Kleine Formen für den Unterricht: Historische Kontexte, Analysen, Perspektiven [1 ed.] 9783737009621, 9783847109624

138 57 11MB

German Pages [249] Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Kleine Formen für den Unterricht: Historische Kontexte, Analysen, Perspektiven [1 ed.]
 9783737009621, 9783847109624

Citation preview

Themenorientierte Literaturdidaktik

Band 2

Herausgegeben von Sieglinde Grimm und Berbeli Wanning

Julia Heideklang / Urte Stobbe (Hg.)

Kleine Formen für den Unterricht Historische Kontexte, Analysen, Perspektiven

Mit 14 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.d-nb.de abrufbar. Der Sammelband ist aus einem Workshop des DFG-Graduiertenkollegs 2190 »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen« an der Humboldt-UniversitÐt zu Berlin hervorgegangen. Gefçrdert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 276772850/GRK 2190.  2020, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: iStock.com/Kritchanut Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-3537 ISBN 978-3-7370-0962-1

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Julia Heideklang / Sandra Dobritz / Urte Stobbe Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen – Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I. Kontexte Juliana Wekel Grammatik an der Versgrenze: Priscians Partitiones im spätantiken Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Sandra V. S. Dobritz Wie konstruiert man kleine Formen? – Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Aline Willems Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Stefan Born / Britta Eiben-Zach Erträge reduzierter Situierung. Überlegungen zur Adressaten- und Situationsorientierung in Abituraufsätzen der 1960er/1970er Jahre . . . . 101

II. Analysen Maike Nikolai-Fröhlich ›Freche‹ Jungs und ›hübsche‹ Mädchen? Genderorientierte Analysen kleiner Formen im Kontext nicht-publizierter Lernmaterialien . . . . . . 123

6

Inhalt

Maja Linke Katzenjammer und Superbürger*innen – Comics im fremdsprachlichen Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

III. Perspektiven Ann-Kristin Müller Von digitalen Bildern und Gedanken: Kleine digitale Formen im Deutschunterricht der Primarstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Katrin Lehnen Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht. Am Beispiel des materialgestützten Schreibens . . . . 173 Julia Heideklang Conrad Gesners Historia animalium: Großes Werk und kleine Formen im fächerübergreifenden Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Berbeli Wanning / Urte Stobbe Zwischen Abstraktion und Anschaulichkeit. Pflanzengedichte (Guggenmos, Huchel, Wagner) als kleine literarische Formen im Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Biobibliografische Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Vorwort

Die große Stärke kleiner Formen steht im Mittelpunkt dieses Bandes der Reihe Themenorientierte Literaturdidaktik (TOLD). Deren Ziel ist es, aktuelle Themen und Tendenzen der Literaturdidaktik fachwissenschaftlich fundiert vorzustellen und dabei die Vermittlung kultureller Bildung so zu positionieren, dass sie die sich verändernden gesellschaftlichen Anforderungen an Bildung und Erziehung mitgestalten kann. Wir als Reihenherausgeberinnen freuen uns, dass mit Julia Heideklang und Urte Stobbe zwei engagierte Wissenschaftlerinnen den Schritt wagen, das weitgreifende Potenzial kleiner Formen in einem multidisziplinären Zusammenspiel unterschiedlicher fachlicher und didaktischer Sichtweisen zu erkunden. Ansatzpunkt ist die Überlegung, dass nicht allein die Quantität der Formen, Inhalte und Stoffe die Grundlage der Wissensvermittlung bildet, sondern auch der Umgang mit den Prinzipien ihrer Auswahl für Unterrichtszwecke. Durch diese Fokussierung auf das Verbindende kleiner Formen bei durchaus heterogenen Fachperspektiven kommt etwas Neues zum Vorschein, das sprachliches und literarisches Lernen verändern kann. Was zunächst so einfach klingt, offenbart seine Komplexität erst beim zweiten Hinschauen. Tatsächlich haben diese innovativen, überfachlichen Gesichtspunkte positive Konsequenzen für die Art der Unterrichtsgestaltung, für verschiedene Aufgabenformate oder für Fragen der Kanonisierung von Wissen und (literarischen) Inhalten. Von einem historischen Blickwinkel ausgehend, verknüpft der vorliegende Band weit gespannte Beiträge zur lateinischen Grammatik, zu Abituraufsätzen und wissenschaftlichen Miniaturen, zu Comics und Pflanzengedichten mit einem Unterricht der Zukunft, in dem digitale kleine Formen natürlich nicht fehlen dürfen. Differenzierung und Verbindlichkeit, die dialektischen Grundmomente des fachdidaktischen Zugriffs auf Inhalte und Formen des Wissens, werden so ideal repräsentiert. Wer sich mit Vermittlungsmethodologie oder aktueller Lehr- und Lernpraxis beschäftigt, wird in diesem Band ebenso fündig wie alle, die sich unter dem Signum der kleinen Form

8

Vorwort

dafür begeistern können, bisher häufig marginalisierte Inhalte zu entdecken und in einem spannenden Unterricht in den Mittelpunkt zu rücken. Wir wünschen dem Band ein aktives Lesepublikum und einen großen Wirkungskreis. Allen Leserinnen und Lesern können wir vorab versprechen, dass sie Überraschendes aufstöbern werden, wenn sie sich auf die hier präsentierten kleinen Formen einlassen. Im Juli 2019 Sieglinde Grimm Köln

Berbeli Wanning Siegen

Julia Heideklang / Sandra Dobritz / Urte Stobbe

Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen – Einleitung

Der moderne Schulunterricht sieht sich vor zahlreiche Herausforderungen gestellt. Zu zeitlichen und räumlichen Limitationen tritt eine Fülle an Aufgaben, die der Unterricht leisten soll. Über die Fächergrenzen hinaus gilt es zudem, überfachliche, gesamtschulische Aufgaben, wie z. B. Umweltbildung und Gesundheitserziehung, zu leisten. Hinzu treten Entwicklungen und neue Anforderungen im Zuge der Digitalisierung sowie eines zunehmend globalen Lernens. Aus den spezifischen Herausforderungen des Schulunterrichts ergibt sich daher bereits eine inhärente Notwendigkeit zur Kürze. In ihrem Spiegel-Artikel Entrümpelt die Lehrpläne! (2018, S. 48) machen sich Nida-Rümelin / Prenzel / Zierer stark für eine Reduktion der Stoffülle zugunsten einer Ausrichtung von Unterricht an den »Schlüsselproblemen unserer Zeit« (ebd.). Denn [a]ktuelle Lehrpläne bereiten nicht auf das vor, was wir heute schon wissen – und auch nicht auf das, was wir heute nicht wissen können. Sie bereiten auf das vor, was gestern wichtig war. Die nachwachsende Generation braucht nicht nur Fachwissen, sondern auch Denkweisen; nicht nur die Tiefe in einem Fach, sondern auch die Verknüpfung der Fächer […]. (ebd.)

Kleine Formen1, die sich in großer Bandbreite im Schulunterricht finden lassen, wirken als Schaltstellen für die von Nida-Rümelin / Prenzel / Zierer geforderte 1 Wir haben uns in diesem Band für die durchgehende unmarkierte Kleinschreibung entschieden, wie sie sich auch in den jüngeren Arbeiten auf dem Feld etabliert hat und die bisherigen Beobachtungen zu dieser heterogenen Gruppe von Formen widerspiegelt. Innerhalb der Forschung wurden kleine Formen in den letzten Jahren in verschiedenen Publikationen vermehrt diskutiert. Exemplarisch zu nennen sind hier etwa die Monographie Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart von Dirk Göttsche (2006) sowie der Sammelband Kleine Prosa, Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne (Althaus / Bunzel / Göttsche 2007). Autsch / Öhlschläger fragen mit ihrem Sammelband Kulturen des Kleinen (2014) nach der Funktion und Bedeutung kleiner Dinge, Materialien und Schreibweisen für das Selbstverständnis moderner und postmoderner Kulturen. Gamper / Mayer untersuchen in ihrem Sammelband Kurz & Knapp (2017) kleine Formen vor ihrem mediengeschichtlichen Hintergrund.

10

Julia Heideklang / Sandra Dobritz / Urte Stobbe

Entschleunigung und als hochwertige Konnektoren für ein inter- und transdisziplinäres Denken. Pragmatische Kleinformen wie Skizzen, Notizen, Protokolle, Modelle, Lernkarten, Summaries, Lektionstexte und Aufgabenstellungen können in ihrer Bedeutung für den schulischen Unterricht kaum überschätzt werden. Nichtsdestoweniger stellt die Untersuchung der spezifischen Gebrauchskontexte im Lehr-Lernalltag innerhalb der Erforschung kleiner Formen bislang ein Desiderat dar. Dabei wurde bereits konstatiert, dass »Formen, die sich durch Kürze und Knappheit auszeichnen, in besonderer Weise dazu geeignet sind, das Zusammenspiel von Wissen und Erzählen zu regulieren und gestalten« (Gamper / Mayer 2017, S. 12). Hiervon ausgehend ist es naheliegend, eine grundlegende Affinität zwischen Unterricht und kleinen Formen anzunehmen. Sowohl die für den Unterricht ausgewählten und erstellten Lernmaterialien als auch die Unterrichtskonzeption unterliegen verschiedenen (zeit-, raum- und monetären) ökonomischen Zwängen, stellen bestimmte Ansprüche an das produzierte Material in Form und Inhalt und intendieren eine spezifische Rezeption. Dabei geraten einerseits die scheinbar unauffälligen didaktischen Methoden zur Auswahl und Aufbereitung geeigneter Lernmaterialien in den Blick. Andererseits ist zu fragen, ob der Unterricht nicht zahlreiche kleine Formen selbst hervorbringt. Kleine Formen profitieren und migrieren von außerschulischen literarischen, gesellschaftlichen Praktiken und Schauplätzen in den Kosmos Schule. Zugleich wirken die kleinen Formen des Unterrichts über die Ausbildung und Bildung der folgenden Generationen wieder zurück auf die gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Kommunikation und Praxis, und ermöglichen so etwa die Teilhabe an der Wissensgesellschaft. Daher kann die Betrachtung kleiner Formen im Kontext schulischen Unterrichts über Erkenntnisse für den zukünftigen Unterricht hinaus auch Impulse für ihre Erforschung in außerschulischen Kontexten bieten, wenn die vielfältigen Wechselwirkungen und Transformationen zwischen schulischen und außerschulischen Kontexten berücksichtigt werden. Schulunterricht ist in hohem Maße durch seine zeitlichen und räumlichen Bedingungen gekennzeichnet. Diese erzwingen eine kriteriengeleitete Selektion von Inhalten und Unterrichtsmaterialien, ohne die Qualität der Wissensvermittlung zu beeinträchtigen. Unterricht ist durch den Ort Schule und seine spezifische Raumökonomie, etwa die Größe und Ausstattung der Klassenzimmer, die Lage und Aufteilung des Schulgebäudes und -geländes, bestimmt. Zuweilen wird dieses Zusammenspiel durch Besuche außerschulischer Lernorte erweitert, die andere Räumlichkeiten und Lernmöglichkeiten bieten als der Schulraum, so z. B. die Möglichkeit eines umfassenden Experiments mit DNA in Dem Spannungsverhältnis zwischen Verknappung und Knappheit spürt der Sammelband Phänomene der Verknappung (2018) von Borvitz / Temelli nach.

Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen – Einleitung

11

einem ausgestatteten Labor, die Erkundung von Zusammenhängen in Naturräumen oder die Arbeit mit umfassenden thematischen Sammlungen und Ausstellungen in Museen und Galerien. Darüber hinaus muss im Unterricht aber auch mit zeitökonomischen Limitationen ein Umgang gefunden werden. Das Spannungsverhältnis zwischen fachwissenschaftlichen Anforderungen und fachlichen sowie überfachlichen Zielen für die schulische Bildung der Schülerinnen und Schüler findet sich in allen Schulfächern wieder. Exemplarisch sei hier etwa auf den Berliner Rahmenlehrplan für das Fach Biologie verwiesen: [D]ie Breite der Fachwissenschaft Biologie, ihr hoher Wissensstand sowie ihre gegenwärtige Dynamik erfordern für den Biologieunterricht somit eine Auswahl der Inhalte, exemplarisches Vorgehen und ein andauerndes Bemühen um Aktualität. Die stoffliche Fülle des Faches Biologie wird zugunsten weniger und überschaubarer Inhalte, Strukturen und Methoden reduziert, ohne zu fachlich falschen Aussagen zu gelangen. (RLP Teil C Biologie 2015, S. 4)

Die Fülle des Fachwissens und die beständige Forschung auf dem Gebiet der Biologie machen verschiedene Verfahren der Verkleinerung für eine Anpassung an die Wissensvermittlung im Unterricht notwendig. Die Wissensbestände müssen sowohl auf der Höhe der Zeit und repräsentativ für das Feld der Biologie als auch mit Blick auf die didaktische Bearbeitung für den Unterricht ausgewählt werden (Selektion). Hierbei werden die Wissensbestände aus dem Kontext der Forschung in den der schulischen Wissenvermittlung überführt (Transposition). Die ausgewählten Inhalte und Textformen wandern entweder bereits als kleine Formen in das Lernmaterial und die Unterrichtskonzeption ein (Remediation, Hybridisierung) oder sie müssen über Verfahren der Reduktion und Verdichtung verkleinert und neu aufbereitet werden. Dem Schulunterricht selbst sind hierbei zwei grundlegende Tendenzen kleiner Formen in praxeologischen Ökologien zu eigen: das Episodenhafte und die Serialität. Beides ist allein schon in der Modularisierung der verschiedenen Rahmenlehrpläne dokumentiert2 und findet sich in den schulinternen Curricula noch differenzierter aufgegliedert. Unterricht fungiert ganz wesentlich vermittels der sinnhaften Aneinanderreihung einzelner Unterrichtseinheiten zu einer übergreifenden Unterrichtsreihe, die wiederum mehr oder weniger eng an vorhergehende und nachfolgende Unterrichtsreihen anschließt.3 Für diese epi2 Vgl. z. B. den RLP Biologie Teil C (2015, S. 25): »Die Themenfelder [des RLPs] sind didaktisch verbunden und ergeben eine sinnvolle und begründete Reihenfolge, die jedoch nicht starr ist und an Lerngruppen und schulartspezifische Bedingungen angepasst werden kann.«. 3 Eine scheinbare Ausnahme bildet der Projektunterricht, der zwar in der Regel nicht in größere Unterrichtsreihen eingegliedert ist, aber in sich nach den gleichen Prinzipien der Episodenhaftigkeit und Serialität organisiert ist. Projektunterricht bzw. Projektarbeit ist in den Rahmenlehrplänen vorgesehen (vgl. etwa den RLP Biologie Sek II 2006, S. 7), wodurch ein Heraustreten aus der unterrichtlichen Modularisierung möglich und gewünscht ist.

12

Julia Heideklang / Sandra Dobritz / Urte Stobbe

sodenhafte Akkumulation sind kleine Formen als »Versatzstücke für serielle Iterationen oder Variation« (Gamper / Mayer 2017, S. 18) geradezu prädestiniert. Zu denken ist beispielsweise an ein für die Unterrichtsreihe zentrales Zitat eines Schriftstellers oder einer historischen Persönlichkeit, das wiederholt als verbindendes Element, aber auch zur Problematisierung einzelner Aspekte eines Themenkomplexes herangezogen wird. Die Zergliederung des Unterrichts in episodenhafte Einheiten bedarf daher einer geschickten Feingliederung. Jede Unterrichtskonzeption benötigt eine grundlegende Flexibilität, die sie durch arbeitsökonomische Anpassungen für heterogene situative Anforderungen und zeitliche Vorgaben sowie für verschiedene Weiterführungen kompatibel und anschlussfähig macht. In der Praxis müssen nicht zuletzt die Stundentaktung und Stundenzahl der Fächer und ihre Verteilung über die Woche in die Planung der thematischen Einheiten berücksichtig werden. Der quantitative Umfang, der eine angemessene Bearbeitung seitens der Schülerinnen und Schüler gewähleistet, ist dabei nicht zuletzt von den Aufmerksamkeits- und LeseSchreib-Ökonomien der Schülerinnen und Schüler bedingt, die sich in einem kontinuierlichen Wandel über die Entwicklung und Ausbildung der Schülerinnen und Schüler befinden und daher immer wieder anderer Formen zur Wissensvermittlung bedürfen. Wissensbestände werden daher kumulativ über die Schuljahre vermittelt und müssen für die unterschiedlichen Jahrgänge und Lerngruppen verschieden stark reduziert werden. Entsprechend kommen verschiedene Textformen mit unterschiedlich starkem Grad an Verdichtung und Abstraktion als Textgrundlage wie auch als Ziele schriftlicher Produktion seitens der Schülerinnen und Schüler zum Einsatz. »Kurze Formen reduzieren und fragmentieren und aktivieren damit Dimensionen des Möglichen. Komplexität wird so durch den Einsatz der kurzen Formen wahlweise erhöht oder verringert, wobei die Bewegungen der Komplexitätsreduktion und -steigerung unvermittelt umschlagen können.« (Gamper / Mayer 2017, S. 12)

Veranschaulichen lässt sich dieser flexible Einsatz kleiner Formen an einem Beispiel aus dem Bereich Ethik/Philosophie. Als Unterrichtsgegenstand wird formuliert: »Im Mittelpunkt der Ethik steht das Verha¨ ltnis des Menschen zu sich selbst, zur Mitwelt und zur Umwelt und damit die Frage: ›Was ist ein gutes Leben und wie kann man es fu¨ hren?‹ « (Vgl. RLP Ethik Teil C 2015, S. 3). Ausgehend von dieser Frage wird im Berliner Ethikunterricht »Glück und das gelingende Leben« in der Sekundarstufe untersucht. In der Auseinandersetzung mit dem Thema werden drei verschiedene Perspektiven beleuchtet. Geht es in der individuellen Auseinandersetzung hauptsächlich um die Frage, wie man sich ein glückliches Leben vorstellt, werden in gesellschaftlicher und ideenschichtlicher Perspektive die Fragen danach aufgeworfen, welche Bedeutung das Thema für das Zusammenleben in der Geschellschaft hat bzw. in welchem kulturellen

Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen – Einleitung

13

Traditionszusammenhang das Thema steht (vgl. ebd., S. 19). In der konkreten Auseinandersetzung können kurze Texte wie Märchen oder Romanauszüge, die eine utopische oder dystopische Welt zeigen, als Textgrundlage dienen. In der Sekundarstufe 1 steht dabei die Kompetenz des Wahrnehmens und Deutens, aber auch des Urteilens, im Vordergrund. Auf der Grundlage von Sinnes- und Sinnerfahrungen sollen Sachverhalte unter ethischer Perspektive wahrgenommen, bezeichnet und eingeordnet werden, sodass die Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, »begru¨ ndet zu argumentieren, differenziert Positionen zu beurteilen und ein eigenes reflektiertes Urteil zu fa¨ llen« (vgl. ebd., S. 5f.). Der Ethikunterricht dient als Propädeutikum für den Philosophieunterricht in der gymnasialen Oberstufe. Auch wenn in vielen Lehrplänen der Bundesländer das Thema Glück nicht explizit Erwähnung findet, nimmt es doch einen Schwerpunkt im Themengebiet »4.1 Ethisch-praktischer Reflexionsbereich« oder »4.2 Geschichtlicher, gesellschaftlicher und anthropologischer Reflexionsbereich« ein (vgl. RLP Philosophie 2006, S. 14f.). Aufbauend auf den Kenntnissen der Sekundarstufe 1 wird der Begriff des Glückes erweitert und nun anhand von Primärquellen verschiedener Philosophen (z. B. Auszüge philosophischer Traktate) einer Analyse und Kritik unterzogen. Aufgrund der bereits vorhandenen Kenntnisse erfährt der Unterrichtsgegenstand eine Vertiefung und das bereits vorhandene Wissen eine Systematisierung. Dabei können aufgrund der weiterentwickelten Lese- und Schreibfähigkeit umfassendere, dichtere und komplexere Textformen und visuelle Darstellungsformen eingesetzt werden. Neben dem großen Potenzial kleiner Formen im Schulunterricht, wie es sich am Beispiel des Philsophie/Ethikunterrichts veranschaulichen lässt, wird die didaktische Reduktion von Unterrichtsgegenständen indes seit Langem zum Gegenstand fachdidaktischer Debatten. Die Frage nach der verwendeten Begrifflichkeit und dem angemessenen Umfang didaktischer Reduktion wird in den einzelnen Fachdidaktiken unterschiedlich beantwortet. Die Verkürzung von Sachgegenständen für den Unterricht befindet sich fortwährend in einem Spannungsverhältnis von Verkürzung bzw. Verkleinerung und Knappheit: Denn Verknappung bewegt sich auf der unbestimmbaren Schwelle eines Schon-zuwenig oder Noch-genügend, sie ist angesiedelt zwischen dem Ausreichenden und dem Mangel. Gemeinhin ist ihr eine Bedrohungslage implizit, weist sie doch auf einen wahrscheinlichen Endpunkt der Entwicklung hin: Knappheit. (Borvitz / Temelli 2018, S. 8)

Diese Balance zwischen ›klein‹ und ›zu klein‹ ist dem schulischen Unterricht und seinen kleinen Formen inhärent und dementsprechend groß ist die Gefahr der Verkürzung von Wissensbeständen und Sachverhalten, die zu Unverständlichkeit oder Verhärtung von Normvorstellungen führen kann. Daher scheint es umso zentraler, dass schulische kleine Formen nicht nur als Medium für Wis-

14

Julia Heideklang / Sandra Dobritz / Urte Stobbe

sensvermittlung begriffen werden, sondern ebenso, dass Schülerinnen und Schüler dazu befähigt werden, diese Verkürzungen und Auswahlprozesse bei kleinen Formen ›mitzulesen‹. Der Erwerb von ›Lesefähigkeit‹ einer spezifischen kleinen Form im Zusammenhang mit ihrer Anwendung findet sich beispielsweise beim Einsatz von Modellen im Biologieunterricht. Modelle werden »als vereinfachte Darstellungen komplexer Wirklichkeit« (Spörhase-Eichmann / Ruppert 2010, S. 167f.) definitiert, die sich zu einem Original verhalten. Dabei teilt das Modell bestimmte Eigenschaften des Originals, während es sich wiederum in anderen unterscheidet. Welche Eigenschaften für die modellhafte Repräsentation ausgewählt werden, entscheiden dabei »Annahmen (Theorien, Hypothesen), nach denen die originiale Wirklichkeit gedeutet wird« (Eschenhagen / Kattmann / Rodi 2008, S. 330). Modelle weisen neben solchen Verkürzungen auch ›unwesentliche Eigenschaften‹ auf, die als Beiwerk der Modellierung entstehen (vgl. ebd.). Beides muss von den Schülerinnen und Schülern für die Erkenntnisgewinnung kritisch reflektiert und dafür zunächst einmal ›mitgelesen‹ werden. In einem weiteren Schritt sollen Schülerinnen und Schüler auch selbst Modelle modifizieren und erstellen.4 Dazu ist nicht nur das Erkennen von Verkürzungen und Beiwerk als Resultate bestimmter Abstraktionsverfahren notwendig, auch die Verfahren der Verkleinerung wie Selektion, Reduktion, Remediation und Verdichtung sind als tool kit zur Modellerstellung heranzuziehen. Wie weit eine Reduktion gehen darf, ohne die erkenntnisbringende und wissensvermittelnde Funktionalität zu verlieren, ist stets neu und gesondert auzuloten. Ein prominentes Beispiel für eine ›zu kurze‹ Form des Sprachunterrichts ist der Einzelsatz im altsprachlichen Unterricht und die sich daran anschließende Debatte. In der Analyse von Lehrwerken aus den 1960er Jahren wird deutlich, dass Einzelsätze – oftmals eingesetzt zur Einführung neuer grammatischer Phänomene – »abgesehen von ihrem sprachlichen Schwerpunkt ohne inneren Zusammenhang« (Kipf 2006, S. 172) nebeneinander stehen. Während zu diesen Einzelsätzen aufwändig konstruierte Hilfen hinzutreten, die der Erschließung der grammatischen Phänomene dienen, bieten die Sätze kaum Hilfen zur inhaltlichen Erschließung und zeichnen sich vorrangig durch inhaltliche Banalität aus, sodass der bildende Eigenwert der Sprache in den Hintergrund gerät (vgl. Kipf 2006, S. 65 u. 172). Ab den 1970er Jahren erfolgte aufgrund dieser 4 »Modelle und Modellbildung kommen im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess besonders dann zur Anwendung, wenn komplexe Phänomene bearbeitet oder veranschaulicht werden müssen. Lernende verwenden ein Modell als eine idealisierte oder generalisierte Darstellung eines existierenden und gedachten Objektes, Systems oder Prozesses. Die Auswahl eines geeigneten Modells unter Beachtung der Fragestellung und das kritische Reflektieren des Modells sind bedeutsamer Teil der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung.« (RLP Biologie TEILC 2015, S. 7); vgl. dazu auch spezifischer S. 19.

Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen – Einleitung

15

fundamentalen Kritikpunkte schließlich die Abwendung von der Einzelsatzdidaktik hin zu neuen Zielen und Methoden sowie einem lektürezentrierten Unterricht (vgl. Kipf 2006, S.244–255, insb. 241f.).5 Die didaktische Aufbereitung von Lernmaterialien und Aufgabenstellungen mündet häufig in eine Akkumulation verschiedener heterogener Textformen, die gesammelt, verkürzt, verdichtet und schließlich in einer gemeinsamen Textumgebung sowie einem neuen Kontext angeordnet werden. Drei solcher unterrichtlichen Zusammenstellungen unterschiedlicher kleiner Formen, die auch im vorliegenden Tagungsband in den Blick genommen werden, sind materialgestützte Aufgaben, Lehrbücher und ›nicht-publizierte‹6 Lernmaterialien. Materialgestützte Aufgaben finden sich im sprachlichen, gesellschaftswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Unterricht, um die Schülerinnen und Schüler zu einer möglichst selbstständigen Bearbeitung zu befähigen. Dabei sind die ausgewählten, klein(er) gemachten oder selbstverfassten kleinen Formen durch ein Netzwerk paratextueller Elemente (Überschriften, Aufgabenstellungen, Einleitungssätze, Hinweise etc.) gerahmt. Hier stehen die kleinen Formen als Fragmentierungen unter dem Zeichen zerstörter Ganzheit den großen Formen und dem ihnen »mindestens implizit innewohnende[n] Anspruch, Realität in ihrer Totalität einzufangen bzw. geschlossene Gegenkonzepte zu dieser zu entwerfen« (Althaus / Bunzel / Göttsche 2007, S. XX), entgegen. Vielmehr ist es das »unverbundene Nebeneinander der [heterogenen] Einzeltexte« (ebd., S. XII), das die einzelnen Formen miteinander in Dialog treten lässt und damit die Rezipientinnen und Rezipienten zu permanenten Perspektivwechseln herausfordert (vgl. ebd.). Diese Offenheit ermöglicht verschiedene Fortschreibungen und Revisionen, die unterschiedliche Erzählungen zulassen, da das Kleine »ungeachtet formaler Eigenschaften wie Reduktion, Konzentration und Verdichtung Verfahren der Entfaltung und Ausdehnung in Gang setzt« (Autsch / Öhlschläger 2014, S. 11). So zeigt sich, dass die Kulturtechnik des Erzählens in diesem Zusammenhang nicht nur für die Thematik der Wissensverdichtung in kleinen Formen besonders bedeutsam ist, indem »sie Gegenstände, Geschehnisse, Erfahrungen und Imaginationen zu neuen Zusammenhängen verkettet und damit Wissen proliferiert, aber auch generiert« (Gamper / Mayer 2017, S. 20). Mit unterrichtlichen kleinen Formen werden verschiedene Dimensionen des Möglichen aktiviert (vgl. ebd., 5 Auch Lesestücke können sich als problematisch erweisen, wenn sie sich als eine Ansammlung von Einzelsätzen erweisen, die lediglich durch eine Überschrift in einen gemeinsamen Kontext gestellt und zu einem Lesestück zusammengefasst wurden (vgl. Kipf 2006, S. 67 u. 70). 6 Darunter verstehen wir Lernmaterialien, die über entsprechende Online-Plattformen veröffentlicht, i. d. S. der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt sind, aber nicht den redaktionellen Prozess einer von Verlagen oder Zeitschriften gedruckten Veröffentlichung durchlaufen haben.

16

Julia Heideklang / Sandra Dobritz / Urte Stobbe

S. 12) und darüber Wirklichkeitserzählungen7 entworfen bzw. rekonstruiert, aber auch in Frage gestellt und verworfen. Ähnliches begegnet im Hinblick auf die Lehrbuchkonzeption: Die ausgewählten oder bearbeiteten Formen werden in einem thematischen Rahmen zueinander und miteinander auf Lehrbuchseiten angeordnet und dabei im Zusammenspiel mit verschiedenen Paratexten den Schülerinnen und Schülern präsentiert. Bei Veröffentlichungen von Verlagen treten die Ökonomie, Ästhetik sowie die erkenntnistheoretischen und wissensvermittelnden (epistemologischen) Funktionen schulischer kleiner Formen in ein Spannungsverhältnis zur Ökonomie und Ästhetik, die seitens der Verlage angestrebt werden – hier kommt also eine weitere Interessengruppe hinzu. Einerseits ermöglichen der Druck und die Distribution von Lehrbüchern die dauerhafte Festschreibung und Sicherung des Materials sowie dessen Verbreitung, andererseits wird das Material durch die Vorgaben des Druckhauses in seinem Umfang, seiner räumlichen Anordnung – dem Buch und der Buchseite, eine pro Themenfeld bzw. Lektion zur Verfügung gestellte Anzahl von Seiten – wiederum begrenzt und muss auf das Lehrbuchkonzept zugeschnitten werden. Im Bereich des Lernmaterials und der Lehrbücher lässt sich daher gut beobachten, dass solche kleinen Formen nicht nur in ein beständiges – und reibungsvolles – Verhältnis zu den großen Formen treten, sondern dass sie sich im gleichen Maße aus ihrer wechselseitigen Relation zueinander zu konstituieren scheinen. Dadurch, dass verschiedene kleine Texte und visuelle Repräsentationen auf einer Seite miteinander in eine kohärente Textumgebung gebracht werden, halten sie sich gewissermaßen auch gegenseitig klein und treten in Konkurrenz zueinander um den Raum der Seite. Das Format der Seite ist jedoch nicht nur für bei Verlagen veröffentlichten Lernmaterialien und Lehrbüchern entscheidend, sie bildet auch die Grundlage für digital und ohne redaktionelle Bearbeitung erstellte Lernmaterialien, wie sie sich auf Online-Plattformen finden (z. B. 4teachers.de oder lehrer-online.de) und von den Autoren und Autorinnen anderen zur Nutzung bereitgestellt werden. Diese ohne redaktionelle Bearbeitung publizierten Lernmaterialien verdienen in gleichem Maße unsere Aufmerksamkeit. Diese Lernmaterialien sind weniger stark fixiert und potentiell zur weiteren Modifikation gedacht. Sie stehen damit in einem Ergänzungs- und teilweise auch Konkurrenzverhältnis zu Lehrbüchern, die geschlossene Konzepte über mehrere Schuljahre oder Themenkomplexe bereithalten. Obwohl Lehrbücher derzeit noch immer eine zentrale Form von Unterrichtsmaterial sind, haben diese Lernmaterialien in ihrer Verbreitung über OnlinePlattformen und den persönlichen Austausch unter Lehrkräften das Potential einer 7 Zum Begriff des faktualen Erzählens, der sich in diesem Kontext anbietet, aber hier nicht vertieft werden soll, vgl. Klein / Mart&nez (2009).

Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen – Einleitung

17

Verdrängung der gedruckten Lehrwerke. Die Lehrbuchverlage reagieren darauf, indem sie ihre gedruckten Werke bereits um elektronischen Zusatzaufgaben und -materialien erweitern, um einen flexibleren Einsatz im Unterricht zu ermöglichen. Ob materialgestützes Arbeiten, Lehrbücher oder nicht-redaktionelle Lernmaterialien, alle drei Beispiele sammeln, arbeiten mit und ordnen heterogene kleine Textformen auf dem Raum einer Seite an. Für die Beschäftigung mit der Erzeugung von Unterrichtsmaterial ist die Definition der »little tools of knowledge«8 von Becker / Clark (2001) fruchtbar, die zwar bislang ausschließlich für akademische und bürokratische Zusammenhänge diskutiert wurde, sich jedoch in einigen Aspekten und Dimensionen für die Untersuchung kleiner Formen im Schulunterricht gleichermaßen anbietet. Sie hinterfragen die Form bzw. die Formen der Kurzprosa, in denen diese »Werkzeuge« und »Wissensfiguren« auftreten (»images, graphs, lists, questionaires, dossiers, tables and reports«, ebd., S. 1). Darüber hinaus wird der Fokus auf die verschiedenen Akteure der Institutionen gerichtet und die daraus resultierende Konstruktion einer Autorperson (vgl. ebd., S. 6). Für die Institution Schule sind ebenfalls verschiedene Akteure zu berücksichtigen wie auch die Eigenwirkung bzw. Selbstwirksamkeit, die den Lernmaterialien inhärent sein kann. Damit tritt die Frage nach der Rolle der Autorin bzw. des Autors dieser Lernmaterialien und der damit verbundenen kleinen Formen in den Vordergrund. Ist der Autor bzw. die Autorin als Erzeuger bzw. Erzugerin der spezifischen kleinen Form auch zugleich ein Erzähler bzw. Erzählerin?9 Und wenn ja, wie sind die narrativen Elemente im Lernmaterial und seiner spezifischen kleinen Formen zu (er)fassen? Relevant ist diese Frage, weil die Lehrperson im Idealfall in der Lage sein sollte, sich einerseits gänzlich zurückzunehmen und andererseits verschiedene gleichzeitige »Dimensionen des Möglichen« (Gamper / Mayer 2017, S. 12) zu (re)konstruieren. Zugleich darf gerade im Hinblick auf die Verfahren der Verkleinerung wie Selektion, Reduktion und Verdichtung der Einfluss der Autorinnen und Autoren nicht unterschätzt werden. Vielmehr spielt er bei der Erstellung von Lernmaterial eine zentrale Rolle, die stärker als bisher zu reflektieren ist. Die verschiedenen Rollen von Lehrerinnen und Lehrern deuten bereits an, dass neben den didaktischen kleinen Formen nicht zuletzt auch bürokratische Formen in der Institution Schule hinzutreten, die auch in ihrem Verhältnis zu8 Sie sprechen auch von »little tools of representation« (Becker / Clark 2001, S. 1). 9 Eine Studie aus dem Bereich der Geschichtsdidaktik hat diese Frage unlängst für den Geschichtsunterricht untersucht. Dabei ließ sich beobachten, dass sowohl Lehrerinnen und Lehrer bei der Materialerstellung als auch Schülerinnen und Schüler bei der Bearbeitung von Lernmaterialien zu Erzählerinnen und Erzählern von Geschichte(n) werden und dass die Aufgabenstellung selbst wesentlich beeinflusst, wie sich dieses Erzählen gestaltet (vgl. Waldis / Marti / Nitsche 2015).

18

Julia Heideklang / Sandra Dobritz / Urte Stobbe

einander und im Hinblick auf die Erzählerrollen der Lehrkräfte für zukünftige Untersuchungen einen interessanten Ansatzpunkt bieten. Neben der Zusammenführung kleiner Formen zu größeren Konglomeraten, lässt sich im Schulkontext ebenfalls beobachten, dass einzelne kleine Formen entstehen, die sich aus größeren Verbünden herausbilden, loslösen und zu mobilen Einheiten für die Unterrichtsgestaltung werden. Diese kleinen Formen werden z. B. im Zuge von Lernunterstützungen (Scaffolds) spezifisch im schuldidaktischen Kontext hervorgebracht, wie etwa Hilfe- und Lernkarten (s. Abb. 1).

Schlüsselbegriffe sind zentrale Begriffe im Text, die Ihnen dabei helfen, den Textinhalt zu erschließen. Natürlich ist es schwierig, beim ersten Lesen sofort zu erkennen, welche die Schlüsselbegriffe des Textes sind. Markieren Sie zunächst die Begriffe, die Ihnen als zentrale Informationsgeber interessant erscheinen. Besprechen Sie diese Kandidaten mit ihrem Partner bzw. Ihrer Partnerin und legen Sie sich auf die endgültigen Schlüsselbegriffe fest. Markieren Sie diese farblich. Was Sie dazu brauchen: einen Bleistift, eine/n Arbeitspartner/in, einen Textmarker. Frühe Neuzeit – Ein weiter Begriff Die Frühe Neuzeit – Im Allgemeinen wird damit der Zeitraum von 1450 bis 1700 beschrieben. Dabei ist dieser Epochenbegriff nicht trennscharf und überschneidet sich mit anderen Epochenbegriffen, etwa dem der Renaissance.

Frühe Neuzeit – Ein weiter Begriff Die Frühe Neuzeit – Im Allgemeinen wird damit der Zeitraum von 1450 bis 1700 beschrieben. Dabei ist dieser Epochenbegriff nicht trennscharf und überschneidet sich mit anderen Epochenbegriffen, etwa dem der Renaissance.

Abb. 1. Beispiel einer Methodenkarte zum Erarbeiten von Schlüsselbegriffen.

Scaffolds stellen den Schülerinnen und Schülern bei komplexeren Aufgaben und Problemlöseprozessen ein unterstützendes Gerüst zur Verfügung und ermöglichen und fördern auf diese Weise schrittweise die selbstständige Bearbeitung von Aufgaben.10 Im Zusammenhang mit dem Forschenden Lernen zur Förderung wissenschaftlichen Denkens können verschiedenen hard scaffolds Probleme seitens der Schülerinnen und Schüler im Problemlöseprozess antizipieren 10 »Ein wichtiger Ansatz im Bereich der Lernunterstützungen ist der der scaffolds (zu Deutsch: Gerüste). Der Begriff wird teils sehr breit und synonym mit jeglicher Art von Unterstützung gebraucht. Dabei geht jedoch der wahre Charakter von scaffolds verloren, denn eine andauernde Diagnose, die Anpassung der Unterstützung, sowie das Ausschleichen der Unterstützung […] sind wichtige Faktoren des Scaffolding im eigentlichen Sinne […].« (Arnold / Kremer / Mayer 2017, S. 25). Scaffolds werden in dynamische und situative Maßnahmen der Lehrerinnen und Lehrer (soft scaffolds) und materialgesteuerte Lernunterstützungen, die im Vorhinein vorbereitet werden (hard scaffolds), unterschieden (vgl. ebd., S. 25f.).

Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen – Einleitung

19

und materialgestützt befördern, wie es in jüngster Zeit etwa für Forschertipps und Concept Cartoons im Biologieunterricht gezeigt wurde (vgl. Arnold / Kremer / Mayer 2017). Indem hard scaffolds aber genau solche Problempunkte, auftretende Fragen und Stolpersteine antizipieren und bereits vorbereitet als zusätzliche Materialien komplexe Aufgaben und Problemstellungen begleiten, übernehmen sie Teile der Kommunikationsfunktion, die sonst situativen Interventionen und Hilfestellungen seitens der Lehrkraft zufallen würden. Damit leisten sie eine Verschiebung weg von der Lehrperson hin zu den Schülerinnen und Schülern, deren eigenständige Produktivität sie fördern. Schülerinnen und Schüler begegnen im Zusammenhang mit kleinen Formen in einer doppelten Rolle: als Rezipientinnen und Rezipienten kleiner Formen einerseits und als Produzentinnen und Produzenten derselben andererseits. So legen Schülerinnen und Schüler Listen an, um Ergebnisse zu sammeln und zu systematisieren, schreiben Protokolle zur Dokumentation von Ergebnissen und Beobachtungen. Diese little tools of knowledge bilden die essentielle Grundlage im schulischen Alltag. Für die Nutzbarmachung dieser tools ist es wesentlich, nicht nur ihren Einsatz im Unterricht didaktisch aufzubereiten, sondern ihre erkenntnisbildenden und ästhetischen Funktionen und Funktionsweisen als literarische Praktiken der Wissensvermittlung und Wissensproduktion für die Schülerinnen und Schüler sichtbar und damit eigenständig anwendbar zu machen, denn die im Schulunterricht verwendeten Schreibformen sollten nicht einfach zum Selbstzweck werden.11 Bestimmte schuldidaktische kleine Formen bilden zugleich ein methodisches tool kit, das die Schülerinnen und Schüler in außerschulischen Kontexten zur Wissensgewinnung, -speicherung und -produktion befähigt. So lässt sich z. B. im Zuge der Digitalisierung eine Veränderung literaler Praktiken beobachten (vgl. Lehnen 2018, S. 27). Durch die Veränderung von Prozessen der Textproduktion tritt nun die Prozesshaftigkeit des Schreibens in den Vordergrund, wobei »die Aktualisierung und Fortschreibung von Texten zum Konstitutionsprinzip wird« (ebd., S. 28). Für den Unterricht eröffnen digitale kleine Formen, wie z. B. Blogs, neue Chancen für eine prozessorientierte Schreiblehre und die Einbindung kollaborativer Schreibprozesse (vgl. ebd.). Kleine Formen können indes auch zu Schwierigkeiten in der Anwendung führen, was an ihrer – nicht selten unterschätzten – Komplexität und ihren ästhetischen und epistemologischen Ansprüchen liegt. Dabei ist zu hinterfragen, inwiefern ihr Einsatz im Unterricht schon bewusst reflektiert und vermittelt wurde. Ann Blair etwa konstatiert zur Praktik des Notierens, dass selbst heutzutage das Anfertigen von Notizen eine Art impliziten Wissens darstellt, obwohl 11 Vgl. dazu auch die Beobachtung von Becker / Clark (2001, S. 9): »Like capitalistic accumulation of wealth, rituals of bureaucratic procedure become just as much ends-in-themselves.«

20

Julia Heideklang / Sandra Dobritz / Urte Stobbe

von grundlegender Wichtigkeit schon für den Schulunterricht und darüber hinaus (vgl. Blair 2004, S. 89). Ähnliches vermerkt Bunja (2014, S. 711): »Zugleich zeigt sich, dass das Zitieren eher eine alltägliche Praxis ist, nicht jedoch methodisch reflektiert wird.« Das Zitieren wird zwar im schulischen Bereich reflektiert und ist wesentlicher Bestandteil von Leistungsüberprüfungen in sprachlichen Fächern der Oberstufe, doch erstreckt sich die Reflexion nicht auf die Geschichte des Zitierens selbst, sondern auf die aktuelle Anwendung von Zitationskonventionen. Die historische Kontextualisierung kleiner Formen kann indes neue Impulse für den künftigen Umgang mit ihnen setzen. Denn es »gerät eine Vielfalt spezifischer Ausbildungen des Kurzen und Knappen in den Blick, die stets der systematischen und historischen Einordnungen bedürfen, weil sich die Relevanz der kleinen Formen erst dann erweist, wenn die Umstände ihres Gebrauchs reflektiert werden« (Gamper / Mayer 2017, S. 11). Kleine Formen sind also, wie bereits Göttsche (2006, S. 10) betont, »nur in ihrer Geschichtlichkeit angemessen zu erfassen«. Dazu gehört auch die Reflexion der »Funktion produktiver Störung« (Althaus / Bunzel / Göttsche 2007, S. IX) kleiner Formen. Diese beschränkt sich nicht nur auf literarische Gattungskonventionen, sondern betrifft in gleichem Maße Alltagsvorstellungen, gesellschaftliche Konventionen und Normen. Schuldidaktische kleine Formen können sich an solchen Vorstellungen und Normen reiben, sie unterlaufen, konterkarieren oder als überholt entlarven. Jedoch bergen sie in gleichem Maße die Gefahr einer Verfestigung derselben, wenn sie nicht in ihrem fachdidaktischen Einsatz reflektiert und in ihrer Wirkmächtigkeit anerkannt werden. An lateinischen Lehrwerken der 1960er Jahre etwa kann beobachtet werden, dass Einzelsätze und Lesestücke oftmals ein »realitätsferne[s] Idealbild eines Schülers [zeichnen], der strebsam und fleißig ist, Respekt vor dem Lehrer hat und den Wert der schulischen Bildung zu schätzen weiß« (Kipf 2006, S. 73). Gerade dadurch, dass kleine Formen wiederholend und seriell im Unterricht auftreten, können derartige Idealisierungen oder ethische Vorurteile scheinbar beiläufig mittransportiert werden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich insgesamt die Einsicht: Um der wechselseitigen Beziehung kleiner Formen und der didaktischen Konzeption von Unterricht gerecht zu werden, bedarf es einer historischen Kontextualisierung und gleichermaßen kritischen Betrachtung der jeweiligen Entwicklungen und Interdependenzen aus einer unterrichtsgeschichtlichen Perspektive, um Kontinuitäten wie auch Brüche nachzuverfolgen und hinterfragen zu können. Denn kleine Formen schauen auf mitunter lange Traditionslinien zurück und haben dabei Veränderungen in ihren epistemologischen und ästhetischen Dimensionen sowie ihrer Materialität durchlaufen. Die Beiträge dieses Tagungsbandes leisten mit ihren Einzelbetrachtungen eine historische Kontextualisierung und Analyse kleiner Formen im Schulunterricht

Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen – Einleitung

21

und zeigen erste Erkenntnisse über die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen kleinen Formen und der Bedingtheit von Unterricht in der Institution Schule sowie den Praktiken der schulischen Wissensvermittlung. Darüber hinaus fragen sie nach Implikationen, die sich aus den interdisziplinären Beobachtungen für den zukünftigen Einsatz und das Potenzial kleiner Formen im Rahmen schulischen Unterrichts ergeben. Im ersten Abschnitt des Bandes werden kleine Formen besonders vor dem Hintergrund ihrer historischen Kontexte untersucht. Darauf folgen Analysen und Problematisierungen zu aktuellen Lernmaterialien und abschließend finden sich Beiträge, die den Einsatz kleiner Formen als Perspektiven für den zukünftigen Schulunterricht diskutieren. Die Beiträge von Juliana Wekel, Sandra Dobritz und Aline Willems zeigen, wie unterschiedlich das Medium des Lehrbuchs als Teil der Wissensvermittlung fungieren bzw. eingesetzt werden kann. Dabei treten zahlreiche unterschiedliche kleine Formen hervor, die je nach Lehrbuchkonzept auf ganz verschiedene Art und Weise als solche ausgewählt oder zugeschnitten werden. Juliana Wekel untersucht in ihrem Beitrag die Partitiones des Priscian (6. Jh. n. Chr.) im spätantiken Lateinunterricht und zeichnet nach, wie die fragmentierten Verse eines großen Epos im Lehrbuchkontext zu grammatischen Tiefenstrukturen aufgefaltet und mit den entsprechenden Termini ettiketiert werden. Der Beitrag von Sandra Dobritz wendet sich dem Lateinischen Lesebuch des Berliner Schultheoretikers Friedrich Gedike (1754–1803) zu und zeigt dessen Verfahren der Verkleinerung anhand der historischen Erzählungen auf. Immer wieder treten epistemologische, ökonomische und ästhetische Dimensionen dieser Formen in ein Spannungsverhältnis: Bei Gedike finden sich einerseits Bestrebungen, den ästhetischen Wert in kleingemachten Formen zu erhalten. Andererseits aber kann die Ästhetik kleiner Formen zugunsten der epistemologischen Ansprüche schulischer Wissensvermittlung in den Hintergrund treten, wie Aline Willems Beitrag zu den verschiedenen kleinen Formen in Französischlehrbüchern des 19. Jahrhunderts zeigt. Während es in allen drei Beispielen nahezu unmöglich ist, die Rezeption der implementierten kleinen Formen durch die Schülerinnen und Schüler nachzuverfolgen, kann der Beitrag von Stefan Born und Britta Eiben-Zach zu Abituraufsätzen aus den 1960er und 1970er Jahren auf ein Korpus unveröffentlichter Abituraufsätze zurückgreifen. Darin analysieren sie die Aufgabenstellungen für das schriftliche Abitur vor dem Hintergrund der Debatte über die schulisch fingierten Schreibsituationen gegenüber der außerschulischen Realität. Daher eröffnen sich in den Beiträgen im ersten Abschnitt der historischen Kontexte verschiedene Erkenntnisse zur Rolle der Lehrpersonen, ob als Erzähler, Autor kleiner Formen oder Begutachter der Leistung der Schülerinnen und Schüler im Umgang mit diesen Verkleinerungen.

22

Julia Heideklang / Sandra Dobritz / Urte Stobbe

Maike Nikolai-Fröhlich zeigt anhand der Aufgabenstellungen sprachlicher und mathematischer Schulaufgaben in Lernmaterial auf Online-Plattformen, dass Aufgabenstellungen, die von den Lehrkräften vorgegeben werden, zusammen mit den formulierten Antwortsätzen eine keinesfalls implikationsfreie Rahmung für das fachliche Wissen bieten. Während die einzelnen Aufgabenstellungen und Aufgabenrahmungen zunächst marginal erscheinen können, ist es ihre Serialität im Schulunterricht, die potentiell Normvorstellungen und Weltbilder verfestigt anstatt sie zu hinterfragen. Der Beitrag von Maja Linke nimmt Rahmungen und serielle Anordnungen im Hinblick auf die Text-Bild-Konstellationen in Lehrbüchern für Deutschlernende kritisch in den Blick. Über diese Konstellationen kann Irritation und Denormierung erzeugt, aber eine Normierung auch verfestigt werden. Dabei ist genauso wesentlich, was in Bild-Text-Konstellationen dargestellt ist, wie das, was nicht Teil des Dargestellten ist. Ein möglicher Ansatz, über vorgegebene Rahmungen hinauszutreten, ist die Reflexion sowie die eigenständige Produktion solcher kleinen Formen. Derartige Text-Bild-Konstellation, die über die Rekombination von kleinen Formen arbeiten wie es etwa Hashtags tun, können die Schülerinnen und Schüler zur Produktion eigener kleiner Formen anregen und zeigen sich von zentraler Bedeutung für den Aufbau von Schreibkompetenzen, wie der Beitrag von AnnKristin Müller anhand digitaler kleinen Formen im Deutschunterricht der Primarstufe wie dem Blog und dem Hashtag diskutiert. Diese kleinen Formen erweisen sich als besonders wirksam, da sie die gegenläufigen Prozesse der Verdichtung und Verkleinerung zusammen mit einer potentiellen Entfaltung und Vergrößerung in sich vereinen und so auf die Aktivierung der Rezipientinnen und Rezipienten zielen. Der Beitrag von Katrin Lehnen ist dem materialgestützen Schreiben im Deutschunterricht als einem Beispiel für Miniaturen des Schulunterrichts gewidmet, die als komplementäre Gegenstücke zu außerschulischen großen Formen und außerschulischer Realität zu verstehen sind. Und sie tun dies, wie Katrin Lehnen zeigt, in verschiedener Hinsicht: Nicht nur etwa das ausgeschnittene Zitat in seinem Verhältnis zum ursprünglichen Quelltext, sondern auch im Hinblick auf die vorausgegangene didaktische Progression, von kleineren Textsorten zu den großen, ausgebreiteten Formen in der Oberstufe. Darüber hinaus verhalten sie sich auch zu der bereits erwähnten ›Außenwelt‹, etwa die verkleinerte Variante eines Zeitungsartikels zur Berichterstattung in ungekürzten bzw. didaktisch nicht bearbeiteten Zeitungsartikeln. Der Beitrag zeigt, wie auf Grundlage einer Zusammenstellung heterogener Quellmaterialien ein eigener Text produziert werden soll und sich in diesem Zuge neue kleine Formen und eine veränderte Aufgabensituierung herausgebildet haben.

Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen – Einleitung

23

Eine historische Einordnung unter Berücksichtigung der sich wandelnden Materialität bietet sich zum Beispiel für die Erzählformen innerhalb wissenschaftlicher Texte an, die als literarische Texte kaum Beachtung im Schulunterricht erhalten. Wie der Beitrag von Julia Heideklang zeigt, eröffnet der bewusste Umgang mit den Wissenschaftstexte konstituierenden kleinen Formen eine Perspektive für die produktive Verbindung von Sprachunterricht und naturwissenschaftlichem Unterricht. Einzelne kleine Formen können über die Schaffung und Aktivierung von mehreren gleichzeitigen Möglichkeiten und Wirklichkeiten als Katalysatoren für die literarisch-kulturelle Bildung wirksam werden und insbesondere über das Mehrfachlesen ein Bewusstsein für das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt schaffen und dieses infrage stellen, wie der Beitrag von Berbeli Wanning und Urte Stobbe am Beispiel von Pflanzengedichten als kleinen Formen zeigt. In der historischen Kontextualisierung eröffnen sich vielfältige Perspektiven auf schulische kleine Formen als Konnektoren unterschiedlicher Forschungsfelder, seien es sprachliche, gesellschaftliche oder naturwissenschaftliche. Es wird deutlich, dass kleine Formen über die Fächergrenzen hinaus als zentrale Schaltstellen der Erkenntnisgewinnung und Reflexion fungieren. Es gilt daher ihre Wirksamkeit und die inhärente Aufforderung zum Perspektivwechsel und zur eigenständigen Produktion für fächerübergreifende Bildungsaufgaben fruchtbar zu machen. Der Sammelband versteht sich mithin als Ansatz für die weiterzuführende Untersuchung und Diskussion kleiner Formen und ihres Einsatzes in den unterschiedlichen Unterrichtsfächern sowie die Nutzbarmachung ihres Potentials für die fächerübergreifende Problematisierung und möchte damit den Austausch und Dialog der verschiedenen Fachdidaktiken unterstützen.

Danksagung Wir danken Sieglinde Grimm und Berbeli Wanning für die Unterstützung und die Aufnahme in die Reihe Themenorientierte Literaturdidaktik (TOLD) im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Ebenfalls möchten wir unseren Dank dem DFG-Graduiertenkolleg »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen« ausdrücken, das nicht nur den Workshop im Juli 2018 an der Humboldt-Universität zu Berlin, sondern auch diesen Tagungsband ermöglicht hat. Für ihre Hinweise und Anregungen danken wir insbesondere Ethel Matala de Mazza, Nils Ritter und Maren Jäger ; sowie Laura Lippold für ihre unermüdliche Unterstützung im Korrekturprozess. Wie schon für den Workshop gebührt unser herzlicher Dank allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die ihre Ideen für diesen Sammelband bereitgestellt und erweitert haben.

24

Julia Heideklang / Sandra Dobritz / Urte Stobbe

Quellenverzeichnis Althaus, Thomas / Bunzel, Wolfgang / Göttsche, Dirk (2007). »Ränder, Schwellen, Zwischenräume. Zum Standort Kleiner Prosa im Literatursystem der Moderne«, in: Althaus, Thomas / Bunzel, Wolfgang / Göttsche, Dirk (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Tübingen, S. IX–XXVII. Arnold, Julia / Kremer, Kerstin / Mayer, Jürgen (2017). »Scaffolding beim Forschenden Lernen. Eine empirische Untersuchung zur Wirkung von Lernunterstützungen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 23/01, S. 21–37. Autsch, Sabine / Öhlschläger, Claudia (2014). »Das Kleine denken, schreiben, zeigen. Interdisziplinäre Perspektiven«, in: Autsch, Sabine / Öhlschläger, Claudia / Süwolto, Leonie (Hg.): Kulturen des Kleinen. Mirkoformate in Literatur, Kunst und Medien, Paderborn, S. 9–17. Becker, Peter / Clark, William (2001). »Introduction«, in: Becker, Peter / Clark, William (Hg.): Little Tools of Knowledge, Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices, Ann Arbor, S. 1–34. Borvitz, Sieglinde / Temelli, Yasmin (2018). »Einleitung: Phänomene der Verknappung in den romanischen Literaturen und Kulturen«, in: Borvitz, Sieglinde / Temelli, Yasmin (Hg.): Phänomene der Verknappung, Berlin, S. 7–16. Eschenhagen, Dieter / Kattmann, Ulrich / Rodi, Dieter (2008). Fachdidaktik Biologie. 8. Auflage, Köln. Gamper, Michael / Mayer, Ruth (2017). »Erzählen, Wissen und kleine Formen. Eine Einleitung« in: Gamper, Michael / Mayer, Ruth (Hg.): Kurz & Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld, S. 7–22. Göttsche, Dirk (2006). Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart. Aschendorff. Kipf, Stefan (2006). Altsprachlicher Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung, didaktische Konzepte und methodische Grundfragen von der Nachkriegszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Bamberg. Lehnen, Katrin (2018). »Digitales Schreiben – Zur Veränderung literaler Praktiken«, in: Nsagou Njikam, Maryse (Hg.): Mont Cameroun. Afrikanische Zeitschrift für interkulturelle Studien zum deutschsprachigen Raum 13/14, Themenheft: Schreiben und Schreibkompetenzen an der Hochschule: Theoretische Überlegungen, didaktische Modelle und Perspektiven innerhalb und außerhalb des deutsche Sprach- und Kulturraums, S. 25–35. Matala de Mazza, Ethel / Vogl, Joseph. »Projektvorstellung. Graduiertenkolleg ›Literaturund Wissensgeschichte kleiner Formen‹«, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 3/ 2017, S. 579–585. Nida-Rümelin, Julian / Prenzel, Manfred / Zierer, Klaus. »Entrümpelt die Lehrpläne!«, in: Spiegel 27/2018, S. 48. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hg.) (2006). Rahmenlehrplan für die gymnasiale Oberstufe. Philosophie. Berlin. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hg.) (2015). Rahmenlehrplan Teil C. Biologie. Jahrgangsstufen 7–10. Straßfurt.

Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen – Einleitung

25

Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hg.) (2015). Rahmenlehrplan Teil C. Ethik. Jahrgangsstufen 7–10. Straßfurt. Spörhase-Eichmann, Ulrike / Ruppert, Wolfgang (2010). Biologie Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 4. Auflage, Berlin. Waldis, Monika / Marti, Philipp / Nitsche, Martin (2015). »Angehende Geschichtslehrpersonen schreiben Geschichte(n). Zur Kontextabhängigkeit historischer Narrationen«, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14, S. 63–86.

I. Kontexte

Juliana Wekel

Grammatik an der Versgrenze: Priscians Partitiones im spätantiken Unterricht1

Ein frühes Beispiel für Unterrichtsmaterial hat der Grammatiker Priscian am Anfang des 6. Jahrhunderts nach Christus in Konstantinopel verfasst: die Partitiones.2 Priscian lebte im griechischsprachigen, oströmischen Reich, schrieb aber in lateinischer Sprache für den Lateinunterricht. Unter den zahlreichen erhaltenen3 Texten der lateinischen Grammatikschreibung haben die Partitiones eine Sonderrolle als wichtiges Zeugnis dafür inne, wie die lateinische Sprache in der Spätantike unterrichtet wurde. Von der Forschung wurde das Werk bisher dennoch wenig beachtet.4 In diesem Aufsatz soll die Wichtigkeit der Partitiones im Kontext ihrer Zeit behandelt werden. Dazu ist zunächst ein Blick auf den historischen Kontext notwendig, ebenso wie eine (spätantike) Antwort auf die Frage: Was ist eigentlich Grammatik? Eben jener Kontext reicht dabei weit über den Schulraum in Konstantinopel im 6. Jahrhundert hinaus. Grammatikunterricht war wesentlich für die Elite des Kaiserreichs, ein wichtiger Schritt in der Ausbildung auf dem Weg zu den höheren Studien von Rhetorik und Jura, und somit zu einem Posten in der Administration.5 Die Art, wie Grammatik zu dieser Zeit unterrichtet wurde, hat somit das Denken, Handeln und Schreiben dieser Elite beeinflusst. Die »little tools of knowledge«6 der Bürokratie nehmen hier ihren Anfang. Ebenso wesentlich sind die spätantiken 1 Herzlichen Dank an Ulrike Stephan, Julia Heideklang, Urte Stobbe und Andreas Fritsch für Kommentare und Anmerkungen zu meinem Vortrag und zu diesem Aufsatz. 2 Mit vollem Titel Partitiones duodecim uersuum Aeneidos principalium (›Die Einteilung der zwölf ersten Verse der Aeneis‹). Ediert ist der Text u. a. in den Grammatici Latini (GL) von Heinrich Keil (GL 3, 459–515) und Passalacqua (1999). Eine Übersetzung ins Deutsche gibt es noch nicht. 3 Die maßgebliche, allerdings keineswegs vollständige Edition sind die Grammatici Latini (GL) von Heinrich Keil. 4 Eine Ausnahme bietet die Monographie von Glück (1967). 5 Die wesentliche Studie zu den Grammatikern und der spätantiken Gesellschaft ist Kaster (1988). Zur Wichtigkeit des Lateinischen für die Bürokratie und Jura, vgl. Dickey (2016a, S. 1–4). 6 Vgl. Becker / Clark (2001). Zur byzantinischen Bürokratie z. B. Haldon (2017).

30

Juliana Wekel

Grammatiktexte für Termini und Konzepte wie Akkusativ oder Perfekt, die wir bis heute im Grammatikunterricht verwenden, nicht nur für Latein. Für eine Studie der kleinen Formen im Unterricht ist es somit unerlässlich, auch einen Blick auf die frühesten erhaltenen Texte zu werfen.

Priscian und seine Zeit Für eine Betrachtung Priscians lohnt es sich, die historischen Rahmenbedingungen seiner Zeit in Erinnerung zu rufen und sich der Epoche zuzuwenden, die im Allgemeinen mit dem Begriff »Spätantike« erfasst wird. Über die genaue Zeitspanne der Spätantike lässt sich streiten, aber im Großen und Ganzen bezeichnet »Spätantike« die Zeit zwischen der klassischen Antike und dem Frühmittelalter.7 Diese Zeit war von machtpolitischen und religiösen Umbrüchen geprägt, deren Wandel hier in aller Kürze zusammengefasst wird: Der Beginn der Spätantike wird meistens nach dem Ende der römischen Reichskrise auf die Regierungszeit von Kaiser Diokletian ab 284 nach Christus datiert. Unter Diokletian fand eine umfassende Verwaltungsreform statt, die die Macht zentralisierte und zunehmend bürokratisierte. Im Jahre 306 kam Konstantin der Große an die Macht, mit dem die Christianisierung des Reiches begann. Im Jahre 330 wurde Konstantins neue Hauptstadt Konstantinopel eingeweiht, das heutige Istanbul. Nach seinem Tod 337 entbrannten erbitterte Kämpfe um die Nachfolge, in denen am Ende Constantius II. übrig blieb. Von 361 bis 363 regierte der letzte heidnische Kaiser das römische Reich, Kaiser Julian. Im Jahre 375 begannen die Völkerwanderungen, besonders die der Goten ins weströmische Reich. Im Jahre 380 wurde das Christentum unter Kaiser Theodosius Staatsreligion. Am Ende des vierten Jahrhunderts wurde auch die wichtigste lateinische Übersetzung der Bibel, die Vulgata, vom Kirchenvater Hieronymus verfasst. Einer seiner hochgelobten Lehrer war der wohl wichtigste römische Grammatiker, Aelius Donat.8 Das Latein, das Hieronymus bei Donat gelernt hat, war das Latein des Dichters Vergil (1. Jh. v. Chr.), besonders das Epos Aeneis, das der zentrale Text der spätantiken Grammatik war9 und auch die Textgrundlage für Priscians Partitiones liefern wird. 395 wurde das römische Reich in West und Ost 7 Die Forschung und somit Literatur zur Spätantike hat in letzter Zeit erfreulicherweise zugenommen und kann daher an dieser Stelle nicht in Gänze diskutiert werden. Eine wesentliche Studie ist Peter Browns The World of Late Antiquity (1971; bespricht die Epoche 150–750 n. Chr.). Als Überblick eignet sich A Companion to Late Antiquity (Rousseau 2009). 8 Zu Donat und seinem Werk Holtz (1981). Wesentlich für das späte weströmische Reich ist Cameron (2010). 9 Einen Überblick darüber, welche Autoren in Grammatiktexten als Beispiele herangezogen worden, gibt z. B. Vanio (2000).

Grammatik an der Versgrenze: Priscians Partitiones im spätantiken Unterricht

31

geteilt, mit je einem eigenen Kaiser. Um das Jahr 400 verfasste der römische Grammatiker Servius seinen Vergilkommentar, der auch in Konstantinopel gelesen wurde, und der unser Verständnis der Aeneis bis heute prägt.10 410 wurde Rom von den Westgoten geplündert, bevor 476 der letzte weströmische Kaiser mit dem passenden Namen Romulus Augustulus abgesetzt wurde. Das oströmische Reich, das wir heute meistens Byzanz nennen,11 blieb aber bestehen.12 In Konstantinopel ist noch Kaiser Justinian zu nennen, dessen Regierungszeit 527 begann, und der besonders bekannt für seine Kodifizierung des römischen Rechts, den Codex Iustinianus, auch dieser verfasst auf Latein.13 Für die Ausbildung zum Juristen war Latein zu dieser Zeit essentiell. Der Grammatiker Priscian14 ist nun an den Beginn des sechsten Jahrhunderts zu stellen, überschneidet sich also mit Kaiser Justinian. Priscian lebte keineswegs in einer Zeit des Verfalls,15 sondern vielmehr in einer Zeit des Umbruchs und Aufbruchs, der Rückeroberung römischer Gebiete, umfassender Bauprogramme, der Kodifizierung des römischen Rechts und somit auch akutem Bedarf an der lateinischen Sprache. Dass der Lateinunterricht sich nach Justinian nicht mehr lange in Byzanz halten würde,16 war zu Priscians Zeit so noch nicht abzusehen. Ursprünglich aus Caesarea in Palestina, unterrichtete er Latein in Konstantinopel. Bekannt ist er besonders für seine monumentalen, achtzehn Bücher umfassenden Institutiones Grammaticae, die über das Mittelalter hinweg die wichtigste Nachschlagegrammatik der lateinischen Sprache blieben.17 Über Priscian als Person wissen wir dennoch nur wenig.

Grammatikunterricht im römischen Reich Im Gegensatz zu den weströmischen Grammatikern, allen voran Donat und der Vergilkommentator Servius im späten vierten und frühen fünften Jahrhundert, unterrichtete Priscian keine Muttersprachler mehr, sondern Menschen, die in Konstantinopel mit Griechisch und anderen Muttersprachen aufgewachsen 10 Als Einführung zu Servius s. das entsprechende Kapitel in Kaster (1988). Zu Servius als Sprachlehrer s. Uhl (1998). 11 Die Byzantiner verstanden sich selbst als Römer (Uylai˜oi) und auch ihr Reich als römisches (Uylam_a); vgl. Kaldellis (2015). 12 Das Ende des byzantinischen Reichs kam 1453 mit dem Fall Konstantinopels an die Osmanen. 13 Zu Justinian und der Fortsetzung des römischen Reichs in Konstantinopel s. Heather (2014). 14 Zum neuesten Stand über Priscian Zetzel (2018, S. 197ff. u. 309–311). 15 Die Narrative des Verfalls für die spätantike Epoche ist besonders mit Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776–89) assoziiert. 16 Über Latein während und nach der Zeit Justinians, s. Av. Cameron (2006, S. 141f.). 17 Law (2003, S. 128) über den Wert einer Priscian-Handschrift.

32

Juliana Wekel

waren.18 Die Grammatiken aus Konstantinopel enthalten deswegen umfangreichere Erläuterungen zur Bildung und Verwendung verschiedener Formen, sowie einige griechische Beispiele zur Verdeutlichung von Parallelen. Auch eine technische Entwicklung machte es leichter, umfangreiche Nachschlagewerke zu verfassen: Während vorher auf Pergamentrollen geschrieben wurde, die man mühsam auf und zu rollen musste, gab es nun den Codex, in dem man vor und zurück blättern konnte.19 Dadurch waren Nachschlagewerke deutlich leichter zu benutzen, wie eben die Institutiones von Priscian. Zum Vergleich: Donats Ars Minor hat keine zwanzig Seiten in der Ausgabe von Heinrich Keil, Priscians Institutiones füllen anderthalb Bände. In der Forschungsmeinung gilt die lateinische Grammatik oft als eine 2000 Jahre dauernde Konstante, die sich nie verändert hat und deswegen auch nie wieder verändern kann.20 Gewisse Konstanten innerhalb des grammatischen Diskurses gab es durchaus, aber niemand, der die Ars Minor neben die Institutiones legt, kann ernsthaft behaupten, dass die beiden Werke identisch seien. Hier zeigt sich schon alleine am Umfang und am Zielpublikum, dass die lateinische Grammatik sich den Umständen angepasst und damit auch verändert hat. Angepasst haben sich allerdings auch Inhalt und Vermittlungsstrategien der Grammatik, wie wir im Folgenden sehen werden. Man muss aber bei einer grundlegenderen Frage anfangen: Was ist eigentlich Grammatik? In der Antike und Spätantike bestand Grammatik aus zwei wesentlichen Teilen, bekannt besonders durch eine Definition des Rhetoriklehrers Quintilian aus dem ersten Jahrhundert nach Christus: einerseits ist Grammatik das Wissen über die korrekte Sprache (recte loquendi scienta), und andererseits die Erläuterung von Literatur, besonders Poesie (poetarum enarratio).21 Grammatik ist schon bei Quintilian die Vorstufe zu den höheren Studien der Rhetorik. Das Wissen über die korrekte Sprache wird besonders über die acht Wortarten vermittelt, in die jede Form der lateinischen Sprache einsortiert wird. Die acht Wortarten sind wie vieles andere von Griechenland aus beeinflusst, aber konkret lässt sich dieser Prozess schwer nachvollziehen, da von den Grammatikern vor der Spätantike, römisch wie griechisch, fast alles verloren ist.22 Neben 18 Zur Einführung in die Geschichte der Grammatiktheorie Law (2003) und Hovdhaugen (1982). Eine aktuelle Einführung in die römische Philologie inklusive Grammatik bietet Zetzel (2018). 19 Zur Wichtigkeit des Codex für spätere Grammatiken s. Dammer (2001, S. 20f.). Zur Veränderung von Lesegewohnheiten generell s. Zedelmaier (2015). 20 Diese Meinung wurde wesentlich von Barwick (1922) geprägt. 21 Quint. Inst. 1.4.2. Grammatik spielt beim Rhetoriklehrer Quintilian insgesamt eine eher untergeordnete Rolle; zu den grammatischen Kapiteln s. Ax (2011). 22 Laut Hieronymus (com. in Eccl. 1.9) soll Donat gesagt haben, dass alle, die vor ihm Grammatik unterrichtet hätten, verloren gehen sollten (pereant qui ante nos nostra dixerunt) – so ist es im Großen und Ganzen auch gekommen.

Grammatik an der Versgrenze: Priscians Partitiones im spätantiken Unterricht

33

den Wortarten werden in einer typischen spätantiken Grammatik auch die Bauteile der Sprache behandelt, also etwa die Buchstaben und Silben, sowie stilistische Figuren. Letzteres schlägt zugleich die Brücke zum Rhetorikunterricht. Im Lateinischen lauten die acht Wortarten: Nomen, Pronomen, Verb, Adverb, Partizip, Konjunktion, Präposition, Interjektion. Diese acht Wortarten bilden tatsächlich eine Konstante in der spätantiken Grammatik. Aber auch hier wird ist sofort ersichtlich, dass sich das spätantike Schema keineswegs unverändert bis heute gehalten hat: Die Terminologie ist zwar bekannt, jedoch würde heute kaum eine Latein-Grammatik das Partizip als eigene Wortart behandeln. Auch fehlt in der Spätantike das eigenständige Adjektiv, was hier dem Nomen untergeordnet wird. Jede dieser Wortarten hat bestimmte Eigenschaften (accidentia); das Nomen z. B. hat Kasus, Numerus und Genus (so würden sowohl Priscian als auch die heutige Grammatik bestimmen, dass die Form amicam den Kasus Akkusativ, den Numerus Singular und das Genus feminin hat; Priscian würde darüber hinaus noch festhalten, dass amicam ein Appellativum ist und ein Simplex). Mithilfe dieser Eigenschaften sollte am Ende jede einzelne lateinische Form etikettiert und somit klassifiziert werden. Die Betonung liegt auf sollte. Auch ein so akribisch wirkendes Konstrukt wie die Grammatik von Donat kann die Sprache in ihrer lebendigen Komplexität nicht vollständig erfassen, sodass es stets Formen gibt, die sich nicht ohne weiteres in die Taxonomie einsortieren lassen, und über deren Position es durchaus Debatten und somit auch unterschiedliche Antworten im grammatischen Diskurs gibt, z. B. in der Frage, wie der (zugebenermaßen seltene) Konjunktiv Perfekt im Hauptsatz zu verstehen ist.23 Ein wesentlicher Teil des Grammatikunterrichts besteht also aus einzelnen Formen, die mit ihren Eigenschaften bestimmt werden. Diese theoretische Taxonomie wird z. B. in Donats Ars Minor in einem Frage-Antwort-Schema dargestellt (›Wie viele Wortarten gibt es?‹ – ›Acht.‹), eine kleine Form, die sich ideal zum Auswendiglernen anbietet, ähnlich wie Merksprüche. Ein lateinischer Muttersprachler erlernt beim Grammatiker also weniger die praktische Bildung einer Verbform, sondern eher die korrekte Etikettierung jeder Form innerhalb der theoretischen Taxonomie der Sprache. Für Nicht-Muttersprachler beginnt der Lernprozess aber nicht mit der kleinteiligen Differenzierung verschiedener Verbformen, sondern mit Mitteln, die dem heutigen modernen Fremdsprachenunterricht nicht unähnlich sind, 23 Gerade das Konzept vom Modus in der Spätantike weicht zum Teil stark von der heutigen Grammatik ab. Zu diesem Thema bereite ich derzeit meine Dissertation zur Veröffentlichung vor. »Zur Verlässlichkeit« Donats s. Beck (1996). Donats Artes wurden schon in der Spätantike mehrfach kommentiert, z. B. auch von Servius.

34

Juliana Wekel

sogenannten Colloquia, die anhand von Dialogsituationen, z. B. in der Therme oder auf dem Schulweg, Kinder an die lateinische Sprache heranbringen.24 Danach werden die Wortarten und ihre Eigenschaften gelernt, um den Wortschatz dort einzuordnen und damit zu systematisieren. Die lateinischen Grammatiken für die griechischsprachigen Schüler in Konstantinopel sind auf Latein verfasst, was darauf hindeutet, dass die harte Grammatik erst erlernt wurde, wenn schon einige Sprachkenntnisse vorhanden waren. Eine erhaltene Grammatik von Dositheus aus dem wohl vierten Jahrhundert enthält in Teilen eine griechische Übersetzung der Terminologie und der Beispiele, aber dieser Ansatz der zweisprachigen Grammatikschreibung hat sich nicht durchgesetzt.25 Hinzu kam dann der zweite wesentliche Teil der Grammatik, in dem diese theoretischen Kenntnisse in die Praxis umgesetzt werden: Lektüre und Erläutern von dichterischen Texten, im Lateinischen eben ganz besonders die Aeneis von Vergil (1. Jh. v. Chr.). Zur Erläuterung der in der Spätantike schon veralteten und darüber hinaus poetischen Sprache gibt es Kommentare, besonders von Servius aus dem vierten Jahrhundert, der ungewöhnliche Konstruktionen, aber auch Inhalte erklärt, zum Beispiel die heidnischen Götter und Kulte, die Vergil erwähnt. In Servius’ Kommentar wird die theoretische Wortartenlehre auch angewendet, wenn es besonderen Redebedarf gibt, zum Beispiel bei einer ungewöhnlichen Form,26 aber wir haben wenig Spuren davon, wie genau diese Wortarten konkret im Unterricht geübt wurden. In genau diese Lücke treten die Paritiones von Priscian.

Die Partitiones Die Partitiones sind eine Unterrichtsgrundlage, um die Metrik und die Wortarten anhand von Vergilversen zu üben. Exemplarisch werden dafür einzelne Verse analysiert, und zwar von den zwölf Büchern der Aeneis jeweils der erste Vers, der gewissermaßen als Stellvertreter für das ganze Buch fungiert. Die Partitiones beginnen mit einer generellen Einführung in die Metrik.27 Darauf folgen die jeweils zwölf ersten Verse der Aeneis, die nach einem bestimmten Schema behandelt werden. Zunächst wird die Metrik angewendet, der Vers muss skandiert werden, d. h. die entsprechenden Versfüße und Zäsuren müssen angegeben werden, eine Übung wie sie im Prinzip bis heute im Lateinunterricht stattfindet. Dann wird jedes Wort, das in dem gegebenen Vers vorkommt, be24 Wesentliche Colloquia wurden von Eleanor Dickey (2012 u. 2015) herausgegeben. 25 Zu Dositheus s. Dickey (2016a u. 2016b). 26 Studien zu Servius’ Gebrauch der theoretischen Grammatik in seinem Vergilkommentar sind rar ; ein Beispiel ist Vallat (2009). 27 Zur Metrik in den Partitiones s. Glück (1967, S. 89–131).

Grammatik an der Versgrenze: Priscians Partitiones im spätantiken Unterricht

35

stimmt. Darauf aufbauend stellen sich weitere Fragen, also welche Eigenschaften (accidentia) dieses Wort hat. Es folgen Wortschatzübungen, die keinen konkreten Bezug mehr zu Vergils Dichtung aufweisen. In den Partitiones werden also diverse kleine Formen der theoretischen Grammatikschreibung angewendet: der Versfuß, der Vers aus der Metrik sowie die einzelnen Wortarten mit ihren Eigenschaften. Aus der Kombination entsteht mittels des Frage-Antwort-Schemas schließlich die (nicht mehr ganz so) kleine Form der praktischen, detaillierten Analyse eines einzelnen Verses, um all die kleineren, theoretischen Formen anwenden zu können. Was bei diesem Vorgehen vernachlässigt wird, ist der Sinnzusammenhang, da die Sätze meistens in den nächsten Vers hinein weiterlaufen. Dementsprechend bleibt sowohl die ästhetische Funktion der Dichtung als auch die Syntax auf der Strecke. Das ist insofern erstaunlich, als Priscian in seinen Institutiones umfassende Überlegungen zur lateinischen Syntax vorlegt, nach eigener Aussage basierend auf dem einen frühen griechischen Grammatiker, von dem etwas erhalten ist, Apollonius Dyskolus (2. Jh. n. Chr.).28 Syntax ist für die römischen Grammatiker Donat und Servius nur von marginalem Interesse, muss aber Schülern, die für Gericht und Verwaltung Latein sprechen und vor allem schreiben lernen sollten, umso wichtiger gewesen sein. Widmen wir uns nun einem konkreten Beispiel, in diesem Fall aus dem fünften Buch,29 in dessen erstem Vers das Verb tenebat vorkommt, das heißt: ›er hielt‹. Die Frage ist nun also, welche der zahlreichen theoretisch möglichen Eigenschaften auf genau diese konkrete Form zutreffen. tenebat quae pars orationis? uerbum. quid est uerbum? secundum Donatum pars orationis cum tempore et persona sine casu, secundum alios pars orationis cum tempore et modis sine casu actum uel passionem significans. non enim omnia uerba personas habent, ut infinita et impersonalia et gerundia; oportet autem definitiones generales esse.30 tenebat (›er hielt‹) ist welche Wortart? Ein Verb. Was ist ein Verb? Nach Donat ist das Verb eine Wortart mit Tempus und Person ohne Kasus, nach anderen eine Wortart mit Tempus und Modi ohne Kasus, das eine Handlung oder ein Erleiden bezeichnet. Denn nicht alle Verben haben Personen, so wie Infinitive und unpersönliche Ausdrücke und Gerundia; es ist aber notwendig, dass Definitionen generell sind.

Zunächst wird die Frage gestellt, um welche Wortart es sich bei tenebat handelt. Die Antwort: ein Verb. Dann wird gefragt: Was ist ein Verb? Eine grundsätzliche 28 Als Einführung zu Apollonius Dyskolus, Dickey (2007, S. 73–75). 29 Glück (1967, S. 138–140) analysiert cano (›ich singe‹) aus dem ersten Buch, indem er meist auf die korrespondierende Passage aus den Institutiones Grammaticae hinweist. Der hier besprochene Text findet sich bei Passalacqua (1999, S. 81–84). 30 Passalacqua (1999, S. 81–82).

36

Juliana Wekel

Definition der Wortarten steht meist nur beim ersten Vorkommen in den gesamten Partitiones, hier wird die Definition aber wiederholt.31 Das reflektiert den Status des Verbs als zentrale Wortart. Die Definition wird angegeben nach Donat, secundum Donatum. Das Verb laut Donat ist also eine Wortart mit Tempus und Person, aber ohne Kasus. Das ist in der Tat die Definition des Verbs in Donat (vgl. Holtz 1981, S. 591). Andere, sagt Priscian, definieren das Verb als Wortart mit Tempus und Modus ohne Kasus, das eine Handlung oder ein Erleiden bezeichnet. Das ist die Definition, die Priscian selbst zu bevorzugen scheint; sie ist den anderen beiden ähnlich, die er im Laufe der Partitiones verwendet, wobei er gegebenenfalls das Bezeichnen einer Handlung oder eines Erleidens als significatio, als Genus verbi, zusammenfasst. Damit sind Aktiv und Passiv gemeint. An dieser Stelle rechtfertigt Priscian sogar, warum diese zweite, andere Definition besser ist als die von Donat. Er macht es fest daran, dass bei Donat die Person zwingend für das Verb ist, merkt aber an, dass nicht alle Verbformen die Eigenschaft Person ausdrücken, z. B. Infinitive, unpersönliche Ausdrücke und Gerundia. In der Tat ist es z. B. bei unpersönlichen Ausdrücken wie licet (›es ist erlaubt‹) genau der Punkt, dass keine bestimmte Person ausgedrückt wird.32 Für Priscian müssen Definitionen generell (generales) sein. Deswegen bevorzugt er also die Variante, die Person nicht beinhaltet. Trotz seiner Abweichung von Donat bleibt Priscian im Folgenden bei Donats Meinung, da er nämlich als erste Eigenschaft des Verbs, als accidens, die Qualität notiert. Ferner Konjugation, Genus, Numerus, Figur, Tempus und eben Person. Qualität ist bei Donat unterteilt in Modus, eine durchaus wesentliche Eigenschaft des Verbs, und Form.33 Nicht allen Grammatikern hat diese Verschachtelung gefallen; einige, so auch Priscian in seinen Institutiones, schichten um und listen Modus und Form (forma oder, bei Priscian, species) als selbstständige Eigenschaften des Verbs.34 Glück spekuliert auf Grundlage der Erwähnungen und Übernahmen von Donat, dass in dem Unterricht, für den die Partitiones geschrieben wurden, gemäß des vorgeschriebenen Lehrplans Donats Ars Maior als Grammatiklehrbuch verwendet wurde.35 Donat war populär auch in Konstantinopel, sodass die Verwendung seiner Artes im Grammatikunterricht nicht 31 Glück (1967, S. 133f.) listet alle Wiederholungen auf. 32 Wenn Person in der Definition mit Modus ersetzt wird, wäre zu fragen, was Infinitive, unpersönliche Ausdrücke und Gerundia mit Modus zu tun haben. Während Infinitive in allen spätantiken Grammatiken als Modus klassifiziert werden, ist die Frage bei unpersönlichen Ausdrücken sowie Gerundia komplizierter, angefangen bereits bei Donat (wie ich in meiner Dissertation ausführlicher behandle). 33 Holtz (1981, S. 591). 34 GL 2: 369. Zu forma und species bei Priscian im Gegensatz zu Donat auch Glück (1967, S. 138). 35 Glück (1967, S. 158).

Grammatik an der Versgrenze: Priscians Partitiones im spätantiken Unterricht

37

unwahrscheinlich ist; jeder Grammatiker der lateinischen Sprache musste sich mit Donat auseinandersetzen, ob er wollte oder nicht. qualitas uerborum in quo est? in modis et in formis. cuius est modi? indicatiui, formae perfectae, coniugationis secundae (teneo, tenes), generis siue significationis actiuae, numeri singularis, figurae simplicis, temporis praeteriti imperfecti, personae tertiae.36 Worin liegt die Qualität der Verben? In den Modi und den Formen. Welchen Modus hat tenebat? Indikativ, die Form ist perfekt, die Konjugation die zweite (teneo, tenes), das Genus oder die Signifikation ist aktiv, der Numerus Singular, die Figur simplex, das Tempus Imperfekt, die Person die dritte.

Zurück zum Verb tenebat. Der Modus ist laut Priscians Angabe Indikativ, was wir heute immer noch so sehen würden. Die Form ist aus Donats Sicht perfekt, da es sich um eine Grundform handelt, nicht etwa um ein sozusagen erweitertes Verb, wie das Frequentativum cantare, das Priscian in der ersten Partitio von canere bildet.37 Dabei bezeichnet cantare einen etwas intensiveren Singvorgang als canere. Von der Konjugation her gehört tenebat zur zweiten, wir würden heute sagen, zur e-Konjugation, die bis heute an zweiter Stelle steht und dadurch die Kontinuitäten zu spätantiken Lateingrammatiken erkennen lässt. Priscian erklärt auch implizit, woran wir das erkennen: Die erste Person Präsens Aktiv ist teneo, die zweite Person tenes. Bis heute ist diese erste Person teneo das Erkennungszeichen der e-Konjugation. Das Genus verbi ist aktiv, Numerus Singular, beides wie heute. Die Figur ist simplex – das bezieht sich darauf, dass tenebat eine Grundform ist, kein Kompositum wie z. B. abstinere mit dem Präfix ab-. Das Tempus ist praeteritum imperfectum; wir würden heute Imperfekt sagen. Hier fällt auf, dass zunächst die Vergangenheit benannt wird, praeteritum, und erst dann das Imperfekt spezifiziert. Ein anderes lateinisches Tempus, das Perfekt, wäre entsprechend praeteritum perfectum. Schließlich ist tenebat die dritte Person, wie heute. Damit ist also die Verbform umfassend bestimmt, im Grunde genommen wie es noch heute praktiziert wird, aber nicht deckungsgleich in Terminologie und Klassifikation (eine heute typische Bestimmung würde lauten: 3. Person Singular Indikativ Imperfekt Aktiv). Danach kommt die Wortschatzübung, die hier im Wesentlichen bedeutet, dass Priscian seine Schüler sämtliche andere Formen von tenere bilden lässt.38 36 Passalacqua (1999, S. 82). 37 Passalacqua (1999, S. 56). 38 In der Formenlehre finden sich im Detail Unterschiede zur heute üblichen Formenbestimmung, z. B. ein vom Konjunktiv getrennter Optativ im Lateinischen und die für die Spätantike übliche Einteilung des Futur II als Konjunktiv Futur (beides beruhend darauf, dass der Konjunktiv im spätantiken Grammatikdiskurs der Modus ist, der nur in Nebensätzen vor-

38

Juliana Wekel

Es finden sich auch Spuren von Syntax, z. B. bei arma im ersten Vers, wenn es um den Kasus geht: arma, quae pars orationis? nomen. quale? appellatiuum. cuius est speciei? generalis. cuius generis? neutri. quare? quia omnia quae in plurali numero in a desinunt sine dubio neutri generis sunt. cur singulare eius in usu non est? quia multas et uarias res hoc nomen significat. arma enim dicuntur instrumenta non solum bellica sed etiam omnia ut Virgilius de agrestibus in primo georgicon »dicendum duris quae sint agrestibus arma«. … cuius est casus in hoc loco? accusatiui. unde hoc certum est? a structura, id est ordinatione et coniunctione sequentium; cano enim uerbum accusatiuo iungitur, ergo si quando inuenias talem ordinationem pone loco neutri masculinum uel femininum, quorum accusatiui non sunt similes nominatiuis, et manifestatur tibi casus ut in hoc uersu cano uirum dixit.39 Welche Wortart ist arma (›Waffen‹)? Ein Nomen. Welches? Ein Appellativum. Welche Form hat es? Eine generelle. Welches Genus? Neutrum. Warum? Weil alle, die im Plural auf –a enden, ohne Zweifel Neutrum sind. Warum wird der Singular nicht verwendet? Weil dieses Nomen viele verschiedene Dinge bezeichnet. Arma nennt man Geräte nicht nur für den Krieg, sondern alle, wie Vergil sagt über Geräte des Ackerbaus im ersten Buch der Georgica: ›Es muss auch gesagt werden, welche Waffen die harten Bauern haben‹ (dicendum duris quae sint agrestibus arma) … Welchen Kasus hat arma an dieser Stelle? Akkusativ. Woher wissen wir das? Von der Struktur, d. h. von der Anordnung und Verknüpfung folgender Wörter : cano (›ich singe‹) wird nämlich mit dem Akkusativ verbunden, wenn du also eine solche Anordnung vorfindest, ersetze das Neutrum durch ein Maskulin oder ein Feminin, deren Akkusative nicht die gleichen Endungen haben wie die Nominative, und der Kasus wird dir klar sein, wie in diesem Vers bei cano uirum (›ich besinge den Mann‹).

Die Form arma wird hier bestimmt als Akkusativ, und Priscian hakt nach: Woher wissen wir das? Die Antwort ist: von der Struktur, denn das Verb cano, von dem arma hier abhängt, wird mit dem Akkusativ verbunden – wir würden sagen, canere regiert ein direktes Objekt, also ein Objekt im Akkusativ. Hier finden wir eine frühe Form der Valenzregel. Die Frage nach dem Kasus stellt sich hier besonders, weil das Neutrum arma im Akkusativ und Nominativ die gleiche Form hat. Priscian empfiehlt, im Zweifelsfall ein maskulines oder feminines Substantiv einzusetzen; dessen Form ist dann eindeutig Akkusativ. Dieser Tipp funktioniert allerdings nur, wenn die Schüler die Syntax dieses Textfragments bereits durchschaut haben, also auch wissen, wie der Satz im nächsten Vers weitergeht, diese Verse vielleicht sogar auswendig kennen mussten. Die Kenntnis von Vergils Dichtung wird also vorausgesetzt, wie man auch an dem Verweis auf kommt). Dieses System mit dem separaten Optativ ist aus dem Griechischen übernommen, wo der Optativ auch morphologisch markiert ist. Die Auswirkungen dieser Übernahme auf die lateinische Taxonomie habe ich in meiner Dissertation näher betrachtet. 39 Passalacqua (1999, S. 49–50).

Grammatik an der Versgrenze: Priscians Partitiones im spätantiken Unterricht

39

andere semantische Verwendungen von arma in Vergils Dichtung, z. B. in den Georgica, sieht. Das untermauert den Status Vergils als zentralen Autor für den Grammatikunterricht. Dennoch wäre eine solche Ersetzungsaufgabe für Muttersprachler des Lateinischen einfacher als für jemanden, der noch dabei ist, den theoretisch möglichen Formenbestand zu erlernen. Das Genre der Partitiones ist vor allem in griechischer Sprache für griechischsprachige Schüler belegt, wohingegen Priscian unser einziger Beleg für das Lateinische ist, zumal für NichtMuttersprachler. Generell kommt dieses Nachfragen nach einer Erklärung öfter vor, sodass der Schüler nicht nur eine Bestimmung oder Ableitung parat haben sollte, sondern auch alle weiterführenden Regeln aus dem Grammatikunterricht. Die Partitiones dienen also verschiedenen Zwecken, der praktischen Anwendung der Metrik und der Wortarten, aber auch der Wiederholung und Festigung erlernter Regeln.

Fazit In der bisherigen Forschung wurde aufgrund des eher mündlichen Stils angenommen, dass diese Art von Grammatiktexten für die Schüler gedacht waren, die den Stoff selbst nachbearbeiten und gegebenenfalls in den Grammatiken nachschlagen sollten (Glück 1967, S. 32). Allerdings wird kein Schüler die gesamten Institutiones zu Hause gehabt haben, und auch bei der nicht ganz so umfangreichen Ars Maior von Donat ist es fraglich, wie viele Schüler ein eigenes Exemplar zur Nachbearbeitung besaßen. Codices waren aufwendig und teuer zu beschaffen. Priscians Partitiones könnten auch als Vorlage und Inspiration für Lehrer gedient haben, um diese Verse detailliert mit den Schülern zu besprechen und gegebenenfalls ihrerseits Fragen zu weiteren Vergilversen zu formulieren. Die vorgegebenen Fragen und Antworten wurden möglicherweise auch als Muster von den Schülern auswendig gelernt. Ein denkbarer nächster Schritt nach den Partitiones wären inhaltliche Erläuterungen (enarratio), die man z. B. Servius’ Kommentar entnehmen kann, in dem dann auch auf den Sinnzusammenhang und die Ästhetik des Werkes eingegangen werden kann. In den Partitiones lässt sich ein früher Versuch erkennen, die diversen kleinen Formen des spätantiken Grammatikunterrichts (Versfüße und Einzelverse, Wortarten und ihre Eigenschaften, das Frage-Antwort-Schema) zu einem umfassenden didaktischen Mittel des Fremdsprachenunterrichts zu kombinieren. Das Epos wird hier zugunsten eines didaktischen Ziels, nämlich der Erlernung und Festigung der Metrik und Wortartenlehre anhand konkreter Beispiele, auf wenige repräsentative Fragmente reduziert. Die Einzelverse werden nochmals heruntergebrochen auf ihre einzelnen Wörter, die dann allerdings detailliert im Frage-Antwort-Schema aufgefaltet werden. Die einzelnen Wörter stehen somit

40

Juliana Wekel

ihrerseits als Anwendungsbeispiele repräsentativ für Möglichkeiten der Einordnung von Einzelwörtern in die Taxonomie der Sprache, die zuvor theoretisch erlernt worden ist und deren generelle Gültigkeit und universelle Anwendbarkeit hier demonstriert werden soll.

Quellenverzeichnis Ax, Wolfram (2011): Quintilians Grammatik (›Inst. Orat.‹ 1,4–8). Text, Übersetzung und Kommentar. Berlin / Boston. Barwick, Karl (1922): Remmius Palaemon und die römische ars grammatica. Leipzig (Repr. Hildesheim 1967). Beck, Jan-Wilhelm (1996): Zur Zuverlässigkeit der bedeutendsten lateinischen Grammatik: Die ›Ars‹ des Aelius Donatus. Stuttgart. Becker, Peter / Clark, William (2001): Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices. Ann Arbor. Brown, Peter (1971): The World of Late Antiquity. London. Cameron, Alan (2011): The Last Pagans of Rome. Oxford. Cameron, Averil (2006): The Byzantines. Oxford. Dammer, Raphael (2001): Diomedes grammaticus. Trier. Dickey, Eleanor (2007): Ancient Greek Scholarship: A Guide to Finding, Reading, and Understanding Scholia, Commentaries, Lexica, and Grammatical Treatises, from Their Beginning to the Byzantine Period. Oxford. Dickey, Eleanor (2012): The Colloquia of the Hermeneumata Pseudodositheanea: Volume 1. Colloquia Monacensia-Einsidlensia, Leidense-Stephani, and Stephani. Cambridge. Dickey, Eleanor (2015): The Colloquia of the Hermeneumata Pseudodositheanea: Volume 2. Colloquium Harleianum, Colloquium Montepessulanum, Colloquium Celtis, and fragments. Cambridge. Dickey, Eleanor (2016a): Learning Latin the Ancient Way. Latin Textbooks from the Ancient World. Cambridge. Dickey, Eleanor (2016b): »The Authorship of the Greek Version of Dositheus’ Grammar and What It Tells Us About the Grammar’s Original Use«, in: Ferri, Rolando / Zago, Anna (Hg.): The Latin of the Grammarians: Reflections about Language in the Roman World, S. 205–235. GL = Grammatici Latini. 7 Bd. Ed. Heinrich Keil. Leizpig (1857–1880, Repr. Hildesheim 1961, 1981). Glück, Manfred (1967): Priscians Partitiones und ihre Stellung in der spätantiken Schule. Hildesheim. Haldon, John (2017): »Bureaucracies, Elites and Clans: The Case of Byzantium, c. 600–1100«, in: Crooks, Peter / Parsons, Timothy H. (Hg.): Empires and Bureaucracy in World History. Cambridge, S. 147–169. Heather, Peter (2014): The Restoration of Rome: Barbarian Popes and Imperial Pretenders. Oxford.

Grammatik an der Versgrenze: Priscians Partitiones im spätantiken Unterricht

41

Holtz, Louis (1981): Donat et la tradition de l’enseignement grammatical: Ptude sur l’Ars Donati et sa diffusion (IVe–IXe siHcle) et 8dition critique. Paris. Hovdhaugen, Even (1982): Foundations of Western Linguistics: From the beginning to the end of the first millennium A.D. Oslo. Kaldellis, Anthony (2015): The Byzantine Republic. People and Power in New Rome. Cambridge. Kaster, Robert A. (1988): Guardians of Language: The grammarian and society in late antiquity. Berkeley / Los Angeles. Law, Vivien (2003): The History of Linguistics in Europe. From Plato to 1600. Cambridge. Passalacqua, Marina (1999): Prisciani Caesariensis Opuscula II. Institutio de nomine et pronomine et uerbo; Partitiones duodecim uersuum Aeneidos principalium. Rom. Rousseau, Philip (Hg.) (2009): A Companion to Late Antiquity. Chichester. Uhl, Anne (1998): Servius als Sprachlehrer. Zur Sprachrichtigkeit in der exegetischen Praxis des spätantiken Grammatikerunterrichts. Göttingen. Vallat, Daniel (2009): »Le commentaire de T. Claude Donat au chant 1 de l’Pn8ide, sa place dans les d8bats virgiliens et ses relations avec Servius«, in: Eruditio Antiqua 1, S. 155–184. Vanio, Raija (2000): »Use and Function of Grammatical Examples in Roman Grammarians«, in: Mnemosyne 53, S. 30–48. Zedelmaier, Helmut (2015): Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung. Tübingen. Zetzel, James E. G. (2018): Critics, Compilers, and Commentators. An Introdction to Roman Philology, 200 BCE – 800 CE. Oxford.

Sandra V. S. Dobritz

Wie konstruiert man kleine Formen? – Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

Literatur spiegelt eine Weltwirklichkeit im sprachlichen Modell. Diese Wirklichkeit wird innerhalb eines literarischen Werkes übersichtlich in Bezugsfelder gestellt, handhabbar und für Beziehungsstiftungen des Lesers geöffnet. Es kann sich dabei um eine Weltwirklichkeit handeln, die mit der des Lesers ähnlich ist, oder um eine, die von ihr in großen Teilen abweicht. In beiden Fällen erfährt der Leser durch die Auseinandersetzung mit dem Werk, eine Klärung seiner eigenen Situation und wird frei für neue Ansichten. Ebenso kann er Vorstellungen von anderen Lebensformen kennenlernen, was bis zur ›Antizipation eines besseren Lebens‹ führen kann. Aus allen Möglichkeiten ergeben sich eine Weite des Denkens, eine kritische Haltung gegenüber manipulativ verengten Vorstellungen, eine Distanzierung gegenüber der eigenen Person und dem eigenen Denken und eine Freisetzung kreativer Impulse. […] Unter allen genannten Aspekten soll somit der lateinische Lektüreunterricht dem Schüler inhaltliche Kenntnisse, formale und sachliche Fähigkeiten und seelische Eindrücke vermitteln, die für seine Orientierung im Leben und für sein persönliches Entfaltungsvermögen zweckmäßig sind. (Glücklich 2008, S. 142f.)

Obwohl diese Anforderungen, aber auch Potenziale des Lektüreunterrichts von Hans-Joachim Glücklich 1978 in seiner Didaktik und Methodik des Lateinunterrichts postuliert worden sind, können sie doch ebenso für den avisierten Lateinunterricht im 18. Jahrhundert gelten, den Friedrich Gedike mit seinem Lateinischem Lesebuch für die ersten Anfänger zu reformieren versuchte. Der Berliner Philologe und Schultheoretiker Friedrich Gedike (1754–1803) war einer der bedeutendsten Schulpraktiker der Spätaufklärung. Damals Oberkonsistorialrat und Mitglied im Oberschulkollegium findet er heute meist nur noch im Zusammenhang mit seiner redaktionellen Tätigkeit für die »Berlinische Monatsschrift«1 Erwähnung (vgl. Martus 2015, S. 11) und sein übriges publizistisches, schulpraktisches und administratives Wirken ist nahezu vergessen. 1 In den Jahren 1783 bis 1796 erschien die Berlinische Monatsschrift als Sprachrohr der Berliner Mittwochsgesellschaft. Gemeinsam mit dem Aufklärer Johann Erich Biester gab Gedike diese heraus, bis er 1791 von der Redaktion zurücktrat. Bekannt geworden ist die Zeitschrift unter anderem als bevorzugte Zeitschrift Immanuel Kants, der in dieser 1784 seinen berühmten Aufsatz »Was ist Aufklärung?« veröffentlichte.

44

Sandra V. S. Dobritz

Gedike begann seine Pädagogenlaufbahn 1776 als Subrektor am FriedrichWerderschen Gymnasium in Berlin. Im Jahr 1779 – gerade 25jährig – übernahm er das Direktorat, welches er dann bis 1793 innehatte (vgl. Fritsch 2005, S. 63ff.). Durch vielfältige Reformen gelang es ihm, das Niveau der lange Zeit vernachlässigten Schule deutlich zu heben: In Auflehnung gegen den starren Formalismus des Althumanismus versuchte Gedike neue Wege in der Pädagogik zu beschreiten, wobei er Leitbilder und Strömungen der Aufklärung, des Philanthropinismus und des Neuhumanismus in seiner Didaktik zu vereinen suchte. Neben der Einführung des Fachunterrichts gab er beispielsweise die Klassenhierarchisierung nach dem Vorbild der Lateinschulen zugunsten einer Ordnung nach Klassenstufen auf (vgl. Müller 1881, S. 63f.). In seiner Pädagogik des altsprachlichen Unterrichts spielt besonders der Einsatz kleiner Formen eine große Rolle. Gedike war mit Leib und Seele Lehrer und Gymnasialdirektor und so verwundert es nicht, dass er zum einen die Diskrepanz zwischen schulischer und gesellschaftlicher Anforderung wahrnahm und zum anderen reflektiert über den Schulunterricht als Unternehmen nachdachte, wobei er »Produktionsbedingungen, -prozess und -mittel« (Fritsch 2005, S. 69) kritisch hinterfragte. Die neuen gesellschaftlichen Anforderungen und damit einhergehend die Aufgabe der Schule bezüglich der Vorbereitung auf diese beschäftigt Friedrich Gedike und so schreibt er : »alles kommt auf die Frage an: Was ist der Zweck bei der Erlernung der lateinischen Sprache?« (Gedike 1779, S. 173f.). Gedike markiert den Übergang zwischen Philanthropinismus und Neuhumanismus (vgl. Fritsch 2005, S. 63 und Scholtz 1965, S. 131), sucht eine Neuausrichtung des altsprachlichen Unterrichts, wobei er im Besonderen mit seiner Lesebuchmethode einen Neuansatz im Elementarunterricht verwirklichen will. Er fordert eine Abschaffung der »Folterbank für den jugendlichen Geist« (Horn 1808, S. 73), indem er die Reformimpulse seiner Zeit aufnimmt und in neuen Gebrauchsroutinen etabliert. Bestimmend für die Gebrauchsroutinen ist das Lehren und Lernen in kleinen Formen. Diese Formen sind Resultat von Formierungsprozessen, welche durch die praktische Anforderung des Unterrichts und dessen konkrete Anwendungsfelder sowie didaktischen Ansprüche geformt wurden. Der vorliegende Aufsatz soll mithilfe einer Analyse der historischen Erzählungen (Gedike 1783, IV) der Frage nachgehen, ob die Lesebuchmethode und vor allem der Einsatz kleiner literarischer Formen zur Wissenspopularisierung in Form von »little tools of knowledge«2 beitragen können, wobei die Ansprüche der Reformpädagogik hinsichtlich der Förderung der Moral, der materiellen Kenntnisse aber auch der historischen Bildung umgesetzt werden.

2 Siehe die Einleitung in diesem Band.

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

45

Bevor aber auf die Form, Konstruktion und Funktion kleiner Formen im lateinischen Lesebuch eingegangen werden kann und wie diese im Unterricht eingesetzt werden sollen, müssen sowohl die historischen Umstände wie auch die pädagogischen Wegbereiter in den Blick genommen werden, deren Forderungen an die Erziehung durch Gedikes Lesebuch in der Praxis umgesetzt werden sollten. Ebenso sollen Gedikes methodische Ideen und Vorstellungen zum Lateinunterricht vorgestellt werden.

I

Gedike zwischen aufgeklärtem Philanthropinismus und Neuhumanismus

Das Überdenken und Verwerfen alter pädagogischer Konzepte fand seinen Ursprung nicht nur in den veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern vor allem in der Entwicklung der Aufklärung: »[Die] Aufklärung ist Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte« (Troeltsch 2016, S. IV 338) und darf nicht nur als eine überwiegend oder gar rein wissenschaftliche Bewegung verstanden werden. Es ging dabei vielmehr um eine Gesamtumwälzung der Kultur auf allen Lebensgebieten, um die Durchsetzung einer neuen Form der Weltdeutung und der praktischen Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Verhältnissen in Kirche und Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Kennzeichnend für diese Zeit war die Ausrichtung auf das Allgemeinmenschliche, Natürliche und Vernünftige und davon abgeleitet eine Bewegung, die das Maß in die Einsicht durch Erziehung und Bildung vergrößern wollte (vgl. Rommel 1966, S. 9). Die Vorbedingungen für die Aufnahme, Entwicklung und Verwertung neuer pädagogischer Gedanken gingen bereits Ende des 17. Jahrhunderts auf den englischen Philosophen John Locke (1632–1704) und etwa 70 Jahre später auf Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zurück, der Lockes Gedanken umfassender und zugleich entschiedener entwickelte. Es kann nicht genug hervorgehoben werden, dass die Theorie- und Reflexionsgeschichte dieser ersten pädagogischen Bewegung aus einer intensiven Auseinandersetzung mit den klassischen Texten dieser zwei resultierte. Locke gilt als Vater der Aufklärung in England und war dort ihr bedeutendster Wegbereiter sowohl auf philosophischem, religiösem und staatsrechtlichem als auch auf pädagogischem Gebiet (vgl. Rhyn 2010, S. 60). Seine 1693 veröffentlichten »Gedanken über die Erziehung« fußen auf Bacons Postulat, dass alle Erkenntnisse auf die Erfahrung zurückzuführen seien. Gemäß Locke gleicht die menschliche Seele somit einer tabula rasa, sodass die Erziehung alles zu machen und zu bewirken vermag, was sie möchte (vgl. Weimer / Jacobi 1992, S. 100).

46

Sandra V. S. Dobritz

(Alle Vorstellungen kommen von der sinnlichen und Selbst-Wahrnehmung.) Wir wollen also annehmen, die Seele sei, wie man sagt, ein weißes, unbeschriebenes Blatt Papier, ohne irgendwelche Vorstellungen; wie wird sie nun damit versorgt? […] Ich antworte darauf mit einem Worte: Von der Erfahrung. (Locke 1872, Kap. 1 § 2)

Mit seiner Forderung nach einer natürlich-vernünftigen Erziehungsweise ist Locke der unmittelbare Vorläufer des Genfers Jean-Jacques Rousseau. Dieser hat 1762 mit seinem Erziehungsroman Pmile Eindruck auf seine Zeitgenossen gemacht wie kein anderer pädagogischer Schriftsteller vor und nach ihm. Nach Rousseau ist der Mensch von Natur aus gut, welchen jedoch die Kultur verdorben hat, sodass folgerichtig die Losung lautet: Zurück zur Natur (vgl. Weimer / Jacobi 1992, S. 104). Im Gegensatz zu Locke verwirft er das Räsonieren, denn ein unvernünftiges Kind könne man nicht durch Vernünfteln besser machen. Pmile versteht sich als eine Problemskizze für eine Erziehung, die unabhängig von Stand und späterer Tätigkeit vollzogen wird, wobei aber auf eine Allmacht der Erziehung verzichtet wird (vgl. ebd.). Locke und Rousseau legten die Grundsteine einer aufgeklärten Erziehung aller Menschen, die die Herausbildung von Vernunft, Freiheit und Tugend fordert.3 Die Vernunft ist dabei Mittel und Instanz gleichermaßen. Alle Wissenschaften wurden auf den Menschen und seinen Zweck hin ausgerichtet und das Denken ist ganz auf das praktische Handeln fokussiert (vgl. Rommel 1966, S. 10). Die Gedanken der Aufklärung fanden in Deutschland vor allem im Bereich der Pädagogik Anhänger, die unter dem Namen ›Philanthropinismus‹ bekannt wurde. Die Philanthropinisten wollten eine vernünftig-natürliche Erziehung unter Berücksichtigung der Altersstufenspezifik und der Individualität des Kindes (vgl. Weiner / Jacobi 1992, S. 109). Gründer der Bewegung war Johann Bernhard Basedow (1724–1790)4. Er legte seinen Fokus auf die Anschaulichkeit des Unterrichts. Bei diesem neuen Unterrichtsverfahren verwertete er Gedanken Comenius’ und Lockes, indem er die Realien zum Unterrichtsgegenstand machte. Ebenso fanden spielerische Elemente Einzug in den Unterricht, um der Forderung nach Lebensnähe und Kindgemäßheit gerecht zu werden. Ziel war es, den Menschen möglichst schnell zu einem tüchtigen, praktischen, fleißigen und aufgeklärten Bürger zu erziehen (vgl. Reble 1992, S. 161). Wie in allen pädago3 Es sei hier darauf verwiesen, dass auf Kants Haltung als Vordenker der Aufklärung nicht eingegangen werden kann. Zur weiteren Lektüre verweise ich auf Die Entdeckung der Unmündigkeit von Martus 2005, S. 11–19. 4 1763 legte er einen Plan einer Musterschule vor, in der selbstständiges Denken, Menschenfreundschaft und Toleranz als Leitwerte einer aufgeklärten Gesellschaft vermittelt werden sollten. Auch wenn die 1774 in Dessau gegründete Einrichtung in den Anfangsjahren sehr erfolgreich war, wurde sie bereits 1793 wegen finanzieller und organisatorischer Probleme sowie Streitigkeiten unter den Lehrkräften geschlossen. Basedow hatte bereits 1778 die Leitung aufgegeben.

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

47

gischen Bestrebungen galt es auch hier, dass die Methode mit dem Zweck der Erziehung übereinstimmen müsse. »Darum gilt es nicht zu viel zu lernen, sondern mit Lust!« (Weiner / Jacobi 1992, S. 112) Zentral waren lebenspraktisch orientierte und auf den Nutzen hin ausgerichtete Inhalte, die lückenlos vom Leichteren zum Schwereren fortschreiten: Dies so angenehm wie möglich, wenn auch in strenger Ordnung und körperlicher Ertüchtigung (vgl. Reble 1992, S. 162). Viele Elemente der philanthropinistischen Erziehung sind stark von Rousseau geprägt, dessen Ziel es ebenso war die Vernunft auszubilden, wie den Zögling zum selbstständigen Denken zu erziehen. Während im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts der emporwachsende Volksbildungsgedanke der Aufklärung stärker wird, wird diese durch eine zweite Strömung vor allem in Literatur und Kunst überlagert. Bestand bisher der Fokus der Aufklärung in der Ausbildung des Verstandesdenkens, liegt die höchste Tugend nun zunächst in ungebrochener Lebenskraft und Lebensfülle (vgl. Reble 1992, S. 174). Die Sturm-und-Drang-Zeit schärft den Blick für die Individualität und den Ruf nach Genie und Originalität. Wissen und Vernunft sollen nicht nur rein gedanklich erkannt, sondern mit ganzer Seele ergriffen werden. Die Unruhe der Zeit bedingt durch die Französische Revolution und die Gefühle, die seit der Aufklärung im Wertekonflikt zwischen Vernunft und Gefühl verhandelt werden, sucht einen harmonischen Ausgleich der Gegensätze. Mit der Klassik kommen Gefühl, Stimmung, besonnene Tat und der Vernunftgedanke, und damit das rationale und irrationale Moment, in ein Gleichgewicht (vgl. ebd., S. 177ff.). In Anlehnung an die Antike sucht die Klassik nach Vollkommenheit und Harmonie, nach einer Übereinstimmung von Form und Inhalt. Dieser Gedanke überträgt sich auch auf das Erziehungsideal. Im Gegensatz zu der von der Aufklärung bevorzugten Verstandesbildung strebt die Pädagogik nach der Entfaltung aller Kräfte, auch des Gemüts und der Phantasie. Bildung ist dabei formaler Natur. Es geht um die wirklich individuelle Formung, nicht Füllung oder Nutzbarmachung der Seele (vgl. Rommel 1966, S. 12f.). Den Gedanken des Werts der Individualität eines jeden Einzelnen, aber auch der Humanität verfolgt die Bildungstendenz des Neuhumanismus. Dieser ist historischer eingestellt als der Humanismus, denkt aber weniger an Nachahmung als an Weckung der eigenen Kräfte durch den Umgang mit der Antike. Verminderte die Aufklärung die Bedeutung der Antike zugunsten des Fortschrittgedankens, der auf moderner Wissenschaft, Sprache und Literatur fußte, so wurde besonders der Geist des Griechentums wieder in den Vordergrund gerückt, ohne dabei rein philologisch, sondern allgemein pädagogisch wirken zu wollen (vgl. ebd., S. 12). Der Neuhumanismus reicht bis in die 1730er Jahre zurück und wurde vor allem von Johannes Matthias Gesner (1691–1761) geprägt. Zunächst darauf ausgerichtet, das Studium der alten Sprachen an Universitäten und Latein-

48

Sandra V. S. Dobritz

schulen zu modernisieren, kritisierte Gesner den Verbalismus und Formalismus seiner Zeit. Doch entgegen den Bemühungen der Philanthropinisten, die alten Sprachen zugunsten der modernen Fremdsprachen, insbesondere des Französischen, zu verdrängen, versuchte er den Formalismus aus dem Geist der alten Sprachen heraus zu überwinden und richtete seinen Unterricht weg vom Formalen hin zum Gegenständlichen aus. Neuer Mittelpunkt des Unterrichts wurde die Lektüre mit anschließender ausführlicher inhaltlicher Interpretation (vgl. Weiner / Jacobi 1992, S. 128). Gesner sah in den Schriftstellern des Altertums, besonders der griechischen, »die gro¨ ßten Leute und edelsten Seelen, die jemals gewesen«; wer sie liest, entnimmt aus ihren Werken nicht nur eine Fu¨ lle gelehrten Wissens, sondern »beko¨ mmt auch geu¨ bte Sinnen, das Wahre von dem Falschen, das Scho¨ ne von dem Unfo¨ rmlichen zu unterscheiden«, »eine Fertigkeit, anderer Gedanken zu fassen und die seinigen geschickt zu sagen, sowie eine Menge von guten Maximen die den Verstand und Willen bessern«. (vgl. Weiner / Jacobi 1992, S. 128).

Ziel war dabei nicht die imitatio der Sprache durch grammatische und rhetorische Phrasendrescherei, sondern die Herausbildung der Urteilskraft, des Geschmacks und des sittlichen Charakters, der sich aus dem antiken Geist, der klassischen Welt ableiten lasse. Mit der Konzentration auf die Lektüre innerhalb des Unterrichts führte Gesner auch das kursorische anstelle des statarischen Lesens ein. Gedike, der sowohl dem philanthropinistischen Geist geneigt war als auch schon für die Gedanken des Neuhumanismus eintrat, drang auf eine gute Pflege der alten Sprachen und richtete den altsprachlichen Unterricht in Preußen am Friedrich-Werderschen-Gymnasium und später am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster neu aus.

II

Das Lesebuch als Medium im Lateinunterricht des 18. Jahrhunderts

Gedike war also nicht der erste, der das Lesen zur didaktischen Maxime erhob. In der Tradition Gesners5 setzte auch Gedike ganz auf die Lektüre und damit auf das Lesebuch als vorherrschendes Medium in seinem Unterricht. Mit den unterschiedlichen pädagogischen Reformversuchen änderte sich, wie bereits gesagt, 5 Hier sei vor allem die weithin verwendete, 1731 erstmals veröffentlichte und bis zum Jahrhundertende mehrmals nachgedruckte Chrestomathia Graeca von Gesner als den »Anfänger des neuhumanistischen Schulwesens in Deutschland« (Lattmann 1896, S. 206) zu nennen. Dabei handelt es sich um eine Zusammenstellung von Texten oder Textauszügen zu didaktischen Zwecken. Er war vor allem an einer Mischung klassischer und nichtklassischer Autoren interessiert.

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

49

nicht nur Ziel der Bildung, sondern auch Zweck und Methode. Gedike setzte wie Gesner auf eine induktive Methode mittels literarischer Kleinformen, um die wichtigsten grammatischen Formen und Regeln zu erlernen, wobei die sprachliche und inhaltliche Auseinandersetzung mit den sittlich besten Schriftstellern gelingen sollte (vgl. Weiner / Jacobi 1992, S. 128). Doch um den hohen Ansprüchen, die an Lektüre im Unterricht gestellt werden, gerecht zu werden, muss sie sich in passender Form darbieten. Zum einen als Materialsammlung und zum anderen als Arbeitsgrundlage muss ein Lesebuch die wesentlichen Kriterien für die Arbeit in der Schule erfüllen. Der Begriff ›Lesebuch‹ hat im 18. Jahrhundert eine sehr allgemeine Bedeutung. Darunter zählen alle Schriften, die keine Lehrbücher und Nachschlagewerke darstellen, sondern zum Lesen und Vorlesen bestimmt sind. Neben der Belehrung dienten sie auch dem Zweck der Unterhaltung. Gedike selbst äußerte sich in seiner Abhandlung Gedanken über Schulbücher und Kinderschriften (1787) nicht nur über die kaum noch überschaubare Masse an Schulbüchern, sondern auch über den Mangel an wirklich brauchbaren und zweckmäßigen (vgl. Gedike 1787, S. 423). Als den grundsätzlichen Fehler bezeichnet er die nicht immer saubere Trennung von Lesebüchern und Lehrbüchern seitens der Schulbuchverfasser. »Das Lesebuch sei für die Lesefertigkeit, ein Lehrbuch hingegen als ein Leitfaden für den Unterricht einzurichten. Das Lesebuch für den Anfänger habe faßlich, angenehm, verständlich, anlockend zu sein und dabei Wörter aus dem Ideenkreis des Kindes zu übernehmen« (vgl. Rommel 1966, S. 192; vgl. Gedike 1787, S. 430f.). Die Konzeption des Lesebuchs als pädagogisches Medium geht exemplarisch auf Friedrich Eberhard von Rochows (1734–1805) Kinderfreund (1776) zurück, das versucht »die große Lücke zwischen Fibel und Bibel auszufüllen« (Rochow 1776, S. 4). Der Archetypus des aufklärerischen Lesebuchs knüpft an den ersten Leseunterricht an, indem es das Alphabet und Leselernstücke darbietet, will aber auch durch die Symbiose aus moralischer und praktischer Unterweisung der Kinder mehr sein als ein Leselernbuch. Ganz dem Philanthropinismus verschrieben befreit es den Anfangsunterricht von biblischen Stoffen und konfessionellen Lehren, um an deren Stelle Morallehre zu setzen, jedoch ohne abstrakte Lehrsätze und Regeln, sondern vielmehr durch anschauliche Beispielgeschichten und kurze moralische Erzählungen (vgl. Rommel 1966, S. 229). Um den Ansprüchen der Leichtigkeit und des Abwechslungsreichtums gerecht zu werden, finden sich zuweilen auch Lieder, Rätsel und Sprichwörter. Laut Rochow (1776, S. 5) gehöre dieses Buch »in die Hände der Kinder« und ist daher im Sinne der Verständlichkeit in einem leichten Erzählungs- und Gesprächston geschrieben. Obwohl es sich bei Rochows Kinderfreund um ein Leselernbuch für den Einsatz im Elementarunterricht handelt und Gedike für sein Lesebuch für die ersten Anfänger die Schüler am Gymnasium in den Blick nahm, finden sich

50

Sandra V. S. Dobritz

dennoch drei gemeinsame Aspekte hinsichtlich der Konzeption. Mit dem Ziel der Erlernung der lateinischen Sprache scheint der Inhalt klar vorgegeben. Kurze lateinische Texte, die einen einfachen Einstieg möglich machen, aber dennoch praktisch und brauchbar sind. Es braucht wie auch im Elementarunterricht eine Reduktion auf das Einfache und Wesentliche, ohne dass dabei Sach- oder Fachwissen eingebüßt wird (vgl. Rommel 1966, S. 236). Die Inhalte, die aufgenommen werden, sollen außerdem so gestaltet sein, dass sie gemäß dem Philanthropinismus der Unterhaltung dienen und die Aufmerksamkeit der Zöglinge reizen, zum anderen Verstand und Vernunft bilden. Um dies zu erreichen, sollen die Inhalte derart gestaltet sein, dass sie die Moral darlegen, ohne festgesetzt worden zu sein, d. h. dass die Schule im Sinne eines Selbstständig-Tätigseins diese aus den Geschichten ableiten können (vgl. Rommel 1966, S. 237). Gedike gebrauchte hier den Begriff der »individualisierten Moral« (Gedike 1782, S. IV). Die Form eines Schullesebuches zeichne sich durch Klarheit und Deutlichkeit sowie Kürze und Anschaulichkeit aus. Schließlich müsse es eine klare Berücksichtigung des Alters der Schüler geben, denn nur so könne ein Verständnis des Dargebotenen erzielt werden. Die Themen sollen der Lebenswelt der Kinder entnommen werden, ohne kindlich zu sein. Schließlich betont Gedike, dass es ebenso mit dem Fortschreiten der Geistesentwicklung eine Progression der Inhalte geben müsse (vgl. Rommel 1966, S. 237). Das Lesebuch bietet den Rahmen für die praxis-, d. h. unterrichtstaugliche Präsentation kleiner oder kleingemachter literarischer Formen, indem das vermeintlich Unzusammenhängende mit seiner inhaltlichen, sprachlichen und stilistischen Buntheit mit Blick auf die Zielgruppe didaktische Kohärenz hergestellt wird. In dieser Form bekommt das vielfältige und zum Teil kaum einflussreiche Kleine für den Lateinunterricht im 18. Jahrhundert eine zentrale epistemologische und praxeologische Bedeutung. Zu den allgemeinen Anforderungen eines Lesebuches kommen jedoch die spezifischen für den Lateinunterricht.

III

Gedikes Lateinisches Lesebuch für die ersten Anfänger

Die Neuorientierung des Lateinunterrichts konnte wie bereits dargestellt nicht nur mit Hilfe neuer Anforderung umgesetzt werden, sondern auch mit einer adäquaten Methode. Wie sehr das Erlernen einer Sprache und Methode zusammenhängen, legt Gedike 1779 in seinem Aufsatz Aristoteles und Basedow oder Fragmente über Erziehung und Schulwesen bei den Alten und Neuen dar. Jeder, der Latein lernt, will gern auch soweit kommen, daß er bei vorkommenden Gelegenheiten in dieser Sprache schreiben kann. Daß so sehr wenige es auch nur mittelmäßig lernen – davon liegt wieder der Grund in den mancherlei verkehrten

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

51

Methoden. Dahin gehört zuförderst, daß man junge Leute zu früh zu lateinischen Aufsätzen anhält, noch eh’ sie einen hinlänglichen Vorrath von Ausdrükken und eine gewisse Leichtigkeit im Gebrauch derselben besitzen. Mein Lehrling soll, eh er zu schreiben anfängt, schon sehr viel gelesen haben, damit er nicht die Ausdrükke aus dem Lexikon ängstlich zusammenstoppeln darf, sondern damit sie sich ihm von selbst ungezwungen darbieten. (Gedike 1779, S. 197)

Die Notwendigkeit der Beherrschung der lateinischen Schriftsprache und damit eine geeignete Methode, um dies zu erreichen, blieb mit der Einführung des Abiturs 1788 bestehen, welche in Form eines freien lateinischen Aufsatzes und einer lateinisch-deutschen Übersetzung als auch durch Beherrschen des freien Sprechens in einer mündlichen Prüfung bewiesen werden musste. So steht im Lehrplan »Unterrichts-Verfassung der Gymnasien und Stadtschulen« von 1816: »das Lateinische muss er – der Schüler – rein und fehlerlos, ohne Germanismen schreiben und über angemessene Gegenstände einfach und grammatisch richtig sich auch mündlich ausdrücken lernen« (Schweim 1966, LP §5c, S. 66 und Paulsen 1965, S. II 293). Doch wie erreicht man diese bildungspolitische Forderung in der schulischen Praxis? Gedike entwickelte Schulbücher für den Anfangsunterricht in den Fächern Latein, Griechisch, Englisch und Französisch. Er veröffentlichte das Griechische Lesebuch für die Anfänger im Jahr 1781 als erstes in der oben genannten Reihe. Dieses Lesebuch hat – wie auch die anderen – mit seinen insgesamt 12 Auflagen in den Lektüreplänen der damaligen Berliner Gymnasien und der gesamten deutschen Schullandschaft deutliche Spuren hinterlassen. So bemerkt Franz Horn in seiner Gedike-Biographie aus dem Jahr 1808: Gedikes griechisches, lateinisches und französisches Lesebuch ist gewiß, wenigstens einmal, in den Händen jedes deutschen Lehrers und jedes deutschen Schülers gewesen, und man kann berechnen, daß […] kein Schulbuch eine so große Celebrita¨ t gewonnen hat, als den seinigen Theil wurde, wenigstens nicht in dem ganzen achtzehnten Jahrhundert. (Horn 1808, S. 71f.)

Das lateinische Lesebuch wurde darüber hinaus sogar in Dänemark und Ungarn verwendet – wie Gedike selbst im Vorwort zur 12. Auflage nicht ganz ohne Stolz vermerkt (vgl. Gedike 1803, S. VII) – und erreichte bis 1891 insgesamt 36 Auflagen. Gedike stellte sich der Herausforderung, wie man Latein »am leichtesten, angenehmsten, kürzesten« (Gedike 1779, S. 167) lernen könne. Wie bereits festgehalten ist jede didaktische oder auch nicht-didaktische Methode durch ihren Zweck bestimmt. Gedike gibt interessante Einblicke in die Praxeologie seiner Lehrbücher. Er geht beim Erlernen einer Sprache von einem Stufenprinzip aus, welches wie die Stufen einer Treppe aufeinander aufbauen. Dieser Weg führt vom Sprechen, über das Bücherverstehen zum Schreiben, bis schließlich die

52

Sandra V. S. Dobritz

kritische Kenntnis und das Hinterfragen erreicht werden kann. Beim Lateinischen allerdings fällt diese erste Stufe des Sprechens weg und so steht von Beginn des Lateinunterrichts an die Lektüre im Vordergrund. Und der Zwek bei Erlernung einer Sprache? […] Entweder lern’ ich eine Sprache, um sie zu sprechen, oder um die Schriften darin zu verstehen, oder um selbst darin zu schreiben, oder endlich um eine kritische Kenntnis davon zu erlangen. […] Die vier genannten Zwekke bei der Spracherlernung – Sprechen, Bücherverstehen, Schreiben, kritische Kenntnis – bauen eine aus vier zusammenhängenden Stuffen bestehende Methodentreppe.– Bei einer rohen ungebildeten Sprache, die keinen besondern Bücherausdruk hat, fallen die beiden mittelsten Stuffen weg, sie existiren entweder gar nicht, oder sind mit der ersten Stuffe einerlei. (Gedike 1779, S. 168f.)

Ebenso wie die Gestaltung der Schule und des Unterrichts soll auch das Lehrbuch zweckmäßig und gemeinnützig strukturiert sein. Das Konzept seines Lesebuches soll der bisher noch vorherrschenden Methode der Sprachvermittlung klar entgegenstehen und zusammenhängende Texte bieten, die nicht durch das Primat der Grammatik verzerrt werden. Gedikes lateinisches Lesebuch soll nicht zur Übergangs- bzw. Anfangslektüre fortgeschrittener Schüler dienen, sondern bereits im Elementarunterricht Verwendung finden. Wünsch’ ich mir zum Lehrling kein 6 oder 8jähriges Kind, das noch leer an Begriffen, und unfähig ist, seine Gedanken zusammenzuhalten und auf ein Ziel hinzuheften, sondern einen an Seel’ und Leib schon etwas herangewachsenen jungen Menschen von wenigstens 14 bis 16 Jahren, der durch vorhergehenden Unterricht schon eine Menge historischer Kenntnisse eingesammlet hat, und bei dem sich die verschiedenen Seelenkräfte schon allmählich entwikkelt haben, so daß er im Stande ist, ein gemeinnütziges Buch in seiner Muttersprache mit Verstand und Nutzen zu lesen. (Gedike 1779, S. 182f.)

Ohne zuvor die Regeln der Grammatik behandelt zu haben, will Gedike gemäß den philanthropinistischen Ansätzen sodann mit dem Lesen der lateinischen Textstücke beginnen. Denn ohne einen Einblick in die Sprache zu haben, sei es widersinnig zuerst grammatische Regeln ebendieser zu lernen (vgl. Gedike 1779, S. 182f.). An anderer Stelle resümiert Gedike über jeden Sprachunterricht: »Lange hat man den Unterricht höchst widersinnig und verkehrt mit der Grammatik angefangen.« (Gedike 1789, S. I 442) Es ist bemerkenswert, dass Gedike nachdrücklich auf die besondere Schwierigkeit verweist, diese brauchbaren, d. h. handhabbaren Texte in reduzierter bzw. verdichteter Form ausfindig zu machen. Anfangs habe er versucht, eine »Chrestomathie für die ersten Anfänger« aus klassischen Autoren zusammenzustellen, also lediglich eine Sammlung von Texten, die für den didaktischen Gebrauch genutzt werden können. Dieses Unternehmen war jedoch nicht von Erfolg gekrönt. In seinem Praktische[n] Beitrag zur Methodik des öffentlichen

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

53

Unterrichts legte er die Schwierigkeiten dar, ein geeignetes Schulbuch für den lateinischen Elementarunterricht zu finden: Ich zweifelte gar nicht, in den klassischen Autoren und in den schon vorhandenen Chrestomathien der Art hinreichende Zahl kleiner, leichter, für das kindische Alter interessanter, und keine vielen Kenntnisse erfordernder Geschichten und Beschreibungen zusammen zu finden, um ein kleines und wohlfeiles Lesebuch daraus zusammenzusetzen. Aber ich suchte und suchte, und was ich nach allem Suchen und Blättern endlich gefunden, war so äußerst wenig, daß ich diesen Plan meines lateinischen Lesebuches aufgab. (Gedike 1789, S. I 123)

Ebenso verwirft er den Gedanken, auf ein schon publiziertes Buch in seinem Unterricht zurückzugreifen, da diese weder den Bedürfnissen der ersten Anfänger noch der Vermittlung von Sach- und Fachwissen genügen würden (vgl. Gedike 1789, S. I 124f.). Er kommt daher zu dem Schluss, ein eigenes Lesebuch zu konzipieren, welches den verschiedenen Ansprüchen gerecht wird. Gedike bietet eine Bandbreite von Autoren, die ein Spektrum vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert nach Chr. umfasst. So finden sich Passagen von Autoren, die unter neuhumanistisch-klassizistischen Gesichtspunkten als unklassisch oder epigonal verstanden und seit Beginn des 19. Jahrhunderts schnell dekanonisiert wurden. Die Vielfalt der literarischen Formen ist weit gefächert: Gedike bietet einen analogen Aufbau zu seinem zuvor entstandenen griechischen Lesebuch, wobei Fabeln, Erzählungen, historische Begebenheiten, Kriegsgeschichten, Anekdoten, »Merkwürdigkeiten aus der Naturgeschichte« und »etwas aus der Mythologie« ihren Platz finden (vgl. Gedike 1782, V). »Dies Buch hat mit dem kürzlich von mir herausgegebenen griechischen Lesebuch Veranlassung, Absicht, Plan, und die ganze innere und äußere Einrichtung gemein. Dieselben Grundsätze, denen ich bei jener Sammlung gefolgt bin, haben mich auch hier geleitet […]« (Gedike 1782, III), so Gedike in seiner Vorrede zur ersten Auflage des lateinischen Lesebuches, Interesse und Unterhaltung für die Knabenseele, Leichtigkeit, Kürze und Abwechslung, moralische Bildung, gelegentliche Beförderung des Erlernens und Wiederholens vieler nützlicher und nothwendiger historischer Kenntnisse, Erleichterung der Vorbereitung und Wiederholung, sind auch hier wie dort meine vornehmsten Gesichtspunkte gewesen. (Gedike 1782, III)

Mit Gedikes natürlicher Lesebuchmethode sollte Grammatik auf der Grundlage interessanter zusammenhängender Texte erschlossen werden. Dieser didaktische Ansatz ist unmittelbar mit dem Einsatz kleiner Formen verbunden.

54

IV

Sandra V. S. Dobritz

Notwendigkeit zur Kürze

Gedike geht von der Grundannahme aus, dass sich Kürze und Knappheit in besonderer Weise dazu eignen, das Zusammenspiel von Wissen, Bildung und Moralisierung zu regulieren und zu gestalten (vgl. Gedike 1789, S. I 136–140). Damit werden die kleinen Formen durch die Gebrauchsroutinen im Unterricht zu »little tools of knowlegde« und dienen einer Wissenspopularisierung. Die programmatische Abwechslung und Leichtigkeit werde erst durch die Kürze des Textes, das heißt die Kleinheit der Form ermöglicht. Dabei bilde diese Kürze eine Ganzheit, welche mit einer inhaltlichen Geschlossenheit einhergehe, um das angestrebte didaktische Potenzial zur Entfaltung bringen zu können. Aber wie müssen die kleinen Formen gestaltet sein, damit sie dieses Potenzial nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ausschöpfen können? Dabei müssen sie zugleich den geforderten Kriterien der Kürze, Anwendbarkeit, Anschaulichkeit und Einprägsamkeit entsprechen. Bisher konnte festgestellt werden, dass es sich bei kleinen Formen um kurze Erzählformen handelt, die im didaktischen Kontext nutzbar gemacht werden und unter den Bedingungen der Verknappung bzw. Verdichtung spezifische Qualitäten hervorheben (vgl. Gamper / Mayer 2017, S. 12). Es ist davon auszugehen, dass sie aus den verschiedenen Formierungsprozessen resultieren, die durch praktische Anforderungen und konkrete Anwendungsfelder bedingt sind. Aus diesem praxeologischen Ansatz leiten sich wiederum ästhetische und pragmatische Faktoren ab, die miteinander in enger Interdependenz stehen. Es ergeben sich daher drei Perspektiven, die bei der Untersuchung kleiner Formen beachtet werden müssen. Die ökonomische Perspektive konzentriert sich auf die praktischen Anforderungen, die spezifische Verfahren der Abkürzung oder Verdichtung, der Beschränkung oder Pointierung induzieren. Dabei muss grundsätzlich der Frage nachgegangen werden, ob es sich bei den kleinen Formen in Gedikes lateinischem Lesebuch um kleingemachte, d. h. verknappte bzw. verkürzte, oder aber um kurze Erzählformen handelt. Ebenso muss untersucht werden, welche Verfahren der Bearbeitung angewandt werden, um die Texte für den Unterricht tauglich zu machen. Hinzu kommt die ökologische Perspektive, die neben intertextuellen Wechselbeziehungen auch soziale Umgebungen in den Blick nehmen kann. Interessant scheint hierbei die Frage, welche Prozesse die Rekombination des Kleinen hervorruft und ob damit eine Dynamisierung von Wissen einhergeht. Schließlich wird noch die ästhetische Perspektive in den Fokus gerückt werden. In welcher Gestalt zeigen sich die kleinen Formen und wie ist das Verhältnis von einfachen und komplexen Strukturen?

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

V

55

Wie konstruiert man kleine Formen?

Grundlage für meine Untersuchung sind die 93 historischen Erzählungen6, die nach den ebenfalls kleinen Formen der Fabeln den zweiten Teil des lateinischen Lesebuches bilden. An zwei ausgewählten Textbeispielen werde ich zeigen, wie diese kleinen Formen für den Unterricht tauglich gemacht wurden, um Gedikes didaktisches Programm auch in der Praxis umzusetzen. Jeder Lesebuchtext ist umrahmt von einer Überschrift und einem kurzen sublinea-Kommentar, um ihn für die Schüler im Unterricht, aber auch für das Selbststudium zu Hause zugänglich zu machen. Für den leichten Einstieg in die Thematik des zu lesenden Stückes gibt Gedike die Überschrift in deutscher Sprache an. Mit dieser galt es, eine Erwartungshaltung der Schüler aufzubauen, worum es im folgenden Text und in der kommenden Unterrichtsstunde gehen wird. Die Texte variieren in der Länge von 4 Zeilen bis zu einer ganzen Lesebuchseite, in der Regel jedoch sind die Texte 14–18 Zeilen lang. Den Abschluss eines Lesestückes bildet der bereits benannte sub-linea-Kommentar, der bis zu drei Funktionen in sich vereint: Erstens ein Verweis auf Grundformen bzw. Infinitive von Vokabeln, die dann von dem Schüler im Register nachgeschlagen werden können, zweitens ein Hinweis auf mögliche Übersetzungen oder Anschlussfähigkeiten und drittens Sacherläuterungen und Realienkunde. Des Weiteren findet sich im gesamten Buch eine besondere Form des Kommentars: Text 16 mit dem Titel Ein merkwürdiger Traum (Gedike 1782, S. 27f.) stellt quasi den Prototypen eines Lehrerkommentars dar mit dem Hinweis, wie der Text in der Praxis eingesetzt werden soll bzw. welchem Zweck er dient. Der Schüler soll mittels dieses Lesestückes vor abergläubischem Vertrauen auf Träume und anderen Vorfällen gewarnt werden (vgl. Gedike 1782, S. 27f.). Doch um welche Art von Texten handelt es sich nun im Lesebuch? Bisher bestand die Annahme, dass es sich um kleingemachte Formen handelt, also Formen, die lediglich gekürzt werden. Dabei stellen sich die Fragen, nach welchen Prinzipien gekürzt wird, wann und wo wird etwas abgeschnitten, und warum? Zu welchem didaktischem oder vielleicht sogar praktischem Zwecke? Also letztlich um die Frage, ob es sich um eine Reduktion oder eine Konstruktion von Texten handelt. Um diese Fragen zu klären, wurde ein Vergleich der 93 Texte mit den Originaltexten vorgenommen. Da sich jedoch im gesamten Lesebuch selbst keinerlei Quellenangaben finden, bedarf es hier der philologischen Spurensuche. 6 Es muss hier deutlich gemacht werden, dass sich die folgenden Analysen und Schlussfolgerungen lediglich auf die historischen Erzählungen beziehen, die sich in Gedikes Lesebuch finden. Die Fabeln oder aber die ›Merkwürdigkeiten aus der Naturgeschichte‹ wurden in diesem Rahmen nicht berücksichtigt.

56

Sandra V. S. Dobritz

Spartische Kinderzucht Der Text Spartische Kinderzucht (Gedike 1872, S. 20) bildet den Einstieg in die historischen Erzählungen. Durch die Überschrift wird der historische und geografische Rahmen der Erzählung klar herausgestellt und den Schülern des Weiteren deutlich gemacht, dass es sich hierbei um eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Kindererziehung handelt. Es ist davon auszugehen, dass der Text durch einen kurzen Lehrervortrag in den Kontext eingebettet wurde. Grundlage für diesen Text ist eine Episode aus Ciceros Tusculanes disputationes 2.34.4. Bei einem ersten Abgleich des Lesebuchtextes mit dem Original Ciceros zeigt sich, dass bei Cicero zwei Beispiele behandelt werden. Cic. Tusc. 2. 34.4 Cretum quidem leges, quas sive Iuppiter sive Minos sanxit de Iovis quidem sententia, ut poetae ferunt, itemque Lycurgi laboribus erudiunt iuventutem, venando currendo, esuriendo, sitiendo, algendo aestuando. Spartae vero pueri ad aram sic verberibus accipiuntur, ut multus e visceribus sanguis exeat, nonnumquam etiam, ut, cum ibi essem, audiebam, ad necem; quorum non modo nemo exclamavit umquam, sed ne ingemuit quidem. quid ergo? hoc pueri possunt, viri non poterunt? et mos valet, ratio non valebit.

Spartische Kinderzucht Lycurgi leges erudiebant iuventutem laboribus, venando, currendo, esuriendo, sitiendo, algendo aestuando. Spartae vero pueri ad aram sic verberibus accipiebantur, ut multus e visceribus sanguis exiret, nonnumquam etiam, ad necem; horum non modo nemo exclamavit umquam, sed ne ingemuit quidem.7

In der philosophischen Auseinandersetzung um Tapferkeit und Schmerz dienen Cicero die Gesetze der Kreter und die des Lykurg zur Verdeutlichung seiner Darstellung. Im Besonderen verweist er dabei auf die strenge Kindererziehung der Spartaner. Auf ebendiese legt Gedike den Fokus für seinen Einstieg in die kleinen Geschichten. Er nimmt eine Reduzierung und Fokussierung auf nur ein Beispiel vor. Dabei minimiert er die Informationsmenge, das heißt, er löscht Sachinformationen oder erläuternde Beschreibungen und Nebensätze ebenso wie sich an das Beispiel anschließende rhetorische Fragen.

7 Alle Übersetzungen der Lesebuchtexte stammen von S. Dobritz: Die Gesetze des Lykurgos erzogen die Jugend durch Anstrengungen, durch Jagen, Laufen, Hungern, Dürsten, durch Ertragen von Kälte und Hitze. In Sparta wurden die Knaben am Altar derart mit Schlägen empfangen, dass viel Blut aus den Eingeweiden strömt, zuweilen sogar bis zum Tode. Aber von ihnen hat keiner jemals geschrien, ja nicht einmal gejammert.

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

Cic. Tusc. 2. 34.4 […] leges […] Lycurgi laboribus erudiunt iuventutem, venando currendo, esuriendo, sitiendo, algendo aestuando. Spartae vero pueri ad aram sic verberibus accipiuntur, ut multus e visceribus sanguis exeat, nonnumquam etiam, […], ad necem; quorum non modo nemo exclamavit umquam, sed ne ingemuit quidem. […]

57

Lateinisches Lesebuchtext für die ersten Anfänger Lycurgi leges erudiebant iuventutem laboribus, venando currendo, esuriendo, sitiendo, algendo aestuando. Spartae vero pueri ad aram sic verberibus accipiebantur, ut multus e visceribus sanguis exiret, nonnumquam etiam, ad necem; horum non modo nemo exclamavit umquam, sed ne ingemuit quidem.

Trotz syntaktischer und inhaltlicher Annäherung an den Lesebuchtext weist der Text aber weiterhin Unterschiede auf. Vor allem im ersten Satz fällt auf, dass die Wortstellung verändert wurde. Durch die Reduktion des Textes wird eine weitere Bearbeitung bzw. ein Geschmeidigmachen des Textes einerseits notwendig, andererseits fällt aber die auffällige Ähnlichkeit zur deutschen Wortstellung ins Auge, die für die lateinische Sprache eher ungewöhnlich ist. Es liegt der Schluss nahe, dass es sich gerade bei diesem ersten Text der historischen Erzählungen um einen Unterstützungsmechanismus für die bessere Verständlichkeit und für die Übersetzung des Textes handelt. Die Anpassung der Wortstellung suggeriert zum einen eine vermeintliche Leichtigkeit des lateinischen Textes und macht ihn damit leicht zugänglich, zum anderen eine Ähnlichkeit mit dem deutschen Satzbau. Gedike beschreibt 1779 in seinem bereits oben genannten schultheoretischen Erstlingswerk Aristoteles und Basedow oder Fragmente über Erziehung und Schulwesen bei den Alten und Neuern die Methode des Lateinlernens und bekräftigt diese These: Anfänglich werde ich selber also meinem Schüler vorübersetzen, dabei ihm aber die Bedeutung jedes einzelen Ausdruks genau erklären und ihm die grammatischen Verhältnisse durch Vergleichung mit seiner Muttersprache, oder, wenn er schon außerdem noch irgend eine andre Sprache kennt, mit dieser auffallend machen. Zuerst übersetz’ ich ihm nur einzle Punkte vor, die er ohne Mühe behalten und gleich nachübersetzen kann; allmälig aber immer längere Abschnitte (Gedike 1779, S. 184f.).

Er gibt ihnen, wie er es selbst nennt, einen »Leitzaum« (Gedike 1779, S. 184), an dem sie sich orientieren können, sowohl hinsichtlich der lateinischen Übersetzung als auch hinsichtlich eines Vergleichs mit der Muttersprache. Mittels einer ausführlichen explicatio geht er so auf den Text sprachlich und begrifflich ein. Aus didaktischer Perspektive nennen wir diese Methode Scaffolding, bei der man den Schülern ein Gerüst zur Unterstützung des Lernprozesses an die Hand gibt, die eine Orientierungsgrundlage für das spätere selbstständige Arbeiten bereitstellt. Darüber hinaus werden in einem weiteren Schritt Tempora angepasst und grammatische Änderungen vorgenommen. Beispielsweise wird der relativische Satzanschluss, den es im Deutschen nicht gibt, in ein Demonstrativpronomen

58

Sandra V. S. Dobritz

umgewandelt, um den Text für Schüler zugänglich und handhabbar zu machen. Diese Änderungen werden einerseits hinsichtlich einer Normierung der lateinischen Sprache vorgenommen, andererseits wird so der Erzählcharakter des exemplums weiter ausgebaut und explizit gemacht. Vor allem die Verwendung des Imperfekts soll den Anspruch einer gewissen Objektivität darstellen und gewährleisten, ist das Imperfekt doch die Zeitform, die Handlungen und Vorgänge der Vergangenheit beschreibt, welche sich der Sprechende als sich wiederholende vorstellt, also auch Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche. Die dargestellten Verfahren der Textbearbeitung stellen vor allem eine Ökonomisierung des Textes dar, die durch eine Verkleinerung des Textes notwendig wurden. Um sowohl die sprachliche wie auch die inhaltliche Auseinandersetzung der Schüler mit dem Text gewährleisten zu können, müssen die Informationen verdichtet werden. Erst wenn das exemplum sprachlich verstanden wird, kann es seine moralische Anschaulichkeit voll ausspielen.

Ehrfurcht für das Alter Bei dem zweiten Beispiel soll allein der Lesebuchtext in den Blick genommen werden. Auch hier fallen bei der Analyse mehrere Unstimmigkeiten auf. Der hohe Umfang lässt vermuten, dass es sich um keinen zusammenhängenden Text handeln kann. Es wurden nicht nur die bereits besprochenen Verfahren der Verkleinerung vorgenommen, sondern auch verschiedene Quellen berücksichtigt, wobei sich mehrere Autoren ausfindig machen lassen. Zur besseren Verständlichkeit wird eine grafische Unterteilung vorgenommen. Lex erat apud Lacedaemonios: ut adolescentes non solum parentes suos revererentur, eisque obedirent, sed seniores quoque omnes colerent. Itaque de via illis decedebant, e sedibus assurgebant,& consistebant quieti & verecundantes, dum illi transirent. Quum Athenis senex quidem in theatrum venisset, spectatum ludos: in magno consessu locus ei suis civibus nusquam est datus. Quum autem ad Lacedaemoniorum legatos, qui etiam ludis intererant, accessisset, consurrexere omnes & senem illum sessum recepere, sedemque ei inter ipsos honoratissimo loco dederunt. Quod quum adspexisset populus, maximo plausu alienae urbis verecundiam comprobavit. Ferunt tunc unum e Lacedaemonis dixisse: Ergo Athenienses quid sir rectum sciunt, sed id facere negliunt.8 8 Übersetzung: Bei den Spartanern war es Gesetz, dass die Heranwachsenden nicht nur ihre Eltern verehrten und ihnen gehorchten, sondern auch alle (anderen) Alten verehren. So sollten sie ihnen den Weg freimachen, von ihren Sitzen aufstehen, sich ruhig verhalten und sich bescheiden betragen, sobald sie ihnen entgegentraten. Als ein alter Mann in Athen ins Theater

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

59

Den Beginn macht in der Einleitung kein lateinischer, sondern ein griechischer Autor. Es handelt um ein Zitat aus Plutarchs Apophthegmata laconica 2.237, den Spartanischen Aussprüchen. Dies ist kein Einzelfall (vgl. hierzu beispielsweise die Lesebuchtexte 29 Der eifrige Schüler oder 55 Strafe eines ungerechten Richter). Immer wieder greift Gedike auf griechische Autoren zurück und kombiniert sie mit lateinischen. Diese sind ihm wohlbekannt und bereits didaktisch ausgefeilt, hat er doch ein Jahr zuvor das Griechische Lesebuch für die ersten Anfänger herausgegeben. Episoden und exempla, die ihm für sein pädagogisches Anliegen geeignet erschienen, werden sogar in beiden Büchern unter derselben Überschrift behandelt (vgl. Gedikes 1781b, Alexander und sein Pferd S. 19 und Gedike 1782, S. 32). Der folgende Satz »Itaque de via illis decedebant … dum illi transirent« konnte bisher keinem antiken Autor zugeordnet werden, vielmehr stammt dieser Satz ohne Angabe einer Quelle aus Heuzets Selectae e profanis scriptoribus historiae, einem Sammelband historischer Quellen aus dem 17. Jahrhundert. Jean Heuzet (wahrscheinlich 1660–1728) war selbst Lehrer am traditionsreichen Pariser CollHge de Beauvais und stellte diese antiken Belegstellen der Geschichtsschreibung zu Unterrichtszwecken als Anthologie zusammen. Heuzet sammelte Sentenzen verschiedener Autoren hinsichtlich eines Themas wie »De deo – Consensus populorum omnium probat deum esse« (Über Gott – Die Einstimmigkeit aller Völker beweist, dass Gott existiert) und kreierte so kleine Abhandlungen über Geschichte, Religion und Philosophie. Gedike bediente sich an diesem ebenfalls zu didaktischen Zwecken konzipierten Quellenmaterial, änderte jedoch hier die ursprüngliche Ordnung und Textstruktur. Der in Gedikes Lesebuch folgende dritte Satz »quum Athenis senex…« ist bei Heuzet vorangestellt und leitet ein Beispiel ein, warum die Heranwachsenden die Älteren verehren sollten. Heuzet Selectae 5,26,2–3 Quum Athenis quidem in theatrum grandis natu venisset ad spectandos ludos: in magno consessu locus ei a suis civibus est datus. […] Itaque de via illis decedebant, e sedibus assurgebant, et consistebant quieti ac verecundantes dum illi transirent.

Lateinisches Lesebuchtext für die ersten Anfänger Itaque de via illis decedebant, e sedibus assurgebant, & consistebant quieti & verecundantes, dum illi transirent. Quum Athenis senex quidem in theatrum venisset, spectatum ludos: in magno consessu locus ei suis civibus nusquam est datus

gekommen war, um die Spiele anzuschauen, da gab es nirgends einen Bürger in der großen Versammlung, der ihm seinen Platz gegeben hätte. Als er aber zu den Gesandten der Spartaner kam, die an den Spielen teilgenommen hatten, standen alle auf, nahmen den erschöpften Mann auf und gaben ihm den Platz zwischen ihnen, am Platz mit den höchsten Ehren. Als das Volk dies sah, billigte es durch großen Applaus die Bescheidenheit der anderen Stadt. Es wird berichtet, dass damals ein Spartaner gesagt haben soll: ›Also die Athener wissen, was richtig ist, tun es aber nicht.‹

60

Sandra V. S. Dobritz

Dieser Satz weist aber noch eine weitere Besonderheit auf, denn auch hier zeigt sich, dass sich dieser Satz auf keinen antiken Schriftsteller allein zurückführen lässt. Es handelt sich dabei um eine Kombination zweier Quellen, wobei zwei Satzstrukturen verwendet und in eine neue Konstruktion gebracht wurden. Gedike bedient sich auch hier der Vorlage Heuzets und modifiziert sie wiederum. Grundlage dieses Satzes sind Texte von Cicero und Valerius Maximus, genauer Cato maior de senectute (Cato der Ältere über das Alter) und die facta et dicta memorabilia (Denkwürdigkeiten). Die Facta sind eine Sammlung von etwa tausend kurzen Geschichten, so genannten »Perioden«, entstanden um 30 n. Chr. Es handelt sich hauptsächlich um kurze Episoden, die das Leben der Römer in der frühen Republik illustrieren; es finden sich aber auch einige »ausländische«, vornehmlich aus dem griechischen Raum stammende Perioden, wie es hier der Fall ist. Valerius stilisiert diese Episoden zu so genannten exempla, Beispielgeschichten, d. h. Episoden mit Vorbildcharakter für seine Zeitgenossen. Es ist keine allzu große Überraschung, dass diese beiden Autoren kombiniert werden. Es ist allgemein bekannt, dass Ciceros Werke Valerius als Grundlage dienten und er diese reduzierte (vgl. von Albrecht 2003, S. 852). Gedike wählte also schon bewusst kleine Formen aus, um diese zum einen noch kleiner und pointierter zu machen und zum anderen, um deren didaktisches Potenzial ausschöpfen zu können. Auch wenn Gedike sich bei diesem Beispiel auf die Grundlage Heuzets stützt, finden sich doch zahlreiche Belege, dass er selbst ebenfalls verschiedene Sätze miteinander kombinierte. Der Analyse folgend ergeben sich folgende Zuordnungen zu Quelltexten: Lex erat apud Lacedaemonios: ut adolescentes non solum parentes suos revererentur, eisque obedirent, sed seniores quoque omnes colerent. (Plut. Apophthegmata laconica 2, 237) Itaque de via illis decedebant, e sedibus assurgebant,& consistebant quieti & verecundantes, dum illi transirent. (Heuzet, Selectae 5, 26, 2–3) Quum Athenis senex quidem in theatrum venisset, spectatum ludos: in magno consessu locus ei suis civibus nusquam est datus. Quum autem ad Lacedaemoniorum legatos, qui etiam ludis intererant, accessisset, consurrexere omnes & senem illum sessum recepere, sedemque ei inter ipsos honoratissimo loco dederunt. (Cic. Cato 63.10 & Val. Max. 4.5 ex 2.1) Quod quum adspexisset populus, maximo plausu alienae urbis verecundiam comprobavit. Ferunt tunc unum e Lacedaemonis dixisse: Ergo Athenienses quid sir rectum sciunt, sed id facere negliunt.( Val. Max. 4.5 ext. 2. 5–10)

Den Abschluss bildet Valerius allein, wobei das Ende der Originalanekdote stark gekürzt und verändert ist. Gedike bedient sich gerne lateinischer und griechischer Vorlagen, wobei er sich bei den griechischen Autoren auf Übersetzungen seiner Zeit verlässt und nur minimale Änderungen vornimmt.

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

61

Gedike scheint die antiken Quellen genau zu kennen, denn ganz akribisch arrangiert und modifiziert er diese. Offensichtlich genügten die einfachen Originaltexte nicht seinen didaktischen und pädagogischen Anforderungen und so schuf er selbst einen Text, der seinen Ansprüchen, aber auch den Bedürfnissen seiner Schüler entsprach. Um dennoch sowohl eine inhaltliche Kohärenz zu schaffen als auch eine Originalität des Textes zu suggerieren, wählte er verschiedene Texte und Satzstrukturen aus und fügte sie zusammen, so dass der Text wie aus einem Guss erscheint. Des Weiteren lässt sich an verschiedenen Lesebuchtexten nachweisen, dass Gedike selbst Satzteile oder ganze Sätze hinzufügte, um eine Kohärenz zu schaffen (vgl. dazu im Besonderen Gedike 1782, S. 20 Spartische Gesinnungen). Fritsch ging in seiner Analyse von einer Sammlung authentischer Texte (vgl. Fritsch 2005, S.81) aus, wobei exempla und Anekdoten lediglich kleingemacht werden und sich dadurch eine enge Verbindung des Sach- und Sprachunterrichts ergibt (vgl. ebd.). Wie die Analyse zeigt, kann dem klar widersprochen werden. Gedike konstruiert exempla, indem er zwar Verfahren im Sinne der Ökonomisierung anwendet, um die Lesebuchtexte anschaulich und praxistauglich zu machen. Ebenso können die Texte so in den schulischen Alltag Einzug finden. Die Kürze bietet eine Anschaulichkeit und Einprägsamkeit, die durch die explificatio des Lehrers weiter ausgebaut wird. Jedoch geht er noch einen Schritt weiter. Durch die brevitas und Verständlichkeit bzw. Einfachheit des Textes entsteht eine didaktische Sprachästhetik, die gleichermaßen funktional wie natürlich ist. Trotz aller Prägnanz sind sie inhaltlich geschlossen und unterstützen die moralische Bildung. Bereits Fritsch stellt heraus, dass Gedike als einer der Begründer der formalen Bildung gilt (vgl. Fritsch 2005, S. 63). Anhänger der formalen Bildung gingen davon aus, dass Funktionen wie Urteilsfähigkeit und Gedächtnis an bestimmten Inhalten exemplarisch trainierbar seien. Diese Inhalte – historische Kenntnisse wie auch tugendhaftes Handeln – stellen sich in den historischen Erzählungen des Lesebuches in Form von exempla dar, welche durch die Selektion der einzelnen Episoden und die Serialität ebendieser verstärkt wird.

VI

Schlussbetrachtungen

Das Lesebuch folgt einer Rhetorik der Rhetorikvermeidung, wobei die Kürze, gepaart mit geringen bzw. geringeren sprachlichen und inhaltlichen Anforderungen den Schülern den Zugang zur lateinischen Sprache erleichtern bzw. die Motivation zum Spracherwerb begünstigen sollte, aber auch im konsequent Reduzierten das genuin didaktische Potenzial sichtbar wird. Darüber hinaus bieten sich die kleinen Formen aufgrund der variatio sowohl fu¨ r die Unterhal-

62

Sandra V. S. Dobritz

tung und Unterweisung als auch als Übungsmaterial an. Die materielle Unterweisung in der Sprache, aber auch der Nutzen und das Vergnügen durch die dargebotenen exempla in Bezug auf die historische Bildung scheint klar. Doch wie kann die postulierte Funktion der Förderung individualisierter Moral (vgl. Gedike 1782, IV) mittels kleiner Formen umgesetzt werden? Wie eben bereits dargestellt bedient sich Gedike bei seiner Konstruktion der Lesebuchtexte antiker Texte. Dabei löst er kleine Episoden heraus, die für sich keine selbstständige Form beanspruchen, und macht sie zum Ausgangspunkt für den schulischen Diskurs. Diese kleinen Episoden dienen als exempla für tugendhaftes Handeln. Das exemplum, das Beispiel also, wird als Erläuterung oder Beweis für etwas Allgemeines oder als musterhafter Einzelfall oder Vorbild herangezogen. Das historische Exempel wird dabei am häufigsten gebraucht, da es »nicht nur auf Wahrheit beruhe, sondern darüber hinaus autoritätshaltig« (Ueding 1996, S. 75) sei. Weiter ist es »auch das durch die Geschichte schon bewährte, durch vorbildliche historische Personen bekräftigte, in seinen Auswirkungen weitgehend überschaubare Geschehen, das die Überzeugungskraft der Tradition mitbringt« (Ueding 1996 S. 75). Das exemplum findet sich sowohl in der antiken Historiographie wie auch in der Rhetorik. Doch erst Valerius Maximus literarisiert das exemplum, wobei die ästhetische Manifestation und die moralische Ermahnung in den Vordergrund treten. Das einzelne exemplum besteht aus einem exordium (oder einführendem Text), der eigentlichen Erzählung und der daran anschließenden Reflexion (vgl. von Albrecht 2003, S. 853). So wird eine res gesta zum exemplum umgeformt. Um das exemplum im Unterricht, vor allem in der Ausbildung der Vernunft und des tugendhaften Handelns, einsetzen zu können, lässt Gedike seine Episoden nach der Erzählung abbrechen. Die moralische Reflexion findet durch die explicatio des Lehrers statt. Gedike gelingt dies durch die strikte Reduktion auf das Faktum und Streichung sämtlicher Nebeninformationen und rhetorischer Fragen. Ursache und Wirkung des Handelnden werden transparent, damit eine Reflexion gelingen kann. Alles läuft auf die Klimax – welche oft in einem Apophthegma kulminiert (vgl. beispielsweise Gedike 1782, S. 26 und 29) – hinaus, welche dann in das Unterrichtsgespräch mündet. Die ethische Reflexion des exemplums erfolgt in der Form der Sokratischen Methode (vgl. Gedike 1779, S. 102), durch die man mit Hilfe von zielstrebigen Fragen dem Schüler die zu gewinnenden Begriffe und Erkenntnisse zu entlocken versucht. Gedike favorisiert diese Methode, um die lateinischen Texte zu reflektieren und den Schülern eine Hilfestellung auf dem Weg zur Erkenntnis zu geben: Ueberhaupt muß man seine Schüler gewöhnen, die Wahrheit zu suchen, und durch Suchen zu finden. Mit eigner Anstrengung, wenn gleich mit fremder Hülfe, langsam gefundene Wahrheit ist immer angenehmer und haftet tiefer, als die vom Lehrer ohne

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

63

eigne Mühe empfangene Wahrheit, so wie die Früchte des selbst gepflanzten Baumes immer am besten schmecken. Mag es indessen wahr sein, daß bei einigen Gegenständen des Unterrichts sich die sokratische Methode der Unterredung weniger anwenden läßt, als bei andern; mag es wahr sein, daß bei einer größern Zahl diese Methode Schwierigkeiten als bei einer kleinern hat; der geschickte Lehrer, dem es nicht an erfinderischen Geist fehlt, wird diese Schwierigkeiten zu besiegen, und die Unbequemlichkeiten zu vermindern wissen. So viel bleibt immer ausgemacht, daß je mehr sich die Unterweisung der Unterredung nähert, desto faßlicher und eindringlicher ist sie; je mehr sie sich davon entfernt, desto weniger kann man auf bleibende Eindrücke rechnen (Gedike 1789, S. 402).

Daraus lässt sich folgern: »Das exemplum strebt […] nicht nach historischer Treue, vielmehr will es den Leser zur bewundernden oder einfühlenden Identifikation anregen« (von Albrecht 2003, S. 853). Die vermeintlich dokumentarisch festgehaltenen Begebenheiten treten den Schülern als exempla vor Augen, das seine Kraft vor allem aus der historischen Faktizität (vgl. Klein / Martinez 2009, S. 6) bezieht. Die Aufzeichnung solcher Konkretisierungen rechten Verhaltens in der Literatur soll die beispielhafte Erfahrung weitergeben. Überhaupt ist die Illustration philosophischer Sätze und ethischer Verhaltensweisen durch Beispiele aus der römischen Geschichte weit mehr als nur äußerliche Einkleidung; aus ihr spricht die Überzeugung, dass nur tätiges Wirken Wirklichkeit konstruieren kann. Die Bearbeitung und Didaktisierung antiker Texte in Form des exemplums bietet einige methodische Vorteile. Dem Idealstil der brevitas verpflichtet, geht es bei der Formatierung und Darbietung des Wissens unter anderem darum, der Aufmerksamkeitsspanne und Aufnahmefähigkeit des Schülers gerecht zu werden. Das exemplum wird als überschaubare Einheit verstanden, die von scheinbar einfacher Struktur ist und als Ganzes von Schülern erfasst werden kann: da es vom mündlichen Erzählen herkommt oder dadurch beeinflusst ist, lässt sich an vorliterarischen Formen und an die Verwendung literarischer Formen in der Alltagswelt der Schüler anknüpfen, auch der eigene produktive Umgang der Schüler mit einer literarischen Form lässt sich anhand eines Beispiels leicht durchführen. Gedike erkannte dieses Potenzial und ist der Überzeugung, dass die Schüler nach intensiver Lektüre historischer Texte, ebenfalls in der Lage sind, solche Texte als Übungsstücke zu verfassen. »Wenn ich ihn nur über solche Materien schreiben lasse, über die er schon viel gelesen. Nicht grade dieselben Materien, sondern nur ähnliche, zu eben der Hauptgattung gehörige. Natürlich wird also mein Lehrling mit historischen Aufsätzen den Anfang machen« (Gedike 1779, S. 197). Des Weiteren dient sie als Unterhaltungsprosa und genügt damit dem Anspruch der variatio und Leichtigkeit. Mit der Form des exemplums werden schließlich auch die bereits angesprochenen Perspektiven der Ästhetik und der Ökologie kleiner Formen angespro-

64

Sandra V. S. Dobritz

chen. Die Lesebuchtexte werden nicht nur sprachästhetisch formiert, sondern auch in ihrer Gestalt. Sie präsentiert sich in prägnant kurzer Form von einfacher und wiedererkennbarer Struktur, die durch den Verzicht auf Rhetorik eine Fokussierung auf das Wesentliche erlaubt, ohne dabei auf Sach- oder Fachwissen verzichten zu müssen. Durch das Herauslösen und Nebeneinanderstellen einzelner Episoden ergibt sich ein Muster tugendhaften Handelns, das durch die explicatio des Lehrers weiterhin verstärkt wird.

VII

Fazit

Abschließend lässt sich also festhalten, dass verschiedene Paradigmen erfüllt sein müssen, um kleine Formen im altsprachlichen Unterricht einsetzen zu können und den Ansprüchen der pädagogischen Bewegung des 18. Jahrhunderts zu genügen. Wenn diese Paradigmen bekannt sind, können sie auf jeden beliebigen historischen Text angewandt werden, um ihn so zu Lesebuchtexten zu modifizieren. Die theoretisch unendliche Reproduktion dieser Gebrauchsroutinen ermöglicht es bis heute didaktische Gebrauchsliteratur zu schaffen und diese in der Praxis einzusetzen. Gedike entwarf ein solches Schema der Bearbeitung, welches aus der Kürzung der originalen Textpassagen, dem Umstellen einzelner Textbausteine und Mischung einzelner Autoren bestand, um eine kohärente, geschmeidige, ja angenehme Dramaturgie des Textes herzustellen, welche – wie von Gedike angenommen – der Knabenseele einfach und unterhaltsam sei. Maßgeblich war auch eine Orientierung und Normierung hinsichtlich der deutschen Muttersprache, um den Lesefluss zu vereinfachen und einer gesprochenen bzw. lebendigen Sprache anzupassen. Letztlich wird durch das Zufügen eigener Sätze, der Kombination verschiedener Satzbausteine und verschiedener Quellen das exemplum ausgeformt, welches das didaktische Potenzial der Faktizität, der Repräsentanz, der Kürze und der Anregung zum ethischen Nachdenken voll ausschöpft. Durch die Bearbeitung und Gestaltung eines solchen Textes wird der Lehrer letztlich zum Autor historischen Wissens, aber auch moralischer Reflexion.

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

65

Quellenverzeichnis Primärliteratur Cicero, Marcus Tullius (1998): De finibus bonorum et malorum. Edidit L.D. Rynolds. Oxford. Cicero, Marcus Tullius (1982): Tusculanes disputationes. Edidit M. Pohlenz. Stuttgart. Cicero, Marcus Tullius (2006): De re publica. De legibus. Cato maior de senectute. Laelius de amicitia. Edidit Jonathan G.F. Powell. Oxford. Gedike, Friedrich (1779): Aristoteles und Basedow oder Fragmente über Erziehung und Schulwesen bei den Alten und Neuen. Berlin und Leipzig, S. 157–206: Von der lateinischen Sprache. Gedike, Friedrich (1781a): Praktischer Beitrag zur Methodik des öffentlichen Schulunterrichts. Berlin. Gedike, Friedrich (1781b): Griechisches Lesebuch für Anfänger. Berlin. (9. Aufl. 1809 mit Zusätzen und Verbesserungen von Ph. Buttmann. Mit Vorrede zur 1. Aufl. vom 8. November 1781). Gedike, Friedrich (1782) Lateinisches Lesebuch für Anfänger. Berlin. (3. Aufl. 1874 Mit Vorrede zur 1. Aufl. vom 18. April 1782). Gedike, Friedrich (1783–1790): Berlinische Monatsschrift. Zusammen mit J. E. Biester. Auswahl von P. Weber. Leipzig 1986. Gedike, Friedrich (1789): Gesammelte Schulschriften. 2 Bände. Berlin. Gedike, Friedrich (1793): Lateinische Chrestomathie für die mittleren Klassen: aus den klassischen Autoren gesammelt. Berlin. Gedike, Friedrich (1802): Über den Begriff einer gekehrten Schule. Berlin. Gesner, Johann Matthias (1773): Chrestomathia Graeca. Carlsruhe. Heuzet, Jean (1782): Selectae e profanis scriptoribus historiae quibus admista sunt varia honeste vivendi praesepta ex iisdem scriptoribus deprompta. Paris. Locke, John (1872): Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern übersetzt von Julius Heinrich von Kirchmann. Band 1. Berlin. Locke, John (2007): Gedanken über die Erziehung. Übersetzt, Anmerkungen und Nachwort von Heinz Wohlers. Stuttgart. Rochow, Friedrich Eberhard von (1776): Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen, Brandenburg und Leipzig. Rousseau, Jean-Jacques (1985): Pmile oder Über die Erziehung. Übersetzt von Ludwig Schmidts. Paderborn. Plutarchus (1925–1978): Plutarchi Moralia. Edidit C. Hubert et al. Leipzig. Valerius Maximus (1998): Factorum ac dictorum memorabilium libri IX. Edidit John Briscoe. Stuttgart / Leipzig.

66

Sandra V. S. Dobritz

Sekundärliteratur Albrecht, Michael von (32003): Geschichte der römischen Literatur. 2 Bände. München. Fritsch, Andreas (2005): »Zweck und Methode des Lateinlernens nach Friedrich Gedike« (1754–1803), in: Werner Hüllen und Friederike Klippel (Hg.) unter Mitarbeit von Sabine Doff: Sprachen der Bildung – Bildung durch Sprachen im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden, S. 63–90. Fritsch, Andreas (2006): »Zwischen Philanthropinismus und Neuhumanismus: Die Begründung des altsprachlichen Unterrichts bei Friedrich Gedike (1754–1803)«, in: Bernd Seidensticker und Felix Mundt (Hg.): Altertumswissenschaften in Berlin um 1800 an Akademie, Schule und Universität. Bd. 8. Hannover-Laatzen, S. 131–165. Fritsch, Andreas (2007): »Friedrich Gedike als Lateindidaktiker«, in: Frank Tosch (Hg.): Friedrich Gedike (1754–1803) und das moderne Gymnasium. Historische Zugänge und aktuelle Perspektiven (Bildungs- und kulturgeschichtliche Beiträge für Berlin und Brandenburg, Band 5). Berlin, S. 45–66. Fritsch, Andreas (2008): »Friedrich Gedike wiederentdeckt. Ein großer ›Philologe und Schulmann‹ des 18. Jahrhunderts«, in: Forum Classicum 51, 3/2008, S. 166–179. Gamper, Michael / Mayer, Ruth (2017): »Erzählen, Wissen und kleine Formen. Eine Einleitung«, in: Michael Gamper und Ruth Mayer (Hg.): Kurz & Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld, S. 7–22. Glücklich, Hans-Joachim (32008): Lateinunterricht. Didaktik und Methodik. Göttingen. Hentig, Hartmut von (2010): »Jean-Jacques Rousseau«, in: Heinz-Elmar Tenorth: Klassiker der Pädagogik. Erster Band, Von Erasmus bis Helene Lange. München, S. 72–92. Horn, Friedrich (1808): Friedrich Gedike: eine Biographie; nebst einer Auswahl aus Gedike’s hinterlassenen, größtentheils noch ungedruckten Papieren. Berlin. Klein, Christian / Mart&nez, Mat&as (2009): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, in: Christian Klein / Mat&as Mart&nez (Hg.): Wirklichkeitserzählungen, Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart / Weimar, S. 1–32. Lattmann, Julius (1896): Geschichte der Methodik des Lateinischen Elementarunterrichts seit der Reformation. Eine specialistische Ergänzung zur Geschichte der Paedagogik. Göttingen. Martus, Steffen (2015): Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin. Müller, August Carl (1881): Geschichte des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin. Berlin, S. 54ff. Paulsen, Friedrich (1965): Geschichte des gelehrten Unterrichts an den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. 2 Bände, 3. erw. Auflage hg. v. R. Lehmann (Leipzig 1919) Berlin. Pauly, August (1785): Versuch einer vollsta¨ ndigen Methodologie fu¨ r den gesammten Kursus der o¨ ffentlichen Unterweisung in der lateinischen Sprache und Literatur. Bd. 1. Tübingen. Reble, Albert (161992): Geschichte der Pädagogik. Stuttgart, S. 135–250. Rhyn, Heinz (2010): »John Locke«, in: Thenort, Heinz-Elmar : Klassiker der Pädagogik. Erster Band, Von Erasmus bis Helene Lange. München, S. 60–71.

Form und Funktion in Gedikes Lateinischem Lesebuch

67

Rommel, Heinz (1966): Das Schulbuch im 18. Jahrhundert. Probleme der Erziehung. Mainz. Schäfer, Gerhard (2007): Chrestomathie, in: Metzler Lexikon Literatur, hg. v. Dieter Burdorf / Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, Stuttgart, S. 123f. Scholtz, Harald (1965): »Friedrich Gedike (1754–1803). Ein Wegbereiter der preußischen Reform des Bildungswesens«, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands. Bd. 13/14, S. 128–181. Schweim, Lothar (1966): Schulreform in Preußen 1809–1819. Entwürfe und Gutachten. Weinheim. Troeltsch, Ernst (2016): Gesammelte Schriften. Band 4, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. v. Hans Baron. Darmstadt. Weimer, Hermann et al. (1992): »Das Zeitalter der Aufklärung«, in: Geschichte der Pädagogik. 19. völlig neu bearb. Aufl. von Juliane Jacobi. Berlin, S. 99–109. Wittchow, Frank (2001): Exemplarisches Erzählen bei Ammianus Marcellinus. Episode, Exemplum, Anekdote. München / Leipzig. Ueding, Gert (1996): Rhetorik des Schreibens. Eine Einführung. Weinheim, S. 63–83.

Aline Willems

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

1.

Einleitung: definitorische Betrachtungen und Beispiele aus der Praxis

Die philologische Auseinandersetzung mit einem (neuen) Themenbereich beginnt traditionell mit einer Definition der Einzelaspekte, die im Zusammenspiel eine Fragestellung konstituieren. In diesem Fall wäre demnach zu bestimmen, worum es sich bei kleinen Formen handelt und nachfolgend zu legitimieren, warum diese in Bezug zum Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland gesetzt werden. Der zweite Schritt lässt sich dabei vergleichsweise leicht bewältigen: Selten werden Inhalte oder Methoden für den Unterricht vollkommen neu erfunden. Auch wenn Lehr-/Lernkontexte als innovativ beschrieben werden, beinhalten sie stets Elemente aus vorangegangenen und als erfolgreich eingeschätzten Verfahren. Dies gilt nicht nur für die heutige Zeit, sondern zeigt sich in allen vorangegangenen Jahrhunderten (vgl. z. B. Kuhfuß 2014). Darum bleibt die Auseinandersetzung mit historischen Lehr-/Lernmaterialien weiter interessant, um zu zeigen, auf welchen Traditionen der heutige Unterricht gründet, und um daraus Weiterentwicklungen generieren zu können. Bislang wurde in den genannten Fragestellungen der Terminus kleine Formen nicht näher beleuchtet, obwohl er keinen im fachlichen Diskurs etablierten Begriff darstellt, wie z. B. Interlanguage oder Lesekompetenz. Die Herausforderung besteht gar darin, dass er als eigenständige Bezeichnung noch gar nicht als Teil der wissenschaftlichen und/oder praktischen Auseinandersetzungen mit dem Lehren und Lernen von Fremdsprachen existiert (vgl. z. B. Burwitz-Melzer et al. 2016; Surkamp 2017; Hallet / Königs 2013; Europarat 2001; Council of Europe 2018; KMK 2004a; KMK 2004b; KMK 2012). Ursprünglich handelt es sich dabei nämlich um einen Terminus der Literaturwissenschaft, wo er diverse Textsorten vereint, welche sich in erster Linie durch ihren begrenzten Umfang

70

Aline Willems

auszeichnen1. Gleichzeitig sind die quantitativen Grenzen dabei nicht immer genau fixiert, sondern werden eher in Relation zu »größeren Komplexen« (LWKL) deutlich. Für den vorliegenden Beitrag soll die kleine Form im Lehrbuch zunächst nicht weiter definiert werden, als dass es sich dabei um einen im Umfang limitierten Text handelt, wobei die entsprechenden Grenzen an dieser Stelle nicht festgelegt werden, sondern sich im Laufe der Betrachtung der Lehrwerke manifestieren sollen, denn eine der Fragestellungen widmet sich eben jener potentiellen Definition kleiner Formen im Französischunterricht. Die Tatsache, dass Fremdsprachenunterricht – zumindest zu Beginn der Spracherwerbsphase – mithilfe von Texten stattfindet, welche einer quantitativen Begrenzung unterliegen, ist aus mehreren Gründen selbsterklärend: die zeitliche Rahmung des institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts, der den Lernenden zur Verfügung stehende Umfang an sprachlichen Mitteln, um Texte zu rezipieren und produzieren, sowie die Konzentration auf exemplarische Phänomene des Lerngegenstandes. Dabei kann es sich bei verwendeten kleinen Formen – zumindest im 19. Jahrhundert – um relativ unzusammenhängende Einzelsätze handeln, die es bei Beachtung bestimmter zuvor erlernter Grammatikregeln zu übersetzen gilt, wie z. B.: Notre roi est juste et notre reine est bonne. La terre est fertile. Nous avons un roi qui est trHs-juste. Avez-vous une bonne reine? Elle est trHs-bonne. Le roi, que nous avons, est juste et bon; il a un frHre qui est trHs-grand, et une soeur [sic.] qui est trHs-petite. (Seidenstücker 1835; S. 2)2

Ebenso können die eingesetzten kleinen Formen aber auch den aus der Literaturwissenschaft bekannten Regeln der Verdichtung folgen (vgl. Gamper / Mayer 2017), wie z. B. in dem Gedicht »Les jours«, hier mit entsprechender Umschrift angegeben, welches für den Anfangsunterricht bestimmt ist:

1 Vgl. auch im Folgenden LWKL; für eine umfangreichere definitorische Auseinandersetzung mit den kleinen Formen in der Literaturwissenschaft vgl. z. B. Gamper / Mayer (2017). 2 Es handelt sich hierbei um einen einzelnen Abschnitt, der im Sinne einer Einheit zur Übersetzung ins Deutsche vorgesehen ist, jedoch keine Aufgabenstellung enthält; die Schreibweise entspricht hier und bei allen nachfolgenden Zitaten den jeweiligen Quellen. Eine Übertragung ins Deutsche könnte folgendermaßen lauten: Unser König ist gerecht und unsere Königin ist gut. Die Erde ist fruchtbar. Wir haben einen König, der sehr gerecht ist. Haben Sie/habt ihr eine gute Königin? Sie ist sehr gut. Der König, den wir haben, ist gerecht und gut; er hat einen Bruder, der sehr groß ist und eine Schwester, die sehr klein ist.

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

1 2 3 4 5 6 7

Les jours Bonjour Lundi, Comment va Mardi? TrHs bien, Mercredi: Je viens de la part de Jeudi Dire / Vendredi, Qu’il sapprÞte [sic.] Samedi, Pour aller / la messe Dimanche.3 (Kühn 1897, S. 10)

71

bl-zˇu˜r j lo˜¨di jj kom¼-va–mardi jj trH-bie˜ j mHrkrödi jj zˇö-vie˜ j dö-la-pa¯r j dö-zˇödi jj dir-a-v¼drödi jj kil-sapreˇt samdi jj pur-all8 a-la–mHs j dim¼sˇ (Kühn 1887, S. 2)

In der Auseinandersetzung mit diesem Kinderreim lassen sich zahlreiche Aspekte der französischen Sprache thematisieren. Zunächst können damit die Wochentage in der korrekten Reihenfolge präsentiert und – gemäß Aufgabenstellung im Buch (vgl. Kühn 1887, S. 2) – auswendig gelernt werden, denn sie erscheinen jeweils am Ende eines Verses. Gleichzeitig weist eine Anmerkung im Übungsbuch darauf hin, dass sie in der Regel klein zu schreiben sind (Kühn 1887, S. 2), damit die Lernenden sich keine Fehler einprägen. Bei näherer Betrachtung des Gedichtes fallen jedoch weitere sprachliche Elemente auf, die insbesondere im Anfangsunterricht behandelt werden: In den ersten drei Versen stehen jeweils zu Beginn Wörter bzw. Phrasen, welche in einer Begrüßungssituation eingesetzt werden und in ähnlicher Form in aktuellen Lehrbüchern zu finden sind: »Bonjour j Comment va j TrHs bien« (V. 1–3). Darüber hinaus werden feststehende Einheiten in Chunks präsentiert, die als solche gelernt und angewendet werden können: »Je viens de la part de« (V. 4) für ›im Auftrag von jemandem kommen‹ oder »Dire /« (V. 5) als Teil der Formel ›dire qc. / qn.‹ also ›jemandem etwas sagen/mitteilen‹, wobei die benötigten Objekte und deren korrekte Reihenfolge im Satz direkt mitgelernt werden. Des Weiteren lässt sich feststellen, dass zur Zeit der Publikation und des Einsatzes des Französischbuches durchaus von einem Adressatenbezug ausgegangen werden kann – was auf heutige Lerngruppen nicht mehr zuträfe –, während die verwendete Syntax und die sich daraus ableitenden Regeln sowohl im 19. Jahrhundert als auch aktuell als herausfordernd für den Anfangsunterricht zu bewerten sind, sofern sie explizit betrachtet werden. Aus heutiger Perspektive mögen diese Beispiele eventuell befremdlich erscheinen, aber sie sind prototypischer Natur für ihre jeweiligen Lehrbuchgenerationen, denn das erste aus der Feder Seidenstückers kann der GrammatikÜbersetzungs-Methode zugeordnet werden, während Kühn bereits zu den Vertretern der Direkten Methode zu zählen ist. Da die erstgenannte den Unter3 Eine Übersetzung könnte wie folgt lauten, wobei die Wochentage teilweise personalisiert werden: Guten Tag Montag, j Wie geht’s Dienstag? j Sehr gut, Mittwoch: j Ich komme im Auftrag von Donnerstag j Um Freitag mitzuteilen, j er möge sich Samstag fertigmachen, j um Sonntag zur Messe zu gehen.

72

Aline Willems

richt der modernen Sprachen4 im 19. Jahrhundert dominiert – man spricht im Allgemeinen von einem Umbruch von der einen zur anderen in den 1870er und 80er Jahren –, rückt sie in diesem Beitrag in den Fokus der Betrachtung. Gleichzeitig muss eingeräumt werden, dass es sich weder bei der einen noch der anderen Methode um eine homogene Lehr-Lern-Weise handelt, sondern sich unter den Termini jeweils diverse Angebote versammeln. Dabei folgen alle jeweils einer groben Hauptprogrammatik, nämlich im ersten Fall die Konzentration auf das Erlernen von Grammatikregeln und die Fähigkeit zum Übersetzen von Texten in bzw. aus der Fremdsprache unter Beachtung dieser Regeln. Wobei als Ziel nicht die Fähigkeit, mit potentiellen Zielsprachensprecher*innen5 kommunizieren zu können im Raum stand, sondern die allgemeine Geistesbildung in der Auseinandersetzung mit den Regelmäßigkeiten einer Sprache. Bei der Direkten Methode sollte das Lernen der Fremdsprache an den natürlichen Spracherwerb des Kindes angelehnt werden – was auch schon lange vor dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer wieder praktiziert wurde, jedoch im Gymnasialunterricht zunächst nicht zulässig war (vgl. z. B. Ahn 1853, S. III = 76. Auflage, Hinweis findet sich bereits im Vorwort der ersten Auflage von 1834, abgedruckt ebd.). Dabei war es wichtig, dass die Lernenden viel zielsprachlichem Material ausgesetzt waren und die Regeln – zumindest nicht unmittelbar – kognitiviert wurden. Neben dem sehr heterogenen Angebot an Lehrbüchern, die den benannten zwei großen Methoden zugeordnet werden, wird die Analyse durch die Datenlage selbst erschwert: Unterrichtsmaterialien gelten bis heute als Gebrauchstexte, d. h. sie werden nur selten in Bibliotheken und/oder Archiven über einen langen Zeitraum aufbewahrt. Darum handelt es sich bei der vorliegenden Stichprobe an Texten nicht um eine per se repräsentative Auswahl, sondern um diejenigen, die die Zeit und damit u. a. zwei Weltkriege überdauert haben, also weiterhin zugänglich sind. Anhand der Auflagenzahlen, die mitunter weit über 50 liegen, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die eingesehenen Werke 4 Der Sammelbegriff ›moderne (Fremd-)Sprachen‹ wird in diesem Beitrag zur Bezeichnung für Französisch, Englisch, Italienisch etc. als Fremdsprache in Abgrenzung zum Unterricht der ›alten‹ Sprachen, wie Latein, Griechisch oder Hebräisch, genutzt, da der Unterricht der modernen Fremdsprachen während des 19. Jahrhunderts erstmals im deutschen Schulsystem institutionell verankert wurde (vgl. z. B. Willems 2013, S. 43–62). Weil Französisch zunächst den überwiegenden Teil an modernem Fremdsprachenunterricht ausmachte und auf methodischer Ebene einen großen Einfluss auf die Vermittlung der anderen modernen Sprachen nahm (vgl. ebd., S. 63–74), können die Französischlehrwerke exemplarisch zur Untersuchung des modernen Fremdsprachenunterrichts im 19. Jahrhundert herangezogen werden. 5 Sofern mehrere Geschlechter von einem entsprechenden Substantiv betroffen sein könnten, wird nachfolgend die *-Version gewählt. In denjenigen Fällen, in denen auf diese Darstellung verzichtet wird, handelt es sich dann auch ausschließlich um das entsprechend genannte Geschlecht. Dabei ist zu erwähnen, dass im 19. Jahrhundert von einer rein binären Geschlechterverteilung ausgegangen wird.

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

73

sich einer relativ weiten Verbreitung erfreuten und darum zur exemplarischen Untersuchung herangezogen werden können. Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass Lehrwerke damals keiner staatlichen Zulassung unterlagen, sondern die einzelnen Lehrkräfte und/oder Schulen selbständig entschieden, welche Materialien sie einsetzten. Darum wurden sie teilweise nach anderen Maßgaben konzipiert als heute. Denn nicht unbedingt das Erfüllen institutioneller Vorgaben, sondern ihre Beliebtheit im Käufer*innenkreis entschied mit über den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Autoren. Diese Einschränkungen sollten demnach stets mitbedacht werden, wenn nachfolgend dargestellt wird, welche Textsorten sich unter dem Terminus kleine Formen in Französischlehrwerken des 19. Jahrhunderts versammeln, für welche Lernalter die jeweiligen Textsorten und ggf. Inhalte ausgewählt waren und welchen Lernzielen sie dienen sollten.

2.

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts – eine Bestandsaufnahme

Um die eingangs formulierten Fragestellungen zu beantworten, werden nachfolgend exemplarisch zwei besonders einflussreiche Lehrwerke der GrammatikÜbersetzungsmethode – nämlich diejenigen von Seidenstücker (vgl. 2.1) und von Ploetz (vgl. 2.2) untersucht. Die Darstellung erfolgt in chronologischer Reihenfolge gemäß den Publikationsdaten der Werke, weil sich deren Inhalte und Arbeitsformen mitunter gegenseitig beeinflusst haben (vgl. z. B. Willems 2013).

2.1.

Die Lehrbücher Seidenstückers

Das dreibändige Lehrbuch Johann Heinrich Philipp Seidenstückers hat einen prägenden Einfluss auf die beiden ›großen‹ Französischlehrwerkautoren des 19. Jahrhunderts, Franz Ahn und Karl Ploetz (vgl. Christ 1993, S. 5 und 7), und wird darum als erstes in dieser Reihe betrachtet.6 Wenngleich Seidenstücker postuliert, sich methodisch am Erstspracherwerb von Kindern zu orientieren – »Dieses Elementarbuch sollte den natürlichen Gang, auf welchem Kinder zur ersten Erkenntniß und zum ersten Gebrauche ihrer Muttersprache gelangen, möglich nachahmen« (Seidenstücker 1835, S. III) –, so zieht er doch zur Unterrichtung der französischen Sprache überwiegend Texte heran, die sowohl konzeptionell als auch medial schriftsprachlich sind: Den Lernenden werden 6 Seidenstücker 1835 = Band 1; Seidenstücker 1821 = Band 2; Wahlert 1835 = Band 3.

74

Aline Willems

zunächst kürzere französischsprachige Sätze mit den zugehörigen neuen Vokabeln präsentiert, die sie wohl auswendig lernen und anschließend ins Deutsche übersetzen sollten – es findet sich keine Aufgabenstellung in den Lehrbüchern. Dies hätte jedoch der bekannten Vorgehensweise der Zeit entsprochen. Die Übungssätze werden in kürzere Abschnitte gegliedert, in welchen sich die jeweils neuen Vokabeln mehrfach wiederholen, so dass die Sätze selbst zwar nicht unbedingt zusammenhängen, die Äußerungen aber stets um kleinere Themenfelder kreisen. Aus heutiger Perspektive vergleichsweise rasch werden die Abschnitte immer länger, das heißt, mit mehr Sätzen ausgestattet. Hinzu kommt, dass pro Abschnitt immer wieder neue grammatikalische Phänomene indirekt eingeführt werden, wie z. B. Fragepartikel oder Objekte, jedoch richtet sich die Aufteilung dieser Aspekte zu Übersetzungsabschnitten nicht – wie bei anderen Grammatik-Übersetzungs-Büchern der Zeit – nach dem traditionellen Grammatikmodell des Aelius Donatus (vgl. z. B. Swiggers 1990, S. 844), sondern nach entsprechenden Redeanlässen, wie man heute sagen würde. Weder nennt Seidenstücker potentielle Quellen für die verwendeten französischen noch für die deutschen Sätze und Absätze. Nach einigen Wochen der Beschäftigung mit nur thematisch verbundenen Einzelsätzen werden den Lernenden auch kürzere zusammenhängende Texte präsentiert, die gemäß ihrer Thematik heutzutage eher den Schulfächern Geschichte oder Biologie zuzuordnen wären. Als Beispiel seien nachfolgend Auszüge aus einem Sachtext über Kodros7 – der inhaltlich als Allgemeinbildung der Zeit betrachtet werden kann – und über den Vogel Strauß aufgeführt: Codrus a 8t8 le dernier roi des Ath8niens. Il 8toit bien aim8 de tous ses sujets. Il a prodigu8 sa vie pour sa patrie. Par sa mort son peuple a remport8 la victoire sur ses ennemis. Les Ath8niens ont beaucoup c8l8br8 sa m8moire. AprHs sa mort les Ath8niens ont fait beaucoup de guerre. […] (Seidenstücker 1835, S. 46)8

7 Gemäß Geisau (1979, S. 264): »Sagenhafter König von Athen […]. K. hatte Athen gegen die Peloponnesier zu verteidigen. Als er erfuhr, daß das Orakel diesen den Sieg zusprach, wenn sie den athen. König nicht töteten, suchte und fand er den Tod, als er, als Bettler verkleidet oder ins Lager der Feinde eindringend, mit ihnen Händel suchte. Über den Sachverhalt aufgeklärt, zogen sie kampflos ab.« Es liegen mehrere unterschiedliche Versionen der Geschehnisse vor, während jedoch gesichert ist: »[E]in Geschlecht der Kodriden hat es in Attika nie gegeben.« (Geisau 1979, S. 265). Jedoch wurde der Ausdruck Kodride als Ehrennahmen für ionische Stadtherrscher gebraucht. »Diese Bildung, als Patronymikon mißverstanden, führte in Athen im 5. Jh. zur Erfindung des K., der in die att. Königsliste […] eingeschoben wurde, um daduch die vermeintliche Herkunft der Kodriden aus Athen zu beweisen […]« (Geisau 1979, S. 265). 8 Eine deutsche Übersetzung könnte wie folgt lauten: Kodros war der letzte König der Athener. Er wurde von seinen Untertanen sehr geliebt. Er hat sein Leben für sein Vaterland geopfert. Durch seinen Tod hat sein Volk den Sieg über seine Feinde davongetragen. Die Athener haben sein Andenken sehr gefeiert/in Ehren gehalten. Nach seinem Tod haben die Athener zahlreiche Kriege geführt.

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

75

L’autruche est le plus grand de tous les oiseaux. Elle a de trHs-hautes jambes, un cou trHslong et une tÞte fort petite. La hauteur 8gale presque celle d’un homme mont8 / cheval. Les ailes sont petites; et absolument inutiles pour voler. […] (ebd., S. 49)9

Der derzeitige Forschungsstand lässt keine verlässlichen Aussagen darüber zu, wo Seidenstücker die entsprechenden Texte entnommen hat. Es findet sich etwa das an zweiter Stelle zitierte Textstück über den Vogel Strauß mit demselben Wortlaut in einer »Erziehungsschrift« (Heinzmann 1797, s.p. – Vorrede) mit dem Titel Akademie junger Schweizer – Deutsch und Französisch. Auswahl von Lesestücken zur Bildung des Herzens und Geistes und Kenntniß der Welt vom Ende des 18. Jahrhunderts. In dieser stellt der Buchhändler Johann Georg Heinzmann Texte in deutscher und französischer Version einander gegenüberstellt, die er entweder anderen deutschen Büchern entnommen oder selbst verfasst hat. Der dort abgedruckte französischsprachige Text »L’autruche« (Heinzmann 1797, S. 145 u. S. 147) umfasst zwar auch lediglich zwei Druckseiten, dennoch hat Seidenstücker ihn um zahlreiche vermeintlich unbekannte Wörter, welche die Beschreibung des Vogels lediglich präzisiert oder ausgeschmückt haben, gekürzt, so dass er eine biologisch nach wie vor korrekte Darstellung des Straußen präsentieren kann, die seine Adressatengruppe gleichzeitig sprachlich noch nicht überfordert. Ebenso findet sich der Text über den Vogel Strauß bereits in Friedrich Gedikes Französische[m] Lesebuch für Anfänger (121811, S. 56–58). Hier ist er ein wenig umfangreicher als bei Seidenstücker, während Gedike im Vergleich zur Heinzmann-Version (1797, S. 145, S. 147) ebenfalls eine Kürzung um schwierigere Passagen vorgenommen hat. Es ist zu vermuten, dass Seidenstücker diese Vorgehensweise auch in Bezug auf andere Kurztexte eingesetzt hat. Da es zu dieser Zeit noch kein Urheberrecht10 im heutigen Sinne gibt, werden die Quellen nur sehr selten – und in diesem Fall – gar nicht offengelegt. In Bezug auf diejenigen Texte, welche sich mit antiker Geschichte und Mythologie auseinandersetzen (vgl. z. B. das Zitat oben – Seidenstücker 1835, S. 46) kann nicht belegt werden, welchen Ursprungs sie sind. Es bleibt zu vermuten, dass es sich um im 19. Jahrhundert wohl bekannte Texte in lateinischer oder griechischer Sprache – z. B. aus entsprechenden Schulbüchern – gehandelt haben könnte, die der Lehrbuchautor für seine Zwecke ins Deutsche und/oder Französische übersetzt, oder dass er sie unmittelbar anderen 9 Die Übertragung ins Deutsche könnte folgendermaßen geschehen: Der Strauß ist der größte aller Vögel. Er (im Französischen sie) hat sehr lange Beine, einen sehr langen Hals und einen extrem kleinen Kopf. Die Größe entspricht in etwa jener eines Menschen, der auf einem Pferd sitzt. Die Flügel sind klein; und vollkommen ungeeignet zum Fliegen. 10 1835 wurde auf deutschem Boden erstmals ein Vorläufer des Urheberschaftsrechtes eingeführt. Preußen und der Deutsche Bund verabschiedeten zwei Jahre später eine zehnjährige Frist zum Schutz des geistigen Eigentums (vgl. z. B. Machill 1974, S. 66). In welchem Maße die Einhaltung dieser Vorschriften geprüft und bei Verstoß geahndet wurde, bleibt offen.

76

Aline Willems

Französischlehrbüchern entnommen haben könnte. Jedoch müsste diese Vermutung mittels einer genauen Quellenanalyse überprüft werden.11 Nachdem im vorliegenden Französischbuch Seidenstückers bis Seite 57 entweder Einzelsätze oder kurze Prosa- respektive Sachtexte zum Einüben der französischen Sprache präsentiert wurden, stellt der Autor nun – entgegen seinem Vorsatz, keine Grammatikregeln anzugeben – kurz die Konjugationsregeln der Verben auf -re, -ir und -er, samt derjenigen der Hilfsverben avoir und Þtre vor (ebd., S. 57), um im Anschluss erstmals einen Text in Dialogform anzuführen, in welchem er indirekt – in einer Unterhaltung zwischen Lehrer und Schüler – seine eigene Unterrichtsmethode bewirbt (ebd., S. 58). Aufgrund der Funktion des Textes kann davon ausgegangen werden, dass dieser auch aus der Feder des Lehrbuchautors selbst stammen sollte, er also keine Kürzung eines fremden Textes vornimmt. Doch bereits der nächste zur Übersetzung ins Deutsche abgedruckte Text ist für alle gebildeten Leser*innen der Zeit erkennbar eine gekürzte Prosaversion der Fabel Le Loup et l’Agneau12 (dt.: Der Wolf und das Lamm). Exemplarisch werden nachfolgend beide Versionen einander gegenübergestellt, um einen Vergleich zu ermöglichen: V. 1 2 3 4 5

La Fontaine (1668, liv. I, f. X – 1995, S. 83f.) La raison du plus fort est toujours la meilleure: Nous l’allons montrer tout / l’heure.

Seidenstücker (1835, S. 59) —

Un Agneau se d8salt8rait Un loup et un agneau, press8 de Dans le courant d’une onde pure. la soif, 8taient venu boire / un Un Loup survient / jeun qui mÞme ruisseau. cherchait aventure, —

Le loup 8toit au-dessus de l’agneau beaucoup plus bas.

S.

1

2

6

Et que la faim en ces lieux attirait. Alors ce voleur, pouss8 par la gourmandise, lui chercha querelle;

3a

7 8

Qui te rend si hardi de troubler mon breuvage? Dit cet animal plein de rage:

et lui dit: Pourquoi m’as-tu troubl8 l’eau, pendant que je buvois?

3b/4

9

Tu seras ch.ti8 de ta t8m8rit8.



11 Vgl. den Beitrag von Sandra Dobritz in diesem Band. 12 Selbstverständlich kann La Fontaine nicht als Urheber des Fabeltextes ausgewiesen werden, da dieser auf Aesop zurückgeht. In der Regel wurden in den Französischlehrwerken der Zeit jedoch als Ausgangstexte französischen Versionen von La Fontaine genutzt.

77

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

(Fortsetzung) - Sire, r8pond l’Agneau, que votre 10 Majest8 Ne se mette pas en colHre; 11 Mais plutit qu’elle considHre 12 Que je me vas d8salt8rant 13 Dans le courant, 14 Plus de vingt pas au-dessous 15 d’Elle, Et que par cons8quent, en aucune 16 faÅon, Je ne puis troubler sa boisson. 17

L’agneau r8pondit en tremblant: Comment peux-je faire, je vous prie, ce dont vous vous plaignez, puisque l’eau coule de vous / moi?

5/6

18

- Tu la troubles, reprit cette bÞte Le loup, repouss8 par la force de 7 cruelle, v8rit8, lui r8pliqua:

19

Et je sais que de moi tu m8dis l’an Mais il y a plus de six mois, que tu 8 pass8. a m8dit de moi.

20

Certes, lui r8pondit l’agneau, je - Comment l’aurais-je fait si je n’8tais pas n8? n’8toit pas encore n8. Reprit l’Agneau, je tette encor ma mHre.

21 22 23 24

- Si ce n’est toi, c’est donc ton Si ce n’est toi, reprit le loup, c’est frHre. donc ton pHre, qui a m8dit de 10 - Je n’en ai point. moi. - C’est donc quelqu’un des tiens:

25 26 27

Car vous ne m’8pargnez guHre, — Vous, vos bergers, et vos chiens. On me l’a dit: il faut que je me venge.

28 29

L/-dessus, au fond des forÞts Le Loup l’emporte, et puis le mange, Sans autre forme de procHs.

30

9

L/-dessus il se jette sur lui et le d8chire.

11

Tab. 1: Le Loup et l’Agneau – Fabelversion La Fontaines vs. Prosaversion Seidenstückers (bei der Fabelversion sind in der linken Spalte die Versnummer, bei der Prosaversion in der rechten Spalte die Satznummern angegeben)13

Unabhängig davon, ob im 19. Jahrhundert oder heute: Es werden alle Französischlehrkräfte bzw. -buchautor*innen die Fabelversion La Fontaines als sprachlich zu herausfordernd für Lernende in der Spracherwerbsphase einordnen. Denn insbesondere die an die Textgattung angepasste Syntax, aber ggf. auch der Umfang könnten das Verstehen – und zur Zeit der Grammatik-Übersetzungs-Methode ebenso eine Übertragung ins Deutsche – erschweren. Darum adaptiert Seidenstücker die den damaligen Schülern mit hoher Wahrscheinlichkeit bekannte Fabel an die Bedürfnisse seines Adressatenkreises, indem er 13 Für eine mögliche Übersetzung der beiden Texte siehe S. 94–96.

78

Aline Willems

einige Aspekte herausnimmt, ohne dabei die Sentenz zu gefährden, und indem er andere Informationen sprachlich verdichtet bzw. eine Umsortierung dieser vornimmt: Bei La Fontaine beginnt die Fabel mit der Vorwegnahme der Lehre (V. 1f.), auf welche Seidenstücker vollkommen verzichtet. Man könnte nun annehmen, dass diese von den Schülern selbst hergeleitet werden sollte, doch finden sich dafür keine Belege. Denn an den oben zitierten französischen Text schließen sich im Lehrbuch deutsche Einzelsätze zum Übertragen ins Französische an, welche dazu keinen Anlass geben, sondern den Inhalt des französischen Textes im nicht-metaphorischen Sinne zu betrachten scheinen: Ein Lamm ist schwächer, als ein Wolf. Wölfe sind die grausamsten Feinde der Lämmer. Der Wolf hat das Lamm, welches wir hatten, gerissen. […] Habt ihr keine Hunde. Mein Nachbar hat alle meine Hunde getötet. […] Welches ist sein Name. Ich will ihn nicht nennen. (Seidenstücker 1835, S. 59)

La Fontaines Verse 3 bis 5, welche die nachfolgende Handlung situativ einordnen, fasst Seidenstücker in einem einzelnen Satz zusammen (S. 1) und ersetzt dabei einige der Wörter durch Synonyme, die den Schülern wahrscheinlich eher bekannt sind. Im zweiten Satz beschreibt er die genaue Position der beiden Tiere zueinander, was bei La Fontaine erst in den Versen 13 bis 15 durch die Äußerung des Lammes deutlich wird, welche Seidenstücker jedoch nicht vollkommen auslässt, sondern lediglich sprachlich kürzt und vereinfacht (S. 5f.). Dabei bedient er sich zudem eines anderen sprachlichen Registers als das Lamm La Fontaines (V. 10–17), welches in seinen Worten höfische Sprachgewohnheiten durchscheinen lässt und den Wolf dabei klar als Ranghöheren anerkennt – was bei Seidenstücker wegfällt. Die Verse 5 und 6 werden in den Satz 3a, die Verse 7 und 8 in die Sätze 3b und 4 transferiert und verdichtet, indem die Satzstruktur und einige Vokabeln geändert werden. Ob dadurch eine Vereinfachung erreicht wurde, bleibt offen, da die Seidenstücker-Version nun eine subjonctif-Konstruktion enthält (»pendant que je buvois«), welche im Ausganstext nicht zu finden ist. Das Streitgespräch zwischen Wolf und Lamm der Verse 18 bis 27 wird von Seidenstücker auf die Sätze 7 bis 10 reduziert, wobei nicht nur sprachliche Änderungen vorgenommen werden, sondern auch Informationen komplett wegfallen: Während der Lehrbuchautor als alternativen Verursacher des wölfischen Zorns schlichtweg den Vater des Lammes einsetzt, verweist La Fontaines Wolf zunächst auf den Bruder des Lammes und schließlich auf »un des tiens« (V. 24), also einer der deinen, und weitet damit die Gruppe über die Spezies Schaf auf die Schäfer und deren Hütehunde aus (V. 26f.). Wenngleich dem Französischlerner diese Unterstellungen vorenthalten werden, bleibt die Konsequenz dieselbe: Der Wolf greift sich das Lamm und frisst es auf (S. 11, V. 29). Interessant ist jedoch, dass die diesbezügliche Formulierung La Fontaines (V. 29) sprachlich eigentlich wesentlich leichter verständlich erscheint (»l’emporte« von ›emporter‹

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

79

– wegtragen, »le mange« von ›manger‹ – essen, fressen) als die Adaption Seidenstückers (»se jette sur lui« von ›se jetter sur qn.‹ – sich auf jemanden werfen, »le d8chire« von ›d8chirer‹ – zerreißen). Gleichzeitig könnte Seidenstückers Version an dieser Stelle als potentiell attraktiver für den jungen, männlichen Adressatenkreis erachtet werden. Die exemplarische Gegenüberstellung der beiden Text-Versionen zeigt, dass zur Herstellung einer kleinen Form – wobei die Ausgangsfabel selbst auch schon als kleine Form eingeordnet werden kann, die jedoch hier weiter verkleinert wird – von Seidenstücker mehrere Techniken verwendet werden: Er fasst zusammen, sortiert Textteile um und – das könnte jedoch vor allem daran liegen, dass es sich um ein Französischlehrbuch für Lernende in der Spracherwerbsphase handelt – ersetzt Vokabeln. Gleichzeitig ändert er dabei sprachliche Register und lässt Informationen aus, ohne jedoch die Lehre der Fabel massiv einzuschränken, auch wenn er sie – anders als La Fontaine selbst – nicht explizit aufführt. Als Ergebnis präsentiert er den Schülern einen Prosatext, der bis auf die Überschrift, das grobe Handlungsgerüst und die Sentenz jegliche Ähnlichkeiten zum Ausgangstext verloren hat. Aus literaturästhetischer Perspektive könnte dies als Frevel beurteilt werden, aus erzieherischer sowie fremdsprachendidaktischer Sichtweise bietet es sich jedoch an, um den Schülern das Thema und die Lehre der Fabel nicht vollkommen vorenthalten zu müssen. Ein weiteres Verfahren Seidenstückers zur Produktion kleiner Formen, die auch zahlreiche andere Lehrbuchautoren vor und nach ihm verfolgen, ist die Portionierung eines an sich längeren Textes in Abschnitte, welche sich z. B. im Rahmen einer Lehr-Lerneinheit behandeln lassen. Exemplarisch lässt sich hier der Text Phrases / l’usage du voyageur (Seidenstücker 1835, S. 60–65) anführen. Diesen unterteilt er in vier Blöcke, die jeweils von deutschen Sätzen zum Übertragen ins Französische und darüber hinaus einer längeren Grammatikeinheit zur Bildung des subjonctif unterbrochen werden. Anders als der Titel vielleicht vermuten lässt, handelt es sich bei den französischsprachigen Ausführungen nicht um Einzelsätze, welche je nach Situation im Zielsprachenland eingesetzt werden können, sondern es wird ein Prosatext in Dialogform abgedruckt, in welchem eine Reise nach Genf unterschiedliche Phrasen liefert, die sich so oder in ähnlicher Form von Reisenden verwenden lassen. Da sich derzeit keine Quelle für diesen Text ermitteln lässt, kann nicht beurteilt werden, ob über die Einteilung in Abschnitte hinaus weitere Änderungen zur Kürzung des Textes vorgenommen wurden. Alle weiteren im Lehrbuch präsentierten Texte sind wieder als abgeschlossene Einheiten im Umfang von nicht mehr als einer Buchseite abgedruckt,14 wobei 14 Dabei ist die Begrenzung wohl nicht durch die Drucklegung beeinflusst, denn die Texte enden nicht zwangsläufig am Seitenende, sondern Seitenumbrüche werden stets unproble-

80

Aline Willems

eine eingehende Untersuchung zukünftig klären müsste, welchen Quellen diese entnommen und ob bzw. welche Verfahren des Verkleinerns bei dieser potentiellen Übernahme angewendet wurden. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass Seidenstücker zumindest für den ersten Band seines Elementarbuches, welches sich zweifelsohne an Schüler während der Spracherwerbsphase richtet, keine Einheiten vorgibt, die sich über mehr als 1,5 Buchseiten erstrecken und damit den Lernstoff seiner Adressaten im Voraus portioniert. Der zweite Band (Seidenstücker 1821), der sich im Aufbau vom ersten darin unterscheidet, dass er nun thematisch nach Wortarten gegliedert ist, zahlreiche Grammatikregeln präsentiert und damit dem gängigen System von Lehrbüchern der Grammatik-Übersetzungs-Methode entspricht, unterscheidet sich in Bezug auf den Einsatz kleiner Formen nicht maßgeblich vom ersten, außer dass die Texte gelegentlich ein wenig länger ausfallen. Aber sie richten sich schließlich auch an bereits ältere Schüler als der erste Band. Allerdings endet der zweite Band mit dem erstmaligen Einbezug eines lyrischen Textes – nämlich La Fontaines Fabel L’Homme qui court aprHs la Fortune et l’Homme qui l’attend dans son lit (u. a. La Fontaine 1995, S. 217–219, dt.: Der Mensch, der dem Glück nachläuft, und der, welcher es in seinem Bett erwartet) –, allerdings werden weder Autor noch Titel des Gedichtes im Französischbuch genannt (Seidenstücker 1821, S. 158–161). Anders als im ersten Band bei Adaption der Fabel La Fontaines werden hier weder Änderungen noch Portionierungen vorgenommen, wenngleich sich der Text dadurch über etwas mehr als drei Seiten erstreckt und die Versform zahlreiche Herausforderungen für den Leser bereithält. Obschon der dritte Band des Lehrwerkes Seidenstückers nicht mehr vom ursprünglichen Autor selbst publiziert werden konnte, sondern postum in dessen Sinne von Georg Wahlert (u. a. 21835) veröffentlicht wurde, soll er an dieser Stelle als abschließender Teil der Trilogie nicht außer Acht gelassen werden. Ebenso wie der zweite Band der Lehrbuchreihe ist auch der dritte nach Wortarten gegliedert. Die Übersetzungsübungen beinhalten in Fortsetzung des Systems Seidenstückers sowohl Einzelsätze als auch kürzere zusammenhängende Texte, die oben bereits als kleine Formen beschrieben wurden, benutzen jedoch keine über die bisher beobachteten Verfahren hinausgehende Techniken, um diese zu generieren. Während Wahlert wie sein Vorgänger ebenfalls u. a. auf Texte La Fontaines zurückgreift (vgl. z. B. Wahlert 1835, S. 35–46) – auch ohne Nennung des eigentlichen Verfassers –, bindet er erstmals den Stoff eines deutschen literarischen Textes, nämlich Guillaume Tell (ebd., S. 35–37) ein, indem er eine französischsprachige Nacherzählung abdruckt. Es kündigt sich matisch genutzt. Dies unterscheidet die Lehrbücher des 19. Jahrhunderts wiederum stark von aktuellen Lehrwerken, die eine Druckseite bzw. Druckdoppelseite sehr häufig als in sich geschlossene thematische Einheit gestalten.

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

81

indes eine Haltungs-/Verfahrensänderung in Bezug auf Urheberschaftsangaben an. Denn so fügt er z. B. an zwei Textauszüge, welche er zur Analyse des Tempusgebrauchs nutzt, deren eigentliche Verfasserin, Mme Campan15 an – jedoch ohne Angaben des Werktitels und/oder anderer Quelleninformationen. Wenngleich diese Texte einen bedeutenden Einfluss auf die Mädchenbildung der Zeit ausgeübt haben (vgl. z. B. Kramer 2000, S. 35–39), kann aus heutiger Perspektive schwer beurteilt werden, ob dem Adressatenkreis des Lehrbuches – i. e. Jungen im Alter der Pubertät, die eine höhere Schule besuchten –, beim Lesen des Namens der Autorin bewusst war, um welchen Ausgangstext es sich bei dem Auszug gehandelt haben mag. Beim ersten Beispieltext (Wahlert 1835, S. 57; Campan 1823, S. 11f.) nutzt Wahlert die bereits beschriebenen Kürzungsverfahren der Selektion und der Textbearbeitung: Bis auf drei Teilsätze übernimmt er den Ausgangstext vollständig, ändert jedoch die Schreibung der Konjugation gemäß der von ihm propagierten Regel16, was insofern erstaunt, als er den französischsprachigen Text aufgrund des Gebrauchs der Zeitformen ausgewählt hat. Die erste Reduktion lässt sich grammatikalisch legitimieren: »[L]a mort du dauphin avait pr8c8d8 la sienne de trois ans« (i. e. erste Auslassung) fällt weg, weil der Teilsatz im plusque parfait verfasst ist, welches im Lehrbuch erst einige Seiten später thematisiert wird (Wahlert 1835, S. 61–63). Einige Sätze weiter wird »[l]es plus grands affaires« ausgelassen, weil es sich lediglich um eine stilistische Erweiterung der nachfolgenden »8v8nemens les plus importans« [sic.] handelt. Der Verzicht auf den Teilsatz »de lieu de r8union oF l’on vit se d8ployer l’esprit et la gr.ce des FranÅais, il n’en fallait point chercher / Versailles« kann ebenfalls fremdsprachendidaktisch erklärt werden, denn auch hier findet sich nicht das benötigte Tempusbeispiel. Im zweiten verwendeten Beispieltext (Wahlert 1835, 15 Um der Korrektheit willen muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass die M8moires sur la vie priv8 de Marie-Antoinette, reine de France et de Navarre gar nicht in der publizierten Form aus der Feder Campans stammen, auch wenn dies nur im Vorwort, nicht aber in der Titelei erkennbar wird. Eigentlich handelt es sich dabei um eine Zusammenstellung von in Briefen und Tagebüchern erhalten gebliebenen Erinnerungen Campans, die FranÅois BarriHre in ihrem Namen zu einer Erzählung zusammengefasst hat. 16 Wahlert, wie auch Seidenstücker in den vorausgehenden Bänden, richtet sich bei der Schreibung der Konjugationsendungen, welche heute unter -ais, -ait, -aient etc. bekannt sind, nach der letztmalig im Wörterbuch der Acad8mie franÅaise von 1798 (5. Auflage) vorgeschriebenen Regel -ois, -oit, -oient etc., während sich im Schatten der Französischen Revolution eine Reform der Orthographie hin zur diesbezüglichen heutigen Version vollzieht. Amtlich spiegelt sich dies in der 6. Auflage des Dictionnaire de l’Acad8mie franÅaise (1835) wider. Lange Zeit bestehen beide Formen jedoch noch nebeneinander und es ist im Hinblick auf Sprachwandelprozesse relativ normal, dass sich diese im Ausland später vollziehen bzw. langsamer durchsetzen als im eigentlichen Zielsprachenland. Gleichzeitig kann nicht mit Sicherheit bestimmt werden, aus welcher Quelle Wahlert seine Texte tatsächlich entnommen hat, also ob evtl. auch Versionen der Campan-Bücher mit alter Schreibweise existiert haben könnten.

82

Aline Willems

S. 58; Campan 1823, S. 31f.) verfährt Wahlert auf dieselbe Art und Weise. Unter Verwendung derselben Techniken fügt er auch andere Texte fremder Autoren ohne deren Nennung in sein Französischlehrbuch ein, wie z. B. Auszüge aus den Lettres persannes (vgl. Montesquieu 1973 [1721], S. 176f.; Wahlert 1835, S. 42f.), Auszüge aus S8gurs Historiographie über den Russlandfeldzug Napol8ons (S8gur 1825, Kapitel 4–7 (unpaginierte Onlineversion); Wahlert 1835, S. 72–90) oder aus der Ploge de F8nelon (F8nelon 1837, S. 1 u. S. 14; Wahlert 1835, S. 144). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sowohl Seidenstücker als auch Wahlert die Länge und Dichte der zum Auswendiglernen und Übersetzen angebotenen Texte an die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten ihres Zielpublikums sowie die unterrichtlichen Gegebenheiten, also dass der Französischunterricht nur in einem bestimmten Zeitintervall während eines Schultages stattfindet und dass das angebotene Material entsprechend portioniert wird, anpassen. Neben wahrscheinlich eigenen Texten und Beispielsätzen verwenden sie dabei auch zahlreiche bereits anderweitig durch andere Autor*innen publizierte meist französischsprachige Texte, die sie jedoch gemäß ihrer Zielsetzung zu (noch) kleine(re)n Formen gestalten: Dabei wird der Originaltext meist lediglich um kleinere Ausschnitte gekürzt, die entweder nicht zum betrachteten Grammatikthema passen oder die Schüler auf andere Art sprachlich überfordern könnten. In eher seltenen Fällen werden die Ausgangstexte vollständig umformuliert und dabei mitunter eine Änderung der Textgattung vorgenommen, d. h. das Verfahren der Transponierung eingesetzt. Da Seidenstückers Lehrwerk als eines der großen Vorbilder für die sehr erfolgreichen Lehrbücher z. B. von Ploetz gilt, stellt sich nun die Frage, wie letzterer in Bezug auf kleine Formen verfährt. Denn auf methodisch-didaktischer Ebene führt er durchaus einige Neuerungen ein (vgl. z. B. Willems 2013, S. 282–332).

2.2

Das Lehrwerk von Ploetz

Während Karl Ploetz heute v. a. in Historiker*innenkreisen für seine über 2.000 Seiten umfassende Daten- und Ereignissammlung berühmt ist, fußte sein hoher Bekanntheitsgrad zu Lebzeiten und unmittelbar darüber hinaus eher auf seinen Lehrbüchern der französischen Sprache (vgl. u. a. Willems 2013, S. 282). Als erstes publizierte er zu diesem Zweck ein Vocabulaire syst8matique (1847; vgl. u. a. Ploetz 31853): Auf den Seiten 1 bis 230 handelt es sich dabei – wie der Titel besagt – um eine thematisch gegliederte Sammlung französisch-deutscher Wortpaare, ergänzt um französischsprachige Kollokationen. Diese können als feststehende chunks17 gelernt und genutzt werden oder als Vorbild für Analo17 Als chunk werden in der Fremdsprachendidaktik kürzere lexikalische bzw. lexiko-gram-

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

83

giebildungen dienen, wenn darin z. B. die korrekten Objektergänzungen einzelner Verben deutlich werden (ebd., S. 231–239). Ab Seite 240 schließen sich daran »Dialogues devant servir d’application aux parties les plus importantes du vocabulaire« (ebd., S. 240) an, welche jeweils auf einzelne Themenfelder des Wörterbuches zugeschnitten sind und gelegentlich drei statt nur zwei beteiligte Sprecher*innen beinhalten. Ihre Länge reicht von einer bis zu vier Buchseiten, jedoch bleibt unklar, ob Ploetz die Texte selbst verfasst oder anderen Werken entnommen hat. Denkbar wären u. a. andere Französischlehrbücher. Neben diesem Einzellehrbuch entwickelte Ploetz auch zwei komplette Lehrwerkreihen – eines für den Elementar- und Aufbauunterricht sowie eines »für Secunda und Prima« (Ploetz 1868). Da insbesondere die erste Reihe sehr umfangreich ist (vgl. u. a. Willems 2013, S. 283), sollen an dieser Stelle exemplarisch das Elementarbuch der Französischen Sprache. Nach Seidenstücker’s Methode (231865 [1848]), die Elementargrammatik der französischen Sprache (81871), und die Schulgrammatik (191867) betrachtet werden, weil sie die häufigsten wiederaufgelegten Elemente des Lehrwerkes darstellen. Das Elementarbuch (Ploetz 1865) ist in vier Teile gegliedert (vgl. ebd., S. III–IV): »A. Methodischer Teil« (ebd., S. 1–102), »B. Lesebuch« (ebd., S. 103–120), »C. Vokabeln« (ebd., S. 120–144) und »D. Systematische Uebersicht der grammatikalischen Elemente« (ebd., S. 145–167). Zur Untersuchung bezogen auf den Umgang mit kleinen Formen bieten sich v. a. die ersten beiden Teile an. Der methodische Teil sollte genutzt werden, um den Schülern Aussprache- und Grammatikregeln zunächst zu präsentieren und anschließend mittels Übersetzungen vom Französischen ins Deutsche und umgekehrt einzuüben. Zu diesem Zweck beinhalten die ersten Kapitel – analog zum im Titel genannten Vorbild der Methode Seidenstückers – ausschließlich unzusammenhängende Sätze, die das in der Lektion behandelte Regelphänomen beinhalten. Exemplarisch sind nachfolgend Auszüge aus der Lektion 8 zur »Aussprache des 8 und des H« wiedergegeben: 1. Le pHre a dit la v8rit8. 2. La mHre a perdu un d8. […] 6. Le roi et la reine ont une arm8e. 7. Nous avons maintenant l’8t8. 8. L’arm8e a pris la forteresse. […]18

matikalische Einheiten bezeichnet, welche nicht in ihre Einzelteile zerlegt, sondern als zusammenhängende sprachliche Bausteine gelernt und in der Zielfremdsprache verwendet werden – zum chunk learning vgl. auch Müller-Hartmann / Schocker 2017. 18 Die deutschsprachige Übersetzung könnte wie folgt lauten: 1. Der Vater hat die Wahrheit gesagt. 2. Die Mutter hat einen Würfel verloren. 6. Der König und die Königin haben ein Heer. 7. Wir haben jetzt Sommer. 8. Das Heer hat die Festung eingenommen.

84

Aline Willems

19. Man hat verkauft das Getreide.19 20. Wir haben gemacht die erste Aufgabe. 21. Die Mutter hat verloren einen Sonnenschirm. […] 27. Der König hat verloren ein Heer. 28. Du hast einen Vater und eine Mutter. […] (Ploetz 1865, S. 5)

Die Verwendung von Einzelsätzen gegenüber (kürzeren) zusammenhängenden Texten bietet aus Sicht des Lehrers bzw. des Autors den Vorteil, dass man sich im Unterricht fokussiert mit einzelnen Grammatikregeln auseinandersetzen kann. Vollständige Texte weisen meist eine geringere Frequenz des betrachteten sprachlichen Phänomens auf und ein entsprechend mitgelieferter Inhalt, eine umfangreichere, zusammenhängende Information könnte die Konzentration von den Grammatikregeln weglenken. Wie in den vorangegangenen Lehrbüchern kann auch bei Ploetz keine Quelle dieser Einzelsätze benannt und somit nicht untersucht werden, ob bzw. in welcher Weise er die entsprechende kleine Form hergestellt hat. Mit der Einführung der Interrogativsätze werden die Beispiele ein wenig umfangreicher, indem Ploetz zunächst Minimaldialoge in Frage-Antwort-Form nutzt – z. B. »Sind Sie in Cöln gewesen, mein Herr? ~ Ja, mein Herr, ich bin in dieser Stadt gewesen.« (Ploetz 1865, S. 36) und nachfolgend ebenfalls ein wenig länger : Hast du schon die römische Geschichte gehabt? ~ Ja, mein Herr, wir haben die römische Geschichte in (dans) unserer Schule gehabt. ~ Wer hat die Schlacht bei (de) Cannä gewonnen? ~ Hannibal hat die Römer in dieser Schlacht geschlagen. ~ Wer hat den Hannibal besiegt? ~ Der römische Feldherr Scipio hat diesen Karthager geschlagen. (ebd., S. 39)

Insgesamt lässt sich feststellen, dass Ploetz den Umfang seiner Übersetzungsübungen, also ob die Sätze in kleine zusammenhängende Abschnitte gegliedert werden können, oder jeweils für sich alleine stehen, von der sonstigen Anforderung, die die jeweilige Lektion an die Schüler stellt, abhängig macht: In Wiederholungslektionen finden sich damit längere zusammenhängende Dialoge, während in Lektionen, die neue Regeln einführen, die Übungssätze kürzer gefasst sind bzw. lediglich aus einzelnen Sätzen bestehen. Im Rahmen dieses Vorgehens werden die Schüler im Grammatikteil des Lehrbuches in Lektion 55 (ebd., S. 57) erstmals mit einem etwas längeren zusammenhängenden Text auf Französisch mit dem Titel »Pierre le Grand et Charles XII.« konfrontiert: 19 Die deutschsprachigen Sätze sind absichtlich gemäß der zugehörigen französischen Syntax konstruiert, um den Schülern das Übersetzen zu erleichtern: Da die Regeln der Satzstellung erst wesentlich später im Buch besprochen werden, genügt es an dieser Stelle, wenn man die korrekten Vokabeln, Konjugationen etc. verwendet. Dieses Vorgehen ist im Rahmen der Grammatik-Übersetzungs-Methode nicht unüblich. Ob die Übersetzungen ins Deutsche (vgl. z. B. die vorangegangene Fußnote) ebenfalls die französische Syntax beibehalten sollten oder den deutschen Satzbauregeln zu folgen hatten, bleibt ungewiss, da keine entsprechenden Erklärungen / Anweisungen für die Lehrkräfte vorliegen.

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

85

Pierre premier, empereur de Russie, est mont8 sur le trine en 1689. Il avait une sœur, Sophie, qui avait 8t8 r8gente du pays pendant la minorit8 du jeune empereur. Il a envoy8 dans un couvent cette sœur dont l’ambition 8tait un obstacle / son pouvoir. Pierre eut plusieurs luttes dangereuses / soutenir contre les Str8litz, ancienne garde des czars de Russie. […] (Ploetz 1865, S. 57)20

Auch in diesem Fall lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, ob bzw. welchem anderen Werk Ploetz diesen Text entnommen haben könnte. Ansonsten werden noch in Lektion 59 ein kurzer Sachtext zu den »Divinit8s des Grecs et des Romains« (ebd., S. 62), in Lektion 62 zur »Voyage de Charles XII. [en octobre 1714]« (ebd., S. 66) und in Lektion 63 dessen inhaltliche Fortsetzung unter dem Titel »Sang-froid de Charles XII. (Anecdote.)« (ebd.) – also alles Texte mit historischer Thematik von nicht mehr als 15 Zeilen im Umfang – abgedruckt. In Lektion 66 werden die Lerner erstmalig mit einem kurzen deutschen Text anstelle von Einzelsätzen konfrontiert: Die alten Aegypter und ihr Land. Die alten Aegypter beteten die Sterne und die Thiere an. Sie hatten mehrere Kasten. Die Kaste der Priester war die mächtigste von allen, aber die (frz. diejenige) der Krieger lieferte die Könige. Die Aegypter bauten Pyramiden und stellten Obelisken auf. Sie balsamierten ihre Todten ein. Man setzte Gerichte ein, um die Handlungen der Thodten zu beurtheilen (um zu: pour). […] (ebd., S. 71).

Ein vergleichbarer Text findet sich erst in Lektion 73 unter dem Titel »Xerxes und Themistokles« (ebd., S. 80) wieder. Zusammenfassend kann in Bezug auf den methodischen Teil des Elementarbuches festgehalten werden, dass Ploetz nur sehr wenige zusammenhängende kurze Texte zur Übersetzung sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch anbietet – jedoch niemals zwei Texte innerhalb einer Lektion. Wenn er sich für den Abdruck eines kleinen zusammenhängenden Textes entscheidet, dessen Quellen sich nicht zurückverfolgen lassen, dann sind die sich anschließenden Übungen in der jeweils anderen Sprache aus Einzelsätzen konstruiert, um wiederum noch kleinere und damit einfacher zur übersetzende Einheiten anzubieten. Thematisch beziehen sich die Texte – neben den oben genannten auch die zwei weiteren auf S. 87 und S. 93f. – auf historische Aspekte, die den Schülern mitunter bereits bekannt sein sollten, die nun aber wiederholt werden, um sie in die oder aus der 20 Die entsprechende Übertragung ins Deutsche könnte folgendermaßen lauten: Peter I., Kaiser von Russland, hat den Thron 1689 bestiegen. Er hatte eine Schwester, Sophie, die während der Minderjährigkeit des jungen Kaisers die Regentin des Landes gewesen war. Diese Schwester, deren Bestrebungen ein Hindernis seiner Machtausübung darstellten, hat er in ein Kloster geschickt. Peter hatte einige gefährliche Kämpfe gegen die Strelitzen, die alte Garde des russischen Zaren, auszufechten. – Anmerkung: Strelitzen ist die Bezeichnung der von Zar Iwan im 16. Jahrhundert eingeführten Palastgarde.

86

Aline Willems

Fremdsprache zu übersetzen und dabei eine bestimmte Grammatikregel einzuüben. Komplette französischsprachige Texte – mit geringem Umfang – werden hingegen in der Abteilung »Lesebuch« (Ploetz 1865, S. 103–120) mit zugehörigen Vokabeln (ebd., S. 121–144) angeboten: Es beginnt mit den extrem reduzierten Inhalten bekannter Fabeln, wie z. B. Le chevreu et le loup (dt.: Das Reh und der Wolf) oder La cigale et la fourmi (dt.: Die Grille und die Ameise) und Witzen (ebd., S. 103f.), um zunächst Texte mit einem Umfang von maximal fünf Zeilen zur Verfügung zu stellen, welche aufgrund ihrer Kürze keine zu hohen Anforderungen beim Übersetzen stellen. Zur Veranschaulichung der Verkleinerung der Fabeln wird nachfolgend die französische Version von Die Grille und die Ameise exemplarisch wiedergegeben: La cigale passa tout l’8t8 / chanter. L’hiver venu, elle eut faim, et s’adressa / la fourmi en la priant de lui donner / manger. Mais la fourmi lui r8pondit: Qu’as-tu fait tout l’8t8? ~Je chantais nuit et jour. ~ Tu chantais? Eh bien, danse maintenant. (ebd., S. 103)21

Während Seidenstücker die Fabel La Fontaines nur teilweise reduziert hatte (s. o.), kondensiert Ploetz den ursprünglichen Text auf das absolut Wesentliche – eine Situation und eine daraus zu ziehende Lehre. Gleichzeitig ist der Text sprachlich aufgrund der unterschiedlichen Zeitformen, die alle eher konzeptionell schriftsprachlich ausgerichtet sind, durchaus komplex. Aufgrund der enormen Verkürzung des Ausgangstextes besteht keine Möglichkeit zu entscheiden, ob Ploetz auf die Fabel La Fontaines oder die Urform Aesops zurückgreift. Gleichzeitig traut er den Schülern aber auch einen ungekürzten Originaltext La Fontaines – nämlich die Fabel Le lion et le rat (ebd., S. 118; dt.: Der Löwe und die Ratte) – zu. Neben den moralisch-erzieherischen Kurztexten beinhaltet das Lesebuch noch zahlreiche Dialoge, die an Situationen angelehnt sind, welche der Lebenswelt der damaligen Lernenden entsprochen haben könnten, inklusive einem Briefwechsel, der ebenfalls als Textvorlage für eine authentische Kommunikation genutzt werden könnte. Darüber hinaus kann zum Französischlernen/-üben auf zwei Sachtexte – »La machine / vapeur« (Ploetz 1865, S. 106f.) und »Le chemin de fer« (ebd. S. 108) – zurückgegriffen werden. Da sich nicht nachvollziehen lässt, welchen Quellen diese Erklärungen entnommen wurden – evtl. wird dies einfacher möglich sein, sowie mehr ältere Schul- und Kinderbücher digitalisiert worden sind –, kann auch nicht untersucht werden, ob bzw. welchen Kürzungen die Sachtexte unterzogen wurden. Dass sie 21 Exemplarische deutsche Übersetzung: Die Grille verbrachte den gesamten Sommer damit zu singen. Als der Winter gekommen war, hatte sie Hunger und wandte sich an die Ameise, indem sie sie darum bat, ihr etwas zu essen zu geben. Aber die Ameise antwortete ihr : Was hast du den ganzen Sommer lang getan? ~ Ich sang Tag und Nacht. ~ Du hast gesungen? Na gut, dann tanz jetzt.

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

87

den Weg in das Französischlehrbuch gefunden haben, welches ansonsten überwiegend mit historischen und/oder literarischen Textauszügen arbeitet, ist wohl der sich ändernden Zielgruppe durch die Einführung von Realschulen bzw. Realschulzweigen an Gymnasien geschuldet. Auf diesen wurden Schüler nicht mehr zwangsläufig auf ein Studium, sondern auch auf eine Berufsausbildung vorbereitet. Nach Abschluss des Elementarbuches kann der Französischunterricht mithilfe der Elementargrammatik der französischen Sprache (81871) fortgesetzt werden: Sie ist in »I. Systematische Elementargrammatik nach dem Schema der Redetheile« (Ploetz 1865, S. 1–28), »II. Methodisches Elementarbuch« (ebd., S. 29–140), »III. Lesestücke« (ebd., S. 141–154) und einen Vokabelanhang (ebd., S. 155–183) gegliedert. Da der erste Teil ausschließlich grammatische Regeln geordnet nach Satzteilen aufführt, die man eher zum Nachschlagen nutzen kann, beginnt die Analyse hier erst mit dem zweiten Teil, also dem »Methodische[n] Elementarbuch«, in welchem die Regeln kleinschrittig für den Unterricht aufgearbeitet und mit Übungen versehen werden. Wie bereits im Elementarbuch (vgl. u. a. Ploetz 1865) werden die Schüler zunächst mit einzelnen französischen Wörtern, dann schnell mit kürzeren französisch- und deutschsprachigen Sätzen zum Übertragen in die jeweils andere Sprache konfrontiert (vgl. Ploetz 1871, S. 29ff.), wobei die Satzlänge und -komplexität etwas schneller ansteigt als im Vorgängerwerk. In die Übersetzungsübungen, welche jeweils so konstruiert sind, dass die einzelnen Sätze möglichst häufig die behandelte Grammatikregel beinhalten, werden vereinzelt Ausspracheübungen eingestreut, die nach demselben Prinzip konzipiert sind: Anstatt zusammenhängende Sätze oder kurze Texte anzubieten, die einen inhaltlichen/thematischen Kontext aufgezeigt hätten, werden lediglich Reihungen einzelner Wörter angegeben, die die jeweilige Ausspracheregel, welche konzentriert eingeübt werden soll, widerspiegeln, so zum Beispiel: »Zama, zHle, z8l8, zibeline, zHbre, zHro, zone, Zo8, zouave, z8phire, pr8sence, Louise, usine, poison […]« (ebd., S. 42) – zur korrekten Produktion der s-Laute. Ebenfalls in Analogie zum Elementarbuch (vgl. u. a. Ploetz 1865) folgen auf eine größere Anzahl neuer Regeln hin und wieder reine Wiederholungslektionen, in welchen keine gesonderten grammatikalischen Phänomene eingeführt werden, sondern die bis zu diesem Zeitpunkt erlernten mit etwas umfangreicheren Übersetzungsübungen gefestigt werden sollen. Diese sind dann, wie aus dem Vorgängerwerk bekannt, ein wenig länger als die in den Grammatiklektionen selbst, indem z. B. kurze Dialoge in die oder aus der Fremdsprache übertragen werden müssen (vgl. z. B. Ploetz 1871, S. 58, S. 85–88). Insbesondere der letztgenannte Abschnitt an Wiederholungsübungen (ebd., S. 85–88) stellt die Scharnierstelle zum »Cursus von Quarta« dar, da bis zu S. 88 alles für die Erarbeitung in der Quinta bestimmt ist. Die letzten vier Seiten des Quinta-Teils

88

Aline Willems

vermitteln ein wenig den Eindruck, als seien sie optional zu nutzen, wenn die Lerngruppe den für die Klassenstufe vorgesehenen Lernstoff bereits vor Ende des Schuljahres erarbeitet hat und noch Zeit zum Wiederholen bleibt. Diejenigen Klassen, die etwas langsamer vorangeschritten sind, können in der Quarta auch mit dem neuen Teil einsteigen, ohne die letzten vier Seiten der Quinta-Abteilung bearbeitet zu haben. Jedoch werden die Schüler auf eben jenen vier Seiten erstmals im »Methodische[n] Elementarbuch« mit kürzeren zusammenhängenden Texten, von den sprechsprachlich konstruierten Dialogen in den vorangegangenen Übersetzungsübungen abgesehen, konfrontiert, indem sie z. B. touristische Beschreibungen von Paris oder historische Sachtexte in die jeweils andere Sprache übertragen sollen. Exemplarisch seien die beiden nachfolgenden Auszüge wiedergegeben: Die Trajans-Säule in Rom ist ein Denkmal der Kriege des Kaisers Trajan gewesen. Dieser Kaiser hat im ersten und im zweiten Jahrhundert nach Christi Geburt geherrscht. Er hat einen großen Sieg über die Dacier davongetragen, obgleich das Heer dieses Volkes zahlreich und tapfer war. Trajan hat aus ihrem Land eine römische Provinz gemacht. […] (ebd., S. 87) Dieser schöne Garten ist nahe der Seine, auf dem linken Ufer des Flusses. Er hat eine Länge von 200 Fuß. Das zoologische Museum ist in diesem Garten. Auf demselben Ufer der Seine befindet sich (franz.: es giebt) ein anderer öffentlicher Garten, der Garten des Luxembourg. Die Pensionsanstalt, in welcher ich (franz.: wo ich) gewesen bin, war (imparf.) bei diesem Garten. (ebd., S. 88)

Da die Schüler zum Zeitpunkt der Konfrontation mit diesen Texten erst ein Jahr lang Französisch gelernt haben – die Erarbeitung des Elementarbuches (vgl. Ploetz 1865) im Vorfeld ist nicht zwingend nötig –, gibt Ploetz einzelne Hilfestellungen in Klammern an. Welchen Quellen der Lehrbuchautor die Texte entnommen haben und ob bzw. wie er diese adaptiert haben könnte, kann an dieser Stelle nicht nachvollzogen werden. Wenngleich die Schüler während der Quinta lediglich in diesen Wiederholungslektionen zum Ende des Schuljahres kürzere zusammenhängende Texte angeboten bekommen, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass sie sich ausschließlich mit Einzelsätzen beschäftigt haben, denn es ist dem Lehrer sehr wohl erlaubt, Texte des Lesebuches (vgl. Ploetz 1871, S. 141–154) nach eigenem Ermessen zwischen den Grammatikübungen zu behandeln. Im »Methodische[n] Elementarbuch« für die Quarta (ebd., S. 90–140), welches nach demselben Prinzip konzipiert ist wie dasjenige der Quinta, steigen die Anforderungen an die Übersetzungsleistungen der Schüler wesentlich rascher an, denn bereits die vierte Lektion des Schuljahres hält einen einseitigen französischsprachigen Text zum Übersetzen bereit, an dessen Ende sechs W-Fragen zur Sicherung des Inhalts angegeben sind, die vom Deutschen ins Französische

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

89

übertragen und jeweils mit einem Satz beantwortet werden sollen (i. e. Lektion 64, ebd., S. 92). Un chasseur d’Am8rique raconta un jour l’anecdote suivante: L’hiver pass8 j’entendis dire que, dans une des grandes forÞts de l’ouest de notre pays, il y avait des ours d’une grandeur extraordinaire. Je partis aussitit pour cette forÞt accompagn8 d’un de mes amis. Nous perd%mes plusieurs fois notre chemin, mais nous trouv.mes un sentier, et enfin, un soir, nous arriv.mes dans une auberge situ8e sur la lisiHre des bois. Nous demand.mes des nouvelles des fameux ours, l’aubergiste et sa femme vantHrent leur grandeur et la beaut8 de leur peau et ajoutHrent qu’aucun des chasseurs des environs n’osait attaquer ces terribles bÞtes. […] (ebd., S. 92; Hervorheb. i.O.)22

Die kleine Anekdote der beiden Jäger, die auszogen, um in der Ferne bedrohliche Bären zu jagen, welche selbst von den einheimischen Weidmännern gemieden wurden, endet mit der Moral, dass man das Bärenfell nicht bereits verkauft haben sollte, bevor das Tier getötet ist. Eine Textquelle lässt sich dazu nicht ermitteln, jedoch handelt es sich um einen erzieherischen Text, wie er zur damaligen Zeit mannigfaltig in Lesebüchern für Kinder publiziert wurde. Das heißt, dass die Schüler, welchen er zum Übersetzen angeboten worden ist, mit der Textsorte bereits umfangreich vertraut gewesen sein sollten, auch wenn sie bisher im Grammatikbuch noch keinen solchen vorgefunden haben. Zur weiteren Erleichterung der Übung sind alle Verben, welche im pass8 simple23 stehen, kursiv gedruckt. Analoge Übersetzungstexte werden den Schülern in Wiederholungslektionen mit Fokus auf jeweils andere Regeln immer wieder angeboten, wie z. B. »über die Regelmäßigen Verbformen« (Ploetz 1871., S. 103) ein französischer Sachtext über die Dampfmaschine. Obschon Ploetz bereits einen Dampfmaschinentext zum Übersetzen im Elementarbuch der Französischen Sprache Nach Seidenstücker’s Methode (Ploetz 1865, S. 106f.) aufgeführt hat, werden Schüler, welche beide Bücher durcharbeiten, keinesfalls mit der Wiederholung desselben Textes gelangweilt, denn beide fokussieren unterschiedliche Schwerpunkte: 22 Eine Übertragung ins Deutsche könnte folgendermaßen lauten: Ein Jäger aus Amerika erzählte eines Tages die folgende Anekdote: Im vergangenen Winter erfuhr ich durch HörenSagen, dass es in einem der großen Wälder im Osten unseres Landes Bären von außergewöhnlicher Größe gäbe. Unverzüglich brach ich in Begleitung eines meiner Freunde in Richtung dieser Wälder auf. Mehrmals verliefen wir uns, aber dann fanden wir einen Pfad und endlich, eines Abends erreichten wir eine Herberge am Rande des Waldes. Wir erkundigten uns nach Neuigkeiten über die berühmten Bären, der Wirt und seine Frau priesen ihre Größe sowie die Schönheit ihres Pelzes und fügten hinzu, dass kein Jäger der Umgebung es wage, diese schrecklichen Bestien anzugreifen. 23 Während dem pass8 simple im heutigen Französischunterricht nur noch geringe Unterrichtszeit eingeräumt wird – u. a. weil es auch im realen französischen Sprachgebrauch ein wenig an Bedeutung verloren hat –, gehörte es im 19. Jahrhundert zum regulären Lehrstoff, der wie alle anderen Tempora und Modi sowohl passiv als auch aktiv beherrscht werden sollte.

90 »La machine / vapeur« – aus dem Elementarbuch der Französischen Sprache Nach Seidenstücker’s Methode (Ploetz 1865, S. 106f.) La machine / vapeur, perfectionn8e au milieu du dernier siHcle par l’Anglais 1 Watt,

Aline Willems

ohne Überschrift – aus der Elementargrammatik der französischen Sprache (Ploetz 1871, S. 103) La machine / vapeur a 8t8 invent8 en Angleterre. Elle fut perfectionn8e au milieu du dernier siHcle par l’Anglais Watt.

est employ8e aussi bien pour fabriquer 2 des aiguilles que pour forger les ancres des plus grands vaisseaux.

1

(2)

Voici une petite explication qui donnera une id8e g8n8rale des causes de ses effets merveilleux. L’eau chang8e en vapeur, lorsqu’elle est fortement chauff8e, a une force d’autant plus consid8rable, que la chaleur est plus grande. Si une marmite 3 8tait parfaitement ferm8e par son couvercle, l’eau renferm8e dans la marmite, chang8e en vapeur, soulHverait ce couvercle, quand mÞme on l’aurait charg8 du plus grand poids, ou bien le vase 8claterait. C’est / l’observation de ce fait qu’on doit l’invention de la machine / vapeur,

Cette importante invention est due / l’observation d’un fait trHs-simple. Regardez un pot plac8 prHs du feu et couvert d’un couvercle. Quand l’eau commence f bouillir, le couvercle commence / se lever et / se baisser. Ce ph8nomHne est caus8 par la force de l’eau chang8e en vapeur. Si une marmite pleine d’eau et plac8e sur le feu 8tait parfaitement ferm8e par son couvercle, elle finirait par 8clater. Cette terrible force de la vapeur a 8t8 r8gl8e par un m8canisme ing8nieux et forc8e par l’homme de travailler / sa place.

3

que nous employons maintenant / pousser rapidement les vaisseaux sur la mer, / tra%ner les voitures sur les chemins de fer avec une vitesse bien 4 sup8rieure / celle d’un cheval au galop.

A pr8sent les machines / vapeur sont employ8es dans un grand nombre d’industries. La machine / vapeur fabrique des aiguilles et forge des ancres. Elle scie des planches, elle pousse des navires sur la mer, et, sur les chemins de fer, elle tra%ne les voyageurs et les marchandises.

4

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

(Fortsetzung) On a donn8 le nom de bateaux / vapeur aux navires qui sont pouss8s par une machine / vapeur, quoique la plupart de ces navires ne soient pas des bateaux, et qu’ils m8ritent plutit le nom de vaisseaux / cause de leur grandeur. Appliqu8es aux divers industries, les 5 machines aident l’homme dans une quantit8 de fabrications, surtout / filer le coton, le lin et la laine, et / rendre les tissus si communs et d’un prix si peu 8lev8, que maintenant presque tout le monde porte des bas et des bons vÞtements, que les gens trHs-riches portaient seuls autrefois.

91

La navigation / vapeur a 8t8 invent8e en France ou en Am8rique. Les FranÅais pr8tendent que le premier bateau / vapeur a 8t8 mis en mouvement par un FranÅais, nomm8 P8rier. L’exp8rience eut lieu / Paris, sur la Seine, en 1753. L’exp8rience fut renouvel8e / Paris en 1803, devant l’empereur Napol8on, par l’Am8ricain Fulton. Napol8on refusa l’offre de l’inventeur de munir de machines / vapeur les b.timents de la marine franÅais. Fulton porta alors son invention aux PtatsUnis. En 1812 on organisa / New-York le premier service r8gulier de bateaux / vapeur.

5

Tab. 2: Gegenüberstellung der beiden Übersetzungstexte zur Dampfmaschine aus Ploetz (1865 – links) und Ploetz (1871 – rechts) – zu Analysezwecken in nummerierte Zeilen unterteilt, im Original jeweils als Fließtext mit kursiv gedruckten Verben in Ploetz (1871)24

Wie in der direkten Gegenüberstellung der Texte zu erkennen ist, sind sie zunächst gleich strukturiert, denn beide beginnen mit einer ähnlichen allgemeinen Einleitung (Abschnitt 1) und einer Erklärung der grundlegenden Technik, auf der die Dampfmaschine beruht (Abschnitt 3). Darüber hinaus führen beide Texte Beispiele an, zu welchen Zwecken bzw. in welchen Bereichen Dampfmaschinen eingesetzt werden: Im linken Text bereits vor der technischen Erklärung (Abschnitt 2) und auch in deren Anschluss (Abschnitt 4), während im rechten Text die Beispiele alle erst nach der physikalischen Darstellung erfolgen, also ebenfalls in Abschnitt 4. Wenngleich die Texte in diesen Abschnitten die gleichen Inhalte anführen, sind sie doch nicht identisch, sondern bieten den Schülern die Themen in unterschiedlich konstruierten Sätzen an. Die beiden fünften Abschnitte konzentrieren sich hingegen auf vollkommen unterschiedliche und damit für die Schüler jeweils neue Inhalte: Während der linke Text zunächst die korrekte Bezeichnung von Schiffen nach ihren Größen – also ob »bateau« oder »vaisseau« zutrifft – diskutiert und im zweiten Teil des Abschnittes die Auswirkungen des Einsatzes von Dampfmaschinen in der Textilindustrie auf die Gesellschaft beleuchtet, stellt der rechte Text das Dilemma um den tatsächlichen Erfinder des Dampfschiffes vor und referiert einige historische Ereignisse. Auf diese Weise können die Lernenden an bereits vorhandenes Vorwissen anknüpfen – auch wenn die kognitiv-konstruktivistische Lerntheorie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Lehrbuches noch lange nicht als solche entwickelt worden 24 Für eine mögliche Übersetzung der beiden Texte siehe S. 96–97.

92

Aline Willems

war –, werden jedoch dabei nicht gelangweilt, weil sie gleichzeitig einige neue Dinge erfahren. Bis auf drei weitere, maximal jeweils eine Seite umfassende moralisch-erzieherische Texte (vgl. ebd., S. 126, S. 130 u. S. 133), die ebenfalls vom Französischen ins Deutsche zu übersetzen und mit einem kleinen Fragenkatalog versehen sind, müssen sich die Schüler in der Quarta beim Lernen von Grammatikregeln allerdings nur mit unzusammenhängenden Einzelsätzen und sehr kurzen Dialogen – eher Frage-Antwort-Formeln – auseinandersetzen. Wie bereits in der Quinta möglich, kann der Lehrer hier ebenfalls nach eigenem Ermessen Texte aus dem dritten Teil der Elementargrammatik der französischen Sprache (ebd., S. 141–154) – also »Lesestücke« – in den Unterricht integrieren. Analog zur Lesebuchabteilung im Elementarbuch (Ploetz 1865) beinhaltet auch der vorliegende Abschnitt auf das Wesentliche reduzierte Fabeln Aesops bzw. La Fontaines ohne Quellenangaben, Witze, kurze Dialoge, die als solche ebenso aufgeführt werden könnten, und zwei jeweils zweiseitige Texte über Karl XII. – jedoch ohne jegliche Quellenangaben. Die Techniken, um Texte, von denen längere Originalversionen belegt werden können, wie z. B. die genannten Fabeln, zu (noch) klein(ere)n Formen zu gestalten, unterscheiden sich nicht vom Vorgehen im Elementarbuch (vgl. Ploetz 1865). Ebenso wenig die Lernziele, die mit der Lektüre/Übersetzung verfolgt werden: Neben den funktionalen kommunikativen Kompetenzen und sprachlichen Mitteln – um heutige Termini zu gebrauchen – steht die moralische Erziehung der Schüler im Vordergrund. Der dritte Teil des Lehrwerks aus der Feder von Ploetz für die Mittel- und Oberstufe, nämlich die Schulgrammatik (191867), ist analog zu den beiden bereits dargestellten Bänden konzipiert, wobei die einzelnen Grammatikthemen nun noch umfangreicher bzw. tiefgehender behandelt werden und die Progression ein wenig steiler angelegt ist. Die Übersetzungsübungen unterscheiden sich in Bezug auf die Fragestellungen der kleinen Formen und Lernziele nicht von den Vorgängerlehrbüchern.

3.

Fazit

Die exemplarische Betrachtung zweier wichtiger und weit verbreiteter Lehrwerke für den Französischunterricht im 19. Jahrhundert in Deutschland konnte zeigen, dass eine Vielzahl an bereits bestehenden literarischen Kleinformen eingesetzt wird, wie z. B. Witze, Redewendungen, Fabeln, Aphorismen oder Anekdoten. Die große Mehrheit des sprachlichen Materials, mit dem sich die Lernenden auseinandersetzen müssen, besteht jedoch aus nicht zusammenhängenden Einzelsätzen, die aus dem Grund gemeinsam präsentiert werden, weil sie das in der jeweiligen Lektion behandelte grammatikalische Phänomen

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

93

beinhalten, also besonders zum Einüben der erlernten Regeln taugen. Teilweise entstammen die Satzgruppen zwar gemeinsamen oder ähnlichen Themenfeldern. Dies kann aber ebenso auf das insbesondere zu Beginn des Unterrichts begrenzte Vokabelwissen der Schüler zurückgeführt werden kann. Während heute die interkulturelle Handlungsfähigkeit als oberstes Ziel des Fremdsprachenunterrichts definiert wird, diente die Auseinandersetzung mit der französischen Sprache bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem der formalen Bildung des Geistes – analog zum Latein- und Griechischunterricht. Gemäß dieser Zielsetzung fand auch die Französischlehrerausbildung statt, die keinem Fachlehrerprinzip unterworfen war wie heute, sondern in erster Linie sapientia und eloquentia zu fördern suchte. Anstelle von Kenntnissen der französischen Sprache und Kultur standen lateinisches, historisches und geographisches Wissen im Vordergrund, was u. a. dazu führte, dass des Französischen mächtige Zeitgenossen unter den Lehrkräften den Kollegen häufig einen Mangel an »elementarsten Kenntnissen ihres Faches« bescheinigten (Mangold 1902, S. 192). Analog zu den Wissensbereichen, in denen die Lehrer ausgewiesen sein sollten, waren die Lehrbücher inhaltlich gestaltet, nämlich mit Texten, die die moralische Erziehung und die Allgemeinbildung der Schüler fördern sollten – also historischer und teilweise naturwissenschaftlicher Art. Dabei scheint es durchaus unproblematisch gewesen zu sein, wenn die verwendeten Texte nicht authentisch waren, sondern für den Zweck des Schulbuches ins Französische übersetzt wurden. Französische Originaltexte – z. B. zum Literaturkanon der Zeit gehörende – konnten dann sowohl in der Ursprungsversion als auch in Bearbeitungen unterschiedlichen Ausmaßes genutzt werden, wie die exemplarische Analyse einiger Fabeln zeigen konnte: Die maximale Reduktion ließ sich erreichen, indem die Fabel auf ihre Moral und die knappe Beschreibung der Handlung in drei bis vier Zeilen zusammengeschrieben wurde, wie es ähnlich auch in den Lesebüchern der Zeit praktiziert wurde. Darüber hinaus konnten Fabeln in einen Prosatext transformiert werden, ohne viel am Inhalt einzusparen. In diesem Beitrag wurden ausschließlich prototypische Vertreter der Grammatik-Übersetzungs-Methode untersucht. Neben der neu aufkommenden Direkten Methode im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die aufgrund ihrer veränderten Zielsetzung des Französischunterrichts auch andere Lehrwerke benötigte (vgl. u. a. das Gedichtbeispiel zu den Wochentagen in Kap. 1), wurde bereits während der ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts vereinzelt mit Lehrbüchern gearbeitet, die methodisch andere Wege gingen als Seidenstücker und Ploetz und darum auch andere Arten von Übungs- bzw. Übersetzungstexten verwendeten. Als Beispiel kann hier auf die Analytische Methode nach Hamilton und Jacotot verwiesen werden (vgl. hier und im Folgenden Willems 2013, S. 167–176), nach welcher Ganzschriften in französisch-deutschen Lateral- oder

94

Aline Willems

Interlinearversionen rezipiert werden mussten. Zur Veranschaulichung sei exemplarisch ein Auszug aus Leonhard Tafels (1831) Lehrbuch der Französischen Sprache nach Hamiltonschen Grundsätzen angeführt: Zudem Au

Anfang commencement

war 8tait

die la

Wort parole

und et

die la

Wort parole

war 8tait

mit avec

Gott. Dieu

Sie Elle

war 8tait

mit avev

Gott, Dieu,

und et

diese cette

Wort parole

war 8tait

Gott […] Dieu. […]

6. Es da 6. Il y

hatte eut

einer un

Mensch homme

gehießs appel8

Johannes, Jean,

welcher qui

war fut

gesendet envoy8

von de

Gott. Dieu.

(Tafel 1831, S. 65)

Im Original fällt dieser Text ebenso wenig lesefreundlich aus wie an dieser Stelle. Gleichzeitig zeigt sich dabei, dass für dieses Vorgehen der Umfang des sprachlichen Materials nicht von Bedeutung ist, also keine kleinen Formen benötigt werden. Diese werden immer dann bzw. in denjenigen Lehrbüchern eingesetzt, in denen sprachliches Material reduziert werden muss, weil die Schüler entweder noch keinen großen Wortschatz zur Verfügung haben, oder der Fokus auf eine bestimmte Grammatikregel gelegt werden soll, oder der Stoffumfang allgemein an eine zur Verfügung gestellte Zeitspanne, wie z. B. eine Schulstunde, angepasst werden soll. Anders als literarische Kleinformen, in welchen der ästhetische Wert einen relativ hohen Stellenwert einnimmt, sind kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts also eher äußeren Umständen geschuldet und damit in erster Linie pragmatischer Natur.

Anhang 1) zu Tab. 1: Der Wolf und das Lamm V. 1 2 3 4 5

La Fontaine Seidenstücker (1668, liv. I, f. X – 1995, S. 83f.) (1835, S. 59) Der Stärkere hat immer Recht: — Dies werden wir gleich aufzeigen. Ein Lamm stillte seinen Durst am Strom einer reinen Quelle. Plötzlich trat ein hungriger Wolf auf, der das Abenteuer suchte,

S.

Ein Wolf und ein Lamm, beide getrieben vom Durst, waren zum 1 selben Bach gekommen, um zu trinken.

95

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

(Fortsetzung) —

Der Wolf stand oberhalb des sich weiter unten [am Bachlauf] 2 befindenden Lammes.

6

Und den der Hunger an diesen Ort lockte.

Daraufhin suchte dieser Dieb, angetrieben von seiner Gier, nach Streit;

7

Woher nimmst du den Mut, meinen Trank zu trüben? Sprach dieses Tier voller Zorn

und sagt zu ihm: Warum hast du mir mein Wasser getrübt, 3b/4 während ich trank?

9

Du wirst wohl von Kühnheit angetrieben?



10

- Eure Hoheit, antwortete das Lamm, auf dass sich eure Majestät Nicht in Rage versetze; Sondern dass sie berücksichtige, Dass ich mich unterhalb befinde Am Bachlauf Mehr als zwanig Schritte unterhalb von euch, Und dass in Folge dessen, in keiner Weise Ich eueren Trank trüben könnte.

Das Lamm antwortete zitternd: Ich bitte euch, wie kann mir dies, dessen ihr mich beschuldigt, gelingen, wo das Wasser doch von euch zu mir fließt?

8

11 12 13 14 15 16 17

3a

5/6

18

- Du trübst ihn, antwortete diese Der Wolf, von der Wucht der grausame Bestie Wahrheit überwältigt, antwortete ihm:

7

19

Und ich weiß, dass du im vergangenen Jahr schlecht über mich gesprochen hast

8

20

Sicher nicht, antwortete ihm das - Wie soll ich das getan haben, wenn ich doch noch gar nicht Lamm, ich war noch nicht geboren war? geboren. 9 Antwortete das Lamm, ich sauge immer noch an den Zitzen meiner Mutter.

21

22 23 24 25 26 27

- Wenn du es nicht warst, dann war es dein Bruder. - Ich habe keinen [Bruder]. - Dann war es einer der deinen:

Aber vor über sechs Monaten hast du schlecht über mich gesprochen.

Wenn du es nicht warst, antwortete der Wolf, dann ist es dein Vater, der schlecht über mich sprach.

Denn ihr schont mich selten, — Ihr, eure Hirten und eure Hunde. Man hat es mir erzählt: Ich muss mich rächen.

10

96

Aline Willems

(Fortsetzung) 28 Daraufhin – in die Dunkelheit der Wälder 29 Verschleppte der Wolf es, und verspeiste es anschließend Ohne jede andere Form des 30 Prozesses.

Daraufhin stürzt er sich auf es und zerreißt es. 11

2) zu Tab. 2: Übersetzungstexte zur Dampfmaschine »Die Dampfmaschine« aus dem Elementarbuch der Französischen Sprache Nach Seidenstücker’s Methode (Ploetz 1865, S. 106f.)

ohne Überschrift – aus der Elementargrammatik der französischen Sprache (Ploetz 1871, S. 103)

1

Die Dampfmaschine, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts durch den Engländer Watt perfektioniert wurde,

Die Dampfmaschine ist in 1 England erfunden worden. Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde sie durch den Engländer Watt perfektioniert.

2

wird sowohl eingesetzt, um Nadeln herzustellen, als auch um die Anker der größten Schiffe zu schmieden.

3

Hier eine kurze Erklärung, die eine Grundidee dieser wunderbaren Wirkweisen liefern soll. Das in Dampf verwandelte Wasser, sofern es sehr stark erhitzt wurde, besitzt eine umso höhere Kraft, je größer die Hitze ist. Wenn ein Kochtopf perfekt von seinem Deckel verschlossen wäre, könnte das darin eingeschlossene Wasser, wenn es sich in Dampf umgewandelt hat, diesen Deckel auch dann noch anheben, wenn man ihn mit dem größten Gewicht beschwert hätte, oder das Gefäß würde explodieren. Dieser Beobachtung verdanken wir die Erfindung der Dampfmaschine,

(2)

3 Diese bedeutende Erfindung gründet auf der Beobachtung einer einfachen Tatsache. Beobachtet einen Topf, der dicht am Feuer steht und mit einem Deckel verschlossen ist. Wenn das Wasser zu kochen beginnt, fängt der Deckel an, sich zu heben und zu senken. Dieses Phänomen wird von der Kraft des zu Dampf verwandelten Wassers verursacht. Wenn ein Kochtopf voller Wasser auf dem Feuer perfekt durch seinen Deckel verschlossen wäre, würde er am Ende explodieren. Diese schreckliche Kraft des Dampfes ist mittels eines genialen Mechanismuses geregelt worden und wird nun vom Menschen dazu gezwungen, an seiner Stelle zu arbeiten.

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

(Fortsetzung) 4 welche wir nun nutzen, um Schiffe schnell über das Mehr fahren zu lassen, um die Wagons mit einer höheren Geschwindigkeit als ein Pferd im Galopp über die Eisenbahnschienen zu ziehen.

5

Schiffen, die von einer Dampfmaschine angetrieben werden, hat man den Namen Dampfboote gegeben, obwohl die Mehrheit dieser Schiffe keine Boote sind, sondern aufgrund ihrer Größe eher den Namen Schiff verdienten. In unterschiedlichen produzierenden Gewerben eingesetzt, unterstützen die Maschinen den Menschen bei einer Vielzahl an Fertigungsschritten, besonders beim Spinnen/Weben von Baumwolle, Leinen und Wolle, und dabei, diese Stoffe einer Allgemeinheit zugänglich zu machen und zu einem wenig hohen Preis, so dass jetzt fast jeder günstige und gute Kleidung tragen kann, welche früher nur die sehr reichen Leute trugen.

97

4 Heute kommen die Dampfmaschinen in einer großen Anzahl von Industriezweigen zum Einsatz. Die Dampfmaschine stellt Nadeln her und schmiedet Anker. Sie sägt Bretter, sie treibt Schiffe auf dem Meer an, und mit der Eisenbahn zieht sie Reisende sowie Güter. Die Dampfschifffahrt wurde 5 entweder in Frankreich oder Amerika erfunden. Die Franzosen geben an, dass das erste Dampfboot von einem Franzosen namens P8rier in Bewegung gebracht wurde. Das Experiment fand 1753 in Paris auf der Seine statt. Das Experiment wurde 1803 in Paris vor Kaiser Napoleon durch den Amerikaner Fulton wiederholt. Napoleon lehnte das Angebot des Erfinders ab, die Boote der französischen Marine mit Dampfmaschinen auszustatten. Daraufhin brachte Fulton seine Erfindung in die Vereinigten Staaten. 1812 wurde die erste regelmäßig verkehrende Dampfbootlinie in New York eingerichtet.

Quellenverzeichnis Primärliteratur Acad8mie franÅaise (Hg.) (61835): Le Dictionnaire de l’Acad8mie franÅaise. Paris. Acad8mie franÅoise (Hg.) (51798): Le Dictionnaire de l’Acad8mie franÅoise. Paris. Ahn, Franz (761853): Praktischer Lehrgang zur schnellen und leichten Erlernung der französischen Sprache. Erster Cursus. Köln. Campan, Jeanne-Louise-Henriette (21823): M8moires sur la vie priv8 de Marie-Antoinette, reine de France et de Navarre, Bd. 1, hg. v. FranÅois BarriHre. Paris.

98

Aline Willems

F8nelon, FranÅois de Saliganc de La Mothe (1837): Œuvres choisies de F8nelon, pr8c8d8es de l’Ploge de F8nelon par La Harpe, hg. v. unbekannt. Paris. Gedike, Friedrich (121811): Französisches Lesebuch für Anfänger nebst einer kurzen Grammatik. Berlin. Heinzmann, Johann (1797): Akademie junger Schweizer – Deutsch und Französisch. Auswahl von Lesestücken zur Bildung des Herzens und Geistes und Kenntniß der Welt. Bern. Kühn, Karl (1887): Übungen zum Französischen Lesebuch. Bielefeld / Leipzig. Kühn, Karl (61897): Französisches Lesebuch Unterstufe. Bielefeld / Leipzig. La Fontaine, Jean de (1995 [1668]): Fables, hg. v. Alain-Marie Bassy. Paris. Montesquieu = Charles-Louis de Secondat, Baron de Montesquieu (1973): Oeuvres complHtes, Bd. 1, hg. v. Roger Callois. Paris [BibliothHque de la Pl8iade 81]. Ploetz, Karl (171890): Elementar-Grammatik der französischen Sprache. Berlin. Ploetz, Karl (81871): Cours gradu8 de langue franÅaise. Bd. 1: Elementarbuch der Französischen Sprache nach Seidenstu¨ cker’s Methode. o.O. Ploetz, Karl (1868): Übungen zur Erlernung der französischen Syntax für die Secunda und Prima von Gymnasien und Realschulen. Berlin. Ploetz, Karl (191867): Cours gradu8 de langue franÅaise. Bd. 2: Lehrbuch der französischen Sprache – zweiter Cursus oder Schulgrammatik nach der stufenweise fortschreitenden Methode mit einer Uebersichtlichen Zusammenstellung der Grammatik nach dem Schema der Redetheile. Berlin. Ploetz, Karl (31853): Vocabulaire syst8matique et guide de conversation franÅaise. Methodische Anleitung zum Französisch Sprechen mit zahlreichen, die Synonymik, die sprüchwörtlichen Redensarten, die Gallicismen und Germanismen betreffenden Anmerkungen. Berlin. S8gur, Philippe de (1825): Histoire de Napol8on et de la Grande-Arm8e pendant l’ann8e 1812, Bd. 2. Bruxelles. Seidenstücker, Johann Heinrich Philipp (91835): Johann Heinrich Philipp Seidenstücker’s Elementarbuch zur Erlernung der Französischen Sprache – erste Abtheilung oder Nro. I. Hamm / Soest. Seidenstücker, Johann Heinrich Philipp (31821): Johann Heinrich Philipp Seidenstücker’s Elementarbuch zur Erlernung der Französischen Sprache – zweite Abtheilung oder Nro. II. Hamm / Leipzig. Wahlert, Georg Ernst August (21835): Johann Heinrich Philipp Seidenstu¨ cker’s Elementarbuch zur Erlernung der Französischen Sprache – dritte Abtheilung oder Nro. III. Hamm / Soest.

Sekundärliteratur Burwitz-Melzer, Eva / Mehlhorn, Grit / Riemer, Claudia / Bausch, Karl-Richard / Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) (62016): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen. Christ, Herbert (1993): »De Meidinger / Ploetz, en passant par Seidenstücker, Ahn et Ollendorff, ou le cheminement de la m8thodologie synth8tique«, in: Documents pour l’histoire du franÅais langue 8trangHre ou seconde 12/1993, S. 5–10.

Kleine Formen im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts in Deutschland

99

Council of Europe (Hg.) (2018): Common European Framework of Reference for Languages: Companion Volume with new Descriptors, https://rm.coe.int/cefr-companion-volu me-with-new-descriptors-2018/1680787989 [Zugriff: 11. 11. 2018]. Europarat – Rat für kulturelle Zusammenarbeit (Hg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin et al. Gamper, Michael / Mayer, Ruth (2017): »Erzählen, Wissen und kleine Formen«, in: dieselb. (Hg.): Kurz & knapp – zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld, S. 7–22. Geisau, Hans von (1979): »Kodros«, in: Ziegler, Konrat / Sontheimer, Walther (Hg.): Der Kleine Pauly – Lexikon der Antike: Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften. München, S. 264–265. Hallet, Wolfgang / Königs, Frank G. (Hg.) (22013): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze. Kramer, Johannes (2000): »Welche Zeichen soll die Zunge der Frau aussenden? Ratschläge von Vives, Erasmus, Luis de L8on, F8nelon und Mme Campan zum weiblichen Sprachgebrauch«, in: Kimminich, Eva / Kru¨ lls-Hepermann, Claudia (Hg.): Welt – Körper – Sprache: Perspektiven kultureller Wahrnehmungs- und Darstellungsformen. Bd. 1: Zunge und Zeichen. Frankfurt a.M., S. 15–40. KMK = Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (Hg.) (2012): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife – Beschluss vom 18. 10. 2012. München, www.kmk.org/fileadmin/veroef fentlichungen_beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf [Zugriff: 11. 11. 2018]. KMK = Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (Hg.) (2004a): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/Französisch) für den Hauptschulabschluss – Beschluss vom 5. 10. 2004. München, www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschl uesse/2004/2004_10_15-Bildungsstandards-ersteFS-Haupt.pdf [Zugriff: 11. 11.2018]. KMK = Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (Hg.) (2004b): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/Französisch) für den Mittleren Schulabschluss – Beschluss vom 4. 12. 2003. München, www.kmk.org/fileadmin/veroeffentli chungen_beschluesse/2003/2003_12_04-BS-erste-Fremdsprache.pdf [Zugriff: 11. 11. 2018]. Kuhfuß, Walter (2014): Eine Kulturgeschichte des Französischunterrichts in der frühen Neuzeit: Französischlernen am Fürstenhof, auf dem Marktplatz und in der Schule in Deutschland. Göttingen. LWKL = DFG-Graduiertenkolleg »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen« (Hg.): »Forschungsprogramm: Begriff ›kleine Form‹«, http://www.kleine-formen.de/ forschungsprogramm/ [Zugriff: 11. 11. 2018]. Machill, Horst (Hg.) (1974): Handbuch des Buchhandels, Bd. 1: Allgemeines. Hamburg. Mangold, Wilhelm (1902): »Der Unterricht im Französischen und Englischen«, in: Lexis, Wilhelm (Hg.): Die Reform des höheren Schulwesens in Preußen. Halle a. S., S. 191–226. Müller-Hartmann, Andreas / Schocker, Marita (2017): »Chunk learning«, in: Surkamp, Carola (Hg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Ansätze – Methoden – Grundbegriffe. Stuttgart, 34f. Surkamp, Carola (Hg.) (22017): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Ansätze – Methoden – Grundbegriffe. Stuttgart.

100

Aline Willems

Swiggers, Pierre (1990): »Französisch: Grammatikographie«, in: Holtus, Günter / Metzeltin, Michael / Schmitt, Christian (Hg.): Lexikon der Romanistischen Linguistik, Bd. V. Tübingen, S. 843–869. Willems, Aline (2013): Französischlehrwerke im Deutschland des 19. Jahrhunderts: Eine Analyse aus sprachwissenschaftlicher, fachdidaktischer und kulturhistorischer Perspektive. Stuttgart.

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

Erträge reduzierter Situierung. Überlegungen zur Adressatenund Situationsorientierung in Abituraufsätzen der 1960er/1970er Jahre

1.

Kleinheit als didaktisches Prinzip?

Der Prozess der Verkleinerung spielt in der didaktischen Theoriebildung heute keine große Rolle, war aber einmal ein weithin anerkanntes Prinzip, für das der Begriff ›Didaktische Reduktion‹ bereitstand. In anderen Fachkulturen wiederum war von »didaktischer Transformation« oder »Elementarisierung« die Rede. Inzwischen wird das Prinzip der »didaktischen Reduktion« gelegentlich, so etwa durch Jank und Meyer, als ganz »überholt« betrachtet, da es zu sehr inhaltsorientiert und zu wenig lerner- und methodenorientiert sei (Jank / Meyer 2014, S. 32). Diese Kritik fällt vor allem dann schwer ins Gewicht, wenn didaktische Reduktion als inhaltsorientiertes, oberstes Prinzip weitere Bezüge der Unterrichtsvorbereitung verstellt. An dieser Stelle soll jedoch ein zweiter Blick auf das Konzept der didaktischen Reduktion gewagt werden. Didaktische Kleinheit, so die gängige Bestimmung, lässt sich als Resultat einer didaktischen Reduktion oder Verkleinerung stofflicher Komplexität begreifen, die dazu dient, Gegenstände in Unterrichtskontexten handhabbar zu machen (Lehner 2012, S. 9f.).1 Ihre Notwendigkeit ergibt sich aus den begrenzenden Bedingungen des Unterrichts: Zeit, Raum, kognitive Ressourcen und Aufmerksamkeitsspannen. Aus ökonomischen Erwägungen heraus produziert die Didaktik reduzierte und in diesem Sinne kleine Lerngegenstände oder auch ›kleine Formen‹. Deswegen geht Didaktisierung zumindest potenziell mit Verkleinerung einher – und diese Feststellung wiederum wäre trivial, könnte man sich über diese Zusammenhänge nicht praktisch täuschen. Der Unterricht wimmelt schließlich von kleinen Formen, die dort nicht nur geplant, sondern auch ungeplant entstehen können und zwar besonders frappierend dann, wenn eigentlich Großes geplant war. Dass der Terminus ›didaktische Reduktion‹ inzwischen trotzdem so unbeliebt ist, mag neben der von Jank und Meyer bemängelten Schlagseite zum Inhaltli1 Diese Gedanken lassen sich systemtheoretisch weiterentwickeln, vgl. ebd. (S. 13).

102

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

chen einerseits an der Illusion liegen, das Kleine sei auch das Unwichtige oder sogar ›Nichtige‹. Andererseits insinuiert diese Sprechweise die Existenz einer festen Bezugsgröße und hiermit einhergehend einer Abbilddidaktik, deren Stoffe eindimensional aus einer wissenschaftlichen Disziplin abgeleitet werden könnten. Diese Auffassung ist insofern problematisch, als Schulfächer sich nicht ausschließlich auf wissenschaftliche Disziplinen beziehen.2 Vokabulare wie ›Exemplifizierung‹, ›Elementarisierung‹3 oder ›didaktische Transformation‹ (vgl. Steinbrügge 2008, S. 14) entgehen diesem Missverständnis zwar, bezeichnen jedoch Vorgänge, die ebenfalls eine Reduktion einschließen oder voraussetzen.4 Herausforderungen des Versuchs, Gegenstände in einer unreduzierten oder zumindest vergleichsweise geringfügig reduzierten Form für den Unterricht verfügbar zu machen, wollen wir im Folgenden am Beispiel früher Ansätze kommunikationsorientierter Schreibdidaktik untersuchen. In einschlägigen Publikationen der späten 1960er-Jahre wird die Wendung gegen einen als lebensfern empfundenen Schreibunterricht deutlich. Die radikalsten Vorschläge sahen lebensgroße Schreibsituationen vor, wurden aber innerhalb der kommunikationsorientierten Schreibdidaktik schon rasch problematisiert. In den folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, wie mit dem Anspruch ›echter‹ oder ›nur‹ ›realistischer‹ Schreibsituationen die Alternativen einer gewissermaßen ›großen‹ und einer ›kleinen‹ Situierung diskutiert wurden. Darauf aufbauend sollen Leistungen einer solchen ›kleinen‹ Situierung anhand von Abituraufsätzen untersucht werden, die Mitte der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre verfasst wurden und sich als Erzeugnis früher Versuche verstehen lassen, situierte Aufgaben auch in (den sonst eher ausgeblendeten) Prüfungskontexten nutzbar zu machen.5

2 So vor kurzem auch Bayrhuber (2017, S. 163, Anm. 6). 3 Vgl. für einen Überblick Klafki (2007). 4 Beim Versuch, eine »allgemeine Fachdidaktik« zu modellieren, schlug der Biologiedidaktiker Bayrhuber (2017, S. 166f.) vor kurzem vor, die didaktische Reduktion als Teilschritt einer Modellierung von Unterrichtsinhalten zu begreifen, dem die Auswahl vorangeht und die Transformation folgt. 5 Hierfür greifen wir auf ein Korpus von Abituraufsätzen eines West-Berliner Gymnasiums zurück, das im Rahmen des Projekts »Abiturprüfungspraxis und Abituraufsatz 1882 bis 1972« in Kooperation der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF j LeibnizInstituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation mit der Humboldt-Universität zu Berlin untersucht wird.

Überlegungen zur Adressaten- und Situationsorientierung in Abituraufsätzen

2.

103

Schreibdidaktische Forderung nach »echten« Kommunikationssituationen

Dem geläufigen Verständnis folgend wurzelt die bis in die 1970er Jahre dominierende ›traditionelle Aufsatzdidaktik‹ mit ihrer Differenzierung »›sachlichobjektive[r]‹ und ›persönlich-subjektive[r]‹ Aufsatzarten« (Abraham 2014, S. 15) in der Konzeption des sogenannten »sprachschaffenden« Aufsatzes Seidemanns (1927) (vgl. u. a. ebd., S. 14f.).6 Die ›kommunikative Wende‹ der 1970er Jahre ist als grundlegender Einschnitt schreibdidaktischer Theoriebildung interpretiert worden (vgl. u. a. Ludwig 1988, S. 453);7 in einzelnen Arbeiten deutet sich dieser Paradigmenwechsel bereits Anfang bzw. Mitte der 1960er Jahre an (u. a. Graucob 1960, Beinlich 1961, Herrlitz 1974 [1966]; primär auf die Volksschule bezogen auch Sanner 1964, Singer 1966).8 Der schulische Schreibunterricht, die Differenzierung von und Schwerpunktsetzung durch tradierte Aufsatzarten sowie der (mangelnde) Bezug schulischer Schreibaufgaben zu außerschulischen Schreibanforderungen werden in Frage gestellt. Gefordert wird, je nach Akzentuierung, in Anlehnung an das Zeichenmodell Bühlers eine verstärkte Berücksichtigung appellativen Schreibens bzw. die (grundsätzliche) Ausrichtung schulischen Schreibens an konkreten Kommunikationssituationen und Adressaten (vgl. u. a. Boettcher et al. 1973).9 In Ausrichtung auf zukünftige Kommunikationssituationen steht dieser Anspruch vor allem ab Anfang der 1970er Jahre im Dienst eines emanzipatorischen Erziehungsideals (vgl. u. a. ebd., S. 101–104; Ingendahl 1972, S. 75).10 Mit Blick auf schulische Schreibaufgaben soll der Kontextbezug nicht zuletzt die Motivation der SchülerInnen bzw. die Sinnhaftigkeit des Schreibens verbürgen (vgl. Boettcher et al. 1973, S. 116).11 Vielfach findet sich der Versuch, an die Gestaltung kommunikationsorientierter Schreibaufgaben weitere Zieldimensionen zu 6 Ludwig hebt dabei hervor, dass »aus dem Seidemannschen ›sprachschaffenden Aufsatz‹ nach 1945 unter der Hand jedoch ein ›sprachgestaltender Aufsatz‹ wurde« (Ludwig 1988, S. 425). 7 Spinner charakterisiert in seiner Rückschau die »kommunikative oder pragmatische Wende« als »entscheidendste[n] Einschnitt in der Entwicklung der Deutschdidaktik seit 1945« (Spinner 1993, S. 77). Paradigmatisch wird häufig Boettcher et al. Schulaufsätze – Texte für Leser (1973) angeführt; eine Zusammenstellung weiterer einschlägiger Beiträge kommunikativer Schreibdidaktik liefert Schau (1974) (vgl. Spinner 1993, S. 77 u. 78). 8 Mit diesen früheren Ansätzen kommunikationsorientierter Schreibdidaktik setzen sich insb. Böttcher et al. (1973, S. 99ff.) auseinander. 9 Vgl. hierzu auch Engelen (1974 [1972]), Haueis (1972, u. a. S. 99–105), Herrlitz (1974 [1966], S. 160–164), Lehmann (1974 [1970], insb. S. 209–212), Sanner (1964, insb. S. 20–32), Singer (1966, S. 19–21) und Weinmann (1970, S. 48). 10 Explizit politisch wenden Herrlitz (1974 [1966], u. a. S. 161f.) und in Anlehnung hieran Lehmann (1974 [1970], insb. S. 206–213) diesen Anspruch. 11 Darüber hinaus heben diesen Aspekt auch z. B. Haueis (1972, S. 100), Lehmann (1974 [1970], S. 218), Weinmann (1970, S. 49) und Singer (1966, S. 20) hervor.

104

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

knüpfen; dies betrifft insbesondere die Gestaltung kooperativer Arbeitsformen und anspruchsvoller Recherchesituationen (u. a. Weinmann 1970). Kritisiert wird, »daß Sprachunterricht unter starker Reduktion von ›Sache‹ als abstrakter Sprachunterricht betrieben wird, anhand von systematisch organisierten Sprachbüchern, völlig unabhängig von den Faktoren, die in der normalen sprachlichen Kommunikation eine Rolle spielen« (Boettcher et al. 1973, S. 31). Demgegenüber erheben kommunikationsorientierte Ansätze dieser Zeit den Anspruch, ›echte‹ bzw. ›natürliche‹ Schreibsituationen oder solchen zumindest entsprechende Situationen zu gestalten.12 Strittig ist jedoch, inwiefern auch fiktive Schreibsituationen den hiermit verbundenen Forderungen gerecht werden können. So beschreibt Sanner Aufgaben, im Rahmen derer SchülerInnen bestimmte Situationen imaginieren sollen, spricht sich jedoch an anderer Stelle ausdrücklich gegen das Verfassen von »Phantasiebriefen« aus (Sanner 1964, S. 81). Auch Weinmann schließt explizit die Möglichkeit ein, Situationen zu »simulier[en]« (Weinmann 1970, S. 49). Singer wiederum plädiert dafür, den Kommunikationskontext der Schule selbst zu nutzen und schulische Texte an MitschülerInnen und Lehrkräfte zu adressieren (Singer 1966, S. 20). Briefe wiederum seien, um dem Anspruch nach Mitteilungscharakter gerecht zu werden, auch tatsächlich abzuschicken (ebd., S. 154).13 Was hier aufscheint, ist die Idee einer (Schreib-)Didaktik, die nicht verkleinert und auch nicht transformiert, sondern lebensechte Gegenstände zur Bearbeitung anbietet. Formuliert wird also nichts anderes als eine didaktische Utopie des Unverkleinerten, ›Großen‹, des Ernstfalls. Der Ernstfall ist aber nicht unumstritten: Andere Autoren halten ihn für unmöglich und sehen deswegen explizit fingierte Kommunikationssituationen vor. Einige Vertreter der kommunikationsorientierten Schule weisen auf die Gefahr didaktischer Überschätzungen durch große Zielsetzungen hin. So kritisiert Ingendahl bezugnehmend auf Weinmanns »komplexe[] Schreibsituationen« (1970, S. 71): Solche Übertragungen von Lebenssituationen in die Schule sind und bleiben künstliche Veranstaltungen; sie können nicht zu echten Situationen werden, die Echtheit ist immer 12 Bereits Graucob betont die Notwendigkeit der »echten Anlässe« fürs Briefeschreiben und macht Maßstäbe des »Wirklichen« und »Natürlichen« (1960, S. 60f.) gegen das Gekünstelte und Gezüchtete stark. Boettcher et al. sprechen von »echten« (1973, S. 111), Weinmann von »natürliche[n] Schreibsituationen« (1970, S. 47) bzw. Schreibsituationen, die »echten Situationen aus dem außerschulischen Bereich ähnlich [sind] oder mit diesen in direkter Verbindung steh[en]« (ebd., S. 49); Lehmann (1974 [1970]) fordert »natürliche und reale Sprachanlässe« (S. 209); schulisches Schreiben soll »tatsächliche Lebenssituationen zum Ausgangspunkt haben und im Hinblick auf spätere Verwendungssituationen durchgeführt werden« (ebd., S. 217). 13 Von solcher Arbeit mit Briefen berichtet auch Weinmann (1970, S. 54).

Überlegungen zur Adressaten- und Situationsorientierung in Abituraufsätzen

105

simuliert, und wir müssen auch den Kindern gegenüber zugeben, daß wir sie simulieren. (Ingendahl 1972, S. 81)

Er fordert eine Ausrichtung an realen Schreibanforderungen, die nicht den Anspruch erhebt, selbst reale Schreibsituationen zu gestalten, und plädiert für eine ›transparente Reduktion‹ oder auch ›transparente Transformation‹: Es müssen sowohl sprachliche Mittel und Verfahrensweisen als auch Möglichkeiten verbaler Planung erarbeitet werden, und zwar so, daß sie Transfers auf individuelle und soziale Aussprüche erlauben. Das geschieht an Inhalten, die nicht vorgeben, unmittelbare Lebenssituationen zu sein, sondern die exemplarisch Lebenssituation repräsentieren in der Weise, daß sie in der Konstellation von Faktoren der gegenwärtigen und erwartbaren zukünftigen Wirklichkeit vergleichbar sind und so den Transfer der Handlungsmöglichkeiten motivierend unterstützen. (ebd., S. 75; Hervorheb. i. O.)

Boettcher et al. verwahren sich, nicht zuletzt in Abgrenzung von den Einwänden Ingendahls, gegen solche »Stell-dir-vor-Situationen« (Boettcher et al. 1973, S. 111)14 und plädieren für Aufgaben, die in reale Kommunikationssituationen eingebunden sind (ebd., S. 30).15 Demgegenüber würden Aufgaben mit »fingiert[em]« Adressatenbezug (ebd.) – ebenso wie Aufgaben, die auf einen Adressatenbezug gänzlich verzichten – eine Art ›Zielkonflikt‹ zwischen ›äußerer‹ und ›innerer‹ Ausrichtung von Schülertexten erzeugen: Offiziell schreibt der Schüler seinen Aufsatz an niemanden (allenfalls wird gelegentlich ein Adressat fingiert: ›Stell dir vor, du schriebst an deinen Lieblingsschriftsteller‹). De facto bleibt dem Schüler aber nichts anderes übrig, als an den Lehrer zu schreiben, freilich in einem völlig pervertierten Adressatenbezug. Auch hier liegt also ein Bruch zwischen offiziellem Adressatenbezug (nämlich: Adressatenlosigkeit) und heimlichem Adressaten ›Lehrer‹ vor, und dieser Bruch wird zwar von allen Beteiligten gewußt, aber nicht gemeinsam zum Problem gemacht (ebd.).16 14 Vgl. bereits Graucob (1960, S. 60), der von der Gefahr eines ständigen »So-tun-als-ob« spricht. 15 Skepsis an der Realisierbarkeit dieses Anspruchs weisen die Autoren unter Rückgriff auf konkrete Umsetzungsvorschläge Graucobs (1960), Beinlichs (1961), Weinmanns (1970) und Singers (1966) zurück. Der von Boettcher et al. beschriebene Vorschlag Graucobs etwa umfasst die Bestellung von Informationsmaterialien für Ausflüge – anlässlich dieser Ausflüge dann Korrespondenz mit der Bahn und Jugendherbergen, vor Theaterbesuchen dann Anfragen wegen verbilligter Eintrittskarten; mit den Antworten entstehen neue Ernstfallsituationen: Dankschreiben werden fällig (Boettcher et al. 1973, S. 112). Die lebensgroße, unreduzierte Sache soll Gegenstand des Unterrichts sein. 16 Aufgaben mit solchem Zielkonflikt müssten dabei nicht grundsätzlich aus dem Unterricht verbannt werden. Vielmehr könne der skizzierte ›Bruch‹, sofern er als solcher thematisiert wird, für den Schreibunterricht fruchtbar gemacht werden: »Wenn dies geschähe, könnte der Schüler lernen, eine gelegentlich wichtige Situation des praktischen Lebens zu meistern, nämlich für zwei unterschiedliche Partner zugleich zu schreiben, bzw. offiziell einem Adressaten A etwas mitzuteilen, dabei aber den Adressaten B zu meinen und auf ihn hin zu formulieren« (ebd.). Auch die Ausrichtung von Schülertexten auf die Lehrkraft als beur-

106

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

Das in diesem Zielkonflikt angelegte Kernproblem der Inszenierung ›authentischer‹ Schreibsituationen im Unterricht müsste, führt man diese Überlegungen fort, in Prüfungssituationen seine Zuspitzung finden: Stärker noch als andere Produkte schulischen Schreibens sind Prüfungstexte an Lehrkräfte als beurteilende Personen gerichtet. Eine Schreibsituation, die außerschulische Kommunikationskontexte imitiert, kann nur innerhalb der Prüfungssituation inszeniert werden, welcher – so unsere Überlegung – dabei der Stellenwert einer ›eigentlichen‹ Kommunikationssituation zukommt. Die Adressierung eines außerschulischen Rezipienten wird dann als Adressierung zweiten Grades innerhalb eines primär an die beurteilende Lehrkraft gerichteten Textes realisiert; die Anpassung an eine durch die Aufgabenstellung inszenierte Schreibintention ist als Teil der ›eigentlichen‹ Ausrichtung an antizipierten Beurteilungsmaßstäben zu verstehen.

3.

Situierte Abiturprüfungsaufgaben (1964 und 1971)

Innerhalb der untersuchten kommunikationsorientierten Ansätze bleiben schulische Prüfungskontexte weitgehend unberücksichtigt. Vereinzelt wird thematisiert, dass Schreibaufgaben mit Bezug zu konkreten Kommunikationssituationen nach neuen Formen der Bewertung von Schülerarbeiten verlangen, weil sich Stil etwa nun bloß noch ausgehend von der Aufgabenstellung bewerten lasse (Haueis 1972, S. 104f.). In den Mittelpunkt der Bewertung rückt die Ausrichtung auf die in der Aufgabenstellung beschriebenen Adressaten und den Zweck der Kommunikation. Boettcher et al. wiederum heben das Potenzial solcher Kommunikationssituationen zur Generierung valider Beurteilungskriterien hervor (Boettcher et al. 1973, S. 9 u. 115)17. Zugleich zeigen die Autoren ebenso wie z. B. Singer (1966) eine grundlegend skeptische Haltung gegenüber (benotender) Beurteilung von Aufsätzen im Speziellen wie Schülerleistungen im Allgemeinen (ebd., S. 115; Singer 1966, S. 63–71). Möglicherweise korrespondiert die weitgehende Vernachlässigung von Prüfungskontexten auch mit den teilweise hohen Ansprüchen an die Authentizität der Schreibanlässe: Prüfungsaufgaben können – insbesondere in der ›Ernstfallsituation‹ des Abiturs – bestenfalls Stell-dir-vorSituation und damit verkleinerte Varianten lebensgroßer Situation inszenieren. teilende Adressatin wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die Autoren kritisieren vielmehr, dass die Intention, eine möglichst gute Beurteilung zu erzielen, »die einzige bleibt, mit der der Schüler in seiner Schulzeit Aufsätze schreibt« (ebd., S. 29, Hervorheb. d. Verf.), der damit »praktisch keine der zahllosen Einsatzmöglichkeiten des Schreibens praktizieren« lerne (ebd.). 17 Vgl. ähnlich auch Engelen (1974 [1972], S. 242), Sanner (1964, S. 31f.), Lehmann (1974 [1970], S. 219f.).

Überlegungen zur Adressaten- und Situationsorientierung in Abituraufsätzen

107

Ungeachtet dessen etabliert in Berlin bereits die 1970 erlassene Abiturprüfungsordnung einen Aufgabentyp, der Einbettungen in konkrete Kommunikationssituationen vorsieht: Anfertigung eines Textes für einen konkret bezeichneten Zweck (Brief, Rede, Diskussionsbeitrag, Essay, Bericht, Kommentar, Reportage, Vorwort, Gutachten, Kritik, Zeitungsartikel). Arbeitsziel: Anwendung von Stilformen je nach Gegenstand und Schreibzweck. (SenS 1970, S. 429)18

Im untersuchten Prüfungsbestand wiederum bilden Aufgaben, auf die diese Beschreibung zutrifft, insgesamt eine Randgruppe. Sie treten jedoch bereits ab Ende der 1940er Jahre und damit deutlich vor ihrer expliziten Verankerung in der Prüfungsordnung auf. Für die folgende Untersuchung wurden zwei dieser Aufgaben ausgewählt. Die erste Aufgabe wurde 1964 zur Wahl gestellt: Aufgabe 1 (1964). Geben Sie einer Gruppe Gleichaltriger vor dem Besuch einer Theateraufführung des Dramas ›Des Teufels General‹ von C. Zuckmayer eine Einführung in das Problem und die Hauptpersonen des Stückes. (Redeform) (GHO 659, 4r)

Adressaten und der Anlass der Ansprache (eine Gruppe Gleichaltriger vor dem Besuch einer Theateraufführung) werden nur abstrakt benannt. Den Erläuterungen der Lehrkraft zufolge fordert die Aufgabe, »einen bekannten Stoff in eine neue Form zu bringen« (GHO 659, 2r); verfasst werden sollen die Arbeiten in der (den SchülerInnen vertrauten) »Stilform der Rede« (GHO 659, 2r).19 Sieben Jahre später – inzwischen sind solche Aufgaben durch die neu erlassene Prüfungsordnung offiziell vorgesehen – formuliert dieselbe Lehrkraft eine Abiturprüfungsaufgabe, die das Verfassen eines adressatenbezogenen Texts als Bearbeitungsoption eröffnet: Aufgabe 2 (1971). E. Kästner : Die vier archimedischen Punkte (1949). Setzen Sie sich mit den Gedanken E. Kästners in dieser ›Neujahrsansprache vor jungen Leuten‹ auseinander. (Briefform möglich) (GHO 743, 2r)

Diese Aufgabe reduziert noch weiter ; statt einer konkreten Kommunikationssituation ist hier lediglich eine Zieltextsorte angegeben, die adressatenbezogenes Schreiben einfordert. Zwar scheint mit Kästner – an den alle als Briefe verfassten Aufsätze gerichtet sind – auch ein konkreter Adressat in der Aufgabenstellung

18 Die bis dahin gültige, 1959 erlassene Prüfungsordnung beschreibt noch keine entsprechende Aufgabenart (SenV 1959, S. 8). 19 Die Aufgabe wurde von vier der insgesamt 26 SchülerInnen gewählt.

108

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

angelegt zu sein, dieser dürfte jedoch keinem der AbiturientInnen persönlich bekannt sein.20 Im Folgenden soll untersucht werden, in welcher Form die Abiturprüfungsaufsätze auf die in den Aufgabenstellungen angelegten Kommunikationssituationen Bezug nehmen. Der Umgang mit der Situierung der Aufgaben soll in Relation zu den tatsächlich geltend gemachten Qualitätskriterien untersucht werden, auf welche die Aufgabenstellungen selbst nur eingeschränkte Rückschlüsse zulassen.21 Zu diesem Zweck werden neben den Schülerarbeiten auch deren Kommentierung durch die jeweilige Lehrkraft (im Schülertext sowie am Rand der Arbeiten) sowie die beurteilenden Ausführungen derselben Lehrkraft am Ende der Arbeit in die Auswertung einbezogen.22 In besonderer Weise scheinen die einleitenden und abschließenden Passagen der Arbeiten die Funktion zu erfüllen, einen Bezug auf die anvisierte Kommunikationssituation zu markieren: Liebe Mädchen und Jungen! Ihr ward [sic] alle damit einverstanden, daß wir uns morgen Zuckmayers Drama »Des Teufels General« ansehen. Man hat mich gebeten, Euch etwas über Problem und Personen zu informieren. Ich habe zwar das Drama nicht auf der Bühne gesehen, ich habe aber das Buch gelesen. (A 1/2, GHO 659, 27r)23

Der Schüler kann sich das Zustandekommen einer Redesituation, wie sie die Aufgabe verlangt, anscheinend nicht anders vorstellen, als durch Instruktion. Er nimmt deswegen die Aufgabenstellung gewissermaßen mit in die Redesituation hinein – eine Freiheit, die ihm jene auch lässt. Noch stärker integrieren die zur zweiten Aufgabe verfassten Arbeiten eine Erläuterung der Schreibsituation in ihre einleitenden Ausführungen und gehen dabei insbesondere auf die zeitliche Distanz zwischen Veröffentlichung der Ansprache und dem Verfassen des Briefes ein: 20 Die Aufgabe wurde von knapp der Hälfte der insgesamt 17 SchülerInnen bearbeitet. Über die Plausibilität der Aufgabe, auf eine zwanzig Jahre alte Neujahrsansprache zu reagieren, lässt sich gut streiten – auch weil über den Anlass der Auseinandersetzung und des Briefes nichts zu erfahren ist. 21 Dokumentierungen der Aufgabenanforderungen in Form heutiger Erwartungshorizonte werden durch die bis Anfang der 1970er Jahre geltenden Prüfungsordnungen nicht eingefordert und liegen auch in den Prüfungsunterlagen der untersuchten Jahrgänge nicht vor. 22 Die zitierten Prüfungsarbeiten werden dabei im Folgenden nach Aufgaben und Arbeiten nummeriert. Dabei bezeichnet die erste Nummer die Aufgabe, die zweite den zu dieser Aufgabe verfassten Aufsatz. A 1/3 bezeichnet also den dritten der zu Aufgabe 1 verfassten Aufsatz, A 1/4 den vierten zur selben Aufgabe verfassten Aufsatz etc. 23 In einer weiteren Arbeit wird einleitend sehr allgemein auf die Situierung Bezug genommen. Hier heißt es: »Meine lieben Zuhörer, wir wollen uns heute das Theaterstück ›Des Teufels General‹ anschauen.« (A 1/4, GHO 659).

Überlegungen zur Adressaten- und Situationsorientierung in Abituraufsätzen

109

[…] mit Interesse habe ich Ihre kleine Ansprache zum neuen Jahr gelesen, die Sie nach dem zweiten Weltkrieg vor jungen Leuten gehalten haben. Sicher war in dieser Zeit das Thema der Besserung des Menschen besonders aktuell, doch glaube ich, daß dieses Problem uns heute nicht weniger berührt. Darum und weil ich mich als junger Mensch besonders angesprochen fühle, möchte ich zu Ihren Ausführungen Stellung nehmen. (A 2/6, GHO 743, 60r)24

Die durch die Aufgabenstellung lediglich angedeutete Situierung wird dabei sinnstiftend konkretisiert – sie erweist sich als erläuterungs- bzw. spezifikationsbedürftig, lässt aber umgekehrt betrachtet auch Freiraum für eine entsprechende Ausgestaltung. Die abschließenden Beurteilungen der Lehrkraft nehmen teilweise nur sehr allgemein darauf Bezug, inwiefern die entsprechenden Aufsätze der Situierung der Aufgaben gerecht werden25 : Nur am Anfang und Ende hat sie die Redeform beachtet. (A 1/3, GHO 659, 49v ; ähnlich knapp auch in A 1/4) Der Verfasser hat die Briefform gut getroffen. (A 2/6, GHO 743, 62v ; ähnlich auch in A 2/5)

Im Folgenden fokussieren wir vor allem zwei der in den Lehrerbeurteilungen thematisierten Aspekte: Die direkte Ansprache von AdressatInnen und die Auswahl von Informationen in Anpassung an rezipientenseitige Interessen.26 24 Diese Passage lobt die Lehrkraft am Rand der Arbeit mit der Bemerkung »Geschickt als Einleitung« (A 2/6, GHO 743, 60r). Die beiden weiteren Arbeiten formulieren einleitend ähnliche Ausführungen: »Heute, und einundzwanzig Jahre nach dem Entstehen Ihrer Rede ›Die vier archimedischen Punkte‹, sehe ich mich mit dieser ›kleinen Neujahrsansprache‹ konfrontiert. Es sei mir trotz der Länge der inzwischen verstrichenen Zeitspanne erlaubt, Ihnen auf diesem Weg meine Gedanken zu Ihrer Rede mitzuteilen.« (A 2/5, GHO 743, 35r), »Vor mir liegt Ihre ›kleine Neujahrsansprache vor jungen Leuten‹ mit dem Titel: Die vier archimedischen Punkte. Ich weiß nicht, ob Sie diese Ansprache wirklich irgendwann einmal vor jungen Leuten gehalten haben, oder ob Sie sich lediglich mit dem Abdruck des vor mir liegenden Textes begnügten. Doch möchte ich gerne dazu Stellung nehmen.« (A 2/7, GHO 743, 63r). 25 Dabei wird im Fall von Aufgabe 1 eine derjenigen Arbeiten als »gut« bewertet, die der Beurteilung zufolge der »Redeform« eher geringe Beachtung schenkt; alle übrigen Arbeiten werden als »ausreichend« beurteilt. Die Ausrichtung auf die Kommunikationssituation scheint hier gegenüber weiteren Aspekten gerade nicht den Ausschlag zu geben, also nicht das entscheidende Beurteilungskriterium zu bilden. Im Fall der zweiten Aufgabe wird allen drei Arbeiten attestiert, der »Briefform« zu entsprechen. Die Beurteilungen der beiden »guten« Arbeiten unterscheiden sich von derjenigen der »befriedigenden« Arbeit vor allem in der Beschreibung allgemeiner rhetorischer Aspekte. 26 Darüber hinaus werden in den abschließenden Lehrerbeurteilungen die »innere[] Beteiligung« (A 1/1, GHO 659, 25r ; ähnlich auch A 1/2, A 1/4) der VerfasserInnen sowie die kritische Auseinandersetzung (A 2/5, A 2/6, A 2/7, GHO 743) mit den untersuchten Texten thematisiert. Beide Aspekte lassen sich als Anforderungen der Ausrichtung auf die Kommunikationssituation der Aufgaben verstehen, werden im Folgenden jedoch nur am Rande unter-

110

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

In drei Beurteilungen wird als zentraler Aspekt der eingeforderten Ausrichtung auf die Kommunikationssituationen die direkte Ansprache von AdressatInnen thematisiert: Die Verfasserin hat die Briefform gut getroffen. In persönlichem Ton hat sie sich wiederholt an den Schriftsteller gewandt und die Zwiesprache fließend, d. h. dem Gedankengang der Textvorlage folgend, durchgeführt. (A 2/7, GHO 743, 68r) Obgleich er äußerlich die Redeform nicht besonders stark betont hat, wendet er sich an entscheidender Stelle eindrucksvoll an die Zuhörer. (A 1/1, GHO 659, 25r) Der Verfasser hat die Redeform getroffen, indem er sich immer wieder an die Zuhörer gewandt hat […]. (A 1/2, GHO 659, 30r)

In den Aufsätzen zur ersten Aufgabe (GHO 659) zeigen sich solche Adresssierungen zunächst in einleitenden Ansprachen der MitschülerInnen als »(Meine) liebe(n) Zuhörer!« (A 1/1, 21r ; A 1/4, 128r), »Liebe Mädchen und Jungen« (A 1/2, 27r) und »Liebe Freunde« (A 1/3, 47r). In den Bearbeitungen der zweiten Aufgabe wird der Aufsatztext erwartungsgemäß durch Anrede und abschließende Grußformel gerahmt.27 Auch im weiteren Verlauf wenden sich die Aufsätze direkt an die RezipientInnen.28 Teilweise werden Adressierungen dabei eher beiläufig in interpretierende Aussagen eingeschoben bzw. Interpretationen eher beiläufig in adressierter Form formuliert: Er [General Harras, Anm. d. Verf.] weiß um die Vergebung durch Gott, doch ihn wird sie nicht mehr erreichen. Immer ist er ihm (Gott) ausgewichen, um keine Entscheidungen zu fällen. Das, meine lieben Zuhörer, ist die eigentliche Belastung des Generals. (A 1/4, GHO 659, 129v ; Herv. d. Verf.)29

sucht. Darüber hinaus finden sich in den Beurteilungen unspezifische Hinweise auf die »Rhetorik« (A 1/1, GHO 659, 25r; ähnlich A 2/5, GHO 743, 39v) der Arbeiten. 27 In einem Fall wird das Fehlen einer solchen Grußformel durch einen Lehrerkommentar bemängelt (A 2/7, GHO 743, 68r) und damit eine entsprechende Rahmung explizit als Beurteilungskriterium benannt. 28 Solche Passagen finden sich in den zur ersten Aufgabe verfassten Arbeiten etwas seltener als in den an Kästner adressierten Briefen. In zwei der zur ersten Aufgabe verfassten Arbeiten treten sie nur vereinzelt auf (A 1/1, A 1/3, GHO 659). 29 Darüber hinaus markiert diese Arbeit Identifikation mit den ZuhörerInnen als Angehörigen einer jungen Generation, die in besonderer Weise vor die Aufgabe einer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gestellt ist und sich dabei von politischen Narrativen der älteren Generation emanzipieren muss: »Nach der Aussage v. Mohrungens z. B., hat Hitler die gesamte christliche Zivilisation vor dem Bolschewismus gerettet. Immer wieder, meine lieben Zuhörer, werden uns Beruhigungspillen und Pflaster verabreicht, die wir akzeptieren sollen. Denn nur die Generation, die 1933–1945 bewußt miterlebt hat und eventuell noch mit der Zeit vor 33 vergleichen kann, ist unser Informant und Vorbild.« (A 1/4, GHO 659, 131r).

Überlegungen zur Adressaten- und Situationsorientierung in Abituraufsätzen

111

Weiter fügen Sie hinzu, daß man das Verantwortungsgefühl eines jeden ansprechen müsse, daß jeder sofort und voller Bereitschaft die Verantwortung eines anderen übernehmen solle, wenn dieser nicht bereit sei, sie selbst zu tragen. (A 2/7, GHO 743, 64r ; weniger häufig auch in A 2/6, A 2/5)

Eine der zur ersten Aufgabe verfassten Arbeiten adressiert darüber hinaus Rezeptionshinweise bzw. -anweisungen an die ZuhörerInnen: Er [General Harras, Anm. d. Verf.] glaubte, daß als Flieger für Deutschland zu kämpfen und das Regime zu stürzen, Zweierlei sei. Ganz deutlich werdet Ihr das seinem Ausspruch aus dem ersten Akt: »General oder Zirkusclown. Ich bin ein Flieger, sonst nix.« entnehmen. (A 1/2, GHO 659, 27v ; Herv. d. Verf.)30

Als »entscheidende[] Stelle« (A 1/1, GHO 659, 25r, s. o.) wird in einer Lehrerbeurteilung diejenige Passage der entsprechenden Arbeit ausgewiesen, in der die Frage nach einer moralischen Bewertung des Figurenhandelns aufgeworfen wird: Würde ich jetzt jemanden von Euch fragen, wer von beiden recht habe, und jemand würde antworten: »Oderbruch«, dann würde ich denjenigen fragen, ob er, stände er in derselben Situation, auch dazu bereit wäre, seinen besten Freund zu töten […]. […] Was ich damit sagen will? Nun, ich möchte Euch bitten, mit Eurer Kritik vorsichtig zu sein, und wenn Ihr sagt: »Das hat Harras (oder Oderbruch) falsch gemacht, dann müßt Ihr Euch gleichzeitig auch fragen: »Hätte ich anders (richtig) gehandelt?« Und ich meine, diese Frage können wir nicht beantworten, weil wir nicht wissen, wie wir uns verhalten würden […]. (A 1/1, GHO 659, 24r–24v ; ähnlich auch in A 1/2)

Am Rand der Arbeit lobt die Lehrerin die »geschickte Anrede« dieser Passage (A 1/1, GHO 659, 24r). Die ZuhörerInnen gerade in solche Überlegungen direkt adressierend einzubeziehen, wird also positiv gewertet. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Kästners Neujahrsansprache wiederum werden insbesondere kritische Anmerkungen und rhetorische Nachfragen an den Autor gerichtet31: Wenn Sie davon sprechen, daß man aus der Kindheit das seelische Feingehalt [sic] mitnehmen könne, so muß ich auch hier gewisse Vorbehalte anmelden. (A 2/5, GHO 743, 38r ; ähnlich auch in A 2/6)

30 An weiterer Stelle heißt es: »Die Reden der einzelnen Personen sind oft, besonders im ersten Akt, sehr mit Witz und Ironie, manchmal auch mit etwas unfeinen Bemerkungen gewürzt. Laßt Euch aber bitte nicht dadurch vom tiefen, ernsten Gehalt des Dramas ablenken.« (A 1/2, GHO 659, 27r–27v). 31 Seltener finden sich auch lobende an den Autor gerichtete Äußerungen: »Sie sprechen damit jeden Ihrer jungen Zuhörer persönlich an, und Ihr Rat fällt sicher auf sehr fruchtbaren Boden.« (A 2/7, GHO 743, 64v–65r).

112

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

Doch wenn wirklich einmal eine ähnliche Situation wie vor dreißig Jahren auftreten sollte, meinen Sie, daß diese wenigen Einsichtigen und Bemühten Erfolg haben werden? Glauben Sie das wirklich, Herr Kästner? (A 2/7, GHO 743, 65r)32

Stellenweise wird außerdem an (unterstellte) biographische Erfahrungen Kästners appelliert: Gerade Sie sollten um diesen allzu menschlichen Wesenszug wissen, da Sie ihn (im Gegensatz zu uns) selbst erlebt haben, und doch zeigen Sie Ihren jungen Zuhörern einen unvergleichlichen Optimismus. (A 2/7, GHO 743, 64v)33

Insgesamt lassen die Schülertexte einen auffallend kritischen Duktus erkennen.34 Die Lehrkraft wiederum hebt eine kritische Haltung in der Beurteilung aller Arbeiten hervor, die besser als »ausreichend« bewertet werden; umgekehrt findet sich ein vergleichbarer Hinweis in keiner der schlechter bewerteten Arbeiten. Ein weiteres Kriterium zweckgerichteten und adressatenbezogenen Schreibens – das jedoch nur in einer einzigen Beurteilung geltend gemacht wird – thematisiert die Lehrkraft mit der Einschätzung, dass die entsprechende Arbeit »einiges sinngemäß zu sagen unterlassen« habe (A 1/2, GHO 659, 30r).35 Diese Beurteilung bezieht sich auf eine Bearbeitung der ersten Aufgabe. Den Text an die Interessen (bzw. in anderem Kontext: den Kenntnisstand) der AdressatInnen anzupassen, gestaltet sich angesichts dieser Aufgabe als durchaus anspruchsvoll: Es stellt sich die Frage, welche und wieviel Informationen Personen benötigen, die im Anschluss an die Einführung eine Inszenierung des Dramas besuchen, über das hier referiert wird. 32 Ähnlich skeptisch formulieren zwei weitere Arbeiten: »Doch, seien Sie ehrlich: Ist es möglich, daß alle Menschen zur gleichen Zeit an einem Punkt angreifen können, um die ›Ordnung‹ in der Welt herzustellen?« (A 2/6, GHO 743, 61r–61v), »Das wiederum ist in unserem System Utopie. Oder wissen Sie ein Patentrezept gegen Mietwucher oder gegen Verfälschung des Wählerwillens?« (A 2/5, GHO 743, 36r). 33 In einer weiteren Arbeit heißt es: »Sie sind ein paar Jahre älter, und Sie haben ein paar Jahre länger gesehen, wie die einzelnen, die sich zur Abhilfe irgendwelcher Not- und Mißstände aufgerufen fühlten, von der ›jeweils zuständigen Stelle‹ behandelt werden. Oder haben Sie nichts gehört von den Straßenschlachten in Nordirland, von dem Terror amerikanischer Eliteeinheiten gegen vietnamesische Zivilisten […]?« (A 2/5, GHO 743, 35v–36r). 34 Besonders kritisch wirken zwei Passagen, welche die Zustimmung Kästners – rhetorisch – voraussetzen oder ankündigen, im Folgenden Schwächen der Argumentation aufzudecken: »Sie sehen, Herr Kästner, daß das Gewissen ein schwieriger Diskussionsgegenstand ist, und Sie verlangen nun von uns, diesem undefinierbaren Etwas in unserem Inneren zu gehorchen.« (A 2/7, GHO 743, 66r), »Abschließend möchte ich Sie noch auf einen Widerspruch aufmerksam machen, der mir ins Auge fiel, als ich Ihren Neujahrsanspruch las […]« (A 2/5, GHO 743, 38r–38v), »Ich möchte das an einem Ihrer eigenen Beispiele widerlegen: Das dritte Reich.« (A 2/6, GHO 743, 61r). 35 In den Beurteilungen der zur zweiten Aufgabe verfassten Aufsätze wiederum finden sich keine entsprechenden Passagen.

Überlegungen zur Adressaten- und Situationsorientierung in Abituraufsätzen

113

Der Aufsatz, auf den sich die lobende Einschätzung der Lehrkraft bezieht, macht an zwei Stellen explizit kenntlich, Informationen unter Berücksichtigung der Kommunikationssituation auszusparen: Das mag zur Person und zum Problem des Generals genügen. Mehr würde Euch ja den Sinn eines eigenen Anschauens nehmen. (A 1/2, GHO 659, 28r) Das Problem der Hauptperson löst sich. Ihr wollt sicherlich nicht wissen, wie. Damit würde ich Euch nicht nur jede Spannung nehmen, ich würde Euch vor allem auch eine subjektive Einstellung zu Person und Handlung übertragen. Ob er es also richtig löst und ob dadurch seine Schuld getilgt ist […], müßt Ihr selbst entscheiden. (A 1/2, GHO 659, 29v)

Darüber hinaus weicht die Arbeit jedoch in ihrer Ausführlichkeit nicht nennenswert von anderen Aufsätzen ab; zugleich handelt es sich hierbei um den einzigen Aufsatz, in dessen Kommentierung die Lehrkraft zumindest eine Passage als irrelevant ausweist.36 Umgekehrt lässt auch die erste Arbeit den Ausgang des Dramas (Tod Harras’) sowie die Frage nach der Verantwortung bzw. Schuld des Protagonisten offen – ohne dass dies hier zum Gegenstand der Kommentierung werden würde. Insgesamt deutet sich damit an, dass eher eine Demonstration des Wissens um die Notwendigkeit honoriert wird, Interessen der RezipientInnen bei der Auswahl von Informationen zu berücksichtigen, als eine tatsächliche Auswahlleistung des Schülertextes.

4.

Schlussfolgerungen

Aufbauend auf einem kurzen Einblick in den Stand der theoretischen Diskussion um situierte Schreibaufgaben zu Beginn der 1970er Jahre – die sich schon rasch auch um die Praktikabilität realer Kommunikationssituationen im Deutschunterricht drehte – haben wir Abituraufsätze aus den Jahren 1964 und 1971 daraufhin untersucht, wie SchülerInnen mit den in der Aufgabenstellung angelegten Schreibsituationen umgehen. Bedingt durch die geringe Korpusgröße können diese Überlegungen natürlich zunächst nur explorativen Charakter haben und wären durch umfangreichere Untersuchungen (historischer) Abiturprüfungsaufsätze weiter auszuarbeiten. In den untersuchten Aufsätzen zeigt sich, dass SchülerInnen die Situierungsimpulse der Aufgaben aufnehmen, indem sie sich direkt an die vorausgesetzten AdressatInnen wenden, die Kommunikationssituation bzw. ihr An36 An dieser Stelle geht die Arbeit auf die Gliederung des Dramas ein: »Seltsamerweise haben die Akte Überschriften. Sicherlich werdet ihr auch eine Gliederung in Szenen vermissen.« (A 1 /2, GHO 659, 29v). Die Anmerkung Lehrkraft kommentiert den ersten Teil dieser Ausführungen mit »Für Zuschauer unwichtig!« (ebd.).

114

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

liegen erläutern und damit sinnstiftend konkretisieren und (in einem Einzelfall) die Notwendigkeit reflektieren, bestimmte Aspekte (nicht) zu thematisieren. Diese Mittel werden dabei unterschiedlich eingesetzt: So wird etwa in eingeschobenen Adressierungen eine Ausrichtung auf die AdressatInnen eher markiert, während direkte Ansprachen an anderer Stelle genutzt werden, um AdressatInnen explizit in die Interpretation des Textes einzubeziehen bzw. kritische Anmerkungen und Nachfragen an den Autor zu richten. Um die als ungewöhnlich empfundene Situierung zu plausibilisieren, kann eine einfache Instruktion als Redeanlass genannt werden, aber auch die emotionale Verbundenheit mit einer jungen Generation, die sich mit den problematischen Empfehlungen und Warnungen einer älteren auseinanderzusetzen hat. Die Lehrkraft nimmt in ihrer Beurteilung wiederum nur sparsam auf den Umgang mit der Situierung der Aufgaben Bezug. Insgesamt deutet sich an, dass die SchülerInnen über Routinen (Matala de Mazza / Vogl 2017, S. 583) verfügen, die dazu führen, dass im Gebrauch der Schreibaufgabe bestimmte Muster der Situierung abgerufen werden. Diese Muster lassen sich auch als Spuren einer Rhetorik der Situierung begreifen. Die Ergebnisse wirken, könnte man nun monieren, alles andere als ›echt‹ oder auch nur ›realitätsnah‹ – was sie freilich auch nur im reduzierten Sinne der Bezugnahme auf ›Stell-dir-vor-Situierungen‹ sein können. Unabhängig davon scheint es eher unwahrscheinlich, dass SchülerInnen sich anlässlich einer zwanzig Jahre alten Neujahrsrede mit einer leidenschaftlichen Kritik an deren Autoren wenden oder dass sie vor Gleichaltrigen derart pathetische Reden schwingen, um sie für einen Theaterbesuch zu informieren. Zugleich werden die Texte aber durch ihr hineingelegtes Pathos auch einem weiteren, mit der Ausrichtung auf die beurteilende Lehrkraft verbundenen Anspruch gerecht: Die Gutachter honorieren mehrmals die »innere Beteiligung« der AbiturientInnen37. Möglicherweise schlägt hier der »große« Anspruch der Abiturprüfung selbst durch, die »geistige Reife« der Prüflinge zu erfassen. So heißt es in der 1959 erlassenen Prüfungsordnung: Die Prüfung ist der organische Abschluß des Bildungsganges an den Oberschulen Wissenschaftlichen Zweiges (Gymnasien). Sie soll den Nachweis erbringen, daß der Prüfling die im Bildungsplan für die Oberschule Wissenschaftlichen Zweiges gesetzten Ziele erreicht und damit die geistige Reife erworben hat, die für ein Studium an einer deutschen Universität oder gleichwertigen Hochschule vorausgesetzt wird. (SenV 1959, S. 5) 37 So wird ausgeführt, die SchülerInnen hätten den Aufsatz entweder »durchgehend aus innerer Beteiligung geschrieben« (A 1/1, GHO 659, 25r), oder aber er erwecke den »Eindruck geringer Beteiligung« (A 1/2, GHO 659, 30r) – was dann noch zur Note »Ausreichend« führt. Oder aber es wird lobend angemerkt, dass die AbiturientIn sich im »persönlichen Ton […] an den Schriftsteller gewandt« habe (A 2/7, GHO 743, 68r).

Überlegungen zur Adressaten- und Situationsorientierung in Abituraufsätzen

115

Entsprechend umfassend ist auch der Prüfungsanspruch des ›Deutschen Aufsatzes‹ konzipiert: »Im deutschen Aufsatz sollen Bildungshöhe und Eigenart des Prüflings sichtbar werden. Beides ist zu erkennen an der persönlichen Anschauungsweise, an begründeten selbständigen Urteilen, an sachlicher und begrifflicher Genauigkeit und an der dem Thema angepaßten Ausdrucksweise« (SenV 1959, S. 8). Doch nicht nur die unbescheidene Rede vom »organischen Abschluß des Bildungsganges«, sondern auch die von der »geistigen Reife« ist erläuterungsbedürftig und kann sich nicht halten: Gut zehn Jahre später erhebt man jedenfalls nur noch den Anspruch, zu ermitteln, inwiefern »der Prüfling das Ziel des Gymnasiums erreicht und damit die Befähigung zum Hochschulstudium erworben hat« (ABl. 1970, S. 427). Die Rede vom »organischen Abschluss des Bildungsganges« und von der »geistigen Reife« ist also verschwunden. Hiermit verbunden kann die Abstraktheit der Situierung der insbesondere von Böttcher et al. beschriebenen doppelten Ausrichtung der Schülertexte auch zugutekommen. Die Reduktion dient dann nicht bloß dem Überschaubarmachen eines Gegenstandsbereichs (Lehner 2012, S. 9), sondern sie lässt umgekehrt auch einen Freiraum, das eigene Wissen und die eigene (kritische) Haltung gegenüber dem Adressaten erster Ordnung – der Lehrkraft – bestmöglich auszubreiten: Gerade, dass Kästner nicht persönlich bekannt ist und den Brief nie lesen wird, ermöglicht so gesehen, eine starke Position zu beziehen; gerade die Vagheit der Redesituation »vor einem Theaterbesuch« eröffnet die Möglichkeit, mehr oder weniger emphatisch das Problem des Stücks zu entfalten. Die Kleinform der situierten Schreibaufgabe wäre dann zwar zunächst das Ergebnis einer Kompression echter Kommunikationssituationen auf wenige Parameter der Situierung; aber diese Verkleinerung eröffnet dann im kompetenten Gebrauch einen Möglichkeitsraum für eine variabel verlaufende Dekomprimierung, die je nach Temperament und Originalität der SchülerInnen vorgenommen werden kann.

116

5.

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

Situiertes Schreiben in aktuellen Abiturprüfungen – ein Ausblick

Die Forderung nach ›Situierung‹ von Schreibaufgaben bildet einen fest etablierten und zentralen Bestandteil aktueller schreibdidaktischer Konzeptionen.38 So plädieren etwa Bachmann und Becker-Mrotzek für »Schreibaufgaben, die so klar konturiert und profiliert sind, dass sie für die Lerner/innen in einem klar erkennbaren und nachvollziehbaren Handlungszusammenhang stehen bzw. einen solchen abbilden« (Bachmann / Becker-Mrotzek 2010, S. 194). Hervorgehoben wird u. a., dass fundierte Entscheidungen zur Gestaltung von Texten auf Kenntnis der intendierten Textfunktion und damit auf Informationen über Ziel und Adressaten angewiesen sind (Bachmann / Becker-Mrotzek 2010, S. 195; Jost 2017, S. 178).39 Nach wie vor wird der Anspruch diskutiert, Schreibaufgaben in ›echte‹ Schreibsituationen einzubetten. So heben Feilke et al. (2016) in Abgrenzung von Bachmann und Becker-Mrotzek (2010) hervor, dass es »weder möglich noch notwendig [sei], im Unterrichtsalltag stets echte kommunikative Handlungszusammenhänge zu entfalten« (Feilke et al. 2016, S. 58): »Die Gelegenheiten realer Adressaten- und Funktionskontexte sind im schulischen Kontext […] begrenzt. Und mit Blick auf Leistungssituationen sind reale Kommunikationssituationen sogar überaus problematisch« (ebd.). Lässt man sich freilich auf die Perspektive ein, die Kaspar H. Spinner 1993 entwickelt hat, so dürften selbst unreduzierte ›Ernstfallsituationen‹ zumindest in Lernsituationen auch heute noch denkbar und praktikabel sein. Spinner sah auch die lebensgroße Kom38 Dieser Ausblick auf situierte Schreibaufgaben in aktuellen Abiturprüfungen besitzt abrisshaften Charakter und beansprucht weder, historische Traditionen oder Differenzen historischer und aktueller Ansätze im Detail herauszuarbeiten, noch, aktuellen schreibdidaktischen Überlegungen in ihrer Differenziertheit gerecht zu werden. Feilke zufolge unterscheiden sich aktuelle Ansätze kompetenzorientierter Schreibdidaktik von den kommunikationsorientierten Ansätzen der 1970er Jahre insbesondere durch ihre Aufgaben- und Prozessorientierung (Feilke 2017a, S. 156). Wieder am Beispiel des Briefes beschreibt Karg ein Scheitern des – so müsste man zumindest für Ansätze der späten 1960er und frühen 1970er Jahre ergänzen: keineswegs konsensfähigen – Anspruchs, ›echte‹ Kommunikationssituationen in den Unterricht zu holen: »Man kann zeigen, dass die Kommunikationsorientierung nicht ohne Erfolg für die Praxis war und auch rasch Eingang in die Schulbücher fand. Langfristig konnte sie sich jedoch als Gesamtkonzept nicht etablieren. Wo man nämlich Kommunikation mit ›Emanzipation‹ koppelte, indem man Schülerinnen und Schüler ihre Briefe an Behörden, Personen des öffentlichen Lebens oder Buchautoren tatsächlich abschicken ließ, musste man rasch feststellen, dass noch so kinderfreundliche und dem emanzipatorischen Ziel positiv gegenüberstehende Adressaten durch die einsetzende Flut an Schriftstücken bald in ihrem Entgegenkommen ausgereizt waren. Der real-kommunikative Anspruch scheiterte gerade an der Wirklichkeit.« (Karg 2007, S. 22f.). 39 Jost wiederum hebt hervor, dass diese Prämissen vor allem »Anforderungen kommunikativen Schreibens« abbilden, nicht aber »für andere Textfunktionen wie das reflektierende oder literarische Schreiben« geltend zu machen seien (Jost 2017, S. 178).

Überlegungen zur Adressaten- und Situationsorientierung in Abituraufsätzen

117

munikation noch in einer Didaktik geselligen Schreibens aufgehoben: »Die Situation ist zum Ernstfall geworden, sie ist nicht nur Übung für spätere Situationen« (Spinner 1993, S. 81). In diesem Sinn scheinen auch aktuelle Unterrichtskonzepte, die sich beispielsweise um Slam Poetry drehen, noch Ernstfallsituationen anzustreben. In der Abiturprüfung dagegen wird der Anspruch situierten Schreibens weitestgehend an das neu etablierte Aufgabenformat ›Materialgestütztes Schreiben‹ delegiert (Feilke 2017b, S. 5), dessen Potenziale, Ansprüche aber auch Herausforderungen aktuell kontrovers diskutiert werden.40 Dieses Format zeichnet sich im Kern dadurch aus, dass die zu verfassenden Texte auf der Basis einer Reihe vorgelegter ›Materialien‹ – lineare wie nicht-lineare Texte bzw. Textauszüge sowie ggf. Abbildungen – angefertigt werden.41 Materialgestütztes Schreiben wird als situiertes Schreiben konzipiert; Aufgabenstellungen seien entsprechend auf Angaben »zum Adressaten, zur kommunikativen Absicht und zur Textsorte des Zieltextes« angewiesen (Feilke et al. 2016, S. 54).42 Köster und Pabst vermuten, dass materialgestütztes Schreiben »im Kontext von Leistungssituationen und allen voran in der Abiturprüfung wohl randständig bleiben wird« (Köster / Pabst 2017, S. 17). Unabhängig von solchen Thesen lässt sich konstatieren, dass Prüfungskontexte – wie in den von uns untersuchten kommunikationsorientierten Ansätzen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre – in der aktuellen Auseinandersetzung mit dem materialgestützten Schreiben eher einen Randbereich bilden und die deutschdidaktische Forschung vor noch zu klärende Fragen stellen (vgl. Jost / Wieser 2017, S. 28–31).43

40 Vergleiche hierzu insbesondere die Debattenbeiträge in Didaktik Deutsch (Didaktik Deutsch 42/2017, 43/2017). Thematisiert wird vor allem der hohe Anspruch der mit dem Aufgabenformat verbundenen Rezeptionsleistungen (Zabka 2017, S. 26f.; vgl. auch Schüler 2017, u. a. S. 486–489;). Darüber hinaus wird diskutiert, ob »lebensweltbezogene[] Zieltextsorten« (Köster / Pabst 2017, S. 13) tatsächlich allen Themenbereichen des Deutschunterrichts gleichermaßen gerecht werden (ebd.). 41 Eine umfassende Auseinandersetzung mit ›Kleinen Formen‹ im Rahmen des Aufgabenformats ›Materialgestütztes Schreiben‹ liefert der Beitrag von Lehnen in diesem Band. 42 Weiterhin konzipieren Feilke et al. (2016, S. 13) materialgestütztes Schreiben explizit als prozessorientiertes Schreiben. Darüber hinaus wird der Aufgabenart ein »wissenschaftspropädeutisches Potenzial« zugeschrieben (Feilke 2017b, S. 4; vgl. auch Feilke et al. 2016, S. 7; Schüler 2017). Jost und Wieser heben jedoch hervor, dass eine Verständigung über den Stellenwert wissenschaftspropädeutischer und »alltagsweltliche[r] Formate« (Jost / Wieser 2017, S. 27) noch aussteht (ebd., S. 26–28). Gerade für wissenschaftspropädeutische Texte stellen sie das Potenzial von Situierungen in Frage (ebd., S. 31). 43 Ohne die Frage nach Beurteilungskriterien für die Bearbeitung materialgestützter Aufgaben auszublenden legen etwa Feilke et al. (2016, S. 9) den Fokus explizit auf Lernaufgaben.

118

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

Quellenverzeichnis Unveröffentlichte Quellen Abiturprüfungsaufsätze: GHO 659, GHO 743. Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des DIPF j Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Berlin.

Sekundärliteratur Abraham, Ulf (2014): »Geschichte schulischen Schreibens.«, in Feilke, Helmuth / Pohl, Thorsten (Hg.): Deutschunterricht in Theorie und Praxis (DTP), Bd. 4: Schriftlicher Sprachgebrauch. Texte verfassen. Baltmannsweiler, S. 3–30. Bachmann, Thomas / Becker-Mrotzek, Michael (2010): »Schreibaufgaben situieren und profilieren.«, in: Pohl, Thorsten / Steinhoff, Torsten (Hg.): Textformen als Lernformen [KoeBes – Kölner Beiträge zur Schreibforschung]. Duisburg, S. 191–209. Bayrhuber, Horst (2017): »Allgemeine Fachdidaktik im Spannungsfeld von Fachwissenschaft und Fachdidaktik als Modellierungswissenschaft.«, in: Ders. [u. a.] (Hg.): Auf dem Weg zu einer Allgemeinen Fachdidaktik. Allgemeine Fachdidaktik, Bd. 1. Münster und New York, S. 161–178. Beinlich, Alexander (1961): »Das schriftsprachliche Gestalten und die Stilpflege.«, in: Ders. (Hg.): Handbuch des Deutschunterrichts im ersten bis zehnten Schuljahr. Emsdetten, S. 327–414. Boettcher, Wolfgang / Firges, Jean / Sitta, Horst / Tymister, Hans Josef (1973): Schulaufsätze – Texte für Leser. Düsseldorf. Engelen, Bernhard (1972): »Vorbemerkungen zu einem an Kommunikationssituationen orientierten ›Aufsatz‹unterricht.«, in: Linguistische Berichte 21, S. 96–103. Hier: Neuauflage in Schau, Albrecht (1974, Hg.): Von der Aufsatzkritik zur Textproduktion. Hohengehren, S. 240–247. Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael (2016): Materialgestütztes Schreiben lernen. Grundlagen – Aufgaben – Materialien. Sekundarstufen I und II. Braunschweig. Feilke, Helmuth (2017a): »Schreibdidaktische Konzepte.«, in: Becker-Mrotzek, Michael / Grabowski, Joachim / Steinhoff, Torsten (Hg.): Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik. Münster, S. 153–171. Feilke, Helmuth (2017b): »Eine neue Aufgabe für das Fach Deutsch: Zusammenhänge herstellen – materialgestützt schreiben.«, in: Didaktik Deutsch 43, S. 4–11. Graucob, Karl (1960): Mündliches und schriftliches Sprachschaffen auf der Oberstufe der Volksschule. Kiel. Haueis, Eduard (1972): »Vom Aufsatzunterricht zu einer Didaktik der Textproduktion.«, in: Haueis, Eduard / Hoppe, Otfried (Hg.): Aufsatz und Kommunikation. Zwei Untersuchungen. Düsseldorf, S. 63–117.

Überlegungen zur Adressaten- und Situationsorientierung in Abituraufsätzen

119

Herrlitz, Hans-Georg (1966): »Vom politischen Sinn einer modernen Aufsatzrhetorik.«, in: Gesellschaft, Staat, Erziehung 11, S. 310–328. Hier: Neuauflage in Schau, Albrecht (1974, Hg.): Von der Aufsatzkritik zur Textproduktion. Hohengehren, S. 142–164. Ingendahl, Werner (1972): Aufsatzerziehung als Hilfe zur Emanzipation. Didaktik und Methodik schriftlicher Sprachgestaltung. Düsseldorf. Jank, Werner / Meyer, Hilbert (2014): Didaktische Modelle. Berlin. Jost, Jörg (2017): »Prinzipien und Methoden lernförderlicher Schreibumgebungen.«, in: Becker-Mrotzek, Michael / Grabowski, Joachim / Steinhoff, Torsten (Hg.): Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik. Münster, S. 173–186. Jost, Jörg / Wieser, Dorothee (2017): »Materialgestütztes Schreiben. Ein didaktisch notwendiges Aufgabenformat – zu viele offene Fragen.«, in: Didaktik Deutsch 43, S. 26–32. Karg, Ina (2007): Diskursorientierung als Paradigma schulischen Schreibens. Ein Weg aus dem Dilemma zwischen Aufsatz und Schreiben. Frankfurt a. M. u. a. Klafki, Wolfgang (2007) [1987]: »Exemplarisches Lehren und Lernen.«, in: Ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritischkonstruktive Didaktik. Weinheim und Basel, S. 141–161. Köster, Juliane, Pabst, Stephan (2017): »Format mit doppelter Botschaft: Materialgestütztes Schreiben in der Sekundarstufe II.«, in: Didaktik Deutsch 43, S. 12–17. Lehmann, Jakob (1970): »Appellatives Schreiben. Aspekte einer partnerbezogenen Aufsatzlehre.«, in: Blätter für den Deutschlehrer 3, S. 65–76. Hier: Neuauflage in Schau, Albrecht (1974, Hg.): Von der Aufsatzkritik zur Textproduktion. Hohengehren, S. 205–222. Lehner, Martin (2012): Didaktische Reduktion. Bern, Stuttgart und Wien. Ludwig, Otto (1988): Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland. Berlin und New York. Matala de Mazza, Ethel / Vogl, Joseph (2017): »Graduiertenkolleg ›Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen‹«, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 27/3, S. 579–585. Sanner, Rolf (1964): Aufsatzerziehung und Ausdruckspflege in der Volksschule. München. Schau, Albrecht (1974, Hg.): Von der Aufsatzkritik zur Textproduktion. Hohengehren. Schüler, Lisa (2017): Materialgestütztes Schreiben argumentierender Texte. Untersuchungen zu einem neuen wissenschaftspropädeutischen Aufgabentyp in der Oberstufe. Hohengehren. Seidemann, Walther (1927): Der Deutschunterricht als innere Sprachbildung. Heidelberg. Senator für Volksbildung Berlin [SenV] (1959): Ordnung der Reifeprüfung an den Oberschulen wissenschaftlichen Zweiges (Gymnasien) im Lande Berlin. (8. 1. 1959). Berlin. Senator für Schulwesen Berlin [SenS] (1970): »Ausführungsvorschriften über die Reifeprüfung und den Erwerb des Latinums. (3. 4. 1970).«, in: Amtsblatt für Berlin 18, S. 425–437. Singer, Kurt (1966): Aufsatzerziehung und Sprachbildung. Didaktische Wegweisung zu einer kindgemäßen Aufsatz- und Sprecherziehung. 2. Aufl. München. Spinner, Kaspar Heinrich (1993): »Vom kommunikativen über den personalen Ansatz der Aufsatzdidaktik zum geselligen Schreiben.«, in: Paefgen, Elisabeth Katharina / Wolff, Gerhart (Hg.): Pragmatik in Sprache und Literatur. Festschrift zur Emeritierung von Detlef C. Kochan. Tübingen, S. 77–82. Steinbrügge, Liselotte (2008): »Didaktische Transformationen. Fremdsprachendidaktik zwischen Unterrichtspraxis und philologischer Wissenschaft.«, in: Dies. / Schumann,

120

Stefan Born / Britta Eiben-Zach

Lieselotte (Hg.): Didaktische Transformation und Konstruktion. Zum Verhältnis von Fachwissenschaft und Fremdsprachendidaktik. Frankfurt a. M. u.a., S. 13–22. Weinmann, Siegfried (1970): »Schaffung komplexer Schreibsituationen.«, in: Der Deutschunterricht 5, S. 47–62. Zabka, Thomas (2017): »Zu Anforderungen und Gefahren des Textinformationen verarbeitenden Schreibens.«, in: Didaktik Deutsch 42, S. 26–31.

II. Analysen

Maike Nikolai-Fröhlich

›Freche‹ Jungs und ›hübsche‹ Mädchen? Genderorientierte Analysen kleiner Formen im Kontext nicht-publizierter Lernmaterialien

Kleine Formen des Unterrichts wie Schulbuchtexte, Aufgabenstellungen, Übersichten, Graphiken, Textausschnitte, Tafelbilder u.v.m. dienen der Vermittlung und Sicherung wesentlicher Unterrichtsinhalte, veranschaulichen Sachverhalte und geben Impulse zur Auseinandersetzung mit diesen; kleine Formen selektieren Fachwissen und fassen Inhalte für Schüler*innen schularten- und lerngruppenorientiert zusammen. Darüber hinaus transportieren sie, wie andere Gegenstände und Hilfsmittel für den Unterricht auch, gesellschaftliche Normen und Werte sowie Vorstellungen über (soziale) Gruppen (vgl. Markom / Weinhäupl 2007). Sie (re-)formulieren gleichermaßen Geschlechterbilder, Rollenvorstellungen und Geschlechterstereotype, genauer : Wahrnehmungsstrukturen, »die sozial geteiltes Wissen über die charakteristischen Merkmale von Frauen und Männern enthalten« (Eckes 2010, S. 178). Indem sie im- und auch explizit gesellschaftlich anerkannte Geschlechter(rollen) und Erwartungen zum Ausdruck bringen (vgl. Hunze 2003), sind kleine Formen des Unterrichts beteiligt an der Herstellung von Geschlecht.1 Die (Re-)Produktion von Rollenbildern und Geschlechterklischees in Schulbüchern wird seitens der Schulbuchforschung bereits seit Ende der 1960er Jahre untersucht (vgl. exemplarisch Schlette / Pfülb 1967; Sollwedel 1967) und das Interesse an der Thematik ist bis in die Gegenwart ungebrochen: Neben systematischen Untersuchungen von Schulbuchtexten und -illustrationen (vgl. exemplarisch Moser / Hannover / Becker 2013) liegen inzwischen auch praxisorientierte Handreichungen für die Gestaltung von Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien im Hinblick auf Genderaspekte vor (vgl. exemplarisch Göbel / Bittner 2013). Diese Untersuchungen richten ihren Blick auf publizierte Lehrund Lernmaterialien unterschiedlicher Fächer, Klassenstufen und Schulformen. Bisher ausgeklammert wurden allerdings diejenigen Unterrichtsmaterialien, die 1 Zu den Dimensionen von doing gender, wie den kulturell und sozial gesteuerten Wahrnehmungen von Geschlecht(ern), sei an dieser Stelle grundlegend auf Judith Lorbers Studie Gender-Paradoxien (2003) verwiesen.

124

Maike Nikolai-Fröhlich

von Lehrer*innen im Unterrichtsalltag selbst erstellt werden, wie selbstkonzipierte Arbeitsblätter, Lernstandkontrollen, Aufgabenstellungen u.v.m. Der folgende Beitrag untersucht daher eben solche nicht publizierten Unterrichtsformen im Hinblick auf die (Re-)Produktion von Geschlechterstereotypen in einer exemplarischen Auswahl mit einem besonderen Schwerpunkt auf die darin auftretenden kleinen Formen wie Textaufgaben. Eine solche (Re-)Produktion erfolgt etwa durch die Verwendung bestimmter (sprachlicher) Bilder und Figurencharakterisierungen sowie Narrative, die fachliche Inhalte rahmen. Zudem findet auch die Verwendung geschlechter(un)gerechter Sprache nachfolgend Beachtung. Dazu wird eingangs ein kurzer Einblick in Tendenzen und Ergebnisse der genderorientierten Schulbuchforschung sowie in einen Leitfaden zur Gestaltung nicht-diskriminierender Schulbücher gegeben. Da individuell erstelltes Unterrichtsmaterial bisher noch nicht unter Genderaspekten analysiert wurde, dienen Untersuchungen publizierter Schulbücher als Orientierung für die Analyse der durch Lehrkräfte konzipierten kleinen Formen des Unterrichts, genauer Aufgabentexte und Textaufgaben. Im Anschluss daran werden bestehende Zugänge und Methoden für eine Untersuchung solcher kleinen Formen in Unterrichtsmaterialien modifiziert und ergänzt. Dafür werden die spezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen dieser berücksichtigt. Denn ihre Produktion im Unterrichtsalltag unterliegt auch dem Anspruch von Kürze, Prägnanz und Verständlichkeit; Gender- und auch Diversitätsaspekte ordnen sich hinter inhaltlichen, methodischen und unterrichtspragmatischen Gesichtspunkten ein. Daran schließt die exemplarische Analyse ausgewählter Lernmaterialien an. Abschließend soll die Frage diskutiert werden, wie das Spannungsverhältnis, das sich daraus ergibt, gezielt aufgelöst werden kann. Kleine Formen des Unterrichts sind, so die These dieses Beitrags, einerseits aufgrund ihrer spezifischen Merkmale und Produktionsbedingungen besonders anfällig für die (Re-)Produktion von Geschlechterklischees und für Geschlechterdiskriminierung, beispielsweise durch die Verwendung geschlechterungerechter Sprache. Andererseits gilt es zu zeigen, dass kleine Formen in durch Lehrkräfte eigenständig erstellten Unterrichtsmaterialien ein großes Potenzial bergen, Geschlechterstereotype kritisch aufzugreifen und eine gendergerechte Sprache zu etablieren.

›Freche‹ Jungs und ›hübsche‹ Mädchen?

1.

125

Genderorientierte Schulbuchforschung – praxisorientierte Analysen von Unterrichtsmaterialien

Während individuell erstelltes Unterrichtsmaterial bisher noch nicht unter Genderaspekten analysiert wurde, sind publizierte Schulbücher und gedruckte unterrichtsbegleitende Materialien wie Lese- und Arbeitshefte bereits seit Ende der 1960er Jahre Gegenstand der Schulbuchforschung, die seither Schulbücher verschiedener Fächer, Klassenstufen und Schulformen im Hinblick auf Geschlechterdarstellungen und -diskriminierung betrachtet und kritisiert.2 Erste Arbeiten untersuchten insbesondere die Darstellungen von Mädchen und Frauen in Lesebüchern des Deutschunterrichts und analysierten dazu besonders auffällige Textausschnitte und Bilder oder werteten die Häufigkeit der Darstellung von Männern und Frauen aus (vgl. Moser / Hannover / Becker 2013, S. 79). Obwohl aufgrund der unterschiedlichen Erhebungs- und Auswertungsmethoden ein Vergleich der Forschungsergebnisse erschwert wird (vgl. ebd.), sind in Schulbüchern deutliche Tendenzen zu erkennen, zeitgenössische Geschlechterrollen und -stereotype zu (re-)produzieren: So zeigte sich, dass Mädchen und Frauen in Schulbüchern der 1960er und 1970er Jahre nicht nur stark unterrepräsentiert waren, sondern dass diese auch vorrangig – in der Abgrenzung zu Jungen und Männern – geschlechter- und rollenstereotyp dargestellt wurden. So sind Mädchen und Frauen in den untersuchten Schulbüchern überwiegend als ›ängstlich‹, ›brav‹ und ›fürsorglich‹ attribuiert (vgl. exemplarisch Schlette / Pfülb 1967, S. 12–14). Noch bis weit in die 1980er Jahre wurden Mädchen und Frauen fast ausschließlich in traditionellen Rollen wie denen der Hausfrau und (Puppen-)Mutter verortet (vgl. Grauel 1973; Ohlms 1984). Auch wenn sich dieses Bild von Frauen und Mädchen erweiterte, zum Beispiel um das der berufstätigen Mutter, dominierten in Schulbüchern Darstellungen der Frau im häuslich-familiären Rahmen bis weit in die 1990er Jahre (vgl. Lindner / Lukesch 1994; Finsterwald / Ziegler 1997). Und auch in aktuellen Schulbüchern ist weiter die Praxis nachzuweisen, Frauen und Männer geschlechter- und rollenstereotyp zu verorten. So werden weibliche Figuren immer noch häufiger im Kontext von Fürsorgearbeit dargestellt, Männer hingegen häufiger in beruflichen Zusammenhängen (vgl. exemplarisch Maijala 2009). Neben solchen offensichtlichen Formen der Geschlechterstereotypisierung in Schulbüchern, die bis in die Gegenwart anhalten, lassen sich auch subtile Mechanismen der Geschlechterdiskriminierung nachweisen. Auf linguistischer Ebene betrifft dies insbesondere die Verwendung des generischen Maskulinums 2 Eine aktuelle und umfassende Forschungsbibliographie zur genderorientierten Schulbuchforschung bietet Christine Ott (2016).

126

Maike Nikolai-Fröhlich

und die Tendenz, männliche Figuren meist zuerst und häufiger zu nennen (vgl. Moser / Hannover / Becker 2013, S. 80). Deutlich wird dieser Umstand selbst in der räumlichen Anordnung weiblicher und männlicher Charaktere in Schulbüchern. So betonen Moser, Hannover und Becker im Rückgriff auf Studien zum Leseverhalten und zur Genderstereotypisierung, dass die räumliche Anordnung von Figuren die Wahrnehmung der (Geschlechter-)Rolle zentral beeinflusst (vgl. ebd., S. 82f.). Trotz klarer gesetzlicher Regelungen im Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit in Schulbüchern (vgl. Bittner 2015) sind bis in die Gegenwart Geschlechterstereotypisierung und -diskriminierung auf unterschiedlichen Ebenen nachweisbar. Durch diese Ergebnisse der Schulbuchforschung und GenderMainstreaming-Bemühung motiviert, sind inzwischen auch praxisorientierte Handreichungen für die Gestaltung von Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien vorhanden. Autor*innen, Verlage und Lehrer*innen werden darin angehalten, beim Erstellen von Unterrichtsmaterialien auf geschlechterstereotype Darstellungen zu verzichten und (Geschlechter-)Diversität Platz einzuräumen. Exemplarisch zu nennen ist der Leitfaden Diskriminierung in Schulbüchern erkennen. Empfehlungen für nicht-diskriminierende Schulbücher, Fokus Gender und sexuelle Orientierung (Hladschik 2016) des Bundesministeriums für Bildung in Österreich. Ein Äquivalent, wenn auch im weitaus knapperen Umfang, für diesen Leitfaden für Deutschland ist die Handreichung Eine Sprache, die alle anspricht – Geschlechterbewusste Sprache in der Praxis (Jagusch u. a. 2016) der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. Der Leitfaden Diskriminierung in Schulbüchern erkennen folgt der Annahme, dass Schulbücher nicht nur (Geschlechter-)Wissen vermitteln, sondern dieses auch selbst generieren; sie bergen demnach »das Potential, gesellschaftliche Veränderungsprozesse anzustoßen und zu moderieren« (Hladschik 2016, S. 5). Schulbücher sollten in diesem Sinne unter anderem Strukturen und Mechanismen, die Diskriminierung fördern, aufzeigen und erklären, zudem Diversität und interkulturelles Verständnis fördern, genderspezifische Ungleichheiten und deren Ursachen benennen sowie positive Identifikationsflächen für diverse soziale Rollen anbieten (vgl. ebd., S. 11 u. 15). Zur Umsetzung dieser Ziele bietet der Leitfaden Checklisten zur Analyse von Unterrichtsbüchern und -materialien. Diese sollten beispielsweise daraufhin kritisch geprüft werden, ob sie »auf soziale Realitäten Bezug« nehmen und »die breite Vielfalt von Familienformen« (Hladschik 2016, S. 14) zeigen sowie ob »[n]icht-stereotypes Rollenverhalten […] als positiv, bzw. […] wertfrei dargestellt« (ebd., S. 17) wird. Hingegen unerwähnt in diesem Leitfaden bleibt die Notwendigkeit, eine gendergerechte Sprache zu verwenden, die bei Moser,

›Freche‹ Jungs und ›hübsche‹ Mädchen?

127

Hannover und Becker einen wesentlichen Aspekt von Geschlechtergerechtigkeit in Schulbüchern darstellt (vgl. Moser/Hannover/Becker 2013).3 Die kurze Darstellung der Forschungsergebnisse der Schulbuchforschung und auch die Gestaltungsanregungen des vorgestellten Leitfadens zeigen, dass eine genderorientierte Untersuchung von Unterrichtsmaterialien mit diversen kleinen Formen wie Überschriften, Aufgabentexten, Grafiken etc. vielfältige Aspekte abdecken kann und sollte. Sie muss sich nicht auf die Analyse von Rollendarstellungen beschränken, vielmehr sollten auch Aspekte wie stereotypisiertes Verhalten und eine geschlechter(un)gerechte Sprache Beachtung finden. Für die Analyse kleiner Formen reicht es allerdings nicht aus, bestehende Ansätze zusammenzuführen, vielmehr müssen die Besonderheiten kleiner Formen für den Unterricht in den Blick genommen werden. Gerade eigenständig durch Lehrer*innen konzipierte und erstellte Materialien, die hier exemplarisch untersucht werden sollen, unterliegen anderen Produktionsbedingungen als publizierte Schulbücher und gedruckte unterrichtsbegleitende Lehr- und Lernmaterialien. Bei der Untersuchung kleiner Formen sowie bei der Beantwortung der Frage, wie das eingangs genannte Spannungsverhältnis gezielt aufgelöst werden kann, spielen diese Aspekte eine zentrale Rolle.

2.

Besonderheiten kleiner Formen in Unterrichtsmaterialien

Publizierte Lehr- und Lernmaterialien wie auch eigenständig erstellte, unterrichtsbegleitende Materialien wie (digitalen) Tafelbilder, Arbeitsblätter etc. werden immer im Hinblick auf didaktisch-methodische Aspekte erstellt. Hinsichtlich der didaktischen Reduktion von Lerninhalten steht der Anspruch auf Prägnanz, Einfachheit, Verständlichkeit und Übersichtlichkeit des Materials im Vordergrund (vgl. Sandfuchs 2010, S. 21); Unterrichtsmaterialien sollten sich an den Lehrplänen, Stundentafeln und Bildungsstandards etc. orientieren. Schulbücher sind dabei stark durch verlagspolitische und -ökonomische Bedingungen bedingt, während Unterrichtsmaterialen, die von Lehrkräften konzipiert und erstellt werden, stärker durch arbeitsökonomische Gesichtspunkte und räumliche Begebenheiten geprägt werden. Eine große Rolle in ihrem Entstehungsprozess spielen Aspekte wie Einschränkungen durch Urheberrechtsbestimmungen, Kopierkosten und die (Nicht-)Verfügbarkeit von Primärund Sekundärtexten, aber auch die technische Ausstattung, sowohl am Arbeitsplatz der Lehrkraft als auch im Klassenzimmer, die vorhandene Tafelgröße, das verfügbare Papierformat u.v.m. Kleine Formen wie Arbeitstexte entstehen zudem häufig im laufenden Unterrichtsalltag, oft unter Zeitdruck – auch im 3 Zur Bedeutung linguistischer Aspekte in Schulbüchern vgl. Ott 2014.

128

Maike Nikolai-Fröhlich

Hinblick auf ihre Rezeption – und ohne externe Qualitätssicherung; sie verbleiben meist in der Verantwortung einer Lehrkraft. Es ist anzunehmen, dass angesichts der notwendigen Verdichtung von Information in Arbeitstexten, unter anderem um eine ausreichende Bearbeitungszeit nach dem Leseverstehen zu ermöglichen, Gender- und Diversitätsaspekte in den Hintergrund rücken. Kleine Formen in durch Lehrkräfte selbstkonzipierten und erstellten Materialen zeichnen sich zudem und im Gegensatz zu kleinen Formen in publizierten Unterrichtsmaterialien durch ihre fehlende Serialität aus. Denn eigenständig erstellte Unterrichtsmaterialien sind und bleiben in der Regel Einzelwerke; die Etablierung bestimmter Figuren oder fortlaufender Narrationen, wie sie zum Beispiel in Deutschbüchern zu finden sind, ist eher schwierig. So bleibt wenig Raum für positive Attribuierungen und das Bereitstellen positiver diverser Identifikationsflächen. Im Umkehrschluss sind Figuren- und Handlungsanalysen bei der Untersuchung kleiner Formen in diesen Materialen nur eingeschränkt möglich. Unter den genannten Entstehungsbedingungen ist davon auszugehen, dass kleine Formen besonders stark auf Geschlechterbilder, Rollenklischees und genderkonnotierte Narrative zurückgreifen. Denn diese sind sowohl bei den Produzent*innen (der Lehrkraft) als auch bei den Rezipient*innen (den Schüler*innen) verhältnismäßig sicher (im Sinne der Nachvollziehbarkeit) und mit geringem kognitiven Aufwand abrufbar. Fachliche Inhalte können im Rückgriff auf gängige Wahrnehmungsstrukturen und Binarismen wie ›weiblich‹/›männlich‹ zuverlässig illustriert und kontextualisiert werden (vgl. Eckes 2010, S. 181). Eine Geschlechterstereotypisierung scheint aus dieser Perspektive gleichermaßen zweckmäßig wie unumgänglich zu sein. Zudem ist anzunehmen, dass der Erfahrungs- und Wissensschatz der Lehrkraft, die dominierende (nicht-geschlechtergerechte) Sprachpraxis sowie Alltagsannahmen stärker in das Material einfließen als es in der Produktion von Schulbüchern und unterrichtsbegleitender Arbeitshefte der Fall ist, die einer strengeren Normierung und strikten Zulassungsbestimmungen unterliegen (vgl. Stöber 2010; Bittner 2015) sowie über einen längeren Zeitraum aufwendig erstellt und lektoriert werden.

3.

Exemplarische Analysen kleiner Formen in selbstkonzipierten Unterrichtsmaterialien

Im Rahmen dieses Beitrags werden kleine Formen in Arbeitsmaterialien aus den Fächern Mathematik und Deutsch der Sekundarstufe I untersucht. Erhoben wurden sie auf der Internetplattform »4.teachers«. Das Portal stellt von Lehrer*innen erstellte Unterrichtsentwürfe, Lehrproben und Arbeitsmaterialien

›Freche‹ Jungs und ›hübsche‹ Mädchen?

129

u. Ä. kostenlos zum Download zur Verfügung beziehungsweise bietet diese zum Tausch an. Die Plattform macht auf diese Weise zahlreiche Unterrichtsmaterialien leicht zugänglich.4 Die folgenden Untersuchungsbeispiele wurden nicht systematisch erhoben; nach der Sichtung verschiedener Materialien folgte vielmehr eine Analyse besonders prägnanter Beispiele. Es handelt sich demnach um eine exemplarische, nicht repräsentative Analyse. Untersucht wurde ausschließlich solches Material, das erzählerisch ausgestaltet ist und handelnde Figuren aufweist. Im Folgenden werden vier genderorientierte Beispielanalysen von kleinen Formen in Unterrichtsmaterialien vorgestellt. Für eine weiterführende Betrachtung müsste ein konkretes Sampling zur Erhebung und Analyse erstellt werden und quantitativ mehr Material untersucht werden. Nachfolgend wird trotzdem deutlich, dass mithilfe des für diesen Beitrag festgelegten Untersuchungsfokus Genderaspekte kleiner Formen in Lernmaterialien nachzuvollziehen sind. Unter Berücksichtigung der oben genannten Gesichtspunkte sollen nachfolgend Zuschreibungen von Geschlechterrollen, Figurenhandlungen und -attribuierungen untersucht werden. Eine solche Untersuchung umfasst nicht nur eine quantitative Figurenanalyse im Hinblick auf die Frage, ob Darstellungen männlicher oder weiblicher Figuren dominieren und wer häufiger sowie in welcher Reihenfolge genannt wird. Vielmehr erfordert sie eine qualitative Analyse des Figurenpersonals und des Figurenhandelns. Gefragt werden muss, ob sich in der jeweiligen kleinen Form geschlechterstereotype Darstellungen beziehungsweise Zuschreibungen geschlechterstereotypen Verhaltens nachweisen lassen und ob auf dominierende Sprach- und Darstellungspraktiken wie Gendermetaphoriken (vgl. Lorber 2003, S. 76) oder genderkonnotierte Narrative und Rahmenerzählungen zurückgegriffen wird. Nicht zuletzt gilt es, die Verwendung geschlechter(un)gerechter Sprache und die Effekte, die sich daraus ergeben, nachzuvollziehen.

3.1.

Lernmaterial I: Jupp Glücksberg

Bei dem Lernmaterial I handelt es sich um eine Textaufgabe aus dem Mathematikunterricht, empfohlen für die Klassenstufe 9 ohne eine Angabe der Schulart. Die Schüler*innen sollen aus dem bereitgestellten Material selbst-

4 Die Plattform stellt gegenwärtig über 60.000 Materialien bereit und wird täglich von knapp 5.000 Nutzer*innen aufgerufen. Vgl. »Statistik« der Internetseite: https://www.4teachers.de/? action=static& t=stats [Zugriff: 08.12.18].

130

Maike Nikolai-Fröhlich

ständig die »notwendigen Rechenoperationen […] entnehmen«5, um diese anschließend durchzuführen. Die konkrete Rechenaufgabe ist in eine längere Rahmenerzählung eingefasst, in deren Mittelpunkt die Figur »Jupp Glückskind« (LM I) steht: Jupp Glückskind, der Wasserfan aus Duisburg, hat von seinem Opa ein wunderschönes 2.000 m2 großes Grundstück am See geerbt. Das verkauft er zu einem Preis von 2.500 E/m2. Ein quadratisches Grundstück in gleicher Lage zum gleichen qm-Preis hat es ihm angetan. Er kauft es kurzerhand. Nachdem Jupp sich zum Geburtstag die lang ersehnte Yacht für 500.000 E gegönnt hat, macht er erst einmal mit seiner Frau und seiner Tochter eine Traumreise in die Südsee. […] Dann ist das schöne Geld aus dem Verkauf von Opas altem Gartengrundstück mit Seeblick bis auf den »schäbigen« Rest von 700.000 E futsch. Dieses Geld wird so angelegt, dass die jährlichen Zinsen für den Unterhalt des Hauses dicke reichen. Bei der Einweihungsfeier im neuen Haus erzählt Jupp die Geschichte seinen neuen Nachbarn. Einer von ihnen – Hans Dröge – will wissen: »Und wie lang ist euer neues Grundstück?« Darauf Lisa, Jupps treu sorgende Gattin: »Das musst du schon selbst ausrechnen!« (LM I)

In dieser Erzählung, die die eigentliche Rechenaufgabe gleichermaßen rahmt und veranschaulicht, werden drei männliche Figuren eingeführt: Die Hauptfigur Jupp Glückskind, dessen verstorbener Großvater, von dem Jupp das lukrative Grundstück erbt, und der neue Nachbar Hans Dröge. Zwei der männlichen Figuren sind namentlich genannt, was den Fokus auf diese beiden lenkt. Demgegenüber stehen zwei weibliche Figuren: Jupps Ehefrau Lisa und ihre Tochter, deren Name unbekannt bleibt. Jupp Glückskind stellt in der Erzählung die aktiv handelnde Figur dar : Er erbt, verkauft, kauft, reist, legt Geld an und berichtet von seinem Tun. Im Rückgriff auf stark geschlechtlich konnotierte Bilder, hier das des homo oeconomicus6, wird Jupp in der Erzählung als derjenige dargestellt, der kluge (Investitions-)Entscheidungen trifft. Indem er das geerbte Grundstück verkauft und den Ertrag gewitzt anlegt, maximiert Jupp sein Vermögen und so seinen Nutzen. Jupps Handeln charakterisiert ihn als kurzentschlossen, rational-kalkulierend und auch wenig bescheiden. Letzteres wird im Gespräch mit dem Nachbarn deutlich, dem er »die Geschichte« (LM I) seiner Investitionen erzählt.

5 Vgl. Materialbeschreibung des*der Bereitsteller*in: https://www.4teachers.de/?action=down load& downloadtype=material& downloadid=39898 [Zugriff: 06. 07. 2018]. Zitate aus und Verweise auf das Lernmaterial werden nachfolgend mit der Sigle »LM I« im Fließtext belegt. 6 Siehe zum Stereotyp des homo oeconomicus insbesondere Habermanns Beitrag »Hegemonie, Identität und der homo-oeconomicus« (2011).

›Freche‹ Jungs und ›hübsche‹ Mädchen?

131

Seine Frau Lisa und die Tochter begleiten Jupp, scheinen aber nicht aktiv an der Entwicklung der Handlung beteiligt zu sein: Die Tochter tritt nicht als handelnde Figur auf; Lisa bleibt im Kontext der Kauf- und Investitionsentscheidungen im Hintergrund und wird nur in ihrer Rolle als Gastgeberin bei der Einweihungsfeier, also in einem häuslichen Rahmen, erwähnt. Neben dieser rollenstereotypen Verortung der Frau und den impliziten Geschlechterkonnotationen der Rahmenerzählung, genauer ›männlich-aktiv-entscheidungsfreudig‹ versus ›weiblich-passiv-zurückhaltend‹, wird Jupps Frau auch ganz explizit geschlechterstereotyp als ›treusorgend‹ (vgl. LM I) attribuiert.

3.2

Lernmaterial II: Ausparken

Auch Lernmaterial II, eine »[o]ffen gestellte, leicht humorvolle Aufgabe zum Satz des Pythagoras«7 für die Klassenstufen 9/10, greift auf ein geschlechterkonnotiertes Narrativ zurück, um ein mathematisches Problem zu illustrieren. In dieser Aufgabenstellung werden die jugendlichen Figuren Daniel und Meike eingeführt, deren Streitgespräch das eigentliche mathematische Problem veranschaulicht und gleichzeitig einen Lebensweltbezug für die Schüler*innen herstellt; die (Geschlechter-)Komik der Situation soll sicherlich aktivierend wirken, stellt dabei aber auf bekannte Geschlechterklischees ab: Die beiden 18-jährigen Oberstufenschüler Daniel und Meike beschließen, mit Meikes Auto ins Kino zu fahren. Als sie losfahren wollen, steht Meikes Auto vor dem Haus von zwei anderen Autos dicht eingeparkt. Meike schaut sich die Situation an und sagt sofort: »Aus der Lücke komme ich auf keinen Fall heraus! Das sind ja jeweils nur 15 cm Abstand zum nächsten Auto!«. Daniel, der eben erst seinen Führerschein gemacht hat, sieht das ganz anders und meint siegessicher : »Typisch Mädchen! Keine Ahnung von Autos! Lass mich das mal machen, ich kann das besser! So ein kleines Auto: 3,90 m lang und 1,60 m breit – das ist doch ein Kinderspiel!!!« Und dann lässt er den Motor aufheulen und beginnt mit dem Ausparken … (LM II)

Die Schüler*innen sollen auf Grundlage dieses Textes selbstständig errechnen, ob das eingeparkte Auto von Daniel ausgeparkt werden kann oder nicht. Das Figurenpersonal dieser Erzählung ist quantitativ gleichgestellt. Auch nehmen beide Figuren einen ungefähr gleich großen Redeanteil ein. Sie unterscheiden sich aber signifikant in dem, was sie sagen und wie sie handeln: Meike zeigt sich angesichts des zugeparkten Autos besonnen und zurückhaltend, sie ist diejenige, die nicht ausparken kann oder will. Daniel hingegen reagiert impulsiv, 7 Materialbeschreibung des*der Bereitsteller*in: http://www.4teachers.de/?action=download& downloadtype=material& downloadid=28577 [Zugriff: 06. 07. 2018]. Zitate aus und Verweise auf das Lernmaterial werden nachfolgend mit der Sigle »LM II« im Fließtext belegt.

132

Maike Nikolai-Fröhlich

zögert nicht und wird sofort aktiv. Überdies übergeht er einfach Meikes Einwand, die Abstände zu den anderen Autos wären zu klein; vielmehr betont er im direkten Rückgriff auf Geschlechterklischees – »[t]ypisch Mädchen! Keine Ahnung von Autos!« (LM II) – vermeintlich geschlechterspezifische Interessenlagen und Kompetenzen.8 Vordergründig stellt auch dieses Material affirmativ auf Geschlechterstereotype ab und reproduziert diese unreflektiert. Erst ein Blick auf die Lösung der Rechnung zeigt, dass das Material vielmehr Potenzial birgt, diese Geschlechterklischees vorzuführen, denn »[d]as Auto passt nicht diagonal in die Parklücke. Damit ist ein Ausparken unmöglich und Daniel blamiert sich mit seiner großen Klappe bis auf die Knochen…« (LM II). Angesichts der Lösung wird deutlich, dass Meike ein besseres mathematisch-räumliches Verständnis zeigt und dass sich Daniel durch seinen Aktivismus bloßstellt; das zu Beginn durch Daniel formulierte Geschlechterstereotyp wird als solches entlarvt. Durch diese (für die Schüler*innen evtl. unerwartete) Auflösung der Situation allein wird die Reproduktion von Stereotypen aber wahrscheinlich nicht unterlaufen. Vielmehr kann und sollte diese Aufgabe genutzt werden, um im Anschluss gezielt mit den Schüler*innen über diese Aspekte ins Gespräch zu kommen; die Narration müsste dazu allerdings überfachlich kontextualisiert und diskutiert werden.

3.3

Lernmaterial III: Substantivierung von Adjektiven

Während die Lernmaterialien I und II mehr oder minder komplexe Erzählungen einführen, besteht das Lernmaterial III aus Einzelsätzen, die unabhängig voneinander zu lesen sind und keine fortlaufende Narration bilden. Die folgende Aufgabe ist für den Deutschunterricht in der Klassenstufe 5/6 konzipiert, um die Substantivierung von Adjektiven einzuüben. Die Schüler*innen müssen bei den Beispielsätzen entscheiden, welche Groß- und Kleinschreibung angewendet wird.9 Dabei werden drei Jungen und zwei Mädchen vorgestellt. Alle Kinder sind durch ihr Handeln unterschiedlich, vorrangig geschlechterstereotyp attribuiert: Die neuen Kleider stehen dem hübschen Mädchen gut. […] Der Junge kauft viel Unnötiges, doch er wollte das teure Spielzeug schon lange 8 An dieser Stelle sei auf den intertextuellen Bezug zu Allan und Barbara Peases Ratgeberbestseller Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken (1998) verwiesen, der Ratschläge auf der Basis von Geschlechterstereotypen erteilt. 9 Vgl. Materialbeschreibung des*der Bereitsteller*in: https://download.4teachers.de/down load/type/material/id/22002 [Zugriff: 06. 07. 2018]. Zitate aus und Verweise auf das Lernmaterial werden nachfolgend mit der Sigle »LM III« im Fließtext belegt. Nachfolgend sind nur diejenigen Teile des Materials aufgeführt, die (handelnde) Figuren enthalten.

›Freche‹ Jungs und ›hübsche‹ Mädchen?

133

haben. […] Der freche Junge sieht Unglaubliches und alarmiert die schnelle Polizei, die etwas Gewagtes unternehmen muss, um das Sensationelle wirklich einfangen zu können. Etwas Großes oder viele kleine Dinge wünscht sich das Mädchen zum Geburtstag. Weniger Lautes und nichts Brutales wünscht sich der schüchterne Junge im Fernsehen. (LM III)

Mit Ausnahme des »schüchterne[n]« (LM III) Jungen stellen die Übungssätze zu den Kindern auf gängige Geschlechterdichotomien ab: Einem hübsch gekleideten und einem bescheidenen Mädchen werden ein willensstarker und ein frecher Junge gegenübergestellt. Das erste Mädchen wird dabei nicht nur als vorrangig ›schön‹ dargestellt. Auf der Ebene der Syntax wird das Mädchen vielmehr zum Objekt des Satzes; das Mädchen trägt nicht die Kleidung, sondern die Kleidung ziert das Mädchen (vgl. LM III). Auch das zweite Mädchen wird geschlechterstereotyp attribuiert, indem es sehr zurückhaltend nur bescheidene Geburtstagswünsche zum Ausdruck bringt. Demgegenüber erfüllt sich der erste Junge seine Wünsche selbst, indem er die Dinge einfach kauft, die ihm gefallen. Und auch der zweite Junge wird aktiv : Er beobachtet nicht nur Aufregendes, sondern nimmt selbst eine wichtige Rolle ein, indem er die Polizei davon in Kenntnis setzt. Allein der letzte, »schüchterne« (LM III) Junge, der sich wünscht, weniger Gewalt im Fernsehen zu sehen, fällt aus diesem binären Raster von ›passiv‹ versus ›aktiv‹ beziehungsweise ›zurückhaltend‹ versus ›forsch‹. Das Lernmaterial III macht deutlich, dass gerade quantitativ wenig umfangreiche Unterrichtsmaterialien und deren kleine Formen, hier der Einzelsatz, Geschlechterstereotype transportieren und auf diese Weise reproduzieren können. Gleichzeitig zeigt sich, dass mit verhältnismäßig wenig Aufwand geschlechterstereotype Darstellungen von Mädchen/Frauen und Jungen/Männern vermieden werden könnten, indem männliche und weibliche Figuren quantitativ und qualitativ gleichgestellt werden, beispielsweise dadurch, dass sie nichtrollenkonformes Verhalten an den Tag legen.

3.4

Lernmaterial IV: Leserbriefe

Auch das letzte ausgewählte Lernmaterial zeigt, wie stark Unterrichtsmaterialien von Geschlechter(rollen)bildern geprägt sind. Folgende »bespielhafte Leserbriefe […] aus zwei unterschiedlichen Perspektiven«10 sollen die Form und den Aufbau eines Leserbriefes als meinungsäußernde Textsorte illustrieren und den 10 Materialbeschreibung des*der Bereitsteller*in: https://www.4teachers.de/?action=download& downloadtype=material& downloadid=67984 [Zugriff: 06. 07. 2018]. Zitate aus und Verweise auf das Lernmaterial werden nachfolgend mit der Sigle »LM IV« im Fließtext belegt.

134

Maike Nikolai-Fröhlich

Schüler*innen als Orientierung für die eigene Textproduktion dienen. In diesen von der Lehrkraft selbst verfassten11 Leserbriefen äußern zwei Figuren ihre Meinung zu einem (fiktiven) Zeitungsbericht, der das Verbot von Jogginghosen an einer Handelsschule thematisiert. Zu Wort kommen die 15-jährige Schülerin Melanie und der Bankdirektor Herr Meier. Melanie argumentiert aus der Schülerinnenperspektive wie folgt: […] Ich finde, dass Kleidungsvorschriften an Schulen zwar sinnvoll sind, jedoch denke ich, dass ein Jogginghosen-Verbot zu weit geht. Der nächste Schritt wäre dann, dass die Schülerinnen und Schüler der Handelsakademie überhaupt in Kostüm und Anzug in die Schule kommen müssen […]. Die Schule sollte immerhin ein Ort sein, an dem man sich wohlfühlt und wo man gut lernen kann. […] Besser als ein Verbot wäre, das Thema mit den Schülerinnen und Schülern zu besprechen […]. Melanie (15), Wels (LM IV)

Melanie begründet ihre Meinung vorrangig im Hinblick auf emotionale Aspekte wie das Sich-Wohl-Fühlen an der Schule. Sie schlägt vor, das Gespräch mit den Schüler*innen zu suchen, statt generelle Verbote aufzuerlegen und zeigt sich auf diese Weise kooperativ und verständnisvoll. Herr Meier hingegen tritt vehement für Strenge und für einen angemessenen Kleidungsstil ein: Als Bankdirektor kann ich den Vorstoß der Innsbrucker Schuldirektorin […] nur begrüßen. […] Wer sich bereits in jungen Jahren einen ordentlichen Kleidungsstil angewöhnt, hat später im Beruf weniger Probleme. Gerade auf einer Bank, wo man auch mit Kunden in Kontakt steht, spielt das äußere Erscheinungsbild eine große Rolle, und kann darüber entscheiden, ob man einen Job bekommt oder eben nicht. Ich appelliere daher auch an andere Direktorinnen und Direktoren, einen ordentlichen Kleidungsstil von ihren Schülerinnen und Schülern einzufordern […]. G. Meier, Linz (LM IV)

Herr Meier argumentiert rational, berufs- und erfolgsorientiert, indem er seine Meinung mit der repräsentativen Funktion von Kleidung im Hinblick auf Karrierechancen begründet. Auch hier werden geschlechterstereotyp attribuierte (›emotional-kooperativ‹ versus ›rational-erfolgsorientiert‹) Figuren gegenübergestellt. Verstärkt wird diese Dichotomie weiter dadurch, dass die männliche Figur wesentlich älter12, offensichtlich höhergestellt und mit ›Herrschaftswissen‹ ausgestattet ist: Die männliche Figur wird nicht nur in der Arbeitswelt verortet, genauer im Finanzsektor ; Herr Meier ist als erfolgreicher Bankdirektor derjenige, der die impliziten Regeln der Arbeitswelt kennt und erklärt. Melanies, durch ihr Alter und ihre Stellung als Schülerin, eingeschränkte Perspektive auf das Thema wirkt hingegen eher naiv. 11 Vgl. Materialbeschreibung des*der Bereitsteller*in. 12 Herr Meiers Alter wird nicht genannt, lässt sich aber aus seiner Stellung als Bankdirektor ableiten.

›Freche‹ Jungs und ›hübsche‹ Mädchen?

135

Während das Material inhaltlich stark auf Geschlechterklischees abstellt, bemüht sich der Text auf sprachlicher Ebene durchaus um Geschlechtergerechtigkeit. So gibt es Doppelnennungen wie »Schülerinnen und Schüler« und »Direktorinnen und Direktoren« (LM IV). Eine solche geschlechtergerechte Sprache wird aber nicht konsequent verwendet. So greift Herr Meier in seinen Ausführungen auf das generische Maskulinum zurück; das Personalpronomen ›man‹ wird generalisierend verwendet. Zudem ist ausschließlich von »Kunden« (LM IV) die Rede. Trotz der anscheinend vorhandenen Sensibilität für geschlechtergerechte Sprache, die in der Doppelnennung zum Ausdruck kommt, vermittelt der Text so den Eindruck, im Finanzsektor würden überwiegend Männer agieren. Demgegenüber führt die Doppelnennung von »Direktorinnen und Direktoren« (LM IV) von Schulen dazu, Frauen mit Bildungs- und Sozialberufen zu assoziieren.

4.

Fazit

Die Beispielanalysen zeigen, wie eine genderorientierte Untersuchung von kleinen Formen in Unterrichtsmaterialien aussehen kann. Deutlich wurde, dass alle vorgestellten Materialien mehr oder minder stark auf Geschlechter(rollen)stereotype abstellen, indem sie Figuren auftreten lassen, die geschlechterstereotyp attribuiert sind und/oder handeln. Frauen und Mädchen treten als ›schön‹ (vgl. LM III), ›zurückhaltend‹ (vgl. LM I, II, III) und ›kooperativ‹ (vgl. LM IV) auf, während Männer und Jungen als ›expressiv‹ (vgl. LM I, II, III), ›entscheidungsfreudig‹ (vgl. LM I, II), ›rational‹ (vgl. LM I, IV) und ›durchsetzungsfähig‹ (vgl. LM II, IV) dargestellt werden. Die männlichen Figuren sind in den untersuchten Materialien quantitativ zwar nur unwesentlich stärker vertreten, sie sind aber durchgehend Handlungsträger der Erzählungen, während die weiblichen Figuren nur untergeordnete Rollen einnehmen (vgl. insbesondere LM I). Auf diese Weise werden Geschlechterstereotype wie ›männlich-aktiv‹ versus ›weiblich-passiv‹ im- und auch explizit betont. Rollenklischees finden beispielweise zur (narrativen) Illustration von Problemstellungen Verwendung (vgl. LM II). In Lernmaterial II wird zwar versucht, die Stereotype aufzulösen, die die Rahmenerzählung tragen, ohne anschließende Reflexion und Diskussion besteht aber die Gefahr, diese vielmehr zu verfestigen. Geschlechterungerechte Formulierungen (vgl. LM IV) tragen weiter zur Geschlechterdiskriminierung in diesen kleinen Formen der Unterrichtsmaterialien bei. Der Einblick in die aktuelle Schulbuchforschung hat gezeigt, dass es trotz der rechtlichen Rahmenbedingungen im Hinblick auf eine Antidiskriminierung der Geschlechter immer noch schwerfällt, auf diskriminierende Stereotypisierungen in Schulbüchern zu verzichten (vgl. Maier 2009, S. 2). Dass dies gleichermaßen

136

Maike Nikolai-Fröhlich

für durch Lehrkräfte eigenständig erstelltes Material gilt und Ausdruck in kleinen Formen wie der Aufgabenstellung findet, haben die exemplarischen Analysen in diesem Beitrag gezeigt. Kleine Formen des Unterrichts erweisen sich aufgrund ihrer spezifischen Produktionsbedingungen als besonders anfällig für die (Re-)Produktion von Geschlechterklischees. Das untersuchte Material hat aber auch gezeigt, dass kleine Formen in durch Lehrkräfte eigenständig erstellten Unterrichtsmaterialien das Potenzial bergen, Geschlechterstereotype aufzubrechen und eine gendergerechte Sprache zu etablieren. Dabei reicht es allerdings nicht aus, Aufgabenstellungen geschlechtersensibel zu verfassen, wie es zum Beispiel in Lernmaterial IV versucht wurde. Neben einer konsequenten Verwendung geschlechtsneutraler und/oder -sensibler Formulierungen sollte gezielt auf Diversität geachtet und auf Geschlechterklischees und überholte Rollenzuschreibungen verzichtet werden. Es gilt, geschlechterstereotype Darstellung von Mädchen/Frauen und Jungen/Männern zu vermeiden und nicht auf stereotypisierte Rahmenerzählungen zurückzugreifen. Männliche und weibliche Figuren sollten vielmehr sowohl quantitativ als auch qualitativ gleichgestellt sein, zum Beispiel indem weibliche Figuren als Handlungsträgerinnen dargestellt werden. Denkbar ist es auch, dazu bewusst Figuren einzuführen, die ein nicht-rollenkonformes Verhalten an den Tag legen. Die hier erfolgten exemplarischen Analysen weisen allerdings darauf hin, dass bislang dieses Potenzial kleiner Formen des Unterrichts nicht ausgeschöpft wird.

Quellenverzeichnis Primärquellen Lernmaterial I: Kleine Textaufgabe mit einer einfachen Quadratwurzel. Zur Verfügung gestellt am 02. 12. 2007. Verfügbar unter : https://www.4teachers.de/?action=down load& downloadtype=material& downloadid=39898 [Zugriff: 06. 07. 2018]. Lernmaterial II: Auspark-Aufgabe. Zur Verfügung gestellt am 17. 07. 2006. Verfügbar unter : http://www.4teachers.de/?action=download& downloadtype=material& down loadid=28577 [Zugriff: 06. 07. 2018]. Lernmaterial III: Adjektive können zu Substantiven werden. Verfügbar unter : https:// download.4teachers.de/download/type/material/id/22002 [Zugriff: 06. 07. 2018]. Lernmaterial IV: Beispiel Leserbrief. Zur Verfügung gestellt am 14. 11. 2013. Verfügbar unter: https://www.4teachers.de/?action=download& downloadtype=material& downloadid= 67984 [Zugriff: 06. 07. 2018].

›Freche‹ Jungs und ›hübsche‹ Mädchen?

137

Sekundärliteratur Bittner, Melanie (2015): »Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern. Heteronormativität und Genderkonstruktionen in Englisch- und Biologiebüchern«, in: Schmidt, Friederike [u. a.] (Hg.): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse und Bildungsbausteine. Wiesbaden, S. 247–260. Eckes, Thomas (2010): »Geschlechterstereotype. Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen«, in: Becker, Ruth / Kortendiek, Beate (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden, S. 178–189. Finsterwald, Monika / Ziegler, Albert (1997): »Geschlechtsrollenerwartungen vermittelt durch Schulbuchabbildungen der Grundschule«, in: Ludwig, Peter / Ludwig, Heidrun (Hg.): Erwartungen in Himmelblau und rosarot. Effekte, Determinanten und Konsequenzen von Geschlechterdifferenzen in der Schule. Weinheim, S. 117–141. Göbel, Malte / Bittner, Melanie (2013): Geschlecht und sexuelle Vielfalt. Praxishilfen für den Umgang mit Schulbüchern. Frankfurt am Main. Grauel, Gabriele (1973): »Rollenbilder in Fibeln«, in: Beck, Gertrud / Hilligen, Wolfgang (Hg.): Politische Bildung ohne Fundament. Untersuchungen zu Richtlinien, Fibeln, Lehrerhandbüchern für den Unterricht in der Grundschule. Neuwied am Rhein, S. 109–147. Habermann, Fredericke (2010): »Hegemonie, Identität und der homo oeconomicus. Oder : Warum feministische Ökonomie nicht ausreicht«, in: Bauhardt, Christine / C ¸ ag˘lar, Gülay (Hg.): Gender and Economics. Feministische Kritik der politischen Ökonomie. Wiesbaden, S. 151–173. Hladschik, Patricia (2016): Diskriminierung in Schulbüchern erkennen. Empfehlungen für nicht-diskriminierende Schulbücher. Fokus Gender und sexuelle Orientierung, verfügbar unter: https://www.politik-lernen.at/dl/MpulJMJKomlolJqx4KJK/edpol_2016_Nicht_dis kriminierende_Schulbuecher_web.pdf [Zugriff: 06. 07. 2018]. Hunze, Annette (2003): »Geschlechtertypisierung in Schulbüchern.«, in: Stürzer, Monika u.a. (Hg.): Geschlechterverhältnisse in der Schule. Opladen, S. 53–82. Jagusch, Britta u. a. (2016): Eine Sprache, die alle anspricht – Geschlechterbewusste Sprache in der Praxis, verfügbar unter: https://www.gew-berlin.de/public/media/GEW%20BUND% 20GeschlBewusstSprache.pdf [Zugriff: 08. 12. 2018]. Lindner, Viktoria / Lukesch, Helmut (1994): Geschlechtsrollenstereotype im deutschen Schulbuch. Eine inhaltsanalytische Untersuchung von Schulbüchern für Grund-, Hauptund Realschulen der Fächer Deutsch, Mathematik, Heimat- und Sachkunde sowie Religionslehre in Bayern, Nordrhein-Westfalen und der ehemaligen DDR, zugelassen im Zeitraum von 1970 bis 1992. Regensburg. Lorber, Judith (2003): Gender-Paradoxien. Opladen. Maier, Robert (2009): »Was ist ein gutes Schulbuch?«, in: Eckert Beiträge 3, verfügbar unter: http://www.edumeres.net/urn/urn:nbn:de:0220-2009-00050 [Zugriff: 08. 12. 2018]. Maijala, Minna (2009): »Typisch Frau … Typisch Mann … – Zur Gender-Problematik in Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache«, in: Zielsprache Deutsch 36/1, S. 33–60. Markom, Christa / Weinhäupl, Heidi (2007): Die Anderen im Schulbuch. Rassismen, Exotismen, Sexismen und Antisemitismus in österreichischen Schulbüchern. Wien.

138

Maike Nikolai-Fröhlich

Moser, Franziska / Hannover, Bettina / Becker, Judith (2013): »Subtile und direkte Mechanismen der sozialen Konstruktion von Geschlecht in Schulbüchern. Vorstellung eines Kategoriensystems zur Analyse der Geschlechter(un)gerechtigkeit von Texten und Bildern«, in: Gender 5/3, S. 77–93. Ohlms, Ulla (1984): »›Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau …‹ – Rollenklischees in Schulbüchern«, in: Brehmer, Ilse / Enders-Dragässer, Uta (Hg.): Die Schule lebt. Frauen bewegen die Schule. München, S. 131–161. Ott, Christine (2014): »Das Schulbuch beim Wort nehmen. Linguistische Methodik in der Schulbuchforschung«, in: Knecht, Petra u. a. (Hg.): Methodologie und Methoden der Schulbuch- und Lehrmittelforschung. Bad Heilbrunn, S. 254–263. Ott, Christine (2016): Schulbuchforschung zum Aspekt Geschlecht, verfügbar unter : https://www.klinkhardt.de/newsite/media/20170921_Schulbuchanalysen%20Gender%2 0Stand%20Maerz%202016.pdf [Zugriff: 08. 12. 2018]. Peases, Allan/Peases, Barbara (2000): Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken. München. Sandfuchs, Uwe (2010): »Schulbücher und Unterrichtsqualität – historische und aktuelle Reflexionen«, in: Fuchs, Eckhardt / Kahlert, Joachim / Sandfuchs, Uwe (Hg.): Schulbuch konkret. Kontexte – Produktion – Unterricht. Bad Heilbrunn, S. 11–24. Schlette, Hanna / Pfülb, Mechthild (1967): »Das Bild des Mädchens und der Frau in Lesebüchern in Realschulen«, in: Informationen für die Frau 11/12, S. 12–14. Sollwedel, Inge (1967): »Das Bild des Mädchens und der Frau in Lesebüchern für Volksschulen«, in: Informationen für die Frau 11/12, S. 10–12. Stöber, Georg (2010): »Schulbuchzulassung in Deutschland. Grundlagen, Verfahrensweisen und Diskussionen«, in: Eckert Beiträge 3, verfügbar unter : http://www.edume res.net/urn/urn:nbn:de:0220-2010-0014.

Maja Linke

Katzenjammer und Superbürger*innen – Comics im fremdsprachlichen Deutschunterricht

Der Einsatz von Text-Bild-Verbindungen im schulischen Unterricht hat eine lange Tradition in der Wissensvermittlung. Gerade für den Fremd- oder Zweitsprachenunterricht kann das Betrachten und Lesen von Bilderbögen, ComicStrips, Cartoons u. ä. sinnvoll sein, um neue Vokabeln zu lernen und kreativ mit Text umzugehen. Wenn die Sprachkenntnisse noch nicht weit fortgeschritten sind, dienen Abbildungen oft der Erklärung und Verdeutlichung. Doch Bilder sind nicht nur dazu da, sprachliche Lücken zu füllen und Texte nicht nur, um Bilder zu erklären: In den genannten Allianzen von Bild- und Textelementen entstehen »kleine Formen«, in denen mehr zur Geltung kommt, als reines »Unterweisungswissen«1. Ein nicht-(nur-)begriffliches Wissen verlässt die Buchseiten, um sich im Zusammenspiel von Betrachter/Leser*innen, Bild- und Textkomponenten aufzublättern und das Feld des Sagbaren zu übersteigen. In der Gemeinschaft von Bild und Text liegt eine Wirkungsmacht, die aus der kleinen Form hinaus unsere »Selbst- und Weltverhältnisse« irritieren2 und Wissensbestände erweitern oder aber sie im Stereotyp verengen kann. Wenn man Text-Bild-Verbindungen nicht nur konsumiert, sondern selbst in einem möglichst freien künstlerischen Tun erprobt und reflektiert, kann dieses ästhetische Wissenshandeln zu einem emanzipatorischen Umgang mit unserem Spracherwerb beitragen, der auch unsere Wahrnehmung von Welt hinterfragt.

1 Der Begriff »Unterweisungswissen« wurde 1994 von Hinrich Lühmann eingeführt und wird seitdem vor allem im Kontext der Kunstvermittlung in Abgrenzung zu anderen Wissensformen genutzt. 2 Vgl. hierzu Hans-Christoph Kollers Überlegungen zu Irritationen von Selbst- und Weltverhältnissen in transformatorischen Bildungsprozessen (Koller 2018).

140

Maja Linke

Übung / Rahmen / Fragen / Zeichen und Zeichnen / Andacht / Superbürger*innen / Monotypen / Fibeln / Verletzendes Sprechen / Schlagende Bilder / Stereotypen / Überzeichnung / Katzenjammer / Öffnen / Ermächtigung / Entwürfe

Übung Übung in 3er- oder 4er-Gruppen: Eine Person beschreibt das für sie Wichtigste im Raum ohne es zu benennen, die anderen Personen zeichnen nach ihrer Anweisung. Sie haben ca. 5 Minuten Zeit. Was ist das Wichtigste im Raum? Grundsätzlich oder nur für den Moment? Kann man es sehen? Ist es überhaupt anwesend oder fehlt das Wichtigste? Wie beschreibe ich es, wenn es nicht gegenständlich ist – sondern z. B. die Atmosphäre im Raum? Muss das Wichtigste positiv konnotiert sein? Oder ist die Abwesenheit selbst das Wichtigste? Wie beschreibe ich es so, dass es sich zeichnen lässt? Wie zeichne ich das Beschriebene, ohne mir zu schnell eine Vorstellung von dem Beschriebenen zu machen – die dann vielleicht nicht zutrifft? Muss ich dafür zeichnen können und was heißt das überhaupt? Muss ich versuchen, so genau wie möglich die gehörten Worte in Linien und Flächen umzusetzen? Wer beschreibt den Weg – Wort, Stift, Idee, Hand, Vorstellung? Sollte ich versuchen, mich in die beschreibende Person hineinzuversetzen? In ihr Gesagtes? Überlege ich, was für sie das Wichtigste sein könnte? Kann ich das überhaupt? Darf ich das überhaupt? In den meisten Fällen, so die persönliche Erfahrung in der Lehre, überfordert die spontane Frage nach dem Wichtigsten oder sie führt zu sehr einfachen Antworten: Wasserflasche, Tisch, Dozent*in. Das mag natürlich für den Moment die passende Antwort sein. Ändert sich die Situation aber, bricht beispielsweise ein Feuer aus, sind Tür, Feuerlöscher, Wasserhahn sicherlich von größerer Bedeutung. Ändert sich die Situation nicht von außen wie durch ein Feuer, sondern durch Position und Perspektive, bekommen auch andere Dinge und Zustände andere Wichtigkeiten: Für jemanden, der*die im Rollstuhl sitzt, wiegt Barrierefreiheit schwerer als für jemanden ohne Rollstuhl und ein heteronormativ strukturierter Raum kann für eine queere Person ein Unwohlsein in den Vordergrund rücken. Auch individuelle Erfahrungen oder die Beziehung zu der beschreibenden Person nehmen Einfluss: Wirkt die andere Person vertrauenswürdig, einschüchternd, kenne ich sie, scheint sie einem fremd, hält man sich eng an ihr Wort oder doch eher an die eigene Vorstellung, die man sich nach kurzer Zeit innerhalb dieser Übung macht?

Katzenjammer und Superbürger*innen

141

Rahmen Die Positioniertheit eines Menschen, seine Zugehörigkeiten und Nicht-Zugehörigkeiten und die Schattierungen dazwischen, seine persönlichen Erlebnisse – und auch Bilder und Texte und deren Rahmungen, mit denen er konfrontiert wird – formen seine Sichtweisen. Es gibt kein neutrales Sehen, kein objektives Blicken. Dass das, was in unser »Feld der Wahrnehmung aufgenommen wird«(Butler 2009, S. 54), vorstrukturiert und gerastert ist, macht Judith Butler vor allem am Beispiel von Kriegsberichterstattung und Propaganda deutlich: Unsere Trauer um die einen Leben und die Nicht-Betrauerbarkeit der anderen schafft den Interpretationsrahmen für die Bilder, die auf uns zukommen. Und diese wiederum tragen zur Affektregulierung und Rasterung der Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit bei und reproduzieren die Rahmen – die einfassen, was wir sehen und wie wir es sehen – immer wieder neu (vgl. ebd., 2010). Auch der Great Meme War, eine Internetkampagne im Vorfeld der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl von 2016, war ein Versuch, Wahrnehmung zu rastern, um den Ausgang der Wahlen massiv zu beeinflussen, und bediente sich der Bilder im weitesten Sinne. Es verbreiteten sich über Social Media unzählige Memes – meist (audio-)visuelle Schnipsel, neu kombiniert mit Text, die wie ein Lauffeuer in alle Kanäle Eingang fanden. Doch es sind nicht nur die eindeutigen Sprachen und die Bilder gezielt eingesetzten Framings3 und inoffiziellen SocialMedia-Kampagnen – es sind auch die subtilen Bilder und Texte des Alltags, die unsere Wahrnehmung gestalten und unsere Affekte (mit-)bestimmen – sie entfalten unauffällig ihre Wirkung.

Fragen Wie gehen wir mit diesen Bildern und Rahmungen um, wie können wir eine Wahrnehmungskompetenz entwickeln, die uns nicht dermaßen passiv visuellen Regierungsweisen aussetzt? Wie lassen sich diese Kompetenzen im Umgang mit Bild, Text und Wahrnehmung vermitteln? Was ist für Kinder wichtig, die unter Umständen traumatisiert von einer Fluchterfahrung im Klassenraum sitzen, welche Bilder machen sie sich von der Welt und der Lebensrealität, in der sie sich hier wiederfinden? Wie kann man unterschiedlichen Bildräumen gerecht werden und zugleich die fremde Sprache Deutsch vermitteln? Wie spricht man, wenn vielleicht nicht nur die Worte fehlen? Wie beginnt man zu erzählen? Wie 3 Vgl. hierzu auch die Diskussionen um »politisches Framing« u. a. zum »Framing-Manual« der ARD im Frühjahr 2019.

142

Maja Linke

kommunizieren wir, welche Zeichen stehen uns dafür zur Verfügung? Wie produzieren wir eigene Bilder? Und eigene Texte? Wie lassen sich Text und Bild in kleiner Form zusammen denken? Wie lassen sich Rahmen verschieben?

Zeichen und Zeichnen Zeichen begleiten den Menschen seit sehr langer Zeit. Die ersten nachgewiesenen Schriftzeichen sind etwa 6.000 Jahre alt. Belege für das Zeichnen und Malen sind weitaus älter und es werden immer noch frühere Zeugnisse gefunden: Im September 2018 erschien ein Artikel in der Zeitschrift Nature (vgl. Henshilwood et al. 2018), in dem von der Entdeckung einer abstrakten Zeichnung in einer Höhle bei Kapstadt berichtet wird. Die Autor*innen gehen davon aus, dass das Rautenmuster nicht zufällig entstanden ist, sondern mit einem Ockerstift vor ca. 73.000 Jahren aufgetragen wurde. Ebenfalls 2018 wurden erste figürliche Höhlenmalereien und Handabdrücke in spanischen Höhlen entdeckt, die auf ein Alter von 64.000 Jahren geschätzt werden (vgl. Hoffmann et al. 2018). Was die Menschen so früh zu Bildern bewegt haben mag, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Aber die Bilder weisen Herangehensweisen auf, die sich als erzählerische Modi und Narration interpretieren lassen: Vergehen der Zeit und Darstellung von Bewegung, auf die beispielsweise die mehrfachen Umrisse einer Nashornfigur in der Höhle von Chauvet im ArdHche-Tal vor etwa 30.000 Jahren vor unserer Zeit oder die Tiere mit mehr als vier Beinen in der 1940 entdeckten Höhle von Lascaux in Südfrankreich hindeuten. Sich selbst in Bilder einzuschreiben, scheint ebenfalls von enormer Wichtigkeit zu sein: Der menschliche Handabdruck taucht als häufiges Symbol immer wieder auf – entweder als Farbabdruck oder als frühes Stencil, bei dem Farbe durch ein Blasröhrchen um die Finger gesprüht wurde (vgl. Knigge 2004). Bedürfnis und Fähigkeit, Bilder zu erschaffen oder sogar mit Bildern zu erzählen, begleitet die Menschheit also seit langer Zeit und länger noch als die schriftliche Kommunikation. Schriftzeichen wurden früh mit Abbildungen kombiniert wie beispielsweise bei einem bereits um ca. 2600 v. Chr. entstandenem Siegel aus dem Königsfriedhof von Ur, bei dem das Bild eines Festessens mit einer Unterschrift versehen ist. 1700 v. Chr. wurden 282 mit Keilschrift in Basalt eingemeißelte Verordnungen mit einem halbplastischen Abbild des damaligen Königs versehen – die Gesetzesstele des Hammurabi. Die Verbindung von Bild und Text trägt sich durch alle Zeiten bis heute fort.4

4 Um der großen Vielzahl an Beispielen von frühen, auch sequentiellen, Text-Bild-Verbindungen gerecht zu werden, bräuchte es einen anderen Rahmen.

Katzenjammer und Superbürger*innen

143

Gemeinsam ist den meisten textuell-visuellen Arbeiten, dass sie geschaffen wurden, um die damaligen Bevölkerungen zu erziehen, von religiösen Inhalten oder von Macht und Ruhm der derzeitigen Herrschenden zu künden. Sie trugen zu dem bei, was Michel Foucault die »Menschenregierungskunst« genannt hat – der Durchdringung der Subjekte, ihrer Unterwerfung »und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen« (Foucault 1992, S. 10 u. 15). Zu diesen Mechanismen innerhalb des »Nexus von Macht-Wissen« (ebd., S. 33) lässt sich auch der Einsatz von Bildern zählen: Spätestens seit dem 11. September 2001 wird nicht nur in der Kunst und den Kulturwissenschaften der performativen Kraft von Bildern eine Rolle zugesprochen, die in ihrem identitätsherstellenden Vermögen sprachlichen Subjektivierungsprozessen in nichts nachsteht (vgl. hierzu auch Holert 2008).

Andacht Auch heute werden Bild-Text-Verbindungen gerne zu pädagogischen Zwecken genutzt. Die Verwendung von kleinformatigen Comic-Strips bzw. ihrer Vorläufer ist als Anschauungsmaterial fester Bestandteil im deutschen schulischen Unterricht seit Ende des 18. Jahrhunderts. Die Kinder-Bilder und Anschauungstafeln gehen auf die Bilderbögen des 16. Jahrhunderts zurück – Einblattdrucke als frühe Zeitungen mit Titel, Bild und erklärendem Text, die von Bildträgern im wörtlichen Sinne zu den Menschen gebracht wurden, von Haus zu Haus. Die Aktualitätenblätter und Lehrbögen vermittelten Nachrichten, Propaganda und Unterhaltung – und wurden für Bildung und Erwerb von Allgemeinwissen, aber auch zur Verbreitung von Normen sowie sozialer und religiöser Regeln eingesetzt. »Der Lehrbogen war Wegweiser und moralische Instanz« (Mortzfeld 2017, S. 19). Vor allem die Andachtsblätter machten »zu allen Zeiten« einen Anteil von ca. siebzig bis achtzig Prozent der damaligen Druckerzeugnisse aus (ebd., S. 13). Heute noch lassen sich die weltweit auflagenstärksten Zeitschriften – Watchtower und Awake! – als Andachtsblätter kategorisieren und sie werden ebenfalls nach wie vor von Bildträger*innen zur Haustür gebracht, die mit ihren Körpern zu bezeugen scheinen, wovon sie künden.

Superbürger*innen Auch die Lehrwerke im fremdsprachlichen Deutschunterricht leben von vielfältigen Bildern, Fotografien, Illustrationen und Comics. In den 2005 eingeführten Integrationskursen sollen den Schüler*innen in 600 bzw. 900 Unterrichtseinheiten eines Deutsch-Kurses und 100 Unterrichtseinheiten eines Ori-

144

Maja Linke

entierungskurses Sprachkenntnisse auf Niveau B1 sowie »Kenntnisse[n] der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland«5 vermittelt werden. Selbstverständlich haben die meisten Schüler*innen schon vor der Nutzung dieser Lehrwerke Bilder von ihrem Zielland sowohl gesehen als auch sich gemacht – dennoch wirken die Bildformen hier als Repräsentationen von bestimmten Lebensrealitäten und Normen. Diese Realitäten entspringen jedoch konstruierten Erzählungen und gerahmten Ausschnitten, innerhalb derer den Protagonist*innen bestimmte Rollen zugewiesen sind – oftmals zu stereotypischem Verhalten kondensiert. Die Lehrwerke selbst sind auch einer Auswahl unterworfen: Aus einer Vielzahl von Publikationen legt das BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – eine verpflichtende Liste fest, aus der die Lehrer*innen die Lehrwerke für ihre Kurse auswählen können. Mit diesen vorgegebenen Büchern zu arbeiten heißt, mit Texten und Bildern Grundlagen in Sprache, Rechtsordnung, Kultur und Geschichte zu vermitteln, über die man sich vor allem am Anfang noch kaum sprachlich austauschen kann. Die Bilder können auf diese Weise kaum kritisch diskutiert und hinterfragt werden.

Monotypen 2007 habe ich mit der Arbeit Monotypen6 eine künstlerisch forschende Untersuchung zu den damalig zugelassenen Lehrwerken erarbeitet und war irritiert, mit welcher Selbstverständlichkeit stereotypisierte Darstellungen von Menschen und Lebenswelten Eingang fanden. Im Rahmen eines Stipendiums am GoetheInstitut Ankara versuchte ich, die Lehrwerke wie Geschichten – ohne Augenmerk auf didaktische Konzepte – zu lesen und zu betrachten. Danach eignete ich mir die Bilder dieser Bücher zeichnerisch an, entwickelte eigene Bilder zu den Texten und kombinierte in einer ca. 13-minütigen Audio-Arbeit Zitate und OriginalAusschnitte aus den Lehr-CDs mit Interviewsequenzen von Schüler*innen. Auffällig war die Auswahl und der Umgang mit einzelnen Themen: stereotypisierte Geschlechterdifferenz, überproportionale Erwähnung bestimmter Marken und positive Darstellung bestimmter Parteien, die Abwesenheit von alten, kranken, arbeitslosen und nicht-heterosexuellen, queeren oder religiösen Identitäten und Positioniertheiten. Auch Themen wie Konsum und Ferien, die sich z. B. um die Fragen nach dem fernen Urlaubsziel und dem schnellsten 5 §§ 43–45a, Kapitel 3 des Aufenthaltsgesetzes. 6 Monotypen ist eine mehrteilige Serie aus Zeichnungen, Beschnitzungen sowie einer AudioCollage (13:45 h), die im Rahmen eines Aufenthaltsstipendiums / Special Jury Vote von Mission Europe / Goethe-Institut Ankara, Türkei, 2007 entstanden ist.

Katzenjammer und Superbürger*innen

145

Verkehrsmittel drehen, ist für eine Schüler*innenschaft, die u. U. kein Bargeld, Residenzpflicht oder traumatische Fluchterfahrungen hat, mindestens fragwürdig (vgl. Linke 2008). Die Lebensrealität, die hier gezeichnet wurde, erschien mir auf so vielen Ebenen als Entwurf einer Leitlinie für Idealbürger*innen – Superbürger*innen –, die bestimmte Dinge konsumieren und Parteien wählen, die gesund und erwerbstätig niemanden zur Last fallen und ihre Ansichten entweder nicht kundtun oder gar nicht erst welche haben. Die Art und Weise der Darstellung, die Auswahl des Dargestellten, die Erzählungen darin und dahinter konstruieren eine Norm, die als Blaupause für die Schüler*innen zu dienen scheint. Dabei zeigt sich nicht nur in dem, was zu sehen gegeben wird, auch in dem, was nicht zu sehen ist – was also aus dem Rahmen fällt – eine strukturelle Bildpolitik, die Konventionen der Wahrnehmung als »normal« immer wieder aufs Neue verfestigt. Eine ähnliche Repräsentationspolitik findet sich auch in Lehrwerken anderer politischer Systeme.

Fibeln In einer Studie zum Geschlechterbild in den Fibeln der DDR sowie ihren Vorgängern und Nachfolgern untersuchen Alexandra und Michael Ritter (vgl. Ritter / Ritter 2016) u. a. den Wandel der Zeichnungen in den verschiedenen Ausgaben dieser Lehrbücher für Schulanfänger*innen. Dabei stellen sie starke Veränderungen in der Darstellung und den An- und Abwesenheiten von Familienmitgliedern fest: der Vater, der im Familienbild erst spät auftaucht, die Mutter, die in den frühen Werken als immer tätige Hausfrau gezeigt wird. In den Ausgaben der 1960er- und 1970er-Jahre wird die Frau als Arbeiterin vor dem Werk gezeigt und zugleich als Organisatorin des Familienlebens – unterstützt durch die Oma, die den Platz des (fast gänzlich) fehlenden Vaters im Familienbild ausfüllt. Für den Vater scheint kein Platz in den Zeichnungen zu sein – er passt nicht ins Bild des typischen Familienalltags, für ihn gibt es andere Rahmungen. Aus didaktischen Gründen orientieren sich Lehrwerke – gerade die für Kinder – an der angenommenen Lebenswirklichkeit der Schüler*innen. Es ist natürlich nicht möglich, jede individuelle Situation zu repräsentieren, doch die Zeichnung einer Lebenswirklichkeit in Text und Bild, die möglichst für alle Anknüpfungspunkte bereithält und dabei Objektivität suggeriert, bedarf einer besonderen Reflexion im Hinblick auf ihre Verengung des Wahrnehmbaren.

146

Maja Linke

Verletzendes Sprechen Lann Hornscheidt formuliert ein Verständnis von verletzendem Sprechen, das über Beleidigungen hinausgeht und auch das »Aufrufen bestimmter Normalvorstellungen als pejorisierend« und als Class-Diskriminierung versteht: So können Äußerungen, die von einer Mittelschichtnormalvorstellung mit einem bestimmten finanziellen Budget ausgehen und die z. B. die dauernde Verfügbarkeit eines Autos für individualisierte Mobilität annehmen, als pejorisierend gegenüber Personengruppen, die diese finanziellen Möglichkeiten nicht haben, analysiert werden. (Hornscheidt 2011, S. 38)

Hornscheidt formuliert zudem eine Statisierungskritik mit dem Hinweis, »dass es für Statisierte ›normal‹ ist, dass ihr Leben, bzw. Statisiertsein in Deutschland als Selbstverständlichkeit konzeptualisiert wird« (ebd., S. 47). Diese Formen des Sprechens lassen sich als diskriminierendes bezeichnen. Hierfür müssen die Adressat*innen nicht direkt angesprochen werden – in der Formulierung von Normalvorstellung samt ihrer Ausschlüsse, Auslassungen und Hervorhebungen findet eine subtilere Performativität von Sprache statt, die vielleicht nur unterschwellig ihre Wirksamkeit zeigt und ein Widersprechen erschwert. Dies gilt auch für Bilder mit ihrem ganz eigenen Anteil an der Gestaltung von Welt.

Schlagende Bilder In einem Rückgriff auf eine Vokabel von Aby Warburg entwickeln Oliver Marchart und Marion Hamm die Unterscheidung von Schlagbild (Warburg) und prekärem Bild: Die Sprache des Schlagbilds zeichnet sich letztlich durch eine Logik der Vereindeutigung aus: durch Frontalität, Direktheit, Komplexitätsreduktion, Intensivierung und Pathetisierung. […] Was gemeint ist, muß dem Betrachter sofort klarwerden. Prekäre Bilder hingegen verfolgen Strategien der Verundeutlichung, Komplexitätssteigerung, Über-Semantisierung, Theoretisierung, Diskursivierung, Irritation, Täuschung oder bloßen Andeutung. (Marchart / Hamm 2011, S. 379)

Doch auch Schlagbilder wirken nicht immer so, wie sie sollen: Die subjektivierende Kraft dieser visuellen Äußerungen ist nicht zu unterschätzen. Dennoch entzieht sich die Wirkmächtigkeit der Bilder einer genauen Kontrollierbarkeit und es schwingt immer etwas mit, das als »Eigensinnigkeit« (Holert 2008, S. 29) bezeichnet werden kann. Auch »der Rahmen legt niemals ganz genau fest, was wir denken, anerkennen und wahrnehmen. Immer gibt es etwas, das den Rahmen überschreitet« und er »enthält niemals genau das, was er transportiert, sondern zerfällt jedes Mal, wenn er versucht, seinem Inhalt eine definitive

Katzenjammer und Superbürger*innen

147

Struktur zu geben« (Butler 2010, S. 16 u. S. 18) formuliert Judith Butler, wenn sie über Rahmen und Rahmung spricht. Das heißt, Rahmen unserer Wahrnehmung müssen immer wieder neu festgeschrieben werden, um beständig zu sein und sind es doch niemals ganz. Hier liegt auch die Chance, selbst gestaltend einzugreifen, Rahmen zu verschieben oder ihnen eine andere Form zu geben.

Stereotypen In Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache sollen die (meisten) Bilder nicht die Komplexität steigern, sondern diese reduzieren und den Mangel an Sprachkenntnissen kompensieren, indem sie zur Vereindeutigung und einem schnellen Verstehen beitragen. Auch die dargestellten Protagonist*innen werden aus didaktischen Gründen bewusst nicht zu ausdifferenziert gezeichnet. Man kann aber die Rolle der Bilder auch nicht nur auf eine den Text illustrierende Funktion reduzieren, sondern muss ihnen vielmehr eine eigenständige Kraft zugestehen sowie den Schüler*innen jeden Alters die Kompetenz, auch gut mit komplexen und mehrdeutigen – mit prekären – Bildern umzugehen oder dies ebenfalls als zu vermittelnde Fähigkeit in den Mittelpunkt stellen. Vor allem bedeutet es nicht, dass die Bilder stereotypisierend sein müssen. Johanna Schaffer besteht in ihrem Buch Ambivalenzen der Sichtbarkeit (2008) darauf, Stereotypisierungen nicht als eine Darstellungsform, die einfach nur »negative Bilder« zeigt, sondern in Bezug auf Stuart Hall »Stereotypisieren als eine Repräsentationsform zu verstehen, die gesellschaftlich produzierte Differenzen reduziert, essentialisiert, naturalisiert und festschreibt« (Schaffer 2008, S. 62). Man könnte also nicht nur negativ überzeichnete, sondern auch die positiv konnotierten, freundlichen Bildchen und Figuren in Lehrwerken als stereotypisierende Schlagbilder verstehen, die in ihren einfachen Repräsentationen von Normalvorstellungen Nicht-Zugehörigkeit verfestigen und zu einem Diskriminierungsdispositiv beitragen. Wird hier in Bildern eine Lebenswirklichkeit aufgerufen, die nicht (nur) dafür da ist, Anknüpfungspunkte zu den Alltagsrealitäten der Schüler*innen zu schaffen, sondern als normatives Idealbild eine Zukunft zu zeichnen, in die hinein sich die Schüler*innen unterwerfen sollen? Oder haben die Autor*innen aus ihrer eigenen gerasterten Wahrnehmung heraus Rahmen verfestigt und Differenzen naturalisiert, ohne das größere Bild zu sehen?

148

Maja Linke

Überzeichnung Es geht nicht nur darum, genau hinzuschauen, was sichtbar wird und was nicht, sondern immer dabei zu bedenken, wer zu sehen gibt, in welchem Rahmen, für wen und vor allem wie (vgl. Schaffer 2008). Johanna Schaffer räumt mit der Vorstellung auf, dass ein Mehr an Sichtbarkeit automatisch ein Mehr an politischer Handlungsfähigkeit beinhaltet. Schaffer versteht Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit »als diskursive Konstruktionen […], die sich gegenseitig bedingen und modulieren« (ebd., S. 51), sodass Sichtbarkeiten immer auch Unsichtbarkeiten produzieren und beispielsweise das Stereotyp in seiner Hypervisibilität immer zugleich auch etwas verdeckt. Viele Formen des Comics leben von der Überzeichnung bis hin zur Karikatur. Auch hier bleiben die Fragen wichtig, wer überzeichnet, in welchem Kontext, für wen und auf welche Art. Das scheinbar »Normale« fällt nicht auf – es ist die Abweichung, die ins Auge sticht und als »anders« markiert wird. Eine Überzeichnung setzt Linie und Schraffur über etwas, verdeckt es, lässt unsichtbar werden und kann sowohl selbstgewählter Schutz als auch stereotypisierende Zuschreibung sein. Nicht als etwas Bestimmtes, Kategorisiertes sichtbar zu werden, sondern die Grenzen zwischen sicht- und unsichtbar, wahrnehmbar und nicht-wahrnehmbar als weites Feld zu zeichnen, kann repräsentationskritisches, emanzipatorisches Handeln sein.7

Katzenjammer Im New York um 1900 explodierte der moderne Comic als neue Form des Bilderbogens: The Yellow Kid von Richard F. Outcault erscheint und etwa zeitgleich auch The Katzenjammer Kids von dem aus Deutschland emigrierten Rudolph Dirks; die großen Zeitungen streiten sich bald um die Comiczeichner und überbieten sich mit immer höheren Auflagen. Outcault und Dirks verfassen beide ihre Texte in Slang und mit Akzent. »Mit dose kids, society is nix« ist ein Stoßseufzer der Mama Katzenjammer, gegen die – und andere Autoritäten, z. B. den Schulaufseher, – sich die Streiche der Katzenjammer Kids richten. Diese Comic-Reihe erscheint bis heute und noch immer mit einer Sprachform, die selbstbewusst den Einwander*innenslang von damals fortführt. Diesen Slang, mit irischem Einschlag, trug auch das Yellow Kid auf seiner Brust – oftmals waren die Texte direkt auf das gelbe, namensgebende Nachthemd 7 Antke Engel entwickelt beispielsweise die identitätskritische Methode der »VerUneindeutigung« in Bezug auf Genderzuschreibungen (vgl. Engel 2007). Isabell Lorey plädiert für eine Un-Ordnung als »ein Gefüge, das nicht dermaßen gerastert wird« (Lorey 2010, S. 53).

Katzenjammer und Superbürger*innen

149

des durch die ärmlichen Hinterhöfe streunenden Jungen gezeichnet.8 Doch nicht nur Text prangt auf dem gelben Stoff, auch Handabdrücke zieren das Nachthemd – ähnlich den Abdrücken von vor 64.000 Jahren in den spanischen Höhlen. Die beiden Comics erfreuten sich schnell einer enormen Beliebtheit. Das New York um die Jahrhundertwende war ein Sammelbecken von Sprachen und zu den Bildgeschichten fanden auch textlich ungelenke oder des Englischen nicht mächtigen Leute Zugang. Außerdem wurde eine Lebenswelt gezeichnet, die mit den prekären Realitäten der damaligen Einwander*innen viele Überschneidungen bot und wie ein vereinender Rahmen fungierte.

Öffnen Im Prozess des Zeichnens öffnet man sich und erst die Geste ermöglicht das Erscheinen dessen, was sich nicht vorab bestimmen lässt (vgl. Nancy 2011). Als eine Art Blindheit bezeichnet Nanne Meyer die Unbestimmtheiten und Unschärfen zu Beginn des Zeichenprozesses, »die durch ein tastendes und suchendes Zeichnen allmählich eine Form finden« (Meyer 2014, S. 174).9 Diese Öffnung hin zu dem, was auf einen zukommt, heißt nicht, sich hilflos den Bildern und Rahmungen auszusetzen, die als visuelle Regierungsweisen in leisem oder lautem Gewand auftreten. Es heißt vielmehr, sich auch für das Abwegige zu öffnen, für das, was aus dem Rahmen fällt. Wenn bei Judith Butler der Rahmen niemals ganz genau festlegen kann, was innerhalb liegt und »anders gesagt sich hier etwas (ereignet), was nicht in unsere vertraute Auffassung der Dinge passt« (Butler 2010, S. 16) – dann ist die Zeichnung ein Medium, das prädestiniert ist für das Empfangen dieses Unvertrauten, des Ereignisses, und rückt damit ganz in die Nähe dessen, was Theodor W. Adorno zum Denken schreibt: »Eigentlich denkt der Denkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung« (Adorno 1981, S. 21). Für die Zeichnerin Nanne Meyer geschieht dies erst in der Verbindung von Denken und Zeichnen – nicht im Denken allein –, wenn sie vom Umgang mit von ihr erzeugten Spuren im Prozess des Zeichnens spricht: »Das ist aufregend und mit Risiko verbunden. So entsteht Reibung, neue Energie und dadurch oft etwas Überraschendes, Neues, etwas, das nicht allein über das Denken, sondern nur im Zusammenspiel mit dem Zeichnen hervorgebracht werden kann.« (Meyer 2014, S. 174)

8 Für viele ist das Datum 25. Oktober 1896 der Geburtstag des Comics: In der Folge The Yellow Kid and his new Phonograph vom 25. Oktober 1896 wandert der Text vom gelben Nachthemd des Kindes in die Sprechblase, es wird sequentiell in Bild und Text erzählt (vgl. Abel / Klein 1896, S. 5). 9 Zur Blindheit im Zeichnen vgl. auch Derrida (2008).

150

Maja Linke

Man muss jedoch das Zeichnen nicht vom Denken abgrenzen, es lässt sich in Anlehnung an Gerhard Richters Beschreibung des Malens als eine Form des Denkens10 ebenfalls als eine Form des Denkens verstehen: Ein Denken in Text und Bild, Zeichen und Zeichnen, das ein Sich-Öffnen für das Noch-Nicht-Gedachte, das Fragwürdige, das passive Empfangen, die Widerfahrnis und Unverfügbarkeit hervorhebt und sich nicht restlos kontrollieren lässt.

Ermächtigung bell hooks sieht den Klassenraum als »den radikalsten Raum möglicher Veränderung«11 sowie Bildung als politisches Werkzeug, das zu kritischem Denken ermächtigen soll und damit zur Veränderung der Gesellschaft (vgl. hooks 1989). hooks geht davon aus, dass »keine Bildung/Erziehung politisch neutral ist«12 und setzt sich dafür ein, die subjektiven Erfahrungen der Schüler*innen anzuerkennen, ohne diese als absolut zu setzen. Im Medium Comic und freier Form können die Schüler*innen aus ihren eigenen Wahrnehmungsrealitäten einen Blick auf die Welt werfen und »dem Stift über das Papier folgen«.13 Es ist nicht nur das Wort, das der Reflexion, dem Fragenstellen, der Auseinandersetzung mit und Gestaltung der Welt dient – es ist auch das Bild und auf besondere Weise die Verbindung von Bild und Text. Wenn (noch) die Worte fehlen, ganze Sätze zu bilden und sich über die Welt auszutauschen und zu einem emanzipatorischen Bildungsprozess zu gelangen, kann der Einsatz der kleinen Form Comic oder freierer Text-Bild-Verbindungen eine Chance bieten, in möglichst offener Geste zu zeichnen und zu denken. Dabei verstehe ich die zeichnerische Praxis und die Bilder nicht als zu überwindende Vorstufe zum Schreiben-Können und abgeschlossenem Spracherwerb, sondern als eine Möglichkeit, auch dem Wissen und den Erfahrungen Platz zu geben, die sich der Versprachlichung auf immer entziehen: Nicht, um nur mit »Begriffen aufsprengen, was in Begriffe nicht eingeht« (Adorno 1981, S. 31), sondern um mit einem Bildhandeln zu einem Denken, zu einem Wissenshandeln zu kommen, das Begriffe mit Bildern, Onomatopoesien (Lautmalereien) und freien Texten übersteigt und Platz bietet für die Vielfalten von Lebenswirklichkeit, die im Klassenraum zusammentreffen.

10 »Malen ist ja eine andere Form des Denkens«, Gerhard Richter, hier zitiert nach Dubach / Badura 2015, S. 123. 11 Hier zitiert nach Kazeem-Kaminski (2018, S. 101). 12 Hier zitiert nach Kazeem-Kaminski (2018, S. 114). 13 »Ich folgte dem Stift über das leere Papier, nicht umgekehrt«, Moebius (Jean Giraud), hier zitiert nach Knigge (2004, S. 229).

Katzenjammer und Superbürger*innen

151

Entwürfe Der Comic, die nach Georg Seeßlen »anarchischste aller Literaturformen« und zugleich »freieste Bildform, die wir kennen,« (Seeßlen 2015) kann als eine kleine Form verstanden werden, in der die Verdichtung auf Eindeutigkeit, Stereotypisierung, Komplexitätsreduktion ausgerichtet ist, oder aber auf Ambivalenz und Andeutung. So kann die kleine Form Comic zu einer freien Text-Bild-Verbindung werden, zu einer suchenden Form, die gefestigte Bilder irritiert und sich über Rahmen hinweg aufblättert – in der Praxis des künstlerischen Tuns, aber auch im Zusammenspiel von Leser/Betrachter*innen, Text und Bild. Dabei ist eben nicht nur das Aufblättern über den Rahmen des Einzelbildes hin innerhalb eines Comics gemeint, bei dem die vierte Wand durchbrochen werden soll, sondern die Rahmen des Wahrnehmbaren, die Rasterung des Wie und Was des Sehens. Kurze freie Text-Bild-Verbindungen können so den Raum bieten, in kleiner Form ermächtigend mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu arbeiten. In Überzeichnung und Andeutung, im Wegwischen und Überschreiben können alternative, prekäre Bilder zu Stereotyp und Schlagbild entwickelt und über das eigene Bild und seinen Kontext – unter Berücksichtigung der »Eigensinnigkeit« des Bildes – medial reflektiert und mitbestimmt werden. Diese Bilder müssen kein »Dagegen« bilden – auch auf leise Art können sie Normalisierungen und Naturalisierungen unterlaufen und eine Festschreibung ins Unendliche hinauszögern mit eigenen tastenden, mehrdeutigen Einschreibungen. Verfestigte Narrative werden zerlegt und anders erzählt, aus verschiedenen Perspektiven und ohne letzte Antwort, auf mehreren ineinandergreifenden Zeit- und Raumebenen zugleich. Comics können die großen Geschichten auflösen in kleine, non-lineare Collagen, in denen unterschiedlichste Bild- und Textfragmente unhierarchisch zueinander finden, Handabdrücke hinterlassen und berühren. Während »Kenntnisse(n) der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland« vermittelt werden, verschieben sich so die Raster des Wahrnehmbaren hin zu einem vereinenden, flexiblen und durchlässigen Rahmen, ins Unendliche gedehnt, – ohne dabei die subjektiven, ermächtigenden oder utopischen Perspektiven und Entwürfe zum Verschwinden zu bringen. Die kleine Form Comic im Fremdsprachenunterricht nutzt also nicht nur der Unterweisung von Fertigkeiten im Spracherwerb. Sie kann dazu beitragen, Wahrnehmungsrahmen zu verengen – oder dazu, im eigensinnigen Aufblättern ihrer Kraft Wissensbestände zu erweitern und Welt zu gestalten.

152

Maja Linke

Quellenverzeichnis Adorno, Theodor W. (1981): »Der Essay als Form«, in: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a.M., S. 9–33. Bale, Julia / Klein, Christian (Hg.) (2016): Comics und Graphic Novels – Eine Einführung. Berlin. Butler, Judith (2009): Krieg und Affekt. Zürich / Berlin. Butler, Judith (2010): Raster des Krieges – Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a.M. Derrida, Jacques (2008): Aufzeichnungen eines Blinden. München. Dubach, Selma / Badura, Jens (2015): »Denken/Reflektieren«, in: Ders. u. a. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch. Zürich, S. 123–126. Engel, Antke (2005): »Entschiedene Interventionen in der Unentscheidbarkeit. Von queerer Identitäskritik zur VerUneindeutigung als Methode«, in: Harders, Cilia / Kahlert, Heike / Schindler, Delia (Hg.): Forschungsfeld Politik. Wiesbaden, S. 261–284. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?. Berlin. Hall, Stuart (Hg.) (1997): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices. London. Henshilwood, C. et al. (2018): »An abstract drawing from the 73,000-year-old levels at Blombos Cave, South Africa«, in: Nature, Vol. 562. London, S. 115–118. Hoffmann, D. et al. (2018): »U-Th dating of carbonate crusts reveals Neandertal origin of Iberian cave art«, in: Science, Vol. 359. Washington, D.C., S. 912–915. Holert, Tom (2008): Regieren im Bildraum. Berlin. hooks, bell (1989): Talking Back: Thinking Feminist. Thinking Black. Cambridge. Hornscheidt, Antje Lann (2011): »Pejorisierung – ein konstruktivistisches Konzept zur Analyse von Beschimpfungspraktiken«, in: Ders. et al (Hg.): Schimpfwörter – Beschimpfungen – Pejorisierungen: Wie in Sprache Macht und Identitäten verhandelt werden, Frankfurt a.M, S. 15–45. Kazeem-Kaminski, Belinda (2018): Engaged Pedagogy – Antidiskriminatorisches Lehren und Lernen bei bell hooks. Wien. Knigge, Andreas C. (2004 a): 50 Klassiker Comics – Von Lyonel Feininger bis Art Spiegelman. Hildesheim. Lorey, Isabell (2010): »Konstituierende Kritik – Die Kunst, den Kategorien zu entgehen«, in: Mennel, Birgit et al (Hg.): Kunst der Kritik. Wien / Berlin, S. 47–64. Linke, Maja (2008): »Monotypen«, in: Reiche, Claudia / Sick, Andrea (Hg.): do not exist – europe, woman, digital medium. Bremen, S. 375–388. Marchart, Oliver / Hamm, Marion (2011): »Prekäre Bilder – Bilder des Prekären. Anmerkungen zur Bildproduktion post-identitärer sozialer Bewegungen«, in: Fricke, Beate et al (Hg.): Bilder und Gemeinschaft. München, S. 377–399. Meyer, Nanne / Hildebrandt, Toni (2014): »Wiederholung und Widerstand – Zeichnung als Krisis, Nanne Meyer im Gespräch mit Toni Hildebrandt«, in: Lutz-Sterzenbach, Barbara / Kirschenmann, Johannes (Hg.): Zeichnen als erkenntnis – Beiträge aus Kunst, Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik. München. Mortzfeld, Benjamin (2017): »Der unstillbare Hunger nach Bildnachrichten«, in: Deutsches Historisches Museum (Hg.): Gier nach neuen Bildern – Flugblatt, Bilderbogen, Comicstrip. Stuttgart.

Katzenjammer und Superbürger*innen

153

Nancy, Jean-Luc (2011): Die Lust an der Zeichnung. Wien. Knigge, Andreas C. (2004): Alles über Comics – Eine Entdeckungsreise von den Höhlenbildern bis zum Manga. München. Koller, Hans-Christoph (2018): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart. Lühmann, Hinrich (1994): »Der Knabe Eros geht zur Schule. Übertragungsliebe in öffentlicher Anstalt«, in: Brief der Psychoanalytischen Assoziation. Die Zeit zum Begreifen. Brief Nr. 13 / 1994. Ritter, Alexandra / Ritter, Michael (2016): »Mama am Herd – Zur Inszenierung von Geschlecht und sozialer Rolle in Fibeln der SBZ/DDR und ihren Nachfolgern«, in: Josting, Petra et al (Hg.): Immer Trouble mit Gender? Genderperspektiven in Kinder- und Jugendliteratur und -medien(forschung). München, S. 79–95. Schaffer, Johanna (2008): Ambivalenzen der Sichtbarkeit – Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld. Seeßlen, Georg (2015): Paranoide Sprechblasen – Kleine Kulturgeschichte des Comics, in: spex Nr. 363, hier abgerufen unter https://spex.de/paranoide-sprechblasen-kleine-kul turgeschichte-des-comics/. [Zugriff: 19. 03. 2019].

III. Perspektiven

Ann-Kristin Müller

Von digitalen Bildern und Gedanken: Kleine digitale Formen im Deutschunterricht der Primarstufe

1.

Kleine Kinder – kleine Formen

Am Anfang des schulischen Lernens stehen kleinste Formen, die gewissermaßen die Basis einer Vielzahl kleiner Formen bilden: Laute und Buchstaben. Der Schriftspracherwerb beginnt mit der akustischen und graphischen Analyse dieser kleinsten Einheiten unseres Schriftsystems sowie ihrem Verhältnis zueinander. Die Phoneme und Grapheme bilden den Ausgangspunkt des institutionellen Lernens – sie initiieren vielfältige Lern- und Reflexionsprozesse und entfalten ihr kombinatorisches Potenzial sukzessive mit dem fortschreitenden Alter der Kinder und den Schulstufen, die diese durchlaufen. Diese Bewegung – vom Kleinen zum Großen – von der kleinen Form hin zu umfangreicheren Formen wie Ganzschriften, Filmen oder selbst verfassten Texten, ist charakteristisch für die Progression in der Primarstufendidaktik. Die in der Kapitelüberschrift angedeutete Korrelation zwischen dem Alter der Lernenden und dem Umfang der Form, die sich aus methodisch-didaktischer Sicht für den unterrichtlichen Einsatz anbietet, wirft einige Fragen auf, deren Spuren der vorliegende Beitrag an ausgewählten Beispielen verfolgt. Der Unterricht der Primarstufe ist geprägt vom Prinzip der didaktischen Reduktion. Details, Nebenaspekte und weiterführende Fragen, die einen Lerngegenstand ›umgeben‹, werden vorerst ausgeklammert, um den Blick der Lernenden auf ein zentrales Phänomen zu lenken. Die Beschränkung auf das ›Wesentliche‹ eines Gegenstands und das Präsentieren von Ausschnitten ist sowohl entwicklungspsychologisch als auch motivational und lerntheoretisch legitimiert. Der hohe Stellenwert der didaktischen Reduktion in der Primarstufe gewährleistet eine altersentsprechende Entfaltung von Welt-, Sach- und Fachwissen der Kinder sowie den damit einhergehenden Kompetenzzuwachs und erklärt u. a. das hohe Aufkommen unterschiedlichster kleiner Formen in den ersten vier Schuljahren. Unter den diversen kleinen Formen, die sich automatisch aus didaktischen Reduktionsprozessen ergeben, lassen sich drei ›Typen‹ kleiner Formen in der Primarstufe benennen, die verschiedene, aber für den

158

Ann-Kristin Müller

Kompetenzzuwachs von Kindern gleichermaßen zentrale Denkbewegungen initiieren und einüben. Bevor die Einsatzmöglichkeiten und -gründe kleiner Formen in der Primarstufe im Einzelnen thematisiert werden, sollen diese verschiedenen ›Typen‹ kurz skizziert und funktional bestimmt werden. Kinder in der Primarstufe sind zum einen mit kleinen Formen konfrontiert, die »gemacht sind«: Dabei handelt es sich um klar abgrenzbare kleine (Text-)Formen (z. B. Merksätze, Beispiele, Witze, Rätsel), die in ihrer Kleinheit bestimmte Prinzipien oder Aussagen bündeln und damit über sich hinausweisen. Diese Surrogate größerer Aussagen sind elementar wichtig, um kindgerechte Lehr-/Lernsettings zu gestalten. Sie bahnen den Transfer zwischen Lerngegenstand und kindlicher Lebenswelt sowie das kompetenzorientierte Lernen an, ohne die Kinder zu überfordern. Zum anderen finden sich in der Primarstufe jene kleinen Formen, die fragmentarisch sind – unabgeschlossen, sogar unentschieden. Es sind flexible Teile von etwas Größerem, dessen Aussage noch offen ist und individuell modelliert werden muss (z. B. Bildimpulse, Satzanfänge, Silben, Buchstaben). Auch kleine Formen dieses Typs haben in der Deutschdidaktik der Primarstufe eine zentrale Rolle inne. Indem sie zur Anschlusskommunikation anregen und individuelle Schlussfolgerungen herausfordern, fördert ihr Einsatz neben Sach- und Fachkompetenzen auch allgemeine Kompetenzen auf personaler, gesellschaftlicher und sozialer Ebene. Weiterhin sind zunehmend auch kleine digitale Formen wichtig für das Kommunikationsverhalten von Primarstufenschülerinnen und -schülern (z. B. Blogs, Messenger, Hashtags). Ein Blick auf die kleinen digitalen Formen, mit denen Kinder in ihrem Alltag konfrontiert werden, verdeutlicht die Relevanz einer funktionalen Unterscheidung kleiner Formen aus didaktischer Perspektive. Denn im digitalen Gebrauchskontext sind Gattungsgrenzen und »Typen« weniger statisch und regelhaft als im analogen Bereich. Die Kommunikationsfunktion erhält im Digitalen ein größeres Gewicht, der ästhetische Mehrwert und das exemplarische Moment kleiner Formen tritt häufig zugunsten der pragmatischen Kommunikationsabsicht in Sozialen Netzwerken, Messengerdiensten oder Blogs in den Hintergrund. Die Grenze zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist weniger trennscharf als im Umgang mit nichtdigitalen kleinen Formen. Diese funktionale Neubewertung kleiner Formen im digitalen Bereich macht sie zu einem authentischen Lerngegenstand. Eine der zentralen Herausforderungen, der Kinder und Jugendliche beim Schreiben im digitalen Kontext gegenüberstehen, ist es, den angemessenen Gebrauch kleiner digitaler Formen einzuschätzen und ihre Schreibweise der jeweiligen Kommunikationsabsicht entsprechend zu modellieren. Auf diesen Bedarf kann und sollte die Deutschdidaktik der Primarstufe reagieren, indem sie

Kleine digitale Formen im Deutschunterricht der Primarstufe

159

digitale Schreibkompetenzen mit allgemeinen Kompetenzen des Deutschunterrichts verzahnt.

2.

Überblick: Kleine Formen im Unterricht der Primarstufe

Diachron betrachtet übernehmen kleine Formen – neben ihrer erzieherischen und disziplinierenden Funktion – ab der Aufklärung zunehmend auch eine didaktische Rolle im unterrichtlichen Kontext, so wurden z. B. Merkverse als Mnemotechnik etabliert. Vieles davon wird bis heute im Unterricht eingesetzt, z. B. Rätsel- und Quizfragen, Sprichwörter und Redewendungen.1 Neben dem Einsatz im Unterricht finden sich im schulischen Kontext auch weitere standardisierte Sätze normativen Inhalts. Das formelhafte mehrfache Wiederholen eines Regelverstoßes (oder dessen positive Entsprechung) »Ich soll im Unterricht nicht sprechen«/ »Ich spreche nicht im Unterricht« kann ebenso als kleine Form gewertet werden. Diese Art der kleinen Form folgt dem performativen Anspruch, ein Fehlverhalten zu ändern, es zu sanktionieren und – durch die mehrfachen Wiederholungen – einzuprägen. Solche und vergleichbare Sanktionsmaßnahmen machen sich die Formelhaftigkeit von Kürzesttexten zu Nutze und erinnern an den erzieherischen Impetus, den auch viele Redewendungen transportieren, wie »Wer anderen eine Grube gräbt…« oder »Wie du mir, so ich dir«. In aktuellen Lehr-/Lernsettings der Primarstufe gibt es in allen Lernbereichen unterschiedlichste Kurzformen, die vielfältige Funktionen im Unterricht erfüllen: Im Sachunterricht finden sich Protokolle, Notizen, Versuchsbeschreibungen oder auch Paratexte. In der Mathematik sind die Kinder ab der ersten Jahrgangsstufe mit kleinen Knobel- und Sachaufgaben konfrontiert. Auch das Coding, das spielerische Programmieren von Minicomputern/Robotern, kann als formelhaft verkürztes Äquivalent einer ausführlicheren Vorgangsbeschreibung verstanden werden – und damit als kleine digitale Form. Beim Coding nutzen die Lernenden eine kindgerecht visualisierte Programmierumgebung, um Probleme zu lösen oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen (z. B. das Einschalten einer Spielzeug-Straßenlaterne). Sie verbalisieren dabei die einzelnen Etappen auf dem Weg zum Ziel, übersetzen sie in Algorithmen, die durch Piktogramme visualisiert sind, und ordnen diese in der Reihenfolge an, die zum Erreichen des Ziels nötig ist. Neben der Medienkompetenz und dem Festigen erster technologischer Erfahrungen fördert das Coding die Reflexion darüber, welche Ein1 Vgl. hierzu etwa Burgwardt, H. (1841, S. 185f.): Erstes Schul- und Bildungsbuch für Volksschulen. Schreib-Leseunterricht, Lese-Schreibunterricht, Lesestoff für die ersten Denk-, Sprechund Sprachübungen und Samenkörner für Geist und Herz. Altona; ebenso Koch, H. et al. (1912): Deutsches Lesebuch für Knaben-Mittelschulen in fünf Teilen. Sprüche und Rätsel. Göttingen.

160

Ann-Kristin Müller

zelschritte ein Ganzes ergeben. Die Aufgabe, die Programmierschritte erst sprachlich zu formulieren und dann visuell in Form der Piktogramme zu reformulieren, fördert Kompetenzen, die auch im Bereich des Sprechens und Zuhörens sowie beim Schreiben zentral sind (z. B. globale und lokale Kohärenzbildung, Stringenz und Fokussierung).

3.

Fokus Deutschunterricht: Bezüge zu den Bildungsstandards

Die Grundschule führt von den spielerischen Formen des Lernens im Elementarbereich zu systematischeren des schulischen Lernens. Dabei sollte das Lernangebot in Inhalt und Form den individuellen Lernvoraussetzungen und Möglichkeiten angepasst werden. Die Kompetenzen, über die Grundschulkinder am Ende der Klasse 4 in den zentralen Fächern Deutsch und Mathematik verfügen sollen, hat die Kultusministerkonferenz in den Bildungsstandards für den Primarbereich definiert. Der Einsatz kleiner Formen rückt nach dem ersten Schuljahr zunehmend in den Hintergrund, da die Rezeption und die Produktion umfangreicherer Texte vorrangig sind. Im Deutschunterricht des dritten und vierten Schuljahres werden kleine Formen daher oft eher beiläufig thematisiert, häufig dienen sie als Appetizer oder unterhaltsame Abwechslung zu umfangreicheren Texten der Kinder- und Jugendliteratur. Zwar formulieren die Bildungsstandards für das Fach Deutsch Kompetenzen wie z. B. die Kenntnis verschiedener Sorten von Sach- und Gebrauchstexten oder das Unterscheiden von Erzähltexten, lyrischen und szenischen Texten. Damit werden kleine Formen implizit angesprochen, aber in den Curricula der Primarstufe meist rein funktional beschrieben. Ihre spezifisch ästhetische Qualität und ihr erkenntnistheoretisches Potenzial bleiben dabei unbeachtet. Auch ihr Mehrwert für einen medienintegrativen Deutschunterricht wird bislang unterschätzt. Die deutschdidaktischen Kompetenzen, die der Einsatz kleiner digitaler Formen schult, sind im Vergleich zu den allgemeinen mediendidaktischen weniger konkret formuliert. In den Kompetenzzielen für die Teilbereiche des Deutschunterrichts der Bildungsstandards erscheinen zumindest die digitalen kleinen Formen unterrepräsentiert, was zum einen auf die Heterogenität ihrer Darstellungsformen zurückzuführen sein könnte. Sie entziehen sich einer Zuordnung zu gängigen Textsorten und lassen sich daher schlecht in bestehende Curricula integrieren. Zum anderen sind sie durch ihre Variabilität und ihre schnelle Weiterentwicklung langwierigen bildungspolitischen Entscheidungsprozessen voraus, was ebenfalls die curriculare Verankerung erschwert.

Kleine digitale Formen im Deutschunterricht der Primarstufe

3.1

161

Fokus Deutschunterricht: Einsatz kleiner Formen

Auf der Suche nach kleinen Formen im Deutschunterricht der Primarstufe befindet man sich schnell im Bereich der Lyrik, weil sich Kinder schon ab der 2. Klassenstufe mit kurzen lyrischen Texten auseinandersetzen. Haikus, Elfchen und Rondelle gehören zum klassischen lyrischen Repertoire des Anfangsunterrichts. Stellvertretend wird hier eine Form gezeigt, die im Bereich der Lyrik relevant ist und eine typische Denkbewegung kleiner Formen repräsentiert: Die konkrete Poesie bildet auf begrenztem Raum komplexe Aussagen grafisch ab und weist gleichzeitig sprachlich darüber hinaus. Die Verbindung von visuellem und textuellem Impuls ist für Kinder ausgesprochen anregend und kann sehr gut in produktive Phasen übertragen werden.

Abb.1. Konkrete Poesie: Paul Maar – Onkel Florians fliegender Flohmarkt.2

2 Hoeps, Annegret et al. (2010, S. 28): Tobi Lesebuch 1/2. Differenzierte Lesetexte. Berlin.

162

Ann-Kristin Müller

Konkrete Poesie zu produzieren macht Kindern Spaß und initiiert mehrdimensionales, nicht-lineares Denken. Die Produktion konkreter Poesie kann zudem besonders effektiv mit digitalen Medien unterstützt werden, weil diese die evtl. vorhandenen motorischen Hürden beim Schreiben mit der Hand kompensieren. Dafür sind lediglich einfache Textverarbeitungsprogramme nötig, die durch Emojis nach Belieben ergänzt werden können. Wenn Kinder mit Tablets arbeiten, haben sie zudem die Möglichkeit, konkrete Poesie unmittelbar »digitalis« (mit den Fingern) zu produzieren. Eine kleine Form, die sowohl als vereinzelte kleine Form als auch im Rahmen von Ganzschriften noch recht häufig auch in höheren Jahrgangsstufen auftaucht, ist das Rätsel. Während im Anfangsunterricht das Verfassen kleinerer Rätseltexte gerne als Schreibaufgabe formuliert wird, treten in den folgenden Jahrgängen die Detektivgeschichten in den Vordergrund. Rätsel greifen die natürliche Neugierde der Kinder auf, beziehen sie direkt in das Geschehen ein und eignen sich insbesondere auch für thematische und funktionale Einbettungen.3 Innerhalb von Ganzschriften sind darüber hinaus diverse andere kleine Formen strukturbildend. Techniken wie die Collage verschiedener Texte, Zeitungsschnipsel, Fotos, Kritzelsprüche und Notizen in größeren Romanen üben eine große Wirkung auf die Lesemotivation von Kindern aus4. Eine vergleichbare kindliche Begeisterung ist auch schon beim Zusammensetzen von sog. Schnipseltieren im Elementarbereich und der Schuleingangsphase zu beobachten. Schnipseltiere sind Abbildungen von Tieren oder Fantasiewesen, die aus einzelnen kleinen Schnipseln zusammengesetzt werden. Dies kann sowohl analog durch Reißen und Zusammenkleben einzelner kleiner Formen geschehen als auch digital durch den Einsatz von Apps. Die motorisch-haptische Erfahrung des Reißens, Schneidens und Zusammensetzens ist eine grundlegende Vorläuferfertigkeit, die Kinder vor dem Schuleintritt erwerben sollten. Diese kann sinnvoll durch die Adaption im Digitalen erweitert werden und bereitet somit auch auf allgemeine mediendidaktische Kompetenzen vor. Indem die Kinder digitale Schnipseltiere gestalten, vollziehen sie spielerisch die für den Umgang mit digitalen Endgeräten typischen Handbewegungen: Sie ziehen, drücken, wischen und tippen. 3 Vgl. z. B. Eder, Katja et al. (2013, S. 112f.): Jo-Jo. Lesebuch 3. Berlin; Hoeps, Annegret et al. (2010, S. 37). 4 Die Technik der Collage wird zum Beispiel in Comicromanen der Kinder- und Jugendliteratur wie Kinneys Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt (2008) deutlich. Aus motivationaler Sicht ergibt sich durch die Kompilation kleiner Formen ein breites Angebot an verschiedenen kurzen Texten, die die Identifizierung mit dem Text erleichtern. Didaktisch betrachtet bietet die Integration kleiner Formen in eine Ganzschrift mehrdimensionale Zugänge auf verschiedenen Anforderungsniveaus, die eine Differenzierung von was? und individuelle Lesarten anbieten.

Kleine digitale Formen im Deutschunterricht der Primarstufe

163

Hier wie da, bei den Schnipseltieren und bei Textcollagen handelt es sich um eine kaleidoskopische Perspektive auf das fertige Produkt, die gleichzeitig den Blick auf seine Einzelteile freigibt. Die erkennbaren Konturen der einzelnen Bestandteile offenbaren die Bauprinzipien des Ganzen und ermöglichen es Kindern, analytisch und kreativ zugleich mit dem Werk umzugehen. Eine weitere prominente kleine Form, die im Unterricht der Primarstufe zum Einsatz kommt, ist der Witz. Witze bieten sich als amüsante Unterbrechung des Unterrichts oder zur ironischen Abgrenzung von Schule und Erwachsenenwelt an (vgl. Gysin-Ronner et al. 2009, S. 92f.). Darüber hinaus prädestiniert ihre dichte Sprache die kleine Textsorte Witz dafür, Kinder zu irritieren und zur Reflexion über Sprache anzuregen. Die epistemologische Dimension klingt u. a. bei Lichtenberg an, der den Witz als Erkenntniskraft beschreibt: Wenn Scharfsinn ein Vergrößerungsglas ist, so ist Witz ein Verkleinerungsglas. Glaubt ihr denn, dass sich bloß Entdeckungen mit Vergrößerungsgläsern machen ließen? Ich glaube, mit Verkleinerungsgläsern oder wenigstens durch ähnliche Instrumente sind wohl mehr Entdeckungen gemacht worden. (G. Ch. Lichtenberg 1968, D 425)

Auch ihr Potenzial, als »Türöffner« für das digitale Lesen und Schreiben zu fungieren, wird bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Wenn Simanowski schreibt »The character of an era is shown by its jokes« (Simanowski 2018, S. 1), spricht er implizit auch das verborgene Potenzial von Witzen für einen mediensensiblen und kompetenzorientierten Deutschunterricht an, denn weiter heißt es: When I entered university, the shortest joke in the world was: »Two students pass by a pub. « Today the opposite would be a candidate for first place. […] in the era of mobile media and social networks, togetherness happens less often, or differently. (Ebd.)

Diese witzige und entlarvende Beobachtung verdeutlicht einmal mehr die Bedeutung der digitalen Kommunikation und hebt die Relevanz, digitales Lesen und Schreiben bereits in den Deutschunterricht der Primarstufe zu integrieren, hervor.

4.

Rezeption und Reproduktion kleiner digitaler Formen

Für den Übergang vom autonomen, privaten Gebrauch zum angeleiteten, schulischen Kontext bieten sich kleine digitale Formen an, denn der Einsatz digitaler Medien sollte aus dem Grundsatz der Schülerorientierung folgen, »weil [er] auch Werkzeuge beansprucht, welche Jugendliche [und Kinder, Anm. d. V.] für die Pflege ihrer sozialen Beziehungen verwenden« (Wampfler 2017, S. 44). Die Kinder bringen eine hohe intrinsische Motivation für die Rezeption und (Re-)Produktion digitaler Angebote mit, weil sie den funktio-

164

Ann-Kristin Müller

nalen Wert dieser Kompetenz direkt mit der eigenen Erfahrungswelt in Verbindung bringen können. Diese authentische Motivation sollte als Brücke für den schulischen Kompetenzerwerb genutzt werden. Zudem vereinen kleine digitale Formen zeitgemäße Kommunikationsformen mit Kompetenzzielen der Bildungsstandards. Dort heißt es im Bereich »über Leseerfahrungen verfügen« (KMK 2004, 12), dass die Schülerinnen und Schüler medienspezifische Formen kennen sollten. Dazu zählen u. a. Online-Zeitungen, Infotainment, Hypertexte und Werbekommunikation. Anknüpfend an den letzten Punkt soll nun gezeigt werden, welches Potenzial kleine digitale Formen im Deutschunterricht der Primarstufe entfalten können, wenn sie in angemessene Lehr-/Lernsettings eingebettet sind. Durch ihre Kürze und Prägnanz eignen sich kleine Formen sowohl zur Rezeption als auch zur (Re-)Produktion im Deutschunterricht der Primarstufe. Gleichzeitig weisen sie durch diese Kürze über das Gesagte/Gezeigte hinaus und eröffnen einen Raum des Möglichen (vgl. Gamper / Meyer 2017, S. 12). Dadurch lassen sich Hypothesenbildungen und Assoziationen initiieren und die kritische und ggf. ironische Reflexion einer Aussage herausarbeiten. Exemplarisch für diese Bewegung kann eine digitale Form gelten, die bereits zunehmend im Unterricht eingesetzt wird, da ihre Integration in Lehr-/Lernsettings niedrigschwellig und effektiv ist: der QR-Code. QR-Codes werden als singuläre, klar konturierte grafische Form in Lehrmaterialien eingebaut und ermöglichen durch das Scannen den Zugriff auf weitere ›dahinterliegende‹ Wissensbestände. Sie leiten den Blick vom Kleinen auf große Wissensfelder und ermöglichen Kindern sozusagen einen ›Blick hinter die Kulisse‹. QR-Codes, die auf Kinder-Suchmaschinen wie »fragfinn.de« oder »blinde-kuh.de« verlinken, bieten somit bereits für jüngere Kinder eine sinnvolle Verzahnung von analogen und digitalen Recherche- und Arbeitsprozessen.

4.1

Blogs

Schreiben lernen wir, indem wir Texte verfassen und bearbeiten. Schreibenkönnen bedeutet, sich mithilfe von Texten zu verständigen. (Becker-Mrotzek 2003, S. 7)

Kinder und Jugendliche verständigen sich täglich mit Hilfe von Texten in Sozialen Netzwerken, Blogs und Tweets miteinander. Doch ist dieses Verständigen noch nicht mit dem Schreibenkönnen gleichzusetzen. Wie eingangs erwähnt, steht bei der Textproduktion im Kontext Sozialer Netzwerke die Kommunikationsabsicht des Schreibers im Vordergrund. Diese Priorisierung kann dazu führen, dass sich die Schreibpraxis von Kindern im außerschulischen Bereich und die Textproduktion im Unterricht auseinanderentwickeln. Um das digitale

Kleine digitale Formen im Deutschunterricht der Primarstufe

165

Schreiben ebenfalls durch ein Schreibenlernen vorzubereiten, müssen die Implikationen für den Kompetenzerwerb in der Grundschule aus der Definition des Schreibenkönnens abgeleitet werden. Die Voraussetzung dafür ist ein Textbegriff, der auch Formen digitaler Texte einschließt. Der »digitale Dualismus« (Wampfler 2016, S. 50), der in der Deutschdidaktik existiere und fälschlicherweise davon ausgehe, es gebe einen Gegensatz zwischen einer sinnlich erfassbaren realen Welt und einer virtuellen des Cyberspace, muss zugunsten eines Textverständnisses, das sowohl digitale als auch analoge Texte umfasst, abgelöst werden. Auf dieser Grundlage ist es möglich, die spezifischen Kompetenzen des digitalen Schreibens an die des Kompetenzbereichs Schreiben (inkl. Richtig Schreiben) der Bildungsstandards rückzubinden und die funktionale Relevanz des digitalen Schreibenlernens gegenüber Kindern und Jugendlichen zu betonen. Schülerinnen und Schüler sollten zum Ende ihrer Grundschulzeit Texte eigenständig planen, schreiben und überarbeiten können (vgl. KMK 2005, S. 11). Dabei sollten sie »den Schreibprozess selbstständig gestalten und ihre Texte bewusst im Zusammenhang von Schreibabsicht, Inhaltsbezug und Verwendungszusammenhang« (ebd.) verfassen. Im Unterricht können diese Kompetenzen beim Verfassen eines Klassenblogs kollaborativ geübt und gefestigt werden. Innerhalb dieses Settings wäre es auch denkbar, dass Teile des Blogs – als quantitative und qualitative Differenzierung – als Kurznachrichten mit begrenzter Zeichenanzahl (Microblogs) gestaltet werden. Beide Formen des Bloggens ermöglichen durch die Kommentarfunktion ebenso kooperatives Schreiben sowie dialogisches Lernen (vgl. Wampfler 2013, S.110). Sowohl die Mitschüler*innen als auch die Lehrperson nehmen an den Blogeinträgen der Kinder teil, indem sie diese lesen, kommentieren und immer wieder auf sie zurückgreifen können. Durch Verlinkungen zu anderen Blogeinträgen und Themenbereichen oder die @-Adressierungen entsteht ein – natürlich differenziertes – Netzwerk, auf das jedes Kind individuell zugreifen kann (vgl. ebd., S. 111). Die Kommentarfunktion initiiert zudem Feedbackprozesse, die fachliche und soziale Kompetenzen gleichermaßen festigen. Indem Kinder Blogeinträge selbst verfassen und die Texte der Mitschüler*innen kommentieren, wird ein weiteres Ziel, das Üben und Festigen der schriftlichen Ausdruckskompetenz, verfolgt (vgl. ebd.). Die Schülerinnen und Schüler haben in einem Blog die Möglichkeit, verschiedene Modi des Schreibens auszuprobieren; sie können kurze oder lange Texte, Fantasiegeschichten oder Berichte verfassen und zudem Audio- und Videodateien integrieren, sodass multimediale Lernsettings entstehen. Die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten bei gleichzeitiger Individualisierung und Differenzierung der Aufgabenformate ist charakteristisch für Blogs und lässt sich produktiv im Deutschunterricht nutzen. Gerade wenn Kinder durch das Verlinken und das Einbinden von Bildern Hy-

166

Ann-Kristin Müller

pertexte innerhalb von (Micro)Blogs gestalten, wird das nicht-lineare Lesen und Schreiben geübt – eine zunehmend wichtiger werdende Kompetenz für die Rezeption und Teilhabe an digitalen Lese- und Schreibprozessen. Schreibenkönnen bedeutet heute auch, Textsortenkenntnisse sowie Schreibkompetenzen um neue Formen des Schreibens zu erweitern, denn »Sprache und Literatur [stehen] nicht dichotomisch zu den Medien, sondern [besitzen] vielmehr selbst eine spezifische Medialität« (Staiger 2007, S. 263).

4.2

Hashtags

Ein Merkmal, das viele kleine digitale Formen gemeinsam haben, sind Hashtags. Da es sich bei der Zielgruppe um Primarschülerinnen und -schüler handelt, werden Soziale Netzwerke, für die Hashtags u. a. typisch sind, nur implizit thematisiert. Vielmehr sollen sich die Kinder der Funktionsweise dieses sprachlichen Phänomens annähern und diese zur Sprachbetrachtung nutzen. Hashtags sind zunehmend auch für jüngere Kinder omnipräsent: In der Sprache der Werbung ersetzen sie längere Texte oder prägen durch neue Wortkreationen eine bestimmte Wahrnehmung des Produkts. Influencer in audiovisuellen Medien wie Youtube nutzen sie, um eine möglichst große Reichweite zu erzielen und Soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter und Instagram generieren ganze Hypertexte durch den gezielten Einsatz von bestimmten Hashtags. Für Kinder und Jugendliche ist dieses Phänomen von Bedeutung, da es ein fester Bestandteil ihres alltäglichen Lebens und ihres Kulturzugangs ist (vgl. Wampfler 2017, S. 52). Für den unterrichtlichen Umgang ist dieser Befund zentral. Denn, um eine gute Passung zwischen Fähigkeiten und Interessen der Lernenden und den Unterrichtsinhalten und -methoden herzustellen, sollte sich die Gestaltung von Unterrichtsinhalten an der Lebenswelt der Kinder orientieren (vgl. Christmann / Rosebrock 2006, 155ff.). Ein Hashtag ist ein mit einem vorangestellten Rautezeichen markiertes Schlüssel- oder Schlagwort in einem elektronischen Text. (Dudenredaktion o. J.)

Dass Hashtags oft weit mehr sind als »Schlagworte« (ebd.), wird erst deutlich, wenn die Interdependenz zwischen ihnen und dem nebengeordneten Text oder Bild betrachtet wird. Eben darin liegt aber die Herausforderung für Kinder. Um Hashtags über ihre technische Funktion hinaus einzuordnen, müssen sie zwangsläufig in Zusammenhang mit dem begleitenden/begleiteten Text oder Bild gelesen werden. Erst aus dem Verhältnis von Bild und Text ergibt sich der für digitale Bild-Text-Kombinationen typische supplementäre Charakter zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem (vgl. Kraft et al. 2018). Wie unterschiedlich dabei die Assoziationen sind, die hervorgerufen werden, zeigen stichprobenar-

Kleine digitale Formen im Deutschunterricht der Primarstufe

167

tige Befragungen von Grundschulkindern und Studierenden zu einem Instagram-Post, der eine Seilbahn vor blauem Himmel und Palmen zeigt. Während die Studierenden das Bild mit Hashtags wie #kindheitserinnerung #freiheit #fun #seelebaumelnlassen versahen, formulierten die Kinder5 Hashtags wie »#Gondeln im Sommer?«, »#Angst«, »#Bananenpalme«, »#Riesenrad«, »#Seilbahn, die umfällt«. Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Kinder, im Gegensatz zu den Studierenden, einzelne Bildelemente beschreiben, nicht aber versuchen, die Bildaussage zusammenfassen. »Hashtags haben eine neue Praxis des Verschlagwortens, Suchens und Findens in Gang gesetzt, die sich vor allem durch sprachliche Prägnanz auszeichnet« (Schüler / Lehnen 2016, S. 102). Für Primarschülerinnen und -schüler stellen Hashtags eine hohe kognitive Herausforderung dar. Zum einen muss das Bild oder der Text, zu dem der Hashtag gehört, rezeptiv durchdrungen werden. Zum anderen erfordert das Produzieren eigener Hashtags die Antizipation möglicher Assoziationen der Rezipienten. Diese gilt es sprachlich möglichst prägnant wiederzugeben, Synonyme zu finden und über semantische und pragmatische Prozesse nachzudenken. Indem das Formulieren von Hashtags »auf das Nachdenken über und die Versprachlichung von inhaltlichen Beziehungen und Zusammenhängen angewiesen« (ebd.) ist, eröffnet es authentische Szenarien zur Sprachbetrachtung und -reflexion.

4.3

Bild-Text-Kombinationen

Um eine Geschichte zu einem Bild zu erzählen, muss das Bild ›gelesen‹ werden. Diese Tätigkeit ist komplex und erfordert ein Maß an visueller Kompetenz, das nicht vorausgesetzt werden kann. Der kompetente Bildbetrachter durchläuft verschiedene Interpretationsphasen: nach einer subjektiven Einschätzung und einer spontanen Beurteilung der Bildaussage folgen die Integration der festen Bildbedeutung und die Wahrnehmung der deklarierten Bedeutung (vgl. Doelker 2002, S. 148). Über die deklarierte Bedeutung, also »die beabsichtigte Aussage eines Bildes geben bereits Titel und Legende eines Bildes Aufschluss« (ebd.). Auch Hashtags könnten als deklarative Elemente der Bild-Text-Kombination bezeichnet werden: Da sie das betrachtete Bild paratextuell begleiten, sichern sie basale deklarative Bedeutungen. Ihr geringer Umfang prädestiniert sie allerdings für mehr als bloße Deklaration, denn »(k)urze Formen reduzieren und fragmentieren und aktivieren […] Dimensionen des Möglichen. Komplexität 5 Es handelte sich bei den Befragten um Schülerinnen und Schüler eines dritten Schuljahres einer saarländischen Primarschule.

168

Ann-Kristin Müller

wird so durch den Einsatz der kurzen Form wahlweise erhöht oder verringert« (Gamper / Mayer 2017, S. 12). Hashtags sind zugleich geprägt von ökonomischer Kürze und Prägnanz und fordern den Rezipienten im gleichen Moment dazu auf, sich assoziativ über die Kürze hinwegzusetzen. Diese Ambiguität prädestiniert Hashtags als Impulse in allen Teilbereichen des Deutschunterrichts. Je größer die Diskrepanz der deklarierten Bedeutung und der spontanen Beurteilung des Bildes, desto produktiver die unterrichtliche Auseinandersetzung damit. An diesem Punkt wird ein kategorialer Unterschied zu einer im Primarbereich zentralen Gattung deutlich, den Bilderbüchern. Denn während Bilderbücher bereits Geschichten erzählen, müssen dies im Falle kleiner Bild-Text-Kombinationen die Kinder selbst übernehmen (vgl. Kraft et al. 2018). Der spezifische Wert digitaler BildText-Kombinationen für die Deutschdidaktik liegt in den Interdependenzen von Bild und Text in Kombination mit ihrem kommunikativen Impetus. Sie fordern den Leser plakativ dazu auf, produktiv zu werden, da ohne seine aktive Beteiligung keine sinnhafte Aussage existiert. Der Leser wird zum Autor des Textes – eine Erfahrung, die im handlungsorientierten Literaturunterricht der Primarstufe eine zentrale Bedeutung innehaben sollte. Der Tulipan-Verlag postete zu Beginn der Sommerferien 2018 ein Bild eines Stachelschweins mit dem Zusatz »#EndlichFerien« auf Instagram. Das Bild enthält allerdings eine Information, die den gängigen Vorstellungen über die Sommerferien widerspricht: Der Balkon ist regennass und es scheint kalt zu sein. Um den Widerspruch zwischen Bild und Textaussage noch stärker herauszuarbeiten und kindgerechter zu gestalten, könnten von der Lehrperson Hashtags wie »#endlichsommer«, »#Badezeit«, »#Freibad« hinzugefügt werden. Diese kontrapunktische Beziehung zwischen Bild und Text kann einerseits von den Kindern produktiv überbrückt werden, indem die Aussagen erzählerisch miteinander verbunden werden. Oder die Kinder reflektieren über den Witz, der in der kontrapunktischen Aussage selbst steckt, denn häufig »ergibt sich die ›eigentliche Botschaft im Zusammenprall beider Ebenen‹ […]: Bild und Text enthalten unterschiedliche Informationen, vermitteln jedoch gemeinsam eine Erzählung.« (Kurwinkel 2017, S. 162). Das Wahrnehmen und die anschließende Reflexion von Ironie und Witz ist für Grundschulkinder keinesfalls selbstverständlich und kann u. a. durch witzige kleine Bild-Text-Kombinationen in den Unterricht eingebaut werden.

5.

Fazit

Wie gezeigt werden konnte, sind kleine Formen essentieller Bestandteil der Deutschdidaktik der Primarstufe, deren ästhetisches und epistemologisches Potential bisher aber weitgehend unbeachtet bleibt. Die Gleichzeitigkeit von

Kleine digitale Formen im Deutschunterricht der Primarstufe

169

ökonomischer Kürze und Prägnanz und die (Er-) Öffnung des Möglichen prädestiniert kleine Formen als Impulse zur Anschlusskommunikation in allen Teilbereichen des Deutschunterrichts und spiegelt darüber hinaus den Prozess der Weltaneignung von Heranwachsenden entlang der lebenslangen Bildungskette – vom Kleinen zum Großen – wider. Kleine Formen wie Rätsel und Sprüche, ebenso aber auch digitale kleine Formen bieten vielfältige Möglichkeiten. Ihr Einsatz erlaubt es, allgemeine deutschdidaktische Kompetenzen mit digitalen Medien sinnvoll zu verzahnen, so eigenen sich z. B. Parataxen und Ellipsen in Statusmeldungen, Kurznachrichten und Hashtags zur kooperativen Sprachreflexion oder für Rechtschreibgespräche. Das kommunikative Potenzial von Hashtags, digitalen Bildern, Blogs und Kommentaren liegt zudem in ihrer Instabilität: Die mehrdeutigen Informationen aus digitalen Bild-Text- und TextText-Interdependenzen initiieren Erzählungen, statt diese wiederzugeben. Die fehlenden Wortverbindungen und die individualisierbare Kommentarfunktion von Hashtags, Blogs und Messengerdiensten tragen dazu bei, dass sich Kinder aktiv handelnd und entdeckend mit Sprache auseinandersetzen und allgemeine Kompetenzen des Deutschunterrichts am Beispiel des digitalen Lesens und Schreibens anwenden.

Quellenverzeichnis Anfang, Günther / Demmler, Kathrin / Lutz, Klaus et al. (Hg.) (2015): wischen klicken knipsen. Medienarbeit mit Kindern. München. Ballis, Anja (2016): »Mediatisierte Lebenswelten: Von allgegenwärtigen Medien, Kindern und Eltern – Alltagsbeobachtungen zu Vorlieben, Chancen und Gefahren«, in: JuLit 2/ 2016, S. 3–6. Becker-Mrotzek, Michael (2003): »Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Neue Medien«, in: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut / Klotz, Peter. et al. (Hg.): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. 1. Teilband. Paderborn / München / Wien u. a., S. 69–89. Berg, Katharina et al. (2011): Karibu Lesebuch 4. Braunschweig. Burgwardt, Heinrich (1841): Erstes Schul- und Bildungsbuch für Volksschulen. SchreibLeseunterricht, Lese-Schreibunterricht, Lesestoff für die ersten Denk-, Sprech- und Sprachübungen und Samenkörner für Geist und Herz. Altona. Christmann, Ursula / Rosebrock, Cornelia (2006): »Differenzielle Psychologie: Die Passung von Leserfaktor und Didaktik / Methodik.«, in: Groeben, Norbert / Hurrelmann, Bettina (Hg.) (2006): Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik. Ein Weiterbildungsprogramm. Weinheim. Juventa, S. 155–176. Doelker, Christian (2002): Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der MultiMedia Gesellschaft. 3. Aufl. Stuttgart. Dudenredaktion (o. J.): »Hashtag« auf Duden online. https://www.duden.de/rechtschrei bung/Hashtag [Zugriff: 06. 03. 2019]. Eder, Katja et al. (2013): Jo-Jo. Lesebuch 3. Berlin.

170

Ann-Kristin Müller

Gamper, Michael / Mayer, Ruth (2017): »Erzählen, Wissen und kleine Formen. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Kurz & knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld. Gysin-Ronner et al. (2009): Die Sprachstarken. Deutsch für die Primarstufe, Sprachbuch 3. Zug. Hoeps, Annegret et al. (2010): Tobi Lesebuch 1/2. Differenzierte Lesetexte. Berlin. Hollstein, Gudrun / Sonnenmoser, Marion (22010): Werkstatt Bilderbuch. Allgemeine Grundlagen, Vorschläge und Materialien für den Unterricht in der Grundschule. Baltmannsweiler. Kinney, Jeff (2008): Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt. Köln. Knopf, Julia (2016): »Schreiben und digitale Medien – auf dem Weg zu einer medienspezifischen Schreibdidaktik«, in: Peschel, Markus / Irion, Thomas (Hg.): Neue Medien in der Grundschule 2.0. Grundlagen – Konzepte – Perspektiven. Frankfurt am Main, S. 276–285. Koch, Herrmann et al. (1912): Deutsches Lesebuch für Knaben-Mittelschulen in fünf Teilen. Sprüche und Rätsel. Göttingen. Kraft, Tania / Knopf, Julia / Müller, Ann-Kristin (2018): »#edgarslife: Erzählen in Schlagwörtern — Kreatives Schreiben im Deutschunterricht der Primarstufe«, in: Meyer, Anne-Rose (Hg.): Internet — Literatur — Twitteratur. Lesen und Schreiben im Medienzeitalter. Perspektiven für Forschung und Unterricht (im Druck). Kurwinkel, Tobias unter Mitarbeit von Katharina Düerkop (2017): Bilderbuchanalyse. Narrativik – Ästhetik – Didaktik. Tübingen. Lichtenberg, Georg Christoph: »Sudelbücher«, in: Promies, Wolfgang (Hg.): Ders., Schriften und Briefe, Bd. I, München 1968, Heft D, Nr. 465. Ruchatz, Jens / Willer, Stefan / Pethes, Nicolas (2007): »Zur Systematik des Beispiels«, in: Dies. (Hg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Berlin, S. 7–59. Schüler, Lisa / Lehnen, Katrin (2016). »Sprachreflexion in der internetbasierten Kommunikation. Am Beispiel von #hashtags«, in: Knopf, J. / Abraham. U. (Hg.). Deutsch Digital. Band 2: Praxis. Baltmannsweiler, S. 99–104. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) (2005) (Hg.): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarbereich. Beschluss vom 15. 10. 2004. München. Simanowski, Roberto (2017): »Soziale Netzwerke (Social Media)«, in: Mart&nez, Mat&as (Hg.): Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, S. 95–98. Simanowski, Roberto (2018): Facebook society : losing ourselves in sharing ourselves. New York. Spinner, Kaspar H. (1993): »Kreatives Schreiben«, in: Praxis Deutsch 119, S. 17–23. Staiger, Michael (2014): »Erzählen mit Bild-Schrifttext-Kombinationen. Ein fünfdimensionales Modell der Bilderbuchanalyse«, in: Abraham, Ulf / Knopf, Julia (Hg.): Bilderbücher. Theorie. Baltmannsweiler, S. 12–23. Thiele, Jens (2011): »Das Bilderbuch«, in: Lange, Günther (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler, S. 217–230. Tophinke, Doris (2017): »Internet.« In: Mart&nez, Mat&as (Hg.): Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, S. 70–75. Wampfler, Philippe (2014): Generation »Social Media«. Wie digitale Kommunikation Leben, Beziehungen und Lernen Jugendlicher verändert. Göttingen.

Kleine digitale Formen im Deutschunterricht der Primarstufe

171

Wampfler, Philippe (2017): Digitaler Deutschunterricht. Neue Medien produktiv einsetzen. Göttingen.

Katrin Lehnen

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht. Am Beispiel des materialgestützten Schreibens

1.

Einleitung: Die Schule als Einrichtung kleiner Formen

Wenn man anfängt, über kleine Formen im Unterricht nachzudenken, gewinnt man schnell den Eindruck, dass die Schule von vorne bis hinten eine Einrichtung kleiner Formen ist. Das fängt bei der Zeittaktung an – die klassische Unterrichtsstunde zählt 45 statt 60 Minuten – geht über die Arbeitsmaterialien – Textauszüge statt Ganztexte, gekürzte Texte statt Originalquellen – bis hin zu den Arbeitsaufträgen und Prüfungsformaten – kurze Schreibimpulse, zeitlich überschaubare Schreibaufgaben, Arbeitsblätter oder auch kurze, dichte Textformen wie etwa die schulische Erörterung im Deutschunterricht. Sie stellen Miniaturen dar, die außerhalb der Schule meist größere Pendants haben. Und auch der Literaturkanon oder das Curriculum lassen sich in ihrer Selektionsfunktion als kleine Formen begreifen, die für das große Ganze stehen. Alle genannten Beispiele haben auf unterschiedliche Weise mit Prinzipien der Verknappung, Verkürzung und Reduktion, oder auch Selektion, Exemplarität und Verdichtung zu tun.1 Schulische Lern- und Erwerbsprozesse sind, so der Ausgangspunkt, im Kern auf die Arbeit mit kleinen Formen gerichtet. Kleine Formen bilden das Gerüst, das Scaffolding auf dem Weg zu den ›großen‹ Formen. Komplexe Anforderungen werden zerlegt, Prozesse dekomponiert und in Form von Teilprozessen und Einzelaufgaben didaktisiert und unterrichtlich zugänglich gemacht. Die Aufgaben und Formate sind häufig artifiziell, d. h. Nachbildungen, Verdichtungen bzw. didaktische Modellierungen, mit denen spezifische Inhalte in den Vordergrund gerückt und der Erwerb ausgewählter Kompetenzen angebahnt werden. Das lässt sich für den Deutschunterricht an verschiedenen Stellen und in ganz unterschiedlichen Ausprägungen beobachten. 1 Der Gedanke selbst ist nicht neu, sondern schon lange im Prinzip der didaktischen Vereinfachung oder didaktischen Reduktion (Grüner 1967) aufgehoben. Allerdings hat die Reflexion dieses Prinzips in der Deutschdidaktik v. a. in den letzten Jahren zu einer vollständig neuen Diskussion geführt, die sich mit didaktischen Normvorstellungen und -erwartungen auseinandersetzt (vgl. Feilke 2013).

174

Katrin Lehnen

Nimmt man beispielhaft den Kompetenzbereich Schreiben heraus, dann zeigt sich, wie mit dem Einzug einer prozessorientierten Schreibdidaktik in den Deutschunterricht seit den 1980er Jahren komplexe Schreibprozesse in einzelne Prozesse des Planens, Formulierens und Überarbeitens von Texten in Teilaufgaben zerlegt und mit eigenen methodischen Konzepten und entsprechenden kleinen Formen versehen wurden. Beispiele für kleine Formen im Bereich des Planens und Konzipierens von Texten sind z. B. das Mindmap und das Cluster. Gleichermaßen bilden Textlupe oder Schreibkonferenz kleine Formen und methodische Verdichtungen für den Prozess des Überarbeitens von Texten. In beiden Fällen werden Prozesse dekomponiert, separiert und aufgabenbezogen aufbereitet. Dies geschieht häufig in Form von Arbeitsblättern, wie etwa Feedback-Bögen (vgl. für eine Übersicht Lehnen 2014, S. 419). Kleine Formen wie das Mindmap oder die Textlupe sind als Werkzeuge konzipiert, die die Aneignung spezifischer Kompetenzen in unterrichtlichen Lernsituationen fördern sollen. Arbeitsblätter und Aufgaben machen das Lernen mit und in kleinen Formen manifest und nach außen sichtbar. Sie strukturieren unterrichtliches Vorgehen und sind auf einen ›geordneten‹ Erwerb angelegt. Dabei lässt sich unterscheiden, ob es sich um genuin schulische oder adaptierte, schulisch aufbereitete Formen handelt. Mindmap und Cluster sind Beispiele für Adaptionen, die auch außerhalb der Schule als Planungshilfen bekannt sind. Bestimmte Formen und Verfahren der Textrückmeldung und entsprechende Anleitungen sind unterrichtsdidaktische Hervorbringungen. Das kann man z. B. an schulischen Feedbackbögen sehen, in denen Anweisungen und Aufforderungen an die SchülerInnen in spezifischer Weise formuliert – und auch formatiert (Schrifttyp) sind: »Das hat mir an Deinem Text gefallen … « oder »Hier sehe ich noch Optimierungsbedarf … « (vgl. Abb. 1). Es geht bei diesen kleinen Formen auch um das Einüben sprachlicher Muster, etwa das Formulieren von Feedback in der 1. Person, um die Wertschätzung gegenüber dem fremden Text zu erhalten. Es werden damit implizit immer auch didaktische Normen bzw. Normen im Unterricht (Feilke 2015, S. 118) formuliert. Sie gehen, wie solche Beispiele zeigen, mit spezifischen schulsprachlichen Erwartungen einher, die das sprachliche Repertoire der Lösung von Aufgaben bestimmen (Feilke 2013, S. 113). Ein weiteres, vergleichbares Beispiel, das den Umgang mit kleinen Formen für einen anderen Kompetenzbereich des Deutschunterrichts, den Kompetenzbereich »Lesen – mit Texten und Medien umgehen« (vgl. Bildungsstandards für den Deutschunterricht 2003) illustriert, sind elaborierte Lesemethoden, so wie sie in der Schule praktiziert werden, um das Verstehen und Interpretieren von Texten zu stützen. Für das Lesen sind spezifische methodische Verfahren repräsentativ, die sich ähnlich wie beim Schreiben in kleinen Formen ausdrücken. Prominent ist etwa die SQ3R-Methode oder Fünf-Schritt-Lesemethode, bei der an verschiedenen Stellen im Leseprozess nach Anleitung kleine Textstücke verfasst

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

175

Abb. 1. Feedbackbogen zur Textlupe, Quelle: LehrerInnenfortbildung Baden-Würtemberg (https://lehrerfortbildung-bw.de)

werden: W-Fragen formulieren, Schlüsselbegriffe rausschreiben, Überschriften für Abschnitte notieren, abschnittsweises Zusammenfassen auf Notizzetteln etc. (vgl. für einen Überblick z. B. Groeben / Christmann 1999, S. 192). Auch hier bestimmen Dekomponierung und Separierung des komplexen, übergeordneten Leseprozesses in Teilprozesse und kleine schriftliche Formen das unterrichtliche Handeln. Das Arbeiten mit kleinen Formen ist nicht auf die Schule als institutionellem Lernort beschränkt. Auch in der Hochschule bleiben diese Verdichtungs- und Verkleinerungsprozesse erhalten: Die studentische Seminararbeit ist ebenfalls ein Beispiel für eine kleine Form: Eingeübt wird das wissenschaftliche Schreiben in einem abgegrenzten Rahmen, angebahnt werden Kompetenzen im Umgang mit wissenschaftlichen Diskursen und disziplinspezifischen, wissenschaftssprachlichen Textprozeduren (Feilke / Lehnen 2011a und 2011b). Examens-, Bachelor- und Masterarbeit sind dann jeweils die größeren, ausgebauten Formen, die auf die Seminararbeit zurückgehen. Auch sie sind artifiziell, insofern sie nur und eigens auf den Zweck der Prüfung und Bewertung im hochschulischen Ausbildungssystem gerichtet und nicht als ernsthafte Beiträge zum laufenden wissenschaftlichen Diskurs anerkannt sind – selbst wenn sie so geschrieben werden müssen und selbst wenn sie nach Gütekriterien wissenschaftlichen Arbeitens beurteilt werden. Neben diesen typischen studentischen Textformaten zeichnen sich im hochschuldidaktischen Kontext in den letzten Jahren verstärkt (noch) kleinere Formen ab, die gezielt das wissenschaftliche Arbeiten und Schreiben in ausgewählten Anforderungsbereichen fördern sollen, so z. B. das

176

Katrin Lehnen

Kontroversenreferat (vgl. Feilke et al. 2016, Feilke / Lehnen 2019) oder das Diskursreferat (vgl. Decker / Siebert-Ott 2019). Dabei werden kurze Texte von zwei bis drei Seiten zu wissenschaftlich strittigen oder kontroversen Fragen geschrieben. Als wissenschaftliche Miniaturen der Seminararbeit sind sie auf das bewusste Erarbeiten intertextueller Textprozeduren angelegt: Die Studierenden müssen auf Grundlage von wenigen vorgegebenen kurzen Texten (in der Regel zwei bis vier Texte von je 1–2 Seiten) eigene Darstellungen hervorbringen, Bezugstexte integrieren und eine wissenschaftliche Position zum Ausdruck bringen. Die Reduktion auf eine vergleichsweise kurze Textform soll es ihnen ermöglichen, sich auf ausgewählte Probleme wissenschaftlichen Referierens und Diskutierens zu konzentrieren und im Kleinen etwas zu üben, was im Großen, nämlich als wissenschaftliche Abhandlung, die Verarbeitung und Integration von sehr viel mehr Quellen verlangt. Auch der ursprünglich im schulischen Umfeld entstandene Aufgabentyp des materialgestützten Schreibens, von dem weiter unten noch ausführlich die Rede sein wird, wird zunehmend im hochschulischen Kontext für die Einübung quellengestützten Lesens und Schreibens genutzt (vgl. Preis-Hahn 2018).

2.

Theoretische Überlegungen: Kleine Formen und transitorische Normen

Kleine Formen im Unterricht, so wie sie bisher kursorisch und eher unsystematisch beschrieben wurden, lassen sich kurz gefasst als didaktische Werkzeuge beschreiben, die sich im schulischen oder hochschulischen Umfeld herausbilden oder aber von außen übernommen, adaptiert und didaktisch umgearbeitet werden. Sie sind auf unterrichtliche Situationen bezogen und erfüllen selten einen Zweck außerhalb ihrer selbst. Sie stützen sich, so wie Feilke (2015) es nennt, auf sog. transitorische Normen. Damit sind sie als Übergangsformen zu verstehen, über die ein gestaffelter Kompetenzaufbau erreicht werden soll. Zur Veranschaulichung von transitorischen Normen wählt Feilke das Beispiel des Schneepflugs: SkianfängerInnen lernen zunächst den Schneepflug als Technik des Skifahrens. Mit ihm lassen sich erste Fahrerfolge erzielen und jeder Hang mehr oder weniger meistern. Der Schneepflug ist aber nur für den Übergang gedacht und ist nicht die eigentliche Zielform. Auf Dauer kommt man mit dem Schneepflug nicht weit(er). Der Schneepflug ist eine Lernform, die allmählich überwunden und durch andere Techniken erweitert und ersetzt werden muss, um zu einem effektiveren und effizienteren Skifahren zu gelangen, das weniger kraftraubend ist und zu ausgefeilteren, dynamischeren Formen der Bewegung führt (vgl. Feilke 2015, S. 128f.). Feilke führt den Gedanken der transitorischen

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

177

Norm, der sich sehr gut mit dem Konzept der kleinen Form verbindet, folgendermaßen aus: Transitorische Normen sind Instrumente zur Stützung und Anleitung beim Erwerb und Aufbau von Kompetenzen. Sie sind notwendig präskriptiv, weil sie ein bestimmtes Handeln und die dafür erforderlichen Dispositionen bei Lernerinnen und Lernern ja erst bilden sollen. Als didaktisch gemachte Normen und Erwartungen haben sie instrumentellen Charakter. Sie sind bezogen auf didaktisch ausgewählte bzw. konstruierte Gegenstände des Unterrichts und sind insofern genuine Unterrichts- oder Schulnormen. Ihre Rechtfertigung haben sie durch den Bezug auf den Lernprozess. Es geht also nicht darum, dass Normen als außerhalb von Schule und Unterricht befindliche Lerngegenstände möglichst wirklichkeitsgetreu in den Unterricht abgebildet würden. Vielmehr werden die handlungsleitenden Normen didaktisch für den Erwerbsprozess konstruiert. Der Deutschunterricht ist – von der Grundschule bis zur Oberstufe – durch transitorische Normen geprägt (ebd., S. 129, Hervorhebungen des Autors).

Als Beispiele für diese transitorischen Normen im Deutschunterricht nennt Feilke u. a. Ausgangsschriften, lauttreues Lautieren, Silbenhäuschen und auch sog. »didaktische Textgattungen wie das Rechtschreibdiktat, die Bildergeschichte, die Bildbeschreibung, die Erörterung, das Portfolio« ebenso wie das »mit den Abiturstandards neu eingeführte sogenannte materialgestützte Schreiben« (ebd., S. 129). Die didaktischen Gattungen stellen einen besonders interessanten und einschlägigen Fall für die Betrachtung kleiner Formen dar. Mit ihnen sind sprachliche Normerwartungen verknüpft, die, ähnlich wie für die anderen Formen ausgeführt, genuin schulisch hervorgebracht werden.2 Mit Blick auf die besonderen schulsprachlichen Normerwartungen erläutert Feilke in einem Beitrag zur Schulsprache (2013): Zur Schulsprache gehören auch speziell geschaffene sprachliche Lerngegenstände. Ein Beispiel sind die didaktischen Gattungen, die es in allen Fächern gibt, z. B. die Erzählung zu einer Bildergeschichte, die Inhaltsangabe oder die Erörterung im Deutschunterricht, die Quelleninterpretation im Geschichtsunterricht oder das Versuchsprotokoll im naturwissenschaftlichen Unterricht. […] Die Formen sind didaktisch konzipiert und begründet: Sie sollen bestimmte Fähigkeiten stützen und ihre Entwicklung fördern. Oft aber sind sie auch nur didaktisches Brauchtum und ein Lernhemmnis (ebd., S. 113).

Einen weiteren komplementären theoretischen Ansatzpunkt für das Nachdenken über kleine Formen im Unterricht liefert das Konzept von Pohl und Steinhoff (2010). Sie sprechen im Kontext von Texten, die speziell auf das Lernen gerichtet 2 Eine umfassende empirische Studie zum Einsatz und zur Entfaltung didaktischer Gattungen im Unterricht liefert die Dissertation von Annika Dix zur didaktischen Gattung des Berichts. In der Arbeit wird eindrücklich gezeigt, in welcher Weise der »Bericht« als schulische Textsorte im Deutschunterricht didaktisch überformt und dabei teils auch funktionslos wird (Dix 2017).

178

Katrin Lehnen

sind und vor allem im Unterricht genutzt bzw. hervorgebracht werden, von Textformen bzw. Textformen als Lernformen (so auch der Titel des Beitrags und des Gesamtbandes der Autoren). Dieser Begriff wird terminologisch reserviert für Schreibanlässe, die – ganz ähnlich wie oben für die Kompetenzbereiche Lesen und Schreiben angedeutet – gezielt Lernanlässe schaffen und die meist kein direktes Pendant in der außerschulischen Wirklichkeit haben. Das Sprechen von Textformen geschieht in bewusster Abgrenzung von eingeführten Begriffen wie Textsorte, Texttyp etc. Auch hier ist interessant und sicherlich nicht zufällig, dass die von Pohl und Steinhoff genannten Beispiele für Textformen ganz überwiegend kleine und kurze Formen umfassen: In einem ersten Schritt der Begriffsbestimmung wollen wir mit Textform auf eine terminologische Lücke reagieren: Wir sehen dort ein Bezeichnungsbedürfnis, wo etablierte und z. T. in Konkurrenz zueinander stehende textlinguistische Konzepte wie »Textsorte«, »Texttyp« und »Textmuster« (FN) nicht greifen. Zu denken ist an Schreibanlässe wie die folgenden: – das Portfolio, – das Diktat, – das Mitschreiben, – das Beantworten einer mathematischen Textaufgabe, – das Ausfüllen einer Textlupe, – das Elfchen oder – die Rechengeschichte (FN). Allen diesen wie ähnlichen Schreibanlässen ist gemeinsam, dass sie in einem Erwerbsoder Lernzusammenhang stehen und fest einem Lehr-Lern-Kontext zugeordnet sind, und zwar derart ›fest‹, dass sie teilweise ohne letzteren – als selbstständige »Textsorten« – gar nicht existieren, wenn man so will, keinen richtigen ›Sitz im Leben‹ haben (FN). In diesem Sinne wollen wir Textform als genuin didaktisch fundiertes Konzept verstehen, das zwingend rückgebunden ist an unterrichtliche Variablen wie die des Schreibsettings/-arrangements, die des Lehr-/Lernziels und die des konkreten Schreibauftrags. Textformen sind also erstens Lernformen (ebd., S. 5, Hervorhebungen der Autoren, (FN) steht für Fußnoten, die hier nicht mit zitiert werden).

Von den transitorischen Normen (Feilke) und Textformen (Pohl / Steinhoff), die sich in den genannten kleinen Formen und Aufgaben zeigen, sind kleine Formen zu unterscheiden, die auch außerhalb des schulischen Gebrauchs bestehen und die – vor allem auf Grund ihrer Kürze oder Kompaktheit – mehr oder weniger unverändert in den Unterricht übernommen werden. Beispiele sind Zeitungsartikel, Glossen, Gedichte, Kommentare, Rezensionen, Fabeln, Kurzgeschichten oder Anekdoten. Das sind Textsorten oder literarische Gattungen, die thematisch geschlossen sind und die sich für textgestützte und textverarbeitende Aufgaben wie die Zusammenfassung, die Inhaltsangabe, die Analyse oder die Interpretation im Deutschunterricht eben auf Grund ihrer Kürze besonders gut eignen.

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

179

Mit Blick auf die kleinen Formen beschreiben Gamper und Mayer (2017) das besondere Zusammenspiel von kleinen und großen Formen und verorten es im Spannungsfeld von »Wissen und Erzählen«. Wenngleich ihre Ausführungen nicht auf schulische, sondern auf allgemein literatur- und kulturtheoretische Fragen gerichtet sind, liefert ihre Beschreibung interessante Anknüpfungspunkte für die eben angestellten Überlegungen: Eine leitende These des Bandes lautet, dass Formen, die sich durch Kürze und Knappheit auszeichnen, in besonderer Weise dazu geeignet sind, das Zusammenspiel von Wissen und Erzählen zu regulieren und zu gestalten. Diese Formen gewinnen ihre epistemologische und poetologische Bedeutung pragmatisch durch ihre Relation zu längeren, ausgedehnten und größeren Formen, also durch Verfahren und Signale der Verdichtung, der Prägnanz, des Weglassens und des Abbruchs, aber auch der Tentativität und der Vorläufigkeit. Daraus ergeben sich einerseits Effekte der Verabsolutierung und Isolierung. Kleine Formen suggerieren Punktgenauigkeit, Exaktheit: Sie geben vor, das letzte Wort zum Thema zu sein. Andererseits signalisieren Kürze und Knappheit aber auch ostentativ Unvollständigkeit bzw. Unabgeschlossenheit: Kurze Formen reduzieren und fragmentieren und aktivieren damit Dimensionen des Möglichen. Komplexität wird so durch den Einsatz der kurzen Formen wahlweise erhöht oder verringert, wobei die Bewegungen der Komplexitätsreduktion und -steigerung unvermittelt ineinander umschlagen können (Gamper / Mayer 2017, S. 12f.).

Das hier beschriebene Zusammen- oder auch Wechselspiel von Verdichtung und Prägnanz auf der einen und Vorläufigkeit und Tentativität auf der anderen Seite charakterisiert auch das didaktische Spannungsfeld, in dem sich Unterricht bewegt. Kleine Formen begründen ein konstitutives, durchgängiges Lernprinzip der Schule, gleichzeitig drohen mit der Verkleinerung, Verknappung, Unvollständigkeit, Fragmentierung und Reduktion der Lerngegenstände immer auch Sinnentleerung, Stillstand und ideologische Überformung. Denn die im Unterricht etablierten kleinen Formen entfalten ein hohes Beharrungsvermögen und Eigenleben, die häufig nicht gut mit der außerschulischen Kommunikationsrealität und nicht gut mit dem außerschulischen Wandel von Lese- und Schreibprozessen und darauf bezogenen Textsorten und Genres verbunden sind. Man kann hier an die tief greifenden Veränderungen denken, die mit der Digitalisierung von Kommunikation entstanden sind, und die einerseits neue – interessanterweise auffallend kleine – Textformate hervorgebracht haben (Twitter, Blog, WhatsApp, Instagram, Facebook etc.) und die andererseits die Praktiken des Lesens, Schreibens und Kommunizierens verändert haben (vgl. Lehnen 2018a, Lobin 2014, Wolfe 2018).3 Die kleinen Formen der Schule und die ihr 3 Zur Veränderung von Erzählweisen durch medienspezifische Formate führen Gamper und Mayer aus: »Auch in den sozialen Netzwerken des 21. Jahrhunderts werden Informationen, Meinungen, Fakten, Erkenntnisse zunehmend als Mikronarrative auf den Weg gebracht – etwa in Form von Clips, Teasern, Microblogs, Tweets, snippets oder anderen kurzen Kommuni-

180

Katrin Lehnen

eingelagerten schulsprachlichen Normen sind davon in weiten Teilen unberührt und der institutionellen Routine und Tradition verhaftet geblieben. Sie (die Schulsprache, K.L.) umfasst Praktiken (z. B. des Umgangs mit Texten im Unterricht), Maximen (etwa: Sei möglichst explizit und vollständig!), Normen (etwa: Berichte im Präteritum!) und Lerngegenstände & Formen (z. B. didaktische Gattungen, Schulschriften, Schulgrammatiken). Sicher ist die Schulsprache – formativ betrachtet – keine linguistische Varietät i. e. S.; sie ist das Gefüge der institutional geschaffenen und auf die institutionalen Zwecke gerichteten Sprachgebrauchsformen (Feilke 2013, S. 117).

Mit anderen Worten: »Die Schule arbeitet in vielen Zusammenhängen mit didaktischen Fiktionen und an solchen Fiktionen orientierten Erwartungen« (ebd., S. 113). Wenn in dem Call for Papers zur Tagung dieses Sammelbandes (vgl. DFG-GK »Kleine Formen« 2018) gefragt wurde, »ob der schulische Unterricht eine grundlegende, vielleicht unvermeidliche, Affinita¨ t zu kleinen Formen aufweist, ja sogar spezifische kleine Formen hervorbringt«, dann lässt sich das nach den bisherigen Ausführungen in beide Richtungen bejahen: Ja, der Unterricht hat diese unvermeidliche Affinität zu kleinen Formen, und ja, er bringt – wie skizziert – spezifische kleine Formen hervor. Diese beiden Aspekte – die schulische Affinität zu kleinen Formen und die institutionelle Hervorbringung solcher Formen – werden im Folgenden näher betrachtet und an einem ausgewählten Aufgabentyp des Deutschunterrichts exemplarisch entfaltet. Es handelt sich bei dem Beispiel um den relativ neuen Aufgabentyp »Materialgestütztes Schreiben« (vgl. Bildungsstandards Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife 2012).

3.

Kleine Formen im Deutschunterricht: Das Beispiel des materialgestützten Schreibens

Das materialgestützte Schreiben ist 2012 in die Bildungsstandards Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife aufgenommen worden. Es bildet in gewisser Weise eine Ausnahme zu den bisher beschriebenen didaktischen Gattungen des Deutschunterrichts. Denn beim materialgestützten Schreiben werden gänzlich neue Zieltextsorten berücksichtigt und auch die zu bearbeitenden Materialien im Textproduktionsprozess weichen tendenziell von der bisherigen Arbeit mit Bezugstexten ab. Das materialgestützte Schreiben setzt systematisch an dem an, was das außerschulische Schreiben in fast allen Handlungsbereichen prägt: den kationsformen. Kürze dient hier der Kondensierung und Polarisierung, sie verdichtet und umschließt, erlaubt sensationalistische Zuspitzungen und topische Aggregationen […]« (Gamper / Mayer 2017, S. 18).

181

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

Rückgriff und die Bezugnahme auf verschiedene, durchaus heterogene Quellen bei der Produktion eigener Texte. Journalismus, Wissenschaft, Recht etc. bilden Handlungsbereiche, die immer schon durch den Umgang und die Verarbeitung von anderen Quellen und Materialien geprägt sind. Das Schreiben fängt nicht bei Null an, sondern nimmt seinen Ausgang in dem, was zu einem Thema an unterschiedlichen Quellen verfügbar ist. Wissenserwerb und Wissenserweiterung sind an die Auseinandersetzung mit bestehendem Wissen und daraus entfalteten Diskursen gebunden. Dieses Prinzip, das in anderen Schulfächern wie Geschichte und Erdkunde besser bekannt ist, wird mit dem materialgestützten Schreiben erstmals systematisch auch im Deutschunterricht eingeführt. Die Aufgabe beim materialgestützten Schreiben besteht kurz gesagt darin, auf der Grundlage von etwa sechs bis acht Ausgangsmaterialien einen informierenden oder argumentierenden Text zu schreiben, bei dem die Materialien auf verschiedene Weise verarbeitet werden müssen und in die Darstellung einfließen (vgl. Feilke et al. 2016). Dies veranschaulicht grob die folgende Abbildung: Schema Ar"kel

Was denkt ihr euch bloss? Sind Dinge, die keinen Namen haben, überhaupt vorstellbar? Über den Zusammenhang von Hirn und Mund Es gibt Dinge, die jeder sofort glaubt und die dennoch falsch sind. Die Sache mit den Eskimos zum Beispiel: Eskimos hä&en 40 Wörter für Schnee, heißt es. Oder sogar 100. Kein Wunder, immerhin lebten sie ja in sehr kalten Gegenden, in denen es häufig schneie. Deswegen habe ihre Kultur auch besonders viele Vokabeln für den fros'gen Niederschlag entwickelt. Nur s'mmt das eben nicht. Denn die Sprache der Eskimos ist „polysynthetisch“: Viele Beschreibungen, die im Deutschen mehrere Wörter benö'gen oder einen ganzen Satz, werden in der Sprache der Eskimos durch das Anhängen von Silben gebildet. „Schnee, der schon gestern gefallen ist“ oder „frisch gefallener Schnee“ sind demnach jeweils nur ein Wort. Der vermeintliche kulturelle Unterschied ist also in erster Linie ein gramma'scher. Trotzdem geistert das Beispiel bis heute durch Literatur und Kultur.

Interview

Sie behaupten, dass unsere Wahrnehmung eines Chagall-Gemäldes bis zu einem gewissen Grad von unserer Mu!ersprache abhängt. Inwiefern? Ich habe Chagall als Beispiel genommen, weil in seinen Gemälden viel Blau vorkommt. Und für unsere Wahrnehmung von Blau ist entscheidend, ob unsere Mu&ersprache ein Wort für Blau kennt. Nicht alle Sprachen kennen eins. Sehr viele Sprachen, wahrscheinlich sogar die meisten, machen keinen Unterschied zwischen Grün und Blau, für sie sind das zwei Scha&ierungen derselben Farbe. Wenn unsere Sprache uns aber darauf trainiert, Blau und Grün als zwei verschiedene Farben wahrzunehmen, trainiert sie unseren Sinn dafür, den Unterschied zwischen diesen Farben zu übertreiben. […] Es geht in Ihrem Buch viel um Farben. Warum sind diese, was Sprache angeht, so ein spannendes Thema? Weil die Sprachen mit Farben so unterschiedlich umgehen. Viele Sprachen unterscheiden überhaupt nur zwischen drei Farben: Schwarz, Weiß und Rot; wobei dann etwa alle dunklen Farben zu Schwarz gezählt werden. Für die ist es ganz natürlich, dass der Himmel schwarz ist. Die Frage ist: Hat die jeweilige Methode, wie unsere Sprache das Farbspektrum unterteilt, eine Auswirkung darauf, wie wir Farben tatsächlich wahrnehmen? Und die Antwort lautet: ja. Die Unterschiede, die man bisher hat beweisen können, sind nicht drama'sch, aber es gibt sie.

Diagramm

Überhaupt ist vieles, das wir über Sprache zu wissen glauben, entweder nicht rich'g oder bis heute nicht ganz klar. Das beginnt schon mit der Ur-Frage, wie Sprache eigentlich entstanden ist. 1769 lobte die Königlich- Preussische Akademie der Wissenscha#en in Berlin einen Preis für die beste Antwort aus, den der Philosoph Johann Go%ried Herder mit folgender Schnurre gewann: Der Ur-Mensch steht einem Schaf gegenüber, «weiss, san#, wollicht». Er sucht ein Merkmal, um das Schaf zu beschreiben: «Ha! Du bist das Blökende», denkt er. Damit hat der Ur-Mensch laut Herder das erste Wort erdacht: «Seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblökt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und wiedergeblökt, da sie ihn daran erkannte – die Sprache ist erfunden!»

Monographie (Auszüge)

Zieltext: z.B. Stellungnahme, Vortrag, Reiseführer, Broschüre, Kommentar, Rezension, ...

2.2 Sprache und Denken: Die Sapir-Whorf-Hypothese [...] Die amerikanischen Ethnolinguisten9 E. Sapir und B.L. Whorf, sein Schüler, erforschten nordamerikanische Indianersprachen, von denen besonders das Hopi10 bekanntgeworden ist, weil Whorf es in seinen Schri#en (1922) den von ihm so bezeichneten SAE-Sprachen (= Standard Average European) gegenüberstellt. Er beschriebt für das Hopi ein vom SAE völlig verschiedenes sprachliches Erfassen von Zeitabläufen: Sta& einer Dreiteilung der Verbaltempora in Vorzeitigkeit – Gleichzei'gkeit – Nachzei'gkeit unterscheidet das Hopi nur zwischen einer gemeinsamen Form für schon Geschehenes (= unsere Vorzeitigkeit) und jetzt Sta%indendes (= unsere Gleichzei'gkeit) und andererseits einer Form für Zukün#iges, Erwartetes, Erho"es, Befürchtetes usw.11 Für die Verwendung des Plurals von Substantiven zeigt Whorf ebenfalls grundlegende Unterschiede zwischen Hopi und SAE auf.12 Eine empirische Nachprüfung vor einigen Jahren hat Whorfs Feststellungen über das Hopi z. T. in Frage gestellt13 – wie die Sapir-Whorf-Hypothese in ihrer gesamten Aussage, das sei vorausgeschickt, unter Linguisten sehr umstritten ist. Die Aussage von Whorfs Hopi-Beispielen lautet: Verschiedene Sprachgemeinscha#en erfassen die Wirklichkeit sprachlich in ganz verschiedener Weise. Was Whorf für die Morphologie (= Formlehre) belegt hat, gilt auch für den Wortschatz. Das bekannteste hierfür zi'erte Beispiel sind die Farbadjek've: deutsch

englisch

französisch

grün

green

vert

blau

blue

bleu

grau

grey

gris

braun

brown

brun

kymrisch14 gwyrdd

glas

llwyd

Abb. 2. Materialgestütztes Schreiben: lineare und nicht-lineare Materialien

Die Abbildung zeigt schematisiert, dass sich das Schreiben auf unterschiedliche Quellen stützt. Diese Quellen können auf vielfache Weise inhaltlich miteinander verknüpft sein, ohne dass diese Verknüpfungen auf der Hand liegen müssen. Das bedeutet, dass das Erkennen bzw. Herstellen dieser Verknüpfung eine Leistung der Lektüre ist. Das materialgestützte Schreiben bricht bis zu einem gewissen Grad mit der Tradition schulischen Schreibens, das sich meist nur auf die Auseinandersetzung

182

Katrin Lehnen

mit einer, maximal zwei Quellen bezieht: Nacherzählung, Inhaltsangabe, aber auch Gedichtanalyse, Interpretation und textbezogene Erörterung sind überwiegend auf die Arbeit mit einem (Primär-)Text gerichtet, eher selten werden für die Auseinandersetzung mit literarischen Texten oder Sachtexten mehrere Bezugstexte eingebracht. Das Schreiben wird in geradezu umgekehrter Richtung auf die Lektüre und Verarbeitung multipler Quellen für das eigene Schreiben gerichtet. Vielfalt und Mehrstimmigkeit bilden das Prinzip der Materialauswahl. Die zur Verfügung gestellten Bezugsmaterialien (Texte, Bilder, Diagramme etc.) funktionieren dabei wie eine Stoffsammlung, aus der die Lernenden die Inhalte oder Argumente für ihren Text gewinnen. Das Lesen und die Rezeption werden in den Dienst des Schreibens gestellt. Das hat teils zu Kritik am Aufgabentyp geführt, weil die Materialvielfalt und -menge die besondere (z. B. literarische) Qualität einzelner Quellen in den Hintergrund treten lasse. So führt etwa Pieper aus: Stellte man sich auf den Standpunkt, dass eine Balance von Rezeptions- und Produktionsanforderungen für das materialgestützte Schreiben nicht gefordert wird, so erscheinen die sogenannten Materialien in erster Linie als Gegenstände, die für die Schreibaufgabe in den Dienst genommen werden, nicht als Verstehensgegenstände sui generis. Dies gilt unabhängig von der Frage, welche Komplexität die eingebrachten Materialien haben. Gegen eine solche Funktionalisierung von Texten muss die Literaturdidaktik ein Veto einlegen und auf die Anerkennung des Rezeptionsanspruchs gerade auch literarischer Medien dringen. Dass dieser nicht umstandslos einzulösen ist, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass insbesondere literarische Texte angesichts von Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit herausfordernde Interpretationsräume eröffnen und Verstehen nicht umstandslos zu haben ist […] (Pieper 2018, S. 268).

3.1

Kleine Formen beim materialgestützten Schreiben: Zieltextsorten, Materialien und kleine Aufgaben

Der Aufgabentyp ist im Kontext der Betrachtung kleiner Formen mindestens in zweifacher Weise interessant: Zum einen sind mit dem Aufgabentyp veränderte Zieltextsorten und veränderte Formen der Aufgabensituierung entstanden (vgl. Lehnen 2018b), die sich als neue kleine Formen allmählich im Deutschunterricht etablieren und in diesem Sinne noch nicht den Status fester didaktischer Gattungen haben. Zum anderen stellen die zu verwendenden Materialien beim Schreiben ihrerseits besondere kleine Formen dar. Denn Materialien können dabei aus kurzen (oder gekürzten) Texten und Artikeln, Aphorismen, Glossen oder Romanausschnitten bestehen. Vor allem jedoch bestehen sie aus nichtlinearen ›kleinen‹ Materialien und Texten wie Diagrammen, Tabellen, Schaubildern, Fotos und Bildern, aber auch Forenbeiträgen, Facebookeintragungen,

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

183

Chatdialogen oder Blogkommentaren, wie die Abbildung oben (Abb. 1) grob skizziert (vgl. für Beispiele Kap. 3.2). Zieltextsorten Eine Besonderheit des materialgestützten Schreibens ist im schulischen Kontext die Einführung neuer Zieltextsorten. Als solche Zieltextsorten sind z. B. Kommentare, Texte für Programmhefte, Flyer, Briefe, Glossen, Stellungnahmen, Beiträge für die Schülerzeitung oder schulbezogene Veröffentlichungen, Reden, Radiofeatures, Debattenbeiträge etc. vorgesehen (vgl. für eine Übersicht von Zieltextsorten in bisherigen Materialien und Aufgabensammlungen Rezat / Lehnen 2017, S. 36f.). Da es sich bei dem Aufgabentyp um ein Prüfungsformat des Abiturs handelt, sind die Zieltextsorten überwiegend in kleinen Formen zu verorten, die innerhalb der vorgegebenen Prüfungszeit von wenigen Stunden zu bewältigen sind. Das gilt gleichermaßen für die zur Verfügung gestellten Materialien. Sie resultieren aus der Verknappung, Verdichtung oder anderweitigen Aufbereitung verschiedener Originalquellen, um innerhalb enger Zeitvorgaben bearbeitbar zu bleiben (Textauszüge, Interviewausschnitte, Einzelaussagen aus Foren, Chats etc.). Einerseits brechen diese neuen kleinen Formen in Gestalt neuer Zieltextsorten und Materialien das Repertoire der standardisierten didaktischen Gattungen (Interpretation, Analyse, Erörterung etc.) und zu bearbeitenden Ganztexte auf und eröffnen neue Möglichkeitsräume für das schulische Schreiben, die sich wie erwähnt an realen Bedingungen außerschulischer – insbesondere beruflicher und wissenschaftlicher – Textproduktion orientieren. Darin liegt eine besondere Chance für das Lernen im Bereich des Lesens und Schreibens. Andererseits gehen mit dieser Ausrichtung veränderte Anforderungen beim Schreiben einher. Das Funktionsspektrum von Schreibanlässen und Textsorten erweitert sich und der (relativ überschaubare) Kanon schulischer Zieltextsorten des Deutschunterrichts wird aufgeweicht. Dies bedarf schreibdidaktischer ›Anleitungen‹ oder Modelle, die den Erwerb zieltextsortenspezifischer Kompetenzen unterrichtlich anbahnen: Wie gestaltet man eine Rede? Wie ist ein Radiofeature aufgebaut? Wie funktioniert ein überzeugender Debattenbeitrag? Was unterscheidet den Kommentar vom Essay? Bei der genannten Fülle potentieller Zieltextsorten ist die Arbeit mit Textmustern allenfalls exemplarisch zu leisten und kaum für alle in Frage kommenden Zieltextsorten leistbar. Die Innovationskraft neuer kleiner Formen im Deutschunterricht stößt hier rein pragmatisch an Grenzen. Ebenso stellt das ausgewählte und für die konkrete Schreibaufgabe zur Verfügung gestellte Material eine Herausforderung dar, weil heterogene Materialien gelesen und verstanden und einem sinnvollen Selektionsprozess unterzogen werden müssen. Gleichzeitig müssen SchülerInnen beim

184

Katrin Lehnen

Lesen erkennen, worin potentielle Zusammenhänge zwischen den Materialien bestehen und wie sie sie für ihren eigenen Text nutzen wollen. Auch hier kann vieles nicht umfassend zum Gegenstand des Unterrichts werden: Wie erläutert man Diagramme und wie bezieht man sich sinnvoll auf sie im laufenden Text? Wie können kontroverse Aussagen und Positionen aus den Materialien miteinander verbunden und im eigenen Text angemessen integriert werden? Wie können Zusammenhänge und Bezugnahmen auf fremde Quellen sprachlich realisiert und variiert werden?4 Die Lösungen, die sich dafür mit Blick auf die Abituraufgaben in Deutschland abzeichnen, sind länderspezifisch unterschiedlich und bleiben oftmals unbefriedigend. So wird das neue Format des materialgestützten Schreibens in einzelnen Bundesländern häufig stark auf wenige Zieltextsorten beschränkt (für einen Ländervergleich siehe die Beiträge von Buß 2018, Lutter 2018, Stadter 2018 und Tetling 2018 in Feilke et al. 2018) und dabei stark an bekannte Formate der Schule angelehnt. Damit entsteht eine Begrenzung, die den Aufgabentyp potential wieder erstarren lässt und erneut eine didaktische Gattung etabliert, die ein Eigenleben zu führen droht, noch bevor die spezifischen Eigenschaften materialgestützten Schreibens hervortreten können. Materialien Mit Blick auf die Materialien werden kleine Formen in zweifacher Hinsicht virulent: Zum einen etablieren sich mit dem Aufgabentyp qualitativ andere und neue Texte bzw. Artefakte, die in ihrer Kürze und Medienspezifik (z. B. Forenbeiträge, Facebookpostings etc.) hybride Formen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit hervorbringen und vom argumentativ entfalteten Bezugstext wegführen, der die schulische Tradition bestimmt. Zudem verlangen auch nichtlineare und multimodale Quellen andere Praktiken der Lektüre und Aufbereitung. Insbesondere der Transfer von nicht-linearen Quellen zum eigenen Text ist dabei bislang kaum untersucht (vgl. Arnold 2018). Zum anderen bestehen Materialien häufig aus gekürzten und zusammengeschnittenen Textauszügen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass Originaltexte in ihrer Länge angesichts des Primats vieler und vielfältiger Quellen oft nicht zu bewältigen sind. Das bedingt bei der Materialentwicklung und -zusammenstellung die oft schwierige, aber im 4 In der Deutschdidaktik hat sich über die hier genannten Herausforderungen eine intensive Debatte entfaltet. Sie ist insbesondere im Debattenteil der Zeitschrift Didaktik Deutsch, H. 42 und 43 (2017) geführt worden (vgl. auch Feilke / Steinmetz 2019, S. 152 und Tetling 2019, S. 243). Eine der wenigen empirischen Studien, die sich u. a. mit der Frage beschäftigt, ob und wie es SchülerInnen gelingt, in ihren Texten nicht nur additiv Inhalte und Aussagen aus den Materialien aneinanderzureihen, sondern zu einem synthetischen Darstellungsmodus zu gelangen, ist die Dissertation von Lisa Schüler (Schüler 2017).

185

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

Schulalltag übliche Herausforderung der Textkürzung und Selektion mit der potentiellen Gefahr, Zusammenhänge auseinanderzureißen und Argumentationen ihrer Stringenz zu berauben. Kleine Aufgaben Eine weitere kleine Form, die bisher nicht Gegenstand der Betrachtung war, ergibt sich mit den sog. kleinen Aufgaben. Dabei handelt es sich um ein didaktisches Konzept, das Feilke et al. (2016) in ihrem Buch »Materialgestütztes Schreiben lernen« als Brücke zur Bewältigung der komplexen Lese- und Schreibanforderungen bei materialgestützten Aufgaben einführen (vgl. ebd. S. 51ff.). Das Konzept besteht kurz gesagt aus folgender Idee: Um spezifische Lernanforderungen materialgestützten Schreibens besser zu bewältigen, wird der übergeordnete Prozess dekomponiert und in Form von kleinen, separaten Aufgaben unterstützt, die einen bestimmten Kompetenzfokus haben. Sie werden in Form von Aufgabenblättern realisiert. Eine solche kleine Aufgabe kann z. B. darin bestehen, dass SchülerInnen für die Wiedergabe fremder Aussagen aus Texten konkrete Formulierungshilfen in Form von Formulierungsvarianten erhalten (vgl. Beispielaufgabe Kap. 3.2), die sie beim Schreiben kleiner Textstücke erproben sollen. Schreibaufgabe

Material 1 Interview

..........

Sie behaupten, dass unsere Wahrnehmung eines Chagall-Gemäldes bis zu einem gewissen Grad von unserer Mu!ersprache abhängt. Inwiefern? Ich habe Chagall als Beispiel genommen, weil in seinen Gemälden viel Blau vorkommt. Und für unsere Wahrnehmung von Blau ist entscheidend, ob unsere Mu&ersprache ein Wort für Blau kennt. Nicht alle Sprachen kennen eins. Sehr viele Sprachen, wahrscheinlich sogar die meisten, machen keinen Unterschied zwischen Grün und Blau, für sie sind das zwei Scha$erungen derselben Farbe. Wenn unsere Sprache uns aber darauf trainiert, Blau und Grün als zwei verschiedene Farben wahrzunehmen, trainiert sie unseren Sinn dafür, den Unterschied zwischen diesen Farben zu übertreiben. […] Es geht in Ihrem Buch viel um Farben. Warum sind diese, was Sprache angeht, so ein spannendes Thema? Weil die Sprachen mit Farben so unterschiedlich umgehen. Viele Sprachen unterscheiden überhaupt nur zwischen drei Farben: Schwarz, Weiß und Rot; wobei dann etwa alle dunklen Farben zu Schwarz gezählt werden. Für die ist es ganz natürlich, dass der Himmel schwarz ist. Die Frage ist: Hat die jeweilige Methode, wie unsere Sprache das Farbspektrum unterteilt, eine Auswirkung darauf, wie wir Farben tatsächlich wahrnehmen? Und die Antwort lautet: ja. Die Unterschiede, die man bisher hat beweisen können, sind nicht dramatisch, aber es gibt sie.

Material 2

Material 3

..........

Diagramm

Lesen

Planen

(Material sichten und erschließen))

(Materialau!ereitung)

Überarbeiten

Formulieren

..........

Monographie (Auszüge)

..........

2.2 Sprache und Denken: Die Sapir-Whorf-Hypothese [...] Die amerikanischen Ethnolinguisten9 E. Sapir und B.L. Whorf, sein Schüler, erforschten nordamerikanische Indianersprachen, von denen besonders das Hopi10 bekanntgeworden ist, weil Whorf es in seinen Schri#en (1922) den von ihm so bezeichneten SAE-Sprachen (= Standard Average European) gegenüberstellt. Er beschriebt für das Hopi ein vom SAE völlig verschiedenes sprachliches Erfassen von Zeitabläufen: Sta& einer Dreiteilung der Verbaltempora in Vorzei'gkeit – Gleichzei'gkeit – Nachzeitigkeit unterscheidet das Hopi nur zwischen einer gemeinsamen Form für schon Geschehenes (= unsere Vorzei'gkeit) und jetzt Sta%indendes (= unsere Gleichzeitigkeit) und andererseits einer Form für Zukün#iges, Erwartetes, Erho"es, Befürchtetes usw.11 Für die Verwendung des Plurals von Substantiven zeigt Whorf ebenfalls grundlegende Unterschiede zwischen Hopi und SAE auf.12 Eine empirische Nachprüfung vor einigen Jahren hat Whorfs Feststellungen über das Hopi z. T. in Frage gestellt13 – wie die Sapir-Whorf-Hypothese in ihrer gesamten Aussage, das sei vorausgeschickt, unter Linguisten sehr umstri&en ist. Die Aussage von Whorfs Hopi-Beispielen lautet: Verschiedene Sprachgemeinscha#en erfassen die Wirklichkeit sprachlich in ganz verschiedener Weise. Was Whorf für die Morphologie (= Formlehre) belegt hat, gilt auch für den Wortschatz. Das bekannteste hierfür zi'erte Beispiel sind die Farbadjektive: deutsch englisch französisch kymrisch14 gwyrdd grün green vert blau

blue

bleu

grau

grey

gris

braun

brown

brun

glas

Material 3 Schema

Textprodukt (Zieltext)

llwyd

Abb. 3. Schreibsetting beim materialgestützten Schreiben

Ein solcher Kompetenzfokus kann sich auf verschiedene Anforderungen im Schreibprozess beziehen, so wie sie in Abb. 3 gezeigt werden. Feilke und Steinmetz (2018) führen dazu aus:

186

Katrin Lehnen

Genauso wichtig wie große Aufgaben sind in Lernsituationen kleine Aufgaben. Sie haben die Funktion, einerseits den Arbeitsprozess in Teilschritte zu dekomponieren – etwa zur Texterschließung, zum Planen usw. – und somit die Aufgabenbewältigung zu unterstützen. Andererseits sind sie dafür da, einen Erwerbsfokus zu bestimmen. Kleine Aufgaben stützen der Idee nach die didaktische Fokussierung von Teilproblemen, die für den Unterricht auch über die einzelnen Aufgaben hinaus curricular relevant sind und fördern auf diese Weise kontinuierlich die Ausbildung deklarativen Wissens und prozeduraler Kompetenzen, etwa zur Metaphernanalyse, zum vergleichenden Lesen, zur Analyse argumentativer Texte oder zur Redewiedergabe (ebd., S. 156).

Feilke et al. (2016) schlagen außerdem vor, kleine Aufgaben gezielt für die Auseinandersetzung mit neuen Zieltextsorten zu nutzen: »Sinnvoll ist in jedem Fall, kleine Aufgaben zur Zieltextsorte anzubieten, weil entsprechendes Vorwissen (zur Petition, zum Essay oder zum Radio-Feature) in den seltensten Fällen vorausgesetzt werden kann« (ebd., S. 55). Die bisherigen allgemeinen Ausführungen zum Aufgabentyp und seiner Affinität zu kleinen Formen sollen im Folgenden an einem konkreten Aufgabenbeispiel veranschaulicht werden. Dazu wird ein Aufgabenbeispiel aus der Aufgabensammlung von Feilke et al. (2016) herausgegriffen, das den Zusammenhang von materialgestützter Schreibaufgabe, Aufgabensituierung, Zieltextsorte, Materialien und kleiner Aufgaben veranschaulicht – und dabei zeigt, in welcher Weise kleine Formen das Prinzip der Aufgabenkonstruktion und Aufgabenbearbeitung prägen.5

3.2

Beispielaufgabe zum materialgestützten Schreiben: Kann es eine geschlechtergerechte Sprache geben?

Das Beispiel ist im Bereich Sprache des Deutschunterrichts angesiedelt und wendet sich an SchülerInnen der Oberstufe (11.–13. Schuljahr). Bei der Aufgabe geht es um das Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit, eine linguistische Grundfrage, die hier am Beispiel der Frage nach geschlechtergerechter Sprache thematisiert wird (Feilke et al. 2016, S. 246ff.). Das Thema der geschlechtergerechten Sprache hat einerseits mit Fragen des Sprachsystems (hier : generisches Maskulinum) und andererseits mit Sprachpolitik und Sprachgebrauch zu tun. Die Aufgabe fragt danach, ob und wie Geschlecht bzw. Gender in der Sprache angemessen repräsentiert werden kann, und ob und wie die Gen5 Die Aufgaben des Bandes wurden von den AutorInnen des Buches selbständig entwickelt. Es handelt sich ausschließlich um Lernaufgaben mit teils sehr vielen unterschiedlichen Materialien, die im Unterricht eingesetzt und über mehrere Unterrichtsstunden verteilt oder als Unterrichtsprojekt genutzt werden können. Die Aufgaben können zu Prüfungszwecken reduziert werden.

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

187

dermarkierung zur Wahrnehmung von Wirklichkeit beiträgt. Die Gendermarkierung ist in jüngster Zeit beispielsweise am sog. Gendersternchen (z. B. Leser*innen) oder an Fragen des dritten Geschlechts diskutiert worden. Mit rechtspopulistischen Tendenzen sind Genderfragen (Stichwort »Political Correctness«, »Genderwahn« und »Gender-Unfug«) in neuer Weise Gegenstand von Politik und Polemik geworden. Kleine Formen – die Aufgabenstellung Die konkrete, übergeordnete Aufgabe an die SchülerInnen lautet: Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Die Wochenzeitung DIE ZEIT hat einen Schreibwettbewerb für AbiturientInnen zu der Frage ausgeschrieben: »Kann es eine geschlechtergerechte Sprache geben?«. Hinter der Preisfrage verbirgt sich der Wunsch, durch pointierte Textbeiträge eine Debatte zu Grenzen und Möglichkeiten eines geschlechtergerechten Sprachgebrauchs gerade auch unter jungen Menschen anzuregen. Verlangt sind eigenständige, sachlich informierende Artikel zu o.g. Frage, die sich auf ausgewählte Argumente aus den Materialien stützen. Die besten 10 eingereichten Artikel werden von einer Jury aus JournalistInnen und SprachwissenschaftlerInnen mit bis zu 500 E prämiert und in der der ZEIT in der Rubrik Wissenschaft im Form eines Kontroversendossiers mit dem Titel »Sprache und Geschlecht: Kann es eine geschlechtergerechte Sprache geben? Eine Frage, zehn Antworten« veröffentlicht. Schreiben Sie einen ca. zweiseitigen Artikel, in dem Sie argumentieren, welche Möglichkeiten, aber auch welche Grenzen für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch bestehen. Beziehen Sie sich auf Informationen, Argumente und Begründungen aus den Ihnen vorliegenden Materialien und stützen Sie Ihre Ausführungen durch Zitate und Belege aus den Texten. Sie können alle Informationen aus allen Materialien nutzen, mindestens aber vier aus M2 bis M8. Abb. 4. Materialgestützte Schreibaufgabe »Geschlechtergerechte Sprache« (Feilke et al. 2016, S. 246ff.)

Das Beispiel der Aufgabe zeigt, dass eine konkrete Situierung vorgenommen wurde, bei der ein Schreibanlass (Wettbewerb), ein Zieltext (Artikel in der ZEIT) mit bestimmter Funktion (Debatte anregen) und eine Adressatengruppe (Jury von JournalistInnen und SprachwissenschaftlerInnen, später dann ZEIT-LeserInnen) ausgewiesen wird. Die Idee bei Situierungen dieser Art ist, dass für die Lernenden ein Zweck ihres schriftlichen Handelns ersichtlich wird. Die Situie-

188

Katrin Lehnen

rungen lassen sich aber auch als Miniaturen begreifen. Sie fangen im Kleinen einen Kosmos ein, stellen aber im Wesentlichen nur eine ›als ob‹-Situation dar : Weder der ZEIT-Schreibwettbewerb existiert, noch die anderen in der Schreibaufgabe formulierten Situationsbedingungen. Die Aufgabe ist wie alle Aufgaben im Deutschunterricht eine artifizielle Lernaufgabe, die den Lernenden bestimmte Kompetenzen vermitteln und eine bestimmte Perspektive eröffnen möchte. Im Falle dieser Aufgabe geht es auch um die Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen. Teilhabe bedeutet, unterschiedliche Argumente zu erkennen und zu verstehen, aber auch den fachlichen Zusammenhang (hier : generisches Maskulinum) zu erschließen. Die Aufgabe verbindet fachliches Wissen der Linguistik mit Schreibanforderungen des Argumentierens. Und selbst wenn, wie in diesem Beispiel, kein echter Schreibwettbewerb hinter der Aufgabe steckt, sind leicht auch Kontexte denkbar und konstruierbar, die die Echtheit solcher Schreibanlässe ermöglichen (z. B. ein entsprechender Schreibwettbewerb in der Schülerzeitung).

Kleine Formen – die Materialien Den SchülerInnen werden bei dieser Aufgabe acht Materialien zur Verfügung gestellt, die für die Zwecke des Beitrags hier nur grob skizziert werden sollen (vgl. Feilke et al 2016, S. 248ff.). – Material 1 stellt eine Karikatur in einer Bilderfolge dar, bei der eine chauvinistisch vorgetragene Kritik am gendersensiblen Sprachgebrauch humoristisch entlarvt wird. – Material 2 ist eine Zeitungsnachricht aus der Frankfurter Rundschau, in der von einer Zürcher Gemeinde berichtet wird, die ihre Gemeindeordnung komplett in weiblicher Form formuliert und damit den Widerstand einiger Männer ins Leben gerufen hat. Dazu ein kurzer Ausschnitt aus dem Artikel: ZÜRICH, 22. September (epd). Die Männer in der Zürcher Gemeinde Wädenswil setzen sich energisch dagegen zur Wehr, in der neuen Gemeindeordnung als weiblich gekennzeichnet zu werden. In dem Text, der am Wochenende vom Volk gebilligt werden soll, ist ausschließlich von Amtsinhaberinnen, Beamtinnen, Gemeinde- und Stadträtinnen die Rede. Die Männer seien grundsätzlich mitgemeint, heißt es in der Präambel (…). – Material 3 liefert einen Auszug aus dem DUDEN zu Personenbezeichnungen im Deutschen. Sie werden im Zusammenhang des generischen Maskulinums erläutert. Vorgestellt werden die im Deutschen möglichen Formen der Differenzierung und Bezeichnung von Personengruppen. – Material 4 ist ein wissenschaftlicher Beitrag aus einer Einführung zum Thema Sprache und Geschlecht unter dem Aspekt Generisches Maskulinum und Personenwahrnehmung. Der Text ist von der Sprachwissenschaftlerin Klann-Delius.

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

189

– Material 5 ist ein Auszug aus der Handreichung für Frauenbeauftragte der Universität München. Dort beschreibt die Autorin, Martina Werner, warum die Ausweisung des weiblichen Geschlechts aus ihrer Sicht eine doppelte Diskriminierung von Männern beinhaltet. Ein kurzer Auszug aus dem Material: Das Deutsche hat in diesem Fall nicht die Möglichkeit, »Männlichkeit« explizit zu kodieren. Die Form Studentinnen bezeichnet eindeutig ›weibliche Studenten‹, eine sprachliche Entsprechung, Männlichkeit zu versprachlichen gibt es nicht in dieser expliziten Form. Selbstverständlich kann die Form Studenten durch bestimmte ko(n)textuelle Einbettungen (z. B. in einem Satz) eindeutig »vermännlicht« werden, eine eindeutig movierte Form, wie sie für das Femininum existiert, gibt es jedoch nicht. Genau genommen macht die Doppelform zwar die Frauen sichtbar, diskriminiert allerdings gleichzeitig die Männer. Warum jedoch dem herkömmlichen Sprecher diese sprachliche Nicht-Sichtbarmachung der Männer entgeht, liegt an der starken Konventionalisierung der Doppelform. Sie ist dafür »bekannt«, geschlechtergerecht zu sein. Eine weitere Hinterfragung hat in dem hier skizzierten Kontext nie stattgefunden. – Material 6 ist ein persönlicher, polemisch-humoristisch zugespitzter Erfahrungsbericht von Luise Pusch, die als eine der ersten deutschen Sprachwissenschaftlerinnen feministische Linguistik praktiziert hat und die in dem Text persönliche Diskriminierungserfahrungen durch das generische Maskulinum beschreibt. Zur Anschauung sei hier aus dem Anfang des Textes zitiert: In meinem Paß steht: »Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher.« Ich bin aber kein Deutscher. Hätte ich je in einem Deutschaufsatz geschrieben, ich sei »Deutscher«, so wäre mir das Maskulinum als Grammatikfehler angestrichen worden. Ich bin Deutsche. Es mu¨ ßte also heißen: »Der Inhaber dieses Passes ist Deutsche.« Nein, das ist auch falsch. Zwar gilt es nicht als Fehler, wenn ich, obwohl weiblich, u¨ ber mich sage: »Ich bin der Inhaber dieses Passes.« Genauso korrekt ist aber Inhaberin. Und zusammen mit Deutsche ist nur Inhaberin richtig: »Die Inhaberin dieses Passes ist Deutsche.« Im Paß meines Bruders steht derselbe Satz wie in meinem. Er hat sich nie daran gestört. Wieso sollte er auch? Der Satz ist ihm auf den Leib geschneidert. Aber wenn da stu¨ nde »Die Inhaberin dieses Passes ist Deutsche«, so wäre das nicht nur falsch, sondern eine Katastrophe. Die Paßbehörden wu¨ rden sich vor Männerbeschwerden kaum retten können, denn welcher Mann läßt sich schon gern »Inhaberin« und »Deutsche« schimpfen? – Material 7 ist ein Auszug aus einem wissenschaftlichen Text der Soziologin Ruth Ayaß, in der sie das Problem der erschwerten Textverständlichkeit bei konsequenter Beid-Nennung von Geschlechtern heraushebt und Grenzen der Sichtbarmachung thematisiert. – Material 8 ist ein Auszug aus dem Sprachblog von Anatol Stefanowitsch, der ebenfalls Sprachwissenschaftler ist und mit dem Blog ein populärwissenschaftliches Kommunika-

190

Katrin Lehnen

tionsformat unterhält, in dem er linguistische Themen erklärt und dabei klar Position für einen konsequent gendersensiblen Sprachgebrauch bezieht.

Die Materialien liefern ein breites Spektrum unterschiedlicher Aussagen, Meinungen und Positionen, die sich auf sprachstrukturelle, sprachpolitische und sprachgebrauchsorientierte Fragen richten. Die in den Materialien hervortretenden Argumente sind gegensätzlich und kontrovers. Sie sind gleichermaßen anspruchsvoll, weil sprachsystematische Aspekte verstanden werden müssen wie auch darauf aufbauende Argumente zur Wahrnehmung und Sprachpolitik. Damit beinhaltet die Aufgabe starke inhaltliche Herausforderungen an das Textverstehen wie auch an das Durchdringen der jeweiligen Argumente. Daraus ergibt sich auch ein hoher Anspruch an das Aufbereiten und Darstellen von Argumenten im eigenen Text. Denn die AutorInnen der einzelnen Texte beziehen sich nicht aufeinander. Die inhaltlichen Bezüge, die dennoch bestehen, müssen von den SchülerInnen herausgearbeitet werden. Die einzelnen Materialien sind nie länger als eine Seite. Mit Ausnahme der Karikatur und der Zeitungsmeldung wurden alle Texte gekürzt. Das war auf zweifache Weise notwendig und schwierig: Notwendig, um die gegensätzlichen Argumente besser hervorstechen zu lassen und den Lektüreaufwand überschaubar zu halten. Schwierig, weil damit immer auch Kontextverluste, Verzerrungen und Verdichtungen einhergehen, die im Original anders gedacht sind. Das ist hier sozusagen der Preis der kleinen Formen mit Blick auf das Material – ähnlich wie die fehlende Echtheit der Aufgabe der Preis für die kleine Form diskursiven Schreibens ist.

Kleine Formen – Arbeitsblatt mit kleiner Aufgabe In dem Wissen, dass diese Aufgabe vor allem auf diskursiv-argumentative Kompetenzen abhebt, richtet sich eine der sog. kleinen Aufgaben zu dieser Aufgabe auf die Auseinandersetzung mit Textprozeduren des (konzessiven) Argumentierens. Dazu wurde ein Arbeitsblatt entwickelt, das die SchülerInnen anhand eines konkreten Beispiels aus zwei der zur Verfügung gestellten Materialien (M7 und M8) direkt auf Gegensätze in der Argumentation stößt. Die kleine Aufgabe stützt sich auf die Idee, dass die SchülerInnen modellhaft vorgeführt bekommen, wo gegensätzliche Argumente in den Bezugsmaterialien liegen. Im ersten Teil werden ihnen potentielle Verbindungen zwischen Aussagen an direkten Zitaten aus den Bezugsmaterialien exemplarisch gezeigt. Die Zitate selbst und das didaktische Arrangement der direkten Gegenüberstellung auf dem Arbeitsblatt lassen sich – dies nur nebenbei – ihrerseits wiederum als kleine Formen innerhalb des Gesamtarrangements des Arbeitsblattes verstehen. Der hier abgebildete Ausschnitt des Arbeitsblatts hat erläuternden Charakter. Den

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

191

Abb. 5. Kleine Aufgabe zum Argumentieren (Ausschnitt I)

SchülerInnen wird zunächst erklärt, worin der Gegensatz besteht: »Ayaß ist der Ansicht, die Verständlichkeit leide durch die Beid-Nennung, Stefanowitsch ist gegenteiliger Ansicht. Wie lassen sich die gegensätzlichen Argumente im Text zusammenbringen?« Darauf aufbauend wird eine entsprechende Formulierung vorgeführt und die SchülerInnen werden aufgefordert, eigene Formulierungen auszuprobieren. Dafür werden ihnen sprachliche Formulierungshilfen zur Verfügung gestellt (siehe Abb. 6). Das Arbeitsblatt zeigt die Art der Verdichtung und Miniaturisierung komplexer Sachverhalte. Es fokussiert auf einen kleinen Ausschnitt argumentativer Schreibkompetenzen, die hier auf das Formulieren auf Mikroebene gerichtet sind. Es geht also in diesem Beispiel nicht um die Makrostruktur und allgemeine Muster des Argumentierens, sondern sehr engmaschig um Möglichkeiten, auf Satz- und Absatzebene fremde Aussagen und Argumente im eigenen Text wiederzugeben. In diesem Sinne stehen sprachliche Prozeduren der Redewiedergabe und des intertextuellen, quellengestützten Formulierens im Mittelpunkt.

192

Katrin Lehnen

Ayaß ist der Ansicht, die Verständlichkeit leide durch die Beid-Nennung, Stefanowitsch ist gegenteiliger Ansicht. Wie lassen sich die gegensätzlichen Argumente im Text zusammenbringen? Das folgende Beispiel nutzt bestimmte sprachliche Mittel, um Gegensätze auszudrücken. Einerseits handelt es sich um wortübergreifende Texthandlungen (Kursivdruck), andererseits um Konnektoren, die Texthandlungen verbinden (Fettdruck). Formulierungsbeispiel: Gegensätze auszudrücken Während Ayaß davon ausgeht, dass die „konsequente Beid-Nennung“ meist „auf Kosten von Verständlichkeit“ geht (Ayaß, M5), vertritt Stefanowitsch die Ansicht, dass geschlechtergerechte Sprache „keinen negativen Einfluss auf die Verständlichkeit und Lesbarkeit von Texten“ hat (Stefanowitsch, M6). Er begründet dies mit den Ergebnissen empirischer Untersuchungen, die zeigen, dass....Demgegenüber argumentiert Ayaß auf Ebene des grammatischen Systems und führt an, dass... Entwickeln Sie eine eigene Formulierung, die die Gegensätze verdeutlicht. Nutzen Sie dafür die sprachlichen Mittel aus folgender Tabelle. Sprachliche Mittel und Prozeduren, um Gegensätze zum Ausdruck zu bringen !

Sprachliche Texthandlungen

X geht davon aus/ X ist davon überzeugt/ X vertritt die Ansicht/die Position/die Haltung X begründet Y mit/X führt als Begründung an/ X stützt sich auf/ X sieht es als erwiesen an/ Für X ist Y/ Für X steht fest

!

Konnektoren (adversativ)

während, obwohl, zwar – aber, hingegen, obwohl, jedoch, dennoch, wenngleich, demgegenüber

Weitere Formulierungshilfen in: Kühtz, Stefan (2011): Wissenschaftlich formulieren. Tipps und Textbausteine für Studium und Schule. Paderborn: Schöningh UTB, S. 85ff.

Abb. 6. Kleine Aufgabe zum Argumentieren (Ausschnitt II)

4.

Sehr kurzes Fazit

Der Beitrag hat zu zeigen versucht, mit welcher Vehemenz und Konsequenz kleine Formen das schulische Geschehen durchdringen. Die für den Deutschunterricht vorgetragenen und am Beispiel des neuen Aufgabentyps materialgestützten Schreibens skizzierten Überlegungen zu Verknappungen, Verdichtungen und Miniaturen sind in weiten Teilen auf andere Unterrichtsfächer übertragbar, weil Lernen grundlegend etwas mit Modellen, Scaffolding und Reduktion zu tun hat – kleine Formen sind dafür konstitutiv. Anstelle einer Zusammenfassung und Wiederholung der bisherigen Ausführungen, am Schluss ein kleines passendes Zitat von Georg Christoph von Lichtenberg zur kleinen Form in Hand- und Lehrbüchern: Zu einer allgemein brauchbaren Grundlage zu Vorlesungen sind die meisten Handbücher der Physik zu weitläufig; es fehlt ihnen an der aphoristischen Kürze und der Präzision des Ausdrucks, der zu einem solchen gehört. Ein zu einer Grundlage brauchbares Lehrbuch muß nur den Kern seiner Wissenschaft oder Kunst in der gedrängtesten Kürze enthalten, daß der Lehrer in jeder Zeile leichte Veranlassung findet das Angegebene zu erklären (von Lichtenberg, Sudelbücher II 1765–1770, Heft H1, S. 175).

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

193

Quellenverzeichnis Arnold, Cynthia (2018): »Vom Diagramm zum Text: Herausforderungen beim medialtransformierenden Schreiben. Eine empirische Studie zu Transformationsprozessen in materialgestützten Schreibsettings der Sekundarstufe II«, in: Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael (Hg.): Materialgestütztes Schreiben. Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven der Forschung. Stuttgart. Buß, Angelika (2018): »Das materialgestützte Schreiben – Erfahrungen aus Berlin-Brandenburg«, in: Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael (Hg.): Materialgestütztes Schreiben. Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven der Forschung. Stuttgart. Christmann, Ursula / Groeben, Norbert (1999): »Psychologie des Lesens«, in: Franzmann, Bodo / Hasemann, Klaus / Löffler, Dietrich / Schön, Erich (Hg.): Handbuch Lesen. München, S. 145–223. Deckert, Lena / Siebert-Ott, Gesa (2019): »Schreibend an fachlichen Diskursen partizipieren: Ergebnisse einer Interventionsstudie zur Förderung der Textkompetenzen von Lehramtsstudierenden«, in: Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin/ Steinseifer, Martin (Hg.): Eristische Literalität. Wissenschaftlich streiten – Wissenschaftlich schreiben. Heidelberg. DFG-Graduiertenkolleg »Kleine Formen« (2018): Workshop »Kleine Formen für den Unterricht – Unterricht in kleinen Formen« (4.–6. 07. 2018, HU Berlin) http://www.klei ne-formen.de/veranstaltung/kleine-formen-fuer-den-unterricht-unterricht-in-klei nen-formen/. Feilke, Helmuth (2013): »Bildungssprache und Schulsprache am Beispiel literal-argumentativer Kompetenzen«, in: Becker-Mrotzek, Michael / Schramm, Karen / Thürmann, Eike / Vollmer, Johannes E. (Hg.): Sprache im Fach – Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster, S. 113–130. Feilke, Helmuth (2015): »Transitorische Normen – Argumente zu einem didaktischen Normbegriff«, in: Didaktik Deutsch, H. 20/38, S. 116–135. Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin (2011a): »Wie baut man eine Lernumgebung für wissenschaftliches Schreiben? Das Beispiel SKOLA«, in: Würffel, Nicola / Schmenk, Barbara (Hg.): Drei Schritte vor und manchmal auch sechs zurück. Internationale Perspektiven auf Entwicklungslinien im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Festschrift für Dietmar Rösler zum 60. Geburtstag. Tübingen. (Reihe: Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), S. 269–282. Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin (2011b): »Wissenschaftlich referieren – Positionen wiedergeben und konstruieren«, in: Der Deutschunterricht, H. 5 (Themenschwerpunkt: Wissenschaftliches Schreiben), S. 34–44. Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael (Hg.) (2018): Materialgestütztes Schreiben. Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven der Forschung. Stuttgart. Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael (Hg.) (2016): Materialgestütztes Schreiben lernen. Grundlagen – Aufgaben – Materialien. Sekundarstufen I und II. Braunschweig. Feilke, Helmuth / Steinmetz, Michael (2019): »Materialgestütztes Schreiben für den Deutschunterricht«, in: Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz,

194

Katrin Lehnen

Michael (Hg.): Materialgestütztes Schreiben. Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven der Forschung. Stuttgart. Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin (2019): »Streiten lernen: Zur didaktischen Modellierung eristischer Literalität«, in: Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Steinseifer, Martin (Hg.): Eristische Literalität. Wissenschaftlich streiten – Wissenschaftlich schreiben. Heidelberg. Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Schüler, Lisa / Steinseifer, Martin (2016): »Didaktik eristischer Literalität. Zu Kontroversen schreiben und darüber sprechen«, in: Bräuer, Christoph / Brinkschulte, Melanie (Hg.): Akademisches Schreiben – Lehren und Lernen. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST), H. 88. Duisburg, S. 145–173. Gamper, Michael / Mayer, Ruth (2017): »Erzählen, Wissen und kleine Formen – Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Kurz und Knapp – Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zu Gegenwart. Bielefeld, S. 7–22. Grüner, Gustav (1967): »Die didaktische Reduktion als Kernstück der Didaktik. Ausgewiesen an Beispielen der Berufsschul-Didaktik«, in: Die deutsche Schule, H. 7/8, S. 414–430. Lehnen, Katrin (2014): »Gemeinsames Schreiben«, in: Feilke, Helmuth / Pohl, Thorsten (Hg.): Schriftlicher Sprachgebrauch. Texte verfassen. Baltmannsweiler (Reihe: Deutschunterricht in Theorie und Praxis 4), S. 414–431. Lehnen, Katrin (2018a): »Digitales Schreiben – Zur Veränderung literaler Praktiken«, in: Nsagou, Maryse (Hg.): Mont Cameroun Afrikanische Zeitschrift für interkulturelle Studien zum deutschsprachigen Raum, H. 13/14. Themenheft: Schreiben und Schreibkompetenzen an der Hochschule: Theoretische Überlegungen, didaktische Modelle und Perspektiven innerhalb und außerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraums, S. 25–35. Lehnen, Katrin (2018b): »›Meinst du, wir sollen das so krass wie ne Diskussion aufbauen? Eigentlich soll das ja ein Artikel sein.‹ Zur Bedeutung von Zieltextsorten beim materialgestützten Schreiben«, in: Esterl, Ursula (Hg.): ide – Informationen zur Deutschdidaktik, H. 2/2018 »Textmuster und Textsorten«. Über zentrale Vorgaben und individuelle Lernwege zur Schreibkompetenz, S. 62–73. Lichtenberg, Christoph von: Sudelbücher II, Materialhefte, Tagebücher, 1765–1770, Heft H1, 175, hg. von Promies, Wolfgang 2005. München, S. 204. Lobin, Henning (2014): Engelbarts Traum. Frankfurt am Main. Lutter, Annette (2018): »Das materialgestützte Schreiben – Bedingungen der Einführung eines neuen Aufgabenformats und erste Erfahrungen aus Schleswig-Holstein«, in: Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael (Hg.): Materialgestütztes Schreiben. Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven der Forschung. Stuttgart. Pieper, Irene (2018): »Zum Lernpotenzial des Materialgestützten Schreibens aus literaturdidaktischer Perspektive«, in: Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael (Hg.): Materialgestütztes Schreiben. Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven der Forschung. Stuttgart. Pohl, Thorsten / Steinhoff, Torsten (2010): »Textformen als Lernformen«, in: Pohl, Thorsten / Steinhoff, Torsten (Hg.): Textformen als Lernformen. Duisburg, S. 5–26. Preis-Hahn, Anjuli (2018): »Materialgestütztes Schreiben als Lernformat für StudienanfängerInnen«, in: Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael

Wissenschaftliche Miniaturen und andere kleine Formen im Deutschunterricht

195

(Hg.): Materialgestütztes Schreiben. Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven der Forschung. Stuttgart. Rezat, Sara / Lehnen, Katrin (2017): »Ästhetisch-kulturelle Erfahrungsräume materialgestützten Schreibens«, in: Grosser, Sabine / Köller, Katharina / Vorst, Claudia (Hg): Ästhetische Erfahrungen – Theoretische Konzepte und empirische Befunde zur kulturellen Bildung. Frankfurt a. M., S. 31–57. Schüler, Lisa (2017): Materialgestütztes Schreiben argumentierender Texte als Wissenschaftspropädeutik in der Oberstufe. Untersuchungen zur Textkonzeption und Textkomposition bei der Darstellung fachlicher Kontroversen. Baltmannsweiler. Stadter, Andrea (2018): »Debattenbeitrag aus der Perspektive Bayerns«, in: Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael (Hg.): Materialgestütztes Schreiben. Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven der Forschung. Stuttgart. Tetling, Klaus (2018): »Aufgabenentwicklung für zentrale Prüfungszusammenhänge im kontroversen Spannungsfels zwischen Fachdidaktik, länderspezifischen Traditionen und schulpraktischen Anforderungen: Zum Stand des materialgestützten Schreibens als Abiturformat in NRW«. In: Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael (Hg.): Materialgestütztes Schreiben. Erfahrungen aus der Praxis und Perspektiven der Forschung. Stuttgart. Wolfe, Maryanne (2018): Reader, Come Home: The Reading Brain in a Digital World. New York.

Julia Heideklang

Conrad Gesners Historia animalium: Großes Werk und kleine Formen im fächerübergreifenden Unterricht*

[…] minus tamen necessarium uidebatur in praesentia de eis conscribere, cum multi hodie erudite & utiliter de plantis scripserint & etiamnum scribant, ut de metallis eti¼ doctissime utilissimeque Ge. Agricola, … Quamobrem ad animalium historiam perpaucis nostri seculi, & fere per partes tantum tractatam, animum adieci. […]1

[…] schließlich schien es mir derzeit weniger notwendig über diese [sc. die Pflanzen] (ein Werk) abzufassen, wenn viele heute auf gelehrte und nützliche Weise über die Pflanzenwelt geschrieben haben und sogar noch schreiben, wie es auch über die Metalle auf äußerst gelehrte und nützliche Weise Georg Agricola […]. Daher habe ich mich der Geschichte der Tierwelt zugewandt, die von nur sehr wenigen aus unserer Zeit und dabei meist nur teilweise behandelt worden ist.

Aus diesem Vorhaben des Züricher Arztes, Gelehrten und Naturforschers Conrad Gesner (1516–1565)2 entstand ein naturgeschichtliches Monumentalwerk über die Tierwelt, die Historia animalium (1551–1558) – allein schon Band 1 umfasst 1.100 Seiten. Zugleich besteht dieses enzyklopädische Werk aus * An dieser Stelle möchte ich allen, die an dem Gesner-Projekttag mitgewirkt haben, ganz herzlich für ihre Mitartbeit, ihre Ausdauer und das wertvolle Feedback danken: Teil der Arbeitsgruppe waren Prof. Dr. Stefan Kipf, Sandra Berges, Christin Hartwig, Svenja Holper und Kristina Tyborski. Es beteiligten sich zudem Romuald Rickel und Heiko Niemeyer-Zepper vom Rosa-Luxemburg-Gymnasium, Elisabeth Peter von der Martin-Buber-Oberschule sowie Thomas Wagner vom Max-Planck-Gymnasium. Die Durchführung im Naturkundemuseum wäre nicht ohne Astrid Faber, PD Dr. Michael Ohl, Dr. Oliver Coleman und Dr. Jason Dunlop möglich gewesen. 1 Conradi Gesneri, Historiae animalium liber I, epistula nuncupatoria (1551), [a2r]. Dieses und alle folgenden Transkripte sowie Abbildungen basieren auf dem digitalisierten Exemplar Conradi Gesneri medici Tigurini historiae animalium liber I,… Anno 1551 (digitalisiert von der Zentralbibliothek Zürich: Signatur NNN 41; http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-1927) und wurden von mir übersetzt. 2 Zur unterschiedlichen Schreibweise des Namens Gesner vgl. Wellisch (1984, S. XIII). Für einen Überblick zu seinen Lebensdaten, dem Kontext seines umfangreichen Werkes vgl. insbesondere Leu (2016a), der in einem umfassenden Band den aktuellen Stand der Forschung zu Conrad Gesner aufgearbeitet hat und damit eine fundierte Grundlage für die Beschäftigung mit den Schriften bietet.

198

Julia Heideklang

zahlreichen Einzeldarstellungen über die behandelten Tiere (historiae) und jede historia wiederum ist zusammengesetzt aus unzähligen kleinen Formen, die Gesner gesammelt und zu einem neuen Ganzen arrangiert hat: Zitaten, Exzerpten und Anekdoten. Für Gesners Naturforschung und philologische Arbeit ebenso wie für seine Wissenschaftstexte3 erweisen sich diese kleinen Formen als konstitutiv. Im Verlauf einer didaktischen Bearbeitung ausgewählter Tierartikel4 für ein fächerübergreifendes Lernmaterial im Latein- und Biologieunterricht der Oberstufe zeigte sich, dass auch im didaktischen Kontext modernen Schulunterrichts genau dieses Bestehen aus kleinen Formen zentral ist und damit in die Beschäftigung mit diesem Autor und seiner Naturforschung einfließen sollte. Der Beitrag möchte daher am Beispiel von Conrad Gesners Historia animalium und dem daraus entstandenen Lernmaterial die Rolle der verschiedenen kleinen Formen aufzeigen. Nach einem kurzen Blick auf das Potential von neulateinischen Wissenschaftstexten für den Schulunterricht geht es um die Kriterien und Merkmale, die zu einer Auswahl aus Gesners Historia animalium für eine didaktische Bearbeitung geführt haben. Diese Auswahlkriterien hängen nicht zuletzt mit Gesners Arbeitsweise selbst zusammen, die zu wesentlichen Anteilen auf den oben genannten kleinen Formen fußt. In den Blick gelangt also ein Transformationsprozess des Originaltextes über die Rezeption und Erforschung hin zu dem daraus entwickelten Lernmaterial. Über die Betrachtung dieses Transformationsprozesses, lässt sich die Beteiligung kleiner Formen an diesen Vorgängen nachzeichnen und ihre Bedeutung für die Wissensspeicherung wie auch die Wissensbereitstellung aufzeigen. Unter abschließender Einbeziehung der Evaluationsergebnisse aus einer ersten Anwendung der Lernmaterialien im Kontext eines Projekttages im Berliner Museum für Naturkunde wird deutlich, wie wesentlich kleine Formen innerhalb der schulischen Vermittlung für die Erkenntnisgewinnung im Umgang mit Wissenschaftstexten sind. 3 Auch wenn Wissenschaftstexte nicht üblicherweise als Teil der Literatur i. e. S. begriffen werden, verwenden sie in hohem Maße literarische und rhetorische Strategien und Mittel für die jeweils intendierte Präsentation von Wissensbeständen, wie Asper (2013, S. 1–4, insb. 4) im Hinblick auf antike Wissenschaftstexte bemerkt. Ähnlich ist bereits die Feststellung Latours (1987, S.47f.), dass sich über rhetorische Strategien und textuelle Anordnung in technischen und wissenschaftlichen Texten eine Transformation der allgemeinen literarischen Texte beobachten lässt. Der Begriff ›Wissenschaftstexte‹ wird hier im Sinne der Überlegungen von Asper (2007, S. 13) verwendet, wie sie auch für frühneuzeitliche naturgeschichtliche Texte fruchtbar sind. Ergänzend werden hierbei Gianna Pomatas (2014) Darlegungen zu diesen Textformen als epistemic genres »for those kinds of texts that develop in tandem with scientific practices« (ebd., S. 2) mitgedacht. 4 Für die einzelnen historiae Gesners werde ich im Folgenden den Begriff ›Tierartikel‹ verwenden, in Abgrenzung zu heutigen Artenbeschreibungen.

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

199

Neulateinische Wissenschaftsliteratur im Schulunterricht Wie bereits Ijsewijn/SacrH (1998, S. 158f.) festgestellt haben, verbindet die lateinische Philologie und die naturwissenschaftlichen Disziplinen eine nicht zu unterschätzende Gemeinsamkeit: das Neulateinische als Wissenschaftssprache (vgl. ebenso Ogilvie 2015, S. 263f.).5 Inhaltlich wie auch sprachlich bietet die neulateinische Wissenschaftsliteratur eine große Vielfalt: Für die zoologische und botanische Wissenschaftsliteratur ist das Neulateinische darüber hinaus bis heute wesentlicher Bestandteil und seine ursprüngliche Rolle als gemeinsame Wissenschaftssprache wird so weiterhin mittradiert (vgl. Ijsewijn/SacrH 1998, S. 257).6 Dementsprechend schlussfolgert der Wissenschaftshistoriker Ogilvie (2015, S. 268) zu Recht mit Blick auf die Literatur zur Erfassung der Naturwelt, dass »[n]atural history thus provides an excellent set of case studies of the use of Latin in early modern science and its complex relationships with vernacular language communities.« Die Auseinandersetzung mit neulateinischen Wissenschaftstexten bietet eine besondere Möglichkeit, bereits im Schulunterricht die verschiedenen Fachdisziplinen, auch in ihrer geschichtlichen Wechselwirkung und in Zusammenhang mit den vorausgegangen Vorläufern der heutigen Disziplinen (wie z. B. der Naturgeschichte oder historia naturalis), zu verstehen und fächerübergreifend zu arbeiten. Ziel einer Bearbeitung von Conrad Gesners Historia animalium als bedeutsames Beispiel eines neulateinischen frühneuzeitlichen Wissenschaftstextes ist dabei, die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Wissenschaftstexten und ihrer Sprache zu befähigen. Dazu ist notwendig, dass die Schülerinnen und Schüler einen reflektierenden und kritischen Umgang mit den Wissenschaften, ihrer Literatur und den wissenschaftlichen Kommunikationskonventionen (er)lernen, sodass diese Konventionen nicht lediglich reproduziert, sondern immer wieder bezüglich ihrer Funktionen und ihres wissensgeschichtlichen Ursprungs hinterfragt werden. Pointiert formuliert Jessica Riskin (2016, S. 10) den Nutzen und zugleich die Notwendigkeit einer kritisch-hinterfragenden wissens- und wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung:

5 Vgl. außerdem zu den rekonstruierten zahlenmäßigen Verhältnissen zwischen lateinischen und volkssprachlichen Drucken in der frühen Neuzeit Habermann (2001, S. 79f.). 6 Allerdings ist das Neulateinische noch über die binäre Nomenklatur hinaus wesentlich, etwa für die botanischen Artbeschreibungen, was Publikationen wie William Stearns Botanical Latin (erste Ausgabe 1966) und A Primer of Botanical Latin (2013) von Emma Short und Alex George unterstützend belegen.

200

Julia Heideklang

Historical analysis, by revealing the now-hidden forces that shaped current scientific problems and principles, can reopen foreclosed ways of thinking. Investigating the origins and development of current scientific principles means rediscovering alternative possibilities for what it has meant and what it can mean, to offer a scientific model of a living being.

Das Neulateinische, das über Jahrhunderte die Kommunikations- und Wissenschaftssprache war, bietet dafür einen geeigneten Ansatzpunkt sowie einen Ausgangspunkt für kontrastive Vergleiche, etwa mit dem Englischen als moderner Wissenschaftssprache.

Gesner als Autor für eine thematische Lektüre im Schulunterricht Nachdem sich entgegen der ursprünglich defizitären Sichtweise innerhalb der Latinistik ein Konsens über die zahlreichen Vorteile neulateinischer Literatur für den Schulunterricht sowie ihre Bedeutung innerhalb der gesamtlateinischen Literatur eingestellt hat (vgl. Kipf 2008, S. 159; Ludwig 1997, S. 323), erfährt das Neulateinische mittlerweile eine Stärkung in den Rahmenlehrplänen (vgl. etwa RLP Teil C Latein 2015). Neben den verschiedenen Vorteilen gibt es spezifische Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit neulateinischer Literatur, die es für Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer gleichermaßen zu bewältigen gilt. Ludwig (1997, S. 324) etwa betont, dass aufgrund der Interdisziplinarität die altertumswissenschaftliche Vorbildung allein nicht ausreiche, »da die neuzeitliche lateinische Literatur immer auch im Kontext der Geschichte und Kultur der Neuzeit interpretiert werden muss. Eigene Einarbeitung in neue Disziplinen und interdisziplinäre Hilfe sind hier vonnöten.« Daher muss die Auswahl besonders sorgfältig abgewogen werden. Im Folgenden werde ich kurz aufzeigen, warum die Historia animalium Conrad Gesners unter Berücksichtigung der verschiedenen Kriterien und Überlegungen zur Lektüreauswahl einen geeigneten Text darstellt.7 Die Historia animalium Gesners gilt als weitverbreitetste und meistgelesenste Naturgeschichte der Renaissance (vgl. Ashworth 1996, S. 17): Ihre Exemplarizität und Wirkmächtigkeit im Kontext ihrer Zeit ist kaum zu überschätzen. Nicht nur unter Zeitgenossen wurde dem Werk große Wertschätzung zuteil (vgl. Leu 2016a, S. 175), es blieb auch über Jahrhunderte das Referenzwerk zoologischer Kenntnisse und bildete so die Grundlage nachfolgender Forschung (vgl. Egmond 2018, S. 7 u. 14). Zudem bietet sich für die Schülerinnen und Schüler über die Behandlung dieses lateinischen Werkes die Möglichkeit, sich bewusst mit einer Literaturgattung auseinanderzusetzen, die heutzutage als selbstverständlich gilt 7 Für Kriterien zur Lektürewahl vgl. etwa Kuhlmann (2009, S. 133–135).

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

201

und oft unhinterfragt als Hilfsmittel und sichere Wissensquelle herangezogen wird.8 Das enzyklopädische Werk Gesners ist dabei im Zeitkontext in einer doppelten Funktion zu sehen: »Sie dienten als Wissenschaftssysteme und -theorien; über ihre Indices funktionierten sie aber immer auch als alphabetisch geordnete Nachschlagewerke« (Zedelmaier 2015, S. 22). Dementsprechend ist eine Werklektüre weder sinnvoll noch intendiert, wie der Autor auch selbst betont: Gesner erklärt die Gebrauchsweise seiner alphabetisch geordneten Historia bereits im Vorwort »An den Leser« und erläutert, dass die Nützlichkeit von Lexika nicht daher rühre, sie »von Anfang bis Ende zu lesen«, sondern sie »in zeitlichen Abständen hinzuzuziehen« (ut consulat ea per intervalla) (vgl. Blair 2010, S. 117).9 Allein schon durch ihre Thematik, d. h. die Beschreibung von Tieren und ihren Lebensweisen, bringt die Historia ein hohes Maß an Anschaulichkeit mit sich, die zusätzlich durch die großenteils naturalistischen Darstellungen verstärkt wird. Über den Zugriff auf die Tierwelt kann auf vielfältige Weise an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler angeknüpft werden. Darüber hinaus bietet sie durch ihren immensen Umfang eine große Auswahl an Tierarten und Artikeln. Diese wiederum sind ihrerseits in sich geschlossene Darstellungen und können dadurch herausgelöst und einzeln betrachtet werden, ohne wiederum den Gesamtkontext aus den Augen zu verlieren. Zusätzlich unterstützend, sowohl für die Lehrkräfte in der Aufbereitung wie auch für die Schülerinnen und Schüler bei der Erarbeitung, dürfte die inhaltliche Unterteilung der Tierartikel in Kapitel A bis H wirken (siehe dazu unten). Schließlich eignet sich das Werk auch sprachlich für den Schulunterricht: Die Artikel zeichnen sich in ihrem Stil durch brevitas (Kürze) und parataktische Sätze aus. Diese sind in ihrer inhaltlichen Struktur zu einem großen Teil nach einem einheitlichen Schema aufgebaut: Zuerst erfolgt die Angabe eines bestimmten Inhalts bzw. einer Beobachtung, an die abschließend und asyndetisch die Quellenangabe geknüpft wird:10 [sc. Lutra] Dentes habet acutos, et valde [sc. Der Fischotter] Er hat spitze Zähne und ist mordax est, Albertus: […]11 sehr bissig, [so] Albertus [Magnus]. 8 vgl. zur Begrifflichkeit in der Frühen Neuzeit Zedelmaier (2015, S. 33). 9 Conradi Gesneri, Historiae animalium liber I, Praefatio ad Lectorem (1551), [bv– b2r]: …interim tamen Lexicorum […] utilitatem non negligit, non ut a principio ad finem perlegat, quod j operosius quam utilius fieret, sed ut consulat ea per intervalla. Ann Blair (2010, S. 117 u. 263) zeigt in diesem Zusammenhang auf, wie das Verb consulere durch diesen spezifischen Gebrauch eine neue Bedeutung erlangt. 10 Ashworth (1996, S. 19) machte eine derartige Beobachtung bereits in Bezug auf den FuchsArtenartikel: »[…] Gesner pairs virtually every fox fact with a name, his source.«. 11 Conradi Gesneri, Historiae animalium liber I, De Lutra (1551), S. 776.

202

Julia Heideklang

Neben diesen Vorteilen bezüglich einer Lektüre im Schulunterricht müssen die spezifischen Herausforderungen des Textes, die zum Teil aus seiner Beschaffenheit als naturgeschichtlicher Text resultieren, berücksichtigt werden. Die oben angesprochene brevitas der Texte bringt nicht nur Vorteile mit sich, sie kann auch zur Unverständlichkeit des Textes führen, insbesondere durch vorausgesetztes Wissen oder starke Auslassungen in der Syntax. Die Länge der einzelnen Tierartikel variiert stark. Lange Artikel zwingen daher letztendlich doch zu einer Auswahl einzelner Textpassagen. Darüber hinaus liegen viele Vokabeln im zoologischen Bereich und ihre Verwendung ist noch nicht zu einer einheitlichen Terminologie gefestigt. Schließlich wird durch die Quellenangaben auf zahlreiche, den Schülerinnen und Schülern unbekannte, Autoren verwiesen und das oft in abgekürzter Form. Diese Angaben müssen sichtbar gemacht und aufbereitet werden: Ein ad lineam-Kommentar ist unerlässlich. Zugleich muss eine Auswahl getroffen werden, welche Informationen den Schülerinnen und Schülern präsentiert werden, da der Kommentar sonst den Originaltext schnell an Umfang übersteigt. Durch die konkret biologischen wie auch sprachlichen Inhalte dieses Wissenschaftstextes kann sein Einsatz im Lateinunterricht »einen spezifischen Beitrag zur Förderung des fächerübergreifenden bzw. fächerverbindenden Unterrichts leisten« (Kipf 2008, S. 159).

Gesners Historia animalium: Autor, Werk und Arbeitsweise Conrad Gesner wird vor allem für seine Beiträge im Bereich der Bibliographie und der Naturgeschichte geschätzt (vgl. Kusukawa 2007, S. 71).12 Sein bibliographisches Werk, die Bibliotheca universalis (1545), später erweitert durch die Pandectae (1548), »verzeichnet Informationen zu Autoren und ihren Büchern, alphabetisch geordnet nach den Namen der Autoren« (Zedelmaier 2015, S. 22). Diese Bibliographie hatte einen großen und weitreichenden Einfluss (vgl. Blair 2010, S. 163) und wird an späterer Stelle in diesem Kontext näheren Aufschluss über Gesners Arbeitsweise geben. Sein naturgeschichtliches Werk, die Historia animalium13, umfasst fünf Bände: Die ersten vier Bände wurden zwischen 1551 und 1558 veröffentlicht, der letzte posthum 1587 herausgegeben (vgl. Leu 2016a, S. 194). Gesner selbst sah, 12 Gesners Werk ist sehr umfangreich und beschränkt sich keinesfalls auf die wenigen hier genannten Beispiele. Ich empfehle bei weiterführendem Interesse, die im Literaturverzeichnis aufgeführten einschlägigen Publikationen. 13 Ich differenziere im Folgenden durch die Schreibweise die Nennung des Werkes (Historia) von der Begrifflichkeit historia. Auf das Konzept Gesners und seine Reflexionen zum Formverständnis komme ich weiter unten zu sprechen.

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

203

wie das Eingangszitat aus seinem Vorwort der Historia zeigt, unbedingten Bedarf für ein umfassendes Werk zur Tierwelt. Das Werk behandelt in den einzelnen Bänden jeweils eine eigene Tierkategorie, z. B. handelt der erste Band »von den lebendgebärenden Vierfüßigen« (de quadrupedibus viviparis). Gesners Werk ist gleichsam Produkt seiner Teilhabe an den intellektuellen Bewegungen des Humanismus und seiner Arbeit als Gelehrter, Philologe, Naturforscher und Arzt (vgl. Ogilvie 2006, S. 10–12 u. 38; Siraisi 2012, insbes. S. 496–498). Ein Charakteristikum, das in der Forschung auf großes Interesse gestoßen ist, ist die Inkorporation möglichst naturgetreuer Abbildungen (vgl. Ashworth 1996, S. 24). Zwar sind ein Teil der verwendeten Abbildungen Kopien aus Werken anderer Autoren, für die Mehrheit wurden jedoch neue Holzschnitte nach Zeichnungen aus seiner eigenen Sammlung angefertigt (vgl. Egmond 2016, S. 156).14 Das Zusammentragen dieser Abbildungen stellte eine große Herausforderung dar, die Gesner durch die Hilfe von Freunden und Korrespondenten – kurz: über ein weites Kommunikationsnetzwerk – bewältigte (vgl. Leu 2016b; Ogilvie 2006, S. 34–36). Bereits in einem kurzen, auf der Titelseite abgedruckten Ad Lectorem (»An den Leser«) wird dem zukünftigen Leser des Werkes ein Eindruck davon vermittelt, was ihn erwartet: AD LECTOREM

AN DEN LESER:

Habebis in hoc Volumine, optime Lector, non solum simplicem animalium historiam, sed etiam ueluti commentarios copiosos, et castigationes plurimas in ueterum ac recentiorum de animalibus scripta quae uidere hactenus nobis licuit nobis omnia:[…]15

Du findest in diesem Buch, höchstgeschätzter Leser, nicht nur eine einfache Geschichte der Tiere, sondern vielmehr zahlreiche Notizen16 und viele Zurechtweisungen gegen die Schriften über die Tierwelt von alten und neueren (Autoren), soweit es mir möglich war, sie alle zu sehen: […]

Gesner betont an dieser Stelle, dass der Leser nicht nur eine »einfache« Geschichte der Tiere (simplicem animalium historiam) vorfinden wird. Er stellt das Konzept einer historia, die nach der aristotelischen Tradition als beschreibende 14 Viele Zeichnungen galten als verloren, wurden aber in jüngerer Zeit in den Gesner-PlatterAlben in Amsterdam wiederentdeckt und Gesner zugeordnet, vgl. dazu die aktuelle Monographie von Florike Egmond (2018). 15 Conradi Gesneri, Historiae animalium liber I, Ad Lectorem (1551), Titelseite. 16 Der Begriff commentarius ist im Thesaurus Linguae Latinae in seiner vielschichtigen Semantik belegt. Neben seiner allgemeinen Bedeutung als Sammlung und Verzeichnung erläuternder Anmerkungen (notae, tabulae, collectio) ist ebenfalls die spezifische Funktion der Sammlung von Sachverhalten, Stellen und Worten zur Festigung und Erweiterung des Wissens bzw. Gedächtnisses aufgeführt (collectio, congestio rerum locorum verborum ad memoriam sive scientiam firmandam augendam facta); vgl. s.v. »commentarius«, in: TLL, vol. III, p. 1856, lin. 3–p. 1861, lin. 41.

204

Julia Heideklang

Form des Wissens verstanden wird (vgl. Kusukawa 2018, S. 34–36.; dies. 2012, S. 20–22; Pinon 2005), an die Seite einer umfassenden Sammlung von Exzerpten und Notizen (commentarios copiosos), aber auch der kritischen Prüfung und Gegenüberstellung (castigationes plurimas). Gesner bezeichnet bereits sein Wörterbuch Onomasticon (1544), das er als im Wesentlichen aus anderen Werken kompiliert beschreibt, als einen communis commentarius – ein Vergleich der sich auch bei anderen Wörterbuch-Autoren der Zeit wiederfindet und auf die Ähnlichkeit dieser Schreibformen hinweist (vgl. Blair 2010, S. 123 u. 130). Auch die Exzerpthefte, in denen Gelehrte ihre Exzerpte nach loci communes sammelten, werden unter dem Begriff commentarii eingeordnet (vgl. Zedelmaier 2015, S. 28). Diese begriffliche Auffaltung seiner Historia in dem obigen Zitat – prominent auf die Titelseite gesetzt und an den zukünftigen Leser gerichtet – weist bereits auf die Form der Tierartikel und auf die Arbeitsweise Gesners hin. Denn geschrieben vor dem Hintergrund dieses komplexen Verständnisses von historia, kann man in ihr den Versuch sehen, die Gesamtheit des zoologischen und philologischen Wissens über die spezifische Form seiner historiae zu sammeln, zu ordnen und zu einem übergeordneten Ganzen zusammenzufügen. Die Tierartikel der Historia animalium setzen sich aus zahlreichen Exzerpten, Zitaten und Anekdoten zusammen, die Gesner verschiedentlich miteinander und mit eigenen Beobachtungen und gesammelten Abbildungen zu einem monumentalen Gesamtwerk kompiliert hat (vgl. Leu 2016a, insb. S. 175 u. 181–217). Dabei führt Gesner allein für den ersten Band 251 verschiedene Werke und 18 zusätzliche nicht mehr erhaltene Werke in unterschiedlichen Sprachen als seine Quellen auf (vgl. Kusukawa 2018, S. 37), die er traditionsgemäß in antiqui und recentiores unterscheidet. Die Einordnung als commentarius verweist auf eine gelehrte Arbeitsweise, die auf die verschiedenen kompilatorischen Projekte, bei philologischen wie auch naturwissenschaftlichen Arbeiten, angewendet wurde.17 Kompilatoren, wie Ann Blair (2010, S. 189) betont, arbeiteten oft an vielfältigen Projekten, die mit dem Sammeln und Auflisten sowie dem Erstellen von Verweisstrukturen befasst waren. Die extensive Sammlung von Exzerpten bildet dabei die Grundlage der Textproduktion und führt zu einer spezifischen Verweistechnik, wie sie z. B. gleich im ersten Satz des Nashornartikels auftritt:

17 Auf die Anwendung gleicher textueller Praktiken in philologischen und naturwissenschaftlichen Werken hat Ann Blair (1992) bereits aufmerksam gemacht. Vgl. auch Kusukawa (2018, S. 33): »As a form of knowledge practised by the ancients, natural history required for its revival proficiency in the classical languages […], philology, historical sensitivity and source criticism.«.

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

205

Rhinoceros elephanto similis est, cornu Das Nashorn ist dem Elefanten ähnlich und hat in nare habet, unde nomen, Dion.18 auf der Nase ein Horn, woher der Name stammt, (schreibt) Dion[ysios v. Halikarnassos].

Gesner arbeitete wesentlich mit Papier, Schere und Klebstoff. Er zerschnitt dabei gedruckte Bücher – eine Methode, die Gesner zur Zeitersparnis besonders empfahl, – Briefe, gesammelte Notizen und Exzerpte, die untereinander geschrieben auf Blättern notiert waren: Diese Papierschnipsel konnten dann auf Folio-Blättern nach loci angeordnet und mit Klebstoff, dauerhaft oder vorläufig, befestigt werden (vgl. Blair 2010, S. 96, 210–213 u. 219; Zedelmaier 2015, S. 51f.). Diese mobilen kleinen Formen gingen also wortwörtlich aus »Akten der Zertrümmerung und Zersplitterung« (Autsch/Öhlschläger 2014, S.10f.) hervor, bevor sie in neue Texte einwanderten. Neben der Arbeit mit Klebstoff für eine vorläufige Anordnung, empfahl Gesner zudem einen Zettelkasten in Buchform. Die Zettel werden nicht geklebt, sondern in ein Buch eingefügt, dessen Blätter von oben nach unten mit vier an ihnen befestigten Fäden durchzogen sind, die als Halterung der einzuordnenden Zettel dienen. Die einzelnen Zettel können so je nach Bedarf verschoben und neu geordnet werden. Jeweils hundert dieser Blätter bilden einen solchen Zettelkasten in Buchform. (Zedelmaier 2015, S. 51)

Die Tierartikel weisen entsprechend eine Aneinanderreihung von Exzerpten, Zitaten und Notizen auf, die, wie es Zedelmaier (2015, S. 38f.) für Zwingers Theatrum herausstellt, einerseits dem Muster bibliographischer Notationen folgen, andererseits darüber hinaus auf das »Abwägen von unterschiedlichen Quellenüberlieferungen zu einer speziellen Fragestellung« (ebd., S. 39) ausgerichtet sind. Diese Abwägungen schließlich führen dann zu den von Gesner angekündigten castigationes plurimas – wie etwa der ausführlichen Kritik an der verwirrenden Doppelbezeichnung des Nashorns, das Gesner als rhinoceros begrifflich eindeutig gegen das Einhorn (unicornis) abgrenzt (vgl. Gesner 1551, S. 952). Gesner betont in seinem Widmungsbrief an den Züricher Stadtrat den großen Umfang seines Sammelauftrages: […] et simul omnia ueterum ac recentiorum, quaecunque de animalibus multis et diuersis linguis, […]edita […] conferebam diligenter et in unum quasi corpus componebam. Ita paulatim creuit opus, […]19

[…] und zugleich trug ich alles von den alten und neueren (Schriftstellern), was auch immer über die Tiere in den vielen verschiedenen Sprachen […] herausgegeben ist […], sorgfältig zusammen und setzte es sozusagen zu einem einzigen Körper zusammen. So wuchs schrittweise mein Werk, [….]

18 Conradi Gesneri, Historiae animalium liber I, De Rhinocerote (1551, S. 952). 19 Conradi Gesneri, Historiae animalium liber I, epistola nuncupatoria (1551), [a2v].

206

Julia Heideklang

Das Anwachsen seines Werkes (ita paulatim crevit opus) ist deutlich auf die oben angeführten exzessiven Sammelpraktiken zurückzuführen, die Gesner mit keinem geringeren Anspruch durchführte als »alles von den alten und neueren Autoren, was auch immer über die Tiere in den vielen verschiedenen Sprachen […] herausgegeben ist« (s. Zitat oben) zusammenzutragen und einander gegenüberzustellen. Diese einzelnen Aussagen und Beobachtungen werden dann zu einem Gesamtgebilde (in unum quasi corpus) zusammengeführt. Diese passgenaue Zusammenführung von Einzelteilen zu einem neuen Ganzen spiegelt sich auch in den verschiedenen Termini wider, mit denen Gesner wiederholt seine eigene Arbeitsweise beschreibt: concipere, confere, componere. Um dieses Ganze aus den Einzelteilen zu erreichen, um die castigationes plurimas, die kritische Auswertung, durchführen und gewissermaßen seinem Leser vor Augen führen zu können, ist die Anhäufung und auch die Wiederholung von bereits angestellten Beobachtungen und Aussagen für Gesner unumgänglich. Dementsprechend begegnet dem Leser in den Artenartikeln häufig eine Ansammlung gleicher bis identischer Aussagen über das jeweils beschriebene Tier. In dem bereits zitierten Widmungsbrief macht Gesner jedoch deutlich, dass die auftretenden Wiederholungen keine stilistische Nachlässigkeit, sondern vielmehr wissenschaftliche Genauigkeit bedeuten und die Beweiskraft erhöhen (vgl. Ogilvie 2006, S. 36f.; Pinon 2005, S. 248): Cur quaedam passim in hoc Opere diuersis in locis repetantur, rationem reddidi iam ante, nempe quod ita postularet institutus a nobis ordo, & capitum partiumque in singulis diuisio: ut non negligentiae nostrae, sed accuratae potius curiosaeque interdum diligentiae id adscribendum sit. Sed repetuntur quaedam aliquando eodem in loco, quae uideri eadem possunt obiter cognoscenti: si quis uero pressius consideret, non nihil (quantulumcunque) interesse intelliget, uel in re, uel in uerbis.20

Warum bestimmte Aussagen sich allerorten in diesem Werk an verschiedenen Stellen wiederholen, darüber habe ich bereits zuvor Rechenschaft abgelegt, nämlich dass es so die von mir eingeführte Ordnung fordert, und die Aufteilung in die einzelnen Kapitel und Abschnitte: sodass man dies nicht meiner Nachlässigkeit, sondern eher einer genauen und manchmal pedantischen Sorgfalt zuschreiben muss. Aber bestimmte Aussagen werden bisweilen an derselben Stelle wiederholt, die dem, der sie nebenbei bemerkt, möglicherweise dieselben zu sein scheinen: Wenn aber jemand sie genauer in Augenschein nimmt, dürfte er verstehen, dass einiges an Unterschied (wie gering auch immer) besteht, sei es bezüglich des Sachverhaltes, sei es bezüglich des Wortlautes.

Interessant ist die letzte Konkretisierung, die Aussagen unterschieden sich entweder sachlich oder sprachlich (vel in re, vel in verbis), war doch Gesners 20 Conradi Gesneri, Historiae animalium liber I, Praefatio ad Lectorem (1551), [b2v].

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

207

Sammlungsinteresse kein ausschließlich naturwissenschaftliches, sondern auch ein sprachliches (vgl. Kusukawa 2007, S. 75). Dies macht bereits der zweite Teil des vollständigen Titels des Werkes deutlich: opus philosophis, medicis, grammaticis, philologis, po[tis et omnibus rerum linguarumque variarum studiosis, utilissimum simul iucundissimumque futurum.21 Dementsprechend betont auch Findlen (2016, S. 463): Specialization was not the hallmark of the sixteenth- and early seventeenth-century naturalist. Gesner and Aldrovandi, imitating ancient writers such as Aristotle and Pliny, established the image of the naturalist as someone who aspired to describe a universal nature. Although many naturalists disagreed on what the best starting point might be […] and how to arrange and interpret the details, they did not question the encyclopedism of their subject.

Darüber hinaus verweist Findlen (2016, S. 458) auf eine Aussage Gesners aus dem Jahre 1556, die erkennen lässt, dass Gesner hoffte, dass eines Tages jemand ein einziges vollständiges Werk herausgeben werde, wenn alle (Einzel-)Aussagen veröffentlicht und gesammelt seien. Gessner war sich sehr wohl bewusst, dass er niemals eine abschließende Wissensenzyklopädie schreiben konnte. Seine Bücher sollten weitere Zusendungen und Forschungen anregen: ›Das Buch ist nicht etwas in sich Geschlossenes, es wurde veröffentlicht, als eine gewisse Menge Material vorhanden war, dass dieses den Menschen nicht verloren sei, sollte er [der Autor] sterben‹. (Rübel 2016, S. 148)22

Auch in seinem Ad lectorem verknüpft Gesner den Umfang des Wissens mit der Dauer der Zeit, die die Arbeit an einem solchen Werk einnimmt. Mit dem Anspruch eines allumfassenden enzyklopädischen Sammelns verband sich also auch der Traum einer erreichbaren Vollständigkeit. Das Zusammensetzen der einzelnen kleinen Formen – Exzerpte, Zitate, Anekdoten, Notizen etc. – zu einem Gesamtwerk (in quasi unum corpus) schafft daher, wie Gesner selbst ankündigt, keine »einfache Tiergeschichte«, sondern eine vielschichtige und komplexe Naturgeschichtsschreibung, die verschiedene Funktionen erfüllt: Zum einen repräsentieren die Artenartikel das kollektive Wissen der zeitgenössischen Wissenschaftsgemeinschaft über die Tierwelt (vgl. Findlen 2016, S. 459) und schaffen über die Sammlung der Einzelbeobachtungen Evidenz.23 »Damit liefert Gessner für jedes Tier eine redigierte Wissenscollage, die es als vielschichtigen Zeichenträger zeigt« (Schmutz 2016, S. 130). Zum anderen stellen sie einen 21 Vgl. zum intendierten Lesepublikum der Historia Kusukawa (2018, S. 35–37), außerdem Enenkel (2007, S. 60–63). Zu berücksichtigen sind die Bemerkungen von Ogilvie (2006, S. 258f.). 22 Vergleiche weiterführend zum Umgang mit und Anerkennung von Beiträgen durch Gesner Kusukawa (2018, 38f.). 23 Vgl. dazu den Begriff der »little tools of knowledge« von Becker / Clark (2001, S. 1).

208

Julia Heideklang

Zwischenschritt auf dem Weg zum angestrebten vollständigen Wissen über die Tierwelt dar. Die Abgeschlossenheit, die über die Form der Tierartikel suggeriert wird, erweist sich als relativ unter Einbeziehung des oben dargelegten Verständnisses des enzyklopädischen Projekts. Die Sammlung und Anordnung kleiner Formen macht damit auf übergeordneter Ebene etwas sichtbar, was die einzelne Form nicht leisten könnte – einmal auf der Ebene der Artenartikel, und anschließend über deren Zusammenstellung in den Historiae animalium libri. Nach diesem Einblick in Gesners Arbeitsweise und seine eigenen Reflexionen bezüglich der Sammlung und Anordnung kleiner Formen zu einem übergeordneten Ganzen, soll es nun um die Frage nach der didaktischen Textbearbeitung und Materialerstellung gehen. Welche didaktischen Arbeitsweisen werden angewendet und wie verhalten sie sich zu Gesners Arbeitsweise?

Eine Stationsarbeit zur Historia animalium: didaktische Bearbeitung Zwar tritt das Neulateinische, wie zuvor angesprochen, in den neuen Rahmenlehrplänen für Berlin in gestärkter Position auf. Allerdings sind dies die Rahmenlehrpläne für die Sekundarstufe I. Für die Oberstufe ist eine solche curriculare Grundlage noch nicht gegeben. Nichtsdestoweniger finden sich bereits Themenfelder, die eine Auseinandersetzung mit neulateinischer Wissenschaftsliteratur legitimieren können, etwa das Themenfeld »Philosophie und Religion« (RLP Latein 2006 Sek II, S. 21f.) im 4. Kurshalbjahr, und der darin enthaltene Teilbereich »Mensch und Natur«. Die Auseinandersetzung mit Wissenschaftsliteratur oder -geschichte ist in keinem der Berliner Rahmenlehrpläne für das Fach Biologie explizit vorgesehen. Dies wird gewissermaßen mit der Beschaffenheit der biologischen Wissenschaft gerechtfertigt: […] die Breite der Fachwissenschaft Biologie, ihr hoher Wissensstand sowie ihre gegenwärtige Dynamik erfordern für den Biologieunterricht somit eine Auswahl der Inhalte, exemplarisches Vorgehen und ein andauerndes Bemühen um Aktualität. Die stoffliche Fülle des Faches Biologie wird zugunsten weniger und überschaubarer Inhalte, Strukturen und Methoden reduziert, ohne zu fachlich falschen Aussagen zu kommen. (RLP Biologie Teil C 2015, S. 4)

Wissens- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen sind dem Biologieunterricht jedoch keineswegs fremd, etwa in Form von historischen Einblicken in die Entwicklung von Instrumenten, aber auch Fragestellungen und Methoden. Oftmals wird gerade über ein solches schrittweises Nachvollziehen von Forschungsfragen und Methoden der Erkenntnisprozess und das wissenschaftliche Denken der Schülerinnen und Schüler wesentlich gefördert. Dennoch finden

209

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

sich dabei selten explizite Auseinandersetzungen mit historischen Kontexten und Bedingungen für eben jene Fragestellungen und Methoden, und die Primärquellen wissenschaftlicher Forschung scheinen keinen Platz in der schulischen Vermittlung zu finden. An dieser Stelle kann jedoch die fächerübergreifende Konzeption ansetzen und sich auch die zeitliche Überschneidung von Themenfeldern in den Fächern Latein und Biologie zunutze machen. Durch die Inhalte der Tierartikel ergeben sich zahlreiche thematische Überschneidungen mit dem Themenfeld »4.2 Ökologie und Nachhaltigkeit« (RLP Biologie Sek II 2006, S. 20f.), etwa die intra- und interspezifischen Beziehungen zwischen Lebewesen, die Angepasstheit von Arten an ihren Lebensraum, Natur- und Artenschutz, insbesondere sogar die angedachte Beobachtung und Bestimmung von Pflanzen und Tieren (vgl. RLP Biologie Sek II 2006, S. 20f.). Über die Behandlung der Historia im fächerübergreifenden Lernen bietet sich so die Gelegenheit, für beide Fächer die oben genannten Aspekte zu fördern, die in den jeweiligen fächerspezifischen Plänen nicht oder nur randständig berücksichtigt werden. Aufgrund der Komplexität des Themenfelds und der Verbindung verschiedener fachspezifischer Anforderungen sowie der oben genannten Schwierigkeiten, die ein nah am Originaltext geführtes Lernmaterial stellen kann, wurde das hier im Folgenden vorgestellte Lernmaterial für die gymnasiale Oberstufe konzipiert. Zugleich muss ein Einsatz in der Sekundarstufe I keinesfalls ausgeschlossen werden. Gerade im Hinblick auf die anschaulichen Habitusbeschreibungen der Tierartikel ist eine angepasste Bearbeitung, etwa des Fischotterartikels, auch für die Spracherwerbsphase denkbar. Aus motivationalen Gründen wurde für die Konzeption der Lernmaterialien der erste Band de quadrupedibus viviparis herangezogen, der die Gruppe der »vierfüßigen Lebendgebärenden« behandelt. Aus diesem wurden drei Tierartikel als repräsentativer Querschnitt ausgewählt: je ein Tierartikel für Tiere aus mitteleuropäischen Gebieten (Fischotter), aus anderen Klimazonen (Nashorn) sowie für Fabelwesen (Sphinx). Stationen Station 1: Conrad Gesner und seine Historia animalium in der Frühen Neuzeit

Dauer 40 min.

Station 2: Der Fischotter : »Ein Weltenbürger mit Problemen«? oder : Station 4: Die Sphinx – Fabelwesen in der Zoologie?

75–90 min.

Station 3: Das Nashorn: Artenbeschreibung im 16. Jh. und heute oder : Station 5: Conrad Gesner und Carl von Linn8: Historia vs. Systema

75–90 min.

Station 6: Conrad Gesner und sein Thierbuoch?!

30–40 min.

Tabelle 1. Übersicht über die konzipierte Stationsarbeit

210

Julia Heideklang

Von diesen Vorüberlegungen ausgehend, entstand eine Stationsarbeit (siehe Tabelle 1), die sich aus sechs Stationen zusammensetzt und sowohl die Kompetenzbereiche des Lateinunterrichts wie auch des Biologieunterrichts fördert. Die Konzeption der einzelnen thematischen Einheiten als eine zusammengehörige Reihe verbunden durch einen gemeinsamen Kontext erlaubt es zudem, mit den einzelnen Stationen einzelne der Charakteristika des Werkes und kleinere Fragestellungen zu fokussieren, um sie dann über den Reihenkontext zu einem Ganzen zusammenzuführen, wie nun am Beispiel von zwei ausgewählten Stationen gezeigt werden soll. Um die didaktische Textbearbeitung nachzuvollziehen, lohnt es sich, aufzuzeigen, wie der Originaltext des Fischotterartikels De Lutra (1551, S. 775–777) zum Arbeitsmaterial der Station 2 »Der Fischotter : ›Ein Weltenbürger mit Problemen‹?«24 transformiert wird. Der Tierartikel De Lutra ist für Gesners Werk repräsentativ. Er enthält alle Kapitel A bis H (nach Leu 2016a, S. 203):25 – A: Benennung des Tieres, Diskussion und Auflistung synonymer Bezeichnungen – B: Geografische Verbreitung; Vorkommen und Habitate; Morphologie und Anatomie – C: Lebensraum, Lebensweise, Fortpflanzung etc. – D: Gefühlsleben, Sitten, Instinkte; Tugenden und Unarten – E: Nutzen des Tieres für den Menschen, etwa durch Jagd oder Zähmung – F: Nahrungsmittel, die aus dem Tier gewonnen werden können – G: Arzneimittel, die das Tier liefert; Verletzungen durch das Tier und ihre Behandlung – H: Sammlung philologischer Fragen, die das Tier betreffen, wie etwa Etymologie, metaphorische Verwendung; Abbildungen, Sprichwörter, Fabeln etc. Im Rahmen der Stationsarbeit, die sich auf den zeitlichen Rahmen einer Unterrichtsreihe bzw. die Ausführung als eintägige Exkursion beschränken muss, konnte keiner der Artikel in seiner Gänze behandelt werden. Daher wurde auch aus dem drei Folio-Seiten umfassenden Fischotterartikel eine Auswahl getroffen. Entsprechend der thematischen Ausrichtung der Station innerhalb der ökologischen Fragestellung (siehe Abbildung 1), wurde aus dem Kapitel B ein Textteil entnommen und aufbereitet (siehe Abbildung 2). Kapitel A findet sich in stark 24 Diese Bezeichnung in Bezug auf den Fischotter fällt im Rahmen der Artenvorstellung auf der Website des WWF (Online-Fassung: http://www.wwf.de/themen-projekte/artenlexikon/ fischotter/ [17. 01. 2017]). 25 Diese Kapitelstruktur wurde bereits vielfach aufgezeigt, so von Schmutz (2016, S. 130), Kusukawa (2007, S. 72–74) und Pinon (2005, S. 248f.). Die Auflistung dient hier daher nur der Veranschaulichung der Bandbreite und des Umfangs.

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

211

verkürzter Form als einleitender Satz zur Kontextualisierung des Abschnittes innerhalb des Tierartikels wieder. Um eine überschaubare Textlänge zu erhalten, wurde die Aufzählung der Regionen, in denen der Fischotter auftritt, ausgelassen. Zudem wurde der Text sprachlich so gekürzt, dass einerseits möglichst wenig in den Originaltext eingegriffen wurde – es gibt keine Syntaxanpassungen oder Vokabeländerungen –, andererseits den Schülerinnen und Schülern das lineare Lesen des Textes ermöglicht wird.

Abb. 1. Aufgabenblatt aus Station 2 »Der Fischotter : ›Ein Weltenbürger mit Problemen‹?«.

Besonders reizvoll an der Habitusbeschreibung ist der Vergleich mit dem Biber (castor). Durch weitere Vergleiche mit anderen Tieren (z. B. Katze und Fuchs) wird sie besonders anschaulich und schrittweise präzisiert. Schließlich befindet sich bereits im Originaldruck die Zeichnung eines Fischotters direkt neben Kapitel B platziert (siehe Abbildung 3). Die bildliche Darstellung ist für Gesner integraler Bestandteil der Beschreibung und geht eine enge Beziehung mit dem umgebenden Text ein (vgl. Kusukawa 2012, S. 22; Findlen 2016, S. 457).26 Diese Abbildung, die für die Texterschließung funktional wirksam ist, indem sie die Übersetzung durch die Visualisierung des Tieres unterstützt, konnte bei der Erstellung des Arbeitsblattes in ähnlicher Nähe, wie es im frühneuzeitlichen Druck realisiert war, beibehalten werden (vgl. Abbildung 2 und 3). Ergänzt wurde der für die Übersetzung ausgewählte Textabschnitt durch einen ad lineam-Kommentar, um das Autoren- und vor allem Vokabelwissen zur Habitusbeschreibung abzusichern und so die Übersetzungstätigkeit zu entlasten. 26 »Many entries were accompanied by a woodcut image, conceived as a sort of ›paper menagerie‹, to which readers had permanent access without the effort or frightening prospect of visiting an actual menagerie. In this sense, pictures were meant to function as substitutes for the objects they depicted« (Kuskuawa 2018, S. 39).

5

1

C. Plinius Secundus (gest. 79 n. Chr.): Verfasser der Enzyklopädie Naturalis historia feles, is f. = die Katze;

Datum:

Albertus Magnus (ca. 1200–1280 n. Chr.): Naturwissenschaftler;

dissimilis = non similis; vulpes, pis f. = der Fuchs

et Albertus. Caniculae fluviatili cauda est pilosa, Aelianus.

pilosus, a, um= behaart, haarig Claudius Aelianus (2. Jh. n. Chr.): Philosoph

Canicula,ae f.+fluviatilis, e: Diese Formulierung ist eine alternative Bezeichnung für den Fischotter, die sich auf seinen Habitus und seine Lebensweise bezieht und heißt soviel wie „Hundfisch, der in Flüssen lebt“.

caninus, a, um= zum Hund gehörend; Hunds-

Albertus: crura brevia, pedes omnes caninis similes, caudam longam, Ge. Agricola crus, cruris n.= Unterschenkel

Georg Agricola (1494–1555): Mineraloge; mordax, acis = bissig, beißend;

candidus et inaequalis, Ge. Agricola. … Dentes habet acutos, et valde mordax est, candidus, a, um= weiß, weiß glänzend; inaequalis = non aequalis

non nihil ad castaneae colorem deflectit, et brevis ac aequalis est: castori in cinereo aequalis, e (is)= eben, gleich; cinereus, a, um= aschfarben;

non nihil= einiges; castanea, ae f.= die Kastanie; deflectere = abweichen; abändern

molles sunt, ut etiam castoris, a quibus tamen differunt: nam lutrae pilus fuscus ut = hier: wie; fuscus, a, um = dunkel, schwärzlich

pilus, i m. = das (einzlne) Haar; densus, a, um = dicht; nitidus, a, um =glatt; glänzend;

et latior, … Albertus: castore minor. Pellem pilis bene densam habet: hi nitidi et castor, oris m. = der Biber; pellis, is f. = das Tierfell, die Tierhaut;

dissimilis est (aliqui vulpi comparant, corporis longitudine praesertim:) sed longior

Fibris cauda piscium , caetera species lutrae, Plinius. Feli non admodum fiber, fibri m. = der Biber; cauda, ae f.= der Schwanz, Schweif; caetera = cetera

Übersetzen Sie den Text in angemessenes Deutsch! Nachdem Conrad Gesner die Herkunft des Namens und die verschiedenen Bezeichnungen für den Fischotter dargelegt hat, wendet er sich der Beschreibung des Fischotters zu:

T1 De Lutra – ____________________________

Station 2

212 Julia Heideklang

Abb. 2. Einsprachiges Textmaterial (T1) aus Station 2 »Der Fischotter : ›Ein Weltenbürger mit Problemen‹?« (Abbildung aus: Conradi Gesneri medici Tigurini historiae animalium liber I (1551), 776).

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

213

Abb. 3. Ursprüngliche Folio-Seite aus dem Fischotterartikel (digitalisiert von der Zentralbibliothek Zürich: Signatur NNN 41; http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-1927).

Das daraus entstandene Textmaterial ist nicht (mehr) von der evidenzsteigernden Wiederholung geprägt, wie sie für Gesners Arbeitsweise typisch ist, doch ist an dem Textabschnitt weiterhin deutlich zu erkennen, dass der Text aus einzelnen Versatzstücken zusammengesetzt ist und eine besondere Verweisstruktur zeigt. So bildet der Text (beim Lesen) einerseits ein sprachliches und inhaltliches Ganzes und scheint doch gleichzeitig immer wieder in seine Einzelteile zu zerfallen.

214

Julia Heideklang

Des Weiteren steht das Textmaterial nicht für sich allein, sondern ist eingebettet in eine biologische Fragestellung und wird daher zusätzlich ergänzt durch weitere Text- und Materialzugaben: etwa einen zweisprachigen Auszug aus Kapitel C sowie einen Auszug aus dem WWF-Artenartikel zum Fischotter und einen Zeitungsartikel aus Die Welt (»Die erstaunliche Rückkehr des Fischotters« vom 08. 02. 2016)27. Auch Station 3 zum Nashorn (»Das Nashorn – Artenbeschreibung im 16. Jahrhundert und heute«) ist für das materialgestützte Arbeiten konzipiert. Der Nashornartikel (1551, S. 952–955) umfasst wiederum nahezu 3 Folio-Seiten Text mit einer zusätzlichen Folio-Seite für die Abbildung eines Nashorns. Der Schwerpunkt der Station liegt auf der kontrastiven Betrachtung des Tierartikels von Gesner, der diesmal mit so wenigen Kürzungen wie möglich in zweisprachiger Form gereicht wurde, und des englischsprachigen Artenartikels zum Rhinoceros unicornis von Laurie, Lang and Grove (1983). Genau wie im frühneuzeitlichen Druck Gesners ist den Schülerinnen und Schülern nur der Kapitelbuchstabe als Orientierung gegeben, zu dem sie eine Überschrift finden müssen. Anschließend werden auch für den englischsprachigen Artikel die impliziten Abschnitte und damit wesentlichen Bestandteile zur modernen Artenbeschreibung herausgearbeitet. Auf dieser Grundlage können die Merkmale der Wissenschaftstexte in den beiden Quelltexten analysiert werden: Erwartet wurden etwa Kriterien wie brevitas, Verwendung von Vergleichen und Anekdoten, Vermessen von Tieren, Zitierweise und Fachsprachlichkeit (Latein als Kommunikationssprache gegenüber dem Lateinischen als Fundus für eindeutige Termini). Über diesen Vergleich der Merkmale wird eine differenzierte Diskussion über das, was unter dem Konzept von ›Wissenschaft‹ und ›Wissenschaftlichkeit‹ verstanden wird. Zunächst schätzten die Schülerinnen und Schüler Gesners Artenbeschreibung als ›unwissenschaftlicher‹ ein als den modernen Artenartikel. Bei näherer Beschäftigung entwickelten die Schülerinnen und Schüler aber eine differenzierte Einschätzung der zwei verschiedenen Wissenschaftstexte und für die Leser und Leserinnen unterschiedlich zugänglichen Formen des wissenschaftlichen Schreibens. An diesen zwei Beispielen aus der Stationsarbeit werden das Vorgehen der didaktischen Textbearbeitung und die Konzeption materialgestützter Aufgaben deutlich. Der Originaltext Gesners wird wieder neu zerschnitten, gekürzt oder paraphrasiert. Zusätzlich wird das vom Text vorausgesetzte Wissen ergänzt durch didaktische kleine Formen (z. B. Überschrift, Einleitungstext). Für das materialgestützte Arbeiten werden dann weitere Quelltexte und Darstellungen gesammelt und wiederum zurechtgeschnitten. Schließlich werden alle Materia27 https://www.welt.de/wissenschaft/article151961336/Die-erstaunliche-Rueckkehr-des-Fisch otters.html. (Zugriff am: 08. 10. 2017, 13:37).

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

215

lien zusammengestellt und durch die Überschriften, Quellenangaben und Aufgabenstellungen vernetzt und in einen neuen Gesamtkontext gefasst. Die Heterogenität des Materials bleibt dabei soweit wie möglich erhalten.28 Der oben beschriebene konsistente Rückgriff Gesners auf kleine Formen, die gesammelt, geschnitten, aneinandergereiht oder gegenübergestellt und dann wieder zu einem neuen Ganzen formiert werden, begünstigt geradezu diese Form der Textauswahl und -bearbeitung: Dadurch, dass die zahlreichen Schnittstellen innerhalb der Textstruktur erhalten und auch beim Lesen spürbar bleiben, bieten sie didaktische Sollbruchstellen, entlang derer dieses erneute Sammeln und ›Schneiden‹ im Prozess didaktischer Aufbereitung des Textes möglich ist. Das bedeutet zudem, dass ein Eingriff in den Text weitgehend möglich ist, ohne die Textstruktur oder die charakteristische Arbeitsweise Gesners durch künstliche Schnittstellen zu verzerren. Schließlich kann so nicht nur die inhaltliche Arbeit Gesners den Schülerinnen und Schülern zugänglich gemacht werden, sondern auch seine Arbeitsweise zusammen mit der daraus resultierenden Form und Sprachlichkeit. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, einen ausgewählten Textabschnitt aus seiner verdichteten Form heraus wieder zu entfalten, indem aufgezeigt wird, welche Darstellungen, etwa von Aristoteles, in welcher Form Eingang in Gesners Sammlung gefunden haben.

Der Gesner-Projekttag im Naturkundemuseum: Ergebnisse und Ausblick Um das Lernmaterial zu evaluieren und das Konzept hinsichtlich seiner Einsetzbarkeit prüfen zu können, wurde die Stationsarbeit für die Durchführung an einem einzelnen Projekttag modifiziert und mit den sehr heterogenen Lerngruppen von drei Berliner Schulen (dem Rosa-Luxemburg-Gymnasium, der Martin-Buber-Oberschule und dem Max-Planck-Gymnasium) im Rahmen des geisteswissenschaftlichen Schülerlabors, Humanities Lab29, durchgeführt: Teilgenommen haben insgesamt 42 Schülerinnen und Schüler aus drei Grundkursen sowie zusätzlich aus einem Leistungskurs des Rosa-Luxemburg-Gymnasiums. Abschließend wurde von 41 Schülerinnen und Schülern ein Fragebogen mit vier geschlossenen und sechs offenen Fragen ausgefüllt.

28 Vgl. zu materialgestützten Aufgaben und kleinen Formen den Beitrag von Katrin Lehnen in diesem Band. 29 Das HUmanities Lab ist ein geisteswissenschaftliches Schülerlabor, das innovative Themen mit fächerübergreifenden Unterrichtskonzeptionen verbindet, weitere Informationen unter : https://www.hu-berlin.de/de/foerdern/was/projekte/nachwuchs/humanities-lab.

216

Julia Heideklang

Abb. 4. Dr. Jason Dunlop erklärt konservierte Objekte der Alkoholsammlung und beispielhafte Vertreter der Arachnida und Myriopoda.

Zentral für die Umsetzung des Projekttages war das Berliner Museum für Naturkunde, das einen Seminarraum bereitstellte sowie den Zugang zu den Ausstellungsräumen erlaubte. Es lässt sich für dieses Konzept keine geeignetere Lernumgebung finden, als die eines Naturalienkabinetts – immerhin hat auch Gesner für seine Forschungen Tiere und Naturalien gesammelt, und diese, soweit möglich, zur Prüfung literarischer Quellen und Angaben genutzt (vgl. Egmond 2018, S. 10, ebenso Leu 2016a, S. 188–194). Zusätzlich wurde die Stationsarbeit um Führungen von drei Wissenschaftlern und Sammlungskuratoren des Museums erweitert (siehe Abbildung 4). Dies ermöglichte neben einem Phasenwechsel eine ganz wesentliche Aktualisierung der Problematik von wissenschaftlicher Sammlung und Beschreibung in Form eines praktischen Einblicks in die tägliche Arbeit der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie hinter die Kulissen der Museumsausstellung. Aus den kurzen Einblicken in das Lernmaterial dürfte bereits ersichtlich geworden sein, dass, selbst nach einigen Reduktions- und Selektionsprozessen, eine bestimmte Textmenge als Materialgrundlage für jede Station bestehen bleibt. Diese insgesamt recht umfangreiche Textmenge wurde auch von den Schülerinnen und Schülern in der Evaluation des Projekttages angemerkt. Trotz eines zeitlichen Rahmens von sieben Zeitstunden wurde der Projekttag positiv angenommen, besonders im Hinblick auf eine zukünftige Anwendung im

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

217

Schulunterricht. Bei 90 % der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler bestanden bisher keine Erfahrungen mit und kein Vorwissen zur neulateinischen Literatur (siehe Abbildung 5a). Nichtsdestoweniger wurde das Konzept und Lernmaterial positiv bewertet. Eine deutliche Mehrheit sprach sich nach dieser ersten Erfahrung für eine Behandlung von Gesners Historia als Wissenschaftstext im Schulunterricht aus (siehe Abbildung 5b).

Abb. 5a. Ergebnisse der Evaluation: Frage 9 des Fragebogens zu Vorkenntnissen aus dem Schulunterricht.

Abb. 5b. Ergebnisse der Evaluation: Frage 10 des Fragebogens hinsichtlich eines zukünftigen Einsatzes des Lernmaterials im Schulunterricht.

Die Schülerinnen und Schüler konnten jederzeit in die Ausstellungsräume des Museums gehen und dort die Materialien und Texte unter Hinzunahme der

218

Julia Heideklang

ausgestellten Tierpräparate erarbeiten, Biber und Fischotter konnten direkt untereinander an der Diversitätswand mit den Beschreibungen aus dem Text verglichen werden. Dennoch blieb die Arbeit zu großen Teilen textbasiert. Am Ende des Projekttages sollte die Evaluation zeigen, welche Denkanstöße und Erkenntnisse die Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf die behandelten Wissenschaftstexte für sich mitnehmen konnten. Frage Nummer 8 im Evaluationsfragebogen lautete: »Was zeichnet für Sie nach dem Projekttag Wissenschaftsliteratur aus?«. Zu den häufigsten Angaben gehörten etwa »einfach verpackte Texte, aus denen man viel lernen/erfahren kann« oder »Die Sprache Latein und ihr vielfältiger Einsatz«. Besonders hervorstechend aber war bei den Schülerinnen und Schülern der Eindruck »viel Textarbeit« – eine Einschätzung, die auch bei anderen Fragen zu dem Projekttag des Öfteren geäußert wurde. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, diesen Eindruck seitens der Schülerinnen und Schüler lediglich auf eine Bemängelung des hohen Leseaufwands zurückzuführen. Denn auch die oben erwähnten Führungen zu den Sammlungen des Museums durch die Museumswissenschaftler dürften diesen Eindruck, den die Schülerinnen und Schüler bereits aus der Arbeit an Gesners Historia animalium gewonnen hatten, weiter verstärkt und für die Arbeit der heutigen Taxonomen bestätigt haben. Der Experte für Flohkrebse und Kurator der Krebssammlung, Dr. Oliver Coleman, beschrieb während der Führung, dass es, als er begann, sich mit den Flohkrebsen zu befassen, noch kein umfassendes Bestimmungsbuch für alle Taxa gegeben habe, mit dem man die Tiere bestimmen konnte. Stattdessen habe es für ihn ›learning by doing‹ geheißen und er habe hunderte Fachartikel und Bücher in einer Bestimmungskartei zusammengefasst, die alles enthielt, was über die die Taxonomie dieser Tiergruppe bis dato bekannt war. Daraus erstellte er dann eine Art Bestimmungsleitfaden. Diese authentische Erfahrung aus der Berufspraxis bestätigt damit Feststellungen, wie etwa von Jardine/Spary (1996, S. 6): Ascertaining the correct names of living beings in accordance with the internationally agreed rules often requires extensive study of the publications and collections of past naturalists. As well as a substantial body of valuable scholarly literature, this professional interest of systematists and taxonomists in the history of their own discipline has produced a series of indispensable reference works […].

Es wird dadurch deutlich, dass es zumindest teilweise noch immer zur naturwissenschaftlichen Forschung gehört, zunächst die vorhandenen Wissenschaftstexte zu finden, zu bearbeiten und anschließend neu anzuordnen. Dementsprechend bedeutet das Lesen und Verfassen von Wissenschaftstexten in der Tat »viel Textarbeit«. Für den Projekttag und die didaktische Vermittlung ist diese Beobachtung wesentlich. Denn so wird der Entstehungsprozess von Wis-

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

219

senschaftstexten in diesem Kontext am Beispiel von Tier- und später Artenbeschreibungen, deutlich und die jeweils in ihren jeweiligen Zeitkontexten zu begreifenden literarischen und rhetorischen Strategien in der Präsentation des gesammelten Wissens. Ein Aspekt, der ursprünglich im Lernmaterial für die Schülerinnen und Schüler keine starke Berücksichtigung fand, war die sich wandelnde Materialität von Gesners Historia animalium und dem Lernmaterial. Es ergab sich jedoch während der Exkursion die Möglichkeit, ein Exemplar des frühneuzeitlichen Drucks und passend zum Lernmaterial den ersten Band der Historia in der Museumsbibliothek zu besichtigen (siehe Abbildung 6). Dadurch konnten die Schülerinnen und Schüler den Originaltext im gedruckten Folioband betrachten, den sie zuvor in Form des Lernmaterials bearbeitet hatten. In diesem Kontext wurde dann diskutiert, dass dieses Buch mit besonderem Schutzstatus in der Bibliothek verwahrt wird, während es aber Annotationen enthält, die auf einen ursprünglichen aktiven Gebrauchskontext dieses Buches verweisen.

Abb. 6. Conradi Gesneri Historiae animalium liber I: Das Exemplar der Museumsbibliothek wurde ebenfalls in die Führung eingebunden und verdeutlichte den unterschiedlichen Gebrauchs-kontext des Fischotter-Artenartikels.

Bei einer erneuten Anwendung und Modifizierung der vorgestellten Konzeption ist es unerlässlich, die Materialität des gedruckten Buches, die Arbeit mit Schere und Papier und die Wandlung des Schreibprozesses in den kontrastiven Vergleichen mitzureflektieren und stärker im Lernmaterial auszuprägen. Denn wie sich in

220

Julia Heideklang

den vorangegangen Beobachtungen zu Gesners Arbeitsweise, zum Lernmaterial und schließlich den Erfahrungen der Wissenschaftler gezeigt hat, können die verwendeten kleinen Formen nicht losgelöst von ihrer Materialität (als Papierschnipsel, abgedruckt in einem neuen Text auf der Buchseite, zusammengefügt in einem Worddokument oder einer Datenbank) betrachtet werden.

Kleine Formen als epistemologische Schlüsselfiguren Das Lernmaterial wurde ohne den Fokus auf die Erforschung kleiner Formen entwickelt, aber wie sich gezeigt hat, lohnt es, die Zusammensetzung und Wirkungsweise des Materials unter diesen neuen Gesichtspunkten zu betrachten und sich die Wirksamkeit kleiner Formen für die didaktischen Konzeptionen bewusst zu machen. Die Wirkmechanismen und die Materialität kleiner Formen können neue Antworten für die Funktionalität oder vielleicht auch fehlende Wirksamkeit von Lernmaterialien geben, wenn sie entsprechend didaktisch reflektiert werden. Die vergleichende Reflexion über Gesners Arbeitsweise und die Entwicklung didaktischer Konzeptionen haben verdeutlicht, wie verschiedene kleine Formen als Schnittstellen didaktischer Textbearbeitung fungieren. Die Dimensionen von ›Kleinheit‹ innerhalb des monumentalen Werkes von Conrad Gesner erlauben, wie oben gezeigt, genau eine derartige didaktische Aufbereitung, die nah am Original bleibt und somit den Text und Kon-text möglichst wenig verzerrt. Die im gedruckten Werk auf der Seite nicht mehr sichtbaren Schnittstellen treten in der Bearbeitung wieder hervor und erlauben eine Dynamisierung und Rekombination von Wissen (vgl. dazu Mayer/Gamper 2017, S. 11f.). Im Kontext des Lernmaterials zu Gesners Historia animalium, insbesondere mit einem fächerübergreifenden und wissens- und wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz, hat sich gezeigt, dass kleine Formen eine Schlüsselrolle einnehmen und zwar in mehreren Funktionen: Zum einen erlaubt die bewusste Beschäftigung mit den vom Autor verwendeten kleinen Formen eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen naturgeschichtlichen Praktiken, namentlich den Praktiken des Sammelns und Schreibens. Zum anderen ermöglicht der fächerübergreifende Ansatz, den Originaltext als Sammlung kleiner Formen zu verstehen und innerhalb der wissenschaftlichen Praktiken zu verorten und zu reflektieren sowie die Konzepte von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit kritisch zu hinterfragen. Sowohl für Gesners Text als auch den modernen Artenartikel zum Nashorn kann eine Anhäufung unterschiedlicher kleiner Formen beobachtet werden, die auf ganz unterschiedliche Weise Evidenz erzeugen sollen, sei es durch Zitationen vorangegangener Autoritäten oder durch Aneinanderreihungen von Zahlen und

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

221

Daten, die die Tierart regelrecht vermessen. Damit verbunden ist bei beiden Beispielen ein Zurücktreten eines ästhetischen Anspruchs hinter den pragmatischen Überlegungen. Über die Verbindung naturwissenschaftlicher und sprachlicher Perspektiven in der schulischen Behandlung dieser faszinierenden Textgruppe erlauben jene kleinen Formen als »little tools of representation« (Becker / Clark 2001, S. 1) die Formung und Transformation des Konzepts von Wissenschaft und den Praktiken wissenschaftlichen Schreibens für Schülerinnen und Schüler sichtbar zu machen.

Quellenverzeichnis Primärliteratur Conradi Gesneri medici Tigurini historiae animalium liber I, De quadrupedibus viviparis, opus philosophis, medicis, grammaticis, philologis, po[tis et omnibus rerum linguarumque variarum studiosis, utilissimum simul iucundissimumque futurum. Tiguri apud Christ. Froscherum, Anno 1551 (digitalisiert von der Zentralbibliothek Zürich: Signatur NNN 4; http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-1927).

Sekundärliteratur Ashworth, William B. Jr. (1996). »Emblematic Natural History of the Renaissance«, in: Cultures of Natural History, ed. by N. Jardine, J. A. Secord and E. C. Spary, Cambridge et al., S. 17–37. Asper, Markus (2007). Griechische Wissenschaftstexte. Formen, Funktionen, Differenzierungsgeschichten. Stuttgart. Asper, Markus (2013). »Introduction«, in: Markus, Asper (Hg.): Writing Science. Medical and Mathematical Authorship in Ancient Greece, Berlin, S. 1–13. Autsch, Sabine / Öhlschläger, Claudia (2014). »Das Kleine denken, schreiben, zeigen. Interdisziplinäre Perspektiven«, in: Autsch, Sabine / Öhlschläger, Claudia / Süwolto, Leonie (Hg.): Kulturen des Kleinen. Mirkoformate in Literatur, Kunst und Medien, Paderborn, S. 9–17. Becker, Peter / Clark, William (2001). »Introduction«, in: Becker, Peter / Clark, William (Hg.): Little Tools of Knowledge, Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices, Ann Arbor, S. 1–34. Blair, Ann (1992). »Humanist Methods in Natural Philosophy : The Commonplace Book«, in: Journal for the History of Ideas 53, S. 541–551. Blair, Ann (2010). Too Much to Know. Managing Scholarly Information Before the Modern Age. New Haven. Braun, Lucien (1990). Conrad Gessner. Slatkine, GenHve.

222

Julia Heideklang

Egmond, Florike (2016). »Animal Drawings for Gessner’s Historia Animalium Rediscovered in Amsterdam«, in: Leu, Urs B. / Ruoss, MylHne (Hg.): Facetten eines Universums. Conrad Gessner 1516–2016, Zürich, S. 155–162. Egmond, Florike (2018). Conrad Gessners »Thierbuch«. Die Originalzeichnungen. Herausgegeben und eingeleitet von Florike Egmond, aus dem Englischen von Gisella M. Vorderobermeier. Darmstadt. Enenkel, Karl A. E. (2007). »Zur Konstituierung der Zoologie als Wissenschaft in der Frühen Neuzeit: Diskursanalyse zweier Großprojekte (Wotton, Gesner)«, in: Enenkel, Karl. A. E. / Smith, Paul J. (Hg.): Early Modern Zoology, The Construction of Animals in Science, Literature and the Visual Arts, Leiden, Boston, S. 15–74. Findlen, Paula (2016). »Natural History«, in: Park, Katherine / Daston, Lorraine (Hg.): The Cambridge History of Science, Bd. 3: Early Modern Science, dritte überarbeitete Ausgabe, New York, S. 435–468. Fischel, Angela (2010). »Collections, Images and Form in Sixteenth-Century Natural History : The Case of Conrad Gessner«, in: Intellectual History Review 20, S. 147–164. Habermann, Mechthild (2001). Deutsche Fachtexte der frühen Neuzeit. Naturkundlichmedizinische Wissensvermittlung im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache. Berlin, New York. Hess, Daniel (2016). »Der neue Blick auf die Welt: Natur und Kunst von Dürer bis Gessner«, in: Leu, Urs B. / Ruoss, MylHne (Hg.): Facetten eines Universums. Conrad Gessner 1516–2016, Zürich, S. 27–42. Ijsewijn, Josef / Sacr8, Dirk (1997). Companion to Neolatin Studies. Leuven 1990–1998. Jardine, Nicholas / Spary, Emma (1996). »The Natures of Cultural History«, in: Jardine, Nicholas / Secord, J. A. / Spary, E. C. (Hg.): Cultures of Natural History, Cambridge et al., S. 3–13. Kipf, Stefan (2008). »Latein und Europa: Neulateinische Lektüre im Lateinunterricht«, in: Kussl, Rolf (Hg.): Lateinische Lektüre in der Mittelstufe, Spreyer 2008, S. 155–176. Kuhlmann, P. (2009). Fachdidaktik Latein kompakt. 2. Auflage, Göttingen. Kultusministerkonferenz (Hg.) (2004). Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Biologie. Kultusministerkonferenz (Hg.) (2005). Einheitliche Prüfunsanforderungen in der Abiturprüfung. Latein. Kusukawa, Sachiko (2007). »Konrad Gessner. The Beginnings of Modern Zoology«, in: Huxley, Robert (Hg.): The Great Naturalists, London, S. 71–75. Kusukawa, Sachiko (2012). Picturing the Book of Nature. Image, Text, and Argument in Sixteenth-Century Human Anatomy and Medical Botany. London, Chigaco. Latour, Bruno (1987). Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society. Cambridge MA. Leu, Urs B. (2016 a). Conrad Gessner (1516–1565). Universalgelehrter und Naturforscher der Renaissance. Zürich. Leu, Urs B. (2016 b). »Conrad Gessners Netzwerk«, in: Leu, Urs B. / Ruoss, MylHne (Hg.): Facetten eines Universums. Conrad Gessner 1516–2016, Zürich, S. 60–74. Ludwig, Walter (1997). »Die neuzeitliche lateinische Literatur seit der Renaissance«, in: Graf, Fritz (Hg.): Einleitung in die lateinische Philologie, Stuttgart, S. 323–256. Ogilvie, Brian W. (2006). The Science of Describing. Natural History in Renaissance Europe. Chicago, London.

Conrad Gesners Historia animalium im Unterricht

223

Ogilvie, Brian W. (2015). »Science and Medicine«, in: Knight, Sarah / Tilg, Stefan (Hg.): The Oxford Handbook of Neo-Latin, Oxford et al., S. 263–277. Pinon, Laurent (2005). »Conrad Gessner and the Historical Depth of Renaissance Natural History«, in: Pomata, Gianna / Siraisi, Nancy G. (Hg.): Historia, Empiricism and Erudition in Early Modern Europe, Cambridge Massachusetts, London, S. 241–268. Pomata, Gianna (2014). »The Medical Case Narrative: Distant Reading of an Epistemic Genre«, in: Literature and Medicine 32/1, S. 1–23. Riskin, Jessica (2016). The Restless Clock. Cicago, London. Rübel, Alex (2016). »Conrad Gessner als Zoologe«, in: Facetten eines Universums. Conrad Gessner 1516–2016, hg. v. Leu, Urs B. / Ruoss, MylHne Zürich, S. 141–154. Schmutz, Hans-Konrad (2016). »Gessners Thierbuch – zur Historia animalium«, in: Facetten eines Universums. Conrad Gessner 1516–2016, hg. v. Leu, Urs B. / Ruoss, MylHne, Zürich, S. 129–140. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hg.) (2006). Rahmenlehrplan für die gymnasiale Oberstufe. Biologie. Berlin. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hg.) (2006). Rahmenlehrplan für die gymnasiale Oberstufe. Latein. Berlin. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hg.) (2006). Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I Jahrgangsstufe 7–10. Latein. Berlin. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hg.) (2006). Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I Jahrgangsstufe 7–10. Biologie. Berlin. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hg.) (2015). Rahmenlehrplan Teil C. Biologie. Jahrgangsstufen 7–10. Straßfurt. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hg.) (2015). Rahmenlehrplan Teil C. Biologie. Jahrgangsstufen 7–10. Straßfurt. Short, Emma / George, Alex (2013). A Primer of Botanical Latin with Vocabulary. Cambridge et al. Siraisi, Nancy G. (2012). »Medicine 1450–1620, and the History of Science«, in: Isis 103/3, S. 491–514 (Online-Fassung: http://www.jstor.org/stable/10.1086/667970 [Stand: 14. 12. 2015]). Stearn, William T. Botanical Latin. History, Grammar, Syntax, Terminology and Vocabulary. Third revised edition, London 1983. Thesaurus Linguae Latinae (= TLL) (1900ff.), editus iussu et auctoritate consilii ab academiis societatibusque diversarum nationum electi, Lipsiae (Online-Fassung: https:// www.degruyter.com/view/db/tll). Wellisch, Hans H. (1984). Conrad Gessner. A Bio-Bibliography. Zug. Zedelmaier, Helmut (2015). Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung. Tübingen.

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

Zwischen Abstraktion und Anschaulichkeit. Pflanzengedichte (Guggenmos, Huchel, Wagner) als kleine literarische Formen im Deutschunterricht

Kleine Formen begegnen uns auf vielfältige Weise im Lehrkontext und können aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zum Gegenstand produktions- und rezeptionsgeschichtlicher Studien werden. Sie werden eigens für den Unterricht aus größeren Formen gewonnen, etwa über das Verfahren des Konzentrats, des Aus- und Zuschnitts oder des Exemplums, oder sie finden sich in fertiger Form in Lehr- und Lesebüchern und haben bereits seit Jahrhunderten nachweisbar eigene Traditionen im Bereich der Funktionalisierung herausgebildet. Ein handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht zu Gedichten setzt diese Funktionen didaktisch um, indem er beispielsweise die vorhandene Struktur und Dynamik der Texte, eventuell auch noch die Kanonisierung des Autors, nutzt, um zu Lese- und Schreibprozessen anzuregen. Damit verbunden ist eine Aufforderung zum ästhetischen Handeln, in dem z. B. unterschiedliche Lesarten des Gedichts durchgespielt werden. Verschiedene Formen der Rezeptionslenkung in einem didaktischen Arrangement von Texten und gegebenenfalls Paratexten (vgl. Fingerhut 2008, S. 11) unterstützen die Schülerinnen und Schüler bei ihrem Wissenserwerb rund um das Thema Pflanzen und stärken ihre Kompetenzen des Lesens, Schreibens und der Reflexion. Im Folgenden geht es uns darum, das didaktische Potenzial lyrischer Texte zu Pflanzen bei der Vermittlung zukunftsweisender Themen im Literaturunterricht exemplarisch vorzustellen. Als solche identifizieren wir Themen, die sich mit der Natur auseinandersetzen, wozu heutzutage die Narrative der Bedrohung bzw. Zerstörung der Natur gehören. Den theoretischen Hintergrund für die Beschäftigung mit Pflanzen in Gedichten bildet der Ecocriticism, konkret folgen unsere Überlegungen daher inhaltlich einem kulturökologischen Ansatz (vgl. Zapf 2008, Bartosch / Grimm 2014, Dürbeck / Stobbe 2015, Grimm / Wanning 2016). Zwecks Anschaulichkeit haben wir eine exemplarische Auswahl von Pflanzengedichten zusammengestellt, um das neue Forschungsfeld der kulturwissenschaftlichen Pflanzenstudien (Plant Studies; Stobbe 2019) auch unter einem didaktischen Blickwinkel zu skizzieren.

226

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

Die Vermittlung von Mensch-Pflanze-Wissen ist in Zeiten des Artensterbens ein zentrales Thema, das verschiedene Fächer betrifft, z. B. Biologie und Erdkunde, aber auch Sprache und Literatur. Interdisziplinarität in diesem Sinne, die Verbindungen zu natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächergruppen einschließt, ist heutzutage ein Gebot des modernen Deutschunterrichts (vgl. Rupp 2014, S. 23). Ein solcher kann in dem hier reflektierten konkreten Zusammenhang dazu beitragen, ein vertieftes Wissen über das Mensch-Pflanze-Verhältnis aus kulturgeschichtlich informierter Perspektive zu vermitteln und zugleich die Kompetenz im Denken auf den beiden Ebenen des kognitiven und ästhetischen Verstehens zu entwickeln. Wie die kognitionswissenschaftliche Leseforschung gezeigt hat, kommen leserseitige Vorstellungen durch die Aktualisierung realweltlicher Erfahrungen zustande; Texte werden auf diese Weise gleichsam realisiert (vgl. Brosch 2018, S. 427). Blumen, Büsche und Bäume gehören zweifelsohne zu einer Lebenswelt, die jedem zugänglich ist. Gedichte repräsentieren Pflanzen auf eine Weise, die über die Alltagserfahrung hinausgeht. Wenn durch das Lesen bzw. Hören von Gedichten Vorstellungen erzeugt werden, die zum Verstehen dieser Texte führen, dann wirken visuelle und verbale Elemente zusammen, zwischen denen der Leser hin und her wechselt (vgl. ebd., S. 431). Aus lesedidaktischer Sicht handelt es sich hierbei um kognitiv-emotionale Vorgänge, bei denen Dekodierungsprozesse eine wichtige Rolle spielen (vgl. Rupp 2014, S. 110). Aus der psychologischen Leseforschung kommt der ergänzende Hinweis, dass Lesen darüber hinaus als ein aktiver Konstruktionsprozess aufgefasst werden muss, durch den Lesende in eine Interaktion mit dem Text treten. Dabei ist der Unterschied zwischen literarischen und Sachtexten stets zu beachten; die »Bedeutung affektiver Komponenten« (Pfeiffer 2018, S. 456) ist bei der Lektüre literarischer Texte größer. Unter Beachtung dieser unterschiedlichen Rezeptionsaspekte entsteht mittels der hier beispielhaft hervorgehobenen Gedichte eine besondere Form des Wissens über Pflanzen, die sich aus einer ausschließlich naturwissenschaftlichen Perspektive nicht bietet. Sie ergänzt und erweitert bestehende Ansichten und steht nicht dazu in Konkurrenz. Die Lektüre, spielerische Aneignung sowie Analyse und Interpretation von Gedichten tragen dazu bei, einen »Habitus ästhetischer Sensibilisierung« (Rupp 2014, S. 131) zu entwickeln, was letztlich im Zusammenspiel die Persönlichkeitsbildung befördert. Doch zurück zu den kleinen Formen: Gedichte zählen neben Rätseln, Witzen, Kurz- und Kürzestgeschichten etc. zu den literarischen kleinen Formen (vgl. Moennighoff 2002). Zu deren Stärken gehört, wie bereits Andr8 Jolles (vgl. Jolles 1974, S. 22) erkannte, dass sie lebensweltliche Erfahrungen aus der Alltagswelt förmlich herausschneiden und sprachlich-ästhetisch gestalten. Die hier ausgewählten Gedichte erzählen jeweils eine Geschichte, eine verzauberte, eine träumerische, eine kämpferische. Sie sind – formal gesehen – lyrische Texte, die sich deshalb gut für Unterrichtszwecke eignen, weil sie aufgrund ihrer relativen Kürze

Pflanzengedichte als kleine literarische Formen

227

auch in einem engeren Zeitrahmen vollständig mehrfach gelesen werden können. Auch in didaktischer Sicht hat der begrenzte Textumfang »zu einem qualitativen Verständnis der Lyrik als komprimierte bzw. verdichtete Textart geführt.« (Köhnen 2011, S. 187) Ihre Stärke in Bezug auf Imaginationsbildung und auf die Wahrnehmung besonderer sprachlicher Mittel entfalten diese kleinen narrativen Gedichte nämlich erst nach wiederholtem Lesen. Da sie von der Alltagssprache deutlich abweichende Merkmale der Überstrukturiertheit aufweisen, vor allem Rhythmus und Reim, verlangen sie von den Kindern und Jugendlichen eine Aufmerksamkeit, die zu einer nachdenklichen, langsamen Rezeption anregt. Sie zeichnen sich zudem »durch einen besonders hohen Informationsgehalt bezogen auf die Menge der informierenden Zeichen aus.« (Vgl. Gans 2017, S. 38) Didaktisch gesehen folgt daraus, dass solcherlei Informationen ein hohes Relevanzpotenzial erhalten: »Gattungsspezifika legen mithin die Unterstellung der Relevanz jeder Information und die Möglichkeit einer ›zweiten Bedeutungsebene‹ nahe.« (Ebd.) Schülerinnen und Schüler nehmen die so (durch abweichenden Sprachgebrauch, Überstrukturiertheit, bewusste und mehrdeutige Gestaltung im Gedicht) gewonnenen Informationen, in unseren Beispielen diejenigen über Pflanzen, nachweislich als eine spezifische Form der Kommunikation wahr (vgl. Pieper / Wieser 2018, S. 115). Sie erhalten also einen zusätzlichen informationsbezogenen und ästhetischen Input. Dabei sind die hier vorgestellten Gedichte bereits nach der Erstbegegnung (lesend und / oder hörend) inhaltlich gut nachvollziehbar, handeln sie doch von einer Blumenzwiebel, den Pusteblumen und einer weit verbreiteten Wildpflanze, dem Giersch. Wir stellen diese Gedichte für drei Schulstufen (Grundschule, Sekundarstufe I und Sekundarstufe II) zu drei im didaktischen Fokus stehenden Anlässen vor: Wissen, Schreiben und Reflexion. Im Bewusstsein, dass diese eigentlich eng zusammengehören, heben wir je Gedicht einen Anlass besonders hervor. Tatsächlich sind selbstverständlich jeweils alle drei Aspekte in unterschiedlicher Ausprägung involviert.

Anlass Wissen: Wie Pflanzen auf die Welt kommen – Josef Guggenmos’ Mit einer Blumenzwiebel Der Gedichtband Was denkt die Maus am Donnerstag? (1967), aus dem das folgende Gedicht entnommen ist, zählt zu den Klassikern der Kinderlyrik. Der Autor Josef Guggenmos (1922–2003) wurde für seinen Gedichtband 1968 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet; 1993 folgte gemäß der breiten Kanonisierung seiner Gedichte in Anthologien und Lesebüchern die Auszeichnung für sein kinderlyrisches Gesamtwerk. Kinderlieder und -gedichte, die z. B. durch Reime das Sprachgefühl fördern, sind in der Grundschule nicht nur für

228

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

den Schriftspracherwerb und das literarische Verstehen von zentraler Bedeutung, sondern bieten auch einen Anlass zum kindgerechten Wissenserwerb. Aus didaktischer Sicht lenken lyrische Texte, die einen Gegenstand hervorheben, die Rezipienten auf die »Wirklichkeit und ihre Zeichenvermitteltheit (etwa durch Sprache, visuelle Konfigurationen, Klänge), um neue Sichtweisen auf Welt und Zeichen zu vermitteln.« (Ehlers 2016, S. 116) An folgendem Gedicht lässt sich das exemplarisch zeigen: Josef Guggenmos: Mit einer Blumenzwiebel Rate, was habe ich hier? Eine Zwiebel. Ich schenke sie dir. Scheint sie dir allzu gering? Es ist ein verzaubertes Ding. 5

Draus wird was schlüpfen im Mai Wie ein Vogel aus dem Ei. Wie ein Paradiesvogel schön Wird eine Blume im Garten stehn.

(Guggenmos 2012, S. 39; Abdruck des Gedichts mit freundlicher Genehmigung: Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel)

Der Form nach handelt es sich um ein Dialoggedicht, das mit einer direkten Leseransprache in Gestalt einer Frage beginnt (vgl. V. 1) und in Vers 3 eine weitere Frage stellt. Damit kommt es dem in der Literaturdidaktik häufig verwendeten Ansatz (gerade im Grundschulbereich), Lyrik als eine besondere Form der Rede vorzustellen, entgegen (vgl. Gratz 2005, S. 78). Auf die erste Frage folgt direkt die Antwort, verbunden mit dem Hinweis, die Zwiebel dem Gegenüber zu schenken. Das angesprochene Kind wird folglich direkt involviert und seine Neugierde geweckt. Eine mögliche Geringschätzung des Gegenstands seitens des kindlichen Zuhörers wird durch die zweite Frage suggeriert, um dieser sogleich mit dem Hinweis zu begegnen, dass es sich bei der Gabe um etwas ganz Besonderes handelt (»Es ist ein verzaubertes Ding«, V. 4). Die Strophen drei und vier prognostizieren die Auflösung des Zaubers durch den Hinweis auf die verborgenen Teile der Pflanze. Das Gedicht zählt zudem zu den Naturgedichten des Dichters, die »auf die poetische Beschreibung von Naturphänomenen (Wind, Regen, Jahreszeitenwechsel, Pflanzenwachstum)« fokussieren (Kümmerling-Meibauer 2012, S. 114). Das Gedicht zeichnet sich durch eine prosanahe parataktische Satzstruktur und ein einfaches Reimschema (Paarreime) aus, wie es in Guggenmos’ Gedichten häufig begegnet (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, S. 113f.). Als ebenso typisch

Pflanzengedichte als kleine literarische Formen

229

darf das veränderliche Versmaß des aus vier Zweizeilern bestehenden Gedichts gelten, ist es doch zu Beginn noch im regelmäßigen dreihebigen Daktylus gehalten, um dann in Vers sechs und acht füllungsfrei zu werden und schließlich am Schluss auch die Hebungszahl von drei auf vier zu erhöhen. Wie ein Pflanzenspross wächst der Schlussvers gewissermaßen hinsichtlich der Hebungszahl über die vorangegangenen Verse hinaus. Verstärkt wird diese Wandelbarkeit auch durch die Wahl des Futur I im zweiten Teil des Gedichts (»wird was schlüpfen«, V. 5 und »[w]ird eine Blume«, V. 8). Ästhetisch gefordert werden Kinder neben dem beweglichen Versmaß auch durch den vokalischen Halbreim (»gering« – »…tes Ding«, V. 3 u. 4) und den unreinen Reim in den Schlussversen (»schön« – »stehn«, V. 7 u. 8). Das variable Versmaß, das sich einem ›Herunterleiern‹ des Gedichts verweigert, ebenso wie auch der Kontrast zwischen einem einfachen Ding und dem Versprechen auf etwas Zauberhaftes, das sich daraus entfalten kann, sind keinesfalls Zufall. In seinem Nachwort Das Schreiben von Kindergedichten als schöne Kunst betrachtet entfaltet Guggenmos seine eigene kinderlyrische Poetik, wonach sich Gedichte für Kinder sowohl stilistisch als auch hinsichtlich ihrer Polyvalenz (Mehrdeutigkeit) an der Lyrik für Erwachsene orientieren sollten (vgl. Guggenmos 2012, S. 111–114). Demnach sollten auch Gedichte für Kinder literarisch anspruchsvoll sein und die Phantasie fördern. Insbesondere im zweiten Teil des Gedichts wird die Phantasie angeregt, indem z. B. durch die zweifache Verwendung der rhetorischen Figur des Vergleichs an mögliche Wissensbestände des Kindes angeknüpft wird. Das, was in und mit der Zwiebel geschehen wird, vergleicht die lyrische Sprechinstanz mit dem Prozess eines aus dem Ei kommenden Paradiesvogels, ohne diesen Vorgang zu spezifizieren oder näher zu beschreiben. Die Parallele zwischen Zwiebel und Ei knüpft an die Vorstellungswelt des Kindes an und zieht eine Tier-Pflanze-Analogie, die biologisch zwar in dieser Form nicht korrekt, aber didaktisch sinnvoll ist. Zudem findet eine Verkürzung des Wachstumsprozesses statt, indem aus dem Ei gleich ein Vogel (und kein Küken) und aus der Zwiebel gleich eine Blume (und kein Sprössling) wächst. Was ebenso in der Darstellung des Gedichts fehlt, ist die eigentliche Einpflanzung der Zwiebel, die hier jedoch nicht vermisst wird: In der Logik des Rezeptionsvorgangs, bei dem Bedeutungsrelevantes (was z. B. in einem Bericht oder Protokoll zwingend hätte erwähnt werden müssen) stillschweigend ergänzt wird, regt die Phantasie zu weiteren Fragen an. Was zuvor als eine Art Wunder dargestellt wurde (und in einem gewissen Sinne auch immer ein Wunder bleiben wird), kann nun logisch erklärt werden: woher die Blume stammt, die im Garten steht und »[w]ie ein Paradiesvogel schön« (V. 7) ist. Das Staunen richtet sich auf das Wunder der Entstehung des Schönen aus dem ›Geringen‹, hier in Form einer einfachen Zwiebel. Die Pflanze (Zwiebel und Blume) wird zum einen biologisch

230

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

erklärt, was auch ein Sachtext vermag, zum anderen wird sie Gegenstand eines zauberhaften Vorgangs, d. h. ästhetisch präsentiert, so dass hier beide Vermögen der Kausalität und Einbildungskraft gleichermaßen angesprochen sind. Das Gedicht vermittelt auf anschauliche Weise das abstrakte Wissen um die Entstehung einer Blume aus einer Blumenzwiebel, zeigt jedoch nicht den tatsächlichen Wachstumsvorgang, sondern symbolisiert diesen. Die einfache, aber ausdrucksstarke Sprache macht die Komplexität der Darstellung für Kinder fassbar, erst bei mehrfacher Lektüre lassen sich die verschiedenen Facetten erarbeiten, die sich einer symbolischen Bedeutung nähern oder Abwesendes hinzufügen (z. B. den Pflanzvorgang, die Erde, Wasser, Licht und Luft). So liegt gerade darin die Abstraktion des Gedichts, dass es einiges nicht erzählt. Die Vorstellungswelt des Kindes vergrößert sich durch den Input in Gestalt einer kleinen literarischen Form, hier dem Gedicht von Guggenmos. Entscheidend ist dabei die lexikogrammatische Konzeption, also die Wahl der passenden Wörter und Formulierungen, wie Doris Tophinke erläutert: Sprachliches Handeln erzeugt stets auch ›kognitive‹ Wirklichkeiten. Dies sind die Vorstellungen und Vorstellungswelten, die sich im Denken beim Zuhören oder Lesen aufbauen. […] In jedem sprachlichen Handeln werden einfache oder komplexe Beobachtungen, Erlebnisse und Sachverhalte geschildert und bauen sich kognitiv Vorstellungswelten auf. (Tophinke 2018, S. 5)

Die natürlichste Art der Gedankenfügung, die schon Kleinkinder beherrschen, ist die Narration, wie Fritz Breithaupt mit Bezug auf die Narrative Intelligence Hypothesis (im Anschluss an Kerstin Dautenhahn) ausführt, derzufolge Wesen mit der Fähigkeit zur Narration in Alternativen zu Bestehendem und Erkennbarem denken können (Breithaupt 2009, S. 115). Nach Kerstin Dautenhahn (vgl. Dautenhahn 2001, S. 253) ist diese Fähigkeit entscheidend zur Entwicklung sozialer und personaler Komplexität. Haben Kinder es sich bisher nicht erklären können, weshalb schöne Blumen im Garten stehen, so gewinnen sie durch das Gedicht in seiner narrativen Struktur auf spielerische Art Einsichten in Zusammenhänge, die ihnen verborgen waren. Sie machen also eine Lernerfahrung und denken in Alternativen zu Bestehendem, insofern das Bestehende ihre bisherige Weltsicht war, die keine ursächliche Erklärung für die Existenz der Blumen im Garten kannte. Diese Lernerfahrung kann nun, da sie die Neugier noch mehr entfacht hat, durch weitere Anreicherung des Wissens mittels entsprechender Materialien (Sachbilderbücher, Videos etc.) oder sogar praktischer Experimente (Blumenzwiebeln pflanzen) ausgebaut werden. »Literarische Gegenstände erhalten, ebenso wie die Sachtexte, ihre Position im Deutschunterricht über ihre Qualität als Lernmedium.« (Fingerhut 2008, S. 10) Deshalb ist es entscheidend, was die kleine literarische Form hier leistet: Diesem konkreten und lebensweltlich

Pflanzengedichte als kleine literarische Formen

231

wichtigen Wissen um das Wachstum der Blumen geht eine ästhetische Erfahrung, ein Rätsel, ein Wunder voraus und wird verknüpft bleiben, weil ein Kind in diesem Alter Wissensbestände noch nicht kategorisiert und nicht in relevantes oder unnützes Wissen unterteilt. Dies gilt insbesondere auch für das durch Gedichte geförderte Symbolverstehen (vgl. Gardner 2001, S. 78) und die Rezeption ästhetischer Werke im Kindesalter (vgl. Handler Spitz 2006, S. 9f.). Das Kind hat insgesamt etwas gelernt, das ihm bei einer nur biologischen Betrachtung der Blumenzwiebel verborgen geblieben wäre.

Anlass Schreiben: Pusteblumen als poetische Pflanzen entdecken – Löwenzahn von Peter Huchel Peter Huchel (1903–1981) hat mit seinem Gedicht Löwenzahn eine Blume in den Fokus gerückt, die jedes Kind kennt: den Löwenzahn, gemeinhin bekannt als Pusteblume. Das Gedicht wird in unterschiedlichen Kontexten und auch bereits für jüngere Altersstufen eingesetzt, doch bietet es sich aufgrund seiner komplexen poetischen Sprache auch in der Sekundarstufe I für den Anlass Schreiben an. Zunächst zum Wortlaut des Gedichts: Peter Huchel: Löwenzahn Fliegen im Juni auf weißer Bahn flimmernde Monde von Löwenzahn, liegst du versunken im Wiesenschaum, löschend der Monde flockenden Flaum. 5

10

15

Wenn du sie hauchend im Winde drehst, Kugel auf Kugel sich weiß zerbläst, Lampen, die stäubend im Sommer stehen, wo die Dochte noch wolliger wehn. Leise segelt das Löwenzahnlicht über dein weißes Wiesengesicht, segelt wie eine Wimper blaß in das zottige wogende Gras. Monde um Monde wehten ins Jahr, wehten wie Schnee auf Wange und Haar. Zeitlose Stunde, die mich verließ, da sich der Löwenzahn weiß verblies.

(Huchel 1984, S. 60; Abdruck des Gedichts mit freundlicher Genehmigung: Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main)

232

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

Das Gedicht erzählt von einem sommerlichen Tag im Juni zur Zeit der Löwenzahnblüte. Die bekannte Pusteblume erscheint dabei vor dem geistigen Auge, ohne dass sie je direkt evoziert wird. Dies baut auf dem vorhandenen Wissen der Schülerinnen und Schüler über den Zusammenhang von Löwenzahn und Pusteblume auf (letztere ist die verblühte Form, bei der sich die Samenstände per Luftbewegung verbreiten). Das Thema »Löwenzahn« ist in den Biologie-Lehrplänen fest verankert, z. B. in der Unterstufe im Kontext von »Vielfalt und Besonderheiten bei den Blütenpflanzen« oder im 10. Jahrgang als Beispiel für »Symbiose und Evolution«.1 Zu den Lernzielen gehört, dass die Schülerinnen und Schüler erkennen, weshalb Löwenzahn sich stark ausbreiten kann. In einem weiteren Schritt erfahren sie etwas über die Strategien der Evolution, die es der Pflanze erlauben, sich optimal den jeweiligen Umweltbedingungen anzupassen. Das Gedicht Löwenzahn fügt diesem Wissen aus der Biologie ästhetisches Wissen hinzu, das in unserem Beispiel durch verschiedene Schreibübungen erworben wird: Der eigentlich nüchterne Fortpflanzungsvorgang des Löwenzahns wird hier atmosphärisch dicht erzählt, indem ein Naturszenario geschaffen wird aus den Elementen Licht (»flimmernd[]«, V. 2, »Lampen«, V. 7 und »Löwenzahnlicht«, V. 9) und Wind (»hauchend«, V. 5, »verblies«, V. 16). Wie es ein Charakteristikum von Sprache in der Lyrik ist, finden sich in Huchels Löwenzahn zahlreiche Substantiv-Verb-Verbindungen, die in der Alltagssprache so nicht geläufig sind (»Dochte […] wehn«, V. 8, »segelt das Löwenzahnlicht«, V. 9, »segelt wie eine Wimper«, V. 11, »wogende Gras«, V. 12). Zudem wird bei der Beschreibung des Löwenzahns als Pflanze auf Bilder aus dem Bereich der Gestirne zurückgegriffen (»flimmernde Monde von Löwenzahn«, V. 2, »Kugel auf Kugel sich weiß zerbläst«, V. 6). Dies alles wird kombiniert mit menschlichen und tierischen Attributen (»Wiesengesicht«, V. 10, »Wimper«, V. 11, »das zottige wogende Gras«, V. 12, »Wange und Haar«, V. 14). Genau genommen handelt es sich bei dem Gedicht nicht nur um ein Pflanzengedicht, sondern zugleich auch um ein »Wind-Gedicht«, charakterisiert es doch die Pusteblume aus dem für sie wesentlichen Element heraus. Wenn literarische Texte aus der Perspektive eines Schriftstellers/einer Schriftstellerin gelesen werden (»Reading as a writer«) bzw. Sachtexte auf ihren Aufbau hin analysiert werden (»reading for structure«), kehrt das den Leseprozess in gewisser Weise um: Das Erkennen der Form erfolgt vor dem inhaltlichen Verstehen und erleichtert dieses (vgl. Stemmer-Rathenberg 2011, S. 14). Dieses Verfahren unterstützt das Bewusstsein für die kleine Form Lyrik und erlaubt auch »Umschreibeprozesse«, also z. B. durch die kreative Schreibaufgabe, 1 Vgl. Lehrplan Biologie (Sek. I für Gymnasium) für Bayern, ähnlich auch in anderen Schulformen und Bundesländern: https://www.lehrplanplus.bayern.de/jahrgangsstufenprofil/gym nasium/5/biologie [Zugriff: 8. 4. 2019].

Pflanzengedichte als kleine literarische Formen

233

das Gedicht in einen entsprechenden Prosatext umzuwandeln. Auch Verfahren des heuristisch-assoziativen Schreibens zu literarischen Texten, bei dem es weniger auf das Produkt des Schreibprozesses ankommt, sondern eher auf die gedankliche Dynamik des Schreibenden, können in diesem Umfeld erfolgversprechend eingesetzt werden (vgl. Jander 2016, S. 203). Dazu bietet das Gedicht Löwenzahn noch einen weiteren Anknüpfungspunkt: Die Anrede des Lesers als »[D]u« (z. B. V. 3 u. 5), scheint zunächst auf den Leser zu zielen, doch ist es so eindeutig nicht, dass nicht auch eine Lesart möglich wäre, die in dem »Du« die Pusteblume erkennt. Diese »Du«-Struktur markiert auch die Chancen, die in der Gattungsabgrenzung bzw. deren Überschreitung liegen. James Wood schreibt hierzu: Erzählende Prosa ist ein Haus mit vielen Fenstern, aber nur zwei oder drei Türen. Ich kann eine Geschichte in der dritten Person oder in der ersten Person erzählen, vielleicht noch in der zweiten Person Singular oder der ersten Person Plural, obwohl es für letztere nur ganz wenige Beispiele gibt. Und das ist alles. Alles andere wird höchstwahrscheinlich kaum noch eine Erzählung sein, sondern eher Lyrik oder lyrische Prosa. (Wood 2011, S. 19)

Durch eine geteilte Schreibaufgabe aus den beiden Perspektiven des »Du« (Pusteblume oder ein Mensch, der träumerisch in die Szene eingebunden ist, idealerweise der Leser) entstehen nicht nur kreative Impulse, sondern auch Möglichkeiten, die Strukturen und Funktionen kleiner Formen an der Grenze von Lyrik zu Prosa einschließlich verschiedener Hybridisierungen zu erkennen und zu diskutieren. Durch eine entsprechende Schreibaufgabe lassen sich aus der »Mensch-Perspektive« identitätsbildende Aspekte hervorheben. Gerade schreibdidaktische Prozesse, die zudem positive Auswirkungen auf die Lesekompetenz haben, schärfen den Blick auf die Strukturen des Textes. Gedichte lassen sich auch durch einen kreativen Umgang mit dem Text aneignen, was zum individuell bedeutsamen Schreiben anregt. Solche Verfahren unterstützen, gemäß einer bekannten These Kaspar Spinners, die »Suchbewegung auf dem Weg zur eigenen Identität« (Spinner 1993, S. 18). Inhaltlich wird auf diese Weise Neues hinzugefügt, nämlich die Auflösung der Grenze zwischen der menschlichen und der pflanzlichen Welt, die zum Ende des Gedichts immer deutlicher wird: Bleibt das »Du« zunächst »versunken« (V. 3), aber noch klar erkennbar, hat es in der dritten Strophe ein »Wiesengesicht« (V. 10) und verschmilzt mit der Umgebung. In der anderen Lesart, wenn das »Du« als Pusteblume verstanden wird, ist zunächst die einzelne Pusteblume unsichtbar im »Wiesenschaum« (V. 3), der aus der Menge der Pusteblumen entsteht, die durch den Wind ihre Kugelform verlieren. Am Ende sind sie Teil eines »Wiesengesicht[s]« (V. 10), das vom »Löwenzahnlicht« (V. 9) in das »zottige Gras« (V. 12) gemalt wird und in der vierten

234

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

und letzten Strophe ganz vergeht (»da sich der Löwenzahn weiß verblies«, V. 16). Ist dies alles eine durch lyrische Sprache hervorgerufene Illusion (oder ein Traum), so entsteht durch den so verschobenen Fokus eine andere Sicht auf Löwenzahn, als es mit einem Sachtext je erreicht werden könnte. Literarische Kreativität, die hier gefördert wird, ist ein Phänomen, das in die allgemeinen Formen kultureller, sprachlicher und anthropologischer Kreativität eingebunden ist. In Bezug auf die Denkschulung, also Denken in mehreren Ebenen und Gegensätzen (Narrative Intelligence Hypothesis, vgl. Breithaupt 2009, S. 115), fördert dieses Gedicht kontingentes und divergentes Denken gleichermaßen, z. B. auch durch das Spiel von Nähe und Distanz. Dessen dissipative Struktur (vgl. ebd., S. 148) lässt sich nicht vollständig in ein widerspruchsfreies Erklärungsmodell bringen, es enthält Momente der unhintergehbaren Selbstreflexivität, was ebenfalls eine Stärke der kleinen Form ist. Dieser Kreativität auch schreibend zu begegnen, spielt eine wichtige Rolle im Prozess anthropologisch-kultureller Selbsterforschung und ist konstitutiv bedeutsam für die Erkenntnis der Natur-Kultur-Beziehung (vgl. Zapf 2008, S. 28), um die es uns hier wesentlich geht.

2.3

Anlass Reflexion: Jan Wagners Giersch – und die Frage, ab wann viele Pflanzen zu viel sind

Eine ganz vertraute kleine Form im Zusammenhang mit Pflanzen und Lyrik ist wohl der Poesiealbumspruch. Einzelnen Blumen werden bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, die gerade einem jungen weiblichen Zielpublikum vor Augen führen, wie sie sich zu verhalten haben bzw. an welchen Pflanzen sie sich idealer Weise orientieren können: Nicht an der stolzen Rose, sondern am bescheidenen und sittsamen Veilchen etwa; oder wie wichtig es in der Freundschaft ist, sich nicht gegenseitig zu vergessen, denn »Rosen, Tulpen, Nelken / Alle Blumen welken«. Diese einfache Gedichtform ist in der Alltagskultur wohl vertraut; Poesiealbumsprüche dieser Art sind es, die nicht nur bestimmte Geschlechterstereotype perpetuieren, sondern auch die einzelnen Blumen auf bestimmte Eigenschaften festlegen. In der Regel sind es schön anzusehende, gut duftende und farbige Blumen (Rosen, Tulpen, Nelken, Veilchen, Vergissmeinnicht), die nicht zuletzt auch durch Poesiealbumsprüche fester idiomatischer Bestandteil der Alltagssprache sind. Andere Pflanzen dürften ebenso allgegenwärtig sein, zumindest in der gärtnernden Alltagskultur, allerdings als sog. Unkräuter. Versuche, die weniger pejorative Bezeichnung Wildkräuter für Pflanzen dieser Art einzuführen, sind bislang nur mäßig erfolgreich gewesen. Gemeint sind all diejenigen Pflanzen, die

Pflanzengedichte als kleine literarische Formen

235

zumindest derzeit nicht als Nutz- oder Zierpflanzen seitens des Menschen eingestuft und in den Gärten meist rigoros entfernt werden. Man will sie dort nicht, weil sie den anderen Pflanzen Licht und Wasser und Nährstoffe wegnehmen – und sie sich meist viel stärker und schneller ausbreiten als andere Pflanzen. Eine solche Pflanze ist der Giersch. Und genau diesem Giersch hat Jan Wagner (geb. 1971) in seinem Lyrikband Regentonnenvariationen (2014) ein Gedicht gewidmet, das im Zentrum der dritten Modellanalyse steht, die wir dem Anlass Reflexion für den Unterricht in der Sekundarstufe II zugeordnet haben. Jan Wagner : giersch nicht zu unterschätzen: der giersch mit dem begehren schon im namen – darum die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch wie ein tyrannentraum. 5

10

kehrt stets zurück wie eine alte schuld, schickt seine kassiber durchs dunkel unterm rasen, unterm feld, bis irgendwo erneut ein weißes widerstandsnest emporschießt. hinter der garage, beim knirschenden kies, der kirsche: giersch als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch schier überall sprießt, im ganzen garten giersch sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.

(Wagner 2017, S. 7; Abdruck des Gedichts mit freundlicher Genehmigung: Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München)

Schon allein, dass Wagner dieser Pflanze ein ganzes Gedicht widmet, stellt einen unerhörten Akt dar, bricht es doch mit einer langen Tradition der Pflanzendarstellung in Gedichten. Statt eine schöne, kostbare, seltene oder sonst in irgendeiner Form hervorstechende Pflanze in den Mittelpunkt des ästhetischen Interesses zu rücken, widmet sich das Gedicht einer Pflanze, die sich durch ihre Kriechtriebe (Rhizome) verbreitet – und der dadurch extrem schwierig beizukommen ist (um es einmal aus gärtnerischer Sicht zu formulieren): Einmal Giersch im Garten, und man sieht sich, wenn man nichts unternimmt, möglicherweise mit einem Areal konfrontiert, das nur noch von einer einzigen Spezies bewachsen ist, nämlich eben jenem Giersch. Auf der Internet-Seite von »Meinschöner-Garten« lässt sich nachlesen, was sich machen lässt – und bietet immerhin auch die Alternative an, ihn statt zu jäten oder gar zu vergiften, einfach zu

236

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

essen, denn er sei sehr nährstoffreich.2 Wie der Germanist Ludwig Fischer am Beispiel der Brennnessel gezeigt hat (vgl. Fischer 2017), teilt der Giersch mithin ein ähnliches Schicksal wie die Brennnessel. Eigentlich sind diese Pflanzen sehr wohl nützlich im Sinne von nährstoffreich; die (Be-)Wertungen seitens des Menschen haben sich nur im Laufe der Jahrhunderte verändert. Diese vom Gedicht praktizierte Um- oder Neu-Bewertung einer derzeit wenig geschätzten Pflanze lässt sich zum Gegenstand der Reflexion machen. In der Sekundarstufe II verfügen die Schülerinnen und Schüler über sprachliches und metakognitives Vorwissen, konkret: Sie sind im Umgang mit Gedichten unterschiedlicher Formen bereits geübt. Der Form nach ist das Gedicht ein Sonett – und damit eine stark regelgeleitete, ursprünglich romanische Gedichtform, die hier jedoch auf vielfältige Weise modifiziert wird, indem z. B. das eigentlich regelgebundene Versmaß durch eine Polyrhythmik ersetzt wird (vgl. Ammon 2017, S. 216). Der Reiz des Gedichts liegt nicht zuletzt auch darin, dass die äußere Struktur des Sonetts im Inneren gewissermaßen rhizomatisch unterwandert wird und giersch als »gelungene[s] Beispiel für die Aktualisierung der traditionellen romanischen Gedichtform« (Pieper / Rohowski 2016, S. 202) gelten kann. Das, wofür der Giersch bekannt und gefürchtet ist, findet sich in dem Gedicht ästhetisch vergegenwärtigt, wie es auch an der Satzstruktur sinnfällig wird. Fallen bei dem ersten Quartett noch Satz- und Strophenende zusammen, springt der zweite Satz im zweiten Quartett mittels eines Strophenenjambements bereits in das erste Terzett über, um dann den dritten Satz noch über das zweite Terzett gleichsam überwuchern zu lassen (vgl. ebd., S. 203f.). Graphisch lässt sich dieses Überwuchern auch daran erkennen, dass der letzte Vers der längste ist. Die Reime folgen nur vage einem Schema und können als slant rhymes nach angelsächsischem Vorbild identifiziert werden, die für die Lyrik Jan Wagners als charakteristisch gelten (vgl. Ammon 2017, S. 216). So finden sich zu Beginn des Gedichts unreine Reime und Assonanzen angedeutet, auch ist das Enjambement durch einen unterbrochenen Reim besonders betont. Auffällig ist, wie sehr sich der Giersch auch auf der Ebene der Reimwörter und der Klangmalerei gegen Ende des Gedichts durchsetzt. Nicht nur wird »giersch« im Schlussterzett als identischer Reim wiederholt (V. 10 u. V. 12–14), sondern auch nochmal im letzten Vers durch einen Binnenreim in Form eines identischen Reims verstärkt (»sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch«, V. 14). Die Überwucherung durch den Giersch vergegenwärtigt sich auch klanglich durch eine extreme Häufung von i-Lauten einschließlich der verschiedenen Abtönungen in Kombination mit Reibe- und Zischlauten (Frikativen) wie r, sch, sp und deren Kombination. Zählen die i- und e-Laute eigentlich zu den hellen und 2 Vgl. https://www.mein-schoener-garten.de/gartenpraxis/pflanzenschutz/giersch-bekaempfe n-so-werden-si-e-das-unkraut-dauerhaft-los-3846 [Zugriff: 3. 7. 2018].

Pflanzengedichte als kleine literarische Formen

237

mithin mit Fröhlichkeit assoziierten Lauten, sind sie in Kombination mit den gehäuften Zischlauten hier eher als Ausdruck von Abscheu und dem VertreibenWollen assoziiert. Jan Wagner selbst sagt dazu in einem Interview: »Die Klangstruktur des Wortes [›Giersch‹] sprengt mit ihrem sprachlichen Wurzelwerk die Form, bricht sie auf und überwuchert das ganze Gedicht.« (Schock 2015, S. 216) Die auf mehreren Ebenen hervortretende Kongruenz von Form und Inhalt macht Frieder von Ammon (Ammon 2017, S. 215–217) nicht zuletzt auch für den großen Erfolg dieses Gedichts (mit-)verantwortlich. Eine entsprechende Analyse, die Laut- und Klangformen mit einbezieht, können die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II durchaus leisten, weil sie das entsprechende Vorwissen haben. »Sinnesschulung« und »Analyse« (Köhnen 2011, S. 187) sind darüber hinaus zwei entscheidende Kriterien, die die Literaturdidaktik der Lyrik als kleine Form zuweist. Die Anwendung des betreffenden Kontextwissens im Verstehensprozess ist für das literarische Lesen sehr wichtig (vgl. Stark 2010, S. 117). Häufig trennt der Literaturunterricht jedoch die Vorgänge des Verstehens und Bewertens. Für unser Beispiel, mittels des Gedichts Giersch zur Reflexion auf eine erweiterte Sicht auf dieses ›Unkraut‹ hinzuwirken, ist eine integrative Lesart geeigneter. Wie empirisch nachgewiesen wurde, interagieren Vorwissen, Sinnzuschreibungs- und Bewertungsprozesse beim literarischen Lesen, was rein kognitiv ausgerichtete Lesetheorien allerdings kaum reflektieren: »Dies ist problematisch, da Wertungsoperationen […] nicht bloß nachgeordnete Bedingungen oder Einflussvariablen auf die an sich entscheidenden Prozesse [bewirken], sondern unmittelbar am Verstehensprozess beteiligt sind.« (Ebd., S. 126) Wir gehen im Anschluss daran von der These aus, dass eine genuin literarische Lesekompetenz, die über die allgemeine Lesekompetenz hinaus spezifische Verstehensprozesse ermöglicht, durch die Beschäftigung mit dem Gedicht Giersch gefördert werden kann. Dies belegen wir nicht nur mit der formalen Analyse, sondern auch mit der inhaltlichen Struktur des Gedichts, die auf einem Spiel der Ambivalenzen beruht, auf das sich die Schülerinnen und Schüler einlassen können. Am Ende steht die Einsicht in die komplexen Zusammenhänge des wertenden Umgangs mit der Lebensform Pflanze. Inhaltlich tritt der ambivalente Charakter der Pflanze Giersch schon in der ersten Strophe des Gedichts hervor, wenn einerseits das Wort ›Gier‹ im Pflanzennamen mit Begehren gleichgesetzt wird (vgl. V. 2), andererseits die weiße Doldenfarbe mit Keuschheit assoziiert wird (vgl. V. 3), um dann die Assoziationskette dissonant werden zu lassen, indem die Unschuld mit einem Tyrannentraum verglichen wird (vgl. V. 4). Dies kann zum Anlass dafür genommen werden, darüber zu reflektieren, ab wann das gehäufte Auftreten einer Pflanze oder überhaupt eines Lebewesens als zu viel empfunden wird. Damit verbindet sich auch die Frage, welcher Eigenwert jeder Pflanze zugesprochen werden kann, darf oder vielleicht nur müsste. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem ad-

238

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

äquaten Umgang des Menschen mit der grünen Natur : Ist es sinnvoll, alle natürlichen Prozesse laufen zu lassen, in der Hoffnung auf einen sich von alleine einstellenden Ausgleich? Ist behutsam einzugreifen oder muss einer sich aggressiv ausbreitenden Pflanze radikal begegnet werden? Das Gedicht eröffnet das Feld für ein Nachdenken über die verschiedenen Möglichkeiten, auf weniger stark repräsentierte Pflanzen zu reagieren, die sich nicht so verhalten, wie Pflanzen vielleicht sonst gern gesehen und dargestellt werden. Vor diesem Hintergrund wäre das Gedicht zu kontextualisieren und gegebenenfalls auch darauf hin zu befragen, ob und welche politische Metaphorik dem Gedicht unterlegt ist bzw. sich daraus herauslesen lässt.

3.1

Fazit

In den drei Gedichten werden auf dreifache Weise Geschichten über Pflanzen erzählt. Guggenmos wählt in seinem Kindergedicht den Weg einer Analogie, bei Huchel lässt sich eine Tendenz zur Anthropomorphisierung ausmachen und Wagner kehrt gängige Pflanzenvorstellungen in der deutschsprachigen Tradition von Pflanzen- und Blumengedichten um, ist doch die von ihm ins Zentrum gestellte Pflanze ein Aggressor. Alle drei Gedichte halten auf unterschiedliche Weise die Waage zwischen Abstraktion und Anschaulichkeit: Das erste Gedicht wählt einen abstrakten Vergleich, der nicht eine spezifische Pflanzenart in den Blick nimmt, sondern eine Möglichkeit der Fortpflanzung bei Pflanzen kindgerecht anschaulich macht. Bei der Pusteblume, dem Löwenzahn, wird eine weit verbreitete Pflanze in den Mittelpunkt gerückt, deren Fortpflanzung über den Wind jedoch stark poetisiert wird. Bei Wagner schließlich wird eine Pflanze anschaulich in ihrer typischen Verhaltensweise ins Bild gesetzt und für metaphorische Lesarten geöffnet. Nach Altersstufen gestaffelt gelangen unterschiedliche Formen der pflanzlichen Fortpflanzung und Ausbreitung in den Blick – sowie, und das ist entscheidend: Die Pflanzen provozieren jeweils unterschiedliche Reaktionen bzw. die Gedichte legen unterschiedliche Wirkweisen nahe: mal das Staunen, mal das In-Eins-Gehen mit der Pflanzenwelt und mal Abwehr bzw. Ekel. Poetisches Verstehen und naturwissenschaftliches Wissen wirken auf diese Weise zusammen.

Gedicht

P. Huchel: Löwenzahn

J. Wagner : Giersch

Sek. I

Sek. II

Grundschule J. Guggenmos: Mit einer Blumenzwiebel

Schulstufe

Verbreitung durch rhizomatische Wucherungen

Verbreitung der Samen durch Wind

Pflanzliche Wachstumsform Wachstum aus der Zwiebel

Abwehr bzw. Ekel

Eintauchen in die Pflanzenwelt

Reaktion / Wirkweise Staunen

Reflexion

Schreiben

Lesen, (kreatives) Schreiben

Geförderte Kompetenzen Lesen, Zuordnen, Erkennen

Nachdenken über wertende Analysieren, Zuschreibungen Wertungen hinterfragen

Erkenntnisgewinn durch Perspektivwechsel

Didaktische Didaktische Ziele Schwerpunkte Wissen Erweiterung des Wissens durch ästhetisches Handeln

Pflanzengedichte als kleine literarische Formen

239

240

3.2

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

Anschlussfähigkeit und Ausblick

Alle drei Gedichte sind als kleine literarische Formen besonders geeignet, einen literaturdidaktischen Zugang für die Lebensart ›Pflanze‹ zu öffnen. Relevant ist dies vor allem deshalb, weil Pflanzen eine entscheidende Säule der menschlichen Existenz sind. Ohne sie gibt es keine Nahrung und Luft zum Atmen. Einbinden lassen sich Pflanzengedichte als kleine Formen in den Unterricht, um ihnen künftig im Rahmen eines themenorientierten Unterrichtsansatzes vermehrte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, sowohl inhaltlich (Pflanzen) als auch formal (verschiedene Gedichtformen). Zugleich lassen sich Pflanzengedichte als Unterrichtsgegenstände mit der Forderung nach einem fortschreitenden interdisziplinären Zuschnitt der Unterrichtsfächer verbinden, in unseren Beispielen bietet sich vorrangig das Fach Biologie an. Dieses profitiert von der thematisch erweiterten Kompetenz der Schülerinnen und Schüler durch zugleich literarisches Verstehen des jeweiligen Sachverhalts, hier die vielgestaltige Fortpflanzung der Flora betreffend. Nachweislich sind mit literarischen Texten spezifische Verstehensansprüche (hinsichtlich Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit, Verknüpfungsdichte usw.) verbunden, die einen eigenen Kompetenzbereich ausmachen (vgl. Frederking / Henschel 2016, S. 76). Die literarische Textverstehenskompetenz lässt sich somit von der faktualen, die bei Textarbeit im Biologieunterricht vorherrscht, abgrenzen. Sie bezeichnet die Fähigkeit, Sinnstrukturen und Wirkungsabsichten auf semantischer und idiolektaler Ebene zu erfassen und daraufhin kohärente Deutungen zu entwickeln, ausdrücklich auch unter Berücksichtigung außertextueller Bezüge (vgl. ebd.). Pflanzengedichte sind aufgrund ihrer Kürze besonders für den Einsatz im Schulunterricht geeignet, da sie mehrfach gelesen und in ihren verschiedenen Wissensdimensionen erschlossen werden können. Sie fordern als kleine literarische Formen zur Ausbildung unterschiedlicher Kompetenzen auf: zum botanischen Wissenserwerb in konzentrierter Form, zum ästhetischen Schreiben über Blüten in selektiver Weise und zum exemplarischen Reflektieren über das Verhältnis des Menschen zur Pflanze. Wird nun die sachlich-naturwissenschaftliche Perspektive auf die konkrete Pflanze um die literarästhetische ergänzt oder wird diese als Ausgangspunkt genommen, zu dem als zweites die biologische Sachinformation tritt, entsteht insgesamt ein Wissen über Pflanzen und über den Umgang mit ihnen, das vielfältiger ist und mehr Anschlussmöglichkeiten besitzt, als die isolierte Sicht nur eines Faches allein bietet. Der didaktische Mehrwert lyrischer Kurztexte besteht vor allem darin, dass sie auf kleinem Raum einen poetischen Zugang zur Wirklichkeit ermöglichen und gleichzeitig altersgerecht dazu auffordern, die teils komplexe Bildsprache des jeweiligen Gedichts zu dekodieren.

Pflanzengedichte als kleine literarische Formen

241

Moderne deutschdidaktische Arbeitsformen wie das materialgestützte Schreiben (und besonders dessen wissenschaftspropädeutisches Potenzial, vgl. Feilke 2017, S. 4f.) unterstützen diese Entwicklung, Wissen mehrdimensional aus interdisziplinär unterschiedlichen Perspektiven zu vermitteln. Mit Blick auf ein so erarbeitetes Pflanzenwissen lassen sich weiterführende, thematisch nahestehende Aspekte anschließen, z. B. Diskurse über Ernährung (für Tiere und Menschen), Kleidung, die kulturelle und/oder wirtschaftliche Bedeutung der Pflanzen, Pflanzenzucht und Artenschutz, gesellschaftlicher Umgang mit Pflanzen und Tieren, Klima und andere Nachhaltigkeitsthemen – alles Themenbereiche, die neben den Ausgangsfächern Deutsch / Literatur und Biologie andere Fächer einbeziehen, z. B. Wirtschaft, Politik, Ethik. Insgesamt kann ein so verstandener, multiperspektivischer Umgang mit dem Thema Pflanze auch als Beitrag zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) gelten. Diese orientiert sich aktuell an den weltweit gültigen Sustainable Development Goals, auch bekannt als Agenda 2030.3 Über die im nationalen Aktionsplan4 getroffenen Vereinbarungen und Zielvorstellungen, die ausdrücklich die ›kulturellen Fächer‹ einbeziehen, gelangt BNE als obligatorische Anforderung in die aktuellen Kernlehrpläne5 und bereichert zukünftig den Unterricht aller Fächer im Sinne einer verbindlichen Querschnittsaufgabe. Didaktisch favorisiert wird dabei ein integrativer Ansatz, der davon ausgeht, dass nachhaltigkeitsrelevante Schlüsselthemen umfassend und interdisziplinär aus der spezifischen Perspektive unterschiedlicher Fächer behandelt werden, in denen sie jeweils verankert sind.6 Innovativ und didaktisch-methodisch geboten ist dieser Ansatz (›embedded‹ bzw. ›verankert‹) vor allem deshalb, weil angesichts sich abzeichnender, potenziell existenzieller Veränderungen hinsichtlich Klima, Bevölkerungswachstum, Migration und kriegerischer Auseinandersetzungen Schülerinnen und Schülern nicht nur bestimmte Grundkompetenzen wie lesen, schreiben, rechnen benötigen, sondern auch zentrale gesellschaftliche, ökologische und wirtschaftliche Zusammenhängen kennen müssen. So können sie darauf vorbereitet werden, kreative und angemessene Lösungen für die gegenwärtigen und künftigen globalen Herausforderungen zu entwickeln. Ein 3 Nähere Informationen zu den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung unter https://www.bmz. de/de/ministerium/ziele/2030_agenda/17_ziele/index.html [Zugriff: 8. 4. 2019]. 4 2017 herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, https://www.bneportal.de/sites/default/files/downloads/publikationen/Nationaler_Aktionsplan_Bildung_ f%C3%BCr_nachhaltige_Entwicklung_neu.pdf [Zugriff: 8. 4. 2019]. 5 Beispielsweise im Fach Deutsch im KLP NRW.https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrpla ene/upload/klp_SI/G9/d/KLP_Gym_SI_Deutsch_2019-02-25.pdf [Zugriff: 8. 4. 2019]. 6 Nähere Information dazu bietet der von der UNESCO und dem Mahatma Gandhi Institute of Education for Peace and Development 2017 herausgegebene Guide to Embedding – Textbooks for Sustainable Development, https://www.researchgate.net/publication/318983986_Textbo oks_for_Sustainable_Development_-_A_Guide_to_Embedding [Zugriff: 8. 4. 2019].

242

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

moderner, zugleich fachlicher wie auch fächerübergreifender Unterricht, der zwischen Abstraktion und Anschaulichkeit vermittelt, weist unter dem Primat des globalen Lernens in die zukunftsorientierte Richtung, um die Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Weise mit Veränderungsprozessen in Natur, Gesellschaft und Wirtschaft vertraut zu machen. Das Thema Pflanzengedichte, wie wir es dargestellt haben, versteht sich auch als diesbezüglicher Beitrag eines ›kulturellen Fachs‹.

Quellenverzeichnis Primärliteratur Guggenmos, Josef (2012): Was denkt die Maus am Donnerstag? 121 Gedichte für Kinder. Mit einem Nachwort. Vignetten v. Rotraut Susanne Berner. 12. Aufl. München. (EA 2001). Abdruck des Gedichts Mit einer Blumenzwiebel aus: Guggenmos, Groß ist die Welt T 2006 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel. Huchel, Peter (1984): Gesammelte Werke in zwei Bänden, Bd. I: Gedichte. Hg. v. Axel Vieregg. Frankfurt a.M. Abdruck des Gedichts Löwenzahn T Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1984. Wagner, Jan (2017): Regentonnenvariationen. Gedichte. 3. Aufl. Frankfurt a.M. (EA 2014). Abdruck des Gedichts Giersch T 2014 Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München.

Sekundärliteratur Ammon, Frieder von (2017): »Ohrwurm mit Ziegenfuß. Giersch als ›Smash Hit‹ der Gegenwartslyrik«, in: Christoph Jürgensen / Sonja Klimek (Hg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen. Münster, S. 211–227. Bartosch, Roman / Grimm, Sieglinde (Hg.) (2014): Teaching Environments. Ecocritical Encounters. Frankfurt a.M. Brosch, Renate (2018): »Lesen aus Sicht der Kognitionswissenschaften«, in: Honold, Alexander / Parr, Rolf (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen. Berlin / Boston, S. 425–441. Breithaupt, Fritz (2009): Kulturen der Empathie. Frankfurt a. M. Dautenhahn, Kerstin (2001): »The Narrative Intelligence Hypothesis: In Search of the Transactional Format of Narratives in Humans and Other Social Animals«, in: Proceeding CT 01. Proceedings of the Fourth International Conference on Cognitive Technology : Instruments of Mind. London, S. 248–266. Dürbeck, Gabriele / Stobbe, Urte (Hg.) (2015): Ecocriticism. Eine Einführung. Köln u. a. Ehlers, Swantje (2016): Literaturdidaktik – Eine Einführung. Stuttgart.

Pflanzengedichte als kleine literarische Formen

243

Feilke, Hartmut (2017): »Eine neue Aufgabe für das Fach Deutsch – Zusammenhänge herstellen, materialgestützt schreiben«, in: Didaktik Deutsch, H. 43, S. 4–11. Fingerhut, Karlheinz (2008): »Die didaktische Funktionalisierung literarischer Texte in kompetenzorientierten Unterrichtseinheiten integrierter Deutschbücher«, in: Didaktik Deutsch, H. 24, S. 5–23. Fischer, Ludwig (2017): Brennnesseln. Ein Portrait. Berlin. Frederking, Volker / Henschel, Sofie (2016): »Interdisziplinäre Forschung in der Deutschdidaktik am Beispiel des Projekts Literarästhetische Urteils- und Verstehenskompetenz (LUK)«, in: Winkler, Iris / Schmidt, Friederike (Hg.): Interdisziplinäre Forschung in der Deutschdidaktik. Frankfurt a.M., S. 72–99. Gans, Michael (2017) (Hg.): Literaturdidaktische Orientierungen. Ludwigsburg. Gardner, Howard (2001): Der ungeschulte Kopf. Wie Kinder denken. 4. Aufl., Stuttgart. Gratz, Michael (2005): »Analyse 1: Lyrik«, in: Bauer, Karl W. (Hg.): Grundkurs Literaturund Medienwissenschaft Primarstufe. München, S. 78–90. Grimm, Sieglinde / Wanning, Berbeli (Hg.) (2016): Kulturökologie und Literaturdidaktik. Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht. Göttingen. Handler Spitz, Ellen (2006): The Brightening Glance. Imagination and Childhood. New York. Hayer, Björn (2016): »Flora im Widerstand. Subjektivität als ökokritische Haltung in der zeitgenössischen Lyrik: Marion Poschmann, Silke Schauermann und Jan Wagner«, in: Dürbeck, Gabriele / Kanz, Christine / Zschachlitz, Ralf (Hg.): Ökologischer Wandel in der deutschsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts: Neue Perspektiven und Ansätze. Frankfurt a.M., S. 71–90. Jander, Simon (2016): »›Aber was hat das mit der Seele zu tun?‹ Heuristisch-assoziatives Schreiben als Technik zur Erschließung von Literarizität im Literaturunterricht«, in: Brüggemann, Jörn / Dehrmann, Mark-Georg / Standke, Jan (Hg.): Literarizität. Herausforderungen für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik. Baltmannsweiler, S. 201–214. Jolles, Andr8 (1974): Einfache Formen. Studienausgabe. 5., unveränd. Aufl., Tübingen [EA 1930]. Köhnen, Ralph (2011) (Hg.): Einführung in die Deutschdidaktik. Stuttgart / Weimar. Kümmerling-Meibauer, Bettina (2012): »Josef Guggenmoos: Was denkt die Maus am Donnerstag? (1967)«, in: Dies.: Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Darmstadt, S. 110–118. Moennighoff, Burkhard (2002): »Lyrische Kleinformen«, in: Hilzinger, Sonja (Hg.): Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen. Stuttgart, S. 147–173. Pfeiffer, Joachim (2018): »Psychologische Dimensionen des Lesens«, in: Honold, Alexander / Parr, Rolf (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen. Berlin / Boston, S. 456–466. Pieper, Irene / Rohowski, Gabriele (2016): »›Poesie ist einer der Kanäle, durch die etwas Neues in die Welt tritt.‹ – Zugänge zu Jan Wagners Regentonnenvariationen und Ulrike Draesners subsong eröffnen«, in: Pieper, Irene / Stark, Tobias (Hg.): Neue Formen des Poetischen. Didaktische Potenziale von Gegenwartsliteratur. Frankfurt a.M., S. 195–220. Pieper, Irene / Wieser, Dorothee (2018): »Poetologische Überzeugungen und literarisches Verstehen«, in: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung, Jg. 5, H. 4.

244

Berbeli Wanning / Urte Stobbe

Rupp, Gerhard (2014): Deutschunterricht lehren weltweit. Baltmannsweiler. Schock, Ralph (2015): »›Eine andere Wahrnehmung der Welt‹. Ein Gespräch über Gedichte mit Jan Wagner«, in: Sinn und Form, Jg. 67, S. 214–228. Spinner, Kaspar (1993): »Kreatives Schreiben«, in: Praxis Deutsch, H. 119, S. 17–23. Stark, Tobias (2010): »Zur Interaktion von Wissensaktivierung, Textverstehens- und Bewertungsprozessen beim literarischen Lesen«, in: Winkler, Iris / Masanek, Nicole / Abraham, Ulf: Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Baltmannsweiler, S. 114–132. Stemmer-Rathenberg, Anke (2011): Zur Nachahmung empfohlen! Imitatives Schreiben zu Prosatexten. Baltmannsweiler. Stobbe, Urte (2019): »Nachhaltigkeit aus der Perspektive der kulturwissenschaftlichen Pflanzenstudien«, in: Zemanek, Evi / Kluwick, Ursula (Hg.): Nachhaltigkeit – interdisziplinär. Konzepte, Diskurse, Praktiken: Ein Kompendium. Böhlau. Tophinke, Doris (2018): »Sprache – Denken – Wirklichkeit« (Basisartikel), in: Praxis Deutsch, H. 267, S. 4–11. Wood, James (2011): Die Kunst des Erzählens. Reinbek bei Hamburg. Zapf, Hubert (2008): »Kulturökologie und Literatur. Ein transdisziplinäres Paradigma der Literaturwissenschaft«, in: Ders. (Hg.): Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Heidelberg, S. 15–44.

Biobibliografische Angaben

Stefan Born, Dr. phil., 2011–2013 Studienreferendar für das Lehramt an Gymnasien in München, 2014 Promotion mit einer Arbeit zum neueren Adoleszenzroman, seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Deutschdidaktik der Humboldt-Universität zu Berlin. Er arbeitet derzeit zur Geschichte der Deutschdidaktik, zur Fachlichkeit des Deutschunterrichts und zum ›Humor des Fachs‹. Publikationen: zusammen mit Tanja Angela Kunz: »Literarische Erziehung im Zeichen philosophischer Heiterkeitsdebatten«, in: Germanica 63/2018, S. 71–90; »Intertextualität bei Wolfgang Herrndorf. Potentiale für die Stildidaktik«, in: Standke, Jan (Hg.): Wolfgang Herrndorf lesen, Trier 2016, S. 41–52. Sandra V. S. Dobritz, M. Ed., ist assoziierte Wissenschaftlerin am DFG-Graduiertenkolleg 2190 »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen« und promoviert im Bereich der Fachdidaktik Latein zu Friedrich Gedikes Lateinischem Lesebuch. Nach Abschluss des Master of Education in den Fächern Latein, Philosophie und Ethik und dem Staatsexamen im Jahr 2017 arbeitet sie an einem Gymnasium in Berlin. Neben verschiedener redaktioneller Tätigkeiten arbeitete sie unter anderem an »Berolinum Latinum – Der 1. Stadtführer auf Latein« unter der Leitung von Felix Mundt und Antonia Wenzel mit. Britta Eiben-Zach, M. Ed., ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitet im Projekt »Abiturprüfungspraxis und Abituraufsatz 1882–1972« (HU Berlin, BBF/DIPF). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Abiturprüfungsaufgaben im Fach Deutsch sowie die Geschichte des Literaturunterrichts und des Deutsch-Abiturs nach 1945. Publikationen: mit Sabine Reh: »Abituraufgaben in der späten Weimarer Republik zwischen Normierung der Aufgabenbearbeitung und dem Anspruch nach ›Selbständigkeit‹«, in: Didaktik Deutsch, 44/2018, S. 44–60.

246

Biobibliografische Angaben

Julia Heideklang, M.A. / M. Ed., ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg 2190 »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen«. Ihr Dissertationsthema »Botanics in the Making (1500–1700): Communication and Construction of the Botanical Science in Early Modern Europe« verbindet die Erforschung kleiner Formen mit der Betrachtung botanischer Wissenschaftstexte der Frühen Neuzeit. Publikationen: Co-Autorin von der Handreichung Weber, Herbert (Hg.). Natur und Technik. Biologie. Unterrichtsmaterial zur Sprachförderung 5/6, Berlin 2013. Katrin Lehnen, Dr. phil., ist Professorin für germanistische Sprach- und Mediendidaktik an der Justus-Liebing-Universität Gießen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Textproduktion und Schreibforschung in den Bereichen schulischen, wissenschaftlichen und beruflichen Schreibens, materialgestütztes Schreiben, medienspezifische Lese- und Schreibpraktiken, digitale Literalität und Bildungprozesse. Publikationen: Steinseifer, Martin / Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin (Hg.): Eristische Literalität. Wissenschaftlich streiten – Wissenschaftlich schreiben, Heidelberg 2019; »Lesen und Schreiben«, in: Birkner, Karin / Janich, Nina (Hg.): Handbuch Text und Gespräch, Berlin, New York 2018, S. 171–199; Feilke, Helmuth / Lehnen, Katrin / Rezat, Sara / Steinmetz, Michael: Materialgestütztes Schreiben lernen. Grundlagen – Aufgaben – Materialien. Sekundarstufen I und II, Braunschweig 2016. Maja Linke, Ph.D., ist Künstlerin, Lektorin und Co–Leitung der künstlerischen Fachpraxis am Institut für Kunstwissenschaft-Filmwissenschaft-Kunstpädagogik der Universität Bremen. Schwerpunkte: Künstlerisches Forschen, Wirkungsmacht von Text-Bild-Verbindungen und die Entwicklung einer »aisthetischen Unfügsamkeit«.Einzelausstellungen u. a. im Heidelberger Kunstverein (Studio); GoetheInstitut Ankara (TR); Tiroler Künstlerschaft/Stadtturmgalerie, Innsbruck (AT); CCCK Klaipeda (LT). Beteiligungen an Gruppenausstellungen im In- und Ausland sowie zahlreiche internationale Artist-in-Residences. Publikationen: Von WIR und IHR zum WIHR – verletzendes Sprechen und Kritik. Eine interrogative Untersuchung. Weimar 2012/2016 (https://e-pub.uni-weimar.de/opus4/frontdoor/ index/index/docId/2718); zusammen mit Lena Eckert: »Mit Kritischer Lehre und Künstlerischem Forschen zur Öffnung von Denkräumen«, in: Bee, Julia / Egert, Gerko (Hg.): Experimente lernen, Techniken tauschen. Ein spekulatives Handbuch, Leipzig 2019; »Aisthetische Unfügsamkeit und eine materielle Praxis des Fragens«, in: Drews, K. / Hubrich, A.-K. et al. (Hg.): Die Frage in den Geisteswissenschaften – Herausforderungen, Praktiken und Reflexionen, Berlin 2019, S. 81–104. Ann-Kristin Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Fachdidaktik Deutsch Primarstufe der Universität des Saarlandes. Forschungs-

Biobibliografische Angaben

247

schwerpunkte: Individuelle Sprachförderung mit digitalen Medien im Elementar- und Primarbereich; Early literacy-Konzepte sowie lese- und literaturdidaktischen Fragestellungen. Publikationen: zusammen mit J. Knopf und T. Kraft: »#edgarslife: Erzählen in Schlagwörtern – Kreatives Schreiben im Deutschunterricht der Primarstufe«, in: Meyer, Anne-Rose (Hg): Internet – Literatur – Twitteratur. Lesen und Schreiben im Medienzeitalter. Perspektiven für Forschung und Unterricht, Frankfurt a.M. / Bern / Brüssel 2019, S. 143–158; zusammen mit T. Kraft: »Bilderbücher im Kontext des interkulturellen Lernens«, in: Knopf, J. / Abraham, U. (Hg.): BilderBücher. Band 2: Praxis. Baltmannsweiler (im Druck); zusammen mit J. Knopf: »›Dem Geheimnis auf der Spur…‹ Auswirkungen von Rätseln und Geheimnissen in Kinder- und Jugendkrimis auf die Lesemotivation«, in: JuLit: Verschlusssache. Geheimnisse, Rätsel und Mysterien, 3/2018, S. 15–20. Maike Nikolai-Fröhlich ist Doktorandin am Institut für Germanistik an der Technischen Universität Dresden und Lehrbeauftragte für das Fach Deutsch am Allgemeinbildenden Gymnasium. Seit dem Studium der germanistischen Literatur- und Kulturwissenschaften forscht sie in den Bereichen deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Risikonarrationen und Gender. Publikationen: »Von ›Betriebsanleitungen‹, ›Crashkursen‹ und ›Erfolgsmethoden‹. Zeitgenössische Elternratgeber als Medium der Risikokommunikation und -konstruktion«, in: von Contzen, Eva / Huff, Tobias / Itzen, Peter (Hg.): Risikogesellschaften. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2018, S. 223–244; »›Früher liebte ich fest in ihre Uniformen eingenähte Männer…‹. Geschlecht und (Ver-)Kleidung bei Felicitas Hoppe«, in: Holdenried, Michaela (Hg.): Felicitas Hoppe. Das Werk, Berlin 2015, S. 187–200. Urte Stobbe, PD Dr., Literaturwissenschaftlerin, vertritt derzeit eine Professur am Institut für Germanistik an der Universität Oldenburg und beschäftigt sich seit rund zehn Jahren intensiv mit Fragen des Mensch-Natur-Verhältnisses in Literatur und Kultur. Publikationen: Hg. mit Gabriele Dürbeck, Evi Zemanek und Hubert Zapf: Ecological Thought in German Literature and Culture, Lanham u. a. 2017; hg. mit Gabriele Dürbeck: Ecocriticism. Eine Einführung, Köln u. a. 2015. Berbeli Wanning, Dr. phil., Professorin für deutsche Literatur und Sprache und ihre Didaktik an der Universität Siegen und Leiterin der Forschungsstelle Kulturökologie und Literaturdidaktik. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in diesem Bereich sowie in der Didaktik der Literaturgeschichte, Ästhetik und Didaktik der Neuen Medien, insbesondere der veränderten Erzähltechnik (Protagonize!-Konzept). Publikationen: »Schnurgerade durch den Wald. Un-

248

Biobibliografische Angaben

mögliche Wege der Vernunft«, in: Von der Lühe, I. / Wolschke-Bulmahn, J. (Hg.): Landschaften – Gärten – Literaturen, München 2015, S. 213–228; »Das Protagonize!-Konzept. Neue Wege, literarisches Wissen zu vermittlen«, in: Wolf, P. (Hg.): Medieninnovationen, Leipzig 2013, S. 245–258; »Literatur, Natur, Umwelt«, in: Deutschunterricht 2/2014, S. 4–10. Juliana Wekel, M.A., ist Lehrbeauftragte am Institut für Klassische Philologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der lateinischen Grammatik; sie schließt derzeit ihre Dissertation zum Thema »Inclinationes Animi. Verbal Mood in Latin Grammatical Thought from Varro to Priscian« an der University of Reading ab. Aline Willems, Dr. phil., ist Jun.-Prof. für Didaktik der modernen Fremdsprachen an der Universität zu Köln. Nach dem Studium der französischen und englischen Philologie wurde sie 2012 an der Universität Trier promoviert (ausgezeichnet mit Förderpreis des Freundeskreises Trierer Universität). Sie forscht und lehrt umfassend zum Fremdsprachenunterricht in historischer und aktueller Perspektive. Publikationen: »Hinweise für den Umgang mit Mehrsprachigkeit im Schulunterricht in Deutschland: Ergebnisse der Plenumsdiskussion«, in: Willems, Aline / Thiele, Sylvia / Kramer, Johannes (Hg.): Schulische Mehrsprachigkeit in traditionell polyglotten Gesellschaften. Stuttgart 2019, S. 269–278; Französischlehrwerke im Deutschland des 19. Jahrhunderts – eine Analyse aus sprachwissenschaftlicher, fachdidaktischer und kulturhistorischer Perspektive. Stuttgart 2013.