Rio de Janeiro erlebt: »An einem Vormittag nahm ich in Ipanema den Bus in das Stadtzentrum. Nicht mehr als 15 Passagiere waren im Bus, darunter ca. 5 Männer und ein afrobrasilianischer Junge, der nicht älter als 16 Jahre war. Da wir in der Nähe einiger Favelas vorbeifuhren, wo oft polizeiliche Razzien durchgeführt werden, wurde auch unser Bus kontrolliert. Die Polizisten stiegen ein: Einer blieb an der hinteren Tür stehen, einer an der vorderen, einige außerhalb und zwei von ihnen musterten die Passagiere vorne beginnend. Plötzlich ging einer von ihnen gezielt nach hinten forderte den jungen Afrobrasilianer, der ein Office boy hätte sein können, zum Aufstehen auf und kontrollierte ihn von Kopf bis Fuß in der Manier wie man mit hochgefährlichen Verbrechern umgeht. Dann ging er zurück an allen anderen (männlichen) Passagieren vorbei und verlies den Bus. Eine Erklärung für diese gezielte Aktion konnte der Polizist mir auf meinen Protest hin nicht geben. Für mich war deutlich: Er war der einzige afrobrasilianische

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»Mann«, d. h. der einzige potenzielle ›Verbrecher‹.« Dieser Vorfall ist leider kein Einzelfall. Kinderarbeit (Altersstufe von 10 bis 14 Jahre) % 25

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0 Weiße

Pardos

Schwarze

Graphik 5 Quelle: Singer, 1995

Wenn hier die Rede von Genozid ist, bedeutet dies nicht, daß es immer um Tötung oder Verstümmelung von Kindern und Jugendlichen insbesondere in den Großstädten und in Beziehung zu den Landkonflikten geht. Gemeint ist hier auch eine psychische Vernichtung, die durch Diskriminierungen, negative Darstellungen in den Medien, Armut und schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen für die afrobrasilianischen Mütter verursacht wird. Als Beispiel kann die Situation der afrobrasilianischen Mütter, die ohne einen Partner leben und aufgrunddessen alleiniges Familienoberhaupt sind, angeführt werden: Diese betragen 48,5 % aller Frauen in dieser Gruppe (IBASE, 1989:49). Dies hat u. a. gravierende psychosoziale Konsequenzen für die Kinder, die oftmals finanziell durch ihre Arbeitskraft zum Familienunterhalt mitbeitragen müssen. Die Kindererwerbstätigkeit der afrobrasilianischen Kinder und Jugendlichen ist höher als bei Kindern anderer ethnischer Gruppen (s. untere Grafik). Sie arbeiten in der Landwirtschaft (z. B. in den Zuckerrohrplantagen), als Autowächter, als Straßenverkäufer, als Kinder- und Dienstmädchen, als Boten, als Träger, etc. Sie werden nicht oder nur sehr schlecht bezahlt und besitzen kaum Arbeitsregelungen (Arbeitszeit, Sozialversicherungen, usw.) und dies trotz der gesetzlichen

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Bestimmungen für die Kinderarbeit. Sie sind am stärksten vertreten in der illegalen Sklavenarbeit. In diesem Zusammenhang muß auch die Nutzung dieser jungen Menschen durch die Drogenmafia auf den Morros und !Favelas der Großstädte erwähnt werden. Sie werden selegiert und sehr gut bezahlt (ca. 100 Dollar in der Woche!) und geraten in der Regel aufgrund ihrer Schwäche und Naivität zwischen die beiden Fronten: Polizei und Mafia. Die Sterblichkeit dieser Gruppe in diesem Milieu wird auf 95 % geschätzt. Gesetzlich sind alle brasilianischen Kinder durch die brasilianische Verfassung von 1988, art. 277 und durch den »Estatuto da CrianÅa e do Adolescente« geschützt. Im Parlament besteht eine »CPI do Menor«, die als ihre Hauptaufgabe alle Verbrechen gegen Kinder in Brasilien untersuchen soll. Ihre Ergebnisse sind jedoch sehr spärlich und die ethnische Problematik wird nur von einigen wenigen Parlamentariern erwähnt. !Bildung !Demografie !Frau !Gesundheit !Sklavenkindheit !Straßenkinder Moncorvo Filho (1926): Historico da protecżo ‚ infancia no Brasil (1500 – 1922) (2. Aufl. 1927 mit Fotos und Bibliografie: I – XXIII). Rio de Janeiro; S. Rabello (1937): Psychologia da crianÅa. S¼o Paulo; N. Da Silveira Rudolfer (1938): Introducżo a psychologia educacional. S¼o Paulo; A. Ramos (1939): A creanÅa problema. A hygiene mental na escola primaria. S¼o Paulo (viele aufschlussreiche Fallgeschichten!); O. Clark (1940): O s¦culo da creanÅa. Rio de Janeiro (2. ed. mit Fotos); A. Schlechtman (1981): Psiquiatr†a e inf–ncia: um estudo histûrico sobre o desenvolvimento da psiquiatr†a infantil no Brasil. Rio de Janeiro: UERJ; N. Chaves (1982): Fome, crianÅas e vida. Recife; R. Levy Benathar (org.) (1984): Desenvolvimento infantil em debate. Rio de Janeiro; L. de Medeiros (1986): A crianÅa da favela (Rocinha) e sua vis¼o do mundo. Rio de Janeiro; J. B. Borges Pereira (1987): A crianÅa negra: identidade ¦tnica e socializażo. Cadernos de Pesquisa (SP), (63), p. 41 – 45; IBGE (1987): CrianÅas & adolescentes. Indicadores sociais. 3 vol.s. Rio de Janeiro; R. Alvim & L. Valadares (1988): Inf–ncia e sociedade no Brasil: Uma an‚lise da literatura. Rio de Janeiro: IUPERJ; IBGE-Inan: Perfil estat†stico de crianÅas e m¼es no Brasil. Aspectos de safflde e nutriżo de crianÅas no Brasil 1989. Rio de Janeiro; I. Rizzini (1989): Levantamento bibliogr‚fico da produżo cient†fica sobre a inf–ncia pobre no Brasil. Rio de Janeiro: USU; dies. (1993): A crianÅa no Brasil hoje. Rio de Janeiro:USU; S. Alto¦ (1990): Inf–ncias perdidas. O cotidiano nos internatos-pris¼o. Rio de Janeiro (2.ed.); G. Dimenstein (1992): Meninas da noite. A prostituiżo de meninas-escravas no Brasil. S¼o Paulo; Institut für Brasilienkunde (1992): Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Brasilien: Trends und Perspektiven. Mettingen, 1/2, S. 9 – 15; C. Parisius (1993): Kindheit? Ich weiß nicht, was das ist. DED-Brief, 3, S. 7 – 10; S. Knopp (1993): Kinder in Brasilien. DEDBrief, 2, 19 – 20; H. Stubbe (1995/96): Suic†dios e tentativas de suic†dio de crianÅas. Psicologia Clin†ca. Pûs-Graduażo & pesquisa (PUC-RJ), 7, p. 103 – 124; CEAP (ed.) (1996): ViolÞncia e racismo: Relatûrio sobre o exterminio de crianÅas e adolescents no Rio de Janeiro no ano de 1994. Rio de Janeiro; A. Niskier (ed.) (2001): Educażo Brasileira. 500

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anos de histûria. Rio de Janeiro; M. del Priore (org.) (2000): Histûria das crianÅas no Brasil. S¼o Paulo; Chr. M. Rocha (2004): Histûrias de fam†lias escravas. Campinas (SP)

Kolonialismus Die !Sklaverei in Brasilien fand im Rahmen des über 300 Jahre dauernden port. K. statt. Auch in der Kaiserzeit, nach der Unabhängigkeit (1822), bestand sie noch bis zum Jahre 1888 weiter. K. !Rassismus und Sklaverei sind eine eng miteinander verbundene Trias. K. wird sowohl in beschreibender als auch in polemischer Absicht benutzt. Beschreibend ist damit die direkte Herrschaft gemeint, die Staaten über Kolonien d. h. Gebiete jenseits ihrer eigenen Grenzen ausüben. Ausgerüstet mit entsprechenden Machtmitteln, sichern sie ihren Einfluß durch Gewalt oder Androhung von Gewalt, durch zweckdientliche (Kolonial-) Verwaltungs-apparate, ökonomische, militärische, wissenschaftliche (vgl. Kolonialethnologie, »Negerpsychologie«, Kolonialpsychiatrie, »Rassenbiologie« etc. Diefenbacher, 1985; Probst, 1990; Oguntoye et al., 1992; Grosse, 1997; Stubbe, 2008, 2012), pädagogische (Kolonialpädagogik), religiöse (!Missionierung) und kulturelle Einrichtungen. Bereits bestehende Strukturen werden dabei integriert, überformt, modifiziert, autochtone Entwicklungen umgepolt, gehemmt oder völlig unterdrückt bzw. vernichtet. Man kann nach Osterhammel (1995:49) zwischen drei Phasen bei der Entstehung von Kolonien unterscheiden: 1. Erstkontakt bzw. Niederlassung, 2. Eroberung und 3. Konsolidierung. Dieses allgemeine Phasenmodell läßt sich jedoch z. B. auf die afrikanischen Kolonien Portugals nur mit gewissen Einschränkungen anwenden (zur Rolle der Anthropologie/Ethnologie im Kolonialismus Portugals vgl. Gallo, 1988; Ven–ncio, 1996; Mondlane, 1995; Stubbe, 2008, 2012) Die ökonomischen, kulturellen, sozialen und psychischen Folgen der Kolonialherrschaft sind auch nach der allgemeinen Dekolonisierung d. h. Auflösung der Kolonialreiche in Afrika, Asien, dem Pazifik und LA in vielen Bereichen der ehemaligen Kolonialgesellschaften (z. B. Infrastruktur) und der »postkolonialen Persönlichkeit« (z. B. Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensationen) bis heute deutlich spürbar. Zwar haben die ehemaligen Kolonialländer in der Zwischenzeit ihre Unabhängigkeit bzw. Souveränität erhalten oder in langwierigen Kolonialkriegen erkämpft, aber vielfach zählen sie heute zu den Ärmsten der Armen (sog. Dritte Welt bzw. Vierte Welt), verharren in ökonomischer Abhängigkeit, sind hoch verschuldet und auf die Investitionen, (manchmal militärischen) »Interventionen« und Hilfen der Industrieländer angewiesen (»fragile Staaten« hinsichtlich Sicherheit, Wohlfahrt und Legitimität). Kolonialmächte entstanden seit dem 15. Jh. und besonders die europäischen Staaten wie Por-

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tugal, Spanien, Holland, Frankreich und England, im 19. Jh. auch Russland, Deutschland, Belgien, Italien, Japan und die USA sorgten für eine »Europäisierung bzw. Amerikanisierung der Welt«. Fast immer ging es den Kolonialmächten darum, den unterworfenen Regionen die eigene als »überlegen« gedachte Zivilisation, Religion (!Missionierung) und die damit verbundenen Wertsysteme (auch ihr Menschenbild) einzuprägen, sie militärstrategisch, aber auch als Siedlungsland und Rohstofflieferanten zu nutzen und die Kolonialbevölkerung unter politischen, religiösen und ideologischen Vorzeichen im nationalen Interesse zu lenken. Ein wichtiger Theoretiker der Dekolonisation war der von den frz. Antillen stammende afro-amer. Psychiater Frantz Fanon (1925 – 1961) vor allem durch seine von J. P. Sartre eingeleitete Schrift »Les damn¦s de la terre« (1961), einem gewaltigen Aufschrei gegen koloniale Gewaltherrschaft – man sprach von einem »Anti-kolonialistischen Manifest« – und einer radikalen Analyse über die Auswirkungen des Kolonialismus auf die betroffenen Gesellschaften und die Psyche der Kolonisierten, die er in Martinique, Frankreich, Algerien und Ghana gewann. Für Fanon stellt der K. die brutalste und unverhüllteste Form der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen dar. Fanon plädierte für den bewaffneten Befreiungskampf, denn er wirke auf der individuellen Ebene entgiftend und befreie den Kolonisierten von seinem Minderwertigkeitskomplex und von seiner Verzweiflung. Er mache ihn furchtlos und rehabilitiere ihn in seinen eigenen Augen. Dabei ist der Autor weit entfernt von einer Verherrlichung oder Mystifizierung der Gewalt, denn er weiß als Psychiater sehr gut, wie hoch ihre psychischen Kosten für Kolonisierte und Kolonisatoren sind. Fanon schildert in einem langen immer noch aktuellen Kapitel dutzende von Fällen aus seiner psychiatrischen Praxis, bei denen Gewalt in ursächlichem Zusammenhang mit schweren psychischen Störungen stand, und er untersucht diesen Zusammenhang auch in Hinblick auf die starke Kriminalität in den Kolonialgebieten, wobei sich interessante Parallelen zu neueren usamerikanischen Untersuchungen über psychische Gesundheit und Kriminalität in den afro-us-amerikanischen Ghettos erkennbar werden. Fanon nimmt eine marxistische Analyse der post-kolonialen Gesellschaft vor: die städtische Bevölkerung betrachtet er mit größtem Misstrauen. Die indigene Bourgeosie versuche lediglich an die Stelle der europäischen zu treten und teile deren Neigung zu Luxus und Wohlleben, ohne produktive Leistungen zu erbringen. Auch das städtische Proletariat sei der Nutznießer der kolonialen und neokolonialen Ordnung, denn es sei privilegiert gegenüber den ländlichen Massen und vertrete nicht die Interessen des Volkes. Revolutionär sei nur die Bauernschaft, denn sie habe »nichts zu verlieren und alles zu gewinnen«. Sie müsse trotz Rückständigkeit durch Aufklärung und Weckung der schöpferischen Kräfte die Basis der neuen Nationen bilden. Zum Aufbau sei auch die Hilfe Europas notwendig und zwar nicht als Form verschleierter neuer Ausbeutung, auch nicht als

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Almosen, sondern als eine »Reparationsleistung« für Jahrhunderte: »Der Wohlstand und der Fortschritt Europas sind mit dem Schweiß und den Leichen der Afrikaner, der Araber, der Inder und der Gelben errichtet worden.« Von Rache oder einem Kreuzzug will Fanon ebensowenig etwas wissen, wie von einer Imitation der europäischen Kultur. »Für die Dritte Welt geht es darum, eine Geschichte des Menschen zu beginnen, die den von Europa einst vertretenen großartigen Lehren, aber zugleich auch den Verbrechen Europas Rechnung trägt, von denen das verabscheuungs-würdigste gewesen sein wird: beim Menschen die pathologische Zerstückelung seiner Funktionen und die Zerstörung seiner Einheit; beim Kollektiv der Bruch, die Spaltungen; und schließlich auf der unermesslichen Ebene der Menschheit der Rassenhaß, die Versklavung, die Ausbeutung und vor allem der unblutige Völkermord, nämlich das Beiseiteschieben von anderthalb Milliarden Menschen.« (Fanon, 1971:242) Auch Albert Memmi (1992), selbst aus einem ehemaligen frz. Kolonialland (Tunesien) stammend, betont in seinen Büchern, daß es ein Kolonialverhältnis gab, in das Kolonisator und Kolonisierter zwangsläufig einbezogen waren und wie stark sich die Züge und Verhaltensweisen des einen auf die des anderen auswirkten und daß der !Rassismus eine der unabdingbaren Dimensionen dieses Verhältnisses war. Der Kolonisator ist als solcher immer Rassist. Memmi zieht die Schlussfolgerung, daß der Rassismus das Kolonialverhältnis veranschaulicht, komprimiert und symbolisiert. »Der Rassismus ist die Quintessenz und das Symbol des grundlegenden Verhältnisses, das den Kolonisten mit dem Kolonisierten verbindet.« (Memmi, 1994: 72) Die Behauptung, dieses oder jenes kolonisierte Volk sei einem anderen in der technischen Entwicklung unterlegen, ist unabhängig vom Wahrheitsgehalt noch kein Rassismus. Aber die Kolonisatoren begnügen sich nicht mit dieser Feststellung oder diesem Irrtum: Sie haben daraus für sich den Schluß gezogen, daß sie den Kolonisierten beherrschen können und müssen, und sie haben es getan. Sie haben ihre Anwesenheit in der Kolonie mit den Mängeln des Kolonisierten erklärt und gerechtfertigt. Der K. war hiernach ein »System des organisierten Diebstahls«. Die Grenze zwischen Kolonisation und kollektiver Tötung wird durch die Bedürfnisse des Kolonisators gezogen. Wo dies nicht geschiet, kommt es zu Mord und !Genozid. Die ersten europäischen Einwanderer in LA haben die Indianer ausgerottet, weil sie keine Verwendung für sie hatten. Später, als auf den Zuckerrohrplantagen Arbeitskräfte benötigt wurden, griffen sie auf afrikanische Sklaven zurück. Memmi (1992) hat auch ausführlich das mythische Porträt und die Situation des Kolonisierten analysiert.

Kolonialismus

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Beispiel: Reparationsleistungen für das während der Kolonialzeit begangene Unrecht Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi unterzeichnete am 30. 8. 2008 mit Libyen ein Abkommen, in dem sich Rom verpflichtet, über 25 Jahre verteilt 3,4 Milliarden Euro in Form von Projektinvestitionen als Entschädigung zu zahlen. Berlusconi entschuldigte sich im Namen des italienischen Volkes bei Libyen für das während der kolonialen Besatzung von 1911 bis 1942 erlittene Unrecht. Zu den geförderten Projekten gehören u. a. der Bau einer Küstenautobahn, Geld für den Wohnungsbau, für Studienstipendien, sowie Entschädigungs-zahlungen an Opfer italienischer Anti-Personen-Minen aus der Kolonialzeit. Belusconi verneigte sich vor dem Sohn des libyschen Widerstandskämpfers Omar Mokhtar und brachte das »Beutekunstwerk«, die Venus von Cirene, die 1913 entdeckt worden war, nach Libyen zurück. Auch in Brasilien existiert eine Diskussion über !Reparationen. !Apartheid !Fotografien !Reparationen M. Leiris (1950): L’Ethnographe devant le colonialism. Les Temps Modernes, No. 58; O. Mannoni (1950): Psychologie de la colonisation. Paris; F. Fanon (1961): Les damn¦s de la terre. Paris (dt. 1969); S. de Paula (1971): Aspectos negativos da colonizażo portuguesa. Rio de Janeiro ; W. James (1973): The anthropologist as reluctant Imperialist. In: T. Asad (ed.), Anthropology and the colonial encounter. London; W. Rodney (1973): How Europe underdeveloped Africa. Dar-el-Salaam; J. Leopold (1974): Britische Anwendungen der arischen Rassentheorie auf Indien 1850 – 1870. Saeculum, 25, 4, S. 386 – 411; G. Leclerc (1976): Anthropologie und Kolonialismus. Frankfurt/M.; Cl. Moura (1983): Escravismo, colonialismo, imperialismo e racismo. Afro-Ýsia (Salvador), (14), p. 124 – 137; E. Schmitt (Hrsg.) (1986ff): Dokumente der europäischen Expansion. 7 Bd.e. Wiesbaden; R. Ptak (1986): Portugal in China: kurzer Abriss der portugiesisch-chinesischen Beziehungen und der Geschichte Macaus. Bammental (3. Aufl.); D. Gallo (1988): Antropologia e Colonialismo: O saber portuguÞs. Lisboa; P. Probst (1990): »Den Lehrplan tunlichst noch über eine Vorlesung über ›Negerpsychologie‹ ergänzen«. Bedeutung des Kolonialinstituts für die Institutionalisierung der akademisch-empirischen Psychologie in Hamburg. Psychologie und Geschichte, 2, S. 25 – 36; H. Stubbe (1992): Wilhelm Wundt und die Herero. Psychologie und Geschichte, Jg. 4, Heft 1/2, S. 121 – 138; A. Memmi (1992): Rassismus. Frankfurt/M.; ders. (1994): Der Kolonisator und der Kolonisierte. Hamburg; E. Mondlane (1995): Lutar por MoÅambique. Maputo; J. Osterhammel (1995): Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München; ders. (2009): Weltgeschichte des 19. Jh.s. München; D. Nohlen (Hrsg.) (2000): Lexikon der Dritten Welt. Reinbek; G. Schneider (2000): Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936 – 1941. Köln; A. Cherki (2001): Frantz Fanon. Ein Portrait. Hamburg; H. Steyert & E. G. Rodriguez (Hrsg.) (2003): Gesellschaftstheorie und postkoloniale Kritik. Frankfurt; H. Stubbe (2008): S. Freuds »Totem und Tabu« in Mosambik. Göttingen; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; W. Reinhard (2008): Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart (2. Aufl.); W. Schicho (2010): Geschichte Afrikas. Stuttgart; Koloniales Bildarchiv : www.stub.bildarchiv-dkg.uni-frankfurt.de

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Krankheitsvorstellungen, ätiologische Zur Forschungsgeschichte der ätiologischen Krankheitsvorstellungen: Tylor (1832 – 1917), der Begründer der ethnologischen Animismustheorie, war einer der ersten, der in seinem Werk »Early history of mankind and the development of civilisation« (1865) das Thema der Krankheitsätiologie ethnographisch behandelt hat. Tylor stellt in diesem Werk eine weitverbreitete Vorstellung heraus, nämlich die, daß Krankheiten durch das Eindringen von bestimmten körperfremden Substanzen verursacht werden. Die weltweite Verbreitung dieses Krankheitskonzepts führt er auf historische Zusammenhänge zurück (vgl. Tylor, 1865:275ff). Aus ethnomedizinischer Sicht hat dann 1893 Max Bartels diesem Problemkreis eine umfassende und systematische Monographie über »Die Medicin der Naturvölker« gewidmet. Bartels beabsichtigte eine »Vorgeschichte der Medizin« zu schreiben und bediente sich als Quellen der Erkenntnisse der Prähistorie, Volkskunde, Ethnologie und vergleichenden Sprachforschung. Bartels hat bereits hervorgehoben, daß »bei den Naturvölkern fast noch mehr als in der wissenschaftlichen Medizin die Frage nach der Ätiologie der Krankheit von hervorragender Bedeutung ist«. Auch der Nosologie der sog. Naturvölker widmete er ein eigenes Kapitel. Theoretisch und methodisch ist Bartels von Adolf Bastian’s (1826 – 1905) »Lehre von den Elementargedanken« abhängig. Nach dieser Lehre würde z. B. die weitverbreitete Projektilerklärung als ein »Völkergedanke« zu betrachten sein, der einen früheren »Elementargedanken« widerspiegelt. Der Ethnologe Rivers stellte in seinem Werk »Medicin, magic and religion« (1924) eine größere Anzahl von Krankheitserklärungen der sog. Naturvölker zusammen, wobei jedoch sein Hauptaugenmerk den ethnomedizinischen Heilpraktiken und deren psychologischem Hintergrund galt. Seine eigenen Feldforschungen fanden hauptsächlich in Melanesien statt. Eine kulturvergleichende Studie über das Thema der Krankheitserklärungen der sog. Primitiven stellt Clements »Primitive concepts of disease« (1932) dar. Clements hat aufgrund einer sorgfältigen Analyse umfangreicher Literatur sowohl die geographische Verbreitung der einzelnen Krankheitserklärungen auf Weltkarten eingetragen, als auch ihr Vorkommen bei den einzelnen Ethnien in einer Vergleichstabelle dargestellt. Spencer I. Rogers Aufsatz »Primitive theories of disease« (1942) bringt gegenüber der Clementschen Untersuchung keine grundsätzlich neuen Gesichtspunkte. Der finnische Volkskundler Lauri Honko legte 1959 eine wertvolle Monographie über »Krankheitsprojektile« (Untersuchung über eine urtümliche Krankheitserklärung) d. h. eine weitverbreitete und wie er zu Recht deutet archaische Krankheitserklärung vor. Im »Handbook of South American Indians« hat der Schweizer Medizinhistoriker Erwin Acker-

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knecht (1963) eine Klassifikation der Krankheitsätiologien südamerikanischer Indianer entworfen. Über die spezielle ethnopsychiatrische Frage, wie schriftlose Ethnien gestörtes, atypisches, abnormales oder abweichendes Verhalten erklären hat Joanne Denko (1966) einen kurzen, aber inhaltsreichen und methodisch klaren Beitrag geliefert. Ihre Untersuchung basiert auf den Daten , die ihr in den !»Human Relations Area Files« (HRAF) verfügbar waren. Wolfgang Pfeiffer (1971, 1994) und Wen-Shing Tseng (2001) geben eine transkulturellbzw. kulturpsychiatrische Übersicht über Krankheitserklärungen psychiatrischer Erkrankungen (mental illness) im Kulturvergleich. Stubbe (1975) bearbeitete erstmals monographisch die ätiologischen Krankheitsvorstellungen brasilianischer Indianer aus ethnopsychologischer Sicht, wobei er sich u. a. auf die sozialmedizinischen Arbeiten von Pflanz stützte. In jüngerer Zeit hat Murdock (1980) aus medizinanthropologischer Sicht einen »World survey« über Krankheitstheorien vorgelegt, der die Krankheitserklärungen von 139 ausgewählten Ethnien beschreibt. Weitere wichtige Forschungsarbeiten zum Thema sind die historisch orientierten Studien des Wiener Ethnomediziners Drobec (1954, 1955), Thomas Hauschild’s Dissertation über »Den bösen Blick-Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen« (1986), Erhard Schier’s (1992) Arbeiten über die Epilepsie in Afrika und deren kulturgebundene Krankheitskonzepte, Koen’s (1986) Arbeit über »Krankheitskonzepte und Krankheitsverhalten in der Türkei und bei Migrantinnen in Deutschland. Ein Vergleich« sowie Maria Loyola’s (1984) wichtige brasilianische Arbeit über »M¦dicos e curandeiros« und Paula Montero’s (1985) Monographie über »A magia na umbanda«. Keller (1995) hat kürzlich die Ausstellung des Dresdener Hygiene Museums »Krank warum?« in einem ansprechenden reich-haltig illustrierten Katalog zusammengefaßt (vgl. Tab. bei Stubbe, 2001:61, 2012: 341 – 350)

Beispiele: Krankheitsätiologie bei brasilianischen Indianern Unter den brasilianischen Indianern finden wir vor allem folgende ätiologische Krank-heitsvorstellungen: – Eindringen eines Krankheitsobjektes – Projektilerklärung – Verlust der Seele – Eindringen eines Geistes – Bruch eines Tabus – Zauberei/böser Blick – natürliche Krankheitsursachen – Winde (vgl. Stubbe, 1975, 2001)

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Vor allem die Konzepte Seelenverlust und Eindringen eines Geistes werden hiernach für auffälliges, verändertes bzw. abnormes, deviantes Verhalten verantwortlich gemacht. Bei vielen brasilianischen Ethnien bestehen auch verschiedene Krankheitserklärungen nebeneinander. Ackerknecht (1963) zweifelt daran, ob bei den südamerikanischen Indiandern wirklich ein festes Zuordnungssystem zwischen Krankheitssymptomen (Krankheitsnamen sind im Allgemeinen von den Krankheitssymptomen hergeleitet) und Krankheitserklärungen existiert. Schließlich muß noch einmal wiederholt werden, daß es für den Indianer keine scharfen Trennungslinien zwischen Magie, Religion und Medizin gibt, sondern daß sie in seiner Vorstellungswelt ein untrennbares Ganzes bilden. Beispiel: Ätiologische Krankheitskonzepte in der religiösen Medizin des europäischen Mittelalters In der religiösen Medizin des europäischen MA.s, die auch Auswirkungen auf Portugal und die !Missionierung hatte, spielt die ursächliche Zusammenhangsverknüpfung zwischen Krankheit und Sünde eine hervorragende Rolle (vgl. Siebenthal, 1950; Trüb, 1978; Schipperges, 1990). Nach Ambrosius von Mailand (339 – 397) kann nur durch die Heilung der Seele dem Körper die Gesundheit gegeben werden. Von Gott nimmt die Krankheit ihren Ausgang und ihr Ende, allein Gottes Wille entscheidet über die Heilung der Seele und damit auch über die Heilung des Körpers. Nach Ambrosius läßt die Krankheitsentstehung vier Interpretationen, die im Mittelalter allgemeine Verbreitung fanden, zu: 1. Die Krankheit trifft den Sünder zur Strafe und ist Bedinung zur Besserung, 2. für den Gerechten bedeutet sie Bewährung und Verdienst, 3. das Leiden bewahrt vor Sünde und ist 4. ein Vorbote des Jüngsten Gerichtes. Nach dem Neuen Testament hat Christus zwischen der »bewirkenden« und der »finalen« Ursache, dem Sinne des Krankheitszustandes unterschieden d. h. der Mensch kann auch ohne vorherige Sündigung erkranken. Zu unterscheiden sind also die »körperlichen, natürlichen Krankheiten« von den Zuständen des dämonischen Besessenseins, die nicht immer die Strafe für eine Sünde sind. Seit Mitte des 3. Jh.s bilden Sünder und Sünde die Grundlagen für den Behandlungsplan der Krankheit und Gregor von Nyssa (ca.334 – 394) unterschied vier Hauptformen der Sünde: Abfall von Gott, Triebhaftigkeit und Unzucht, Zornesaffekt und Mord, Habgier. Die Lehre von der Krankheit als Folge einer Sünde wurde zur »Krankheitstheologie« entwickelt. Der kranke, gläubige Mensch empfand die Krankheit als Strafe für Sünde und Vergehen, als eine Mahnung Buße zu tun. Die Krankheit konnte folglich nur von Priesterärzten und Mönchsärzten bzw. –ärztinnen behandelt werden. Schipperges (1985, 1990) hat ausführlich die eindrucksvolle Behandlung einer Besessenen durch Hl. Hildegard von Bingen (1098 – 1179) im Jahre 1170 im Rahmen einer klösterlichen »Gemeinschafts-

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therapie« beschrieben und als »Katharsis des sellvertretenden Leidens« interpretiert. Durch Erlaß von Papst Innocenz III. auf dem 4. Laterankonzil (1215) war der Arzt unter der Strafe des Kirchenausschlusses verpflichtet, seine Kranken zur Beichte anzuhalten. Erst nach abgelegter Beichte und auch erst nach Empfang der Kommunion konnte eine Hospitalaufnahme eines Kranken erfolgen. In der Meinung der Hl. Hildegard von Bingen waren z. B. die ! Menstruation und die Geburtsschmerzen eine Folge des Sündenfalls im Paradies und der Erbsünde. In der mittelalterlichen »Krankheitstheologie«, der Lehre von der Krankheit als Sündenfolge, bilden im Behandlungssystem die Heilkraft der Beichte, das Gnadengeschenk der Buße und die tätige Reue einer unerlässliche, christlich-religiös verankerte Voraussetzung und heilwirkende Kraft, die durch die Fürbitte der vielfältigen Krankheitspatrone (vgl. ausführlich hierzu: Trüb, 1978) bei Gott erwirkt wird. Beispiel: Ätiologische Krankheitskonzepte psychischer Erkrankungen in der brasilianischen Bevölkerung : Afrobrasilianer und Neobrasilianer Eine weitverbreitete ätiologische Vorstellung in Brasilien ist der »mau olhado« (!böser Blick). Nach Pfeiffers (1971:134) Angaben ist dieses Konzept im Mittelmeerbereich, Lateinamerika und Afrika verbreitet (vgl. Stubbe, 2012:86). Die Ursache mag in Neid oder böser Absicht liegen, doch kann der böse Blick auch ohne Wissen und Willen des Urhebers wirksam werden, worauf schon Bartels (1893:43) hingewiesen hat. Bereits in der griechisch-römischen Antike war diese Krankheitserklärung gut bekannt z. B. erwähnt sie Ovid in seinen Fasti (V, 433). Nach Brasilien gelangte dieses Konzept wahrscheinlich über die Portugiesen (vgl. Cascudo, 1980:540 f; »olhado«). Aber auch eine Übertragung aus Afrika oder Einflüsse von den »Indianern« (vgl. von den Steinen, Zentralbrasilien …, S.558; Seligmann, 1922:86, 386) wäre durchaus denkbar. Der Augenarzt Seligmann hat vor allem in seinem Werk »Die Zauberkraft des Auges und das Berufen« (1922) eine äußerst reichhaltige Übersicht des gesamten Themas gegeben. Auf Seite148 dieses Werkes heißt es z. B. »In Brasilien sind namentlich alte Negerinnen des bösen Blicks verdächtig.« Hierbei handelt es sich wohl sozialpsychologisch gesehen um eine »Ophtalmophobie der Weißen«, möglicherweise aus einem schlechten Gewissen heraus wegen der !Sklaverei. In Zentralbrasilien (Cuyab‚) wird folgendes Krankheitsbild durch mau olhado verursacht gedacht: die betreffende Person (vor allem Kinder) geraten in einen Schwächezustand »quebranto« genannt, der sie »weich« (mole), schlaff und anorektisch macht. Am größten ist die Gefahr am 7. Tage, wo kein Fremder ins Haus des Erkrankten gelassen wird, weil man an diesem Tage am leichtesten sterben kann und zwar an der »molestia do setimo dia« (vgl. Seligmann, 1922:331, 335, 411).

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Der böse Blick hat vielfältige Deutungen erfahren. Am bekanntesten sind die soziologische (Neid z. B. Schoeck), sozialpsychologische (Hauschild), tiefenpsychologische (als Abwehrmechanismus z. B. Projektion) und kulturethologische (Koenig).! Abwehrmagie Andere wichtige Erklärungen der »doenÅas espirituais« (d. h. Krankheiten, die von der naturwissenschaftlichen Medizin nicht erklärt und nicht geheilt werden können; häufig werden darunter aber auch Erkrankungen psychiatrischer oder psychologischer Genese verstanden vgl. Loyola, 1984:164) sind in Brasilien: – der »espirito encostado« (»angelehnter« schädigender !Geist eines Verstorbenen) – die »castigo de Deus« (Strafe Gottes) und in Rio de Janeiro vor allem – die !»macumba« (eine allgemeine neutrale Bezeichnung für afrobrasilianische Kulte der nagû-Linie benannt nach einem afrikanischen Musikinstrument, vgl. Cacciatore,1977:173 f). Hierunter werden aber auch verschiedene Techniken der schwarzen Magie (Schadenszauber) verstanden, vor allem nach dem Prinzip des pars pro toto und seltener der »Krankmachung in effigie« (»Rache- und Liebeszauber«). Die magischen Ingredienzien, die an bestimmten Plätzen (Friedhof, Kreuzungen) abgelegt bzw. ausgelegt werden, nennt man »despacho«. Sie bestehen aus schwarzen Hühnern, Maismehl (Fub‚), Zuckerrohrschnaps (cachaÅa), rote oder schwarze Bänder (fitas), rote Rosen, rote oder schwarze Kerzen (wobei die Uhrzeit der Ablage und die Siebenzahl wesentlich sind) etc. je nach Zweck und geistiger Entität (espirito), die wirksam werden soll (vgl. Lody, 1979). Durch diese Ursachen können nicht nur psychiatrische Krankheiten, sondern auch alltägliche psychische bzw. psychoso-matische Beschwerden (z. B. nervosismo [ungefähr Psychasthenie, vgl. Duarte, 1988], falta de concentrażo, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, Zittern etc.) ausgelöst werden, die einer traditionellen Diagnose und Behandlung bedürfen. !Geister !Gesundheit !Heilerinnen !Phytotherapie !Spiritismus M. Höfler (1899): Krankheitsdämonen. Arch. für Religionswissenschaft, II, S. 86ff; W. v. Siebenthal (1950): Krankheit als Folge der Sünde. Hannover ; C. L. P. Trüb (1978): Heilige und Krankheit. Stuttgart; G. P. Murdock (1980): Theories of illness. A world survey. Pittburgh; W. Bassitt & M. A. Bento (1980): Os motivos das internaÅþes psiqui‚tricas segundo os pacientes. Temas: Teoria e Pr‚tica da Psiquiatria (S¼o Paulo), 10 (18 – 19), 1980:5 – 14; H. Schipperges (1985): Heilung einer Geisteskranken im hohen Mittelalter, Z. f. Klin. Psychol., Psychopathol. und Psychotherapie, H.1, Jg.33; ders. (1990): Der Garten der Gesundheit. Medizin im Mittelalter. München; Fr. B. Keller (Hrsg.) (1995): Krank warum? Katalog. Hygiene Museum. Dresden; H. Stubbe (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

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Küche: die afrobrasilianische Küche Ab dem Zeitpunkt, in dem afrikanische !Frauen als Sklavinnen nach Brasilien verschifft wurden ist die »Küche« ihre Domäne. Innerhalb der Haussklaverei waren sie in den Herrenhäusern am häufigsten als Kindermädchen und Köchinnen beschäftigt. Gegenwärtig dominieren weiterhin Afrobrasilianerinnen, insbesondere in der Südost-Region und in den städtischen Haushalten der Küstenregion in diesen beiden Tätigkeiten. Als Stadtsklavinnen behielten die Afrikanerinnen und Afrobrasilianerinnen diese Funktion und übernahmen dazu noch die der Straßenverkäuferinnen, die so häufig mit ihren »tabuleiros« (=Tabletts) von Malern und Reisenden, insbesondere im 19. Jh., dargestellt wurden. Sie verkauften alles, aber in erster Linie Speisen und Süßigkeiten. Diese Frauen prägten wesentlich den brasilianischen Geschmack und die brasilianische Kochkunst mit ihren Gewürzen, mit afrikanischen Speisen und einer einzigartigen Kochsymbolik, die bis in die Religion und Medizin reicht, beispielsweise bei den Speisentabus im Krankheitsfall. Die Kochkunst der Afrikanerinnen wurde zu einem Lebensstil innerhalb der brasilianischen Gesellschaft: »Damit die Speisen schmecken können, muß man bei niedrigem Feuer kochen und sich Zeit lassen. Genauso wie im Leben« sagt die afrikanische Urgroßmutter einer afrobrasilianischen Köchin. Mit Recht betont Moema Parente Augel, daß über die »afrikanische Küche« zu sprechen ein sehr allgemeines und ungewisses Unterfangen ist, da die einzelnen Regionen des afrikanischen Kontinents sehr unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten kennen und durch die jeweiligen Formen der Kolonisation beeinflußt wurden. Ein solches Unterfangen wird im Falle Brasiliens nicht weniger schwierig, da die Verschiedenheit der Küche innerhalb Brasiliens sehr groß ist und noch der Einfluß der indianischen und portugiesischen Küche zu einer Modifizierung des »afrikanischen« beigetragen hat. Dies können wir beispielsweise durch den Wechsel der Nahrungspflanzen durch die Kolonisatoren von Brasilien nach Afrika und vice-versa erkennen. Erdnuß, Malaguetta-Pfeffer sowie Maniok-Wurzeln, die heutzutage unerläßlich in der Küche vieler afrikanischer Länder sind, wurden von den Portugiesen nach West-Afrika verpflanzt. Umgekehrt gilt u. a. für die Yamswurzel und Okraschote, die so »typisch« für die brasilianische Küche sind, daß sie aus West-Afrika nach Brasilien umgepflanzt wurden. Dennoch läßt sich kaum der afrikanische Ursprung von Speisen wie Acaraj¦ (in Benin und in Nigeria Akar‚), Caruru (in Angola Kalulu), Ef‚, Vatap‚, Abar‚, Xinxim, Qindim, Abar¦m, etc. verkennen (auch hinsichtlich der stark pikanten Pfeffer-Sauce), die aber feste Bestandteile der Küche in Brasilien sind, was bereits sprachlich erkennbar ist.

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Doch gehören diese Speisen nicht auf den Alltagstisch, sondern beschränken sich oftmals auf eine bestimmte Region des Landes. Das Zentrum der afrobrasilianischen Küche ist Bahia. Moema Parente Augel grenzt geografisch das Gebiet der afro-bahianischen Küche im Bereich der Landeshauptstadt Salvador und ihrer Umgebung, dem »Recúncavo«, ab, dort wo der Zuckerrohranbau einst herrschte und viele afrikanischen Sklaven lebten. Aber auch in Rio de Janeiro, S¼o Luiz do Maranh¼o und in Minas Gerais finden wir eindeutig den Einfluß der afrikanischen Küche, sowie in zerstreuten Regionen des Nordens und Nordostens Brasiliens. Es wird vermutet, daß die Erhaltung der »afrikanischen Küche« in Brasilien unmittelbar mit den religiösen Zerimonien des !»Candombl¦« zusammenhängt. C–mara Cascudo (1983) hebt hervor, daß keine Gottheit des »Candombl¦« gerufen werden kann, ohne daß in einem Ritual zuvor sein heiliges Gericht angeboten wird, da jede Gottheit ihre eigenen Gerichte hat und nur diese annimmt (vgl. Lody, 1979, 2003). Diese Speisen werden auch auf einem profanen Tisch angeboten, obwohl die Geheimnisse und Eigenart der Vorbereitung für die Gottheit in Details von den Eingeweihten eingehalten werden müssen, wie im Fall des »Amal‚ de Xangú«. Dies ist eine Zubereitung von weißem Reis und »quiabo« (= Okraschote), die aber nur im Wasser gekocht werden ohne jegliches Gewürz, und am Festtage dieser Gottheit (am 30. September), sowohl dem Gott als auch den Gäste angeboten wird. Anderseits ist der normal gewürzte »arroz com quiabo« (= Reis mit Okraschote) ein alltägliches Gericht der Brasilianer. Als eine der typischen afrobrasilianischen Gerichte, sowohl in Bahia als auch anderswo insbesondere im Nordosten, soll hier nach dem Rezept von Moema Parente Augel die Zubereitung des »Caruru« vorgestellt werden. »Caruru« war ursprünglich der Name einer Gemüseart, mit der dieses Gericht zubereitet wurde. (Für 8 Personen) 1 kg Okraschoten 250 g getrocknete, gemahlene Krabben 50 g kleingehackte Erdnüsse 3 Eßlöffel Palmöl 1 große Zwiebel 1 Knoblauchzehe einige Tropfen Zitronensaft 1 Tasse Palmöl Salz, Pfeffer In den 3 Eßlöffeln Palmöl die in Würfel geschnittene Zwiebeln und den zerdrückten Knochblauch kurz anbraten, die sehr klein geschnittenen Okraschoten hinzufügen und mit Zitronensaft beträufeln, damit sie nicht »schleimen«. Die restlichen Zutaten mit einer 1 Tasse Wasser und 1 Tasse Palmöl mit einem Holzlöffel (!) vermischen, den Okraschoten 2

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beigeben, zum Kochen bringen und ca. 20 Minuten weich werden lassen. Der Caruru ist fertig, wenn sich die Kerne der Okraschoten, die sehr weich sind, rosa färben. Varianten: – Der Krabben-/Erdnußmasse können auch 100 g frische Krabben beigegeben werden. – Nach Belieben kann der Caruru mit ein wenig Maniok- oder Maismehl eingedickt werden. – In Sergipe wird der Caruru mit Kokosmilch und wesentlich weniger Palmöl zubereitet. Beilagen: Reis und ein scharfer Molho de Pimenta (= Pfeffersauce).

Bei einer solchen Darstellung der afrobrasilianischen Küche ist es wichtig zu bedenken, daß diese Bevölkerungsgruppen unter sehr prekären Lebensbedingungen, sowohl auf dem Lande als auch in den Städten, gelebt haben und noch leben. Was gegenwärtig als afrikanisch/afrobrasilianisch genossen wird, war oftmals das, was man »comida de escravo« (= Sklavenessen; vgl. Scis†nio, 1997:23ff) nennen könnte, d. h. Eingeweide von Tieren, die von den Herren nicht gegessen wurden und den Sklaven übergeben und dann in einer »afrikanischen« Weise zubereitet wurden. In anderen Fällen nutzten diese Feldblätter und entwickelten daraus nahrhafte und geschmackvolle Speisen. Zu betonen ist auch, daß Millionen Afrobrasilianer heutzutage aufgrund ihrer schlechten wirtschaftlichen Situation sich zahlreiche traditionelle afrobrasilianischen Speisen nicht mehr leisten können, insbesondere beispielsweise diejenigen mit Krabben (camar¼o, vgl. Souto Maior, 1988:44), Kabeljau (bacalhau, vgl. Souto Maior, 1988:15) oder mit viel Fleisch (carne, vgl. Souto Maior, 1988:49ff). Diese typischen afrobrasilianischen Speisen werden immer mehr ein Privileg der Weißen bzw. der Reichen. Die »feijoada« gilt heute in ihren verschiedenen (regionalen) Variationen als bras. Nationalgericht (vgl. C–mara Cascudo, 1983; Pompeu, 1986; Souto Maior, 1988:65 f; Scis†nio, 1997:153; Elias, 2004; Lopes, 2006:65). !Baianas !cachaÅa !Tabu D. Brand¼o (1965): A cozinha baiana. Salvador/BA; G. Freyre (1969): AÅfflcar. Em torno da etnografia, da histûria e da sociologia do doce no nordeste canavieiro do Brasil. Instituto do AÅfflcar e do Ýlcool (2. ed.) (Rezepte); R. Lody (1979): Santo tamb¦m come. Estudo sûcio-cultural da alimentażo ceremonial em terreiros afro-brasileiros. Recife; ders. (1992): Ax¦ da boca. Temas de antropologia da alimentażo. Rio de Janeiro: ISER; ders. (2003): Dicion‚rio de arte sacra e t¦cnicas afro-brasileiras. Rio de Janeiro (alimentażo, p. 33 – 59); L. da C–mara Cascudo (1983): Histûria da alimentażo no Brasil. 2 vol.s. Belo Horizonte; R. Pompeu (1986): Dial¦ctica da feijoada. S¼o Paulo; H. Vianna (1987): A cozinha baiana. S¼o Paulo (2. ed.); R. V. Anselmi (1988): Arroz – O prato do dia na mesa e na lavoura brasileira. S¼o Paulo; M. Souto Maior (1988): Alimentażo e Folclore. Rio de Janeiro; M. Parente Augel (1993): Brasilianisch kochen. Gerichte und ihre Geschichte. St.

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Gallen; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; R. Elias (2004): Breve histûria da feijoada. Nossa Histûria (Biblioteca Nacional, RJ), ano 1, n8 4, p. 34 – 37; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Kultur Einführung: Brasilien wurde hauptsächlich von drei komplexen, unterschiedlichen Kulturen beeinflußt, nämlich: der indianischen, portugiesischen und der afrikanischen, innerhalb derer jedoch noch unterschiedliche kulturelle Gruppierungen existierten. Diese Ethnogenese macht Brasilien zu einer komplexen und vielfältigen Kultur, obgleich es innerhalb der Gesellschaft große Abstufungen hinsichtlich der Bewertung dieser kulturellen Elemente gibt. Zahlreiche Forscher haben sich mit dem afrikanischen kulturellen Ursprung Brasiliens beschäftigt. Von großem Einfluss für die Bildung eines differenzierteren ethnographischen Bildes dieser Kultur in Brasilien war als Pionier – in seinen (teilweise rassistischen) Konzepten jedoch sehr umstritten – Nina Rodrigues, der am Ende des 19. Jh.s. über die afrobrasilianischen Religionen und Kunst geforscht hat, insbesondere in Bahia. Der Ethnologe und Psychiater Arthur Ramos bildete dann die Basis für die Weitererforschung auf diesem Gebiet. Auch der frz. Sozial- und Religionswissenschaftler Roger Bastide gehört in diesen Zusammenhang um nur einige zu erwähnen (vgl. !Einführung). Der afrikanische kulturelle Einfluß in Brasilien wird tradionell hauptsächlich auf die folgenden afrikanischen Kultur- und Sprachgruppen zurückgeführt: 1. Sudanesische Kulturen – Yoruba (Nagú, Ijech‚, Ketu, Egb‚) – aus Nigeria – Dahomey (Gege, Ewe, Fon) – aus Dahomey (gegenwärtig: Benin) – Fanti Aschanti (Mina) – von der Goldküste (gegenwärtig: Gahna) 2. Islamisierte guineisch-sudanesische Kulturen (MalÞ) – Hauss‚ aus dem Norden Nigerias – Peuhl (Fulah) – Mandinga (Solinke, Bambara) – Tapa 3. Bantu Kulturen (Bantu = Mensch) – Angola – Kongo – Cabinda – Benguela

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die o.g. vorwiegend aus Angola und dem Kongo – MoÅambique – aus Mosambik Die Afrikaner, die nach Brasilien deportiert wurden, entstammten sehr unterschiedlichen Kulturen. Dennoch brachten sie ihre technologischen Kenntnisse z. B. der Bearbeitung von Bronze, Eisen, Holz und anderen Objekten mit sich, ihre !Religionen, Traditionen, Weltanschauungen, !Mythen, Märchen und Sprachen (Wörter wie Babalaú, !cafun¦, mulambo, !samba, banz¦, quitanda, dengo, unter vielen anderen, die zur brasilianischen !Sprache gehören) sowie ihre Ästhetik und !Kunst, !Musik und ihre Instrumente (atabaque, agúgú, ! berimbau; congadas, jongos, etc.), gesellschaftliche Regeln, Heilungsformen (! Phytotherapie, !Gebete, Magie, u. a.), Speisen und vieles andere mehr. Diese aus verschiedenen afrikanischen Ethnien stammenden kulturellen Elemente vermischten sich im kolonialen und imperialen Brasilien mit denen der Indianer und Portugiesen und es gestaltete sich hieraus, was heute unter der Bezeichnung »afrobrasilianische Kultur« zu verstehen ist. Afrikanisches Kulturgut galt von Beginn der Kolonisation an, hauptsächlich wegen der port.-christlich-katholischen Werte, als »primitiv, exotisch, wertlos, niedrig, heidnisch und gefährlich«, da es die dominante Kultur der weißen Herrscher entfremden und zu einem moralischen Zerfall bzw. zu einer Rückentwicklung des Landes führen könnte. Die Unterlegenheit der Afrikaner und ihrer Kultur war für die Kolonialelite offenkundig. Unter solcher ideologischen Betrachtungsweise wurden viele Elemente des afrikanischen Kulturguts entweder strikt verboten, subtil von der dominierenden Kultur unterdrückt oder je nach Interesse integriert. Aufgrund dieser forcierten Anpassung, worunter zu verstehen ist, daß die Afro-Bevölkerung sich an die kulturellen Normen und Werte der weißen Herren, auch unter Gewalt anpassen mußte – oder so zu tun, als ob sie sich anpassen würde – litt die Afro-Bevölkerung unter einem tiefgehenden Prozeß der ! Akkulturation, in dessen Gefolge auch Teile dieser Bevölkerungsgruppe viele eigene kulturelle Elemente schlechthin abzulehnen lernten, andere Teile dieser Kultur jedoch als ideologische oder symbolische Widerstandsformen ihres Daseins beibehalten haben. Dieser Zwang zur kulturellen Anpassung ist das, was heute unter »Synkretismus« verstanden wird. In diesem akkulturativen und synkretischen Prozeß ist nicht nur die afrikanische Kultur modifiziert und reinterpretiert worden. Der Akkulturationsprozeß der weißen Elite an die Kultur der Unterdrückten steht ebenfalls fest. Durch den unausweichlichen Kontakt der weißen Elite zu der Afro-Bevölkerung insbesondere durch die Haussklaverei bzw. das Hauspersonal bedingt, haben sich diese kulturellen Elemente in das Milieu der Herrschenden subtil eingegliedert, sich dort tief eingeprägt und tradiert. Durch diese Art von kulturellem Kontakt

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konnte die afrikanische Kultur in Brasilien überleben und einen so großen Einfluß in der ganzen Gesellschaft erhalten. Die Abwertung und Unterdrückung der afrikanischen Kultur in Brasilien ist bereits in der !Literatur des 16. Jh.s feststellbar. Im Laufe des 19. bis Mitte dieses Jh.s wurden verschiedene kulturelle Manifestationen gesetzlich verboten und von der Polizei verfolgt. Ein Beispiel dafür ist der !Karneval, damals »entrudo« genannt: Bereits im Jahre 1830 wurde er zensuriert. 1853 wurde er verboten unter Androhung des Gefängnisses für seine Teilnehmer. Ebenfalls wurden die Religionen afrikanischen Ursprungs, noch im 20. Jh. mehrmals verboten. Ihre Oberpriester/innen wurden oftmals festgenommen oder mußten unter Schüssen entfliehen. Kulturelle Manifestationen, wie z. B. die !»capoeira«, wurden als »gefährlich, unzivilisiert« und als »coisa de preto« (= »NegerSache«) betrachtet. Die äußerlichen Zeichen der afrikanischen Abstammung, wie beispielsweise die afrikanische bunte Bekleidung, die Trageform des auf dem Rücken gebundenen Kindes etc.) wurden aus dem brasilianischen Alltag vollkommen verbannt (vgl. !Fotos aus dem 19. Jh.) und die übrigen Formen des kulturellen afrobrasilianischen Lebensstils wurden zwar weiterhin ausgeübt, aber selten offen. Gegenwärtig sind sie ein Symbol der »Afrobrasilianität« bei den bewußten und militanten Afrobrasilianern. Die einstige politische Verfolgung der Samba-Schulen ist im Zeitalter des Massentourismus längst vergessen, da für diese Touristen die Elemente der afrobrasilianischen Kultur attraktiv und interessant sind, d. h. geldbringend. Die gegenwärtige Massenveranstaltung des »Karneval in Rio« hat nichts mehr mit der ursprünglichen Samba-Musik und Samba-Kultur zu tun, die früher als eine gefährliche »coisa de preto« gebrandmarkt wurde. Der !Candombl¦, ebenfalls früher verfolgt, wird heute auch zu einem Kuriosum: In Salvador (Bahia) stehen Candombl¦-Sitzungen heute auf dem Touristen-Programm. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die kulturelle Einengung, in der die Afrobrasilianer gelenkt werden. Die Afrobrasilianer, um als solche zu gelten, müssen !Samba tanzen können, !Karneval mögen, !»CachaÅa« trinken – und viel – sowie »macumbeiro« sein. Falls sie diesem Bild nicht entsprechen, werden sie als nicht »echte« Afrobrasilianer angesehen. Klassische Musik, Katholizismus, Antialkoholismus sind Haltungen, die als nicht zu ihnen passend betrachtet werden und sie der Kritik aussetzen. Dieser kulturelle Zwang besteht sowohl intra- als auch inter-ethnisch. Dennoch bleibt die afrikanische Kultur in Brasilien eine Widerstandskultur wie sie es seit der Ankunft der ersten afrikanischen Sklaven in Brasilien gewesen ist. Jetzt nicht nur mehr als Widerstand gegen die unterdrückenden Anordnungen der Weißen, sondern gegen die Massifizierung des Tourismus, eine wichtige Einnahmequelle der weißen Elite. Dafür sollen die Afrobrasilianer wie

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einst da sein, um sie zu unterhalten und weiterhin als Arbeitskräfte zu gelten, jetzt nur auf einem anderen Sektor : Innerhalb ihrer eigenen bewunderten und mißachteten Kultur. Die politischen und wirtschaftlichen Interessen deuten die afrobrasilianischen Kultur um ohne sie aber vollkommen zu integrieren, sie ist ein nutzbringender Faktor. Hier sollten wir uns nicht täuschen lassen! Leider können wir in diesem Rahmen nur auf wenige Aspekte der afrobrasilianischen Kultur aufmerksam machen, die – wie oben geschildert- so vielfältig sind. Zu den hier nicht behandelten Aspekten finden sich weiterführende Literaturhinweise in anderen Stichworten. !Bibliografien !Einführung !Geschichte !Kunst !Literatur !Made in Africa !Musik !Religion !Sprachen A. B. Ellis (1904): The Yoruba speaking peoples of the Slave Coast of West Africa. London; A. Ramos (s.d.): As culturas negras. Rio de Janeiro; J. Jahn (1958): Muntu. Umrisse der neoafrikanischen Kultur. Düsseldorf; F. de Azevedo (1963): A cultura brasileira. Bras†lia (4. ed.); G. J. Afolabi Ojo (1966): Yoruba culture. London; N. Werneck Sodr¦ (1970): S†ntese de Histûria da Cultura Brasileira. Rio de Janeiro; E. M. McClelland (1982): The cult of Ifa among the Yoruba. London; R. Moura (1983). Tia Ciata e a pequena Ýfrica no Rio de Janeiro. Rio de Janeiro; M. A. Luz (1983): Cultura negra e ideologia do recalque. Rio de Janeiro; M. Bernal (1987): Black Athena: The afroasiatic roots of classical civilization. London; H. Th. Lopes et al. (1987): Negro e cultura no Brasil. Pequena Enciclop¦dia da Cultura Brasileira. Rio de Janeiro; N. Lopes (1988): Bantos, malÞs e identidade negra. Rio de Janeiro; D. Schelsky (1991): Kultur auf Wanderschaft. Die Mfflsica Nordestina in Brasilien. Frankfurt/M.; 1492 – 1992 Schwarze Kultur – Schwarzer Widerstand (1992). Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika, 155, Mai; Cl. Armbruster (1994): Volkskultur – Cultura Popular. In: D. Briesemeister & G. Kohlhepp et al. (Hrsg.), Brasilien heute. Frankfurt/M., S. 545 – 563; ders. (1994): Religion und Kultur der Afro-Brasilianer. In: D. Briesemeister et al. (Hrsg.), Brasilien heute. Frankfurt/M., S. 481 – 492; J. A. Bacelar (1995): Die Modernisierung der Kultur der Schwarzen in Salvador. In: R. Sevilla & D. Ribeiro (Hrsg.), Brasilien: Land der Zukunft? Unkel/Rh., S. 202 – 213; IPHAN (1997): Negro Brasileiro Negro. Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N8 25; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2004): Enciclop¦dia brasileira da di‚spora africana. S¼o Paulo; ders. (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; T. Eagleton (2009): Was ist Kultur? München; W. Schicho (2010): Geschichte Afrikas. Stuttgart; St. Moebius & D. Quadflieg (Hrsg.) (2011): Kultur, Theorien der Gegenwart. Wiesbaden

Kultur der Armut (O. Lewis, 1961) Ein von dem us-amer. Ethnologen Oscar Lewis (1914 – 1970) entwickeltes Konzept, das vor allem für die sog. Dritte Welt (insbes. LA: vgl. Jesus, 1968; Schwarz, 1983; Rodriguez Rabanal, 1990, 1995) von großer Bedeutung ist. Lewis nahm Biografien weniger Personen bzw. Familien auf und stellte deren All-

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tagsleben anhand ihrer persönlichen Berichte (Familieninterviews!) als Einzelschicksale dar. Nach Lewis bringt Armut eine eigene Lebensweise hervor. Die Charakteristika der K.d. A. (die sich auch in bei den in Armut lebenden Afrobrasilianern finden lassen; vgl. z. B. Carolina Maria de Jesus) sind: 1. mangelnde Nutzung bzw. Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen, denen die armen Menschen ängstlich, misstrauisch und apathisch gegenüberstehen, 2. fehlende Organisation, die über die Familie herausgeht, 3. Kindheit wird nicht als Phase der Geborgenheit erlebt, 4. Gefühle der Hilflosigkeit, Unterlegenheit und Abhängigkeit verbunden mit Fatalismus und Apathie 5. die Menschen orientieren sich stark an der Gegenwart und sind relativ wenig geneigt, Belohnung aufzuschieben und für die Zukunft zu planen, 6. sie hassen die Polizei, misstrauen der Regierung und neigen gegenüber der Kirche zum Zynismus. Lewis erkennt, daß die K.d. A. teilweise eine durchaus rationale Reaktion auf die objektiven Bedingungen der Machtlosigkeit und Armut ist. Sie ist eine »Anpassung und Reaktion der Armen auf ihre marginale Position in einer in Klassen gegliederten Gesellschaft.« (Lewis, 1966: 21). Die K.d. A. tendiert dazu immer weiter tradiert zu werden: »Wenn Slumkinder sechs oder sieben Jahre alt geworden sind, haben sie gewöhnlich die wesentlichen Einstellungen und Werte ihrer Subkultur verinnerlicht. Danach sind sie, psychologisch gesehen, nicht mehr bereit, sich wandelnde Bedingungen zunutze zu machen oder aus Gelegenheiten, die sich in ihrem Leben bieten, das Beste zu machen.« (Lewis, 1966:21) Lewis konnte auch zeigen, daß viele Menschen trotz ihrer Armut eine große geistige Würde erlangt haben. Das Konzept der K.d. A. wurde vor allem von Soziologen des Zentrums kritisiert, ist aber in der Gegenwart LA’s mit seiner zunehmenden Binnenmigration und Verelendung großer Massen nach wie vor bedeutsam und hat auch die Ethnopsychoanalyse in LA befruchtet (vgl. Rabanal). Die Frage der Universalität des Konzeptes der K.d. A. müsste noch in anderen Ländern der sog. Dritten Welt überprüft werden. Für den bras. Pädagogen Paolo Freire (1973) ist die »Kultur des Schweigens« ebenfalls ein wichtiger Aspekt der K.d. A. !Bildung !Biografien !Favela !Gesellschaft !Ökonomie und Arbeitswelt !Wohnen O. Lewis (1951): Life in a Mexican village: Tepoztl‚n restudied. Urbana; ders. (1959) : Fife families. New York; ders. (1966) : La vida. A Puerto Rican Family in the culture of poverty. New York; ders. (1968): Die Kinder von Sanchez. Frankfurt/M.; ders. (1986): Ein Tod in der Familie Sanchez (1969). Bornheim; C. M. de Jesus (1968): Tagebuch der Armut. Frankfurt/ M. (port. Quarto de despejo); Ch. A. Valentine (1968): Culture and poverty. Critique and counterproposal. Chicago; P. Freire (1973): Die Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek; R. Schwarz (1983): Os pobres na literatura brasileira. S¼o Paulo; M. Harris (1989): Kulturanthropologie. Frankfurt/M.; S. Thorbek (1994): Gender and slum culture in urban Asia. London; R. Lindner (1999): Was ist Kultur der Armut? Anmerkungen zu Oscar

Kunst

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Lewis. In: S. Herkommer (Hg.), Soziale Ausgrenzungen. Hamburg, S. 171 – 178; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brassileiro. S¼o Paulo, p.39

Kunst Im engeren Sinn versteht man unter K. die Gesamtheit des vom Menschen Hervorgebrachten im Gegensatz zu der »Natur«. K. ist nicht durch eine Funktion eindeutig festgelegt oder erschöpft sich darin. Erst gegen Ende des 18. Jh.s und zum Beginn des 19. Jh.s bildete sich der Gegensatz von (Kunst-)Handwerk, Wissenschaft und Kunst heraus. Nach dem heutigen Verständnis ist die K. in die Teilbereiche !Literatur, !Musik, darstellende K., sowie bildende K. gegliedert. Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man unter K. oftmals nur bildende K. Die bildenden Künste der Afrobrasilianer sind bisher selten systematisch bearbeitet worden. Man sollte sich auch immer bewußt machen, dass die afrobrasilianische religiöse Kunst früher zur »verbotenen Kunst« gehörte und von der Polizei konfisziert wurde! Also als eine Art »Beutekunst« bzw. »Corpus delicti« fungierte (vgl. Maya & Moreira, 1985; Lody, 2003:26 f). Sie wurde bis vor Kurzem im Rahmen der !Folklore vor allem einseitig als »artesanato« (Kunsthandwerk; heute spricht man oftmals neutraler von »Ethnokunst« oder !Ethnoästhetik bearbeitet; vgl. z. B. Colonelli, 1979) oder fast völlig auf die religöse Kunst eingeschränkt (vgl. Lody, 2003; zur Gefahr einer »Musealisierung« ihrer Kunst, vgl. Dean, 2010). Dennoch sind die Afrobrasilianer sowohl als Künstler, als auch als Gegenstand der darstellenden Künste in Brasilien häufig hervorgetreten bzw. dargestellt worden. Man denke etwa an die grandiosen Bildwerke von Franz Post (1612 – 1680) oder Albert Eckhout (ca. 1610 – 1665) im 17. Jh. (vgl. Krempel, 2006; Schaeffer, 1968:1 – 84), von Jean Baptiste Debret (1768 – 1848), Thomas M. H. Taunay (1793 – 1864) und Johann Moritz Rugendas (1802 – 1858) im 19. Jh., sowie an C–ndido Portinari (1903 – 1962) (»O Caf¦«), Tarsila do Amaral (1890 – 1972) (»A Negra«), Anita Malfatti (1896 – 1964) (»Tropicalismo«) oder an den naven Maler Evandro Norbim (»O Bloco«) im 20. Jh. Die Afrobrasilianer als Künstler: Eine wichtige Wurzel und Grundlage der Künste der Afrobrasilianer stellen die künstlerischen Traditionen ihrer afrikanischen Herkunftländer dar, wie sie z. B. bereits von Herskovits (1934), Carneiro da Cunha (1983), Eyo & Willett (1983) u.v.a.m. bearbeitet wurden. In Brasilien, im neuen kolonialen Milieu unter einer Sklaverei, hat diese Kunst Afrikas jedoch einige Wandlungen erfahren. »Das in Iorubaland noch umfassende Pantheon der Orix‚s hat in der Diaspora in

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Amerika unter den Bedingungen der Sklaverei beträchtlich abgenommen. Dieser Verlust läßt sich auf verschiedene Motive zurückführen. Dazu gehörten unter anderem die Weigerung der Priester, die Praktiken und Geheimnisse der Religion weiterzugeben, aber auch die starke Unterdrückung durch Polizei und Kirche, wie sie in einigen Städten Brasiliens vom Anfang des 19. Jh.s bis Ende der 60er Jahre dieses Jahrhunderts gegen Tempel und Religiongemeinschaften des Candombl¦ praktiziert wurde. Paradoxerweise führte diese Repression zur Bewahrung zahlreicher Objekte der religiösen Kunst, die zunächst willkürlich durch die Polizei beschlagnahmt und später an Museen und kulturelle Institutionen weitergegeben wurden,« schreibt Moura (1994:14) in den »Brasiliana de Frankfurt/M«. In der Frankfurter Ausstellung »Afro-Brasilianische Kultur und zeitgenössische Kunst«, im Rahmen der »Brasiliana de Frankfurt« (1994) hat Emanoel Araffljo einen anregenden Beitrag über »Kunst und Afro-Brasilidade« geschrieben. Er weist auf viele bekannte afrobrasili-anische Künstler der Vergangenheit hin wie z. B. Antúnio Francisco Lisboa (»Aleijadinho«, 1738 – 1814) (vgl. Freudenfeld, s.d.) in Minas Gerais, Valentim da Fonseca (»Mestre Valetim«) (zweite Hälfte des 18. Jh.s) in Rio de Janeiro, den Maler Jos¦ Theûphilo de Jesus (gest. 1847) in Bahia und Sergipe, die legendäre Figur des Francisco das Chagas (»Chagas o Cabra«) (18. Jh.) im Nordosten, den Heiligenbildner Manuel In‚cio da Costa (Mitte des 19. Jh.s), den Fluminenser Manoel da Cunha (1737- ?) und den Carioca Leandro Joaquim. Emanoel Araffljo (1994) hat auch einige kunstkritische Anmerkungen zu den Werken afrobras. Gegenwartskünstler wie z. B. Mestre Didi (*1917), den Bildhauer Agnaldo Manoel dos Santos (1926 – 1962) (dessen »Carrancas« = Galeonsfiguren berühmt wurden!), Ronaldo Rego, Genilson Soares da Silva (*1944), Rubem Valentim (1922 – 1991) u. a., gemacht. Zu erwähnen ist auch das malerische Werk von Abdias do Nascimento (1997). Die religiöse Kunst der Afrobrasilianer: Einen nützlichen, systematischen und lexikalischen (leider nicht bebilderten) Überblick über die religiöse K. der Afrobrasilianer hat Raul Lody (2003) vorgelegt. Er gliedert die gesamte Thematik der religiösen K. folgendermassen: Ernährung, Musikinstrumente, Utensilien, Architektur und Möbel, Körperkunst, Eisengegenstände und Embleme, Kleider, Körper-objekte, Flüssigkeiten und Mischungen für unterschiedlichen Gebrauch. Carneiro da Cunha (1983) gibt in der »Histûria da Arte no Brasil« nach einer kurzen Darstellung der afrikanischen Kunst (vor allem Plastik in Nigeria) eine reich bebilderte Übersicht über die ersten Sammlungen in Brasilien und hebt dann die Bidimensionalität der Objekte des religiösen afrobras. Synkretismus, die stilistische Kontinuität, die Exffl-Statuen verschiedenen Materials, die Ob-

Kunst

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jekte des Rituals der »m¼es ancestrais nagú-yorub‚«, die Kontinuität der formalen afrikanischen Konventionen in den naturalistischen brasilianischen Darstellungen, die afro- brasilianischen Künste und die moderne Kunst, Körperkunst, den Schmuck, etc. hervor. Der beträchtliche Einfluss, den die afrikanische auf die moderne Kunst der westlichen Welt ausgeübt hat (vgl. »Afrikanismus«, »Exotismus«, !»Primitivismus«), ist verschiedentlich dargestellt worden (vgl. Museu Nacional de Belas Artes, 1983; Carneiro da Cunha, 1983; Rubin et al., 1984; Szalay, 1990; Price, 1992; Brasiliana de Frankfurt/M., 1994; Stubbe, 2012:505 f). In Brasilien ein noch wenig bearbeitetes Forschungsdesideratum! !Ethnoästhetik !Film !Fotografien !Haare !Ikonografie !Kultur ! Literatur !Masken !Museen !Musik !Primitivismus !Religion !Tanz R. Nina Rodrigues (1904): As belas artes nos colonos pretos do Brasil. A escultura. Revista Kosmos (RJ), vol. 1, n8 8, agosto de 1904; M. J. Herskovits (1934): A arte bronze e do panno em Dahom¦. I. Congresso Afrobrasileiro. Recife; M. Griaule (1938): Masques Dogon. Paris; R. A. Freudenfeld (s.d.): O Aleijadinho. S¼o Paulo: Ed. Melhoramentos; L. Saia (1944): Escultura popular brasileira. S¼o Paulo; F. de Pamplona (Dir.) (1954): Dicion‚rio de Pintores e Escultores Portugueses. 4 vol.s. Lisboa; W. B. Fagg (1959): Vergessene Negerkunst. Afro-portugiesische Elfenbeinarbeiten. Prag; ders. (1963): Bildwerke aus Nigeria. München; F. C. Ryder (1964): A note on the Afro-Portuguese ivory. Journal of African History, vol. V.; M. Bense (1965): Brasilianische Intelligenz. Eine catesianische Reflexion. Wiesbaden; K. Krieger (1965/69): Westafrikanische Plastik. 3 Bd.e. Museum für Völkerkunde. Berlin; Museum für Völkerkunde (1968): Plastik der Afrikaner. Katalog. Frankfurt/M.; E. Schaeffer (1968): Albert Eckhout – Um pintor holandÞs no Brasil (1637 – 1644). Anais do Museu Histûrico Nacional. Vol. XX, p. 1 – 84; Biblioteca Nacional (RJ) (1968): Thomas Ender. Cat‚logo de desenhos (jul 1817-maio 1818). Rio de Janeiro; G. Dutra (1969): Contribuiżo do mulato nas artes pl‚sticas (Minas colonial). Rio de Janeiro; Cl. do Prado Valladares (1969): Iconograf†a africana no Brasil. Revista Brasileira de Cultura, n.1, 44, jul./set.; R. F. Thompson (1971): Black gods and kings: Yoruba art at UCLA. Los Angeles; W. Alves de Souza (1974): Iniciażo — Cultura Brasileira. 5 vol.s. Rio de Janeiro (bebildert); D. C. Western (1975): A bibliography oft the arts in Africa. Waltham/ Mass.; R. Löschner (1978): Deutsche Künstler in Lateinamerika. Katalog. Ibero-Amerikanisches Institut. Berlin; Ch. Colonelli (1979): Bibliografia do folclore brasileiro. S¼o Paulo; E. Eyo & F. Willett (1983): Kunstschätze aus Alt-Nigeria. Mainz; R. F. Thompson (1983): Face of the gods. Art and altars of Africa and the African Americas. New York; M. C. da Cunha (1983): Arte afro-brasileira. Em: W. Zanini (Coord.), Histûria da arte no Brasil. Vol. II, S¼o Paulo, p. 972 – 1033; Museu Nacional de Belas Artes (ed.) (1983): Coleżo Arte Africana (autor : R. Lody). Rio de Janeiro; Q. Campofiorito (1983): Histûria da Pintura Brasileira no s¦c. XIX. 5 vol.s. Rio de Janeiro; W. Rubin et al. (1984): Primitivism in XXth century art. 2 vol.s. New York; Y. Maya & R. Moreira (1985): A derruba do governo e as quebradas dos terreiros 1912. Folha de Letras (Maceiû), 4(5), junho; R. M. GonÅalves (1986): Histûria da Arte em Portugal. Lisboa; F. Kramer (1987): Der rote Fes: über Besessenheit und Kunst in Afrika. Frankfurt/M.; J. Medeiros (1988): Dicion‚rio dos pintores do Brasil. Rio de Janeiro; J. R. Teixeira Leite (1988): Pintores negros do oitocentos. S¼o

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Paulo; E. Araujo (org.) (1988): A m¼o afro-brasileira: signifcado da contribuiżo art†stica e histûrica. S¼o Paulo; Barnes (ed.) (1989): Africas Ogun – Old World and New. Indianopolis; M. Szalay (1990): Der Sinn des Schönen. Ästhetik, Soziologie und Geschichte der afrikanischen Kunst. München; M. Parente Augel & Chr. Walger (Hrsg.) (1991): Schwarzes Licht. Afrobrasilianische Kunst von Ronaldo Martins. Ausstellungskatalog. Mettingen; S. Price (1992): Primitive Kunst in zivlisierter Gesellschaft. Frankfurt/M.; Pinacoteca do Estado (SP) (1992): Exposiżo Brasil Ýfrica Brasil, Pierre Verger 90 anos. Cat‚logo. S¼o Paulo; B. Gretenkord (1993): Künstler der Kolonialzeit in Lateinamerika. Ein Lexikon. Berlin; P. Pereira (Dir.) (1995): Histûria da Arte Portuguesa. 3 vol.s. Lisboa; Afro-Brasilianische Kultur und zeitgenössische Kunst. Katalog. Brasiliana de Frankfurt. Frankf./M., 1994; E. Lucie-Smith (1997): Die Kunst Lateinamerikas. München; IPHAN (1997): Negro Brasileiro Negro. Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N8 25; A. do Nascimento (1997): Orix‚s. Os deuses vivos da Ýfrica. Rio de Janeiro; A. Hermannstädter (2003): Arte de Ýfrica. Meisterwerke aus dem Ethnologischen Museum Berlin. Tûpicos (dt.-bras. Hefte), 42, H. 4, S. 28 – 30; R. Lody (2003): Dicion‚rio de arte sacra e t¦cnicas afrobrasileiras. Rio de Janeiro; L. Krempel (2006): Frans Post (1612 – 1680). Maler des verlorenen Paradieses. München; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; I. Dean (2010): Die Musealisierung des Anderen. Stereotype in der Ausstellung »Kunst aus Afrika«. Studien & Materialien, 39. Tübingen; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

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Literatur Tradition und Moderne in der afrobrasilianischen Literatur: Die afrobrasilianische Literatur wird immer noch nicht in Brasilien als fester Bestandteil der allgemeinen brasilianischen Literatur betrachtet. Obwohl die afrobrasilianische Literatur durch die oralen Überlieferungen insbesondere als !Mythen und Märchen seit dem Anfang der afrikanischen Sklaverei in Brasilien wirksam ist, wird sie weiterhin nur als !Folklore angesehen und als solche nicht sehr ernst genommen. Auch die moderne afrobrasilianische Literatur wird ebenfalls noch weitgehendst ignoriert. Wenige Literaturkritiker setzen sich mit ihr und ihren Autoren auseinander. Geringfügige Fortschritte sind aber zu verzeichnen, insbesondere durch die große Aufmerksamkeit des ausländischen Publikums, als in Deutschland durch das Engagements von Moema Parente Augel eine Anthologie über die afrobrasilianische Dichtung (1988) und eine andere über Prosa (1993) herausgegeben wurde. In Brasilien beschränkt sich die Kentnnis über die afrobrasilianische Literatur hauptsächlich auf die afrobrasilianische Intellektualität und politische Militanz. Afrobrasilianische Autoren haben große Schwierigkeiten einen bekannten und verbreiteten Verlag zu finden. Die meisten Verleger argumentieren mit einer vorgetäuschten Angst, daß es in Brasilien (weltweit?) kein Publikum für diese Literaturgattung gäbe. So erscheinen in der Regel die Werke afrobrasilianischer Autoren in Selbstverlagen, was hohe Selbstkosten für die Autoren verursacht und außerdem eine geringe Verbreitung mit sich bringt. Die Schriften bleiben dann hauptsächlich im Kreis der Bekannten und artikulierenden Personen. Als offensichtliches Beispiel für die Ignorierung der afrobrasilianischen Literatur kann die Frankfurter Buchmesse des Jahres 1994 gelten, als sich Brasilien als »Themen-Land« darstellte. In diesem Rahmen war kein Anzeichen für die Existenz einer afrobrasilianischen Literatur zu erkennen: Sie

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wurde totgeschrieben bzw. totgeschwiegen (Ob sich das auf der Frankfurter Buchmesse 2013 geändert hat?). Im Folgenden sollen nur selektiv einige Merkmale der afrobrasilianischen Literatur herausgegriffen werden, wobei in diesem Rahmen eine solche Darstellung stark beschränkt werden muß. Die Beschäftigung mit der afrobrasilianischen Literatur bildet einen eigenständigen Bereich innerhalb der Afrobrasilianistik und des allgemeinen Faches portugiesischsprachige Literaturwissenschaft. Orale Überlieferungen: Afrobrasilianische Literatur soll hier nicht nur unter (lat.) »littera«, d. h. an den Buchstaben gebundene Literatur und daher nur unter schriftlichen Aspekten betrachtet werden. In der afrikanischen und darüberhinaus afrobrasilianischen Literatur ist der orale Aspekt von entscheidender Bedeutung. Orale Dichtung, die durch mündliche Überlieferung und in der afrobrasilianischen Tradition noch lebendig ist, wird hier allgemein als »orale Literatur« bezeichnet. Diese orale Literatur ist typisch für die afrobrasilianische Kultur, da die dichterischen Texte, die nicht schriftlich festgehalten, sondern »von Mund zu Mund« weitergegeben wurden, als Hauptbestandteil der afrikanischen Traditionen und Kulturen in Brasilien tradiert werden konnten. Da die meisten Mitglieder der verschiedenen afrikanischen Kulturen, die als Sklaven nach Brasilien kamen, des Schreibens nicht mächtig waren und ein großer Teil der Afrobrasilianer dies immer noch nicht ist, behält diese Literaturgattung immer noch ihre große Bedeutung. Hierdurch wurde die Welt, die Menschen, das Leben, die Natur und die Götter erklärt und die Existenzphilosophie der Afrobrasilianer, und auch vieler weißer Brasilianer (z. B. durch Geschichten, Schlaflieder, die die afrobrasilianischen Kindermädchen, Ammen, Köchinnen, Gärtner, etc. den weißen Kindern erzählt haben), bewußt oder unbewußt eingeprägt. Nina Rodrigues (1862 – 1906), der Gerichtsmediziner aus dem Nordosten Brasiliens, erlebte noch am Ende des 19. Jh.s. wie alte Afrikaner und Afrobrasilianer beiderlei Geschlechts von Dorf zu Dorf gingen und nach der alten nigerianischen Tradition der »Arokin« (=Märchenerzähler) ihre Märchen in afrikanischen Sprachen erzählten. In dieser Form ist diese Tradition aber heute verloren, aber sie hat sich in den »geschützten« religiösen Gemeinden erhalten und wird durch die Religion weitertradiert. Dies können wir deutlich feststellen anhand des unteren Ausschnittes einer Danksagung des »Alapini« und afrobrasilianischen Autors und Künstlers Deoscûredes M. dos Santos, genannt »Mestre Didi« (*1917), die er bei der »II. ConferÞncia Mundial da Tradiżo dos Orix‚s e Cultura« in Salvador (Bahia) im Jahre 1983 an die Oberpriesterinnen

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Literatur

des Candombl¦s von Bahia gerichtet hat (vgl. auch seine »Contos negros da Bahia« und »O iorub‚ tal qual se fala«, 1950): Hierbei erkennen wir die oralliterarische Tradition der Afrobrasilianer, die in Gesang, !Mythen, Märchen, Gebeten, etc., z. T. in afrikanischer !Sprache noch lebendig ist. Iya o bogunde Omo Xangú E ma be ru j‚ Iya os‚ o Eni ma be oris¼ Aiye b’ode

A guerra trouxe a m¼e Bogunde Filha de Xangú que chegou com a guerra Mas teme a guerra A m¼e perdeu o medo Roguemos aos Orix‚s Para que a alegria se expanda no mundo

Der Krieg brachte die Mutter Xangús Tochter, die mit dem Krieg kam Aber sie fürchtete den Krieg Die Mutter hat die Angst verloren Flehen wir zu den Göttern Damit die Freude sich in der Welt ausbreitet.

Innerhalb dieser oralen Tradition finden wir beispielsweise Protestlyrik aus der Sklavereizeit, die an der Nordostküste aufgezeichnet wurde, wie der untere »Quilombo-Tanz«, der eine Erinnerung an den »Quilombo dos Palmares« im 17. Jh. enthält. Die »Quilombo-Tänze« sind Bestandteile eines im Nordosten immer noch verbreiteten dramatischen Tanz-Epos. Alegra negú branco n¼o vem mais aqui. E se vi¦, cai de pau nele.

Freu’ dich, »Neger«! Weißer kommt nicht mehr her. Käm’ er dennoch steckt’ er Prügel ein.

C–mara Cascudo (1976, 1978) weist nach, daß über 80 % der oral afrikanischen Traditionen Brasiliens den Yoruba-Nagús, einer sudanesischen Sprach- und Kulturgruppe, zuzuschreiben sind. Diese sprachliche und kulturelle Tradition ist sogar dort zu finden, wo es kaum Yorub‚ Ansiedlungen gibt. Die Darstellung der Afrobrasilianer: Die Beschäftigung mit den Afrobrasilianern in der Literatur lag jahrhundertelang in den Händen der brasilianischen und europäischen Elite. Die christlichen Missionare waren die ersten, die über Anzahl, Lebenssituation, Sprache, Sitten und Gebräuche der Afrikaner in Brasilien in ihren Briefen und Abhandlungen berichteten, wie z. B. Raymond S. Sayers (1958) dargestellt hat. Andererseits war es die bürgerliche Elite, die sich mit dieser Bevölkerungsgruppe befaßte: Sie beherrschten die Schrift-Sprache und alle anderen sozialen, ökonomischen und politischen Bereiche der Gesellschaft, darunter auch das Leben ihrer Untergebenen und Sklaven. Unabhängig von ihrem Reichtum besaßen sie etwas, was den Nicht-Weißen verweigert wurde, nämlich die Freiheit des Handelns, Denkens und Schreibens. In dieser, sich an dem europäischen Stil orientierenden Literatur Brasiliens,

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beobachten wir eine ausgesprochene Tendenz zum »Zoomorphismus« der Afrobrasilianer. In der herrschenden Stellung der Weißen in der damaligen Gesellschaft, als Sklaven- bzw. Menschenbesitzer, betrachteten die Weißen die Afrobrasilianer ausschließlich aus einer einseitigen Perspektive heraus. Diese pervertierte Degradierung der afrikanischen Menschen in Sklaven/Dinge im Sklavereisystem wurde in der Literatur bis Anfang der Sklavenbefreiungsbewegung nicht kritisch analysiert. Die Afrikaner Brasiliens wurden dargestellt entweder als Tiere, die nur durch ihren Instinkt handeln können und deshalb unter Kontrolle gehalten werden müssen – hierbei wurde der bestialische, unkontrollierte Sexualinstinkt dieser Bevölkerung an erster Stelle gebrandmarkt – oder sie wurden als dumme, halbe Haustiere dargestellt, die gehorchend auf das eigene Ich verzichten, um das Ich des Besitzers zu werden. Dieses letzte Merkmal finden wir oft in der Darstellung von Sklaven oder sogar beireits freigelassenen Afrobrasilianern, die gegenüber ihren Besitzern nur in der dritten Person des Singulars sprechen, wie beispielsweise der Sklave Raimundo in Machado de Assis (1839 – 1908) Roman »Iai‚ Garcias«, der sagt: »Raimundo gut! Raimundo ist Iai‚s Freund… Hoch Raimundo!« Die Unterwerfung der Afrobrasilianer paßte hier völlig zu der pseudo-paternalistischen Haltung der Besitzer. Im Zuge der Sklavenbefreiungsbewegung und ab der !Abolition nahmen sich zahlreiche Weiße und afrobras. Autoren des Themas der Sklaverei und der Situation der Afrobrasilianer als zentralem Bestandteil ihrer Literatur an: Castro Alves (1847 – 1871), der auch »Poeta dos Escravos« genannt wird u. a. wegen seiner Gedichte »Sklavenschiff« und »Stimmen aus Afrika«, Jorge de Lima (1895 – 1953), Bernardo Guimar¼es (1825 – 1884) und Lima Barreto (1881 – 1922) sind einige von ihnen (vgl. hierzu die zweibändige Ausg. »O Rio de Janeiro de Lima Barreto«, 1983). Die offizielle brasilianische (weiße) Literatur stellte jedoch in keiner Weise die Unterschiede und Hierarchisierung innerhalb der Gesellschaft kritisch dar, die aufgrund der !Hautfarbe bzw. ethnischen Zugehörigkeit in Brasilien existieren. Auch die Literatur des brasilianischen Modernismus, die eine Redefinition des Ästhetischen versuchte, ließ dennoch keine Anzeichen für eine neue Definition der Situation und Darstellung der Afrobrasilianer in ihrer Literatur erkennen. Die Repräsentation der sozialen Realität in dieser Literatur läßt immer noch die Lebensbedingungen, Emotionen und Deprivationen der Afrobrasilianer vollkommen außer acht und stellt sie in der Regel noch voller Stereotypisierungen dar. Einige brasilianische Schriftsteller, die sich der brasilianischen Kultur verpflichtet fühlen und den afrobrasilianischen Beitrag als bedeutend erleben, nahmen auch Aspekte, Themen, Geschichte und Problematiken dieser Kultur und Bevölkerung in ihre Literatur auf, ohne diese abzuwehrten, sondern um einen Teil der brasilianischen Realität zu erfassen, wie beispielsweise Josu¦ de Sousa Montello (1917 – 2006) in »Os tambores de S¼o Lu†s« (= Die Trommeln

Literatur

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von S¼o Lu†s). Zweifelsohne ist aber der bedeutendste Schriftsteller in diesem Sinne Jorge Amado (1912 – 2001): In fast allen seinen Romanen, aber insbesondere in »Tenda dos Milagres« (= Bazar der Wunder) und »Jubiab‚«, werden die Geschichte, Situation, Integration, Problematik, der Glauben und der ! Rassismus deutlich thematisiert. Die Afrobrasilianer durch die Afrobrasilianer: Sobald die bewußten afrobrasilianischen Autoren sich durch ihre Herkunft leiten lassen, entsteht ein neues Bild der Afrobrasilianer in der Literatur. Die These der rassischen Minderwertigkeit, die Unterwerfung unter die Weißen, die Animalisierung und Charakterdeformierung, die früher die Sichtweise der Eliten bestimmte, wird korrigiert. Der erste bedeutende afrobrasilianische Autor in diesem Sinne war Luiz Gama (1830 – 1882), Sohn der um 1812 freigelassenen Nagú-Sklavin Luiza Mahin, die in verschiedene Sklavenrevolten (»Sabinada« und als eine der Führerinnen in der »Revolta dos MalÞs«, 1835) verwickelt war (und zur !Strafe wahrscheinlich nach Afrika deportiert wurde, vgl. Lopes, 2006:100) und eines portugiesischen Vaters, der den Sohn im Alter von 10 Jahre als Sklave verkaufte, um seine Spielschulden zu bezahlen. Luiz Gama wurde Laienanwalt, weil er wegen der Rassendiskriminierungen die juristische Fakultät nicht besuchen durfte. Seine Aufgabe sah er in der Verteidigung von Sklaven und in der Bekämpfung der Sklaverei. Dieser hervorragende Redner, satirische Dichter und Journalist leitete eine neue soziale Bewegung, nämlich die Kampagne für die Abschaffung der Sklaverei ein (!abolicionismo). Cruz e Souza (1861 – 1898), Sohn freigelassener Sklaven und der bedeutendste Dichter des brasilianischen Symbolismus und Solano Trindade (1908 – 1974) sind zwei der wichtigsten Vertreter dieser bewußten afrobrasilianischen Literatur und sie gelten als Wegbereiter der modernen afrobrasilianischen Literatur. Der letztere in seinem klaren Bewußtsein von Klasse und Ethnizität entmystifiziert das Bild der Afrobrasilianer : Weder fügsam, noch Bestie! Die Schwarzen sind für ihn vor allem Menschen und als solche fähig zu allen Taten und Gefühlen. Er gibt den Afrobrasilianern durch seine Dichtung wieder die Möglichkeit würdige Menschen zu sein, wie z. B. aus dem unten angeführten Poem »Negros« deutlich wird. Seine anderen Themen waren u. a. soziale Proteste und Anklagen gegen Ungerechtigkeit (was ihn auch ins Gefängnis brachte) und sein entschiedenes Eintreten für die Unterdrückten. Negros que escravizam e vendem negros na Ýfrica n¼o s¼o meus irm¼os. Negros senhores na Am¦rica

Negros, die versklaven und Negros in Afrika verkaufen sind nicht meine Brüder. Negros Herren in Amerika

296 a serviÅo do capital n¼o s¼o meus irm¼os. Negros opressores em qualquer parte do mundo n¼o s¼o meus irm¼os. Sû os negros oprimidos escravizados em luta por liberdade s¼o meus irm¼os. Para estes tenho um poema grande como o Nilo.

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im Dienste des Kapitals sind nicht meine Brüder. Negros Unterdrücker in jeglichem Teil der Welt sind nicht meine Brüder. Nur die unterdrückten Negros die versklavten im Kampf für Freiheit sind meine Brüder. Für diese habe ich ein Poem so groß wie der Nil.

Zeitgenössische afrobrasilianische Literatur: Unter den zeitgenössischen afrobrasilianischen Autoren sind die Namen El¦ Semog, Oswaldo Camargo, Cuti (Luiz Silva), Geni Guimar¼es, Miriam Alves, Carlos Assumpżo, Muniz Sodr¦, Jos¦ Carlos Limeira und Conceiżo Evaristo, u. a. die herausragendsten. Sowohl in der Dichtung als auch in der tiefgehenden Prosa verdeutlichen sie ihre Bindung an die Geschichte und aktuelle Situation der afrobrasilianischen Bevölkerung in ihren positiven und negativen Emotionen im Rahmen einer in verschiedenen Formen unterdrückenden Gesellschaft. Diese Autoren übernehmen die Rolle die bestehende Gesellschaftsstruktur zu hinterfragen und sich kritisch mit den sozialen, ökonomischen und politischen Werten dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen. Zusammenfassend stellt diese Literatur eine Sozialkritik und einen tiefen Protest der Afrobrasilianer gegen ! Rassismus, Sexismus, !Diskriminierung, !Kolonialismus, !Vorurteile und Kapitalismus dar. Ihre wichtigste Funktion besteht darin, für die sprachlosen, unterdrückten und marginalisierten Afrobrasilianer die Stimme zu erheben und ihnen eine Sprache zu geben. Die modernen afrobrasilianischen Autoren stammen sozio-ökonomisch aus einfachen Arbeiterfamilien im ländlichen Bereich oder aus der Pheripherie der Großstädte ab. Ihre Lebensgeschichte unterscheidet sich kaum von der der Mehrzahl der afrobrasilianischen Bevölkerung, deshalb auch ihre Feinfühligkeit in der Behandlung der Themen. Sie schreiben über das, was sie selbst und ihre nächsten Verwandten erlebt haben und über das, was sie in den Geschichten der Eltern und Großeltern gehört haben. Hier handelt es sich um eine ebenbürtige Erfahrung und eine menschlich sehr wertvolle Literatur. Sowohl in der afrobrasilianischen Dichtung als auch in der Prosa geht es um die Erfahrung »Afrobrasilianer zu sein« in einer ethnischen geteilten, diskriminierenden und hierarchisierten Gesellschaft, wie aus dem folgenden Gedicht von Lourdes Teodoro »Balada del que nunca fu¦ a Palmares« zu erkennen ist.

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Literatur

Somos pivetes, balconistas, assaltantes, e quantos mais que de Palmares nem ares que de Palmares sû os ais

Wir sind Straßenjungen Verkäufer Straßendiebe und so von Palmares keinen Dunst von Palmares nur den Schmerz

helicûpteros, errep¦s, patrulhas, volks-w, sobre favelas, baixadas, vilas e areais, metralhadoras, trinta e oitos pistolas e pontap¦s, socos e beliscþes. Salve 20 de Novembro

Hubschrauber Funkstreifen Patrouillen Volkswagen über Favelas und Vororten Außenbezirken, Armenvierteln Maschinengewehre Kaliber achtunddreißig Pistolen und Fußtritte Schläge und Kniffe. Hoch lebe der 20. November

eu, de Palmares, nem os ares, eu, de Palmares, sû os ais.

und ich, von Palmares keinen Dunst von Palmares nur den Schmerz.

In erster Linie befaßt sich die zeitgenössische afrobrasilianische Literatur mit sozialer Ungerechtigkeit, mit Rassendiskriminierung, mit der Geschichte, mit der Suche nach eigenen Werten und einer eigenen Identität, mit Afrika, mit den afrobrasilianischen !Religionen und mit den kulturellen Elementen dieser Bevölkerunggruppe, mit dem Überlebenskampf, mit Armut, Segregation, mit Selbstmitleid, Ironie, Aggression, Selbstbewußtsein und Stolz. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen ist sehr realistisch und psychologisch einfühlsam. Hierbei geht es ebenfalls um die Vermittlung von afrobrasilianischen Werten, kultureller Bindung und Weltanschauung. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Erwähnung der »Cadernos Negros«. Diese Publikationsreihe, die seit 1978 im Jahresrhythmus und mit einer Auflage von 1000 Exemplaren erscheint, trug entscheidend zur Verbreitung der afrobrasilianischen zeitgenössischen Literatur bei. Die »Cadernos Negros« wurden gegründet durch eine Gruppe von afrobrasilianischen Autoren aus unterschiedlichen Teilen Brasiliens, die sich zu einem Kollektiv zusammenschlossen und die Kosten der Reihe selbst trugen. Die »Cadernos Negros« sind heute ein wichtiges öffentliches Medium zur Verbreitung dieser Literatur und für den Zugang junger Autoren (vgl. auch »Quilombhoje«, S¼o Paulo; »Nergr†cia«, Rio de Janeiro und »Gens« in Salvador/BA).

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Afrobrasilianische Kinderliteratur: Die afrobrasilianische Kinderliteratur ist ein stark vernachlässigter literarischer Bereich, obwohl es seit dem letzten Jahrzehnt eine kaum sichtbare eigenständige afrobrasilianische Kinderliteratur auf dem Büchermarkt gibt. Diese Bücher befassen sich ebenfalls mit Themen der sozialen Realität der Kinder (z. B. Armut), mit ihrer ethnischen Diskriminierung und deren Verarbeitungstrategien sowie mit der Gefährdung der Kinder hinsichtlich der Drogen und Gewalt. Ein wesentlicher Aspekt der afrobrasilianischen Kinderliteratur sind die ! Mythen, Erzählungen, Fabeln und »lendas«, die noch sehr mit Afrika verbunden sind. Auch die Geschichte der Orix‚s, ihre Aufgaben und Botschaften an die Menschen spielen in der aktuellen afrobrasilianischen Kinderliteratur eine große Rolle. Dadurch sollen die afrobrasilianischen Kinder sozialisiert werden durch vorurteilungsfreie Darstellungen der afrobrasilianischen Religionen, um dadurch Schamgefühl und kulturelle Selbstentwertung bei den Kindern zu vermeiden und ihr Selbstbewußtsein zu entwicklen. Vorwiegend ist die afrobrasilianische Kinderliteratur weiterhin oral, was zu einer afrobrasilianischen Tradition gehört. Ein wesentliches Problem dieser Literaturrichtung besteht darin, daß die Mehrzahl der afrobrasilianischen Eltern weder die !Bildung noch die finanzielle Möglichkeit besitzen diese Literatur zu erwerben. Außerdem lassen sich nur schwer interessierte Verlage für die Veröffentlichung finden. Afrobrasilianische Kinderliteratur ist kein Bestandteil der schulischen Curricula in Brasilien, obwohl dies von fundamentaler Bedeutung wäre, da die afrobrasilianischen Kindern immer wieder mit in den !Schulbüchern enthaltenen Vorurteilen und Diskriminierungen während des Unterrichts konfrontiert werden und darin vor allem eine negative Darstellung ihrer Kultur erleben. !Bibliografien !interkulturelle Philosophie !Mythen und Märchen ! N¦gritude !Teatro experimental do Negro A. R. Callado (1957): Pedro Mico, o zumbi da catacumba. Rio de Janeiro; S. Sayers (1958): O negro na literatura brasileira. Rio de Janeiro; ders. (1978): The black poet in Brazil: the case of Jo¼o Cruz e Souza. Luso-Brazilian Review (Madison), 15, p. 75 – 100; A. Amoroso Lima (1959): Quadro sint¦tico da literatura brasileira. Rio de Janeiro (2.ed.); O. M. Carpeaux (1967): Pequena bibliograf†a cr†tica da literatura brasileira. Rio de Janeiro; C. Nunes (1972): A poesia negra no modernismo brasileiro. Cultura (Bras†lia), 2(5), p. 117 – 123; J. Jahn (Hrsg.) (1973): Schwarzer Orpheus. Moderne Dichtung afrikanischer Völker beider Hemisphären. München; J. Montello (1976/80): A escravid¼o na literatura brasileira. Anu‚rio do Museu Imperial (Petrûpolis), 37/41, p. 105 – 119; J. Monstapha Bangoura (1976): Le noir dans la soci¦t¦ br¦silienne a travers les romans de Jorge Amado. Doctorat. Universit¦ de Montpellier III; M. Ellis (1977): O caf¦. Literatura e histûria. S¼o Paulo; J. Barrento (1978): Obras alem¼s em tradużo portuguesa. Uma bibliograf†a (1945 – 1978). Bonn: Inter Nationes; S. Romero (1980): Histûria da literatura brasileira. 5 vol.s. Rio de

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Janeiro; M. Z. Pereira Cury (1981): Um mulato no reino de jambom: as classes sociais na obra de Lima Barreto. S¼o Paulo; A. C–ndido (1981): Formażo da literatura brasileira (momentos descisivos). Belo Horizonte; K.-M. Schreiner (Hrsg.) (1982): Zitronengras. Neue brasilianische Erzähler. Ein Lesebuch. Hamburg; T. de Queiroz Jfflnior (1982): Preconceito de cor e a mulata na literatura brasileira. S¼o Paulo; V. L. Benedito (1982): As literaturas afro-brasileiras: a procura da identidade nacional ou racial? Cultura (SP), 1(4/ 5), p. 77 – 83; H. Stubbe (1983): Der »Alienista« des Machado de Assis (1882). Eine brasilianische Anti-Psychiatrie des 19. Jh.s. Iberoamericana, 19/20, S. 86 – 100 (port. In: Humboldt, 51, 1985:33 – 44); D. T. Haberly (1983): Three sad races. Racial identity and national consciousness in Brazilian literature. Cambridge; G. Lorenz (1983): MythenMärchen-Moritaten. Orale und traditionelle Literatur in Brasilien. Zeitschrift für Kulturaustausch, 33,1; J. M. Luyten (1983): O que ¦ literatura popular. S¼o Paulo (5.ed.); D. Brookshaw (1983): RaÅa e cor na literatura brasileira. Porto Alegre; M. Strausfeld (Hrsg.) (1984): Brasilianische Literatur. Frankfurt/M.; M. C. Eakin (1985): Race and identity : Silvio Romero, science and social thought in the late 19th century Brazil. Luso-Brazilian Review (Madison), 22(2), p. 151 – 174; Z. Bernd (1986): Bibliografia espec†fica sobre literatura negra no Brasil. Revista de Antropologia (SP), (29), p. 175 – 183; dies. (1987): Negritude e literatura na Am¦rica Latina. Porto Alegre; dies. (1988): Antologia de poes†a negra brasileira – Cem anos de consciÞncia negra no Brasil. Bras†lia; dies. (1988): Introdużo — literatura negra. S¼o Paulo; R. H. Duarte (1988): Imagens liter‚rias da escravid¼o: o romance de Avelino Foscolo. Revista do Departamento de Histûria (Belo Horizonte), (6), p. 129 – 136; T. J. Machado da Silva (1988): Os personagens negros na literatura infantojuvenil brasileira. Contexto & Educażo (Iju†), 3(12), p. 40 – 43; B. Gouveia Damasceno (1988): Poesia negra no modernismo Brasileiro. Campinas; L. A. Wizniewsky (1988): O negro na literatura brasileira: uma leitura diacrúnica. Contexto & Educażo (Iju†), 3(12), p. 33 – 39; H. Toller Gomes (1988): O negro e o romantismo brasileiro. S¼o Paulo; M. Parente Augel (1988): Schwarze Poesie. Poesia negra. St. Gallen; dies. (1993): Schwarze Prosa. Prosa negra. St. Gallen; O. de Jesus Santos & M. Vianna (1989): O negro na literatura de cordel. Rio de Janeiro: Fund. Casa de Rui Barbosa; G. Melo do Nascimento (1990): Machado de Assis: trÞs momentos negros. Rio de Janeiro: UFRJ; STERZ. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kulturpolitik, Nr. 71/72: Lusofones Afrika. Graz; IPHAN (1997): Negro Brasileiro Negro. Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N8 25; J. M. Carvalho FranÅa (1998): Imagens do negro na literatura brasileira. S¼o Paulo; ABP. Zeitschrift zur portugiesischsprachigen Welt (2001): Brasilien an der Schwelle zum dritten Jahrtausend: Religion, Medien, Film, Literatur. ABP (Frankfurt/M.), Heft 4; R. Prandi (2004): OxumarÞ, o Arco-Iris. Mais histûrias dos deuses africanos que vieram para o Brasil como escravos. S¼o Paulo; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; ABP. Jahrbuch zur portugiesischsprachigen Welt: Lusophone Literaturen und Kulturen im Kontakt. Frankfurt/M.: IKO, 2006; E. Rocha (2010): Racism in novels. A comparative study of Brazilian and South American cultural history. Cambridge

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Maconha (auch: cannabis sativa, diamba, liamba, fumo d’Angola) Allgemein: Wirksubstanz aus dem indischen Hanf (cannabis sativa), durch welche ein H.rausch erzeugt werden kann. Chemisch handelt es sich im Wesentlichen um Tetrahydrocannabinole, die sich im Harz von Blättern, Stengeln und einigen Teilen der Blütenstände befinden. H. war bereits in der europ. Antike bekannt. Der H.rausch (meist durch Rauchen erreicht) beginnt wenige Minuten nach Beginn der Einnahme und erreicht sein Maximum ca. 30 – 60 Minuten und endet nach 3 – 5 Stunden. Gewöhnlich im Beginn Gefühl der Entspannung und des Abrückens von den Alltagsproblemen, der angenehmen Apathie und milden Euphorie. Manchmal auch Kichern, Lachen und alberne Lustigkeit, aber auch ängstliche Unruhe bis zur Panikangst. Infolge stark gelockerter Phantasitätigkeit und subjektiv beglückenden Assoziationen läuft ein »Bilderschnellzug« (K. Beringer, 1927) vor dem sich mitgerissen fühlenden Berauschten ab. Von den Jugendlichen in westlichen Gesellschaften, die H. rauchen, gelangen etwa 10 % zu ständiger H.sucht (H. ist jedoch oftmals auch ›Durchgangsdroge‹). Von der WHO wurde 1964 der Cannabis-Typ als Drogenabhängigkeit definiert. Weltweit geht man von 100 Mio. regelmäßigen Konsumenten aus. Maconha in Brasilien: Die M. stammt nicht aus Brasilien, sondern aus Afrika und wurde nach Angaben des Ethnomediziners Maynard Araffljo (1979:257ff) durch afrikanische Sklaven aus Angola nach Brasilien gebracht. »C‚ e l‚ os negros a usavam como agente inebriante, estupefaciente. Ê sabido que essa planta da fam†lia das sativas nunca foi explorada no Brasil para fins farmacÞuticos e mesmo industriais (fibra tÞxtil) e sim fumada, mascada, bebida em infus¼o ou aspirada. Seu uso ¦ bastante

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difundido na comunidade, principalmente entre as pessoas da classe destitu†da de fortuna. S¼o pessoas muito pobres e sem instrużo.« (Araffljo, 1979:257) In dem älteren vom Gesundheitsministerium 1958 herausgegebenen und mit !Fotografien versehenen (historisch interessanten) Sammelband werden alle in Brasilien damals bekannten (vor allem gesundheitliche) Aspekte der m. behandelt. Heute wird wie in Europa und Brasilien über die Legalisierung der m. diskutiert. !Alkoholismus !Gesundheit !Phytotherapie !Tabak Maconha. Colet–nea de trabalhos brasileiros. ServiÅo Nacional de Educażo Sanit‚ria. Minist¦rio da Safflde, Rio de Janeiro, 1958 (2.ed.); W. A. Emboden (1972): Ritual use of cannabis sativa L.: A historical-ethnographic survey. In: P. T. Furst (ed.), Flesh of the gods. New York; V. Rubin (1975): Cannabis and culture. Den Haag; A. Maynard Araffljo (1979): Medicina rfflstica. S¼o Paulo; G. Völger (Hrsg.) (1981): Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich. 2. Bd.e. Köln; M. Weintraub (1983). Sonhos e sombras. A realidade da maconha. S¼o Paulo; J. C¦sar Adiala (1986): O problema da maconha no Brasil: ensaio sobre racismo e drogas. Rio de Janeiro: IUPERJ (S¦rie Estudos, 52); M. Gastpar, K. Mann & H. Rommelspacher (Hrsg.) (1999): Lehrbuch der Suchterkrankungen. Stuttgart; B. van Treek (2000): Das große Cannabis-Lexikon. Berlin

Macumba (bantu = Baum; aber auch im Kimbundo: afrikanisches Musikinstrument; ma = alles, was erschreckt, kumba = klingen, erschreckender Ton) Afrobrasilianische (synkretistische) Religion in Rio de Janeiro, die sich aus dem Nagú ableitet. In der M. haben Heilige keinen Platz. Dafür sind die mit Kreide auf die Erde gemalten Figuren (pontos riscados) von Bedeutung. Sie sollen die ! Geister herbeirufen. Heute ist die M. weitgehend in der !Umbanda aufgegangen. In Rio de Janeiro versteht man unter M. auch eine »schwarze« (Schadens-) Magie (feitiÅar†a, despacho). !Candombl¦ !Wodu !Zauber D. Belfort de Mattos (1938): As macumbas em S¼o Paulo. Revista do Arquivo Municipal, ano V, vol. XLIX, p. 151 – 160; D. Teixeira Montero (1955): A macumba em Vitûria. Anais do XXXI Congresso Internacional de Americanistas, S¼o Paulo; O. G. Cacciatore (1977): Dicion‚rio de cultos afro-brasileiros. Rio de Janeiro; S. Bramly (1978): Macumba, die magische Religion Brasiliens. Freiburg/Brsg.; H. Stubbe (1979): Ethnopsychiatrie in Brasilien. Social Psychiatry, 14, 1979:187 – 195; ders. (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien Berlin; A. Pollak-Eltz (1995): Trommel und Trance. Die afroamerikanischen Religionen. Freiburg/Brsg.; A. Reuter (2002): Voodoo und andere afro-amerikanische Religionen. München

Made in Afrika

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Made in Afrika Was wurde aus Afrika nach Brasilien gebracht? »Made in Africa«, so lautet der originelle Titel eines Buches von Luis da C–mara Cascudo (1965). Darin führt Cascudo folgendes auf: die banana (vgl. auch: Friederici, 1947:74 f), Sereias de Angola (Sirenen), o reinho do Congo, a rainha Jinga, der papagaio cinzento de Cabinda (vgl. auch: Friederici, 1947:476 f), der Lundu-Tanz, anan‚s (vgl. auch: Friederici, 1947:51), !cafun¦, die »Nilotenstellung« (vgl. auch: Panoff & Perrin, 1975:220), die saudażo africana, farofa (!Küche), !Zumbi, recado ao morto, Umbigada-Tanz, o nome bonito (!Namen) etc. Es bestand jedoch über die Jahrhunderte ein wechselseitiger kultureller und ökonomischer Austausch zwischen Afrika und Brasilien. So charakterisiert C–mara Cascudo denn auch richtig sein Buch: »Este livro tem uma unidade: Brasil n’Ýfrica e Ýfrica no Brasil« (C–mara Cascudo, 1965:2). Nicht nur afrikanische Sklaven, sondern mit ihnen auch Gegenstände, Pflanzen, Tiere, Worte, Speisen, Ideen, Techniken, Religionen, Gesänge, Spiele, Tänze etc. kamen nach Brasilien. Man kann deshalb ohne Übertreibung in Amerika/Brasilien von einer »Welt, die von afrikanischen Sklaven geschaffen wurde«, sprechen (vgl. Genovese & Roll, 1974). Andere Autoren, wie Arthur Ramos (1935), Diegues Junior (1977,1997:10 – 27 in: IPHAN) und Nei Lopes (2003, 2006) beschreiben anhand vieler Beispiele die Bedeutung der Afrobrasilianer im geistigen Leben, in den Wissenschaften, in der !Literatur, in den bildenden Künsten, in der !Musik, im !Theater, im ! Tanz, im !Film und im !Sport auf. !Afrobrasilianismen !Anhang !Bibliografien !Fluxus und Refluxus ! Folklore !Kultur !Kunst !maconha !Musik !Religion !Samba ! Sprachen !Tanz R. de Carvalho (1933): Aspectos da influÞncia africana na formażo do Brasil. Novos estudos afro-brasileiros (Rio de Janeiro); A. Ramos (1935): As culturas negras no Novo Mundo. S¼o Paulo (1979, 4.ed.); M. R. Querino (1938): Costumes africanos no Brasil. Rio de Janeiro; N. de Sena (1938): Africanos no Brasil – Estudos sobre negros africanos e influÞncias afro-negras sobre a linguagem e os costumes do povo brasileiro. Belo Horizonte; J. Dornas-Filho (1943): A influÞncia social do negro brasileiro. Curitiba; A. Ramos (s.d.): O negro na civilizażo brasileira. Coleżo Arthur Ramos. Rio de Janeiro; O. Alvarenga (1946): A influÞncia negra na mfflsica brasileira. Boletim Latino-Americano de Mfflsica (Rio de Janeiro), tomo VI, 1.parte, abril; G. Friederici (1947): Amerikanistisches Wörterbuch. Hamburg; M. N. Pereira (1947): A Casa das Minas – Contribuiżo ao estudo das sobrevivÞncias daomeianas. Soc. Bras. de Antropologia e Etnologia; A. Duarte (1952): SobrevivÞncia do culto da serpente (Danhgbi) nas Alagoas. Revista do Instituto Histûrico de Alagoas (Maceiû), XXVI; M. Diegues Junior (1956): Etnias e culturas no Brasil. Rio de Janeiro; L. da C–mara Cascudo (1958): A influÞncia africana na ludica infantil brasileira. Em: SuperstiÅþes e costumes. Rio de Janeiro; ders. (1965): Made in Africa. Rio de Janeiro;

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R. Bastide (1967): African civilizations in the New World. New York; E. D. Genovese & J. Roll (1974): The world the slaves made. New York (bras. Ausg. Rio de Janeiro, 1988); M. Panoff & M. Perrin (1975): Taschenwörterbuch der Ethnologie. München; Babalao Yai Olabiyi (1976): Aspectos particulares da influÞncia das culturas nigerianas no Brasil em literatura, folclore e linguagem. Cultura (Bras†lia), 6(23), p. 94 – 100; K. Wa Mukuna (1977): O contato musical transatl–ntico. Contribuiżo bantu na mfflsica popular brasileira. Doutorado. S¼o Paulo: USP-FFLCH; ders. (s.d., ca. 1977): Contribuiżo bantu na mfflsica popular brasileira. S¼o Paulo: Global; M. Moreno Fraginals (1977): Africa en America Latina. M¦xico: UNESCO; G. Kubik (1979): Angolan traits in black music, games and dances of Brazil. Estudos de Antropologia Cultural, 10. Lisboa: Junta de InvestigaÅþes Cient†ficas do Ultramar ; A. da M. Machado Filho (1985): O negro e o garimpo em Minas Gerais. S¼o Paulo; A. Jacobina Lacombe (1988): A influÞncia da cultura africana no Brasil. Communio (RJ), 7(41), p. 406 – 420; B. Gûis Dantas (1988): Vovû nagú e papai branco: usos e abusos da Ýfrica no Brasil. Rio de Janeiro; M. Chr. C. Wissenbach (1988): Arranjos de sobrevivÞncia de escravos na cidade de S¼o Paulo do s¦c. XIX. Revista de Histûria (USP), 119; Hamburgisches Museum für Völkerkunde (1992): Afrika in Amerika. Katalog. Hamburg; S. Price (1992): Primitive Kunst in zivilisierten Welten. Frankfurt/M.; C. Vogt & P. Fry (1996): Cafundû. A Ýfrica no Brasil. S¼o Paulo; IPHAN (1997): Negro Brasileiro Negro. Revista do Patrimúnio Histûrico e Artistico Nacional, N8 25; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Maroon (vom span. cimarron = frei, wild, unabhängig) Der Begriff M. wurde zunächst auf entlaufene Haustiere angewandt, und die Bezeichnung fand später im Kontext der Menschenhaltung bald Verwendung für entflohene Sklaven (vgl. Friederici, 1947:191 f). Im frz. Sprachgebrauch setzte sich die Unterscheidung in »petite marronage« und »grande marronage« durch. Erstere meinte eine kurzfristige Entfernung von der Sklavenhalter-Plantage, etwa für Verwandtenbesuche oder andere Sozialkontakte unter den Sklaven. Die »grande marronage« bezog sich auf die Gemeinschaftsbildung entlaufener Sklaven im Hinterland und ihre Bereitschaft zum bewaffneten Kampf gegen die Plantokratie – die Herrschaft der Plantagenbesitzer. Im port. Sprachraum spricht man bei dieser Form von !Quilombo. Maroon-Gesellschaften stehen trotz ihrer geringen Größe im Mittelpunkt des sozialhistorischen Interesses der Lateinamerikaforschung. Beinahe überall wo es Sklaverei gab, bildeten sich auch Maroon-Gemeinschaften. In H. C. Yarrows »Indianische Totenriten« (1879) findet sich in einer Fußnote (295) ein Hinweis auf die »Sambo« an der atlantischen Küste Nicaraguas: »Dieser Stamm unterscheidet sich von den überwiegend indigenen Tawira Miskitu oder Wangki (›die Glatthaarigen‹) durch eine starke afro-kreolische Vermischung. Diese ist auf ein Sklavenschiff zurückzuführen, das an der Küste strandete. Die überlebenden Afrikaner vermischten

Maske

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sich mit dem Indianerstamm und bildeten die Sambo oder Zambo (eine abfällige Bezeichnung der Spanier für afro-indianische ›Mischlinge‹). Dieser Stamm wurde zum Traum und Fluchtziel vieler weiterer Sklaven.« (Yarrow, 2010:186). Der Ethnologe Miguel Barnet (1969) hat die abenteuerliche Lebensgeschichte des 104 Jahre alten ehemaligen kubanischen Sklaven Esteban Montejo (Mesa) nach Tonbandaufnahmen nacherzählt. Sie wurde von dem Komponisten Hans Werner Henze (*1926) in ein »Rezital für vier Musiker : Sänger, Flötist, Guitarrist und Perkussionist« (1969) schöpferisch umgewandelt. Die Maroon-Gesellschaften auf Jamaica hat Zips kürzlich umfassend bearbeitet. !Biografien !Quilombo !Sklaverei H. C. Yarrow (1879, 2010): Indianische Totenriten. Uhlstädt-Kirchhasel; G. Friederici (1947): Amerikanistisches Wörterbuch. Hamburg; M. Barnet (Hrsg.) (1969): Der Cimarrûn. Die Lebensgeschichte eines entflohenen Negersklaven aus Cuba, von ihm selbst erzählt. Frankfurt/M.; Museum für Völkerkunde (Hamburg) (1992): Afrika in Amerika. Hamburg; R. Zoller (Hg.) (1994): Amerikaner wider Willen. Beiträge zur Sklaverei in Lateinamerika. Lateinamerika Studien 32; W. Zips (2003): Gerechtigkeit unter dem Mangobaum. Wien

Maske (arab. maskhara = Possenreißer; auch: Larve, von lat. larva = Geist, Gespenst, Maske; Gesichtsbemalung, Verkleidung; máscara) Man unterscheidet formal nur das Gesicht verhüllende (plastische und Schmink-Masken), sowie Ganzkörpermasken (Maskenkostüme). Ihre weltweite Verwendung ist vielfältig z. B. für den Kult, die Jagd, den Krieg, das Theater etc. M. sollen durch Unkenntlichmachung vor gefahrdrohenden Dämonen schützen, Feinde erschrecken, aber auch die den dargestellten Wesen eignenden Kräfte auf sich selber, zur Veränderung des eigenen Wesens und zur Neubestimmung der individuellen Identität überleiten. Neuere ethnologische Studien weisen darauf hin, daß der Sammelbegriff »M.« ein westliches Konzept ist, unter dem (Kult-)Objekte aus dem Anwendungskontext isoliert werden (Pernet, 1992). Ein an musealer Praxis gebildeter Begriff der M. schließt alle jene Fälle aus, in denen M. nur für die Dauer des Kultes, für den sie hergestellt und getragen wird, Bestand hat. Außerdem gibt es Fälle, in denen M. als Kultgegenstände die Anwesenheit von Göttern während einer Zeremonie vergegenwärtigen, ohne je getragen zu werden. In diesem Sinne lassen sich M. als Darstellungsmittel kollektiver Repräsentationen interpretieren. In den traditionellen afrikanischen aber auch indianischen Kulturen spielen M. eine bedeutende Rolle. Unseres Wissens nach wurden (die in Afrika weit verbreiteten) Maskenkulte in Brasilien aus rel. Gründen untersagt (Ausnahme: »Indianer«; vgl. z. B. Koch-

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Grünberg, 1923; C–mara Cascudo, 1980:480 f; Baer, 1989). Eisen-M. dienten in der Sklavereizeit auch als Strafinstrumente (m‚scara) (vgl. Ianni, 1991:147; Scis†nio, 1997:249 !Alkoholismus). !indigene Psychologie !Kunst !Strafen Th. Koch-Grünberg (1923): Zwei Jahre bei den Indianern Nordwest-Brasiliens. Stuttgart; M. Eliade (1963): Marginalien zum Wesen der Maske; Museum für Völkerkunde (Berlin): Masken südamerikanischer Naturvölker. Berlin,1967; A. Lommel (1971): Masken, Gesichter der Menschheit. Zürich; G. Baer (1989): Zum Verständnis südamerikanischer Masken. In: Mittteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 10, S. 11 – 14; O. Ianni (1991): Ensaios de sociologia da cultura. Rio de Janeiro; H. Pernet (1992): Ritual masks: Deceptions and revelations. Columbia; E. Raabe (1992): Mythos Maske – Ideen, Menschen, Weltbilder. Frankfurt/M.; G. Kubik (1993): makisi, nyau, mapiko. Maskentraditionen im bantu-sprachigen Afrika. München; K. Gröning (1997): Geschmückte Haut. Eine Kulturgeschichte der Körperkunst. München; L. Homberger (1997): Masken der WÞ und Dan (Elfenbeinküste). Zürich; Metzler Lexikon Religion. Bd. 2. Stuttgart, 1999; RGG4

Medium (lat. medium = Mitte) 1. in den spiritistischen Institutionen (»centros«) z. B. im gegenwärtigen Brasilien bevorzugte Menschen, die in besonderer Weise begabt bzw. initiiert sind und sich als Vermittler zwischen Lebenden und Toten verstehen. Für die Erforschung des Unbewussten (vgl. Flournoy, 1900; Jung, 1902; Ellenberger, 1973) waren und sind die Medien, die heute weltweit angetroffen werden, wichtige Versuchspersonen. Ihnen werden manchmal auch paranormale Fähigkeiten zugesprochen. 2. Versuchsperson, die in besonderer Weise begabt ist, hypnotisiert zu werden. Auch in den afrobrasilianischen Kulten z. B. dem !Candombl¦ oder der !Umbanda sind Medien sehr verbreitet. Mediales Erlebnis: Sammelbezeichnung für religiöse Erlebnisse, die in einem durch !Trance erreichten Bewusstseinszustand erfahren werden können. Hierzu gehören vor allem die Inspiration (lat. »Einhauchung«) z. B. heiliger Schriften (Bibel, Koran, Veden), religiöse Automatismen z. B. Glossolalie, !Besessenheit und mystische Erlebnisweisen (vgl. unio mystica). Die lustvoll erlebten Inhalte haben für das ! Medium den Charakter der Fremdheit und es erlebt sich als »Mittler«, der von Erlebnissen durchflutet wird. In vielen Kulturen z. B. in Brasilien sind Medien institutionalisiert. Ein berühmtes Medium in Brasilien war z. B. Chico Xavier (1910 – 2002) (FEB) (vgl. Xavier, 1943, 1983).

Menschenrechte

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!Bessessenheit !Candombl¦ !Heilerinnen !Spiritismus !Trance !Umbanda Fr. C–ndido Xavier (1943, 1974): Nosso Lar. Ditado pelo esp†rito Andr¦ Luiz. Rio de Janeiro: FEB (14. ed.); ders. (1983): Cidade no Al¦m. Araras (SP):IDE; R. Amadou (1957): Les grands m¦diums. Paris; Y. Maggie (1988): Religiþes medifflnicas e a cor de seus participantes. Estudos Afro-Asi‚ticos (RJ), (15), p. 48 – 57; W. F. Bonin (1988): Lexikon der Parapsychologie und ihrer Grenzgebiete. München; M. Urben (1999): »Espiritismo« und Psychiatrie in Brasilien. Magisterarbeit, UNI-Zürich; Metzler Lexikon Religion, Bd. 2, 1999:411; RGG4; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Menschenrechte In formellem Sinn handelt es sich bei den M.n um Grundrechte, im materiellen Sinn um vor- und überstaatliche Rechte. Als M. werden vor allem die politischen Freiheitsrechte oder Grundfreiheiten begriffen wie das Recht auf Gleichheit, Unversehrtheit, Eigentum, Meinungs- und Glaubensfreiheit, Widerstand gegen Unterdrückung. Seit dem 19. Jh. ist eine schrittweise Ausdehnung der M. auf den sozialen Bereich festzustellen z. B. Recht auf Arbeit, Bildung, soziale Sicherung, Kinderrechte etc. Am 10. 12. 1948 wurden von der UNO die Allgemeine Erklärung der M. (declaration of human rights) in Form einer völkerrechtlich unverbindlichen Empfehlung verabschiedet, die einen Katalog von bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten enthält. Am 16. 12. 1966 folgten die beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte bzw. über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. In Europa existiert seit dem 4. 11. 1950 die Europäische Konvention zum Schutze der M. und Grundfreiheiten sowie die Europäische Sozialcharta vom 18. 10. 1961. Rechtsschutzorgane sind die Europäische Kommission für M., der Europäische Gerichtshof für M. und das M.-Komitee des Europarates. Das Rechtsprechungsorgan der UNO ist der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Der IGH ist nur zuständig, wenn die beteiligten Staaten sich seiner Gerichtsbarkeit generell oder für den konkreten Fall unterwerfen. Vor allem ethnischen !Minderheiten werden die M. weltweit noch immer verwehrt. !Diskriminierung !Minderheitenschutz !Rassismus !Verfassung J. Rawls (2002): Das Recht der Völker. Berlin; Rede Social de JustiÅa e Direitos Humanos (ed.) (2008): Direitos humanos no Brasil 2008. S¼o Paulo; Organisation: Amnesty International; Internet: Internat. Liga für Menschenrechte: www.ilmr.de ; Europ. Gerichtshof für Menschenrechte: www.echr.coe.int/echr

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»mestiço« (»Mestize«) Im immer noch lesenswerten »Amerikanistischen Wörterbuch« (1947:407 f) von Georg Friederici (1866 – 1947) heißt es unter dem Stichwort »mestizo, mestiÅo etc.« mit vielen historischen Belegen: »Kind von Europäer und Indianerin, sowie umgekehrt.« Auch Stephens (1989:315 f) hat die bras. Terminologie zu »m«. mit entsprechenen Literaturhinweisen zusammengestellt. In Amerika und Brasilien erhalten die »m.s« aufgrund ihrer äußeren Erscheinung und dem vermuteten Anteil afrikanischer bzw. indianischer Vorfahren Bezeichnungen wie !»mulato«, »zambo«, »cafuzo« etc. »M.s« werden als Ergebnis einer Vermischung (miscigenażo) verschiedener Menschengruppen (»do sangue« bzw. »de raÅas«, wie man in Brasilien sagt!) angesehen. Nei Lopes (2006:111) weist unter dem Stichwort »mestiÅagem« darauf hin, dass es in vorrepublikanischer Zeit im Inneren Brasiliens üblich war, dass reiche »negros« bzw. »mestiÅos« weiße alphabetisierte Männer aus den grossen städtischen Zentren kommen liessen, um sie mit ihren Töchtern zu verheiraten, um dadurch »limpar o sangue« da futura descendÞncia«. Das Wort »Mestize« ist in der dt. Sprache heute nicht mehr gebräuchlich. !Hautfarben !»negro« !»mulata« !»pardo« !Rassismus G. Friederici (1947): Amerikanistisches Wörterbuch. Hanburg; Th. M. Stepens (1989): Dictionary of Latin American racial and ethnic terminology. Gainesville; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Migration (lat. migrare = auswandern, übersiedeln; migração) Einführung: Unter Migration versteht man Bevölkerungsbewegungen im geographischen und sozialen Raum, dabei können – müssen aber nicht – Grenzen überschritten werden (vgl. interne Migration, Landflucht, Urbanisation). Nach dieser neutralen Definition sind »Migranten«, Menschen, die aus vielen verschiedenen Motiven ihr Geburtsland verlassen haben. Darunter fallen sowohl Studenten, die im Ausland studieren, oder Mitarbeiter von Firmen, die in ausländischen Filialen arbeiten und Gastwissenschaftler, als auch Arbeitsmigranten (z. B. »Gastarbeiter«), Flüchtlinge, Aussiedler und Übersiedler aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion (vgl. Terkessidis, 2000). Hinsichtlich der Verursachung kann man politisch bedingte (z. B. politische Gewalt, Diktaturen, Kriege etc.) sozioökonomisch bedingte (z. B. Landflucht, Kolonisierung von unterentwickelten und wenig besiedelten Randzonen, Wirtschaftskrisen etc.) und ökologisch bedingte (z. B. Anstieg des Meeresspiegels, die Ausbreitung von Wüsten,

Migration (lat. migrare = auswandern, übersiedeln; migração)

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Überschwemmungen, Erdbeben etc.) Migrationsbewegungen unterscheiden. M. ist in der Menschheitsgeschichte ein »Normalfall« (vgl. Bade & Oltmer, 2004) und sollte heute weder kriminalisiert noch (trotz möglicher Gesundheitsrisiken) pathologisiert werden. Eine übersichtliche, mit einer guten !Bibliografie versehene, Geschichte der M. hat Jochen Oltmer (2010) vorgelegt. In D sind die häufigsten M.formen: Familiennachzug, Arbeitsmigration, Fluchtmigration (Asyl-, Kriegs-, Kontingentflüchtlinge), (Spät-)Aussiedler, EU-Binnenmigranten, irreguläre Einwanderer, zeitlich begrenzte Zuwanderung: Studenten, Auszubildende etc. (vgl. BAMF-Bericht, 2008). Für Brasilien ist sowohl die Immigration, Emigration und Binnenmigration von grosser Bedeutung. Vier Modelle zur Beschreibung der Entwicklung von Migration beherrschen die gegenwärtige Diskussion: 1. Push-Pull-Modell: In der Abwanderungsregion versucht man »Abstoßungsfaktoren« wie z. B. fehlende Arbeitsplätze zu identifizieren, die die MigrantInnen forttreiben. In der Zuwanderungsregion werden dementsprechend »Anziehungsfaktoren« wie z. B. hohe Löhne gesucht, die die Zuzüge erklären sollen. Dieses Modell ist kein generelles Modell, da alle Momente individueller Wahrnehmung und Bewertung unterliegen. 2. Zentrum-Peripherie-Modell: Dieses Modell will den unterschiedlichen sozio-ökonomischen Entwicklungsstand ver-schiedener Regionen eines Landes bzw. verschiedener Länder durch bestimmte einseitige Abhängigkeiten zwischen diesen Regionen bzw. Ländern beschreiben, die oftmals auf historische Beziehungen z. B. !Kolonialismus zurückgeführt werden (vgl. Dependenztheorie). Das Zentrum gilt hierbei als Region mit hohem ökono-mischen Entwicklungsstand, hoher Dichte an politischen Institutionen und zentralen Verwaltungs-einrichtungen sowie großem kulturellen Angebot. Der Peripherie mangelt es daran. Zudem fehlen der Randlage Kapital und ein eigenständiges Wirtschaftssystem. Die Peripherie dient dem Zentrum nur als Zulieferer und Absatzgebiet. Aus diesem Ungleich-gewicht entsteht ein »Migrationsdruck« in Richtung auf das Zentrum. Die Migration technischer, wissenschaftlicher (vgl. brain drain) und kultureller Eliten (vgl. Herodianismus, brain drain) führt zu einem Abbau der Infrastrukturen in den Abwanderungsgebieten und verschärft die Kluft zwischen Zentrum und Peripherie. 3. Modell der Kettenmigration: Dieses Modell beruht auf den sozialen Beziehungen (Verwandtschaft, frühere Nachbarschaft) der Migranten zu bereits Ausgewanderten: von den Ausgewanderten erfahren sie über Chancen, erhalten Hilfe für ihre Reise, für das Finden von Arbeitsplätzen und Wohnungen, auch für die Anpassung an die neue Umgebung. Deshalb sind MigrantInnen aus bestimmten, oft eng umgrenzten Regionen sehr konzentriert in anderen, ebenfalls um-grenzten Regionen zu finden. Aus dem Brückenkopf kann ein eigenes so-

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ziales Netz, eine Migrantensubkultur entstehen, zumal die Abhängigkeits- und Verwandt-schaftsbeziehungen in der Zuwanderungs-region weiterwirken und u. U. sogar intensiviert werden. Kettenwanderung ist eine universelle und wahrscheinlich auch die quantitativ bedeutendste Form der Migration. 4. Modell der Pendelmigration: Häufiger als alle anderen MigrantInnen pendeln z. B. ItalienerInnen oder PolInnen zwischen Deutschland und Italien/ Polen, was nicht zuletzt auf die relative Nähe und guten Verkehrsmöglichkeiten zum Herkunftsland zurückzuführen ist (Italiener : 1960 – 1993: 3,6 Mio. Migrationsbewegungen; Türken: 3.1 Mio.). Das Pendeln zwischen zwei unterschiedlichen »Welten« ermöglicht den MigrantInnen, sich der jeweiligen Arbeitsmarkt- und Lebenssituation anzupassen, birgt jedoch auch die Gefahr, sich weder in der einen noch in der anderen Gesellschaft integriert zu fühlen. Die Zahl der im Ausland lebenden Menschen ist nach Schätzungen der UNHCR zufolge binnen dreier Jahrzehnte von 75 Millionen im Jahre 1965 auf gegenwärtig etwa 120 Millionen gestiegen. Die Zahl der Flüchtlinge ist im gleichen Zeitraum von unter 2 Millionen auf etwa 15 Millionen angewachsen. Für Ende 1993 gibt Opitz (1997:27) weltweit einen Bestand von ca. 24 Millionen Binnen-Flüchtlingen an. Rechnet man weitere Flüchtlingsgruppen, die statistisch zumeist unberücksichtigt bleiben, mit ein, so nähert sich die Gesamtzahl der Flüchtlinge heute deutlich der 50 Millionengrenze (vgl. die Tab.n bei Opitz, 1997). Es handelt sich um ein Weltproblem (vgl. Stubbe, 2012:674 f). Nohlen (2000:520) kommt zu dem Ergebnis, daß trotz Abschottungstendenzen in den Industrieländern die internationalen Migrationsbewegungen auch künftig anhalten und eine Reihe von Problemen sowohl für die Herkunftsländer (z. B. brain drain, Entziehung von »Humankapital«) als auch für die Zielländer (z. B. Überlastung des Arbeitsmarktes, soziale Verteilungskonflikte etc.) bergen werden, die vor allem durch die Massenmedien und Politi-ker in den Industrieländern als teilweise rassistische Bedrohungsängste vor neuen »Völkerwanderungen« hochgeputscht werden. Auch Nuscheler (1995:25) betont in diesem Zusammenhang, daß die internationale Migration heute »zu einem Weltordnungsproblem ersten Ranges« geworden ist, dessen Bewältigung die internationale Staatengemeinschaft, aber auch einzelne Staaten vor große Herausforderungen stellt. Opitz (1997:35) prognostiziert, daß sich in den kommen Jahrzehnten vier große Tendenzen weiter fortsetzen werden: – Eine weitere Globalisierung der Migration d. h. die Einbeziehung von immer mehr Ländern, sowohl als Herkunfts-, wie als Zielländer, in das Migrationsgeschehen – eine weitere Beschleunigung bzw. Zunahme der Migration , die sich derzeit schon in vielen Regionen abzeichnet – eine weitere Differenzierung der Migration in Gestalt neuer Formen von Migration

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– eine zunehmende Feminisierung der Migration, die zwar immer schon viele Fluchtbewegungen kennzeichnete, sich inzwischen aber auch immer stärker in der Arbeitsmigration beobachten läßt Für diese Prognosen sprechen vor allem das anhaltende Bevölkerungswachstum (vgl. Opitz, 1997:37), die wachsende Belastung der Umwelt (vgl. Umweltzerstörung, Sahelisierung, Entwaldung) und die Erosion traditioneller Werthaltungen und Weltanschauungen und die begleitende geistige Entfremdung und Heimatlosigkeit in vielen Regionen der Welt. Psychologische Aspekte und Phasen der Migration: Der Verlauf eines mehr oder minder freiwilligen Migrationsprozesses kann nach Sluki (2001) kulturübergreifend in die folgenden Stadien unterteilt werden: 1. Vorbereitungsphase, 2. den Migrationsakt, 3. die Phase der Überkompensierung, 4. die Phase der Dekompensation (manch-mal psychische und psychosomatische Störungen!) und 5. die Phase der generati-onsübergreifenden Anpassungsprozesse. Jede dieser Phasen zeichnet sich durch charakteristische Abläufe und typische individuelle und familiäre Bewältigungs-muster aus. Auch lösen sie typische Konfliktsituationen mit entsprechenden Symptomkomplexen aus. In der modernen transnationalen Migrationsforschung werden auch die bleibenden Bindungen und Kontakte zum Ursprungsland (Geldüberweisungen, Briefe, Telefonate, Besuche, Remigration, Beerdigung etc.) erforscht. Als Epiphänomene der M. finden sich oftmals spezifische Gefühlskomplexe z. B. »saudade«, »Heimweh«, die Kapverdische »sodade« (vgl. Stubbe, 2010), die auch in der !Musik zum Ausdruck kommen (vgl. !samba, tango). Sluzki (2001:103) hat aus transkulturell-psychiatrischer Sicht ein Modell der Belastungen der Migration aufgestellt. Aus diesem Migrations-Modell lassen sich eine Reihe präventiver Maßnahmen ableiten: – sich in der Vorbereitungsphase der Migration auf Zeiten von Einsamkeit und »Wurzellosigkeit« einzustellen, damit diese Erfahrungen nicht als negativ bewertet werden – die Kontakte mit Menschen aus der »Heimat« weiter zu pflegen, um einem plötzlichen Abschneiden dieser Bande vorzubeugen – die Sprache des neuen Landes so früh wie möglich zu erlernen – vielfältige Informationen über das Aufnahmeland einzuholen, ganz praktische (z. B. wie funktioniert das Gesundheitswesen?) oder auch stilistische (z. B. wie begrüßt man sich dort?); in dieser Hinsicht ist auch ein interkulturelles Training für Migranten sinnvoll – Kontinuität in der persönlichen Umgebung zu pflegen, durch Bilder oder andere Symbole

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Der Aufbau von Netzwerken und eines Vertrauenstelefons sind für Migranten ebenfalls wichtige präventive Institutionen. Auch der afrikanische Sklavenhandel nach Brasilien kann als ein unfreiwilliger Migrationsprozess größten Ausmaßes, als eine gewaltsame Deportation afrikanischer Menschen erforscht und interpretiert werden. (Afro-)brasilianische Migrantinnen und Migranten in Deutschland: Brasilien ist nicht nur ein Einwandererland, sondern auch ein Auswandererland. Einige aufschlussreiche Berichte von reisenden Brasilianerinnen und Brasilianern über den deutschsprachigen Raum liegen bereits vor, sind aber bisher nicht systematisch erforscht worden. So hat bereits die frühe Feministin und Erzieherin Nisia Floresta Brasileira Augusta (1810 – 1885) das romantische Deutschland bereist (»Itineraire d’un voyage en Allemagne«. Paris, 1857), Jo¼o Guimar¼es Rosa (1908 – 1967) war von 1935 bis 1942 als »consul-adjunto« im Generalkonsulat in Hamburg tätig oder I. Loyola Brand¼o hat seine Erlebnisse in Berlin geschildert (»O verde violentou o muro. Visþes e alucinaÅþes alem¼s«. S¼o Paulo, 1985), ebenfalls Jo¼o Ubaldo Ribeiro (»Ein Brasilianer in Berlin«, 1994) (!Reiseberichte). Heute gibt es weltweit bereits eine relativ grosse, bisher wenig beforschte (afro-) brasilianische Migranten-Diaspora (vgl. z. B. Argentinien: Hasenbalg, 1999; New York: Margolis, 1994: Deutschland: Pampolha, 1999; Nunes, 2001; Berlin: Theiss-Abendroth, 2012; Lissabon: Dettmann, 2012). Im »Kleinen Lexikon der ethnischen Minderheiten in Deutschland« werden für das Jahr 1995/96 bereits ca. 11930 weibl. (im Alter zwischen 21 und 40 Jahren) und 4910 männliche MigrantInnen angegeben, die sich v. a. aus ökonomischen und wegen persönlicher Bindungen (vgl. !bikulturelle, -nationale, interethnische Ehen und Partnerschaften) in Deutschland aufhalten. Sie leben zu einem grossen Anteil in einem sicheren Aufenthaltsstatus, sind aber oftmals in Arbeitsverhältnissen tätig, die eine wesentlich geringere Qualifikation erfordern. Ein expandierender Sektor für diese MigrantInnen ist der Bereich der bras. !Kunst, !Sport (Fußball) und !Kultur, der jedoch unter starkem Konkurrenzdruck steht. Einige traditionelle bras. Feste sind gut organisiert, wie z. B. die »festa junina« und der !Karneval. Köln ist neben Berlin, München, Frankfurt/M. und Stuttgart Schauplatz einer Reihe kultureller bras. Feste und Veranstaltungen. Die Kinder der vielen dt-bras. Partnerschaften und Ehen haben teilweise die Möglichkeit am bras.port. Sprachunterricht teilzunehmen bzw. einen begleitenden Schulunterricht zu frequentieren (vgl. Schmalz-Jacobsen & Hansen, 1995, 1997). Lene Pampolha (1999) lieferte im Jahre 1999 bebilderte Portraits (mit kurzer Lebens-geschichte) von zwölf in Deutschland lebenden Brasilianerinnen, die leider viele Klischees bedienen, z. B. wurden die Frauen halbnackt abgelichtet.

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Die bras. Journalistin Adriana Nunes (2011) führte ca. 60 Interviews mit bras. MigrantInnen durch, u. a. mit dem Soziologen L. Ramalho. Der Psychiater und Psychoanalytiker Dr. P. Theiss-Abendroth bemüht sich in Berlin um die psychotherapeutische Versorgung psychisch kranker afrobras. MigrantInnen (vgl. Theiss-Abendroth, 2012). Auch einige afrobras. Psychologinnen und Psychothera-peutinnen arbeiten bereits in Deutschland (z. B. Dr. Santos-Stubbe in Mannheim). Es fehlen aber generell noch entsprechende Netzwerke und angemessene interkulturelle Beratungs- und Therapiedienste, denn eine organisierte soz. und polit. Migrantenkultur von (Afro-) BrasilianerInnen ist nicht vorhanden. !bikulturelle Ehen und Partnerschaften !Gesundheit !Sklaverei !Minderheiten, ethnische A. Meier Ginsberg (1964): Um estudo psicolûgico de imigrantes e migrantes. Revista de Psicologia Normal e Patolûgica, ano X, jan/jun, N8 1 – 2: S¼o Paulo: PUC; L. Vajda (1973/ 74): Zur Frage der Völkerwanderungen. Paideuma, 19/20; W. B. Emminghaus (1992): Von Hilfe in Erster Not zu interkultureller Begegnung: Flüchtlingshilfe aus psychologischer Sicht. Saarbrücken: Deutsches Rotes Kreuz (2. Aufl.); F. Heckmann (1992): Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie interethnischer Beziehungen. Stuttgart; Caipora (Autorinnengrp.) (1991): Frauen in Brasilien. Göttingen; W. Pfeiffer (1994): Transkulturelle Psychiatrie. Stuttgart; H. Stubbe (1995): Prolegomena zu einer Transkulturellen Kinderpsychotherapie. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 44, S. 124 – 134; H. Banning (1995): Bessere Kommunikation mit Migranten. Ein Lehr- und Trainingsbuch. Weinheim; A. L. Florisbella dos Santos (1995): Die bras. Minderheit. In: C. Schmalz-Jacobsen & G. Hansen (Hrsg.) (1995), Ethnische Minderheiten in der BRD. München; Kl. J. Bade (Hrsg.) (1996): Migration – Ethnizität – Konflikt: Systemfragen und Fallstudien. Osnabrück; C. Schmalz-Jacobsen & G. Hansen (Hrsg.) (1997): Kleines Lexikon der ethnischen Minderheiten in Deutschland. München; J. Zeiler & F. Zarifoglu (1997): Psychische Störungen bei Migranten: Behandlung und Prävention. Zeitschrift für Sozialreform, 43, S. 300 – 334; P. J. Opitz (1997): Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem. München; L. Pampolha (1999): Rhytmuswechsel. Um outro ritmo. St. Augustin; C. Hasenbalg & A. Frigerio (1999): Imigrantes Brasileiros na Argentina. Rio de Janeiro; Fr. Nuscheler (2003): Internationale Migration, Flucht und Asyl. Opladen; Kl. Bade & J. Oltmer (2004): Normalfall Migration. Bonn; V. Flusser (2007): Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Wien; St. Chterbatova & M. Gus (2008): Das Vertrauenstelefon für Migranten in den jüdischen Gemeinden. Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie, 7, S. 71 – 88; J. Oltmer (2010): Migration im 19. und 20. Jh. München; H. Stubbe (2010): Die Psychologie der »Sodade«. Kapverde-Journal (Hamb.), Nr. 2, 2010:20 – 30; A. Nunes (2011): Nur die Edelsteine kommen aus Brasilien. Brasilianer in Deutschland. St. Ottilien; P. TheissAbendroth (2012): Psychodynamische Psychotherapie traumatisierter Migranten aus Brasilien. Trauma & Gewalt. & . Jg., H. 4, Nov., 2012; Chr. Dettmann (2012): Ein anderes Gesicht. Lokale brasilianische Musiker in Lissabon. Berlin Internet: Hoher Komissar für Flüchtlinge (UN): www.unhcr.de Migration und Gesundheit:

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www.infodienst.bzga.de ; IMIS (Institut für Migrationsforschung und interkul-turelle Studien): www.imis.uni-osnabrueck.de Landeszentrum für Zuwanderung NRW: www.lzz-nrw.de Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): www.bamf.de Institution: Auswander-Museum Bremerhafen

Minderheiten, ethnische (auch: minoria étnica) Kann man die Afrobrasilianer als ethnische Minderheit bezeichnen? Ethnische Minderheiten sind Teilbevölkerungen in staatlich verfaßten Gesamtgesellschaften. Der in ihnen bestehende Glaube an eine gemeinsame Herkunft, Gemeinsamkeiten der Kultur und die auf dieser Basis beruhenden Solidargefühle strukturieren Beziehungen zwischen Menschen und wirken gruppenbildend. Sehr häufig werden ethnische Minderheiten in einem System ethnischer Schichtung von einer priviligierten, herr-schenden ethnischen Gruppe (ethnische Mehrheit) benachteiligt, diskriminiert, stigmatisiert und unterdrückt (inter-ethnische Beziehungen). Der Begriff »Minderheit« läßt sich unterschiedlich definieren: 1. eine zahlenmäßig kleinere Gruppe 2. eine zahlen- und machtmäßig unterlegene Gruppe 3. eine machtunterlegene, aber zahlenmäßig stärkere Gruppe wie z. B. die Afrobrasilianer. Nei Lopes (2006:113) stellt zu Recht fest: »No Brasil, pela pouca reprentativa pol†tica – geradora de desvantagens e de exclus¼o –, os afro-descendentes s¼o considerados ›minoria‹, embora constituam cerca da metade da populażo nacional.« Ethnische M. unterscheiden sich von der Mehrheit durch tatsächliche und/ oder vermeintliche Merkmale wie Herkunft, Sprache, Religion, Kultur bzw. durch eine Kombination von Elementen dieser Bereiche. Entscheidend für die Zugehörigkeit zu einer ethnischen M. ist die Selbsteinschätzung der betroffenen Personen, jedoch spielt auch die Fremddefinition eine wichtige Rolle für die Herausbildung ethnischen (Gruppen-) Bewußtseins und die gesellschaftliche Position einer Minderheit (vgl. !Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit, !Rassismus, !Sündenbockrolle, Image , !Vorurteile etc.). Der Begriff »Minderheit« bzw. Minorität wird in der Umgangssprache und wissenschaftlich mehrdeutig verwendet. Im soziologischen Sinn kann man unter Minderheit zweierlei verstehen: Einmal eine beständige Gruppe von Menschen, die sich rassisch, kulturell

Minderheiten, ethnische (auch: minoria étnica)

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(-sprachlich) oder religiös von der Mehrheit der Population oder anderen Bevölke-rungsteilen unterscheidet. Zweitens versteht man unter Minorität solche im Sinne von sich benachteiligt fühlenden gesellschaftlichen Gruppen, die rein zahlenmäßig durchaus eine Mehrheit bilden können, in der Regel aber Randgruppen sind. Diese benachteiligten, diskriminierten ethnischen Gruppen bezeichnen wir als ethnische Minderheiten im Gegensatz zu den priviligierten, herrschenden ethnischen Gruppen (= ethnische Mehrheit). Das von uns bevorzugte Ethnizitätskonzept geht bei den ethnischen Minderheiten von folgenden Charakteristika aus: soziokulturelle Gemeinsamkeiten, Gemeinsamkeiten geschichtlicher und aktueller Erfahrungen, Vorstellungen einer gemeinsamen Herkunft, eine auf Selbst-Bewußtsein und Fremdzuweisung beruhende kollektive Identität, die eine Vorstel-lung ethnischer Grenzen einschließt, und ein Solidarbewußtsein. Obwohl klassische Soziologen wie Karl Marx, Max Weber, Talcott Parsons und Niklas Luhmann von einem zunehmenden Rückgang ethnischer Differenzierung in modernen Gesellschaften ausgehen, gibt es gegenwärtig jedoch viele Anzeichen wie z. B. wachsende Häufigkeit und Intensität ethnischer Rivalitäten und Konflikte, die Ausbreitung ethnischer Bewegungen und die ethnisch plurale Sozialstruktur z. B. in der sog. Dritten Welt, die für ein »ethnic revival« sprechen und die zunehmende Bedeutung von Ethnizität in der modernen Welt verdeutlichen. Einmal können auch in der »modernen Welt« über Ethnizität Interessen mobilisiert werden, und zum anderen bietet Ethnizität aufgrund eines sich ausbreitenden Gefühls der Entwurzelung einen »psychologischen Rettungsanker« in einer Welt der schnellen Veränderungen von Werten und Glaubensinhalten. Der Soziologe Esser (1988, 1991) hat die Bedeutung der Ethnizität in der modernen Gesellschaft als Ergebnis einer Modernisierungslücke interpretiert mit deren Auffüllung jedoch auch die Grundlagen ethnischer Mobilisierung entfallen würden. Beispiel: Brasilianische »Indianer« als ethnische Minderheit Seit der Entdeckung und Kolonisierung Brasiliens können wir von einer ethnischen Pluralisierung der Sozialstruktur Brasiliens sprechen. Während in der Gegenwart zwei Entwicklungen die überkommenden europäischen Nationalstaaten verändern, nämlich zum einen eine wachsende Internationalisierung vieler gesellschaftlicher Strukturen und zum anderen eine Tendenz zur ethnischen Pluralisierung der Bevölkerung und Kultur, lassen sich diese beiden Prozesse bereits seit dem 16. Jahrhundert in Brasilien beobachten. Internationalisierung ist aber zugleich mit einer Tendenz zur ethnischen Pluralisierung von Bevölkerungen verbunden. Im brasilianischen Alltag der Gegenwart zeigt sich die ethnische Pluralisierung darin, daß ethnische Minderheiten in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens »präsent« sind. Sie sind

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aber als Gruppe nicht mehr nur »augenblicklich präsent«, sondern ein fester Bestandteil der Sozialstruktur Brasiliens geworden. Zu den neuen größeren Gruppen ethnischer Minderheiten, die ab 1819 nach Brasilien eingewandert sind, wie Deutsche (vgl. Oberacker,1985), Schweizer (Bernecker & Lopez,1992), Österreicher (vgl. Drekonja-Kornat, 1992), Italiener, Spanier, Polen, »turcos« (in Brasilien = Araber!), Juden, Libanesen, Japaner und andere »Nationalitäten«, kommen ältere Minderheiten wie die Urbewohner Brasiliens, die »Indianer« (vgl. Stubbe, 2012:300 f), die seit 1538 massenhaft nach Brasilien aus Afrika eingeführten Sklaven, die späteren !Afrobrasilianer, sowie die Portugiesen hinzu. Wir können hier keinen Abriß der ethnischen Pluralisierung der Sozialstruktur und Kultur Brasiliens geben, sondern werden uns bei unseren weiteren Ausführungen auf die brasilianischen »Indianer« beschränken. Die im folgenden dargestellte historisch systematische Deskription und Analyse dieser brasilianischen Minderheit, in die der Entstehungskontext ihrer Minoritätenlage und wichtige Aspekte der gegenwärtigen Situation, wie ihre sozialkulturelle Stellung, verschiedene Dimen-sionen von Beziehungen zwischen Mehrheit und Minderheit und politische und juristische Orientierungen eingehen, wird im Kontext dreier größerer historischer Prozesse Brasiliens gesehen: – der Begründung des modernen brasilianischen Nationalstaats – des (anfänglich indianischen und später dominierenden afrikanischen) Sklaverei-systems und der internen Migration, als Folge der Auflösung der feudalagrarischen Produktionsweise und Sozialstruktur und der Sklavenbefreiung (1888), sowie der großen internationalen Immigration seit dem 19. Jh. – der Wirkungen des !Kolonialismus und in seiner Konsequenz der Begründung des brasilianischen Nationalstaats (ab 1822) Hinsichtlich der von Heckmann (1992) vorgeschlagenen Typologie ethnischer Minderheiten handelt es sich bei den Indianern und Afrobrasilianern weder um »nationale Minderheiten«, noch um »regionale Minderheiten«, auch nicht um »Einwanderungsminderheiten« (z. B. Siedlungswanderer oder Arbeitsmigranten), sondern schlicht um »kolonisierte Minderheiten«, weil ihre historischen Ursprünge im !Kolonialismus und in der !Sklaverei liegen. Im Hinblick auf die kolonisierten Minderheiten in den USA führt Blauner (1976) aus: »Kolonisierte Gruppen werden durch Machtmittel und Gewalt zu Teilen der neuen Gesellschaft gemacht; sie werden erobert, versklavt oder vertrieben. Die »Dritte-Welt-Formulierung« ist also eine scharfe Attake auf den Mythos, daß Amerika das Land der Freien sei. Die Dritte-Welt-Perspektive führt uns zu den Ursprüngen der amerikanischen Geschichte zurück und erinnert daran, daß diese Nation ihre Existenz dem Kolonialismus verdankt und daß es

Minderheiten, ethnische (auch: minoria étnica)

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neben Siedlern und Einwanderern immer unterworfene Indianer und schwarze Sklaven gab…« (Blauner, 1976:70; zitiert nach Heckmann, 1992:70) Was Blauner hier über die USA sagt, gilt analog auch für die durch Kolonisierung entstandene brasilianische Gesellschaft, nur daß Blauner die systematischen Ethnozide in den USA nicht erwähnt. Die jahrhundertelange Unterdrückung dieser Gruppen hat sich häufig niedergeschlagen in Formen kollektiver Apathie oder Revolte und ist u. a. sichtbar in hoher Kindersterblichkeit, geringer Lebenserwartung, !Alkoholismus, psychosomatischen Erkrankungen und hohen Suizidraten. Stumpfe (1980) sprach in diesem Zusammenhang von einem »psychogenen bzw. Völkertod«, Abdias do Nascimento (1978) im Hinblick auf die Afrobrasilianer vom »genoc†dio do negro brasileiro« (!Genozid). Auch In Brasilien können wir eine »ethnische Schichtung« beobachten d. h. daß in der brasilianischen Gesellschaft zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen ein Ungleichheits- oder Schichtungsverhältnis besteht. Im Alltag heißt dies, daß Positions- und Statuszuweisung auch auf der Basis von ethnischer Zugehörigkeit erfolgt. Der Erwerb von Positionen und eines allgemeinen Prestigestatus ist für Personen in Brasilien nicht nur etwa von der Schulbildung, beruflicher Qualifikationen oder Besitz abhängig, sondern auch von ihrer (»rassischen«) ethnischen Zugehörigkeit und dem Platz, den eine bestimmte ethnische Gruppe in der Hierarchie der verschiedenen ethnischen Gruppen in Brasilien einnimmt. »Da ethnische Zugehörigkeit als Statusmerkmal von Personen ›vorhanden‹ ist, und nicht in einer Wettbewerbssituation erworben wird, handelt es sich bei ethnischer Schichtung um einen Zuschreibungsprozeß, der entgegen den Prinzipien einer »modernen« Gesellschaft askriptiv erfolgt.« (Heckmann, 1992:91) Die soziale Ungleichheitsstruktur ist in Brasilien weitgehendst mit der ethnischen Ungleichheitsstruktur identisch. Für die Herausbildung von ethnischer Schichtung gelten für Brasilien folgende Erklärungen: Ethnozentrismus, Wettbewerb um gemeinsam angestrebte Güter und Machtungleichheit zwischen ethnischen Gruppen. Milton Gordon (1978) arbeitet in seinem (unseres Erachtens auch für Brasilien heuristisch verwendbaren Konzept) der »ethclass« mit der Prämisse, daß sowohl von sozialer Schichtzugehörigkeit wie von ethnischer Zugehörigkeit relevante Einflüsse auf Gruppenbildung und Bewusstsein von Menschen ausgehen. Hinsichtlich der Wirkung ethnischer Schichtung lassen sich für Brasilien drei ethnosoziologische Hypothesen diskutieren: 1. Ethnische Schichtung fördert Vergemeinschaftstendenzen in ethnischen Gruppen d. h. begünstigt Tendenzen zur extern bedingten Abschließung und zur intern sich entwickelnden Kohäsion (vgl. Esser, 1988) 2. Ethnische Schichtung und Arbeitsmigration (hierzu können auch die Arbeitssklaven gerechnet werden) bewirken eine Aufstiegsillusion d. h. führen

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zu einer ›Verlängerung‹ des Ungleichheitssystems nach unten durch Unterschichtung 3. Ethnische Schichtung verletzt universalistische Prinzipien und Vorstellungen von Chancengleichheit, die für die modernen, demokratischen Gesellschaften konstitutiv sind. (vgl. Heckmann, 1992). Minderheitenschutz: Obwohl die Vereinten Nationen das Jahr 1993 zum »Internationalen Jahr der Welturbevölkerungen« erklärt haben, hat sich die Situation dieser Menschen, die manchmal auch der »Vierten Welt« zugeordnet werden, weltweit noch weiter verschlechtert. In den letzten Jahren wird zunehmend über »Verschwindenlassen«, Folter und Mord an Ureinwohnern und Minderheiten berichtet- meist vor dem Hintergrund von Landkonflikten, Anlegen von Monokulturen, Bergbau, Staudammprojekten und Regenwaldvernichtung, die die Existenz dieser Ethnien stark bedrohen (vgl. etwa Dritte Welt Presse, Nr. 1, 9. Jg., 1992:2; Pfflblico, 8 de julho de 1993:1,2 – 5; Carneiro da Cunha, 1992, 1994; Lobgesang, 1994; Kayser, 2005). »Während die Forscher des 19. und beginnenden 20. Jh.s es noch als ihre vornehmste Pflicht ansahen, die – vor allem materielle – Kultur bedrohter Ethnien für die wissenschaftliche Nachwelt zu ›retten‹, erkennt man mittlerweile die Sicherung des physischen Überlebens bedrohter Ethnien als vordriglichste Aufgabe an, und das Verantwortungsbewußtsein eines heutigen Ethnologen läßt sich leicht daran messen, ob und wie er sich für die rechtlichen Belange und die Verbesserung der Lebensumstände der von ihm Erforschten engagiert.« (Illius, 1992:127)

Es existiert noch kein eigenständiges internationales Übereinkommen für die Rechte der Welturbevölkerungen d. h. indigenen Völker. Ihre Rechte werden bislang aus verschiedenen internationalen Verträgen abgeleitet. Wichtige internationale Normen zum Schutz indigener Völker – Deklaration der Allgemeinen Menschenrechte von 1948 in den Artikeln 1,2,4,7,17,26 und 27 – Konvention zum Verbot der Völkermordes von 1951 in Artikel 2 – Ergänzende Konvention zur Abschaffung der Rassendiskriminierung von 1969 in Artikel 1.1 – Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1976 in seinen Artikeln 1,2,3,13,15,25 – Internationaler Pakt über zivile und politische Rechte von 1976 in seinen Artikeln 1 und 27

Missionierung (lat. missio = Sendung; auch: Mission; missões)

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– Zusatzprotokoll des Internationalen Pakts über zivile und politische Rechte von 1976 in seiner Präambel und in Artikel 1 – UNESCO-Erklärung von San Jos¦ zu Ethnozid und ethnischer Entwicklung von 1981 – ILO-Konvention Nr. 169 von 1989 – Acordo Constitutivo do Fundo para o Desenvolvimento dos Povos Ind†genas na Am¦rica Latina e Caribe von 1991 Alle Jahreszahlen beziehen sich auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens !Diskriminierung !Menschenrechte !Migration !Organisationen L. de Gonzaga Mendes Chaves (1971): Minorias e seu estudo no Brasil. Revista de CiÞncias Sociais (Fortaleza), 2(1), p. 149 – 168; R.de Barros Laraia (1978): A situażo das minorias ¦tnicas no Brasil. S¦rie Antropologia, 22. Bras†lia: UnB; M. C. da Cunha (1987): Os direitos do †ndio. S¼o Paulo, 1987; Fr. Heckmann (1992): Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie interethnischer Beziehungen. Stuttgart; K. Ludwig (1995): Ethnische Minderheiten in Europa. Ein Lexikon. München; C. Schmalz-Jacobsen. & G. Hansen (Hrsg.) (1995): Ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Lexikon. München (umfangreiche Bibliographie!); dies.(Hrsg.) (1997): Kleines Lexikon der ethnischen Minderheiten in Deutschland. München; Fr. Böckelmann (1998): Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen. Die andere Bibliothek. Frankfurt/M.; H. E. Kayser (2005): Die Rechte der indigenen Völker Brasiliens – historische Entwicklung und gegenwärtiger Stand. Aachen; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Missionierung (lat. missio = Sendung; auch: Mission; missões) Einführung: Die Verkündigung eines Glaubensystems unter Nichtanhängern dieses Glaubens; insbes. die Sendung der christlichen Kirchen zur Verkündigung der christlichen Lehre unter Nichtchristen (»Heiden«). Alle Religionen mit universalem Anspruch sind missionarisch. Das Christentum folgt z. B. einem ausdrücklichen Missionsbefehl Christi (s. unten). Die heutige Bedeutung von M. entwickelte sich vermutlich aus dem »votum de missionibus« des Jesuiten-ordens (gegr. 1540). Missionsreligionen betreiben im Unterschied zu den sog. primitiven (»Naturreligionen«) und Volksreligionen die Ausbreitung ihres Glaubens und Kultes. Neben den alten Weltreligionen wie Judentum, Buddhismus, Christentum, Islam sind es vor allem einzelne universalistische Kulte (in der europäischen Antike z. B. Mysterien-Kulte, Mithras, Kybele, Dionysos, Gnosis, Manichäismus) oder in der Gegenwart die sehr aktiven protestantischen/ evangelikalen Sekten der USA. Auf kath. Seite existieren heute in D ca. 150 Ordensgemeinschaften, die im »Deutschen Katholischen Missionsrat«

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zusammengeschlossen sind. Außerdem existiert das internationale katholische Missionswerk »Missio«. Die ev. Entwicklungshilfeeinrichtungen sind seit 1970 in der »Arbeitsgemeinschaft kirchlicher Entwicklungsdienst« (AG-KED) zusammengeschlossen und auch das »Evangelische Missionswerk« (EMW) ist hier vertreten. Vor allem die christliche Missionierung ist seit dem Zeitalter der Entdeckungen oftmals von beträchtlicher Aggressivität und Gewalt begleitet gewesen, was während des Kolonialismus zu schweren Greueltaten und kollektiven Traumatisierungen (z. B. Ethnozide, Suizidepidemien) führte. Im Hinblick auf die christliche Missionierung der lateinamerikanischen Indianer sprechen z. B. M.s-Kritiker heute von einer »Zerstörung der indianischen Seelen« (Gambini, 1988) oder »Kolonisierung der Seelen« (Mires, 1987). Ein hervorstechendes Beispiel in LA ist z. B. die Verbrennung der Maya-Bücher, das Verbot der Hieroglyphen und die systematische Zerstörung der Maya-Kultur durch kath. Missionare. Der Calvinismus, der auch im 16. Jh. in der Guanabarabucht missionierte (vgl. Jean de L¦ry), hat die Religion ihres festlichen Charakters entkleidet, allen religiösen Zeremonialismus erstickt und alles Gefühlsmäßige unterdrückt. Daher die Bilderfeindlichkeit aller radikalen Sekten und der Haß der puritanischen Missionare gegen die »Idole« der »Indianer«. Elisabeth Rohr (1991, 1994) konnte den klaren Nachweis erbringen, daß gegenwärtig die usamerikanischen fundamentalistischen, aggressiv-militanten Sekten in Lateinamerika nicht nur die kulturellen Symbolgefüge der indianischen Gemeinschaften Lateinamerikas völlig zerstören, sondern darüberhinaus als ihre größten Feinde die katholische Amtskirche, die Befreiungstheologen, den Synkretismus und alle »linken« gesellschaftlichen Organisationen, wie Gewerkschaften, Bauernorganisationen etc. aktiv bekämpfen (vgl. auch Lewis, 1991). Die Autoren konnten sich selbst davon überzeugen, daß die us-amer. Sekten auch im port. sprachigen Afrika gegenwärtig (Ende der 90er Jahre) sehr aktiv sind (z. B. IURD in MoÅambique etc.). Für Muslime ist M. im Sinne der Verbreitung des Islams durch dafür ausgebildete Spezialisten ein sehr junges Phänomen, da der Koran keinen M.auftrag enthält (vgl. Maier, 2001; Bulliet, 1979). Die Verbreitung des Islams ist vor allem durch zwei verschiedene Phänomene erfolgt: 1. den Glaubenskrieg (djihad, heiliger Krieg) mit dessen Hilfe der islamische Staat und die shari’a als Rechtssystem mit militärischen Mitteln ausgebreitet wurde und 2. der Entstehung internationaler Muslim-Organisationen (in Reaktion auf die christlichen Missionsgesellschaften), die junge Muslime gegen christliche Missionare mit Argumenten versorgten. Vor allem in den Ländern der sog. Dritten Welt wird heute durch die Einrichtung von Schulen, Krankenhäusern etc. für einen höheren Bekanntheitsgrad und Einfluß des Islams gesorgt (vgl. Heine, 1991:527)

Missionierung (lat. missio = Sendung; auch: Mission; missões)

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Beispiel: Missionspsychologisches aus LA Als Religion mit universalem Anspruch kennt das Christentum, das sich als eschatologische, alle Grenzen überschreitende Botschaft versteht, einen expliziten Missionsbefehl des auferstandenen Christus (Matth. 28, 18 – 20). Im Zeitalter der Entdeckungen war die oft gewaltsame Missionierung LA’s vor allem Sache der spanischen und portugiesischen Patronatsmächte. Dies trug z. T. erheblich zur Unterdrückung und teilweise Vernichtung autochtoner Kulturen und Ethnien bei. Auch die moderne wissenschaftliche Forschung, welche die Auswirkungen der missionarischen Kulturkontakte in ihrer soziologischen und ethnologischen Bedeutung zu begreifen sucht, neigt zu äußerst kritischer Beurteilung vor allem der jesuitischen Missionsarbeit in LA (vgl. etwa Bitterli, 1976: 106ff). Stubbe (1996, 2001) hat mehrfach auf die bisher wenig studierten ethnopsychologischen Aspekte der M. aufmerksam gemacht. Er betont, daß sich die Jesuiten durch das Akkomodations-Prinzip ihrer Missionstätigkeit als »erfolgreiche« praktische Psychologen erwiesen haben. Ihre »Psychologie« basiert vor allem auf den »Exercitia Spiritualia« (1548) ihres Ordensgründers Ignatius von Loyola (1491 – 1556). Hier liegt nach Aussagen des Psychologiehistorikers Hehlmann (1963: 13) »zum ersten Mal in der Geschichte ein psychologisch durchdachtes psychagogisches System« vor. Der Experimentalpsychologe Johannes Lindworsky SJ (1875 – 1939) (der das Psychologische Institut an der Universität zu Köln gegründet hat) hat diese Meditationsmethode psychologisch analysiert und gezeigt, daß sie auf einen Neubau der menschlichen Motivation ausgerichtet ist. Man könnte die Missionsmethode der Jesuiten auch »psychodramatisch« (Stubbe, 1987, 2001) nennen, denn sie verwendeten mit großem Erfolg das »Missionstheater« (vgl. Huonder, 1918) und die !Musik. Auch die Fragebogen-Methode (im Sinne einer Kolonial-EnquÞte) geht auf die Jesuiten zurück z. B. in den »Cartas aos Superiores da Companhia de Jesus«. In den Berichten der deutschsprachigen Missionare in LA finden sich vielfältige Beobachtungen über die sozialpsychologischen Verhältnisse in den Kolonien, die Missionsmethoden, die !Ethnotherapie etc. (vgl. etwa Pater Antonius Sepp’ »Reissbeschreibung«, 1698; zur Missionstätigkeit der »jesu†tas« und Franziskaner, vgl. z. B. Serafim Leite, 1938 – 1950; Gouveia, 1955:379; Willeke, 1966; Scis†nio, 1997:184; Stubbe, 2001: 142 – 149). Die katholische Kirche war von Anbeginn in die brasilianische !Sklaverei tief verstrickt. Bereits die gleich nach der Einschiffung an den afrikanischen Sklaven vollzogene »Taufe« war ein äußerst schmerzhafter Akt, denn auf jede Brust wurde ihnen mit einem glühenden Eisen ein Kreuz eingebrannt. So wurden sie »konvertiert« und mit dem heiligsten Symbol des christlichen Europas gebranntmarkt. Der katholische Klerus in Brasilien hielt sich nicht nur Sklaven/

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innen zum Hausgebrauch, in Klöstern und auf kirchlichen »fazendas«, sondern züchtete sogar Sklaven (vgl. Mott, 1979:66; Ewbank, 1976:276). Die »Kolonisierung und Zerstörung der indianischen und afrobras. Seelen« in LA wurde verschiedentlich systematisch bearbeitet (vgl. z. B. Sweet, 1978; Waldenfels, 1982; CEHIAL, 1987 Gambini, 1988; Mires, 1991; Rohr, 1994). Eine wertvolle »Kirchengeschichte von unten« hat Eduardo Hoornaert (1982) vorgelegt. !Gebet !Sklaverei !Religion !Tatauierung P. A. Huonder (1918): Zur Geschichte des Missionstheaters. Abhandlungen aus Missionskunde und Missionsgeschichte. Aachen; Padre Serafim Leite S. J. (1938 – 50): Histûria da Companhia de Jesus no Brasil. 10 vols. Rio de Janeiro; A. Görres (1954): Über die Gewissensprüfung nach der Weise des Hl. Ignatius von Loyola. Geist und Leben, 29; M. Gouveia (1955): Histûria da escravid¼o. Rio de Janeiro; P. Lippert SJ (1956): Zur Psychologie des Jesuitenordens. Freiburg/Brsg. (2. Aufl.); R. Fülöp-Miller (1947, 1960): Macht und Geheimnis der Jesuiten. München; V. Willeke OFM (1972): Die Franziskaner und die Unabhängigkeit Brasiliens. Archivum Franciscanum Historicum, an. 65, S. 299 – 313; ders. (1973): Fransziskanermissionen in Brasilien 1500 – 1966. Schöneck (CH); ders. (1988): Senzalas de conventos. In: L. Dantas Silva (org.), Estudos sobre a escravid¼o negra. Vol. I. Recife: Fund. J. Nabuco, p. 471 – 494; E. Schrupp (Hrsg.) (1975): Lexikon der Weltmission. Wuppertal; D. G. Sweet (1978): Black robes and »black destiny«: jesuit views of African slavery in 17th century Latin America. Revista de Histûria de Am¦rica (M¦xico), (86), p. 87 – 133; H. Bürkle (1979): Missionstheologie. Stuttgart; Padre A. Sepp S. J. (1980): Viagem —s missþes jesuiticas e trabalhos apostûlicos. S¼o Paulo; H. Waldenfels (1982): Theologen der Dritten Welt. 11 biographische Skizzen aus Afika, Asien und Lateinamerika. München; E. Hoornaert (1982): Kirchengeschichte Brasiliens – aus der Sicht der Unterdrückten 1550 – 1800. Mettingen; J. C. Sebe (1982): Os jesu†tas. S¼o Paulo; J. M. Lima Mira (1983): A evangelizażo do negro no per†odo colonial brasileiro. S¼o Paulo; J. G. Vidigal de Carvalho (1985): A igreja e a escravid¼o: uma an‚lise documental. Rio de Janeiro; J. F. Thiel (1987): Der Exotismus in bezug auf Mission und Kolonialismus, In: Exotische Welten. Europäische Phantasien. Stuttgart, S. 82ff; R. Gutierrez (1987): As Missþes jesuiticas dos Guaranis. UNESCO; CEHIAL (ed.) (1987): Escravid¼o negra e histûria da Igreja na Am¦rica Latina e no Caribe. Petrûpolis; R. Gambini (1988): O espelho †ndio. Os jesuitas e a destruiżo da alma ind†gena. S¼o Paulo; A. A. Vieira Nascimento (1990): A postura escravocrata no convento de religiosas. St. Clara do Desterro na Bahia (1680 – 1850). Salvador : UFBA-CEB; H. Casper, J. Müller & F. Valentin (Hrsg.) (1991): Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Fakten, Hintergründe, Klärungen. Freiburg/Brsg.; P. Heine (1991): Mission. In: Khoury, Hagemann & Heine, IslamLexikon. Berlin; F. Mires (1991): Die Kolonisierung der Seelen. Mission und Konquista in Spanisch-Amerika. Fribourg; K. C. Felmy (Hrsg.) (1991): Kirchen im Kontext unterschiedlicher Kulturen. Göttingen; N. Lewis (1991): Die Missionare. Über die Vernichtung anderer Kulturen. Stuttgart; P. B. Clarke (Hg.) (1992): Atlas der Welt Religionen. Entstehung, Glaubensinhalte, Entwicklung. Wien (2. Aufl.); G. Gründer (1992): Welteroberung und Christentum. Gütersloh; H. Rzepkowski (1992): Lexikon der Mission. Graz; M. C. da Cunha (1992): Histûria dos †ndios no Brasil. S¼o Paulo; H. Stubbe (1992): Psychologie, In:

»mulata/mulato« (von lat. mulus = Maultier)

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N. Werz (Hrsg.), Handbuch der deutsch-sprachigen Lateinamerikakunde. Freiburg/Brsg.; ders. (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; E. Rohr (1994): Katholiken und Evangelikale? Zeitschrift für Lateinamerika Wien, 46/47, S. 79 – 92; dies. (1999): Die geraubte Männlichkeit. Zur Ethnopsychoanalyse des religiösen Fundamentalismus in Lateinamerika. Handlung, Kultur, Interpretation, Jg.8, H.2, S. 27 – 58; K. Müller & W. Usdorf (Hrsg.) (1995): Einleitung in die Missionsgeschichte. Stuttgart; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; Metzler Lexikon Religion. 4 Bde. Stuttgart, 1999; RGG 4; G. Denzler & C. Andresen (2004): Wörterbuch Kirchengeschichte. Wiesbaden; R. P‚ramo Ortega (2006): El trauma que nos une. Reflexiones sobre la conquista y identidad latinoamericana. In: R. P‚ramo Ortega, El psicoan‚lisis y lo social. Guadalajara,p. 65 – 92; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

»morena/moreno« »M.« ist, wie die anderen Hautfarbenbezeichnungen auch, nicht klar definiert (bzw. überhaupt nicht definierbar). »M.« kann !»mulata« bedeuten, oder Personen mit »brauner« Haut, mit brauen Haaren, »Farbige« oder »Schwarze« etc. bezeichnen (vgl. Stephens, 1992:320ff). !Hautfarben !»mulata/mulato« !»negro« !pessoa de cor !Vorurteile Th. M. Stephens (1989): Dictionary of Latin American Racial and Ethnic Terminology. Gainesville

»mulata/mulato« (von lat. mulus = Maultier) In bras. Lexika heißt es zu »m.« übereinstimmend: »MestiÅo das raÅas branca e negra.« (Michaelis, 2008:593; vgl. auch Lopes, 2006:115). Viele !Vorurteile beziehen sich auf die »mulata«. Sie gilt in Brasilien als besonders erotisch und sexuell attraktiv, man spricht von einer »m. quente«, »m. boa«, »mulatinha bonita«, »show das m.s« etc. (vgl. Queiroz Jfflnior, 1982; Stephens, 1989:253ff). Die »mulatos und mulatas« sind in der bras. !Literatur ständig präsent. Z. B. schrieb Alu†sio Azevedo (1857 – 1913), der Begründer des bras. Naturalismus, den sozialkritischen Roman »O Mulato« (1881), in dem die »Rassenvorurteile« der damaligen Zeit gegenüber Afrobrasilianern und ihre Marginalisierung deutlich zum Ausdruck kommen. In einem anderem seiner Romane »O cortiÅo« (1890) heißt es z. B. über die »m.«: »O cavouceiro, pelo seu lado, cedendo —s imposiÅþes meseolûgicas, enfarava a esposa, sua congÞnere, e queria a mulata, porque a mulata era o prazer, era a volfflpcia, era o fruto dourado e acre destes sertþes americanos, onde a alma de Jerúnimo aprendeu lasc†vias de macaco e onde seu corpo porejou o cheiro sensual dos bodes.« (Azevedo, 2001:151). Auch

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der bedeutendste Dichter Brasiliens Joaquim Maria Machado de Assis (1839 – 1908), selbst Sohn eines »mulato« und einer port. Wäscherin aus den Azoren, hat die Lebenssituation der Afrobrasilianer in seinen »contos« und Romanen häufig behandelt (vgl. z. B. Stubbe, 1983: 86 – 100; Ianni, 1991:141 – 157). In der dt. Sprache sind »Mulattin/Mulatte«, wie auch »Mestize« oder »Neger« heute nicht mehr gebräuchlich (vgl. Arndt & Hornstein, 2004:173ff). !Hautfarben !»mestiÅo« !»morena« !»negro« !»pardo« !Stereotype ! Vorurteile !Wohnen A. Azevedo (1890, 2001): O cortiÅo. S¼o Paulo; Carrozoni (1948): A mulata no folclore sulriograndense. IBECC CNFL – doc. 43, Rio de Janeiro, 27. jul.; E. de O. e Oliveira (1974): Mulato, um obst‚culo epistemolûgico. Argumento (RJ), 1(3), p. 65 – 73; T. de Queiroz Jfflnior (1982): Preconceito de cor e a mulata na literatura brasileira. S¼o Paulo; J. M. Silva (1987): Racismo — brasileira: ra†zes histûricas. Bras†lia; Th. M. Stephens (1989): Dictionary of Latin American Racial and Ethnic Terminology. Gainesville; O. Ianni (1991): Ensaios de sociologia da cultura. Rio de Janeiro; S. Arndt & A. Hornscheidt (Hg.) (2004): Afrika und die deutsche Sprache. Münster ; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afrobrasileiro. S¼o Paulo

Mundus inversus (auch: Verkehrte Welt) Phänomen der verkehrten Welt, Umkehrung geltender sozialer Zustände. Dieses Phänomen ist weltweit verbreitet und in fast allen abendländischen Sprachen findet sich hierfür ein eigener Ausdruck (z. B. le monde renvers¦). Der Ursprung dieser Vorstellung liegt nach Kenner (1970) wahrscheinlich im Zweistromland. Für Kenner sind alle diese Feste der verkehrten Welt »Stirb- und Werderiten«, also Feste des Umbruchs, rites de passage, Durchgangsriten. Es mag jedoch auch sein, daß viele dieser Feste, vor allem die Saturnalien, von Staats wegen als ein Ventil revolutionärer Dynamik gepflegt wurden, d. h. um die in der Bevölkerung gärenden Umsturzgelüste einmal im Jahr frei sich verpuffen zu lassen. Mühlmann (1961) spricht in diesem Zusammenhang von einem »festlichen Sozialritus«, in dem die Revolution durch eine Institution entschärft werde. In dem Schema der verkehrten Welt manifestiere sich hiernach ein schlichtes »Ausgleichs- und Vergeltungsdenken«. Stubbe (1985, 1988) hat herausgearbeitet, daß sich dieses Phänomen weltweit auch in vielen Trauersitten beobachten läßt. Bereits Herodot (ca. 484 – 425 v. Chr.), der »Vater der Geschichte« (Cicero, de leg. 1,1,5), machte in seinen »Historien« (2,36) auf ein von Stubbe (1985:95) so genanntes »Trauerparadox« in Ägypten aufmerksam: Wo Bart und langes Haar im Alltag gelten, fallen sie in der Trauer der Schere zum Opfer und umgekehrt: »An anderen Orten lassen die Priester das Haar wachsen, in Ägypten aber scheren sie sich. Bei den übrigen Menschen ist es Sitte, das bei einer Trauer, die,

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welche es zunächst angeht, sich das Haupt scheren; die Ägypter aber lassen, sowie ein Todesfall eintritt, am Haupt und am Kinn ihre Haare wachsen, welche sie bis dahin geschoren hatten.« (Herodot, 2004:160) Dies gilt in vielen anderen Kulturen und Religionen z. B. im Judentum auch in der Gegenwart (vgl. z. B. Alon, 1995). Auch der Hexereivorstellung liegt ein Inversionsmotiv zugrunde (vgl. Behringer, 2008:7). !Haar !Karneval !Trauer !Ventilsitten H. Kenner (1970): Das Phänomen der verkehrten Welt in der griechisch-römischen Antike. Bonn; P. Bourdieu (1972): La maison ou le monde renvers¦. In: P. Bourdieu, Esquisse d’une th¦orie de la pratique. Gen¦ve; H. Stubbe (1985): Formen der Trauer. Berlin; ders. (1988): Trauerverhalten und das Phänomen der verkehrten Welt. Z.f. E., Bd.113, H 2, S. 199 – 205; J. Heers (1986): Vom Mummenschanz zum Machttheater. Europäische Festkultur im Mittelalter, Frankfurt/M.; J. Alon (1995): Psychologische Aspekte der Trauer im Judentum. Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie, Jg.1, N8 1, 1995:1 – 10; W. Behringer (2008): Hexen. München

Museen In Salvador (BA) existiert ein kleines »Museu Afro-Brasileiro« (gegr. 1982). Es fehlt jedoch bis jetzt in Brasilien ein zentrales Sklaverei-Museum mit entsprechenden Forschungs-einrichtungen und Bibliothek. Das »Museu do Folclore Edison Carneiro« (Rio de Janeiro) hat verschiedentlich Ausstellungen, z. B. über »Artesanato afro-brasileiro« (z. B. 16.3. – 17.5. 1982) etc. organisiert. Dieses Museum verfügt auch über eine äußerst reichhaltige (bibliografische) Sammlung und eine Bibliothek mit guten Arbeitsmöglichkeiten für Forscher. In Rio de Janeiro existieren ebenfalls das »Museu da Fundażo Casa de Rui Barbosa« mit eigener Bibliothek, sowie das »Museu Histûrico Nacional«. In England gibt es ein »International Slavery Museum« (Liverpool) und in den USA ein »Nationales Sklaverei-Museum« (Fredericksburg), sowie »The Afro American Museum« (Los Angeles). In Nantes, einer ehemaligen Stadt der Sklavenhändler (Reeder), wurde erstmals am 10. Mai 2006 der Sklaverei gedacht (am 10. Mai 2001 war die Sklaverei von der frz. Nationalversammlung als ein »Verbrechen gegen die Menschheit« geächtet worden und der 10. Mai als Sklaverei-Gedenktag etabliert worden, vgl. Frankfurter Rundschau, Nr. 108, 10. Mai, 2006:2). In Afrika hat ein grosses Forschungsprojekt der UNESCO (2000), das 1994 offiziell in Ouidah (Benin) eröffnet wurde, die Aufmerksamkeit auf die grossen Sklavenrouten gerichtet und sie gekennzeichnet. Auch existieren in einigen afrikanischen Ländern bereits Gedenkstätten (Memorials) bzw. Museen (z. B. Sansibar, Gor¦e, Bagamoio, Ghana, Luanda, Fort Elmina etc.). Heute wird immer dringlicher gefragt, wie die einzelnen Ausstellungsobjekte in die Museen gelangt sind (vgl.

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Beute- oder Raub-Objekte/Kunst-Diskussion) und auch eine »Musealisierung des Fremden bzw. Anderen« wird kritisiert (vgl. z. B. Dean, 2010). !Afrobrasilianistik ist zwar keine museale Wissenschaft, dennoch ist die Frage, wo im Sinne einer Erinnerungskultur wertvolle afrikanische und afrobras. Gegenstände aufbewahrt werden können, bisher nicht befriedigend geklärt. !Anhang !Afrobrasilianistik !Bibliografien !Geschichte der Afrobrasilianer !Kunst !Sklaverei Museu de Angola (Luanda) (1950): No tricenten‚rio da restaurażo (1648 – 1948). Luanda; Museu de Angola (Luanda) (1955): Coleżo etnogr‚fica. Luanda; Núvo Dicion‚rio de Histûria do Brasil. S¼o Paulo, 1970:426 – 428; M. E. Carrazoni (1978): Guia dos museus do Brasil. o. O.; Museu Afro-Brasileiro (Salvador, BA) (ed.) (1983): Cat‚logo. Salvador ; Associażo Brasileira de Museologia/ F. H. Santos et al.) (ed.) (1984): Cat‚logo dos museus do Brasil. (sem lugar)Patroc†nio da Xerox do Brasil; N. Figueiredo (1989): O negro nos museus da Amazúnica. CiÞncias em Museus (Bel¦m), 1(1); Frankfurter Rundschau, Nr. 108, Mittwoch 10. Mai 2006, S.2; I. Dean (2010): Die Musealisierung des Anderen. Stereotype in der Ausstellung »Kunst in Afrika«. Tübingen; Organisation: ICOM (International Council of Museums, gegr, 1948). Paris; Internet: UNESCO (2000): Slave Route Project/ Projeto Rota dos Escravos

Musik: die afrobrasilianische Musikkultur Die Afrikaner unterschiedlicher Kulturen brachten zahlreiche musikalische Elemente und Musikinstrumente mit sich nach Brasilien, Elemente, die sich mit der bereits vorhandenen indianischen Musik (vgl. z. B. CamÞu, 1977,1979) und der der Portugiesen (vgl. Das Neue Lexikon der Musik, Bd. 3, 1996:704ff) vermischten. Der seit dem frühen 19. Jh. in Portugal beliebte »Fado« (lat. fatum = Schicksal) ist z. B. wahrscheinlich afrikanischen bzw. bras. Ursprungs (vgl. Das Neue Lexikon der Musik, Bd. 2, 1996:9). Der Anteil der afrikanischen Komponente in der brasilianischen Musik ist unverkennbar und stark. Trotz der niedrigen sozialen Stellung der »schwarzen« Bevölkerung während der Sklavereizeit berichtet bereits der Naturforscher Karl Friedrich Phillip von Martius (1794 – 1868) über die »schwarzen« Männer, die in zahlreichen Musikkapellen beteiligt waren und bei den Festen der weißen gehobenen Bevölkerung Musik gemacht haben, bei der sich alle köstlich amüsierten (vgl. auch Scis†nio, 1997:178, 258 f; Lopes, 2006:26 f, 116; Abb.n bei Rugendas und Debret). Diese »schwarze« Musiktradition ist in Brasilien immer noch gegenwärtig. Trotz der beträchtlichen !Vorurteile gegenüber afrobrasilianischen Männern, die Musik machten und als »malandro« (= Gauner), faul, unseriös und vor allem gefährlich angesehen wurden, waren sie ununterbrochen die geistige und körperliche musikalische Kraft Brasiliens. Es sind seit dem 19. Jahrhundert kaum

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Musikkapellen zu finden, in denen keine große Anzahl von afrobrasilianischen Musikern zu finden wäre. Obwohl bisher die Rede von männlichen Musikern war, soll dennoch betont werden, daß die Rolle der afrobrasilianischen !Frau in der Instrumentalmusik immer unbedeutender war als die der Männer, auch als Komponistinnen fanden sie kaum Beachtung und ihre Lieder wurden weniger verbreitet. Diese Tradition hält immer noch an: Die erste Komponistin, die als solche in einer !Samba-Schule aufgenommen wurde war die Afrobrasilianerin Leci Brand¼o Anfang der 80er Jahre und sie blieb es als die einzige. Frauen waren und sind an der !Organisation von Veranstaltungen beteiligt, tanzten und boten ihre »terreiros« bzw. Salons für Veranstaltungen an. Ein bekanntes Beispiel für diese Frauenrolle innerhalb der städtischen Musikzene ist die afrobrasilianische »Tia Ciata« (ca. 1854 – 1929): Sie führte einen Salon in Rio de Janeiro am Anfang des 19. Jahrhunderts, wo die unterschiedlichsten Persönlichkeiten verkehrten, vom Polizeichef bis hin zu den »unbedeutendesten« Afrobrasilianern. Tia Ciatas Haus war in groben Zügen in drei Bereichen aufgeteilt: Im vorderen Teil war der Salon für die gehobenen – darunter meistens weiße – Persönlichkeiten, der mittlere Trakt war für die Afrobrasilianer und Musiker reserviert, im letzten Teil befand sich ihre afrobrasilianische Kultstätte, zu der nur die Eingeweihten und Afrobrasilianer Zugang hatten (vgl. Moura, 1983): Es ist eine Tatsache, daß bis heute die afrobrasilianische Musik eine enge Verbindung zu den afrobrasilianischen !Religionen besitzt, und daß viele afrobrasilianische Musiker auch Angehörige afrobrasilianischer Religionen sind. Diese Konstellation in Tia Ciatas Haus ist als ein zusätzliches Beispiel für die Widerstandskraft der afrobrasilianischen !Kultur zu sehen, die sich in einem Spiel zwischen Offenbarung und Tarnung bewegte (vgl. Moura, 1983). Die afrobrasilianische Musiktradition ist nicht zu verstehen ohne die Berücksichtigung der afrobrasilianischen !Tänze, beide bilden innerhalb der »cultura popular« das, was u. a. auch als Voksspiele und Tanzdramen bezeichnet wird. Darunter können wir exemplarisch den »Bumba-meu-boi«, die »congos« oder »congadas«, die die Krönung fiktiver Kongo-Könige darstellen, die »reisados«, die »cavalhada«, die »quilombo-Tänze«, etc. anführen (vgl. z. B. Araffljo, s.d.). Diese afrobrasilianischen musikalischen kulturellen Elemente haben ihren Ursprung in Brasilien und sind entstanden während der Sklavereizeit (vgl. Scis†nio, 1997:127 – 129). Sie drücken ihre Erinnerung und Sehnsucht (saudade) nach Afrika aus, aber blieben an den brasilianischen Kontext gebunden. Fast alle solchen Manifestationen finden wir heutzutage hauptsächlich im Norden oder Nordosten Brasiliens und in ländlichen Gebieten und sie haben ihre Zeit fest mit dem katholischen Kalender der religiösen Festen verbunden. Es steht außer Frage, daß der !Karneval die bekannteste tänzerische und musikalische Manifestation Brasiliens ist, obwohl der Karneval verschiedene

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Ausprägungen hat und in verschiedenen Formen im Lande zu erleben ist: In Rio de Janeiro hauptsächlich im Form der »escolas de samba« (= Samba-Schulen) die eine internationale Touristenattraktion und ein weltweites TV-Spektakel geworden sind und mit ihrem höchsten Organisationsgrad bis ca. 6000 Personen während einer Vorstellung zusammenhalten; in Salvador (Bahia) ist der Karneval dagegen gekennzeichnet durch die »Straßenfreiheit«, da alles auf den Straßen und ohne »Organisation« stattfindet unter dem Motto, wer Lust hat kann sich gesellen und hinter einem der »trios el¦tricos« (= Lastwagen, auf dem eine »banda« spielt und der bis zu hundert Lautsprechern besitzt) herziehen und in Olinda (Pernambuco) wird man im Rythymus des »frevo« (= hauptsächlich rhythmische Musikgattung, die sehr schnell ist, wobei die Tänzer oftmals mit riesigen Schwellköpfen hier in unterschiedlichen Choreographien tanzen) durch die zahlreichen und steilen Gassen mitgezogen oder man kann sich in den Salons am Tanz beteiligen. Die Verbindung zwischen dem !Samba und der Afrobrasilianität ist unbestritten. Auch wenn diese Musikgattung oft eingeschränkt und nur in Zusammenhang mit den »escolas de samba« gebracht wird, ist er immer noch, insbesondere in der Peripherie und den Armenvierteln der Südostregion, der Träger einer tiefeingewurzelten afrobrasilianischen Kultur, wie sie z. B. aus dem folgenden Samba-Lied »Avoz do morro« (= Die Stimme vom Hügel) von Z¦ Keti ersichtlich wird: Eu sou o samba A voz do morro Sou eu mesmo, sim Senhor Quero mostrar ao mundo que tenho valor Eu sou o rei dos terreiros Eu sou o samba Sou natural daqui do Rio de Janeiro Sou eu quem levo a alegria Para milhþes de coraÅþes brasileiros Mas um samba queremos samba quem esta pedindo Ê a voz do povo do pa†s Viva o samba vamos cantando Esta melodia pro Brasil feliz.

Ich bin der Samba Die Stimme vom Hügel Das bin ich wirklich, jawohl mein Herr Ich will der Welt zeigen Das ich Wert habe Ich bin der König der Terreiros Ich bin der Samba Ich stamme aus Rio de Janeiro Ich bin es, der die Freude Den Millionen von brasilianischen Herzen bringt Noch einen Samba Wir wollen Samba Wer da bittet Ist die Stimme des Volkes dieses Landes Es lebe der Samba, laßt uns singen Diese Melodie für ein glückliches Brasilien.

Alle afrobrasilianischen musikalischen und tänzerischen Manifestationen entstanden und behielten ihren Hauptspielraum am Rande der weißen, offiziellen Gesellschaftsstruktur und genau diese Manifestationen dienten als Grundlage für die Entstehung des !Samba: Batuque, lundu und jongo, die gegenwärtig nur noch sehr selten und dann von alten Afrobrasilianern in der familiären Sphäre praktiziert werden, gehören zu seinen Wurzeln. Es gibt zahlreiche Samba-For-

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men, aber in allen findet man oft eine spöttische, aber diskrete sozio-politische Kritik und sie behandeln als Thematik die Geschichte und soziale Stellung der Afrobrasilianer. Die afrobrasilianische Sängerin Alcione singt in einem Lied, daß der Samba die populäre brasilianische Therapie ist: Während der Teilnahme an einer Samba-Veranstaltung, entweder in der »quadra« (= im Geviert) der escola de samba oder im Hinterhof mit Freunden und Familienangehörigen und Samba singt und tanzt, fühlen sich die Teilnehmer befreit von ihren alltäglichen Bedrückungen, Sorgen und Unsicherheiten. Wir können hier von einer positiven therapeutischen Wirkung der Musik, der Trommeln, der Gesänge und des Tanzes sprechen (ähnlich wie in den afrobrasilianischen kurativen religiösen Sitzungen), die während und nach einer Samba-Sitzung eintritt: Man fühlt sich gelöst und gleichzeitig sozial und kulturell an eine gleiche Tradition gebunden. Was oben über den Samba gesagt wurde ist auch auf andere afrobrasilianische Musikgattungen zu übertragen: Der Samba-Reggae, die Blocos Afro, der Reggae von Maranh¼o, die Rap’s-Gruppen, etc. sind ebenfalls eine wesentliche Quelle der afrobrasilianischen Musiktradition, obwohl diese Gattungen noch eine relativ junge Geschichte haben. Sie gehören zu der musikalischen Orientierung der afrobras. Jugendgeneration in den Großstädten. Es ist eine Mischung von Samba, Reggae und afro-us-amerikanischen Rhythmen, d. h. eine Sythese von afrikanischen musikalischen Traditionen in der Neuen Welt, die aber oftmals sehr klare und scharfe politische Aussagen machen (vgl. Vianna, 1988; Cechetto & Farias, 2002; Instituto Antúnio Houaiss, 2006; Lopes, 2006; Schaeber, 2006). Diese Musikgruppen – in Deutschland ist der »Olodum« die bekannteste – versuchen eine politische Bewußtseinsbildung (oft auf der Basis der afrobrasilianischen Religionen) der afrobrasilianischen Jugend anhand der Musik zu erreichen, indem sie Aspekte des Alltaglebens und der rassischen !Diskriminierung, der Drogennutzung, der afrobrasilianischen !Geschichte, etc. besingen. Abschließend kann konstatiert werden, daß die Afrobrasilianer die brasilianische Zivilisation vor allem durch den musikalischen Bereich, d. h. den Gesang, die Instrumentation und Tänze geprägt haben. Sie eroberten sich diesen kulturellen Raum durch ihre Emotionen, durch ihren Leib und den Rhythmus und weniger durch objektive, direkte, militante Strategien. !Anhang !Berimbau !Folklore !Karneval !Made in Africa !Reiseberichte !Samba !Tanz Solano Trindade (1961): Cantares ao meu Povo. S¼o Paulo; A. Maynard Araffljo (s.d.): Brasil. Histûrias, costumes e lendas. S¼o Paulo (bebildert); J. B. Borges Pereira (1970): O negro e a comercializażo da mfflsica popular brasileira. Revista do Instituto de Estudos

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Brasileiros (SP), (8), p. 7 – 15; M. T. Barboza da Silva & A. L. de Oliveira Filho (1975): Filho de Ogum Bexiguento. Rio de Janeiro:MEC; T. Khallyhabby (1976): A influencia Africana na mfflsica brasileira. Cultura (Bras†lia), 6(23), p. 44 – 50; H. CamÞu (1977): Introdużo ao estudo da mfflsica ind†gena brasileira. Rio de Janeiro; dies. (1979): Instrumentos musicais dos ind†genas brasileiros. Rio de Janeiro; Cl. Schreiner (1977): Mfflsica popular brasileira. Darmsta(dt.); R. Moura (1983): Tia Ciata e a pequena Ýfrica no Rio de Janeiro. Rio de Janeiro: FUNARTE; N. M. Junqueira et al. (1986): O negro escravo e a mfflsica brasileira. Porto Alegre:UFRS; J. R. Tinhor¼o (1988): Os sons dos negros no Brasil. S¼o Paulo; V. Mariz (1988): A contribuiżo africana para a mfflsica brasileira. Estudos Afro-Asi‚ticos (RJ), (15), p. 105 – 116; H. Vianna (1988): O mundo funk carioca. Rio de Janeiro; Chr. McGowan & R. Pessanha (1993): The brazilian sound. Samba, Bossa Nova und die Klänge Brasiliens. St. Andrä-Wördern; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio Janeiro; World Music. The Rough Guide. 2 vol.s. London, 2000; F. Cechetto & P. Farias (2002): Do funk bandido ao pornofunk: o vaiv¦m da sociabilidade juvenile carioca. InterseÅþes – Revista de Estudos Interdisciplinares, 4, 2, 2002:37 – 64; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; P. Schaeber (2006): Die Macht der Trommeln. Olodum und die blocos Afros aus Salvador/BA. Bad Tölz; Instituto Antûnio Houaiss & R. C. Albin (2006): Dicion‚rio Houaiss Ilustrado Mfflsica popular brasileira. Rio de Janeiro (mit Discografie); M. P. Baumann (ed.) (2012): The World Music Bibliography : Index and abstracts. Vol. 1, 1959- vol. 52, 2010. Berlin; Chr. Dettmann (2012): Ein anderes Gesicht. Lokale brasilianische Musiker in Lissabon. Berlin; Institutionen: Academia Brasileira de Mfflsica (RJ); Instituto Nacional de Mfflsica (FUNARTE)

Mythen und Märchen Einführung: Die Mythen- und Märchenforschung hat in der europ. Romantik des 19. Jh. ihren Ausgang genommen und schon die frühe Völkerpsychologie und (Ethno-)Psychoanalyse hat sich intensiv mit diesem Thema befaßt. Aus ethnologischer Sicht hat Baumann (1959) einen klaren definitorischen Unterschied von Mythos und Märchen herausgearbeitet. Unter Mythos versteht er allgemein die anschauliche Darstellung des Weltbildes von Gemeinschaften. Als wesentliche Charakteristika von Mythen lassen sich nach Baumann und Eliade (1954) folgende Merkmale hervorheben: – Mythos ist ein für wahr gehaltener Bericht – die erzählte Geschichte ist sakral oder heilig – die Akteure des Mythos stehen über der Menschengesellschaft, sie sind übermenschliche Wesen – die Zeit der Handlung ist eine Urzeit der Schöpfung z. B. die »Traumzeit« der Aborigines, in der alles Wesentliche begründet wurde

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– die erzählte Geschichte ist exemplarisch für die Jetztzeit. Damit hat der Mythos einen normativen Charakter für den Glauben und die Riten. – der Ort der Handlung ist die »Ur-Erde«, der »Himmel« oder die »Unterwelt« – die wichtigsten Funktionen des Mythos bestehen darin: zu erklären (ätiologische Motive, z. B. !Krankheitsvorstellungen) und zu beglaubigen – der Mythos wird zelebrierend wiederholt und auf diese Weise wird die Urtat im Jetzt wieder präsent und wirksam. Das, was der Mythos erzählt, bewirkt er auch. Das Märchen, das die afrikanischen Ethnien nach Baumanns Ansicht durchaus vom Mythos zu trennen wissen, wird dagegen nicht für wahr gehalten. Es soll unterhalten, belehren, das Wunschdenken befriedigen und Angst abwehren etc. Es schildert nicht einen einmaligen Urzeitvorgang, sondern ein typisches Geschehen und verwendet »Wunder- und Zauberelemente« zum Aufbau einer dramatisch gesteigerten Handlung. Mythen und Märchen werden im Allgemeinen zur »oralen Literatur« gerechnet d. h. sie gehören zur Erzählkultur einer Ethnie. Der bekannte Schweizer Märchenforscher Max Lüthi (1960) hat folgende Merkmale der europäischen Märchen, die sich mit gewissen Einschränkungen auch in afrobras. Märchen finden, hervorgehoben: – Eindimensionalität: der Märchen-Diesseitige hat nicht das Gefühl, im Jenseitigen einer anderen Dimension zu begegnen. Es besteht keine Kluft zwischer profaner und numinoser Welt – Flächenhaftigkeit: die Märchengestalten sind Figuren ohne Körperlichkeit, ohne Innenwelt, ohne Umwelt; ihnen fehlt die Beziehung zur Vorwelt und zur Nachwelt, zur Zeit überhaupt; den Menschen und Tieren fehlt die körperliche und seelische Tiefe; den Märchenfiguren fehlt die Gefühlswelt, sie machen keine Erfahrungen, lernen nichts hinzu – Abstrakter Stil: er sieht von allem ab, was die Figuren, die Dinge und die Handlung verunklären könnte, Kennzeichen sind Wirklichkeitsferne, Technik der bloßen Bennenung, scharfe Umrißlinie, Handlungslinie, starre Formeln, formelhafte Rundzahlen, Vorliebe für Extreme, Wunder, etc. – Isolation und Allverbundenheit: die Beziehungsisoliertheit der Märchenfiguren drückt sich in dem Fehlen des numinosen Staunens, dem Fehlen der Neugierde, der Sehnsucht und der Angst im Verkehr mit Jenseitswesen aus. Die Isoliertheit bezieht sich auch auf die Lebenssituation der Märchenfiguren (z. B. Waise). Andererseits kann nur das, was nirgends verwurzelt ist, weder durch äußere Beziehung noch durch Bindung an das eigene Innere festgehalten ist, jederzeit beliebige Verbindungen eingehen (allseitige Beziehungsfähigkeit) und wieder lösen. Vollkommene Verkörperungen der Isolation und Allverbundenheit sind insbes. die Gabe, das Wunder und das stumpfe Motiv

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– Sublimation und Welthaltigkeit: Dinge wie Personen verlieren ihre individuelle Wesensart und werden zu schwerelosen, transparenten Figuren. Das Unheimliche, die unbestimmbare Gewalt des Numinosen fehlt. Alte Riten, Sitten und Gebräuche schimmern im Märchen durch. Die sexuellen und erotischen Stoffkerne sind im Märchen entwirklicht. Jede eigentliche Erotik fehlt. Die sublimierende Kraft schenkt dem Märchen die Möglichkeit, die Welt in sich aufzunehmen. – das Märchen vereinigt in sich die entscheidenden Pole des Seins: Enge und Weite, Ruhe und Bewegung, Gesetz und Freiheit, Einheit und Vielheit. Die (ethno-)psychologische Erforschung der Mythen und Märchen bemüht sich um Aufdeckung der überindividuellen seelischen Vorgänge, die sich in ihnen spiegeln. Dabei ist wichtig festzuhalten, daß Mythen und Märchen nicht allein auf der psychologischen sondern auf verschiedenen Ebenen zu interpretieren sind d. h. neben der philologischen/literaturwissen-schaftlichen müssen auch die ethnologische/volkskundliche und soziologische Ebene berücksichtigt werden. Auch von feministischer Seite liegen verschiedene Forschungsansätze vor (vgl. Göttner-Abendroth, 1993). Moderne Märchen- und Mythenforschung ist also immer ein interdisziplinäres Forschen. Wir können historisch gesehen grundsätzlich folgende Methoden der Mythenforschung unterscheiden (vgl. Leber, 1955; Streck, 1987; Hirschberg, 1988, 1998), wobei die ersten vier nur noch von historischer Bedeutung sind und heute als weitgehend überholt gelten können: 1. Die naturalistische Methode: Sie versucht jeden Mythos auf eine »primitive« Erklärung eines Naturvorganges wie Blitz, Wolken, Pflanzenwachstum, etc. zurückzuführen. Mythen sind dementsprechend »lunar, solar, astral« etc. 2. Die rationalistische Methode: Mythen werden in rationalistischer Weise auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Falls sich dieser nicht nachweisen läßt sind sie das Ergebnis von Mißverständnisssen oder Schwindel. 3. Die allegorische Methode: Hierbei werden Mythen als Weisheitslehren aufgefaßt. Sie enthalten also eine implizite (Ethno-)Philosophie, die es herauszuarbeiten gilt. 4. Die symbolische Methode: Mythen enthalten ursprüngliche (universale) Symbole, in denen z. B. religiöse Grundwahrheiten enthalten sind (vgl. Freud, 1900; Jung, 1948; Lurker, 1979; Schliephacke, 1979; Beit & Franz, 1960, 1965) 5. Die ritualistische Methode: Mythen werden hierbei mit Riten verglichen, wobei Ritus und Mythos als ursprünglich oftmals zusammengehörig angesehen werden, wobei jedoch im Verlauf der Zeit ein Bestandteil verloren gegangen sein kann. Sie steht in enger Beziehung zur funktionalistischen Interpretation des Mythos.

Mythen und Märchen

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6. Die strukturalistische Methode: Nach dieser vor allem von Claude L¦viStrauss vertretenen Methode ist der Mythenerzähler »weder im Wesentlichen kreativ (wie Jung und Eliade meinen), noch sich der Logik seiner Mythe bewusst (Jensen), sondern wiederholt, meist ohne es auch nur zu ahnen, uralte Grundstrukturen. Variationen der Struktur bilden im Strukturalismus ein vieldiskutiertes Problem, eine Irregularität, die (wie überhaupt der Mythos) am besten am Schreibtisch überwunden wird. Feldforschung bringt nur das Rohmaterial, das nicht der Erzähler in seinem Kraal, sondern der Forscher in seinem ›Laboratorium‹ zur logischen Theorie veredelt: Ein Prozeß der Reinigung der Mythen von allem ›Schmutz‹ regionaler und zeitbedingter Besonderheiten und von aller Phantasie, bis nur noch die abstrakte Struktur bleibt. Diese kann der Forscher erkennen, weil sie einerseits auch seinem eigenen Denken zugrundeliegt, und weil er andererseits den Mythenerzählern die abstraktionsfähige Selbsterkenntnis dessen voraus hat, der nicht mehr an die Mythen glaubt.« (Münzel, 1987:141 f) 7. Die kritisch-philologische Methode: Sie versucht das Alter der Quellen des jeweiligen Mythos zu bestimmen, welche Landschaft ihn geprägt hat, welche lokalen Überlieferungen er wiedergibt, welcher Ethnie er angehört, wie einzelne Motive gewandert sind, etc. Hauptprobleme stellen das Sammeln von Märchen, das Prinzip der wortgetreuen Wiedergabe, das Anlegen von Verzeichnissen der Märchentypen und -katalogen, der Vergleich aller Varianten (um zu »Urformen« durchzustoßen; Entstehungszentren, Verbreitung, Wander-wege), Stoff- und Motivuntersuchungen, Morphologie, Form, Struktur-, Stilanalysen, Erzählerforschung, etc. dar. Diese Methode bildet die eigentliche Grundlage für zuverlässige Interpretationen (vgl. Propp, 1982). 8. Die psychologischen Methoden: Sie können hier nur ausschnittweise dargestellt werden. Wir verweisen inbes. auf Wundt (1913), Bühler (1918), Leber (1955), Tausch (1967), Laiblin (1969), Schmidbauer (1970), Dieckmann (1973, 1974), Fromm (1994), Rosenkötter (1980), Franzke (1985), Adler (1993). Sowohl ethnohermeneutisches, inhaltsanalytisches wie auch experimentelles Vorgehen wurde in der Forschung bisher eingesetzt. Im Rahmen der Wundtschen Konzeption der Völkerpsychologie wird den Mythen und Märchen eine große Aufmerksamkeit geschenkt. Wundt faßte den Mythos erstens als Vorstellung auf (vernachlässigt dabei aber den Zusammenhang von Mythos und Ritus) und erkennt als Grundfunktion des Mythos die »beseelende Apperzeption« (eine Wiederaufnahme der Animismushypothese!). Nicht das intellektuelle Interesse, sondern der Trieb, dem Affekt Befriedigung zu verschaffen bestimmt nach Wundt die Mythenbildung. Mythen als geschichtlich entstandene geistige Erzeugnisse (wie die Sprache und die Sitten) lassen sich nicht experimentell erforschen, sondern nur durch eine Untersuchung der hö-

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heren psychischen Vorgänge und Entwicklungen. Auch für den Mythos schlägt Wundt ein evolu-tionistisches Entwicklungssystem vor: die Stufe des Animismus und Totemismus, die Stufe des (polytheistischen) Naturmythos und schließlich der Götter- und Heroen-Mythos (zur Kritik, vgl. Jensen, 1992). Im dritten Band seiner »Völkerpsychologie« liefert Wundt auch eine Analyse des Märchens. Hierin hebt er u. a. die Zeitlosigkeit der Gestalten und Szenen des Märchens hervor, die Zauber- und Wunderkausalität, die Charakterlosigkeit der Helden, den mythologischen Charakter zahlreicher »naturvölkischer« Märchen, die Allbeseelung der Gegenstände, die Assoziationen und Verschmelzungen der Märchenstoffe. Die tiefenpsychologisch orientierten Forscher (vgl. Laiblin, 1969; Fromm, 1981; Kast, 1986) bedienen sich vor allem der in Sigmund Freud’s »Traumdeutung« (1900) und »Märchenstoffe in Träumen« (1913) ausgiebig dargestellten Technik der freien Assoziation und Symboldeutung. C. G. Jung führte später die Methode der Amplifikation ein (vgl. Archetypenlehre). Jungs eigene Abhandlungen zum Märchen findet man in dem Sammelband »Symbolik des Geistes« (1948). Während die Psychoanalyse in den ersten drei Jahrzehnten ihres Bestehens die Mythen, Märchen und Bräuche fremder Ethnien studiert hat, um Beweise für ihre Annahme eines Unbewussten zu finden und in diesen Gestaltungen vor allem der Darstellung infantiler sexueller Wünsche und Konflikte nachging, steht heute der psychodynamische Aspekt und im Sinne der IchPsychologie, die Wirkung auf die Gesamtperson im Vordergrund. In diesem Sinne definierte z. B. Arlow (1961): »Der Mythos ist eine besondere Art gemeinschaftlichen Erlebens. Er ist eine spezielle Form gemeinsamen Phantasierens und dient dazu, auf der Basis bestimmter gemeinsamer Bedürfnisse eine Beziehung zwischen dem Individuum und den Mitgliedern seines Gesellschaftsgefüges herzustellen. Dementsprechend kann der Mythos vom Gesichtspunkt seiner Wirkung auf die psychische Integration aus studiert werden: welche Rolle er bei der Abwehr von Schuld- und Angstgefühlen spielt, wie er eine Form der Anpassung an die Realität und an die Gruppe, in der das Individuum lebt, darstellt, und wie er die Bildung der individuellen Identität und des ÜberIch beeinflusst.« LeVine betont in »Culture, Behavior and Personality« (1973), daß Mythen, Bräuche, Institutionen und andere kulturelle Phänomene keiner Psychoanalyse unterzogen werden könnten, denn sonst verzichte man auf alle validen Elemente der psychoanalytischen Methode. Die neuere Ethnopsychoanalyse verwendet für die Deutung der Mythen und Märchen die »ethnopsychoanalytisch-tiefenhermeneutische Interpretation.« Eine Lösung des komplexen psychologischen Methodenproblems könnte darin bestehen, den Mythos nach Karl Bühlers (1927) Gegenstandsschema der Psychologie unter 3 Aspekten in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zu betrachten, nämlich den Erlebnisaspekt, den Verhaltensaspekt und den Gebildeaspekt (vgl. Stubbe, 2012:473 – 477).

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Afrobrasilianische Mythen, Märchen und Fabeln: Die orale !Literatur der Afrobrasilianer ist sehr reichhaltig (vgl. Romero, 1885; Cascudo, 1947ff; Karlinger, 1972; Lorenz, 1983; Saraiva, 1984; Santos, 1992 etc.). Bekannt sind z. B. folgende »lendas« und »mitos«: »O negrinho do pastoreio«, »saci-pererÞ«, »a histûria do Chico Rei«, »o ouro de Minas Gerais«, »a morte de Zumbi«, »o engenho mal-assombrado«. Eine eindrucksvolle mythische Figur ist »Saci«, ein einbeiniger, ein rotes Barett tragender, Pfeife rauchender nackter Schwarzer, der in den Wäldern lebt und Konfusionen bewirkt. Wie in ihm und in vielen anderen kulturellen Phänomen Brasiliens, vermischen sich auch in diesen »einfachen Formen« (Legende, Sage, Mythe, Rätsel, cordel, !Sprichwort, Märchen, !Witz) oftmals indianische, portugiesische und afrikanische Elemente zu etwas Neuem. Die traditionelle Erzählkultur hat sich noch in einigen afrobras. Familien bis heute lebendig erhalten. Manche dieser »Urformen der Dichtung« enthalten jedoch auch !Vorurteile (»preconceitos raciais«). So beginnt z. B. Karlingers (1972:6) Sammlung bras. Märchen mit einem »Mischlingsmärchen«, in dem eine rassistische Hierarchisierung der Menschheit dargestellt wird (Quelle ist L. Gomes: Contos populares brasileiros, S¼o Paulo, 1965; vgl. Karlinger, 1972: 281). !Literatur !Made in Afrika !Vorurteile S. Romero (1885): Contos populares do Brasil. Lisboa (Rio de Janeiro, 1954, 4. ed.); J. G. Frazer (1907/15): The golden bough. 12 vol.s. London; A. Vierkandt (1912): Psychologische Grundfragen der Mythenforschung. Literaturbericht. Arch. f. ges. Psychologie, 1912:1ff; H.von Beit (1952): Symbolik des Märchens. Bern; L. da C–mara Cascudo (1947): Geografia dos mitos brasileiros. Rio de Janeiro; ders. (1952): Literatura oral. Rio de Janeiro; ders. (1954): Contos tradicionais do Brasil. Rio de Janeiro, 2.ed.; ders. (1980): Dicion‚rio do Folclore Brasileiro. S¼o Paulo; J. Campbell (1953): Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt/M.; St. Thompson (1955 – 58): Motif-Index of folk-literature. A classification of narrative elements in folktales, ballads, myths, fables, mediaeval romances, exempla, fabliaux, jest-books, and local legends. 6 vol.s. Kopenhagen; H. Baldus (1958): Die Jaguarzwillinge. Eisenach; D. M. dos Santos (1961): Contos negros da Bahia. Rio de Janeiro; ders. (1963): Contos de Nagú. Rio de Janeiro; P. Parin (1967): Zur Bedeutung von Mythus, Ritual und Brauch für die vergleichende Psychiatrie. In: N. Petrilowitsch (Hrsg.), Beiträge zur vergleichenden Psychiatrie, Teil II. Basel; G. Parrinder (1967): African mythology. London; W. Laiblin (Hrsg.) (1969): Märchenforschung und Tiefenpsychologie. Darmstadt; O. Vilas Boas & Cl. Villas Boas (1972): Xingffl. Os †ndios, seus mitos. Rio de Janeiro; F. Karlinger (1972): Brasilianische Märchen. Düsseldorf; H. Dieckmann (1973): Märchen und Träume als Helfer des Menschen. Oeffingen; M. Lüthi (1974): Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. München; J. Santana Braga (1974): Um mito africano sobre Ians¼ e sua variante brasileira. Revista Brasileira do Folclore (RJ), (40), p. 45 – 54; H. Sales (1975): O lobisomem e outros contos folclûricos. Rio de Janeiro; I. Tavares (1975): A import–ncia da literatura oral afro-brasileira. S‚r¦peg¦ (Salvador), 1(3/ 4), jul./dec., p. 35 – 38; H. V. Morel & J. D. Moral (1978): Diccionario Mitolûgico Ame-

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ricano. Buenos Aires; R. Almeida (1978): Candombl¦ em cordel. Salvador : Prefeitura da Cidade; B. P. Schliephacke (1979): Bildersprache der Seele. Lexikon zur Symbolpsychologie. Berlin; M. Lurker (1979): Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart; J. Santana Braga (1980): Contos afro-brasileiros. Salvador ; R. M. Rosenkötter (1980): Das Märchen – Eine vorwissenschaftliche Entwicklungspsychologie. Psyche, 2, S. 168 – 207; H. GöttnerAbendroth (1980): Die Göttin und ihr Heros. München (weitere Aufl.n); E. Fromm (1981): Märchen, Mythen, Träume. Reinbek; V. Propp (1982): Morphologie des Märchens. Frankfurt/M.; G. W. Lorenz (Hrsg.) (1983): Mythen-Märchen-Moritaten. Orale und traditionelle Literatur in Brasilien. Zeitschrift für Kulturaustausch, 33. Jg., 1 (Bibliographie); G. Saraiva (1984): Lendas do Brasil. Belo Horizonte; V. Kast (1986): Märchen als Therapie. Freiburg/Brsg.; A. E. Scis†nio (1988): Escravid¼o e a saga de Manuel Congo. Rio de Janeiro; K. Ranke (Begr.) (1991ff): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. 12 Bd.e. Berlin; K. H. Kohl (Hrsg.) (1992): Mythen im Kontext. Ethnologische Perspektiven. Frankfurt/M.; Th. Miranda Santos (1992): Lendas e Mitos do Brasil. S¼o Paulo; R. Pottier (1994): Essai d’anthropologie du mythe. Paris; H. Stubbe (1995): Suizidforschung im Kulturvergleich. Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie (Bonn), 1, S. 57 – 77; P. Verger (1997): Lendas africanas dos Orix‚s. Salvador ; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S.473ff

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Namen Einführung: Der Name gilt gleichsam als ein Teil der Person seines Trägers und kann Ausdruck seiner »Lebenskraft« sein. Die antiken Griechen hatten z. B. je nur einen N. Zur Unterscheidung Gleichnamiger wurde der N. des Vaters im Genitiv und die Heimatbezeichnung hinzugefügt z. B. »Demosthenes, Sohn des Demosthenes, aus Paianiea.« Bei den Römern war in den ältesten Zeiten nur ein Eigenname üblich z. B. Romulus. Die Frauen trugen den Familiennamen mit der Femininendung –a z. B. Tullia (die Tochter des Tullius Cicero). In der klassischen Zeit trug man drei N.: den Vornamen (praenomen), von denen es nur 18 gab, deshalb manchmal nur eine Ziffer z. B. Sextus, 2. den Familiennamen (nomen gentile) und 3. den Beinamen (cognomen) z. B. Ovidius (=Schäfer), Naso (=große Nase). Der freigelassene Sklave übernahm oftmals den Vor- und Familiennamen des Freilassers. Namensänderungen sind weltweit häufig im Rahmen von ! Initiation(sriten) üblich, auch im Zusammenhang mit Todesfällen versucht man oftmals übelwollende !Geister in die Irre zu führen und dadurch Krankheitsoder Todesfällen vorzubeugen. Eine besonders feierliche Angelegenheit ist z. B. bei vielen bras. Ethnien das Fest der Namensgebung (vgl. z. B. Vidal, 1992). Zum Namenszauber gehört die Sitte den N. einer verstorbenen Person nicht auszusprechen (vgl. Namenstabu, Stubbe, 1985:62ff). Andererseits werden die Namen verstorbener Verwandter angenommen, um ihnen auf diese Weise ein Fortleben als !Ahnen zu sichern. Das röm. »Nomen est omen« besagt, daß sich im N. das Wesen dessen, der ihn trägt zeigt (Plautus, Persa, 625). »Man soll ein Ding nicht bei seinem N. nennen« ist eine weit verbreitete Redensart. Unter Teknonymen versteht man Namen, die Personen mit Bezugnahme auf deren Kinder bezeichnen z. B. Vater/Mutter von … , in Nordeuropa finden sich Namen wie z. B. Johansen = Johan sin Sohn.

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Afrobrasilianische Vor- und Nachnamen: Nach C–mara Cascudo (1965:185 f) haben Afrobrasilianer eine gewisse Vorliebe für »nomes bonitos«. Er zählt einige extreme Beispiele auf: Francisco Facada Sargento de Cavalaria, Sidalfo Calafange Catol¦ da Assunżo Santiago, LanÅaPerfume Rodomet‚lico de Andrade. Vor- und Nachnamen können identitätsstiftend sein, aber auch stigmatisieren, bzw. zur !Diskriminierung führen (vgl. Bering, 1987). »Nomen est omen«, sagte bereits der o.g. Plautus. Dies läßt sich auch leicht an einigen Vor- und Nachnamen der Afrobrasilianer demonstrieren (zu den »nomes africanos« und der Namenspraxis während der Sklaverei wie z. B. »da Costa«, vgl. Azevedo, 1981; Bonaventura Leite, 1988; Lopes, 2006:121). !Ahnen !Initiation !Made in Africa !Sprache H. Ploß (1911): Das Kind in Brauch und Sitte der Völker (1882). 2 Bd.e. Leipzig (3. Aufl.); C. K. Ogden (1952): Wortmagie. Psyche, 18, S. 19 – 26; H. and C. Geertz (1964): Teknonymy. Journal of the Royal Anthropological Institute, 94, 1964; L. da C–mara Cascudo (1965): Made in Africa. Rio de Janeiro; R. Reichert (1970): DenominaÅþes para os muÅulmanos no Sud¼o Ocidental e no Brasil. Afro-Ýsia (Salvador), (10/1), p. 109 – 120; E. S. Azevedo (1981): An‚lise antropolûgica e cultural dos nomes de fam†lia na Bahia. Salvador : UFBa/CEAO; J. Wassmann (1987): Der Biß des Krokodils: Die ordnungsstiftende Funktion der Namen in der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt am Beispiel der Initiation, Nyaura, Mittel-Sepik. In: M. Münzel (Hrsg.), Neuguinea, Bd.2. Frankfurt/M.; D. Bering (1987): Der Name als Stigma: Antisemitismus im Alltag 1812 – 1933. Stuttgart; I. Bonaventura Leite (1988): Os sentidos da cor e as impurezas do nome. Florianûpolis: UFSC; R. Alford (1988): Naming and identity. New Haven; V. da Costa Lima (1989: Nomes: o nome. PadÞ (Salvador), (1), p. 7 – 9; H. Fischer (1996): Lehrbuch der genealogischen Methode. Berlin; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Nationalcharakter, sog. bras. Einführung: Der N. ist ein Begriff aus der us-amerikanischen Kulturanthropologie und ! Sozialpsychologie zur Erforschung fremder, für internationale Prozesse der ! Akkultu-ration bedeutungsvoller Nationalkulturen und derjenigen kulturellen Bestandteile einer Gesellschaft, die im Laufe der Prozesse der Sozialisation bzw. Enkulturation allgemeinverbindlich und typisch auf das heranwachsende Kind einwirken und seine kulturelle Rolle ausmachen. Ethnopsychologisch können unter N. diejenigen psychischen Eigentümlichkeiten verstanden werden, die zum »Charakter« geschlossen gedacht, der Mehrheit der Angehörigen einer Nation gemeinsam sind und sie von denen anderer Nationen unterscheiden. Verwandte Begriffe sind »Modal-Persönlichkeit« (Dubois, 1944) und »Basis-

Nationalcharakter, sog. bras.

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Struktur der Persönlichkeit« (Kardiner & Linton, 1939). Die weitverbreitete Meinung, »Völker« bzw. »Nationen« hätten einen bestimmten Charakter und brächten diesen in allen Phasen ihrer Geschichte immer wieder zum Ausdruck, ist sehr irreführend. Soziologisch wird der N. im Wesentlichen als ein nach dem !Vorurteilsmechanismus funktionierendes !Stereotyp des öffentlichen Bewusstseins verstanden und ist somit ein heute wissenschaftlich veraltetes, aber im Alltag, insbes. in den Medien, immer noch wirksames Konstrukt. Holzner (o. J., S.24) schreibt: »Ein weiterer Schritt wurde von Inkeles & Levinson (1954) getan, die sich um eine brauchbare Definition des Begriffes ›Nationalcharakter‹ bemühten. Sie bestimmten als Aufgabe der Völkerpsychologie die Untersuchung modaler Persönlichkeitsstrukturen im Zusammenhang der verschiedenen sozio-kulturellen Systeme. Dabei ist natürlich die erste, und bisher nirgends erfüllte Aufgabe, die Existenz solcher modaler Persönlichkeitstypen empirisch nachzuweisen. Erst nach diesem Schritt kann man an die Erklärung dieses Phänomens und an die Aufdeckung seiner Konsequenzen gehen.« Heinz Wiesbrock (1957) bemühte sich, anknüpfend an Eduard Spranger’s (1939) Schrift »Wie erfaßt man einen Nationalcharakter?«, um eine theoretische und methodologische Grundlegung der »Völkercharakterologie«- er spricht von »Ethnocharakterologie«- überschätzt hierbei jedoch den holistischen Ansatz. Bekannte Arbeiten über den N. sind Gorer’s Studien über »Die Amerikaner« (1947), die »Engländer« (1949) und die »Russen« (1950), Ruth Benedict’s während des II. WK.s entstandenene Studie über die »Japaner« (1946), David Riesmans Untersuchung über die Wandlungen des us-amerikanischen N.: »The lonely crowd« (1950) oder Jorge Ibarras (1985) Studie über den »Kubaner«. In Gorer’s Studie über den russischen N. findet sich auch die spekulative vulgärpsychoanalytische Wickel-hypothese, nach welcher der russische N. (z. B. Unselbständigkeit, Autoritätsfurcht, schwermütige Apathie) zu einem erheblichen Teil durch die Sitte, Säuglinge sehr eng zu wickeln, daß ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, bestimmt werde (vgl. Oblomow; Stubbe, 2012:480, 537, 678). Bekanntlich hat Plinius der Ältere (23/24 – 79 n. Chr.) in seiner »Naturalis historia« (lib.7, 1 – 5) beschrieben, wie die Säuglinge im Alten Rom gleich nach der Geburt mit Binden eingeschnürt wurden. Man kann wohl kaum behaupten, daß diese Wickel-Methode den röm. N. deshalb passiv und apathisch gestaltet hätte (vgl. auch Plutarch, de lib.ed., 4). Über das Wickeln im europ. MA schreibt Pauler (207:101): »Meist hatten Säuglinge nicht nur Windeln an, sondern der ganze Körper war mit Binden umwickelt, so dass nur der Kopf herausschaute. Auf diese Weise sollte ihnen der Übergang vom Mutterleib in die Außenwelt erleichtert werden, denn die ›Ganzkörperwindeln‹ schützen vor Kälte und Verletzungen und sollten ein harmonisches Wachstum ermöglichen« (vgl. auch Schipperges, 1990:28ff). Stubbe (1987, 2001) hat die Auffassungen über den sog. brasilianischen Nationalcharakter historisch zusammengestellt und einer kri-

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tischen Analyse unterworfen. Ab den 60er Jahre wurde die N.forschung einer methodischen und theoretischen Kritik unterzogen und zugunsten einer allgemeinen Theorie der !Persönlichkeit aufgegeben. Der sog. brasilianische Nationalcharakter: Seit 500 Jahren liegen aus Brasilien Beobachtungen und Berichte vor, die psychologische Charakterisierungen dessen enthalten, was Kulturanthropologen und Sozialwissenschaftler »Nationalcharakter«, »Sozialcharakter« oder »Volkscharakter« (auch: Modalpersönlichkeit) genannt haben. Wir wollen uns im Folgenden mit diesen Ideologien über den brasilianischen Nationalcharakter befassen und uns fragen, welche charakteristische Eigenschaften den Brasilianern im Laufe ihrer Geschichte zugeschrieben wurden und ob diese Charakteristika den Tatsachen entsprechen. Dabei werden wir uns exemplarisch vor allem auf folgende Quellen und Autoren stützen: Pero Vaz de Caminha (1500), Amerigo Vespucci (1502, 1504), Newen Zeytung auss Presillg Landt (1514), Jean de L¦ry (1557), Hans Staden (1557), Gabriel Soares de Sousa (1587), Koster (1817), Affonso Celso (1900), Euclides da Cunha (1902), Oliveira Vianna (1954), Paulo Prado (1928), Sergio Buarque de Holanda (1936), Affonso Arinos de Mello Franco (1936), Cassiano Ricardo (1963), Fernando de Azevedo (1943), Arthur Ramos (1942), Gilberto Freyre (1933), Jo¼o Cruz Costa (1950), Roberto da Matta (1984). Im Groben lassen sich für diesen Zeitraum folgende vier Phasen der Ideologien des brasilianischen Nationalcharakters unterscheiden: 1. Die koloniale Phase (1500 – 1822) der Entdeckung und des Nativismus mit ihrer reichhaltigen !Reiseliteratur (z. B. Schaden, 1953, 1980; Baldus, 1954, 1968; Gusinde, 1946; Garcia, 1922: 856ff; Rescher, 1979; Augel, 1980; Borba de Moraes, 1983; Stubbe, 1975, 1987, 2001). 2. Die Romantik (1822 – 1880), in der das Land seine politische Unabhängigkeit erreicht und sich ein positives Bild Brasiliens und der Brasilianer herausbildet, vor allem im idealisierten Bild des »Indianers« (Freiheitsliebe, Individualismus, Erdverbundenheit) als Symbol der brasilianischen Nation (»Indianismus«) (vgl. Driver, 1942; Carpeaux, 1967; Ferreira, 1949, Carlos Gomes, 1870; Schwamborn, 1986; Stubbe, 1996, 2001). 3. Der Aufstieg der Sozialwissenschaften (1880 – 1950) und das pesimistische Bild des Brasilianers. Vor allem die aus Europa und den USA importierten biologistischen Rassentheorien erlaubten es den brasilianischen Ideologen, die Unterentwicklung des Landes durch die Existenz »unterlegener« und »minderwertiger« !»RaÅas« und Mischrassen oder durch anthropogeographische Argumente (vgl. etwa Ratzel) zu erklären. In Wirklichkeit ist es aber nicht schwer zu erklären, warum diese Theorien

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sich in Brasilien durchsetzten. Zum einen koinzidierte ihre Aufnahme mit der Sklavenbefreiung (1888) und es liegt nahe anzunehmen, daß diese Rassentheorien eine Form der Abwehr der Weißen gegenüber dem sozialen Aufstieg der ehemaligen afrobrasilianischen Sklaven darstellten. Andererseits konnte vermittels dieser Rassenlehren gerechtfertigt werden, diese Gruppen im Zustand einer Halbsklaverei (vgl. Santos-Stubbe, 1995) zu halten. So wie die europäischen Völker ihren !Kolonialismus mit der vermeintlichen Unfähigkeit der »farbigen« Völker begründeten, rechtfertigten die herrschenden Klassen Brasiliens ihre Privilegien mit der Unfähigkeit der !»Negros«, »Indianer« und ! »MestiÅos«. Mit dem Aufstieg der Sozialwissenschaften, vor allem aber durch den Untergang des Nationalsozialismus (1945) wurden die biologisch orientierten rassistischen Theorien aufgegeben und an ihre Stelle traten nun oftmals kulturalistische Theorien über den brasilianischen Nationalcharakter, die dazu dienten, zwar nicht die Unterlegenheit einzelner »Rassen« nachzuweisen, aber nun bestimmter kultureller Stufen (Niveaus): Dieser theoretische Ansatz weist durchaus Ähnlichkeiten mit den biologischen Theorien auf, betrachtet er doch den »Indianer«, die »Negros« und die »MestiÅos« als Objekte, ohne sich mit ihnen zu identifi-zieren, bzw. ihre menschlichen und kulturellen Qualitäten wahrzunehmen. 4. Das Wirtschaftswachstum (1950 – 1984) in Richtung auf ein »Schwellenland« und die wissenschaftliche Ablehnung der Ideologie vom Nationalcharakter. Die Überwindung der 3. ideologischen Phase erfolgte jedoch nicht abrupt, sondern sehr allmählich. Bereits früher hatte Manoel de Bomfim (1868 – 1932) sich zwar kritisch geäußert, jedoch ohne Widerhall (zu Manoel de Bomfim, vgl. Ribeiro, 1984). Auch Eduardo Frieiro (1931) hatte klar herausgearbeitet, daß es zwar Unterschiede zwischen Individuen, aber nicht Völkern gäbe. Nach dem 2. Weltkrieg erfolgte dann eine umfassende Kritik des Nationalcharakters aus den Reihen der Soziologen und Sozialpsychologen. Roger Bastide (1948) stellte z. B. fest, daß die Soziologie alle Versuche der Beschreibung eines Nationalcharakters gänzlich zerstört habe und Otto Klineberg (1948) hob die Inexistenz einer empirischen Grundlage für die Attribuierung psychologischer Eigenschaften hervor. Für Leite (1983) ist aber das Verschwinden der Ideologien vom brasilianischen Nationalcharakter vor allem auf politische und ökonomische Faktoren zurückzuführen. Die Ideologie begann in dem Moment an Einfluß zu verlieren, in dem die objektiven Bedingungen der ökonomischen Entwicklung Brasiliens, d. h. die expansive Industrialisierung gewissermaßen die Notwendigkeit eines neuen, positiv gefärbten Nationalismus und einer ökonomischen Unabhängigkeit nahelegten und die früheren Erklärungen mit Hilfe der nationalen Unterlegenheit ersetzten. Die Dekade von 1950 ist ja auch gekennzeichnet durch den

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Kampf um das staatliche Petroleum-Monopol und die Verteidigung der brasilianischen Nationalwirtschaft. Fungierten bis zu diesem Zeitpunkt die USA für die lateinamerikanischen Länder als »Modell des Fortschritts« und damit auch als Quelle aller Minderwertigkeitsgefühle, so werden sie seit ca. 1950 als Zentrum des ökonomischen Imperialismus gesehen. Wie in jeder nationalistischen Bewegung herrscht nun ein optimistischer Ton vor, der scharf mit dem Pessimismus der 3. Phase kontrastiert (Eine detaillierte Zusammenstellung dieser brasilianischen Ideologien seit 1500 findet sich bei Stubbe, 2001:278 – 292). Am häufigsten wurde der (Neo-) Brasilianer als individualistisch, gefühlvoll, träge, gastfreundlich, duldsam, leutselig (gesprächig), freiheitsliebend, genügsam, erotisch, großzügig, sanft, friedliebend geschildert und seine Neigung zur Nachahmung des Ausländischen (Xenophilie und Transozeanismus) betont. Diese Merkmale lassen sich zu folgenden Sammelbegriffen zusammenfassen: Trägheit, Nachahmung des Ausländischen, Duldsamkeit, Individualismus und Güte. Die Trägheit ist ein Wesenszug, der von allen Autoren seit dem 19. Jh. verzeichnet wird, mit Ausnahme von Arthur Ramos, Euclides da Cunha und Cruz Costa, die jedoch kein Gesamtbild des brasilianischen Nationalcharakters geben wollten. Die Tendenz zur Nachahmung des Ausländischen wird von allen Beobachtern vermerkt, ebenso wie die Toleranz mit Ausnahme der o.g. drei Verfasser. Sie äußert sich vor allem als Leutseligkeit, als Neigung zur Gleichheit und als Vorurteilslosigkeit. Den Individualismus, der bei Euclides da Cunha und Cruz Costa unberücksichtigt bleibt, führt man im allgemeinen auf das Unvermögen des Brasilianers zurück, ein geordnetes Gemeinschaftsleben zu schaffen, oder auch auf seine Eigenliebe und Disziplinlosigkeit. Die »cordialidade« und die Güte, die »bondade brasileira«, erscheint meist in Verbindung mit verwandten Charakteristika: Gastfreundlichkeit, Gefühlstiefe und Sanftheit. Wenn wir uns also ein abgerundetes Bild des Brasilianers auf Grund dieser Ideologien machen wollen, müssen wir uns einen bequemen, eigenwilligen, gütigen, duldsamen Menschen vorstellen, der gerne Ausländer nachahmt. Moreira Leite (1983) hat in seiner kritischen Analyse dieser Ideologien hervorgehoben, daß diese rein deskriptiven Betrachtungen keine wissenschaftlichen Kriterien enthalten und ihre Behauptungen unter diesem Gesichtspunkt offensichtlich oberflächlich sind. Zur Erklärung des Entstehens der Auffassung über bestimmte Charakterzüge des Brasilianers lassen sich folgende 4 Hypothesen aufstellen: 1. Einflüsse der europäischen Theorien der Zeit: Die Ideologien über den brasilianischen Nationalcharakter spiegeln mehr oder weniger genau die europäischen Theorien über die Unterschiede der

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Völker und !»raÅas« wieder. Dabei werden jedoch die gängigen Lehrmeinungen nicht im vollen Umfang übernommen, sondern einerseits aufgrund mangelnden Verständnisses und andererseits aufgrund der festgelegten Widersprüche zwischen der brasilianischen sozialen Wirklichkeit und den übernommenen Theorien umgeformt. So hebt etwa Euclides da Cunha, der sich die Theorie von der physischen Unterlegenheit der !»mestiÅos« zu eigen macht, andererseits ihren Mut und ihre Widerstandsfähigkeit bei schwerer Arbeit hervor. Um diese Widerspruch zu erklären, stellt Euclides da Cunha eine neue Hypothese auf, nach der der im Sert¼o lebende »mestiÅo« sich zu einem neuen »Rassetyp« entwickelt habe. In ähnlicher Weise haben auch andere Autoren die formal übernommenen europäischen Lehrsätze geändert, um sie der brasilianischen Wirklichkeit verträglich zu machen. Somit läßt sich der Ursprung der brasilianischen Ideologien über den Nationalcharakter nicht durch eine einfache Übernahme einer europäischen Ideologie erklären. 2. Ideologien als Ergebnis der Beobachtung objektiver Verhältnisse: Da die europäische Theorie die brasilianische Ideologie nicht erklären kann, könnte man annehmen, daß letztere objektiven Beobachtungen der brasilianischen Verhältnisse entspringe. Dieses trifft auch in einigen spezifischen Fällen zu, aber meistens erfolgt die Charakterisierung des Brasilianers wie auch des Ausländers (vgl. zum Deutschenbild der Brasilianer : Bayer, 1964; Heinrich, 1964; Bader, 1980; Ramos, 1975: 178ff; Di¦gues Junior, 1977:136ff; Willems, 1980; Loyola Brand¼o, 1983; Nisia Floresta, 1982; Koch-Hildebrandt, 1977; Ribeiro, 1994; Stubbe, 2001) in zu allgemeinen Wendungen, als daß ihre Übereinstimung mit der Wirklichkeit als fundiert angenommen werden kann. 3. Projektion der individuellen Merkmale des Ideologen: Wendet man den psychoanalytischen Begriff der Projektion, nach der wir dazu neigen, unsere eigenen unerwünschten Eigenschaften, Vorstellungen und Gefühle, die uns unbewußt sind, bei anderen zu finden, auch auf die soziale Wahrnehmung an, so hieße das, daß die Urheber der brasilianischen Ideologien den Brasilianern die eigenen individuellen Merkmale zuschreiben. Die Schwierigkeit für eine solche Annahme besteht in diesem Falle jedoch vor allem darin, daß viele der beschriebenen Eigenschaften des brasilianischen Nationalcharakters durchaus als erwünscht bezeichnet werden können (etwa Toleranz und Güte) und somit im Sinne der psychoanalytischen Theorie nicht das Ergebnis einer Projektion sein können. Dagegen kann für die negativen Eigenschaften durchaus ein projektiver Vorgang angenommen werden. 4. Klassen- und Rassenvorurteile: Ein wichtiger Umstand ergibt sich bei der Schilderung des Brasilianers vor allem durch die Tatsache, daß ihre Autoren sich zumeist als außerhalb der brasilianischen Gesellschaft stehend betrachten, sich also über ihre eigene soziale Position, Herkunft und Erfahrung selten Rechenschaft ablegen. Hinzu

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kommt, daß ein großer Teil der brasilianischen geistigen Elite ihre Ausbildung im Ausland erhielt, bzw. sie dort ergänzte. Außerdem schreiben viele Ideologen einige der Charakteristika dem Weiterbestehen von »Indianer«- und »Afro«Elementen in der brasilianischen Kultur zu, was den Gedanken nahelegt, daß in ihren Schlußfolgerungen ein Rassen- und Klassenvorurteil verborgen liegt. Obgleich die Begriffe »RaÅa« und Klasse im soziologischen Sinne sich nicht decken, gilt doch für Brasilien, daß die !»Negros«, !»Pardos« und !»MestiÅos« in ihrer großen Mehrheit den unteren Gesellschaftsschichten angehören. Demnach könnte man annehmen, daß die soziale Wirklichkeit Brasiliens im Vergleich mit anderen Ländern ihre Erklärung in einer Voreingenommenheit gegen die wirtschaftlich und sozial weniger begünstigten Klassen und ethnischen Gruppen fände. Der einer höheren oder gehobenen Gesellschaftsschicht angehörende Ideologe wälzte demnach die Verantwortung für die brasilianischen Verhältnisse (Mißstände) auf die unteren Schichten ab (!Sündenbockrolle). Auch bei dieser Hypothese besteht wieder die Schwierigkeit in der Tatsache, daß einige der angeführten Eigenschaften wünschenswert sind und somit nicht als Ausdruck eines Vorurteils betrachtet werden können. Wenn sich auch die oben genannten Betrachtungsweisen nicht ausschließen, sondern sinnvoll zusammenfassen lassen, so scheint doch die Deutung der Ideologen als Ergebnis eines Rassen- und Klassenvorurteils die zutreffendste zu sein, besonders dann, wenn wir uns die Motive und Absichten der Ideologen vor Augen führen. Denn die ideologische Absicht bestand tatsächlich nicht eigentlich in der Herausarbeitung der psychologischen Merkmale des Brasilianers, sondern vielmehr in der Suche nach einer Erklärung für die »Unterentwicklung«, bzw. »Unterlegenheit« Brasiliens. Es ist verständlich, daß der brasilianische Intellektuelle, der das wissenschaftlich-kulturelle Leben in anderen Ländern kennt und der Brasilien z. B. mit den Vereinigten Staaten von Amerika oder Europa vergleicht, fast zwangsläufig nach Erklärungen für die auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens spürbaren Unterschiede sucht. Da der Ideologe sich im Allgemeinen nicht mit der Gruppe identifiziert, die er beschreibt, macht er sie oftmals für die Zustände Brasiliens verantwortlich (vgl. !SündenbockRolle). Zwischen dieser Haltung und dem herkömmlichen politischen Patriarchalismus, der die nationale Entwicklung Brasiliens gekennzeichnet hat, sowie den Bewegungen zur »Erneuerung und Rettung des Landes« besteht ein Zusammenhang. Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern sind dieselben intellektuellen Prozesse zu erkennen: Verurteilung des Volkes, politischer Patriarchalismus und Bewegungen nationaler Erneuerung. Eine Erklärung für diese Entwicklung mag auch in der Analyse der ökonomischen Situation Brasiliens zu finden sein, in der eine kleine bevorzugte Schicht um die Macht ringt, während die breite Masse keinen Einfluß auf die für das Land wichtigsten Entscheidungen hat (vgl. Furtado, 1975; Cardoso &

Négritude (frz., bras. negritude)

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Brignoli, 1984). Es darf nicht übersehen werden, daß diese Interpretation nicht auf alle Ideologen zutrifft (z. B. Cruz Costa, da Matta) und daß die oben gegebene Erklärung nicht die Möglichkeit ausschließt, die Ideologien über den bras. Nationalcharakter könnten tatsächlich Eigenschaften des Brasilianers aufdecken oder zumindest von Wesenszügen ausgehen, die der direkten Beobachtung zugänglich sind. Das !Vorurteil gegenüber einer Gruppe äußert sich nicht nur in der Beschreibung einzelner Merkmale, sondern in den (biologischen, psychologischen und soziologischen) Erklärungen, die für sie gegeben werden. Am Beispiel der vermeintlichen Trägheit des Brasilianers soll dies verdeutlicht werden. Sie ist als eine Folgeerscheinung des Fehlens von Arbeitsplätzen zu deuten oder der Unmöglichkeit, durch größere Anstrengungen die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern. Dies wäre kein Vorurteil. Es wäre aber eins, wollte man in ihr eine feste Eigenschaft sehen, die für gewisse »rassische« Gruppen oder Klassen eigentümlich ist (vgl. Stubbe, 2001:276 – 296). !Stereotype !Sozialpsychologie !Sündenbockphänomen !Vorurteile R. Benedict (1934, 1955): Urformen der Kultur. Reinbek; M. Mead (1953): National character. In: A. L. Kroeber (ed.), Anthropology today. Chicago; A. Inkeles & D. J. Levinson (1954): Nationalcharacter. The study of modal personality and socio-cultural systems. In: G. Linzey et al., Handbook of social psychology. Cambridge/Mass.; G. Gorer (1956): Die Amerikaner. Reinbek; J. F. Carneiro (1971): Psicologia do brasileiro e outros estudos. Rio de Janeiro; A. Kardiner & E. Preble (1961, 1974): Wegbbereiter der modernen Anthropologie. Frankfurt/M.; R. Linton (1974): Gesellschaft, Kultur und Individuum. Interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Grundbegriffe. Frankfurt/M.; D. M. Leite (1983): O carater nacional brasileiro. S¼o Paulo; J. Ibarra (1985): Un an‚lisis psicosocial del cubano: 1898 – 1925. La Habana; R. da Matta (1986): O que faz o brasil Brasil? Rio de Janeiro (2. ed.); Cl. Geertz (1993): Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Frankfurt/M.; H. Stubbe (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S. 480ff; L. de Mause (2005): Das emotionale Leben der Nationen. Klagenfurt

Négritude (frz., bras. negritude) Die N. ist eine kulturphilosophische und literarische Bewegung, die im Paris der 30er Jahre entstanden ist. Hier trafen nämlich afrikanische Intellektuelle wie z. B. A. C¦saire und L. G. Damas (aus der Karibik) und L. S. Senghor (aus dem Senegal) aus den frz. Kolonien zusammen. Anregungen kamen u. a. durch die Harlem-Renaissance der 20er und 30er Jahre in den USA (vgl. Jazz), durch die ethnologischen Forschungen in Afrika (z. B. L. Frobenius, M. Delafosse) und den »Afrikanismus« (!Primitivismus) in der modernen !Kunst (z. B. Braque, Picasso, Kirchner). Insbes. in der Zeitschrift »LÊtudiant Noir« wandten sich die afrikanischen Intellektuellen gegen die eurozentrische und kolonialistische

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Vorstellung von einem ahistorischen und »kulturell minderwertigen« Afrika. Aim¦ David C¦saire (1913 – 2008) aus Martinique, der auch den Begriff der N. prägte, betonte die Gemeinschaft aller Schwarzen, ihre gemeinsame Geschichte des Leidens unter der !Sklaverei und dem !Kolonialismus, sowie ihre kreativen kulturellen Leistungen auch in der Neuen Welt (Afro-Amerika). In Afrika verstand man dagegen unter N. vor allem die Betonung der eigenen kulturellen Werte und Eigenschaften, wie z. B. Emotionalität und Harmonie mit der Natur im Gegensatz zu der europäischen Vernunft und dem Fortschrittsglaube. Seit den 60er Jahren wird das Konzept der N. auch von afrikanischer Seite verschiedentlich als rassistisch, undifferenziert und rückschrittlich kritisiert. Die Diskussion um die Ästhetik und Philosophie der N. hat auch die afrobrasilianischen Intellektuellen, bereits seit Luis Gonzaga Pinto da Gamas (1830 – 1882) Zeit (vgl. z. B. »A Bodarrada«, »Quem sou eu«), einem »precusor do !abolicionismo« (Menucci, 1938), in einer »Negritude antes do tempo« bewegt (vgl. Bernd, 1988). Das im Jahre 1944 gegründete !»Teatro experimental do Negro« (TEN) kann ebenfalls als eine frühe afrobrasilianische Manifestation der N. angesehen werden. Seit 1978 sind afrobras. literarische Gruppen wie »Quilombhoje« (S¼o Paulo) und »Negr†cia« (Rio de Janeiro) hervorgetreten. !abolicionismo !Afrobrasilianer !Emanzipation !Geschichte der Afrobrasilianer !Interkulturelle Philosophie !Kultur !Kunst !Literatur ! Musik !Primitivismus R. Ellison (1964): Shadow and act. New York; A. Margarido (1964): Negritude e humanismo. Lisboa; Cl. Moura (1974): Negritude: uma solużo, nunca um dilemma. Jornal de Debates (S¼o Paulo), ano XXIII, N8 15; N. Lopes (1982): Islamismo e negritude. Rio de Janeiro (Fac. de Letras, UFRJ); Z. Bernd (1988): O que ¦ negritude. Col. Primeiros Passos. S¼o Paulo; dies. (1988): Introdużo — literatura negra. S¼o Paulo; K. Munanga (1989): Negritude afro-brasileira: pespectivas e dificuldades. PadÞ (Salvador), (1), p. 23 – 27; J. Heinrichs (1992): »Sprich deine eigene Sprache, Afrika.« Von der Negritude zur afrikanischen Literatur der Gegenwart. Frankfurt/M.; P. Laranjeira (1995): A negritude africana de l†ngua portuguesa. Porto; J. Schultz (1995): Wild, irre, rein. Wörterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900 und 1940. Gießen; G. Davis (1997): Aim¦ C¦saire. Cambridge; A. Gomes & F. Cavacas (1997): Dicion‚rio de autores de literaturas africanas de lingua portuguesa. Lisboa; L. Sansone (2004): Negritude sem Etnicidade. Salvador

»Negro« In der älteren (auch Fach-)Literatur bis in die 80er Jahre des 20. Jh.s war in Brasilien (und teilweise bis heute) der Ausdruck »n.« üblich, vergleichbar dem dt., heute nicht mehr gebräuchlichen, Wort »Neger«. In dem Etymologischen

»Negro«

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Lexikon der portugiesischen Sprache (Carneiro da Cunha, 1982:546) heißt es (die röm. Zahlen beziehen sich auf die Jahrhunderte): »negro, adj. ›preto, sujo, lfflgubre‹ XIII. Do lat. niger, nigra, nigrum // Denegrecer XIII // Denigridor 1872 // Denegrir / XVIII, -nigrir XVII // Enegrecer XX // Enegrecido XX // Enegrecimento XX // negrada 1899 // negralh¼o 1858 // negraria 1881 // negreiro XIX // negrejar XVII // negrid¼o // negridam XVI // negrita XX // negrito XX // negrûfilo XIX // negrûide XIX // negror 1881 //. Do lat. nigror –oris // negrume XVI // negrura XIV.« Gilberto Freyre (1936, 1985:632 – 665) hat im 2. Band seiner »Sobrados e mucambos« ein aufschlussreiches Kapitel über »Em torno de uma sistem‚tica da miscigenażo no Brasil patriarcal e semipatriarcal« geschrieben, in dem er die »Rassensystematik« (uma sistem‚tica da miscigenażo no Brasil) des R. J. de Souza Gayoso (1818) u. a. darstellt (Der dt. Rassist und Nazi-Ideologe H. F. K. Günther wird übrigens hierin auf S.660 und 664 zitiert!). Heute betrachtet man den Ausruck »n.« als diskriminierend (ebenso wie »Neger« in der dt. Sprache, vgl. Arndt & Hornscheidt, 2004:184 – 189), vermeidet ihn und ersetzt ihn durch !»Afrobrasilianer« oder !»Afrodescendentes«. Die afrobrasilianische Psychiaterin Neusa Santos-Souza (1983:29) stellt zu Recht fest, daß in Brasilien »negro« mit »sujo« (= schmutzig) assoziiert wird. Sie kritisiert, daß sogar das wichtigste bras. Sprachlexikon, der »Aur¦lio«, bei dem Begriff »negro« 10 pejorative Attribute aufführt, nämlich: sujo, triste (= traurig), maldito (= verflucht), melancûlico, perverso, escravo (= Sklave), funesto (= finster), lutuoso (= traurig), sinistro (= unheimlich), encardido (= vergilbt) (vgl. auch Stephens, 1989:332ff, der 56 Bezeichnungen aufführt!). !Einführung !»mestiÅo« !»mulata« !»pardo« !Rassismus !Sprache G. Raeders (1934): Le comte de Gobineau au Br¦sil. Paris; G. Freyre (1936, 1985): Sobrados e mucambos. 2 vol.s. Rio de Janeiro (7. ed.); Carneiro da Cunha (1982): Dicion‚rio Etimolûgico Nova Fronteira da L†ngua Portuguesa. Rio de Janeiro; N. Santos Souza (1983): Tornar-se negro. Rio de Janeiro; S. Th. M. Stephens (1989): Dictionary of Latin American Racial and Ethnic Terminology. Gainesville; Arndt & A. Hornscheidt (Hg.) (2004): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster ; Novo Dicion‚rio Aur¦lio, s.d. Rio de Janeiro (viele Auflagen)

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Ökonomie und Arbeitswelt Wirtschaftliche Stellung und Chancen der Afrobrasilianer auf dem gegenwärtigen Arbeitsmarkt: In diesem Stichwort soll über eine ethnische Selektion auf dem Arbeitsmarkt, die die Afrobrasilianer für die niedrigsten und am schlechtesten bezahlten Tätigkeiten auswählt, gesprochen werden. Diese Selektion hat u. a. als Konsequenz, daß eine sozio-ökonomische Mobilität dieser Bevölkerungsgruppe sehr stark erschwert wird durch eine ethnische !Diskriminierung, die den brasilianischen Arbeitsmarkt prägt. Als eine unter vielen Konsequenzen ist die niedrigste Stellung dieser Gruppe innerhalb der wirtschaftlichen Landschaft des Landes zu nennen. Was für die große Mehrheit der afrobrasilianischen Bevölkerung grundlegend ist, ist immer noch die Struktur einer kastenähnlichen Gesellschaft, die in allen Sektoren und Wirtschaftszyklen (z. B. Zucker, Kaffee, Gold, Industrie etc.) durch die !Hautfarbe ihrer Mitglieder definiert wird, was als Hauptfaktor für die sozio-ökonomische Schichtung dieser Gesellschaft betrachtet werden muß. In den Zeitungsanzeigen war es bis vor kurzem, und manchmal immer noch, üblich indirekt zu annoncieren, daß z. B. eine !»pessoa de cúr« (=»farbige« Person, euphemistisch für Nicht-Weiße bzw. Afrobrasilianer) für bestimmte Stellen nicht akzeptiert werden würde, oder daß nur eine »pessoa de boa aparÞncia« (=gut aussehende Person = nicht schwarz) wünschenswert sei. Das folgende Beispiel kann zur Verdeutlichung dienen: »Eine afrobrasilianische Frau, 20 Jahre alt, war seit fünf Monaten auf Arbeitssuche. Sie hatte mehrere Male gehört › «gente de cúr« (=farbige, schwarze Leute) haben hier keine Chance‹. An ihr Schreiben an die Redaktion der Zeitung »Jornal do Brasil« heftete sie noch folgende Zeitungsanzeige: ›Hilfskraft für Büro gesucht – Fräulein, gute Machinenschreiberin und Vorkenntnisse für die Ver-

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kaufsabteilung – erforderlich helle Hautfarbe, es soll nur anmelden, wer die Bedingungen erfüllen kann‹.« Solche Beschränkungen bzgl. der !Hautfarbe betreffen eigentlich alle Tätigkeiten, aber in der Regel sind die mittelständigen Stellen am stärksten von diesen ethnischen Barrieren betroffen und die Stellen, in denen die Berufstätigen Kontakt zum Publikum haben. Etwas weniger davon betroffen sind diejenigen Tätigkeiten, die sozio-ökonomisch niedrig und negativ beurteilt werden, d. h. schmutzige und schwere Handarbeiten, wie Müll- und Straßenreinigungsarbeiter (Tätigkeiten, die seit Anfang der 90er Jahre fast ausschließlich von afrobrasilianischen Frauen ausgeübt werden), Träger, Wächter und Hauspersonal, wobei wir bei den letzteren ebenfalls eine diskriminierende Tendenz erkennen können: Bei der Hausarbeiterin, die als Kindermädchen oder in intensiveren Kontakt mit der Arbeit-geberfamilie und deren Freunde treten muß, wird eine hellere Hautfarbe bevorzugt. Es wurde zum Trend, daß die afrobrasilianische Hausarbeiterin, die sogenannte !empregada dom¦stica, für wichtige Besucher nicht in Erscheinung treten soll. Dies beweist die Aussage einer Arbeitgeberin, die offen legte, daß sie »lieber eine empregada dom¦stica ›morena‹ suche, um mich von ihr (in der Hautfarbe) zu unterscheiden. Ich meine, daß die empregada nicht dieselbe Hautfarbe haben soll wie die patrþes (=Arbeitgeber)«. Diese Vorselektion aufgrund der Festlegung der Hautfarbe kann oftmals von Afrobrasilianern in vivo erlebt werden. Wie oft wurde die Verfasserin dieses Lexikons auf dem Markt oder im Supermarkt in den bessergestellten Stadtteilen verschiedener brasilianischer Städte von weißen Frauen gefragt, ob sie arbeitslos wäre und eine Stellung als empregada dom¦stica suche, oder ob sie eine Kollegin hätte, die diese Stelle übernehmen könnte. Es ist offensichtlich, daß diese Frage gestellt wird aufgrund der Hautfarbe der Befragten; an eine weiße Frau würde eine solche Frage nicht gerichtet werden. Über solche Erlebnisse berichten Afrobrasilianer aus verschiedenen sozio-ökonomischen Schichten ständig. Auf dem Arbeitsmarkt ist die Benachteiligung der Afrobrasilianer am deutlichsten zu erkennen. Oliveira, Porcaro & Araffljo (1985) deuteten bereits darauf hin, daß obwohl die Weißen nur etwas mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte ausmachen, sie 34 des gesamten Einkommes verdienen (siehe untere Tabelle), egal in welcher beruflichen Kategorie sie sich befinden. Diese Studie beweist ebenfalls, daß sich unter den 10 % ärmsten Berufstätigen 40,1 % Weiße und 56,6 % Afrobrasilianer befinden. Wenn diese Skala nach oben geht, dreht sich jedoch das Bild sehr stark um: Bei den 10 % der Arbeitskräfte mit den höchsten Einkommen finden wir 83,9 % Weiße und nur noch 12,9 % Afrobrasilianer. Der IBASE zeigt, daß diese Ungleichheiten in der Einkommensverteilung sowohl bei gleicher Qualifikation als auch in sektorialer Aufteilung festzustellen sind: Im schlecht bezahlten Baugewerbe finden wir 14,4 % Afrobrasilianer unter den Beschäftigten gegenüber 8,5 % der Weißen. Dagegen beispielsweise 18,4 %

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Ökonomie und Arbeitswelt

von Weißen im mittleren Dienst und als Büropersonal, Bereiche also,die wesentlich besser bezahlt werden. Die Afrobrasilianer bilden ebenfalls den größten Anteil der Arbeitslosen, Unterbeschäftigten und Gelegenheitsarbeiter und besitzen auch am seltensten ein unterschriebenes Arbeitsbuch, daß ihnen ein Anrecht auf die Sozialversicherungen einräumt (vgl. Soares, 2000). In oberen Stellungen bilden Afrobrasilianer immer noch Ausnahmen, wie beispielsweise die des einzigen afrobrasilianischen Präsidenten eines regionalen »Ordem dos Advogados Brasileiros« (= OAB »Kammer der Brasilianischen Juristen«) im Bundesland Minas Gerais. Als Begleiterscheinung seiner Wahl für diese Position können die Beschimpfungen und Beleidigungen hinsichtlich seiner Hautfarbe auf einigen Wahlzetteln erwähnt werden. Ein anderes Beispiel ist der Jurist (OAB-RJ) Alaúr E. Scis†nio (1927 – 1999), der u. a. ein reichhaltiges Lexikon der Sklaverei verfaßt hat. Hinsichtlich der freien Wirtschaft und der Industrie kann behauptet werden, daß die Afrobrasilianer hier kaum eine Chance besitzen in die höheren Etagen aufzusteigen. Auch wenn sie die bildungsmäßigen und fachlichen Vorraussetzungen und Ansprüche dieses Sektors erfüllen, scheitern sie an der ethnischen Selektion/Barriere. In den etwas bessergestellten Rängen der Wirtschaft sind Afrobrasilianer nicht mehr zu finden, obwohl sie bereits in den unteren Stellungen eine Seltenheit bilden. Als Investoren oder als Wirtschaftsbeiratsmitglieder, sogar ökonomisch schwächerer Firmen, sind sie weitgehendst ausgeschlossen. Im Vergleich zu den Weißen nehmen die Afrobrasilianer im brasilianischen Wirtschaftsleben eine eindeutig ungünstigere Position ein. Man findet Afrobrasilianer vorwiegend in geringer qualifizierten Tätigkeiten, sie stellen auch die Mehrheit der Arbeitslosen und erhalten geringere Löhne. Außerdem besitzen sie schlechtere berufliche Aufstiegschancen auch bei gleicher Qualifikation (vgl. Hasenbalg, 1979; Oliveira et al., 1985; Moura, 1988; IBASE, 1989; Lovell, 1994; Lopes, 2006). Eine rassistische Diskriminierung läßt sich also deutlich auf dem Arbeitsmarkt beobachten. Selbst wenn die Afrobrasilianer über eine ebenbürtige Schulausbildung verfügen wie die Weißen, werden ihnen dennoch geringere Aufstiegs-chancen eingeräumt. Im Hinblick auf die Arbeitsstundenzahl liegen die Afrobrasilianer entgegen einem verbreiteten Vorurteil jedoch über derjenigen der Weißen. Auch hinsichtlich der Löhne und Gehälter wird die Diskriminierung sichtbar wie die folgenden Tabellen 8 zeigen (neuere Daten s. Internet unten). Tab. 8: Löhne und Gehälter nach Hautfarbe Löhne und Gehälter bis 1 sal‚rio m†nimo

Weiße (monatlich) 44 %

Afrobrasilianer (> 10 Jahre) 56 %

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(Fortsetzung) Löhne und Gehälter

Weiße Afrobrasilianer (monatlich) (> 10 Jahre) Mehr als 1 bis 2 5 sal. m†n. 62 % 38 % Mehr als 5 bis 10 sal. m†n. 81 % 19 % Mehr als 10 sal. m†n. 89 % 11 % Ohne Einkommen 56 % 45 % Ohne Angaben 53 % 47 % 1 sal‚rio m†nimo = festgesetzter Mindestlohn (ca. 51,37 US $ im Dezember 1990) Quelle: IBASE, 1989:19

Trotz der harten Realität auf dem Arbeitsmarkt wird in Brasilien (ähnlich wie in den USA) fest an die Aufstiegsmöglichkeiten aller Bürger, unabhängig von der !Hautfarbe, geglaubt. Seltene Beispiele wie das des Fußballspielers Pel¦ fungieren als Beweis für eine sozio-ökonomische vertikale Mobilität, die von Weißen und auch von Afrobrasilianern propagiert wird und dies trotz der Tatsache, daß die Mehrzahl der afrobrasilianischen Bevölkerung immer noch !FavelaBewohner ist. !Bibliografien !Demografie !Diskriminierung !Einführung !Empregada dom¦stica !Frau !Politik !Sklavenkindheit !Sklaverei A.de Toledo Bandeira de Mello (1936): O trabalho servil no Brasil. Rio de Janeiro; Minist¦rio do Trabalho, Indfflstria e Com¦rcio (ed.) (1937): O caf¦ na histûria, no folklore e nas belas artes. Rio de Janeiro; A. d’Escragnolle Taunay (1939): Histûria do caf¦. 15 vol.s. Rio de Janeiro (Dep. Nacional do Caf¦); J. W. de Araffljo Pinho (1946): Histûria de um engenho do Recúncavo, 1522 – 1914. Rio de Janeiro; O. Onody (1960): A inflażo brasileira (1820– 1958). Rio de Janeiro; C. Rama (1967): Die Arbeiterbewegung in Lateinamerika. Chronologie und Bibliographie 1492 – 1966. Berlin; A. Cûrdova & H. Silva Michelena (1969): Die wirtschaftliche Struktur Lateinamerikas. Drei Studien zur politischen Ökonomie der Unterentwicklung. Frankfurt/M. (2. Aufl.); K. S. Taylor (1970): The economics of sugar and slavery in Northeastern Brazil. Agricultural History (Berkeley), 44, p. 267 – 280; G. Myrdal (1970): The challange of world poverty. New York (dt. Politisches Manifest über die Armut in der Welt, 1970); T. Guldimann (1975): Lateinamerika. Die Entwicklung der Unterentwicklung. München; J. M. Cardoso de Melo (1975): O capitalismo tardio. Campinas (UNICAMP); C. Furtado (1975): Die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens. München; J. L. de Azevedo (1978): Êpocas de Portugal econûmico. Lisboa; R. Linhart (1980): Le sucre et la faim. Paris (dt. Ausg. 1980); P. Neuhaus (coord.) (1981): Economia brasileira: uma vis¼o histûrica. Rio de Janeiro; Th. W. Merrick & D. H. Graham (1981): Populażo e desenvolvimento econúmico no Brasil, de 1800 at¦ a atualidade. Rio de Janeiro; Fr. V. Luna (1981): Minas Gerais: escravos e senhores – An‚lise da estrutura populacional e econúmica de alguns centros mineratûrios (1718 – 1804). S¼o Paulo (IPE/USP); J. M. Cardoso de Mello (1982): O capitalismo tardio. Contribuiżo — revis¼o cr†tica da formażo e do desenvolvimento da economia brasileira. S¼o Paulo; L. de Mello e Souza (1982): Os desclassificados do ouro. Pobreza mineira no s¦c. XVIII. Rio de Janeiro; M. Hall & V. Stolcke (1983): A introdużo do trabalho livre nas

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Ökonomie und Arbeitswelt

Monatliches Einkommen der ökonomisch aktiven Bevölkerung nach Hautfarbe 35

30

25

20

Weiß

15

Gelb

Schwarz Pard o

%

10

5

0 bis 1/2

1/2 bis 1 1/2 bis 1

1 bis 2

2 bis 3 2 bis 3

3 bis 5

5 bis 10 5 bis 10

10 oder mehr

Minimallohn

Graphik 6 Quelle: IBGE, 1989

fazendas de caf¦ de S¼o Paulo. Revista Brasileira de Histûria (SP), 3(6), p. 80 – 120; R. F. Colson (1983): European investment and the Brazilian »boom« (1886 – 1892). The roots of speculation. Ibero-Amerikanisches Archiv (NF) (Berlin), 9(3/4), p. 401 – 413; V. L. A. Ferlini (1984): A civilizażo do aÅucar (s¦culos XVI a XVIII). S¼o Paulo; D. Cole Libby (1984): Trabalho escravo e capital estrangeiro no Brasil. O caso de Morro Velho. Belo Horizonte; St. B. Schwartz (1985): Sugar plantations in the formation of Brazilian society : Bahia (1750 – 1835). Cambridge University Press; L. E. Garcia de Oliveira et al. (1985): O lugar do negro na forÅa de trabalho. Rio de Janeiro: IBGE; Z. M. Cardoso de Melo (1985): Metamorfose da riqueza. S¼o Paulo, 1845 – 1895. S¼o Paulo; A. Gebara (1986): O Mercado de trabalho livre no Brasil (1871 – 1888). S¼o Paulo; V. Stolcke & M. Hall (1986): Cafeicultura: homens, mulheres e capital (1850– 1980). S¼o Paulo; E. E. Telles (1990): Caracter†sticas sociais dos trabalhadores informais: o caso das ‚reas metropolitanas no Brasil. Estudos Afro-Asi‚ticos (RJ), (19), p. 61 – 80; S. S. Dillon Soares (2000): O perfil da discriminażo no mercado de trabalho – homens negros, mulheres brancas e mulheres negras. IPEA. Bras†lia; Ch. dos SantosStubbe (2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef (2. Aufl.); G. O. Alvarez & L. Santos (2006): TradiÅþes negras, pol†ticas brancas. PrevidÞncia social e populaÅþes afro-brasileiras. Bras†lia Internet: Arbeitsmarkt: Perfil Social, Racial e de GÞnero das 500 maiores empresas do Brasil e suas aÅþes afirmativas: http://www1.ethos.org.br/EthosWeb/arquivo/0-A-eb4Perfil_2010.pdf

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Brancos ganham o dobro que negros e dominam Ensino Superior no pa†s, mostra Censo 2010: http://noticias.uol.com.br/cotidiano/ultimas-noticias/2012/06/29/brancos-ganhamduas-vezes-mais-que-negros-e-dominam-ensino-superior-no-pais-mostra-censo-2010.htm Perfil Social, Racial e de GÞnero das 500 maiores empresas do Brasil e suas aÅþes afirmativas: http://www1.ethos.org.br/EthosWeb/arquivo/0-A-eb4Perfil_2010.pdf Anu‚rio do sistema pfflblico de emprego, trabalho e renda (2010 – 2011) http://portal.mte. gov.br/data/files/8 A7C816 A333FE61F013341780DBB382F/mercado.pdf ! dados por cor/raÅa nas p‚ginas 22, 30, 55 e 64 Populażo negra sofre com a desigualdade no Mercado de Trabalho http://www.palmares.gov. br/2012/04/populacao-negra-ainda-sofre-com-a-desigualdade-no-mercado-de-trabalho/ Populażo negra no mercado de trabalho (os dados n¼o s¼o muito recentes, mas a forma como foram apresentados ¦ muito did‚tica, abrangente e interessante) http://www.com ciencia.br/reportagens/negros/05.shtml Desemprego ¦ maior entre pessoas negras (dados antigos) http://www.mpdft.gov.br/pdf/ unidades/nucleos/ned/Estatisticas.pdf Os negros nos mercados de trabalho metropolitanos https://docs.google.com/viewer?a= v& q=cache:q-2IAXhikZcJ:trovatore.dieese.org.br/analiseped/2011/2011pednegrosmet. pdf+& hl=pt-BR& pid=bl& srcid=ADGEEShZrdfTBYYoBCiv8UwIEe3XTIZOikWqeZO4 oi4TFV9s9eGv-BUV7oaL7axyKdjE1VpprK3OYnxCDjxH8WDlZPkxhFJLw_TXVkQtRO YtiFMus3jLnyqqpziBRXp434GOYm4G8G60& sig=AHIEtbQvklQEQoJPBBSvS_m6Ry0v mJw4ZQ Os negros no mercado de trabalho da regi¼o do ABC/SP 2010 – 2011 http://www.seade.gov. br/produtos/ipnmt/estudos/nov2012_ABC/pdf/ipnmt_estudo_nov2012_ABC.pdf Negros s¼o discriminados no Mercado de Trabalho http://meusalario.uol.com.br/main/ trabalho-decente/negros-sao-discriminados-nos-mercados-de-trabalho-metropolitanos Karte der Afrobrasilianer auf dem Arbeitsmarkt (Mapa da populażo negra no mercado de trabalho)(1998): http://www.mpdft.gov.br/pdf/unidades/nucleos/ned/artigo_mapa_pop_ negra_mercado_trabalho.pdf

Organisationen Die Notwendigkeit der Bildung von festen Organisationen innerhalb einer Gesellschaft ist von fundamentaler Bedeutung für das Überleben und die Erhaltung der Kultur, der Traditionen und des Ethnizitätsgefühls einer !Minderheit. In vielfältigen Formen institutioneller Organisation sind die Afrobrasilianer in Brasilien von Anfang an präsent: Gewerkschaften, Kirchen, Militär, Einwohnerversammlungen, Samba-Schulen, Vereine, Clubs, Parteien, etc. sind nur einige dieser Institutionen. Dennoch haben Afrobrasilianer in ihnen in der Regel keine leitende Stellung oder einen Direktionsposten inne. Diese Bevölkerungsgruppe bildet immer noch die Basis solcher Institutionen ohne die Spitze der Pyramide zu erreichen. Trotz des immer wieder betonten Unterschieds des Verhältnisses zwischen den verschiedenen !»RaÅas« in Brasilien zum früheren !Apartheid-Regime in

Organisationen

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Südafrika oder der Rassentrennung in den USA, finden wir oft Institutionen vor, wie beispielsweise die zahlreichen Erholungsclubs der Mittel- oder Ober-Klasse, zu denen Afrobrasilianer nur als Putz- oder Sicherheitspersonal Zugang haben, obwohl dies niemals als eine Rassentrennung seitens der Clubdirektion oder -mitglieder zugegeben werden würde. Die verfälschte Begründung bleibt verschoben auf die prekäre wirtschaftliche Lage dieser Population, dadurch braucht das rassistische, diskriminatorische Thema nicht angetastet zu werden. Anderseits finden wir ebenfalls Organisationen, die ausschließlich von Afrobrasilianern gebildet werden, in denen diesselbe Ideologie der ethnischen Exklusivität vorherrscht wie beispielsweise in den Traditionen der afrobrasilianischen Kulte, in »schwarzen-« kirchlichen Kongregationen, die bereits seit der Sklavereizeit existieren, etc. Hier, wo die Leitung in der Tat in den Händen von Afrobrasilianern liegt, wird offener gesagt, daß die Weißen nicht in diese Positionen gehören. Die »rassische« Trennung wird in diesem Rahmen nicht verleugnet. Zu erkennen ist aber, daß diese beinahe »reinen« afrobrasilianischen Organisationen bei weitem weder wirtschaftlich noch hinsichtlich ihrer politischen Stellung so mächtig und einflußreeich sind wie diejenigen Organisationen, zu denen Afrobrasilianer kaum Zugang haben. Der brasilianische Militär-Apparat wird häufig als eine Institution betrachtet, in der afrobrasilianische Männer und Frauen eine erhöhte Mobilität hätten. Dieses Vorurteil gegenüber der ethnischen Flexibilität dieser Institution kann nur dadurch erklärt werden, daß viele dieser Behauptungen von ausländischen Verfassern stammen, die sich vielleicht täuschen ließen durch die große Anzahl der afrobrasilianischen Militärpolizisten, die im Verkehr, auf der Straßen oder in der Kriminallitätsbekämpfung tätig sind. Diese Anzahl kann aber keineswegs als repräsentativ für eine vertikale Mobilität der Afrobrasilianer weder bei der Militärpolizei noch weniger als !Soldaten beim Heer, in der Marine oder Luftwaffe gelten. Die Prozentzahl der afrobrasilianischen Offiziere in diesen Institutionen erreicht nämlich noch nicht die Quote von 1 %! Diesselbe Täuschung stellt sich bzgl. der Institution Kirche dar, in der afrobrasilianische Bischöfe oder Kardinäle kaum zu finden sind, wobei bereits sowohl afrobrasilianische Nonnen als auch Patres relativ selten sind. In diesem Zusammenhang kam die allgemeine Partizipation der Afrobrasilianer nicht in allen Typen von Institutionen und Organisationen berücksichtigt werden. Aber von entscheidender Bedeutung für den Kampf gegen den ! Rassismus und die ethnische !Diskriminierung soll hier der organisierte »Movimento Negro Unificado« (= MNU: Einheitliche Schwarzen-bewegung) angeführt werden. Der MNU ist die bedeutenste afrobrasilianische Organisation der Gegenwart, die die Afrobrasilianer im ganzen Territorium unter einem Grundsatz vereinigt, obwohl innerhalb der Bewegung verschiedene Ideologien und Abspaltungen

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existieren. Ende der 70er Jahre, aufgrund der allmählichen Lockerung des Militärregims, fingen die Afrobrasilianer an sich erneut zu organisieren, nachdem ihre politischen Organisationen durch die Militärdiktatur zerschlagen worden waren. Es wurden langsam strukturierte Organisationen gegründet, die offen eine kämpferische Haltung für ein ethnisches und kulturelles Bewußtsein und gegen den Rassismus und die Diskriminierung einnahmen. Aufgrund einer Reihe von Ereignissen, die in S¼o Paulo stattfanden wie die Ermordung zweier afrobrasilianischer Arbeiter, einer starb durch einen Militärpolizisten und der andere durch Folter in einem Polizeirevier, sowie die Ausweisung von vier afrobrasilianischen Sportlern aus einem Sportverein, wurde auf den Treppen des Stadttheaters von S¼o Paulo eine Versammlung abgehalten, in der diese zahlreichen Gruppierungen sich entschlossen haben sich zusammenzuschließen. Sie gründeten dann am 18. Juni 1978 den »Movimento Negro Unificado Contra a Discriminażo Racial« (= Einheitliche Schwarzenbewegung gegen die Rassische Diskriminierung) (später abgekürzt: MNU), der heute auch die bestorganisierte politische Kraft seitens der afrobrasilianischen Bevölkerung darstellt, ohne jedoch an eine Partei gebunden zu sein. Diese Bewegung wird aber am stärksten von den Arbeiterparteien (PT und PDT) sowie von anderen linksorientierten Parteien unterstützt. Die Grundsätze der MNU sind im Folgenden dargestellt. Grundsätze der MNU: Wir, Angehörige der schwarzen Bevölkerung Brasiliens (zu den Schwarzen zählen wir alle, die an der Hautfarbe, an den Gesichtszügen oder am Haar typische Merkmale dieser Bevölkerungsgruppe aufweisen), geben hier auf unserem nationalen Kongreß unserer Überzeugung Ausdruck, daß folgende Phänomene in unserem Lande existieren: – Rassendiskriminierung; – rassische, politische, wirtschaftliche und soziale Abseitsstellung der schwarzen Bevölkerung; – erbärmliche Lebensbedingungen; – Arbeitslosigkeit; – Unterbeschäftigung; – Diskriminierung bei der Arbeitssuche und rassistische Verfolgung am Arbeitsplatz; – unmenschliche Bedingungen für Strafgefangene; – permanente Unterdrückung, Verfolgung und Gewaltätigkeit seitens der Polizei; – sexuelle, wirtschaftliche und soziale Ausbeutung der schwarzen Frau; – Verwahrlosung von Kindern und unmenschliches Verhalten gegenüber Minderjährigen, in der Mehrzahl Schwarzen;

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– Kolonisierung, Verzerrung, Zerstörung und Kommerzialisierung unserer Kultur ; – Mythos der Rassendemokratie. – Wir haben beschlossen, unsere Kräfte gemeinsam einzusetzen für die Verteidigung des Volkes der Schwarzen in allen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekten mit folgenden Zielen: – Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten; – bessere Gesundheitsversorgung, bessere Ausbildung, bessere Wohnverhältnisse; – Aufwertung der schwarzen Kultur und systematischer Kampf gegen ihre Kommerzialisierung und gegen ihre Degradierung zu Folklore und damit gegen die Entstellung unserer Kultur; – Auslöschung aller Formen von Verfolgung, Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalttätigkeit, denen wir unterworfen sind; – Organisations- und Meinungsfreiheit des Volkes der Schwarzen. – Wir sind der festen Überzeugung, daß – unserer Befreiungskampf nur von uns selbst geleistet werden kann; – wir eine neue Gesellschaft schaffen wollen, an der alle wirklich beteiligt werden; – wir nicht isoliert vom Rest der Gesellschaft dastehen. – Wir solidarisieren uns – mit jedem einzelnen gerechtfertigten Kampf der unteren Bevölkerungsschichten innerhalb der brasilianischen Gesellschaft, der zum Ziel hat, ihre politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu verwirklichen. Seitdem haben sich in ganz Brasilien zahlreiche andere Organisationen gebildet, die sowohl gegen Rassismus, Diskriminierung und sozio-ökonomische Ungleichheit als auch für die Erhaltung der Kultur, Tradition und Religion der Afrobrasilianer kämpfen und auch Beratung anbieten (vgl. z. B. Gewerkschaften der !empregadas dom¦sticas oder SECNEB, die von J. Elbein dos Santos gegründet wurde). !Anhang !Einführung !Gesellschaft !Ökonomie und Arbeitswelt !Politik A. J. R. Russel-Wood (1970): Aspectos da vida social das irmandades leigas da Bahia no s¦c. XVIII. Universitas (Salvador), (6/7), p. 189 – 204; H. Füchtner (1972): Die bras. Arbeitergewerkschaften, ihre Organisation und ihre politische Funktion. Frankfurt/M.; J. B. Rodrigues (1976): As irmandades como forma de organizażo do negro. In: Grupo de Trabalhos Andr¦ RebouÅas (ed.), Semana e Estudos sobre a contribuiżo do negro na formażo social brasileira, 1. Niterûi:UFF, p. 17 – 25; M. R. Trochim (1988): The Brazilian Black Guard: racial conflict in post-abolition Brazil. The Americas (Washington), 44(3), p. 285 – 300; ISER (1988): As organizaÅþes negras no Brasil. Rio de Janeiro; P. B. GonÅalves

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e Silva (1990): Organizażo das mulheres negras, hoje. Revista de Cultura Vozes (Petrûpolis), (4(2), p. 220 – 226; M. L. de Souza Rangel Ricci (1990): A Guarda-Negra no contexto brasileiro de final do s¦c. XIX. Estudos Ibero-Americanos. Simpûsio Gafflcho sobre a escravid¼o negra (Porto Alegre), 16(1/2), p. 275 – 285; S. Carneiro & Th. Santos (1990): A organizażo nacional das mulheres negras e as perspectivas pol†ticas. Revista de Cultura Vozes (Petrûpolis), 84(2), p. 221 – 229; Forum de ONGs Brasileiras (ed.) (1992): Meio ambiente e desenvolvimento. Rio de Janeiro; IBASE (ed.) (s.d.): Experiencias participativas (um levantamento de 200 organizaÅþes populares). Rio de Janeiro; CAPA (Associażo Casa do Artista Pl‚stico Afro-Brasileiro, RJ) (1995): Zumbi dos Palmares. Rio de Janeiro; Frauen einer Welt (Hrsg.) (1995): Frauenadressbuch weltweit. Düsseldorf (Brasilien: S. 219 – 222); R. N. R. de Souza (2000): Ros‚rio dos pretos de Sobral – CE Irmandade e festa (1854 – 1884). Diss. de mestrado. UFC/UFRJ. Rio de Janeiro; G. O. Alvarez & L. Santos (2006): TradiÅþes negras, pol†ticas brancas. PrevidÞncia social e populaÅþes afro-brasileiras. Bras†lia; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

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Palmares Palmares war der bekannteste !Quilombo, eine organisierte Gemeinschaft entflohener Sklaven, in der Serra da Barriga in Pernambuco zwischen dem Kap Santo Agostinho und dem Rio S¼o Francisco. Um 1630 lebten in P. bereits ca. 3000 »aquilombados«, die u. a. eine fortschrittliche Landwirtschaft betrieben. Mit der Ankunft der Holländer in Pernambuco im Jahre 1630 nahmen die Sklavenfluchten dorthin besonders zu. In seiner langen Existenz (von ca. 1596 – 1716) musste P. viele kriegerische Auseinandersetzungen mit den Portugiesen und Holländern bestehen. Bekannte Führer von P. waren Ganga Zumba und ! Zumbi. In Erinnerung an den Tod Zumbis wird in Brasilien der 20. November als »D†a Nacional da ConsciÞncia Negra« gefeiert. Eine Chronologie von P. findet sich z. B. bei Scis†nio (1997:267 – 269). !Anhang !Geschichte der Afrobrasilianer !Quilombo !Politik !Sklaverei F. W. Hermann (1805): Die Palmareser. Ein ehemaliger Negerstaat in Brasilien. Minerva. Ein Journal für Geschichte, Politik und Literatur (Jena) 3, S. 343 – 356; H. Handelmann (1860): Geschichte von Brasilien. Berlin (port.: Inst. Hist. Geogr. Brasileiro, RJ); E. J. Bizarro (1938): A Guerra nos Palmares: subs†dios para a sua histûria. S¼o Paulo; M. M. Freitas (1952): Reino negro de Palmares. Bibliot¦ca do Ex¦rcito. 2 vol.s. Rio de Janeiro; R. K. Kent (1965): Palmares: An African state in Brazil. Journal of African History, 6, 1965:161 – 175; E. Carneiro (1966): O Quilombo dos Palmares. Rio de Janeiro; J. de Altavilla (o. J.): O quilombo dos Palmares. S¼o Paulo; D. Freitas (1982): Palmares – A guerra dos escravos. Rio de Janeiro; S¦rie Caminhos de Libertażo. Palmares de liberdade e engenhos de escravid¼o. S¼o Paulo; A. Alves Filho (1988): Memorial dos Palmares. Rio de Janeiro; D. Hegmanns (1995): Palmares. Die Republik der Sklaven (Roman). BergischGladbach; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

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»Pardo« (lat. pardus) »1. De cúr entre branco e preto ou de cúr entre amarelo e castanho 2. mulato«, definiert Michaelis (2008:642). Es soll hierdurch eine Hautfarbenmischung zum Ausdruck gebracht werden (grau, dunkel, braun), manchmal auch gleichbedeutend mit !»mestiÅo« (vgl. Stephens, 1989:341 f). »p.« war und ist eine offizielle Kategorie im bras. Zensus (vgl. IBGE). !Hautfarben !»mestiÅo« !»morena« !»mulata/mulato« !»negro« !Vorurteile L. Cerqueira (1948): Brancos, pretos e pardos da Bahia. Bahia; L. R. de Barros Mott (1974): Brancos, pardos, pretos e †ndios em Sergipe (1825 – 1830). Anais de Histûria (Assis), 6, p. 139 – 184; Th. M. Stephens (1989): Dictionary of Latin American Racial and Ethnic Terminology. Gainesville

Patuá P. ist ein !Amulett, das (von vielen Afrobrasilianern) um den Hals oder an der Kleidung befestigt getragen wird. Es handelt sich um kleine Leder- oder Stoffsäckchen, die Wurzeln oder heilige Pflanzen, Gebetszettel bzw. magische Objekte enthalten. Es erfüllt eine Schutz- bzw. Abwehrfunktion. O. G. Cacciatore (1977): Dicion‚rio de cultos afro-brasileiros. Rio de Janeiro; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore brasileiro. S¼o Paulo

Persönlichkeit, multiple (J. K. Mitchell, 1815; Despine, 1840) Einführung: In klassischer Definition versteht man unter »Persönlichkeit« die charakteristischen, zeitlich überdauernden Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster eines Individuums im Umgang mit seiner Umwelt. Aus westlicher psychopathologischer Sicht handelt es sich bei der m. P. um das Phänomen des doppelten Bewußtseins mit zwei (evtl. vielen) Persönlichkeitsanteilen d. h. um mehrfach hintereinander auftretende Zustände, bei denen der Mensch in der einen Existenzform keine Kenntnis von der anderen hat, so daß gleichsam zwei verschiedene Persönlichkeiten bzw. ein »Doppel-Ich« entstehen (vgl. Dessoir, 1890; Bonin, 1976). Dieses Phänomen läßt sich in vielen aussereuropäischen Kulturen z. B. in Brasilien beobachten. Bereits E. T. A. Hoffmann hat in seinem Roman »Die Elixiere des Teufels« (1814/15) viele dieser Phänomene wie »Doppelgängertum«, »Bewusstseinsspaltung«, »Wahnsinn« etc. meisterlich dargestellt.

Person-Konzepte (lat. persona= Maske, Rolle, Charakter, Persönlichkeit; pessoa)

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Auch in Robert Louis Stevenson’s psychologisch experimentierender Erzählung »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« (1886) wird eine unheimliche Persönlichkeitsspaltung geschildert. Der Psychiatriehistoriker Ellenberger (1973:162ff) hat in seiner reichhaltigen Geschichte der dynamischen Psychiatrie dieses Problem der multiplen Persönlichkeit in der abendländischen Geschichte ausführlich behandelt und eine Vielzahl von Beispielen klinischer Krankheitsbilder gegeben. Er unterscheidet folgende Formen der multiplen Persönlichkeit: 1. Multiple Persönlichkeiten, die gleichzeitig auftreten 2. Multiple Persönlichkeiten, die nacheinander auftreten 2.1. und gegenseitig voneinander wissen 2.2. und gegenseitig nichts voneinader wissen 2.3. und bei denen nur eine von der anderen weiß 3. Bündel von Persönlichkeiten Vor allem beim Studium der !Medien in fremden Kulturen ist diese Klassifikation von Nutzen. Z. B. sind den Autoren viele Medien der brasilianischen ! Umbanda bzw. des !Candombl¦ bekannt, die von ihrer Sekundärpersönlichkeit selber nichts wissen und von ihr wie von einer anderen Person sprechen. In den modernen Trance-Kulten Brasiliens z. B. !Candombl¦ oder !Umbanda lassen sich diese institutionalisierten Phänomene gut beobachten. !Besessenheit !Medium !Person-Konzepte !Trance M. Dessoir (1890): Das Doppel-Ich. Leipzig; K. Oesterreich (1928): Die Probleme der Einheit und Spaltung des Ich. Stuttgart; M. Landmann (1950): Elenktik und Maieutik. Drei Abhandlungen zur antiken Psychologie, 1950:104 – 118 (Polyphrenie); H. Ellenberger (1973): Die Entdeckung des Unbewussten. 2 Bd.e. Bern; I. Hacking (1996): Multiple Persönlichkeit: Zur Geschichte der Seele in der Moderne. Wien; E. Roudinesco & M. Plon (2004): Wörterbuch der Psychoanalyse. Wien

Person-Konzepte (lat. persona= Maske, Rolle, Charakter, Persönlichkeit; pessoa) Unter »Person« versteht man in der »westlichen Psychologie« (vgl. Stubbe, 2012:677 f) den Träger einer bestimmten Kombination von Eigenschaften, der sich seiner selbst bewusst ist. Zwar ist eine allgemein akzeptable Definition schwer zu erreichen (vgl. Allport, 1937/59), aber es gibt eine gewisse Übereinstimmung über bestimmte Aspekte der !Persönlichkeit: Vollständigkeit (alle Aspekte des Individuums müssen erfaßt werden), Veränderlichkeit (trotz erblicher Einflüsse ist sie ein sich beständig an die Umwelt anpassendes Phänomen), Struktur und Organisation (kein blosses Agglomerat von Eigenschaften) und Einzigartigkeit (kein Individuum gleicht einem anderen völlig).

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Afrikanische Persönlichkeits-Modelle: Nach Kwadzo Tay aus Togo wird die afrikanische Persönlichkeit aus 4 Elementen zusammengesetzt gedacht: dem Körper (als Hülle), dem biologischen Prinzip (das die inneren Organe und die automatischen und psychosomatischen Systeme umfasst), dem Lebensprinzip und dem Geist (als unsterblicher Substanz). Die afrikanische Persönlichkeit wird durch 3 Bezugsachsen bestimmt: die vertikale Achse, die sie mit den transzendenten Mächten, Gott und den !Ahnen verbindet, die horizontale Achse, die die Verbindung zur sozialen Ordnung und der kulturellen Gemeinschaft herstellt und schließlich die eigentliche existentielle Dimension der Person. Das seelische Gleichgewicht der Persönlichkeit, wie auch die seelische Gesundheit hängen von diesem psychologischen soziokosmischen Universum ab, das eingebettet ist in eine mythische wie auch rationale Welt (vgl. Stubbe, 1987:212; 2012:501). !Geister !indigene Psychologien !Persönlichkeit, multiple !Seelenvorstellungen !Trance H. Werner (1959): Einführung in die Entwicklungspsychologie. München, S. 317ff; M. Mauss (1978): Soziologie und Anthropologie. 2. Bd. Frankfurt/M., S. 223ff; H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Berlin; G. Sprenger (2009): Die Institutionalisierung von Dissoziation in Moderne und Schamanismus. Curare, 2009

»Pessoa de Cor« »P. de C.« ist eine diskriminierende abwertende Bezeichnung und entspricht in der dt. Sprache ungefähr dem »Farbigen« (vgl. Arndt & Hornscheidt, 2004:128ff). Im anglo-amerikanischen Sprachraum wird von »people of color« gesprochen, was eine noch unspezifischere Bezeichnung der Hautfarbe darstellt. Als »people of color« werden auch die Inder in Südafrika bezeichnet. In Brasilien wird versucht durch den Ternimus »P. de C.« Afrobrasilianer nicht in ihrem »Dunkel-sein« bzw. in ihrer Afrobrasilianität anzusprechen und sie nicht zu beleidigen, was genau das Abwertende darstellt. !Afrobrasilianer !Hautfarben !»mestiÅo« !Minderheit !»mulata« ! »negro« !»pardo«

Phytotherapie (auch: Behandlung mit Pflanzen; fitoterapia) »O rem¦dio do preto ¦ a erva« (= das Medikament der »Schwarzen« sind die Kräuter). Dieses afrobrasilianische Sprichwort, das auf dem Lande in Brasilien immer noch geläufig ist, deutet eindrücklich darauf hin, wie bedeutend die P. für die afrobras. Bevölkerung ist.

Phytotherapie (auch: Behandlung mit Pflanzen; fitoterapia)

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Bereits aus den afrobrasilianischen Religionen stammt die Bedeutung der Blätter und Kräuter für die Existenz der Orix‚s. Der religiöse Ursprung der P. wird tradiert durch den Mythos des Orix‚ Oss–im. Der Mythos, der verschiedene Versionen hat, erzählt, daß Oss–im, der die Hälfte des Jahres ein Mann und die andere Hälfte eine Frau ist, alleine die Macht über die heiligen Blätter und die phytotherapeutischen Kräuter und alle Gottheiten hatte. Er/sie war der einzige, der die Gesundheit der anderen Götter wiederherstellen konnte. Aus Machtgier, Neid und Gerechtigkeitsempfinden, bat Oxal‚ seine Frau Iansa, die Herrschrein über die Winde und Stürme darum, einen so starken Wind entstehen zu lassen, um für sich die heiligen Blätter und phytotherapeutischen Kräuter, die Oss–im unter seinem Rock versteckte, zu erhalten. Und so geschah es, daß der starke Windstoß seinen Rock hochhob und die Blätter und Kräuter in alle Richtungen flogen. So erhielt jeder Orix‚ spezifische heilige Blätter und phytothera-peutische Kräuter, über die er herrschen konnte. Oss–im blieb aber weiterhin der/die Herr/in, der das fundamentale Wissen über die heiligen Kräuter besaß. Die Zuwendung zur Phytotherapie in der afrobras. Bevölkerung ist Bestandteil einer alten kulturellen Tradition, aber gleichzeitig bildet sie oftmals die einzige Möglichkeit den Gesundheitszustand aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, da viele Afrobrasilianerinnen nicht über die finanziellen Mitteln verfügen, um die teuren allopathischen Medikamente zu kaufen. Die notwendigen Blätter und Kräuter, die in der Phytotherapie notwendig sind, erwirbt die afrobras. Bevölkerung auf den populären Märkten der Stadt. Auf öffentlichen Plätzen werden diese ebenfalls verkauft und nicht selten für ein spezifisches Leiden schon zusammengestellt und präpariert. Für den Erwerb solcher Kräuter benötigt die afrobras. Bevölkerung nur geringe finanzielle Mittel, da diese in der Regel »gewöhnliche« Gartenkräuter sind, die sie selber in ihrem »Quintal« (= Garten) einpflanzen, bei Verwandten und Freunde oder sogar auf vernachlässigten öffentlichen Grundstücken vorfinden. Die phytotherapeutische Behandlung ist vielseitig und bewirkt keine negativen Nebenwirklungen. Sie wird ganzheitlich eingesetzt, nämlich für die Behandlung von spirituellen, psychischen, psychosomatischen und somatischen Beschwerden und für die Behandlung von Personen aller Altersstufen. Sie wird auch eingesetzt als Aromatherapie. Als Beispiel für eine populäre Aromatherapie anhand von heilenden Kräutern kann folgende Zusammensetzung dienen: »Lavendelblüten (= alfazema), Fenchelblüten (= erva-doce), Lorbeer (= louro), Zucker, Kaffe und getrockneten Zwiebelblätter«. Hierfür ist eine festgelegte Anzahl von Blättern und eine bestimmte Menge von Zutaten vorgeschrieben. Auch in Alaúr E. Scis†nios »Lexikon der Sklaverei« (1997: 250 f, 274 f) sind eine Vielzahl von Heilpflanzen mit ihrem jeweiligen Anwendungsbereich durch die Sklaven aufgelistet, z. B. abacate, abacateiro, abacaxi, abre caminhos, abutua, aÅafr¼o (urucffl), etc.

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Bzgl. der Heilwirkung einiger Pflanzen und Früchte (die bereits von den Sklaven verwendet wurden) geben wir einige Beispiele: – Bei Herz- und Schlafstörungen: maracuj‚ – Bei Frauenbeschwerden, aber auch als Abortivum: erva cidreira – Zur Wundbehandlung: erva canudo (Sud) – Bei Menstruationbeschwerden wurden folgende Pflanzen verwendet: abutua, alecrim, arruda, artem†sia, caapeba, canela, cipû-cobra, erva-doce, mastruÅo, pic¼o-aÅu, salsa, jasmin – »Bicho-do-p¦« therapierte man mit !Tabak (tabaco, fumo) – Die Intoxikation durch »tabagismo« behandelte man mit alho – Bei Zahnschmerzen gab man tamarindo (tamarindeiro) (vgl. Scis†nio, 1997) !Ethnopsychotherapie !Gesundheit !Heilerinnen M. Pio CorrÞa (1931): Dicion‚rio das plantas fflteis do Brasil e das esp¦cies cultivadas. 5 vol.s. Rio de Janeiro; F. C. Hoehne (1939): Plantas e subst–ncias vegetais tûxicas e medicinais. S¼o Paulo; ders. (1979): Invent‚rio de plantas medicinais do Estado da Bahia. Salvador (BA); F. de M. Ficalho (1947): Plantas fflteis da Ýfrica portuguesa. Lisboa (2. ed.); G. L. Cruz (1965): Livro verde das plantas medicinais e industriais do Brasil. 2 vol.s. Belo Horizonte; C. T. Rizzini (1976): Tratado de fitogeografia do Brasil. S¼o Paulo; H. Fichte (1976): Xango. Die afroamerikanischen Religionen Bahia – Haiti – Trinidad. Frankfurt/M. (Tb, 1984:321 – 350); ders. (1985): Die Pflanzen der Casa das Minas. Curare. Sonderband 31/85, S. 241 – 248; A. Maynard Araffljo (1979): Medicina rfflstica. Brasiliana vol. 300. S¼o Paulo; N. Figueiredo (1983): Banhos de cheiro, ariach¦s & amacis. Rio de Janeiro: FUNARTE; J. F. P. de Barros (1983): Ew¦ o ýs‚ny‡n: sistema de classificażo de vegetais nas casa de santo jejÞ-nagú, Salvador (BA). Tese de doutorado. S¼o Paulo: USP; M. T. L. de A. Camargo (1985): Medicina popular. S¼o Paulo; B. Lavergne & J. Fl. Pessoa de Barros (1986): Chants sacr¦s et plantes liturgiques dans le candombl¦ br¦silien. Caravelle – Cahiers du Monde Hispanique et Luso-Br¦silien (Toulouse), (47), p. 25 – 39; M. Th. L. de Arruda Camargo (1988): Plantas medicinais e de rituais afro-brasileiros I. S¼o Paulo; P. Verger (1995): Ewe. O uso das plantas na sociedade iorub‚. Salvador; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo, p.110; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; Zeitschrift: Revista Brasileira de Bot–nica (SP): www.scielo.br

Politik Die Afrobrasilianer in der Politik: Es wird oftmals fälschlicherweise behauptet, daß die Afrobrasilianer kein politisches Gewicht in Brasilien besäßen. Die Oberflächlichkeit dieser Aussage kann sofort erkannt werden, wenn das politische Potential der afrobrasilianischen Wählerschaft analysiert wird. Mit der o.g. Behauptung ist vielleicht gemeint, daß

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die Afrobrasilianer in der öffentlichen Politik nur wenig vertreten sind, was eine Tatsache ist. Alle staunen noch immer, wenn ein Afrobrasilianer als Bürgermeister gewählt wird, wie es vor kurzem in der Industriestadt S¼o Paulo geschehen ist. Die diskriminierende Betrachtungsweise über die Afrobrasilianer ist einer der prägenden Faktoren für ihre politische Ausschließung. Obwohl nach der Befragung der Zeitung »Folha de S¼o Paulo« von 25. 6. 1996, nur 6 % der Gesamtbevölkerung zugegeben haben, daß sie niemals einen schwarzen Politiker wählen würden und daß 55 % die potenzielle Möglichkeit der eigenen Wahl eines »Schwarzen nicht ausschließen«, wissen wir aufgrund von sozialwissenschaftlicher indirekter Forschung und aufgrund der aktuellen politischen Landschaft Brasiliens, daß die Mehrzahl der Bevölkerung dies nicht tut. Häufig wird die einzige afrobrasilianische Senatorin (Congresso Nacional) in der politischen Geschichte des Landes als Beispiel mit der Begründung angeführt, daß sie eine der am häufigsten gewählte Persönlichkeit Brasiliens ist. Dies darf jedoch hinsichtlich der allgemeinen politischen Haltung der Bevölkerung den Afrobrasilianern gegenüber nicht verallgemeinert werden. Ein Beispiel für die !Diskriminierung der Afrobrasilianer in der Politik sowie für die unbewußten Ängste, die mit ihrer potenziellen Machtübernahme zusammenhängen, kann auch die Politikerin ›Benedita da Silva‹ (*1942) liefern: Als sie sich im Jahre 1994 für das Bürgermeisteramt der Stadt Rio de Janeiro aufstellen ließ, lief ein Schauder durch die Bevölkerung der besser gestellten Stadtteile. Man befürchtete, daß sie durch ihre linksorientierte Haltung allen »kriminellen Schwarzen« mehr Freiraum geben würde, daß sie »ihre marginalen Leute« beschützen würde und daß die Kriminalität durch die Schwarzen unkontrollierbar werden würde. Bei ihrer Aussage, daß die Gründe für die Kriminalität nicht die !Hautfarbe sei, sondern die sozio-ökonomische Ungerechtigkeit, glaubten sowohl Afrobrasilianer als auch die helle Bevölkerung, daß sie nun der »schwarzen« Gefahr ausgeliefert wären (vgl. Lopes, 2006:29). Außerdem spielt das ästhetische weiße Schönheitsideal eine große Rolle bei der demokratischen Wahl eines Politikers in Brasilien. Zwischen den Präsidentsschaftskandidaten Fernando Collor de Mello und Lu†s In‚cio da Silva z. B. war dieser Aspekt von entscheidender Bedeutung, was den afrobrasilianischen Kandidaten betrifft. Aufgrund dieser Tatsache haben sich die afrobrasilianischen politischen Gruppen gegen die Möglichkeit der Nutzung von Paßbildern als Methode für die Wahlbeteiligung der Analphabeten des Landes gewandt. Eine solche Methode wäre nämlich von großer negativer Bedeutung für afrobrasilianische Kandidaten. Außerdem kommt noch hinzu, daß das niedrige Bildungsniveau der Mehrzahl der Afrobrasilianer, die große Abwesenheit von positiven Vorbildern in den Medien, die sehr hohen finanziellen Kosten einer politischen Kampagne, etc. sich als sehr hinderlich erweisen für eine größere

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Beteiligung der Afrobrasilianer an der offiziellen Parteipolitik und für die Anerkennung der afrobrasilianischen Politiker als vertrauensvolle Volksvertreter aller Gesellschaftsmitglieder. Aufgrunddessen werden die Afrobrasilianer oftmals nicht ernstgenommen, um verantwortungsvolle Ämter zu besetzen und grundlegende Entscheidungen für das Land zu treffen. Ideologische Mechanismen haben in der Politik auch eine große Bedeutung. Als Beispiel hierfür kann die Besetzung des Bundesparlaments Anfang der 90er Jahre dienen: Damals war die Anzahl der »Indianer«-Abgeordneten höher als die der Afrobrasilianer, obwohl es zahlenmäßig einen riesigen Unterschied gibt: gegenwärtig werden für Brasilien nur ca. 220.000 ursprünglich lebende Indianer angegeben, während Brasilien heute als das zweitgrößte »afrikanische« Land der Erde nach Nigeria gilt. Außerdem gaben von den 11 afrobrasilianischen Parlamentariern nur 6 ihre Angehörigkeit zu der afrobrasilianischen Bevölkerung zu! Die Konsequenzen dieser Verleugnung der Zugehörigkeit hat eine tiefe Bedeutung für diese Bevölkerungsgruppe, da sie kaum politische Vertreter für die Verteidigung ihrer Grundrechte und Grundfragen haben. Grundrechte wie schulische Ausbildung, angemessene Gesundheitsversorgung, Ernährung und bessere Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen im allgemeinen betreffen die gesamte arme Bevölkerung des Landes, dennoch erkennen wir zahlreiche ethnische diskriminierende Mechanismen, die den Afrobrasilianern noch weniger Mobilitätschancen einräumen und sie in diesem Rahmen zu der größten benachteiligten Bevölkerungsgruppe des Landes macht. Im Hinblick auf die »afrobrasilianische Frage« hat es tiefgreifende Konsequenzen für die Afrobrasilianer, wenn ethnische !Diskriminierung und !Rassismus innerhalb der gesellschaftlichen Struktur nicht offengelegt werden. Das Ergebnis von Gesetzen wie beispielsweise die Todesstrafe, wäre für die Afrobrasilianer verhängnisvoll, da wir mit hautfarbenbezogenen Verurteilungen und Tötungen zu rechnen hätten, wie es in den USA der Fall ist, wo die überwiegende Mehrzahl der zu Tode Verurteilten Afro-USAmerikaner sind, obwohl ihre Schuld oftmals zweifelhaft ist und die !Strafe aufgrund der Hautfarbe häufig noch härter ausfällt. Ein bißchen Geschichte: A Frente Negra Brasileira: Die »Schwarze brasilianische Front«, die 1931 in S¼o Paulo gegründet wurde, war in historischer Hinsicht die größte und bedeutendste politische afrobrasilianische Bewegung des Landes. Aufgrund der einseitigen historischen Betrachtung der brasilianischen Historiker, die immer noch zum größten Teil von Mitgliedern der dominierenden ethnischen und politischen Mehrheit geschrieben wird, geht die entscheidende politische Partizipation der Afrobrasilianer für die Bildung der brasilianischen Nation völlig verloren. In fast allen sozialen und politischen Bewegungen des

Politik

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Landes waren Afrobrasilianer jedoch mitbeteiligt: die Vertreibung der Holländer, der Kampf für die Unabhängigkeit, die »Revolużo Farroupilha«, die »Cabanagem«, »Canudos«, die »InconfidÞncia Mineira und Baiana«, der ParaguayKrieg sind nur einige dieser politischen Ereignisse, die das deutliche Zeichen der afrobrasilianischen Teilnahme tragen. Die Stellung der Afrobrasilianer war vieldeutig: teils als Sklaven, die zu einer Partizipation gezwungen wurden, teils als freie Individuen, die ihre Bürgerrechte zu verteidigen suchten und teils als Sklaven, die ihre Freiheit durch eine politisch-kriegerische Partizipation suchten, wie es im Fall des Paraguay-Krieges war, bei dem den Sklaven(-!Soldaten) ihr Freiheitsbrief als Belohnung für den Fall ihres Überlebens angeboten wurde. In diesem Krieg war die afrobrasilianische Teilnahme sehr intensiv, was das Bild der Paraguayer hinsichtlich der »Schwarzen« noch bis heute noch prägt. Gleich nach der Sklavenbefreiung entstanden zwei Bewegungen, die von der »schwarzen« Bevölkerung ins Leben gerufen wurden: Der »Isabelismo«, der als Symbol für die Sklavenbefreiung betrachtet wurde und die !Abolition und die Monarchie verteidigen wollte, und die »Guarda Negra« (=Schwarze Garde), die von dem afrobras. Denker Jos¦ do Patroc†nio gegründet wurde, wobei er hier unterschiedliche Afro-Gruppierungen sammelte, von Ex-Sklaven, Marginalen, !»capoeiras« bis hin zu den besser gestellten Handwerkern. Die »Guarda Negra« wurde u. a. wegen ihrer Widersprüchlickeit und Gewalt eine politische Bewegung, die para-militärisch funktionierte. In erster Linie stand die Verteidigung der Monarchie, die für Brasilien in einer utopischen Form weiterbestehen sollte, aber ohne Sklaverei, auf dem Programm. Innerhalb dieser Ideologie kämpften die Afrobrasilianer in dieser Bewegung engagiert gegen die republikanische Expansion. Im Laufe der Restrukturierung der Afro-Bevölkerung Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden zahlreiche politische Bewegungen, !Organisationen und parteiische Bindungen und außerhalb von ihnen in der Regel kulturelle Verbände. In diesem immer stärker organisierten Rahmen der urbanen afrobrasilianischen Bevölkerung der Südostregion entstand auch die Idee der »Frente Negra Brasileira« (FNB). Die »Frente Negra Brasileira« war eine hochorganisierte Gruppierung, die im Laufe der Zeit eine nationale Ausbreitung gewann und vor allem sozialen und politischen Respekt. Sie suchte durch ihre Arbeit den Afrobrasilianer einen politischen Halt zu verschaffen und sie dadurch in andere Sektoren der Gesellschaft zu integrieren. Anfänglich wurde die »Frente« als eine rassistische Organisation angesehen, die einen umgekehrten Rassismus propagiere. Sie wollte aber eigentlich nur die Bewußtwerdung der Afro-Bevölkerung hervorrufen. Ihre Mitglieder bekamen einen Ausweis, trugen eine uniformähnliche Kleidung und wurden paramilitärisch ausgebildet. Der Staat fing an diese Gruppe ernst zu nehmen insbesondere aufgrund der strengen Moralvorstellungen, die innerhalb dieser Institution regierten. Dadurch haben ihre

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Mitglieder es u. a. erreicht die rassistische Diskriminierung, die innerhalb der Polizei in S¼o Paulo bestand aufzuheben, indem sich viele ihrer Mitglieder darin einschrieben, in einer Institution also, die bis dahin keine Afrobrasilianer aufnahm. Einige von diesen 400 Afrobrasilianern haben sogar Karriere gemacht. Das »Rassen«-Konzept der »Frente« wurde jedoch immer widersprüchlicher. Im Zuge der wiedererwachenden Rassenideologie im Brasilien der 30er Jahre, haben viele Mitglieder die Konzeption der »Ażo Integralista« (einer brasilianischen faschistischen Bewegung) übernommen, was sich in ihrem Slogan »Gott, Vaterland, Rasse und Familie« audrückte, der sich direkt von dem Slogan der »Ażo Integralista«: »Gott, Vaterland und Familie« ableitete. Dennoch konnte die »Frente« keine andauernde Bedeutung innerhalb der Parteienpolitik erreichen. Ihr Antrag als Partei aufgenommen zu werden, wurde erst im Jahre 1936 akzeptiert. Aber mit dem Staatstreich von Getffllio Vargas im Jahre 1937 wurden alle politischen Parteien verboten, darunter auch die »Frente Negra Brasileira«. Nach der »Estado Novo«-Periode ab 1945 haben sich viele andere afrobrasilianische politische Organisationen in ganz Brasilien neu gebildet, die aber keinen so entscheidenden nationalen Einfluß wieder erreicht haben wie die FNB. Die Militärdiktatur ab 1964 hat gezielt die Struktur verschiedener afrobrasilianischer politischer Verbände, Zeitungen und anderer kultureller Organisationen durch Verbote zerstört; ihre Teilnehmer und Führer wurden gefoltert, ermordert oder mußten ins Exil gehen wie z. B. der Denker, Künstler und Politiker Abdias do Nascimento. Hier sehen wir wieder einmal sehr deutlich wie »bedrohlich« das politische Potential dieser Gruppe eingeschätzt wurde. Im Laufe der letzten Jahre beobachten wir eine verstärkte politische Partizipation der Afrobrasilianer in verschiedenen politischen und kulturellen Bereichen und eine größere Anzahl von Afrobrasilianern, die sich für politische Ämter innerhalb ihrer Gemeinden und auf den verschiedenen Parlamentsebenen bewerben. Vereinzelte Beispiele wie das des ersten afrobrasilianischen Ministers Edson Arantes do Nascimento ( »Pel¦«), der ersten afrobrasilianischen Senatorin Benedita da Silva ( »Ben¦«), des Bundesabgeordneters Carlos de Oliveira (»Caû«), des Gouverneurs von Rio Grande do Sul Alceu Collares, des Senators Abdias do Nascimento und des Bürgermeisters von S¼o Paulo, Celso Pitta, sind von entscheidender Bedeutung für den Aufbau eines positiven politischen Bildes der Afrobrasilianer in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dies selbstverständlich auch, wenn einige von ihnen nur als »Alibi« von der offiziellen Politik angesehen werden. Eine Tatsache ist, daß sie präsent und politisch existent sind. !Anhang !Aufstände und Rebellionen !Bibliografien !Demografie ! Gesellschaft !Organisationen !Soldaten !Verfassung

Primitivismus (primitivismo)

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Primitivismus (primitivismo) Der Ethnopsychoanalytiker Hans-Jürgen Heinrichs (1989:189) hat darauf hingewiesen, daß sich der Begriff P. im deutschen Sprachraum nie richtig eingebürgert habe, da er zu sehr die Überlegenheit der westlichen Kulturen hervorrufe. Er definiert: »Der Begriff P. soll gerade nicht die Kunst sog. primitiver Völker kennzeichnen, sondern die Beeinflussung durch die Kunst der Primitiven. … Diejenige moderne Kunst, die im weitesten Sinn unter der Bezeichnung P. firmiert, ist gerade nicht Plagiat und Dekoration, nicht das Negeraccessoir im Wohnzimmer, sondern ein Konglomerat des Fremden und Eigenen, die Verbindung des historisch Archaischen mit dem (am Ende eines zivilisatorischen Prozesses) als archaisch Erscheinenden; sie ist Tradition, Kalkül und Rafinesse.« (Heinrichs, 1989:189 f, 197) Für Heinrichs ist der P. in den !»Exotismus« eingebettet. P. ist allgemein eine bewundernde Hinwendung zum Fremden,

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Anderen und Diversen (zur Diskussion und Geschichte des Begriffes P. vgl. z. B. Schultz, 1995). In seiner einflussreichen »Kunst der Primitiven« (1923) hat der Prähistoriker Herbert Kühn die Kunst des europäischen Paläolithikums und Mesolithikums, der südafrikanischen »Buschmänner«, der Polarvölker, der Afrikaner, Indianer und Ozeanier, sowie der Hochkulturen (Kreta, Mykene, Benin, Mexiko, Peru) vergleichend dargestellt und dabei zwei Stile in Verbindung zur Wirtschaftsform unterschieden: den sensorischen/immanenten (Paläolithikum, Eskimo, Buschmänner) und den imaginativen/transzendenten Stil. Die Welt des Archaischen, Exotischen und »Negerhaften« d. h. im weitesten Sinne »Wilden« war für die deutschen Expressionisten (Maler, Musiker, Schriftsteller, Tänzer, Regisseure etc.) von großer Bedeutung. Sie vermieden den Begriff P. und sprachen lieber vom Archaischen, vom schwarzen Expressionismus, von der »neuen Primitivität«. Man versuchte in der !Literatur und ! Kunst nicht nur die Differenz zwischen der Wirklichkeit und ihrer Darstellung aufzuheben bzw. zu verringern, sondern interessierte sich auch für den Jazz und die Lyrik der Afro-US-Amerikaner (vgl. »Harlem-Renaissance«), die schwarzen Soldaten, die im I. WK. gekämpft hatten, und ihr Schicksal, für den !Wodu der Karibik und für verschie-dene Bereiche der schwarzen !»Folklore«. Die italienischen Futuristen waren die ersten, die sich als »Primitive« bezeichnet haben. Französische Dichter lanzierten daraufhin ihr »Manifeste du Primitivisme« (vgl. Schultz, 1995). In der Literatur vermischten sich Exotismus mit pikanten Erotismen und psychologische Raffinessen mit primitiven Barbarismen. Der von den Nazis vertriebene Carl Einstein (1885 – 1940) veröffentlichte 1915 sein Buch »Negerplastik« und setzte damit neue theoretische Maßstäbe für die Beurteilung afrikanischer Kunst, die er vor allem durch die Kategorien der Reinheit und Unmittelbarkeit inspiriert sah und die er auch dem modernen europäischen Künstler anempfahl. Am Beispiel der Rezeption der Kunst und Kultur Afrikas und der Verarbeitung jener »thÀmes nÀgres« in der deutschen Avantgarde läßt sich ein Diskurswandel erkennen (vgl. N’guessan, 2002). Die in der frühen Ethnologie und Kolonialliteratur als »primitiv« abgewertete Kultur Afrikas wird in der Avantgarde umgewertet bzw. aufgewertet. Das Interesse der wichtigsten Avantgarden – Dadaismus, Expressionismus, Futurismus, Kubismus, Surrealismus – für die Plastik und Dichtung Afrikas war so groß, daß jene »primitive Kunst« überhaupt zum Merkmal der Avantgarde erhoben wurde. Das »Primitive« und der »Primitivismus«, zentrale Begriffe der avantgardistischen Afrika-Rezeption, sind wegen ihrer negativen Konnotationen nach wie vor umstritten. Manche Autoren ziehen deshalb in Analogie zum »Orientalismus« (E. W. Said) oder »Japonismus« den neutraleren und aussagekräftigeren Begriff »Afrikanismus« (africanismo) vor und betonen auch die Rahmenbedingung des europäischen !Kolonialismus für den P. !Ethnoästhetik !Kunst !N¦gritude

Primitivismus (primitivismo)

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V. Segalen (1907): Les Imm¦moriaux. Paris; M. Verworn (1917): Zur Psychologie der primitiven Kunst. Jena; Ch. Wentinck (1974): Moderne und primitive Kunst: Eine Gegenüberstellung in 80 Farbtafeln, Freiburg./Brsg.; Museum für Völkerkunde (Frankfurt/ M.) (1975): Kunst? Handwerk in Afrika im Wandel. Frankfurt/M.; F. Diawara (1979): Manifest des primitiven Menschen. München; W. Rubin (Ed) (1984): Primitivism in 20th Century art. 2 vol.s. New York; H. J. Heinrichs (1989): Das neue Interesse an den Wilden oder vom Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. In: ders., Fenster zur Welt. Positionen der Moderne. Frankfurt/M.; S. Price (1989): Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft. Frankfurt/M.; M. Szalay (1990): Der Sinn des Schönen. Ästhetik, Soziologie und Geschichte der afrikanischen Kunst. München; J. Schultz (1995): Wild, Irre, Rein. Wörterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900 und 1940. Gießen; B. P. N’Guessan (2002): Primitivismus und Afrikanismus. Kunst und Kultur Afrikas in der deutschen Avantgarde. Frankfurt/M.; W. Henckmann & K. Lotter (2004): Lexikon der Ästhetik. München (2. Aufl.); H. Strzozoda (2006): Die Ateliers E. L. Kirchners. Eine Studie zur Rezeption »primitiver« europ. und außereurop. Kulturen. Petersberg; Institut Mathildenhöhe Darmstadt (Hg.) (2010): Gesamtkunstwerk Expressionismus. Katalog. Darmstadt; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S. 505 f

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Quilombo (Kimbundo= Besiedlung) Das Wort »Quilombo« stammt aus dem Kimbundo und bedeutet soviel wie Besiedlung. Der Conselho Ultramarino von 1740 definiert Quilombo als alle Arten von Siedlungen entflohener !»negros«, die mehr als 5 Mitglieder besitzen, in unbesiedelten Gegenden, auch wenn es keine Hütten und Stampfer gibt. Mocambo, quilombo, palenque, cumbe, ladeira, mambise, !maroon society sind die verschiedenen Bezeichnungen für diese Art von afrikanischem Widerstand auf dem amerikanischen Kontinent. Die quilombos werden heute als die grundlegende Aktionseinheit des Sklavenwiderstandes interpretiert. Sie waren Fluchtburgen von entflohenen Sklaven und befanden sich hauptsächlich im Inneren der Wälder, auf Berggipfeln oder in tiefen Tälern. Aber auch die quilombos, die unmittelbar in der Nähe der »fazendas« lagen und durch ihre Produktion mit ihnen kooperierten, waren keine Ausnahme. Der Typus und die Bevölkerungsanzahl der quilombos variierten sehr. Freitas (1982) unterscheidet 7 Typen von Quilombos, die entweder durch eigene Plantagenwirtschaft oder Bergbau, durch Handel, durch den Verkauf ihrer Arbeit in den näheren Städten, durch Raub, etc. ihre Subsistenz garantierten und sich entsprechend organisierten. In den Quilombos befanden sich nicht nur entflohene Sklaven, sondern auch verfolgte »Indianer«, !»mestiÅos«, Frauen, Kinder, Weiße, etc., d. h. alle diejenigen, die sich durch das offizielle System verfolgt oder benachteiligt fühlten; die Ablehnung der staatlichen Regeln und (Sklaverei-)Gesetze war die zentrale Ideologie der »quilombolas«. Man könnte auch behaupten, daß die quilombos eine gegenüber dem Staat marginalisierte Bevölkerung vereinigten, die für Freiheit kämpfte und eine eigene, gerechtere Staatsform suchte. Diese Art von !Organisation existierte bis zur Aufhebung der brasilianischen Sklaverei im Jahre 1888, obwohl im heutigen Brasilien noch manchmal ähnliche Gemeinschaften entdeckt werden. Allein im Bundesstaat Maranh¼o gab es bis 1995 ca. 350 ländliche afrobrasilianische Gemeinschaften, die Nachfahren

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der quilombos sind. Obwohl der Art. 68 des »Ato das DisposiÅþes Constitucionais Transitûrias« von Oktober 1988 diesen Quilombos-Nachfahren das Recht auf dem Bodenbesitz zusichert, gab es bis 1995 keine gesetzliche Anerkennung dieser Bevölkerungsgruppe. Der erste Bericht über die Existenz von Q. stammt aus dem Jahr 1559 in Pernambuco. Die quilombos verbreiteten sich auf dem ganzen bras. Territorium, in allen wirtschaftlichen Zyklen (Zucker, Gold, Kaffee etc.), mit verschiedener Bevölkerungsanzahl und verschiedenen Überlebensformen. Clovis Moura (1989) listet für 12 Bundestaaten ca. 136 ihrer Hauptquilombos auf, obwohl schätzungsweise die Gesamtanzahl der registrierten quilombos in bestimmten Regionen noch 10mal größer ist. Trotz der großen Anzahl von erfaßten quilombos ist der von !»Palmares« der bekannteste. Er bestand am längsten (1630 – 1695) in der Serra da Barriga (zwischen Pernambuco und Alagoas) und dehnte sich über ca. 60 Meilen aus mit bis zu 30.000 Einwohnern. Der »Quilombo dos Palmares« bildete sich während der holländischen Besatzungszeit in Pernambuco (1630 – 1654). Mit deren Hilfe gelang es der portugiesischen Kolonialmacht, nach zahlreichen Versuchen, in einem großangelegten militärischen Feldzug »Palmares« zu zerstören. »Palmares« wird heute verstanden als »Primeira Repfflblica Negra« (= Erste afrobras. Republik). In Palmares« wurde der religiöse Synkretismus praktiziert und in dieser afrobrasilianischen Gesellschaft wurden Raub, Mord, vagabundieren und Ehebruch unter Strafe gestellt. Heute wird der 20. November (Todestag ihres Anführers ! Zumbi) gefeiert als »Feiertag der Schwarzen Unabhängigkeit«. Gegenwärtig hat der »Quilombismo«, d. h. die Ausübung von QuilomboBildung Bewegung die Bedeutung einer emanzipatorischen und kämpferischen Haltung gegenüber der bestehenden diskriminierenden gesellschaftlichen Ordnung. Abdias do Nascimento nennt dementsprechend den Quilombismo eine politische afrobrasilianische Alternative. Möglicherweise haben sich einige Q. bis in die Gegenwart lebendig erhalten (vgl. z. B. Dimenstein, 1992:77). In der alagoanischen !Folklore existiert auch ein »Folguedo Quilombo«, der die Sklavenfluchten dramatisiert (vgl. Araffljo, s.d., p.166). Die Quilombo-Forschung bedient sich gegenwärtig nicht nur historischer und quellenkritischer Methoden (z. B. Archivstudien, !Reiseberichte), sondern verwendet auch archäologische und naturwissenschaftliche Verfahren und führt z. B. Ausgrabungen durch. Heute existiert bereits eine Übersichtskarte der bekanntesten Q.s in Brasilien (vgl. Moura, 1981:16ff; 1989:25 – 30; G. O. Alvarez & L. Santos, 2006:222). !Aufstände und Rebellionen !Palmares !Zumbi Cl. Moura (1959): Rebeliþes da senzala. Quilombos, insurreiÅþes, guerrilhas. S¼o Paulo (1972, 2. ed.); ders. (1981): Os quilombos e a rebeli¼o negra. S¼o Paulo; ders. (1989):

Quilombo (Kimbundo= Besiedlung)

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Histûria do negro brasileiro. Sao Paulo; W. de Almeida Barbosa (1972): Negros e quilombos em Minas Gerais. Belo Horizonte; P. T. Pedreira (1973): Os quilombos brasileiros. Salvador : SEMEC; J. C. de Melo (1977/78): Quilombos em Pernambuco no s¦c. XIX. Uma contribuiżo — histûria social. Revista do Arquivo Pfflblica (Recife), 31 – 32 (33/34), p. 16 – 38; Th. Brand¼o (1978): Quilombo. Cadernos de Folclore 28. Rio de Janeiro; M. B. Nascimento (1979): O quilombo de Jabaquara. Revista de Cultura Vozes (Petrûpolis), 73(3), p. 16 – 18; L. Coutinho de Mello Coelho (1979): O quilombo »Buraco do Tatu«. Mens‚rio do Arquivo Nacional (RJ), 10(4), p. 4 – 8; M. J. Maestri Filho (1979): Quilombos e quilombolas em terras gafflchas. Porto Alegre; C. M. Guimar¼es (1988): Uma negażo da ordem escravista: quilombos em Minas Gerais no s¦c. XVIII. S¼o Paulo; ders. (1988): Os quilombos do s¦culo do ouro. Revista do Departamento de Histûria (Belo Horizonte), (6), p. 15 – 46; ders. (1990): O quilombo do Ambrûsio: lenda, documentos e arqueologia. Estudos Ibero-Americanos (Porto Alegre), 16 (1/2), p. 161 – 174; A. Hofbauer (1989): Afro-Brasilien – vom »Quilombo« zum »Quilombismo«. Vom Kampf gegen die Sklaverei zur Suche nach einer neuen kulturellen Identität. Frankfurt/M.; D. Ribeiro (ed.) (1994): ›Carta‹: Falas, reflexþes, memûrias. 1695 – 1995. 300 anos de Zumbi. 1994 – 4/n8 13. Bras†lia; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro, p.280ff; J. Jobson de A. Arrruda & N. Piletti (2005): Toda a histûria. Histûria geral e histûria do Brasil. S¼o Paulo, p.198; G. O. Alvarez & L. Santos (2006): TradiÅþes negras, pol†ticas brancas. Bras†lia; Film: Quilombo (Regie: Carlos Diegues, 1984 BR; vgl. dazu: EMBRAFILM (1984): CDK apresenta Quilombo. Rio de Janeiro)

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»raça« (»Rasse«) Der Begriff »raÅa« (frz. race; engl. race; span. raza; port. raÅa; ital. razza; dt. Rasse etc.; vgl. Hannaford, 1996:5) leitet sich aus lat. ratio bzw. radix , evtl. auch aus dem Arabischen »r–s« (= Kopf, Haupt) ab. Ursprünglich ein Begriff aus der Tierzucht, wurde er erst seit dem 17. Jh. auf den Menschen angewandt (Der frz. Arzt FranÅois Bernier, 1625 – 1688, ein Schüler Gassendis, versucht 1684 eine »Rassengliederung« der Menschheit: »Nouvelle division de la terre par les differents espÀces ou races qui l’habitent«; als biologischer Begriff in Dtschl. zuerst 1775 bei I. Kant »Von den verschiedenen Racen der Menschen«; vgl. auch seine »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, 1798). Man verstand darunter die Gesamtheit biologischer und psychologischer Merkmale, die Vorfahren und Nachkommen innerhalb eines bestimmten »Stammes« miteinander verbinden (vgl. Kluge, 1963:584; Geiss, 1988:16ff; Memmi, 1992; Miles, 1991; KaupenHaas, 1999:65ff; Stubbe, 2012:526ff). Heute sollte der Begriff »raÅa« (»Rasse«) im human-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontext keine Verwendung mehr finden. Aufgrund folgender Ereignisse/Erkenntnisse ist er auch in der Alltagssprache zu vermeiden: 1. wegen der Aufhebung der neuzeitlichen Sklaverei (Abolition), die durch verschiedene Rassenlehren legitimiert worden war (engl. Antillen:1833; frz. Antillen:1848; dän. Kolonien: 1848; Venezuela:1854; niederl. Kolonien: 1863; USA:1865; Kuba: 1870; Puerto Rico: 1873; Brasilien:1888; dt. Kolonie Ostafrika: 1904, die Haussklaverei sollte dort erst 1920 beendet werden!) 2. wegen der Massenmordpolitik des Nationalsozialismus (1933 – 1945), die im Namen der »höherwertigen Rasse« vollzogen wurde 3. wegen des Zusammenbruchs der Kolonialreiche nach dem II. Weltkrieg, die ebenfalls im Namen der »höherwertigen Rasse« geherrscht hatten. Der Rassismus war eine der unabdingbaren Dimensionen des Verhältnisses zwischen Kolonisator und Kolonisierten 4. wegen des Endes der Rassentrennungspolitik in den USA (1964)

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5. wegen des Untergang des Apartheid-Regimes in Südafrika 6. wegen molekularbiologischer Erkenntnisse über die genetische Vielfalt der Menschen sind die klassischen Rassenkonzepte zum Scheitern verurteilt: mindestens 34 der menschlichen Gene variieren nicht, sie sind also bei allen Menschen gleich. Trotz erheblich erscheinender morphologischer Unterschiede sind die genetischen Distanzen zwischen den geographischen Populationen des Menschen gering. Der größte Anteil der genetischen Unterschiede zwischen Menschen befindet sich nicht zwischen, sondern innerhalb der geographischen Populationen. Mindestens 90 % der genetischen Unterschiede befinden sich innerhalb lokaler oder eng benachbarter Populationen. 7. Auch human- und sozial-ethische Gründe legen es nahe, diesen Begriff nicht mehr zu verwenden, weil er an eine rassistische Ideologie gebunden ist, die Menschheitskata-strophen wie die Sklaverei, den Holocaust, den Kolonialismus/Imperialismus, die Rassentrennung, Apartheid und kriegerische Auseinandersetzungen etc. mitverursacht und legitimiert hat (vgl. Stubbe, 2012:526 – 528) Die UNESCO hat zu diesen Fragen verschiedentlich ausführliche wissenschaftliche Stellungnahmen abgegeben: Bereits in der sog. 2. Deklaration von 1951 wird festgestellt, daß der »Rasse«Begriff selbst eine falsche und irrtümliche Kategorie sei und vorgeschlagen, diesen Begriff aus der wissenschaftlichen Terminologie zu eliminieren. Somit erhielten auch die »Rasse«-Theorien den Status falscher und abgelehnter Theorien. In der 4. Deklaration von 1967 wurde Rassismus als historisch nicht vergangen identifiziert, nicht nur als theoretischer Irrtum mit weltgeschichtlich desaströsen Folgen, sondern auch als zeitgenössisches und praktisches Phänomen, das in verschiedenen Formen auftreten könne. Rassismus wurde neu gefasst als Ideologien und Praktiken, die sich äußern können als institutionelle, administrative, rechtliche und alltägliche Praktiken und geleitet seien von Vorstellungen, die den Inhalten von »Rasse«-Theorien entsprächen. Rassismus müsse demnach sowohl als Kopf-Inhalt als auch als gesellschaftliche Tätigkeiten (institutioneller Rassismus), als in gesellschaftliche Strukturen (struktureller Rassismus) eingeschrieben, gefasst werden. Die 5. UNESCO-Deklaration vom November 1978 nimmt rassistische Ideologie als konstitutiven Faktor für Rassismus an. Daneben werden einige andere bestimmende Komponenten aufgezählt, darunter diskriminierendes Verhalten, strukturelle Bedingungen und institutionalisierte Praktiken. Robert Miles geht weiter, er bezeichnet Rassismus selbst als Ideologie. Durch diese UNESCO-Erklärung wurde der Rassismus-Begriff auf Denken und Handeln, auf theoretische und praktische Aktivitäten, auf ideologische und

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materielle Praktiken z. B. in Gestalt des institutionellen Rassismus, und damit auf strukturelle Fragen erweitert. (vgl. DIR, 1995: 146ff; Flatz, Riedmann & Kröll, 1998:169ff) »Rasse« ist in diesem Zusammenhang als sozialpsychologisch bestimmte Kategorie aufzufassen. Wo immer Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen auftreten, sind nicht Haut-, Augen-, Haar-Farben etc. die Ursachen, sondern soziale und ökonomische Ungerechtigkeit und politische Interessen. Die der Fremdgruppe zugeschriebenen Merkmale werden durch die Selbsteinschätzung bestimmt, die die diskriminierende Gruppe von sich hat. Das Eigenbild bestimmt das Fremdbild: Unsicherheiten werden durch Abgrenzung kompensiert; für das Selbstwertgefühl bedrohlich empfundene (negative) Eigenschaften werden auf die Fremdgruppe projiziert (Projektionsmechanismus als eine psychologische Erklärung des Rassismus; vgl. Kattmann In: Kaupen-Haas, 1999:71). !Anthropologie !Einführung !Hautfarben !Rassismus Th. Simiar (1922): Êtude critique sur la formation de la doctrine des races au XVIIIe siÀcle et son expansion au XIXe siÀcle. Royal Academy of Belgium Memoirs, 2d ser., Bk. 16, Brussel; E. Voegelin (1933): Die Rassenidee in der Geistesgeschiche. Von Ray bis Carus. Berlin: ders. (1940): The growth of the race idea. Review of Politics, 2, n8 3, jul. p. 283 – 317; J. Barzun (1932): The French Race: Theories of its Origins and their Social and Political implications prior to the Revolution. New York; ders. (1937, 1965): Race: A study in Superstition. New York (2.ed.); C. Dover (1951): Race: The uses of the word. Man, apr., p.55; F. Gosset (1963): Race: the history of an idea in America. Dallas; A. Montagu (1964): Man’s most dangerous myth: The fallacy of race. New York (4.ed.); ders. (ed.) (1964): The Concept of Race. London; M. Mead et al. (ed.s) (1968): The concept of race. New York; RaÅa e CiÞncia I und II. S¼o Paulo: Editora Perspectiva, 1970, 1972; Th. Skidmore (1974): Preto no branco: RaÅa e nacionalidade no pensamento brasileiro. Rio de Janeiro; ders. (1990): Racial ideas and social policy in Brazil (1870 – 1940). In: R. Graham (ed.), The idea of race in Latin America (1870 – 1940). Austin: University of Texas; Ch. Husband (ed.) (1982): »Race« in Britain: Continuity and Change. London; L. M. Schwarcz (1993): O espet‚culo das raÅas. Cientistas, instituiÅþes e quest¼o racial no Brasil (1870 – 1930). S¼o Paulo; I. Hannaford (1996): Race. The history of an idea in the West. Baltimore/Maryland; E. Telles (2004): Race in another America. The significance of skin color in Brazil. Princeton

Rassenanthropologie, -psychologie und rassischer Determinismus Ob der Rassenbegriff in den Sozial- und Humanwissenschaften überhaupt sinnvoll ist, und ob er nicht mehr Verwirrung stiftet und gestiftet hat als Nutzen, darüber gehen die Meinungen leider immer noch auseinander. In der Geschichte der Psychologie und Anthropologie hat der Rassenbegriff in der Koppelung mit

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bestimmten politischen Ideologien jedenfalls vor allem zu Unfug und Unwissenschaftlichkeit (vgl. etwa die »rassendiskriminierenden« Testuntersuchungen; vgl. Gould, 1999) und Legitimation für !Genozide und ! Kolonialismus geführt und es ist heute nicht mehr akzeptabel, daß ein pseudo-wissenschaftlicher Rassenbegriff in den Humanwissenschaften und Sozialwissenschaften weiter Verwendung findet (vgl. z. B. Geiss, 1988:16ff; Stubbe, 2012). Die sich aus dem Rassenbegriff herausentwickelnden Rassenlehren gehören zu den großen reduktionistischen systematischen anthropologischen Theorien des 19. und beginnenden 20. Jh.s wie dem Darwinismus (Mensch = biologische Spezies), Marxismus (Mensch = soziale Klasse) oder der Psychoanalyse (Mensch = sexuelles Wesen) etc. Auch in der vor allem evolutionistisch ausgerichteten Ethnologie hat der Rassenbegriff oftmals zur Degradierung fremder Kulturen und Menschen geführt. Durch die biologische Brille hindurch betrachtet konnte Fremdkulturelles eben nicht mehr wahrgenommen werden. Der Kulturanthropologe Harris (1989) weist deutlich darauf hin, daß grundsätzlich widerlegt wurde, daß soziokulturelle Unterschiede oder Übereinstimmungen durch genetische Unterschiede oder Übereinstimmungen erklärt werden können. Dennoch finden sich bis in die Gegenwart immer wieder neue rassendeterministische Anschauungen und vor allem Biologen und Psychologen waren und sind hierfür scheinbar besonders anfällig (vgl. z. B. Billig, 1981). Bereits Franz Boas (1955:9 f,131ff) hat klar herausgearbeitet, daß alle Klassifikationen, die allein von »Rasse«, Sprache und Kultur ausgehen, unvereinbar sind. Es ist klar bewiesen, daß in allen menschlichen »Rassen«, wie sie die physische Anthropologie herausgearbeitet hat, die verschiedenartigsten Kulturformen und Sprachen vorhanden sind bzw. ausgebildet werden können. Als Psychologen zu Beginn dieses Jahrhunderts in Europa begannen, Meßinstrumente für die Intelligenz zu entwickeln, wandten sie diese Instrumente auch in anderen Kulturen und bei anderen »Rassen« an. Insbesondere vor dem I. Weltkrieg mußten sich in den USA Tausende zum Kriegsdienst Eingezogene zur Feststellung ihrer militärischen Eignung sog. Alpha- und Beta-Intelligenztests unterziehen. Als die Ergebnisse nach »Rassenzugehörigkeit« der Testpersonen geordnet wurden (vgl. Yerkes, 1921), stellte man den erwarteten Zusammenhang zwischen der »angeborenen Inferiorität« der Afro-Amerikaner und den niedrigen Intelligenzwerten fest. »Auf diese Ergebnisse stützte man sich, um die Aufrechterhaltung des niedrigen sozialen Status der Schwarzen innerhalb und außerhalb der Armee zu rechtfertigen.« (Harris, 1989:447; vgl. auch Gould, 1999). In der weiteren kritischen Aufarbeitung der Testergebnisse und systematischer vergleichender Forschungen an Migranten und in den Nord- und Südstaaten wurde jedoch später offenbar, daß

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neben den genetischen Erbfaktoren auch kulturelle und andere z. B. in der Testsituation, dem Testleiter, der Testsprache etc. liegende Faktoren die Intelligenztestleistungen beeinflussen können. Psychologische Tests und die Testsituation sind also in höchstem Maße kulturgebunden. Bohannan (1973:115 zit. nach Harris, 1989:451) drückt dies klar aus, wenn er schreibt: »›Intelligenz‹Tests können gar nicht frei von kulturellen Vorurteilen sein. Der Inhalt eines Intelligenztests hat zwangsläufig etwas mit den Vorstellungen, der Konstitution oder den gewohnten Wahrnehmungsformen und Verhaltensweisen der Menschen zu tun, die den Test anwenden. Denn all diese Dinge sind bei Menschen kulturell vermittelt und beeinflußt … Das ist kein Diktum, auch keine Definition- sondern die Anerkennung der Art und Weise, in der kulturelle Erfahrung alles, was Menschen wahrnehmen und tun, durchdringt.« Bis heute ist jedoch die Diskussion über die genetische Bedingtheit der Intelligenz bzw. ihre rassische Determiniertheit nicht abgebrochen und die Phalanx der rassischen Deterministen ist unter Psychologen und Genetikern immer noch stark (vgl. Harris, 1989:446ff; Billig, 1981; Jahoda, 1992:85ff; Gould, 1999:157ff). Wir haben es hier mit einem typischen Beispiel dafür zu tun, wie bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse – hier Rassendiskriminierung und -trennung – »wissenschaftlich« legitimiert werden sollen. Im Dritten Reich hatte man bekanntlich im Hinblick auf die Juden, »Zigeuner«, »Russen«, »psychisch Kranken« »Asozialen« ganz ähnlich, nämlich im Sinne einer vererbten »biologischen Minderwertigkeit« argumentiert (vgl. Weingart et al., 1988). Wer die Geschichte der Afroamerikaner und insbesondere die Jahrhunderte währende Sklaverei und Rassentrennung nur ein wenig reflektiert hat, und auch bedenkt, daß die Psychologie in den USA und Brasilien bis auf den heutigen Tag fast ausschließlich von Weißen entwickelt und betrieben wird (vgl. Quekelberghe, 1991:35 f) und wer bedenkt, daß Afroamerikaner immer noch in der nordamerikanischen und bras. Psychologie wenig erforscht werden (vgl. Graham, 1992; Jones, 1994:17ff; Santos-Stubbe, 1995) erkennt bald, daß der Rassendeterminismus auf äußerst fragwürdigen und unwissenschaftlichen Grundlagen steht, aber leider immer noch wirksam ist. !Anthropologie !Canudos !Einführung !Genozid !Rassismus !Sozialpsychologie !Vorurteile T. R. Garth (1931): Race psychology. A study of mental differences. New York; M. Billig (1981): Die rassistische Internationale. Zur Renaissance der Rassenlehren in der modernen Psychologie. Frankfurt; S. Graham (1992): Most oft the subjects were withe and middle class. Trends in published research on African Americans in selected APA Journals (1970 – 1989). American Psychologist, 47(5), p. 629 – 639; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S. 528 – 531

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Rassismus (racismo) Eine einheitliche wiss. Definition des R. besteht nicht. Im Folgenden werden einige moderne Definitionen aufgeführt: »Es herrscht viel Unklarheit über Rassismus. Es gibt Leute, die den Begriff für eine kleine Gruppe Menschen reservieren, die bewusst rassistische Ideen propagieren, die wirklich glauben, daß schwarze Menschen einer inferioren ›Rasse‹ angehören (zum Begriff »Schwarze« vgl. S: 149ff). Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die sagen: Wir leben in einer rassistischen Gesellschaft, jeder, der darin aufgewachsen ist, ist somit rassistisch. Der ersten Gruppe geht es vor allem darum, die richtigen Rassisten zu demaskieren und zu bekämpfen. Der zweiten darum, jedem ›den Rassismus in uns selbst‹ bewusst zumachen. Die beiden Standpunkte sind nicht so gegensätzlich, wie sie scheinen. Tatsächlich liegt das Problem darin, daß schwarze Menschen in unserer Gesellschaft als Gruppe eine schlechtere gesellschaftliche Stellung haben als Weiße. Ebenso wie beim Sexismus spricht man von einer schlechteren Stellung auf dem Arbeitsmarkt, von weniger Unterrichtsmöglichkeiten, einer Unterrepräsentation an den Orten, wo politische Entscheidungen getroffen werden, von Ausschluß und Diskriminierung und von einer größeren Wahrscheinlichkeit, das Opfer körperlicher Gewalt zu werden. Alles, was dazu beiträgt, diese Ungleichheit zu verursachen oder sie aufrechtzuerhalten, nenne ich ›Rassismus‹. Dabei spielt sowohl ›aktiver Rassismus‹ eine Rolle – wenn die Mitglieder der Centrumspartij rassistische Vorurteile verbreiten, als würden ›die Ausländer‹ hier die Sozialhilfe verprassen und die besten Wohnungen mit Beschlag belegen – als auch ›passiven Rassismus‹, die Gleichgültigkeit gegenüber Schwarzen – ›sie müssen selbst ihre Probleme lösen‹ – oder die unbewusste Distanz und Ablehnung.« (Meulenbelt, 1993:147 f) »Rassismus bezeichnet eine Haltung, die Angehörige einer Gruppe von Menschen 1. als genetisch oder kulturell bedingt anders zur Kenntnis nimmt, 2. diese Andersartigkeit negativ (oder positiv) bewertet und dies 3. aus der Position der Macht heraus tut.« (Jäger & Jäger, 1992: 685) »Unter Rassismus wird in der Regel diskriminierendes Verhalten gegenüber Personen oder Gruppen verstanden, die einer anderen Ethnie (»Rasse«) angehören. Repräsentiert in individuellen Vorurteilen oder aber auch in sozialen Strukturen bzw. Institutionen (»institutioneller R.«). Altmodische Rassisten sind diejenigen Personen oder Gruppen, deren bigotte Überzeugungen gegenüber Minoritäten derart offenkundig sind, daß sie in weiten Teilen der Öffentlichkeit auf Ablehnung stoßen. Die subtilere Form dieses R. ist der moderne R. (Sears, 1988), der seine negativen Einstellungen und Vorurteile gegenüber Minderheiten offensiv dadurch vertritt, daß kulturelle Traditionen, demokra-

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tische Ideale, individuelle Freiheiten und eine anspruchsvolle Arbeitsmoral hochgehalten werden, was von großer allgemeiner Akzeptanz ist. In der Soz. Ps. vor allem durch Mc Conahay (1986) bekannt geworden.« (Dorsch, Psychologisches Wörterbuch, 1994: 639 f) »Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher und fiktiver Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.« (Memmi, 1992:103, 151ff) Formen des R.: Man unterscheidet heute: 1. kultureller und »wissenschaftlicher« Rassismus (z. B. in Kinderliedern, -alltag, Medien, Religion, Alltagssprache, im »wissenschaftlichen« bzw. »akademischen« Rassismus; vgl. z. B. Rassenkonzepte des 19. Jh.s) 2. institutioneller Rassismus Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Institution (= soziale »Einrichtung«) als Organisation, als ein Betrieb, oder eine Einrichtung schlechthin verstanden, die nach bestimmten Regeln des Arbeitsablaufes und der Verteilung von Funktionen auf kooperierende Mitarbeiter eine bestimmte Aufgabe erfüllt. Der kulturanthropologische Ansatz betrachtet die Institution als gesellschaftlichen Instinktersatz zur Sicherung des menschlichen Verhaltens. Der struktural-funktionale Ansatz betont dagegen die Bedeutung der Institution für die Selbsterhaltung des sozialen Systems. Danach sind drei Momente der Institution zu unterscheiden: 1. Relationaler Aspekt: Die Institution ordnet das Geflecht der sozialen Beziehungen und Rollen, der materiellen und sozialen Austauschbeziehungen 2. Regulativer Aspekt: Die Institution regelt die Zuordnung der Machtposition und die Verteilung der sozialen Belohnungen. 3. Kultureller Aspekt: Die Institution repräsentiert – in Ideologien und Symbolen – den Sinnzusammenhang des sozialen Systems (vgl. Fuchs et al., 1988 :345) An sozialer und individueller Emanzipation orientierte Sozialwissenschaftler wie z. B. J. Habermas weisen auf die reflexionshemmenden, manipulativen und Entfremdung begünstigenden Tendenzen derjenigen Institutionen hin, deren normative und erzieherische Kräfte sich als irrationale Autoritäten auch in einer modernen Gesellschaft mit intendierter Aufklärung erhalten haben. Berger & Luckmann (1991:58) betonen, daß die Institution ein Geschöpf eines histori-

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schen Prozesses ist und daß der Kontrollcharakter der Institutionalisierung eigen ist. Der Begriff »institutioneller Rassismus« soll deutlich machen, daß rassistische Denk- und Handlungsweisen nicht Sache der persönlichen Einstellung von Individuen oder als Defizite persönlicher Charakterstärke oder kognitiver Kompetenz zu erklären sind, sondern in der Organisation des gesellschaftlichen Miteinanders verortet sind, welche die Angehörigen der eigenen Gruppe systematisch gegenüber den Nicht-Dazugehörigen privilegieren. In diesem Sinne wird institutioneller Rassismus als gesellschaftlich nahegelegte Form der Herrschaftssicherung verstanden (vgl. Osterkamp In: Mecheril & Teo, 1997:93 – 110). Der Begriff institutioneller Rassismus bezieht sich vor allem auf Fälle, in denen der Rassismus in Ausgrenzungspraktiken oder in einen formal nicht-rassistischen Diskurs integriert wird (vgl. Miles, R., 1991:69 – 83, 113 – 116). Ein Beispiel für institutionellen R. war die kontinuierliche Diskriminierung von Afro-Us-Amerikanern im Coca-Cola Konzern: die früheren und jetzigen Beschäftigten hatten dem Konzern vorgeworfen, sie bei der Entlohnung, bei Beförderungen und bei der Bewertung ihrer Arbeit systematisch diskriminiert zu haben und hatten geklagt. Der Coca-Cola Konzern zahlte den Betroffenen 192,5 Millionen Dollar Schadensersatz (Frankfurter Rundschau, 18. 11. 2000). Es werden zwei Formen des institutionellen R. unterschieden: 2.1 formell und 2.2. informell 3. struktureller Rassismus (z. B. Kastengesellschaften, Kolonial-Gesellschaften, Apartheids – Gesellschaften, »Rassentrennungs«- Gesellschaften). Unter Struktur versteht man die Elemente, aus denen ein soziales System aufgebaut ist und die Art und Weise, in der sie zusammenhängen. Ein Beispiel für strukturellen R. ist die bras. Gesellschaft um 1825. 4. individueller Rassismus Eine einheitliche Definition ist nicht vorhanden. Wir schlagen vor, darunter die persönliche/individuelle Ausgestaltung (z. B. kognitiv, affektiv oder im Verhalten) des in der Gesellschaft/Institution vorhandenen Rassismus zu verstehen 5. dominativer Rassismus In den USA gebräuchlicher Begriff, der darauf hinweist, daß die Aufhebung diskriminierender Gesetze zur Errichtung neuer unsichtbarer Barrieren führte und zu einem oft unbewußt ausgrenzenden Verhalten (vgl. Rommelspacher In: Mecheril, 1997:160 f)

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6. aversiver Rassismus Der Begriff aversiver R. wird vor allem in der Rassismusdiskussion in den USA verwendet und bezieht sich darauf, daß Weiße Schwarzen aus dem Weg gehen und engere Kontakte möglichst vermeiden, ohne daß ihnen das selbst unbedingt bewusst ist. Diese unsichtbare Mauer äußert sich z. B. in der Tatsache, daß 1990 in den USA nur 0,4 % der Ehen zwischen Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Herkunft geschlossen wurden (vgl. Rommelspacher In: Mecheril, 1997:160 f). Memmi (1992:13) hat folgende rassistische Mythen zusammengestellt, die sich fast in jedem rassistischen Denk-System wiederfinden lassen: 1. Es gibt »reine« und demnach von anderen verschiedene menschliche »Rassen«, d. h. also bedeutsame biologische Unterschiede zwischen den Gruppen und Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen. 2. Die »reinen Rassen« sind den anderen biologisch überlegen; diese Überlegenheit äußert sich ebenso in psychologischer wie in gesellschaftlicher, kultureller und geistiger Hinsicht. 3. Diese mannigfaltigen Aspekte der Überlegenheit erklären und legitimieren die Herrschaft und die Privilegien der höherstehenden Gruppen. !Anthropologie !antirassistisches Training !»raÅa« !Rassenanthropologie !Reinheit !Stereotype !Sozialpsychologie !Vorurteile J. de Lima (1934) : Rassenbildung und Rassenpolitik in Brasilien. Leipzig; I. Lang (1955) : Die Rassenverhältnisse Brasiliens. Diss. Uni Mainz; C. R. Boxer (1967): RelaÅþes raciais no imp¦rio colonial portuguÞs (1415 – 1825). Rio de Janeiro; RaÅa e CiÞncia I und II. S¼o Paulo: Editora Perspectiva, 1970, 1972; L. B. Rout jr. (1973): Sleight of hand: Brazilian and American authors manipulate the brazilian racial situation (1910 – 1951). The Americas (Washington), 29(4), p. 471 – 488; I. Geiss (1988): Geschichte des Rassismus. Frankfurt/ M.; G. L. Mosse (1990): Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt/M.; H. Sangmeister (1990): Sklavenbefreiung und Rassenprobleme in Brasilien. Zeitschrift für Lateinamerika-Wien, 1990:57 – 81; Chr. J. Jäggi (1992): Rassismus. Ein globales Problem. Zürich; L. M. Schwarcz (1993): O espet‚culo das raÅas. Cientistas, instituiÅþes e quest¼o racial no Brasil (1870 – 1930). S¼o Paulo; R. Reichmann (1995): Brazil’s Denial of Race. NACLA, report on the Americas, vol. XXVIII, Nr. 6, May/June, S. 35 – 45; J. Rufino dos Santos (1981): O que ¦ racismo? S¼o Paulo; B. Danckwortt (Hrsg.) (1995): Historische Rassismusforschung. Hamburg: Argument; St. Kühl (1997): Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.; R. Gutmann, Roy & D. Rieff (Hrsg.) (1999): Kriegsverbrechen. Was jeder wissen sollte. München (!Genozid, Völkermord, »ethnische Säuberungen« etc.); H. Kaupen-Haas & Chr. Saller (Hg.) (1999): Wissenschaftlicher Rassismus – Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften. Frankfurt/M.; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

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Abb. 12: »Bevölkerungspyramide« in Brasilien um 1825 Quellen: Holtz, 1981; IBGE, 1986:28; Stubbe, 1987:190

Reinheit Rein und unrein sind zwei aus dem noch ungeteilten Oberbegriff !Tabu hervorgangene kultische Begriffe, die religionsgeschichtlich von größter Bedeutung sind. Es läßt sich im religiösen Bereich allgemein eine Scheu und ein ängstliches Bestreben beobachten, Unreinheit zu entfernen und R. herzustellen. Man denke z. B. an die täglichen Waschungen vor dem Gebet im Islam oder die Funktion der Mikwe im Judentum. »Lange ehe Sünde als Übertretung des Sittengesetzes (›moralische Sünde‹) oder als Zuwiderhandeln gegen Gottes Willen (›religiöse Sünde‹) aufgefasst wurde, erschien sie (gleichviel ob schon unter dem Namen Sünde) als eine Art unreinen Kraft- oder Krankheitsstoffes, der wie ein schädliches Fluidum sich verbreitete und daher durch Abwischen, Abreiben, Abwaschen, Forttragen und dergleichen zu beseitigen war. Inhaltlich stellte sie sich als Bruch eines ›tabu‹ dar.« (Bertholet, 1976:569). Manche (religiöse) Gruppen nannten sich die »Reinen« z. B. die Puritaner im 16. Jh. in England. Man sollte sich auch daran erinnern, dass das aus dem Portugiesischen stammende Wort »casto« ›rein‹ bedeutet (vgl. z. B. Aur¦lio, o. J. p. 294) und in vielen Kulturen streng hierarchisch geordnete Klassen bezeichnet wie z. B. das mehr als dreitausend Jahre in Indien angewandte Kasten-System. Eine Purifikation findet

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sich in vielen Bereichen des sozialen und religiösen Lebens z. B. im Katholizismus die liturgische Reinigung von Gefäßen oder Händen bei der Messfeier oder im Rahmen der !Initiation oder ethnotherapeutischer Verfahren (vgl. purificażo der Kindersoldaten in Mosambik) oder als !Trauer(-reinigung) (Stubbe, 1985). R. kann durch (Ganzkörper)-Waschung, Opferhand-lungen oder Versöhnungsrituale erreicht werden. S. Freud & D. E. Oppenheim (1911, 1958) und Arthur Ramos haben sich mit der Kotsymbolik in der Folklore, Psychopathologie und im !Traum befaßt (vgl. »analer Charakter«, Fekalsprache). 1928 publiziert Ramos »A sordice nos alienados – Ensaio de uma psicopatologia da immund†ce«, seine Habilitationsschrift für eine Privatdozentur (Livre-docentura) für Klinische Psychiatrie an der »Faculdade de Medicina« in Salvador. Auch im politischen Jargon der nationalsozialistischen Ideologie erscheinen viele R.s- metaphern, so sprach man von »Rassereinheit«, »reinen Ariern«, »reinen Juden«, »R. des Blutes« (vgl. »Blutschutzgesetz« 15. 9. 1935) etc. »Die Rassenkunde stand im Dienst des Ideals völkischer ›Reinrassigkeit‹ und erbbiologischer Gesundheit und war deshalb Bestandteil des Bildungsziels der Schulen.« (Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 2001:658) »Reine Sprachen«, »reine Kulturen«, »reine Religionen« und »reine ›Rassen‹« existieren nicht! Die britische Sozialanthropologin Mary Douglas hat sich in ihrer vergleichend religionsethnologischen Studie »Purity and danger« (1966) mit den kulturspezifischen Vorstellungen von der richtigen Ordnung der Dinge, die zumeist mit religiös sanktionierten Konzepten von rein und unrein verbunden sind, beschäftigt. Derzufolge ist Schmutz nichts Absolutes, sondern existiert immer nur vom Standpunkt des Betrachters aus. Schmutz – so ihre These – verstößt gegen eine relative Ordnung. Aufräumen und Saubermachen sind von daher positive Anstrengungen, die darauf abzielen, die Ordnung wiederherzustellen. !»RaÅa« !»mestiÅo« !»mulata« !»negro« !»pardo« !Religion ! Vorurteile S. Freud & D. E. Oppenheim (1911, 1958): Dreams in Folklore (1911). New York; A. Ramos (1928): A sordice nos alienados – Ensaio de uma psicopatologia da immund†ce. Tese. Faculdade de Medicina (Salvador, BA); L. Moulinier (1952): Le pur et l’impur dans la pens¦e des Grecs. Paris; M. Douglas (1985): Reinheit und Gefährdung (1966). Berlin; G. L. Mosse (1978): Rassismus. Königstein/Ts.; H. Stubbe (1985): Formen der Trauer. Berlin; ders. (2008): S. Freuds ›Totem und Tabu‹ in Mosambik. Göttingen; W. Benz (Hrsg.) (2001): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. München (4. Aufl.)

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Reiseberichte (auch: Reiseliteratur) Einführung: R. umfassen das Gesamte dem Stoff nach von Reisen berichtende Schrifttum vom Reisehandbuch oder –führer mit sachlichen Angaben und Ratschlägen für Reisende, wie bereits in der griech./röm. Antike (Periegese z. B. Pausanias, 170 v. Chr.) und im MA (Wallfahrtswege) vorhanden, in der Neuzeit durch die Baedeker-Serie (seit 1828) fortgesetzt, über die wissenschaftliche Reisebeschreibung (z. B. G. Forster, A. von Humboldt, Ph. von Martius, Ch. Darwin) und die dichterisch ausgestaltete Wiedergabe von Reiseerlebnissen und –Erfahrungen oder Beschreibung der Zustände in fremden Ländern als unterhaltender Reiseroman bis zum humoristisch-satirischen (vgl. Swift), utopische Zustände schildernden Staatsroman (vgl. Kirchenheim, 1892) oder dem der Phantasie freien Lauf lassenden Abenteuer- und Lügenroman (z. B. Münchhausen) (vgl. Wilpert, 1969).

Zur Reiseliteratur in Brasilien: R. sind für die !Afrobrasilianistik eine wichtige und heuristische Quelle, da sie trotz unterschiedlicher, (eingeschränkter) selektiver Wahrnehmungseinstellungen, !Stereotype, !Vorurteile des Reisenden (z. B. Weisser, Adeliger, Bürger, Frau, Protestant, Einwanderer, Abolitionist, Demokrat etc.) und ästhetisierender Sichtweisen heraus Einblicke in das jeweilige Brasilienbild gestatten und Aspekte der brasilianischen Wirklichkeit wie z. B. die !Sklaverei wiederspiegeln (vgl. z. B. die wichtige Arbeit von Moema Parente Augel über das Brasilienbild Maximilian von Habsburg, 1832 – 1867, des späteren »Kaisers von Mexiko«) und zudem den Lesern gefällig sein wollen d. h. R. unterliegen auch literarischen Zeit-Strömungen (z. B. Romantik) und Moden. Es handelt sich also nicht um »objektive« Berichte. Die vielen (wissenschaftlichen) R.e sind deshalb im Rahmen der Afrobrasilianistik einer eingehenden Quellenkritik zu unterwerfen (vgl. Geertz, 1993; Parente Augel, 1980, 1994; Beluzzo, 1994; Carvalho FranÅa, 1999; Stubbe, 2012). Schon aus der Entdeckungszeit liegen viele aufschlußreiche Reiseberichte und Chroniken vor (z. B. Vaz de Caminha, Vespucci, Staden, Anchieta, de L¦ry etc.). Vor allem aber während der eigentlichen Kolonialzeit wurde Brasilien von einer Vielzahl europ. Reisender besucht, die aus eigenem (wissenschaftlichen) Interesse (vgl. »naturalistas«), als Missionare, als diplomatische Vertreter, als Teil einer ausländischen Mission etc. reisten (vgl. z. B. Berger, 1964). Pedro Calmon (*1902) betonte bereits, dass Brasilien für die Wissenschaften, insbes. des 19. Jh.s, ein reizvolles Neuland war, da es sich so sehr von der »Alten Welt«

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unterschied. Viele dieser Reisenden, die aus Europa (einschl. Russland) und später auch aus den USA kamen, hinterließen R. und bebilderte Werke von großem Wert. Auch die holländische Kolonisation im Nordosten Brasiliens wurde von einer Vielzahl von Wissenschaftlern und Malern begleitet (z. B. Pies, der als Begründer der Tropenmedizin gilt oder Frans Post, der »Maler des verlorenen Paradieses«; vgl. Stubbe, 1987; Krempel, 2006). Baron Wilhelm von Eschwege, seit 1807 im Dienst der port. Krone in Brasilien, publizierte ein berühmtes geologisches und mineralogisches Werk »Pluto Brasiliensis« (1823), das auf die enormen Bodenschätze Brasiliens aufmerksam machte. Auch Wilhelm Feldner (1828) führte mineralogische Untersuchungen in Rio Grande do Sul und in Bahia durch. Mit der »Miss¼o Art†stica FranÅesa« kamen J. Lebreton (1760 – 1839) und Jean-Baptiste Debret (1768 – 1848), der seine berühmte »Voyage pittoresque au Br¦sil« (1834 – 1839) hinterließ, nach Brasilien. Insbes. dieses Werk ist für die !Afrobrasilianistik von großer Bedeutung, weil es gleichsam eine »Innenansicht der (Stadt-) Sklaverei« in Bildform gibt (vgl. Bandeira & Correia do Lago, 2008). Die österreichisch-brasilianische Kaiserin Leopoldina (1797 – 1826) rief viele Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum nach Brasilien. Berühmt sind Johann Baptist von Spix (1781 – 1826) und Karl F. P. von Martius (1794 – 1868) mit ihrer »Reise in Brasilien auf Befehl … in den Jahren 1817 bis 1820 gemacht und beschrieben …« (1823), in der sich auch viele Beobachtungen über die bras. »Indianer« und afrikan. Sklaven finden (vgl. Helbig, 1994). Johann Emanuel Pohl (1782 – 1834) schrieb eine zweibändige »Reise im Inneren von Brasilien (1817 – 1821)« (1832/1837) mit vielen zoologischen und botanischen Beobachtungen. Thomas Ender (1793 – 1875) malte einige vorzügliche Bilder im »tropikalisch-romantischen Stil« u. a. in Pohls Werk und Atlas. Wichtig für die Afrobrasilianistik ist aber vor allem (der in Deutschland unbekannte) Johann Moritz Rugendas (1802 – 1858) mit seiner mit 100 Lithographien bebilderten »Malerischen Reise in Brasilien« (1827 – 1835), weil sie eindrucksvolle Einsichten in den Sklavenhandel, den Sklavenalltag, die Haussklaverei, die »tumbeiros« (Sklaventransporter), die Arbeit in den Minen und Zuckermühlen, die !Strafen etc. bietet (vgl. Richert, 1959; Carneiro, 1979; Löschner, 1978, 1984). 1808 besuchte John Mawe Brasilien und publizierte in London seine »Travels in the interior of Brazil«. Auch Prinz Maximilian von Wied Neuwied reiste durch Brasilien und schrieb eine bebilderte »Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817«, die vor allem für Völkerkundler interessant ist und bereits Goethes Aufmerksamkeit auf sich zog (vgl. Stubbe, 1982; zu Goethe und Brasilien, vgl. Hoffmann-Harnisch, 1948:139 – 162; Stubbe, 1982a). Um 1814 residierte Henry Koster (gest. ca. 1820) im Nordosten Brasiliens und verfasste eine heute schon klassische Studie »Travels in Brazil« (1815) über die Sklavenarbeit auf den »engenhos de aÅucar«. John Luccock wohnte 10 Jahre (1808 – 1818) in Rio de Janeiro und verfasste über seine Beobachtungen

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ein vielbeachtetes Werk (1820). Der russische Konsul Baron von Langsdorff (1773 – 1852), begleitet von Auguste de Saint Hilaire (1779 – 1853) (vgl. Biblioteca Nacional, 1979), unternahm zwischen 1813 und 1829 Reisen ins Innere Brasiliens (vgl. Bertels, 1988; seine Sammlungen finden sich heute in St. Petersburg). Mit Langsdorff und anderen deutschen Einwanderern kam 1822 auch der originelle Erfinder (zweirädriges Laufrad etc.) Karl Fr. Chr. L. Drais, Freiherr von Sauerbronn (1785 – 1851) nach Brasilien und wurde auch dem bras. Kaiser Pedro I. vorgestellt (vgl. Ebeling, 1985:91 – 101). Er schreibt über seinen ersten Eindruck nach seiner Ankunft in Rio de Janeiro (3. März 1822) in einem Brief an seinen Vater : »Am auffallendsten aber, und einer großen Maskerade ähnlich, sind, ihren verschiedenen Farben nach, die Menschen selbst; es sind Neger, durch welche alle lästigen Arbeiten verrichtet werden, bei weitem mehr, als die Weißen und Mulatten zusammen in der Hauptstadt betragen; sie sind aber im Durchschnitt elend aussehend, nicht so groß und wohlbeleibt, als die einzelnen Mohren, die jeweils nach Europa gelangen. Dazu kommt ihre harte Behandlung, die man auf allen Straßen sieht – nicht allein hinsichtlich der anstrengenden Arbeiten, sondern auch der Mißhandlungen, die der willkürliche Zorn ihres Herren, zum Beispiel mit Faustschlägen in das Gesicht, an ihnen verübt. Indessen singen sie unter ihren Arbeiten beständig – was nicht immer ein Ausbruch der Lust sein möchte … Ganze Familien leben von der Arbeit eines einzigen Sklaven, und kein Glied derselben will ihm helfen, weil es sich zu beschimpfen glaubt. Die daraus entstehende große Anstrengung der Neger eben sowohl in häuslichen, als öffentlichen Arbeiten bringt sie auch der Verzweiflung nah. Es brach während meines Hierseins eine schon mehrmals versuchte Empörung der Schwarzen aus, die noch niedergedrückt wurde, aber aufs neue droht.« (zit. nach Ebeling, 1985:98, 99). Auch weibliche Reisende haben ihre Brasilienerfahrungen aufgezeichnet, die deshalb so wertvoll sind, weil sie andere wichtige Aspekte Brasiliens ins (»weibliche«) Auge fassen. Zu nennen sind z. B. Maria Graham mit ihrem »Journal of a Voyage to Brazil« (1821), Ina von Binzers »Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien« (1887) oder Therese Prinzessin von Bayern »Meine Reise in den brasilianischen Tropen« (1897). Auch Charles Darwin besuchte 1832 während seiner Weltreise Brasilien und schilderte seine Eindrücke bzgl. der Behandlung der Sklaven, deren Schmerzensschreie ihn noch lange in seinen Alpträumen verfolgten (vgl. Darwin, 1962:55 – 87; Desmond & Moore, 1994:375). Ein anderer Naturforscher (jedoch Darwingegner) und Brasilienreisender war Jean Louis Rodolphe Agassiz (1807 – 1873). Agassiz wurde in der Schweiz geboren, hatte in Heidelberg und München Naturgeschichte und Medizin studiert (1830) (dabei auch K. Fr. Philipp von Martius kennengelernt und dessen bras. Fisch-Sammlung bearbeitet) und war im Jahre 1846 in die USA ausgewandert, wo er zu einem bedeutenden vergleichenden Zoologen, Eiszeitforscher und Paläontologen wurde (Havard: »Museum of Comparative Anato-

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my«). In den Jahren 1865 – 1866 führte er unter dem Patronat von Kaiser Pedro II. und mit Finanzierung durch den us-amer. Millionär Nathaniel Thayer eine 15-monatige Forschungsreise in Brasilien durch (»Nathaniel Expedition«). Bei dieser Reise begleiteten ihn u. a. Charles Frederick Hartt, Isabel Cary Agassiz (seine 2. Frau, die auch den populären R. »A Journey in Brazil«, Boston,1868, größtenteils verfasste), F¦lix Vogeli, Walter Hunnewell, Jo¼o Martins da Silva Coutinho und der spätere Philosoph und Psychologe William James (1842 – 1910). Agassiz vertrat eine bis heute in den USA nachwirkende, sehr einflußreiche hierarchische Rassenlehre, !Apartheid und die Polygenie der Menschheit (»mehrere Adams und Evas«!), die man auch als »amer. Schule der Anthropologie« bezeichnete. Er nahm als Schüler von Cuvier (1769 – 1832) im Gegensatz zu Darwin eine »creationistische Position« (Katastrophentheorie) ein, nach der »menschliche Rassen« unveränderliche Spezies seien (Artenkonstanz). In Brasilien fand er nun drei »Rassen« vor, nämlich »Indianer«, Europäer und Afrikaner, aber auch vielfältige »Rassenmischungen«, die er »Hybride« nannte (z. B. Mulatto, Cafuzo, Mammeluco) und für instabil hielt. Sie würden sich wieder zurück zur originalen, »reinen Rasse« entwickeln. Viele !Fotografien von Sklaven ließ er sowohl in den us-amer. Südstaaten (South Carolina, 1850), als auch in Brasilien anfertigen, um seine Rassentheorie zu »beweisen« (vgl. Núvo Dicion‚rio de Histûria do Brasil, 1970:29 f; Gould, 1999:39 – 48; Krafft, 2003:3 f; Kümin, 2007:45ff). R. haben einen bedeutenden Einfluß auf die bras. Historiografie und Sozialwissenschaften, z. B. auf Gilberto Freyres Werk ausgeübt: »Der ausländische Einfluß auf seine Konzeption des Werdegangs der bras. patriarchalischen Gesellschaft ist besonders bemerkenswert, weil sein 1933 zuerst erschienenes Werk ›Casa Grande e Senzala‹ und ›Sobrados e Mocambos‹ (1936) gerade als Dokument der Selbstbesinnung Brasiliens und der Entdeckung eigenständiger Wurzeln der nationalen Kultur angesehen werden. Unter seinen Quellen, aus denen er Einzelelemente eines fremdbestimmten Brasilienbildes übernimmt, befinden sich Reisende wie Agassiz, Arago, Castelneau, Denis, Expilly, Freyreiss, Freycinet, Graham, Kidder, Koster, Lindley, Luccock, Martius, Nienhof, Ouseley, Pohl, Rugendas, Schaeffer, Wallace, Walsh, Wied-Neuwied u. a.« (Parente Augel, 1994:46). Parente Augel nennt auch noch andere wichtige Autoren/Wissenschaftler wie Thales de Azevedo, Pedro Calmon, Carlos Ott, J. Wanderley de Araffljo Pinho, Heitor Ferreira Lima, J. F. de Almeida Prado, in deren Werken sich ausländische Darstellungen als konstituierende Elemente ihrer Analysen finden. !Bibliografien !Frau !Geschichte der Afrobrasilianer !Ikonografie der Sklaverei !Sklavenkindheit !Sklaverei G. Wilhelm Freyreiss (1815, 1968): Reisen in Brasilien. Stockholm; Anon. (A. von Kirchenheim)(1892): Schlaraffia politica. Geschichte der Dichtungen vom besten Staate.

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Religionen der Afrobrasilianer

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Religionen der Afrobrasilianer Kosi ewe, kosi orix‚ Ohne Blätter, gibt es keine Orix‚

Es ist eine sehr schwierige Aufgabe im Rahmen einer solchen einführenden Schrift über die afrobrasilianischen Religionen zu sprechen, da diese Religionen und die religiösen Manifestationen der Afrobrasilianer sehr komplex sind. Es handelt sich um eine vielseitige Theologie, die Elemente unterschiedlicher Kulturen in sich birgt, ein großartiges Pantheon besitzt, zahlreiche Verbindungen zur Natur und eine ebenfalls komplexe Mythologie und Sprache. Aufgrunddessen fassen wir uns kurz und verweisen auf die bereits zahlreichen (auch deutschsprachigen) Schriften über diesen Bereich in der Literaturauswahl. An dieser Stelle soll bereits hervorgehoben werden, daß auch wenn die Religion eine der grundlegenden kulturellen Manifestationen der Afrobrasilianer ist und sie ebenfalls die religiöse afrikanische Tradition u. a. als Widerstand beibehalten und tradiert hat, dies längst noch nicht bedeutet, daß die Afrobrasilianer ausschließlich »religiöse Wesen« sind. Das entspräche nicht der Realität der Afrobrasilianer. Es würde nämlich bedeuten, daß man z. B. die Deutschen im Allgemeinen nur als ein Volk betrachten würde, das ständig in die Kirche ginge und ständig beten würde. Es wäre wichtig den Enthusiasmus oder die Faszination dieser Religionen der Afrobrasilianer nicht als einzigen Inhalt ihres Lebens hineinzuprojizieren. Wenn über afrobrasilianische Kultur gesprochen wird ist es die Religion, in der Regel der !Candombl¦, der sofort angesprochen wird aufgrund seiner Faszination und Mystik, die von Europäern nur schwer zu erfassen sind. Die Tatsache, daß ein weißer habilitierter bras. Universitätsprofessor sich nicht traut einen »despacho« mit seinem Auto zu überfahren und deshalb beinah einen Unfall verursacht und als Begründung dann sagt, daß man es ja nicht wisse, vielleicht sei wirklich etwas an dieser Magie dran, zeigt wie stark die Glaubensinhalte dieser Religionen das brasilianische Bewußtsein bis heute geprägt

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haben. Dies bedeutet aber bei weitem noch nicht, daß die afrobrasilianischen Religionen in der Öffentlichkeit immer ernst genommen werden. Jahrzehntelang galten die afrobrasilianischen Religionen als »coisa de preto«, als schwarze Magie, Scharlatanerie, etc. und ihre Gläubigen litten unter zahlreichen !Diskriminierungen und polizeilichen Verfolgungen. Davon waren vor allem die Frauen als Hauptträgerinnen dieser Religionen stark betroffen. Solche !Vorurteile bestehen immer noch, ein Grund für die Vermeidung des offenen Bekenntnisses der Zugehörigkeit. Viele Afrobrasilianer, die aktiv an ihrer traditionellen Religion teilnehmen und sogar initiiert sind, deklarieren sich öffentlich immer noch als Katholiken: Unter dem Hemd oder der Bluse haben sie aber ihre heiligen Ketten, aber in der Befürchtung benachteiligt, diskriminiert oder negativ beurteilt zu werden, verleugnen sie oftmals ihren Glauben. So ist es eher zu verstehen wieso jahrzehntelang über 90 % der brasilianischen Bevölkerung sich in den offiziellen Statistiken als Katholiken bekannt haben. Die afrobrasilianischen Religionen haben u. a. drei sozialpsychologische Gemeinsamkeiten: 1) Ihr Widerstandscharakter, aufgrund dessen sie im Laufe ihrer ganzen Geschichte die Unterdrückung überstanden haben und der ihnen gleichzeitig das Gefühl einer starken ethnischen Geborgenheit gegeben hat. Die rituellen Räume dieser Religionen waren und sind Versammlungsräume für Gespräche, die für die Gemeinde wichtig und oftmals geheim sind. In diesen Kultstätten, »terreiros« oder »centros« genannt, bildete sich eine bewußte Elite, die sowohl religiös, als auch politisch und sozial eine hohe Wertschätzung innerhalb und z. T. außerhalb dieser Gemeinde hatte. Dieser Widerstand ist auch erkennbar in Form des religiösen Sykretismus der in Brasilien herrscht. Die infolge der ! Missionierung erzwungene Übernahme des katholischen Glaubens und der Heiligen durch die Sklaven hinderte sie nicht daran ihre afrikanischen Götter weiterhin zu verehren: hinter dem Bild der Heilige Barbara wurde z. B. Ians¼ verehrt, hinter Xangú der Heilige Jeronimus (vgl. Tab. 5). Die katholischen Heiligen fungierten als das, was »Deckmantelheilige« genannt werden kann. Dadurch fanden die Afrobrasilianer einen Weg ihren Glauben weiterhin auszuüben. Auch Elemente der indianischen Kulturen Brasiliens wurden mitaufgenommen, z. B. der Kult »candombl¦ de caboclo« oder die indianischen Gottheiten, die in verschiedenen Kulten auftreten. Es gibt heute kaum eine afrobrasilianische Kultstätte, in der kein Symbol des Katholizismus zum Vorschein käme. Ebenfalls stark ist der Einfluß des afrobrasilianischen Glaubens in die katholische, christliche Zeremonie eingedrungen. Das »Reinwaschungs-Ritual« der Kirche von Bonfim in Salvador (Bahia) in der Vor-Karnevalszeit durch Priesterinnen des Candombl¦s ist ein Beispiel dafür, obwohl viele katholische Oberhäupter dies nicht gerne sehen und oftmals diese Traditionen verbieten. Ein gutes Beispiel für ein solches Verbot ist das Theaterstück »O pagador de pro-

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messas« (Dias Gomes), dessen Verfilmung die Goldene Palme im Cannes erhielt (!Film). 2) Die afrobrasilianischen Religionen bilden in ihrer irdischen Kosmologie eine rituelle Familie, die mit ihrer Zugehörigkeit zu den jeweiligen »Orix‚s/ Santos/Guias« verbunden ist. Die Gemeinde besteht aus einer Mutter : die »Babalorix‚, Ialorix‚ oder M¼e-de-Santo« genannt wird und/oder einem Vater, der »Babalaú oder Pai-de-Santo«. Darunter stehen, hier nur in groben Zügen dargestellt, die »Kinder«, d. h. die Initierten, die »Iaú« oder »Filhas« und »Filhos-deSanto«. In diesem gesamten familiären Gebilde finden wir zahlreiche andere »Verwandte«, die unterschiedliche Funktionen innerhalb und außerhalb der kultischen Gemeinschaft besitzen. Die Stellung der »Mutter« ist hierbei von großer Bedeutung. Entsprechend der unsicheren Situation der Afro-Frauen in der Sklavereizeit, die allein mit ihren Kinder überleben mußten, was heute immer noch als alleinerziehende Mütter der Fall ist, haben sie hier ebenfalls die Verantwortung für ihre spirituellen Kinder. Sie müssen Charisma und Lebenskraft besitzen, die ihnen durch die Orix‚s vermittelt wird, um ihren Kindern diese weiter zu geben. Die Stellung der spirituellen Mutter besteht ebenfalls darin ihre Kinder gegen Niederlagen und Schicksalsschläge zu verteidigen, die spirituelle Familie zusammenzuhalten und die, in der Regel knappen, materiellen Güter unter den Bedürftigen innerhalb der religiösen Gemeinde aufzuteilen. Die Rolle des »Vaters« in diesen religiösen Familien ist in der Regel schwächer. Die afrobrasilianischen religiösen Gemeinden bilden eine vorwiegend von Frauen regierte Welt. 3) Die Symbolik des rituellen !Tanzes, der den Gang, die Bewegung und das Dasein der Situation des Orix‚s zum Ausdruck bringt. In solchen Augenblicken sind die !Medien und die Orix‚s eins. Das Bewußtsein in Kontakt mit den Gottheiten zu treten und eins mit ihnen zu werden, gibt den afrobrasilianischen Gläubigen Stärke und beinahe Übermacht, was für sie außerhalb der religiösen Gemeinschaft von großer spiritueller Bedeutung im Alltag ist. Es ist sehr schwierig zu bestimmen, wieviele Kultstätten es in Brasilien gibt. Im Jahre 1991 gab es offiziell allein in Salvador (Bahia) ca. 3000. Der Candombl¦ ist für Brasilien nicht die einzige afrobrasilianische Religion; sie ist jedoch in Bahia zweifelsohne die am häufigsten vetretene, was mit dem dortigen bedeutenden Einfluß der Nagú-Yorub‚-Kulturen zu erklären ist. Die afrobrasilianischen Religionen gehören dem Typus der !Besessenheitsund Inkorporationskulte an. Die Trancezeremonie, die von !Musik, Tanz und Gesang begleitet wird und innerhalb eines terreiro vor den Gläubigen stattfindet, erlaubt den Initiierten und Eingeweihten durch die Orix‚s besessen zu werden. Der Candombl¦ (der oft fälschlicherweise als Bezeichung für alle afrobrasilianischen Religionen verwendet wird), die !Macumba, die !Umbanda, die Casa das Minas und die Quimbanda sind die am bekanntesten und am häufigsten

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praktizierten afrobrasilianischen Religionen, obwohl jede von ihnen noch verschiedene Unterformen besitzt. Die afrobrasilianische Religion findet einen starken Ausdruck auch in anderen Bereichen des Lebens der Afrobrasilianer. Die afrobrasilianische Bildende !Kunst z. B. lehnt sich stark an das religiöse afrikanische Pantheon an. Die mythische Welt der Götter drücken einen Lebenssinn aus, der in der Malerei beispielsweise deutlich spürbar wird. Auch in der Schmuckherstellung und in den Plastiken afrobrasilianischer Künstler erkennen wir die Welt der Orix‚s mit ihren Aussagen über die profane Welt. Ebenfalls in der rythmischen afrobrasilianischen !Musik, in der !Literatur, im Fernsehen und im !Film sind diese Einflüsse erkennbar. Wie bereits oben erwähnt, bekennen sich Millionen von Afrobrasilianern zum Katholizismus und aktuell immer stärker auch zu den, in der Regel USAmerikanischen, protestantischen, evangelikalen Kirchen. Aufgrunddessen ist es wichtig zu berücksichtigen, daß nicht alle Afrobrasilianer eine afrobrasilianische Religion praktizieren. Viele Vorurteile, die gegenüber den afrobrasilianischen Religionen herrschen, wurden auch von Afrobrasilianern introjiziert und sie lehnen diese Religionen manchmal selbst auch ab, bzw. haben Angst davor und brandmarken sie als niedrige »schwarze« Magie. Unter den praktizierenden afrobrasilianischen Katholiken finden wir auch eine militante Laiengruppe, die aus afrobrasilianischen Priestern besteht und sich oftmals im Sinne der Theologie der Befreiung und des Movimento Negro innerhalb der Kirche engagiert. Sie versuchen ihr »Afrobrasilianertum« innerhalb der Kirche zu erleben. Sie regen beispielsweise ökumenische Gottesdienste an, in denen auch die Oberpriester der afrobrasilianischen Religionen gleichberechtigt am Gottesdienst aktiv teilnehmen. Leider schaffen es diese Gruppierungen oftmals nicht sich gegen die reaktionären konservativen Kräfte innerhalb der katholischen Kirche durchzusetzten. Hier wird die ambivalente Haltung den afrobrasilianischen Religionen gegenüber von Seiten der herrschenden katholischen Kirche erkennbar. Historisch gesehen hat die katholische Kirche eine große Bedeutung für die Afro-Bevölkerung gehabt. Innerhalb der Kirche entwickelten sich nämlich afrobras. !Organisationen wie die »Irmandades Negras« (=Bruderschaften), die sich getrennt von den Weißen organisiert haben und den armen, leidenden und ausgesetzten »Schwarzen« bereits während der Sklavereizeit einen großen Beistand leisteten. Sie bauten prachtvolle Kirchen in Minas Gerais und Bahia mit auf, und renovierten mit ihren Spenden sogar namhafte Kirchen. Religion bzw. Glauben spielen in Brasilien eine wichtige Rolle. Die Zeit und die gegenseitigen Akkulturationsprozesse zwischen Weißen- und Afro-Brasilianern zeigen deutlich, daß die Annahme der Kultur des anderen bereits viel

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stärker introjiziert wurde als es oft beiden Seiten bewußt ist bzw. gewünscht wird. Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen: 1. Die Entwicklung eines Horoskops der Orix‚s, das an das sog. offizielle »weiße« Horoskop angeglichen wurde: Z. B. für Stier steht Oxum, die Göttin der Weiblichkeit, Fuchtbarkeit, der süssen und ruhigen Gewässer. Alle Brasilianer können in der Zeitschrift »RaÅa Brasil« ihre beiden Horoskope lesen. Vielleicht funktioniert es! 2. Als im Jahre 1986 Maria Escol‚stica da Conceiżo Nazar¦ (1894 – 1986), die Oberpriesterin »M¼e Menininha« der Candombl¦kultstätte »Gantois« (Salvador, BA) (der sie ab 1922 64 Jahre lang vorstand), eine der traditionellsten und berühmtesten Brasiliens starb, wurde dieser Tag von der Regierung in Bras†lia als nationaler Trauertag deklariert. Zahlreiche, auch weiße Politiker und Persönlichkeiten aller Bereiche, die von ihr initiiert wurden oder gute Katholiken sind, waren anwesend. Nie zuvor in Brasilien wurde der Tod einer afrobrasilianischen (Frauen-) Persönlichkeit so festlich begangen. Die spirituelle und kulturelle (und sogar politische) Wichtigkeit der afrobrasilianischen Kultur wurde dadurch in Gestalt dieser Frau und der Religion landesweit anerkannt. 3. Trotz aller rassischen !Vorurteile und !Diskriminierungen gegenüber den Afrobrasilianern und ihrer !Kultur können wir feststellen, daß eine Reihe von »schwarzen« Heiligen die katholischen Kirchen bevölkern. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die »Heilige Aparecida«, die 1930 zu der Hauptpatronin Brasiliens vom Papst Pio X proklamiert wurde. Ihre Statue wurde von Fischern im Jahre 1717 aus dem Para†ba-Fluß (bei S¼o Paulo) gefischt. Diese Heilige ist »schwarz« und hat eine fundamentale Bedeutung für alle Brasilianer. Andererseits spielt Anast‚cia, die eine afrikanische Prinzessin gewesen sein soll und als Sklavin nach Brasilien kam ebenfalls eine bedeutende Rolle innerhalb der katholischen Kirche, aber insbesondere für die afrobrasilianische Bevölkerung. Sie starb an den Konsequenzen der schweren Bestrafung durch ihren Besitzer. Sie wird als eine wundertätige Heilige sehr verehrt, obwohl in ihrer Geschichte Parallelen zu der europäischen Heiligen Anastasia bestehen. Weltweit d. h. auch in Asien, Afrika und Europa gibt es schwarze Heilige (vgl. z. B. Brand¼o, 1985; Mott, 1993; Kröll, 1998). Obgleich häufig von einer sozio-ökonomischen Schichtspezifität der afrobrasilianischen Religionen gesprochen wird, indem sie hauptsächlich auf die armen, marginalisierten und anonymisierten Menschen der Großstädte Einfluß hätte, beobachten wir gegenwärtig eine Flexibilität und Mobilität in diesem Bereich: Weiße, Intellektuelle, Politiker, Mittelschichtangehörige und Reiche suchen immer häufiger eine Teilnahme oder gar !Initiation in den afrobrasilianischen Religionen. Die Frage, die hier vielleicht eher von Bedeutung ist, betrifft aber das Niveau der Kultsttäte. Und damit Ax¦. !Candombl¦ !Kunst !Musik !Phytotherapie !Umbanda !Xangú

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Reparationen (auch: Entschädigung)

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Reparationen (auch: Entschädigung) Bei den Schätzungen der Opferzahlen der !Sklaverei, die sich auf mindestens 11 bis 14 Millionen belaufen, muß auch berücksichtigt werden, dass »kaum die Hälfte der Menschen, die durch Sklavenjäger aufgebracht wurden, die Sklavenmärkte in Übersee erreichte. Nicht wenige wurden bei den Überfällen auf friedliche Dörfer ermordet oder begingen lieber Selbstmord, als sich in ein Sklavendasein zu fügen. Von den Überlebenden fielen während der Überfahrt zwischen 20 und 40 % infolge von Unterernährung, Krankheiten, brutaler Behandlung oder Schiffbruch zum Opfer.« (Schicho, 2010:55) Mit den Unabhängigkeitsbewegungen der afrikanischen Staaten nach dem II. WK kam auch die Frage nach Entschädigung für die großen menschlichen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Schäden, die die Sklaverei verursacht hat, auf die Tagesordnung, denn der Sklavenhandel und die Sklaverei hat zur Entwicklung der Industriegesellschaften des Westens, wie auch zur wirtschaftlichen »Unterentwicklung« Afrikas (bzw. Brasiliens) und der Verursachung vieler »Weltprobleme« (vgl. Opitz, 2001; Ferdowsi, 2007; Stubbe, 2007) entscheidend beigetragen (vgl. z. B. die Bedeutung des bras. Goldes für die engl. Industrialisierung; z. B. Furtado, 1975:69ff), wie bereits der Historiker Walter Rodney aus Guyana im Jahre 1973 hervorgehoben hat. Jean Ziegler (2002:8) betont, dass sich die Auslandsschulden der 122 sog. Entwicklungsländer auf insgesamt 2100 Milliarden Dollar belaufen und fordert einen Schuldenerlass bzw. eine gezieltere und intensivere Entwicklungshilfe. Im Jahre 1992 gründete sich im Rahmen der Organisation für afrikanische Einheit (Organization of African Unity, OAU, gegr. 1963) eine »Group of eminent persons on reparation«, die die Interessen der Geschädigten vertreten soll (vgl. Schicho, 2010). Auch in Brasilien (vgl. z. B. MPR, 1995; Lopes, 2006:143 f) und Europa wurden Initiativen gegründet, die diese Forderungen nach R. unterstützen.

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!Anhang !Banzo !Genozid !Gesundheit !Kolonialismus !Sklavenkindheit !Sklaverei W. Rodney (1973) : How Europe underdeveloped Africa. Dar-el- Salaam; Die Woche (2000): Späte Rebellion der Sklaven, Indianer, Juden, Zwangsarbeiter : Wer Unrecht erlitt, hat ein Recht auf Entschädigung. Nur die Enkel der Sklaven gingen leer aus. Jetzt fordern sie 777 Billionen Dollar. Die Woche, 21. Juli, S. 18 – 19; P. J. Opitz (2001) : Weltprobleme im 21. Jh. München ; J. Ziegler (2002): Wie kommt der Hunger in die Welt? München; M. A. Ferdowsi (2007): Weltprobleme. München (6. Aufl.); H. Stubbe (2007): Weltprobleme und Psychologie. Aachen; T. N’Diaye (2008) : Le g¦nocide voil¦. Paris (dt. 2010: Der verschleierte Völkermord. Die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels in Afrika); W. Schicho (2010): Geschichte Afrikas. Stuttgart

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Samba Der S. ist ein urspr. afrikanischer Tanz. Im Kongolesischen bedeutet »samba« »invocar« (= Gott anrufen, flehen um), der S. hat also einen religiösen Ursprung. Antúnio G. da Cunha definiert in seinem »Dicion‚rio Etimolûgico Nova Fronteira da L†ngua Portuguesa« (1982:702): »samba ›danÅa cantada de origem africana, compasso bin‚rio e acompanhamento obrigatûriamente sincopado‹ 1890.« Mit S. sind sowohl die verschiedenen bras. Tänze afrikan. Ursprungs (Bantu) gemeint, so wie die sie begleitende Musik bzw. Gesänge. »O samba brasileiro, que foi danÅa dos negros, ¦ hoje danÅa internacional. Nasceu nos morros do Rio de Janeiro, tirando seus elementos b‚sicos do samba rural e fundindo-se com os de outras danÅas nacionais e estrangeiras«, schreibt Barbosa (1972) (vgl. auch MendonÅa, 1948:264, der samba aus dem Kimbundo ableitet). Der S. ist nach Nei Lopes (2006:151), selbst Musiker, klar und deutlich die »espinha dorsal e a corrente principal da mfflsica popular brasileira«. Berühmt und charakterisierend ist das (melancholische) Samba-Lied von Vin†cius de Moraes (1913 – 1980), von dem auch die weltbekannte »Garota de Ipanema«, stammt: »Tristeza n¼o tem fim, felicidade sim …« »Mas pra fazer um samba com beleza ¦ preciso um bocado de tristeza …« »Porque o samba ¦ tristeza que balanÅa e a tristeza tem sempre uma esperanÅa.« (zit. nach Stubbe, 1983:264). Der S. ist außer den Menschen »o presente afrobrasileiro mais lindo — humanidade« (Stubbe, 2013). Der bras. !Karneval, vor allem in Rio de Janeiro, wird von den bekannten Samba-Schulen (escolas de samba) organisiert (vgl. Cabral, 1974, 1996; Goldwasser, 1975; Zander, 1976; Araffljo, 1978; Costa, 1984; Queiroz, 1984; Augras, 1998). Im Jahre 1962 fand in Rio de Janeiro der »Primeiro Congresso Nacional do Samba« statt. Die frz.-bras. Sozialpsychologin Monique Augras (1998) hat eine wichtige Untersuchung über den Samba-Enredo vorgelegt. Am 28. Juli wird in Rio de Janeiro und Salvador der »dia do samba« zelebriert (vgl. Lei Estadual n8554, 28. julho 1964). !Berimbau !Karneval !Musik !Tanz

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O. Barbosa (1933): Samba, sua histûria, seus poetas, seus mfflsicos e seus cantadores. Rio de Janeiro; W. A. Barbosa (1972). Negros e quilombos em Minas Gerais. Belo Horizonte; S. Cabral (1974): As ecolas de samba: o quÞ, quem, como, quando e por quÞ. Rio de Janeiro; ders. (1996): As escolas de samba no Rio de Janeiro. Rio de Janeiro; M. J. Goldwasser (1975): O pal‚cio do samba. Rio de Janeiro; J. R. Tinhor¼o (1975): Pequena histûria da mfflsica popular brasileira. Petrûpolis; F. Zander (org.) (1976): Histûria das escolas de samba. Rio de Janeiro; R. Lody (1977): Samba de Caboclo. Rio de Janeiro: Cadernos de Folclore 17; J. S. Leopoldi (1977): Escola de samba: ritual e sociedade. Petrûpolis; A. Araffljo (1978): As ecolas de samba no Rio de Janeiro. Em: A. Araffljo & F. Herd (ed.), Expressþes da cultura popular. Rio de Janeiro, p.xi-101; M. Sodr¦ (1979): Samba, o dono do corpo. Rio de Janeiro; R. ValenÅa & S. ValenÅa (1981): Serra, serrinha, serrano: o imp¦rio do samba. Rio de Janeiro; N. Lopes (1981): O samba na realidade. A utopia da ascens¼o social do sambista. Rio de Janeiro; ders. (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo, p.116 f; H. Stubbe (1983): Verwitwung und Trauer im Kulturvergleich. Rio de Janeiro/Mannheim, S.263 f; A. M. Rodrigues (1984): Samba negro – espoliażo branca. S¼o Paulo; H. Costa (1984): Salgueiro: academia do samba. Rio de Janeiro; M. I. P. de Queiroz (1984): Escolas de samba no Rio de Janeiro, ou a domesticażo da massa urbana. CiÞncia e Cultura, 36(6), p. 892 – 909; Neues Lexikon der Musik. Bd. 4. Stuttgart, 1996:152; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; M. Augras (1998): O Brasil do Samba-Enredo. Rio de Janeiro; Instituto Antûnio Houaiss & R. C. Albin (2006): Dicion‚rio Houaiss Ilustrado Mfflsica popular brasileira. Rio de Janeiro (mit Discografie), p. 662 – 664

Schönheitsoperationen Letztendlich kann der ganze äusserlich sichtbare menschliche Leib durch S. modifiziert werden, was weltweit auch praktiziert wird und wurde (vgl. Ohrbegradigungen, Haarimplantationen, Schädeldeformationen, »Schnürbrüste« mit Wespentaille, Fußdeformationen etc., vgl. Stubbe, 2012). Im Zeitalter der europäischen Aufklärung begann sich die !Anthropologie als Wissenschaft zu konstituieren und versuchte die Menschheit im Geiste der erwachenden Naturwissenschaften zu kategorisieren bzw. zu hierarchisieren und die ersten Rassenlehren zu entwickeln (vgl. Poliakov, 1992:76ff). Pieter Camper (1722 – 1789) schuf z. B. einen »Gesichtswinkel-Index« und einen »Nasen-Index« und stellte so eine Rassenhierarchie aufgrund des »schönen Gesichtes« auf. »Dennoch führte diese Suche (im 18. Jh. Europas, Anm. des Verf.) nach Einheit (von Körper und Geist, Anm. des Verf.) auch zu der Überzeugung, daß man den ›inneren Menschen‹ durch seine äußere Erscheinung entschlüsseln könne – eine Überzeugung, die in verhängnisvoller Weise den Rassismus unterstützen sollte. Über die Pseudo-Wissenschaften der Physiognomik und der Phrenologie förderte sie den Übergang von der Wissenschaft zur Ästhetik.« (Mosse, 1978:12).

Schönheitsoperationen

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In den 30er Jahren des 20. Jh.s ließen sich unter dem Druck des herrschenden nationalsozialistischen Rassenmythos einige Deutsche z. B. ihre Nase operieren, um nicht als »typische Juden« zu gelten (vgl. Mosse, 1978:19, 20, 28, 32, 37; Gilman, 1999:35ff), denen bereits Johann Kaspar Lavater (1741 – 1801) in seiner !Physiognomik (1775ff) ein »spitzes Kinn« und eine »Adler- bzw. Hakennase« zugeschrieben hatte. Bekanntlich ließ auch der Afro-US-Amerikaner Michael Jackson, »the king of pop«, seine Nase operativ schmählern und seine ! Hautfarbe heller färben. Besonders die von den in den Medien propagierten Schönheitsbildern faszinierten Jugendlichen in den westlichen Ländern scheinen anfällig für S. zu sein (z. B. Brust-, Lippenvergrößerung, Nase, etc.). In der sich globalisierenden Welt sind diese »westlichen Schönheitsvorstellungen« nicht nur innerhalb multiethnischer Gesellschaften (z. B. Brasilien, USA), sondern auch weltweit wirksam. »Asiatisch-amerikanische Frauen, deren ›leeres‹ Aussehen in der amerikanischen Gesellschaft mit ›Langweiligkeit, Passivität und Mangel an Gefühl‹ gleichgesetzt wird, lassen ›ihre Augenlider neu modellieren, ihre Nasenrücken erhöhen und ihre Nasenspitzen verändern‹«, schreibt Gilman (1999:39) im Katalog des Deutschen Hygiene Museums. Schon ab 1896 führte der Japaner K. Mikamo unter westlichem Einfluß ein nicht-operatives Verfahren zur Schaffung eines doppelten Augenlides, das die Form eines »westlichen Auges« nachahmte, ein. Seit 1896 bis heute existieren in Japan über 32 spezifische Verfahren, die ausschließlich der kosmetischen Chirurgie des Auges dienen. Die us-amerikanischen Invasoren weckten dann ab 1945 das Verlangen in vielen Japanerinnen und Japanern nach »gutgeformten Nasen«, »klar geschnittenen und doppelt gefalteten Augenlidern«, »größeren Frauen-Brüsten« und »behaarten Männer-Brüsten«. Bei asiatischen US-Amerikanern in Kalifornien ist die Augenlidkorrektur bereits zu einem Geschenk für die erfolgreichen Töchter geworden. »Die Faszination, die das Aufhellen der Haut, die Nasenverlängerung und die Augenkorrektur heute in Japan und Vietnam bewirkt, spiegelt die Globalisierung von Schönheitsnormen wider, die in euroamerikanischen Stereotypen wurzeln.« (Gilman, 1999:43). In Südkorea fand sich bereits in den 90er Jahren des 20. Jh.s die größte Anzahl von Schönheitschirurgen in Asien. Die sehr erfolgreichen brasilianischen Schönheitschirurgen gehören heute, trotz der prekären allgemeinen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, zur medizinischen Elite und werden auch von europ. Kundinnen aufgesucht. Die Schönheitsnormen der Operateure sind ein Forschungsdesideratum! !Ethnoästhetik !Haare !Hautfarben !Rassismus !Stereotype !Tatauierung

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G. L. Mosse (1978): Rassismus. Königstein/Ts.; A. Junker & E. Stille (1988): Zur Geschichte der Unterwäsche 1700 – 1960. Katalog. Historisches Museum Frankfurt/M.; L. Poliakov et al. (1992): Rassismus. Hamburg; M. Hagner (Hg.) (1995): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen; Kl. E. Müller (1996): Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae. München; St. J. Gould (1999): Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt/M.; Dt. Hygiene-Museum (Hrsg.) (1999): Fremd-körper – fremde Körper. Dresden; E. Aronson et al. (2004): Sozialpsychologie. München, S. 360ff; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S.559 f

Schulbücher Die für die Hand des Schülers und der Schülerin bestimmten Sprach- und Sachbücher der einzelnen Unterrichtsfächer gehören bis heute zu den wichtigsten Unterrichts- und Arbeitsmitteln. S. sollen sachgerecht aufgebaut werden, und sie sollen den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Schülers entsprechen. S. enthalten aber immer noch nationale und historische !Stereotype, !Vorurteile und starre einseitige Bilder des Fremden. In den ehemaligen Kolonien, wie auch den Kolonien besitzenden Ländern zeigt sich in den S.n immer noch mehr oder minder deutlich das koloniale Erbe. Das »Georg Eckert Institut für Internationale Schulbuchforschung« (gegr. 1951) in Braunschweig widmet sich dem Vergleich und der Revision von Schulbüchern (z. B. polnische und deutsche Schulgeschichtsbücher) im internationalen Kontext und dient damit wie auch die deutsche UNESCO-Kommission auch der Völkerverständigung, dem Abbau von Vorurteilen und der Versöhnungsarbeit. Die Afrobrasilianer in br. S. : Auch das brasilianische Bildungssystem ist diskriminierend. Diese Aussage läßt sich durch die demographischen Daten und das »Bild« der Afrobrasilianer (vor allem der Frauen) in den offiziellen Schulbüchern erhärten. Nach den staatlichen Statistiken des IBGE besteht fast die Hälfte des afrobrasilianischen Bevölkerungsteils aus Analphabeten (1980 waren noch 25 % der weißen, 50 % der schwarzen und 46 % der gemischten (= Mulatten) Bevölkerung Analphabeten; IBASE, 1989:27). Tabelle 10 zeigt die prozentuale Verteilung der beruflichen Tätigkeiten in den bildlichen Darstellungen von Schulbüchern nach !Hautfarbe bzw. Ethnie, die wir einer Untersuchung von Pinto (1981) entnehmen. In den Schulbüchern werden noch immer alte !Vorurteile reproduziert (z. B. niedrige soziale Position, arm, unfähig, fehlende Identität, Stigmatisierte etc.) und zwar sowohl in den Texten als auch in den Abbildungen (vgl. z. B. Silva,

Schulbücher

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Tab. 9: Verteilung der beruflichen Tätigkeiten nach Hautfarbe/Ethnie in den bildlichen Darstellungen von Schulbüchern Berufliche Tätigkeiten

Hautfarbe der illustrierten Personen Weiße Schwarze in % in % Machtposition 36,7 Landwirtschaft 14,5 26,7 »Intellektueller« 10,6 Rohstoffgewinnung 5,3 13,3 Handwerker 4,8 – Dienstleistungen 3,4 13,3 Künstler 2,9 – Arbeiter 2,9 6,7 Handel 1,9 6,7 Transportwesen 1,5 26,7 Quellen: Pinto (1981); Santos-Stubbe, 1995, 2001; Lopes, 2006

»Mestizen« in % 33,3 16,7 – – – 16,7 – – – 33,3

1987; Nascimento, 1991; Lopes, 2006:98). Auch in den brasilianischen ! Sprichwörtern und !Witzen finden wir eine Fülle dieser !Stereotype wieder. Ein sehr empfehlenswertes Schulbuch ist gegenwärtig z. B. der »Dicion‚rio escolar afro-brasileiro« von Nei Lopes (2006). !Apartheid !Bildung !interkulturelle Pädagogik !Kolonialismus !Mythen und Märchen !»negro« !Stereotype !Vorurteile A. L. Silva & L. D. B. Grupioni (1965): A tem‚tica ind†gena na escola. Bras†lia: MEC; A. C. da Silva (1987): Estereûtipos e preconceitos em relażo ao negro no livro de comunicażo e express¼o do 18 grau-n†vel 1. Cadernos de Pesquisa (SP), (63), p. 96 – 98; E. Vailati Negr¼o (1987): A discriminażo racial em livros did‚ticos e infanto-juvenis. Cadernos de Pesquisa (SP), (63), p. 86 – 87; R. Pahim Pinto (1987): A representażo do negro em livros did‚ticos de leitura. Cadernos de Pesquisa (SP), (63), nov., p. 88 – 92; Instituto de Recursos Humanos Jo¼o Pinheiro (org.) (1988): Educażo e discriminażo dos negros. Belo Horizonte: IRHJP; E. L. Nascimento (org.) (1991): A Ýfrica na escola brasileira. Bras†lia; T. Sieber (1997): Zum Beispiel Schule. Göttingen; Das Afrika-Lexikon. Ein Kontinent in 1000 Stichwörtern. Stuttgart, 2001; A. Poenicke (2001): Afrika in deutschen Schulbüchern. Konrad Adenauer Stiftung; St. Augustin; dies. (2001): Afrika in deutschen Medien. Konrad Adenauer Stiftung. St. Augustin; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Internet: www.gei.de/; www.unesco.org

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Segregation S. beschreibt die »disporportionale Verteilung einer Bevölkerungsgruppe über räumliche Einheiten« (Friedrichs, 1977:217). Die Definition geht auf die stadtökologischen Untersuchungen der Chicagoer Schule der 20er Jahre des 20. Jh.s zurück. Je stärker die Streuung von Wohnstandorten einer sozialen Gruppe von der Zufallsverteilung abweicht, desto höher ist die räumliche S. S. läßt sich an sozialstrukturellen (z. B. Einkommen, Beruf, Bildungsstatus), demografischen (»Rasse«, Geschlecht, Alter, Haushaltstyp, Stellung im Lebenszyklus, Nationalität) und kulturellen Merkmalen (Lebensstile, Religion, Ethnizität) festmachen. Die Intensität kann durch S.indizes wie den GINI-Koeffizienten (vgl. Nohlen, 2000:303) bestimmt werden. Durch den Prozess der S. kommt es zur Abkapselung und Typisierung der einzelnen Bevölkerungsgruppen. Man unterscheidet verschiedene Formen der S.: 1. freiwillige Entmischung (auch: Selbstsegragation), die häufig auf !Vorurteile, Abneigungen, Sicherheitsbedürfnisse, Wohnstandortpräferenzen), 2. erzwungene Separierung (Ghettobildung), oftmals aus ökonomischen Gründen (z. B. Bodenpreise, Mieten), sie dient dazu unerwünschte Gruppen aus bestimmten Räumen hinauszudrängen, 3. residentielle/ räumliche S. d. h. Verteilung und Konzentration im geografischen Raum bzw. Ungleich-verteilung von Personen oder Haushalten über Kategorien des Raumes gemäß sozial relevanter Merkmale, 4. soziale/ethnische S. d. h. Verteilung und Konzentration im sozialen Raum bzw. ethnischen Gefüge. Bei der ethnischen S. unterscheiden sich Majorität und Minorität in ihren subjektiven ethnischen Zusammengehörigkeitsmerkmalen (z. B. Sprache, Religion, Lebensstil, Herkunft), während soziale S. auf einer Inkompatibilität von Ober- und Unterschicht beruht und zu einer Polarisierung der Stadtstruktur führen kann. Ein typisches Beispiel für S.prozesse ist die Stadtstruktur in vielen lateinamerikanischen (vgl. senzala, !favela, cortiÅo), afrikanischen, indischen und ehem. Kolonial-Städten (vgl. Bayer et al. 2004; Kraas et al., 2008; Stubbe, 2012:49 f, 569 f). !Exklusion !Favela !Wohnen F. M. de Barros Mott Rosemberg (1990): Segregażo espacial na escola paulista. Estudos Afro-Asi‚ticos (RJ), (19), p. 97 – 107; D. Nohlen (2000): Lexikon Dritte Welt. Reinbek; P. Bayer et al., (Hrsg.) (2004): What drives racial segregation? Journal of Urban Economics, 56, p. 514 – 535; J. Souza (2007): Großstädte in Brasilien. In: E. Rothfuß & W. Gamerith (Hrsg.), Stadtwelten in den Americas. Passauer Schriften zur Geographie, H.23, 2007:37 – 40; F. Kraas et al. (2008): Megastädte in Entwicklungsländern. Vulnerabilität, Informalität, Regierbarkeit und Steuerbarkeit. Geographische Rundschau, 60, H.11, 2008:4 – 10; G. Mertins et al. (2008): Gewalt und Unsicherheit in lateinamerikanischen Megastädten. Geographische Rundschau, H.11, 2008:48 – 55; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Sklavenkindheit im 19. Jahrhundert

407 »Die ganze Arbeit wird von den Schwarzen gemacht, der gesamte Reichtum wird durch schwarze Hände erworben« Ina von Binzer, 1887

Sklavenkindheit im 19. Jahrhundert Einleitung: In den Vereinigten Staaten von Amerika hat jüngst eine Diskussion über die Entschädigung (!Reparationen) der Nachkommen der afro-usamerikanischen Sklaven begonnen (z. B. Die Woche, 21. 7. 2000, S:18 – 19). Ob eine solche Diskussion auch in Brasilien, das beträchtlich mehr afrikanische Sklaven aufgenommen hat, erfolgreich sein wird und welche Entschädigungsforderungen im einzelnen gestellt werden sollten (individuelle oder institutionelle Entschädigungen wie z. B. Schaffung eines zentralen Sklaverei-Museums mit Forschungseinrichtungen, Denkmale, wohltätige Stiftungen, Revision der Schulbücher, Universitäts-Forschungsinstitute, etc.) bleibt abzuwarten. Wer aber sollte solche Entschädigungen zahlen? Bekanntlich haben sowohl Christen, wie auch Juden, Muslime und viele Nationen den Sklavenhandel aktiv betrieben (vgl. z. B. Wolff, 1982; Studemund-Hal¦vy, 1997:51ff; Martin, 1993; N’Diaye, 2011), und außerdem waren auch afrikanische Könige involviert. Die Un-Konferenz gegen Rassismus in Durban (2001) hat aber gezeigt wie explosiv dieses Thema heute immer noch ist. Die »Unterentwicklung« Afrikas wird heute von einigen afrikanischen Historikern nicht nur auf den europ. !Kolonialismus, sondern auch auf den Sklavenexport zurückgeführt. Brasilien ist heute das Land mit der zweitgrößten afrikanischen Bevölkerung der Erde nach Nigeria, eine Tatsache, die oftmals auch von Human- und Sozialwissenschaftern verschleiert wird. Diese Situation ist auf den massiven Import afrikanischer Sklaven nach Brasilien seit ca. 1538 zurückzuführen. Um sich z. B. ein Bild der Kolonialgesellschaft in Brasilien um 1825 zu machen kann man sich die bras. Gesellschaft in Form einer Bevölkerungs- und Macht-Pyramide vorstellen. Hiernach waren mehr als 75 % der Bevölkerung rechtlos und »nicht weiß«. (!Rassismus)

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Zum Stand der Forschung: Die historische Kinderforschung in Brasilien ist jüngeren Datums. Erst im Gefolge des »Internationalen Jahres des Kindes«(1978) begann man allmählich die Geschichte der Kinder in Brasilien und ihre Unterdrückung zu erforschen. Es bildeten sich daraufhin verschiedene Gesellschaften, die die Rechte des Kindes verteidigten und im Jahre 1990 das »Estatuto da CrianÅa e do Adolescente« formulierten (vgl. z. B. PUC-RJ/FUNABEM, 1990; Arantes, 1992). In Brasilien existiert bisher noch kein systematisches Übersichtswerk der historischen Kinderforschung, wie etwa das die europäischen Verhältnisse beschreibende Pionierwerk von Philippe AriÀs (1960) oder die nordamerikanischen psychohistorischen Studien von de Mauss (1978) und Shorter (1977) bzw. die deutschen Arbeiten von Weber-Kellermann (1979) und Hardach-Pinke & Hardach (1978), aber die von der Paulistaner Historikerin Mary del Priore (1991, 2000) herausgegebenen (bebilderten) Sammelbände »Histûria da crianÅa no Brasil«, sowie »Histûria das crianÅas no Brasil« stellen bereits eine fundierte Grundlage für die zukünftige brasilianische historische Kinderforschung dar. Im Jahre 1994 publizierte die engagierte brasilianische Kinderforscherin Irene Rizzini (USU-RJ) den Sammelband »A crianÅa no Brasil hoje: Desafio para o terceiro milÞnio«, der auch in englischer Sprache vorliegt. Beginnend mit einer Analyse der Situation der Kinder und Jugendlichen in den 80er Jahren, werden Themen wie !Straßenkindheit, delinquente !Kinder, Kinderheime, Gewalt gegen Kinder, Kinderarbeit, Kindergesetzgebung etc. ausführlich behandelt. Die Historiographie der Kindheit in Brasilien hat sich bisher verschiedener methodischer Zugänge bedient, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden sollen: die quantitative historische Forschung analysiert vor allem die über die Sklavenimporte erhältlichen Statistiken z. B. während der Überfahrt auf den »tumbeiros« (Sklaventransporter). Was die Sklavenkinder angeht, so kommt Klein (1987) aufgrund seiner quantitativen Analysen der »middle passage« zu dem Ergebnis, daß das Interesse der Sklavenhändler an afrikanischen Kindern und Jugendlichen gering gewesen sein muß, denn 80 % der eingeführten Sklaven waren Erwachsene mittleren Alters (darunter 60 – 70 % Männer) und außerdem wurden die Sklavinnen bereits vor ihrer Verschiffung nach Brasilien von ihren Kindern getrennt. Es läßt sich insgesamt eine sehr hohe Mortalitätsrate der Sklaven beobachten. Nur ca. 60 % – 70 % überlebten das erste Jahr ihrer Versklavung (vgl.!»banzo«, !Genozid). Eine andere Forschungsstrategie der historischen Kinderforschung in Brasilien stellt das Studium und die Analyse der »invent‚rios post mortem« dar, in denen sich viele Angaben über Sklavenkinder und ihre Mütter finden. Mattoso (1991) hat für den Zeitraum von 1860 – 1888 493 invent‚rios des »Arquivo do Estado da Bahia« (Salvador) untersucht und hieraus verschiedene Aspekte der Sklavenkindheit herausarbeiten können.

Sklavenkindheit im 19. Jahrhundert

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Slenes (1988) versucht anhand demographischer Studien Aussagen über die Sklavenfamilie zu machen (vgl. auch Rocha, 2004; Teixeira, 2004). Die quantitative historische Forschung hat sich auch der »Roda dos Expostos« (Drehlade) angenommen, die in der »Santa Casa de Misericûrdia do Rio de Janeiro« und in anderen Städten (in Rio gegr. 1738; in Salvador 1726) funktionierte. In diesem Zusammenhang wurden vor allem der gewaltige soziale Ausgliederungsprozeß (den man auch einen »staatlich und kirchlich sanktionierten, also institutionalisierten Masseninfantizid« nennen könnte), die Mortalitätsraten der Säuglinge (über die sich außer in den Registern der Roda auch in einigen medizinischen Dissertationen und !Reiseberichgten Angaben finden), die !Hautfarbe der ausgesetzten Säuglinge etc. untersucht (vgl. Lima & Ven–ncio, 1991). Mit der beginnenden Industrialisierung Brasiliens mehren sich auch die Daten über Kinderarbeit in den Fabriken und kleineren Betrieben. Bolsonaro de Moura (1991) hat die entsprechenden Daten über die Kinderarbeiter in S¼o Paulo bis ca. 1920 zusammengetragen und das Augenmerk auf die häufigen und gut dokumentierten Kinderarbeitsunfälle gelenkt, über die oftmals auch in der Presse der damaligen Zeit berichtet wurde. Die qualitative historische Kinderforschung in Brasilien besteht vor allem in rechtsgeschichtlichen Studien (vgl. Moncorvo Filho, 1926; über die Konzepte »menor«, »crianÅa«, »moleque« etc. vgl. Mott, 1979; Passetti, 1991; Londono, 1991), in Analysen der Berichte der Missionare (vgl. Stubbe, 1987:84 – 90; Priore, 1991, 2000) seit dem 16. Jh.und der !Reiseliteratur und !Ikonographie vor allem des 19. Jh.s (vgl. insbes. auch zu methodologischen Fragen Mott, 1979; Moreira Leite, 1991), in Analysen der Zeitungsannoncen des 19. Jh.s zum Verkauf von Sklaven-Säuglingen, -Kindern und »amas-de-leite« (vgl. Magalhaes & Giacomini, 1983) und in kulturanthropologischen und kinderpsychologischen Arbeiten (vgl. Stubbe, 1987, 1992, 2001, 2012). Da über die Kindheit der afrobrasilianischen Sklaven bisher sehr wenig bekannt ist und publiziert wurde, soll dieses Thema eingehender behandelt werden, wobei wir uns vor allem auf die o.g. Arbeiten, soweit sie für unsere Fragestellungen relevant sind, und auf eigene Studien stützen werden. Sklavenmütter: Die Bevölkerungsstatistiken aus der Zeit der !Sklaverei zeigen ein deutliches Übergewicht des männlichen Bevölkerungsanteils als Ergebnis der größeren Nachfrage von männlichen Sklaven auf den Plantagen (fazendas). Auch die Statistiken der »tumbeiros« machen dies deutlich (vgl. z. B. Conrad, 1985; Klein, 1987). Theoretisch waren die Sklavenhalter (senhores) gezwungen, Heiraten unter den Sklaven zu fördern, aber die vorhandenen Statistiken verdeutlichen, daß viele von Ihnen nicht geneigt waren ein Wachstum der Sklavenfamilien zu

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unterstützen. Man kann überhaupt feststellen, daß in der Regel die sexuellen Beziehungen zwischen Sklaven und Sklavinnen nicht durch die Ehe sanktioniert waren. Die »Segnungen der Kirche« waren für die Fortpflanzung nicht wesentlich, und deshalb wurde die überwiegende Mehrheit der Sklavenkinder z. B. in Bahia von »alleinerziehenden Sklavenmüttern« geboren. Das von vielen europäischen Reisenden des 19. Jh.s in Brasilien »beobachtete« (und von manchen Sozialwissenschaftlern wie Freyre, Bastide, Fernandes etc. übernommene) Modell der Promiskuität unter den afrobrasilianischen Sklaven und das oftmals behauptete Fehlen langdauernder (monogamer) Beziehungen (= »sexualmente desregrados«) sowie einer eigentlichen Sklavenfamilie, können nicht verallgemeinert werden und bedürfen, dies zeigen u. a. die Studien von Slenes (1988), einer rigorosen Überprüfung. Slenes stellt methodisch ganz richtig heraus: »Na verdade, os relatos que tratam da vida †ntima do escravo s¼o escassos e curtos; por pior ainda, sofrem restriÅþes que os tornam muito pouco confi‚veis. Os livros dos viajantes, de onde vem quase todas as citaÅþes acima, s¼o extremamente fflteis quando descrevem aspectos da cultura material que s¼o facilmente vis†veis e pouco ambiguos (p.ex. a estrutura, disposiżo e divis¼o interna das senzalas nas fazendas visitadas). S¼o muito menos confi‚veis, no entanto, quando opinam sobre a vida †ntima de todo um grupo social, ainda mais de um grupo »exûtico« como os escravos.« (Slenes,1988:197) Slenes analysiert in diesem Zusammenhang auch verschiedene Wahrnehmungseinstellungen und !Vorurteile der ausländischen Reisenden. Er spricht bezeichnenderweise von ihrem »olhar branco« (weiße Sichtweise). In der !Reiseliteratur finden sich oftmals auch »historische Mythen« wie die von der »suavidade da escravid¼o no Brasil« (Mildheit der Sklaverei in Brasilien) oder »a escravid¼o como um ve†culo de civilizażo« (Sklaverei als Vehikel der Zivilisation) (vgl. Mott, 1979). Wir wissen noch denkbar wenig über das Intimleben der Sklaven in Brasilien, und womöglich deshalb existieren in diesem Bereich so viele Spekulationen und oftmals rassistische Projektionen (vgl. Ianni, 1988; Slenes, 1988:197 f; zur Geschichte der Sexualität in Brasilien vgl. Vainfas, 1986; del Priore, 2011) (vgl. ! Anthropologie). Wegen der prekären physischen Bedingungen der Sklavenmütter kam es oftmals zu Totgeburten und Aborten. Aber selbst wenn der Säugling lebend geboren wurde, waren die Chancen für ein Sklavenkind das Erwachsenenalter zu erreichen äußerst gering. Die forcierte Arbeit der Sklavinnen auf den Feldern, die schlechte medizinische Versorgung, die unzureichende Ernährung, die unangemessene Kleidung und Unterkunft (senzalas) und das geringe Interesse an dem gesundheitlichen Wohlergehen der kleinen Sklavenkinder seitens der Sklavenhalter (ein Ergebnis ihres geringen ökonomischen Wertes) führten zur Dezimierung der afrobrasilianischen Sklavenbevölkerung und verursachten wiederum neue Importe afrikanischer Sklaven. In einem Manual für Pflanzer

Sklavenkindheit im 19. Jahrhundert

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aus dem Jahre 1839 heißt es z. B., daß die Mehrzahl der in Brasilien geborenen Sklaven (= escravos crioulos) in der Kindheit bereits stirbt und daß der verbleibende Rest »com exessiva afetuosidade e indulgencia no seio da familia ou com desumanidade e negligencia, efinhando como plantas em solo deserto.« (Taunay, 1839:17 f) Alle in Mattoso’s Untersuchung registierten Sklavenmütter sind »alleinerziehend«, aber oftmals Mütter, die nicht immer ihre eigenen Kinder versorgen können, auch wenn sich diese noch im Säuglingsalter befinden. Die Müttersterblichkeit der Sklavinnen war außerordentlich hoch und ihre Lebenserwartung gering. Mattoso charakterisiert diese Situation sehr klar, indem sie schreibt: »De qualquer maneira, o filho da escrava ¦ uma crianÅa cuja m¼e biolûgica ¦ frequentemente ausente, sendo criado sem referencias parentais seguras: da mesma forma que todos os homens da comunidade podem simbolizar o papel do pai ausente, a comunidade feminina pode tamb¦m simbolizar a m¼e ausente, mas, em ambos os casos, a referencia fica imprecisa. Assim, se no ato de seu nascimento o escravo ¦ uma crianÅa sem pai, a m‚ sorte e m‚ fortuna ainda torn‚-lo ûrf¼o, tamb¦m, de m¼e.« (Mattoso, 1991:87) Die Kinder der Sklavin besitzen im Allgemeinen dieselbe !Hautfarbe wie die ihrer Mütter, insbesondere, wenn diese Afrikanerinnen sind. Hier wird der endogame Zug der baianischen Gesellschaft des 19. Jh.s besonders deutlich. Aber einige Sklavenkinder besitzen auch hellere oder dunklere Brüder und Schwestern. In dieser Hinsicht leben die Sklavenkinder nicht nur mit Geschwistern verschiedener Hautfarben, sondern auch mit verschiedenem Status zusammen, also Geschwistern, die rechtlich später ihre Herren sein können. Mattoso beobachtet auch, daß die Mehrheit der Sklavenmütter während ihres ganzen fruchtbaren Lebensabschnittes, nur maximal ein bis zwei (verbleibende) Kinder besitzen. Dies besagt jedoch nichts über die wirkliche (vermutlich beträchtlich höhere) Geburtenrate, die durch eine hohe Säuglingssterblichkeit, viele Aborte, Infantizide, und Ausssetzen in der »Roda« (s. unten) gekennzeichnet war. Ein Gesetz zwang alle Mütter, Freie oder Skavinnen, ihre Kinder bis zum Alter von 3 Jahren zu ernähren. Es ist aber nicht bekannt, ob die Sklavenhalter diese Vorschrift beachteten. Schwangerschaft und Geburt: Unter welchen Lebensbedingungen wurden die Sklavenkinder in Brasilien geboren? Der Arzt Dr. Jos¦ Rodrigues de Lima schreibt »naiverweise« (weil blind bzgl. des Sklavereisystems) im Jahre 1849, daß unter den Sklaven nicht die geringsten hygienischen Regeln beachtet würden, daß sie dem Ort ihrer Behausungen, ihrer Kleidung, ihrer Ernährung, ihrer Erholung, ihren Schlafstellen und anderen

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Gesundheitsfragen keinerlei Beachtung schenken würden. Ein anderer brasilianischer »higienista« (vgl. Machado et al. 1978) Dr. David Gomes Jardim betont im Jahre 1847, daß die tägliche Ernährung der Sklaven aus schwarzen Bohnen, Mais und Maniokmehl bestünde und kommt zu dem Schluß: »Uma reifeiżo n¼o variada, como esta, muitas vezes em quantidade insuficiente e mal preparada, deve influir de maneira not‚vel no desenvolvimento das mol¦stias que tem por costume aggredir esta classe de individuo.« (Gomes Jardim, 1847:7 f) Die Bekleidung der Sklaven war nicht besser. Aus Beobachtungen der ausländischen Reisenden wissen wir, daß den Sklaven das Tragen von Schuhwerk oder irgendeines Schutzes der Füße verboten war, weil Barfüßigkeit den Sklavenzustand selbst symbolisierte (vgl. Stubbe, 1985:27 f; zur Sklaverei in der Bibel, die oftmals als Modell diente, vgl. Cornfeld & Botterweck, 1972:1292ff; Vendrame, 1981; Lopes, 2006:153; Stubbe, 2012:573ff). Aber die Sklaven/innen gingen nicht nur barfuß (was viele Tropenkrankheiten verursachte z. B. »bicho do p¦«, vgl. Scis†nio, 1997:66), sondern waren auch ungenügend bekleidet oder fast nackt, wie zeitgenössische Illustrationen (vgl. Rugendas, Debret) zeigen. Die ländlichen Sklaven erhielten pro Jahr nur eine Hose und ein Hemd und arbeiteten »quasi nackt«, wie der oben zitierte Arzt Jardim (1847:10) bemerkt. Untergebracht waren die Sklaven in schmutzigen und zugigen Lehmhütten (senzalas) und schliefen auf dem Boden ohne Decken. Sie arbeiteten 15 bis 16 Stunden pro Tag ohne ausreichende Ernährung und im Zustand der Halbnacktheit (vgl. Conrad, 1985). Welche Folgen diese Lebensverhältnisse auf die geistige und körperliche Entwicklung der Sklavenkinder (schon im intrauterinen Zustand) hatte, wurde bisher nicht systematisch untersucht. Es braucht nicht eigens betont zu werden, daß ein Bevölkerungsteil (bis weit ins 19. Jh. die Majorität der brasilianischen Bevölkerung!), der so brutal und inhuman behandelt wird, Widerstand leistet (vgl. Moura, 1989). Und dieser zeigte sich in vielen Formen wie !Aufständen, Überfällen, Morden, Aborten (vgl. Magalh¼es & Giacomini, 1983) etc., aber auch in !Suiziden (vgl. Stubbe, 1987, 1997), Flucht und ! »banzo«. Eine ausführlichere Schilderung der an Sklaven vollzogenen vielfältigen Körperstrafen wird a.a. O. gegeben werden (vgl. z. B. Goulart, 1971). Die oftmals grausamen !Strafen spielten wahrscheinlich bereits in der Sozialisation der Sklavenkinder eine bedeutsame Rolle, denn sie erlebten sie oftmals mit. Wir können feststellen, daß die Strafen von den ersten bis zu den letzten Tagen der Sklaverei häufig vollzogen wurden und zwar wie Conrad (1985) ganz richtig bemerkt, nicht mit der Intention die Bestraften zu »bessern«, denn in vielen Fällen führten die Strafen zum Tode, zur Verstümmelung oder sogar Beeinträchtigung der Arbeitskraft. Die Strafen wurden in der Öffentlichkeit vollzogen und schufen ein Klima des Terrors und der Angst, das für die Aufrechterhaltung der Sklaverei notwendig war. Bereits an Sklavenkindern wurden die grausams-

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ten Körperstrafen ausgeführt. Debret, der von 1816 bis 1831 in Brasilien lebte, schreibt : »… Sendo ainda crianÅa o escravo, o peso da corrente ¦ apenas 5 a 6 libras, fixando-se uma das extremidades no p¦ e outra a um cepo de madeira que ele carrega — cabeÅa durante o serviÅo…« (Debret, vol.1, 1978:344). Auch die »grilhþes«, Eisenmasken und -Ketten wurden bereits bei Sklavenkindern eingesetzt (vgl. auch Walsh, vol. 2, 1830:355). Über die Schwangerschaft und Geburt bei den Sklavinnen fehlen uns bisher direkte und sichere Quellen. Sie wurden auch weder wie im Falle der weißen Maria gemalt noch modelliert. Die afrobrasilianischen Sklavenkinder wurden meistens in den Hütten (senzalas) geboren und man zog Hebammen den Ärzten vor. Auf manchen »fazendas« gab es aber auch spezielle »enfermarias« für Sklaven, die auch als Geburtshilfeeinrichtungen fungierten (vgl. Mott, 1979). Einen wichtigen Einblick in diese Verhältnisse erlauben aber medizinische Schriften der damaligen Zeit wie das »Manual do Fazendeiro e tratado dom¦stico sobre as enfermidades dos negros« (1839) des französischen Chirurgen J. M. Imbert aus Montpellier, in dem sich einige Stellen über die Geburt bei den Sklavinnen befinden. Ob dieses Werk als Ausdruck der »Anti-Slavery«-Kampagnen in Europa zu werten ist und einer »Humanisierung« der Sklaverei dienen soll oder als Bemühen um Förderung eines stärkeren Nachwuchses bei der lokalen Sklavenbevölkerung anzusehen ist, wird nicht ganz klar. Imberts Bekämpfung des Abortes unter den Sklavinnen spricht eher für die letztere Hypothese, die auch gut mit den von Conrad (1985) festgestellten negativen Wachstumsraten der brasilianischen Sklavenbevölkerung und den damit verbundenen hohen Importraten afrikanischer Sklaven zusammenstimmt. Ebenfalls in dem jüngst in der »Biblioteca Nacional de Lisboa« aufgefundenen Schriftstück »Tratado do parto humano…« des Arztes Francisco Nunes finden sich einige Details über die Geburtshilfe in Pernambuco gegen Ende des 17. Jh.s (vgl. Priore, 1989). Bekanntlich hat auch Baron von Langsdorff (1774 – 1852) im Jahre 1800 eine Monographie mit dem Titel »Nachrichten aus Lissabon über das weibliche Geschlecht, die Geburten und Entbindungskunst in Portugal« publiziert (vgl. Bertels, Komissarov & Licenko , 1988). In der von Rugendas und Debret gezeichneten und gemalten !Ikonographie der Sklaverei, aber auch in den frühen !Fotos in Brasilien finden wir vielfach Szenen aus dem Alltagsleben der Sklavinnenmütter mit ihren Säuglingen (insbes. auch die afrikanische Körpertragweise auf dem Rücken der Mütter), die auch verdeutlichen, daß den Müttern nach der Geburt keinerlei Ruhepause gegönnt wurde. Insgesamt wird die schwarze Mutter (im Gegensatz zu den Indianermüttern) in den !Reiseberichten des 19. Jh.s als gute und liebevolle Mutter beschrieben.

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Die »Escrava Ama-de-Leite«: In der herrschenden »weißen« und wie einige feministische brasilianische Historikerinnen meinen, »machistischen« Historiographie Brasiliens hat die »escrava ama-de-leite« (Sklavenamme) bisher kaum Beachtung gefunden (vgl. Magalh¼es & Giacomini,1983). Die »escrava ama-de-leite« ist eine tragische Mutterfigur des brasilianischen Sklavereisystems, weil sie von ihrem eigenen Säugling getrennt wird (der z. B. in die »Roda« ausgesetzt wird), um als Amme eines weißen Säuglings vermietet oder verkauft zu werden. Der Sklavenhalter nutzt gleichsam (in humanethologischer Terminologie!) die »sensible Phase« der Sklavinmutter aus, um ihr einen weißen Säugling »unterzuschieben«, für dessen »Signalsystem« sie besonders empfänglich ist. So kann sich im Sinne der »Attachment-Theorie« (Bowlby et al.) ein spezifisches emotionales und kommunikatives Beziehungssystem entwickeln, eine enge Bindung (= attachment) zwischen schwarzer Amme und weißem Säugling, die die Voraussetzung für seine gesunde kindliche Entwicklung sind. Während der weiße Säugling in einem günstigen sozial-emotionalen Beziehungssystem aufwachsen kann, wird dagegen der schwarze Säugling ausgegliedert und »desozialisiert«. Wir werden sehen, daß dieser Ausgliederungprozeß für ihn meistens tödlich endet. Warum wurden im tropischen Brasilien gerade afrobrasilianische Sklavinnen als Ammen ausgewählt? Der Kultursoziologe Gilberto Freyre meint: »A tradiżo brasileira n¼o admite dfflvida: para ama-de-leite n¼o h‚ como a negra« (Freyre, 1969:502), denn außer ihres Vorzuges hinsichtlich ihrer »besseren klimatischen Anpassung« (als Hauptgrund ihrer Auswahl) verfügten sie über »melhores condiÅþes eugÞnicas« (!Anm. des Verf.) (Freyre, 1969:502). Wenn sich Freyre hier auch gegen die Konzeption von der Minderwertigkeit der Schwarzen (vgl. Gobineau, Nina Rodrigues, Agassiz etc.) wendet, so hebt er dennoch die physiologischen Charakteristika der schwarzen Sklavinnen als Hauptargument hervor. Magalh¼es & Giacomini (1983) sehen hierin eine dauerhafte brasilianische Denktradition, nämlich:« a de se buscar nos atributos f†sicos e raciais da mulher negra as origens de sua opress¼o espec†fica« (Magalhaes & Giacomini, 1983:75) (! Anthropologie, !Rassismus). Die »amas-de-leite« wurden für ihre Funktion speziell ausgesucht und gemustert. Der Käufer konnte sie befühlen, ihre Zähne und Genitalien (Syphilis!) inspizieren und ihre Brüste betasten, über die sogar bestimmte Kriterien existierten. So sollten z. B. nach J. B. A. Imberts »Guia M¦dico das M¼es da Familia ou a Inf–ncia considerada na sua Hygiene, suas Mol¦stias e Tratamentos«(1843) die Brüste »convenientemente desenvolvidos, nem rijos nem molles, os bicos nem muito pontudos nem encolhidos, accomodados ao labio do menino« (apud Freyre, 1969:503) sein. In den brasilianischen Zeitungsannoncen des 19. Jh.s, die bei Magalh¼es & Giacomini (1983)

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zusammengestellt sind, wird deutlich, daß die »ama-de-leite« in der Regel 2 – 3 Wochen nach ihrer Niederkunft ohne ihren Säugling verkauft oder vermietet wird. Die Betreuung und das Stillen des weißen Säuglings (nhonhú) impliziert das Aussetzen und den wahrscheinlichen Tod des Sklavensäuglings (moleque). »Desta forma, ao incorporar a negra ao ciclo reprodutivo da familia branca, a escravid¼o reafirma a impossibilidade para os escravos de constitu†rem seu prûprio espaÅo reprodutivo. Numa sociedade cuja ideologia dominante atribui — maternidade o papel de funżo social b‚sica da mulher, a escrava transformada em ama-de-leite conhece, na negażo de sua maternidade a negażo de sua condiżo de mulher. Por paradoxal que pareÅa, ¦ sua fisiologia feminina-capacidade de lactażo-que se contrapoe — realizażo de sua potencialidade materna. ›M¼e preta‹: folclore dos brancos, mis¦ria das negras«, schreiben Magalh¼es & Giacomini (1983:81 f). Wenn die »escrava ama-de-leite« in der Haussklaverei auch oftmals eine exponierte und hochgeschätze Stellung einnahm, so fehlte es im 19. Jh. dennoch nicht an kritischen Stimmen, die sie als eine »korrumpierende Gefahr« für die weiße Familie und sogar für die gesamte brasilianische Gesellschaft ansahen und ihren »ungünstigen erzieherischen Einfluß« (z. B. »Barbarei, Aberglauben, Dummheit, Fanatismus, Sprachverbildung, Unmoral« etc., vgl. Magalh¼es & Giacomini, 1983) hervorheben. Manche Autoren wollten sie sogar durch freie deutsche Ammen ersetzt wissen (vgl. O Americano, 2. 1. 1850). Andere »higienistas« versuchten die Ursache für die weiße Säuglingssterblichkeit den schwarzen Ammen in die Schuhe zu schieben und forderten ein eigenes »Instituto de Amas-de-Leite«, das die Dienste der schwarzen Ammen reglementieren und die Qualität bzw. Quantität ihrer Milch überprüfen sollte (!Südenbockrolle). Auch für die Krankheitsverbreitung von Tuberkulose, Syphilis, Skrofeln, Anämie etc. wurden die »escravas amas-deleite« verantwortlich gemacht (vgl. etwa A M¼e da Familia, jan.1880; Freyre, 1969; Machado et al.,1978:353ff). Eine Projektion, die aus der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung gut bekannt ist. Eine besondere Aufmerksamkeit der Ärzte des Kaiserreiches galt der Muttermilch der »ama-de-leite« und sie versuchten geeignete Methoden zu entwickeln, um ihre »nutritive Potenz« zu messen. Die »escrava ama-de-leite« wird in allen diesen Schriften als ein der menschlichen Individualität entkleidetes »instrumento amamentador« betrachtet, als eine nützliche Ware (= coisa, mercadoria, animal, crianÅa, instrumento falante etc., vgl. auch die »Herrschaftssprache der Sklaverei«!) ohne Seele, Gefühle, Lebensgeschichte, Sprache, Mündigkeit und Persönlichkeit. Sie besitzt in der Sklavengesellschaft ein Janusgesicht: Engel und Teufel in einer Person. Die »escrava ama-de-leite« wirft viele entwicklungspsychologische Fragen auf, die bisher noch keine Antwort gefunden haben: Wie erlebte und verarbeitete sie die gewaltsame Trennung von ihrem Säugling und die Unterschiebung des weißen Säuglings? Wie erlebte sie ihre Rolle in der weißen pa-

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triarchalischen Familie? Wie entwickelte sich ihre Beziehung zum weißen Säugling? Wie gestaltete sich ihre Beziehung zur weißen Herrin-Mutter? War es Konkurrenz, Kooperation, Neid etc.? Und die andere Seite: Wie erlebte der weiße Säugling und das weiße Kleinkind seine schwarze Amme? Konstituierten sich in ihm zwei »Mutterimagines«, ein weißes und ein schwarzes? Zu welchem entwickelte er eine Bindung im Sinne der Attachment-Theorie? Ab welchem Alter nimmt er wahr, daß seine Amme eine andere Hautfarbe besitzt als er und eine ihm untergebene Sklavin ist? Welche Folgen hinsichtlich seiner Beziehung zu seiner Amme haben diese Wahrnehmungen? Findet durch die Amme eine spezifische Persönlichprägung statt? u.v.a.m. Die »Roda dos Expostos«: In der frühen Kindheit der afrobrasilianischen Sklaven spielte die »Roda dos Expostos« eine lebenswichtige Rolle. In Rio de Janeiro bildete die 1738 gegründete Roda einen Teilkomplex der »Santa Casa de Misericûrdia do Rio de Janeiro«. Sie wurde von dem reichen Handelsmann Rom¼o Duarte gestiftet, der ein Mitglied der »Irmandade da Misericûrdia« war. Die Roda war eine »Drehlade zum Aussetzen von Säuglingen«, bestehend aus einem zylindrischen Dispositiv, der in zwei Hälften geteilt war, wobei die eine auf die Straße, die andere ins Innere der »Santa Casa« gerichtet war. Im Inneren wachte eine »Ama-Rodeira« tags und nachts, die sofort wenn ein den Drehvorgang anzeigendes Glöcklein ertönte, den ausgesetzten Säugling entgegennahm und dem »administrador da Roda« bzw. dem »Magistrado da Terra« Bericht erstattete. In der folgenden Abbildung wird versucht die Funktionsweise der Roda bildlich darzustellen. Die »Santa Casa de Misericûrdia« verfügte über ein detailliertes Register, das (gemäß dem Testament des Stifters) alle besonderen Erkennungszeichen und evtl. Schriftstücke bzgl. der ausgesetzten Säuglinge enthielt mit dem Ziel einer möglichen späteren Identifikation durch die leibliche Familie. Außerdem enthält dieses Register bis 1896 Angaben über die Hautfarbe der ausgesetzten Säuglinge in drei Kategorien: »branco, pardo, preto«. Dieses Register erlaubt uns verschiedene Fragestellungen zu beantworten, wie z. B. über die Anzahl der ausgesetzten Säuglinge, ihre Hautfarbe und die Säuglingssterblichkeit. Bereits aus dem frühen 19. Jh. liegen verschiedene Berichte von ausländischen Reisenden wie Jean Baptiste Debret (1768 – 1848), Maria Graham (1785 – 1842), Daniel P. Kidder (1815 – 1891) und Fletcher (1857) und Christofer Columbus Andrews (1887) vor. So berichtet z. B. die Engländerin Maria Graham, die Gouvernante der Kinder Dom Pedros I und der Prinzessin Leopoldine, in ihrem Tagebuch »Di‚rio de uma viagem ao Brasil e uma estada nesse pais durante parte dos anos de 1821,1822 e 1823« über ihren Besuch der Roda in den Jahren 1821 und 1823 folgendes:

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Abb. 13 : Aufbau und Funktionsweise der »RODA DOS EXPOSTOS«(R. J.) Quelle: Stubbe, 1992

»A primeira vez que fui — Roda dos Expostos (parece imposs†vel) achei sete crianÅas com duas amas; nem berÅos, nem vestu‚rio. Pedi o mapa e vi que em treze anos tinham entrado perto de 12 000 e apenas tinham vingado 1000, n¼o sabendo a Misericûrdia verdadeiramente onde eles se achavam. Agora, com a concess¼o da loteria, edificou-se uma casa prûpria para tal estabelecimento, aonde h‚ trinta e tantos berÅos, quase tantas amas quanto expostos e tudo em muito melhor administrażo.« (Graham apud Leite, 1991:102) Und am 29. September des Jahres 1823 schreibt sie: »Fui ao Asilo de ûrf¼os, que ¦ tamb¦m hospital dos expostos. Os rapazes recebem instrużo profissional em idade adequada. As moÅas recebem um dote de 200 mil R¦is que, apesar de pequeno, as ajuda a estabelecerem-se e ¦ muitas vezes acrescido por outros fundos. A casa ¦ extremamente limpa, como tamb¦m o s¼o as camas para as crianÅas expostas, das quais somente tres est¼o agora sendo criadas por amas-de-leite dentro da casa. As demais est¼o colocadas fora, no campo. At¦ ultimamente tem morrido uma proporżo apavorante em relażo ao seu nfflmero. Dentro de pouco mais de nove anos foram recebidas 10.000 crianÅas; estas eram dadas a criar fora, e de muitas nunca mais houve not†cia. N¼o talvez porque todas tenham morrido, mas porque a tentażo de conservar uma mulatta como escrava deve, ao que aparece, garantir o cuidado com sua vida, mas as brancas nem ao menos tem esta possibilidade de salvażo. Al¦m disso, as pensþes pagas para a alimentażo de cada uma eram, a princ†pio, tao pequenas que as pessoas pobres que as recebiam, dificilmente podiam proporcionar-lhes meios de subsistencia. Um melhoramento parcial j‚ foi feito e ainda maiores ampliaÅþes dever¼o ser realizadas. H‚ grande falta de tratamento m¦dico. Muitos dos expostos sao colocados na Roda, cheios de doenÅa, com febre ou, mais frequentemente, com uma esp¦cie de

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comich¼o chamada sarna, que lhes ¦ frequentemente fatal. Por outro lado aparecem tamb¦m crianÅas mortas, a fim de que sejam decentemente enterradas.« (Graham, 1956:345 f) Die Historikerin Leite vertritt die Meinung, daß sich in keiner Reisebeschreibung ein so vollständiges Bild der sozialen und hygienischen Bedingungen der ausgesetzten Kinder und ihrer Ammen findet wie bei Maria Graham. Auch der Franzose Jean Baptiste Debret, offizieller Maler des »Primeiro Reinado«, gibt 1816 eine anschauliche Beschreibung des »Asilo para CrianÅas Abandonadas« (vgl. Leite, 1991). Die beiden nordamerikanischen Reisenden Kidder und Fletcher beschreiben in ihrem Reisebericht (1857) die Roda als eine Einrichtung in ständiger Erweiterung und Veränderung entsprechend der Disponibilität von »escravas amas-de leite«: »O relatûrio do Ministro do Imp¦rio para o ano 1859 d‚-nos a seguinte alarmante estat†stica, com os coment‚rios do Ministro: Em 1854, 588 crianÅas foram recebidas, somadas a 68, j‚ no estabelecimento. Total 656: Mortas 435; Restantes 221. Em 1853, o nfflmero de expostos recebido foi de 630 e mortos 515. Foi portanto menor a mortalidade, no passado do que nos fflltimos anos. Todavia o nfflmero de mortos ainda ¦ aterrador …« (Kidder & Fletcher, apud Leite, 1991:103) Christofer Columbus Andrews (1829 – 1922), ein nordamerikanischer Diplomat (General-konsul), gibt ein Jahr vor der Sklavenbefreiung (1888) einen detaillierten Bericht über die Roda, den wir hier auszugsweise wiedergeben: »Anualmente cerca de 400 crianÅas de pais desconhecidos s¼o entregues secretamente a essa institutiżo humana, conhecida popularmente como ›a Roda‹. Desde a sua fundażo recebeu 400.000 dessas crianÅas. Toma conta delas 8 dias e depois as coloca como pensionistas de fam†lias particulares, por cerca de 5 dûlares por mÞs, at¦ um ano e meio, depois do que se pagam 2 dûlares por mÞs. Cerca de 6000 dûlares s¼o pagos pelo asilo pela pens¼o externa das criancas. Quando tem idade suficiente para frequentar a escola voltam — instituiżo, onde recebem instrużo at¦ os 12 anos e ent¼o s¼o enviadas para aprender of†cios…. As vezes, a m¼e pregou na roupa o nome que queria lhe dar e esse desejo ¦ em geral obedecido. Ningu¦m sabe, nem se importa com quem deixou a crianÅa. A propria construżo da Roda foi feita para manter o segredo. Muitos dos rec¦mnascidos est¼o doentes quando chegam e 30 a 32 % morrem; menor porcentagem que nos anos anteriores. O nfflmero recebido anteriormente tamb¦m era maior que agora, sendo de 500 a 600 por ano, mostrando que com o progresso houve uma redużo de nascimentos ileg†timos, apesar do crescimento da cidade. Muitas das crianÅas s¼o mulatas e as que vi, num dormitûrio de trinta e duas camas eram bem pequenas. Mal parecia haver uma crianÅa saud‚vel entre elas … Escravas s¼o empregadas invarialmente como amas-de-leite, sendo a pol†tica do

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asilo n¼o empregar para o serviÅo m¼es de enjeitados. Um m¦dico visita diariamente o asilo.« (Andrews, 1887 apud Leite, 1991:107) Die Ausgesetzten blieben im Allgemeinen ca. 1 bis 2 Monate in der Roda, in der nach diesen Berichten die Säuglingssterblichkeit außerordentlich hoch war (vgl. Tab.11). Ob die Säuglingssterblichkeit während des 19. Jh.s wirklich allmählich sank, wie die Tabelle nahelegt, müßte noch an anderem Zahlenmaterial überprüft werden. Tab. 10: Säuglingssterblichkeit in der »RODA« von Rio de Janeiro Autoren Karasch Kidder & Fletcher Costa Teixeira Andrews Quelle: Stubbe, 1992

Beobachtungszeitraum 1808 – 1850 1859 1861 – 1874 1876 1887

Säuglingssterblichkeit(%) 50 – 70 % 81 % 44 % 43 % 30 – 32 %

Wieviele Kinder wurden seit ihrer Gründung im 18. und 19. Jh. in der Roda ausgesetzt? Die Angaben in der Literatur sind hierüber sehr widersprüchlich, wie die folgende Zusammenstellung in Tabelle 12 zeigt. Stubbe (1992) geht von einer mittleren jährlichen Aufnahmerate von ca. 400 ausgesetzten Säuglingen aus und kommt für den Zeitraum von etwa 150 Jahren seit der Gründung (1738 – 1896) auf eine Gesamtzahl von ca. 60.000 Ausgesetzten. Auch diese Anzahl dürfte jedoch noch viel zu niedrig geschätzt sein, denn z. B. Maria Graham (s. oben) gibt allein für den Zeitraum von 1808 bis 1821 eine jährliche Aussetzungsrate von über 900 Säuglingen an (d. h. ca. 11.700) und Andrews spricht sogar von 400.000 ausgesetzten Säuglingen. Wir müssen hier also mit beträchtlichen Schwankungen der jährlichen Aufnahmeraten rechnen. Außerdem gab es nicht nur in Rio de Janeiro (worauf sich o.g. Zahlen beziehen), sondern auch in S¼o Paulo und Salvador eine »Roda dos Expostos« (vgl. z. B. Mesgravis, 1975). Die europäische Sitte Neugeborene Ammen anzuvertrauen (vgl. z. B. Schneider, 1984:70ff) wurde auch nach Brasilien exportiert mit der Besonderheit, daß hier afrobrasilianische Sklavinnen als »amas-de-leite« für die weißen Säuglinge vermietet oder gekauft werden konnten. Diese Verwendung der Sklavinnen bewirkte eine Desintegration der ohnehin schon schwachen Sklavenfamilie, indem sie die Sklavinmutter von ihrem eigenen Säugling trennte, der von ihrem Sklavenhalter in der Roda ausgesetzt wurde. Die Zeitungsannoncen der damaligen Zeit machen dies sehr deutlich:

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Tab. 11: Anzahl der ausgesetzten Säuglinge in der »RODA« von Rio de Janeiro während des XVIII. und XIX. Jahrhunderts Autor Lima & Ven–ncio (1991)

Graham (1821) Teixeira (1876) Andrews (1887) Stubbe (1992) Quelle: Stubbe, 1992

Zeitraum Gesamtzeitraum 1869 – 1879 1879 – 1888 1889 – 1898 1808 – 1821 1861 – 1874 Gesamtzeitraum (1738 – 1887) jährlich ca. 150 Jahren

Anzahl 42.000 4.677 3.336 1.153 ca. 12.000 jährlich 900 8.086 ca. 400.000 ca. 400 ca. 60.000

Jornal do Com¦rcio, 24 de fevereiro de 1850: »Na Rua do Espirito Santo h‚ uma-de-leite para alugar, parida de 8 dias, sem pens¼o do filho.« (andere Beispiele bei Magalh¼es & Giacomini, 1983) Warum starben so viele Säuglinge? Die brasilianische Historikerin Leite führt zur Erklärung vor allem medizinische Ursachen (z. B. unsauberes Wasser) an, indem sie schreibt: »Algumas condiÅþes de salubridade davam origem — alta mortalidade que aqui ¦ apontada na Roda dos Expostos. De um lado, a mobilidade da populażo de baixa ou nenhuma renda para locais sujeitos a epidemias ou endemias, que quando se tratava de difteria, disenteria bacilar ou var†ola afetava profundamente a populażo dos rec¦m-nascidos at¦ 2 anos. Ligada a essas condiÅþes, havia a qualidade da ‚gua de abastecimento da populażo, —s vezes proveniente de poÅos rasos facilmente contamin‚veis e que se tornavam insalubres durante o ver¼o. As ‚guas paradas nas vielas, ao redor das casas, eram aqui os focos de transmissores da febre amarela, que tantas v†timas fez em toda a populażo antes das medidas saneadoras de Oswaldo Cruz. Outra condiżo apontada nos estudos europeus d‚ conta tamb¦m da m‚ nutriżo das nutrizes, provocada por alimentażo defeituosa e carÞncia de recursos. Forneciam um aleitamento insuficiente, num per†odo em que os rebanhos de vacas e cabras ainda eram reduzidos e o leite animal precisava ser »cortado« com ‚gua impura e conservado em recipientes imprûprios. N¼o se deve tamb¦m esquecer uma condiżo agravante, quase universal. Al¦m de exaustas e subalimentadas, as amas-de-leite dominavam as pr‚ticas populares de cuidados com crianÅas, desconhecendo os princ†pios da puericultura que comeÅaram a ser divulgados no s¦culo XIX e tinham a maior dificuldade para adotar os preceitos de assepsia no tratamento das crianÅas. As

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condiÅþes das amas-de-leite particulares, alugadas ou escravas prûprias eram, naturalmente, diferente. Dentro da escravaria dom¦stica tinham uma posic¼o de destaque, eram muito bem alimentadas e bem vestidas e ganhavam uma ascendÞncia comentada e lamentada sobre todos os habitantes da casa- senhores e escravos.« (Leite, 1991:108 f) Stubbe (1992) argumentiert demgegenüber, daß eine solche rein medizinische Erklärung der hohen Säuglingssterblichkeit in der Roda ergänzungsbedürftig ist, weil sie die vielen gesicherten Studien über den psychischen Hospitalismus (vgl. Spitz, A. Freud, Robertson, Bowlby etc.) ignoriert und die Möglichkeit, daß viele Säuglinge aufgrund der abrupten Mutter-Kind-Trennung einen »psychosomatischen bzw. psychogenen Tod« starben, nicht ernsthaft diskutiert. Nur das Stillen allein, auch unter hygienischsten Verhältnissen, reicht eben nicht aus, um das Gedeien eines Säuglings zu garantieren. Leider wurden jedoch über die psychosozialen Aspekte der Sklaverei bisher nur sehr wenige wissenschaftliche Arbeiten publiziert (vgl. Machado et al., 1978; Costa, 1979; Stubbe & Santos-Stubbe, 1990; Santos-Stubbe, 1992), die die Erkenntnisse der modernen Human-wissenschaften berücksichtigen und die herrschende Historiographie hat bisher oftmals das Bild des dinghaften, unbeseelten, entindividualisierten, desozialisierten Sklaven perpetuiert. Insbesondere über die Mutter-Kind-Beziehung unter den Sklaven wissen wir nur sehr wenig (s. unten). Lima & Ven–ncio (1991) kommen in ihrer wertvollen Arbeit »O abandono de crianÅas negras no Rio de Janeiro« zu dem Ergebnis, daß die Anzahl der ausgesetzten schwarzen und »Mischlingskinder« (pardas) in Rio de Janeiro nach dem »Lei do Ventre Livre« (1871) in der Roda merklich zunahm und sprechen von einem massiven Ausgliederungsprozeß dieser Kinder, indem sie zusammenfassen: »A Lei do Ventre Livre suscitou infflmeras cr†ticas, feitas por contempor–neos das mais variadas tendencias pol†ticas, e aprofundadas, posteriormente, pelos historiadores. Na verdade, poucos acreditaram na sua efic‚cia para melhorar as condiÅþes de vida da crianÅa negra no Brasil. Ao lado da denuncia da perpetuażo de fato de sua condiżo de escrava, destacou-se o prognûstico do aumento do nfflmero de abandonos dos filhos de suas cativas, por parte dos senhores. E verificamos que, ao menos no Rio de Janeiro, esse prognûstico se cumpriu , prenunciando o tr‚fico futuro que esperava a crianÅa negra no Brasil. Hoje, h‚ mais de cem anos da Aboliżo, convivemos com cerca de 12 milhþes de crianÅas abandonadas nos centros urbanos do Pa†s, das quais a maioria absuluta ¦ de origem negra.« (Lima & Ven–ncio, 1991:73) (vgl. ! Straßenkinder). In struktur-funktionalistischer Sicht (vgl. Stubbe, 1992) können wir die Roda als eine Institution bzw. einen sozialen Mechanismus von beträchtlicher Machtfülle, Verwandlungs- und Ordnungs-Kraft interpretieren. Sie verwandelte

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nämlich den Säugling der »Rua« in einen Säugling der »Casa«, Leben in Tod, Sklaven in Freie (Gesetze der Jahre 1775 und 1823 betrachteten alle afrobrasilianischen Säuglinge in der Roda als »Freie«, vgl. Karasch, 1972), Heiden in Christen (= Getaufte) und Dinge (Sklaven) in staatlich/kirchlich registrierte beseelte Menschen/Bürger. In symbolischer Hinsicht könnte man die Roda im Gegensatz zum »Lebensrad« auch als ein »Todesrad« charakterisieren. Hinsichtlich der sozialen Funktionen der Roda ergeben sich jedoch noch viele bisher nicht geklärte Fragen: War die Roda als eine »humanitäre« Institution gedacht, ein frühes Abolitionsinstrument, ein Schutz vor dem Aufgefressenwerden ausgesetzter Säuglinge durch Tiere (vor allem in den Straßen herumlaufende Schweine, vgl. Mello de Souza, 1991)? War sie ein staatlich/kirchlich legitimiertes Abtreibungssubstitut, sollte sie die hohe Infantizidrate verringern oder tarnen helfen (vgl. Magalh¼es & Giacomini,1983) oder den Waisenkindern Schutz bieten? Oder war die Roda eine rassistisch (vgl. Ianni, 1988; Mello e Souza,1991:35; Lima & Venancio,1991) inspirierte Institution des (vor allem afrobrasilianischen) Kindermassenmordes (!Genozid, vgl. Nascimento, 1978), ein Vorläufer der Vernichtungslager des XX. Jh.s? Die bisherigen Studien schaffen hier keine Klarheit, die hohen Sterblichkeitsraten waren aber zumindest seit den 20er Jahren des 19. Jh.s in Brasilien offiziell bekannt und wurden auch von Ärzten festgestellt (vgl. Lobo, 1876; Teixeira, 1876). Die Roda war jedoch keine typische Institution des 19. Jh.s, wie man meinen könnte, sondern bestand z. B. in S¼o Paulo noch bis 1948 fort. In institutioneller Hinsicht findet sie ihre Fortsetzung in den »Internatos-Prisþes« des gegenwärtigen Brasiliens (vgl. Alto¦, 1990). Die ersten sieben Jahre: In ihrer Analyse der Inventare post mortem in Bahia (1860 – 1888) unterscheidet K‚tia de Queiros Mattoso (1991) zwei Abschnitte in der Kindheit der afrobrasilianischen Sklaven: von 0 bis 7/8 Jahren, in denen die »crioulinha« oder der »crioulinho«, die »pardinha« oder der »pardinho«, die »cabrinha« oder der »cabrinho« keinerlei ökonomisch relevanten Tätigkeiten ausübten und die Phase von 7/8 bis 12 Jahren, in denen die jungen Sklaven aufhören Kinder zu sein und in die Erwachsenenwelt eintreten, aber in Gestalt des »aprendiz« oder des »moleque/moleca«. Mott (1979), die die Sklavenkindheit anhand der !Reiseliteratur des 19. Jh.s untersucht hat, gibt einen früheren Endpunkt der eigentlichen Sklavenkindheit (nämlich 5 Jahre) an, indem sie schreibt: »A idade de cinco a seis anos parece encerrar uma fase na vida da crianÅa escrava. A partir desta idade ela aparece desempenhando alguma atividade. Das

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obras levantadas para a primeira metade do s¦culo XIX, talvez seja a de Debret aquela que apresenta um maior nfflmero de crianÅas escravas trabalhando.« … »No meio rural, as mulheres e as crianÅas desempenhavam frequentemente a mesma tarefa, como por exemplo descascar mandioca, descarocar algod¼o e arancar ervas daninhas.« (Mott, 1979:61) Mattoso (1991) stellt in ihrer Untersuchung fest, daß absolut alle Taufen der Sklavenkinder Taufen illegitimer Kinder sind. Einschränkend ist jedoch hierzu anzumerken, daß in dem untersuchten Zeitraum auch die Illegitimitätsrate des freien Bevölkerungsteils 62 % betrug. Auf den großen Zuckerrohrplantagen (engenhos de aÅucar) verbringen die Sklavenkinder die ersten Lebensjahre in relativer Freiheit, nehmen an den Spielen der weißen Kinder teil (aber häufig als »cavalinho«= Pferdchen!) und erfahren sogar Liebkosungen der weißen Herrin. In den Städten dagegen ist ihr Bewegungsraum eingeengt durch die Familie des Sklavenhalters und beschränkt den Spielraum der Sklavenkinder auf die Wohngegend der Sklaven (= cortiÅo, !Wohnen) oder andere Plätze wie den Markt oder Lagunen, in denen die Sklavinnen die Wäsche waschen. Über die Institution des »muleque companheiro de brinquedo«, eines Sklavenkindes, das jedem weißen Kind des Sklavenhalters als Spielobjekt zugeordnet wurde, schreibt Koster (1816) folgendes: »Logo que a crianÅa deixa o berÅo d¼o-lhe um escravo do seu sexo e de sua idade, pouco mais ou menos, por camarada, ou antes, para seus caprichos; empregam-no em tudo e al¦m disso incorre sempre em censura e em puniżo … Enfim, a rid†cula ternura dos pais anima o insuport‚vel despotismo dos filhos.« (Koster apud Freyre, 1969:468; vgl. auch Cascudo, 1958). Das kleine Sklavenkind wird als ein reduzierter Sklave angesehen, nur hinsichtlich seiner Größe und Körperkraft vom erwachsenen Sklaven unterschieden. So stellt bereits der kurze Abschnitt der eigentlichen Sklavenkindheit eine Sozialisierungsphase »sklavengemäßer Verhaltensweisen« im Hinblick auf die Sklavenhalterfamilie einerseits und andererseits eine Phase der sozialen Integration in das Beziehungsgeflecht der Sklavengemeinschaft dar. Wahrscheinlich bildet sich bereits in diesem Kindesalter der »Senhor« eine Vorstellung darüber über welche Fähigkeiten und welchen Charakter das Sklavenkind verfügt. Und bereits in diesem frühen Alter beginnt das Sklavenkind auch zu bemerken, welche Bedeutung und Wirkung die Körperstrafen als ein unverzichtbarer Bestandteil des Sklavereisystems besitzen. Bereits Sklaven-Säuglinge und -Kleinkinder konnten verkauft werden. Bei Debret (prancha 23, 2.tomo) finden wir eine Abbildung des Sklavenmarktes in der Rua do Valongo (Rio de Janeiro; er wurde 1831 geschlossen), in der »ciganos« (»Zigeuner«, die in Brasilien oftmals den internen Sklavenhandel betrieben) Sklavenkinder verkaufen. Auch Magalh¼es & Giacomini (1983) listen eine

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Reihe von Zeitungsannoncen aus dem Jahre 1850 auf, in denen Sklavenkinder zum Verkauf angeboten werden z. B. im Jornal do Commercio (24. 7. 1850): »Vende-se uma negrinha de perto de 2 annos , muito linda e socegada« (zit. apud Magalh¼es & Giacomini, 1983: 79). Das Leben eines Sklavenkindes war also von früher Kindheit an nicht nur durch Tod, Krankheit und Unter- bzw. Fehl-Ernährung gekennzeichnet, sondern es konnte bereits in diesem frühen Alter von seiner Mutter getrennt werden. Manche Sklavenhalter »befreiten« auch ihre Sklavenkinder (oftmals im Gefolge der Taufe). In Vila Rica z. B. waren es im Zeitraum von 1719 – 1798 ca.10 % (vgl. Ven–ncio, 1991:100). Dies geschah jedoch aus Berechnung, denn sie brauchten nun nicht mehr für den Unterhalt dieser Kinder aufzukommen. Eine Folge davon war, daß immer mehr Sklavensäuglinge ausgesetzt wurden, um die sich nun die »C–maras« (Stadtverwaltungen) kümmern mußten. In Mariana forderten z. B. die Stadträte im 18. Jh. sogar ein rassitisches »atestado de brancura dos expostos« (sic!) und verweigerten so den schwarzen Kindern Schutz und Betreuung (Ven–ncio, 1991:101; Mello de Souza, 1991:35). Im 19. Jh. begann sich dieses Verhalten der Sklavenhändler zu verändern und sie »befreiten« immer weniger Sklavenkinder, weil deren Preis zu steigen begann (vgl. Tabelle für den Zeitabschnitt von 1800 bis 1869 bei Ven–ncio,1991:105). Es kam in dieser Zeit auch zu immer häufigerem Raub von freien schwarzen Kindern mit dem Ziel sie zu versklaven bzw. zu verkaufen. Wie hoch war der Kinderanteil unter der Sklavenbevölkerung Brasiliens? Nach Stuart Schwartz (1988:291) lag der Anteil der Kindersklaven im Alter von 0 bis 15 Jahren in den baianischen »engenhos« bei 20 % bis 24 %, in Minas Gerais variierte der Kinderanteil (von 0 bis 14 Jahren) zu Beginn des 19. Jh.s zwischen 19 % und 33 % (Ven–ncio, 1991:100) und in Paran‚ (1800 – 1830) mit dem höchsten Anteil zwischen 37 % und 40 % (Ven–ncio,1991:105). Von 8 bis ins Erwachsenenalter: Schulbesuch kam für die Sklavenkinder nicht in Betracht. Noch im Jahre 1872 bewegte sich die Alphabetisierungsrate der Sklaven (je nach Region etwas unterschiedlich) um 1 pro Mill. Während der holländischen Besatzungzeit (1630 – 1654) richtete man aber bereits nach dem Apartheits-Prinzip im Jahre 1645 in Recife die erste allein für Afrobrasilianer reservierte Schule ein, die nach der Vertreibung der Holländer wieder geschlossen wurde (vgl. Duarte, 1986:89). Etwa im Alter von sieben bis acht Jahren hat das Sklavenkind nicht mehr das Recht seine Mutter spielend zu begleiten, sondern muß nun regelmäßige Dienstleistungen vollbringen, um die Unkosten für den eigenen Unterhalt auszugleichen, die seinem Sklavenhalter entstanden sind. Manchmal muß es auch seiner Mutter helfen, wenn diese eine »escrava de ganho« (freischaffende Skla-

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vin) ist und außerhalb des Hauses ihres Besitzers wohnt. Der »Senhor« verwendet den kleinen Sklaven nun als Boten, Austräger von Bestellungen, als Pajen etc. Nur wenige Sklavenkinder übten eine qualifizierte Tätigkeit aus z. B. als Lehrlinge eines Barbiers oder Schmieds, oder in der Hausarbeit etc. (vgl. hierzu Ven–ncio, 1991:102ff). In der !Ikonographie der brasilianischen Sklaverei (vor allem bei Debret) erscheinen die Sklavenjungen oftmals als Träger von Kleiderbündeln, Schirm, Kerzen (für Gelübde) etc. oder machen Einkäufe und holen Bestellungen ab. Die Sklavenmädchen tragen dagegen die Dinge ihrer Herrin oder kümmern sich um deren Kinder. Im Haushalt hatten die Sklavenkinder auch andere Aufgaben wie am Tisch zu bedienen, in der Küche zu helfen, Wasser zu holen, zu putzen, Wind zu fächeln etc. Debret zeigt einen Sklavenjungen als Gehilfen eines Barbiers und bei Thomas Ewbank (1792 – 1870) finden wir Sklavenjungen, die in einer Musikgruppe mitmarschieren. Ab dem Alter von zwölf Jahren wurden die Sklavenkinder im Hinblick auf die Arbeit und Sexualität als Erwachsene angesehen (vgl. Mott, 1979). Der größte Teil der Sklavinnen-Prostituierten war sehr jung. Macedo Jfflnior gibt in seiner medizinischen Dissertation (1869) ein Durchschnittsalter von 10 bis 15 Jahren an. Man nannte diese Kinderprostituierten, die von ihren Sklavenhaltern zu dieser Arbeit gezwungen wurden, im Volksmund »capitais inocentes« (unschuldiges Kapital). Es herrschte zu der damaligen Zeit in der Bevölkerung der perniziöse »Medizinaberglaube«, daß eine pubertierende Afrobrasilianerin durch einen Sexualkontakt die Syphilis kurieren könnte. Bis auf den heutigen Tag gibt es versklavte Kinderprostituierte in Brasilien (vgl. z. B. Dimenstein, 1992). Das »Lei do Ventre Livre« (= Lei Rio Branco No.2040 vom 28. September 1871) verbesserte die Situation der Sklavenkinder in keiner Weise. Dieses Gesetz stellte nämlich die Sklavenkinder in die Gewalt und unter die Autorität ihres Herrn, indem es ihn zwang »crial-os e tratal-os at¦ a idade de oito annos completos. Chegando o filho da escrava a esta idade, o senhor da m¼e ter‚ a opżo , ou de receber do Estado a Indemnizażo de 600000 $, ou de utilizar-se dos serviÅos do menor at¦ a idade de 21 annos completos.« (zit. apud Mattoso, 1991:80) Ohne Zweifel werden nur wenige Sklavenhalter auf eine 13jährige Arbeitsausbeute ihrer Sklavenkinder und Jugendlichen verzichtet haben. Wie wir gesehen haben, ist über die seelische und soziale Entwicklung der Sklaven und Sklavinnen in Brasilien bisher nur wenig bekannt, weshalb H. Stubbe bei anderer Gelegenheit schrieb, daß die »Seele« des Afrobrasilianers noch immer ein »weißer Fleck auf der Landkarte Brasiliens« ist (Stubbe, 1989:6). !Frau !Gesundheit !Kinder !Rassismus !Reiseberichte !Sklaverei ! Straßenkinder

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Sklaverei (auch: escravismo, escravidão, escravatura) »Brasil ¦ o inferno dos negros, pfflrgatûrio dos brancos e para†so dos mulatos« Antonil »Zweifelsohne ist die Sklaverei das größte aller Übel, welche jemals die Menschheit betroffen« Alexander von Humboldt

Das afrikanische Sklavereisystem im sozio-politischen Rahmen Brasiliens: Die Geschichte der afrikanischen Sklaverei in Brasilien ist voller »Mythen«, die einerseits die Funktion haben die Erniedrigung, Unterdrückung und zum großen Teil Machtlosigkeit dieser Bevölkerungsgruppe zu vergrößern, um dadurch ihre heroischen Taten hervorheben zu können, und damit das Selbstwertgefühl der aus Afrika stammenden Bevölkerung anzuheben. Anderseits fungieren diese »Mythen« innerhalb der Geschichte als Möglichkeit die Ereignisse dieser grauenvollen Zeit zu verschleiern und die Verantwortung des Systems und der Herrschenden für die Auswirkungen der Sklaverei auf die heutige Lage der Afrobrasilianer zu verringern. Diese beiden Positionen polarisieren häufig die Haltung der Afrobrasilianer und der Nicht-Afrobrasilianer bzw. der Weißen gegenüber ihrer eigenen Geschichte. Zahlreiche Schwierigkeiten behindern noch immer die moderne brasilianische Historiografie im Hinblick auf die afrikanische Sklaverei. In diesem Rahmen sollen nur zwei Probleme hervorgehoben werden: Erstens die Tatsache, daß diese Geschichte immer noch in erster Linie von Nicht- Afrobrasilianern geschrieben wird. Wir haben in diesem Sinne in Brasilien noch eine Historiografie, die von den Herrschenden geschrieben wird. Diese einseitige Betrachtung ändert sich jedoch allmählich. An zweiter Stelle entsteht das Problem des Fehlens objektiver historischer Quellen, die die ganze Sklaverei bzw. diese gesamte Geschichts-Periode erfassen. Bekanntlich hat der Agrarminister Rui Barbosa de Oliveira (1840 – 1923) alle die Sklaverei be-

Sklaverei (auch: escravismo, escravidão, escravatura)

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treffenden Dokumente des Ministeriums im Jahre 1890 verbrennen lassen (vgl. z. B. Donnan, 1930 – 35; Lacombe, 1988). Im Rahmen dieses einführenden Lexikons soll die Sklaverei keinen zu großen Umfang einnehmen. Sie wird hier in kurzen Abschnitten behandelt, um dem/der Leser/in ein realistisches Bild der Entstehungsgeschichte der Afrobrasilianer/ innen zu ermöglichen, damit sie im Laufe des Lesens besser verstehen können, welche prägende Rolle dieses 350 Jahre bestehende Sklavereisystem für die brasilianische !Gesellschaft im Allgemeinen hatte. Es ist uns bewußt, daß in diesem Buch kein vollständiges Bild der Sklaverei und des Sklavenlebens innerhalb einer kolonialistischen und imperialen Ära dargestellt werden kann. Die Behandlung der Situation der !Frauen und der !(Sklaven-)Kinder während dieser Periode werden in den gesonderten Stichworten dargestellt werden. Die Vorgeschichte: Als der Portugiese Pedro Alvares Cabral (1457 – 1520) im Jahre 1500 an der Küste des gegenwärtigen Bundesstates Bahia landete und das neuentdeckte Land für die portugiesische Krone offiziell in Besitz nahm, war der Kontakt und die Ausbeutung von afrikanischen Sklaven schon eine Tatsache in diesem Land der iberischen Halbinsel. Die Sklaverei in den Ländern der iberischen Halbinsel, die später bei der Kolonisierung Amerikas eine wichtige Rolle spielen sollten, sowie in Afrika war gut bekannt. In Portugal wuchs sie besonders nach der »Reconquista« und als die Möglichkeit Mauren-Sklaven zu bekommen sich verringerte, nahm dann am Ende des XV. Jh.s die afrikanische Sklaverei zu. Diese Vorerfahrung mit afrikanischen Sklaven im eigenen Land und auf den portugiesischen Inseln des Atlantiks gab Portugal bereits eine große »Vorübung«, um eine der größten Sklavenhändlernationen zu werden. Im Übrigen herrschte in den von den Arabern und dem Islam kontrollierten Regionen Afrikas bereits seit dem 7. Jh. ein blühender Sklavenhandel (vgl. N’Diaye, 2011). Am Anfang der Kolonisierung Brasiliens beutete Portugal zuerst hauptsächlich die einheimischen »Indianer« als Arbeitskräfte aus (vgl. z. B. Marchant, 1980). Sie wurden aber bald als unfähig für die seßhafte und erzwungene Arbeit deklariert. Die Kolonialregierung und -wirtschaft ersetzte sie darauf durch afrikanische Sklaven. Brasilien wurde zu einer der ersten Kolonien in der Neuen Welt, die in der Sklavereiöknomie die afrikanische Arbeitskraft eingesetzt hat. Die Kirche: Durch den starken missionarischen Einsatz der katholischen Priester insb. der Jesuiten gegen die Versklavung der »Indianer« und nach der Bulle des Papstes Paul III. im Jahre 1537 wurde die indianische Sklaverei verboten (vgl. z. B.

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Marchant, 1980). Ein Grundmotiv hierfür war, daß die katholische Kirche »nachgewiesen« hatte, daß die Indianer eine unsterbliche Seele besaßen. Außerdem wurden die Indianer sowohl als unfähig für die seßhafte Arbeit innerhalb des Sklavereisystems, als auch für »fluchtsüchtig« angesehen. Trotz des offiziellen Verbots der indianischen Sklaverei und zahlreicher Dekrete Portugals gegen sie, verlängerte sich die indianische Sklaverei jedoch noch bis Ende des XVIII. Jh.s. Nahm sich die Kirche gelegentlich der Verteidigung gewisser Interessen der šndios an, so hat sie dies für die Schwarzen nicht getan. Mit anderen Worten: die Verteidigung der Schwarzen war nicht Bestandteil der offiziellen kirchlichen Politik, dies sowohl in Spanisch- als auch in Portugiesisch-Amerika. Die katholische Kirche befürwortete die Versklavung der Afrikaner als Ersatz für die Indianer und sogar Bartolom¦ de las Casas (1474 – 1566) schlug ihren Einsatz in Hispano-Amerika vor. »Die Kirche legitimierte die Verminderung der ›Ungläubigen‹ oder Nichtchristen mit Hilfe der Sklaverei als Mittel zur Ausbreitung des christlichen Glaubens, …« (Santos, 1985, S.30), und dies galt hauptsächlich für die Afrikaner. Diese wurden als »kräftiger, geschmeidger, unterwürfiger, arbeitsfähiger, weniger sensibel bezüglich der Gefangenschaft, weniger fluchtsüchtig«, etc. charakterisiert. Außerdem wurde ihnen kirchlicherseits nicht nachgewiesen (und dies scheinbar bis heute noch nicht!), daß sie eine unsterbliche »Seele« besaßen (vgl. CEHIAL, 1987; Scis†nio, 1997:169 – 172). Eduardo Hoornaert (1982:31 f) konstatiert, dass es keine spezifisch auf die afrikanischen Sklaven ausgerichtete !Missionierung durch die Jesuiten gab und sie selbst in den »col¦gios« und Dörfern (aldeamentos) von Sklavenarbeit lebten. Der Beginn des Sklavenhandels: Ein offizielles Ausgangsdatum für die massenhafte Einfuhr von afrikanischen Sklaven nach Brasilien steht immer noch nicht endgüldig fest. Bekanntlich lebten schon vor den großen Einfuhrwellen afrikanische Sklaven in Brasilien, aber noch in sehr kleinem Ausmaß. Die moderne brasilianische Historiografie gibt als Ausgangspunkt oftmals das Jahr 1538 an, obwohl »offiziell« das Jahr 1549 gilt. Moura weist jedoch darauf hin, dass sich auf dem Schiff »Bretoa«, das von Fernando de Noronha 1511 nach Brasilien gesandt wurde, bereits Afrikaner befanden (vgl. Moura, 1989:7 f; Scis†nio, 1997:110; Lopes, 2006:163ff). Der Sklavenhandel funktionierte nach dem Prinzip des Dreieckhandels EuropaAfrika-Amerika-Europa, wie aus der unteren Abbildung zu ersehen ist, d. h. von Europa aus gelangten Tauschwaren direkt nach Afrika, wo sie in »Menschenware« umgetauscht wurde. Nach diesem gewinnträchtigen Tausch brachten die Schiffe ihre menschliche Fracht in die Neue Welt, wo in den Kolonien die Sklaven wiederum Produkte wie Zucker, !Tabak, Baumwolle etc. erzeugten. Diese

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Produkte wurden dann nach Europa transportiert, wo sie für die Händler einen noch beträchtlicheren Gewinn erbrachten. Die Sklaven: Die Sklaven wurden bei ihrer Kommerzialisierung nicht als Menschen betrachtet, sondern als Sachen/Dinge/Handelsobjekte. Dies wird in der Handelssprache deutlich, da sie als »peÅas« (= Stücke) eines »estoque« (= Haufen, Lagervorrat, Lagerbestand) gehandelt, bzw. juristisch nach röm. Recht als »instrumento falante« (instrumentum vocale) (Scis†nio, 1997:177) bezeichnet wurden. Die afrikanischen Sklaven wurden (anders als die Sklaven in der europ. Antike) als leblose Ware angesehen und als solche auch behandelt. Dies trug in entscheidendem Maße zu ihrer psychischen, sozialen und kulturellen Abwertung bzw. Entmenschlichung bei. Dieser Handel brachte Afrikaner aus verschiedenen Regionen und Ethnien Afrikas nach Brasilien. Hauptsächlich kamen sie aus den Gebieten Angola, Dahomey (heutiges Benin), MoÅambique, Goldküste (heute Ghana), Nigeria, Sudan, Kongo, u. a. In der Mehrzahl waren sie Angehörige der Bantu- und Sudan-Kulturen. Aus diesen zwei großen !Kulturen kamen vorwiegend Afrikaner aus den ethnischen Gruppierungen der Nagús (Yorub‚s), GÞges (Ewes), Minas, Haułs, Fulas, Tapas, u. a. Die demographische Zusammensetzung der nach Brasilien deportierten Sklaven bestand zwischen 60 % und 70 % aus Männern in gutem Gesundheitszustand und im arbeitsfähigen Alter, das bedeutete, daß ca. 80 % von ihnen Erwachsene waren. Die Kinder wurden meistens noch in Afrika von ihren Müttern getrennt, da es kaum Interesse an ihrer Kommerzialisierung gab. Der Transport: Die »Tumbeiros« (= Sklaventransportschiffe) waren speziell für den Transport afrikanischer Sklaven eingerichtet. Sie besaßen dafür einen besonderen Laderaum, in dem die Gefangenen in verschiedenen Richtungen lagen – um Platz zu sparen – und aneinander gekettet waren, was ihre Beweglichkeit vollkommen verhinderte (vgl. Conrad, 1985; Abbildungen z. B. bei Rugendas; Everett, 1998:46 f). Ein solcher »Tumbeiro« transportierte in der Regel zwischen 300 und 500 afrikanische Sklaven, was häufig den Untergang des Schiffes aufgrund von Überladung bewirkte. Die Sklaven litten außerdem während der langen transatlantischen Reise (eine Reise z. B. von West-Afrika nach Brasilien dauerte nach der Verbesserung der Schiffstypen ca. 35 bis 60 Tage) an Hunger, Durst, unhygienischen Verhältnissen, an Krankheiten und Epidemien, an !»Banzo«, ! Suiziden und an anderen seelischen und physischen Traumata. Debret (1768 –

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Abb. 14: Prinzip des Dreieckhandels Quellen: Ihde, 1975; Scis†nio, 1997:310ff; Lopes, 2006:163ff

1848), der von 1816 bis 1831 in Brasilien lebte, beschreibt z. B., daß bestimmte Sklaven auf dem »Tumbeiro« unter der Androhung der Peitsche gezwungen wurden an der allgemeinen (befohlenen) Freude teilzunehmen, um die Traurigkeit und Depression zu bekämpfen. Die Gewohnheit sie nur angekettet ans Deck kommen zu lassen, um Suizidversuche (viele von ihnen suchten den freiwilligen Tod, in dem sie ins Meer sprangen) und Revolten zu vermeiden, war Teil ihrer neuen Realität. Frauen und Kinder durften auf einigen Schiffen auf dem Schiffsdeck bleiben. Solche Bedingungen provozierten schon während der Überfahrt den sozio-psycho-somatogenen Tod vieler Sklaven (vgl. !banzo). Werner Sombart (1928) kommt in seinem monumentalen Werk »Der moderne Kapitalismus« z. B. zu dem Ergebnis, daß während der Sklavenjagd, des Transportes und des ersten Jahres der Gefangenschaft von 400.000 Sklaven nur 280.000 überlebten (d. h. 70 %). Klein (1987) konstatiert ähnlich, daß von 1000 Sklaven, die in 13 Schiffen aus MoÅambique in den Jahren 1795 – 1811 nach Brasilien deportiert wurden, 234 (d. h. 23,4 %) schon während der Überfahrt starben.

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Als Sklave in Brasilien: Während im ersten bras. Wirtschaftszyklus (»Holz-Zyklus«) die ökonomische Ausbeutung des »Pau-Brasil« (=Brasil-Holz) an der Ost-Küste mit Hilfe der »Indianer« seit Anfang der Kolonisierung stattgefunden hat, bestand das Hauptziel der afrikanischen Sklaveneinfuhr im darauffolgenden zweiten Wirtschaftzyklus (»Zucker-Zyklus«) darin die Zuckerrohrplantagen (in der Form von Großplantagen, fazendas) und die Zuckersiedereien (engenhos de aÅucar) im Nordosten Brasiliens zu entwickeln. Aufgrund der wechselnden Nachfrage entsprechend der wirtschaftlichen Zyklen Brasiliens (z. B. Zucker, Gold, Kaffee, Tabak, Kakao, Gummi etc.; vgl. Furtado, 1975; Azevedo, 1978; Holtz, 1981:79; Cardoso, 1982) wurden die neu angekommenen Sklaven in den verschiedenen Häfen Brasiliens ausgeladen (hauptsächlich in Rio de Janeiro, Salvador und Recife, vgl. Abb.n bei Rugendas) und von dort, nach einer besseren Ernährung, auf den Sklavenmärkten gesammelt, ausgestellt und verkauft, nachdem der potentielle Käufer eine Überprüfung ihres physischen Gesundheitszustandes, ihrer Zähne, Genitalien, Muskulatur etc. vorgenommen hatte (Selektion). Daraufhin wurden sie in die verschiedenen Regionen des Landes verkauft. Die Mehrzahl der Afrikaner aus der Bantu-Sprache und Kulturgruppe sind an die Bundesstaaten Maranh¼o, Rio de Janeiro und Pernambuco verkauft worden; und später sind sie auch in Minas Gerais, Alagoas, Par‚ und S¼o Paulo eingeführt worden. Die Angehörigen der sudanesischen Kulturgruppe hatten ihren größten Anteil in Bahia, Rio de Janeiro, S¼o Lu†z und Recife. Andere ebenfalls nach Brasilien eingeführte afrikanische Ethnien wurden in verschiedene Teile des Landes zerstreut. Der transatlantische Sklavenhandel brachte Millionen von Afrikanern nach Brasilien, die eine schwere soziale, psychische und kulturelle Traumatisierung zu erleiden hatten. Dieser Handel wird betrachtet »als die größte und dauerhafteste gezwungene Umsiedlung von Völkern in der Menschheitsgeschichte und mit unzählbaren Konsequenzen, die keine Studie vollkommen erfassen kann« (Núvo Dicion‚rio da Histûria do Brasil, 1970:256). Der us-amer. Sklavereiforscher Conrad stellt klar : »O tr‚fico de escravos da Africa para o Brasil foi uma das grandes trag¦dias da histûria humana. Provavelmente mais de 5 milhþes de africanos foram desembarcados nas praias brasileiras durante os anos 1525 a 1851, uma m¦dia de mais de um milh¼o e meio por s¦culo. Essas multidþes, contudo, compreenderam apenas parte do nfflmero total de pessoas afetadas por este tr‚fico, uma vez que muitos morreram em seu continente nativo antes que pudessem ser collocados a bordo de um navio e muitos mais pereceram no mar. Uma vez no Brasil, al¦m disso, muitos sobreviventes da longa jornada rapidamente sucubiram — doenca ou outras privaÅþes, de forma que apenas uma

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pequena porcentagem das pessoas capturadas ou vendidas na Africa chegou a trabalhar para um senhor no Novo Mundo.« (Conrad,1985:209). Über die genaue Anzahl der afrikanischen Sklaven, die nach Brasilien deportiert wurden, gibt es keine Übereinstimmung bei den Forschern. Von den Historikern werden unterschiedliche Zahlen angegeben. Gegenwärtig wird davon ausgegangen, daß ca 5.000.000 nach Brasilien deportiert wurden, obgleich diese Werte bis auf 18.000.000 hinauf schwanken (vgl. hierzu: Scis†nio, 1997:141 – 146). Es ist anzunehmen, daß eine präzise Anzahl nicht eruiert werden kann, da. u. a. nicht exakt feststeht, ab wann die Afrikaner als Sklaven in Brasilien eingeführt wurden. Es kommt hinzu, daß ein illegaler Handel zwischen Afrika und Brasilien nach dem Verbot des transatlantischen Sklavenhandels im Jahre 1831 bzw. 1850 weiterexistierte, sowie ein interner Handel zwischen anderen lateinamerikanischen Ländern und Brasilien (als das Ende der Sklaverei in diesen Ländern drohte), zu denen ebenfalls keine gesicherten Angaben vorliegen. Zudem dürfte die Verbrennung vieler die Sklaverei betreffenden Dokumente im Jahre 1890, die von dem brasilianischen Minister Rui Barbosa (1840 – 1923) angeordnet wurde, als ein »Akt der Scham« über die Sklaverei, hier auch eine wesentliche Rolle mitspielen (vgl. Lacombe, 1988). Trotz aller dieser Faktoren müssen diese Daten in dem aktuellen sozio-kulturellen Rahmen Brasiliens kritisch betrachtet werden. In neueren Studien wird die Tendenz der Senkung dieses Umfangs oft sichtbar, was vermutlich im Zusammenhang mit dem Versuch steht, den afrikanischen Anteil in der gesamten brasilianischen Bevölkerung zu reduzieren und so ein »weißeres« Brasilien darzustellen. Feststeht jedoch, daß Brasilien der weit größte Sklavenimporteur des amerikanischen Kontinents war. Ianni (1988) gibt an, daß ca. 38 % aller aus Afrika ausgeführten Sklaven nach Brasilien importiert wurden. Diese Millionen Sklaven dominierten die Bevölkerungsstruktur der kolonialen und imperialen Perioden Brasiliens. Sie bildeten in bestimmten Regionen des Landes eine 5mal größere Anzahl als die weiße Bevölkerungsgruppe. Vor dem Verkauf wurden die Sklaven von ihren Familien- und Stammesmitgliedern gewaltsam getrennt. Bis 1869 (15. September) durften die Händler und Sklavenbesitzer die Frau und ihren Ehemann bzw. Partner und Eltern von ihren Kindern trennen und so an andere Besitzer weiterverkaufen, das heißt erst 16 Jahre nach dem Verbot des transatlantischen Handels und 6 Jahre nach der Unterbindung des interprovinziellen Sklavenhandels. Charles Darwin (1875:64) berichtet über jene »schauerlichen Verfahren …, welche nur in einem Sklavenland stattfinden können«: »Infolge eines Streits und eines Prozesses war der Besitzer darauf und daran, alle Frauen und Kinder den männlichen Sklaven wegzunehmen und sie einzeln in den öffentlichen Auktionen in Rio zu verkaufen. Sein Interesse und nicht irgendein Gefühl von Mitleid verhinderten diese Tat. Ich glaube wirklich, daß es ihm gar nicht in den Sinn gekommen ist, daran zu

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denken, daß es unmenschlich sei, dreißig Familien, welche viele Jahre lang zusammengelebt hatten, auseinanderzureißen«. Diese kulturelle und familiäre Zersplitterung galt u. a. als eine bewußte Maßnahme der Sklavenhändler und Sklavenbesitzer gegen eine kulturelle und sprachliche Bindung, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit einer Flucht oder von !Aufständen geringer wurde. Durch den Handel und häufigeren Verkauf von Sklaven an andere Besitzer wurde eine völlig heterogene versklavte Bevölkerung herausgebildet. Ihre Kommunikation wurde zudem aufgrund der riesigen Entfernungen von einer Plantage zur anderen und sprachlichen Barrieren auch gegenüber anderen Sklaven extrem erschwert, was wiederum einen Zerfall der verschiedenen afrikanischen !Sprachen bzw. Dialekte provozierte (Glottocid). Die Sklaven mußten sich nämlich auf Portugiesisch verständigen. Alltag der Sklaverei: Nach ihrem Erwerb wurden die Sklaven in die »fazendas« (= Großplantagen) oder »engenhos de aÅucar« (=Zuckersiedereien) gebracht, die selten direkt an der Küste lagen. Angekommen wurden ihnen die prekär ausgestatteten »senzalas« (= Sklavenhütten) zugewiesen und sie wurden dann in den verschiedenen Arbeitssektoren eingesetzt. Sie übten alle grundlegenden Tätigkeiten in der Kolonialgesellschaft und während des Kaisertums aus, wie Roder, Viehhüter, Amme, Pajen, Straßenhändlerin, Leibwächter, Sämänner, Ernetearbeiter, Hafenarbeiter, Müllarbeiter, !Soldaten, etc.; mehr als 90 % von ihnen wurden in der Agrarwirtschaft eingesetzt und die übrigen meistens als Haussklaven, bzw. in den Städten. Im XVIII. Jh. zur Zeit der Hochblüte des Minerationszyklus in Minas Gerais arbeiteten die Sklaven z. B. als Gold- und Diamantensucher in den Minen, aber auch als Maurer, Schreiner, Schmiede, Bildhauer (vgl. z. B. Aleijadinho, 1730 – 1814), Maler, etc. bei dem Bau der zahlreichen kolonialen Bauten und (Kolonial-)Barockkirchen dieses und anderer Bundesstaaten. Die afrikanischen Sklaven in Brasilien, deren Situation in vielen Aspekten mit der in einem Konzentrationslager verglichen werden kann, litten in allen Wirtschaftssektoren unter extrem schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen. Sie waren schlecht- und fehlernährt, besaßen unzureichende Bekleidung, wohnten in kleinen, schlecht gelüfteten »senzalas« unterhalb des Lebensnotwendigen und hatten eine ununterbrochene Arbeitszeit von 14 und 16 Stunden täglich (innerhalb der Erntezeit dauerte die Arbeit auch stundenlang in die Nacht hinein). Sie hatten oft unter einem gewalttätigen »Feitor« (= Sklavenbeaufsichtiger) zu leiden, und dies häufig sieben Tage in der Woche. Bohnen, Mais, Maniok und, selten, getrockenes Fleisch waren Teil des Hauptgerichtes ihrer rationierten Ernährung, die häufig von ihren Besitzern nur einmal am Tag geliefert wurde. In den Städten mußten sie sich diese auch noch selbst verdienen

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(zu den »escravos de ganho« in der Stadtsklaverei, vgl. Nogueira da Silva,1988). Ebenfalls ungenügend war ihre Bekleidung. Auch Schuhe oder irgendeinen Schutz für die Füße besaßen sie nicht, da dies den Sklaven verboten war (auch den Sklavenschustern!). Dieses Verbot hing unmittelbar mit ihrem Sklavenstatus in der Gesellschaft zusammen (vgl. die Bilder von Debret und Rugendas; Lopes, 2006:153). Die Wohnverhältnisse der Sklaven (senzalas) waren ebenfalls äußerst prekär. Sie mußten mit vielen anderen zusammenleben in engen aus Lehm gebauten und oftmals fensterlosen, schlecht belüfteten und mit Stroh bedeckten Hütten, die oft nachts – vom »Feitor« – abgesperrt wurden. Sie schliefen direkt auf dem Boden oder auf Matten ohne jegliche Decken. Als unhygienisch, feucht und weit unterhalb der zumutbaren Grenze charakterisierten diese Verhältnisse viele Reisende und Ärzte (!Reiseberichte, !Gesundheit). Alle diese Faktoren haben stark dazu beigetragen, daß die Arbeitsfähigkeit eines Sklaven insgesamt nicht mehr als 10 Jahre beitrug. Die »Entwertungsrate« eines produktiven Landsklaven betrug ca. 6 % im Jahr, das bedeutete, daß sein Wert und seine Arbeitsfähigkeit in 10 Jahren bereits auf ca. 60 % abgesunken war. Der Austausch eines »abgenutzten« Sklaven durch einen neuen war deshalb in diesem Sklaverei-System die Regel. Ein anderer bedeutsamer Teil des Sklavensystems war die Ausübung von harten physischen und daraufhin psycho-sozialen !Strafen. Durch den Erwerb eines Sklaven bekam der Besitzer die Macht über sein Leben und seinen Tod. Der Besitzer besaß das uneingeschränkte Recht einen Sklaven wieder zu verkaufen (durch Bargeld, Kredit oder Hypothek), zu vermieten, zu verschenken, zu verleihen, als Erbe zu hinterlassen, zu bestrafen und sogar zu töten. In der Regel blieb er nach solchen Greueltaten straffrei bzw. wurde vom Staat sogar geschützt (über die Sklaverei betreffende Gesetzgebung, vgl. z. B. Scis†nio, 1997:189 – 231). Die harten Bestrafungen fungierten als konstitutiver Teil dieses Systems (wie auch anderer totalen Systeme), wobei sie vor allem als Abschreckung und angsterzeugend wirken sollten, da sie häufig auf öffentlichen Plätzen (»pelourinho«, vgl. z. B. Scis†nio, 1997:273; Lopes, 2006:132 f) durchgeführt wurden. Diese Strafen wurden in der Regel von einem »Feitor« oder einem anderen Sklaven durchgeführt, in anderen Fällen auch von den Besitzern selbst. Durch die Bestrafung wurden die Sklaven oft verstümmelt, ermordet, mit bis zu 1.200 Peitschenhieben ausgepeitscht, in die Galeerenarbeit geschickt, durch Eisenmasken und in Hunger- oder Durstzustand gehalten, mit Brenneisen auf die Haut markiert, u. a. aber vor allem verängstigt, hilflos und erniedrigt, wie z. B. Charles Darwin (1875:65), den diese Szenen noch viele Jahre in seinen Alpträumen verfolgten, berichtet: »Ich will hier eine ganz unbedeutende Anekdote erzählen, welche mir damals stärkeren Eindruck machte als irgendeine Geschichte von Grausamkeit. Ich setzte auf einer Fähre mit einem Neger über, der

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ganz ungewöhnlich dumm war. Bei den Versuchen, mich ihm verständlich zu machen, sprach ich laut und machte Zeichen, wobei ich mit meiner Hand dicht an seinem Gesicht hinfuhr. Ich vermute nun, er glaubte, ich sei leidenschaftlich erregt und wolle ihn schlagen; denn sofort ließ er mit einem erschreckten Blick und halbgeschlossenen Augen die Hände herabsinken. Ich werde niemals mein Gefühl von Überraschung, Widerwillen und Scham vergessen, wie ich sah, daß ein großer, starker Mann sich fürchtete, einen, seiner Meinung nach, gegen sein Gesicht gerichteten Schlag auch nur abzuwehren. Dieser Mann war in einem Zustand von Erniedrigung erzogen worden, tiefer als die Sklaverei des allerhilflosesten Tieres«. Auch die Rückdeportation nach Afrika war eine Strafform (vgl. Scis†nio, 1997:287 f). Die Strafen hinterließen sowohl im Körper als auch in der Seele der Sklaven tiefe Narben und Traumen, wodurch u. a. ihr Sklaventum erkannt werden konnte. Der Widerstand: Die !Geschichte der Afrika entrissenen Sklaven ist eine Geschichte von Kämpfen und Widerständen gegen das Joch der Sklaverei und dies verstärkte sich bereits auf den »Tumbeiros« durch den !Suizid, !Banzo und die ! Aufstände bis hin zur Destabilisierung des Systems im XIX. Jh. durch ständige Flucht, !Quilombo-Bildung und Stadtrevolten. Der Suizid war einer der bewußten Formen der Sklaven sich gegen dieses System zu wehren. Durch ihren Tod nahmen sie ihren Körper, ihren Willen und ihr Dasein wieder in Besitz und erhofften sich (oftmals im Rahmen eines Reinkarnationsglaubens) dadurch in Afrika wieder frei aufzuerstehen. Selbstmord finden wir auch schon in den religiösen afrikanischen Mythen. Beispielsweise in dem Yoruba-Mythos, in dem !Xangú, der Kriegskönig, auf der Flucht sich an einem Baum aufhängt und als »Orix‚« (= Gottheit) wiederaufersteht. Es war den Sklaven bewußt, daß sie durch ihren Tod ihren Halter ruinieren konnten, weil sie der Hauptteil seines Eigentums waren. Für die kleineren Sklavenhalter bedeutete jeder Sklave ihr »lebendiges Geld«, ihre einzige finanzielle Quelle. Es kann behauptet werden, daß der Suizid sowohl als eine Form des Widerstandes und der Sabotage gegen die Besitzer anzusehen ist, auch als eine Form dem unerträglichen Sklavenleben zu entfliehen. Dies wird hauptsächlich deutlich durch die Senkung der Suizidrate bei den Sklaven und der Afro-Bevölkerung in den letzten Jahren der Sklaverei und nach ihrer Aufhebung (vgl. z. B. Stubbe, 1987:72 – 78). Die verschiedenen Formen der Sabotage, der individuellen und kollektiven Flucht, der Morde an den Besitzern und deren Familienmitgliedern, die Verbrennung der gesamten Plantage, die Bildung von Banden, die Teilnahme an politischen Bewegungen, die Stadtrevolten, Rebellionen und die Bildung von ! »quilombos« waren nur einige der wichtigsten Formen des afrobras. Wider-

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standes, der auch eine allmähliche Destabilisierung des Sklavensystems provoziert hat. Trotz der geringen Fluchtchancen nach einer Widerstandsaktion, unternahmen die Sklaven sie während des ganzen Zeitabschnittes der Sklaverei hindurch, in der Hoffnung entweder als Freie (»libertos«, vgl. Scis†nio, 1997:233) in den Städten zu leben oder einen »quilombo« zu erreichen, um dort ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Um diesen zu erreichen, mußten die Sklaven zuerst der gezielten Suche des »capit¼o-do mato« entgehen, der für das Einfangen eine Belohnung erhielt (vgl. Scis†nio, 1997:84 f, 278, 307). Die afrikanische bzw. afrobrasilianische Bevölkerung, war pausenlos in den politischen Bewegungen sowohl während der Kolonial-Zeit, als auch während des Imperiums, aktiv. Sie nahm an der holländischen Vertreibung teil, sowie an den zahlreichen in- und ausländischen Revolten und kriegerischen Auseinandersetzungen (!Soldaten). Sie artikulierte dadurch eine Partizipation, die auch auf der politischen Ebene ihren Ausdruck fand (!abolicionismo). Das XIX. Jh. war hauptsächlich durch die großen Stadtrevolten der Sklaven gekennzeichnet. In Bahia brachten die Sklaven-Aufstände die sklavenhaltende Gesellschaft ins Wanken. Seit dem Jahre 1807 begann nämlich in Salvador eine Kette von Aufständen, die im Jahre 1835 in der großen »Revolta dos MalÞs« kulminierte, bei der die Sklaven sogar die Regierung der Stadt Salvador übernahmen. Die gesetzliche Aufhebung der Sklaverei: Der englische Druck und die Verhandlungen bezüglich des Verbots des transatlantischen Sklavenhandels begannen noch unter der Regierung von König Dom Jo¼o VI. Im Jahre 1810 in Rio de Janeiro, 1815 auf dem Wiener Kongreß und 1817 in London unterschrieb die koloniale brasilianische Regierung Verträge, wobei sie sich verpflichtete stufenweise den Sklavenhandel abzuschaffen. Dies alles wurde aber nicht in die Praxis umgesetzt. Aufgrund dessen begann im Jahre 1819 die Jagd der englischen Marine auf die brasilianischen Sklavenschiffe und Händler. Für die erste brasilianische !Verfassung (1824) gab es bereits Projekte einer allmählichen Aufhebung der Sklaverei wie z. B. das des Abgeordneten Jos¦ Bonif‚cio Andrada e Silva (1763 – 1838), den man auch den »patriarca da independÞncia« nennt. Im Jahre 1826 unterschrieben Brasilien und England nochmals einen Vertrag, in dem der Sklavenhandel als Piraterie deklariert wurde. Aber erst 1831 wurde dieser Handel in Brasilien verboten mit der Absicht, daß alle Afrikaner, die nach diesem Datum als Sklaven nach Brasilien kamen, als »frei« erklärt und nach Afrika rückdeportiert werden sollten. Keine dieser Absichten wurde jedoch in die Tat umgesetzt. In demselben Jahr 1831 mußte Kaiser Dom Pedro I. abdanken und nach Portugal zurückkehren. Daß die Verabschiedung dieses Gesetzes u. a. (z. B. seine absolutistischen Tendenzen, politische und private Kontroversen, etc.) eine Rolle bei seiner Abdankung ge-

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spielt hat, steht heute fest. Seine Abdankung und Rückkehr nach Portugal markiert das Ende der ersten brasilianischen Kaiserzeit. Der brasilianischen Thron wurde seinem minderjährigen Sohn übergeben, der nach einer Regentschaft im Jahre 1840 als Dom Pedro II (1825 – 1891) den Thron bestieg. Pedro II. als ein Vertreter der stufenweisen Aufhebung der Sklaverei wurde mit starken politischen Gegenbewegungen konfrontriert. Im Jahre 1850 wurde der Sklavenimport nach Brasilien endgültig verboten. Daraufhin kam es im Jahre 1853 zur Untersagung des interprovinziellen Sklavenhandels innerhalb Brasiliens, der dennoch lange weiter klandestin praktiziert wurde. Die vollkommene Abschaffung der Sklaverei wurde extrem verzögert und nur durch partielle Aufhebungen vorangetrieben. Sklaven und Sklavenarbeit lagen tief sowohl in der Mentalität der brasilianischen und portugiesischen Elite als auch in der Wirtschaftsform, daß sogar die progressiveren Stimmen lange brauchten bis sie sich gegen dieses System aufgelehnt haben und sich ab 1870 zu einer verstärkten Sklavenbefreiungsbewegung entwickelten (!abolicionismo, !Abolition). Das erste Gesetz nach dem Sklavenhandelsverbot war die »Lei do Rio Branco« (auch Lei do Ventre Livre = »Gesetz des freien Unterleibs« genannt) im Jahre 1871, das die von Sklavinnen geborenen Kinder befreite. Danach folgte 1885 die »Lei Saraiva-Cotegipe« (auch »Lei do Sexagen‚rio« genannt), wonach alle über 65-jährigen Sklaven ihre Freiheit erhielten. Dieses Gesetz trug entscheidend zur Benachteiligung der alten Sklaven bei. Diese wurden nämlich von ihren ExHerrn auf die Straße gesetzt und mußten nun für ihren Unterhalt selbst sorgen. Sie boten sich als »freie Sklaven« (escravos livres) an, in einem alters- und kräftebezogen vollkommen ungerechten Konkurrenzverhältnis. Am Ende ihres Sklavenlebens mußten sie als »freie« Menschen betteln, hungern und erniedrigende Arbeiten verrichten. Während einer Reise des amtierenden Kaisers nach Europa, unterschrieb seine Tochter und Thronerbin, die regierende Prinzessin Isabel (1846 – 1921), die »Lei Aurea« (=Goldenes Gesetz) im Jahre 1888 (vgl. ! Abolition, !Anhang). Brasilien war das letzte amerikanische Land (vgl. engl. Antillen: 1833; frz. Antillen: 1848; dän. Kolonien: 1848; Venezuela: 1854; niederl. Kolonien: 1863; USA: 1865; Kuba: 1870), in dem die Sklaverei abgeschafft wurde. Aufgrund dessen traten viele Sklavenbesitzer aus Protest zu der 1870 gegründeten Republikanischen Partei über, was zweifelsohne grundlegend zur Ausrufung der ersten brasilianischen Republik im Jahre 1889 und zur Verbannung des Kaisers und dessen Familie beitrug. Festzustellen ist, daß gleich nach der Aufhebung des Sklavensystems, das der Wirtschaft zugrunde lag, auch das politische System zusammenbricht, ein Beweis, daß die brasilianische Monarchie wie keine andere mit der Sklaverei eng verbunden und von ihr abhängig bzw. auf ihr gegründet war. Dieses letzte Gesetz brachte die völlige gesetzliche Aufhebung der afrikanischen Sklaverei im gesamten brasilianischen Territorium, obwohl sich das Ziel einer neuen sozialen Eingliederung der Ex-

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Sklaven in die !Gesellschaft nicht verwirklicht hat. Diese wurden entlassen und sich selbst überlassen, obgleich sie keine Möglichkeit hatten auf dem freien Arbeitsmarkt (z. B. gegenüber den Immigranten) zu konkurrieren. Sie wurden zwar von ihren Ketten befreit, aber keineswegs konnten sie diese Freiheit ausüben. Die gesamte, die Sklaverei betreffende Gesetzgebung, hat Scis†nio (1997:189 – 231) akribisch zusammengestellt. Die Legislation regelte alle Aspekte des Sklavenlebens, nicht nur den Sklavenhandel, sondern auch die Klassifizierung der Sklaven, den Militärdienst, das Zivilregister, die !Strafen, die ! Abolition etc. (vgl. auch Chaia, 1974; Santos, 1977). Aufgrund vieler Übereinstimmungen (»Vernichtung durch Arbeit«, Entzug der Menschenwürde/Entmenschlichung, Rechtlosigkeit, Terror, !Rassismus, Vernichtungs-zahlen etc.) wurde die Sklaverei von einigen Autoren mit dem Holocaust und !Genozid im 20. Jh. verglichen (vgl. z. B. Lopes, 2006:78). Ein solcher Vergleich ist jedoch nur bedingt möglich, da es sich in dem einen Fall um ein ausbeuterisches (Sklaven-)Wirtschaftsystem handelte und im anderen um eine »totale Institution« (mit industrieller Tötung) eines totalitären Staates mit einer nationalsozialistischen Rassen-Ideologie unter Kriegs-bedingungen.

Sklaverei in der Gegenwart: S. ist der Zustand völliger rechtlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit eines Menschen (Sklave), der Eigentum eines anderen Menschen (Sklavenhalter) ist. Im antiken Ägypten ist S. seit etwa 2300 v. Chr. nachweisbar. Im antiken Griechenland gab es erst seit dem 6. Jh. v. Chr. Sklavenhandel größeren Stils. Auch im Römischen Reich nahm die S. im 2. Jh. v. Chr. erheblichen Aufschwung. Im Herrschaftsgebiet der Araber und des Islams in Afrika war die Sklaverei seit dem 7. Jh. bereits weit verbreitet (vgl. Murray, 1987; N’Diaye, 2011). Im Zeitalter der Entdeckungen erhielt die S. einen neuen Auftrieb. In den (ehemaligen) Kolonien wurde die S. erst seit der Neuzeit d. h. ab der frz. Revolution (1789) abgeschafft: 1865 in den USA (13. Zusatz in der us-amer. Verfassung), 1888 in Brasilien etc. Der Völkerbund in Genf verfasste noch im Jahre 1926 eine Antisklavereiakte. In der Menschenrechtskonvention der UN von 1948 wurde die S. verboten. Verhängnisvoll wirkte sich in der westlichen Welt die von Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) vertretene »Lehre von der Naturgemäßheit der S.« aus (zur antiken Sklaverei, vgl. »Politik« des Aristoteles, 1977:289ff; Link, 2002:827ff; Höffe, 2005:136ff; zu »Sklaverei und Christentum«, vgl. z. B. Schulz, 1972; Denzler & Andresen, 2004:553 – 555), die auch die Lehrmeinung und Praxis der kath. Kirche beeinflußte, weil sie im 16. Jh. zur Argumentationsgrundlage für die Unterjochung und Ausbeutung (und damit kriegerischen Vernichtung) der mittel- und südamerikanischen »Indianer« diente (vgl. Hanke, o. J., ca. 1955)

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und damit die afrikanische Sklaverei in Nord-, Süd- und Mittel-Amerika begründete. Der in Deutschland verfemte Arzt und Pazifist Georg F. Nicolai (1919:32ff) hat in seiner »Biologie des Krieges« bereits von einer »heiligen Trias Kapitalismus, Krieg und Sklaverei« gesprochen. S. ist auch heute noch grausame Realität für derzeit mindestens 27 – 30 Millionen Menschen weltweit. Anhand von Fallstudien aus Thailand, Mauretanien, Brasilien, Pakistan, Bangladesch und Indien zeigt Bales (2001), wie das Geschäft mit der Ware Mensch in einer globalisierten Wirtschaft funktioniert und warum es uns unmittelbar betrifft (z. B. wenn wir von SklavInnen hergestellte Waren kaufen) und was wir dagegen tun können (vgl. auch Torres Montenegro, 1988:68ff). Z. B. befinden sich in den Handys (celular) viele durch Sklavenarbeit erworbene Metalle. !Abolition !Aufstände und Rebellionen !Einführung !Banzo !Bibliografien !Biografien !Empregadas dom¦sticas !Genozid !Ikonografie ! Missionierung !Rassismus !Reiseberichte !Reparationen !Sklavenkindheit !Soldaten !Strafen !Suizid Aristoteles (1977): Hauptwerke. Stuttgart; H. Koster (1817): Reisen in Brasilien. Weimar (engl. Travels in Brazil. London, 1815; bras. Ausg. 1942); F. Ortiz (1916, 1996): Los negros esclavos. La Habana; W. Sombart (1928): Der moderne Kapitalismus. 3 Bd.e. (+ 2 Halbbände) München, (2. Aufl.); E. Donnan (ed.) (1930 – 1935): Documents illustrative of the history of the slave trade to America. 4. Vol.s. Washington, D. C.; G. Freyre (1933, 1969): Casa grande e senzala. 2 vol.s. Rio de Janeiro; A. Ramos (1935, 1979): As culturas negras no Novo Mundo. S¼o Paulo; J. Dornas Filho (1939): A escravid¼o no Brasil. Rio de Janeiro; A. de E. Taunay (1941): Subs†dios para a histûria do tr‚fico africano no Brasil. Anais do Museu Paulista (USP), tom. X, 2. Part. p. 1 – 311; M. Goulart (1949). Escravid¼o africana no Brasil (das origens — extinżo do tr‚fico). S¼o Paulo; L. Hanke (s.d., ca. 1955): Aristoteles e os †ndios americanos. S¼o Paulo; St. Stein (1957): Vassouras. A brazilian coffee country (1850 – 1900). Cambridge; St. Elkins (1959): Slavery : A problem in American Institutional and Intellectual Life. Chicago; M. Cardoso (1960): A escravid¼o no Brasil, como ¦ descrita pelos americanos (1822 – 1888). Revista de Histûria, N8 21, p. 139 – 163; O. Ianni (1962): As metamorphoses do escravo. S¼o Paulo; ders. (1978): Escravid¼o e racismo. S¼o Paulo; C. Fl. S. Cardoso (1962): Capitalismo e escravid¼o no Brasil meridional: o negro na sociedade escravocrata do Rio Grande do Sul. S¼o Paulo; ders. (1982): A Afro-Am¦rica: a escravid¼o no Novo Mundo. S¼o Paulo; G. Freyre (1963): O escravo nos anfflncios de jornais brasileiros do s¦c. XIX. Recife: Impr. Universit‚ria; A. Sio (1965): Interpretations of Slavery : The Slave Status in the Americas. Comparative Studies in Society and History, april, p. 289 – 308; D. B. Davies (1965): The Problem of Slavery in Western Culture. Ithaca, N. Y.; L. Hanke (Hg.) (1969): History of Latin American Civilisation. London; J. M. Turner (1970): Escravos brasileiros no Daom¦. Afro-Ýsia (Salvador), (10/1), p. 5 – 24; L. Bethell (1970): The abolition of the Brazilian slave trade. Britain, Brazil and the slave trade question 1807 – 1869. London; B. Bandecchi (1972): Legislażo b‚sica sobre a escravid¼o africana no Brasil. Revista de Histûria da USP, N8 44, p. 207 – 213; S. Schulz (1972): Gott ist kein Sklavenhalter. Zürich; J. C. Barreiro et al. (1973): ConsideraÅþes sobre o preÅo do escravo

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Soldaten In der Herausbildung des bras. Heeres (exercito), das aus dem port. Heer hervorging, spielten preussische Offiziere wie z. B. der Graf Friedrich W. von Schaumburg-Lippe (1724 – 1777) eine bedeutende Rolle. Sie wurden von dem König Dom Jos¦ I (1714 – 1777) und dem MarquÞs de Pombal (1699 – 1782) für diese Aufgaben kontraktiert. Graf von Schaumburg-Lippe hat auch die erste Militärordnung für das port. Heer geschaffen, die dann vom bras. Heer übernommen wurde, und teilweise heute noch existiert. Im Jahre 1767 wurde von Pombal als Kommandant aller Truppen auf bras. Boden der deutsche Generalleutnant des port. Heeres Jo¼o Henrique Böhm (1708 – 1783) (mit ca. 70 Offizieren, vor allem Deutsche) ernannt, der Heeresreformen durchführte, denn bis 1767 existierte kein homogenes Heer in Brasilien. Nur in Gefahrensituationen schickte bis zu diesem Datum die port. Metropole Soldaten nach Brasilien. Böhm gelang es dann ein homogenes Heer zu formen – die Basis des modernen bras. Heeres -, das sich im weiteren Verlauf, vor allem aufgrund der äußeren Kriege, wie z. B. dem Paraguay-Krieg (1864 – 1872), dem äußerst grausamen Krieg der Tripelallianz, an dem viele afrobras. Sklavensoldaten mitkämpften (vgl. Salles, 1990), immer mehr brasilianisierte. Es wurden nun auch verschiedene Spezialeinheiten des Heeres wie »engenharia militar« (Pioniere), Infanterie, Kavallerie, Artillerie wie in Europa üblich, herausgebildet. Die bras. Marine hat ihren Ursprung in der Zeit des Königs Dom Jo¼o VI. (1767 – 1826) in Brasilien. Die Kriegsmarine wurde vor allem von Engländern zur Regierungszeit Pedros I.

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(1798 – 1834) gegründet (vgl. Núvo Dicion‚rio de Histûria do Brasil, 1970:267 f, 403 f; Sodr¦, 1979; Oberacker, 1985:128 – 137). Bekannt wurde die »Revolta da chibata« bzw. »Revolta dos marinheiros« im Jahre 1910 in der bras. Kriegsmarine im Hafen von Rio de Janeiro. Chibata, auch: junco, rabo de tatu, chicote, aÅoite etc. (= Gerte zum Schlagen, Peitsche) bezieht sich auf die üblichen harten (Körper-)!Strafen innerhalb der bras. Kriegsmarine, die obwohl durch das decreto n8. 3 (16. 11. 1889) bereits abgeschafft, dennoch weiter durchgeführt wurden. Angeführt wurde diese Revolte von dem afrobrasilianischen Marinesoldaten 1. Klasse (seit 1894!) Jo¼o C–ndido Felisberto (1880 – 1969), Sohn eines Ex-Sklaven, den man später auch den »Almirante negro« nannte. Er erfuhr während einer Seereise nach Europa von dem Aufstand der russ. Marinesoldaten auf dem Panzerkreuzer Potemkin (27. 6. 1905) (vgl. den eindrucksvollen Film von Sergej M. Eisenstein, 1925, mit der berühmten »Odessa-Treppen«- Szene!) und den Erfolgen der engl. Marinegewerkschaften. Die Revolte, deren Ziel u. a. die Abschaffung der (an die Sklavenzeit erinnernden) Körperstrafen war, wurde jedoch durch Vertragsbruch der bras. Regierung niedergeschlagen und die Aufständischen (ca. 70) eingekerkert. Nur 10 von ihnen überlebten die Torturen und Folter (vgl. Núvo Dicion‚rio de Histûria do Brasil, 1970:132 f, 514; Lopes, 2006:85 f). Jo¼o Candidos Denkmal steht heute am PÅa. XV in der Nähe der Anlegestelle der Fähren von Rio de Janeiro nach Niterûi. Beerdigt wurde er einfachst (»numa cova rasa«) auf dem Friedhof S¼o Francisco Xavier (vgl. Núvo Dicion‚rio de Histûria do Brasil, 1970:132 f, 514; Morel, 1979; Lopes, 2006:85 f). Ein mutiger bras. Held! Afrobras. Sklavenarmeen spielten bereits bei der Vertreibung der Holländer aus dem Nordosten Brasiliens (1630 – 1654) eine wichtige Rolle. Die zentrale Bedeutung, die afrobras. Sklaven-Soldaten während des langen blutigen Paraguaykrieges nicht nur bei der Bildung des brasilianischen Heeres gespielt haben, sondern auch im !»abolicionismo«, hat Salles (1990) klar herausgearbeitet. Bei Werneck Sodr¦ (1979) und Lopes (2003, 2006) findet sich eine Vielzahl von ! Biografien bekannter afrobras. Soldaten, Kämpfer und Revolutionäre, wie z. B. !Zumbi, Marschall Jo¼o Batista de Matos (1900 – 1969; der einzige afrobras. General seiner Zeit!), Domingo Fernandes Calabar (1660 – 1635; der auf Seiten der Holländer kämpfte) oder der Revolutionär Carlos Marighela (1911 – 1969) (vgl. Rebeldes brasileiros, 2008) etc., sowie Informationen über afrobras. militärische Einheiten wie das »Batalh¼o dos Libertos do Imperador« (1823), die »Unidades militares ¦tnicas«, »Zuavos baianos« (1865) oder die »Volunt‚rios da p‚tria« (1865). !Aufstände und Rebellionen !Canudos U. Peregrino (1968): O ex¦rcito atrav¦s da formażo brasileira. Anais do Museu Histûrico Nacional, vol. XX, p. 99 – 124; Cl. Moreira Bento (1976): Estrangeiros e descendentes na

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histûria militar do Rio Grande do Sul. Porto Alegre; N. Werneck Sodr¦ (1979): A histûria militar do Brasil. S¼o Paulo; E. Morel (1979): A revolta da chibata. Rio de Janeiro; B. Moltmann (1981): Militär zwischen Politik und Profession. Die bras. Streitkräfte 1880 – 1910. Mettingen; M. J. Maestri Filho (1982): 1910: a revolta dos marineiros, uma saga negra. S¼o Paulo; T. Thomas (1985): Brasilianische Militärherrschaft (1964 – 1979). Mettingen; J. Chiavenato (1988): As lutas do povo brasileiro do »descrobrimento« a Canudos. S¼o Paulo (10.ed.); J. A. Drumond (1990): O ex¦rcito e a sustentażo da escravid¼o no Brasil. Estudos sobre a escravid¼o (Niterûi-ICHF), p. 66 – 107; J. L. Prata de Sousa (1990): La Guerra del Paraguay en el contexto de la esclavitud brasilieÇa. M¦xico: UNAM; R. Salles (1990): Guerra do Paraguai: escravid¼o e cidadania na formażo do ex¦ricito. S¼o Paulo; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; Rebeldes brasileiros (2008): Os inimigos nfflmero 1 da ditatura militar. Caros amigos de bolso. S¼o Paulo

Sozialpsychologie Eine Geschichte der Sozialpsychologie in Brasilien ist erst ansatzweise bearbeitet worden (vgl. etwa Azevedo, 1955; Ferri & Motoyama, 1979ff; Becco, 1981; Ramos, 1995; Stubbe, 2001). Bereits in den ersten !Reiseberichten aus dem Zeitalter der Entdeckung Lateinamerikas finden sich hochinteressante sozialpsychologische Beobachtungen (vgl. Andrade, 1941; Fernandes, 1958; Baldus, 1954ff), die bisher für die sozialwissenschaftliche Forschung noch wenig genutzt wurden. Weil in Lateinamerika und ganz besonders in Brasilien eine Vielzahl von Ethnien, Religionen und Kulturen koexistieren, kann Sozialpsychologie nicht ohne Sozial-Anthropologie betrieben werden. Aus dieser wissenschaftlichen Zusammenarbeit sind bereits eine Fülle hochbedeut-samer Arbeiten von lateinamerikanischen Sozialpsychologen vorgelegt worden, die jedoch von der europäischen und nordamerikanischen Forschung bisher weitgehendst ignoriert wurden (vgl. Stubbe, 1987, 2001, 2012). Schon die ersten Studien des Psychiaters Nina Rodrigues (1862 – 1906) über die Afrobrasilianer und die Kollektiv-Psychose der !Canudos (1898) enthalten eine massen-psychologische Konzeption französischer Prägung. In seinen Arbeiten »Epid¦mie de folie religieuse au Br¦sil« (1898), »Loucura epidemica de Canudos. Antúnio Conselheiro e os jagunÅos« (1897), »La folie des foules – Epid¦mie de folie religieuse« (1901) und »As coletividades anormais« (1939) gibt Rodrigues eine massenpsychopathologische Interpretation der Sertanejo-Bewegung (= Canudos) um Antúnio Conselheiro (1828 – 1897), die im Jahre 1897 von den Republiktruppen niedergemetzelt wurde. Conselheiro hatte im Inneren Bahias versucht eine religiös inspirierte Sozial-Utopie zu verwirklichen. Berühmt wurde dieser langandauernde und blutige Kampf im »Sert¼o« durch Euclides da Cunha (1866 – 1909), der diesem historischen Er-

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eignis ein grundlegendes Meisterwerk der brasilianischen Literatur »Os Sertþes« (1902) widmete, das erst 1994 von Berthold Zilly ins Deutsche übersetzt wurde. Als Berichterstatter der Tageszeitung »O Estado de S¼o Paulo« hatte da Cunha die Schlußphase dieser zwölfjährigen Auseinandersetzung zwischen den Regierungstruppen und den Sertanejos selbst miterlebt (vgl. »Canudos. Di‚rio de uma expediÅao«, posthum, 1939). In den ersten beiden der drei Teile des Werkes »Os Sertþes« (a terra, o homem, a luta = die Erde, der Mensch, der Kampf) untersucht da Cunha die geographischen, »rassischen«, gesellschaftlichen historischen Determinanten des Konflikts. Er analysiert mit kritisch-wissenschaftlicher Gelehrsamkeit das rauhe Milieu, in dem charismatische Führer vom Typ des »Conselheiro«, den seine Anhänger als einen neuen Messias verehrten, sich durchsetzen konnten. Als eine der tiefsten Wurzeln des Konflikts erkennt da Cunha die Irrtümer der portugiesischen Kolonialpolitik, die sich auf die Besiedlung der Küstenstriche Brasiliens beschränkte und damit einen ökonomischen und kulturellen Abgrund zwischen »litoral« (Küste) und »sert¼o« entstehen ließ. Durch eine eingehende Analyse der soziologischen und psychologischen Voraussetzungen versucht er nachzuweisen, daß die !»jagunÅos«, die der Conselheiro um sich scharte und in denen man gefährliche politische Feinde der erst jungen Republik zu erkennen glaubte, in Wirklichkeit nur die Opfer der Unkenntnis und Verständnislosigkeit der Eliten Brasiliens gegenüber den Verhältnissen im Landesinneren waren. In diesem Sinne versuchte dann auch Rodrigues die ihm fremd und archaisch anmutenden Sozialkonflikte zu psychiatrisieren und die Handelnden als »Geisteskranke« darzustellen (vgl. Moniz, 1987; Stubbe, 1998). Der Psychiater, Anthropologe und Sozialpsychologe Arthur Ramos (1903 – 1949) wandte als erster die österreichische Psychoanalyse auf Phänomene der afrobrasilianischen Kultur an. Ramos wirft Nina Rodrigues Position vor, daß sie von den Theoretikern der Rassenungleichheit wie Gobineau (1816 – 1882) (der sich 1869/70 als frz. Botschafter in Brasilien aufhielt und eine aufschlussreiche Korrespondenz mit Kaiser Dom Pedro II führte; vgl. Raeders, 1997) und Lapouge imprägniert sei (Ramos, 1951: 18). Die These von der biologischen Inferiorität der Afrobrasilianer ersetzte er dann aber unglücklicherweise durch die ebenso fragwürdige These von ihrer vermeintlichen kulturellen Inferiorität. Auch sündigte er indem er die ethnozentrische Theorie des prälogischen Denkens von L¦vy-Bruhl (1857 – 1939) übernahm (vgl. etwa Ramos, 1951:295). Wollten Rodrigues und Oliveira Vianna die Übel der »biologischen Inferiorität« in Brasilien durch ein »embranquecimento« (Weißmachung) bekämpfen, sah Ramos die Lösung in der Herstellung einer »verdadeira cultura«, in der die prälogischen Elemente durch rationale ersetzt würden (vgl. Ramos, 1951: 296). Im Jahre 1936 publizierte Ramos eine »Introdużo — psicologia social«, in der im großen und ganzen die Ergebnisse und Theorien der europäischen und nord-

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amerikanischen Sozialpsychologie jener Zeit referiert werden. Es ist auffallend, daß Ramos vor allem französische und deutsche Literatur in den Originalsprachen zitiert. In seiner Sozialpsychologie findet sich auch die erste Rezeption der »topologischen Psychologie« Kurt Lewins (1890 – 1947) in Lateinamerika (vgl. Ramos, 1936: 250ff; Stubbe, 2001). Was die Häufigkeit der zitierten Psychologen in Ramos Sozialpsychologie angeht, so ist es bemerkenswert, daß von diesen 196 Titel 33,2 % in deutscher, 28,1 % in französischer, 27,0 % in englischer und 11,7 % in brasilianischer Sprache verfaßt sind. Ein Jahr früher als Ramos Sozialpsychologie erschien die erste systematische Sozialpsychologie des frz. Arztes Raul Briquet. Briquet lehrte zu jener Zeit als Sozialpsychologe an der renommierten »Escola Livre de Sociologia e Politica de S¼o Paulo« (gegr. 1933), an der eine Vielzahl von ausländischen Sozialwissenschaftlern wie z. B. die Franzosen R. Bastide, Cl. L¦vi-Strauss, die Nordamerikaner D. Pierson, H. S. H. Lowrie und die Deutschen E. Willems und H. Baldus unterrichteten. Briquet’s sozialpsychologische Einführung »Psicologia social« basiert auf seinen Vorlesungen an der »Escola Livre« im 2. Semester des Jahres 1933. Die theoretische Orientierung Briquet’s läßt sich an der Häufigkeit der zitierten Psychologen deutlich ablesen. Hinsichtlich der sprachlichen Herkunft der zitierten Psychologen ergibt sich folgendes Bild: 50 % angloamerikanisch, 19,4 % deutschsprachig, 19,4 % französisch, 2,8 % griechisch, 2,8 % italienisch, 2,8 % russisch und 2,8 % brasilianisch. In einem eigenen Kapitel behandelt Briquet den »guestaltismo« (Gestaltpsychologie) deutscher Provenienz, sowie den nordamerikanischen »bieviorismo« (p. 27 – 44). Diese Darstellung der beiden psychologischen Strömungen gehört zu den ersten in Lateinamerika überhaupt (vgl. Stubbe, 2001). 1959 erschien in Brasilien die Übersetzung von Otto Klineberg’s »Social Psychology« (1957). O. Klineberg (*1899) hatte von 1945 bis 1947 in S¼o Paulo gelehrt (s. oben). In den USA befasste er sich mit Fragen der »Rassendifferenzen« (1935), der Charakteristiken der nordamerikanischen Schwarzen (1944), der Intelligenz der Afroamerikaner (1944), der Intelligenz der Migranten (1936), des emotionalen Ausdrucks in der chinesischen Literatur (1938) etc. und war deshalb an den brasilianischen Verhältnissen interessiert. An verschiedenen Stellen seines Werkes geht er auch auf ethnologische Studien in Brasilien ein (Kaingang, p. 131; bras. »Indianer«, p. 191), behandelt die Religiosität (p. 454 f), die psychiatrischen Krankheiten (p. 476), den !»candombl¦« (p. 483) und seine Bedeutung für die Pathoplastik, die im Vergleich zu den USA geringeren »Rassenvorurteile« den Schwarzen gegenüber in Brasilien (p. 595) und die größeren wirtschaftlichen Frustrationen der Brasilianer im Vergleich zu den USAmerikanern (p. 598), was jedoch nicht zu Ausschreitungen gegenüber den Afrobrasilianern führe, wie das aus den USA bekannt ist (!Sündenbockrolle). Insgesamt gesehen ist Klineberg’s Sozialpsychologie dennoch vorwiegend aus

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einer nordamerikanischen und damit ethnozentrischen Perspektive geschrieben worden, die den spezifischen sozialpsychologischen Problemen Brasiliens in keiner Weise Rechnung trägt. Wertvoll ist jedoch, daß Klineberg die brasilianischen Psychologen mit dem Stand der (differentiellen) Sozialpsychologie in den USA der 50er Jahre bekannt gemacht hat. Brasilien ist seit seiner Unabhängigkeit ein typisches Einwanderungsland gewesen (vgl. z. B. Carneiro, 1948; Cúrtes, 1954; La emigraciûn europea a la Am¦rica Latina, 1979). Aniela Meyer-Ginsberg (PUC-SP) (1902 – 1986) hat der psychologischen Problematik der Immi-gration und internen Migration in Brasilien eine großangelegte Untersuchung gewidmet (vgl. Meyer-Ginsberg, 1964). Sie untersuchte 179 Immigranten und 604 brasilianische Migranten mit verschiedenen Verfahren (Rorschach, Raven, TAT mit speziell für die Untersuchung entwickelten 7 Bildertafeln). Hinsichtlich der Eingewöhnung unterscheidet sie 6 verschiedene Adaptationsgrade (positiv angepaßte Typen: C, D, E, negativ angepaßte Typen: B, A1, A2). Meyer-Ginsberg, die selber die Problematik der Immigration aus eigener Erfahrung (sie wurde in Warschau geboren) kennengelernt hatte, macht in dieser umfangreichen Untersuchung auch Vorschläge zur Verbesserung der Adaptation der Migranten und Immigranten. Akkulturationsstudien dieser Art sind von großer Bedeutung in der bras. Sozialpsychologie, denn in allen lateinamerikanischen Ländern lassen sich Prozesse der Kulturübernahme, Kulturanpassung und der Erwerb von Elementen einer fremden Kultur (!Akkulturation) gut beobachten. Dieser Vorgang des Kulturwandels wurde positiv als »soziale Evolution« bzw. als »Modernisierungsprozeß« und als »Höherentwicklung/Fortschritt« gedeutet oder als ein kultur-destruktiver Vorgang. Letzteres gilt z. B. für die Indianerkulturen Lateinamerikas, die »traurigen Tropen« Claude L¦vi-Strauss. Es waren denn auch vor allem Völkerkundler, Ethnosoziologen und Folkloristen, die sich mit diesen sozialpsychologischen Fragestellungen beschäftigt haben (vgl. Baldus & Willems, 1939; Ribeiro, 1987; Schaden, 1980; Fernandes, 1958; CorrÞa, 1987; Stubbe, 1987, 2001, 2012). Der Kolumbianer Gerardo Mar†n gab 1975 einen Sammelband über »La psicolog†a social en Latinoam¦rica« heraus, der auch Aufsätze brasilianischer Psychologen enthält. Aroldo Rodrigues behandelt darin die Fragen der »interrassischen« Ehen (wir sprechen heute von !bikulturellen, interethnischen oder binationalen Ehen) und das Vorliegen von Rassen- und Klassenvorurteilen in Brasilien. Die Frage, ob die !Hautfarbe ein wichtiger Faktor in der Ehe sei, wurde von einer nichtrepräsentativen Stichprobe in Rio de Janeiro zu 60 % teilweise oder völlig bejaht. Die gleiche Frage im Hinblick auf die Bedeutung der Klasse bejahten 76 % völlig oder teilweise. Rodrigues schließt daraus (vielleicht etwas vorschnell), daß das Klassenvorurteil in Brasilien bedeutungsvoller sei als das Rassenvorurteil. Außerdem finden sich in diesem Sammelwerk auch eine

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Untersuchung zur Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger (Rodrigues, 1975: 109ff) und eine Arbeit zur Angewandten Sozialpsychologie in Brasilien (Varela, 1975: 241ff). Das bekannteste sozialpsychologische Lehrbuch in der Gegenwart »Psicologia social« stammt von dem o.g. Sozialpsychologen Aroldo Rodriques (1972; 1980ff), der der Festinger-Schule entstammt. Es liegt heute bereits in über 10 Auflagen vor und dient vor allem als Textbuch für die Graduiertenausbildung. Es ist in zwei sich ergänzende Teile gegliedert: der erste Teil behandelt das Konzept der Sozialpsychologie, ihre Geschichte, Methoden und Theorien. Der zweite Teil gibt eine Einführung in die wichtigsten aktuellen Themen und Anwendungen der Sozialpsychologie wie soziale Wahrnehmung, Einstellungen, Entscheidungen, Aggression, Gewalt, Altruismus, Konformismus etc. Die Analyse der Bibliographie macht die völlig nordamerikanische Orientierung des Werkes deutlich: 91,8 % des zitierten Schrifttums entstammt der nordamerikanischen Sozial-Psychologie (0,47 % lateinamerikanisch-spanisch; 0,47 % französisch und 0,23 % deutsch, d. h. ein Titel von K. Lissner aus dem Jahre 1933). Auch die Analyse der in Rodrigues Sozialpsychologie zitierten Autoren macht deutlich, daß es sich eigentlich um ein »nordamerikanisches« Lehrbuch der Sozialpsychologie handelt. Rodrigues hatte 1966 in den USA über »The psychologic of interpersonal relations« (Los Angeles: University of California) promoviert und lehrte danach an verschiedenen Universitäten Rio de Janeiros. Es ist sehr verwunderlich, daß Rodrigues nicht auf die afrobrasilianischen Studien A. Ramos, M. Augras, R. Bastide und vieler anderer eingeht, daß er die bedeutenden Arbeiten der brasilianischen Soziologie (z. B. Freyre, Fernandes, Ianni, Azevedo, Ramos etc.) mit keinem Wort erwähnt, daß er keinerlei Beziehungen zur hochentwickelten brasilianischen Sozialanthropologie herstellt und daß er sozialpsychologische Grundfragen der brasilianischen Gesellschaft wie Armut, Unterdrückung, Ausbeutung, Unterernährung, !Favela, Rassendiskriminierung, !(Binnen- und Im-) Migration, Urbanisation, ! Straßenkindertum, Synkretismus, Rolle der !Frau, Familie in Brasilien, u.v.a.m. nicht behandelt. Hier zeigen sich besonders deutlich die negativen Folgen einer völligen Dependenz der Psychologie in Brasilien von den USA und Europa (vgl. Stubbe, 2001). Einige spezifische sozialpsychologische Probleme der Afrobrasilianer, eine »heranÅa da escravid¼o«, können kurz folgendermassen angedeutet werden: ein von der Dominanzgesellschaft induzierter (»desqualificażo« !Diskriminierung) aus der Sklavereizeit stammender »sozialer Minderwertigkeitskomplex«, damit zusammenhängend ein mangelndes Selbstwertgefühl (»auto-estima«), negative rassistische Einstellungen (Vorurteile, Stereotype; »preconceito de marca«, O. Nogueira) gegenüber Afrobrasilianern, ihre »invisibilizażo« und fehlende »participażo« in vielen Bereichen der Gesellschaft, die kulturelle »desafricanizażo« seit der Sklavereizeit, die Diskriminierung interetnischer

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Partnerschaften und Ehen, die induzierte Opferrolle im Kontext eines »prinzipiellen Verdachts«, die Verleugnung eigener Werte, wie bspw. das Verheimlichen der praktizierten afrobrasilianische Religion, Deplazierung auf unterschiedlichen Ebenen, u.v.a.m. !Canudos !Diskriminierung !Einführung !Exklusion !empregada ! Gesellschaft !Nationalcharakter !Politik !Rassismus !Sprichwörter ! Stereotype !Sündenbockphänomen !Vorurteil Fr. J. de Oliveira Vianna (1921): Pequenos estudos de psicologia social. Rio de Janeiro; A. Ramos (1936). Introdużo — psicologia social. Rio de Janeiro; H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Berlin; ders. (1998): Die sozioreligiöse Bewegung von »Canudos« – eine bras. Kollektivpsychose? Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie, Jg.4, N8 4, S. 89 – 108 (bebildert); ders. (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn (ausführl. Bibliografie); ders. (2012): Lexikon der Anthropologischen Psychologie. Gießen; G. Raeders (1997): O conde de Gobineau no Brasil. S¼o Paulo; R. H. de Freitas Campos (org.) (2001): Dicion‚rio biogr‚fico da psicologia no Brasil. Rio de Janeiro

Spiritismus (bras. espiritismo) Lehre von den Beziehungen zwischen den !Geistern der Verstorbenen und lebender Personen unter der Vermittlung von !Medien. Seit etwa 1850 von den USA ausgehende und sich nach Europa verbreitende Bewegung teilw. mit den Zügen einer Mode bzw. einer psychischen Epidemie. Über Medien werden Beziehungen zu den Geistern Verstorbener hergestellt, die evtl. ganze Bücher diktieren (automatisches Schreiben), Bilder malen (automatisches Malen) etc. Über die indirekte Erschließung neuer Zugänge zur Psyche entstanden wesentliche Anregungen für die (Tiefen-)Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie. Gegenwärtig in verschiedenen Ländern der sog. Dritten Welt z. B. in Brasilien in Form des »Kardecismo« (vgl. Jacintho, 1982) in Kultgruppen betriebene Form der Religion bzw. Ethnotherapie Beispiel: Spiritistische Therapie in Brasilien um 1900 »Als die 2. und endgültige Ausgabe des Buches »Livres des Esprits« (1860) von Allan Kardec (1804 – 1869) ihre Reise vom schneereichen Nordfrankreich ins tropische Brasilien machte (wo sie weit über 60 Auflagen mit über einer Million Exemplaren erreichte), bestand hinsichtlich der spiritistischen Kosmogonie Klarheit darin, daß Geister keine Ratschläge über Gesundheit geben können. Aber noch die erste Ausgabe (1857) hatte genau das Gegenteil behauptet. Kardec’s Frage Nr. 245: »Les esprits peuvet-ils donner des conseils sur la sant¦?«

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wurde eindeutig mit »Oui« beantwortet und damit begründet, daß »la sant¦ est une condition n¦cessaire pour la mission que l’on doit remplir sur la terre; c’est pourquoi ils s’en occupent volontiers.« Kardec selbst vertrat mit Enthusiasmus die Ansicht: »La connaissance que les esprits sup¦rieurs ont des lois de la nature leur permet de donner d’utiles conseils sur la sant¦, et de fournir sur la cause des maladies et sur les moyens de gu¦rison des indications qui laissent bien loin en arriÀre la science humaine.« (Kardec, 1957: 104) Einzig in seinem Buch »O livro dos m¦diuns« (1961, cap. 14, 7) behandelt Kardec außerdem noch die Frage der spritistischen Heilung. Es sollte Aufgabe des brasilianischen Arztes Dr. Adolfo Bezerra de Meneses Cavalcanti (1831 – 1900) sein, diesen therapeutischen Aspekt des aus Frankreich importierten Spiritismus in Brasilien fortzuentwickeln. Man nennt ihn deshalb auch den »brasilianischen Kardec«. Bezerra beschreibt die »desobsess¼o« als eine neue Behandlungsmethode für psychisch Kranke, die empirisch begründet und an der Pariser Psychologie-Schule orientiert sei. In seinem Hauptwerk »A loucura sob o novo prisma« (1897) stellt er seine »terapÞutica magn¦tico-convulsiva« im Einzelnen vor. Bezerra hatte etwa 30 Jahre in Rio de Janeiro als Arzt praktiziert (von 1852 – 1882) und auch hohe politische Ämter (z. B. als Präsident der C–mara Municipal do Rio de Janeiro 1880) bekleidet. In den 80er Jahren wendet er sich immer stärker dem Spiritismus zu. Diese Hinwendung hatte verschiedene Wurzeln. Bezerra entstammte der ruralen Kultur des Nordostens (Fortaleza), die man »spiritualistisch« nennen könnte. In dieser Region gab es damals noch eine stärkere Verbindung mit indianischen Kulturen, in denen bekanntlich eine Inkorporation von Tiergeistern in Zusammenhang mit !Initiation, Medizinmannwesen (paj¦) und anderen religiösen Festen üblich ist (vgl. auch Catimbû). Außerdem hatte der französische Spiritismus in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. vor allem in den brasilianischen Städten eine starke Verbreitung gefunden. Schließlich wohnte zu Bezerras Lebzeiten in Rio de Janeiro eine sehr gemischte Bevölkerung: Afrikaner, ehemalige Sklaven, Europäer, interne Migranten aus dem Inneren und Norden Brasiliens etc. Dies alles begünstigte außerordentlich die Entwicklung des Spiritismus und synkretistischer Phänomene. Wichtig ist auch die Tatsache, daß sich die rapide Entwicklung des Spiritismus in Brasilien vor dem Hintergrund des Sturzes der Monarchie (1889) und der Sklavenbefreiung (1888) abspielte, Ereignisse, die beträchtliche soziale und ökonomische Veränderungen in der Gesellschaft und damit verbunden auch eine kollektive Orientierungslosigkeit auslösten. Die Zeitungen waren damals voll von Nachrichten über die (angeblich) steigende Inzidenz psychischer Krankheiten. In dieser Umbruchszeit, der Dekade von 1890, besuchten immer mehr »cariocas« (= Einwohner Rio de Janeiros) aller sozialen Schichten spiritistische Sitzungen und machten sie salonfähig. Während Sigmund Freud (1856 – 1939) im Jahre 1895 und später seine be-

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rühmte ätiologische Theorie der Hysterie vorstellte, die auf 18 klinischen Fällen basierte, berichtete Bezerra, sich auf Esquirol (1772 – 1840), Charcot (1825 – 1893) und Bernheim (1840 – 1919) berufend, über mehr als 20 mit seiner »t¦cnica magn¦tico-convulsiva« (desobsess¼o) erfolgreich behandelte Fälle. Die Genese der Hysterie wird nach dieser Konzeption außerhalb des Patienten lokalisiert, der einen »Preis« zahlen muß für seine in einem früheren Leben begangenen Untaten (Reinkarnationslehre). Die spiritistische Therapie dieser Fälle von »histeria obsessiva« (Hysterie durch Besessenheit) besteht nun darin, daß über ein Medium einem desinkarnierten Geist psycho-moralische Kräfte verliehen werden, die ihn zwingen, von seinem Opfer, dem Patienten, abzulassen. Bezerra de Meneses sah seine Patienten unter zwei Gesichtspunkten: einmal als Klienten d. h. als Personen, die noch nicht über genügend spiritistisches Wissen verfügten, um den »krankmachenden« geistigen Kräften widerstehen zu können und zum anderen unter dem Aspekt des Karma, d. h. als noch nicht genügend »entwickelte« Personen um richtig/gut handeln und denken zu können. Während der therapeutischen Sitzungen inkorporierte ein Medium die persekutorische Entität (agente obsessor), indem er sie durch Konvulsionen manifestierte, d. h. das Medium inkorporierte den krankmachenden Teil eines bestimmten Patienten. Bezerra, als »chefe da sess¼o«, konnte dann den Geist befragen bzw. ihn zum Aufgeben veranlassen. Warren (1968, 1984), der sich ausführlich mit der Geschichte des brasilianischen Spiritismus befaßt hat, kommt zu dem Ergebnis, daß Bezerra im Rahmen seiner religiösen Weltanschauung (»Deus, Christo e Caridade«) einen Ausgleich schuf zwischen der rigorosen Prädestinationslehre Kardec’s und dem Verzeihen/ Versöhnen, das die Medien (m¦diuns receitistas) bewirken können. Bezerra übertrug grosso modo das positivistische französische System auf die brasilianische (Volks-)Religiosität. Durch seinen Status als (Armen-)Arzt gelang es ihm, seine Form der spiritistischen Therapie (in Verbindung mit der Homöopathie) zu legitimieren und erfolgreich (wie »Wunderheilungen«) anzuwenden, indem er die spontane !Trance und Hypnose mit der überdauernden Vorstellung vom Überleben und der Auferstehung der Toten kombinierte (zur Weiterentwicklung dieser therapeutischen Richtung des Spiritismus vgl. Armond, 1978; Spinu & Thorau, 1994; Urben, 1999).« (Stubbe, 2001:173 f) In Brasilien existieren heute spiritistische Ärzte- und Psychologen-Vereinigungen. !Ethnopsychotherapie !Geister !Gesundheit !Heilerinnen !Medium ! Umbanda C. Osûrio (1931): Contribuiżo para o estudo do espiritismo como fator predisponente de perturbaÅþes mentais. Revista Nova (SP), 1, p. 563 – 581; H. Bender (1960): Mediumistische Psychosen als Folge spiritistischer Praktiken. Neue Wissenschaft, 9, S. 31 – 47; B. Kloppenburg (1960): O espiritismo no Brasil. Orientażo para os catûlicos. Petrûpolis; R. Bastide (1967): Le spiritisme au Br¦sil. Archives de Sociologie des Religions, 24, p. 3 – 16;

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D. Warren (1968): Portuguese roots of Brazilian spiritism. Luso-Brazilian Review, winter, p. 3 – 18; H. Ellenberger (1973): Die Entdeckung des Unbewussten. 2 Bd.e. Bern; E. Armond (1978): Passes e radiaÅþes: m¦todos esp†ritas de cura. S¼o Paulo; H. Stubbe (1979): Zur Ethnopsychiatrie in Brasilien, Social Psychiatry, 14, 1979; ders. (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Berlin; ders. (2005): Mesmerismus in Brasilien. Martius-StadenJahrbuch (SP), Nr. 52, S. 224 – 232; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; ders (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien; R. Jacintho (1982): O que ¦ espiritismo. S¼o Paulo; M. L. Viveiros de Castro Cavalcanti (1983): O mundo invis†vel: cosmologia, sistema ritual e nożo de pessoa no espiritismo. Rio de Janeiro; Y. Pereira (1985): Memûrias de um suicida. Bras†lia; D. Hesse (1987): The many rooms of spiritism in Brazil. Luso-Brazilian Review (Madison), 24 (2), p. 15 – 34; W. F. Bonin (1988): Lexikon der Parapsychologie und ihrer Grenzgebiete. München; C. Abreu (1991): Bezerra de Menezes. Subs†dios para a Histûria do Espiritismo no Brasil at¦ o ano de 1895. S¼o Paulo (4.ed.); P. Dilthey (1995): Krankheit und Heilung im bras. Spiritismus. Der Geisterchirurg Dr. med. Edson Queiroz im Kontext spiritistisch-christlicher Medizinkultur. Münchener Amerikanistik Beiträge, 29. München; A. Pollak-Eltz (1993): Umbanda en Venezuela. Caracas; dies. (1995): Trommel und Trance. Die afroamerikanischen Religionen. Freiburg/Brsg.; J. Melo (1994): O passe. Seu estudo, suas t¦cnicas, sua pr‚tica. Bras†lia:FEB (6.ed.); A. Kardec (1857, 1997): O livro dos espiritos. Bras†lia:FEB (77. ed.); Fr. C–ndido Xavier (1996): Palavras da vida eterna, ditado pelo esp†rito de Emmanuel. Uberaba: Ed. CEC (22. Ed.); ders. (2000): Nosso lar. Rio de Janeiro; Chr. Scharfetter (1998): Okkultismus, Parapsychologie und Esoterik in der Sicht der Psychopathologie. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, 10, S. 474 – 482; M. A. Urben (1999): »Espiritismo« und Psychiatrie in Brasilien. Das »Hospital Espirita Andr¦ Luiz« in Belo Horizonte. Universität Zürich; A. Faivre (2001): Esoterik im Überblick. Freiburg/Brsg.; L. Klein Filho (2001): Bezerra de Menezes. Fatos e documentos. Niteroi; D. Sawicki (2002): Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770 – 1900. Paderborn; S. J. Stoll (2003): Espiritismo — brasileira. S¼o Paulo; I. H. Rivas (2007): Doutrina esp†rita para principiantes. Bras†lia; Filme: O espiritismo de Kardec aos dias de Hoje (DVD, Brasilien, 2004); Bezerra de Menezes. O di‚rio de um esp†rito (DVD, Brasilien, 2008)

Sport Ob die Afrobrasilianer sportlich und motorisch besonders begabt sind oder ob die bras. Gesellschaft ihnen über den Sport einen Kanal zur öffentlichen Anerkennung und zum sozialen Aufstieg eröffnet und hierbei ökonomische Faktoren von Bedeutung sind, ist in der Forschung umstritten. Möglicherweise ist beides im Spiel. Lopes (2006:21) argumentiert bzgl. der sportlichen Begabung der Afrobrasilianer folgendermassen: sie scheine nicht von biologischen und ethnischen Faktoren abzuhängen. Z. B. seien die Afrobrasilianer immer gute Läufer gewesen, weil dies ein »billiger Sport« sei, für jeden zugänglich und keine Anschaffung von teuren Geräten voraussetze. Bzgl. des Schwimmens seien sie je-

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doch nicht erfolgreich, weil sie bisher keinen bzw. selten Zugang zu den Schwimmhallen (-clubs) erhielten. Andererseits zeige sich ihre überlegene sportliche Leistung, wenn sie sich unter geringen sozialen und ökonomischen Barrieren sportlich sozialisieren könnten. Berühmte afrobras. Sportlerinnen und –sportler waren und sind z. B. der Fussballer Arthur Friedenreich (1862 – 1969), der Dreispringer Ademar Ferreira da Silva (1927 – 2001), der Fussballer ›Didi‹ (1928 – 2001), der Fussballer ›Garrincha‹ (1933 – 1983) (»A estrela solit‚ria«, »O anjo das pernas tortas«), die Hochspringerin A†da dos Santos (*1937), der Weltfussballer ›Pel¦‹ (*1940), der Dreispringer ›Jo¼o do Pulo‹ (1954 – 1999), der Athlet Joaquim Cruz (*1963), die turnerische Gymnastin Diane dos Santos (*1983) etc. Fußball: Der brasilianische Fussball, der 1894 von engl. Einwanderern in Brasilien eingeführt wurde, hat eine Vielzahl von hochbegabten afrobras. Fußballern und Fussballerinnen, die erst seit 1933 (zuerst als empregados!) in (weißen) Fußblallclubs aufgenommen wurden, hervor-gebracht. Der bras. Fußball erwies sich als eines der wichtigsten Vehikel des sozialen Aufstiegs der Afrobrasilianer. Der bekannteste »Weltfußballer« par exellence ist Edson Arantes do Nascimento, genannt Pel¦ (*23. 10. 1940), der über 1000 Tore geschossen und durch seine tänzerische, fast schon akrobatische Spielart die Zuschauer aller Länder begeistert hat. !Anthropologie !Biografien M‚rio Filho (1945): O negro no foot-ball brasileiro. Rio de Janeiro; J. Lira Filho (1947): O negro no futebol. Rio de Janeiro; E. A. do Nascimento (1963): Ich bin Pel¦. (Nachwort: Frank Arnau). Berlin; J. Saldanha (1971): O futebol. Rio de Janeiro; R. Moura (1979): O negro e o futebol brasileiro. Mestrado. Rio de Janeiro: UFRJ; E. Coutinho (1988): Futebol cheio de raÅa. Tempo Brasileiro (RJ), (92/93), p. 47 – 68; A met‚fora do Brasil. Enganado como bom lutador de boxe, Maguila despenca do seu sonho e arrasta com ele a com¦dia brasileira. Jornal do Brasil, Id¦as/Ensaios, 23. 7. 1989; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; J. M. Wisnik (2008): Veneno rem¦dio. O futebol e o Brasil. S¼o Paulo; Film: Garrincha, alegria do povo (Regie: J. Pedro de Andrade. BR); Museum: Museu do Futebol (Rio de Janeiro)

Sprachen Einführung: Der brasil-portugiesische Wortschatz ist von einer Fülle von Worten aus den indigenen Sprachen (»Indianersprachen« z. B. Tup†, vgl. z. B. Platzmann, 1901;

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Carneiro da Cunha, 1982b), Afrobrasilianismen (s. unten) und Worten aus den Sprachen der Immigranten bereichert und gebildet worden (vgl. z. B. Novo Dicion‚rio Aur¦lio, s.d.; Michaelis, 1920; Carneiro da Cunha, 1982a; Klare, 1988). Afrobrasilianismen: Während der 350 Jahre dauernden afrikanischen Sklaverei brachten die Sklaven aus Afrika nicht nur ihre !Religionen, Sitten und Gebräuche, ihre !Musik und handwerklichen Techniken etc. mit nach Brasilien (vgl. z. B. Di¦gues Junior, 1977; C–mara Casudo, 1965), sondern auch ihre Sprachen. Vorherrschend waren vor allem zwei Sprachgruppen: Sudanesisch und Bantu je nach Herkunfts- bzw. Sprachregion der Sklaven (vgl. Lopes, 2003). Das Bantu (Bantu = Mensch) ist eine afrikanische Sprachgruppe südlich des Äquators mit ca. 800 Einzelsprachen und entsprechenden Dialekten (vgl. Möhlig, 1981). »Sudansprachen« ist eine ältere Bezeichnung für die Sprachen, die in der Sudanzone in Afrika gesprochen werden. Man unterschied die westlichen (z. B. Kwa, Togo, Gur, Mande) und die östlichen Sudansprachen (z. B. Nuba, Dinka). Heute werden linguistisch die Sudansprachen in einem größeren Zusammenhang mit den Bantusprachen gesehen und zu den Niger-Kongo-Sprachen gezählt (vgl. Meyers, Bd. 21, 2006:7458). Die portugiesische Kolonialverwaltung betrieb in Brasilien von Anfang an u. a. durch eine gezielte Durchmischungspolitik bzgl. der ethnischen Herkunft der Sklaven eine Art »glottocidia«, einen Sprachenmord, an den indigenen und afrikanischen Sprachen. Dennoch gab es auch einige rühmliche Ausnahmen wie z. B. die Grammatik der agolanischen Sprache des Jesuitenpaters Pedro Dias: »Arte da lingua de Angola, oefericida a virgem senhora N. do Rosario, M¼y & Senhora dos mesmos pretos…« (Lisboa, 1697), die der katholischen !Missionierung der Sklaven dienen sollte. Die Afrobrasilianer waren also im Rahmen des sprachlichen kolonialen Assimilierungdruckes gezwungen sich der portugiesischen »Prestige-Sprache«, der Sprache ihrer Senhores und Senhoras, zu bedienen, brachten hierbei jedoch ein lexikalisches Substrat mit ein, das den brasil-portugiesischen Wortschatz beträchtlich bereicherte (mindestens über 4000 Wörter, vgl. Pessoa de Castro, 2001). Das moderne BrasilPortugiesische ist also aus einer interkulturellen Kommunikation verschiedener Ethnien in der Kolonial- und späteren Immigrations-Gesellschaft hervorgegangen (vgl. Houaiss, 1985). R. A. Cunha-Henckel (2007) hat kürzlich besonders die Rolle und Bedeutung der Sklavinnen bei der Bildung eines afrikanischstämmigen Wortschatzes im Brasil-Portugiesischen heraus-gearbeitet: Als »amas de leite« (Ammen), »bab‚s« (Kindermädchen), »cozinheiras« (Köchinnen), »mucamas« (Konkubine), !»empregadas dom¦sticas«, »curandeiras« (!Heilerinnen), Vermittle-

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rinnen der afrikanischen oralen !Literatur (»contadora de histûrias«, vergleichbar den afrikanischen griots), als ambulante Verkäuferinnen (escravas de ganho), als »m¼e de santo« (Priesterinnen), aber auch als Ehefrauen, Geliebte, »mulheres de prazeres«, etc. waren sie mit der kolonialen Familie mehr oder minder eng verbunden und prägten viele bis heute geläufige Worte. Aber auch die Sklaven-Männer, als Handwerker, (Plantagen-) Arbeiter, Musiker, !Soldaten und in vielfältigen anderen Funktionen tätig, haben eine Vielzahl von Wörtern afrikanischer Herkunft zum Brasil-Portugiesischen beigetragen. Da die »Afrobrasilianismen« aufgrund von !Vorurteilen sprachsoziologisch als »vulgär«, »informell«, abwertend und nicht zum sprachlichen »comme il faut« gehörig angesehen wurden, findet man auch in der »G†ria«, der Sprache der »Marginais«, in den !Sprichwörtern, Redensarten, !Mythen, Märchen, ! Witzen und Schimpfwörtern etc. eine Fülle von solchen sprachlichen Afrobrasilianismen (vgl. Viotti, 1945; Tacla, 1968; Souto Maior, 1980; Serra e Gurgel, 2000). Die afrobrasilianische Psychiaterin Neusa Santos-Souza (1983: 29) stellt fest, daß in Brasilien !»negro« mit »sujo« (= schmutzig) assoziiert wird. Sie kritisiert, daß sogar das wichtigste Sprachlexikon, der »Aur¦lio«, bei dem Begriff »negro« 10 pejorative Attribute aufführt, nämlich: sujo, triste (= traurig), maldito (= verflucht), melancûlico, perverso, escravo (= Sklave), funesto (= finster), lutuoso (= traurig), sinistro (= unheimlich), encardido (= vergilbt). Das gesamte Forschungsgebiet ist bisher keineswegs befriedigend systematisch und kritisch bearbeitet worden. !Africanismos !Bibliografien !Kultur !Made in Africa !Sklaverei ! Sprichwörter J. de Anchieta (1595): Arte de gramatica da lingua mais usada no Brasil. Coimbra; Cardeal Fr. de S¼o Lu†s Saraiva (1837): Glos‚rio de voc‚bulos portugueses derivados das linguas orientais e africanas, exceto o ‚rabe. Lisboa; J. Platzmann (1901): Das anonyme Wörterbuch Tup†-Deutsch und Deutsch-Tup†. Leipzig; H. Michaelis (Hrsg.) (1920): Neues Wörterbuch der portugiesischen und deutschen Sprache. 2 Teile. Leipzig; N. de Sena (1921): Africanismos no Brasil. Revista de L†ngua Portuguesa (RJ); A. Peixoto (1933): NoÅþes de Histûria da Educażo. S¼o Paulo, p. 211ff; R. MendonÅa (1935, 3.ed. 1948): A influÞncia africana no portuguÞs do Brasil. Porto; D. de Laytano (1936): Os africanismos no dialeto gafflcho. Revista do Instituto Histûrico e Geogr‚fico do Rio Grande do Sul (Porto Alegre), 16 (2); E. de Souza Carneiro (1936): A influÞncia africana no portuguÞs do Brasil. Boletim de Ariel (RJ), 6; J. Dornas Filho (1938): Vocabulario Quimbundo. Revista do Arquivo Municipal (SP), ano V, vol. XLIX,, p143 – 150;B. J. de Souza (1939): Dicion‚rio da Terra e da Gente do Brasil. S¼o Paulo; M. Viotti (1945): Dicion‚rio da G†ria Brasileira. S¼o Paulo; D. Teixeira Monteiro (1954): Notas sobre o vocabul‚rio da macumba de Vitûria. Folclore, maio/ago.; A. Nascentes (1955): O linguajar carioca. Rio de Janeiro; A. da Silva Maia (1964): Dicion‚rio complementar portuguÞs – kimbundo – Kikonga. Cucuj¼es: Ed. Missþes; Y. Pessoa de Castro (1967): A sobrevivÞncia das linguas africanas no Brasil: sua influÞncia na linguagem popular da Bahia. Afro-Ýsia (Salvador, BA), 4/5; A. Brand¼o

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(1968): ContribuiÅþes afro-negras ao l¦xico popular brasileiro. Revista Brasileira de Folclore (RJ), maio; A. Tacla (1968): Dicion‚rio dos Marginais. Rio de Janeiro; G. Ch. de Melo (1972): A presenÅa africana na cultura brasileira. Ultramar, 2, 29 – 37; A. Passos (1973): A g†ria baiana. Rio de Janeiro; J. P. Angenot et al. (1974): R¦pertoire des vocables br¦siliens d’origine africaine. Lubumbashi: Univ. Nationale de Zaire: CLTA; Y. A. Pessúa de Castro (1976): Antropologia e linguistic nos estudos afro-brasileiros. Afro-Ýsia (Salvador), 12, p. 211 – 227; die3 s. (1983): Das l†nguas africanas ao portuguÞs brasileiro. AfroÝsia, 14, p. 81 – 106; M. Di¦gues Junior (1977): Êtnias e culturas no Brasil. Rio de Janeiro; C. Vogt & M. Gnerre (1978): Cafundû: uma comunidade negra que fala at¦ hoje uma lingua de origem africana. Estudos Lingü†sticos (Bauru), 2, p. 11 – 19; W. W. Megenney (1978): A bahian heritage: an ethnolinguistic study of african influences on bahian portuguese. Chapel Hill; W. J. G. Möhlig (1981): Die Bantusprachen im engeren Sinn. In: B. Heine et al. (Hg.), Die Sprachen Afrikas; M. Souto Maior (1980): Dicion‚rio do Palavr¼o e Termos afins. Recife; A. G. da Cunha (1982a): Dicion‚rio etimolûgico Nova Fronteira da l†ngua portuguesa. Rio de Janeiro; ders. (1982b): Dicion‚rio histûrico das palavras portuguesas de origem Tup†. S¼o Paulo; R. do Carmo Pûvoas (1982): A linguagem do candombl¦. N†veis sociolingüisticos de integrażo afro-portuguesa. Rio de Janeiro: UFRJ; A. Houaiss (1985): O portuguÞs no Brasil. Rio de Janeiro; J. Klare (Hrsg.) (1988): Wörterbuch Portugiesisch Deutsch. Leipzig; Langenscheidts Taschenwörterbuch Portugiesisch Deutsch und Deutsch Portugiesisch. Berlin, 1988; J. de A. Romualdo (1988): Linguagem e estratificażo social. Contexto & Educażo (Iju†), 3(12), p. 27 – 32; D. Mażs (1994): Portugiesisch: Sprache und Generationen. Lexikon der Romanistischen Linguistik, VI, 2, S. 327 – 332; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; H. Figge (1998): Tupi. Zum westafrikanischen Ursprung einer südamerikanischen Sprache. Frankfurt/M; J. B. Serra e Gurgel (2000): Dicion‚rio de G†ria. Bras†lia; Y. Pessoa de Castro (2001): Falares africanos na Bahia. Um vocabul‚rio afro-brasileiro. Rio de Janeiro; N. Lopes (2003): Novo Dicion‚rio Banto do Brasil. Rio de Janeiro; ders. (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; R. A. Cunha-Henckel (2005): Tr‚fego das palavras. Recife; dies. (2007): Die Bedeutung der Frauen bei der Bildung eines afrikanisch-stämmigen Wortschatzes im brasilianischen Portugiesisch. In: J. Born (Hg.), Curt UnckelNimuendajffl – ein Jenenser als Pionier im brasilianischen Nord(ost)en. Wien; J. Born (2009): Lusophonie. Geschichte, Gegenwart und Zukunft einer Weltsprache. Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik, 16. Jg., 31/32, 2009:8 – 24; Novo Dicion‚rio Aur¦lio. Rio de Janeiro (viele Auflagen)

Sprichwörter: »O negro na boca do povo« Das Bild der Afrobrasilianer in den Sprichwörtern: Sigmund Freud sah in den Witzen eine unbewußt gesteuerte Ausdrucksweise, die durch das »Lustige« die aggressive Komponente verringert wird und die dann erst zum Bewußtsein gelangen darf. Was hat das mit den Afrobrasilianern in den Sprichwörtern zu tun? Wir glauben vieles. Brasilianer sind für die Tönung der !Hautfarben mit ihren minimalen

Sprichwörter: »O negro na boca do povo«

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Nuancen sehr sensibel. Anhand dieser starken hautfarben-bezogenen Orientierung, die in der Regel nicht ausgesprochen wird und die ein »Fremder« kaum bemerken kann, wird schnell eine Meinung über den Gegenüberstehenden gebildet. Dieses !Vor-Urteil wird oft an die allgemeinen Vorstellungen angepaßt und fungiert beinahe wie ein Alarm. Dennoch scheinen die inter- (und auch intra-) ethnischen Beziehungen in Brasilien in verschiedenen sozialen Situationen ohne tiefgreifende Reibungen zu funktionieren. Aber diese »Reibungen« sind trotzdem da, aber werden oftmals entschärft (oder verschärft) durch ! Witze und Sprichwörter, deren aggressiver Inhalt sozial akzeptiert und integriert wird. Die Nutzung eines Sprichwortes bestätigt nicht nur die Weltanschauung des Erzählers, sondern einer größeren Bevölkerungsgruppe und verdeutlicht dadurch eine herrschende Ideologie und ein verbreitetes Bild der Person im Sprichwort. Wir können sagen, daß die sozialen Spannungen zwischen den »Rassen« und Ethnien in Brasilien sehr deutlich anhand der Sprichwörter über die Afrobrasilianer/innen im Vergleich zu derselben Gattung über die Weißen zu erkennen sind. Die hier exemplarisch ausgewählten Sprichwörter beschränken sich nicht auf eine bestimmte Region des Landes. Es wurde auch versucht Themen aus verschiedenen Lebensbereichen, sowie über Männer, Frauen und Kinder zu zeigen, ebenso das Selbst- und das Fremdbild, die Klage und die Gegenklage bzw. die Verteidigung durch ein Gegensprichwort. Die Sprichwörter mit einem W davor beziehen sich auf die Version der Weißen und mit einem A auf die der Afrobrasilianer. Die Übersetzung ins Deutsche folgt dem brasilianischen Text. W: Branca para casar, preta para trabalhar, mulata para amar. »Weiße (Frau) um zu heiraten, Schwarze um zu arbeiten, Mulattin um zu lieben«. A: Negra ¦ pimenta e todos comem dela. »Schwarze (Frau) ist Pfeffer und alle essen von ihr«. W: Onde falta branco sobra negro. »Wo Weiße fehlen überragen ›Neger‹«. W: Filho de branco ¦ menino; filho de negro ¦ moleque. »Sohn eines Weißen ist ein Junge; Sohn eines ›Negers‹ ein Lausbube«. W: Negro sû tem de branco os dentes. »›Neger‹ hat vom Weißen nur die Zähne«. W: Negro sû tem de gente os olhos. »›Neger‹ haben vom Menschen nur die Augen«. W: Negro n¼o sorri; mostra os dentes. »›Neger‹ lächelt nicht; er zeigt die Zähne«. W: Negro n¼o nasce; aparece. »›Neger‹ wird nicht geboren; er erscheint«. W: Negro n¼o tem nariz; tem focinho. »›Neger‹ hat keine Nase; hat eine Schnauze«. W: Branca que casa com negro ¦ preta por dentro. »Weiße (Frau), die einen ›Neger‹ heiratet, ist innerlich schwarz«. W: Negro inteligente nasce morto. »Ein intelligenter ›Neger‹ wird tot geboren«. W: Negro quando n¼o caga na entrada, caga na sa†da. »Wenn ein ›Neger‹ am Eingang nicht kackt, kackt er am Ausgang«. W: Negro n¼o come; engole. »›Neger‹ essen nicht; sie schlingen hinunter«.

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W: Negro sû entra no c¦u por discuido de S¼o Pedro. »›Neger‹ kommen nur in den Himmel rein aus Zerstreugung von St. Petrus«. W: Se negro fosse coisa de se gostar, todo mundo andava com um urubu debaixo do braÅo. »Wenn ›Neger‹ etwas zum Mögen wäre, gingen alle Leute mit einem Geier unter dem Arm«. A: Urubu novo tamb¦m ¦ branco. »Junger Geier ist auch weiß«. W: Em negûcio de branco negro n¼o se mete. »Ins Geschäft von Weißen mischen sich ›Neger‹ nicht ein«. A: Sou negro mas n¼o sou seu escravo. »Bin ›Neger‹, aber nicht dein Sklave«. A: O trabalho ¦ do negro e a fama ¦ do branco. » Die Arbeit ist des ›Negers‹ und der Ruhm ist des Weißen«. A: Negro na cor e branco nas aÅþes. »Schwarz in der Farbe und weiß in den Taten«. A: Falta de educażo no branco ¦ nervoso. »Fehlen an Benehmen bei Weißen ist Nervosität«. A: Branco rico nunca ¦ feio. »Reicher Weißer ist nie häßlich«. A: A carne do branco tamb¦m fede. »Das Fleisch des Weißen stinkt auch«. A: A sujeira do branco sai no dinheiro. »Der Schmutz des Weißen kommt aus dem Geld«. A: Negro furtou ¦ ladr¼o; branco furtou ¦ bar¼o. »Wenn ein ›Neger‹ klaut ist er ein Dieb; wenn ein Weißer klaut ist er ein Baron«. A: Negro furta e branco acha. »›Neger‹ klauen und Weiße finden«. A: Negro correndo ¦ ladr¼o; branco correndo ¦ atleta. »Laufender ›Neger‹ ist ein Dieb; laufender Weißer ist ein Athlet«. A: Judas era branco e vendeu Cristo. »Judas war weiß und hat Christus verkauft«.

Diese gegenseitigen Bilder, die anhand der Sprichwörter deutlich die !Vorurteile erkennen lassen, tragen sozialpsychologisch zu tiefgehenden Ressentiments innerhalb der Gesellschaft und insbesondere im Kontakt beider ethnischen Gruppen bei. Insbesondere die Afrobrasilianer haben darunter zu leiden, daß sie als eine !»Minderheit« einem viel stärkeren Anpassungsdruck in der Gesellschaft ausgesetzt sind als die Weißen. !interkulturelle Philosophie !Mythen und Märchen !Sozialpsychologie ! Sprachen !Stereotype, !Vorurteile !Witze P. da C–mara (1848): Coleżo de proverbios … Rio de Janeiro; C. von Prantl (1858): Die Philosophie in den Sprichwörtern. München; R. Magalh¼es Jun. (1964): Dicion‚rio de proverbios e curiosidades. S¼o Paulo; ders. (1974): Dicion‚rio brasileiro de prov¦rbios, locuÅþes e ditos curiosos. Rio de Janeiro; L. Röhrich (1977): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 4 Bd.e. Freiburg/Brsg.; L. da C–mara Cascudo (1979): Dicion‚rio do folclore brasileiro. S¼o Paulo (adagios, proverbios); M. Souto Maior (s.d.): O folclore do negro. Centro de Estudos Folclûricos. Recife

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Stereotyp (griech. stereos – starr, hart, fest und typos – feste Norm, charakteristisches Gepräge; frz. stéréotype, eigentlich ›mit gegossenen festen Typen gedruckt‹; bras. estereótipo) Einführung: Das S. ist ein festgelegtes Bild von einer Person oder Gruppe. Vom !Vorurteil unterscheidet sich das S. durch die geringere emotionale Beteiligung. Die Definitionen unterscheiden sich darin, ob St.e als »schlecht« bzw. »negativ« angesehen werden sollten. Ebenso unterscheiden sich existierende Definitionen danach, ob es sich beim S. um sozial geteilte Überzeugungen handelt oder ob der Terminus für Überzeugungen einzelner Individuen steht. Zur Klärung dieses Problems wird vorgeschlagen, im ersten Fall von »kulturellen Stereotypen« zu sprechen. Ein besonderes Charakteristikum zahlreicher St.definitionen ist ihre kognitive Ausrichtung. Während das Autostereotyp eine Aussage über die eigene soziale Gruppe macht, z. B. ›Wir Brasilianer sind herzlich und spontan‹, bezieht sich das Heterostereotyp auf eine fremde Gruppe, z. B. ›Ihr Preussen seid hochmütig und kontrolliert‹. Der Begriff des S.s wurde 1922 von dem Journalisten Walter Lippmann in die Sozialwissenschaften eingeführt, der damit die »Bilder in unseren Köpfen« beschrieb, die sich als schablonisierte und schematische Vorstellungsinhalte zwischen unsere Außenwelt und unser Bewusstsein schieben. Die sozialpsychologische Erforschung von S. beginnt mit einer empirischen Studie von Katz und Braly (1933) über »racial stereotypes« bei 100 us-amer. College-Studenten. Die von ihnen entwickelten Eigenschaftslisten wurden in der Folge zum Standardmeßverfahren. In Brasilien liegen bereits seit den frühen 50er Jahren Forschungen über S. im Hinblick auf die Afrobrasilianer vor (vgl. z. B. Azevedo, 1951; Bastide, 1970; Queiroz Jfflnior, 1982; Moraes, 1987). !»mestiÅo« !»mulata« !»negros« »pardo« !Sozialpsychologie !Sprichwörter !Vorurteile Th. de Azevedo (1951): Um question‚rio sobre estereûtipos raciais. Sociologia, 13 (1), 1951:58 – 63; R. Bastide (1970): Stereotypes, norms and interracial behavior in S¼o Paulo: American Sociological Review, 22, 1970:689 – 694; M. B. Carryo Silva e Weeks (1975): Um estudo sobre estereûtipos positivos e negativos relativos —s vari‚veis sexo, status e cor. Rio de Janeiro:FGV; T. de Queiroz Jfflnior (1982): Preconceito de cor e a mulata na literatura brasileira. S¼o Paulo; A. M. Venturini Moraes (1987): Preconceito e estereûtipo relativos a cor, sexo e status. Mestrado. Rio de Janeiro:FGV; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

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Strafen Allgemeines: In der Psychologie ist die Bestrafung ein Verfahren zur Verringerung der Auftretenswahrscheinlichkeit einer Reaktion, indem nach Auftreten dieser Reaktion ein aversiver Reiz dargeboten oder ein angenehmer Reiz entfernt wird. In der Kulturgeschichte der Menschheit wurde eine Vielzahl von Bestrafungssystemen (z. B. Gefängnis) entwickelt, deren wissenschaftliche Analyse von lernpsychologischen und kriminologischen bis hin zu kulturanthropologischen Theorien reicht.

Beispiel: Gefängnisse im Kulturvergleich: Wie feiern Russen ihre Freilassung aus dem Gefängnis?, Wie fröhlich ist eine Sylvesternacht, wenn der Zellengenosse stirbt?, Haben Eskimo Iglogefängnisse?, Wie viel wiegt die Kette zwischen den Füßen eines zum Tode Verurteilten in Bangkok?, Wie bringt man in Indien tausend Gefangene zum Schweigen?, Wer machte die Kostüme für den Film »The Lord of the Rings«?, Wie viele Gefangene passen in Haiti in eine Zelle von zehn Quadratmetern?, Wie wird man in Australien hinter Gittern schwanger?, In welchem Gefängnis gibt es einen Kindergarten? Wie sieht der Tagesablauf in einem us-amer. »Correctional Center« mit der an Gehirnwäsche erinnernden Techniken, dem entwürdigenden Drill und ständigen Stress aus? Wer diese und andere Fragen beantwortet wissen will, der sollte unbedingt das originelle Buch von Jan de Cock (2004) lesen. Jan de Cock reiste um die Welt, von Gefängnis zu Gefängnis, auf der Suche nach dem Leben hinter Gittern. Bei Temperaturen zwischen +45 und –25 Grad Celsius, durch die Steppe und die Wüste, per Schiff oder mit dem Fahrrad, suchte er die Gefangenen auf. Er traf kleine Gauner, Taschendiebe und Flugzeugentführer und teilte in einer Art Selbstversuch (vgl. Stubbe, 2012:440 f) die Zelle tage- und wochenlang mit Musikanten und Schauspielern, Mördern und Müttern, die Essen für ihre Kinder gestohlen hatten. Er lebte zwischen Tbc- und AIDS-Patienten, in der Gesellschaft von Ratten und Flöhen, Eidechsen und Heuschrecken. Einer meiner (Hannes) universitären Lehrer betonte immer – und wie ich meine zu Recht -, wenn man eine Gesellschaft richtig kennen lernen und verstehen wolle, müsse man eine teilnehmende Beobachtung in ihrer Psychiatrie, in ihren Schulen, in ihren Kasernen, in ihren Asylen (vgl. Goffmann) und in ihren Gefängnissen durchführen. Ja, man könne sich gleichsam aus der Marginalität heraus und von ihren totalen Institutionen her einer Gesellschaft sozialwissenschaftlich am erkenntnisreichsten nähern. Jan de Cock ist diesen mühsamen

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und gefährlichen Weg wirklich gegangen und hat den Sozialwissenschaften, insbes. der Soziologie, der Sozialpsychologie und kulturvergleichenden Psychologie eine Vielfalt von Anregungen für kulturvergleichende Fragestellungen und Forschungen hinsichtlich der Institution Gefängnis und ihres Innen(er-) lebens gegeben. Gefängnisse stellen als Subkulturen und wichtige Enkulturations- bzw. Sozialisa-tionsagenturen auch für den Kulturanthropologen (im amer. Sinne) ein vorzügliches Forschungsfeld dar, insbes. wenn man sie als ein »fait social total« (Mauss) erforscht. Nehmen wir als Beispiel Brasilien: In Brasilien sind einige Gefängnisse berühmt geworden: zunächst denkt man an die »Ilha Grande« (südlich von Rio de Janeiro) , die bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein eine große von tropischem Urwald überwucherte Gefängnisinsel war, auf der auch politische Gefangene inhaftiert wurden. Der bedeutende pernambukanische Schriftsteller Graciliano Ramos (1892 – 1953), der wegen kommunistischer Verdächtigungen 1936 während des »Estado Núvo« auf dieser Insel inhaftiert wurde, hat über diese Zeit seine eindrucksvollen »Memûrias do C‚rcere« (1953) geschrieben, die auch verfilmt wurden. Eine andere Gefängnisinsel für »Politische« war während der Militärdiktatur (1964 – 1984) der zu Pernambuko gehörige »Arquip¦lago de Fernando de Noronha«, heute ein ökologisches Naturparadies. Am bekanntesten aber wurde das Zentralgefängnis von S¼o Paulo »Carandiru«, über das Paulo Sacramento seinen ergreifenden Film »O prisioneiro da grade de ferro« (Brasilien, 2003) gedreht hat. »Wer in Brasilien an Gefängnisse denkt«, schreibt de Cock (2004/05:367), »denkt an Aufstände … Anfang der neunziger Jahre fand in Carandiru eine der blutigsten Revolten statt, die mit 111 Toten endete. Andere sprechen von der doppelten Zahl.« Brasilianische Gefängnisse dienen heute den Mafiabossen als »Generalstabssitz«, aus dem heraus sie ihre Aktionen über »c¦lular« (Handy) dirigieren. Im kriminellen Netzwerk Brasiliens spielen die Gefängnisse also eine zentrale Rolle (zur Kriminalität und ihrer Behandlung, vgl. auch Herkenhoff, 1995; Lopes, 2006:47 f). In speziellen us-amerikanischen Gefängnissen versucht man durch militärischen Drill zu einer Korrektur des Verhaltens der (vielen afroamer.) Häftlinge zu kommen (Rückfallquote 37 %). Aber auch in Deutschland kann man sich z. B. im »Strafvollzugs-Museum Ludwigsburg« anschaulich über den grausamen Strafvollzug (über den schon Schiller berichtete: » … unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Paradeplatz aufmarschieren und die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen Gehirn auf das Pflaster sprützen, und die ganze Armee schrie: Jucheh nach Amerika.«; Kabale und Liebe, 1783) in Vergangenheit und Gegenwart informieren.

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Strafen der afrobrasilianischen Sklaven und Sklavinnen: Das ganze Arsenal der Sklavenstrafen brachten die europäischen SklavenhalterInnen aus Europa mit (vgl. z. B. Wrede, 1898; Schmid, 1908; Hauser, 1909; Trimborn, 1931). In Europa kannte man bereits die Inquisition und »peinliche Befragung«. Systematisch wurde das Thema im Hinblick auf Brasilien und die Sklaverei vor allem von Arthur Ramos (1938), Goulart (1971), Lara (1985), Moura (1989) und Scis†nio (1997:91 – 94) bearbeitet (vgl. auch Arruda & Piletti, 2005:198). Daneben finden sich in den !Reiseberichten und der !Ikonografie der Sklaverei (z. B. bei Debret und Rugendas) vielfache Beschreibungen und Abbildungen der drastischen, folterartigen Sklavenstrafen. Grob lassen sich diese Strafen in körperliche (physische), seelische und soziale Strafen einteilen. Clûvis Moura (1989:16ff) unterscheidet, sich an Arthur Ramos (1938) orientierend, bzgl. der körperlichen Sklavenstrafen folgende drei Gruppen von Strafinstrumenten: 1. Instrumentos de captura e contenżo (correntes, gonilha ou golilha, gargalheira, tronco, vira-mundo, algemas, machos, cepo, corrente e peia), 2. Instrumentos de supl†cio (m‚scaras, anjinhos, bacalhau, palmatûria), 3. instrumentos de avitamento (gonilha, liambo, ferro para marcar, places de ferro com inscripÅþes infamantes). Die Auspeitschungen mit dem »bacalhau« (vgl. Scis†nio, 1997:34) wurden öffentlich durchgeführt, um einmal Angst unter der Sklavenbevölkerung zu verbreiten und zum anderen der (geringen) Nichtsklavenbevölkerung, den »Freien«, ein gewisses Sicherheitsgefühl zu vermitteln (im Sinne von Foucaults: »Surveiller et punir«, 1975). Diese öffentlichen Plätze hießen oftmals »Pelourinho« (vgl. Salvador, BA). Die beiden Instrumente der »Tronco« und »pelourinho« waren die häufigsten Straf-Instrumente. »Palmatûria«, das Schlagen der Hände mit einem flachen Holzgegenstand, war in der städtischen Haussklaverei (escravos dom¦sticos) üblich, die im Gegensatz zur Agrarsklaverei (Zuckerrohr, Minen, Kaffee etc.) nur etwa 10 % der SklavenarbeiterInnen ausmachte. Die Todesstrafe (pena de morte) wurde dann verhängt, wenn der Sklave seinen Herrn oder seine Herrin getötet hatte oder Anführer von !Aufständen war (vgl. Scis†nio, 1997:31, 273 f). Auch der Rücktransport von aufständischen Sklavinnen und Sklaven nach Afrika wurde als Strafe eingesetzt. !Fluxus und Refluxus !Ikonografie !Sklaverei J. do Patroc†nio (1877, 1977): Motta Coqueiro ou a pena de morte. Rio de Janeiro; N. Rodrigues (1894): As raÅas humanas e a responsabilidade penal no Brasil. Bahia; ders. (1939): As collectividades anormaes. Rio de Janeiro; R. Wrede (1898): Die Körperstrafen bei allen Völkern von den ältesten Zeiten bis Ende des 19. Jh.s. Dresden; W. M. Schmid (1908): Altertümer des Bürgerlichen und Strafrechts, insbes. Folter- und Strafwerkzeuge des Bayerischen Nationalmuseums. München; N. da Silveira (1926): Ensaio da criminalidade da mulher no Brasil. Rio de Janeiro; H. Trimborn (1931): Auffassung und Formen der Strafe auf den einzelnen Kulturstufen. Habil. Schrift. Hamburg; A. Ramos (1938): Castigos de escravos. Revista do Arquivo Municipal (S. P.), ano IV, p.79ff; B. F. Melo & H.

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Lima (1944): Histûria da pol†cia do Rio de Janeiro (aspectos da cidade e da vida carioca). 3 vol.s. Rio de Janeiro; H.von Hentig (1954): Die Strafe. Berlin; N. Wolffheim (1956): Kinderleben in der Vergangenheit. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 5, S.161ff; R. Bastide (1968): A criminalidade negra no Estado de S¼o Paulo. Em: A. do Nascimento (ed.), O negro revoltado. Rio de Janeiro, p. 161 – 181; J. A. Goulart (1971): Da palmatûria ao pat†bulo. Castigos de escravos no Brasil. Rio de Janeiro; P. Reiwald (1973): Die Gesellschaft und ihre Verbrecher. Frankfurt/M.; B. Gerson (1977): O aÅoite no Brasil-Imp¦rio. Mens‚rio do Arquivo Nacional (RJ), 8(6), p. 3 – 5; H. de Mattos Monteiro (1977): O tratamento de escravos em Pernambuco (1856). Mens‚rio do Arquivo Nacional (RJ), 8(3), p. 6 – 8; B. Fausto (1984): Crime e cotidiano. A criminalidade em S¼o Paulo (1880 – 1924). S¼o Paulo; S. Hunold Lara (1985): O castigo exemplar dos escravos no Brasil colonial. Em: R. J. Ribeiro (org.), Recordar Foucault. S¼o Paulo, p. 229 – 238; M. H. P. Toledo Machado (1985): Crime e escravid¼o. Uma histûria social do trabalho e da criminalidade escrava nas lavouras paulistas (1830 – 1888). Mestrado. S¼o Paulo: USP-FFLCH; M. J. M. de Carvalho (1987): »Quem furta mais e esconde«: o roubo de escravos em Pernambuco (1833 – 1855). Estudos Econúmicos (SP), 17, p. 89 – 110; M. H. P. T. Machado (1987): Crime e escravid¼o. Lavradores pobres na crise do trabalho escravo (1830 – 1888). S¼o Paulo; L. Mezan Algranti (1988): Criminalidade escrava e controle social no Rio de Janeiro (1810 – 1821). Estudos Econúmicos (SP), 18, p. 45 – 79; L. M. Algranti (1988): Slave crimes: the use of police power to control the slave population of Rio de Janeiro. Luso-Brazilian Review (Madison), 25(1), p. 27 – 48; Folterinstrumente. Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Katalog. Amsterdam, 1989; E. Peters (1989): Tortura. S¼o Paulo; Cl. Moura (1989): Histûria do negro brasileiro. S¼o Paulo; M. Conforto (1990): Breves consideraÅþes sobre a criminalidade escrava segundo o »Livro de Sentenciados« da Casa de Correżo de Porto Alegre (1874 – 1990). Estudos Ibero-Americanos. Simpûsio Gafflcho sobre a Escravid¼o Negra. Porto Alegre, 16(1/2), p. 69 – 78; Ph. Greven (1990): Spare the child: The religious roots of punishment and the psychological impact of physical abuse. N. Y.; C. A. Costa Ribeiro (1995): Cor e criminalidade. Estudo e an‚lise da justica no Rio de Janeiro (1900 – 1930): Rio de Janeiro; J. Baptista Herkenhoff (1995): Crime. Tratamento sem pris¼o. Porto Alegre; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; R. J. Evans (2001): Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532 – 1987. Berlin; L. de Mause (2001): The evolution of childrearing. The Journal of Psychohistory, vol.28, N.4, 2001:262 – 451; Kl. Leit¼o (2001): Do negro escravo ao negro preso. As relaÅþes raciais numa penitenciaria. Diss. de mestrado. UFBA, Salvador ; »Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel von 1500 – 2000«. Koblenz, 2002; J.de Cook (2004): Hotel hinter Gittern. Von Knast zu Knast. München; J. Jobson de A. Arrruda & N. Piletti (2005): Toda a histûria. Histûria geral e histûria do Brasil. S¼o Paulo; Deutsches Architekturmuseum (Frankfurt//M.) (Hrsg.) (2007): Gewahrsam. Räume der Überwachung. Frankfurt/M.; Y. Förster (2009): Leben unter Strafe. Kritische Kriminologie von der Gefängnisarchitektur bis zum Haftalltag am Beispiel der Vollzugsanstalt Mannheim. Aachen; bpb: Kriminalität und Strafrecht. Informationen zur polit. Bildung, 306, 2010; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S.74 f; Museen: Kriminalmuseum in Rothenburg/T.; Strafvollzugs-Museum Ludwigsburg; Film: Carandiru Station (Drauzio Varella, BR)

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Straßenkinder Begriffliches: Unter »Straßenkindern« werden alle jene 5 – 17 Jahre alten männlichen und weiblichen Individuen verstanden, die im Wesentlichen folgende drei Bedingungen erfüllen: 1. Erstens müssen sie auf der Straße leben oder zumindest gelebt haben, was sich dadurch ausdrückt, dass sie sich nicht nur tagsüber hier aufhalten, sondern auch nachts hier schlafen oder zumindest geschlafen haben 2. Zweitens müssen sie selbständig auf der Straße auftreten, ohne sich in (ständiger) Begleitung von erwachsenen Erziehungs- oder Aufsichtspersonen zu befinden. 3. Drittens müssen sie zum Zeitpunkt der Felduntersuchung auf der Straße angetroffen werden. Viele Straßenkinder in LA leben in kleinen Gruppen und entwickeln eine eigene Subkultur mit eigenem Slang. Der Begriff (gegenwärtig manchmal kritisiert!) wurde zu Beginn der 80er Jahre von der UNICEF eingeführt. Die Kinder nennen sich selbst oftmals aber nicht so. Man sollte allgemein »Straßenkinder« (niÇos de la calle, crianÅas de rua) von »Kindern auf der Straße« (niÇos en la calle, crianÅas na rua) unterscheiden. Unter »Straße« (rua) werden hier nicht nur der öffentliche und jedermann zugängliche Bereich der eigentlichen Straße, sondern auch jene öffentlichen Orte wie Plätze und Parks, sowie jene mehr halboffenen Sphären wie unbebaute Gelände, Ladeneingänge bzw. –passagen, Hausflure, abbruchreife und unbewohnte (verlassene) Häuser, Nischen unter Brücken etc. verstanden. Mit dem Begriff Straße sind also öffentliche und halböffentliche Räume im weitesten Sinne gemeint. In LA nehmen die Straße (rua) und der Platz (praÅa) traditionell einen ganz wichtigen Ort im Alltagsleben der Menschen ein (vgl. Stubbe, 1993). Auch viele Erwachsene und ganze Familien leben in LA auf der Straße. In LA finden sich eine Fülle von Bezeichnungen für Straßenkinder (vgl. Roggenbuck, 1993:294ff; Stubbe, 1994:263 f). Hier eine kleine Auswahl: Moleque (bras.), auch muleque, molequa; Menores abandonados (bras.); Meninos de Rua (bras.) ; Meninos na Rua (bras.); Careta (bras., S¼o Paulo) unerfahrenes Straßenkind; Galinha (bras., S¼o Paulo) untreues Straßenkind (»Flittchen«); Laranja (bras., S¼o Paulo) unerfahrenes Straßenkind (Sündenbock); Trombadinha (bras., S¼o Paulo) stehlendes Straßenkind; zapat¼o (bras., S¼o Paulo) lesbisches Straßenkind; Barraza (kolumb., Bogot‚) weibliches Straßenkind (»Flittchen«); Basuriego (kolumb., Bogot‚) Müllsammler ; Cuca (kolumb., Bogot‚) geachtetes weibl. Straßenkind ; Chinche (kolumb., Bogot‚) kleines, jüngeres Straßenkind; Desechable (kolumb., Bogot‚) verwahrlostes

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Straßenkind; Gallada (kolumb., Bogot‚) Gruppe, Bande von Straßenkindern; Gam†n, Gamina (kolumb., Bogot‚) Straßenjunge, Straßenmädchen ; Chibolo (peruan., Lima) kleines Straßenkind; Enano (peruan., Lima) Straßenkind, das nach starkem Klebstoffschnüffeln blass und ausgelaugt ist; Petiso (peruan., Lima) kleines, unerfahrenes Straßenkind; PiraÇa (peruan., Lima) jugendlicher Delinquent Wie erforscht man Straßenkinder? Es ist äußerst schwierig in der Sozialforschung der Straßenkindheit adäquate Methoden einzusetzen, um zu validen Ergebnissen zu kommen. Es muss nämlich eine äußerst schwierige methodische Zugänglichkeit zu den Straßenkindern konstatiert werden. Grundsätzlich können aber alle in der Sozialforschung bekannten Methoden wie Beobachtung, Befragung, Einzelfallstudie, biographische Methoden etc. zum Einsatz kommen. Die eingesetzten Forschungs-Methoden müssen nicht nur kindgemäß (vgl. Sprache, intellektuelle Fähigkeiten) sein, sondern der meist erwachsene Forscher muss auch für den Umgang mit Kindern entwicklungspsychologisch und kulturanthropologisch geschult sein. Hinsichtlich der Sozialforschung mit Kindern wird generell von den konventionellen quantitativen Methoden (z. B. Fragebogen, Tests, Experiment) abgeraten und die Handhabung verfeinerter qualitativer Methoden empfohlen wie vor allem die teilnehmende Beobachtung (des Tageslaufs), was sich in der Praxis oftmals als sehr schwierig und leidvoll gestaltet (vgl. Kontaktaufnahme, gegenseitiges Vertrauen, »Straße« als Ort der teilnehmenden Untersuchung, Gefahren auf der Straße, S.-Kinder sind »permanente Emigranten« und schwer fassbar etc.) und außerdem ist der Sozialforscher auch hierbei nicht vor Fehlinterpretation von Aussagen und Handlungen der untersuchten Kinder gefeit. Eine weitere Schwierigkeit besteht in LA in dem forschungstechnischen Problem, das »Straßenkindheit« rechtlich eigentlich nicht existieren dürfte, und diese Kinder offiziell in eine staatliche Fürsorgeanstalt (z. B. FEBEM, INABIF) eingewiesen werden müssten (»Unerlaubtheit« des Lebens auf der Straße, abweichendes Verhalten?). Andererseits besteht in LA jedoch eine gewisse Toleranz gegenüber den Straßenkindern. Problematisch sind auch die vielen Studien über institutionalisierte, ehemalige Straßenkinder, die sich oftmals gegen ihren Willen in der Einrichtung/ Anstalt befinden (vgl. häufige Flucht, reaktives pathologisches Verhalten). Selten wurden bisher Kontrolluntersuchungen durchgeführt. Auch ist die Definition »Straßenkinder« in vielen Studien nicht klar (wie lange leben sie auf der Straße? frequentieren sie ein bestimmtes Projekt? welche Kinder sollen in die Untersuchung aufgenommen werden? welche Typologie der Straßenkinder liegt vor? Repräsentativität der Stichprobe? etc.). Zudem fehlen familiensoziologische

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Studien (warum leben die Kinder auf der Straße? Misshandlung? Missbrauch? Verwahrlosung?), Longitudinalstudien und vergleichende Studien. Wenn man mit M. Mauss Straßenkindheit als ein »fait social total« betrachtet, das viele Ebenen betrifft wie die juristische, soziologische, psychologische, medizinische, historische, politische etc. ergibt sich daraus die Notwendigkeit eines interdisziplinären Forschens, das jedoch bisher sehr selten betrieben wurde. Fazit: Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die bisherigen Forschungen über Straßenkinder in LA von vielfältigen Defiziten gekennzeichnet sind und dass deshalb eine sehr kritische Betrachtungsweise vonnöten ist. Merkmale von Straßenkindern: – Unterernährung: der größte Teil der Straßenkinder ist unterernährt und wurde oftmals von unterernährten Müttern geboren. Welche Auswirkungen die Mangel- und Fehlernährung für die Funktionsfähigkeit der schließlich entstehenden Erwachsenenpersönlichkeit haben, insbes. wenn die Entwicklung des noch unreifen Gehirns bereits verschiedenen Mangelzuständen ausgesetzt gewesen ist, darüber bestehen noch keine gesicherten Erkenntnisse. – Kinderarbeit : eine Vielzahl von Arbeiten führen Kinder auf der Straße aus wie Auto waschen, Altpapier und Flaschen sammeln, Schuhe putzen, Süßigkeiten, Obst, Lose verkaufen, auf Autos aufpassen, Einkaufstaschen tragen, betteln, Karren ziehen, Alteisen sammeln, Prostitution,Drogenhandel etc. – Analphabetismus: Obwohl in allen Ländern LA’s die Schulpflicht existiert sind die Straßenkinder von der Möglichkeit eine ihnen entsprechende Schulund Berufsausbildung zu bekommen ausgeschlossen. Bisher gibt es über die Intelligenz- und Begabungsstruktur der Straßenkinder kaum Untersuchungen. Es ist aber bekannt, dass sie zumindest hinsichtlich ihrer »sozialen Intelligenz« und Kreativität vergleichbaren Kindern durchaus ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen sind. Straßenkinder leben in einer »oralen Kultur«, die durch orale Wissensvermittlung (vgl. mathematische Kenntnisse) und Personalismus gekennzeichnet ist. – Körperliche Erkrankungen: Bei den Straßenkindern können wir eine erhöhte Mortalität (vgl. Todesschwadrone, niedrige Lebenserwartung), Morbidität (z. B. Hautkrankheiten, körperl. Auswirkungen der Süchte etc.) und Suizidalität (insbes. bei institutionalisierten Straßenkindern) konstatieren. Sie bilden somit in gesundheitlicher Hinsicht eine Gruppe mit einem sehr hohen Risiko – Psychische Störungen: 1987 schrieb der sechszehnjährige Paulo Collen (angeregt von einer Lehrerin an einer »escola oficina« in S¼o Paulo) seine bewegende Autobiografie »Mais que a realidade«. Hierin berichtet er über eine Fülle von psychischen Störungen bei sich und seinen Freunden, die in der

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folgenden Tabelle aufgelistet sind und einen ungefähren Eindruck der psychosozialen Situation dieser Kinder geben können. – Kinderprostitution: Sie stellt in Wirklichkeit eine der vielen Formen der Ausbeutung und Versklavung der marginalisierten Kinder in Brasilien dar. Wir können zwei Formen unterscheiden: die heterosexuelle und die homosexuelle. Bereits 1985 schätzte man die Zahl der Kinder, die in die Welt der Kinderprostitution gezwungen wurden, allein in Brasilien auf 500.000 (Rio de Janeiro: ca. 100.000; Bel¦m: ca. 30.000) (vgl. Dimenstein, 1992) – Delinquenz: Nur ein Teil der Straßenkinder kann als »infratores« (Kinder, die Übertretungen begangen haben) bezeichnet werden. Eigentumsdelikte stehen nach polizeilichen Statistiken an erster Stelle. Manche kritische Juristen sprechen jedoch von einer »Kriminalisierung der Überlebenspraktiken dieser Kinder durch die Gesetzes-Kodizes« und betrachten »abandono« wie auch »delinquÞncia« als Resultate der Armut, Misere und des Hungers. Es sind vor allem die Ungleichheit, die Ausbeutung, die Ungerechtigkeit, die den Widergesetzlichkeiten Vorschub leisten. – Gruppenkultur: Viele Straßenkinder leben in mehr oder minder festen Gruppen, weil dadurch ihre Überlebenschancen vergrößert werden. Zudem verlangen viele von ihnen ausgeübte Tätigkeiten einen kooperativen Arbeitsstil. Sie entwickeln in einigen Ländern (z. B. Brasilien, Kolumbien) eine eigene »Straßenkinder-Kultur«.

Tab. 12: Psychische Störungen, die in Collen’s Autobiografie erwähnt werden Quelle: Stubbe (1994: 275)

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Über die Hälfte der weltweit geschätzten 100 Millionen Straßenkinder leben in LA, vor allem in den wuchernden Mega-Städten. Man hat auch für die praktische (soziale) Arbeit mit Straßenkindern eine Typologie der Straßenkinder aufgestellt und folgende Typen unterschieden: Die impulsiven, die Besonnenen, die Hilflosen, die Misshandelten, die Verlassenen, etc. Es liegen bereits einige Selbstschilderungen von Straßenkindern vor (vgl. Stubbe, 1994:287 f; Roggenbuck, 1993:183, 191, 198, 205). Erklärungsansätze: Man kann allgemein individuumzentrierte von soziozentrischen Erklärungsansätzen unterscheiden. Bei den individuumzentrierten Ansätzen wird das Straßenkinderphänomen anhand der individuellen Konstitution und Biografie eines einzelnen Straßenkindes erklärt. Der Blickwinkel wird auf solche Straßenkinder gerichtet, deren Kontakt zur Familie abgerissen ist und die stattdessen auf der Straße und in Gruppen leben. Man versucht das Phänomen psychopathologisch (z. B. kindliche Verwahrlosung, Persönlichkeitsstörungen, Neurosen, etc.), romantisch (z. B. Freiheitsdrang, Leidenschaftlichkeit, Weigerung zu arbeiten etc.) und personalistisch (z. B. gesundes, kompetentes und adaptives Verhalten, Unverwundbarkeit, Unverwüstlichkeit) zu erklären. Die soziozentrischen Erklärungsansätze heben dagegen soziale Gesichtspunkte hervor und solche Faktoren, die in der Art und Weise der gesellschaftlichen Reproduktion begründet sind. Der Modernisierungsansatz sucht die Ursachen des Straßenkinderphänomens in den gesellschaftlichen Umgestaltungsprozessen, der sozialen Desorganisation, Migration, Verstädterung, Bevölkerungsexplosion, Einfluss einer delinquenten Nachbarschaft, kulturellen Konflikten, Stadt-Land-Gegensätzen, etc. Der sozialstrukturelle Ansatz führt das Straßenkinderphänomen auf strukturelle Fehlleistungen des Sozialsystems, das ständig Ungerechtigkeit und Ungleichheit reproduziere und auf den konkreten Alltag der Schicht der »Ungesicherten«, »Unterdrückten«, »Ausgestossenen« oder »Marginalisierten« in LA zurück. Der soziohistorische Ansatz erklärt die Straßenkindheit als ein Produkt der Conquista und !Sklaverei (vgl. z. B. hoher Anteil der Afrobrasilianer). Der soziokulturelle Erklärungsansatz betrachtet das Straßenkinderphänomen auf dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Realität, die vom Antagonismus mutter- und vaterzentrierter Familienstrukturen in LA geprägt ist. Die Existenz der Straßenkinder wird als logische Folge funktionaler Erziehungspraktiken mutterzentrierter Familien gesehen, die in einer vaterzentriert

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Graphik 7 Quelle: Stubbe, 1994: 289

beherrschten Gesellschaft unterdrückt würden (vgl. »Impakt-System der Straßenkindheit«, Stubbe, 1988, 1994:289). Eine Vielzahl von Kritikpunkten lassen sich bei allen diesen Erklärungsansätzen aufführen: Das Problem fehlender Distanz bei der Wahrnehmung (z. B. Mitgefühl), die Viktimierungstendenz (Opfer der Umwelt, der Umstände), »Schluchzen des weissen Mannes«, Glorifizierungstendenz, Straßenkinder als Revolutionäre, Straßenkinder als utopische Propheten, Straßenkinder als Kulturkritiker bzw. Vertreter einer heilen Welt, etc. (siehe oben methodische Probleme).

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Interventionsstrategien: Folgende Interventionsstrategien für Straßenkinder werden diskutiert und praktiziert: 1. Geschlossene Institutionen 2. Halboffene Institutionen 3. Offene Institutionen !Kinder !Sklavenkindheit J. Amado (1937): Capit¼es da areia (dt. Herren des Strandes). Salvador ; U. B. Lobgesang (1979): Kinderarbeit in Brasilien. Brasilien Nachrichten, 33, 1979:14 – 20; Pollmann (1986): Zwischen Arbeit und Bandentum: Straßenkinder in Brasilien. Sociologus,36(2), 1986:138 – 161; H. Stubbe (1988, 1994): Moleques. Afrobrasili-anische Strassenkinder (1988 als Vorlesung). Lateinamerikastudien 33, S. 263 – 308; Centro Regional de Documentaciûn sobre Supervivencia Infantil (ed.) (1989): Documentos sobre salud, nutriciûn y alimentaciûn materno-infantil. INAC, Guatemala; G. Dimenstein (1992): Meninas da noite. A prostituiżo de meninas-escravas no Brasil. S¼o Paulo; St. Roggenbuck (1993): Straßenkinder in Lateinamerika. Frankfurt/M.; H. Sangmeister (2002): Zur Situation der Kinder in Lateinamerika. Brennpunkt Lateinamerika, Nr. 19, S. 193 – 204; I. Rizzini (Ed.) (1994): Children in Brazil today : A challenge for the third millenium. Rio de Janeiro: Editora Universit‚ria Santa Ursula (an dieser Universität in Rio de Janeiro existiert auch ein Straßenkinder-Archiv); M. Liebel (2000): Straßenkinder gibt es nicht. Über die verschlungenen Wege einer paternalistischen Metapher. Soziale Arbeit, 4; H. Weber & J. S. S. Sierra (2003): Narben auf meiner Haut. Straßenkinder fotografieren sich selbst. Frankfurt/ M.; P. Peetz (2004): Zentralamerikas Jugendbanden. »Maras« in Honduras, El Salvador und Guatemala. Brennpunkt Lateinamerika, Nr. 5, S. 49 – 63; Internet: Internat. Straßenkinder Archiv Berlin www.strassenkinder-archiv.de/index Wolfer, D.: Kinder der Straße in Ecuador. www.freire.de/DE23.html www.litprom.de/sites/strassenkinder.htm (Literaturhinweise) Childhood. A Global Journal of Child Research. Norwegian Centre for Child Research, Trondheim (www. ALLFORSK.NTNU.NO/NOSEB); Filme : Pixote (dt. Asphalthaie), Brasilien, 1980 Cidade de Deus (engl. City of God), Brasilien, Central do Brasil (engl. Central Station), Brasilien,

Sündenbock-Rolle Das S.phänomen geht auch einen kollektiven Purifikations-Ritus der Bibel zurück: während der eine Bock geopfert wurde, wurde der andere mit der Sünde des Volkes beladen in die Wüste gejagt (3 Mos 16,15 – 22) (vgl. Janowski & Wilhelm, 1993).

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Die sozialpsychologische Sündenbockhypothese entstand im Zusammenhang mit der Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard, 1939). Dieser Konzeption zufolge entsteht ein Teil der Feindseligkeit gegenüber (ethnischen, religiösen etc.) !Minderheiten, weil die !Vorurteile tragenden Individuen ihre eigenen unakzeptablen Impulse unterdrücken und feindliche Einstellungen gegenüber anderen zum Ausdruck bringen, an denen dieselben Impulse wahrgenommen werden (Projektion). Die Feindseligkeit nimmt oft die Form an, der Gruppe im Rahmen eines monokausalen Erklärungsklischees die Schuld für persönliche und gesellschaftliche Probleme zuzuschieben. Im Laborexperiment lassen sich Faktoren abklären, die in Wirklichkeit zu existieren scheinen. Das allgemeine Bild des Sündenbock-Phänomens kommt dadurch zustande, daß Individuen ihre Aggressionen auf Gruppen lenken, die unbeliebt, leicht erkennbar, und relativ machtlos sind (vgl. Aronson et al., 2004:511 f). »Die Form der gezeigten Aggression wird durch die Normen der In-Group bestimmt: Lynchmorde an Schwarzen oder Pogrome gegen Juden kommen in einer Gesellschaft nur selten vor – es sei denn, sie werden von der herrschenden Kultur oder Subkultur gutgeheißen.« (Aronson, 1994:326). Auch AfrobrasilianerInnen dienten und dienen in Brasilien häufig als Sündenböcke (vgl. !Nationalcharakter). !Rassismus !Reinheit !Sozialpsychologie !Stereotype !Vorurteile G. W. Allport (1951): Treibjagd auf Sündenböcke. Berlin; B. Janowski & G. Wilhelm (1993): Der Bock, der die Sünden hinausträgt. Orbis biblicus et orientalis (Freiburg/ Schweiz), 129, 1993:109 – 169; E. Aronson (1994): Sozialpsychologie. Menschliches Verhalten und gesellschaftlicher Einfluß. Heidelberg; E. Aronson et al. (2004): Sozialpsychologie. München (4. Aufl.); Kl. Ahlheim (Hrsg.) (2007): Die Gewalt des Vorurteils. Schwalbach

Suizide Transkulturelle Suizidologie in Brasilien (1500 – Gegenwart): Der Terminus »Suizidologie« wird seit 1964 von Shneidman verwendet. In seinem grundlegenden Werk »Suicidology : contemporary developments«(1976) hat er die wichtigsten suizidologischen Trends in Forschung und Praxis der USA dargestellt. Die Suizidologie studiert als wissenschaftliche Disziplin das SuizidVerhalten und -Erleben in allen seinen Formen. Bei der Suizidologie handelt sich um eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sowohl die Methodologie der Naturwie der Sozial-Wissenschaften verwendet (vgl. etwa Ramos, 1974). Ein Hauptmotiv der suizidologischen Forschung besteht in der Prävention und Therapie suizidalen Verhaltens und Erlebens. Als wissenschaftliche Disziplin will die

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Suizidologie eine Theorie des suizidalen Verhaltens und Erlebens entwickeln, aus der sich Schlußfolgerungen für die suizidologische Praxis ableiten lassen (Angewandte Suizidologie). Gegenwärtig befindet sich die Suizidologie noch wesentlich im Stadium der qualitativen Beschreibung, Beobachtung und Registrierung (fact finding) bzw. quantitativen Erfassung im Rahmen epidemiologischer Forschung (Inzidenzund Prävalenz-Studien). Die Bildung und die (experimentelle) Erprobung von Theorien sind dagegen noch nicht sehr weit vorangeschritten. Ausbildungszentren für Suizidologie existieren heute an der John Hopkins Universität und in Wien (Prof. Dr. Sonnek). Seit 1979 besteht in den USA auch eine suizidologische Gesellschaft: die »American Association of Suicidology« mit ihrem Publikationsorgan: »Suicide and Life«. Der Wiener Psychiater Erwin Ringel gründete am 17. 9. 1960 bereits eine Internationale Gesellschaft für Suizid-Prävention (IASP), die in regelmäßigen Abständen Kongresse abhält (vgl. z. B. Stubbe & SantosStubbe, 1985). Spätestens seit diesem Zeitpunkt richtete sich die Aufmerksamkeit einiger Forscher auch auf die transkulturellen Aspekte der Suizidforschung (vgl. z. B. Kiev, 1980; Andriolo, 1984; Pfeiffer, 1993; Stubbe, 1987, 1995, 2012) und die Notwendigkeit der Integration der ethnologischen Sichtweise (vgl. ethnologische Suizidforschung) in diesen Forschungsbereich wurde immer deutlicher. Hier soll nur an die Studien von Bohannan (1960) in Afrika, von Venkoba Rao (1975) in Indien oder an die ethnopsychoanalytischen Untersuchungen von Devereux (1961) über die Suizidalität der nordamerikanischen Mohave-Indianer erinnert werden. Unter »Transkultureller Suizidologie« wollen wir hier eine Teildisziplin der Suizidologie verstehen, die sich mit den Einflüssen kultureller Gegebenheiten auf Entstehung, Häufigkeit, Symptomatik und Therapie suizidalen Verhaltens und Erlebens befaßt. Ihre Forschungs-methoden reichen von ethnographischindividualisierender Betrachtung bis hin zu epidemiologischen und empirischen Vergleichsstudien, die psychische »Universalien« unterstellen (einschließlich der Ethnopsychoanalyse). Offen dabei ist die Frage, ob !»Kultur« nur »pathoplastisch« dh. symptomformend oder auch eigenständig »pathogenetisch« d. h. verursachend wirkt. Neben Studien in außereuropäischen Gebieten wird Transkulturelle Suizidologie neuerdings auch an Beispielen ethnischer !Minderheiten und Migranten (z. B. »Gastarbeiter«, Asylbewerber, Flüchtlinge, Sklaven etc.) erforscht. Transkulturelle Suizidologie in Brasilien Brasilien, ein Land Lateinamerikas, das sich in einem rapiden soziokulturellen Wandel befindet, ist für die Transkulturelle Suzidologie eine besonders geeig-

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nete Region, weil wir hier eine multiethnische Gesellschaft mit den unterschiedlichsten Kulturen und kulturellen Einflüssen vor uns haben. Bereits Erwin Stengel hatte darauf hingewiesen, daß die Höhe der Anzahl der Suizide in einem Lande das getreuliche Abbild der psychohygienischen Situation ist, welche dort herrscht. Neben den anderen Kriterien, die wir für die psychische Gesundheit einer Gruppe haben, wie z. B. Schwere und Häufigkeit psychosozialer und psychosomatischer Erkrankungen, Kriminalität, Ehescheidungen usw., nimmt der Suizid wegen seiner Endgültigkeit, Plötzlichkeit und Tragik eine sachlich berechtigte Sonderstellung ein (vgl. auch Strotzka,1972; Häfner, 1989). Eine ganze Reihe religiöser, kultureller, historischer und sozialer Determinanten beeinflußt die Suizidhäufigkeit sehr stark weshalb eine interdisziplinäre Forschung in der Suizidologie betrieben werden muß (vgl. Stubbe, 1995, 1996). Da bisher in Brasilien kaum Untersuchungen unter transkulturellen Aspekten durchgeführt wurden, entschloß sich Hannes Stubbe dieses Thema ausführlicher zu behandeln und stützte sich methodisch vor allem auf – ethnologische Feldforschungs- und !Reise-Berichte – historische Quellen – soziologische, psychiatrische und psychologische Studien – epidemiologische Arbeiten – offizielle Suizidstatistiken (im Jahre 1872 gab es in Brasilien den ersten Zensus) – eigene empirische Forschungen Was das Hauptgewicht bzw. den Schwerpunkt des Suizidgeschehens in Brasilien angeht, schlug Stubbe bereits 1985 eine konfliktsoziologische heuristische Phaseologie vor (Stubbe, 1985), die vom Zeitalter der Entdeckung (22. 4. 1500) bis ca.1900 reicht und vor allem 3 Hauptphasen unterscheidet: 1. die indianische Phase der ersten Kolonisation (ab 1500) 2. die afrobrasilianische Phase der Sklaverei ( ca. 1538 – 1888) 3. die europäische Phase seit der Immigration (ab 1819) An diesen Phasen wird sich die folgende Darstellung orientieren. Ad 1. Die brasilianische Suizidologie kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Bereits in den ersten Reiseberichten finden wir nämlich Angaben über suizidales Verhalten der Tup†-»Indianer« der Ostküste. So gibt etwa Soares de Sousa in seinem »Tratado descritivo do Brasil em 1587« eine ausführliche Beschreibung nicht nur des »Voodoo-Todes« (vgl. Cannon, 1942:182), sondern auch der damals offenbar häufigen Suizide unter den Tupinamb‚ durch Essen von Erde (!Geophagie; vgl. Soares de Sousa, 1971:314 f). Auch der deutsche Kanonier Hans Staden berichtet 1557 in den Kapiteln 30, 34 und 35 über

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krankmachende und tödliche Suggestion des paj¦ (Medizinmann) bei den Tupinamb‚ (vgl. Stubbe, 1975) Wie lassen sich nun diese suizidalen Handlungen der brasilianischen »Indianer« erklären? Folgende Hypothesen wurden bisher diskutiert: Eine evolutionistische Hypothese vertritt z. B. Zilboorg (1935), der sich hauptsächlich auf die kompilatorischen Untersuchungen von Wisse (1933) und Koty (1934) stützt, und zu dem Schluss kommt, dass Suizid offensichtlich so alt ist wie die menschliche »Rasse« und möglicherweise so alt wie Mord und natürlicher Tod. Er resumiert, daß je niedriger das kulturelle Niveau einer »Rasse« sei desto tiefverwurzelter seien die suizidalen Impulse, wobei die »primitiven Rassen« eher dazu neigten den Suizid zu idealisieren. Wir verfügen heute nicht über genügend empirisches statistisches Material, um diese auf Steinmetz (1894) zurückgehende Hypothese (vgl. auch Rost, 1899, 1927; Westermarck, 1908) verifizieren zu können. Steinmetz, mit dessen Aufsatz »Suicide among primitive people«(1894) die etnologische Suizidforschung begann, berichtete über 42 Beispiele von Suizid bei den sog. Naturvölkern. Eine andere Hypothesengruppe erkennt in den psychologischen Motiven wie Rache (Lasch, 1898), Erotik (Lasch, 1898), geringere Todesfurcht und größere Emotionalität (Wisse, 1933) Hauptgründe suizidaler Handlungen der sog. Naturvölker. Auch Vierkandt (1896) hat in seinem Werk »Naturvölker und Kulturvölker« bereits auf die Tatsache des Vorkommens von Suizid bei den sog. Naturvölkern hingewiesen. Er konstatier : »Der Selbstmord ist bei den Naturvölkern in der Tat mindestens eine ebenso häufige Erscheinung wie bei uns, wie noch jüngst gezeigt ist« (Vierkandt, 1896:283). Für Vierkandt ist es vor allem die »allgemeine Enge des Bewußtseins« der sog. Naturvölker und die »sinnliche Anschaulichkeit und Lebendigkeit mit der das Jenseits ausgestaltet wird«, die für ihre suizidalen Handlungen verantwortlich zu machen sind. Den »Tod aus psychischen Ursachen« (Voodoo-Tod) könnte man ebenfalls in diese Erklärungsgruppe einordnen (vgl. Varnhagen, 1875:42p.; Ellenberger, 1953; Cannon, 1957; Stumpfe, 1973; Stubbe, 2012:520) Die »melancholische Disposition« der »Indianer« wird von manchen Autoren ebenfalls für die Suizide verantwortlich gemacht. Schon Spix & Martius, die Brasilien von 1817 bis 1820 bereisten, beobachteten bei Indianern nostalgische Reaktionen mit tödlichem Ausgang (vgl auch Lucena, 1968:8; Menezes, 1957:56pp). Der bras. Psychiater Lopes (1932:710) sprach (sich auf Ernst Kretschmer stützend) im Hinblick auf die brasilianischen »Indianer« von ihrem »cyclothymen Temperament«. Auch in der Tup†-Sprache existiert ein Wort, das diesen melancholischen Zustand gut beschreibt: »jururffl« (= melancolico, tristonho, cabisbaixo; vgl. da Cunha, 1982:187; 1982a:459). Andere MotivGruppen sind:

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der Suizid der Alten und Kranken, wie er vor allem von Koty (1936) bearbeitet wurde, der Suizid aus wirtschaftlichen Motiven, auf den bereits Rost (1899) hingewiesen hat, der Suizid im Zusammenhang mit Trauerriten (vgl. Dublin, 1963:91; Stubbe, 1981, 1983, 1985,1990), der Massensuizid der »Indianer« als Epidemie, der vor allem aus dem Zeitalter der Entdeckungen in Lateinamerika (z. B. auf den Antillen) wohlbekannt ist (vgl. Vierkandt, 1896:284; Rost, 1899; Wisse, 1933; Peschel, 1877:432; Friederici,1925/1936). Rost (1899:341) erklärt die Massensuizide mit »der Unzureichendheit der Ernährung«, »der Freiheitsberaubung« und vor allem mit dem »Zusammentreffen kulturell höher stehender Völker mit solchen auf niedriger Kulturstufe«, wobei die Letzteren »seltsamerweise« einem Zerstörungsprozeß entgegengingen. In diese Richtung argumentiert auch Stumpfe (1980:123 – 128), wenn er von einem »Völkertod« bzw. einem »Aussterben durch psychogenen Tod« spricht. Er schreibt: »Wenn eine ganze Volksgruppe (besser : Ethnie, Anm. des Verf.s) der Ansicht ist, daß keine Möglichkeit mehr besteht, gemäß ihrer Kultur zu leben, wird sich diese subjektive Meinung auch in dem Lebenswillen des Einzelnen auswirken. Dadurch wird der Widerstandswille gegen »äußere Belastungen geschwächt, und es kommt zu einem vermehrten Absterben der Individuen durch einen psychogenen Tod.« (Stumpfe,1980:123) Wisse (1933) erklärt die Massensuizide der »Indianer« Westindiens mit Unterdrückung, Freiheitsverlust, Erniedrigung, Mißhandlungen, Zwangsarbeit und Hilflosigkeit den Europäern gegenüber. In psychischer Hinsicht seien sie wegen ihres zarten Temperaments, das keinen von außen kommenden Druck vertragen könnte, suizidalen Handlungen stärker ausgeliefert. Zudem spielten religiöse Gründe eine Rolle, indem die Indianer ein glücklicheres Leben im Jenseits erwarteten. Die suggestiven Einflüsse und die Imitation hätten ein übriges getan (hier stützt sich Wisse auf Las Casas, Lescarhot, Peschel und Buschan). Mit Bitterli (1976) müssen wir eine der Hauptursachen für die Massensuizide lateinamerikanischer Indianer in der Wirkung von gravierenden Kulturkonflikten im Zuge der kolonialistischen Vernichtung, Vertreibung und Versklavung der Indianer sehen. Im Falle Brasiliens war u. a. das »aldeamento« eine der entscheidenden Ursachen für die suizidalen Handlungen der Indianer (vgl. Stubbe, 1997). Die moderne Suizidforschung kann hier die Anomietheorie Durkheims zur Erklärung anführen und von einer sozialen und kulturellen Desintegration der indianischen Gemeinschaften sprechen, die durch einen rapiden sozialen Wandel verursacht wurde. Auch die Imitation des suizidalen Verhaltens wird heute als »Werther-Effekt« (vgl. Philips, 1980; Häfner, 1989) interpretiert. Auch neuerdings wird vereinzelt über Suizide der akkulturierten »Indianer« Brasiliens (auch in den Medien) berichtet (vgl. Brüzzi Alves da Silva, 1977:239p; Isto¦, 1986; TAZ, 24. 1. 1994; Süddeutsche Zeitung, 21. 1. 1994 etc.) Ad 2. Die afrikanischen Sklaven waren in Brasilien seit ca. 1538 auf Emp-

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fehlung der katholischen Kirche dazu bestimmt, die Indianer zu ersetzen, welche der Zwangsarbeit auf den Zuckerrohrplantagen physisch und psychisch scheinbar nicht gewachsen waren. Die Afrobrasilianer kamen im Zuge des Dreieckshandels zwischen Europa, Afrika und Amerika vor allem aus der BantuZone, aber auch aus Dahomey, Angola, MoÅambique und dem Sudan (Taunay, 1941; Ramos, 1979; Diegues Junior, 1977; Conrad, 1985; Klein, 1987; Meyer, 1990). Die Zahl der bis 1888 (dem Jahr der Abolition) nach Brasilien eingeführten Afrikaner variiert je nach Autoren zwischen 5 und 18 Millionen (vgl. Moura, 1989; Santos-Stubbe, 1992; Scis†nio, 1997). Die Afrobrasilianer haben alle Bereiche der brasilianischen Kultur und Gesellschaft entscheidend mitgeprägt. In Extremfällen reagierte der afrikanische und afrobrasilianische Sklave auf die menschenunwürdige Situation kollektiv mit !Aufständen und Rebellionen (vgl. Martin, 1988; !»Palmares«) und individuell mit Mord, Flucht (vgl. !»Quilombos«, !»banzo« und häufig mit Suizid. Wie lassen sich die suizidalen Handlungen der afrikanischen und afrobrasilianischen Sklaven erklären? Eine psychogenetische Hypothese wird von einigen Psychiatern und Psychologen vertreten. Hiernach sei leicht verstehbar, dass der Freiheits-, HeimatVerlust, sowie der Verlust der Familien- und Stammesbindungen zu suizidalen Krisen und Handlungen führe, denn es sei bekannt, daß die Sklavenhändler darauf achteten, Familien- und Angehörige der gleichen Ethnie bald zu trennen, um die Möglichkeit zukünftiger Konspirationen zu verringern (vgl. Leme Lopes, 1967:9; Miller de Paiva, 1983; Stubbe, 1985; Stubbe & Santos-Stubbe, 1990) Die soziologische Hypothese rückt die Interaktion Herr-Sklave in den Vordergrund. Bereits Tschudi (1866, Bd.2, S.76ff) berichtet in seinem Reisewerk »Reisen in Südamerika«, daß Suizide häufiger bei Sklaven vorkamen, die eine gute Behandlung erfuhren und erklärt diesen merkwürdigen Sachverhalt damit, daß unter den Sklaven möglicherweise afrikanische Fürsten und Könige gewesen seien, die sich töteten, um sich gemäß ihres Reinkarnationsglaubens mit ihren Ahnen im Jenseits wieder zu vereinen (vgl hierzu den Suizid !Xangús, eines Sohns !Yemanhas: Ramos,1958:161pp). Durkheim (1897) hätte hier von einem »fatalistischen Suizid« der Sklaven gesprochen d. h. Suiziden aufgrund eines Zustandes der Hoffnungs-losigkeit. Aber diese religionsethnologische Erklärung (vgl. Reinkarnationslehre) sagt nichts über die Relation Suizid und gute Behandlung durch den Senhor aus. Roger Bastide (o. J.:4) meint demgegenüber (sich einer psychoanalytischen Terminologie bedienend), daß solche Sklavensuizide das Ergebnis einer Gefühlsambivalenz des Sklaven seinem Herrn gegenüber seien, gegen den sich aufgrund der guten Behandlung jedoch kein Haßgefühl richten kann, sondern das sich stattdessen gegen die eigene Person richtet. Lasch (1898:38) hat wie später der Individualpsychologe Alfred Adler besonders die Rache als Suizidmotiv herausgearbeitet. Hiernach begingen die

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häufig aus Westafrika stammenden brasilianischen Sklaven Suizid, um ihre Herren pekuniär zu ruinieren und so eine Art Rache an ihnen zu üben (vgl. auch Koster, 1817, vol. 2). Hinsichtlich des Geschlechts der Suizidanten kommt Freyreiss (1824:160) in seinem Werk »Beiträge zur näheren Kenntnis des Kaiserthums Brasiliens« zu dem Ergebnis, daß die Suizide der Sklaven fast nur von Männern verübt wurden. Er erklärt dieses Faktum damit, daß die Afrobrasilianerin aufgrund der Arbeitsteilung in ihrer Ursprungskultur sich an die Sklavenarbeit auf den Fazendas in Brasilien habe besser anpassen können als der Mann. Hierzu muß aber angemerkt werden, daß der Anteil der importierten Afrikanerinnen auch nur um 25 % lag. Wie hoch war die Suizidrate der afrobrasilianischen Sklavenbevölkerung? Die Neigung zum Suizid variierte beträchtlich von Ethnie zu Ethnie (vgl. Stubbe, 1987: vor allem Galinha, Gabonese und MoÅambique). Dieses Phänomen harrt noch einer Erklärung. Bastide (o. J.:11) errechnet für die afrobrasilianische Bevölkerung S¼o Paulos im Zeitraum von 1876 bis 1880 eine hohe Suizidrate von 24/100.000 (Weiße: 6,3/ 100.000; !Pardo (»Mulatten«): 9/100.000). Viveiros de Castro (1894) hat für den Zeitraum von 1870 bis 1887 eine Suizidstatistik für den Hof von Rio de Janeiro zusammengestellt, die deutlich macht, daß Suizidversuche bei Weißen und Suizide bei Afrobrasilianern häufiger sind. Diese Daten machen auch deutlich, daß die Häufigkeit der Sklavensuizide bis zur Abolition (1888) allmählich abnimmt und sich auf ein niedriges Niveau einpendelt (vgl. Moura, 1977:39 – 41). Wir haben dieses Thema bereits an anderem Ort ausführlicher behandelt (vgl. Stubbe,1987:72ff; 1997). Ad 3. Die massive europäische Einwanderung nach Brasilien begann um 1819 (= die ersten Schweizer in Petropolis). Mit der verstärkten Immigration verlagerte sich das suizidale Geschehen allmählich in den Süden und Südosten Brasiliens, also in Regionen, die stärker europäisiert, urbanisiert und industrialisiert wurden. Die verschiedenen einwandernden Nationalitäten importierten dabei auch die für ihre Ursprungsländer typischen Suizidraten. Bereits Stonequist (1948:216) hat hervorgehoben, daß Immigranten im Allgemeinen höhere Suizidraten als die Bevölkerung des Einwanderungslandes besitzen. Es ist z. B. bekannt, daß in Gebieten mit starker deutscher Einwanderung (z. B. Südbrasilien) relativ hohe Suizidraten im Vergleich zu den Regionen mit niedriger europäischer Einwanderung zu beobachten sind. Eine Erklärung dieses Phänomens stellt die Tatsache dar, daß Migration oftmals mit einem starken soziokulturellen und psychischen Streß sowie einem Kulturschock verbunden ist (vgl. Stubbe, 2012). Zu den Risikofaktoren der psychosozialen Adaptation der Immigranten gehören vor allem: Kulturkonflikte, Kommunikationsstörungen, Ghettobildung, Ausländer-feindschaft,

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Trennung von Familienmitgliedern, Wertekonflikte etc. wobei wir aber nach ethnischen Gruppen differenzieren müssen. Die gegenwärtige Situation (seit 1900) Aufgrund einer bibliographischen Analyse des vorliegenden statistischen Materials über suizidales Verhalten in Brasilien seit Beginn dieses Jahrhunderts ergibt sich folgendes Bild: 1. Bis zum Jahre 1962 wurden in Brasilien Daten über ca. 30.000 Suizide gesammelt 2. Für S¼o Paulo ist für den Zeitraum von 1894 bis 1962 ein oszillierender Anstieg der Suizidraten feststellbar (Paiva, 1983) 3. In Gesamt-Brasilien dominierte der Suizid bei Männern , während sich Suizidversuche bei Frauen häufiger ereigneten 4. Bei Weißen traten Suizide häufiger auf als bei Personen anderer Hautfarbe 5. In Recife, in der Stadt und dem Staat S¼o Paulo, besitzen die »pardos« die höchsten Suizidraten 6. Selbstanzündung fand sich am häufigsten bei »parda-Frauen« (Ramos & Barbosa, 1966; Salles, 1943) 7. Ledige besaßen die höchsten Suizidraten (Alencar, 1962; Favero, 1951; Peixoto, 1936) 8. Während des Imperiums (1822 – 1889) dominierte als häufigste Suizidmethode das Erhängen (Strangulation). Im Jahre 1908 standen an erster Stelle die Feuerwaffen (32,8 %) gefolgt von den Vergiftungen (24,8 %). 1918 standen bereits die Vergiftungen an erster Stelle (35,2 %), gefolgt von den Feuerwaffen (23,2 %). Im Zeitraum von 1925 bis 1939 überwogen in Rio de Janeiro und Curitiba Vergiftungen mit Zyankali. Das gleiche gilt für S¼o Paulo im Zeitraum von 1948 bis 1972 (Paiva, 1983). 9. Bis 1930 fand sich der Suizid am häufigsten in der Altersgruppe bei Männern um 50 Jahren und bei Frauen zwischen 20 und 25 Jahren. Nach 1930 dominierten die Altersgruppen von 15 bis 20 Jahren beiderlei Geschlechts. 10. Suizide im Kindesalter wurden im Zeitraum von 1930 bis 1962 sehr selten beobachtet. Die Raten für Kindersuizide (bis 10 Jahre) liegen bei 0,34/ 100000 Einw. (Ramos, 1937, 1940; Araffljo, 1940; Pantoja, 1941; Alencar, 1962; Barbosa & Ramos, 1966; Zanfra, 1986; Stubbe, 1984, 1993) Das gegenwärtige Brasilien wird unter die Länder mit einer niedrigen Suizidrate eingereiht. Nach Lucena (1968:4) oszillierten die Raten im Zeitraum von 1950 bis 1960 zwischen 4,7 und 6,9/100.000 Einw. Höhere Raten fand Lucena in den Südstaaten Brasiliens (1960: 7,1/100.000), die am stärksten europäisiert, urbanisiert und technologisch am weistesten entwickelt sind. Nach Cassorla (1984)

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lagen die durchschnittlichen Suizid-Raten in Brasilien in den 80er Jahren bei 4/ 100.000 Einw. Für Rio de Janeiro (vgl. Stubbe, 1995, 1997), Bras†lia (Bucher, 1978) und andere Großstädte werden aber beträchtlich höhere Suizidraten angegeben. Die brasilianischen Materialsammlungen konzentrierten sich methodisch bisher stark auf bevölkerungsstatistische Erhebungen und nur relativ selten wurden epidemiologische Untersuchungen durchgeführt. Offizielle Suizidstatistiken beleuchten aber nur eine Seite des Suizidproblems und können vor allem mehr oder weniger wichtige Hintergrundsinforma-tionen liefern. Das Gesamtphänomen Suizid wird aber in den offiziellen Statistiken bestenfalls nur in Umrissen erkennbar, wenn man diesen Daten überhaupt Glauben schenken will. Stengel (1961) sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer »illusionären Befriedigung« und bereits Dublin & Bunzel (1933), Gruhle (1940) und vor allem Douglas (1967) haben die Aussagekraft der offiziellen Suizidstatistiken stark angezweifelt. Im Hinblick auf Brasilien bestehen vor allem folgende methodische Bedenken gegen eine kritiklose Verwendung offizieller Statistiken: – Bevölkerungs- und Suizid-Statistiken ein und desselben Jahres sind oftmals widersprüchlich – suizidales Verhalten unterliegt stark einem gesellschaftlichen !Tabu. Da die katholische Kirche (ca. 75 % der bras. Bevölkerung erklären sich als Angehörige der katholischen Kirche) Suizidhandlungen verurteilt (vgl. z. B. Lima,1955), wird in vielen brasilianischen Familien versucht, suizidales Verhalten zu verschleiern – Die Einstufung der Todesursache wird unterschiedlich gehandhabt (Cassorla,1984:78ff; Fonseca e Laurenti,1974) z. B. sind viele »Vergiftungen« und »Unfälle« in Wirklichkeit Suizide – Nach Schätzung einiger Experten sind ca. 1 bis 10 % der tödlich verlaufenden Autounfälle als verschleierte Suizide anzusehen (Strotzka,1972:219; Häfner,1989) – Shneidman (nach Wagner-Grey,1974) kommt sogar zu der Folgerung, daß die wahre Suizidziffer deshalb etwa 30 bis 50 % über der offiziell berichteten Zahl liegen dürfte. Bei der hohen Zahl von Verkehrsunfällen in Brasilien wären deshalb spezielle Untersuchungen zu diesem Problemkreis absolut notwendig. – Brasilianische Studien haben sich bisher wenig mit dem Problem der Dunkelziffer der suizidalen Handlungen d. h. der Proportion zwischen bekannt gewordenen und nicht bekannt gewordenen Fällen auseinandergesetzt. Die Kenntnis der Dunkelziffer (die in Brasilien hoch sein dürfte) ist aber wichtig, weil sie u. a. eine sichere Grundlage für die Bedarfsschätzungen für Therapieund Nachsorgeeinrichtungen sein kann. Zweitens lassen sich aufgrund sol-

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cher Kenntnisse transkulturelle Suizidstudien (Kiev, 1980; Pfeiffer, 1994; Stubbe, 1995, 2012) besser beurteilen und vergleichen und drittens ist die Kenntnis der Dunkelziffer bei hypothesengeleiteten Untersuchungen wichtig, weil diese die Auftretenshäufigkeiten von suizidalem Verhalten erklären wollen. – Die Aussagekraft offizieller Statistiken über die Motive der Suizidanten ist auch deshalb gering (vgl. Douglas, 1967), weil sie leicht durch Erwartungshaltungen und Fremdauskünfte verfälscht werden kann (vgl. Stubbe, 1996, 1997, 2012). !Banzo !Bibliografien !Gesundheit H. Stubbe (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Berlin; ders. (1996): Suizidale Handlungen in Brasilien. Eine Bibliographie. Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie, Jg.2, N8 2, S. 93 – 117; ders. (1997): Suizidforschung in Brasilien. In: Kl. Hoffmann & W. Machleidt (Hrsg.), Psychiatrie im Kulturvergleich. Berlin, S. 163 – 190

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Tabak (nicotiana tabacum Linné, nicotina rustica, nicotina bigelovii u. a.; bras. tabaco, fumo, rapé) Der T. und seine Gebrauchsformen spielen in (Wirtschafts-)Geschichte und Kultur Brasiliens eine besondere Rolle. Die Tabakpflanze gehört zu den Nachtschattengewächsen (Solnazeen). Seit der Wiederentdeckung Amerikas durch Kolumbus 1492 wurde die dort heimische Pflanze nahezu in alle Kontinente als Nutzpflanze exportiert. »In der indianischen Grundsprache, dem Taino Haitis, war tobako nicht etwa das zum Rauchen, Schnupfen oder Kauen bestimmte Blatt der Pflanze nicotiana tabacum, sondern wie Oviedo in aller Klarheit berichtet, das ›Rauchrohr‹ in Form eines Y, mit dem man den Tabakrauch einsog.« (Lokotsch, 1926: 60; vgl. auch Friederici, 1947:577 – 50; Haberland, 1975; Stubbe, 2012:174 f) Der wissenschaftliche Gattungsname nicotiana (frz. nicotiane) ist ebenso wie Nikotin (frz. nicotine) nach dem frz. Gesandten in Lissabon Jean Nicot (1530 – 1600) benannt, der im Jahre 1560 die T.pflanze nach Frankreich schickte. Die erste dt.sprachige Erwähnung der T.pflanze ist bereits 1579 in Schriften über den T.anbau zu finden (vgl. Immensack, 1996). Einige indianische Ethnien an der Nordwestküste Nordamerikas, in den nördlichen Plains und in Kalifornien bauten den T. an. Verwendung fand der T. ursprünglich in ganz Amerika für Zigarren (mit eigenen Zigarrenhaltern z. B. Tukano in Brasilien), Zigaretten, für das Rauchen der Pfeife (vom südlichen Kanada, ganze USA, Mittelamerika, Südamerika bis Patagonien), zum Schnupfen, zum Kauen, Essen und Trinken von T.wasser. Als Hilfsgerärt beim Rauchen dient die wahrscheinlich ältere gerade, röhrenförmige und die gewinkelte Pfeife aus einer Vielzahl von Materialien. Beim Schnupfen bediente man sich eines gegabelten oder geraden Schnupfrohres, durch das der pulvrisierte T. entweder selbst eingesogen oder von einem Partner eingeblasen wird. Neben gelegentlicher profaner Verwendung war der T. in Südamerika (vgl. Stahl, 1925) vor allem im Zusammenhang mit dem »Medizinmann« (paj¦, curandeiro)

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und Krankenheilung rituell von Bedeutung (!Heilerinnen), während in Nordamerika der Akzent der T.nutzung vor allem auf dem »calumet« (»Friedenpfeife«) liegt, deren gemeinsames Rauchen Frieden stiftete und Verträge besiegelte. In Europa erfuhr der Gebrauch, der ursprünglich auf religiöse oder rituelle Zeremonien beschränkt war, eine Wandlung: T. wurde zu einem Genußund Rauschmittel. Die berauschende Wirkung des T. fand ihren Niederschlag in der zeitgenössischen dt. Formulierung: »die truckene Trunckenheit« (1658) des T.rauchens oder die »Sauferei des Nebels« (vgl. Schivelbusch, 1990). War das Rauchen anfänglich ein aufwendiger und umständlicher Vorgang, wurde es zu Beginn des 19. Jh.s durch die Einführung der Zigarette und schließlich in der Mitte des 19. Jh.s durch die Massenanfertigung der Zigaretten (1. dt. Zigarettenfabrik: Dresden 1862) vereinfacht und den Massen (durch Reklame) zugänglich gemacht. Nikotin (1828 rein dargestellt: Posselt & Reimann) gilt unter den mehr als 3800 Inhaltsstoffen des T.s als die abhängigmachende Substanz, die denen anderer Suchtmittel wie Amphetaminen, Kokain oder Morphin gleichkommt. Das zur Gruppe der Alkaloide gehörende Gift wird in den Wurzeln der Pflanze gebildet. Die akute Wirkung des Nikotins reicht von Schwindelgefühlen und Schweißausbrüchen über eine erhöhte Aktivität der Verdauungsorgane, Veränderungen des Blutdrucks und der Herzschlagfrequenz bis zu Störungen der Bewegungskoordination. Auch als Anti-Erotikum bzw. Anaphrodisiakum wurde die Wirkung des Nikotins diskutiert (Marcuse, 1926:768 f). Tabakrauchbestandteile fördern die Entstehung von (Lungen-) Karzinomen, HerzKreislauf-Erkrankungen, chronische Bronchitiden und peripheren Durchblutungsstörungen. Sekundär entstehen gastrointestinale Störungen (vgl. Gastpar et al., 1999). Psychologisch lassen sich Genußraucher, Konfliktraucher, Suchtraucher und Gelegenheitsraucher unterscheiden. Man diskutiert theoretisch Rauchen als Regression zur oralen Phase, Rauchen als bedingter Reflex, Rauchen als Ritual, Rauchen als gesellschaftlicher Zwang (vgl. Faust, 1983). Die Beziehungen zwischen Tabakkonsum und einzelnen Erkrankungen sind als »lineare Dosis-Wirkungs-Beziehungen« bekannt: je höher die Menge gerauchter Zigaretten im Leben ist, desto wahrscheinlicher bilden sich einzelne Erkrankungen aus, belegt für Herzinfarkt, Aortenaneurysmen, Arteriosklerose, zerebrale vaskuläre Erkrankungen, chronische Bronchitis und Emphysem, Lungentuberkulose, Pneumonie, Ulcus pepticum und Karzinome mit den Lokalisationen im Mund, Pharynx, Ösophagus, Lunge, Pankreas sowie Blase (vgl. John, In: Gastpar et al., 1999:3). Tabak in (Afro-)Brasilien: Der T. wurde und wird in den traditionellen afrobras. Kulten (charuto, fumo, cachimbo; vgl. z. B. Cacciatore, 1977:132) und sogar von älteren Afrobrasilia-

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nerinnen auf dem Land viel verwendet. Lopes (2006: 159) weist zu Recht darauf hin, dass der von den Europäern hochgeschätzte T. lange Zeit in Brasilien vor allem im Reconc–vo Baiano, Maragogipe, Cachoeira, Muritiba e Cruz das Almas angepflanzt wurde und beim Einkauf der Sklaven als entscheidendes Produkt und geradezu als »moeda« (Münze) im Sklavenhandel betrachtet wurde. Deshalb wurde Salvador (BA) in der letzten Phase der Sklaverei auch zu dem bedeutendsten Sklavenhandelsplatz (vgl. auch Cascudo, 1980, Coelho, 1985). !Alkoholismus !cachaÅa !candombl¦ !Gesundheit !Maconha !Phytotherapie G. Stahl (1925): Tabak im Leben der südamerikanischen Völker, ZfE, 57; K. Lokotsch (1926): Etymologisches Wörterbuch der amerikanischen (indianischen) Wörter im Deutschen. Heidelberg; M. Marcuse (Hrsg.) (1926): Handwörterbuch der Sexualwissenschaft. Bonn, 2. Aufl. (Reprint, Berlin, 2001); B. Laufer, W. D. Hambly & R. Linton (1930): Tabacco and its use in Africa. Field Mus. Nat. Hist. Anthrop. Leafl., 29; A. Friederici (1947): Amerikanistisches Wörterbuch. Hamburg, S.577ff; G. Böse (1957): Im blauen Dunst. Eine Kulturgeschichte des Rauchens. Stuttgart; K. H. Stärker (1974): Psychologie des Rauchens. Heidelberg; W. Haberland (1975): Das gaben sie uns. Indianer und Eskimo als Erfinder und Entdecker. Völkerkunde Museum. Hamburg; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore Brasileiro. S¼o Paulo, p. 116, 347 f, 727; V. Faust (1983). Suchtgefahren in unserer Zeit. Stuttgart; L. C. de Mello Coelho (1985): O tab‚co no Brasil-colúnia. Revista do Instituto Histûrico e Geogr‚fico Brasileiro (RJ), (346), p. 113 – 160; E. C. C. Corti (1986): Geschichte des Rauchens. Frankfurt; Tabak. Katalog (Reiss-Museum, MA). Mannheim, 1987; W. Schivelbusch (1990): Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel. Frankfurt; R. Immensack (1996): Bibliographie als Geschichte der deutschsprachigen Tabakliteratur von 1579 – 1995. Braunschweig; M. Gastpar et al. (1999): Lehrbuch der Suchterkrankungen. Stuttgart; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen; Museen: Tabak-Museum, Husum; Tabak-Museum, Hockenheim

Tabu (urspr. polynes.) Während James Cook aufgrund seiner Südsee-Expeditionen (1768 – 1780) das polynesische Wort T. mit »Verbot« übersetzte, haben spätere Forscher den Wortsinn erweitert, indem sie von »heilig«, »unrein« oder »geschützt« sprachen. Daraus leiteten sich einige ethnopsy-chologische Hypothesen ab: James G. Frazer (Bd.1, 1977:28 f) bezeichnete das T. als »negative Anwendung der praktischen Magie«. Das Ziel der negativen Magie oder des T. sei, etwas Unerwünschtes zu vermeiden. Nach James George Frazer (1910) ist das T. eine Form des »Aberglaubens« und sein ursprünglicher Charakter sei religiös (und nicht politisch). S. Freud sprach vom T. als einem universellen Element der frühen Religion, das eine deutliche Gefühlsambivalenz offenbare. Das T. der Tiere sei

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Kern des !Totemismus. Infolge der Triebverdrängung bleibt das Motiv des bewussten Verbotes unbekannt (unbewußt). Wichtigste T.verbote seien die Tötung des Totemtieres und der Sexualverkehr zwischen Totemgenossen. Damit hob Freud die sozialpsychologische Funktion des T.s als wirksame Beschränkung der Triebbefriedigung hervor, die ein geregeltes soziales Leben ermöglicht. Wilhelm Wundt (1912:191ff) interpretierte das T.konzept dahingehend, daß seine Vertreter das »Heilige« noch nicht vom »Unreinen« trennen könnten. W. R. Smith (1889) entdeckte bei dem Studium der altarabischen Gesellschaft und in den Reinigungs- und Speisevorschriften des Judentums Phänomene, die an die polynesischen T.vorstellungen erinnerten. R. Firth (1929) hob vor allem die ökonomische Bedeutung des T. hervor, weil es die Nahrungsmittelversorgung garantiere und dem Schutze des privaten wie öffentlichen Eigentums diene. Für Arnold Gehlen (1956) institutionalisiert das T. eine kritische Situation, normiert das Verhalten und schafft gemeinsam mit Ritus, Darstellung und Kult Stabilisationskerne, an denen sich das Sozialbewusstsein orientiert. In der modernen !Sozialpsychologie wurde der Begriff T. verallgemeinert (vgl. Augras, 1989). T.s sind hiernach die scheinbar naturgegebenen »Selbstverständlichkeiten« (z. B. Unverletzlichkeit der Person, Peinlichkeits-grenzen, Inzestverbot etc.), die in der Sitte enthalten sind und im Recht, in der Religion und im Wirtschaftsleben kodifiziert wurden. Durch ihren Zwangscharakter kanalisieren sie das Handeln und schließen die Gesellschaftsmitglieder zusammen. Der polynesische T.-Komplexe war auf das engste mit einer bestimmten Gesellschaftsordnung verbunden und funktionalistische Interpretationen haben das polynesische T. lapidar als Mittel der sozialen Kontrolle verstanden. Tabus der Afrobrasilianer: Der Brasilianer Josu¦ de Castro, dem wir auch eine »Geopolitik des Hungers« (Geopol†tica da fome, 1961) verdanken, hat eine originelle »Fisiologia dos Tabus« (1954) verfaßt, in der er die Pawlowsche Theorie des klassischen Konditionierens auf das Problem der T.s angewendet hat: »Der Primitive führt eine Geste, eine Handlung aus, die für sich genommen keinerlei Furcht (z. B. das Essen eines bestimmten Nahrungsmittels) auslöst, aber wenn während dieser Handlung und noch in wiederholten Fällen eine Erregung stattfindet, die ihn erschreckt (die Entladung eines Blitzes oder der Donnerschlag oder das Brüllen eines gefährliches Tieres), genügt nachfolgend die Anwesenheit dieses Nahrungmittels um ihn in Furcht zu versetzen und es zu meiden. Das Nahrungsmittel wird zum Tabu.« (Castro, 1954: 22 f) GonÅalves Fernandes gibt im »Dicion‚rio do Folclore« Cascudos (1980:728 – 733) eine Übersicht über die Tabus im Nordosten Brasiliens (vgl. faz mal, tabu da mulher, tabu do fogo, tabus alimentares, etc.). Viele der Nahrungstabus wurden auch aus ökonomischen

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Gründen bewußt von den Sklavenhaltern den Sklaven auferlegt (vgl. z. B. Castro, 1954; Cascudo, 1980; Scis†nio, 1997:304). Ein charakteristisches und religiös motiviertes T. für die Afrobrasilianer ist bspw., nicht zuzulassen, daß der eigene Kopf von anderen Personen angefaßt wird, da der Kopf als der Sitz der Götter und der Seele verstanden wird. Eine Person, die negative Empfindungen hat (wie z. B. Neid) könnte dadurch diese Empfindung auf den Anderen duch das Anfassen des Kopfes übertragen und der angefassten Person dadurch Schaden zufügen. !Küche !Reinheit J. G. Frazer (1890, 1977) : Der goldene Zweig. Eine Studie über Magie und Religion. 2 Bd.e. Frankfurt/M.; A. van Gennep (1904): Tabou et tot¦misme — Madagascar. Paris; W. Wundt (1912): Elemente der Völker-psychologie. Leipzig; S. Freud (1912/13): Totem und Tabu. Leipzig; R. Thurnwald (1927): Meidung. In: M. Ebert (Hrsg.), Reallexikon für Vorgeschichte, Bd. 8. Berlin; F. R. Lehmann (1930): Die polynesischen Tabusitten. Leipzig; J. de Castro (1954): Fisiologia dos tabus. Rio de Janeiro; M. Douglas (1966): Purity and danger. N. Y. (dt. 1985); H. Webster (1973): Taboo. N.Y.; M. Douglas (1974): Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Frankfurt/M.; L. da C. Cascudo (1980) : Dicion‚rio do folclore brasileiro. S¼o Paulo; J. Goody (1982): Cooking, cuisine and class. Cambridge; M. Augras (1989): O que ¦ tabu. S¼o Paulo; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro, p. 304; H. Stubbe (2008): S. Freuds ›Totem und Tabu‹ in Mosambik. Göttingen

Tabubruch In traditionalen Gesellschaften führt ein T. zu schweren somatischen und psychischen Störungen bzw. sogar zum Tode (vgl. Voodoo-Tod). Auch nach westlicher psychodynamischer Auffassung kann ein (unbewusster) Konflikt bestimmter Motive mit einem !Tabu zur Ursache einer Neurose werden. !banzo ! Krankheitsvorstellungen, ätiologische W.-S. Tseng (2001): Handbook of Cultural Psychiatry. Boston; H. Kraft (2004): Tabu. Magie und soziale Wirklichkeit. Düsseldorf; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Tanz Schon aus der Sklavereizeit liegen Berichte bzw. Abb.n über »batuques« der Sklaven vor. Scis†no (1997:127ff) weist z. B. auf eine Abb. und Beschreibung im »Zoobiblion« des deutschen Malers Zacharias Wagner (1614 – 1670) hin, der sich sieben Jahre während der holländischen Besatzung als Mitglied der Westindien-Kompanie in Pernambuko aufhielt (vgl. Kupferstichkabinett in Dresden;

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auch die Tanzabbildungen bei Rugendas und Debret). Die Slavenhalter (Senhores) waren von diesen Tänzen jedoch nicht angetan und verboten sie oftmals (vgl. Ianni, 1962:147 f). Aufschlussreich ist hier der Bericht G. Wilhelm Freyreiss’ (1789 – 1825), der mit Langsdorff nach Brasilien kam, und im Jahre 1815 über die Tänze der Sklaven folgendes schreibt: »Und so endlich giebt der wilde Neger, in dem ihn ergötzenden lärmenden Geschreie, dem Zerren seiner Gliedmaassen; die richtigste Stufe auf der er stehet. Nach unsern Begriffen von Schönheit ist solche sehr tief und sonderbar ist es, dass die Tänze der Neger, gerade das Gegenteil der unserigen sind; denn während wir uns bemühen den Körper bei denselben im vorteilhaftesten Lichte zu zeigen und während unsere Tanzmeister sich alle erdenkliche Mühe geben, ihre Zöglinge, die Basis des Tanzes, eine aufrechte, ungezwungene Stellung, zu lehren; sinnet der Neger darauf seinen Körper auf das fürchterlichste beim Tanze zu verzerren; jede Muskel die er in seiner Gewalt hat, ist dabei in unnatürlicher Bewegung und jemehr es ihn gelinget durch Zerren, zu verunstalten, desto lauteren Beifall zollen ihm seine Landsleute. Man folge mir in das geräumige Gewölbe eines Sklavenhändlers der Hauptstadt und man wird eine grosse Anzahl neuer Ankömmlinge, nach ihrer vaterländischen Art froh sehen, welches ihnen die Händler zu sein erlauben, weil sie wissen dass sonst Mangel an Bewegung und Heimweh, ihren schändlichen Gewinn schmälern. Hier finden wir nun einige Hunderte geschorner, nackter Neger, sowohl verschieden im Geschlechte als dem Alter einen grossen Kreis bilden, die flachen Händen aus Leibeskräften zusammen schlagen, mit den Füssen trampen und mit aller Kraft der Stimme einen immerderselbe bleibenden 3 tönigen Gesang herbrüllen. Aus ihrem Kreise tritt einer in die Mitte, drehet sich hier um, verzerret die Glieder und zeiget darauf auf einen andern ihm beliebigen, der sofort dasselbe thut und so gehet es ohne alle Veränderung bis man müde, sich genöthiget siehet auszuruhen. Dieser Rundgesangtanz hält aber zuweilen Stundenlang zum grössten Verdrusse der Nachbarn an.« (Freyreiss, 1968:93 f) Tanz als Überlebensstrategie? Tanz als Therapie? (vgl. Scis†nio, 1997:129) Roger Bastide (1971:72) weist in seinen »As religiþes africanas do Brasil« (vol.1) darauf hin, dass die Erlaubnis der Senhores ihren Sklaven und Sklavinnen an bestimmten Tagen Tanzvergnügen zu erlauben, rein ökonomisch motiviert war : »A danÅa parecia-lhes uma t¦cnica de excitażo sexual, um incentivo — procriażo, e por conseguinte um meio mais econúmico de renovar seu investimento humano sem perda de capital.« Typische afrobras. Tänze aus der Sklavereizeit sind: afox¦, bambaquerÞ, boide-zabumba, bangulÞ, batucada, batuque, batucaj¦, cabinda, cacumbu, bendenguÞ, catup¦s, ecu, danÅa de moÅambique, damurixa, cucumbi, jeguedÞ, maxixe, maculelÞ, punga, opassuma, fofa, opanij¦, zambiapunga, tambor-de-crioula, tambor-de-mina, candomb¦, candombl¦, cateretÞ, canjerÞ, cafife, capoeira, mabunda, congada, congado, coco, jongo, lundu, maracatu, umbigada, saram-

Tatauierung

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bu, ril und !samba (vgl. Scis†nio, 1997:128 f etc.; Dicion‚rio Houaiss Ilustrado Mfflsica Popular Brasileira, 2006; Lopes, 2006; zu den aus Afrika stammenden Musikinstumenten, vgl. !Berimbau) Unter »DanÅa Afro« versteht man in Brasilien eine Form des zeitgenössischen Baletts mit einer eigenen Choreografie, die von afrobras. Tänzen inspiriert ist (vor allem den orix‚s des !candombl¦s). Als Ursprung nimmt man die 40er Jahre des 20. Jh.s an, die Zeit des !»Teatro Experimental do Negro« (TEN), in der sich die »Grupo dos Novos« bildete (später : Teatro Folclûrico Brasileiro). Die afrobras. Balerina und Choreografin Mercedes Ign‚cia da Silva Krieger (= Mercedes Batista) (*1921), die auch die erste Afrobrasilianerin war, die im »Teatro Municipal do Rio de Janeiro« auftreten konnte (1948), entwickelte eine Systematik, den Status und eine Ausbildungsstätte dieses Tanzes, vergleichbar dem »Harlem Dance Theater« (NY) (vgl. Lopes, 2006: 50 f). Die !»capoeira«, der bekannteste afrobras. Kampftanz, ist angolanischen Ursprungs. !Berimbau !Bibliografien !Capoeira !Made in Africa !Musik !Reiseberichte !Samba M. de Araffljo (1963): A modinha e o lundu no s¦c. XVIII. S¼o Paulo; G. W. Freyreiss (1815, 1968): Reisen in Brasilien. Stockholm; B. Gûis Dantas (1972): A taieira de Sergipe, uma danÅa folclûrica. Petrûplis; S. Figueiredo Ferretti (1977): A danÅa do lelÞ na cidade do Ros‚rio no Maranh¼o. S¼o Lu†s: SIOGE; F. Gaffney (1979): Evolution and revolution of Afro-Brazilian dance. Journal of Popular Culture (Bowling Green), 13(1), p. 98 – 105; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore brasileiro. S¼o Paulo; J. Ramos Tinhor¼o (1988): Os sons dos negros no Brasil. Cantos-danÅas-folguedos: origens. S¼o Paulo; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escavid¼o. Rio de Janeiro; Dicion‚rio Houaiss Ilustrado Mfflsica Popular Brasileira. Rio de Janeiro, 2006 (mit Diskografie); N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo; S. Valente (coord.) (2007): Centen‚rio do Frevo. Recife: CEPE (mit Musik-CD); B. Alge (2010): Die Performance des mouro in Nordportugal. Eine Studie von Tanzdramen in rel. Kontexten. Berlin

Tatauierung (samoan. tatau = passend, angemessen; auch: Tätowierung; bras. tatuagem) Körperdeformationen durch eine in die Epidermis eingebrachte Farbpigmentierung (Farbstich-Tatauierung). Verschiedene Formen der T. sind bekannt: Punkt-T., Schnitt-T. , Naht-T., Narben-T. etc. Die teilweise sehr schmerzhafte Prozedur wird von T.s-spezialisten durchgeführt. Die geschlechtsspezifische T. dient neben ihrem Schmuckcharakter vor allem als Rang- und Status-Kennzeichnung. Schon aus der europäischen Prähistorie sind T.en bekannt (vgl. Ötzi; Kunter, 1971). Über Trauer-T. berichtet Stubbe (1985:88 f). In der westlichen

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Welt, früher nur in Subkulturen (z. B. Seeleute, Verbrecher) verbreitet, ist T. heute ein Massenphänomen. In Brasilien kann man auf vielen alten !Fotografien des 19. Jh.s noch die tatauierten Gesichter der afrobrasilianischen Sklaven und Sklavinnen erkennen. T. werden häufig im Zusammenhang mit !Initiationen durchgeführt und sind ein Zeichen der ethnischen Identität und Herkunft (vgl. z. B. die Reisebeobachtungen von Freyreiss aus dem Jahre 1815; Freyreiss, 1968:90ff). T. sollte jedoch nicht mit den Markierungen der Sklaven und Sklavinnen verwechselt werden, die ihnen von den Besitzern als Erkennungszeichen (marcas) in die Haut eingebrannt wurden (vgl Scis†nio, 1997:247 f). Freyreiss beobachtet z. B. 1815: »So sah ich junge Mädchen denen man grausam genug ein Zeichen auf die werdende Brust gebrannt hatte.« (Freyreiss, 1968:90). Den geflohenen und wieder eingefangenen Sklaven wurde gemäß dem Alvar‚ (3 de marÅo de 1741) der Buchstabe »F« (= fug¼o) in die Haut eingebrannt (vgl. Scis†nio, 1997:248). !Initiation !Sklaverei P. Cattani (1922): Das Tatauieren – Eine monographische Darstellung. Basel; W. D. Hambly (1925): The history of tatooing and its significance. London; Samoa gestern. Eine Dokumentation mit Fotografien von 1890 – 1918 (E. Scheurmann) (1927). Zürich, 1979; R. Zeller (1941): Das Tatauieren. Ciba Zeitschrift, Nr. 82. Basel; G. W. Freyreiss (1815, 1968): Reisen in Brasilien. Stockholm ; M. Bourgeois & A. Champagne (1971): Tatouage et psychiatrie. Annales Medico-Psychologiques, 2, 1971:391 – 413; H. Stubbe (1985): Formen der Trauer. Berlin; C. R. Sanders (1988): Marks of mischief: Becoming and being tattooed. A Journal of Ethnographic Research, vol. 16, 4, 1988:395 – 429; Arquivo Nacional (RJ): Marcas da escravid¼o. Lista de escravos emancipados vindos a bordo de navios negreiros (1839 – 1841). Rio de Janeiro; C. Grongard & C. Lazi (1994): The tattooo: Graffiti for the soul. London; K. Gröning (1996): Geschmückte Haut. München; A. E. Scis†nio (1997): Dicion‚rio da escravid¼o. Rio de Janeiro; J. Schoch (2003): Hebe mich heraus! Über den Sinn von Tätowierungen. Die ZEIT, Nr. 34, 14. 8. 2003:36;

Teatro Experimental do Negro (TEN) Während des II. Wk.s im Jahre 1944 gründet der 2011 verstorbene Abdias do Nascimento (1914 – 2011) das !»Teatro Experimental do Negro« (=Experimentelles Theater der Schwarzen) in Rio de Janeiro. Eine Theatereinrichtung, die vor allem Theaterstücke aufführte, die von Afrobrasilianern selbst geschrieben, inszeniert und gespielt wurden und spezifisch afrobrasilianische Themen behandelte. Dies war eine echte künstlerische Revolution in der Theaterlandschaft Brasiliens und ein fundamentaler Schritt um diese Bevölkerungsgruppe aus dem Schatten der Nebenrollen zu befreien. Sie wurden hierdurch im weitesten Sinn des Wortes AKTEURE ihrer eigenen Geschichte. Eine berühmte mehrfach ausgezeichnete afrobras. Schauspielerin, die im

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Jahre 1945 im TEN ihre Karriere begann, war Ruth de Souza (*1921). Sie konnte auch als erste Afrobrasilianerin im Teatro Municipal (RJ) auftreten. Bekannt wurde sie vor allem durch die internat. bekannte Filmserie »Sinh‚ moÅa«. Eine wichtige Rolle im TEN spielte auch der afrobras. Aktivist, Maler und Bühnenbildner Santa Rosa (1909 – 1956). Eine Weiterentwicklung des TEN stellt der »Bando do Teatro Olodum« (gegr. 1990) in Bahia dar (vgl. Lopes, 2006:160). !Film !Kunst !Literatur !Musik R. Paix¼o (1882): Cenas da escravid¼o (poemeto). Rio de Janeiro; J. Nunes (1887): Corja opulente: drama abolicionista em 3 atos representado em todas as provincias do Norte. Rio de Janeiro; P. A. Huonder (1918): Zur Geschichte des Missionstheaters. Aachen; J. Luso (1938): O teatro e a aboliżo. Mens‚rio do Jornal do Com¦rcio (RJ) 2 de maio, p. 743 – 746. Rio de Janeiro; A. do Nascimento (1960): Sortilege (Black Mystery). Teatro Experimental do Negro. Rio de Janeiro; ders. (1961): Dramas para negros e prûlogo para brancos. Teatro Experimental do Negro. Rio de Janeiro; ders. (1966): Teatro Experimental do Negro – Testimunhos. Rio de Janeiro; R. Bastide (1974): Sociologie du th¦–tre nÀgre br¦silienne. CiÞncia e Cultura (SP), 26(6), p. 551 – 561; Fl. M. Edwards (1975): The theater of the black diaspora: a comparative study of black drama in Brazil, Cuba and the United States. Ph. D. New York University ; M. Flores (1978): O teatro abolicionista de Apolin‚rio Porto Alegre. Estudos Ibero-Americanos (Porto Alegre), 4(2), p. 239 – 248; A. Boal (1979): Theater der Unterdrückteen. Frankfurt/M.; Fl. Sussekind (1982): O negro como arlequim: teatro e discriminażo. Rio de Janeiro; M. G. Mendes (1982): A personagem negra no teatro brasileiro: entre 1838 e 1888. S¼o Paulo; dies. (1983): O negro e o teatro brasileiro: entre 1889 e 1982. Doutorado. S¼o Paulo:USP; R. G. Müller (1988): Identidade e cidadania: o Teatro Experimental do Negro. Dionysos (RJ), (28), p. 11 – 52; V. H. Adler Pereira (1988): O TEN e a modernidade. Dionysos (RJ), (28), p. 65 – 77; J. C. de Souza Tavares (1988): Teatro Experimental do Negro: contexto, estrutura e ażo. Dionysos (RJ), (28), p. 79 – 87; M. A. Motta Mau¦s (1988): Entre o embranquecimento e a negritude: o TEN e o debate da quest¼o racial. Dionysos (RJ), (28), p. 89 – 101; H. Costa (1988): O negro no teatro e na TV. Estudos Afro-Asi‚ticos (RJ), (15), p. 76 – 83; L. M. Martins (1989): Identidade e ruptura no teatro do negro. Estudos Afro-Asi‚ticos (RJ), (16), p. 112 – 117; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo

Totemismus (totemismo) Einführung: Totem und Totemismus Das Wort »Totem« stammt aus einer Algonkin-Sprache (Ojibwa), in der »totam«, »todaim« oder »ndodem« soviel wie Verwandtschaft, Familienabzeichen oder auch persönlicher Schutzgeist bedeutet. Der Begriff wurde von J. Long 1790 in die Ethnologie eingeführt. »Unter Totemismus verstehen wir die enge mythisch-magische und auch (angenommene) verwandtschaftliche Verbindung eines Menschen oder einer

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Gruppe mit einem Tier, einer Pflanze oder leblosen Objekten und Erscheinungen. Aus dieser Verbindung entstehen Riten, Meidungen (!Tabus) und gegenseitige Hilfeleistungen. Man unterscheidet Individual-, Gruppen- und Geschlechtstotemismus. Von Bedeutung ist jedoch nur der Gruppentotemismus; und von diesem wiederum ist am wichtigsten der Klantotemismus«, schreibt der Religionsethnologe Thiel (1977:141) (vgl. auch das Wörterbuch der Völkerkunde, 1999:377; DTV- Atlas Ethnologie, 2005:235ff). Anfänglich d. h. vor allem im Rahmen der evolutionistischen Ethnologie, deuteten Ethnologen den Totemismus als universelle Urreligion und suchten mit seiner Hilfe zum Sinn von kulturellen Ausformungen wie Exogamie, Meidung (!Tabu) oder Symbol vorzudringen. B. Ankermann verfasste 1915/16 z. B. einen Aufsatz mit dem Titel »Ausdrucks- und Spieltätigkeit als Grundlage des Totemismus« (Anthropos, X/XI), in dem er u. a. darlegt, daß sich der Totemismus aus dem intimen Verhältnis von Jäger und Tier begreifen lasse. In den Gesellschaften der Sammler und Jäger fand der Totemismus bekanntlich seinen fruchtbarsten Nährboden. J. F. McLennan (1827 – 1881) betrachtete Totemismus als Ausdruck von !Fetischismus (Objektanbetung) und exogam-unilinearen Abstammungsgruppen (1865). Wilhelm Wundt (1832 – 1920) gilt in Deutschland, das damals ein grosses Kolonialreich besaß, als der bedeutendste Experimental- und Völker-Psychologe. Er führte selbst keine Feldforschungen durch (wie er überhaupt wenig gereist ist), sondern entwickelte seine Völkerpsychologie aus der damals schon reichhaltigen ethnographischen (!Reise-)Literatur. Seine von 1900 bis zu seinem Tode im Jahre 1920 verfassten 10 völkerpsychologischen Bände umfassen mehr als 5000 Seiten und behandeln Themen wie Sprache, Sitten, Mythos, Kunst, Religion und Kultur. Wundt betreibt ursprünglich eine »Psychologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkt« (1862) aus, was soviel bedeutet, daß er seelische Vorgänge auf der Grundlage physiologischer Veränderungen erklären will. Zwangsläufig fordert Wundt deshalb die experimentelle Methode und die statistische Auswertung für die Physiologie und Psychologie. In den letzten zwanzig Jahren seines Wirkens zieht sich Wundt von der experimentellen Psychologie allmählich zurück und arbeitet intensiv bis zur fast völligen Erblindung an seiner zehnbändigen »Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte« (1900 – 1920). Wundt stellt die Völkerpsychologie auch der Individualpsychologie gegenüber. Während diese das individuelle Bewusstsein und seine Entstehung experimentell untersuchen kann, bildet die Völkerpsychologie die notwendige Ergänzung. Kein Individuum ist nämlich gänzlich aus sich selbst zu erklären, vielmehr gilt es, die seelischen Kräfte mit einzubeziehen, die aus der menschlichen Gemeinschaft stammen, der es angehört. Dazu zählen Sprache, Kunst, Mythos, Sitte, Staat und allgemeine Willensformen. Den individualpsychologischen Bewusstseins-akten

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Vorstellen, Fühlen und Wollen entsprechen in der Völkerpsychologie Sprache, Mythos und Sitte. In der Sprache spiegelt sich die Vorstellungswelt der Menschen; der Mythos gibt den in der Sprache niedergelegten Vorstellungen ihren Inhalt aus den Wahrnehmungen und Phantasieschöpfungen, die von Gefühlsrichtungen bestimmt sind; die Sitte umfasst alles, die gemeinsamen Willensrichtungen, die über die Abweichungen individueller Gewohnheiten die Herrschaft erringen und sich zu Normen verdichtet haben, denen von der Gemeinschaft Allgemeingültigkeit beigelegt wird (vgl. Schneider, 1990; Oelze, 1991; Stubbe, 2012). Wundt’s Völkerpsychologie vertrat einen heute überholten unilinearen Evolutionismus im Hinblick auf die Kulturentwicklung der Menschheit. Er unterscheidet hiernach folgende Entwicklungsstufen : 1. Primitivkultur : Zauber- und Dämonenglauben, primitiver Mensch, reduzierte (Wurzel-) Sprache, gegenständliches Denken, Horde 2. Totemismus: Totem- und Tabu-Vorstellungen, Hauch- oder Schatten-Seele, Ahnenkult, Initiationen 3. Heroenzeit: Helden und Götter, Gesellschaft, Städtegründungen, Rechtskodifizierung, kosmogonische und theogonische Mythen 4. Humanität: Weltreiche, Weltkulturen, Weltreligionen, Weltgeschichte (vgl. Stubbe, 2006:44ff) Im Hinblick auf den Totemismus schreibt Wundt (1913:139): »Nehmen wir alles dies zusammen, so ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit der Schluß, daß die totemistische Kultur überall einmal eine Vorstufe der späteren Entwicklungen und eine Übergangsstufe zwischen dem Zustand des primitiven Menschen und dem Helden- und Götterzeitalter gebildet hat.« Diesem Entwicklungsschema zufolge, wäre die damaligen afrikanischen Gesellschaften nach Wundt (1913:116 – 278) auf der 2. Stufe des Totemismus und damit auf einem viel früheren Entwicklungsstadium als die (europäische) Stufe der Humanität eingeordnet worden (vgl. Stubbe, 1992:121 – 138; 2006). Zu den Besonderheiten des totemistischen Zeitalters zählt Wundt u. a. die totemistische Stammesgliederung, die Exogamie, den Totemglauben, die Tabugesetze, den Fetischkult und die Mythenmärchen, also alles Themen mit denen sich Sigmund Freud in »Totem und Tabu« (2012/13), sowie Arnaldo Melo Sequeira (1934) in Mosambik intensiv beschäftigt haben (vgl. Stubbe, 2008). Für J. Frazer (1854 – 1941) repräsentierte Totemismus ein Überbleibsel aus einer Epoche der Menschheitsgeschichte, in der die biologische Vaterschaft nicht bekannt gewesen sein soll (1887). W. H. Rivers (1864 – 1922) definierte Totemismus als Kombination von Elementen sozialer (Bindung einer exogamen Gruppe an ein Naturphänomen bzw. eine Spezies), psychologischer (Glaube an die Abstammung vom Totemwesen) und ritueller Art (Tabuisierung oder Anbetung des Totemwesens) (1924). Später ließ dann das theoretische Interesse

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nach, als man erkannte, daß ›Totems‹ nicht Gegenstand adorativer Verehrung sind, sondern meist nur Embleme individueller oder gruppenspezifischer Identität darstellen. Die Kritik an der ›totemistischen Illusion‹ wurde massiv durch Cl. L¦vi-Strauss (1962) fortgeführt, indem er im Phänomen Totemismus wesentlich kulturelle Klassifikations-praktiken Verwirklicht sah (»wildes Denken«, vgl. Stubbe, 2012:121ff; vgl. auch die Kritik in Edward E. Evans-Pritchard: Theorien über primitve Religionen. Frankfurt/M., 1981:84 f, 91 f). Edmund Leach charakterisiert präzise diese Position von L¦vi-Strauss: »In anderem Zusammenhang, wo sich L¦vi-Strauss darum bemüht, das anthropologische Dunkel aufzuhellen, das sich um den Begriff des Totemismus verbreitet hat, kritisiert er die funktionalistische These, die besagt, daß sich die gesellschaftliche Wertschätzung totemistischer Tiere oder Pflanzen aus ihrem ökonomischen Wert herleitet. Im Gegensatz dazu hält L¦vi-Strauss die Totemkategorien als Kategorien der gesellschaftlichen Werte: Totemdinge sind eher ›geistige Güter‹ (bonnes — penser) als ›essbare Güter‹ (›bonnes — manger‹).« (Leach, 1971:37) Der »DTV-Atlas Ethnologie« (2005:235, 237) handelt schließlich den Totemismus allgemein wieder unter »Religion« ab: »Eine besondere Form religiöser Symbolik ist der Totemismus (ojibwa totem ›Clanzugehörigkeit‹), der Glaube an die übernatürliche Kraft eines Totems und dessen Verehrung.« »Im totemistischen Religionstypus (etwa in Nordamerika, Afrika, Australien, Ozeanien) dominieren kommunale kultische Institutionen, d. h. die Kulte finden in der Öffentlichkeit statt. Diese existieren häufig neben individualistischen, etwa schamanistischen Formen der Religion. Im Vergleich mit dem Schamanismus gründen totemistische Religionen auf zunehmender sozialer Komplexität; diese führt zur Ausbildung eines totemistischen Vollzeitspezialistentums. Die Riten der totemisitischen Religion sind an Lebens- und Kalenderzyklen gebunden. Subsistenzrituale, etwa das Potlatch der Kwakiutl-Indianer, markieren totemistische Praktiken. Initiationsriten während der Pubertät sind weit verbreitet.«

Totemismus in der Afrobrasilianistik: In der frühen !Afrobrasilianistik wurde der Begriff T. (totemismo) häufig verwendet, um die religiöse und kulturelle (»niedere«) Entwicklungsstufe der Afrobrasilianer zu kenn-zeichnen. Z. B. spricht Nina Rodrigues in seiner Schrift »Os africanos no Brasil« (1935:185ff) von ihren »sobrevivÞncias totemicas«. !Einführung !Fetischismus !Rassismus !Religion A. van Gennep (1904): Tabou et tot¦misme — Madagascar. Paris; W. Wundt (1912): Elemente der Völkerpsychologie. Leipzig; S. Freud (1912/13): Totem und Tabu. Leipzig; Nina Rodrigues (1935): Os africanos no Brasil. S¼o Paulo (2.ed.); E. E. Evans-Pritchard (1981):

Trance (lat. transitus = Übergang; frz. trance; bras. transe)

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Theorien über primitive Religion. Frankfurt/M.; H. Stubbe (2008): S. Freud’s »Totem und Tabu« in Mosambik. Göttingen; ders. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Trance (lat. transitus = Übergang; frz. trance; bras. transe) »Entrückung«, hypnoseähnlicher Zustand mit Einengung des Bewusstseinsfeldes und Einschränkung der Handlungsfreiheit, aber zugleich mit Erschließung neuer Fähigkeiten, insbes. des Einfühlens in fremdes psychisches Erleben und Wünschen. T. tritt bei besonders veranlagten oder speziell enkulturierten Persönlichkeiten, !»Medien«, leichter auf als bei anderen. Werden in der T. religiöse Inhalte belebt (vgl. Goodman, 1992), spricht man von !Ekstase. T. spielt auch in vielen bras. !Ethnopsychotherapien, in der !Umbanda und im ! Candombl¦ eine hervorragende Rolle (vgl. Dittrich & Scharfetter, 1987; Fohr, 1997). Es handelt sich bei diesen !veränderten Bewußtseinszuständen um beobachtbare Abweichungen der Erfahrungen und psychischen Funktionen des Individuums von dem Normzustand eines wachen Bewußtseins, wobei sich die Aufmerksamkeit auf einen kleinen geschlossenen Ausschnitt der Umwelt verengt. Man spricht deshalb auch von hypnoiden Bewußtseinsveränderungen. Nach religions-ethnologischer, bzw. -wissenschaftlicher Definition, die diesen Begriff im Gegensatz zum negativen christlichen Sprachgebrauch (vgl. »Teufelsbesessenheit«) wertneutral faßt, versteht man unter !Besessenheit einen Zustand, »bei dem das Ich einer Person, wenigstens erlebnismäßig, von einer übermenschlichen Macht oder einem Geist besetzt oder ausgelöscht wird, so daß der Geist oder die Macht die Stelle des Ichs einnimmt, der Mensch nur noch als Sprachrohr oder Medium für die von außen eindringende Macht dient. Es gibt sehr verschiedene Arten von Besessenheit, die häufig auf die Verschiedenheit der Geister zurückgeführt werden, die besessen machen … Besessenheit setzt immer eine Art Trance voraus, in der das menschliche Ich ausgeschaltet wird.« (Hirschberg, 1988:53) Danach wird oftmals eine Amnesie beobachtet. Man kann verschiedene Formen der Besessenheit unterscheiden: bei der dämonischen Besessenheit kommen sowohl fratzenartiges Aussehen als auch gewaltige motorische Leistungen vor. Liegt ein »Doppelbewußtsein« vor d. h. ist der Besessene passiver Zuschauer dessen, was geschiet, spricht Oestereich (1921) von luzider Besessenheit im Gegensatz zu dem häufigeren Fall der somnambulen Besessenheit (auch: dämonischer Somnambulismus), in der nur die besitzende Persönlichkeit auftritt. Im Rahmen der sog. Besessenheitsreligionen wie z. B. der brasilianischen !Umbanda können wir von kultischer Besessenheit sprechen, da hier das Verhalten und Erleben oftmals ritualisiert und institutionalisiert ist

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und sich aufgrund der Ausdrucksphänomene des Besessenen eindeutige Hinweise auf die besitzende Gottheit (orix‚) ziehen lassen. Rouget (1985) unterscheidet zwischen der selten (zu exorzierenden) »Obsession« und der häufigeren (nicht zu exorzierenden) »Possession«. Der Geist wird dabei nicht ausgetrieben, sondern der Kranke oder Adept wird nach Opfern mit ihm versöhnt, was tiefenpsychologisch als eine rituell-psychotherapeutische Reintegration des Unbewußten interpretiert werden kann. Bonin (1988:498) versteht unter Trance »meist nicht pathogene Verfassungen oder Zustandsbilder, die durch Bewußtseinsdissoziation, Bewußtseinstrübung und Willensschwäche gekennzeichnet sind. Ursachen können sein: Hypnose, Mediumismus, Drogen, !Musik, !Tanz, physische Traumata, Atemtechniken, Autosuggestion u. a. Das Identitätsgefühl ist vorübergehend gestört bis aufgehoben. Bei leichter Trance bleiben Erinnerungen, schwere Zustandsformen sind von Amnesie gefolgt.« Die damit verbundenen Prozesse folgen oftmals stilisierten und ritualisierten kulturellen Mustern. Bourguignon unterscheidet hierbei folgende Zustände: 1. in der Religion institutionalisierte Trance 2. spontane (evtl. pathologische) Trance 3. säkular induzierte Trance 4. Besessenheit(engl. possession trance), die auf einer kulturellen Theorie basiert 5. Ekstase (vgl. Stubbe, 2012). Van Quekelberghe (1991:180) hat in Anlehnung an Bourguignon (1976) eine Übersicht der Trancezustände gegeben. !Bessessenheit !Candombl¦ !Ekstase !Medium !Trance !Umbanda ! veränderte Bewusstseinszustände M. J. Aubr¦e (1985): O transe. A resposta do Xangú e do pentecostalismo. CiÞncia e Cultura (SP), 37(7), jul., p. 1070 – 1075; M. Augras (1986): Transe e construżo de identidade no candombl¦. Psicolog†a: Teoria e Pesquisa (Bras†lia), 2(3), p. 191 – 200; A. Dittrich & Chr. Scharfetter (Hrsg.) (1987): Ethnopsychotherapie. Stuttgart; W. F. Bonin (1988): Lexikon der Para-Psychologie und ihrer Grenzgebiete. Bern; R. M. Cortez Motta (1985): Transe, possess¼o e Þxtase nos cultos afro-brasileiros. In: J. Gomes Consorte & M. R. da Costa (orgs.), Religi¼o, pol†tica e identidade. S¼o Paulo:EDUC, p. 109 – 120; R. I. Heinze (1988): Trance and healing in Southeast Asia today. Bangok; F. D. Goodman (1992): Trance der uralte Weg zum religiösen Erleben. Güterloh; D. Fohr (1997): Trance und Magie: Die afrobrasilianischen Religionen. München; Chr. Hunger (2005): Trance. Determinanten, Inhalte und Konsequenzen. BDP-Studierenden-Kongreß (Münster); H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Trauer (ähnl. Kummer, Gram; engl. grief, bereavement, mourning; bras. luto)

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Trauer (ähnl. Kummer, Gram; engl. grief, bereavement, mourning; bras. luto) Einführung: T. ist eine primäre Emotion, die als psychische Reaktion auf Verluste, in der Regel auf einen Verlust geliebter Personen entsteht. In der us-amerikanischen Psychologie wird »bereavement« als allgemeine Reaktion auf einen realen oder symbolischen Verlust verstanden. Bereavement resultiert typischerweise in einer komplexen Serie von Antworten, unter denen zwei Aspekte unterschieden werden müssen: »grief« (als stereotype physio-logische und psychologische Reaktionen biologischen Ursprungs) und »mourning« (als konventionelle Verhaltensmuster, die von den Sitten und Gebräuchen einer Gesellschaft/Kultur diktiert werden). Der us-amerikanische Psychologe Averill (1968) unterscheidet Objektverlust und Rollenverlust. Stubbe (1983) hat mehrere Verlustformen unterschieden wie die individuelle Trauer, die familienbezogene Trauer (Tod eines Kindes, Tod der Eltern, Tod eines Geschwisters, Partnerverlust) und kollektivbezogene Trauerformen (Massentrauer vgl. Diana, Staatstrauer, militärische Trauer, betriebliche Trauer etc.) und besondere Formen wie z. B. der Verlust der Sprache. Auch der Sterbensprozeß kann psychologisch als ein Trauerprozeß beschrieben werden. Wichtig erscheint, daß im therapeutischen und beraterischen Feld die individuelle Verlustgeschichte der Klientin Beachtung findet und man sich bewußt sein muß, daß wir oftmals wie im Falle der Verwitwung von einer Verlustvielfalt ausgehen müssen (vgl. Stubbe, 1983). Lindemann (1944), der in den USA die ersten systematischen Untersuchungen über Trauerreaktionen durchführte, beschreibt als zentrale Komponenten, einmal das subjektive Erlebnis des Traumas und zum anderen die somatischen Manifestationen wie Erschöpfung, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, mangelnde Initiative bis hin zur Apathie, aber auch Ruhe- und Rastlosigkeit. T. wird meist von der Depression, als einer seelischen Erkrankung, abgegrenzt, in der zumeist bei starker Ausprägung kaum noch ein Empfinden von Gefühlen und damit auch nicht von T. möglich ist. T. dagegen ist eine echte bzw. »natürliche« Emotion, der eine wichtige adaptive Funktion bei der Überwindung des Verlustes zukommt. Sigmund Freud hat während des I. WK in seiner Schrift »Trauer und Melancholie« (1917) den geläufig gewordenen Begriff »Trauerarbeit« geprägt. Er meinte damit, daß im Verlauf des Trauerprozesses alle Libido aus ihrer Verknüpfung mit dem Objekt abgezogen werde und Abraham und Klein haben später als weitere Funktion die Internalisierung des verlorenen Objekts betont. Bowlby sieht im Rahmen seiner Bindungstheorie in der wiederbelebten Trennungsangst früher Kinderjahre den Schlüssel zum Verständnis der T. Grund-

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sätzlich ist hiernach T. ein Zeichen einer gesunden Persönlichkeit, die in der Lage ist, tiefere Bindungen einzugehen. Für Trauerprozesse im westlichen Kulturkreis wurden verschiedene Abfolgeschemata entwickelt, die aber mit aller Vorsicht zu verwenden sind (vgl. individuelle Verlustgeschichte, Verlustvielfalt, Verlusttyp etc.). Ein solches bekanntes Phasenschema unterscheidet z. B.: 1. Phase des Schocks 2. Phase der Verzweiflung und des Kummers und 3. wenn der Trauerprozeß adäquat vollendet wird und nicht in eine pathologische Trauer mündet, so erfolgt schließlich die Phase der Anpassung oder der Erholung, in der das Interesse an der Außenwelt wieder erwacht und eine seelische Stabilisierung erfolgt (andere Phasenschemata vgl. Stubbe, 1983ff; Kast, 1996) Wann Trauer zur »pathologischen Trauer« wird, darüber besteht keine Einigkeit (vgl z. B. DSM-V, 2013). Der Psychiater J. Bojanovsky (1986) hat im Rahmen seiner Verwitwungs-studien die folgenden drei Kriterien hervorgehoben: 1. Das Drohen einer schweren Selbstbeschädigung z. B. !Suizid 2. Chronifizierung des Trauerverhaltens; es gelingt keine psychische und/oder soziale Reintegration 3. Die Trauer wird durch eine Reihe zusätzlicher Komplikationen beherrscht wie z. B. starke psychosomatische Störungen, Neurosen, Psychosen etc. Stubbe (1985) hält es für problematisch ein normalpsychisches Phänomen wie die T. in eine psychiatrische Klassifikation einzureihen. Die üblichen psychiatrischen Unterscheidungsmerkmale von normaler und pathologischer Trauer sind Tiefe und Dauer der T. Qualitative Unterscheidungsmerkmale werden dagegen in der Literatur sehr selten angeführt (vgl. Stubbe, 1985:282ff) Trauerverhalten und –erleben bei den Afrobrasilianern: Die Afrobrasilianer besitzen eine lange kollektive traumatische Verlustgeschichte. Das Erforschung ihrer Trauer ist also ein wichiges Thema. In einer kleinen Studie über »Tod, Trauer und Verwitwung in der bras. Folklore« hat Stubbe (1986/87:11ff) die afrobras. Trauerriten ausführlicher behandelt. Er beschreibt verschiedene (Todes- und Trauer-)Riten, wie »entame«, »candombl¦ funer‚rio«, »axÞxÞ«, »vumbe«, »tirar a m¼o de vumbi« etc. (vgl. auch Ribeiro, s.d.; Ferretti, 1995:201 – 213). !Banzo !Candombl¦ !Friedhöfe

Traum

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A. M. Araffljo (1949): Ritos de morte. Paulist–nia (SP), 30, p. 19 – 21; J. Ribeiro (s.d.): As festas dos Eguns. Rio de Janeiro; H. Stubbe (1983): Trauer und Verwitwung im Kulturvergleich. Mannheim/Rio de Janeiro; ders. (1985): Formen der Trauer. Berlin; ders. (1986/ 87): Tod, Trauer und Verwitwung in der brasilianischen Folklore. Staden Jahrbuch (SP), 34/35, p. 11 – 29; ders. (1987): Geschichte der Psychologie in Brasilien. Von den indianischen und afrobrasilianischen Kulturen bis in die Gegenwart. Berlin; J. J. Reis (1991): A morte ¦ uma festa. Ritos ffflnebres e revolta popular no Brasil do s¦c. XIX. S¼o Paulo; S. Figueiredo Ferretti (1995): Repensando o sincretismo. S¼o Paulo: Edusp

Traum Einführung: Als Grenzzustand zwischen Tiefschlaf und Wachheit ist der T. eine besondere Form des Erlebens während des Schlafens meist mit lebhaften Bildern und oftmals mit Gefühlen verbunden, an die auch nach dem Erwachen noch eine Erinnerung besteht. Träume kommen als universalmenschliches Phänomen in vielen Abstufungen vor : vom realistisch-bildhaften Traumerleben mit stärkstem Wirklichkeitsbewusstsein (Alptraum, Angsttraum, Erre-gungszustände, erhöhter Puls) bis zum Träumen in halbwachem Zustand (Wachtraum, Tagtraum, Einschlafbilder, hypnagoge Halluzinationen), wobei alle Übergänge zur ungesteuerten Phantasietätigkeit möglich sind. Ca 20 % der Schlafzeit wird verträumt und Traumentzug führt zu nervösen Störungen (zur Geschichte der Traum-Forschung/Deutung vgl. Freud, 1899; Ellenberger, 1973:422ff; v. Siebenthal, 1984:55ff; Hermes, 1996) Folgende Traumtheorien lassen sich außer der psychoanalytischen (S. Freud) heute unterscheiden: 1. Die kompensatorische Funktion des T. wird z. B. von C. G. Jung (1875 – 1961) vertreten: belastende Tagesereignisse werden im T. in der Weise verarbeitet, daß Erfolgserlebnisse oder posi-tive Emotionen gleichsam nachgeholt werden. 2. die sog. Mastery-Theorien folgen der Theorie von Alfred Adler (1870 – 1937), wonach auch emotional belastende Tagesreste in unterschiedlichen Problemlösungsstrategien bearbeitet werden. 3. die evolutionspsychologischen Modelle gehen von verschiedenen Hypothesen aus: der T. spiele bei der Entwicklung der neuralen Verschaltungen im Gehirn eine wichtige Rolle, weil er die höheren Gehirnzentren auf die Vearbeitung des massiven Reizansturms vorbereite, dem der Organismus vom Tage der Geburt ausgesetzt sei. Der T. erfülle eine Art Reperaturfunktion, insbes. vom Kurzeit- ins Langzeitgedächtnis. Eine andere Hypothese hebt die evolutionäre Nützlichkeit des REM-Schlafes d. h. des Schlafes mit schnellen Augenbewegungen (rapid-eyemovement) wegen des damit verbundenen leichteteren Aufwachens hervor. 4. Dem T. wird als informationsverarbeitende Funktion zugeschrieben: vor

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allem während des REM-Schlafes komme es zur Löschung von irrelevanten Informationen, um neuen »Speicherplatz« zu schaffen. Eine andere Hypothese geht von einer Informationskonsolidierung des Langzeitgedächtnisses aus (zu den älteren T.heorien, vgl. Freud, 1899; M. L. Kurland, 1972; v. Siebenthal, 1984) Der T. galt in der gesamten europäischen Antike als eine Form der Berührung mit dem Übersinnlichen. In dem lesenswerten Kap. »Traumform und Kulturform« hat der Gräzist E. R. Doods (1970:55ff) die Haltung der antiken Griechen ihren Traumerlebnissen gegen-über reizvoll und innovativ behandelt. »Weil sich die Seele, so die Lehre der Orphik schon im 7. Jh. v. Chr., im Schlaf vom Körper befreit, kann sie dann ungehindert mit höheren Wesen in Kontakt treten. Der Traum ist daher eine wesentliche Erkenntnisquelle für die Zukunfts-deutung. Plutarch (46 – ca. 120 n. Chr.) bezeichnet sie als ›ältestes Orakel der Menschheit‹. Nicht allen Träumen schrieb man allerdings diese magische Qualität zu. Der Traumdeutung oblag es, ›wahre‹ von ›falschen‹ Träumen zu unterscheiden, sowie ›wahre‹ Träume angemessen auszulegen. Der Traumdeuter konnte dabei auf eigene Erfahrungen und in Fachliteratur veröffentlichte Lehren zurückgreifen.« (Weeber, 2000:370) Einen guten Einblick in die Praxis der Traumdeutung gibt das kulturhistorisch wichtige »Traumbuch« (Oneirokritika) des griech. Autors Artemidor von Daldis (2./3. Jh. n. Chr.), der in fünf Teilen (1 – 3: Beispielsammlung, 4: Systematik der Traumdeutungen, 5: in Erfüllung gegangene Träume) ca. 1200 Träume mit etwa 3000 Deutungen analysiert. Aus Artemidor’s Traumsammlung können wir auch ersehen, daß der antike Mensch grundsätzlich dieselben Dinge träumte wie der moderne Mensch. Die berühmteste Traumheilstätte noch in der röm. Kaiserzeit war das Asklepios-Heiligtum in Epidauros, wo Träume mit Hilfe von Techniken der Autosuggestion zur Heilung genutzt wurden (vgl. Inkubation, Stubbe, 2012:312 f). Die religionswissenschaftliche Bedeutung des T.s ist so bedeutend, daß Tylor auf ihm die Entdeckung der Seele und die Theorie des Animismus begründet hat. In der christlichen Bibel spielen Träume als Empfangsstellen für göttliche Weisungen eine große Rolle (vgl. Ehrlich, 1953). Noch in Daniel Defoe’s Roman »Robinson Crusoe« (1719), der sich an christlich-puritanische Bekehrungsgeschichten anlehnt und an einer Ausnahmesituation (»Schiffbrüchigkeit auf einsamer Insel«) den Wert einer disziplinierten, vernünftigen, willensstarken und gottgefälligen Lebenshaltung illustrieren soll, findet sich ein aufschlußreicher T., in dem der alttestamentarische grauenerregende und rächende Gott auftritt, um Robinson für seine Sünden zu strafen (vgl. Defoe, 1973:121 f) Auch im jüdischen Talmud finden sich viele Stellen, die sich auf Träume beziehen, so daß einige Autoren Vergleiche zwischen der Traumpsychologie des Talmud und der Psychoanalyse S. Freud’s gezogen haben (vgl. Thomas, 1976:31 f). Träume spielen in der islamischen Welt eine große Rolle. Man unterscheidet drei Arten: 1. Träume des Teufels sind Wunschträume, die vor allem die Befriedigung

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körperlicher Bedürfnisse zum Inhalt haben, 2. Engelsträume, deren unverständliche Gleichnisse (Allegorien) nur von Traumdeutern ausgelegt werden können, 3. Gottesträume, für die eine Auslegung nicht notwendig ist, da sie sich so erfüllen, wie sie geträumt sind. Wer etwas erreichen will, muß sehr innig darum beten, im Traum erscheint ihm dann die Lösung (vgl. Barisch, 1977:58). Annemarie Schimmel (1998) hat eine reichhaltige Monographie über die Träume und ihre Deutung in der islamischen Kultur vorgelegt. In der Psychologischen Anthropologie und Transkulturellen Psychologie sind der T. und das Träumen bedeutende Forschungsgegenstände, auch wenn sie immer noch in modernen ethnologischen Lexika kaum Erwähnung finden. Z. B. bei den Tapirap¦, einer in Zentralbrasilien lebenden Pflanzergruppe, beziehen die Schamanen (wie auch anderswo) ihre Kraft aus Träumen, in denen sie Geistern begegnen, die ihre Hilfgeister werden (vgl. Baldus, 1970). Peter Probst (1993) kommt das Verdienst zu, die »verlorene Neugier« am Traum bei den Ethnologen und Ethnopsychologen wieder geweckt zu haben (vgl. auch Ahrens, 1996). Er gibt eine kursorische Geschichte der ethnologischen Traumforschung, die deutlich macht, daß zunächst die Tylorsche Konzeption (1871) im Vordergrund stand und später die Freudsche Traumtheorie (1899) (vgl. TheissAbendroth, 2013; zu ihrer Rezeption in den USA vgl. Herrmann et al., 1943), während C. G. Jung’s und A. Adler’s Traummodelle scheinbar kaum rezipiert wurden. Bekanntlich hatte Edward Burnett Tylor (1832 – 1917) in seiner Schrift »Primitive culture…« den Ursprung und die Entwicklung der Religion in der menschlichen Traumerfahrung gesehen (Animismus) und damit das Thema T. offiziell in die Ethnologie eingeführt. Koch’s (später : Koch-Grünberg, 1872 – 1924) reichhaltige ethno-psychologische Monographie »Zum Animismus der südamerikanischen Indianer« (1900) steht in dieser Tradition. Er fasste seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen: »…daß zunächst Traumerscheinungen den Indianer zu dem Glauben an das Vorhandensein einer Seele im Menschen und einer überirdischen Welt bringen, in der die Geister der abgeschiedenen Vor-fahren ein ähnliches Leben führen wie auf Erden. Diese Geister stehen in beständigem Verkehr mit den Lebenden, besonders mit dem mit übernatürlichen Kräften begabten Zauberarzt, und gewähren ihnen in Nothlagen ihre Unterstützung, weit öfters aber quälen sie sie und bringen ihnen Tod und Verderben. Um sich einerseits die Geister geneigt zu machen und sich ihrer Hülfe zu versichern, anderserseits ihrem Zorn zu entgehen, thut man beim Begräbnis alles, was ihnen angenehm sein könnte und sucht durch alle möglichen Mittel dem Geist den Weg zu den Hinterbliebenen zu versperren. Aus dem Bestreben, den Zorn des Todtengeistes von sich abzulenken, entwickelt sich mit der Zeit ein regelrechter Ahnenkult, der mit dem Fortschreiten der Kultur, indem man die irdischen Herrscher auch im Himmel weiter gebieten liess, zu der Verehrung eines höheren Wesens führen musste.« (Koch, 1900:132)

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Aus der Durkheim-Schule, die die Animismuskonzeption Tylor’s auf das Entschiedenste ablehnte (vgl. Probst, 1993:154; Thiel, 1977:139 f), stammt von M. Halbwachs eine »L’interpretation du rÞve chez les primitifs« (J. de Psychol. 19, H.7, 1922). Die Freudsche Traumkonzeption, die den »T. als die Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben« (Freud, 1964:494) ansah und deren Quellen in Freud’s Selbstanalyse (Schott, 1985), der Analyse der Träume seiner Wiener Patienten und Patientinnen und in einem intensiven Literaturstudium (wenig ethnologische und kulturvergleichende Arbeiten!) bestehen, wurde häufig unkritisch auf die Träume in außereuropäischen, fremden, kollektiv orientierten Kulturen mit ihrer anderen Psyche, Religion, Sozialordnung und Wirtschaftsform etc. übertragen. Für Freud war der T., wie er im »Abriß der Psychoanalyse« schreibt, bekanntlich »eine Psychose, mit allen Ungereimtheiten, Wahnbildungen, Sinnestäuschungen einer solchen. Eine Psychose zwar von kurzer Dauer, harmlos, selbst mit einer nützlichen Funktion betraut, von der Zustimmung der Person eingeleitet, durch einen Willensakt von ihr beendet.« Man suchte in diesem Rahmen z. B. die Wunscherfüllungshypothese des T.s bei »Negern« nachzuweisen (Lind, 1914) oder die Traummechanismen der Verschiebung und Verdichtung in der Kunst, im T. und im Ritual der Melanesier wiederzufinden (Rivers, 1918), oder man wies Freud’s Hypothese von der Universalität des Ödipuskomplexes auch in den Träumen der Indianer nach (Lincoln, 1935) bzw. suchte nach »völkerpsychologischen Parallelen« zu bestimmten Traumsymbolen. Eine emische Sichtweise der Träume wurde dagegen selten verfolgt. Die neueren ethnologischen Arbeiten zum T. »zeichnen sich aus durch den Versuch, die Träume der ›anderen‹ und den verschiedenen Umgang mit ihnen aus der Perspektive der jeweiligen Selbstkonzeptionen heraus zu verstehen.« (Probst, 1993: 156) Auch die moderne T.forschung in westlichen Industrieländern (vgl. Strauch & Meier, 1992) verbindet naturwissenschaftliche Experimente und Befragung der Probanden, um (gleichsam »komplementär« T.erleben und T.verhalten erfassend) nicht nur biologisch-objektive Daten zu erhalten, sondern auch den Ort und Sinn des T.s im Leben des Träumers näher bestimmen zu können. Ein Forschungskonzept, das sich auch für die kulturvergleichende Forschung gut eignet (vgl. Stubbe, 2012: 633 – 637). Der Traum in der Afrobrasilianistik: Psychologische Phänomene wurden in der Afrobrasilianistik bisher sehr selten erforscht. Möglicherweise ist dies Ausdruck einer Forschungsperspektive, die den Afrobrasilianer immer noch wie in der Sklavereizeit als »seelenloses« Wesen (»instrumento falante«, vgl. Scis†nio, 1997:177) betrachtet. Auch die Träume der Afrobrasilianer und Afrobrasilianerinnen sind ein Forschungsdesideratum.

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Als Beispiel soll hier ein Nachttraum einer afrobrasilianischen !empregada dom¦stica – einer Hausarbeiterin- erzählt werden. Ein Traum einer Frau, die sowohl Marginalität – durch ihren niedrigen sozio-ökonomischen Status verkörpert – als auch !Emanzipation: Elisa (fiktiver Name) ist 31 Jahre alt und arbeitet im teuren Stadtteil Ipanema in der Südregion von Rio de Janeiro. Sie erzählte bei einem Interview mit SantosStubbe folgenden über Jahre sich wiederholenden Traum: Sie lernt im Traum, an der Tür einer Kirche, einen jungen Mann kennen und heiratet ihn. Einige Zeit danach lernte sie beim Tanzen tatsächlich einen jungen Mann kennen. Er verabredete sich mit ihr (Wo denn sonst!!) an der Tür einer katholischen Kirche. Sie hat diesen Mann dann geheiratet und hat mit ihm zwei Kinder. Sie lebten zusammen bis zu seinem Tod drei Jahre vor diesem Interview. Elisa interpretiert diesen Traum als einen Wahrtraum. Sie erwähnte während des Interviews, dass sie sich gerne wieder verheiraten wollte, aber die neuapostolische Kirche zu der sie beigetreten ist, erlaubt es ihr nicht. Sie dürfte es nur tun, wenn der Mann ebenfalls Kirchenmitglied wäre. Tanzen, sich schminken, Feierlichkeiten, die nicht kirchenbezogen sind, zu besuchen, u. a., werden von der dieser Kirche nicht erlaubt. Dinge, die sie früher immer sehr gerne getan hat. Sie hätte in ihrer neuen Kirchengemeinde sogar einen Bewerber, den sie aber nicht mag und im tiefsten Herzen sogar einige Befürchtungen ihm gegenüber empfindet. Anschließend erzählt sie einen neuen !Traum der in der letzten Zeit immer wiederkehrt. Sie träumt, dass ein Mann ihr sehr nah kommen will. Er versucht sie anzufassen, aber sie bekommt sehr viel Angst vor ihm. In ihrer verzweifelten Angst, bewegt sie die Arme wie ein Vogel und fliegt davon. !indigene Psychologie !Mythen und Märchen !Personkonzepte E. R. Pfaff (1868): Das Traumleben und seine Deutung nach den Principien der Araber, Perser, Griechen, Inder und Ägypter. Leipzig; S. Freud (1899, 1900): Die Traumdeutung. GW II/III; Th. Koch (1900): Zum Animismus der südamerikanischen Indianer, Internat. Archiv für Ethnographie (Leiden), Suppl. zu Bd. XIII; K. Abraham (1909): Traum und Mythos. Eine Studie zur Völkerpsychologie. Psychoanalytische Studien I. Frankfurt/M.; A. Adler (1912/13): Traum und Traumdeutung. Zentralbl. Psychoanalyse, Jg. 1912/13, XI; C. G. Jung (1928): Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychologie des Traumes. In: Über die Energetik der Seele. Zürich; L. Binswanger (1928): Wandlungen in der Auffassung und Deutung des Traumes von den Griechen bis zur Gegenwart. Berlin; E. Aeppli (1943, 1975): Der Traum und seine Deutung (1943). Zürich; H. Herrmann (1943): Freud’s theory of the dream in american textbooks. Journal of abnormal and social Psychology, 38, p. 319 – 334; W. Bernsdorf (1949): Reaktiv-affektives Verhalten einiger Primitivvölker gegenüber Träumen, In: G. Eisermann (Hrsg.), Gegenwartsprobleme der Soziologie, 1949; ders. (1955): Primitive Gruppe, primitive Mentalität und Traumstruktur, In:G. Eisermann & W. Bernsdorf (Hrsg.), Die Einheit der Sozialwissenschaften. Stuttgart; E. Fromm (1951, 1994): Märchen, Mythen, Träume. Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache. Reinbek; W. Wolff (1952): The dream. Mirror of the conscience. A history of

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dream interpretation from 2000 b. C. and a new theory of dream-synthesis. N.Y.; Der Traum. Ciba Zeitschr. (Basel) 55, 1952 ; E. L. Ehrlich (1953): Der Traum im AT. Berlin; E. Lips (1954/55): Vom Traumrealismus der Indianer. Wiss. Zeitschrift der Universität Leipzig (gesellsch.-sprachwiss. A.), 4, S. 291 – 302; R. Callois & G. E. von Grunebaum (ed.s) (1967): Le rÞve et les soci¦t¦s humaines. Paris; M. L. Kurland (1972): Oneiromacy : An historical review of dream interpretation. Amer. Journal of Psychotherapy, 26, p. 408 – 416; R. L. van de Castle (1973): The psychology of dreaming in ancient dream theories, In: S. G. M. Lee & A. R. Mayers (ed.s), Dreams and dreaming. Harmondsworth, p. 17 – 32; M. Boss (1974): Der Traum und seine Auslegung. München; ders. (1991): Es träumte mir vergangene Nacht. Bern; O. R. Costa (1976): Sonho de uma noite de velûrio. Rio de Janeiro: FUNARTE; W. von Siebenthal (1984): Die Wissenschaft vom Traum. Ergebnisse und Probleme. Heidelberg; N. Parsifal-Charles (1986): The dream. 4000 years of theory and practice. A critical, descriptive and encyclopedic bibliography. West Cornwall CT; B. Tedlock (ed.) (1987): Dreaming: Anthropological and psycho-logical interpretations. Cambridge; I. Strauch & B. Meier (1992): Den Träumen auf der Spur. Ergebnisse der experimentellen Traumforschung. Bern; P.. Probst (1993): Über das ethnologische Interesse am Traum. Anmerkung zu einer verlorenen Neugier, Anthropos, 88, S. 153 – 162; R. Hiestand (Hrsg.) (1994): Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung, Funktion einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf; L. Hermes (1996): Traum und Traumdeutung in der Antike. Zürich; U. Ahrens (1996): Fremde Träume. Berlin; A. Schimmel (1998): Die Träume des Kalifen. Träume und ihre Deutung in der islamischen Kultur. München; Träume 1900 – 2000. Kunst, Wissenschaft und das Unbewusste. Katalog. München, 2000 (Bildband); Le sommeil ou quand la raison s’absente. Mus¦e Cantonal des Beaux-Arts (Lausanne), 2000; G. Sprenger (2000): Die Trobriander gegen Sigmund Freud: Traumdeutung und das Konzept der Person bei den Melanesiern und den Modernen. Kea, 13, S. 21 – 44; Chr. Walde (2001): Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung. Zürich; J. Cl. Schmitt (2001) : Les corps, les rites, les rÞves, les temps: essais d’anthropologie m¦dievale. Paris; E. Roudinesco & M. Plon (2004): Wörterbuch der Psychoanalyse. Wien; E. Bronfen (2008): Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München; D. Korczak (Hrsg.) (2008): Die Macht der Träume. Heidelberg; P. TheissAbendroth (2013): Anmerkungen zur psychoanalytischen Traumtheorie. Von S. Freud bis heute. Vortrag an der Universität zu Köln (25. 1. 2013)

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Umbanda Synkretistische Religion in Brasilien, die Elemente aus dem (Volks-)Katholizismus (der offizielle Katholizismus lehnt sie ab! vgl. z. B. Boaventura, 1956), dem !Spiritismus Allan Kardec’s (1804-1869) und indianischen/afrikanischen !Religionen enthält. Sie ist auch in anderen lateinamerikanischen Ländern verbreitet (z. B. Venezuela, Argentinien, Uruguay). Es kommen kultische Besessenheitsphänomene vor. Als anerkannte Religion institutionalisiert, werden im Rahmen besonderer »Centros« auch Behandlungen und Beratungen durch !Medien durchgeführt. Über die U. liegen bereits einige historische, ethno- und religionspsychologische Arbeiten vor (vgl. Figge, 1973, 1980; Stubbe, 1979, 2001; Montero, 1985; Pollak-Eltz, 1993; Beniste, 2008). !Besessenheit !Candombl¦ !Medium !Religion !Spiritismus Frei Boaventura, O. F. M. (1956): Posiżo catûlica perante a umbanda. Petrûpolis: Vozes; D. Warren (1970): Notes on the historical origins of umbanda. Universitas (Salvador), (6/ 7), p.155-163; A. Pinto (1971): Dicion‚rio de Umbanda. Rio de Janeiro; H. Figge (1973): Geisterkult, Besessenheit und Magie in der Umbanda-Religion Brasiliens; ders. (1980): Beiträge zur Kulturgeschichte Brasiliens. Freiburg/Brsg.; O. G. Cacciatore (1977): Dicion‚rio de cultos afro-brasileiros. Rio de Janeiro; H. Stubbe (1979): Zur Ethnopsychiatrie in Brasilien. Social Psychiatry, 14, 1979:187-195; ders. (2001): Kultur und Psychologie in Brasilien. Bonn; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do folclore brasileiro, S¼o Paulo; O. do Carmo Ferreira (1983): Pr‚tica m¦dica e pr‚tica umbandista: duas formas de lidar com o doente mental. Mestrado. Campinas:PUC; P. Montero (1985): Da doenÅa — desordem. A magia na umbanda. Rio de Janeiro; J. G. C. Magnani (1986): Umbanda. S¼o Paulo; M. H. Villas Boas Concone (1987): Umbanda. Uma religi¼o brasileira. S¼o Paulo: USP; A. Frigerio (1990): Umbanda e africanismos em Buenos Aires. Rio de Janeiro; A. Pollak-Eltz (1993): Umbanda em Venezuela. Caracas; dies. (1995): Trommel und Trance. Die afroamerikanischen Religionen. Freiburg/Brsg.; J. Beniste (2008): Umbanda, a religi¼o brasileira que completa um s¦culo (3. partes), Journal Icapra, ano 2, N8 29ff; M. Sadzio (2012): Gespräche mit den orix‚s: Ethnopsychoanalyse in einem Umbanda-terreiro in Porto Alegre. Kindle Ed.

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Ventilsitten (Vierkandt, 1896) Gesellschaftliche Regeln für individuelle, gruppenmäßige oder gesamtgesellschaftliche Verhaltens- und Erlebensformen, welche ansonsten untersagt sind und deren Sinn und Funktion darin besteht, aufgestaute, die gesellschaftliche Ordnung bedrohende Spannungen aufzulösen, kathartisch »abzureagieren«, zu neutralisieren. Sozialanthropologisch und ethnopsychologisch gesehen sind V. dort notwendig, wo die soziale Ordnung durch engmaschige, überall verpflichtende Normen den Menschen keine oder zu wenig Möglichkeiten gewähren, Triebregungen und Begehren zu realisieren, oder wo wirtschaftliche, politische oder andere Abhängigkeitsverhältnisse sozialen Druck von oben nach unten erzeugen. Sozial verursachte aufgestaute psychische Spannungen (z. B. Frustrati-onen, Aggressionen) werden durch V. meist auf gesellschaftliche Bereiche abgelenkt, die mit ihrer Verursachung eigentlich nichts oder wenig zu tun haben. Die Funktion von V. erfüllen z. B. !Karneval (»Narrenfreiheit«), Saturnalien, Festpromiskuität, ritueller Kleider- und Rollentausch zwischen Geschlechtern, Alters- und Statusgruppen, Feste, Kampfspiele, !Sport(veranstaltungen; vgl. »Fußballfieber« während den Welt- und Europameister-schaften), Talkshows, intellektuelle Auseinandersetzungen in den Massenkommunikations-mitteln etc. In allen diesen Fällen werden soziale Geltungen, Hierarchien und Kontrollen teilweise aufgehoben oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt (! mundus inversus, Phänomen der verkehrten Welt). Für Kenner (1970) sind alle diese Feste der verkehrten Welt »Stirb- und Werderiten« also Feste des Umbruchs, rites de passage, Durchgangsriten. Es mag jedoch auch sein, daß viele dieser Feste, vor allem die Saturnalien, von Staats wegen als ein Ventil revolutionärer Dynamik gepflegt wurden, d. h. um die in der Bevölkerung gärenden Umsturzgelüste einmal im Jahr frei sich verpuffen zu lassen. Mühlmann (1961) spricht in diesem Zusammenhang von einem »festlichen Sozialritus«, in dem die Revolution durch eine Institution entschärft werde. In den Schemata der ver-

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kehrten Welt manifestiere sich hiernach ein schlichtes »Ausgleichs- und Vergeltungsdenken«. !Haar !Mundus inversus !Trauer G. Le Bon (1895, 1947): Psychologie des foules. Paris; A. Vierkandt (1896): Naturvölker und Kulturvölker. Ein Beitrag zur Socialpsychologie. Berlin; ders. (1931): Sittlichkeit. In: Handwörterbuch der Soziologie. Stuttgart; L. Coser (1956): The functions of social conflict. Glencoe/Ill.; S. Moscovici (1984): Das Zeitalter der Massen. München; K.-W. Weeber (1994): Panem et circenses. Massenunterhaltung als Politik im antiken Rom. Mainz

Veränderte Bewusstseinszustände Begriffsbestimmungen und Geschichtliches: Veränderte Bewußtseinszustände (engl. altered states of consciousness = ASC) werden von dem Besessenheitsforscher Bourguignon (1977) als allgemeinmenschliche »normale« Phänomene betrachtet, die sich auch in westlichen Kulturen auffinden lassen. Z. B. gab es bei den antiken Griechen, den Germanen und im europäischen Mittelalter solche kulturell standardisierten bzw. institutionalisierten Bewußtseinszustände, deren Relikte auch noch z. B. im deutschen Volksaberglauben bzw. der !Folklore vorhanden sind (vgl. z. B. Dodds, 1970:38ff; Eliade, 1961:142ff; Schipperges, 1985; Hofer, 1984:77ff; HDA, Bd.1, S:1151; Beitl, 1974:82; Bonin, 1988:74ff; Stubbe, 2012). Auch die Bibel kennt das Phänomen der !Besessenheit und versteht darunter das Innewohnen eines »Dämonen« (= frühere von Gott abgefallene Engel) in einem Menschen, dessen ganzes Denken, Fühlen und Wollen unter dämonischen Einfluß gebracht wird (z. B. Lk 22,3 – 6). In diesen ganzen Themenbereich der ASC fällt ebenfalls das Problem der multiplen !Persönlichkeit. Die auch in Europa reiche Tradition im Hinblick auf veränderte Bewußtseinszustände verschwand aber im Gefolge der Aufklärung mit Ausnahme des Exorzismus fast völlig aus dem Alltag und wurde immer mehr ein Thema der inquisitorischen Theologie und klassischen Psychiatrie. Diese einseitig negative vorurteilsbelastete christlich-inquisitorische wie auch rationalistische und psychopathologisierende Bewertung verstellte deshalb bei europäischen Beobachtern oftmals eine unvoreingenommene Sichtweise dieser Phänomene in fremden Kulturen, dies gilt insbes. auch für die (afro-)brasilianischen Verhältnisse. Häufig werden diese Bewußtseinszustände auch als !Trance (lat. transitus = Übergang; franz. trance) bezeichnet. Es handelt sich bei diesen Zuständen um beobachtbare Abweichungen der Erfahrungen und psychischen Funktionen des

Veränderte Bewusstseinszustände

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Individuums von dem Normzustand eines wachen Bewußtseins, wobei sich die Aufmerksamkeit auf einen kleinen geschlossenen Ausschnitt der Umwelt verengt. Unter !»Ekstase« wird dagegen ebenfalls wertneutral und nicht in psychopathologischer Bedeutung »ein übersteigerter psychischer Ausnahmezustand jenseits der Bewußtseins-kontrolle, eigentlich ein Aussichheraustreten oder das Außersichsein, das von Göttern oder Dämonen bewirkt sein kann« verstanden (vgl. Stubbe, 2012:139 f). Bei Ekstase und Trance lassen sich nach Rouget (1985) idealtypisch zwei grundverschiedene Zustände beobachten (s. unten): 1. ein entspannter Zustand der Beruhigung mit eingeengtem Bewußtsein wie er z. B. in den verschiedenen Arten der buddhistischen Meditation zum Ausdruck kommt. Edward Conze (1986) hat klar herausgearbeitet, dass die Meditationen im Buddhismus ein geistiges Training darstellen, das aus drei verschiedenen, jedoch miteinander verknüpften Absichten heraus geübt wird: a. »Unsere Aufmerksamkeit richtet sich normalerweise hauptsächlich auf ständig wechselnde Sinnesreize und auf Gedanken, die um unser eigenes Selbst kreisen. Erster Zweck der Meditation ist es, die Aufmerksamkeit davon abzuziehen. b. Ferner soll sie die Aufmerksamkeit weg von der Sinneswelt hin zu einem anderen, subtileren Bereich lenken und dadurch die Unrast des Geistes zur Ruhe bringen. Ein Wissen, das sich auf die Sinne gründet, ist von Natur aus ebenso unbefriedigend wie ein auf die Sinne gegründetes Leben. c. Meditation zielt schließlich darauf ab, in die übersinnliche Wirklichkeit selbst einzudringen, zwischen den transzendentalen Wahrheiten umherzustreifen und durch diese Suche zur Leere als der einen letzten Wirklichkeit zu gelangen. 2. Ein hyperphrenetischer Zustand mit Symptomen eines an Epilepsie erinnernden Anfalls (»shift«) wie er vor allem im !Schamanismus zu beobachten ist. Dieser Zustand läßt sich als Routine-Wachbewußtsein, als Zentrierung in einem Kontinuum subkortikaler Erregungen, definieren und bewirkt nach Bourguignon (1977) »Verzückungen«. Besessenheit verlangt im Allgemeinen eine größere Bewußtheit der sozialen Umwelt und Körperkoordination als Ekstase, da der/die Besessene fähig sein muß, in diesem Zustand z. B. tänzerisch den Geist darzustellen. Zur Enkulturation dieser Phänomene läßt sich sagen, daß auch Besessenheit gelernt werden kann und nach Bourguignon (1977) hierbei folgende kulturspezifischen Lernphasen aufeinanderfolgen: Prälernen ! Separation ! Suggestion ! Exekution ! Aufrechterhaltung der transformierten Identität. Eine musikalische Begleitung spielt bei Trance und Ekstase oftmals, aber nicht immer, eine wichtige Rolle. Bei Ekstase können wir eher ein extrem kon-

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Tab. 13: Unterschiedliche Zustände bei Ekstase und Trance Ekstase Unbeweglichkeit Stille Einsamkeit ohne Krise sensorische Deprivation Erinnerungen Halluzinationen Quelle: Rouget (1985:11)

Trance Bewegung Lärm Gemeinschaft Krise sensorische Überstimulierung Amnesie keine Halluzinationen

stantes Tempo beobachten, während bei Besessenheit eine kontinuierliche Steigerung des Tempos und/oder der Lautstärke stattfindet. Nach Rouget (1980, 1985) liegt die Funktion der !Musik in der Schaffung eines besonderen sozioemotionalen Klimas, das man nach Luban-Plozza (1981) auch als kulturell institutionalisierte Hingabebereitschaft verstehen kann, und in der Identi-fikationskraft der Musik für eine Gemeinschaft. Sie ist aber nicht tranceinduzierend oder kulturunabhängig neurophysiologisch kausal determiniert (wie z. B. früher bzgl. des Trommelns bei 8 – 13 Schlägen/sek. angenommen wurde; zu Besessenheits-Musik und !Tanz vgl. Bruhn, Oerter & Rösing, 1993:599ff; Stubbe, 2012). Veränderte Bewußtseinszustände in den afrobrasilianischen Kulten: Man hat die afrobras. Kulte oftmals als »Bessessenheitskulte«, »synkretistische Kulte«, »fetischistische Kulte« etc. beschrieben. Alle diese Bezeichnungen sind jedoch einseitig und vorurteilsbelastet. Es lassen sich in ihnen jedenfalls Phänomene wie der !Medien, der multiplen !Persönlichkeit, der veränderten Bewusstseinszustände und der !Trance beobachten, die bisher jedoch noch nicht gründlich genug wissenschaftlich studiert wurden. Ein Grund dafür ist u. a., dass ein Forscher mit grossen Widerständen zu rechnen hat, bis er von einer Kultgemeinde respektiert und akzeptiert wird (insbes. wenn er ein Weisser ist). Außerdem verfolgen nicht nur die kath. Kirche, sondern früher auch die Polizei und heute die fundamentalistischen us-amer. Sekten diese Religionen. !Besessenheit !Candombl¦ !Ekstase !Initiation !Medium !Persönlichkeit !Religionen !Trance T. K. Oesterreich (1921): Die Besessenheit. Langensalza; E. Bourguignon & T. Evascu (1977): Altered states of consciousness within a general evolutionary perspective: A holocultural analysis. Behavior Science Research, 12, p. 147 – 216; G. Rouget (1980): La musique et la transe. Esquisse d’une th¦orie g¦n¦rale des relations de la musique et de la possession. Paris; F. D. Goodman (1991): Ekstase, Besessenheit, Dämonen. Die geheim-

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nisvolle Seite der Religion. Gütersloh; G. Gutman & G. Langer (Hg.) (1992): Das Bewußtsein. Wien; S. R. Dunde (Hrsg.) (1993): Wörterbuch der Religionspsychologie. Gütersloh; Metzler Lexikon Religion. 4 Bd.e. Stuttgart, 2000; R. van Quekelberghe (2005): Transpersonale Psychologie und Psychotherapie: Grenzenlose Grenze des Bewußtseins. Eschborn; H. Stubbe (2012): Lexikon der Anthropologischen Psychologie. Gießen; Zeitschriften: Curare; Jahrbuch für Ethnomedizin und Bewußtseinsforschung, 1992ff

Verfassung und afrobrasilianische Rechte Die brasilianische Verfassung vom Oktober 1988 schützt alle brasilianischen Bürger gegen jegliche rassische und ethnische Diskriminierung und Benachteiligung. Das entscheidende Gesetz »7.716 vom 5. 01. 1989«, das rassistische Verbrechen verurteilt, wird im unteren Kasten aufgeführt. Dennoch sind wir alltäglich mit einer Reihe diskriminatorischer Handlungen aufgrund der ! Hautfarbe konfrontriert. Das schwierigste ist bis heute sowohl diese Handlungen als solche festhalten zu können als auch das Opfer zu bewegen eine Anzeige zu erstatten: Die Mehrzahl der potenziellen Opfer rassischer !Diskriminierung in Brasilien hat keinen Zugang zu den Gesetzen, die sie gegen diese willkürlichen Akte schützen. Hierbei fehlt noch eine intensive Aufklärungsarbeit, die diesen Teil der Bevölkerung erreicht. In S¼o Paulo befindet sich das einzige Polizeirevier für die Untersuchung von rassischen Verbrechen (= Delegacia de Pol†cia de InvestigaÅþes sobre Crimes Raciais, SP), was ebenfalls die Existenz solcher Handlungen bestätigt, obwohl bisher nur wenige Personen tatsächlich Anzeigen erstatten. Bei einem solchen Verbrechen hat der Angeklagte keine Möglichkeit nur eine Geldstrafe zu bezahlen. Er wird im Allgemeinen mit Gefängnis bestraft. Vor dem brasilianischen Gesetz kann jedoch niemand verurteilt werden aufgrund einer Beschimpfung mit der Bezeichung der Hautfarbe, da dies nicht als ein rassistischer Akt betrachtet wird. Dagegen wird als Rassismus verurteilt, wenn einer Person die Durchführung irgendeiner Handlung aufgrund ihrer Hautfarbe verwehrt wird. Als Beispiel hierfür kann eine Studie der Sozialpsychologin Monique Augras (RJ) dienen: Sie verschickte zwei völlig identische Curricula für die Besetzung einer Sekretärinnenstelle an verschiedene Firmen. Der einzige Unterschied bestand in der Hautfarbe der Bewerberinnen: Die eine war weiß und die andere Afrobrasilianerin. Die Firmen entschieden sich für die weiße Frau und argumentierten, daß diese »besser« ausgebildet wäre. Das ist aufgrund der Argumentation ein typisch rassistischer Fall gewesen. Als rassistisches Verbrechen gilt auch das von Sangmeister (1990:70) aufgeführte Beispiel von der »landesweit bekannten« Gloria Maria Matta da Silva, Reporterin des einflußreichen TV-

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Senders Rede Globo, der der Zugang zum feinen Hotel Rio Othon Palace in Rio de Janeiro mit den Worten verwehrt wurde: »Negra aqui n¼o entra« (= Eine »Negerin« kommt hier nicht rein)«. Eine zusätzliche Schwierigkeit in diesem Bereich hängt mit der fehlenden Offenheit zusammen, die oftmals diese Handlungen haben, d. h. die Diskriminierung läuft in einer sehr subtilen Form ab, gegen die keine Anklage möglich ist oder es kommt zu einer »Wort gegen Wort«-Aussage, bei der regelmäßig der Angeklagte gewinnen wird. Anderseits ist die Angst, Unsicherheit und Unkenntnis der afrobrasilianischen Opfer in den meisten Fällen ein ganz wichtiger Faktor für das »Überhören und Übersehen« einer Ungerechtigkeit in diesem Rahmen, obwohl aber gegenwärtig ganz geringfügige Veränderungen zu beobachten sind. Die Gründung einer solchen »Delegacia« deutet auf eine sich entwickelnde neue Haltung der Afrobrasilianer hin. Ein großes Problem hinsichtlich dieser Frage bereitet für die normalen Bürger die terminologische Akzentuierung eines solchen Verbrechens. In einer ethnisch segmentierten Gesellschaft, in der Konkurrenz im westlichen Muster stark ausgeprägt ist, wird der Faktor Hautfarbe zu einem wichtigen Merkmal im Rahmen von Auseinandersetzungen: Der weiße Arbeitskollege diffamiert den afrobrasilianischen als inkompetent, der Fahrer, der als !pardo bezeichnet werden kann, beleidigt die afrobrasilianische Angestellte als »Äffin« (macaca), der primäre Verdacht über das Verschwinden des Geldbeutels der weißen Lehrerin fällt auf den einzigen afrobrasilianischen Gymnasiasten, usw. Dies alles sind Situationen, in denen juristische Fragen aufgeworfen werden, weil sie schnell als rassistische Verbrechen betrachtet werden können, obwohl sie vor den brasilianischen Gesetzen nicht als solche gelten. Das Hauptproblem liegt hierbei darin, daß Afrobrasilianer von Andersfarbigen beschuldigt werden. Die Beschuldigung an sich wird vor dem Gesetz nicht als ein rassisches Verbrechen, aber von dem Betroffenen oft als solches interpretiert. Hierbei kann die Spannung in der Beziehung zwischen den Weißen und Afrobrasilianern deutlich erkannt werden. Als ein Beispiel eines rassistischen Verbrechens oder zumindest als ein Teil der Durchführung des »Lei 7.716« kann der Fall des Radio-Kommentators Itamar Alves de Oliveira der Radiosendung S¼o Carlos in S¼o Paulo angesehen werden: Um 12 Uhr des 9. Abril 1991, berichtete er über einen Überfall, bei dem zwei weiße und ein schwarzer Mann beteiligt waren und kommentierte von Anfang an: »Es konnte nur ein Schwarzer sein«. Am Ende seiner Berichterstattung forderte er eine Bestrafung der Verbrecher, aber in verstärkter Form für den Afrobrasilianer. Maria de Lourdes Tobias Serafim, die die Sendung gehört hatte und die Präsidentin des »Centro Cultural Negro Municipal de S¼o Carlos« erstattete sofort eine Anzeige gegen den Lokutor. Nach Jahren des Prozesses wurde er nach dem § 20 des u.g. Gesetzes verurteilt, das besagt, daß »keine

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induktive oder praktische rassische, hautfarbenbezogene oder religiöse Diskriminierung durch die Kommunikationsmitteln erlaubt ist«. Der Ansager wurde jedoch nicht infatiert, wie es das Gesetz eigentlich vorsieht, sondern mußte sich nur monatlich im Justizpalast vorstellen und über seine gegenwärtigen Aktivitäten berichten. Es folgen Auszüge des »Lei 7.716« vom 5. Januar 1989: Art. 1.

Es werden bestraft, in der Form dieses Gesetzes, die Vergehen gegen die Vorurteile, die Rasse und die Hautfarbe. Art. 3. Den Zugang einer Person, die entsprechend geeignet ist, zu irgendeiner Amtsstellung in der direkten und indirekten Verwaltung wie auch im öffentlichen Dienst verhindern oder ihr entgegenstehen. Gefängnisstrafe von 3 bis 5 Jahren. Art. 4. Eine Beschäftigung in einem privaten Betrieb negieren oder sie verhindern. Gefängnisstrafe von 2 bis 5 Jahren. Art. 5. Den Zugang zu einem Geschäft verhindern oder verweigern, sich weigern einen Klienten zu bedienen oder zu empfangen. Gefängnisstrafe von 1 bis 3 Jahren. Art. 6. Die Einschreibung oder den Eintritt eines Schülers in eine private oder öffentliche Schule jeglichen Grades negieren, verhindern oder verweigern. Gefängnisstrafe von 3 bis 5 Jahren. Einziger Paragraph: Wenn das Verbrechen gegen einen unter 18-jährigen begangen wird, vergrößert sich die Strafe um 1/3. Art. 7. Verhindern oder verweigern der Beherbergung in einem Hotel, einer Pension oder einer ähnlichen Einrichtung. Gefängnisstrafe von 3 bis 5 Jahren. Art. 8. Den Zugang zu einem Restaurant, einer Bar, einem Caf¦ oder ähnlichen Einrichtungen mit öffentlichem Zugang verhindern oder verweigern. Gefängnisstrafe von 1 bis 3 Jahren. Art. 9. Den Zugang oder die Bedienung in sportlichen Einrichtungen, Spielhallen und Clubs, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, verweigern oder verhindern. Gefängnisstrafe von 1 bis 3 Jahren. Art. 10. Den Zugang und die Bedienung in Friseurläden, Thermen oder Massagesalons, bzw. Einrichtungen mit ähnlichen Zielen ablehnen. Gefängnisstrafe von 1 bis 3 Jahren. Art. 11. Den Zugang zu den Haupteingängen (entradas sociais) in öffentlichen oder privaten Gebäuden und zu den Aufzügen oder Treppenaufgängen in denselben verhindern. Gefängnisstrafe von 1 bis 3 Jahren. Art. 12. Die Benutzung und den Zugang zu öffentlichen Transportmitteln wie Flugzeugen, Schiffen, Fähren, Booten, Omnibussen, Zügen, Untergrundbahnen oder anderen Transportmitteln verweigern oder verhindern. Gefängnisstrafe von 1 bis 3 Jahren.

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Art. 14. Der Heirat oder dem familiären oder gesellschaftlichen Zusammenleben in jeglicher Hinsicht entgegenstehen oder sie verhindern. Gefängnisstrafe von 2 bis 4 Jahren. Quelle: Folha de S¼o Paulo, 25. 6. 1995

!Abolition !Bibliografien !Diskriminierung !Geschichte der Afrobrasilianer !Menschenrechte !Minderheiten !Organisationen !Politik !Rassismus !Vorurteile R. de Bellido (1915): Bibliographia Andradina. S¼o Paulo; E. de Cerqueira Falc¼o et al. (1963): Jos¦ Bonif‚cio, o Patri‚rca. Santos; IPEAFRO (ed.) (1985): Afrodi‚spora. Revista trimensal do mundo negro: O negro e a constituiżo no Brasil. Afrodi‚spora (SP), 5, 1985:79 – 114; C. G. Quirino (1987): ConstituiÅþes brasileiras e cidadania. S¼o Paulo; Constituiżo da Repfflblica Federativa do Brasil (5. 10. 1988). S¼o Paulo: Atlas (eine dt. Übers. existiert)

Vorurteile Einführung: »Von allen menschlichen Schwächen wirkt keine zerstörerischer auf die Würde des Einzelnen und die sozialen Beziehungen unter den Menschen als V.e«, stellt zu Recht der us-amer. Sozialpsychologe Philip G. Zimbardo (1999:435) fest. Als 1954 in den USA die Rassentrennung im öffentlichen Bildungssektor durch einen Gerichtsentscheid verboten wurde, wurde dies teilweise durch sozialpsychologische Forschungsarbeiten (z. B. Kenneth Clark) begründet. Als V. bezeichnet man eine gelernte Einstellung gegenüber einem Zielobjekt, bei der negative Annahmen beteiligt sind, die als Rechtfertigung für die Einstellung dienen. Dazu kommt auf der Verhaltensebene die Neigung, die Mitglieder der Zielgruppe zu kontrollieren oder zu dominieren, zu meiden oder zu eliminieren (vgl. Zimbardo, 1999:436). W. Herkner (2001: 493) macht den Unterschied zwischen V. und !Stereotyp klar, indem er definiert: »V. sind Einstellungen, deren Objekte Außengruppen oder – als Spezialfall von Außengruppen – Minoritäten sind. Dabei handelt es sich in der Regel um negative, abwertende Einstellungen. Die kognitive Komponente der V. – das subjektive Wissen über die Außengruppe – wird Stereotyp genannt.« Nach Cushner & Brislin (1996) erfüllen V. mindestens vier Funktionen: die Änderungs- oder utilitaristische Funktion, die Ich-verteidigende Funktion, die Werte ausdrückende Funktion und die Wissens-Funktion. In plurikulturellen und multiethnischen Gesellschaften wie z. B. in Brasilien spielt der Abbau von V.en eine besonders wichtige Rolle. Der Sozialpsychologe E. Aronson (1978) griff z. B. eine Idee aus Sherif ’s bekannten Experimenten auf und entwickelte ein Programm, um gegen V. in

Vorurteile

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multi-ethnischen Schulklassen vorzugehen. Die dabei zum Einsatz kommende sog. Jigsawing–Technik (Bandsägentechnik) enthält Aufgaben, die nur durch Kooperation der gesamten Gruppe gelöst werden können. Vorurteile gegenüber den Afrobrasilianern in Brasilien: !Vorurteile gegenüber den Afrobrasilianern sind z. B. in der !Sprache, den ! Sprichwörtern, den !Witzen, den !Schulbüchern, der !Literatur, den ! Reiseberichten, der !Diskriminierung im Arbeitsbereich, in der Bildung, dem !Wohnen etc. und den !Hautfarbenbezeichnungen klar zu erkennen. Z. B. sind in der brasil-portugiesischen !Sprache viele V. gegenüber den ! »negros« enthalten. Die afrobrasilianische Psychiaterin Neusa Santos Souza legte eine psychoanalytische Studie »Tornar-se negro« (1983) vor. Sie stellt darin u. a. fest (Santos-Souza, 1983:29), daß in Brasilien »negro« mit »sujo« (= schmutzig) assoziiert wird. Sie kritisiert, daß sogar das wichtigste Sprachlexikon, der »Aur¦lio«, bei dem Begriff »negro« 10 pejorative Attribute aufführt, nämlich: sujo, triste (= traurig), maldito (= verflucht), melancûlico, perverso, escravo (= Sklave), funesto (= finster), lutuoso (= traurig), sinistro (= unheimlich), encardido (= vergilbt). Auch in den brasilianischen !Sprichwörtern finden sich z. B. folgende Charakterisierungen der »negros«: faul, dumm, häßlich, tierähnlich, stinkend, schmutzig, nachlässig etc. (vgl. Souto Maior, s.d.). In der modernen Pädagogik und Sozialpsychologie wurden verschiedene Techniken entwickelt, um solche Vorurteile schon im Kindesalter zu beseitigen (vgl. blue eys, jigsaw-Technik, Rollenspiel etc.). !antirassistisches Training !Interkulturelle Pädagogik !Kolonialismus ! »mestiÅo« !»mulata/mulato« !»negro« !»pardo« !Rassismus !Schulbücher !Sozialpsychologie !Sprichwörter !Stereotype !Sündenbockrolle ! Witz G. W. Allport (1958): The nature of prejudice. New York; W. Freitas Oliveira (1969): ConsideraÅþes sobre o preconceito racial no Brasil. Afro/Ýsia (Salvador), jul/dec.; J. Franklin (1970): O preconceito racial na literatura de cordel. Revista de Cultura Vozes (Petrûpolis), 64(8), p. 623 – 628; M. M. de Oliveira Berriel (1975): Preconceito e percepżo. Niterûi: UFF; Cl. Moura (1976): O preconceito de cúr na literatura de cordel. S¼o Paulo; M. J. Hoffnagel (1977): »O Homem«. RaÅa e preconceito no Recife. Clio (Recife), (1), p. 55 – 61; K. Munanga (1978): Preconceito de cor : Estados Unidos, Ýfrica e Brasil. Revista de Antropologia (SP), 21, p. 145 – 153; E. Aronson et al. (1978): The jigsaw classroom. Beverly Hills; ders. (1994): Sozialpsychologie. Menschliches Verhalten und gesellschaftlicher Einfluß. Heidelberg; T. de Queiroz Jfflnior (1982): Preconceito de cor e a mulata na literatura brasileira. S¼o Paulo; M. L. de S. Rangel Ricci (1982): A ascens¼o social no Brasil: ind†cio de ausÞncia de preconceito e discriminażo raciais? FranÅa, Anais, II. Semana do ServiÅo Social, p. 213 – 216; O. B. Borba (1984): Preconceito e violÞncia. Curitiba; M. L. Tucci Carneiro (1988): Preconceito racial. Portugal e Brasil-Colúnia. S¼o Paulo (2.ed.); R.

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M. Cherem et al. (1988): Negro em terra de branco. Escravid¼o e preconceito em Santa Catarina no s¦c. XIX. Porto Alegre: Mercado aberto; E. A.de Jesus Prudente (1989): Preconceito racial e igualidade jur†dica no Brasil. Campinas; Fl. Fernandes (1989): Significado do protesto negro. S¼o Paulo; V. Moreira Figueira (1990): O preconceito na escola. Estudos Afro-Asi‚ticos (RJ), (18), p. 63 – 72; M. Markefka (1995): Vorurteile, Minderheiten, Diskriminierung. Ein Beitrag zum Verständnis sozialer Gegensätze. Neuwied; A. Zick (1997): Vorurteile und Rassismus. Eine sozialpsychologische Analyse. Münster ; E. E. Sampson (1998): Dealing with differences. An introduction to the social psychology of prejudice. Harcourt Brace College Publ. Fort Worth; P. G. Zimbardo & R. J. Gerrig (1999): Psychologie. Berlin (7. Aufl.); H.-W. Bierhoff & M. J. Herner (2002): Begriffswörterbuch Sozialpsychologie. Stuttgart; Sir P. Ustinov (2003): Achtung! Vorurteile. Hamburg; E. Aronson et. al. (2004): Sozialpsychologie. München (Kap.7, Kap.13); A. S. A. Guimar¼es (2004): Preconceito e discriminażo. S¼o Paulo; H. W. Bierhoff & D. Frey (Hrsg.) (2006): Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie. Göttingen; Kl. Ahlheim (Hrsg.) (2007): Die Gewalt des Vorurteils. Schwalbach/Ts.; M. Souto Maior (s.d.): O folclore do negro. Centro de Estudos Folclûricos. Recife

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Witz (zu »wissen«, piada, graça) Einführung: Noch im 18. Jh. bedeutete W. in Deutschland soviel wie »Verstand«, »Klugkeit«, in der Goethezeit auch »Geist« (als Entsprechung zu frz. esprit), heute soviel wie »Schlauheit«, »Findigkeit« (vgl. Mutterwitz) bzw. die Äußerung einer rein verstandesmäßigen (nie gefühlsmäßigen) Fähigkeit zur Gestaltung scherzhafter Einfälle in sprachlich prägnanter Form (»einfache Formen«). »Wesentlich ist die treffende Formulierung der Pointe (frz. Spitze), in der sich die bewusst konzentrierte und gesteigerte Spannung des W.es durch ein unerwartetes, plötzliches Umschlagen in eine unvermutete Richtung löst, die Aufmerksamkeit des Aufnehmenden an entscheidender Stelle umgewendet, auf ein ganz anderes, weitabliegendes Gebiet übertragen wird und der versteckte Vorstellungszusammenhang, das tertium comparationis, plötzlich zutage tritt« (Wilpert, 1969:851 f). Theorien über die psychologischen und sozialen Funktionen des W.s haben das Bedürfnis nach Kompensation für die Widrigkeiten des Lebens hervorgehoben. S. Freud, der dem W. 1905 eine psychoanalytische Monographie gewidmet hat, sah im W. ein Ventil für den Aggressionstrieb und die Libido. Als subversive Dichtung greifen W.e Autoritäten an und stellen sie bloß (vgl. (Flüster-)Witze im »Dritten Reich« z. B. Gamm, 1964; Wöhlert, 1997). Unter umgekehrten Vorzeichen richten sich W.e oder witzige !Sprichwörter oftmals auch gegen benachteiligte Personengruppen (z. B. ethnische !Minderheiten), wie die Afrobrasilianer (!»negros«). Hierbei geht es dann darum sich selbst Überlegenheit zu attestieren und den eigenen priviligierten Status zu konsolidieren. Eine besonders scharfe Form des Verletzens von Konventionen ist in solchen W.en gegeben, die einen !Tabubruch (vgl. Sexualtabus, Anal-, Fäkaltabus, rel. Tabus etc.) begehen.

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Witze als Forschungsthema der Afrobrasilianistik: So wie es in Brasilien die beliebten »Portugiesen-Witze« gibt, gibt es auch Witze über die Afrobrasilianer. Dieses Thema wurde jedoch im Gegensatz zu den Schimpfwörtern (»palavrþes«, vgl. z. B. Souto Maior, 1980) bisher nicht systematisch bearbeitet. !»negros« !Rassismus !Sprichwörter !Vorurteile S. Freud (1905): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. GW Bd. VI; A. Wellek (1949): Zur Theorie und Phänomenologie des Witzes. Studium Generale, 2; A. Jolles (1958): Einfache Fomen. Tübingen (3. Aufl.); E. Lips (1959): Weisheit zwischen Eis und Urwald. Vom Humor der Naturvölker. Leipzig; L. Röhrich (1977): Der Witz. Figuren, Formen, Funktionen. Stuttgart.; ders. (1977): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 4 Bd.e. Freiburg/Brsg.; M. Souto Maior (1980): Dicion‚rio do palavr¼o e termos afins. Recife; H. Stubbe (1985): Dialectics of Brazilian negro proverbs. Maledicta, vol. 8, p. 59 – 68; J. Rattner (1994): Kritisches Wörterbuch der Tiefenpsychologie, München. S. 350 f; L. Sarrumor (2000): Ainda mais mil piadas do Brasil. S¼o Paulo; ders. (2003): »As melhores mil (e cem) piadas do Brasil«. S¼o Paulo; Zeitschrift: Maledicta (Waukesha, Wisconsin, USA)

Wodu (Fon: »Gott«, »Geist«; auch: Vodu, Voodoo, vodoun) Die synkretistische Religion der Afro-Haitianer, welche afrikanische religiöse Elemente (vor allem aus der Fonkultur in Dahom¦) mit christlichen verschmilzt. Die afrikanischen Elemente wurden von den afrikanischen Sklaven aus Westafrika nach Haiti mitgebracht und wie insgesamt in Afro-LA mit einer christlichen »Tarnkappe« versehen. Die W.-Religion hat sich im Laufe des 19. Jh. konsolidiert und ist heute offiziell anerkannt und hat viele Ähnlichkeiten mit dem afrobrasilianischen Synkretismus. Ein wichtiges Kennzeichen des WoduRituals bilden Besessenheitsphänomene. !Afrolateinamerikaner !Besessenheit !Candombl¦ !Trance A. M¦traux (1958): Le vaudou haitien. Paris (dt. Voodoo in Haiti, 1994); A. Kiev (1962): Psychotherapy in Haitian voodoo. Amer. J. Psychother., 16, p. 469 – 476; E. W. Davis (1986): Die Toten kommen zurück. Die Erforschung der Voodoo-Kultur und ihrer geheimen Drogen. München; K. M. Brown (1991): Mama Lola. A vodou priestess in Brooklyn. Berkeley ; A. Pollak-Eltz (1995): Trommel und Trance. Die afro-amerikanischen Religionen. Freiburg/Brsg.; S. P. Blier (1995): African vodun. Art, psychology and power. Chicago; M. Kremser (Hrsg.) (1996): AyBoBo – Afro-Karibische Religionen: Voodoo. Wien; E. Manuel (1998): Haitian vodoun culture. New Brunswick; A. Reuter (2003): Voodoo und andere afro-amerikanische Religionen. München; W. Behringer (2008): Hexen. München; Museum (Essen-Rüttenscheid): Soul of Africa, e. V.: www.soul-ofafrica.com

Wohnen

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Wodu – Tod (auch: Voodoo-Tod) Bei Anhängern des W. kultes vorkommender psychogener Tod. Der Betreffende stirbt innerhalb von wenigen Tagen, weil er glaubt, er sei von bösen !Geistern besessen und durch eine Todesmagie zum Tode bestimmt. !Abwehrmagie !Banzo !Wodu !Zauber D. Lester (1972): Voodoo-death: some new thoughts on an old phenomenon. Amer. Anthropologist, 74(3), 386 – 390; H. Figge (2004): Wörterbuch zur Psychologie des Magischen. Berlin; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen, S.682

Wohnen Unter »Senzala« (Kimbundo: sanzala = povoażo) versteht man in Brasilien die kollektiven, fensterlosen, gefängnisartigen meistens aus Ton gebauten Behausungen der Sklaven auf den »fazendas« oder »engenhos«, die nachts vom Feitor verschlossen wurden (vgl. z. B. Freyre, 1933; Scis†nio, 1997:297; Lopes, 2006:154). Sie waren oftmals eng, überbelegt, schlecht belüftet, unhygienisch und feucht. »CortiÅo« (urspr. Bienenstock) ist eine kollektive Behausung der armen, marginalisierten (afrobras. und Einwander-) Klassen in den Großstädten des 19. Jh.s (vgl. da Cunha, 1982:221; Dicion‚rio escolar da l†ngua portuguesa, 1981:305). In dem vom Naturalismus geprägten Roman »O CortiÅo« (1890) von Alu†sio Tancredo GonÅalves Azevedo (1857 – 1913), »o primeiro romancista de massas da literatura brasileira«, werden die miserablen sozialen (Wohn-) Verhältnisse (Geld, Sex, rassistische Diskriminierung, Ausbeutung, Suizid etc.) in den »cortiÅos cariocas« gegen Ende des 19. Jh.s eingehend geschildert (vgl. auch die !Fotografien im Anhang bei Azevedo, 2001, S.11,17). Gegenwärtig lebt die überwiegende Mehrzahl der afrobrasilianischen Bevölkerung weiterhin marginalisiert entweder in den !Favelas, auf den Morros (insb. in der Südost-Region des Landes), in der Peripherien der Ballungszentrem, den sog. suburbios, wo sich auch in der Regel die »vilas oper‚rias« (»Arbeitersiedlungen«) befinden. Die »vilas oper‚rias« sind dadurch charakterisiert, daß sie mit finanzieller Unterstützung der Landesregierungen und mit Steinen als Baumaterial erbaut werden. Solche Bauprogramme existieren in Brasilien seit den 70er Jahren. Die Häuser sind in Reih und Glied angeordnet und völlig standardisiert. Sie verfügen über ganz geringe Wohnraumgrößen, obwohl die Häuschen immer von Großfamilien bewohnt werden. Die Wohnexklusion und –benachteiligung der afrobras. Bevölkerung ist offensichtlich, sowohl in den Städten als auch auf dem Lande. Auch die »Straßenbewohner« sind mehr-

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heitlich AfrobrasilianerInnen. Sie leben auch auf den Müllhalden, in unterschiedlichen Elendsvierteln, die regional verschieden benannt werden (z. B. tabiques). Auch in den »palafitas« (= Pfahlbauten) auf Sumpfgebieten (= mangezal) insb. in Norden und Nordosten des Landes, aber auch in den »casebres«, »barracos«, »choupanas« und in »casas de pau-a-pique« finden wir überwiegend afrobrasilianische Bewohner. Hauptprobleme dieser Wohnformen sind die fehlende Infrastruktur, Gesundheitsgefährdung aufgrund der unhygienischen Verhältnisse (Abwässer), hohe Kriminalität, u. a. !Apartheid !Exklusion !Favela !Segregation A. Azevedo (1890, 2001): O cortiÅo. S¼o Paulo; M. Fleiuss (1928): Histûria da cidade do Rio de Janeiro. Rio de Janeiro; G. Freyre (1933): Casa grande e senzala. 2 vol.s. Rio de Janeiro; ders. (1979): Oh de casa! Em torno da casa brasileira e de sua projeżo sobre um t†po nacional de homem. Recife; Cl. L¦vi-Strauss (1955, 1990): Tristes tropiques. Paris; D. Guimaraens & L. Cavalcanti (1983): Moradia e identidade ¦tnica. Revista de Antropologia (SP), 26, p. 119 – 128; dies.n (1988). Quissam¼: casa grande e senzala. Tempo Brasileiro (RJ), (92/93), jan./jun., p. 33 – 44; J. Augel (1985): Leben in Armut. Überlebensstrategien in brasilianischen Elendsvierteln. Mettingen; M. Carneiro da Cunha (1985): Da senzala ao sobrado: Arquitectura brasileira na Nig¦ria e na Repfflblica Popular do Benim. S¼o Paulo; A. Lourdes Ribeiro da Costa (1988): Moradia de escravos em Salvador no s¦c. XIX. Clio (Recife), (11), p. 95 – 104; G. W. Achilles (1989): Strukturwandel und Bewertung sozial hochrangiger Wohnviertel in Rio de Janeiro. Die Entwicklung einer bras. Metropole unter besonderer Berücksichtigung der Stadtteile Ipanema und Leblon. Tübingen: Geographisches Institut; C. A. C. Lemos (1989): Histûria da casa brasileira. A casa colonial. Casas urbanas e rurais. A habitażo burguesa. S¼o Paulo; Ch. dos Santos-Stubbe (1995): Arbeit, Gesundheit und Lebenssituation afrobras. Empregadas Dom¦sticas (Hausarbeiterinnen). Frankfurt/M. Internet: Wohnbedingungen Os negros sa†ram da senzala para morar na favela http://g1.globo.com/Noticias/Brasil/ 0,,MUL464569– 5598,00-OS+NEGROS+SAIRAM+DA+SENZALA+PARA+MORAR+NA +FAVELA+DIZ+MINISTRO.html Desigualdades raciais no acesso — moradia adequada (p‚gina 71 – tabela) http://www.ipea. gov.br/sites/000/2/livros/radar2006/05_moradia.pdf Como anda o direito — moradia no Brasil? (dados sobre a populacao negra apenas nos fflltimos par‚grafos) http://www.ipea.gov.br/desafios/index.php?option=com_content& view=article& id=841:catid=28& Itemid=23

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Xangô (jorubá (nagô): Gott des Blitzes und Donners, Sohn der Yemanjá und des Oranhiã) Afrobrasilianische Religion im Nordosten Brasiliens (Recife, Alagoas, Sergipe, Para†ba). Unter X. versteht man sowohl die tausenden von Kultzentren, wie auch die mächtige Jorub‚-Gottheit (Fest: am 30. September = hl. Hieronimus, Tag: Mittwoch). In der Sklavereizeit (ca. 1535 bis 1888) gingen von den X.zentren oftmals !Aufstände aus, die zur Gründung von !Quilombos führten. !Candombl¦ !Fetichismus !Religion !Yemanj‚ A. Ramos (1934): Os mythos de Xangú e sua degradażo no Brasil. I. Congresso AfroBrasileiro. Recife; A. G. Fernandes (1937): Xangús do Nordeste – InvestigaÅþes sobre os cultos negro-fetichistas. Rio de Janeiro; C. Cascudo (1947): Geografia dos mitos brasileiros. Rio de Janeiro; J. H. MendonÅa (1975): O crescimento e a localizażo dos centros e terreiros de Xangú no Grande Recife. Interpretażo sociolûgica. CiÞncia & Trûpico (Recife), 3(1), p. 41 – 63; G. Cacciatore (1977): Dicion‚rio de cultos afro-brasileiros. Rio de Janeiro; R. Ribeiro (1978): Cultos afrobrasileiros do Recife. Um estudo de ajustamento social. Recife (2. ed.); L. da C. Cascudo (1980): Dicion‚rio do folclore Brasileiro. S¼o Paulo; H. Fichte (1984): Xango. Die afroamerikanischen Religionen Bahia – Haiti -Trinidad. Frankfurt/M; R. M. Cortez Motta (1983): Xangú e ajuda mffltua. In: R. M. Cortez Motta ( & P. Scott (orgs.), SobrevivÞncia e fontes de renda. Recife, Massangana, p. 127 – 132; D. Perin da Rocha Pitta (1985): Mitos e s†mbolos nos xangús de Pernambuco. Cadernos de Estudos Sociais (Recife), 1(2), p. 263 – 268; J. J. de Carvalho (1990): Xangú. Cadernos do ISER(RJ), (23), P.139 – 145; A. Pollak-Eltz (1995): Trommel und Trance. Die afroamerikanischen Religionen. Freiburg/Brsg.; Ch. dos Santos-Stubbe (2001): Die Afrobrasilianer. Bad Honnef, (2. Aufl.)

Y

Yemanjá (in Brasilien auch: Iemanjá, Janína, Princesa de Aiucá, Rainha do Mar, Sereia do Mar, Sereia Mukunã etc.) Y. ist ein orix‚ der Flüsse und Bäche, speziell des Flusses Ogun in Afrika (also eine jorubanische Wassergöttin in den Mythen des Wasserzyklus). Sie ist die Tochter des Obatal‚ (Oxal‚) und Odudua, seiner Gattin. Verheiratet ist sie mit Oranhi¼, dem Gründer von Oyû, der Hauptstadt des Königreiches der Yoruba. Sie hat drei Kinder : Dad‚, !Xangú und Xampan¼. Nach einer anderen Version des Mythos, ist sie die Gattin ihres Bruders Aganju und hat mit ihm einen Sohn, Orung¼, der sie vergewaltigte. In Brasilien wird sie als orix‚ des Meeres angesehen und gilt als Mutter aller orix‚s (magna mater). Sie repräsentiert die Schwangerschaft und Erzeugung/Schöpfung. In den Küstenstädten Rio de Janeiro, Niterûi und Santos wird sie in der Nacht vom 31.12 zum 1.1. am Meer durch Kerzen und Blumen, sowie Gesänge von Millionen verehrt. Sie spielt auch in der !Umbanda eine wichtige Rolle (vgl. Unterste, 1973; Cacciatore, 1977:267 f; C–mara Cascudo, 1980:378 f): Eine ethnopsycho-analytische bzw. Jungianische Interpretation, inspiriert von A. Ramos, versuchen Oliveira et al. (1986) und Iswashita (1989). !Folklore !Religion Ramos (1934): O negro brasileiro. Rio de Janeiro; H. Unterste (1973): Der Mythos der Yemanja. Zürich; ders. (1982): Yemanj‚ e o complexo-m¼e do brasileiro. Em: Livro de Planeta. S¼o Paulo, p. 119 – 126; O. G. Cacciatore (1977): Dicion‚rio de cultos afro-brasileiro. Rio de Janeiro; L. da C–mara Casscudo (1980): Dicion‚rio do folclore brasileiro. S¼o Paulo; W. I. de Oliveira et al. (1986): Iemanj‚ – Um mito brasileiro em florażo. Jornal Brasileiro de Psiquiatria, 35(5), 1986:267 – 271; P. Kuniharo Iwashita (1989): Maria e Iemanj‚. Ensaio de m¦todo para uma an‚lise religiosa e psicolûgica do feminino. Perspectiva Teolûgica (Belo Horizonte), 21 (55), p. 317 – 331

Z

Zauber (von ahd. zaubar = Zauberei, Zaubermittel, Zauberspruch; magia, feitiçeria) Z. beruht auf einer der magischen Geisteshaltung entspringenden Praxis zur Abwehr des »Bösen« (»Abwehrzauber«, apotropäischer Z. ! Abwehrmagie), zur Gewinnung von Glück, Schutz, Vorteil etc. (»Mehrungszauber«), zur Erregung von Liebe (»Liebeszauber«), zur Förderung der Fruchtbarkeit (»Fruchtbarkeitszauber«), zur Beherrschung des Wetters (»Wetterzauber«) etc. Mittel der Zauberei sind Z.– und Beschwörungsformeln, symbolische Handlungen (z. B. Durchbohren eines Bildes des Feindes: »Analogie-Zauber«, »Schadenszauber«), Talismane, !Amulette. Die Z.praxis ist oftmals ein Vorrecht von Priestern, Medizinmännern (paj¦, feitiÅeiro, curandeiro) oder Anführern. Manche Formen der Zauberpraxis wird auch von den Angehörigen der sog. Kulturvölker ausgeübt (»Volksmagie«, »Aberglaube«). In den Elementen der europ. Zauberei kann vielfach »gesunkenes Kulturgut« nachgewiesen werden. Schon in der röm. Antike benutzte man Zaubersprüche (incantamenta) in der Heilmagie, um Dämonen zu bedrohen bzw. sie auszutreiben und sich vor Übertragung von Krankheiten zu schützen. Auch Schadens- und Liebeszauber waren bekannt (vgl. Luck, 1962; Weeber, 2000:416 f). Luck (1962) äußert die Vermutung, dass die antike Magie vielleicht das Erbgut einer vorgeschichtlichen Religion darstellt. James George Frazer (1854 – 1941), der Magie für eine Vorstufe der Religion hielt, hat in seinem berühmten Werk »The golden bough …« (Frazer, Bd.1, 1977:15ff) die Zweige der Magie nach den Denkgesetzen, die ihr zugrunde liegen, folgendermassen systematisiert: Die »sympathetische Magie« wird untergliedert in die »homöopathische/imitative Magie« (Gesetz der Ähnlichkeit: Gleiches bringt Gleiches hervor) und die Übertragungs- oder Kontaktmagie (Gesetz der Berührung: Dinge, die einmal in Beziehung zueinander gestanden haben, wirken fortan aufeinander) (vgl. DTV-Atlas Ethnologie, 2005:254 f). Lucien L¦vy-Bruhl (1857 – 1939) interpretierte Magie als Ausdruck des prälo-

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Z

gischen Denkens (vgl. Stubbe, 2012:119 – 127). In der brit. Sozialanthropologie setzte sich die Überzeugung durch, dass magisches Denken gleichrangig neben technisch-rationalem Denken stehe und dieses in kritischen Situationen ergänze (vgl. z. B. Malinowski). In vielen Fällen kann eine scharfe Trennung zwischen Magie und Zauberei nicht vorgenommen werden. »Magier« war die Bezeichnung einer altpersischen Priesterkaste (magusch). Da man ihren Angehörigen übernatürliche Kräfte zuschrieb, wurde Magie (griech. Mageia = Kunst der Magier) für Wahrsagerei und Zauberei verwendet. Georges Balandier (1976:121) hebt in seiner »Politischen Anthropologie« hervor, »daß die Zauberei, auch wenn sie mit absoluter Nonkonformität, mit heimtückischem Krieg und mit ›Gegengesellschaft‹ zusammengebracht wird, in ein Mittel der Stärkung verwandelt werden kann. Mit der Kennzeichnung des Zauberers oder des radikalen Opponenten als Aggressor ›fixiert‹ die Gemeinschaft das Übel, und durch seine Ausschaltung glaubt sie sich wiederherszustellen. In seiner Untersuchung der birmanischen Katschin stellt E. R. Leach (1954) fest, daß Z. in seiner Funktion dem !Sündenbock-Mechanismus’ vergleichbar ist.« Scis†nio (1997:240) stellt fest, dass die Dokumente über die »fetiÅeria« bzw. »magia« der afrobras. Sklaven verhältnismäßig zahlreich sind. Er führt als Erklärung dafür die Furcht der senhores an. Schlangen (serpentes) scheinen in diesen Dokumenten eine besondere Rolle zu spielen, was bei »escravos de campo« auch nicht zu verwundern ist, da sie mit Schlangen vertraut waren und oftmals Schlangenbisse erlitten. Die »curandeiros« der Sklaven umgaben sich nach Berichten von Tollenare mit vielen Schlangen, die sie sogar domestizierten (zur »feitiÅeria« in Brasilien und während der Sklavereizeit, vgl. C–mara Cascudo, 1980: 324; Mello de Souza, 1986; Scis†nio, 1997:153 f). !Abwehrmagie !Heilerinnen !Macumba !Wodu J. G. Frazer (1890, 1977): Der goldene Zweig. Eine Studie über Magie und Religion (1890). 2. Bd.e. Frankfurt/M. ; H. Hubert & M. Mauss (1902) : Esquisse d’une th¦orie g¦n¦rale de la magie. Ann¦e sociologique, 7; E. Durkheim (1912) : Les formes ¦l¦mentaires de la vie religieuse. Paris; A. Lehmann (1925): Aberglaube und Zauberei. Von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart. Stuttgart (3. Aufl.); E. Levi (1926): Geschichte der Magie. 2 Bd.e. Wien; K. Beth (1927): Religion und Magie bei den Naturvölkern. Leipzig (2. Aufl.); L. L¦vy-Bruhl (1927): Die geistige Welt der Primitiven. München; B. Malinowski (1935): Coral gardens and their magic, 2 vol.s. London; A. Vierkandt (1937): Entwicklungspsychologische Theorie der Zauberei. Arch. ges. Psychologie, 98, S. 420 – 489; HDA; K. Seligman (1948): The history of magic. New York; B. Malinowski (1948): Magic, sciences and religion. N.Y.; L. da C–mara Cascudo (1951): Meleagro. Rio de Janeiro; W. E. Peukert (1956): Pansophie. Ein Versuch zu einer Geschichte der weißen und schwarzen Magie. Berlin (2. Aufl.); G. Balandier (1976): Politische Anthropologie. München; G. Luck (1962): Hexen und Zauberei in der römischen Dichtung. Zürich; H. G. Kippenberg & B. Luchesi (Hrsg.) (1978): Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens. Frankfurt/M.; L. da C–mara Cascudo (1980): Dicion‚rio do Folclore

Zumbi (aus Kimbundo: nzumbi; auch: Zâmbi)

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Brasileiro. S¼o Paulo; M. Winkelmann (1982): Magic: A theoretical reassessment. Current Anthropology, 23; R. Italiaander (1983): Schwarze Magie – Magie der Schwarzen. Mehr als schwarze Magie. Begegnungen mit religiösen Phänomenen in Cuba, Brasilien und Westafrika. Freiburg/Brsg.; K. Fohrbeck & A. J. Wiesand (1983): »Wir Eingeborene«. Zivilisierte Wilde und exotische Europäer. Magie und Aufklärung im Kulturvergleich. Reinbek; L. de Mello de Souza (1986): Sabats e calundus. FeitiÅaria, pr‚ticas m‚gicas e religiosidade no Brasil colonial. Doutorado. S¼o Paulo: USP-FFLCH; dies. (1987): O diabo e a Terra de Santa Cruz. FeitiÅaria e religiosidade no Brasil colonial. S¼o Paulo; J. J. Reis (1988): Magia jeje na Bahia: a invas¼o do calundu do Pasto de Cachoeira (1785). Revista Brasileira de Histûria (SP), 8(16), p. 57 – 81; S. Figueiredo Ferretti (1988): Bruxaria, or‚culos, magia e feitiÅaria no Tambor de Mina do Maranh¼o. CommunicaÅþes do ISER (RJ), 7(30), p. 44 – 51; S. R. Dunde (Hrsg.) (1993): Wörterbuch der Religionspsychologie. Gütersloh; H. H. Figge (2004): Wörterbuch zur Psychologie des Magischen. Berlin; DTV Atlas Ehnologie (2005). München; Paganism in the Middle Ages. Treat and fascination. Leuven University Press, 2012; H. Stubbe (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen

Zumbi (aus Kimbundo: nzumbi; auch: Zâmbi) Z. (ca. 1655 – 1695), der möglicherweise im städtischen Milieu eine formale Bildung erhalten hatte, war der bedeutendste und bekannteste Anführer bzw. »Rei« des Quilombos von !Palmares. In der häufig zitierten »Histûria da Am¦rica Portuguesa desde o seu descrobimento at¦ ao ano de 1724« von Sebasti¼o da Rocha Pita (1660 – 1738) wird behauptet, dass Z. sich mit seinen ca. 200 Kämpfern suizidiert habe (so auch Handelmann in seiner »Geschichte Brasiliens«, 1859). Ernesto Enes hat demgegenüber in seinem Werk »A guerra nos Palmares: subs†dios para a sua histûria« (1938) aufgrund von Dokumenten gezeigt, dass Z. im Jahre 1695 von einer Truppe, die Andr¦ Furtado de MendonÅa kommandierte, getötet wurde. Z. gilt heute als Proto-Märtyrer der Sklavenbefreiung.

Abb. 15: Zumbi

! abolicionismo !Geschichte !Quilombo

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Z

E. J. Bizarro Enes (1938): A guerra dos Palmares: subs†dios para a sua histûria. S¼o Paulo; Núvo Dicion‚rio de Histûria do Brasil (Ilustrado). S¼o Paulo, 1970, p.613; Cl. Moura (1974): Um precursor do abolicionismo: Zumbi. Jornal de Debates (S¼o Paulo), ano XVIII, maio; U. Moniz (1983): A agonia de uma raÅa. Zumbi: o rei. Rio de Janeiro; E. Fonseca Junior (1988): Zumbi dos Palmares: a histûria que n¼o foi contada. Rio de Janeiro; D. Ribeiro (ed.) (1994): Carta’: Falas, reflexþes, memûrias. 1695 – 1995. 300 anos de Zumbi. 1994 – 4/n8 13. Bras†lia; Institut für Brasilienkunde (1995). Zumbi – Symbol afro-brasilianischer Identität. Brasilien Dialog (Mettingen), 3,4; N. Lopes (2006): Dicion‚rio escolar afro-brasileiro. S¼o Paulo, p.174

Anhang

Wichtige Ereignisse in der Geschichte der Afro-Brasilianer 1538 1549 1630 1695

1717 1741

1745 1786 1798

1814 1816 1821 1827 1831 1832

1833

Wahrscheinlich erste Einfuhr afrikanischer Sklaven nach Brasilien Tom¦ de Souza landet in Bahia und bringt afrikanische Sklaven mit (April). volle Entwicklung des »Quilombo de Palmares«, der viele Jahrzehnte den Portugiesen Widerstand leistet Tod Zumbi’s, des Anführers von Palmares. Palmares wird am 20. November durch die Streitkräfte des Bandeirante Domingos Jorge Velho erobert und zerstört. Der Kult der »Nossa Senhora Aparecida«, die als schwarze Madonna dargestellt wird, beginnt von S¼o Paulo aus. Ein »alvar‚« (= Erlaß) erlaubt, daß die in Quilombos gefangengenommenen Sklaven ein »F« (= fugitivo, fuj¼o) in die Haut der Schultern eingebrannt bekommen (23. März). In Recife wird eine literarische »Academia de Homens Pardos« gegründet, die sich in der »Igreja de Nossa Senhora do Livramento« versammelt. Die »Congregażo dos Pretos Minas Mahi« erhält ihre Statuten (31. Jan.). Die »Revolużo dos Alfaiates« in Salvador, beeinflusst von der Französischen Revolution und der Revolution in Haiti, beginnt. Ihr Ziel ist die Einrichtung einer Republik und die Abschaffung der Sklaverei. In Salvador (BA) findet der Sklavenaufstand »Levante de 1814« statt (Francisco Cidade). Entscheidungsschlacht beim »Engenho Cassarangongo« im Recúncavo Baiano im Rahmen der »Revolta dos MalÞs« In Vila Rica (heute: Ouro Preto) findet ein Sklavenaufstand statt (Ago†nos). »Rebeli¼o dos Pardos« in Brejo Grande (SE) im Dezember »Lei Diogo Feijû« (7. Nov.), befreit alle von außerhalb Brasiliens kommende afrikanische Sklaven. Die »Sociedade Protetora dos Desvalidos« wird in Salvador (BA) als wohltätige Gesellschaft von »negros libertos« gegründet (16.9.) (ursprünglich: Irmandade de Nossa Senhora da Soledade Amparo dos Desvalidos; sie existiert bis heute). Die »Revolta dos Carrancas«, ein Sklavenaufstand in Carrancas (MG) im Mai.

530 1835

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Der Sklaven-Aufstand (muslimischer) MalÞs in Salvador. Hierbei handelte es sich um die bedeutendste Revolte städtischer Sklaven in Brasilien, was die Anzahl und den Organisationsgrad angeht (24. Januar). »Revolużo Farroupilha« (1835 – 45) im Süden Brasiliens mit dem Ziel der Gründung einer Republik und der Befreiung der mitkämpfenden Sklaven 1838 Die Regierung von Sergipe verbietet Trägern ansteckender Krankheiten und Afrikanern, seien sie frei oder befreit, den Besuch öffentlicher Schulen (20. März). »Balaiada« in Maranh¼o, eine Rebellion, an der auch »quilombolas« und Sklavenanführer teilnehmen (bis ca. 1841) 1839 »Motim da Laura Segunda« in Ceara, ein Aufstand auf einem »tumbeiro« (Constantino) (10. Juli) 1845 Die »Bill Aberdeen« autorisiert die brit. Marine Sklaventransporter aufzubringen. 1849 »Insurreiżo do Queimado«, Sklavenaufstand in Espirito Santo (Elisi‚rio) 1850 Gesetz (=Lei) des Eus¦bio de Queirûs: Verbot des Sklavenhandels (4. September). Der interne Sklavenhandel bleibt legal. 1864 – 1870 Paraguai-Krieg, an dem viele afrobras. Sklavensoldaten teilnehmen 1866 Ein kaiserliches Dekret bestimmt die Befreiung (= alforria) aller Sklaven, die im Heer dienen (6. November). 1869 Verbot des Verkaufs von Sklaven durch Ausrufung und öffentliche Ausstellung. Verbot der Trennung von Ehepaaren und Kindern von ihren Eltern (15. September) 1871 »Lei do Ventre Livre« (=Gesetz des freien Bauches): die Kinder von Sklaven werden befreit (28. September) 1872 »Floresta Aurora«, eine afrobras. Wohltätigkeitsgesellschaft wird in Porto Alegre (RS) gegründet. 1874 »Revolta do Quebra-Quilos« im Inneren Para†bas. Sie richtete sich vor allem gegen die Einführung des Dezimalsystems beim Wiegen. 1882 Der Abolitionist Luiz Gama stirbt mit 52 Jahren am 24. August. 1884 Der »Drag¼o do Mar« Francisco Jos¦ do Nacimento, lehnt als »jangadeiro« den Transport von Sklaven ab und führt eine Bewegung zur Abschaffung der Sklavenhandels an. Er gilt in Cear‚ als Held der Abolition. 1885 »Lei Saraiva-Cotegipe«: Befreiung der über 65 Jahre alten Sklaven (28. September) (Lei n8 3.270) 1886 Verbot der Auspeitschung von Sklaven (16. Oktober) 1887 Die Zunahme der Flucht von Sklaven in S¼o Paulo führt zur Zerrüttung der Arbeitsverhältnisse auf den Fazendas. Marschall Deodoro da Fonseca empfiehlt die Beendigung des Einsatzes des Heeres bei der Verfolgung entflohener Sklaven (25. Oktober). 1888 »Lei Ýurea«(=Goldenes Gesetz): Beendigung der Sklavenarbeit in Brasilien (»Sklavenbefreiung«) (13. Mai) Die »Guarda Negra«, eine Vereinigung befreiter Sklaven, wird in Rio de Janeiro gegründet (September) aus Dankbarkeit gegenüber Prinzessin Isabel. 1890 Ein Dekret über die Einwanderung bestimmt, daß Asiaten und Afrikaner nur mit Erlaubnis des Kongresses in den Häfen der Republik an Land gehen

Wichtige Ereignisse in der Geschichte der Afro-Brasilianer

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dürfen (28. Juni) Der Landwirtschaftsminister Rui Barbosa befiehlt die Verbrennung aller die Sklaverei betreffenden Dokumente (14. Dezember). Krieg gegen die »Canudos« (BA) (vgl. E. da Cunha »Os Sertþes«, 1902) In Jundia† (SP) wird ein »Clube 28 de Setembro« gegründet, die älteste afrobras. Gesellschaft im Bundesstaat S¼o Paulo. Nina Rodrigues publiziert »Os africanos no Brasil«. Beginn der systematischen und akademischen Afrobrasilianistik Die »Revolta da Chibata«: Matrosen der Kriegsmarine in Rio de Janeiro, angeführt durch Jo¼o C–ndido (»Almirante negro«), fordern die Beendigung der Körperstrafen (22. November). Vorbild war die Revolte auf dem russ. Panzerkreuzer Potemkin (1905). Jo¼o Batista de Lacerda, Direktor des Museu Nacional, vertritt in London auf dem »Primeiro Congresso Universal das RaÅas« die These von der »branquizażo« Brasiliens Die rel. Organisation »Igreja Catûlica Militante e Triumfante« wird in S¼o Paulo von dem Afrobrasilianer Bibiano (gest. 1914) gegründet. Ýlvaro Bomilcar publiziert »O preconceito de raÅa no Brasil«. Eine rel. Gemeinschaft des orix‚-Kultes, »Ax¦ Opú Afonj‚« wird in Salvador gegründet, einer der vier traditionsreichsten »terreiros« Bahias (1999 als »Patrimúnio Histúrico Nacional« anerkannt). Die Regierung verbietet die Teilnahme von Afrobrasilianern in der NationalMannschaft. Vasco und Cor†ntians beginnen mit einer Demokratisierung des Fussballs. Die »Frente Negra« wird in S¼o Paulo gegründet mit vielen Filialen im ganzen Land. Gründung des »Centro C†vico Palmares« in S¼o Paulo. Monteiro Lobato (1882 – 1948) schreibt den Roman »O choque das raÅas ou O presidente negro. Romance americano do anno 2.228« (S¼o Paulo) (den er für das Jahr 2228 voraussagt!) Die Escola de Samba »Estażo Primeira de Mangueira« (Morro de Mangueira, Tel¦grafo). Berühmtester Sänger ist Jamel¼o (*1913). Gründung der »Frente Negra Brasileira« (= »Brasilianische SchwarzenFront«) in S¼o Paulo, einer landesweiten politischen Bewegung, die 1936 zur politischen Partei wird. Die »Legi¼o Negra do Brasil«, eine dissidente Organisation der Frente Negra Brasileira, wird von Joaquim Guaran‚ de Santana gegründet, einem Teilnehmer der »Revolużo Constitucionalista de S¼o Paulo« (Batalh¼o Henrique Dias). In S¼o Paulo erscheint »A Voz da RaÅa« (= Die Stimme der Rasse), als offizielles Organ der »Frente Negra Brasileira«. Sie stellt 1937 ihr Erscheinen ein. findet in Recife der »I. Congresso Afro-Brasileiro« (1934) statt. Unter der Beteiligung renommierter Fachleuten z. B. Artur Ramos, Ulisses Pernambuco, Cunha-Lopes, Melville J. Herskovits, Edison Carneiro, Renato MendonÅa, Rodolfo Garcia, Mario de Andrade, Roquette-Pinto, werden wichtige Aspekte der Geschichte, Kultur, Gesundheit, Sprache etc. der

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Afrobrasilianer diskutiert. Arthur Ramos publiziert »O negro brasileiro«, ein innovatives Werk der Afrobrasilianistik. In Rio de Janeiro wird eine brasilianische Bewegung gegen das Rassenvorurteil gegründet (Movimento Brasileiro contra o Preconceito racial). Die »Frente Negra Brasileira« wird nach dem Staatsstreich Getffllio Vargas’ in S¼o Paulo verboten, ebenso ihr Organ »A Voz da RaÅa«. Der »II. Congresso afro-brasileiro« findet in Salvador (BA) statt. Der Folklorist Edson Carneiro publiziert »Candombl¦s da Bahia«. In S¼o Paulo wird die »Uni¼o Nacional dos Homens de Cúr« (= Nationale Vereinigung der »farbigen« Menschen) gegründet In Santos wird eine »Associażo dos Brasileiros de Cúr« gegründet. Der »Movimento Negro« führt in Rio de Janeiro den »Congresso Brasileiro do Negro« durch. Graciliano Ramos übersetzt die Autobiografie »Up from slavery« des AfroUS-Amerikaners Booker T. Washington: »Memorias de um negro«. Die »Sociedade Brasileira de Antropologia e Etnologia« wird gegründet und spricht sich gegen jede (rassische, nationale) Diskriminierung aus. Von Stefan Zweig (1881 – 1942), der in Brasilien im Exil lebt, erscheint »Brasilien, ein Land der Zukunft«. Das »Orquestra afro-brasileira« wird in Rio de Janeiro gegr. Im Jahre 1964 wurde das 100. Konzert gegeben Aires da Matta Machado veröffentlicht die Studie »O negro no garimpo em Minas Gerais« Abdias do Nascimento gründet in Rio de Janeiro das »Teatro Experimental do Negro« (TEN= Experimentelles Theater des »Negro«) Einige Führer der »Frente Negra« gründen die »Associażo dos Negros Brasileiros« mit dem Organ »A Alvorada« In Rio de Janeiro organisiert sich ein »ComitÞ Democr‚tico Afro-Brasileiro«, das gegen rassische Vorurteile auftritt und eine verfassungsgebende Versammlung fordert. Ein Dekret Getffllio Vargas (1883 – 1954) über die Einwanderung besagt, dass diese der Notwendigkeit des Schutzes und der Entwicklung der Charakteristika der europäischen Abstammung in der ethnischen Zusammensetzung des Landes gehorchen muß (18. September). Erste nationale Versammlung der »Convenżo do Negro Brasileiro« mit Delegationen aus verschiedenen Bundesstaaten (10. bis 12. November). Es entstehen die »Frente Negra Trabalhista« (=Schwarze Arbeiterbewegung) und die »Cruzada Social do Negro Brasileiro« (=Sozialer Kreuzzug des brasilianischen »Negro«). »Filhos de Gandhi«, ein afox¦ in Salvador (BA) wird gegründet. Abdias do Nascimento gründet die Zeitschrift »Quilombo« (Dezember). In Rio de Janeiro findet die »ConferÞncia Nacional do Negro« statt. Es entsteht die »Uni¼o Nacional dos Homens de Cúr« in Rio de Janeiro. »Brasiliana«, eine Tanzgruppe, wird in Rio de Janeiro gegründet (Haraldo Costa). In Rio de Janeiro versammelt sich der »Conselho Nacional de Mulheres Ne-

Wichtige Ereignisse in der Geschichte der Afro-Brasilianer

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gras« (=Nationalrat der schwarzen Frauen) (18. Mai). Der »I. Congresso do Negro Brasileiro« findet im September in Rio de Janeiro statt. Diskutiert wird die »Rassenfrage« in Brasilien, außerdem wird Kritik an den früheren afro-bras. Kongressen in Recife und Salvador (1934, 1937) geübt. In Rio de Janeiro entsteht in Zusammenhang mit TEN eine »Associażo de Empregadas Dom¦sticas«. Die UNESCO läßt die »Rassenbeziehungen« in Brasilien durch bras., frz. und us-amer. Sozialwissenschaftler untersuchen. Das »Lei Afonso Arinos« wird erlassen (Lei n81.390). Es stellt rassische und religiöse Diskriminierung unter Strafe (3. Juli). (Spätere Veränderungen: Lei n8 7.437, 20. Dez. 1985 und Lei Caû) Die »Associażo Cultural do Negro« wird in S¼o Paulo gegründet. In Rio de Janeiro findet der »Primeiro Congresso Nacional do Samba« statt. Der 28. Juli wird ab 1964 als »dia do samba« gefeiert. In Dakar findet ein »Festival Mondial des Arts N¦gres« statt (April) mit bras. Beteiligung. Das »Lei de Gratid¼o — Mae Preta« (= Gesetz der Dankbarkeit für die schwarze Mutter) wird erlassen (28. September). Die »Convenżo relativa — Luta contra a Discriminażo no Campo do Ensino« wird von Brasilien ratifiziert (Decreto n8 63.223, 6 de setembro). CEABRO (MN) wird in Porto Alegre von Studenten gegründet und während der Militärdiktatur 1970 aufgelöst und ihre Anführer eingekerkert. Während der Militärdiktatur verbietet die Regierung des Generals M¦dici Nachrichten über »Indianer«, Todesschwadrone, Guerrilha, Schwarzen-bewegung und Rassendiskriminierung (10. November). Ein Seminar der UNO über Rassismus verurteilt in Bras†lia die Apartheid in Südafrika. Die »Convenżo Internacional sobre a Eliminażo de todas Formas de Discriminażo racial« wird von Brasilien ratifiziert (Decreto n865.810, 8 de dezembro). Die Schauspielerin Tereza Santos gründet in Campinas (SP) »Grupo Evolużo«. In Porto Alegre (RS) wird eine »Grupo Palmares« gegründet. Sie schlägt den 20. November als Gedenktag (Todestag Zumbis) vor. In Bahia wird die Karnevals-Gruppierung »Bloco Afro Ile-AiÞ« gegründet, die erste ihrer Art in Brasilien. Am 20. Februar stirbt der Dichter Solano Trindade (*1908) im Alter von 66 Jahren. Der »Movimento Negro« (= Schwarzen-Bewegung) bildet sich erneut, beeinflußt durch die afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen. Es entstehen verschiedene Gruppierungen: IPCN-RJ (= Instituto de Pesquisa da Cultura Negra), Federażo das Entidades Afro-Brasileiras de S¼o Paulo (S. P.), IBEASP (= Instituto Brasileiro de Estudos Africanistas), CECAN-SP (= Centro da Cultura e da Arte Negra).

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Die MNU etabliert den 4.11. (Todestag Zumbis) als »dia nacional da consciÞncia negra«. Die Regierung von Bahia hebt die polizeiliche Registrierung von afrobrasilianischen Heiligtümern und Kultzentren auf. Es ist der einzige Bundesstaat Brasiliens, der diese Registrierung nicht fordert (15. Januar). In S¼o Paulo stirbt in Armut die Schriftstellerin Carolina Maria de Jesus im Alter von 61 Jahren. Sie war besonders durch ihr Tagebuch »Quarto de despejo« (dt. Tagebuch der Armut, 1968) weltbekannt geworden. In Nigeria findet der »2. World Black and African Festival of Arts and Culture« mit bras. Teilnahme statt. Die »Associażo Casa de Arte e Cultura Afro-Brasileira« (ACACAB-SP) wird im November in S¼o Paulo gegründet. Der »Movimento Negro Unificado« (MNU) beginnt sich zu organisieren. Am 7. Juni findet in S¼o Paulo eine öffenliche Veranstaltung gegen Diskriminierung und Vorurteile mit über 3000 Teilnehmern statt. Die Generalversammlung der MNU deklariert den 20. November als »Dia Nacional da ConsciÞncia Negra« (= Nationalgedenktag des schwarzen Bewußtseins) (4. November). Eine literarische Bewegung »Quilomhoje« wird in S¼o Paulo gegründet. Sie ist für die Publikation der »Cadernos Negros« verantwortlich (2005: vol. 28) Mehr als 100 Soziologen, Forscher und Angehörige der Schwarzen-Verbände demonstrieren vor dem IBGE und fordern die Einführung des Items »Hautfarbe« in der Volkszählung des Jahres 1980. In 25 % der ausgezählten Haushalte wird diese Information darauf gesammelt. Gründung des »Movimento Negro Unificado« (MNU = Einheitliche »Schwarzenbewegung«). In der Gemeinde »Pelourinho« (Salvador, BA) wird eine kulturell engagierte Gruppe »Olodum« gegründet. Es organisiert sich im Juni die »Frente Negra de Ażo Pol†tica de Oposiżo« (FRENAPO), eine politische Aktionsgruppe der Opposition. Am 26. August findet das »I Encontro Nacional do Parque Histûrico do Zumbi« statt, mit dem Ziel den »Parque Nacional do Zumbi« zu gründen. In Belo Horizonte findet am 20. April das »II Encontro Nacional do MNU« statt. Erstes Nationales Treffen und Gründung der »Grupo de Uni¼o e ConsciÞncia Negra« am 7. September. Vom 16.–20.11 findet das I. Nationale Symposium über den »Quilombo dos Palmares« an der Bundesuniversität von Alagoas statt; Niederlegung eines Gedächtnisgrundsteines auf der Spitze der Serra da Barriga in Alagoas. Errichtung des »Conselho Geral do Memorial Zumbi« (= Generalversammlung des Denkmals Zumbi), Die Kultstätte »Casa Branca« oder »Ile Iam Nasso-Oka«, die erste Kultstätte Brasiliens, wird von der Präfektur in Salvador unter Denkmalschutz gestellt (4. August). In S¼o Paulo findet der »III. Congresso de Cultura Negra das Am¦ricas« statt. Am 4. September wird der »II. Encontro do Grupo de Uni¼o e ConsciÞncia

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Negra« durchgeführt. Ein feministisch orientierter »Bloco afro« »Agbara Dudu« wird in Rio de Janeiro gegründet. Im Oktober entsteht in S¼o Paulo der »Coletivo de Mulheres Negras«. Elisa Larkin und Abdias Nascimento (Ipeafro, SP) gründen die Zeitschrift »Afrodi‚spora«. Der Gouverneur von S¼o Paulo, eingehend auf die Forderungen des »Movimento Negro«, ernennt zwei afrobrasilianische Repräsentantinnen für den »Conselho Estadual da Condiżo Feminina« (8. März). Die Regierung von S¼o Paulo beschließt die Schaffung eines »Conselho de Participażo e Desenvolvimento da Comunidade Negra do Estado«, bestehend aus Repräsentanten der afrobrasilianischen Gemeinden und des »Movimento Negro« (Juli). Im August findet in S¼o Paulo der »Encontro Estadual de Mulheres Negras« statt. Am 7. September findet der »III. Encontro do Grupo de Uni¼o e ConsciÞncia Negra« statt. Am 20.11. wird die Serra da Barriga offiziell unter Denkmalschutz (Tombamento) gestellt. In Rio de Janeiro findet der »III. Encontro dos Religiosos, Seminaristas e Padres Negros do Rio de Janeiro« statt (trotz des Verbots des konservativen Kardinals Dom EugÞnio Sales). Gründung des »Memorial Zumbi« in der Serra da Barriga in Alagoas (20. November). Einweihung des »Monumento — Zumbi dos Palmares« in der Nähe der PraÅa XI (Avenida Presidente Vargas) in Rio de Janeiro (offiziell am 9.11 und symbolisch am 20.11). »Nzinga, coletivo de mulheres negras« wird in Belo Horizonte gegründet. Das »I. Encontro dos Negros do Sul e Sudeste« findet vom 10. bis zum 12. Oktober in Rio de Janeiro statt. In Rio de Janeiro findet das »I. Encontro Estadual das Mulheres Negras do Rio de Janeiro« statt. Besuch des anglikanischen Bischofs Desmond Tutu in Brasilien. Die »Agentes de Pastoral Negros« wird in Rio de Janeiro gegründet und kritisiert den Rassismus in einigen Bereichen der kath. Kirche. Es bildet sich eine »Comiss¼o de Padres, Seminaristas e Religiosos do Estado do Rio de Janeiro«, die ua. die Theologie der Befreiung (Boff) verbreitet Gründung des »Programa SOS Racismo do IPCN(RJ) , Direitos Huma nos e Civis« (10. Dezember). Die Katholische Kirche Brasiliens beginnt die »Campanha da Fraternidade« unter dem Motto »Ouvi o clamor deste povo« (= ich hörte die Wehklagen dieses Volkes). Sie war eine Initiative der Mitglieder der »Pastoral dos Negros« (17. Februar). Vom 16. bis 24. Januar findet die »I. ConferÞncia da Tradiżo dos Orix‚s« statt. In Salvador (BA) wird die UNEGRO (= Uni¼o dos Negros pela Igualidade)

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gegründet, eine dissidente Bewegung des MNU. Das »Tribunal Winnie Mandela« (OAB-SP, CECF-SP, CNDM) behandelt das Thema: »O que representou a Lei Ýurea para os descendentes de africanos no Brasil?« (= Was bedeutet das Lei Ýurea für die Nachkommen der Afrikaner in Brasilien?) (7. Mai). Protestmarsch des »Movimento Negro« (RJ) gegen die »Farsa da Aboliżo« (= Farce der Sklavenbefreiung) unter dem Motto : »1888 – 1988 Nada Mudou, Vamos Mudar« (=1888 – 1988 »Nichts hat sich geändert, Laßt es uns ändern!«). Symbolische Verbrennung der offiziellen Historiographie über die Afrobrasilianer. In verschiedenen Städten des Bundesstaates von Rio de Janeiro finden über 150 Veranstaltungen statt. Sie werden von Mitgliedern der »Pastoral dos Negros do Rio de Janeiro« organisiert. (13. Mai). Die beiden Universitäten UFRJ und UFF organisieren vom 13. bis 17. Juni in Niterûi einen »Congresso Internacional: Escravid¼o e Aboliżo«. Inszenierung der »Missa dos Quilombos« in Rio de Janeiro, veranstaltet von der Präfektur von Rio de Janeiro (12. Mai). Die »UNEGRO«, eine dissidente Abspaltung der MNU, wird in Salvador (BA) gegründet. Die Tanzgruppe, das »Bal¦ Folclûrico da Bahia«, wird in Salvador (BA) gegründet. In Salvador (BA) wird das Institut »INTECAP« (Instituto Nacional da Tradiżo e Cultura Afro-Brasileiras) gegründet Die feministische Institution »Gueled¦s, Instituto da Mulher Negra« (MN) wird in S¼o Paulo gegründet. »Lei Caû« (Lei Federal n8 7.716) (Januar), das rassistische Handlungen bestraft Landesweite Kampagne »Tötet meine Kinder nicht«, durchgeführt von der afrobrasilianischen Senatorin Benedita da Silva (Ben¦) (*1942) und zahlreichen afrobrasilianischen politischen Gruppen. »Encontro Pastoral Afro-Americano«, jährl. Versammlung von Repräsentanten der kath. Kirchen Lateinamerikas. (Im Jahre 2000 findet sie zum 8. Mal in Salvador (BA) statt). In S¼o Paulo wird CENARAB (= Centro Nacional da Articulażo e ResistÞncia Afro-Brasileira, Movimento Negro) gegründet. Das »I. Encontro Nacional de Entidades Negras« (ENEN) findet in S¼o Paulo statt. In Salvador (BA) wird »EDUCAFRO« gegründet. Ein Bildungsprogramm für Afrodescendentes (z. B. Prävestibular-Kurse, Stipendien an der PUC etc.) Die sozio-kulturelle Gruppierung »Afro-Reggae« wird in Rio de Janeiro gegründet. MPR = »Movimento pelas ReparaÅþes dos Afro-Descendentes«. (1995 zum Gesetz vorgeschlagen) PERCPAN wird in Salvador (BA) gegründet als Gesellschaft für Perkussionsmusiker (Nan‚ Vasconcelos, Gilberto Gil).

Wichtige Ereignisse in der Geschichte der Afro-Brasilianer

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Eine Theaterschule »Nûs No Morro« wird in den 90er Jahren in Vidigal (RJ) gegründet. In ganz Brasilien finden während des ganzen Jahres zahlreiche Kundgebungen, Kongresse, Feste, etc. zum Gedenken des 300-jährigen Todestages Zumbis statt (am 20. November). INSPIR (Instituto Sindical Interamericano pela Igualidade Racial) wird in Rio Grande do Sul gegr. Die Sozialwissenschaftlerin Ch. dos Santos-Stubbe publiziert ihre Doktorarbeit über »empregadas dom¦sticas«, die erste Arbeit über dieses Thema in Europa. Die Zeitschrift »RaÅa Brasil« (S¼o Paulo) wird publiziert. Sie erscheint monatl. Besuch des afro-US-amerikanischen Reverends und Politikers Jesse Jackson in Brasilien (Januar). In Florianûpolis (SC) existiert ein »Nfflcleo de Estudos Negros« mit eigenem Publikationsorgan. Der »III. Congresso afro-brasileiro« findet in Salvador (BA) statt. »Lei Paim« (Lei Federal n8 9.459) (13. Mai). Bestraft wird Diskriminierung aus ethnischen, religiösen und nationalistischen Motiven. Von dem Juristen Alaúr Scis†nio erscheint ein »Dicion‚rio da escravid¼o«. Die Sozialwissenschaftlerin und Psychologin Ch. dos Santos-Stubbe legt eine erste Einführung in die Afrobrasilianistik im dt.sprachigen Raum vor (2. Aufl. 2001). »Estatuto da Igualdade racial« (Projeto de Lei n8 3.198): Quoten für Afrobrasilianer an öffentlichen Universitäten und in anderen Bereichen der Gesellschaft. Diskussionen über die Reparationen für das begangene Unrecht der Sklaverei intensivieren sich. Nei Lopes publiziert einen »Dicion‚rio escolar afro-brasileiro«. Abdias do Nascimento (*1914), der bekannte Politiker, Künstler und Gründer des »Teatro Experimental do Negro« (TEN) stirbt in hohem Alter.

Quellen: Biblioteca Nacional, 1982; Ribeiro, 1985; Stubbe, 1987, 2001; Reis, 1987; IBASE, 1989; Moura, 1989; Santos-Stubbe, 1994, 1995, 2001; Scis†nio, 1997; Lody, 2004; Lopes, 2004, 2006