Die Frage, ob schöne Literatur nicht nur unterhält und erfreut, sondern auch sachlich relevantes Wissen zur Diskussion s
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German Pages [278] Year 2017
Table of contents :
Klassiker und Lieblingsbücher: Das Wissen der Literatur II
INHALT
Vorwort
1. Der Kanon und die Kanone – Über irritierende und irritierbare Bildung
2. Lieblingsbücher – Hinweise zur Lebens-, Liebes- und Lesekunst
3. Erfolg und Verfolgung – Ein nicht nur literaturhistorisches Muster
4. Zähne zeigen: Wie aggressiv, wie blasphemisch kann und darf Lachen sein?
5. Paul Gerhardt – Der passionierte Passionsdichter
6. „Erst geköpft und dann gehangen …“ – Der gute und der böse Fremde in Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail
7. Goethe, der Gott der Texte – Drei von unübersehbar vielen Gründen, im 21. Jahrhundert noch Goethe zu lesen
8. „Da du so sittsam, mein Herr Tristan“ – Sittlichkeit, Lust und Verlust in Wagners Musikdramen
9. Rheingold und Goldrush – Amerikaphantasien im Werk Richard Wagners
10. Das I-A-Sagen des Esels und das JA des Dionysos – Nietzsches poetische Kunst der Affirmation
11. Sich in Stimmung bringen – Über poetisches und mediales mood-and-mind-management
12. Kitsch als Kunst der Selbstunterbietung– Zur Rehabilitation eines strapazierten Begriffs
13. Ver/speisen – Die bedeutsame Weisheit von Essen und Trinken
14. Wer redet, ist nicht tot – Zur Kritik der Diskursethik
15. Das Untier und das Einhorn – Eine Anmerkung zum Bestiarium von Günter Grass
16. Überantwortung der Geschichte an die Ökonomie – Gegenwartsdiagnostik im Werk von Botho Strauß
17. „Der Mensch ist ein denkender Meteorit“ – Peter Sloterdijks Werk als Tractatus poetico-philosophicus
18. Die Erlösung der Physis – Die Poetisierung Gottes im Werk von Patrick Roth
19. „Ich bin ein Mensch wie ihr“ und „Was hätten Sie denn gemacht?“ – Unkorrekte Konstellationen von Nazis, Sex und Religion in Bernhard Schlinks Der Vorleser und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten
20. Die Maschine, der Sinn und die Energie – Der Kraftwerk-Sound
21. Massenhafte Individuen – Das Öffentliche und das Private oder: Medienanalyse(n) in Daniel Kehlmanns Roman Ruhm
Nachweise
Jochen Hörisch Klassiker und Lieblingsbücher
Jochen Hörisch
Klassiker und Lieblingsbücher Das Wissen der Literatur II
Wilhelm Fink
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© 2017 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV , Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA , USA ; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung und Satz: Peter Zickermann und Martin Mellen, Bielefeld Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6260-2
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Der Kanon und die Kanone – Über irritierende und irritierbare Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Lieblingsbücher – Hinweise zur Lebens-, Liebes- und Lesekunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3. Erfolg und Verfolgung – Ein nicht nur literaturhistorisches Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4. Zähne zeigen: Wie aggressiv, wie blasphemisch kann und darf Lachen sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5. Paul Gerhardt – Der passionierte Passionsdichter . . . . . . . 51 6. „Erst geköpft und dann gehangen …“ – Der gute und der böse Fremde in Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail .63 7. Goethe, der Gott der Texte – Drei von unübersehbar vielen Gründen, im 21. Jahrhundert noch Goethe zu lesen . . . . . . 73 8. „Da du so sittsam, mein Herr Tristan“ – Sittlichkeit, Lust und Verlust in Wagners Musikdramen . . . . . . . . . . . . . 85 9. Rheingold und Goldrush – Amerikaphantasien im Werk Richard Wagners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 10. Das I-A-Sagen des Esels und das JA des Dionysos – Nietzsches poetische Kunst der Affirmation . . . . . . . . . . . . 123
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Inhalt
11. Sich in Stimmung bringen – Über poetisches und mediales mood-and-mind-management . . . . . . . . . . . 137 12. Kitsch als Kunst der Selbstunterbietung – Zur Rehabilitation eines strapazierten Begriffs . . . . . . . . . . 151 13. Ver/speisen – Die bedeutsame Weisheit von Essen und Trinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 14. Wer redet, ist nicht tot – Zur Kritik der Diskursethik . . . . . 189 15. Das Untier und das Einhorn – Eine Anmerkung zum Bestiarium von Günter Grass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 16. Überantwortung der Geschichte an die Ökonomie – Gegenwartsdiagnostik im Werk von Botho Strauß . . . . . . . 207 17. „Der Mensch ist ein denkender Meteorit“ – Peter Sloterdijks Werk als Tractatus poetico-philosophicus . 213 18. Die Erlösung der Physis – Die Poetisierung Gottes im Werk von Patrick Roth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 19. „Ich bin ein Mensch wie ihr“ und „Was hätten Sie denn gemacht?“ – Unkorrekte Konstellationen von Nazis, Sex und Religion in Bernhard Schlinks Der Vorleser und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten . . . . . . . . . . . . . . . 233 20. Die Maschine, der Sinn und die Energie – Der Kraftwerk-Sound . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 21. Massenhafte Individuen – Das Öffentliche und das Private oder: Medienanalyse(n) in Daniel Kehlmanns Roman Ruhm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Vorwort
Die Frage, ob schöne Literatur nicht nur unterhält und erfreut, sondern auch sachlich relevantes Wissen zur Diskussion stellt, beschäftigt die Philosophie und Wissenschaftstheorie seit ihren Anfängen. Die Positionen, die in dieser Diskussion vertreten werden, haben einen hohen Wiedererkennungswert. Die deutlich stärkere Fraktion argumentiert seit Hesiod und Platon, dass fiktionale Literatur bestenfalls ein indifferentes Verhältnis zur Wahrheit habe, in schlechteren Fällen aber frivol mit den Kategorien Lüge und Wahrheit spiele, dass sie demnach Köpfe, die ernsthaft nach sachlich angemessenen Einsichten streben, um den Verstand bringen könne. Eine Position, die bis heute die meisten Anhänger findet. „The concept of truth has no central or ineliminable role in critical practice“, heißt es lakonisch gleich auf der ersten Seite der neoklassischen Abhandlung von Peter Lamarque und Stein Haugom Olsen Truth, Fiction, and Literature.1 Die minoritäre Position, die in Horaz einen (im Vergleich zu Hesiod und Platon späten, im Rückblick von heute frühen) prominenten Vertreter gefunden hat, hält es zumindest für möglich, dass schöne Literatur nicht nur erfreut, sondern auch belehrt – „aut prodesse aut delectare volunt poetae“, heißt es in der Ars Poetica des Horaz. Wie belastbar und relevant das in schöner Literatur ausgebreitete Wissen ist, steht allerdings dahin. Zumeist handele es sich, so der geistreiche, weil den Nutzen des Nutzlosen betonende Sammelband Das unnütze Wissen der Literatur2, um sachlich irrelevantes, deshalb aber gerade anregendes Wissen. 1 Peter Lamarque/Stein Haugom Olsen: Truth, Fiction, and Literature – A Philosophical Perspective. Oxford 1994. Die Untersuchung referiert und diskutiert intensiv die angelsächsiche Diskussion zum Thema (s. u. a. die Literaturliste in Fn 2, p. 1), er berücksichtigt jedoch nicht die Diskussion im Anschluss an die phänomenologischen Untersuchungen von Käte Hamburger und Roman Ingarden zum Status poetischer Texte. 2 Jill Bühler/Antonia Eder (edd.): Das Unnütze Wissen in der Literatur. Freiburg/ Berlin/Wien 2015.
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Vorwort
Die hier versammelten Studien wollen (anders als etwa die Einleitung zu und weitere Kapitel aus meinem 2007 erschienenen Buch Das Wissen der Literatur3) nicht als Beiträge zur Grundsatzdebatte um Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur (so der Titel eines weiteren neueren Sammelbandes zum Thema4) verstanden werden. Ihnen geht es vielmehr um konkrete Fallstudien, die eine belastbare Gemeinsamkeit haben. Sie fragen nämlich danach, welches argumentativ zu entfaltende Potential an Intuitionen, Thesen, Theoremen und Einsichten literarische Texte haben. Sie vertrauen darauf, dass die häufig belächelte Formel von „dichten und denken“ ernst genommen zu werden verdient. Und dies schon aus einem ganz einfachen Grund: dichte, poetische, literarische, assoziationsstarke und formverliebte Texte sorgen für starke Erweiterungen des Sag- und damit auch Denkbaren. Poesie produziert systematisch diskursiven Überfluss. Gute Reime, suggestive Metaphern, starke Alliterationen, markante Tropen (und was sonst noch zum reichen Form-Inventar poetischer Diskurse zählt) haben blendende Qualitäten, weil sie die Frage nach der sachlichen Haltbarkeit des Ausgesagten erst einmal ausblenden. Denken ist dagegen anders als dichten nicht dem Prinzip einer Diskurserweiterung, sondern dem der Diskursverknappung verschrieben. Wer denkt, kann die wahr/falsch-Unterscheidung nicht vermeiden. Und diese Unterscheidung muss auf Asymmetrien setzen: wahre Sätze müssen gegenüber Falschaussagen privilegiert werden; letztere müssen aus dem Verkehr gezogen werden. Gerade wegen ihres komplementären Verhältnisses, gerade weil man es mit Schleiermachers Dialektik für „unwahrscheinlich halten (muß), daß mit den Regeln einer Kunst zugleich die Elemente eines Wissens gefunden werden“,5 gehören dichten, denken und analysieren zusammen. Und dies nicht nur, weil es spätestens seit dem Buch De rerum natura, das Lucrez im ersten Jahrhundert v.Chr. verfasste, anspruchsvolle Versuche gibt, Wissen(schaft) und Dichtung in einem Buch zu vereinen, sondern auch deshalb, weil schöne Literatur die wissenschaftlich ausgeklammerte Frage, was all das ausgebreitete Wissen denn bedeute, wieder ins Spiel bringt. In den Worten von Raoul Schrott, der mit Erste Erde – Epos (2017) in be3 Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München 2007. 4 Christof Demmerling/Ingrid Vendrell-Ferran (edd.): Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur – Philosophische Beiträge. Berlin 2014. 5 Friedrich Schleiermacher: Dialektik, ed. Rudolf Odebrecht. Darmstadt 1976, p. 73.
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wusster Anknüpfung an Lucrez und Alexander von Humboldts Kosmos (1845 – 62 in fünf Bänden erschienen) den ambitioniertesten unter den neueren Versuchen einer poetisch-szientifischen Welterklärung vorgelegt hat: „Die Wissenschaften untersuchen die Eigenschaften der Welt mittels Instrumenten, berechnen sie aufgrund überprüfbarer Theoreme und stellen Kausalitäten fest; ihre Fragestellungen müssen aufeinander Bezug nehmen, ihre Beschreibungen in sich schlüssig sein. Sie definieren ihre Objekte mithilfe eigener Begrifflichkeiten, Konzepte und Zahlen, und erzielen Ergebnisse aufgrund selbstgesetzter Vektoren – gerade weil sie sich von der unmittelbaren Anschaulichkeit unseres Stehens und Sehens abgelöst haben. / Die Dichtung tut Ähnliches; auch sie vergleicht, muss in sich kohärent sein und weist ihre eigenen Strukturen auf – aber sie führt alles zu uns und auf uns zurück, indem sie nach der Bedeutung des Wissens für uns fragt und es in Bildern imaginierbar werden lässt. Sie macht das Unabsehbare an uns gestaltbar, auch wenn sich ihre Figurationen letzter Bestimmtheit verschliessen (sic): darin zeigt sich ihr Januskopf.“6 Wissen(schaft) liefert das – wie wir wissen – stets mit Falsifikationen rechnen müssende Material an Daten, das Dichtung verstehen und deuten möchte. Dichtung liefert umgekehrt das überreiche Motivmaterial, das Denken abgeklärt bis misstrauisch auf seine Haltbarkeit hin überprüfen, kontrollieren und verknappen kann. Dieses Motivmaterial kann befremdlich scheinen und gar im Verdacht stehen, Ausdruck des Wahnsinns zu sein. Noch, ja gerade wahnsinnige Abweichungen von normalen und kontrollierten Wahrnehmungen machen poetische Diskurse faszinierend. Literatur kann sich anders als Wissenschaft die ebenso riskante wie reizvolle Nähe zum Wahnsinn leisten, wie ein Blick auf Don Quichotte, Hamlet, Gretchen, Frankenstein, Moosbrugger, Doktor Faustus und viele weitere Gestalten zeigt. Selten wurde der Kontrast und die gespenstische Nähe von Wissenschaft und Wahnsinn so eindringlich vorgestellt wie in Büchners Woyzeck, dessen Titelfigur sich selbst als Objekt wissenschaftlicher Analysen verkauft und zum ihn analysierenden Doktor sagt: „WOYZECK steht ganz gra(de): Haben Sie schon die Ringe von den Schwämm auf dem Boden gesehe, lange Linie, + Kreise, Figurn, da steckt’s! da! Wer das lesen könnte. / Wenn die Sonn im hellen Mittage steht und es ist als müßt die Welt auflodere. 6 Raoul Schrott: Erste Erde – Epos. München 2017, p. 20 sq.
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Höre sie nichts? ++++ als die Welt spricht, sehen sie die lange Linien, und ist als ob es einem mit fürchterlicher Stimme anredete. / D OCTOR . Woyzeck! er kommt ins Narrehaus, Er hat eine schöne fixe Idee, eine köstliche alienatio mentis.“7 Der Arzt gewinnt Datenmaterial, das er publizieren kann; Büchner auch, aber nicht desgleichen. Primär- und Sekundärliteratur bzw. schöne Literatur und (in aller Regel: weniger schöne bzw. weniger schön formulierende) Literaturwissenschaft verhalten sich zueinander wie die Kunst und ihr Reflexionssystem, die Ästhetik, oder wie Religion und ihr Reflexionssystem, die Theologie, oder wie Moral und ihr Reflexionssystem, die Ethik. Kunst, Religion und Moral sind von stärkeren Impulsen geprägt als die ihnen korrespondierenden Reflexionssysteme, die a priori von des Gedankens Blässe angekränkelt sind. Schöne Literatur ist anarchischer, rücksichtsloser, überraschender, enthemmter, verführerischer, schöner und schrecklicher als literaturwissenschaftliche Abhandlungen. Man kann mit Werken wie Divina Commedia, Shakespeares Sonetten, Dantons Tod, Der grüne Heinrich oder Die Blechtrommel nicht promovieren, aber man kann über sie promovieren. Diese akademische Selbstverständlichkeit (wird sie mittelfristig eine solche bleiben?) ist bemerkenswert. Denn ihr wohnt die allerdings nur selten explizit gemachte Vermutung inne, dass auch das ästhetisch Reizvolle bzw. das aufreizend Schöne akademische Aufmerksamkeit verdient, weil das (mitunter Schrecklich-) Schöne sachlich bedenkenswerte Motive wenn nicht entfaltet, so doch zu-, im besseren Falle anmutet. Die hier zusammengestellten Studien und Essays nehmen deshalb die Wendung aus Kants Kritik der Urteilskraft ernst, derzufolge eine „ästhetische Idee … diejenige Vorstellung der Einbildungskraft [ist], die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.“8 Kant war zu analytisch und nüchtern disponiert, um die Diskrepanz zwischen den überreichen, 7 Georg Büchner: Woyzeck; in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bdn., Bd. 1 – Dichtungen, ed. Henri Poschmann. Ffm 1992, p. 196 sq. 8 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft; in: ders.: Werke in zwölf Bänden, ed. Wilhelm Weischedel, Bd. 10. Ffm 1977, p. 249.
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weil weitgehend entbundenen Vorstellungen der poetischen, musischen und künstlerischen Einbildungskraft einerseits und den ordnenden Anstrengungen der Begrifflichkeit andererseits zu übersehen. Ihm war bewusst, dass nur derjenige, der vieles übersieht, wenn nicht den totalen Überblick, so doch die Illusion des Überblicks behalten kann. Deshalb nimmt er seine schöne Formel von der ästhetischen Vorstellungskraft, die viel zu denken veranlasst, erneut auf. „Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hiebei schöpferisch, und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann.“9 Entstanden sind die hier in überarbeiteter Form vorgelegten Studien, Abhandlungen und Essays, weil sie es (mit Kant) für naheliegend und reizvoll halten, sich durch Werke der Einbildungs- und Vorstellungskraft zum Denken veranlasst zu sehen. Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, hat Nietzsche einst formuliert. Ohne den Reichtum der Literatur und der Überfülle ihrer Motive würde das Denken verarmen und das Leben gerade in postmetaphysischen Zeiten seinen intellektuellen Reiz verlieren. Schöne Literatur hat anders als Theorie ein ungebrochenes Verhältnis zu Metaphern. Metaphern fungierten in der Epoche einer Metaphysik, die nicht recht zwischen Glauben und Wissen unterscheiden wollte, häufig als Alternative zur Metaphysik, im postmetaphysischen Zeitalter aber sind Metaphern die Statthalter der Metaphysik. Die Vermutung, dass metaphysische Großerzählungen auf undurchschauten Metaphern beruhen, ist Dichtung immanent. Sie ist insofern per se aufgeklärter als viele ausgedachte Theorien. Gerade deshalb lohnt es sich, den Begegnungen von „dichten und denken“ und den Geschichten, in die wir verstrickt sind, Aufmerksamkeit zu schenken.
9 Ibid., p. 251.
1. D er Kanon und die Kanone – Über irritierende und irritierbare Bildung
Der Kanon und die Kanone haben mehr gemeinsam als nur ihren WortUrsprung. Das griechische Wort κανών ist dem Semitischen entlehnt (von hebr. qanae, aram. qanja, babyl.-assyr. qanu); es meint dort und durchaus auch nach seiner Übernahme ins Griechische und Lateinische ein Rohr, aus dem Körbe, in denen Wertvolles weitergegeben wird, hergestellt werden – aber eben auch gerade Stangen, Mess-Latten, später Kanonen-Rohre. Mithilfe dieser Mess-Latte kann es gelingen, ein hohes Ziel zu erreichen: nämlich einem Kunstwerk ideale Proportionen zu verleihen. Das gelingt, wenn man sich an goldene Regeln hält. Und so verwundert es nicht, dass das griechische Wort ‚Kanon‘ schon bald synonym mit ‚Regeln‘ verwendet wird. Epikur (und zwei Jahrtausende später noch Kant) spricht von den Regeln/Kanones (οἵ κανόνες) der Erkenntnisgewinnung. Der Einsatz eines Rohres kann aber auch gänzlich anderen Zwecken dienen, nämlich dazu, eine schwere Kugel präzise in ihr Ziel zu schießen, auf dass sie dort ihr Zerstörungswerk verrichte. Das falsch Proportionierte zu zerstören, um dem Idealen Platz zu schaffen: das ist der heiße Kern des Projekts, das da Kanonbildung heißt. Über schöpferische Zerstörung hat nicht erst der Nationalökonom Joseph Schumpeter (1883 – 1950) nachgedacht. Mit seiner um 440 v. Chr. verfassten und nur fragmentarisch überlieferten Schrift, die keinen anderen als diesen Titel trägt: Kanon, hat der griechische Bildhauer Polyklet ein ungemein wirkungsmächtiges Programm gestartet. Eines seiner berühmtesten Kunstwerke verdichtet visuell dieses Programm. Polyklets Statue eines Speerwerfers setzt die regulative Leitidee des Kanons gleich zweifach um. Der Körper des Speerwerfers galt als ‚Kanon‘, nämlich als Ideal der wohlproportionierten menschlichen Gestalt. Und der Speer, den er zu werfen im Begriffe ist, symbolisiert die Mess-Stange, als Speer aber eben auch das Instrument, das Unpassendes, Widriges, Unkanonisches vernichten kann.
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Abb. 1: Doryphoros des Polyklet
Dem kanonischen antiken Bildhauer ging es um nichts Geringeres als darum, herauszufinden, wie die idealen Proportionen von menschlichen Körpern, von Bauten und letztlich allen Weltdingen auszusehen haben. Dazu bediente er sich eines Kanons, also einer Mess-Stange. Diesem Programm war durchschlagender Erfolg beschieden. Der antike Baumeister Vitruv machte es sich zu eigen, die RenaissanceKünstler waren in seltener Einhelligkeit Polyklet-Fans; und noch der klassizistische Bildhauer Johann Gottfried Schadow publizierte 1834 ein einflußreiches Werk mit dem Titel Polyclet oder Von den Maaßen des Menschen. Das sind nur drei von vielen Stationen auf dem bemerkenswert kontinuierlichen Weg des Versuchs einer Lösung von zumindest zwei Problemfragen. Die erste ist von schwer zu überbietender Grundsätzlichkeit: Wie soll das ideale Werk beschaffen sein? Die Antwort
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ist suggestiv bis zur Banalität. Es soll kanonisch sein, und das heißt, es soll den ewig geltenden Regeln und Maßen des Schönen, Wahren und Guten entsprechen. Diese regulative bis normative Bedeutung nimmt der Begriff ‚Kanon‘ zügig an. Das macht ihn genau in dem Maße angreifbar, in dem das Kanon-Verständnis substanziell aufgeladen wird. Denn nicht alle Menschen und Kulturen sind sich darüber einig, ob Rubens-Frauen oder schlanke Models, ob ein Gott, kein Gott oder mehrere Götter, ob Stierkampf oder Stierkampfverbot als schön, wahr und gut gelten sollen. Und so überrascht es nicht, dass der regulative bis normative Gehalt des Kanon-Begriffs sich gerade auch in der religiösen Sphäre durchgesetzt hat. Man spricht von den kanonischen heiligen Texten, vom kanonischen Kirchenrecht oder vom Canon Missae, vom eucharistischen Hochgebet. Das zweite Problem ist vertrackter. Wenn sich zu viele an die Maxime halten, Kunstwerke schaffen zu wollen, die göttlichen Ansprüchen genügen und kanonisch sein wollen, entsteht zuviel des Guten. Statt einer kanonischen Lehre erklingen dann viele Stimmen. Man kann das positiv deuten und sich über die göttliche Fülle großer Werke freuen; man kann das aber auch als Durcheinander, als noise, als Rauschen, als Unübersichtlichkeit, kurzum: als Problem verbuchen. Die Neuzeit ist polyphon, und sie setzt offensiv auf Polyphonie. Es ist begriffsgeschichtlich bemerkenswert, dass das altehrwürdige Wort ‚Kanon‘ spätestens im 15. und 16. Jahrhundert neu und spezifisch verwendet wird – nämlich als Bezeichnung für die sich seit der frühen Neuzeit ausbildende Form des musikalischen Kanons. Wer im Kanon singt, bringt das polyphone Kunststück fertig, anders und doch korrespondierend zu anderen, zeitlich versetzt und doch gleichzeitig mit anderen, dissonant und in der Dissonanz doch harmonisch zu musizieren. Was im musikalischen Genre des Kanons paradigmatisch gelingt, kann nicht ohne weiteres auf andere Sphären übertragen werden. Denn nicht alle Konflikte, Konkurrenzen, Überproduktionen, Diskurse, Geräusche, Einsprüche, Widerreden, Schreie, Werke, Kommentare können Elemente eines harmonisch erscheinenden Kanons werden. Nicht einmal all die Werke, die im kanonischen Geiste geschaffen wurden, kann ein endlicher Mensch lesen, anschauen und anhören. Und deshalb braucht es einen Kanon im zweiten Sinne – in einem Sinn, der sich neuzeitlich (also im Zeitalter der ab dem 15. Jahrhundert eingesetzten Kanonen) immer stärker durchsetzt. Dieser Kanon-Gebrauch blendet substanzielle Fragen nach dem Guten, Wahren und
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Schönen weitgehend aus, er will vielmehr funktional dafür sorgen, dass die knappe Ressource Aufmerksamkeit intelligent bewirtschaftet wird. Das funktionale Kanon-Verständnis benennt nicht etwa Maße und Regeln der Produktivität, sondern solche des Verbots, der Verhinderung und der Ausgrenzung. Nicht alles kann erstklassig sein. Fast alle können zwar erfreut darauf reagieren, wenn sie durch Joseph Beuys’ berühmtes Diktum „Jeder Mensch ist ein Künstler“ ästhetisch nobilitiert werden; aber fast alle müssen dann zugleich die Erfahrung machen, dass es höheren und niederen Künstler-Adel gibt, dass nicht alle so gute Künstler sind wie Joseph Beuys und dass das knappe Gut Aufmerksamkeit nicht allen Werken gleichermaßen zuteilwird, sondern bevorzugt den kanonischen Werken, die sich von anderen unterscheiden lassen müssen. Normen, Regeln, Ausgrenzungen – wie schrecklich, wie inkorrekt, wie autoritär; das kann man doch nicht machen! So geht ein Ruf wie Donnerhall, der seinerseits bereits eine ehrwürdige Tradition hat. In der späten Moderne wird er immer lauter: Wo kommen wir denn (zumal in politisch korrekten Zeiten) hin, wenn wir bloß die Werke großer, weißer, toter Männer rezipieren? Die Eskalationskraft jeder KanonDebatte ist schnell ersichtlich. Geht es doch um das, was früher einmal mit einem halbkanonischen, inzwischen aber mehr als nur zur Hälfte vergessenen Theoretiker „kulturelle Hegemonie“ (Antonio Gramsci) genannt wurde. Wie handfest selbst in kultivierten akademischen Gefilden die Kämpfe um kulturelle Hegemonie sein können, hat in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine leidenschaftliche Debatte an amerikanischen Elite-Universitäten gezeigt. Ausgelöst wurde sie durch die schnell zum Bestseller avancierte Streitschrift, die der bekannte Literaturprofessor Allan Bloom 1987 vorlegte und die den kulturkonservativen Kampftitel trug: The Closing of the American Mind – How higher Education Has Failed Democracy and Impoverishes the Souls of Today’s Students (New York 1987) sowie durch die im selben Jahr erschienene Abhandlung Cultural Literary: What Every American Needs to Know (Boston 1987) von D. E. Hirsch.10 Das zwölf Jahre später, also 1999 zum Ende des zweiten Jahrtausends erschienene deutsche
10 Cf. dazu Walter Hinderer: Im babylonischen Turm, oder: Steine aus dem Glashaus – Amerikas Kampf um den Kanon und um kulturelle Einheit; in: Neue Rundschau 1/1996, pp. 70 – 81.
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Parallelopus von Dietrich Schwanitz Bildung – Alles, was man wissen muß wurde zum Bestseller. Und es begann wieder einmal eine Diskussion um Kanonbildung und Kulturkonservatismus, um große und weniger große Werke, um politische und kulturelle Korrektheit, um die Werke, die zu Unrecht oder vielleicht doch zu Recht vergessen wurden. Gegen die bis zur Langweiligkeit absehbaren Ping-Pong-Argumente, die in dieser Debatte hin und her fliegen, lohnt sich eine Erinnerung an den funktionalen Sinn jedes Kanons (im Sinne einer verbindlichen Liste zu rezipierender Werke). Kanon-Bildung dient erstens der Fokussierung gemeinsamer Aufmerksamkeit. Wenn jeder lax nur seinen Vorlieben und Möglichkeiten nachgibt und demnach liest, was der andere nicht liest, werden (nicht nur) literarische Debatten allenfalls zu noise. Man redet dann nur in trostloser Weise aneinander vorbei, aber eben nicht miteinander. Der Christa-Wolf-Fan und der Ernst-Jünger-Fan haben sich nur dann Relevant-Kontroverses zu sagen, wenn sie durch die eigentümliche Autorität der Kanon-Bildung genötigt werden, die affektiv abgelehnten Texte der anderen Seite überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Eben dies aber geschieht durch funktionierende Kanon-Bildung: Der bildungsfromme Goethe-Freund sieht sich gehalten, seine Aufmerksamkeit auch auf Kleists Werke zu richten, der Brecht-Fan kommt, wenn er denn wie der Gegenstand seiner Verehrung Respekt vor den kanonischen Werken der Weltliteratur hat, nicht umhin, auch die Bibel oder Shakespeares Werke zu lesen – zumutungsreicher Weise aber auch Verse Gottfried Benns. Und das ist auch gut so. Denn Kanon-Bildung sichert zweitens die Profilierungs-, Qualifikations- und Absetzungs-Chancen, auf die es gerade in einer Kultur ankommt, die eine starke Prämie auf Innovationen und eben auch auf das ästhetisch Neue setzt. Gäbe es keinen Kanon, so gäbe es – preiswerteste Form von Dialektik – auch keine Möglichkeiten, gegen einen Kanon anzuschreiben. Der Kanon provoziert und produziert die Frevler, die Häretiker und Außenseiter, die nur dann ernst zu nehmen sind, wenn sie halbwegs auf dem Niveau der Texte formulieren, deren Gültigkeit sie sprengen wollen. In aller Regel starten die hellen Häretiker als besonders überzeugte KanonVerehrer. Frenetisch studieren sie die kanonischen Schriften, um sie dann neu zu interpretieren. Das Musterbeispiel für dieses Tun trägt den Namen Martin Luther. Hätte er eine andere als die kanonische Schrift schlechthin neu ausgelegt, wäre er wohl nicht zur welthistorischen
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Figur geworden. In ihrem monumentalen und ungemein anregenden Versuch über den Schwindel hat Christina von Braun auf die produktive „Neigung des Abendlands zum reintegrierten Außenseiter“11 hingewiesen. Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut und schon deshalb viel zu wertvoll, um es an weniger wertvolle Texte zu verschwenden. Aufschlussreich ist deshalb drittens der Umstand, dass die kanonischen Texte von Homer und Euripides über Ovid und Augustinus, Gottfried von Straßburg und Dante, Shakespeare und Goethe bis hin zu Joyce und Thomas Mann wirklich sehr gut sind und die aufmerksamste Lektüre lohnen. Sie bilden die einschüchternde Messlatte, die, wenn sie denn angelegt würde, die groteske Überproduktion literarischer Texte verhindern müsste, die sich nicht annähernd auf kanonischem Niveau bewegen. Wer heute ein Stück schreibt, muss ja nicht gleich eine Antigone vorlegen, die mit der des Sophokles mithalten könnte. Aber man sollte immerhin angeben können, welche neuen und bislang buchstäblich unerhörten Motive das eigene Werk in die Debatte zu werfen hat. Nur in bewusster Absetzung von einem Kanon lässt sich der geschichtsphilosophische, systemische und ästhetische Ort neuer Werke angeben. Im besten Fall, in dem nämlich, dass sie großartig gelingen, haben neue unerhörte Werke dann Anspruch darauf, selbst in den Kanon aufgenommen zu werden. Joyce ist so tollkühn, mit Homer zu konkurrieren und einen eigenen Ulysses vorzulegen. Und siehe da: das Projekt hat Bestand. Warum? Weil es Aug‘ in Aug‘ mit einem kanonischen Text zeigt, dass die Sonne Homers zwar auch uns scheint, dass sie aber unsere modernen Köpfe im Hinblick auf die Weisen, in denen wir das tun, was auch die alten Griechen taten – nämlich lieben, sprechen, tauschen und sterben (lassen) –, ganz anders illuminiert oder beschattet. Ein Kanon schafft kontroverse Verbindlichkeiten. Womit wir beim eigentlichen Problem jeder Kanon-Diskussion sind: bei den üblichen Verteidigern des Kanons. Sie sind ein regelrechter Fluch. Sind sie doch die größten Verderber dessen, was sie da zu verteidigen vorgeben. Nicht immer zeigt sich ihr Dilemma so schlicht wie bei Marcel Reich-Ranickis Versuch, im Spiegel und sodann in schweren Buchkassetten das vorzustellen, was er tatsächlich „Mein Kanon“ nennt. Er ahnt immerhin, was er da tut. „Mein Literatur-Kanon“: das ist ein schlechtes Oxymoron. 11 Christina von Braun: Versuch über den Schwindel. Zürich/München 2001, p. 288.
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Das Possessivpronomen der ersten Person Singular vor dem Wort Kanon ist ersichtlich doppelter Blödsinn. Ein Kanon ist erstens nur dann ein Kanon, wenn er eine verbindliche Form von Aufmerksamkeits-Intersubjektivität herstellt; und er kann zweitens nur den einen Sinn haben: Lesern durch den Kontakt mit großen Werken ihre allzu wohlfeilen Meinungen zu rauben. So unterschiedliche Kanon-Verteidiger wie Reich-Ranicki, Emil Staiger, George Steiner oder Harold Bloom aber halten es mit dem Kanon, als seien die darin enthaltenen Werke Manifestationen dessen, was sie für gesunden Menschenverstand halten. Es kann aber gerade nicht der Sinn von Kanonbildung sein, die nicht sonderlich originellen Meinungen und Vorlieben des Dorfrichters Adam der deutschen Literaturkritik zu propagieren. Der Sinn literarischer (und überhaupt ästhetischer) Kanonbildung kann nur ein funktionaler sein, nämlich die Aufmerksamkeit vieler auf dieselben Texte zu lenken und damit allererst Anschlußfähigkeiten und Kommunikationschancen zu eröffnen. Und das heißt wohlgemerkt: Dissens zu ermöglichen. Anderslautenden, von Hermeneutikern und Konsens-Theoretikern gestreuten Gerüchten zum Trotz funktioniert Kommunikation nur als dissidente. Dissens und nicht etwa Konsens ist ihr Ziel. Denn nur Dissens hält Kommunikation am Laufen. Das wissen kanonische Autoren: Vergil und Dante, Shakespeare und Goethe, Baudelaire und Tolstoi überraschen den gesunden Menschenverstand (der etwa ernsthaft glaubt, Kommunikation sei grundsätzlich an Übereinstimmung interessiert), indem sie ihm seine Überzeugungen nehmen. Nicht zuletzt deshalb sind kanonische Werke schwer verständlich. Die Behauptung klingt ein wenig zu suggestiv, um bei näherem Hinhören und bei genauer Lektüre glaubhaft zu sein, Werke wie die Pindars oder Hölderlins, wie Faust II oder Doktor Faustus dienten der Verständigung. Denn offenbar haben sie ein ausgeprägtes Interesse daran, Verständigung und Kommunikation zu erschweren. Gerade deshalb gehören sie und nicht etwa die selbstverständlichen Texte trivialer Alltagskommunikation in den Kanon. Was uns immer schon einleuchtet, was dem sogenannten gesunden Menschenverstand zuzurechnen ist, was jeder weiß und was also keinen überrascht, gehört gerade nicht in den Kanon der großen Werke, sondern vielmehr ins Reich des Trivialen. Gegen den Ruf nach einer literarischen Kanonbildung gerade im Zeitalter der neuen Unübersichtlichkeit nach dem Ende der Gutenberg-Galaxis spricht nur ein einziger Hinweis – der auf seine Verteidi-
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ger. In aller Regel sind die kulturkonservativ erregten Verteidiger des Kanons seine größten Feinde. Sie wollen nämlich einen Kanon bilden, um die kanonischen Texte gerade nicht ernsthaft, einzeln und mit äußerster Aufmerksamkeit lesen zu müssen. Kanon-Apologeten fürchten sich auffallend häufig davor, ernsthaft mit einem Buch anzubändeln. Deshalb verstecken und vergraben sie es hinter und unter anderen Büchern, die sie dann sogleich en gros verstehen. Ein besonders erfolgreicher unter den Verteidigern des Literatur-Kanons, Emil Staiger, der Papst der sog. werkimmanenten Interpretation, war so frei, den üblen Impuls im Klartext zu benennen, der die meisten Verteidiger des Kanons umtreibt. Stammt doch aus seinem bekanntesten, zu seiner Zeit für Deutschlehrer kanonischen Text Grundbegriffe der Poetik das fürchterliche Wort, dass „die Größten im Grunde alle dasselbe sagen“.12 Wer so argumentiert, kann sich die genaue Lektüre kanonischer Texte sparen und stattdessen dem Kanon so huldigen, wie etwa Harold Bloom und George Steiner es tun: Betet an, aber lest um Gottes willen nicht wirklich aufmerksam, ihr könntet sonst auf befremdliche Ideen kommen. Unter dem Titel „Lesenahkrampf“ erschien in der FAZ vom 7. November 2001 die Glosse eines bislang nicht durch besonders aufschlussreiche Lektüren aufgefallenen Germanistik-Professors, die den Vorzug der Eindeutigkeit hat. Sie tituliert Kollegen, die für genaueste Lektüre kanonischer Texte plädieren, als „Hornochsen“ und „Esel“. Das wäre allein eine Frage des Milieus, der Erziehung und des Stils, die man in Kreisen, die wissen, was ein Kanon ist, nicht erörtern muss, wenn in dieser Glosse nicht auch eine in den Reden der meisten Kanon-Verteidiger latente Panik zur Kenntlichkeit entstellt würde: Was wäre, wenn ein kanonischer Text wie Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften in der Gestalt Mittlers tatsächlich gegen den hermeneutischen Commonsense argumentierte, wenn die Namen- und Buchstabenspiele dieses souveränen Romans tatsächlich mit Einsichten der Dekonstruktion wahlverwandt wären, wenn Goethe in seinem besten Buch tatsächlich das Ende der Gutenberg-Galaxis vor die lesenden Augen stellen würde? Nichts fürchten kulturkonservative Köpfe so sehr wie die genaue Lektüre großer Texte. Deshalb denunzieren sie panisch das close reading als „Lesenahkrampf“, deshalb fordern sie Anbetung statt 12 Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich/Freiburg 1968 (8.), p. 223, cf. dazu Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens – Zur Kritik der Hermeneutik. Berlin 2011 (3. Erweiterte Auflage).
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hellwache Aufmerksamkeit. Es kann keinen größeren Dissens mit ihnen geben, als die irritierenden Einsichten kanonischer Texte gegen die Banalitäten der meisten Kanon-Verteidiger auszuspielen. Wer im Kanon singt, singt polyphon und weiß doch, worauf er sich bezieht. Einen Kanon zu singen – das ist nicht nur in Zeiten, in denen das Wort „Hausmusik“ ganz eigentümlich fremd klingt, keine leichte Übung. Einen Kanon schön und nicht nur laut zu singen – das ist sogar eine besonders schwere, aber eben auch eine besonders reizvolle Aufgabe. Seine ersten Blüten erlebte der Kanon als musikalische Form im Florenz des 14., in den Niederlanden des 15. Jahrhunderts und in den Kompositionen Bachs. Die Neuzeit stimmte sich damit auf das Kunststück ein, viele Stimmen dissens-orientiert erklingen zu lassen: We agree to disagree. Subtiler als Kanonen kann ein wirklich zur Kenntnis genommener Kanon allzu sichere Überzeugungen de(kon)struieren. Notwendig ist ein strenger Kanon, um das Konventionelle vor sich selbst zu schützen. Das gilt gerade auch im Hinblick auf die Muster kultureller Identität. Man mag es bedauern, aber es ist so: das Leben ist zu kurz und das Gedächtnis zu schwach, um auch nur alle wirklich guten relevanten Werke aller Weltkulturen zur Kenntnis zu nehmen. Kein Mensch kann auch nur ansatzweise die Musik Tibets, die Mythen der pazifischen Inseln, die Filmszene der Ukraine, die japanische Gegenwartsliteratur, die Slam-Poetry-Szene in San Francisco und die Erzählungen der Inuit kennen oder gar übersehen. Dennoch hat sich – auch im Namen wohlmeinender Maximen wie denen der Political Correctness – die Bindungskraft des tradierten Bildungskanons aufgelöst. Das hat eigentümliche Folgen. Denn das Verdrängte kehrt wieder. Und das heißt nichts anderes als dies: an die Stelle eines hochkulturellen Kanons, der die Häretiker (wie Picasso, Schönberg oder Kafka) integriert, tritt ein anderer Kanon, der Qualitätsansprüche offensiv preisgibt. Man muss dann nicht mehr wissen, aus welchem Text die Zeile „das Land der Griechen mit der Seele suchend“ stammt und wie ihr Kontext lautet, alle aber wissen hingegen zu gegebener Zeit, aus welchem Model-Mund der Satz „Hier werden Sie geholfen“ erklang. Man streitet dann nicht mehr darüber, ob die Klänge von Brahms oder Wagner mehr Liebe verdienen, aber man weiß, dass Dieter Bohlen darüber entscheidet, welche Töneproduzenten für vierzehn Tage berühmt oder berüchtigt werden soll. Kanonisches Wissen, das Kommunikationschancen eröffnet, verschiebt sich in den Bereich des offensiv Belanglosen. Natürlich wis-
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sen alle, dass es Blödsinn ist, sich dafür zu interessieren, ob es einem jungen Menschen gelingt, einen Ball besser als andere über ein Netz zu schlagen oder in ein Tor zu treten. Aber dennoch kennen alle, die nicht mehr wissen, warum Hamlet melancholisch ist, Boris Becker oder Franz Beckenbauer. Der Kanon rächt seine Verdrängung, indem er (nach reizvollen Zwischenstationen wie dem der Kultfilme – alle wissen, wer wann zu wem warum ‚Schau mir in die Augen, Kleines‘ oder ‚Play it again, Sam‘ sagt) als groteskes Gespenst wiederkehrt. Nur wer kulturkonservativ hohen Respekt vor dem Kanon hat, kann ein produktiver Häretiker sein.
2. L ieblingsbücher – Hinweise zur Lebens-, Liebes- und Lesekunst
In meinem Lieblingsbuch, das zugleich das objektiv beste Buch ist, das je in deutscher Sprache verfasst wurde (aber so müssen alle, die wahrhaft lieben, reden, denn Liebe wäre keine wahre Liebe, wenn sie nicht das Liebesobjekt in Sphären jenseits aller subjektiven Relativität ansiedelte), in Goethes 1809 erschienenem Roman Die Wahlverwandtschaften gibt es eine (unter vielen) ebenso großartige wie abgründige Passage. Sie handelt davon, was ein Lieblingsbuch mit seinem Leser und in diesem Fall mit einer schönen, großäugigen, nicht nur in ein Buch, sondern auch in einen Menschen verliebten Leserin anzustellen vermag. Ottilie, so heißt es da von der Geliebten Eduards, die dessen ehelich gezeugten Sohn betreut, „trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Gewohnheit. So gelangte sie zu den Eichen bei der Überfahrt. Der Knabe war eingeschlafen; sie setzte sich, legte ihn neben sich nieder und fuhr fort zu lesen. Das Buch war eins von denen, die ein zartes Gemüt an sich ziehen und nicht wieder loslassen. Sie vergaß Zeit und Stunde und dachte nicht, daß sie zu Lande noch einen weiten Rückweg nach dem neuen Gebäude habe; aber sie saß versenkt in ihr Buch, in sich selbst, so liebenswürdig anzusehen, daß die Bäume, die Sträuche ringsumher hätten belebt, mit Augen begabt sein sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu erfreuen. Und eben fiel ein rötliches Streiflicht der sinkenden Sonne hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter.“1 Ottilie, keine Frage, hat ein Lieblingsbuch – eines jener Bücher, „die ein zartes Gemüt anziehen und nicht wieder loslassen“.2 Dem Zauber ihres Lieblingsbuches ist sie wie dem Zauber eines geliebten Menschen 1 Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften; in: ders.: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe) I. Abt./Bd. 8, ed. Waltraud Wiethölter. Ffm 1994, p. 491. 2 Ibid.
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gänzlich verfallen, so verfallen, dass ihre eigenen zauberhaften Reize sich im Lesen ihrerseits nochmals steigern, so steigern, dass Ottilie zum weiblichen Orpheus wird, dem Bäume und Sträuche zusprechen würden, wenn sie denn sprachbegabt wären. Die Szene ist zu schön, um wahr zu sein. Und sie endet unschön. Denn Ottilie ist so vorbehaltlos in ihr Lieblingsbuch „versenkt“, dass ihr hingebungsvolles Lesen kein geringeres Opfer fordert als das Leben des Kindes, das sie betreut und das versinken, ertrinken wird. Ottilie muss feststellen, dass sie sich lesend verspätet hat, und darum will sie, um das Kind rechtzeitig seiner Mutter zurückgeben zu können, den Weg zum Schloss abkürzen, indem sie sich, ihr Lieblingsbuch und das Kind, das nicht ihres und doch ihres ist (hat Eduard bei seiner Zeugung doch sie herbei phantasiert) einem Kahn anvertraut. „Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn. Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser.“3 So lakonisch endet eine Passage, die eben noch vom verklärenden Goldglanz der sinkenden Sonne berichtete. Wie subtil Goethe das gemacht hat, wie souverän hier die Versenkung in ein Buch, die sinkende Sonne und die schockierende Versenkung eines Kindes ineinander verwoben werden. Nicht die sie umgebende Natur wird sich Ottilie (deren Name und Gestalt auf Lilien anspielen) angleichen, vielmehr wird sie in jedem Wortsinne entsagen, sprachlos werden und verstummen – also so beredt werden, wie nur Bücher es vermögen. Noch einmal: Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften ist nicht irgendeines unter vielen guten Büchern, die liebevolle Verehrung verdient haben – diese Prosa ist das beste deutschsprachige Buch überhaupt. Wer in Lieblingsbüchern nach Szenen sucht, die von Lieblingsbüchern berichten, wird eine seltsame Entdeckung machen: Die große Literatur, die es verdient, zum Lieblingsbuch erkoren zu werden, warnt mit eigentümlicher Regelmäßigkeit vor Lieblingsbüchern.4 Nur zwei Beispiele aus der Sphäre, die man Höhenkammliteratur nennt. Paolo und Francesca, so berichtet Dantes Göttliche Komödie, haben ein Lieblingsbuch – die Liebesgeschichte von Lanzelot und Ginevra. 3 Ibid., p. 494. 4 Cf. Stefan Bollmann: Frauen und Bücher – Eine Leidenschaft mit Folgen. München 2013 und ders.: Frauen, die lesen, sind gefährlich – Lesende Frauen in Malerei und Fotografie. München 2012.
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Die gemeinsame Lektüre des Lieblings- und Liebesbuches hat, wie Francesca im fünften Gesang des Infernos gesteht, fatale Folgen. Wir lasen eines Tages zum Vergnügen Von Lanzelot, wie Liebe ihn umstrickte, Allein und unbeargwohnt waren wir. Oft hieß des Buches Inhalt uns einander Scheu ansehn und verfärbte unsre Wangen; Doch nur ein Punkt war’s, welcher uns bewältigt. Denn als wir, wie das langersehnte Lächeln Von solchem Liebenden geküßt ward, lasen, Da küßte, dem vereint ich ewig bleibe, Am ganzen Leibe zitternd, mir den Mund. Zum Kuppler ward das Buch und der’s geschrieben. An jenem Tage lasen wir nicht weiter.5 Nicht nur Paolo und Francesca, auch Madame Bovary wird, ähnlich wie und doch auch ganz anders als Don Quichotte, ein Opfer der Liebe zu Büchern. Sie, die vom Leben und der Liebe enttäuscht ist, sucht Anregungen und Alternativwelten im Lesen. Von Spaziergängen in der schönen Natur, die ein neuer Nachbar empfiehlt, will sie nichts wissen, vom Flanieren in den Phantasiewelten, die Bücher eröffnen, um so mehr. „‚Meine Frau gibt sich damit nicht weiter ab‘, unterbrach ihn Karl. ‚Obgleich ihr körperliche Bewegung verordnet ist, bleibt sie lieber dauernd in ihrem Zimmer und liest.‘ / ‚Ganz wie ich!‘ fiel Leo ein. ‚Was wäre wohl auch gemütlicher, als abends beim Schein der Lampe mit einem Buche am Kamin zu sitzen, während draußen der Wind gegen die Fensterscheiben schlägt?‘ / ‚So ist es!‘ stimmte sie zu und blickte ihn mit ihren großen schwarzen Augen voll an. / Er fuhr fort: / ‚Dann denkt man an nichts, und die Stunden verrinnen. Ohne daß man sich bewegt, wandert man mit dem Erzähler durch ferne Lande. Man wähnt sie vor Augen zu haben. Man träumt sich in die fremden Erlebnisse hinein, bis in alle Einzelheiten; man verstrickt sich in allerhand Abenteuer; man lebt und webt unter den Gestalten der Dichtung, und es kommt einem zuletzt vor, als schlüge das eigene Herz in ihnen.‘ / ‚Wie wahr! Wie wahr!‘ rief Emma aus. / ‚Haben Sie es nicht 5 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, übers. Karl Witte. Berlin 1916, p. 30 (Inferno 5).
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zuweilen erlebt, in einem Buche einer bestimmten Idee zu begegnen, die man verschwommen und unklar längst in sich selbst trägt? Wie aus der Ferne schwebt sie nun mit einem Male auf einen zu, gewinnt feste Umrisse, und es ist einem, als stehe man vor einer Offenbarung seines tiefsten Ichs …‘ / ‚Das hab ich schon erlebt!‘ flüsterte sie.“6 Auch mit dieser Liebhaberin von Büchern wird es ein böses Ende nehmen. Die Paradoxie ist offensichtlich. Großartige Bücher wie Dantes Göttliche Komödie, Goethes Wahlverwandtschaften und Flauberts Madame Bovary warnen davor, Büchern allzu sehr zu vertrauen und sie allzu leidenschaftlich zu lieben – aus Liebe zu ihren Lesern und Leserinnen. Sie handeln wie die große Geliebte des Doktor Faustus in Thomas Manns Roman: Esmeralda warnt Adrian davor, sich auf sie einzulassen – aus Liebe. Bücher, die sich, einer alten Tradition folgend, ihren geneigten Lesern als Freunde und Liebesobjekte anempfehlen, sind deshalb suspekt. Zum wirklichen Lieblingsbuch taugen nur die Bücher, die sehr genau vom Wissen zeugen, dass Lesen, Leben und Lieben zwar miteinander verwandt, aber eben nur wahlverwandt sind. Auch Bücher sind mit Menschen wahlverwandt und stehen eben deshalb zu ihnen in einem Spannungsverhältnis. Die drei zitierten Szenen haben bei allen Unterschieden doch diese Gemeinsamkeit, dass sie erst einmal Bücher nach dem Bilde von Menschen konzipieren, ja wie intime Freunde erfahrbar machen. „Laß das Büchlein deinen Freund sein“, heißt es auf der ersten Seite von Goethes Werther. Verwunderlich ist das nicht. Schon die Begrifflichkeit, die Bücher umgibt, ist anthropomorph. Bücher sind nicht Dinge unter anderen; sie sind vielmehr (wie) menschliche Lebewesen und eben deshalb lesens- und liebenswert. Bücher haben wie professionell gebildete Menschen einen Titel, sie haben einen Rücken, und sie können, wenn sie denn Gelehrtes enthalten, Fußnoten haben. Textsammlungen bilden einen corpus (lat. Körper), und Körper bedürfen, um vor der Umwelt geschützt zu sein, der Textilien, in die sie sich einschmiegen können. Text und Textil sind nächstverwandte Begriffe; Bücher bearbeiten einen Stoff und entfalten Motive. Dichter texten, weben, spinnen ihr Garn, und sie durchwirken einen Text mit einem roten Faden (kein anderer Roman als Goethes Wahlverwandtschaften hat die Wendung vom roten Faden populär gemacht). Jemand spricht 6 Gustave Flaubert: Frau Bovary (Madame Bovary), übers. Arthur Schurig. Leipzig 1952, p. 108.
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wie ein Buch, jemandes Seele ist ein offenes Buch, im Buch des Lebens kann ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Bücher sind aber nicht nur den Menschen, die sie lesen, ähnlich, sondern auch überlegen. Sie sind menschenfreundlich und übermenschlich zugleich. Selbst im Internetzeitalter ist die großdimensionierte Buchmetaphorik omnipräsent. Im Buch der Natur, der Geschichte, der Schöpfung und der Welt zu lesen, ist ein Projekt, das noch den umtreibt, der sich dem Internet anvertraut. Bücher haben eine handfeste Dimension, elektronische Daten nicht. Es ist auffallend, dass das Internet mit dem unsicheren Element des Wassers assoziiert wird. Wir surfen und navigieren im Datenmeer, ja im Netz (seltsame Katachrese: denn dort, wo Netze ausgeworden sind, wird keiner surfen wollen und können…) und drohen wegen information overload unterzugehen. Cloud-Computing wird daran wenig ändern. Bücher bleiben hingegen der Erde treu. Sie bestehen aus festen Buchstaben, liegen gut in der Hand und überleben zumeist ihre Leser. Leser von Büchern surfen nicht, sie verharren in eigentümlicher Entschleunigung vor dem haltbaren, kompakten, festen und zugleich bedeutsamen Ding, das ihnen vor Augen liegt und zur Hand ist. Ab einem gewissen Umfang taugen Bücher in all ihrer geistreichen Materialität gar dazu, allzu dumme und aggressive Rezensenten körperlich zu behelligen; man kann sie unliebsamen Gesprächspartnern nachwerfen, ohne fürchten zu müssen, dass sie dann den Geist aufgeben. Mit einem elektronischen Buch oder einem iPad sollte man das nicht versuchen. Schon die Vorstellung, dass alle Bücher, wenn sie denn elektronisch daher kommen, gleich aussehen, gleich riechen und dasselbe Format haben, ist dem Buchliebhaber so unerträglich wie dem leidenschaftlich Liebenden der Hinweis, dass in der Nacht alle Katzen grau und alle Frauen Frauen seien. Ein Buch qualifiziert sich zum Lieblingsbuch auch durch seine äußere Gestalt, durch seine Aura, durch die Anmutung seines Einbandes und seines Papiers, durch die Farbe des Lesebändchens, durch die Drucktype und den Zeilenabstand und nicht zuletzt durch die unverwechselbaren Umstände, die zum ersten Rendezvous mit diesem singulären Exemplar geführt haben. Bei diesem Bouquinisten an der Seine an jenem späten Mainachmittag, in jenem Antiquariat in der Seitenstraße der Kleinstadt, in die es mich in den Ferien verschlug, auf diesem wenig beachteten Stand der Buchmesse oder an diesem Weihnachtsgabentisch bin ich meinem Lieblingsbuch zuerst begegnet – so müssen Geschichten
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um Lieblingsbücher beginnen. Downloads sind von durchschlagend unromantischer Qualität, sie initiieren keine Liebesgeschichten. Aus dem Rendezvous mit einem Buch kann jedoch eine heiße Affäre hervorgehen – und eine lebenslange Bindung. Kein Computer wird so haltbar sein wie ein handwerklich gut gemachtes Buch. Was Gutenberg vor mehr als einem halben Jahrtausend druckte, hat heute noch Bestand; hingegen wird kein heute funktionierender Rechenknecht in fünfzig Jahren noch funktionsfähig geschweige denn an der Zeit sein. Buchliebhaber sollten sich dennoch keine Illusionen machen: die Elektronisierung des Buches ist in vollem Gange, sie wird nicht aufzuhalten und auch nicht auszubremsen sein. Aber so wie eine Autofahrt zum Wochenendgroßeinkauf im Supermarkt etwas anderes ist als ein sonntäglicher Ausritt oder eine Kutschfahrt, so ist auch die hingebungsvolle wiederholte Lektüre eines Lieblingsbuches etwas anderes als der Download eines Textes auf ein Smartphone oder einen E-Book-Reader. Und so wie es auch im Zeitalter der Autobahnen noch Pferde gibt, so wird es auch im Zeitalter der Daten-Highways noch richtige Bücher geben. Auch wenn es rettungslos sentimental und romantisch klingt: Lieblingsbücher sollten Lieblingsbücher sein, weil sie ewig sind und deshalb zeitlichen Menschen dauerhafte Offenbarungen versprechen (das kann auch die Offenbarung sein, dass es keine endgültigen Offenbarungen gibt; das kann auch die Einsicht sein, dass nur eines auf Dauer gestellt ist: die Furie des Verschwindens). „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, / Ich bin ein Mensch in seinem Widerspruch“, lauten vielzitierte Worte aus Conrad Ferdinand Meyers 1872 erschienenem Gedicht Huttens letzte Tage. Menschen begreifen sich nicht ohne Stolz als sprechende Wesen, die der sprachlosen pflanzlichen und tierischen Um- und Mitwelt überlegen sind. Wer spricht, muss jedoch damit rechnen, dass andere ihm Contra geben und durchaus auch, dass er sich selbst widerspricht. Dass die Welt und das Dasein voller deutungsbedürftiger Widersprüche sind, zählt zu den Grund- bzw. zu den Abgrunderfahrungen des Lebewesens, das die Sprache hat (zoon logon echon) bzw. von der Sprache besessen wird. Und deshalb suchen sprechende, widersprechende, in sich widersprüchliche Menschen Halt an festen Buchstaben. Bücher versprechen Halt, sie sind dauerhaft, ihre Autoren haben, jedenfalls dann, wenn sie zu Lieblingsautoren erkoren wurden, Autorität. Das Schema ist von großer Suggestivität: gesprochene Worte verfliegen im Wind; wer schreibt, bleibt, wer spricht nicht; scripta manent, verba
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volant. Auch deshalb ist die Umstellung vom gedruckten zum elektronischen Buch so abgründig: sie gleicht die Schrift der Rede an, die im Winde verweht. Was auf Monitoren und Displays zu lesen ist, „is written in water“. Bleibt die schon eingangs angeklungene Frage, ob man/frau ein absolutes Lieblingsbuch oder aber Lieblingsbücher haben sollte. „Die Liebe liebt das Wandern – / Gott hat sie so gemacht – / Von einem zu dem andern. / Fein Liebchen, gute Nacht!“ heißt es gänzlich unromantisch und unsentimental im ersten Gedicht von Wilhelm Müllers Zyklus Die Winterreise, der durch Schuberts im Jahre 1828 vollendete Vertonung unsterblich wurde. Es gibt viele Männer oder Frauen und eben auch sehr viele Bücher, in die frau/man sich so verlieben kann, dass die Versuchung unwiderstehlich wird, von einem zum andern zu wandern. Monogamie im Reiche der Bücher – das ist eine seltsame Vorstellung. Sie erinnert an den aggressiven Witz, den Kritiker gegen nicht sonderlich belesene Politiker, Schauspieler, Sportler oder Gegner aller Couleur richten können. Das Fernsehen meldet: „Die Privatbibliothek von xy ist abgebrannt. Beide Bücher wurden ein Opfer der Flammen. Dabei war das eine noch nicht einmal zu Ende ausgemalt.“ Unter solchen, aber eben nur unter solchen Umständen ist es leicht, ein und nur ein Lieblingsbuch auszumachen. Ein Jahrhundert nach Schuberts Winterreise wurde ein Film weltberühmt, dem ein Buch zugrunde lag und der vom traurigen Schicksal eines belesenen Menschen berichtete. Prof. Rat bzw. Prof. Unrat wendet sich vom Lesen ab und dem Leben und Lieben zu. Gute Erfahrungen macht er mit dieser Wanderung aus der einen in die andere Sphäre allerdings nicht. Denn er, der ganz einer einzigen und in seinen Augen einzigartigen Frau verfallen ist, muss ausgerechnet aus ihrem Mund ein unsentimentales Lied hören, das deutlich auf das Eingangslied der Winterreise anspielt. Marlene Dietrich singt im Blauen Engel ein unvergessliches Plädoyer für polyerotische Beziehungen: Wer wird denn weinen, wenn man auseinander geht, Wenn an der nächsten Ecke schon ein Anderer steht? Man sagt Auf Wiedersehen und denkt sich heimlich bloß: Na endlich bin ich wieder ein Verhältnis los.
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Leidenschaftlich Verliebte hören solche Verse nicht gerne. Für sie gilt, um sachlich über Leidenschaftliches zu sprechen, der passionierte Code „Du und kein Anderer bzw. keine Andere“. Liebe verlangt Ausschließlichkeit. Gilt das auch im Hinblick auf das Lieblingsbuch? Schon die beliebte Frage, welche drei Bücher man auf eine einsame Insel mitnehmen würde, kann einem leidenschaftlichen Buchliebhaber als Frevel gelten. Er hält sich an das Wort aus dem Buch der Bücher und wandelt das monotheistische Motiv schlechthin in ein monobibliophiles Motiv: Du sollst kein anderes Buch haben neben mir. Denn dieses Buch hat mich erleuchtet, mich durch alle Krisen begleitet, mein Leben verändert, mir stets erneut Trost gespendet, mir geholfen, dem stummen Gewicht der Welt sprachlich Stand zu halten, mir die Welt verständlich und erträglich gemacht oder gar (um ins dramatische oder filmische Fach zu wechseln) die Kugel aufgehalten, die auf mein Herz zielte. Erst der Leser, der mit vielen Büchern angebändelt hat, weiß, dass es für ihn ein Buch der Bücher, ein ultimatives Lieblingsbuch gibt. Vom großen Leser Walter Benjamin stammt nicht nur das krasse Wort „Bücher und Dirnen kann man ins Bett nehmen“7, sondern auch der feine Hinweis, dass Bücher, die das Zeug zum Lieblingsbuch haben, ihre Entstehung enttäuschter Liebe verdanken. „Schriftsteller sind eigentlich Leute, die Bücher nicht aus Armut sondern aus Unzufriedenheit mit den Büchern schreiben, welche sie kaufen könnten, und die ihnen nicht gefallen.“8 Dies ist der hohe Preis, den großartige Autoren für ihr Werk zahlen müssen: dass sie schon vorhandene Bücher nicht lieben dürfen. Für die Glücklichen, die ein Lieblingsbuch haben, das auch und gerade angesichts vieler anderer Bücher, der sich die wandernde Liebe zuwenden könnte, Bestand hat, gilt hingegen, dass lesende Treue reich belohnt wird. Z. B. mit der Erleuchtung, die sich bei der wiederholten Lektüre der Wahlverwandtschaften einstellt. In diesem Roman steht ein Satz zu lesen, der offenbart, was geschehen kann, wenn aus dem Rendezvous zwischen einem Buch und einem Leser eine heiße Affaire und sodann eine Dauer im Wechsel versprechende Lebensliebe wird: „Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden.“9 7 Walter Benjamin: Einbahnstraße; in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. IV /1, ed. Tillman Rexroth. Ffm 1972, p. 109. 8 Walter Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus; in: ders. Gesammelte Schriften Bd. IV /1, ed. Tillman Rexroth. Ffm 1972 l. c., p. 390. 9 Johann Wolfgang von Goethe: Wahlverwandtschaften, l. c., p. 516.
3. E rfolg und Verfolgung – Ein nicht nur literaturhistorisches Muster
Erfolg ist der Titel eines Romans von Lion Feuchtwanger, der 1930 erschien. Das Buch, das Jahre vor der Machtergreifung der Nazis hellwach registriert, wie populär Hitler ist, hat dessen Wahlerfolge nicht verhindert. Andere Romane von Feuchtwanger waren auch im Hinblick auf ihre Auflagenhöhe erfolgreicher. Schundroman ist der Titel des im Jahre 2002 erschienen Buches von Bodo Kirchhoff, das kenntnisreich und witzig Mechanismen des Literatur(kritik)betriebs und der Durchsetzung von Bestsellern schildert. Ein Bestseller und Megaerfolg ist das Buch trotz (oder wegen?) seiner Qualitäten nicht geworden. Es stand im Schatten von Martin Walsers fast gleichzeitig erschienenem Roman Tod eines Kritikers. Bestseller ist der Titel des 2006 erschienenen Romans von Klaus Modick, eines Autors, der über Feuchtwangers Roman Erfolg promoviert hat. Zum Bestseller ist dieser im besten Sinne geistreiche Roman nicht geworden. Es scheint ein literaturgeschichtliches Gesetz zu sein, dass der Erfolg von Büchern von allen möglichen Faktoren abhängt – nicht aber vom Erfolgswillen ihrer Verfasser. Wer schreibend das Ziel verfolgt, ein Erfolgsbuch vorzulegen, hat offenbar schlechtere Karten in der Hand als der, der buchstäblich rücksichtslos schreibt. Die ganz großen literarischen Bucherfolge, diejenigen also, die durch Auflagenhöhe wie durch kanontaugliche Qualität gleichermaßen herausragen, verdanken sich solcher Rücksichtslosigkeit. Die Leiden des jungen Werther und Buddenbrooks avancierten schnell zu Bestsellern, sie hatten den Erfolg, zu Longsellern zu werden und in den weltliterarischen Kanon der ganz großen Titel aufgenommen zu werden. Ihre Verfasser hatten keine Einwände gegen den Erfolg ihrer Bücher; Erfolg aber war nicht das, was sie primär anstrebten. Nicht umsonst stehen im Mittelpunkt beider Romane scheiternde Figuren, denen der erotische wie der sozioökonomische
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Erfolg versagt bleibt. Und nicht umsonst umkreisen beide Bücher eine Glücks- (und Unglücks-) Erfahrung, die die Logik des Erfolgs hinter sich lässt. Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück. Das Diktum von Karl Kraus gilt auch für das Wort ‚Erfolg‘. Das ist erst einmal nicht verwunderlich. Denn das Wort meint ja (wie auch das aus dem lateinischen Verb ‚succedere‘ abgeleitete englisch/französische Substantiv ‚success/succès‘) die zukünftige, ferne Folge von Ereignissen und Handlungen – also das, was aus zuvor Geschehenem folgen wird. Genau hier aber tut sich, wie alle wissen, die auch nur ansatzweise über Erfolg nachgedacht haben, ein Abgrund auf. Denn zwischen ‚succedere‘ und ‚consequere‘, zwischen dem, was auf Früheres folgt, und dem, was aus Vorangehendem konsequent abgeleitet werden kann, dehnt sich eine weite Kluft. Darauf verweist schon das Grimmsche Wörterbuch. Wer dort den Artikel ‚Erfolg‘ nachschlägt, muss sich auf ein seltsames Leseerlebnis gefasst machen. Das gelehrte Werk führt als Beleg für ‚Erfolg‘ folgende Verse aus Grillparzers Aufzeichnungen zur Ahnfrau an: Zwischen mord und seinem dolch Zwischen handlung und erfolg Dehnt sich eine weite kluft.1 Da reimt sich „Dolch“ auf „Erfolg“ – ein Reim, so unrein wie der in Goethes Faust-Versen „O neige / Du Schmerzensreiche“. Schmerzensreich ist es auch um die Logik des Erfolgs bestellt. Sie ist um Klassen weniger rein als die Logik der konsequenten Folge von Schlüssen, die Mephisto im Studienberatungsgespräch dem Scholaren empfiehlt. Der Philosoph der tritt herein, Und beweist Euch, es müßt’ so sein: Das Erst’ wär’ so, das Zweite so Und drum das Dritt’ und Vierte so.2 1 Hier zitiert nach dem Grimmschen Wörterbuch, bei Grillparzer mit Großschreibung: Die Ahnfrau, Sämtliche Werke, edd. Peter Frank/Karl Pörnbacher. München 1969 (2.), p. 698. 2 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I; in: ders.: Sämtliche Werke in vierzig Bänden (Frankfurter Ausgabe) I. Abt./Bd 7,1, ed. Albrecht Schöne. Ffm 1994, p. 83.
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Zwischen der Abfolge von konsistenten logischen Schlüssen und den Erfolgen, die Handlungen mit sich bringen, waltet eine weite, aber überschaubare Differenz. Dennoch oder eben deshalb ist der Erfolg ein Weltkind in der Mitte zwischen dem Folgen-Automatismus des Schließens und dem in jedem Wortsinne zufälligen, nämlich einem Menschen unverdient zufallenden Glück. Wenn B logisch aus A folgt, dann muss das so sein; wenn die Konstellation D sich, wie gewollt, beabsichtigt und erstrebt, als Erfolg der Handlung C einstellt, dann kann das so sein, es könnte aber eben auch gänzlich anders kommen, sodass man von Misserfolg sprechen müsste; wenn aber die Person F Glück hat und glücklich ist, dann weiß sie nicht einmal recht, welcher Größe sie dieses Glück, dieses Gelingen, diesen Zufall zurechnen soll. Eben deshalb sprechen wir vom verdienten Erfolg eines brillant geschriebenen Romans, aber vom unverdienten Glück, dass sein Autor zur rechten Zeit gerade diese Muse fand, die ihn beflügelte. Der Erfolg gibt demjenigen Recht, der sich anstrengte und seine Kräfte klug einsetzte; Glück stellt sich jenseits aller Rechtsansprüche ein. Es macht einen Unterschied, ob ein General, Politiker oder Unternehmer mit seiner Strategie Erfolg hat oder ob das Glück ihm hold ist. Erfolg bei Frauen ist etwas anderes als Liebesglück; eine erfolg- und ertragreiche Investition ist vom Glück im Spiel leicht zu unterscheiden. Kurzum: Glück gehört einer auratischen, sakralen, mythischen Sphäre zu; Erfolg aber ist profan. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Begriffe wie ‚Erfolg‘ und ‚success‘ spezifisch neuzeitliche Begriffe sind. Im Altgriechischen und Lateinischen gibt es keine angemessenen Entsprechungen für das, was wir heute als ‚Erfolg‘ bezeichnen. Worte wie griech. ‚eutychia‘ oder lat. ‚successus‘ kommen nur vereinzelt vor, und sie meinen anderes als ‚Erfolg‘. Schiller hat die Einsicht in die Differenz zwischen Erfolg und Glück in klassische Verse gekleidet. In seinem Gedicht Das Glück heißt es: Groß zwar nenn ich den Mann, der sein eigner Bildner und Schöpfer Durch der Tugend Gewalt selber die Parze bezwingt, Aber nicht erzwingt er das Glück, und was ihm die Charis Neidisch geweigert, erringt nimmer der strebende Mut.3
3 Friedrich Schiller: Das Glück; in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 1 – Gedichte, ed. Georg Kurscheidt (Frankfurter Ausgabe). Ffm 1992, p. 456.
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Das ist ebenso antik-klassisch gedacht wie formuliert und macht doch auf ein Spezifikum von Neuzeit und Moderne aufmerksam, die Erfolg als Folge, als Effekt, als Produkt des strebenden Mutes begreifen und dabei auch gerne mal die Frage nach der tugendhaften Qualität des Strebens einklammern. Die Politik ist das Schicksal, lautet ein berühmtes Bonmot Napoleons, das er zu Zeiten aussprach, als sein strebender Mut ihm die größten Erfolge bescherte. Ein Recht auf „pursuit of happiness“ schrieben die Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung jedem Menschen und nicht etwa nur Genies von napoleonischen Dimensionen zu. Sie formulierten klug und vorsichtig. Glück (happiness) lässt sich nicht garantieren – wohl aber das Recht, nach Glück zu streben und dabei Erfolg zu haben, wenn das Glück mitspielt. Wenn, ja wenn. Projekte können Aussicht auf Erfolg haben, ohne Risiko aber ist das Verhältnis von strebendem Mut und Erfolg nicht zu haben. Eine juristisch einklagbare Erfolgsgarantie fürchten nicht nur Anbieter von Haarwachs- und Diätmitteln wie der Teufel das Weihwasser. Allenfalls gibt es eine „Geld-zurück“-Garantie. Wie fragil und risikoreich es um das Streben nach Glück und Erfolg steht, haben die Verse aus Brechts erfolgreichstem Stück – die Dreigroschenoper hat den jungen linken Autor schnell wohlhabend gemacht – vor Augen und Ohren geführt. Ja mach nur einen Plan Sei nur ein großes Licht Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht. (…) Ja, renn nur nach dem Glück Doch renne nicht zu sehr Denn alle rennen nach dem Glück, Das Glück rennt hinterher.4 Brecht hat Recht. Es ist eine Handgreiflichkeit, dass Erfolg und Misserfolg einander in unaufhebbarer Doppeldeutigkeit verschwistert sind. Die Psychoanalyse kennt die Figur desjenigen, der am Erfolg scheitert; viele Menschen sind mit der Melancholie der Erfüllung vertraut; post 4 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper; in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 2, edd. Werner Hecht et al. Berlin/Weimar/Ffm 1988, p. 291.
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coitum omne animal triste. Alles spricht dafür, dass das Erfolgsstreben schlicht langweilig wäre, wenn es nicht systematisch von Misserfolg bedroht wäre. Faust, die Inkarnation neuzeitlichen Erfolgsstrebens, spricht das in goldenen Worten aus und geht dabei zugleich einen entscheidenden Schritt weiter. So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde.5 Damit hat Goethe nichts Geringeres als das profane Geheimnis des Erfolgsstrebens ausgeplaudert. Was wir begehren, wonach wir streben, ist das, was wir nicht haben – sonst würden wir es ja nicht begehren, sonst würden wir ja nicht mehr oder weniger planvoll danach streben. Wir verfolgen – begehrend, strebend – ein Ziel, wenn wir auf Erfolg aus sind. Verfolgte, die eingeholt werden, neigen dazu, sich an ihren Verfolgern zu rächen. Und eben dies tut der Erfolg. Er enttäuscht geradezu systematisch denjenigen, der ihn hat. Denn er setzt genau das außer Kraft, was das Verfolgen eines Ziels, das Streben nach Erfolg so attraktiv machte. So erschließt sich die Formel, dass wir im Genuss nach der Begierde verschmachten, dass wir, um es psychoanalytisch zu formulieren, uns von der Vorlust ungleich stärker faszinieren lassen als von der erfüllten Lust, dass wir, um es mit Platons modernstem Dialog, dem Symposion, zu sagen, eigentlich nicht das Begehrte begehren, sondern das Begehren selbst. Der bekannte Satz, nichts sei erfolgreicher als der Erfolg, erweist sich als ein ganz buchstäblich zu verstehender Satz. Erfolg beruht anders als Glück auf Leistung. Wer Erfolg hat, kann sich mehr leisten als zuvor – mehr Konsum, mehr Selbstbewußtsein, mehr Macht, mehr Arroganz. Wer Erfolg hat, kann jedoch auch die eigentümliche Erfahrung machen, dass sich der Erfolg verselbstständigen, also von dem, der ihn verfolgt und errungen hat, emanzipieren kann. Erfolg kann es sich leisten, auf seine(n) Leistungsträger zu verzichten. Erfolg verlangt nach neuem Erfolg; ein erfolgreiches erstes Buch muss durch ein zweites bestätigt und nach Möglichkeit überboten werden. Erfolg will sich selbst kopieren und übertreffen. Deshalb verselbstständigt er sich, etwa als wissenschaftlicher Fortschritt, als technischer Er5 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I; l. c., p. 141 (v. 3251 sq.).
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folg oder als ökonomische Prosperität. Erfolg selbst wird zum Agens, dem es seltsam gleichgültig bleibt, wer ihn hat, genießt und erfährt. Revolutionäre, Unternehmer, Wissenschaftler und Künstler können gleichermaßen die Erfahrung machen, dass ihre Werke am Ziel, sie selbst aber am Ende sind. Große Erfolge, die welthistorische Spuren hinterlassen, sind bemerkenswert häufig von Verfolgten initiiert worden. Die Namen Sokrates, Christus, Luther, Galilei und Giordano Bruno verweisen prototypisch auf den Zusammenhang von Verfolgung und Erfolg. Den durchschlagenden Erfolg ihrer Reden, Schriften und Werke haben sie nicht mehr erleben können. Die neuzeitlich-moderne Kultur hat daraus eigentümliche Folgen gezogen. Sie protegiert und animiert den Typus des Häretikers, den Stürmer und Dränger, den Antitraditionalisten, den Dadaisten, Kubisten, Surrealisten, Zwölftöner etc. – im Vertrauen darauf, dass seine Anfeindung und Verfolgung ein starkes Indiz für den sich unweigerlich einstellenden Erfolg seiner Werke ist. Es ist unübersehbar, dass sich Paradoxien einstellen, wenn sich die Erfolgsaussichten häretischer Programme herumsprechen. Wenn ein „Konformismus des Anderssein“6 Erfolg verspricht, wollen fast alle Häretiker, Revolutionäre und Querdenker sein. Das Konzept „Erfolg durch Querdenken“ kann dann ein wenig zu erfolgreich und also inflationär entwertet werden. Erfolg verhält sich wie ein egoistisches Gen. Mit dem Glück, das zum Augenblick „verweile doch“ sagen möchte, kann der Erfolg nicht recht kooperieren. Denn Erfolg wird systematisch angezielt und verfolgt, und deshalb ist Erfolg ständig auf der Flucht nach vorn. Man kann die inhärente Zukunftsunrast des Erfolgs mit vielen guten Gründen verdammen und kulturkritisch für enthusiastische Gelassenheit gerade auch bei Misserfolgen plädieren. Man kann aber auch darüber erstaunt sein, dass das prototypisch moderne Konzept, Erfolg zum Stellvertreter und Nachfolger des Glücks (und in theologischer Perspektive: des Heils) zu machen, so erfolgreich war und ist. Und man kann es – politisch korrekt und gut demokratisch – begrüßen, dass grundsätzlich jeder das Recht auf Erfolg hat, während Glück ganz und gar ungerecht waltet. Alle sollen dieselbe Aussicht und denselben Anspruch auf erfolgreiche Heilung ihrer Wunden und Verletzungen haben; nicht alle aber überleben Operationen glücklich. 6 Norbert Bolz: Die Konformisten des Andersseins – Ende der Kritik. München 1999.
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Glück schenkt willkürlich: z. B. Gesundheit, Schönheit, hohe Herkunft, geniale Begabung oder den entscheidenden und völlig unverdienten, gar sittenwidrigen Matchpoint wie in Woody Allens gleichnamigem Film. Erfolg ist hingegen kein Geschenk. Wer Erfolg hat, weiß, dass man für alles zahlen muß und dass er sich eben dies, zahlen zu können, dank seines Erfolges nun leisten kann. Nach einem großen Satz von Walter Benjamin heißt glücklich sein, ohne Schrecken seiner selbst innewerden können. Erfolgreich ist, wer seiner selbst ohne Schrecken nicht inne ist. Bedürfte es dafür eines Belegs, so lieferte ihn der Titel von Oliver Kahns Autobiographie: Ich – Erfolg kommt von innen. Ghostwriter von Torhütern aber sollen nicht das letzte Wort behalten. Wem sonst, wenn nicht Goethe, der fast alles über Erfolg und Glück wusste, stünde das letzte Wort zu? In seinen Wanderjahren findet sich diese Maxime und Reflexion: „In dem Erfolg der Literaturen wird das frühere Wirksame verdunkelt und das daraus entsprungene Gewirkte nimmt überhand, deswegen man wohltut von Zeit zu Zeit wieder zurückzublicken. Was an uns Original ist wird am besten erhalten und belobt, wenn wir unsre Altvordern nicht aus den Augen verlieren.“7
7 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829); in: ders.: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe) I. Abt., Bd. 10, ed. Gerhard Neumann. Ffm 1989, p. 769.
4. Z ähne zeigen: Wie aggressiv, wie b lasphemisch kann und darf Lachen sein?
Ich lache ob den abgeschmackten Laffen, Die mich anglotzen mit den Bocksgesichtern; Ich lache ob den Füchsen, die so nüchtern Und hämisch mich beschnüffeln und begaffen. Ich lache ob den hochgelahrten Affen, Die sich aufblähn zu stolzen Geistesrichtern; Ich lache ob den feigen Bösewichtern, Die mich bedrohn mit giftgetränkten Waffen. Denn wenn des Glückes hübsche Siebensachen Uns von des Schicksals Händen sind zerbrochen, Und so zu unsern Füßen hingeschmissen; Und wenn das Herz im Leibe ist zerrissen, Zerrissen, und zerschnitten, und zerstochen – Dann bleibt uns doch das schöne gelle Lachen.1 Heinrich Heines Sonett über das Lachen aus dem Buch der Lieder ist nicht recht zum Lachen. Denn es macht unmissverständlich deutlich, wieviel Aggressivität im Lachen steckt bzw. sich im Lachen verstecken kann. Wem „feige Bösewichter … mit giftgetränkten Waffen“ ein zerrissenes, zerschnittenes und zerstochenes Herz beschert haben, dem bleibt doch noch „das schöne gelle Lachen“ – um sich zu wehren. Wer lacht, fletscht die Zähne. Wer lacht, signalisiert körpersprachlich: ich könnte jetzt auch zubeißen. Ein Witz kann voll beißender Ironie 1 Heinrich Heine: Buch der Lieder/Fresko-Sonette an Christian S.; in: ders.: Sämtliche Werke in zwölf Bdn, ed. Klaus Briegleb. München/Wien 1976, p. 68.
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sein. Ohne aggressive Momente ist das Lachen kaum zu haben. Das unterscheidet das gellende Lachen vom heiteren Lächeln.2 Wer sich unter Berufung auf Normen der Political Correctness etwa sexistische Witze verbittet, verkennt, dass nicht nur Witze über Blondinen, sondern auch solche über Politiker, Geistliche, Kaufleute, Professoren, Touristen, Einheimische, Ostfriesen etc. systematisch aggressiv sind. Dass Witze dennoch beliebt sind, lässt sich leicht erklären. Wer lacht, wer gar eine mächtige und würdevolle Institution wie die Kirche oder die Polizei und ihre Repräsentanten verlacht, respektiert zugleich die Beißhemmung: er zeigt die Zähne, ohne zuzubeißen. Der Lachende, der Verlachende, derjenige, der eine Institution oder eine Person der Lächerlichkeit preisgibt, bringt das Kunststück fertig, zugleich aggressiv und friedlich zu sein. Denn er trägt Kämpfe in der semantischen und nicht in der somatischen Sphäre aus. Wer einen Witz erzählt und seine Hörer zum Lachen bringt, braucht nicht die Fäuste sprechen zu lassen. Was nicht aus-, sondern einschließt, dass auch ein Witz verletzend und kränkend sein kann. Häufig gibt es jemanden, der einen Witz gar nicht komisch findet, nämlich den auf seine Kosten oder auf Kosten der Institutionen und Werte, für die er einsteht. Deshalb werden Witze häufig nur dann kommuniziert, wenn der, den sie betreffen, nicht anwesend ist. In Anwesenheit eines Polizisten hätte man im kommunistisch regierten Polen folgenden aggressiven Witz nicht erzählen sollen – es sei denn, dass man weder Tod noch Teufel fürchtet. Die Regierung überlegt, wie sie den durchschnittlichen Intelligenzquotienten der Gesamtbevölkerung erhöhen kann. Ganz einfach: man weist die Dümmsten in die befreundete Sowjetunion aus, und die Dümmsten sind bekanntlich die Volkspolizisten. Halt, der Witz ist noch nicht zu Ende. Der Vorschlag wird praktiziert, der Erfolg gemessen. Und siehe da: der Plan geht auf. Die Bevölkerung Polens ist nach der Ausweisung der Vopos signifikant intelligenter als zuvor – und die der Sowjetunion auch. Wenn Witze wie dieser erzählt werden, entbrennen obligatorisch die Kämpfe: ist er zu aggressiv, denunziatorisch, gar rassistisch, oder ist er herrlich subversiv – da zeigen es die polizeistaatlich und imperialistisch Beherrschten den Herrschern mal so richtig? Und macht der Witz nicht auf ein Problem aufmerksam, das weitgehend tabuisiert ist: 2 Cf. die klassische Studie von Helmuth Plessner: Lachen und Weinen; in: ders.: Philosophische Anthropologie, ed. Günter Dux. Ffm 1970, pp. 11 – 172.
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wie steht es um die Leistungsfähigkeit einer Bevölkerung, die durch stalinistische Massenmorde an Millionen von qualifizierten Köpfen (ob Aristokraten oder Priester, Vertretern bürgerlicher Berufe oder an Trotzki-orientierten Oppositionellen, ob alphabetisierte Kulaken oder Juden etc.) und systematische Zensur um intelligente Optionen und um Opositionelle gebracht wurde? Gibt es Grenzen für die Akzeptanz aggressiver Witze, wo verlaufen die Demarkationslinien, die der gute Geschmack, der Respekt und die Logik der Anerkennung des anderen errichten, um kränkende, unkorrekte, stillose Witze abzuwehren oder zu domestizieren? Ist die Szene aus Dani Levis Film Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Hitler aus dem Jahr 2007 atemberaubend witzig oder unerträglich, in der Goebbels den geschundenen, ausgemergelten, aus dem KZ in die Reichskanzlei überstellten deutschjüdischen Theaterprofessor, der Hitler einst Schauspielunterricht gab und der den Führer nun zur Jahreswende 1944/45 noch einmal für einen großen Auftritt fit machen soll, mit den Worten begrüßt: „Herr Professor, dat mit der Endlösung, dat dürfen Sie nicht persönlich nehmen.“ In letzter Zeit – aber schon vor Ermordung der Charlie-HebdoKarikaturisten durch islamistische Terroristen am 7. Januar 2015 und Jan Böhmermanns Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Erdogan – laufen Diskussionen über zulässigen und unzulässigen Witz heiß.3 Erregt werden Debatten über beißenden Witz zumal dann, wenn juristische, politische, diskursethische, vor allem religiöse Rücksichten verletzt werden. Ernsthaft wird man über die ästhetische und stilistische Qualität des Covers der Satirezeitschrift Titanic (Juli 2012) nicht diskutieren wollen, das nach der VatileaksAffäre das Bild eines inkontinenten Papstes Benedikt XVI mit der Unterschrift versah „Halleluja im Vatikan – Die undichte Stelle ist gefunden“. Sonderlich geistreich und stilsicher ist dieser Bilderwitz, wenn man ihn denn überhaupt mit dieser Bezeichnung nobilitieren will, sicherlich nicht – unterster Level. Die katholische Kirche erwirkte eine einstweilige Verfügung, nahm dann aber die Klage einen Tag vor dem angesetzten Prozesstermin zurück. Dabei dürften neben aufmerksamkeitsökonomischen auch kirchenrechtliche Aspekte eine 3 Cf. dazu Jochen Hörisch: Worüber darf man (nicht) lachen? Groteske Kommunikation nach dem 11. September 2001; in: Merkur Nr. 641/642, Heft 9/10/Sept/Okt. 2002, pp. 895 – 905.
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Rolle gespielt haben – was wäre, wenn ein kleines deutsches Gericht Diskurshoheitsansprüche des Heiligen Stuhls zurückweist? Das wäre aus kirchenrechtlicher und vatikanischer Sicht gar nicht komisch. Dass mächtige Politiker und selbst gekrönte Häupter (der westlichen Welt; in Marokko oder Saudi-Arabien empfiehlt sich Leuten, die Wert auf ihre Freiheit und körperliche Integrität legen, auf Witze über die dortigen Könige und Prinzen zu verzichten) es sich gefallen lassen müssen, be- und mitunter auch verlacht zu werden, hat sich herumgesprochen. Sie sind dann „not amused“, können und müssen aber damit (weiter-)leben. Ob man auch die Instanz, welche höher ist denn alle menschlichen Souveräne und alle menschliche Vernunft, ob man auch Gott verlachen darf, stand stets und steht heute erneut zur Diskussion. Konservative Intellektuelle wie Martin Mosebach oder Robert Spaemann, die nicht durch scharfe Kritik an den tausendfachen und gar nicht komischen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche oder am entspannten Verhältnis von Papst Benedikt XVI zu den Holocaustleugnern unter den Pius-Brüdern aufgefallen waren, fordern ein schärferes Blasphemieverbot. Witze, gar aggressive Witze über Gott und fanatische Gottesgläubige sind ihrer Meinung nach des Teufels. Motivgeschichtlich haben Blasphemiekritiker Recht. Der monotheistische Gott des Judentums, der Christenheit und des Islam ist anders als die griechischen Götter, die sich nach Nietzsches frechem Wort4 zu Tode lachten, als ein junger Gott des Weges kam, der von sich sagte, er sei der Sohn des Einzigen, ein sehr ernster, eifriger, unironischer und humorloser Gott. Der Teufel hingegen lacht gerne und viel; er hat einen ausgeprägten Sinn für Paradoxien wie die, dass militante Gläubige so gerne sein satanisches Geschäft betreiben. Am Comeback der Religion hat der Teufel seine helle Freude; die Frommen lachen selten, geben aber dem Teufel viel Anlass zu heller Freude und gellendem Lachen. 4 Cf. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra; in: ders.: Werke, Bd. 2, ed. Karl Schlechta. München 1966, p. 431: „Mit den alten Göttern ging es ja lange schon zu Ende: – und wahrlich, ein gutes fröhliches Götter- Ende hatten sie! / Sie „dämmerten“ sich nicht zu Tode – das lügt man wohl! Vielmehr: sie haben sich selber einmal zu Tode – gelacht! / Das geschah, als das gottloseste Wort von einem Gotte selber ausging – das Wort: „Es ist ein Gott! Du sollst keinen andern Gott haben neben mir!“ / – ein alter Grimm-Bart von Gott, ein eifersüchtiger, vergaß sich also: – / Und alle Götter lachten damals und wackelten auf ihren Stühlen und riefen: „Ist das nicht eben Göttlichkeit, daß es Götter, aber keinen Gott gibt?“ / Wer Ohren hat, der höre.“
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Die Bibel ist eine Anthologie, die ein enthusiastisch entspanntes Verhältnis zu fast allen Textgenres pflegt; sie kennt: Legenden, Gesänge, Chroniken, Gesetze, historische Berichte, Prophezeiungen, Apokalypsen, erotische Dichtung, sex-and-crime-stories, Briefe, Gedichte, Gebete, Epen, Dramen, Kommentare. Eine Sammlung guter Witze über Gott und die Welt, über Gläubige wie Ungläubige, über Priester wie Laien sucht man in der Anthologie, die da Buch der Bücher heißt, vergeblich. Denn Witze sind der genregenerösen Bibel so fremd wie dem gattungspoetisch weitaus strengeren, homogeneren und eintönigeren Koran. Nur einige wenige Bibel-Passagen handeln vom Lachen. Die bekannteste erzählt vom Gelächter des Paares Abraham und Sara, als Gott ihnen, den Kinderlosen, im hohen Alter noch einen Nachkommen verheißt. „15Und Gott sprach abermals zu Abraham: Du sollst dein Weib Sarai nicht mehr Sarai heißen, sondern Sara soll ihr Name sein. / 16Denn ich will sie segnen, und auch von ihr will ich dir einen Sohn geben; denn ich will sie segnen, und Völker sollen aus ihr werden und Könige über viele Völker. / 17Da fiel Abraham auf sein Angesicht und lachte, und sprach in seinem Herzen: Soll mir, hundert Jahre alt, ein Kind geboren werden, und Sara, neunzig Jahre alt, gebären?“ (Gen. 17,15 – 17, Luther-Bibel von 1912) Wie Gott darauf reagiert, dass der von ihm auserwählte betagte Abraham ihn verlacht, lässt das erste Buch Mose nicht unerwähnt. Gott ist offenbar nicht nach Witzen über guten Alterssex zumute; er reagiert seinerseits ernst auf Abrahams und Saras lachend-ungläubige Reaktion. „11Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und wohl betagt, also daß es Sara nicht mehr ging nach der Weiber Weise. / 12Darum lachte sie bei sich selbst und sprach: Nun ich alt bin, soll ich noch Wollust pflegen, und mein Herr ist auch alt? / 13Da sprach der HERR zu Abraham: Warum lacht Sara und spricht: Meinst du, das es wahr sei, daß ich noch gebären werde, so ich doch alt bin? / 14Sollte dem HERRN etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich wieder zu dir kommen über ein Jahr, so soll Sara einen Sohn haben.“ (Gen 18,11 – 14) Die Frage, ob Gott dem Herrn etwas unmöglich sein könne, lässt sich mit einem klaren ‚Ja‘ beantworten: Witze zu reißen fällt ihm nicht nur schwer, es ist ihm unmöglich und offenbar buchstäblich versagt. Wenn Gott doch einmal lacht, so ist die aggressive Qualität des göttlichen Lachens unverkennbar. So in Psalm 2: „1Warum toben die Heiden, und die Völker reden so vergeblich? / 2Die Könige der Erde lehnen sich auf, und die Herren ratschlagen miteinander wider den HERRN und seinen
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Gesalbten: / 3 ‚Lasset uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Seile!‘ / 4Aber der im Himmel wohnt, lacht ihrer, und der HERR spottet ihrer.“ Wer sich mit Gott, dem Herrn und Herrscher über alle Dinge anlegt, hat nichts zu lachen. Denn Gott ist laut Selbstauskunft nicht sonderlich humorvoll, vielmehr ist er „ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen“ (2. Mos 20,5; fast wortgleich 5. Mos 5,9; cf. Josua 24,19 und Nahum 1,2). Gott lässt nicht mit sich spaßen. Wer sich mit ihm anlegt, muss aber damit rechnen, seinerseits göttlich verlacht zu werden. „Der Gottlose droht dem Gerechten und beißt seine Zähne zusammen über ihn. / 13Aber der HERR lacht sein; denn er sieht, daß sein Tag kommt.“ (Psalm 37, 12 f.) Die Gottlosen werden nichts zu lachen haben, wenn der Tag des Herrn anbricht – die Frommen aber auch nicht, denn die himmlische Hosianna-Existenz dürfen wir uns nicht als aufgekratzt lustige Runde von Witze-Erzählern vorstellen.5 Machen wir einen Test: wäre es akzeptabel und mit religiösen Gefühlen kompatibel, dass im Himmel dieser Witz erzählt wird? Der Papst und Bill Clinton sterben am selben Tag. Clinton kommt in den Himmel und der Papst in die Hölle – wogegen der Heilige Vater lebhaft protestiert. Pardon, eine dumme Verwechslung, so die Antwort von Petrus an seinen Nachfolger auf Erden, wegen der vielen täglichen Todesfälle kommt es ab und an zu administrativen Fehlern. Wir tauschen dann jeweils am nächsten Morgen aus. Und so fährt der Papst am Morgen danach mit dem Aufzug aus der Hölle in den Himmel, wo an der Aufzugstür schon Bill Clinton auf seine Höllenfahrt wartet. „Sei mir bitte nicht böse“, sagt der Heilige Vater zum Schwerenöter, „dass ich auf diesem Austausch bestanden habe. Aber ich habe mich doch zeit meines Lebens darauf gefreut, die Heilige Jungfrau Maria zu sehen.“ „Jungfrau“, antwortet Clinton, „da kommst du eine Nacht zu spät.“ Ein Witz über Depla5 Eine gewisse Ausnahme stellt der 126. Psalm dar. Er handelt vom Lachen, vom freudigen und aggressionsfreien Lachen der Erlösten, die von den Heiden neidisch beobachtet werden. „1Ein Lied im Höhern Chor. Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. / 2Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: Der HERR hat Großes an ihnen getan! / 3Der HERR hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. / 4HERR , bringe wieder unsere Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Mittagslande. / 5Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. / 6Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“
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zierungen, den viele Fromme deplaziert finden werden. Da haben es Geschichten über Trauer und Weinen einfacher, Eingang in fromme Ohren zu finden. Denn Weinen ist in biblischer Perspektive besser als Lachen. Daran lässt das Wort aus dem Prediger-Buch keinen Zweifel zu. Es stellt apodiktisch fest: „3Es ist besser in das Klagehaus gehen, denn in ein Trinkhaus; in jenem ist das Ende aller Menschen, und der Lebendige nimmt’s zu Herzen. 4Es ist Trauern besser als Lachen; denn durch Trauern wird das Herz gebessert.“ (Prediger 7,3sq.) Diesen Ton nimmt auch das Neue Testament auf. So heißt es in der Feldpredigt Christi, dem Parallelstück des Lukas-Evangeliums zur Bergpredigt des Matthäus-Evangeliums: „Weh euch, die ihr hier lachet! denn ihr werdet weinen und heulen.“ (Lukas 6,25) Die große Freude und die frohe Botschaft, die Christus allen bringt, ist eine ernste Angelegenheit; sie bietet keinen Anlass zum Lachen. Das betont auch der Jakobus-Brief: „7So seid nun Gott untertänig. Widerstehet dem Teufel, so flieht er von euch; 8naht euch zu Gott, so naht er sich zu euch. Reiniget die Hände, ihr Sünder, und macht eure Herzen keusch, ihr Wankelmütigen. 9Seid elend und traget Leid und weinet; euer Lachen verkehre sich in Weinen und eure Freude in Traurigkeit.“ (Jakobus 4,8 – 9) Die Tradition des Osterlachens (risus paschalis) ist regional und historisch im Katholizismus wie im Protestantismus marginal geblieben; beim Ostergottesdienst die Gemeinde durch das Erzählen religiös-theologischer Witze zum Lachen zu bringen, ist den Predigern beider Konfessionen häufig von der Kirchenleitung explizit untersagt wurden. Schwer vorstellbar, dass Päpste, heißen sie Benedikt XVI oder Franziskus, in der heiligen Ostermesse im Petersdom die Gläubigen zum schallenden Gelächter animieren werden; der Maria-Clinton-Witz dürfte dort wie auch in den vatikanischen Privatgemächern aus dem Mund des Papstes und seines Privatsekretärs nicht zu vernehmen sein. Kurzum: Die frohe Botschaft unterhält ein bemerkenswert angespanntes Verhältnis zum Lachen und ein bemerkenswert enges zur Trauer und zum Weinen. Genau darüber macht sich der gute Gotteskenner Mephisto in Goethes Faust lustig. MEPHISTOPHELES .
Da du, o Herr, dich einmal wieder nahst Und fragst, wie alles sich bei uns befinde, Und du mich sonst gewöhnlich gerne sahst,
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So siehst du mich auch unter dem Gesinde. Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen, Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt; Mein Pathos brächte dich gewiß zum Lachen, Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt.6 Zur Attraktivität des Teufels gehört, dass er sich anders als Gott nicht das Lachen abgewöhnt hat. Der Teufel lacht Gott und Faust ins Gesicht und sich ins Fäustchen, wenn er das Comeback der heißen Religiosität mitsamt der ihr innewohnenden Lust am Satanischen beobachtet. Seit dem religionshistorischen Epochenjahr 1978/79 hat er besonders viel Grund zu lachen. Denn in diesem Jahr kam im Iran mit Chomeini ein ziemlich humorloser und ironiefreier Ayatollah an die Macht, um eine Theokratie zu errichten und Todesdrohungen gegen einen Schriftsteller auszusprechen, der dem rechten Glauben auch komische Aspekte abgewinnen konnte; in Rom kam mit Papst Johannes Paul II ein polittheologisch versierter Stellvertreter Christi auf den Stuhl Petri (sein Namensvorgänger ohne Ordnungszahl, ein Papst, der mitunter lachte, aber offenbar nicht viel zu lachen hatte, hatte ein sehr, sehr kurzes Pontifikat); und in Washington bereitete sich die religiöse Rechte, die gegen das „evil Empire“ zu kämpfen versprach und Armageddon, die in der Johannes-Apokalypse (16,16) prophezeite Endschlacht zwischen Gut und Böse, erwartete, auf die Machtübernahme vor, die 1981 mit Ronald Reagans Einzug ins Weiße Haus erfolgte (dieser Präsident hatte allerdings ein entspanntes Verhältnis zu Witzen). Im Jahr 1979 erblickte aber auch der Film der britischen Komikergruppe Monty Python Life of Brian wenn nicht das Licht der Welt, so doch das der Lichtspielhäuser. Ein Film, der mit glänzendem Gefühl für historisches Timing so aggressiv wie virtuos das Comeback militanter Religiosität verlachte, dass er in vielen Ländern (darunter USA , England, Italien und Norwegen) verboten oder boykottiert wurde.7 Nur ein Jahr später, also 1980, erschien Umberto Ecos BestsellerRoman Der Name der Rose. Auch er kreist um die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gelächter: fromme mittelalterliche Mönche 6 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I; l. c., p. 26 (vv. 271 – 278). 7 Zu den juristischen Dimensionen religiöser Freiheiten wie der Freiheiten von Religionskritik cf. Udo Di Fabio: Gewissen, Glaube, Religion – Wandelt sich die Religionsfreiheit. Freiburg/Basel/Wien 2012.
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tun alles, um die Entdeckung zu verhindern, dass kein geringerer als Aristoteles im unterdrückten zweiten Teil seiner Poetik das Lachen – gerade auch das Götterlachen und das Lachen über Gott – gerechtfertigt hat. Das zentrale Motiv von Ecos Roman hat eine lange Vorgeschichte. Atheismus und Lachen gelten deshalb seit jeher als enge Verbündete. Um nur einen, wenn auch prominenten Beleg anzuführen – in Georg Büchners Erzählung Lenz heißt es vom Protagonisten: „So kam er auf die Höhe des Gebirges, und das ungewisse Licht dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen, und der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und fest.“8 Köpfe wie Goethe, Büchner und Eco haben eine unfrohe Botschaft: die frohe Botschaft ist so froh nicht. Durchs Abendland, das so gerne seine griechisch-jüdisch/christliche Doppelherkunft beschwört, geht ein tiefer Riss. Griechischer Polytheismus heißt: über und mit Göttern über Götter und Menschen lachen dürfen, sollen und müssen. Monotheismus heißt: lachen ist verboten, wenn es um letzte Dinge geht. Lachen ist des Teufels. Mit dieser Entscheidung aber hat der Monotheismus den Teufel attraktiv gemacht. Er lacht und freut sich darüber, dass die Frommen so entsetzlich humorlos sind. Denn er weiß, dass sie nicht nur auf Erden nichts zu lachen haben. Zum Lachen ist selbstredend schon die Paradoxie, dass der reichlich humorlose und wenig zu Witzen aufgelegte Gott in theologischer Tradition als der Letztbeobachter der Welt konzipiert – und seinerseits von Theologen beobachtet wird. Goethes Teufel freut sich diabolisch über diesen eklatanten Widerspruch. Die eigentlich Hybriden sind die Frommen, die den Letztbeobachter Gott beobachten und trockenen Auges behaupten zu wissen, was sein Wille sei. Einige endliche Köpfe tun es solchen Hybris-Theologen nach, die ernsthaft prätendieren, in der Furcht des Herrn zu leben. Es sind Philosophen, die nach Letztbegründungen suchen und Letztbeobachtungspositionen suchen. Von ihnen heißt es in einem Gedicht Wilhelm Buschs:
8 Georg Büchner: Lenz; in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bdn, Bd. 1: Dichtungen, ed. Henri Poschmann. Ffm 1992, p. 242.
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Der Philosoph Ein Philosoph von ernster Art, Der sprach und strich sich seinen Bart: Ich lache nie. Ich lieb es nicht, Mein ehrenwertes Angesicht Durch Zähnefletschen zu entstellen Und närrisch wie ein Hund zu bellen; Ich lieb es nicht durch ein Gemecker Zu zeigen, daß ich Witzentdecker; Ich brauche nicht durch Wertvergleichen Mit andern mich herauszustreichen, Um zu ermessen, was ich bin, Denn dieses weiß ich ohnehin. Das Lachen will ich überlassen Den minder hochbegabten Klassen. Ist einer ohne Selbstvertraun In Gegenwart von schönen Fraun, So daß sie ihn als faden Gecken Abfahren lassen oder necken, Und fühlt er drob geheimen Groll Und weiß nicht, was er sagen soll, Dann schwebt mit Recht auf seinen Zügen Ein unaussprechliches Vergnügen. Und hat er Kursverlust erlitten, Ist er moralisch ausgeglitten, So gibt es Leute, die doch immer Noch dümmer sind als er und schlimmer, Und hat er etwa krumme Beine, So gibt’s noch krümmere als seine. Er tröstet sich und lacht darüber Und denkt: Da bin ich mir doch lieber. Den Teufel laß ich aus dem Spiele. Auch sonst noch lachen ihrer viele, Besonders jene ewig Heitern, Die unbewußt den Mund erweitern,
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Die, sozusagen, auserkoren Zum Lachen bis an beide Ohren. Sie freuen sich mit Weib und Kind Schon bloß, weil sie vorhanden sind. Ich dahingegen, der ich sitze Auf der Betrachtung höchster Spitze, Weit über allem Was und Wie, Ich bin für mich und lache nie.9
9 Wilhelm Busch: Der Philosoph; in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6, ed. Otto Nöldeke. München 1943, p. 317.
5. Paul Gerhardt – Der passionierte Passionsdichter
Paul Gerhardt trägt einen bemerkenswerten Namen. Bemerkenswert ist sein Name in semantischer wie in struktureller Hinsicht. In struktureller Hinsicht, weil beide Namen, der Vorname wie der Familienname, Vornamen sind, also auch ausgetauscht werden könnten. Paul Gerhardt – Gerhard(t) Paul. Wer keine Angst vor Überinterpretationen hat, mag darüber nachdenken, dass der Buchstabe ‚t‘ im Nachnamen eben diesen Vornamen als Familiennamen charakterisiert. Nun ist die Letter ‚t‘ ein traditionelles Kreuzessymbol. Zu den Kreuzen, die Paul Gerhardt zu tragen hat, gehört auch diese nur durch den Buchstaben t erschwerte Austauschbarkeit von Vor- und Familiennamen. Das Eigentümliche an solchen Namen ist, dass sie nicht recht zwischen den Kategorien „privat“ und „öffentlich“ unterscheiden. Diejenigen, die wir privat, familiär, freundschaftlich kennen, duzen wir und reden wir mit Vornamen an; diejenigen, mit denen wir öffentlich formalen Kontakt haben, siezen wir und reden wir mit dem Nachnamen an. Wer Vor- und Nachnamen austauschen könnte, steht vor der reizvollen Schwierigkeit, ein klärungsbedürftiges Verhältnis zu den Sphären „privat“ und „öffentlich“ haben zu müssen. Man kann, wenn man Gedichte auswendig weiß, dem Gewicht der Welt leichter sprachlich standhalten. Paul Gerhardts Lieder illustrieren diese schlichte Einsicht, sie sind uns geradezu unheimlich vertraut. Wir duzen ihren Verfasser gewissermaßen zu sehr. Er ist auch ein wenig zu populär, um in seiner Popularität ganz unverdächtig zu sein. Unheimlich ist ja, wie Freud überzeugend gezeigt hat, das- und derjenige, der Fremdes in die Gestalt des Heimischen verpackt, so dass man kaum merkt, mit welch bis zur Bedrohlichkeit befremdlichen Motiven man konfrontiert wird. Paul Gerhardts Lieder sind die real existierende Lyrik in unserem Kopf (zusammen mit Werbesprüchen). Sie gehören zu den raren Beständen, die man umdichten und dabei voraussetzen
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kann, dass jeder, aber auch wirklich jeder, den travestierten Urtext noch in den Ohren hat. Eine solche Umdichtung hat kurz vor seinem leidvollen Krebstod der Lyriker gewagt, der Paul Gerhardt schon durch seinen Namen eigentümlich nahesteht: Robert Gernhardt. Geh aus mein Herz und suche Leid in dieser lieben Sommerszeit an deines Gottes Gaben. Schau an der schönen Gifte Zier und siehe, wie sie hier und mir sich aufgereihet haben. Die Bäume stehen voller Laub. Noch bin ich Fleisch, wann wird ich Staub? Ein Bett ist meine Bleibe. Oxaliplatin, Navaban, die schauen mich erwartend an: Dem rücken wir zuleibe. Die Lerche schwingt sich in die Luft. Der Kranke bleibt in seiner Kluft Und zählt die dunklen Stunden. Die hochbezahlte Medizin Tropft aus der Flasch’ und rinnt in ihn. Im Licht gehn die Gesunden. (…) Ich selber möchte nichts als ruhn. Des großen Gottes großes Tun Ist für mich schlicht Getue. Ich schweige still, wo alles singt und lasse ihn, da Zorn nichts bringt, nun meinerseits in Ruhe.1
1 In: Petra Bahr/Christian-Georg Neubert (edd.): Ein Gast auf Erden – Annäherung an Paul Gerhardt. Frankfurt 2007, p. 12.
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Das ist unüberhörbar ein deutlicher Gegentext zum bekannten Original. Klartextmäßig widerspricht Gernhardt Gerhardts froher Botschaft: „Des großen Gottes großes Tun / Ist für mich schlicht Getue.“ Doch noch und gerade die scharfe Kontrafaktur ist dem unverwechselbaren Sound des frommen Liedoriginals verpflichtet. Was verleiht Paul Gerhardts Liedern ihren bis heute unwiderstehlichen Reiz? Es gibt sicherlich viele Antwortmöglichkeiten, von denen nur vier ausdrücklich benannt seien: 1. In der Zeit, in der Paul Gerhardt dichtet, ist der Protestantismus ja noch ein vergleichsweise junges Phänomen. Man muss sich klarmachen, was das gemeinsame Singen neuer Lieder damals – also in der Zeit des dreißigjährigen Krieges und kurz danach – bedeutete. Martin Mosebach hat in seiner Polemik Häresie der Formlosigkeit – Die römische Liturgie und ihr Feind darauf hingewiesen, „daß den Kirchenliedern für den Niedergang der Liturgie eine vielleicht ursächliche Rolle zukommt. / Man erinnere sich, wie es zur Blüte der Kirchenlieder kam: Luthers Reformation war eine singende Bewegung, das Kirchenlied drückte das reformatorische Glaubensgut aus, die Lieder ersetzten die Liturgie und waren dazu bestimmt, sie zu ersetzen, sie waren von dem Kampfgeist dieser unseligen Zeit erfüllt und sollten die Seelen im Parteienstreit stärken. (…) Die Leute sangen so gern; die heilsame Beeinflussung der Empfindungen gelang vermittels einschmeichelnder Melodien in strophischer Wiederholung so leicht. / Allerdings gab es in der Meßliturgie eigentlich keinen Platz für ein Lied. Die Liturgie ist lückenlos; sie ist selbst ein einziger großer Gesang.[…] Für den Protestantismus waren die Kirchenlieder konsequente Folge des Abschieds vom Meßopfer. Sie waren überaus geeignete Fortsetzungen der Predigt.“2 Lieder sind eigentümliche Gebilde. Sie drücken Subjektives aus, sie machen Emotionen öffentlichkeitsfähig, sie veröffentlichen Individuelles – aber sie tun dies so, dass das Individuum sich im Singen zugleich als ein Gruppen-Element erfährt. Wir sind Individuen, wir sind unterschiedlich – aber eben das haben wir gemeinsam: das ist so etwas wie die Grundbotschaft des Mediums (Kirchen-) Lied. Man sollte nicht vergessen, dass der Philosoph René Descartes
2 Martin Mosebach: Häresie der Formlosigkeit – Die römische Liturgie und ihr Feind. München 2007, pp. 35 – 37.
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(1596 – 1650) und Paul Gerhardt (1607 – 1676) Zeitgenossen sind, die allen Differenzen zum Trotz eines gemeinsam haben: sie bringen das Kunststück fertig, zugleich mit und gegen die Tradition für Individualisierung (des Denkens bzw. des Glaubens) zu optieren. Cogito ergo sum: das weiß jeder für sich selbst, diese Evidenz ist spezifisch eine Offenbarung für mich – aber genau diese Evidenz teile ich mit allen anderen Subjekten. Ich singe und bin ergriffen von diesen göttlichen Tönen, die sich an mich persönlich als an ein Kind Gottes und zugleich an alle richten, die mit mir gemeinsam singen. Descartes wie Gerhardt lassen sich bewusst auf das Paradox ein, dass Individualisierung die Massenbewegung der Neuzeit wird. 2. Was haben wir bei aller Individualisierung gemeinsam? Paul Gerhardts Antwort ist klar und deutlich: dass wir leiden müssen. Dasein heißt leiden. „Es muß gelitten sein“ heißt es in dem berühmten Lied nach dem 119. Psalm Davids, das so sanft beginnt mit den Worten „Ich bin ein Gast auf Erden“: Ich bin ein Gast auf Erden Und hab hier keinen Stand, Der Himmel soll mir werden, Da ist mein Vaterland. Hier reis ich bis zum Grabe, Dort, in der ewgen Ruh, Ist Gottes Gnadengabe, Die schließt all Arbeit zu. Was ist mein ganzes Wesen, Von meiner Jugend an, Als Müh und Not gewesen? So lang ich denken kann, Hab ich so manchen Morgen, So manche liebe Nacht Mit Kummer und mit Sorgen Des Herzens zugebracht. Mich hat auf meinen Wegen Manch harter Sturm erschreckt, Blitz, Donner, Wind und Regen Hat mir manch Angst erweckt,
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Verfolgung, Haß und Neiden, Ob ichs gleich nicht verschuldt, Hab ich doch müssen leiden Und tragen mit Geduld. (…) Ich habe mich ergeben In gleiches Glück und Leid: Was will ich besser leben Als solche großen Leut? Es muß ja durchgedrungen, Es muß gelitten sein; Wer nicht hat wohl gerungen, Geht nicht zur Freud hinein.3 Die schaurig-schönen Zeilen umspielen ein großes theologisches Thema. Danach ist der Exodus aus der Welt des Leidens nur als Exitus möglich. Exodus-Exitus: das ist ein großes Thema Paul Gerhardts. Und ein vergleichsweise konventionelles Motiv. Die meisten (nicht alle) Theologen glauben, den Tod schmackhaft machen und dieses irdische Leben hier abwerten zu müssen, weil anders Glaubensbereitschaft kaum zu mobilisieren ist. Wer anders argumentiert, ist auf der Höhe des Witzes vom Priester, vom Pfarrer und vom Rabbi, die in vollendeter Übereinstimmung über das Leiden und all die Unbill auf Erden (Krieg, Ungerechtigkeit, Krankheit etc.) klagen. Woraufhin der Katholik zum Protestanten sagt: „da bleibt uns nur die Hoffnung auf Erlösung und das andere Leben.“ Der Pfarrer nickt ökumenisch zustimmend, worauf der Rabbi sagt: „Anderes Leben? Ich tät ja lachen, wenn’s da auch mies wäre.“ 3. Wir hoffen auf ein Leben nach der Passion. Nun ist „Passion“ ein doppelsinniges Wort. Es meint sowohl das Leiden als auch die Leidenschaft. An Paul Gerhardts Liedern fällt auf, dass sie sowohl das Leiden verklären („O Haupt voll Blut und Wunden“) als auch leidenschaftlich die Schöpfung feiern („Geh aus mein Herz und suche Freud“). Diese Spannung durchzieht sein gesamtes Werk. 3 Ibid., p. 110.
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Ihr verdankt es seinen hohen Reiz, an ihr droht es aber auch auf eine reizvolle Weise inkonsistent zu werden, d. h. als ein Werk zu zerbrechen, das eine plausible Botschaft hat. Wie sich Leiden und Leidenschaft im Werk Paul Gerhardts (und darüber hinaus bis hin zu Mel Gibsons üblem Film Die Passion Christi) zueinander verhalten, ist die wohl heikelste Frage, die man an den Lieddichter, aber eben auch an den christlichen Glauben selbst adressieren kann. Um zuzuspitzen: Was ist das für ein Vater, der seinem Sohn eine solche Passion zumutet? Anspruchsvolle Theologie erkennt man daran, dass sie solche Fragen nicht tabuisiert. Der heiße Kern solcher Fragen umkreist dies- und jenseits von Psychologie das Problem, das man als „karfreitagstheologisches“ Gottes-Paradox charakterisieren kann. Man kann dieses Paradox schnell auf den Punkt bringen: kann ein allmächtiger Gott auch sterben? Wenn ja, dann ist Atheismus eine Option, die Religionen innewohnt, deren einer bzw. deren oberster Gott ein sterblicher Gott ist. Wenn nicht, so vermag der unsterbliche Gott etwas nicht, was Sterbliche vermögen – eben zu sterben. Dann aber ist es unplausibel, ihn als allmächtig zu bezeichnen. 4. Diese Sterblichkeits-Allmächtigkeits-Paradoxie macht Paul Gerhardts Lyrik ungemein beredt. Und so liegt es nahe, noch mal auf den Namen dieses Dichters zu kommen. Sein Vorname Paul verweist auf den Apostel Paulus. Und tatsächlich steckt viel paulinische Theologie in den Liedern von Paul Gerhardt. Und viel paulinische Psychologie. Paul Gerhardt ist wie Paulus ein mit Glossolalie-Phänomenen Vertrauter. Seine Lieder versuchen nichts Geringeres, als glossolalisch die Passion beredt zu machen – so beredt, dass die Passionserfahrung überwunden und erlöst wird. In diesem Leben, im anderen Leben, hier wie dort? Lieder und Gedichte beziehen ihren Reiz auch aus dem Umstand, dass sie nicht so dezidiert artikulieren und schlussfolgern müssen wie die Sprache der Theorie und der Wissenschaft. Paulus war vom Phänomen des von keinem selbstkontrollierten Subjekt verantwortbaren „Zungenredens“, der Glossolalie, fasziniert. Die Frage, was das alles bedeute, was da an Zeichen, Botschaften, Symbolen, Lauten auf ihn einströmt und was da durch ihn und aus ihm spricht, hat ihn umgetrieben. So heißt es in dem ersten Brief an die Korinther (in der Luther-Übersetzung von 1545, die der Hausbibel
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von Paul Gerhardt noch sehr nahe war): „1ST rebet nach der Liebe / Vleissiget euch der geistlichen Gaben / Am meisten aber / das jr weissagen möget. 2Denn der mit der Zungen redet / der redet nicht den Menschen / sondern Gotte / Denn jm höret niemand zu / Jm geist aber redet er die geheimnis. 3Wer aber weissaget / der redet den Menschen zur besserung / vnd zur ermanung / vnd zur tröstung. 4Wer mit der Zungen redet1 / der bessert sich selbs / Wer aber weissaget / der bessert die Gemeine. 5Jch wolt / das jr alle mit Zungen reden kündtet / Aber viel mehr / das jr weissagetet. Denn der da weissaget / ist grösser denn der mit Zungen redet / Es sey denn / das ers auch auslege / das die Gemeine dauon gebessert werde. / 6NV aber / lieben Brüder / wenn ich zu euch keme / vnd redet mit Zungen / was were ich euch nütze? so ich nicht mit euch redet / entweder durch Offenbarung / oder durch Erkentnis / oder durch Weissagung / oder durch Lere? 7Helt sichs doch auch also in den dingen / die da lauten / vnd doch nicht leben. Es sey eine Pfeiffe oder eine Harffe / wenn sie nicht vnterschiedliche stimme von sich geben / wie kan man wissen / was gepfiffen oder geharffet ist? 8Vnd so die Posaune einen vndeutlichen dohn gibt / Wer wil sich zum streit rüsten? 9Also auch jr / wenn jr mit Zungen redet / so jr nicht eine deutliche rede gebet / Wie kan man wissen / was geredt ist? Denn jr werdet in den wind reden. / 10ZW ar es ist mancherley art der stimme in der Welt / vnd der selbigen ist doch keine vndeutlich. 11So ich nu nicht weis der stimme deutunge / werde ich Vndeudsch sein dem / der da redet / vnd der da redet / wird mir Vndeudsch sein. 12Also auch jr / sintemal jr euch vleissiget der geistlichen Gaben trachtet darnach / das jr die Gemeine bessert / auff das jr alles reichlich habt. 13Darumb / welcher mit Zungen redet / der bete also / das ers auch auslege. 14So ich aber mit Zungen bete / so betet mein Geist / Aber mein Sinn bringet niemand frucht. 15Wie sol es aber denn sein? nemlich / also / Jch wil beten mit dem Geist / vnd wil beten auch im Sinn. Jch wil Psalmen singen im geist / vnd wil auch Psalmen singen mit dem sinn.“ „Undeutsch reden“ – das ist nun eine kühne Übersetzung Luthers. Denn im (für klassisch geschulte griechische Ohren unreinen) Griechisch des Apostels Paulus heißt es, dass die unverständlichen Laute vom Sprecher bzw. Hörer wechselseitig als „barbarische“ Laute vernommen, aber eben nicht verstanden werden. „Barbar“ – das war bekanntlich das Wort der Griechen für all diejenigen, die nicht griechisch sprachen. Deren Äußerungen klangen in griechischen Ohren
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nach einem unverständlichen Gebrabbel: „bar-bar“4. Eine adäquate Übersetzung von 1. Kor. 14,11 würde etwa lauten: „Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht kenne, werde ich für den, der spricht, ein Barbar sein und der, der in mir spricht, wird ein Barbar sein.“ Wichtiger als diese aufschlussreichen linguistischen und völkerpsychologischen Überlegungen aber ist für den hier zu erörternden Zusammenhang die von Luther adäquat übersetzte Formel, es sei „mancherley art der stimme in der Welt“. Für den Barbaren5 – und Gott und seinem Sohn gegenüber sind alle erst einmal Barbaren – stellt sich das Problem, dass Kommunikation nicht von engelgleicher Leichtigkeit ist. Gottes irdische Geschöpfe verstehen und reden nicht so unmittelbar wie Engel; ihre symbolischen Kommunikationsanstrengungen werden systematisch durch diabolisches Rauschen gestört. Die Kreatur- und Kinderbegrifflichkeit des Apostels Paulus hat es in sich. Denn sie ist von tiefer Ambivalenz. Unverständliche Seufzer sehnen sich wie Schreie von Kleinkindern danach, gestillt zu werden. Ein Kind aber wächst heran und hört auf, infans, also ein sprachloses Wesen zu sein (das ist der Wortsinn von lat. infans / Kleinkind); es lernt zu sprechen. Die Wegscheide, vor der nicht nur die paulinische Eschatologie steht, ist faszinierend, weil sie Perspektiven eröffnet, deren Richtungssinn nicht sofort zu überschauen ist. Paulus konstatiert einen engen ontosemiologischen Zusammenhang von zeitlichem Sein und Bedeutsamkeit. Doch es steht dahin, ob dieser Zusammenhang in dem Sinne erlöst wird, dass mit dem Anbruch des ewigen Reiches sich auch alle Probleme der Bedeutsamkeit, der Kommunikation und des Sinns erledigen, weil zeitlose Ewigkeit Semantizität so ausschließt, wie Zeitlichkeit Bedeutsamkeit in sich birgt, oder ob die seufzende Kreatur zur voll entfalteten Sprache erlöst wird. In diesem Fall aber müsste paradox noch der Ewigkeit Zeitlichkeit innewohnen, weil ja Bedeutsamkeit an Endlichkeit gebunden ist.6 Man kann dieses Problem auch psychologisch, nämlich als ein Problem des dramatischen Wegfalls von Dramatik entfalten: wäre man 4 Das griechische Wort ‚barbaros‘ leitet sich direkt her vom Sanskritwort ,barbarah‘ (Plur.) ‚Stammler, Laller‘. 5 Cf. die Studie von Manfred Schneider: Der Barbar – Endzeitstimmung und Kulturrecycling. München 1997, p. 15: „Alle Europäer glauben bis auf den heutigen Tag, daß sie Römer sind, daß sie auf die Barbaren warten müssen und auf das Ende.“ 6 Cf. dazu ausführlicher Jochen Hörisch: Bedeutsamkeit – Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. Ffm 2009.
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nicht von Sinnen, wenn Sinn sich strahlend offenbart hat; worüber sollte man kommunizieren, wenn alle erlöst, glücklich und ewig sind; warum sollte man kommunizierend noch Konsens suchen, wenn aller Dissens eschatologisch längst überwunden ist? Es gibt die profane, fromme Gemüter verletzende Variante dieses Problems: wie langweilig = sinnlos geht es im Himmel zu? Wenn das Theologoumenon von der Auferstehung des Fleisches wahr ist, wie konkret sollen wir uns das vorstellen dürfen; wie jugendlich oder alt und in welcher körperlichen Verfassung wird dann mein auferstandenes Fleisch sein; werde ich mich an Erlebnisse und Begegnungen erinnern können, die meiner irdischen Existenz nach dem idealen Auferstehungsalter zuteilwurden; werden eheliche und uneheliche Kinder, Freunde und Feinde, Ehefrauen und Geliebte zugleich präsent sein? Vom protestantischen Theologen Karl Barth, dem Autor eines großartigen Kommentars zum Römerbrief7, ist die Anekdote überliefert, dass er nach einem Vortrag über die Auferstehungstheologie von einer alten Frau gefragt wurde: „Herr Professor, werde ich nach meinem Tod alle meine Lieben wiedersehen?“ „Ja“, lautete die Antwort, „aber die andern auch.“ Noch im Reich der Erlösung muss es zugehen, als ob es unerlöste Reststrukturen gäbe – ansonsten wäre das realisierte Reich Gottes buchstäblich unbedeutend und sinnlos. Giorgio Agamben hat dieses Problem zwar nicht ausdrücklich thematisiert, wohl aber umkreist, als er die Seufzer-Passage des Briefes an die Römer eindringlich kommentierte: „Die ganze Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen (mataiótès, die Flüchtigkeit dessen, was verlorengeht und verdirbt) – aber genau deshalb seufzt sie in Erwartung auf Erlösung (Röm 8,20 – 22). Und diesem Seufzen des Geschöpfs, das unaufhörlich verlorengeht, entsprechen im Geist keine wohlgeformten Reden, die dessen Verlauf messen und verzeichnen könnten, sondern nur ‚unaussprechliche Seufzer‘ (stenagmoís alalétois, Röm 8,26). Deswegen kann, wer dem Verlorenen treu bleibt, nicht an irgendeine Identität oder weltliche klésis glauben. Das Als-ob-nicht ist in keiner Weise eine Fiktion im Sinne Vaihingers oder Forbergs und hat nichts mit einem Ideal zu tun. Die Angleichung an das, was verloren und vergessen geht, ist absolut: ‚Wir sind wie der Abfall der Welt geworden, wie der Abschaum von allem.‘ (1 Kor 4,13). Die Paulinische klésis ist vielmehr eine Theorie 7 Karl Barth: Der Römerbrief (zweite Auflage 1922). Zürich 1989.
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über die Beziehung zwischen dem Messianischen und dem Subjekt, die ein für allemal mit dessen Ansprüchen auf Identität und Eigentum abrechnet. Auch in diesem Sinne ist das, was nicht ist (ta mé onta), stärker als das, was ist.“8 „Als ob“ ist eine Lieblingswendung von Paulus (1. Kor 7, 29 – 31), auf die (mit welchem Grad an Autor-Bewusstsein auch immer) die Zeile aus Goethes Gedicht Im ernsten Beinhaus anspielt: „als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge.“9 Et in Arcadia ego: noch im Reich Gottes muss es zumindest einen seufzenden Nachhall all der Qualen geben, die erforderlich waren, um dem Seufzen der Kreatur ein erlösendes Ende zu bereiten. Es muss im restituierten Paradies zugehen, als ob es auch eine Erlösung von der Erlösung gäbe; die Zeit von Ewigkeit zu Ewigkeit muss sich auch in endlichen Sphären auskennen, wenn sie denn bedeutsam sein will. Dieses Paradox: dass die Endlichkeit und nicht etwa die Unendlichkeit das letzte Wort haben muss, wenn denn noch etwas Bedeutungsvolles zu sagen sein soll, verleiht Paul Gerhardts Liedern ihren unwiderstehlichen Reiz. Es macht plausibel, warum seine Verse stets erneut die Spannung zwischen Passion im Sinne von Leidenserfahrung und Passion im Sinne von leidenschaftlicher Erfahrung austragen. Die Leidens-Passion ist der eine Pol der Lyrik Paul Gerhardts; leidenschaftliches Lob der zeitlich-endlichen Schöpfung ist der andere. „Lobet den Herren“, „Nun danket alle Gott“: loben und danken sollen wir einem Gott, der als sterblicher Gott oder doch zumindest als ein Gott, der in seinem Sohn die Erfahrung der Sterblichkeit und des Leidens gemacht hat. Eine Ästhetik des Lobens und des Lobpreisens gilt heutzutage gewissermaßen als völlig diskreditiert. Unmöglich macht sich, wer Aug’ in Aug’ mit dem kritikwürdigen Stand der ökonomischen, ökologischen, politischen, kulturellen etc. Dinge dennoch Lob erklingen lässt. Diese massenhafte Einübung systematischer Kritik hat unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Sie sorgt u. a. dafür, dass es das exklusive Privileg einer kritikbedürftigen Branche wird, in der späten Moderne noch loben zu dürfen: das Exklusivrecht der Werbebranche. Ihr macht Paul Gerhardt Konkurrenz, noch bevor es sie im großen Maßstab gibt. Seine berühmteste Zeile „geh aus, mein Herz und suche 8 Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt – Ein Kommentar zum Römerbrief. Ffm 2006, p. 53. 9 Johann Wolfgang von Goethe: Im ernsten Beinhaus; in: ders.: Gedichte 1800 – 1832; Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe) I. Abt./Bd. 2, ed. Karl Eibl. Ffm 1988, p. 684.
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Freud“ spricht die starke Intuition aus, die wohl den Protestantismus insgesamt trägt: die Welt ist sündig und schlecht – weshalb man Freude nicht einfach paradiesisch vorfindet, sondern eben suchen muss. Doch diese Suche lohnt. Welt und Dasein sind gewissermaßen besser als ihr Ruf. Man kann schon in diesem Leben hier Freude finden. Man kann diese Intuition auch in gelehrte Theologie-Sprache übersetzen und mit Luthers Rechtfertigungslehre formulieren, dass der Mensch „simul justus et peccator“ ist: Sünder und vor bzw. von Gott bzw. von Gottes Sohn gerechtfertigt zugleich. Noch die vielzitierten (wenn auch kaum authentischen) Worte Luthers, er würde, wenn morgen die Welt unterginge, heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen, sind ja von bemerkenswerter Doppeldeutigkeit. Dass Luther gerade einen Apfelbaum pflanzen will, birgt nämlich einen wunderbaren Hintersinn. Wird der Apfelbaum doch untrennbar mit dem Sündenfall assoziiert. Und so finden wir in Paul Gerhardts Liedern beides: das Lob der Schöpfung ebenso wie die starke Gegenführung, nämlich das Motiv „Leben heißt Leiden“. Paul Gerhard hat dafür eine ebenso seltsame wie starke Formel gefunden: „es muß gelitten sein.“ Ich habe mich ergeben In gleiches Glück und Leid; Was will ich besser leben Als solche große Leut? Es muß ja durchgerungen, Es muß gelitten sein; Wer nicht hat wohl gerungen, Geht nicht zur Freud hinein. Und es gibt den Ton, der (sicher gegen die explizite Intention Paul Gerhardts) in seinen Liedern mitschwingt: das Leben ist wert gelebt zu werden, selbst wenn das frisch gepflanzte Apfelbäumchen keinen mehr findet, der seine Früchte erntet. Vergessen wir nicht, dass wir seine Zeilen als vertonte Zeilen im Ohr haben. „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“ (Nietzsche) – ohne das Leiden an Endlichkeit wäre es bedeutungslos.
6. „ Erst geköpft und dann gehangen …“ – Der gute und der böse Fremde in Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail
„Der Fremde, der bleibt“, ist diejenige Figur, die das Funktionssystem der Gesellschaft, in der sie bleibt, am besten begreift. So lautet die Leitthese des berühmten Exkurses über den Fremden, den Georg Simmel vor gut hundert Jahren (1908) in seiner Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung veröffentlichte.1 Simmel wusste, wovon er sprach. Als deutscher Jude, der zum Christentum konvertiert war, hatte er es seiner enormen Produktivität und Originalität zum Trotz (oder wohl vielmehr: auch wegen dieser seiner einschüchternden Produktivität) schwer, auf ein Ordinariat an einer deutschen Universität berufen zu werden. Simmel hatte also gleich zwei Gründe, sich als Fremder, der bleibt, zu begreifen. Gehörte er doch erstens einer, wenn nicht der paradigmatischen Gruppe von Leuten an, die seit Jahrhunderten als Fremde stigmatisiert und drei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von Simmels Studie von industriellem Massenmord bedroht wurden: der Gruppe deutscher Juden, die auf eine lange Geschichte des Bleibens und des Fremdbleibens zurückschauen konnte. Und blieb er zweitens doch als Nicht- bzw. Spätberufener der Universität verpflichtet, die alle Schwierigkeiten hatte, den Vertreter eines damals so befremdlichen Faches wie der Soziologie zu integrieren. Dem Fremden, der bleibt, erschließt sich, was sich sowohl dem Einheimischen wie auch dem müßigen Gast bzw. dem zeitlich befristet verweilenden Fremden verschließt. Denn der bleibende Fremde ist der ausgeschlossene Eingeschlossene und der eingeschlossene Aus1 Georg Simmel: Exkurs über den Fremden; in: ders.: Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band 11. Ffm 1992, pp. 764 – 771.
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geschlossene; er kann habitualisiert zwischen Beobachter- und Teilnahmeperspektive unterscheiden, und somit ist er für die Rolle des vergleichenden Analytikers geradezu prädisponiert. Allerdings muss er für seine analytische Distanzleistung einen Preis zahlen. Denn nicht alle goutieren die Belehrung, dass man das Vertraute, das, worin man alltäglich integriert bzw. intrigiert ist, auch anders wahrnehmen kann. Von ge- bzw. misslungener Integration, von Intrigen aller Art und von befremdlichen Kulturbeobachtungen berichtet auch das „Singspiel“ Die Entführung aus dem Serail, das am 16. Juli 1782 im Wiener Burgtheater unter dem Dirigat des Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart uraufgeführt wurde. Dem Werk war außerordentlicher Erfolg beschieden. Schon zwei Jahre später, genauer: am 12. November 1784, stand in einem Artikel des Wiener Blättchens zu lesen: „Freytags den 5. öffneten die Herren Schikaneder und Kumpf mit ihrer Gesellschaft deutscher Schauspieler und Sänger ihre Schaubühne. Es wurde das beliebte Singspiel Die Entführung aus dem Serail aufgeführt und die Gesellschaft ärndete den verdienten allgemeinen Beyfall.“ Ungewöhnlich erfolgreich war Mozarts Werk aber nicht nur in Wien; allein in den 80er Jahren des achtzehnten Jahrhunderts wurde es u. a. in Bonn, Frankfurt am Main, Leipzig, Mannheim, Karlsruhe, Köln, Dresden, München, Weimar, Aachen, Kassel, Augsburg, Nürnberg, Mainz, Rostock, Altona, Hannover, Hamburg, Koblenz, Regensburg, Berlin, Lübeck, Bamberg und Meinigen sowie in Salzburg, Graz, Preßburg, Riga, Prag, Warschau, Breslau und Amsterdam aufgeführt.2 Mit der Aufführung der Entführung aus dem Serail war Mozart nach dem Umzug vom ungeliebten Salzburg in die habsburgische Metropole Wien dort zügig bestens integriert. Entstanden war das Stück im Auftrag von Kaiser Joseph II . Die national-ästhetische Programmatik des Auftragswerks war eindeutig. Geschaffen werden sollte und wurde ein Gegenstück zur italienisch geprägten Hofoper, ein „Nationalsingspiel“, eine deutsche Oper. Auch persönlich war Mozart in der Zeit, in der er Die Entführung aus dem Serail komponierte, auf konstantem Integrationskurs. Seine Hochzeit mit Constanze Weber, der Schwester von Aloysia Weber, die er drei Jahre zuvor in Mannheim kennen- und liebengelernt hatte, stand unmittelbar bevor (geheiratet wurde am 4. 8. 1782). Konstanze heißt denn auch die weibliche Protagonistin 2 Dirk Böttger: Wolfgang Amadeus Mozart – Leben und Werk. München 2003, p. 125.
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des Nationalsingspiels, das dieser seiner Gattungsbezeichnung zum Trotz nicht in heimischen Gefilden, sondern in der Fremde, genauer in der Türkei spielt. Die Handlung, deren Grundzüge schon in Mozarts zwei Jahre zuvor entworfenem, aber Fragment gebliebenem Singspiel Zaide (KV 344) anzutreffen sind, ist schnell nacherzählt. Sie geht auf Voltaires Drama Zaire zurück, das 1777 in der Vertonung von Michael Haydn in Salzburg aufgeführt wurde. Von der Popularität des Stoffes zeugt auch das im selben Jahr 1777 in Wels aufgeführte Singspiel von Joseph Friebert Das Serail oder die unvermuthete Zusammenkunft in der Sclaverey zwischen Vater, Tochter und Sohn. Mozarts Singspiel kreist um ein bemerkenswert multinational und multikulturell geprägtes Personal. Die mit dem Edelmann Belmonte verlobte junge Spanierin Konstanze ist mitsamt ihrer englischen Zofe Blonde und deren Freund, dem Diener Pedrillo, von Seeräubern überfallen worden. Sie wurde von ihrem Verlobten getrennt und zusammen mit ihren beiden Begleitern auf einem Sklavenmarkt zum Kauf angeboten. Dort hatte sie Glück im Unglück. Denn gekauft wird sie von keinem anderen als von Bassa Selim. Und mit dieser edlen Figur hat es, wie die Zuschauer am Ende des Nationalsingspiels zu hören bekommen, eine eigentümliche Bewandtnis. Selim stammt nämlich ebenfalls aus Spanien, wurde aber nicht etwa von bösen Fremden, sondern von einem Landsmann betrogen und ins türkische Exil vertrieben, wo er, nach den traumatischen Erfahrungen mit Landsleuten und der eigenen Kultur, offenbar aus freien Stücken zum Islam konvertierte und es bis zum Pascha brachte. Konstanze widersteht dem Liebeswerben des Herrn mit bewegter Vergangenheit. Belmonte versucht, seine Verlobte aus dem Serail zu befreien, doch er wird von Selims Diener Osmin, der Blonde zwingen will, sich ihm hinzugeben und der sich auch sonst nicht gerade als Freund des interkulturellen und interreligiösen Dialogs profiliert hat, gefangen genommen. Nun, da Belmonte in der Gewalt von Bassa Selim ist, stellt sich heraus, dass er, der Fremde, kein anderer als der Sohn von Selims Widersacher aus dessen ehemaliger Heimat ist: SELIM staunend. Was hör’ ich! der Kommandant von Oran, ist dir
der bekannt? BELMONTE . Das ist mein Vater. SELIM . Dein Vater? welcher glückliche Tag! Den Sohn meines ärgsten Feindes in meiner Macht zu haben! kann was angenehmers
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seyn! Wisse, Elender! Dein Vater, dieser Barbar ist Schuld, daß ich mein Vaterland verlassen mußte. Sein unbiegsamer Geiz entriß mir eine Geliebte, die ich höher als mein Leben schätzte. Er brachte mich um Ehrenstellen, Vermögen, um alles. Kurz, er zernichtete mein ganzes Glück. Und dieses Mannes einzigen Sohn habe ich nun in meiner Gewalt! Sage er an meiner Stelle, was würde er thun? BELMONTE ganz niedergedrückt. Mein Schicksal würde zu beklagen seyn. SELIM . Das soll es auch seyn. Wie er mit mir verfahren ist, will ich mit dir verfahren. Folge mir, Osmin, ich will dir Befehle zu ihren Martern geben. Zu der Wache. Bewacht sie hier.3 Bemerkenswert ist, dass Belmontes Vater seinerseits nicht in der spanischen Heimat, sondern als Kommandant in Oran, also in Algerien lebt, und dass Bassa Selim, die Inkarnation des Fremden, der bleibt, seinen Feind nicht mit einem türkischen, sondern mit einem prototypisch griechischen Begriff charakterisiert: „Barbar“ – so wie es eindeutig mehr als nur eine Unachtsamkeit ist, wenn Mozart den militanten Türken Osmin wiederholt dem griechisch-römischen Weingott Bacchus huldigen und zutrinken lässt. PEDRILLO . Das ist ein Wein das ist ein Wein! Er setzt sich nach
türkischer Art auf die Erde, und trinkt aus der kleinen Flasche. OSMIN . Kost einmal die große Flasche auch. PEDRILLO . Denkst wohl gar, ich habe Gift hinein gethan? Ha! laß dir keine grauen Haare wachsen. Es verlohnte sich der Mühe, daß ich deinetwegen zum Teufel führe. Da sieh, ob ich trinke. Er trinkt aus der großen Flasche ein wenig. Nun hast du noch Bedenken? traust mir noch nicht? Pfuy, Osmin! sollt’st dich schämen – Da nimm! Er giebt ihm die große Flasche. Oder willst du die kleine? OSMIN . Nein, laß nur, laß nur! Aber wenn du mich verräthst. – Sieht sich sorgfältig um. PEDRILLO . Als wenn wir einander nicht weiter brauchten. Immer frisch! Mahomet liegt längst aufm Ohr, und hat nöthiger zu thun, als sich um deine Flasche Wein zu bekümmern. 3 Wolfgang Amadeus Mozart/Christoph Friedrich Bretzner: Belmonte und Constanze oder die Entführung aus dem Serail. Große Oper in drei Akten. Musik von W. A. Mozart, Text von Chr. F. Bretzner. Wiesbaden 1870, p. 22.
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Duett. PEDRILLO .
Vivat, Bachus! Bachus lebe! Bachus war ein braver Mann! OSMIN . Ob ichs wage? Ob ich trinke? Hinunter, hinunter! Nicht lange, nicht lange gefragt! OSMIN . Nun war’s geschehen, Nun war’s hinunter: Das heiß ich, das heiß ich gewagt! BEYDE . Es leben die Mädchen, Die Blonden, die Braunen, Sie leben hoch! PEDRILLO . Das schmeckt trefflich! OSMIN . Das schmeckt herrlich! BEYDE . Ah! das heiß ich Göttertrank! Vivat Bachus, Bachus lebe, Bachus, der den Wein erfand!4 Sex und Drugs und Musik sind Vorlieben, die die Antipoden Pedrillo und Osmin gemeinsam haben. Ab und an streifen sie sogar die Einsicht, dass, wenn zwei sich streiten, sie dasselbe tun – eben miteinander streiten. Ansonsten sind sie einander in herzlicher Abneigung verbunden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf Fragen des, um es neudeutsch, also unmozartisch auszudrücken, gender-setting. Pedrillo
4 Ibid., p. 14 sq.
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bangt und wirbt um sein Blondchen, Osmin, der Diener des Paschas, spielt hingegen den Pascha, wenn er der schönen Fremden begegnet. Garten am Palast des Bassa Selim; an der Seite Osmins Wohnung. (Zweiter Aufzug) Erster Auftritt. Osmin, Blonde. BLONDE . O des Zankens, Befehlens und Murrens wird auch kein Ende! Einmal für allemal: das steht mir nicht an! Denkst du alter Murrkopf etwa eine türkische Sklavinn vor dir zu haben, die bey deinen Befehlen zittert? o da irrst du dich sehr! Mit europäischen Mädchen springt man nicht so herum; denen begegnet man ganz anders. Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln, Gefälligkeit und Scherzen, Erobert man die Herzen Der guten Mädchen leicht: Doch mürrisches Befehlen Und Poltern, Zanken, Plagen Macht, daß in wenig Tagen So Lieb’ als Treu entweicht. OSMIN . Ey seht doch mal, was das Mädchen vorschreiben kann! Zärtlichkeit! Schmeicheln! – Es ist mir wie pure Zärtlichkeit! – Wer Teufel hat dir das Zeug in Kopf gesetzt? – Hier sind wir in der Türkey, und da gehts aus einem andern Tone. Ich dein Herr; du meine Sklavinn; ich befehle, du mußt gehorchen! BLONDE . Deine Sklavinn? ich deine Sklavinn! – Ha! ein Mädchen eine Sklavinn! Noch einmal sag mir das, noch einmal! OSMIN für sich. Ich möchte toll werden, was das Mädchen für ein starrköpfiges Ding ist. Laut. Du hast doch wohl nicht vergessen, daß dich der Bassa mir zur Sklavinn geschenkt hat? BLONDE . Bassa hin, Bassa her! Mädchen sind keine Waare zum Verschenken! Ich bin eine Engländerinn, zur Freyheit gebohren; und trotz jedem, der mich zu etwas zwingen will! OSMIN bey Seite. Gift und Dolch über das Mädchen! – Beym Mahomet! sie macht mich rasend. – Und doch lieb ich die Spitzbübinn, trotz ihres tollen Kopfes! Laut. Ich befehle dir augenblicklich, mich zu lieben. BLONDE . Hahaha! Komm mir nur ein wenig näher, ich will dir fühlbare Beweise davon geben.
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OSMIN . Tolles Ding! Weißt du, daß du mein bist, und ich dich dafür züchtigen kann? BLONDE . Wag’s nicht, mich anzurühren, wenn dir deine Augen lieb sind. OSMIN . Wie? du unterstehst dich – BLONDE . Da ist was zu unterstehen? Du bist der Unverschämte, der sich zu viel Freyheit heraus nimmt. So ein altes häßliches Gesicht untersteht sich, einem Mädchen wie ich, jung, schön, zur Freude geboren, wie einer Magd zu befehlen! Wahrhaftig, das stünde mir an! uns gehört das Regiment; ihr seyd unsre Sklaven, und glücklich, wenn ihr Verstand genug habt, euch die Ketten zu erleichtern. OSMIN . Bey meinem Bart, sie ist toll! Hier hier in der Türkey? BLONDE . Türkey hin, Türkey her! Weib ist Weib, sie sey wo sie wolle! Sind eure Weiber solche Närrinnen, sich von euch unterjochen zu lassen, desto schlimmer für sie; in Europa verstehen sie das Ding besser. Laß mich nur einmal Fuß hier gefaßt haben, sie sollen bald anders werden. OSMIN . Beym Alla! die wär’ im Stande uns allen die Weiber rebellisch zu machen.5
Blondes feminine Emanzipationsrhetorik ist auffallend. Dies auch deshalb, weil ihre kessen Reden in ihrer eigenen Heimat in der Epoche vor der französischen Revolution (und sicher auch danach!) kaum weniger umstürzlerisch klingen als in der Türkei – „Türkei hin, Türkei her“. Kaum: denn es ist tatsächlich bedenkenswert, dass die westliche Kultur-Tradition mit bemerkenswerter Verlässlichkeit Prestige-Prämien für männliche Außenseiter, Häretiker und Rebellen bereit hält. Sokrates und Jesus, Luther und Danton, Giordano Bruno, Galilei und Einstein, Stürmer und Dränger und Joseph Beuys, Mozart, Wagner und die Beatles (um nur sie zu nennen) sind denkbar unterschiedliche Figuren, die doch diese Gemeinsamkeit haben: es handelt sich um lauter Rebellen, die dann ihrerseits Diskursbegründer, Traditionsstifter und kulturelle Orientierungsgestalten werden. Diesen rebellischen bis häretischen Söhnen korrespondiert eine Galerie von Töchtern, auf die nicht zu hören literarische oder musische Väter erst dann bereuen, wenn es zu spät ist: Antigone, Iphigenie, Elektra, Medea, Maria Mag5 Ibid., p. 10 sqq.
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dalena, Salome, Beatrice, Shylocks Tochter, König Lears Töchter, Emilia Galotti, Brünhilde oder Anna Livia Plurabelle (um wiederum nur sie zu nennen). Kemal Atatürk entspricht nun verblüffend genau dem Schema ‚rebellischer Sohn, der zum traditionsstiftenden Vater wird und (wenn auch wohl mit Einschränkungen) auf kluge Töchter hört‘. Ist es sinnvoll, Atatürk gar als den heimischen Fremden zu begreifen, der bleibt und Bleibendes gestiftet hat? Gestiftet hat der Musikliebhaber Atatürk unter vielen anderen Institutionen mehr das Konservatorium von Istanbul (schon 1926, also gerade einmal drei Jahre nach der Gründung der türkischen Republik) und in seinen letzten Lebensjahren die Staatsoper in Ankara, die 1939 ihren an der westlichen Musiktradition ausgerichteten Spielbetrieb6 aufnahm. Wie fast alles, so hat auch diese Reform ihre Vorgeschichte. Denn schon 1826 lud Sultan Mahmut II Giuseppe Donizetti, einen Bruder des Komponisten, dem wir die Wahnsinns-Oper Lucia di Lammermoor verdanken, ein, die türkischen Janitscharen-Kapellen zu Militärblasorchestern umzuformen. Im späteren neunzehnten Jahrhundert gastierten dann u. a. Virtuosen wie Franz List und Vieuxtemps in Istanbul; und besonders Verdis Werke waren schon im neunzehnten Jahrhundert, also zu seinen Lebzeiten, mehrfach in Istanbul zu hören. Auf dem Spielplan stand auch damals schon Mozarts Nationalsingspiel. In den letzten Jahren wurde es mehrfach in der Türkei aufgeführt, u. a. im Garten des Yildiz-Palastes in Istanbul. Diese türkische Vorliebe ausgerechnet für Die Entführung aus dem Serail ist wohl nur auf den ersten Blick verwunderlich – vor allem dann, wenn man die nicht sonderlich intelligente, aber dafür umso militantere Gestalt Osmins vor Augen und seine aggressiven Ausbrüche gegen Fremde im Ohr hat. PEDRILLO . Was bist du für ein grausamer Kerl, und ich hab dir
nichts gethan. OSMIN . Du hast ein Galgengesicht, das ist genug. Erst geköpft, Dann gehangen, Dann gespießt
6 Cf. Sandra Sinsch: Auf dem Esel zu Mozart – Westliche Klassik in der Türkei; in: Das Orchester – Magazin für Musiker und Management 2/2008, pp. 33 – 35.
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Auf heiße Stangen, Dann verbrannt, Dann gebunden Und getaucht; Zuletzt geschunden. Geht ins Haus.7 Sehr freundlich und sensibel sind diese Worte nicht; auch fehlt es ihnen unüberhörbar an logischer Konsistenz. Wenn man Feinde schon grausam und mehrfach hinrichten will, sollte man sie erst hängen und dann köpfen. Erfolg ist Osmins Hassausbrüchen jedoch nicht beschieden. Am Ende des Singspiels verdient er, die Verlierertype par excellence, gar unser Mitleid. Beim zweiten Blick und beim ersten Hinhören offenbart sich dann zügig, dass Mozarts Singspiel das Schema ‚böser Fremder‘ bzw. ‚die böse Fremde‘ vs. ‚guter Landsmann‘ bzw. ‚gute Heimat‘ souverän unterläuft. Und dies nicht nur, weil Pedrillo und Osmin mehr Gemeinsamkeiten haben, als ihnen beiden lieb sein kann, weil Belmontes eigener Vater sich als Schuft erweist und weil der edelste Charakter, Bassa Selim, sich als assimilierter Türke und Muslim zu erkennen gibt, sondern eben auch deshalb, weil Mozart die Musiktradition der Janitscharen dankbar und mit unüberhörbarer Lust in seine Komposition hinein moduliert hat. Von türkischer Musik war Mozart schon vor der Komposition seines Singspiels fasziniert.8 Der Schlußsatz der 1778 entstandenen Klaviersonate Nr. 11 in A-Dur (KV 331) trägt den Titel Rondo alla turca. Und das 1775 entstandene Violinkonzert Nr. 5 in A-Dur (KV 219) wird aufgrund seines der Janitscharenmusik verpflichteten Finales aus guten Gründen ab und an das ‚Türkische Konzert‘ genannt (Das Holz des Bogens wird gegen die Saiten von Cello und Kontrabaß geschlagen). Türkische Musik in Wien – Mozart war auf produktive und freundlich verpackte Provokationen spezialisiert. Er wusste, wie wichtig es ist, dass Fremde bleiben, und wie reizvoll es sein kann, das vermeintlich Eigene als das zu erfahren, was nicht nur dem Fremden befremdlich erscheint. Es gibt aus der Feder des ebenso brillanten wie furchtbaren Staatsrechtlers Carl Schmitt eine böse Theorieformel für diese Erfah-
7 Wolfgang Amadeus Mozart/Christoph Friedrich Bretzner: Die Entführung, l. c., p. 6. 8 Matthew Head: Orientalism, Masquerade and Mozart’s Turkish Music. London 2000.
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rung: „Der Feind ist unsre eigene Frage als Gestalt.“ Und es gibt aus der Feder Hegels eine kluge philosophische Formel für die immer erneut unerhörte Einsicht, die in Mozarts Musik mitschwingt: „Das Tun des einen ist das Tun des Anderen.“
7. G oethe, der Gott der Texte – Drei von unübersehbar vielen Gründen, im 21. Jahrhundert noch Goethe zu lesen
„Thalia – Die Bürger“ ist der dritte Gesang von Goethes Epos Herrmann und Dorothea überschrieben. Thalia ist bekanntlich eine der antiken Musen; schützend hält sie ihre Hand über die Bretter, die die Welt wohl weniger bedeuten als deuten. Wer heute ein wenig unsicher ist (und wer wäre das nicht?), mag tun, was man heute halt so tut, wenn man Aufschluss über das erhalten will, was sich hinter Buchstabenfolgen verbirgt und also die Buchstabenfolge „Thalia“ googlen. Man wird dann mit mehr als acht Millionen Eintragungen konfrontiert, deren erste über eine Buchhandelskette, ihre Niederlassungen und ihren Bestellservice informieren, dann folgen Verweise auf Kinos, die den Namen der griechischen Muse tragen, erst danach wird auf ein renommiertes Hamburger Theater verwiesen, und sodann folgt der Link auf den Wikipedia-Artikel „Thalia“, der allerdings geradezu schockierend knapp ist und auch inhaltlich verstört, weil er bei aller Kürze immerhin erwähnt, dass Thalia „dem Gott Apollo …. Korybanten (gebar), Priester, die sich selbst kastrieren, um ihrer Göttin Cybele näher zu sein.“ Und so kann man sich, vielfach verlinkt, weiter durch eine Überfülle an Informationen klicken und z. B. mehr über Kastration oder Cybele erfahren; schlecht machen will ich ein solches Dahingleiten auf dem bewegten Wellenkamm des information overload nicht, das hat zweifelsfrei seinen Reiz, es bildet durchaus, und zur Zerstreuung trägt es auch bei. Man kann aber seine knapp bemessene Lebens- und Lesezeit auch anders gestalten und sich nicht weiteren Links und auch nicht der Göttin Cybele, sondern dem Gott Goethe nähern. Goethe, von dem das große Wort stammt „Nur die Lumpe sind bescheiden“, hat nicht gezögert, seinen Namen auf Götter zu beziehen. In Dichtung und Wahrheit erwähnt er eine Spötterei, die sich in frühen
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Straßburger Studienjahren sein Freund Herder mit ihm und seinem Namen erlaubte. Der von Göttern du stammst, von Goten oder vom Kote, Goethe, sende mir sie.1 hieß es in einem Billet, das Herder seinem Studienfreund schickte, um sich von diesem Bücher auszuleihen. Dass Goethe unter den angebotenen Assoziationen zu seinem Namen die göttliche, die polytheistische, und nicht die Goten (um vom Kote zu schweigen) wählte, versteht sich fast von selbst. Fast: Denn Goethe hat bei allem Reiz, den der Vatername anzubieten hatte, den Mutternamen und sein Versprechen nicht vergessen. Vom Vater hab ich die Statur, Des Lebens ernstes Führen, Von Mütterchen die Frohnatur Und Lust zu fabulieren. Urahnherr war der Schönsten hold, Das spukt so hin und wieder, Urahnfrau liebte Schmuck und Gold, Das zuckt wohl durch die Glieder. Sind nun die Elemente nicht Aus dem Complex zu trennen, Was ist denn an dem ganzen Wicht Original zu nennen?2 Die „Lust zu fabulieren“ verdankt Goethe, der sich in diesen späten Zeilen bescheiden wenn nicht als Lump, so doch als „Wicht“ charakterisiert, der viele Identitäten hat (schon der frühe Goethe formulierte in kecker Anspielung auf den biblischen Teufel „Ich heiße Legion“3), seiner Mutter. Und die war eine geborene Textor. Goethe hat sein un1 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben – Dichtung und Wahrheit; in: ders.: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe) I. Abt./Bd. 14, ed. Klaus-Detlef Müller. Ffm 1986, p. 444. 2 Johann Wolfgang von Goethe: Zahme Xenien, Gedichte 1800 – 1832, l. c., p. 682. 3 In Goethes Brief an Johann Caspar Lavater vom 7. 5. 1781 heißt es in deutlicher Anspielung auf Markus 5,9: „Ich heise Legion, du thust Vielen wohl wenn du mir wohltust.“ (Johann Wolfgang von Goethe: Frankfurter Ausgabe II . Abt., Bd. 2, p. 348).
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gemein produktives Schreibprogramm, das so originell und original ist, wie es bewusst darauf verzichtet, die Originalität zu überschätzen, wie er sich als „Kollektivwesen“4 und „Komplex“ voll unterschiedlicher „Elemente“ versteht, aus der Spannung zwischen patri- und matrilinearem Schreiben, zwischen Goethe und Textor, zwischen göttlicher Autorschaft und Texten bzw. Textgeweben bezogen. Im mütterlichen Namen Textor klingt ja die lateinische Medium-Verbform an, die zwischen Aktiv und Passiv changiert. „In serviendo consumor“, schreibend werde ich geschrieben, Goethe-Textor, der göttliche Texter Goethe5. Ein Vater und eine Mutter erörtern im dritten Gesang von Herrmann und Dorothea auch, welcher Textur die Biographie ihres Sohnes verschrieben sein soll. Lesen wir also, was der göttliche Goethe, der Wicht, der so originell ist, auf Originalitätsansprüche Verzicht zu leisten, geschrieben hat, lesen wir also, statt im Netz zu surfen, Goethe oder, um nicht sogleich in die Metonymie-Falle hineinzugeraten, Goethes Werke – warum nicht Herrmann und Dorothea? Als das aktuellste, avancierteste und gewagteste Werk von Goethe gilt die acht Jahre nach der französischen Revolution entstandene Idylle aus nachvollziehbaren Gründen zwar nicht. Und die Gretchenfrage „wie hast du’s mit dem Gott Goethe?“ lässt sich suggestiver beantworten als mit der Aufforderung, gerade dieses Werk zur Kenntnis zu nehmen. Herrmann und Dorothea lesen, heute – haben wir zu Beginn des dritten Jahrtausends wirklich nichts Besseres und Dringlicheres zu tun? Warum soll man sich das antun, warum sollte man in einer Zeit der weltweiten Finanz- und Bankenkrise, der durchstartenden, die Goethe- bzw. die Bücherwelt hinter sich lassenden digitalen Medienrevolution, des Klimawandels, der Religions- und Multikultikonflikte6 und zahlreicher weiterer Probleme Hexameter über zwei junge Leute lesen, deren Leben so faszinierend und abenteuerlich nun auch wiederum nicht ist? Die Antwort ist einfach: weil Goethes Werk klassische Einsichten bereithält, was nichts anderes heißt als dies – dass es aktueller ist 4 Nach dem Gespräch Goethes mit dem Weimarer Prinzenerzieher Frédéric Soret am 17. 2. 1832, zit. nach der Übersetzung des Autors Bernd Hamacher: Johann Wolfgang von Goethe – Entwürfe eines Lebens. Darmstadt 2010, p. 10. 5 Cf. dazu ausführlicher Jochen Hörisch: Religiöse Abrüstung – Goethes KonversionsTheologie; in: ders.: Gott, Geld, Medien – Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Ffm 2004, pp. 67 – 82. 6 … zu denen Goethe mehr zu sagen hat als die meisten heutigen Kommentatoren, s. Katharina Mommsen: Goethe und der Islam. Frankfurt am Main 2001.
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als alles Tagesaktuelle, dass es seine LeserInnen, wenn sie nur ein wenig aufmerksam sind und nicht glauben, dass sie Goethe schon verstanden haben, wenn sie die Phrase „edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ aufsagen können, immer erneut überrascht. Z. B. damit, dass erwartete Überraschungen überraschender Weise ausbleiben, also etwa mit Common-Sense-Phrasen aus dem Mund eines Vaters, der seinem Sohn Herrmann den Bildungs-, Reise- und Lebensweg vorschreiben möchte, weil er nur sein Bestes will, Verse, die man diesem originellen Autor nicht zugetraut hätte, weil sie erst einmal gänzlich unoriginell scheinen und die da lauten: … wo die Türme verfallen und Mauern, wo in den Gräben Unrat sich häufet und Unrat auf allen Gassen herumliegt, Wo der Stein aus der Fuge sich rückt und nicht wieder gesetzt wird, Wo der Balken verfault und das Haus vergeblich die neue Unterstützung erwartet: der Ort ist übel regieret. Denn wo nicht immer von oben die Ordnung und Reinlichkeit wirket, Da gewöhnet sich leicht der Bürger zu schmutzigem Saumsal, Wie der Bettler sich auch an lumpige Kleider gewöhnet. Darum hab’ ich gewünscht, es solle sich Herrmann auf Reisen Bald begeben und sehn zum wenigsten Strasburg und Frankfurt Und das freundliche Mannheim, das gleich und heiter gebaut ist.7 Goethe wusste, wovon er schrieb, als er Mannheim zu einer wichtigen Station der Bildungsreise erklärte, die Herrmanns Vater seinem Sohn verschrieb und vorschrieb. Denn immerhin siebenmal hat Goethe die Stadt am Neckar und am Rheine besucht8. Prägend war fraglos der erste Besuch, der den gerade einmal zwanzig Jahre jungen Goethe 1769 nach Mannheim und genauer: in ihre berühmte Antikensammlung (also in die im Quadrat F 6 gelegene Zeichnungsakademie) führte. Von den weiteren Besuchen erwähnt seien nur die mit gehaltvollen Gesprächen verbrachte Kutschfahrt mit Klopstock von Frankfurt nach Karlsruhe über Mannheim im Jahr 1774 und der Besuch der ihm zu 7 Johann Wolfgang von Goethe: Herrmann und Dorothea; in: ders.: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe) I. Abt./Bd. 8, ed. Waltraut Wiethölter. Ffm 1994, p. 826. 8 Hanspeter Rings: Die Quadratur des Goethe? Der Dichter und Mannheim; in: Badische Heimat 4/1999, pp. 724 – 738.
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Ehren anberaumten Clavigo-Aufführung mit Iffland in der Titelrolle im Dezember 1779. Doch zurück zu den väterlichen Worten, die nur Herrmanns Bestes wollen. Nach den markigen dekadenzkritischen Worten läge es nahe, dass der Vater dem Sohn empfiehlt, den heimatlichen Augiasstall mal so richtig auszumisten. Doch genau dies tut er nicht. Vielmehr ergeht die Empfehlung, die Curriculum-Vitae-, die Lebensreisemetaphorik und die Homo-viator-Topik ernst zu nehmen und den krisengeschüttelten Heimatort in Richtung Mannheim, das heiter und gleich gebaut ist, zu verlassen. Dass Herrmann Mannheim kennenlernen soll, liegt nahe – nicht nur, weil die zweite Silbe seines Vornamens die erste Silbe des Stadtnamens ist. Herrmann (ob sein Name in welcher Ausgabe mit einem oder zwei „r“ wiedergegeben wird, wäre eine eigene Studie wert) soll zum Mann und zum Herren reifen, er soll des Göttergeschenks Dorothea würdig werden, er soll mit den Orten, den Topoi des Lebens vertraut werden – und da trifft der Vater eine bezeichnende Wahl. Selbstverständlich kann man die erwähnten Stationen der Bildungsreise (Straßburg, Frankfurt, Mannheim) schnell als biographieentscheidende Schauplätze von Goethes eigenem Lebensweg identifizieren. Aber dann verpasst man die Pointe dieser Konstellation. Sie stellt nämlich nicht nur individuelle Städte, sondern auch prototypische Stadtnamen zusammen, die auf -Burg (Straßburg), -Furt (Frankfurt) und -Heim (Mannheim) enden. Herrmanns Lebensweg ist also einem dreifachen topos noetos, einem dreifachen Erkenntnisort, verpflichtet; er soll erstens die Aussicht und Rückzugsmöglichkeit gewähren, die eine Burg verspricht, er soll sich zweitens mit Furten und also mit Möglichkeiten vertraut machen, die jeweils andere Uferseite zu erreichen, und er soll drittens an einen Ort führen, der die Welt dem Lebensreisenden nicht als Fremde, sondern als heitere Heimat erfahrbar macht. Goethe lesen, noch in diesem Leben, um zu begreifen, dass man nicht Zenbuddhist sein muss, um den Lebens- und Leseweg als das eigentliche Ziel zu verstehen, Goethes göttliche Werke lesen – das ist ein vielversprechendes, heiteres und erhellendes Vorhaben. Damit deutlich, womöglich überdeutlich wird, dass die Wendung von Goethes Aktualität im einundzwanzigsten Jahrhundert mehr als eine wohlfeile Phrase ist, sollen drei fraglos aktuelle, ja in jedem Wortsinne unheimlich aktuelle Motive, die Goethes Werke durchziehen, zumindest evoziert werden. Wir leben – ein erstes Leitmotiv, das vor 200 Jahren auch Goethes Werke umtreibt – in Zeiten, in denen Religion und mit
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ihr religiös grundierte Konflikte ein seltsam irritierendes Comeback erfahren. Das Phänomen Religion hat Goethe zeitlebens fasziniert, religiös im engeren Sinne aber war er zur Irritation vieler seiner Zeitgenossen nicht9. Dem Selbstmörder Werther, der nach den letzten Werten fragt, wird ein kirchliches Begräbnis verweigert; der famose Schlusssatz von Goethes bestem Buch, den Wahlverwandtschaften, lässt zu Zeiten, da viele Romantiker neoreligiös bzw. altfromm werden und konvertieren, Religiöses anklingen und ist doch religionskritisch durch und durch – „welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie (die beiden Verstorbenen, die seltsame anorektische Heilige Ottilie, und ihr Geliebter Eduard, der sie sterbend imitierte), wenn sie dereinst zusammen wieder erwachen“ – „wenn“, falls. So fein kann man das machen, wenn man Goethe heißt. Ist aus der Feder eines religiös musikalischen, nicht aber gottesgläubigen Menschen ein subtileres Arrangement in theologicis denkbar als das des Faust? Den Herrgott selbst zu einer von vielen Dramatis Personae zu machen, ist keck genug; Gott gegenüber dem ihm an Witz, Rhetorik und Weisheit überlegenen Teufel alt aussehen zu lassen, ist mehr als keck; dem Auftritt des alten Herrn, der doch der Letztbeobachter aller Dinge sein soll, eine Zueignung und ein Vorspiel auf dem Theater vorangehen zu lassen, sodass der Prolog im Himmel im Spiel der first-, second- and third-order-observations erst an dritter Stelle fungiert, sodass der Letztbeobachter seinerseits observiert werden kann, sodass deutlich wird, dass Theologie ein satanismusanfälliges, weil sich über das Göttliche erhebendes Geschäft ist – das ist gewagt, faszinierend, ewig aktuell, kurzum: das hat göttliches Goetheformat. Macht Goethe doch deutlich, dass die drei Beobachtungslogiken, mit denen sein Faust-Drama beginnt, erzverwandt und eben deshalb einander nicht recht grün sind. Das Theater, die Theorie, für die der Gelehrte Faust einsteht, und die Theologie, haben eben nicht umsonst ihre ersten Buchstaben und ihre Etymologie gemeinsam.10 Alle haben mit göttlicher Schau zu tun, aber eben die wird Schau-, ja Show-anfällig, was nichts anderes heißt, als dies: dass das Theater sich als der Theorie wie 9 Wie Kämpfe um die Position des poetischen Olympiers aussehen können, hat Katharina Mommsen in ihrer klassischen Studie Kleists Kampf mit Goethe – Poesie und Wissenschaft. Heidelberg 1974 (Neuausgabe Frankfurt am Main 1979) eindringlich dargelegt. 10 Cf. dazu ausführlicher Jochen Hörisch: Weibes Wonne und Wert – Richard Wagners Theorietheater. Berlin 2015, p. 32 sqq.
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der Theologie überlegen wissen kann, eben deshalb, weil das Theater weiß, dass es Theater, dass es Schau ist. Ein Schauspiel, aber ach, ein Schauspiel nur – jedoch: welch grandioses Schauspiel! Eine große Show, eine Mummenschanz, steht (um ein zweites, faszinierend-irritierend aktuelles Leitmotiv Goethes zu erwähnen) auch im Mittelpunkt von Goethes faustisch-intensiver Auseinandersetzung mit dem Medium, das der Religion seit Beginn der Neuzeit zunehmend Konkurrenz macht: Geld. Das Szenario zu Beginn von Faust II könnte uns heute vertrauter nicht sein. Die Banken- und Finanzsphäre ist kollabiert, der Staat muss, obwohl selbst schrecklich überschuldet, als Retter all derer auftreten, die gerne Verluste sozialisieren und noch lieber Gewinne privatisieren. Die Frage, wer den Retter retten und den Erlöser aller Erlöse erlösen soll, wird immer dringlicher. Goethe, der nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein gewiefter Finanzminister war, sind diese Fragen nicht zu profan – er fragt ja geradezu systematisch danach, ob das Ding, das da Schatz, Wert, Werther, Schmuck, Schuld, Kredit, Ware oder Geld heißt, heilig sei oder profan. Und ihm fällt auf, dass die neuzeitliche Geld- und Finanzsphäre, die doch häufig als säkulare Alternative zur religiösen Sphäre wahrgenommen wird und sich noch häufiger auch selbst so versteht, so sehr von dem Sakralem, das es doch tilgen will, vollgesogen ist wie das Löschblatt von der Tinte. „Wie feuchten Ton will ich das Gold behandeln, / Denn dies Metall läßt sich in alles wandeln“, stellt Mephisto kundig fest. Und er stellt seinem faszinierten Publikum vor, dass diese Wandlungskraft des Goldes und Metallgeldes auch dem Papiergeld eignen kann, das Zeichen in Seiendes zu konvertieren vermag. Mephisto ist theologisch gewieft: er weiß, dass die Transsubstantiationstheologie in der ökonomischen Sphäre tatsächlich funktioniert. Und eben weil Goethe sich über die intime Wahlverwandtschaften von Gott und Geld keine Illusionen macht, kann er sich anders als inbrünstig an die invisible hand des Marktes glaubende vermeintlich rationale Wirtschaftstheoretiker die Überlegung leisten, dass die unsichtbare Hand unsichtbar ist und heißt, weil es sie nicht gibt (wohl aber gibt es Preisabsprachen, Gebührentabellen, Korruption, Boni etc). Goethes Faust-Drama hat einen Titelhelden, dessen Name auf Handfestes verweist. Die Überlegungen und Analysen, die der Text, dem Fausts Name als Titel, als Kopfwort dient, vorstellt, haben Hand und Fuß – gerade, weil sie einem Extremitätenkult verpflichtet sind, der exzentrisch scheinende Einsichten gewährt. Es wird Zeit zu be-
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greifen, wie manieristisch, wie weit entfernt vom klassischen Common Sense und eben deshalb dauerhaft aktuell die Einsichten Goethes sein können. Seine Werke sind eigentümlich, ja obsessiv auf Hände und Füße fixiert. Werther hat Hand an sich gelegt, deshalb tragen ihn Handwerker, nicht Geistliche, zu Grabe. Goetz von Berlichingen hat im Kampf seine Hand verloren und trägt nun eine eiserne Ersatzextremität. Faust hat alle Hände voll zu tun, um eine Lebenslogik zu bewahren bzw. zu etablieren, in der die linke Hand weiß, was die rechte tut, in der die öffentliche Hand für einen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen sorgen kann, in der die unsichtbare Hand Gottes und die invisible hand des Marktes zeigen können, ob sie Hand und Fuß haben („Denn nur im Elend erkennt man / Gottes Hand“ heißt es eigentümlich doppeldeutig in Herrmann und Dorothea). Eduard und Ottilie gestehen sich ihre leidenschaftliche Liebe genau in dem Augenblick ein, in dem Eduard erkennt, dass die junge Schöne seine Handschrift perfekt zu imitieren vermag – „das ist meine Hand.“ „‚Um Gottes willen!‘ rief er aus, ‚was ist das? Das ist meine Hand!‘ Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter, besonders der Schluss war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben hätte. Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der größten Zufriedenheit in die Augen. Eduard hob seine Arme empor: ‚Du liebst mich!‘ rief er aus, ‚Ottilie, du liebst mich!‘ und sie hielten einander umfasst. Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen. / Von diesem Augenblick an war die Welt für Eduarden umgewendet, er nicht mehr, was er gewesen, die Welt nicht mehr, was sie gewesen. (…) Sie standen voreinander, er hielt ihre Hände.“11 Goethes Figuren machen jedoch nicht nur die Erfahrung, dass sie ihr eigenes Leben nicht immer in der Hand haben („Weh! weh! / Du hast sie zerstört, / Die schöne Welt, / Mit mächtiger Faust.“). Goethes kluge Häupter sind auch keine Fuß- und Schuhverächter. Vielmehr stehen sie mit beiden Beinen auf dem Boden, selbst dann, wenn sie sich von ihm erheben wollen. Man denke nur an Philines Pantöffelchen, die in reizvoll heikelsten Konstellationen auftauchen, an Goethes Brief, in dem er seine ohne ihn urlaubende Frau auffordert, ihm ihre durchtanzten Schuhe zu schicken, um ihr so nahe zu sein, oder an die Szene aus den Wahlverwandtschaften, in der Eduard, Ottilie herbei phan11 Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, l. c., p. 355 sq.
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tasierend, nachts seine Frau Charlotte besucht: „‚Warum ich denn aber eigentlich komme,‘ sagte er zuletzt, ‚muß ich dir nur gestehen. Ich habe ein Gelübde getan, heute abend noch deinen Schuh zu küssen.‘ / ‚Das ist dir lange nicht eingefallen,‘ sagte Charlotte. ‚Desto schlimmer,‘ versetzte Eduard, ‚und desto besser!‘ / Sie hatte sich in einen Sessel gesetzt, um ihre leichte Nachtkleidung seinen Blicken zu entziehen. Er warf sich vor ihr nieder, und sie konnte sich nicht erwehren, daß er nicht ihren Schuh küßte, und daß, als dieser ihm in der Hand blieb, er den Fuß ergriff und ihn zärtlich an seine Brust drückte.“12 Wie „klassisch“ sind solche Szenen? Wie viele Überraschungen hat Goethes Werk selbst denen bzw. gerade denen zu bieten, die sich zumindest durch einige Hundert der Zigtausend Titel Sekundärliteratur zu Goethe gearbeitet haben? Sollten Goethes Werke vielleicht Hand und Fuß haben, gerade weil sie sich vom Common Sense, vom allgemein Akzeptierten, vom Plausiblen, vom ein wenig zu Selbstverständlichen abgrenzen? Machen wir einen letzten Test, kommen wir von Abwegen, Händen und Füßen, die mit letzten Fragen wie der nach der Hand Gottes oder der invisible hand des Marktes überraschend viel zu tun haben, zurück zu den ganz großen Themen und Problemen (wie Gott und Geld und nunmehr Medien). Goethe hatte ein sehr feines Gespür für das Ende der Goethezeit und d. h. für das Ende der Gutenberg-Galaxis. Er, der eine Camera obscura besaß (was viele GoetheFreunde anders als Goethes Abneigung gegen Brillen, Mikroskope und Ferngläser nicht erwähnen), er, der medienhistorisch just in time drei Jahre vor der Erfindung der Photographie durch Daguerre starb, lässt in den Wahlverwandtschaften einen englischen Lord auftauchen, der eine Camera obscura mit sich führt und den man mit Vokabeln des heutigen Deutsch durchaus als Medienfreak charakterisieren muss. Und sieh da: diese Figur, dieser Herr, dieser Lord versteht es, eine Gruppe, die trotz (oder gar wegen?) ihrer Lust an gebildeter Konversation, Hausmusik und gemeinsamer Lektüre am Ende ist, zu revitalisieren. „Übrigens war er außer den geselligen Stunden keineswegs lästig; denn er beschäftigte sich die größte Zeit des Tags, die malerischen Aussichten des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer aufzufangen und zu zeichnen, um dadurch sich und andern von seinen Reisen eine schöne Frucht zu gewinnen. Er hatte dieses schon seit mehreren Jahren in allen be12 Ibid., p. 352, zum biographischen Kontext solcher Szenen cf. Walter Salmen: Goethe und der Tanz – Tänze, Bälle, Redouten, Ballette in Leben und Werk. Hildesheim 2006.
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deutenden Gegenden getan und sich dadurch die angenehmste und interessanteste Sammlung verschafft. Ein großes Portefeuille, das er mit sich führte, zeigte er den Damen vor und unterhielt sie teils durch das Bild, teils durch die Auslegung. Sie freuten sich, hier in ihrer Einsamkeit die Welt so bequem zu durchreisen, Ufer und Häfen, Berge, Seen und Flüsse, Städte, Kastelle und manches andre Lokal, das in der Geschichte einen Namen hat, vor sich vorbeiziehen zu sehen.“13 Was sind das für Sätze: dass es ein freundlicher Augenblick sein wird, wenn die Liebenden dereinst zusammen wiedererwachen; dass da jemand außer den geselligen Stunden keineswegs lästig ist, wenn er denn ein Mediengerät einsetzt…. Wer außer eben Goethe versteht sich auf die Kunst, intellektuelle, mentale und kognitive Zumutungen so entschieden wie heiter zu vermitteln, anzumuten, gegen die klassischen Üblichkeiten zu behaupten? Wer macht diese sehr ernsten Scherze Goethe nach? Könnte Goethes alle feuilletonistischen Rahmen sprengende Aktualität deutlicher werden als in den illusionsfreien Worten, die er in seinem späten Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre dem Titelhelden anvertraut, der im ganzen seltsamen Roman (einem Roman, in dessen Rahmenhandlung anders als in den eingestreuten Novellen genrewidrig nicht eine Figur stirbt) mit seiner Frau ausschließlich brieflich verkehrt? „Wilhelm an Natalien / Der Mensch ist ein geselliges, gesprächiges Wesen; seine Lust ist groß, wenn er Fähigkeiten ausübt, die ihm gegeben sind, und wenn auch weiter nichts dabei herauskäme. Wie oft beklagt man sich in Gesellschaft, daß einer den andern nicht zum Worte kommen läßt, und ebenso kann man sagen, daß einer den andern nicht zum Schreiben kommen ließe, wenn nicht das Schreiben gewöhnlich ein Geschäft wäre, das man einsam und allein abtun muß. / Wie viel die Menschen schreiben, davon hat man gar keinen Begriff. Von dem, was davon gedruckt wird, will ich gar nicht reden, ob es gleich schon genug ist. Was aber an Briefen und Nachrichten und Geschichten, Anekdoten, Beschreibungen von gegenwärtigen Zuständen einzelner Menschen in Briefen und größeren Aufsätzen in der Stille zirkuliert, davon kann man sich nur eine Vorstellung machen, wenn man in gebildeten Familien eine Zeitlang lebt, wie es mir jetzt geht. In der Sphäre, in der ich mich gegenwärtig befinde, bringt man beinahe so 13 Ibid., p. 466 sq.
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viel Zeit zu, seinen Verwandten und Freunden dasjenige mitzuteilen, womit man sich beschäftigt, als man Zeit sich zu beschäftigen selbst hatte.“14 Das wurde 1829, also vor fast 200 Jahren publiziert – von einem, dem man den pragmatischen Selbstwiderspruch, zur Expansion der Medien- und Kommunikationsgesellschaft das Seine beigetragen zu haben, nicht vorrechnen muss. Solche Widersprüche waren Goethe bewusst; ja ihm war bewusst, dass die sich abzeichnende Moderne nicht durch ihre internen Widersprüche von der Vormoderne unterschieden ist, sondern sich vielmehr durch ein gesteigertes Bewusstsein unvermeidbarer Widersprüche auszeichnet. Also noch ein letztes, nein: vorletztes Goethezitat, das Lust vermitteln soll darauf, Goethe zu lesen, vorbehaltlos, gleichschwebend aufmerksam, zunehmend fasziniert den göttlichen Textor Goethe zu lesen, noch in diesem Leben. Das Zitat entstammt den Lehrjahren, und es ist gefährlich, denn die dort zu findende Wendung ist so großartig, dass sie dazu einlädt, als Quintessenz von Goethes Werk verstanden und somit missverstanden zu werden. Gibt es doch, so die Quintessenz der Passage, keine Quintessenz – weil es keine reine Vernunft gibt. Der Kontext ist schnell in Erinnerung gerufen. Wilhelm Meister, der Medienfreak der Gutenberg-Galaxis, der Theatromane, dessen Vorname auf sein Idol William Shakespeare verweist und dessen Initialen ‚W‘ und ‚M‘ ja nichts anderes sind als das Resultat des Versuchs, den jeweils anderen Buchstaben auf den Kopf bzw. auf die Füße zu stellen, Buchstaben, die auf Mann und Weib und Weib und Mann verweisen – Wilhelm Meister hat den Schauspieler Serlo kennengelernt, und der kennt seinerseits „verständige, geistreiche, lebhafte Menschen, die wohl einsahen, daß die Summe unsrer Existenz, durch Vernunft dividiert, niemals rein aufgehe, sondern daß immer ein wunderlicher Bruch übrigbleibe. Diesen hinderlichen und, wenn er sich in die ganze Masse verteilt, gefährlichen Bruch suchten sie zu bestimmten Zeiten vorsätzlich loszuwerden. Sie waren einen Tag der Woche recht ausführlich Narren und straften an demselben wechselseitig durch allegorische Vorstellungen, was sie während der übrigen Tage an sich und andern Närrisches bemerkt hatten. War diese Art gleich roher als eine Folge von Ausbildung, in welcher der sittliche Mensch sich täglich zu bemerken, zu warnen und zu strafen pflegt, so war sie doch 14 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre; l. c., p. 339.
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lustiger und sicherer; denn indem man einen gewissen Schoßnarren nicht verleugnete, so traktierte man ihn auch nur für das, was er war, anstatt daß er auf dem andern Wege durch Hülfe des Selbstbetrugs oft im Hause zur Herrschaft gelangt und die Vernunft zur heimlichen Knechtschaft zwingt, die sich einbildet, ihn lange verjagt zu haben.“15 Goethe ist der Antipode all derer, die an einem politischen, psychologischen, sozialen, philosophischen oder wie immer gearteten Projekt der reinen Vernunft oder gar der konsistenten Letztbegründung arbeiten. Sein Werk ist eine große, ungemein reiche Kritik der unreinen Vernunft – und eben deshalb von stets unabgegoltener Geistesgegenwart. Das belegt auch ein letztes Goethe-Zitat, das seinen Reiz daraus bezieht, dass es sich selbst immer erneut zitiert, werden die Chorzeilen des späten Gedichts Rechenschaft doch zum Refrain, der, ausgesprochen, verhindert zu tun, wozu sie einladen: erst einmal nicht weiterzusprechen, sondern Wein zu trinken (in diesem Fall: auf das Wohl einer großen Goethe-Leserin) und es zu genießen, dass die Summe unserer Existenz, durch Vernunft dividiert, niemals rein aufgeht, sondern immer ein wunderlicher Bruch bleibt. Jeder möge so verkünden, Was ihm heute wohlgelang! Das ist erst das rechte Zünden, Daß entbrenne der Gesang. Keinen Druckser hier zu leiden Sei ein ewiges Mandat! Nur die Lumpe sind bescheiden; Brave freuen sich der Tat. Chor Keiner soll nach Weine lechzen! Gleich das volle Glas heran! Denn das Ächzen und das Krächzen Haben wir nun abgetan.16
15 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders.: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe) I. Abt./Bd. 9, ed. Wilhelm Voßkamp. Ffm 1992, p. 634. 16 Johann Wolfgang von Goethe: Rechenschaft; in: ders.: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe) I. Abt./Bd. 2, ed. Karl Eibl. Ffm 1987, p. 94.
8. „ Da du so sittsam, mein Herr Tristan“ – Sittlichkeit, Lust und Verlust in Wagners Musikdramen
Die erste Charakterisierung, die Tristan in Wagners Musikdrama zuteilwird, ist nicht sehr schmeichelhaft, aber sie ergeht in guter Kenntnis seiner Vergangenheit: Tristan ist, nach Isoldes Urteil, ein „Überfrecher“. „An ihm, dem Überfrechen, / Herrn Morolds Tod zu rächen“ – das war es, was Sitte und Pflicht Isolde geboten. Denn in dem verwundeten Tantris, den sie gesund pflegte, musste Isolde alsbald den Mörder ihres Verlobten Morold erkennen. Doch der listige „Überfreche“, der ausgerechnet bei der Verlobten des Mannes, den er erschlug, Heilung suchte und fand und gegen den sie bereits das rächende Schwert schwang, „sah ihr in die Augen“. Und es schien (jedenfalls für Isolde) jene Liebe zu beginnen, die alle Gebote der Schicklichkeit, der Pflicht und der Sitte sprengt. Nun aber ist eben dieser Tantris/Tristan, der ihren Verlobten tötete, den sie gesund pflegte und dem sie verfiel, als Brautführer unterwegs, um Isolde dem ungeliebten König Marke zuzutreiben. Isolde hat gute Gründe, empört zu sein, wenn Tristan, der sich so „überfrech“ verhielt und auf dem Schiff jede Begegnung mit Isolde peinlich meidet, sich zur Rechtfertigung seines Verhaltens auf Ehrfurcht, Sitte und Sittlichkeit beruft. Ein seltsames Kunstwort: der „Überfreche“. Es verbindet eine hohe Stillage – das komparative Präfix „über-“, mit einer recht umgangssprachlichen Wendung. Dass Tristan von Isolde als „frech“, ja als „überfrech“ charakterisiert wird, bedeutet wohl zweierlei: er handelt noch frecher, noch unsittlicher als es sonst bei Leuten üblich ist, die sich gerne auf Sitte und Schicklichkeit berufen. Und/oder: er handelt, denkt, lebt, liebt und spricht über die moralisch-sittlichen Kategorien von frech und fromm, von gut und böse hinaus – Tristan, der überfreche, Tristan, der Nietzscheaner avant la lettre. Doch die Probleme,
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die sich durch die Charakterisierung von Handlungen, Verhaltensweisen und Reden durch die Prädikate „gut und böse“ bzw. „sittlich und unsittlich“ oder „fromm und frech“ einstellen, haben naturgemäß nicht erst Wagner und Nietzsche gesehen. Sie gehören vielmehr in eine Traditionslinie, die es gerade in Deutschland stets schwer gehabt hat. Und dies, obwohl bereits Repräsentanten der Weimarer hochklassischen Literatur die Grundbegriffe und die elementaren Orientierungen von Moral, Tugend und Sitte mit subtilen Fragezeichen versehen haben. „Die Tugend ist, wenn wir die alten Weisen fragen, / Ich weiß nicht was – Laßt’s euch von ihnen selber sagen!“ Mit dieser bemerkenswert laxen Wendung beginnt Christoph Martin Wielands 1770 erschienene Verserzählung Kombabus oder Was ist Tugend? Beantworten wird Wielands stilistisch und argumentativ souveräner Text die alte Frage nach dem Wesen der Tugend nicht. Aber er trägt statt philosophischer Tiefgründigkeiten „aus der praktischen Sfär‘ ein klein Problemchen“ vor (Vers 51 sq.)1. Diese Formulierung untertreibt; denn Wieland erzählt eine alte, seit Lukians Zeiten überlieferte Geschichte auf atemberaubende Weise neu; eine Geschichte, die der von Tristan und Isolde nicht ganz unähnlich ist. Ein nicht mehr ganz junger König hat eine schöne, junge, erotische Frau – und einen Freund, Kombabus, dem Wielands Verse mit ziemlich konstanter Bosheit seine männliche Genus-Silbe „-us“ vorenthalten.2 Dabei verfügt Kombab/us über alle männlichen Attribute. Und eben dies bringt ihn in ein Dilemma. Denn die schöne Königin hat am Tage ihrer Hochzeit ein sittlich bindendes Gelübde geleistet: nämlich „der Göttin, die ins Joch der heil’gen Eh‘ uns spannt, / Der Schützerin (doch nicht dem Muster) guter Frauen, / Den schönsten Tempel aufzubauen.“ (vv. 70 – 72) Um dieses Gelübde einzulösen, muss sich die Königin von ihrem Gemahl für längere Zeit an den Ort hinwegbegeben, an dem der Göttin jener schönste Tempel errichtet werden soll. Die Paradoxie ist
1 Zitate nach der Ausgabe der Sämtlichen Werke Abt. III / Bd. 8. Leipzig 1795 (Reprint Hamburg 1984). Der ungemein belesene Richard Wagner hat Wieland Verserzählung mit hoher Wahrscheinlichkeit gekannt, wie aus dem (freilich als Quelle häufig unzuverlässigen) Briefwechsel mit Ferdinand Praeger hervorgeht. Richard Wagner an Ferdinand Praeger, ed. Houston Stewart Chamberlain, Leipzig 1912, p. 138 sq. 2 Cf. zum Folgenden den Essay von Jan Philipp Reemtsma: Kombabus; in: Fragmente – Schriftenreihe zur Psychoanalyse Nr. 27/28, August 1988, pp. 154 – 174.
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deutlich, und sie wird vom König auch sogleich bemerkt: die Königin gefährdet die eheliche Treue gerade deshalb, weil sie ihr einen Tempel weihen will. Um dieses Paradox zu entschärfen, gibt der König seiner schönen Gemahlin seinen treusten Freund zum Begleiter mit. Natürlich verschärft er damit seinerseits das Problem, das er lösen wollte. Auch Kombabus ist klug genug zu erkennen, dass er, im Widerstreit von Pflicht und Neigung, von willigem Geist und schwachem Fleisch, nicht geeignet ist, das Tugendproblem zu lösen, dessen intrikater Bestandteil er doch ist. Um die Wiederholung der traurigen Geschichte von Abaelard und Heloise zu vermeiden, nimmt Kombab‘ deren unfreiwilligen Ausgang freiwillig vorweg. Er entschließt sich zu einem radikalen Schritt und Schnitt: Kombab/us kastriert sich selbst, verschließt sein einbalsamiertes „Bestes“ in einem Kästchen, reicht es dem König als Unterpfand seiner Freundestreue und begibt sich mit der Königin, die ihm schnell zugetan ist und deren Liebe noch wächst, als sie erfährt, welches Opfer er ihr darbrachte, auf die Wallfahrt zum Tempel der Tugend. Während dieser Reise genießt Kombab/us, der den Verlust seines „Besten“ in Kauf genommen hat, nun (fast) alle Lust des intimen Umgangs mit der Königin – denn vor der eigentlichen Untugend ist er und sind sie ja definitiv gefeit. Die Hofleute berichten dem König bald von dieser Vertrautheit („man sah sie einst sogar … / In einem Gartenzelt beysammen übernachten“), und es kommt zum Prozess mit fast tödlichem Ausgang. Doch das Corpus Delicti war ja wohlverschlossen, die Beweislage ist eindeutig entlastend, und Kombabus steht in der Gunst des Königs und der Königin höher denn je. Kein Wunder, dass tugendliche Selbststilisierung am Königshofe alsbald Hochkonjunktur hat: Die ganze Schar der Höflinge bedachte (Nicht ohne Neid) die Gunst, die ihm ein Opfer brachte, (…) Die Wuth sich zu kombabisieren Ergriff sie insgesammt. In kurzer Zeit bestand Der ganze Hof aus einer Art von Thieren, Die durch die Stümm’lung just das einzige verlieren, Um dessentwillen man sie noch erträglich fand. (vv. 739 – 748) Der junge Jean Paul hat für diese radikale, buchstäblich an die Wurzel gehende Form der Organisation von Tugend eine witzige Formel gefun-
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den: „derienige hört gewis auf zu werthern, den man kombabusirt.“3 Wielands Verserzählung von den Abgründen sittlichen und tugendhaften Verhaltens steht im scharfen Kontrast zum tugendhaften Philosophieren und Dekretieren seiner Zeitgenossen. Denn sie pflegt einen tiefreichenden Verdacht, der heute, nach dem Zusammenbruch eines „besseren“ deutschen Staates, der sich seinem Widerpart in vielen Hinsichten (und zumal ökonomisch) unterlegen wusste, dafür aber moralisch überlegen glaubte, aktueller ist denn je: den Verdacht, dass die angestrengte Förderung der Tugend unsittlichere Folgen haben kann als der Verzicht auf tugendhafte Rhetorik. Wer im Namen der Tugend und in voller Übereinstimmung mit den Prinzipien der Sittlichkeit zu handeln glaubt, glaubt eben in aller Regel auch, gegen die Untugend, die Tugendlosen und die Unsittlichen mobil machen zu dürfen, zu sollen, ja zu müssen. Diesen Verdacht müssen sich (und das gewiss nicht minder) auch diejenigen gefallen lassen, die nun ohne jede Kenntnisse der kleinen und großen Probleme „aus der praktischen Sfäre“ der anderen, der östlichen Elbeseite mit moralischen Urteilen und tugendhaften Hinweisen schnell bei der Hand sind und dabei noch schneller vergessen, wie gern sie bei der Bewältigung von Nazivergangenheit das Vergessen jenseits aller Moral walten ließen. Doch zurück zur klassischen Goethezeit, deren helleren Köpfen die paradoxen Folgen tugendhafter (in diesem Fall: jakobinischer) Politik recht anschaulich waren. Den ironischen Verdacht, tugendhafte Anstrengungen schafften die Probleme, die sie lösen wollten, hegt auch ein kunstvolles Gedicht Goethes aus dem Jahr 1810, das ganz offenbar Motive und Wendungen aus Wielands Kombabus aufgreift.4 Es steht unter dem Titel „Das Tagebuch“ und galt, obwohl oder weil Goethes 3 Jean Paul: Grönländische Prozesse – 2. Bändchen; in: ders.: Sämtliche Werke – Abt. II /Bd. 1, ed. N. Miller. München 1974, p. 523. 4 Die Übereinstimmung reicht bis zu wörtlichen Übernahmen: „Der Schein ist wider mich“ sagt Kombab bei Wieland (v. 664) und sagt gleichfalls das Mädchen bei Goethe, das sich dem Älteren verheirateten Reisenden hinzugeben bereit ist (Strophe 10). – „Das Beste“ nennt Kombabus sein bestes Teil; und auch Goethe spielt mit diesem Wort: „das Beste nur muss ich zuletzt verschweigen“, schreibt der Reisende in sein Tagebuch (Strophe 22). – „Die Tugend ist…, ich weiß nicht was“, so beginnt Wielands Verserzählung; „So waltet was, gerettet ist die Tugend“, heißt es in Goethes Gedicht. Beide spielen auf die damals vieldiskutierte Wendung „Je ne sais quoi“ an. „Ich weiß nicht was“ – damit bezeichnete die französische Tradition der ästhetischen Theoriebildung im 18. Jahrhundert das spezifisch Unscharfe, das gewisse Etwas in der Erfahrung des Schönen.
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Feder entflossen, lange Zeit kaum als zitierfähig. Und es beginnt mit den erzliberalen Versen: Wir hören’s oft und glauben’s wohl am Ende: Das Menschenherz sei ewig unergründlich, Und wie man auch sich hin und wider wende, So sei der Christe wie der Heide sündlich. Das beste bleibt, wir geben uns die Hände Und nehmen’s mit der Lehre nicht empfindlich; Denn zeigt sich auch ein Dämon, uns versuchend, So waltet was, gerettet ist die Tugend.5 Und es schließt, nachdem es ungemein stilsicher und in formvollendeten Stanzen davon erzählt hat, wie ein älterer Geschäftsreisender nicht in bester Form war, als es ihm gelang, ein schönes, zur Hingabe bereites Mädchen in sein Zimmer zu locken, wie er vor dieser erotischen Herausforderung versagte, wie diese Versagung eine Entsprechung in der Unfähigkeit fand, die alte Übung fortzusetzen, seiner Angetrauten in Tagebuchnotizen von dem mitzuteilen, was ihm in den Zeiten der Trennung zugestoßen ist, wie er in der Erinnerung an seine Ehefrau die Manneskraft zurückgewinnt, wie mit der Potenz die Schreibfähigkeit sich erneut einstellt, und wie diese erneute Fähigkeit eine letzte moralisch oszillierende Doppeldeutigkeit freisetzt: „das Beste nur muss ich zuletzt verschweigen“ wird die ferne Ehefrau im Tagebuch ihres Mannes lesen – dieses Gedicht also schließt mit Worten und „Moralien“, die konventioneller Moral kaum entsprechen und die nicht minder libertär sind als die der ersten Strophe: Und weil zuletzt bei jeder Dichterweise Moralien uns ernstlich fördern sollen, So will auch ich in so beliebtem Gleise Euch gern bekennen, was die Verse wollen: Wir stolpern wohl auf unsrer Lebensreise, Und doch vermögen in der Welt, der tollen, Zwei Hebel viel aufs irdische Getriebe: Sehr viel die Pflicht, unendlich mehr die Liebe! 5 Zitate nach der Edition in Siegfried Unseld: ‚Das Tagebuch‘ Goethes und Rilkes ‚Sieben Legenden‘ – erläutert von S. Unseld. Ffm 1978
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Wieland und Goethe sind – nach Nietzsches Wort – „Ausnahmedeutsche“. Und das nicht zuletzt deshalb, weil sie sich ostentativ geweigert haben, die in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert besonders ausgeprägte moralisch-ethisch-sittlich-tugendhafte Kommunikation mitzutragen. Sie hegten vielmehr die Vermutung, dass die in Deutschland (bis heute) besonders beliebte Unterscheidung von „Gut und Böse“ (man denke nur an kindliche Wendungen wie „ich will wieder gut sein“ und bürokratische Floskeln wie „Wiedergutmachung“) selbst keine gute, sondern eine böse, eine hochproblematische Unterscheidung sei, weil sie die anderen ausschließt (wer rechnet sich selbst nicht den „Guten“ und sein Tun der „guten Sache“ zu?), weil sie Konflikte eskaliert (gegen das Böse und die Bösen darf man mit gutem Gewissen, ja dagegen muss man vorgehen) und weil sie so die bösen Verhältnisse schafft, die sie doch abschaffen will. Wieland und Goethe haben deshalb häufig Stil und Stilsicherheit an die Stelle von Moral- und Tugendrhetorik gesetzt. Wer Stil hat, vertraut nicht seinem innersten guten Gewissen, sondern den Regeln öffentlichen Umgangs miteinander; wer stilsicher seine Rolle spielt (statt substanziell das Gute zu verkörpern), wird andere anerkennen, die andere Rollen spielen, und wird vor Stilwidrigkeiten wie der zurückscheuen, um der einen oder anderen Doktrin willen andere unhöflich zu behandeln: „Das Beste bleibt, wir geben uns die Hände / Und nehmen’s mit der Lehre nicht empfindlich.“ Wer hingegen eine Moral hat, wer eine Ethik militant verkörpert, wer das Gute vertritt, fühlt sich häufig genug davon dispensiert, stilsicher Spielregeln befolgen zu müssen. Die Moderne leidet demnach nicht so sehr an einem Mangel an Moral, sondern an einem Mangel an Stil. Richard Wagner hat in Zeiten der Hochkonjunktur von tugendhafter und sittenstrenger Rhetorik diese dissidente Tradition aufgegriffen. Im Rufe, sonderlich sittlich zu sein, stehen weder Richard Wagner noch seine Helden. In der bis heute in ihrer Entstehung und Autorschaft umrätselten Untersuchung über Richard Wagners ‚Ring des Nibelungen‘ im Lichte des deutschen Strafrechts – sie wird dem Juristen Ernst von Pidde (1877 – 1966) zugeschrieben und wurde angeblich in dessen Nachlass gefunden – muss Wagners Werk es sich gefallen lassen, nach strikt juristischen Gesichtspunkten beurteilt zu werden. Notabene: ästhetisch-stilistische Beurteilungen juristischer Werke sind nicht weniger kurzweilig. Wechsel der Beobachterperspektiven haben eben immer ihren Reiz. Das Resultat dieser juristischen Untersuchung ist jedenfalls eindeutig. Stellt man in ihr doch fest, dass „das
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Strafregister der überprüften Personen in einem Maße belastet ist, das die trübsten Befürchtungen weit übersteigt. […] 5 der Beteiligten (Fafner, Fricka, Alberich, Brünnhilde, Hagen) haben [u. a. wegen schweren Diebstahls, Anstiftung zum Mord, Verschleppung, schwerer Brandstiftung, Giftbeibringung, mehrfachen Mordes und Totschlags, J. H.] lebenslange Freiheitsstrafen verwirkt; bei 11 weiteren (Wotan, Loge, Siegmund, Fasolt, Hunding, Mime, Gunther, Gutrune, Wellgunde, Woglinde) ist auf zeitlich begrenzten Freiheitsentzug [etwa wegen Blutschande, Tierquälerei, Erschleichung, Einschläferung, J. H.] zu erkennen. S ieglinde kommt möglicherweise mit einer Geldstrafe davon. Lediglich zwei (Freia und Floßhilde) gehen straffrei aus.“6 Besonders streng ist diese Strafzuweisung nicht einmal. Denn sie bedenkt, dass viele sittlich verwerflichen Taten nicht unter Strafandrohung stehen. Bei der akribischen Untersuchung der (Un)Taten am zweiten Tag der Tetralogie und beim dritten Siegfried-Aufzug zumal ist die Entrüstung groß und das Strafmaß bescheiden. Denn „im geltenden Recht gibt es keine Strafsanktion für Lüsternheit als solche. Siegfried und Brünnhilde bleiben daher [und weil der Beischlaf zwischen Tante und Neffe zwar unmoralisch, aber anders als der Geschwisterinzest nach dem deutschen Strafgesetz nicht rechtswidrig ist, J. H.] straffrei.“7 Dass Wagners Protagonisten – seien sie göttlicher oder menschlicher Herkunft – jenseits von Gut und Böse handeln, dass sie tradierten Ansprüchen an Moral und Sittlichkeit häufig Hohn sprechen und dass sie sich zumal in sexueller Hinsicht durchaus libertär verhalten, hat allerdings nicht erst Ernst von Pidde registriert. In dem Wörterbuch der Unhöflichkeit, das der Wagner-Bewunderer Tappert 1876 aus den Angriffen zeitgenössischer Wagner-Gegner zusammenstellte, sind zahlreiche empörte Kritiken an den „unsittlichen“ Tendenzen von Wagners Musikdramen dokumentiert. „Wie oft der Genuss von Wagners Musik den Verzicht auf die innere Wesensschönheit bedeutet, wie oft wir durch allen Unflath sittlicher Verkommenheit waten müssen, um einige geistreiche Tonkombinationen und reizende Akkordfolgen zu erjagen!“ klagt z. B. eine Kritik in der Berliner Tribüne vom 23. April 1879.8 Und ein gewisser H. M. Schletterer publiziert 1876 einen Traktat 6 Ernst von Pidde: Richard Wagners ‚Ring des Nibelungen‘ im Lichte des deutschen Strafrechts. Hamburg 1979, p. 72. 7 Ibid., p. 55 8 Zitiert bei Tappert: Wörterbuch der Unhöflichkeit. Leipzig 1876, p. 114
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über Richard Wagners Bühnenfestspiel, in dem er entrüstet feststellt: „Bei Wagner tritt es zu auffällig hervor, dass ihm die Schilderung wilden Wollusttaumels oft Zweck ist, das versteht er auch virtuos zu machen, und mit faunischer Lust schwelgt er in solch aufregenden Tongemälden. Dadurch aber wird seine Kunst zu einer unsittlichen und verderblichen, zu einem Ideal für hysterische Weiber und nervös erschlaffte Männer.“9 Der sarkastische Scherz eines ästhetisch unbeeindruckten Juristen, der auf eine „schonungslose Entlarvung der Musikdramen Richard Wagners als Abfolge orchestral aufgeputzter Straftatbestände“10 zielt, wirft ebenso wie die moralisch entrüstete zeitgenössische Kritik Licht auf einen immerhin bemerkenswerten Umstand: Wagners Werk liegt im Konflikt mit einer Zeit, die (wie die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) im Zeichen einer Hochkonjunktur von Ethik und Moral steht. Der Soziologe Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, dass es „mit geradezu astrologischer Regelmäßigkeit in den achtziger Jahren eines jeden Jahrhunderts zu einer solchen Ethikwelle kommt – zumindest seit der Verbreitung des Buchdrucks.“11 Lipsius in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts, Spinoza in denen des 17. Jahrhunderts und Kant im endenden 18. Jahrhundert stehen paradigmatisch für die Versuche ein, Moral unabhängig von den theologischen und konfessionellen Vorgaben der Tradition zu universalisieren. Und auch das spätere 19. Jahrhundert, dessen Zeitgenosse Wagner ist, bemüht sich auf breiter Front (und zumeist unter neokantianischen Vorzeichen) um eine Neubegründung der praktischen Philosophie. Um von unserer Gegenwart zu schweigen, „in der man wieder Ethiken schreibt als wäre eine Lehre vom richtigen Leben das Wichtigste vor dem Ende desselben auf diesem Planeten.“12 Wagners Kunst verweigert sich solchen Ethik-Projekten geradezu ostentativ. Sie knüpft vielmehr an die Tradition einer Literatur an, die nicht länger am edlen, hilfreichen und guten Menschen orientiert ist, sondern Dasein a- (nicht etwa anti-) moralisch versteht und jenseits von Gut und Böse inszeniert: an die Literatur des Jungen Deutschland. Und Wagner hat selbst eine Ästhetik gestiftet, die solche a-moralischen 9 Ibid., p. 115 10 Ernst von Pidde: l. c., p. 11. 11 Niklas Luhmann: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral – Rede anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989. Ffm 1990, p. 10. 12 Jan Philip Reemtsma: l. c., p. 154.
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Tendenzen in einem bis dahin unerhörten Maß radikalisierte: den „dekadenten Wagnerismus.“13 Die europäischen Décadence-Literaten des Fin-de-siècle sind nicht ohne Grund geradezu ausnahmslos Wagnerfans. Baudelaire, Mallarmé, Huysmans, Moore, Shaw, Beardsley und D’Annunzio (um nur sie zu nennen) verstehen den Begriff ‚Dekadenz‘ nicht nur negativ als Etikett für eine morbide Spätzeit, sondern auch buchstäblich: als De-Kadenz. Kadenz: das ist bekanntlich die musikwissenschaftliche Bezeichnung für eine in sich stimmige (und d. h. häufig auch: hochkonventionelle) Akkordfolge am Abschluss eines Tonsatzes. De-Kadenz: das ist die Unterbrechung des Scheins, etwas müsse konsequent aus dem Vorangehenden folgen. Dekadente Zeiten sind immer auch Zeiten, die den vermeintlichen Zwang zu Kadenzen, zu stimmigen Akkordfolgen und rhetorischen Abschlussfiguren aufkündigen. Dekadente Zeiten leisten sich das buchstäblich „Unerhörte“. Deshalb sind sie produktiv, deshalb eröffnen sie schlechthin neue, eben unerhörte Tonräume, Klänge und Perspektiven. Die Décadence-Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind fasziniert von dem, was an Wagners Musikdramen buchstäblich unerhört ist. Zu dem Unerhörten zählt u. a. auch die „schamlose Sinnlichkeit in Wagners Bühnendichtungen“, die Max Nordaus’ 1892/93 erschienene monumentale Studie Entartung nur mit pathologisierenden Begriffen charakterisieren kann: „Neben der anarchistischen Verbitterung beherrscht eine andere Emotion das ganze bewusste und unbewusste Geistesleben Wagners: die geschlechtliche. Er ist sein Leben lang ein Erotiker … gewesen und all seine Vorstellungen drehen sich um das Weib. (…) Verliebte Erregung nimmt in Wagners Darstellung immer die Form einer verrückten Raserei an. Die Liebenden benehmen sich in seinen Stücken wie toll gewordene Kater, die sich über eine BaldrianWurzel in Verzückung und Krämpfen wälzen. Sie spiegeln den Geisteszustand wider, der dem Fachmann wohlbekannt ist. Es ist eine Form des Sadismus. Es ist die Liebe der Entarteten, die in der geschlechtlichen Aufwallung zu wilden Thieren werden. Wagner leidet an dem ‚erotischen Wahnsinn‘, der rohe Naturen zu Lustmördern macht und höheren Entarteten Werke wie Die Walküre, Siegfried und Tristan und Isolde eingibt.“14 13 Cf. Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus – Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin/New York 1973. 14 Max Nordau: Entartung, 2 Bde. Berlin 1892/93; Bd. I, pp. 322 – 325.
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Kurzum: Wagners Werke sind (nach den lakonischen Worten des englischen Décadence-Literaten George Moore) „full of sex.“15 Zumal die Venusbergszenen des Tannhäuser haben Wagner frühzeitig den Ruf eines unsittlichen Erotomanen eingetragen. Bühnenereignisse, die zu orgiastischer Musik schon in der ersten Szene (nach dem Willen der Regieanweisung) Nymphen unter „tropischen Gewächsen … und um das schäumende Becken eines Wasserfalls“ so lange einen „auffordernden Reigen“ tanzen lassen, bis „die liebenden Paare sich finden und mischen“ und „der allgemeine Taumel sich zur höchsten Wut steigert“, sind für die hohe bürgerliche Kunst der Mitte des 19. Jahrhunderts denn auch ungewöhnlich zu nennen. Irritierender noch als diese erotische Eindeutigkeit ist jedoch, dass Tannhäuser vor der mangel- und makellosen Fülle der „Wonne und Lust“ flieht. „Zu viel! Zu viel!“ so sein erster Ausruf. Gänzlich abgründig aber ist schließlich, dass Tannhäuser nicht vor der Lust, sondern vor ihrer Überfülle flieht: dass er im Verlust die sublimere Form von „Wonne und Lust“ sucht. „Wohin verlierst du dich? Was ficht dich an?“ lautet aufschlussreich die entsetzte Frage der Venus, die sogleich das rätselhafte Zentrum dessen benennt, was man als Tannhäuser-Komplex bezeichnen könnte: den konstitutiven Zusammenhang von Lust und Verlust.16 Tristan und Isolde sind die Protagonisten eines in diesem spezifischen, nämlich den Zusammenhang von Lust und (Seins-) Verlust beglaubigenden Sinne unsittlichen Verhaltens. Denn sie sind die ekstatischsten Proselyten eines Kultes, der Lust an Verlust und also nicht an dionysische Formen der Daseinsaffirmation bindet. Das stiftet die Nähe zwischen den beiden passioniertesten Musikdramen Wagners: von Passionen im doppelten Wortsinn, von Leiden und von Leidenschaft handeln sowohl Tannhäuser als auch Tristan und Isolde. Der Anfang der Tristan-Handlung nimmt sich wie eine Umkehrung der Eingangsszene des Tannhäuser aus. Stand dessen Beginn im Zeichen unsittlicher Lust, aus dem sich Tannhäuser entwindet, so ist umgekehrt „Sitte“ das Thema, dem die erste Begegnung von Tristan und Isolde gilt, um sich jedoch alsbald in gemeinsame Lust am Verlust zu entbinden. 15 George Moore: Evelyn Innes. London 1898. Bd. I, p. 249 (zit. nach E. Koppen: l. c., p. 116). 16 Cf. dazu auch Jochen Hörisch: Weibes Wonne und Wert – Richard Wagners TheorieTheater. l. c., p. 153 sqq.
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Um die Verbindlichkeiten der Sitte kreist vieldeutig das Gespräch auf dem Schiff, das die Braut Isolde mit dem Brautwerber Tristan der ungewünschten Ehe entgegenträgt. Und auf die Imperative der Sitte verweist der „überfreche“ Tristan, als er Isoldes drängenden Fragen nach der Rätselhaftigkeit seines Verhaltens ausweichen will: Sitte lehrt, wo ich gelebt: zur Brautfahrt der Brautwerber meide fern die Braut. Eine Sitte, deren Missachtung viele große Texte (u. a. Der Rosenkavalier und Doktor Faustus) ihren Reiz verdanken.17 Isoldes Frage nach den Gründen dieser Sitte – „Aus welcher Sorg?“ – weist Tristan mit dem Hinweis auf die Gültigkeit eben der Sitte zurück, die keine mehr wäre, wenn man sie nach ihren verborgenen Gründen befragte: „Fragt die Sitte!“ Unsittlicher aber könnte ein Wortwechsel nicht enden, dessen Beginn so deutlich im Zeichen unbefragter Sitte steht. Da du so sittsam, mein Herr Tristan, auch einer Sitte sei nun gemahnt: den Feind dir zu sühnen, soll er als Freund dich rühmen. Isolde hält an ihrem Schwur fest – nämlich zu rächen, dass Tristan ihren Verlobten Morold ermordete. Und Tristan ist durchaus bereit, sich auch dieser Sitte zu fügen und den Todestrank einzunehmen. Die viel erörterte Frage, ob eine so leidenschaftliche Liebe, wie sie Tristan und Isolde erfasst, sich dem Zufall einer pharmakologischen Verwechslung von Todes- und Liebestrank verdanken darf, verliert an Gewicht, wenn die Konstellation recht bedacht wird, in der diese Verwechslung statthat. Denn sie ist von geradezu abgründigem Sinn: Tristan und Isolde können höchste Lust erst erfahren, nachdem sie 17 Cf. Dieter Borchmeyer: Die verkaufte Braut; in: ders.: Die Götter tanzen Cancan. Heidelberg 1992.
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zum irreversiblen Verlust bereit waren. Hießen die ersten Worte, die Isolde „dumpf für sich“ sprach, nachdem ihr „Blick (unter dem Seevolk) sogleich Tristan fand und starr auf ihn geheftet blieb“, nicht auch: „Mir erkoren, – / mir verloren“? „Wohin verlierst du dich?“ So fragte Venus Tannhäuser. „Mir erkoren, – / mir verloren.“ So stellt Isolde in unheimlicher Lakonie das Schema einer Handlung heraus, die noch gar nicht recht begonnen hat. Das anfängliche Leitwort des Dialoges, der sich diesem Blickkontakt anschließt, ist ‚Sitte‘. Sein Schlusswort aber ist das gemeinsam gesungene „jauchzende Lust“ und „höchste Liebeslust“: eine Bewegung fort von allem, was als sittlich gilt, und hin zu der entbundenen Lust, deren destruktive Tendenzen Sitten allererst nötig scheinen lassen. Eine Bewegung aber auch, die ihre Genese nicht vergessen kann, eine Bewegung, die nicht zu überspielen vermag, dass die Spannung von Sitte und Lust selbst im Zeichen des Verlustes steht, den Isoldes dunkles Wort beschwor. Im Kraftfeld dieses paradoxen Zeichens steht noch die höchste Liebeslust von Tristan und Isolde. Wenn in Wagners Musikdramen die Erfahrung von Lust fast regelmäßig an die eines Verlustes gebunden ist, wenn gar Erfüllung der Lust allein als Verlust der Erfüllung sich vollzieht, und wenn Leidenschaft genuin an Leiden gebunden ist, so ist dieses Motiv „unsittlich“ nicht nur in erotologischer, sondern auch in theologischer und metaphysischer Hinsicht. Nicht umsonst ist der Décadence-Künstler Wagner als Erotologe Metaphysiker und als Metaphysiker Erotologe18: erst nachdem er die „teuflisch holden Frauen“ in Klingsors Zaubergarten, erst nachdem er in Kundry die Verführerin als Metaphysikerin und die Metaphysikerin als Verführerin, erst nachdem auch er die Lust am Verlust und die Versagung der Erfüllung als die sublimere Erfüllung kennengelernt hat, ist Parsifal von seiner Tumbheit befreit – eine bemerkenswert innige Verwebung erotischer und theologischer Motive. „Ich verachte jedermann, der den Parsifal nicht als Attentat auf die Sittlichkeit empfindet“19, heißt es in Nietzsche contra Wagner. Nietzsche hat dieses „contra“ mit äußerster Präzision bestimmt. „Es gibt zweierlei Leidende, einmal die an der Überfülle des Lebens 18 Cf. hierzu Jochen Hörisch: Brot und Wein – Die Poesie des Abendmahls. Ffm 1992, pp. 207 – 227. (zu Parsifal) 19 Friedrich Nietzsche: Nietzsche contra Wagners, in: ders.: Werke Bd. 2, ed. Karl Schlechta, l. c., p. 1053.
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Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Einsicht und Aussicht auf das Leben – und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung von Kunst und Philosophie verlangen. Die Rache am Leben selbst – die wollüstigste Art Rausch für solche Verarmte! … Dem Doppel-Bedürfnis der letzteren entspricht ebenso Wagner wie Schopenhauer – sie verneinen das Leben, sie verleumden es, damit sind sie meine Antipoden.“20 Tatsächlich verwerfen Wagners Helden mit der schicklichen Sittlichkeit auch eine herkömmliche Ordnung der Welt, die Sein für so positiv erachtet, wie die göttliche Selbstgerechtigkeit es tat, als sie feststellte, dass ihr Werk gut sei. Wagner ist zumindest in dieser Hinsicht noch unchristlicher als der dissidente Pfarrerssohn und Antichrist Nietzsche. Wagner nämlich sieht (schon vor seiner intensiven Schopenhauer-Lektüre) die Welt an und sieht, dass sie schlecht ist. Ein geradezu gnostisch dimensionierter pessimistischer Anarchismus prägt sein Werk. Wagners Musikdramen teilen den alten gnostischen Verdacht, eine so abgründig schlechte Welt, wie die unsere es ist, könne unmöglich das Werk eines liebenden Gottes sein. Vermutlich ist sie ohne einen persönlichen Ursprung – ohne einen auf eine göttliche Person zurechenbaren Anfang, ohne Schöpfer, ohne Herrscher, ohne arché: an-archisch eben. Unsere so anarchisch verfehlte Welt kann allenfalls das Werk eines bösen Demiurgen sein, der wegen seiner Unendlichkeit liebesunfähig ist. Sind doch der Wille zur eigenen Endlichkeit und Liebesfähigkeit das je andere ihrer selbst. Eine Konstellation, die auf ein problemlogisches Zentrum von Wagners Kunst verweist. Denn sie optiert musikalisch für den Wunsch und die Lust, die Ewigkeit, die ihre Ewigkeit will – textlich aber optiert sie für den Verlust. Zwischen Erotik und Thanatophilie mag sie sich nicht entscheiden. Ein Dilemma nur von Wagners Kunst? Vermag nicht allein derjenige rechte Daseinslust zu erfahren, der ahnt, dass der Verlust das letzte Wort hat? Erkoren, verloren.
20 Ibid., p. 1047.
9. R heingold und Goldrush – Amerikaphantasien im Werk Richard Wagners
So machte er sich denn (…) auf den Weg zum ersten Konzert in seinem Leben. Denn für die Leipziger Konzerte im Gewandhause hatt‘ er nie den dazu gehörigen Eintritts- und Torgroschen erschwingen können, bekanntlich 16 Groschen schwer Geld. (…) Die Einlaßkarte fest drückend, langte er in der langen Prozession mit an, die seine Flügelmännin und Wegweiserin war. Das Einrauschen des glänzenden Stroms, der hohe Saal, das Stimmen der Instrumente, das Schicksal seines Bruders machten ihn zu einem Betrunkenen, der Herzklopfen hat. Dem Lauf des goldführenden Stroms sah er mit Freude über die Goldwäsche seines Bruders zu, er hätte die Wellen zählen mögen. Vergeblich sah er nach ihm sich um. Auch Wilna sucht‘ er, aber wie sollt‘ er einen Juwel in einer Ebene voll Tau-Glanz ausfinden?
Jean Paul: Flegeljahre1
Ein Mann, frei von allen familiären Bindungen und von nicht sonderlich feinen Manieren, vagabundiert durch unberührte Natur. Dabei gelangt er an einen Fluss, der Begehrenswertes beherbergt: er begegnet drei verführerisch schönen weiblichen Elementar-Wesen. Ihnen stellt der verwahrloste Mann nach. Doch ihm wird kein naturromantisches Liebesglück jenseits aller bürgerlichen Konventionen beschieden. Die Schönen ähneln zwar noch den Melusinen und Undinen, wie sie die romantische Literatur kennt. Aber sie sind noch spröder als diese. Und so entsagt der Mann nicht nur der Liebe, er verflucht und ver1 Jean Paul: Flegeljahre; in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Bd. 4, ed. Norbert Miller. München/Wien 1975, p. 756 sq.
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wirft sie sogar. Dadurch gewinnt er den Impuls und die Kraft zu einer hemmungslosen Naturausbeutung. Liebloser könnte sein Verhältnis zur zuvor unberührten Natur fortan nicht sein. Er findet im Fluss Gold – so unerhört viel Gold, dass die Ordnung der Welt, der Natur, der Dinge, der Götter und der Menschen gänzlich und irreparabel aus den Fugen gerät. Rheingold, Rheingold. Aus seinen alten literarischen Quellen hat Richard Wagner den Stoff zur Eingangsszene seines gewaltigsten Werkes nicht beziehen können. Weder das um 1200 entstandene mittelhochdeutsche Nibelungenlied noch die um 1270 in Island erstmals aufgezeichnete Liedersammlung Edda oder die im norwegischen Bergen etwa zur selben Zeit entstandene Völsunga-Saga kennen eine entsprechende Szene. Wer nach intertextuellen Bezügen der Rheintöchter-Szene sucht, wird in anderen weit entlegenen Gefilden fündig. Viele Indizien sprechen dafür, dass Wagner in der Eingangs-Szene des Rings Elemente der wohl berühmtesten Episode aus der Homerischen Odyssee reizvoll und nicht ohne Provokationslust in neue Kontexte hinübermoduliert hat. Odysseus muss, wenn er denn überleben will, dem Zauber der drei Sirenen widerstehen. Wohl setzt er sich den erotischen Verheißungen des Sirenengesangs aus, doch zwingt er sich zugleich selbst, freiwillig an den Mast seines Schiffes gebunden, zu der Entsagung, die seine Selbsterhaltung sicherstellen soll. Auch für Odysseus gibt es noch begehrenswerteres als Weibes Wonne und Wert. Die Rheintöchter sind späte Verwandte der mythischen Sirenen. Gemeinsam ist beiden Schwestergruppen nicht nur, dass sie Elementarwesen sind, dass sie erotische Verheißungen bereithalten und dass sie sich, ihrer lasziven Rhetorik zum Trotz, auf väterliche Weisheiten bzw. letzte Einsichten in den Zusammenhang von Eros und Thanatos berufen, sondern eben auch dies: dass sich ein listiger und auf Selbsterhaltung bedachter Mann, der da Odysseus oder Alberich heißt, aus freien Stücken (wie der griechische Held) oder aufgrund einer erfahrenen Abweisung (wie der hässliche Alberich) dazu entschließt, sich nicht der Liebeslust, sondern vielmehr der Lust am Überleben und am Machtzuwachs zu widmen. Bei allen irritierenden Gemeinsamkeiten springt aber auch eine entscheidende Differenz zwischen Odysseus und Alberich in die Augen. Alberich ist anders als sein edleres klassisches Vorbild in geradezu enthemmter Weise auf Gold fixiert. Und damit steht er in den weiten Gefilden von Wagners Tetralogie nicht allein da. Denn fast alle Männer der Ring-Tetralogie (die Frauen bilden eine
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umso auffallendere Ausnahmegruppe) werden vom Glanz des Goldes in den Bann geschlagen. Wenig angenehme Charaktere wie Alberichs Bruder Mime, die Riesen Fafner und Fasolt und später auch Alberichs Sohn Hagen konkurrieren mit dem (un-) glücklichen ersten Finder um den Besitz des gewaltigen Goldschatzes. Selbst göttliche Gestalten wie Wotan lassen sich vom verführerischen Glanz des Goldes und des aus ihm geschmiedeten Ringes blenden und irreleiten. Indifferent zum nicht von ihm gehobenen, wohl aber im Drachenkampf eroberten Goldschatz verhält sich allein Siegfried. Er nutzt wohl die Tarnkappe und den Ring, nicht aber den reichen Goldschatz. Nicht zuletzt deshalb ist er der (erfolglose!) Antipode all der anderen gierigen Goldsucher. Wer nicht nach intertextuellen, sondern nach realhistorischen Bezügen des Stoffes sucht, aus dem Rheingold ist, wird schnell fündig. Und zwar in Sphären, die denen der Odyssee nicht ferner liegen könnten. Wo Alberich das viele Gold findet, gibt Richard Wagner vergleichsweise präzise an: in Deutschlands größtem Fluss. Wann er es findet und an sich reißt, lässt sich ebenfalls, wenn auch weniger präzise angeben: zu Zeiten der Nibelungen. Dass es sich dabei um eine durch mythologische Extrem-Distanzierung erhellende Spurenverwischung handelt, gehört zum Grundgestus so gut wie aller neueren Ring-Inszenierungen. Spätestens seit Patrice Chéreaus legendärer Bayreuther Inszenierung von 1976 ist es aus gutem Grund zum Standardmotiv der Ring-Regie geworden, das gewaltige Werk als Allegorie des industriellen neunzehnten Jahrhunderts vor Augen zu stellen2. Zur Mythologisierung seiner Zeit aber hat Richard Wagner allen Anlaß. Mythische Motive sind nämlich in einem Schlüsselereignis des modernen Mobilmachungsprozesses unverkennbar. Entworfen, geschrieben und komponiert hat Wagner die moderne Mythe vom ungeheuren Goldfund und seinen nicht minder ungeheuren Folgen in den Jahren nach 1848/49. In genau diesen Jahren, die heute (nicht nur in der Wagner-Forschung) zumeist mit den revolutionären Barrikadenkämpfen assoziiert werden, dringt eine Fama von der fernen Westküste der neuen Welt ins alte Europa. Eine Fama, die den Stoff für neue Mythenbildung in und mit sich trägt – die Kunde von den Goldfunden in Kalifornien. Sie wird schnell zu dem, was man heute eine „prime news“ nennt. Und sie setzt alsbald 2 Über die Geschichte der Ring-Deutungen informiert der Essay „Des Sehens selige Lust“ – Einige Stationen der Ring-Deutungen seit 1878 von Udo Bermbach Aufschluß (in: Programmbuch der Bayreuther Festspiele 2000, p. 44 sqq.)
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Phantasien vom schnellen Reichtum frei und in der alten wie in der neuen Welt große Menschenmassen in Bewegung. Das Schicksal des Odysseus wird ab 1849 zunehmend zum modernen Massen-Schicksal. Die Goldfunde in Sacramento3 lassen Irrende den großen Auf- und Ausbruch wagen. Den Irrenden in jedem Wortsinn galt (vom Fliegenden Holländer über Tannhäuser und Lohengrin bis hin zu Tristan und Parsifal) Richard Wagners geradezu obsessive Aufmerksamkeit. Denen, die in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aufbrechen und der Parole „go west“ folgen, geht es, wenn sie zu den wenigen gehören, die ihr neomythisches Ziel, das neue Eldorado, erreichen, wie Alberich. Sie werden, wie es in Wagners Regieanweisungen heißt, „plötzlich von folgendem Schauspiele angezogen und gefesselt. Durch die Flut ist von oben her ein immer lichterer Schein gedrungen, der sich nun an einer hohen Stelle des mittleren Riffes zu einem blendend hell strahlenden Goldglanze entzündet; ein zauberisch goldenes Licht bricht von hier durch das Wasser. (…) Alberich reißt mit furchtbarer Gewalt das Gold aus dem Riffe, und stürzt damit hastig in die Tiefe, wo er schnell verschwindet.“ (18 f., 22)4 Charakter und Taten des Schwarzalben sind unverkennbar neuzeitlich. Mit den neumythischen Goldsuchern in den Klüften um Sacramento hat Alberich noch mehr gemeinsam als mit Odysseus. * Die mythenbildende Kraft der kalifornischen Goldfunde liegt auf der Hand. Die Nachrichten aus der neuen Welt liefern den Stoff, aus dem so erfolgreiche und eigentümliche Werke wie der Westernfilm und die Karl-May-Romane, aus dem einer der bekanntesten und besten Chaplin-Filme und unzählige Songs, aus dem aber auch Brechts/ Weills Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony und – eben auch die Eingangsszenen von Rheingold geformt sind. Richard Wagners 3 Über die Chronologie des Goldrushs und die Publizität der mit ihm verbundenen Ereignisse unterrichtet gründlich der von Peter J. Blodgett herausgegebene Katalog zur Ausstellung Land of Golden Dreams: California in the Gold Rush Decade 1848 – 1858, die von September 1999 bis September 2000 in der Huntington Library von San Marino/California zu sehen war (San Marino 1999). 4 Zitate aus Wagners Ring des Nibelungen werden hier und im Folgenden wiedergegeben (Seitenangaben in Klammern) nach Richard Wagner: Dichtungen und Schriften – Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 3, ed. Dieter Borchmeyer. Ffm 1983
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stark ausgeprägtes und anhaltendes Interesse an den Verheißungen der neuen Welt, an den Emigrationsbewegungen nach Amerika und an den Goldfunden ist leicht zu belegen. Und es ist nicht einmal sonderlich originell. Denn von Amerika fasziniert sind schon vor und unabhängig von den Goldfunden in Kalifornien so unterschiedliche Schriftsteller wie Goethe und Achim von Arnim, Johann Gottfried Herder und Nikolaus Lenau, Jean Paul und Ludwig Börne, Heinrich Heine und Heinrich Zschokke, Karl Gutzkow und Gottfried Keller – Schriftsteller mitsamt, deren Werke Richard Wagner genau kannte. Dass Amerika es in vielfacher Hinsicht besser habe als das alte und müde gewordene Europa, war schon in den Jugendjahren Wagners durch Zeilen Goethes (sie wurden im Musenalmanach des Jahres 1831 veröffentlicht) schnell zum geflügelten Wort geworden. Den Vereinigten Staaten Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent, das alte, Hast keine verfallene Schlösser Und keine Basalte. Dich stört nicht im Innern Zu lebendiger Zeit Unnützes Erinnern Und vergeblicher Streit. Benutzt die Gegenwart mit Glück! Und wenn nun eure Kinder dichten, Bewahre sie ein gut Geschick Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.5 Nordamerika bietet buchstäblich ein sicheres Fundament. Sein Boden ist, so die Ferndiagnose des politischen Geologen Goethe, nicht aus Basalt und also nicht vulkanischen = revolutionären Ursprungs. Dennoch oder eben deshalb ist Amerika beweglicher und innovativer als der alte und müde Kontinent. Ist Amerika doch von dem befreit, was Marx wenig später die „Tradition aller toten Geschlechter“ nennen wird, 5 Johann Wolfgang von Goethe: Den Vereinigten Staaten; in: ders.: Gedichte und Epen, Hamburger Ausgabe Bd. 1. München 1981, p. 333.
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die „wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden [lastet].“6 Amerika ist – darüber ist sich wie Goethe auch schon Marxens philosophischer Lehrer Hegel bewußt – nicht das Land „unnützen Erinnerns“ an verfehlte Vergangenheit, sondern das „Land der Zukunft, in welchem sich in vor uns liegenden Zeiten …. die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll; es ist ein Land der Sehnsucht für alle die, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt. Napoleon soll gesagt haben: Cette vieille Europe m’ennuie.“7 Ein Land durchaus nüchterner Sehnsucht ist Amerika schon für die Protagonisten von Goethes Wilhelm-Meister-Romanen. In ihnen spielt die sogenannte „Turmgesellschaft“, ein an die Freimaurer erinnernder, aufgeklärter Geheimbund, in den Wilhelm am Romanende aufgenommen wird, eine bedeutende Rolle. Diese Turmgesellschaft verfolgt hartnäckig das Projekt, Handelsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten aufzunehmen und dort Grundbesitz zu erwerben. So heißt es bereits in den 1795 erschienenen Lehrjahren: „Einst saßen Natalie, Jarno und Wilhelm zusammen, und Natalie begann: ‚Sie sind nachdenklich, Jarno, ich kann es Ihnen schon einige Zeit abmerken.‘ / ‚Ich bin es‘, versetzte der Freund, ‚und ich sehe ein wichtiges Geschäft vor mir, das bei uns schon lange vorbereitet ist und jetzt notwendig angegriffen werden muß. Sie wissen schon etwas im allgemeinen davon, und ich darf wohl vor unserm jungen Freunde davon reden, weil es auf ihn ankommen soll, ob er teil daran zu nehmen Lust hat. Sie werden mich nicht lange mehr sehen, denn ich bin im Begriff, nach Amerika überzuschiffen.‘ / ‚Nach Amerika?‘ versetzte Wilhelm lächelnd; ‚ein solches Abenteuer hätte ich nicht von Ihnen erwartet, noch weniger, daß Sie mich zum Gefährten ausersehen würden.‘ / ‚Wenn Sie unsern Plan ganz kennen‘, versetzte Jarno, ‚So werden Sie ihm einen bessern Namen geben und vielleicht für ihn eingenommen werden. Hören Sie mich an! Man darf nur ein wenig mit den Welthändeln bekannt sein, um zu bemerken, daß uns große Veränderungen bevorstehn, und daß die Besitztümer beinahe nirgends mehr recht sicher sind. (…) Es ist gegenwärtig nicht weniger als rätlich, nur an einem Ort zu besitzen, 6 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonarparte; in: ders.: Marx-EngelsWerke, Bd. 8. Berlin 1982, p. 115. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte; in: ders.: Werke, Bd. 12, edd. Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer. Ffm 1970, p. 114.
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nur einem Platze sein Geld anzuvertrauen, und es ist wieder schwer, an vielen Orten Aufsicht darüber zu führen; wir haben uns deswegen etwas anders ausgedacht; aus unserm alten Turm soll eine Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die man aus jedem Teile der Welt eintreten kann. Wir assekurieren uns untereinander unsere Existenz, auf den einzigen Fall, daß eine Staatsrevolution den einen oder den andern von seinen Besitztümern völlig vertriebe. Ich gehe nun hinüber nach Amerika.“8 Der Geschäftszweck der Turmgesellschaft ist deutlich und wird dennoch von den meisten der vielen germanistischen Abhandlungen zum Thema geflissentlich übersehen: es handelt sich um eine Versicherungsgesellschaft gegen Revolutionsschäden. Die 1776 (also zu der Zeit, da Goethe Minister in Weimar wird) gegründeten USA gelten schon dem klassischen Goethe der Lehrjahre als basalt- und geschichtsfreie Garantie für Freiheit und sicheren Besitz. Ein Motiv, das sich ungebrochen bis ins Spätwerk der Wanderjahre durchhält. Dort heißt es: „Der lebhafte Trieb nach America im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts war groß, indem ein jeder, der sich diesseits einigermaßen unbequem befand, sich drüben in Freiheit zu setzen hoffte; dieser Trieb ward genährt durch wünschenswerte Besitzungen, die man erlangen konnte, ehe sich noch die Bevölkerung weiter nach Westen verbreitete. Ganze sogenannte Grafschaften standen noch zu Kauf an der Grenze des bewohnten Landes, auch der Vater unseres Herrn hatte sich dort bedeutend angesiedelt.“9 In Dichtung und Wahrheit hat Goethe schließlich einen der biographischen Aspekte genannt, die sein auffallendes Interesse an Amerika mit fundiert haben dürften. Aufmerksamkeit verdient die autobiographische Passage, weil sie über alle individuellen Spezifika hinaus eine gültige und anknüpfungsfähige Formel für die zahlreichen romantischen, jungdeutschen und realistischen Gestaltungen des Amerikamotivs in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts vorstellt: „Wohlwollende“, so heißt es dort im Kontext der Erinnerungen an seiner gelösten Verlobung mit Lili Schönemann, „Wohlwollende hatten mir vertraut, Lili habe geäußert, indem alle die Hindernisse unsrer Verbindung ihr vorgetragen worden: sie unternehme wohl, aus Neigung zu mir alle dermaligen Zustände
8 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, l. c., p. 944. 9 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, l. c., p. 343.
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und Verhältnisse aufzugeben und mit nach Amerika zu gehen. Amerika war damals vielleicht noch mehr als jetzt das Eldorado derjenigen, die in ihrer augenblicklichen Lage sich bedrängt fanden.“10 Wenn die Stichworte Amerika, „Eldorado“ und Befreiung aus bedrängter augenblicklicher Lage selbst für eine junge schöne Frau aus bester Familie ihren Reiz entfalten, so erst recht im Diesseits solcher Milieus. Was in Goethes 1795 erschienenem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre noch ein relativ neues Motiv ist, wird in den Jahren vor 1848 zu einem Standardmotiv. Nur einige wenige Beispiele. An die frühen Eroberungen Amerikas erinnert Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter, der 1817 erschien. Arnim ist nicht der erste und einzige unter den Romantikern, der Auswanderungen nach Amerika thematisiert. So heißt es schon in Brentanos Roman Godwi, der 1802 erschien und dem der Autor im Untertitel selbst bescheinigte, ein „verwilderter Roman“ zu sein – angesichts der (z. B. inzestuös-unübersichtlichen) Figurenkonstellation und der vielfach gebrochenen Erzählperspektiven eine angemessene Charakterisierung: „Von Joseph erhielt Marie den letzten Brief aus England, in dem er seine Überfahrt nach Amerika meldete. Dieser Brief war sehr rührend, und Marie war lange nicht zu trösten. Sie beschäftigte sich nachher meistens mit Bildern aus diesem Weltteil, sie las ihrem Vater nichts als Reisebeschreibungen durch Amerika vor. Ihren Geliebten suchte sie unter jeden Umständen dieses Landes auf, und lebte in der Neuen Welt.“11 Fern aller historischen Verklärungen der neuen Welt und forciert zeitgenössisch ist hingegen die insistente Amerika-Reflexion in Ludwig Börnes Briefen aus Paris, die in Richard Wagner einen aufmerksamen Leser fanden. Nur ein Beispiel von vielen: „Hundertvierzehnter Brief / Paris, Freitag, den 15. März 1833 / Schon zweitausend Süddeutsche sind diesen Winter nach Amerika ausgezogen, und das waren ‚nicht verarmte heimatlose Leute, nein, wohlhabende, tüchtige und rüstige Männer‘. Dieser Stimme darf man glauben, sie ist keine liberalen Unwillens, denn sie kömmt aus dem Hannöverischen, wo die Freiheit taubstumm ist. Und zur Bekräftigung ihrer Hannöverlichkeit kann es dienen, daß jene Auswanderungen eine Modekrankheit genannt werden. Eine 10 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben – Dichtung und Wahrheit, l. c., p. 830. 11 Clemens Brentano: Godwi oder das steinerne Bild der Mutter – Ein verwilderter Roman von Maria; in: ders.: Werke, Bd. 2, ed. Friedhelm Kemp. München 1973, p. 349.
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Modekrankheit!“12 So unrecht hat der Journalist einer Zeitung aus Hannover, gegen den Börne polemisiert, nicht. In literarhistorischer Perspektive ist die Emigration in die Vereinigten Staaten tatsächliche eine Modekrankheit. Befördert wurde sie durch Schriften von heute weitgehend vergessenen Autoren, die aber unter den zeitgenössischen Lesern eine weitreichende Resonanz mit häufig auch handgreiflichen Folgen fanden. Gottfried Dudens 1829 erstmals erschienener Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerikas, der 1839 bzw. 1841 erschienene zweibändige Reisebericht von Maximilian Prinz zu Wied Reise in das innere Nord-America in den Jahren 1832 bis 1834 oder Friedrich Gerstäckers 1858 erschienener dreibändiger Roman Gold! Ein californisches Lebensbild aus dem Jahre 184913 erlebten hohe Auflagen. Verbreitet waren auch Praxis-orientierte Ratgeberliteratur wie der Neuere praktische Wegweiser für Auswandrer nach Nord-Amerika von Capitain B. Schmölder, der in mehreren Bänden 1849 in Mainz erschien und in dessen erster, „Oregon und Californien“ betreffender „Abtheilung“ es heißt: „Ich kann es aber nicht genug wiederholen, daß es der Ackerbau und die Viehzucht durchaus nicht sind, denen Amerika seine Blüthe verdankt, sondern nur eben ein durchgreifendes und umfassendes Handelsprinzip.“14 Gerade diejenigen unter den zeitgenössischen Autoren, deren Werke Wagner aufmerksam zur Kenntnis nahm, haben sich gründlich mit der Emigrationsbewegung in das Land der Zukunft beschäftigt. Das gilt auch für Karl Gutzkow, den umtriebigen Kopf der jungdeutschen Bewegung, der sich Wagner zeitweise nahefühlte, obwohl sein persönlicher intensiver Umgang mit dem Dramaturgie-Kollegen am Dresdener Theater nicht frei von Spannungen war. Der „öfter zu uns sich gesellende Gutzkow“ (so Wagner in seiner Autobiographie15) schrieb in den Dresdener Jahren vor 1848 an seinem monumentalen Roman Die Ritter vom Geist, der 1850 erschien. Auch diese Prosa pflegt das Bild vom Land der Zukunft. „In Amerika (so heißt es am Ende des 12 Ludwig Börne: Briefe aus Paris; in: ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 3, edd. Inge und Peter Rippmann. Dreieich 1977, p. 861. 13 Cf. dazu die informative Untersuchung von Peter. J. Brenner: Reisen in die Neue Welt – Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1991. 14 Capitain B. Smölder: Neuere praktische Wegweiser für Auswandrer nach Nord-Amerika. Mainz 1849, p. 90. 15 Richard Wagner: Mein Leben, ed. Martin Gregor-Dellin. München 1976, p. 334.
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Romans) begann der Vater Egon’s von Hohenberg jene Läuterung, zu der empor sich nur Derjenige schwingen kann, der einst nicht aus Armuth, sondern aus Überfülle des Herzens fehlte. Ein karges Gemüth, eine leere Phantasie kann nie anders als nur einmal leben. Ein reicher glühender Geist setzt wie der Baum Ring an Ring und baut auf Trümmer neue Welten. Rodewald war ein Sieger, wo er auftrat. In seinem alten Sinne wollte er nicht mehr siegen, er wollte kämpfen und sah im Siege nur den Lohn der Mühe. Menschenfeindlich war allerdings sein Herz geworden; das mußt’ er sich zum Vorwurf machen und an diesem Übel krankte er lange. Er suchte die Einsamkeit, er floh die Menschen, er haßte sie. Amerika bot ihm die Fülle neuen Lebens, aber den Egoismus sah er grade hier in seiner vollsten Blüthe und so erfüllt von Poesie und Romantik war noch sein Herz, daß er sich in die neuen Formen des Staates, der Gesellschaft, der Sitten hier nicht finden konnte. Die Schauer der Natur suchte er, die hoben ihn. Dem Urgeist sich nahend, der in den Wäldern, an den wallenden Strömen rauschte, beugte er sein Knie und sein Haß milderte sich, da er Manchen sah, den es wie ihn getrieben hatte, sich in diese Uranfänge des Lebens zu flüchten.“16 Das sind durchaus Wendungen und Tonlagen, die denen des Rheingold-Anfangs nahestehen: „Urgeist“, „wallender Strom“, „Uranfänge des Lebens“. Die konventionelle Unbeholfenheit solcher Formulierungen macht gerade aufgrund ihrer Wagner-Affintät auch deutlich, wie souverän und avantgardistisch Wagners häufig belächelte Diktion ist. Die Rheintöchter-Klänge „Wagalaweia! / Wallala weiala weia!“ evozieren einen Ur- und eben auch einen Neuanfang. Zweifellos sind sie von überkommenen alteuropäischen Bedeutungslasten frei. Der alles noch reizvoll indifferent umschließende Es-Dur-Akkord, der sich zu Beginn des Rheingolds aufbaut, geht über in Silbenklänge, die noch keinen distinkten Sinn haben: amerikanische Voraussetzungslosigkeit statt alteuropäische Semantik. Heinrich Heine, mit dem Wagner schon in seinen Pariser Jahren verkehrte, dem er die Anregung zum Fliegenden Holländer verdankt und dessen Werk er zeitlebens mit gespannter Aufmerksamkeit zur Kenntnis nahm, lässt in seinem 1851 erschienenen Romanzero (in dem sich auch ein Gedicht mit dem Titel Valkyren findet) eine Figur, die einen klangzauberischen Namen trägt, 16 Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste – Roman in neun Büchern, Bd. 3, ed. Thomas Neumann. Ffm 1998, p. 3253.
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ausdrücklich das Lob der Neuen Welt singen, die sich so deutlich vom welken Alteuropa absetzt: Vitzliputzi Dieses ist Amerika! Dieses ist die Neue Welt! Nicht die heutige, die schon Europäisieret abwelkt. –17 Aus Heines Feder stammt jedoch nicht nur dieses offensichtlich an Goethe anschließende Bekenntnis zu Amerika, sondern auch eine bis heute konstant anzutreffende linke kulturkritische Anti-AmerikaAttitude, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend Verbreitung findet. In seiner Ludwig-Börne-Denkschrift charakterisiert Heine das Land, das sich selbst gerne als „God’s own Country“ etikettiert, gar als ein „gottverfluchtes Land“, wenn er angesichts der europäischen Kalamitäten rhetorisch fragt: „Oder soll ich nach Amerika, nach diesem ungeheuren Freiheitsgefängnis, wo die unsichtbaren Ketten mich noch schmerzlicher drücken würden, als zu Hause die sichtbaren, und wo der widerwärtigste aller Tyrannen, der Pöbel, seine rohe Herrschaft ausübt! Du weißt, wie ich über dieses gottverfluchte Land denke, das ich einst liebte, als ich es nicht kannte… Und doch muß ich es öffentlich loben und preisen, aus Metierpflicht… Ihr lieben deutschen Bauern! geht nach Amerika! dort gibt es weder Fürsten noch Adel, alle Menschen sind dort gleich, gleiche Flegel…“18 Ins Land der Flegel emigriert in Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich auch dessen schöne Freundin Judith. Sie kehrt, so als hätte sie Heines kulturkritische Volte biographisch nachvollzogen, jedoch nach einigen Jahren in die Schweiz und an die Seite des grünen Heinrich zurück. * Gottfried Kellers großer Roman erschien zu spät (nämlich 1855), um noch direkten Einfluß auf Wagners Rheingold auszuüben. Die anderen 17 Heinrich Heine: Romanzero; in: ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, Bd. 11, ed. Klaus Briegleb, München /Wien 1976, p. 56. 18 Heinrich Heine: Ludwig Börne. Eine Denkschrift; in: Schriften, l. c., Bd. 7, p. 38.
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evozierten Werke aber bilden nur eine Auswahl aus einem deutlich größeren Ensemble von Texten, die belegen, wie nachhaltig das Thema Emigration nach Amerika in der deutschsprachigen Literatur der gut 50 Jahre vor 1848 präsent war und wie anhaltend hoch in den Jahren unmittelbar danach, in denen Wagner am Rheingold arbeitete, auch das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an den Goldfunden in Kalifornien war.19 Dem Vielleser Richard Wagner20 ist dieses Themenfeld nicht entgangen. Wer nach Hinweisen und Belegen für Wagners Interesse an Amerika sucht, wird leicht fündig, ja, er trifft auf eine Goldader. Wagner hatte bekanntlich kein entspanntes Verhältnis zu Frankreich und schon gar nicht zu seiner Hauptstadt Paris. Aber er trug sich immer erneut mit Plänen, in die USA auszuwandern. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten musste für einen megalomanen Phantasten wie Wagner, der zugleich bemerkenswert realitätstauglich war, von unwiderstehlichem Reiz sein.21 Die aussagekräftigsten unter den einschlägigen Stellen seiner Autobiographie und seiner Korrespondenz sind schnell angeführt.22 Im Pariser Krisenjahr 1840 entsinnt sich der mittellose und noch unbekannte Komponist, durch Bemerkungen seines Freundes Lehrs animiert, der Bedeutung seines Namens. „So hieß es denn wagen, da ich nun einmal ‚Wagner‘ hieße, und er (Lehrs) nicht geneigt sei, in betreff meiner diesen Namen von ‚Fuhrwerk‘ abzuleiten.“23 Dabei ist das Wagnis, von dem Wagner hier berichtet, nicht einmal sonderlich hoch. Wagner wagt es, ein kleines und preiswertes Hotel garni zu verlassen und eine vergleichsweise große Wohnung zu mieten. Denn er spekuliert auf hohe Einnahmen aus Aufführungen des Werkes, an dem er damals schreibt. Nicht ganz zu Unrecht: der Rienzi wird einer der größten Kassenerfolge Wagners. Dennoch wirft er nicht genug ab, um Wagners Verlangen nach einem wirklich luxuriösen Leben auf Dauer zu befriedigen. 19 Cf. dazu u. a. Alexander Ritter (ed.): Deutschlands literarisches Amerikabild. Hildesheim/New York 1977 und Sigrid Bauschinger/Horst Denkler/Wilfried Malsch (edd.): Amerika in der deutschen Literatur. Stuttgart 1975. 20 Cf. Curt von Westerhagen: Richard Wagners Dresdener Bibliothek 1842 bis 1849. Wiesbaden 1966. 21 Cf. hierzu und zum Folgenden insgesamt Curt von Westernhagen: Wagners Auswanderungs-Utopie; in: Bayreuther Programmhefte IV /1976 (Götterdämmerung), pp. 80- 88. 22 Für wertvolle Hinweise danke ich meiner Doktorandin Cornelia Klose und Peter Emmerich. 23 Richard Wagner: Mein Leben, l. c., p. 192.
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Dem jungen und noch ziemlich unbekannten Komponisten (und seiner Frau sowieso) schwant mitunter, auf welches finanzielle Risiko er sich, unablässig auf zukünftige reiche Einnahmen vertrauend, eingelassen hat. Und so wagt er immer häufiger eine weitreichende Phantasie: seinen finanziellen Nöten durch eine Auswanderung in die USA ein Ende zu machen. Wagner phantasiert, die in seinem Namen auch angelegte Fuhrwerk-Assoziation Wirklichkeit werden zu lassen und der Maxime „go west“ zu folgen. In seiner Autobiographie Mein Leben nennt Wagner diese Phantasie mitsamt ihrer literarischen Quelle unzweideutig beim Namen. „(Ich) phantasierte … meiner armen Frau oft von den südamerikanischen Freistaaten vor, in welchem man von all diesem unheimlichen Spuk gänzlich entfernt wäre, von Oper und Musik nichts mehr wisse und sich durch tüchtige Arbeit leicht eine vernünftige Existenz gründen könnte. Minna, die nicht verstand, was das sagen sollte, verwies ich auf eine kürzlich von mir gelesene Erzählung von Zschokke: Die Gründung von Maryland, in welcher das Gefühl des Aufatmens gequälter und verfolgter europäischer Einwandrer in sehr verführerischer Weise mir mitgeteilt worden war.“24 Der zeitlebens dem Geist von Aufklärung und Liberalismus verschriebene Erfolgsautor Heinrich Zschokke (1771 – 1848) hatte seine von Richard Wagner offenbar geschätzte Geschichte 1825 (wieder) publiziert, in der ein aus religiösen Gründen Verfolgter seine Glaubensgenossen mit folgenden pathetischen Worten zur Auswanderung motivieren wird: „Amerika oder Europa! – welcher Mann von Kraft und Lebenslust mag in der Wahl zwischen beiden schwanken? – Hier Zeuge sein des schweren Todeskampfes alter Formen, alter Ideen, alter Reiche; dort Stifter sein neuer Ordnungen, neuer Staaten. Hier die Zerrüttungen, die Religionskriege, die Bürgerkriege, die Revolutionen an Höfen und in Völkern; dort der Friede, der Pflug, die Wissenschaft, die Anlagen neuer Städte und Gesetze. Hier unterm weltlichen und geistlichen Despotismus, Knechtschaft des Glaubens, Knechtschaft des Gedankens, Knechtschaft des Herzens, Ueberhandnehmen orientalischer Tirannei, orientalischen Kasten- und Ständewesens, orientalischer Geistessklaverei, orientalischer Ueppigkeit der Höfe, orientalischer Armuth des großen Haufens; dort der Mensch in sein ewiges Recht eingesetzt.“25 24 L. c., p. 193 25 Heinrich Zschokke: Die Gründung von Maryland; in: Heinrich Zschokke’s ausgewählte Schriften – neunzehnter Theil. Aarau 1825, p. 103 sq.
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Das alte Wort „ex oriente lux“ gilt nicht mehr. Helle Zukunftsperspektiven gibt es (aus der Perspektive des verfolgten britischen Katholiken aus dem 17. Jahrhundert, von dem Zschokke erzählt) nur mehr in der Neuen Welt des transatlantischen Westens. Lord Baltimore gelingt es übrigens, seiner angebeteten Mary, von ihr unbemerkt, seinen Ring anzustecken und sie durch diesen Ringzauber zum Aufbruch nach Maryland zu bewegen. Die frühe Phantasie des späteren Ring-Dichters und -Komponisten, nach Amerika auszuwandern, verdichtet sich am legendären Silvesterabend des Jahres 1840 im Kreis der geladenen Freunde zu einer Champagner-beschwingten theatralischen Szene. „Das Souper wandelte sich zum dithyrambischen Gelage; als nach dem Champagner noch der Punsch zu wirken begann, hielt ich eine emphatische Rede, die, weil sie die Freunde in unaufhörlichem Lachen unterhielt, nicht enden wollte und mich hinriß, daß ich, der ich im gesteigerten Pathos mich bereits auf einen Stuhl gestellt hatte, endlich selbst den Tisch bestieg und von da herab das Evangelium der unsinnigsten Lehren der Weltverachtung mit Anpreisung der südamerikanischen Freistaaten meinen entzückten Zuhörern verkündete, welche endlich in lachendem Schluchzen sich verloren und schließlich von uns sämtlich beherbergt werden mußten, da ihr Nachhausegehen unmöglich geworden war.“26 Die Auswanderungswilligen schaffen es, dem Weingeist huldigend, nicht einmal mehr, das Haus des Gastgebers zu verlassen. Dass es sich bei Wagners Sylvester-Tirade nicht nur um eine alkoholbeschwingte und schnell verfliegende Phantasterei, sondern auch um einen hartnäckig wiederkehrenden Tagtraum handelt, der Wagner und seine Pariser wie später Dresdener Freunde immer aufs Neue bewegte, belegen spätere Äußerungen aus Mein Leben. So gedenkt er seines revolutionären Freundes Röckel, der nach der gescheiterten 48/49-er Revolution wie Wagner steckbrieflich gesucht, anders als Wagner aber festgenommen und zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Schon vor 1849 „schleppte sich (Röckel) elendiglich im Schuldenmachen dahin und ersah seit längerer Zeit keine Hilfe für seine Lage als Familienvater als durch eine Auswanderung nach Amerika, wo er, als Farmer selbst vom Naturzustand beginnend, durch seiner Hände Arbeit und seinen erfinderischen Kopf wenn auch mühsam, 26 Richard Wagner: Mein Leben, l. c., p. 205.
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doch sicher sich und den Seinigen eine bürgerliche Zukunft gründen zu können vermeinte.“27 Auch in den Zürcher Jahren ist Wagner mit Lebensläufen konfrontiert, die nach Amerika verweisen. In Zürich kommt Wagner schon kurz nach seiner Ankunft (also 1849) in Kontakt mit Wilhelm Heine, „der alsbald nach Amerika ging und es dort bis zum General brachte.“28 Und „in Reinhold Solger“ lernt Wagner „einen wirklich ausgezeichneten Menschen kennen; da seinem etwas unruhigen und abenteuerlichen Wesen das Eingepferchtsein in die kleine enge Züricher Schweizer Welt unerträglich wurde, verließ er uns bald und ging nach Nordamerika, von wo aus ich noch von seinem herausfordernden Auftreten mit Vorlesungen über die europäischen Verhältnisse hörte.“29 Ob Wagner, der gerne Namensspiele wagte, den Vornamen seines Freundes mit dem Titel des Vorabends seiner Tetralogie assoziiert hat: Reinhold / Rheingold? Der arme Reinhold Solger geht nach Nordamerika, um seine wirtschaftliche Situation zu verbessern. Doch auch das Schicksal seiner wohlhabenderen Freunde lenkt Wagners Aufmerksamkeit auf die USA . „Außerdem interessierte mich in dieser Zeit [1857]“, so erinnert er sich in Mein Leben, „eine im Monat November eintretende Krise auf dem amerikanischen Geldmarkte, deren Folgen während einiger verhängnisvoller Wochen das ganze Vermögen meines Freundes Wesendonck in Frage zu stellen schien.“30 In dem Maße, in dem sich seine finanzielle Situation verschlechtert, wird Amerika für Wagner immer erneut zum Ziel seiner Auswanderungsphantasien. Das gilt vor allem für das Jahr 1854, in dem Wagner gleich mehrfach (etwa im Brief an Liszt vom 17. Januar oder im berühmten langen Brief an Röckel vom 25./26. Januar) erwähnt, „dass in Boston bereits ‚Wagner-nights‘ gegeben werden: Jemand bestürmt mich, hinüber zu kommen; man beschäftigt sich dort jetzt mit steigendem Interesse mit mir; ich könnte mit Conzert-aufführungen etc. viel Geld dort gewinnen. – ‚Viel Geld gewinnen‘ -. Ach Gott, ich brauch‘ kein Geld zu gewinnen, wenn ich den Weg gehe, den meine Sehnsucht mir vorschreibt!! – Soll ich aber nun wirklich zu so etwas greifen, – so wüsste ich immer noch nicht, wie ich anständig hier aus meiner neuen Einrichtung fortkommen sollte, um dorthin zu gelangen, 27 Ibid., p. 377. 28 Ibid., p. 282. 29 Ibid., p. 474. 30 Ibid., p. 568
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wo ich Geld gewänne? Und wie würde ich mich dort fühlen? würde es mir möglich sein, ohne Herzbrechen, ohne jähen Selbstmord, mich mühevoll der Schmach zu übergeben, gänzlich von meinem Ziele, von meinem künstlerischen Wollen abzuweichen? Wie wollte ich das aushalten können, – ich, der ich nur noch unter der zartesten Pflege der Liebe gedeihen kann? Ach, Gott! es ist so unmöglich, dass dieser Unmöglichkeit nur die Lächerlichkeit gleicht, zu der ich hinabsinke, wenn ich mich doch dem Brüten über die Möglichkeit des Projectes hinzugeben mich gezwungen sehe! – Von meinem Werke, von meinen Nibelungen, wäre dann natürlich keine Rede mehr. -“31 Die naheliegende Frage, wie ernst es Wagner mit seinen (übrigens ab Ende 1876, also nach den mit der Eröffnung der Bayreuther Festspiele verbundenen, nicht zuletzt finanziellen Enttäuschungen verstärkt wieder aufkeimenden32) Plänen einer Auswanderung in die USA war, ist mit der zuletzt zitierten Briefäußerung klar beantwortet: es handelt sich – trotz der Äußerung im Brief vom 31. März 1880 an König Ludwig, er habe angesichts seiner finanziellen Situation „schon ernstlich an eine vollständige Übersiedlung nach Amerika gedacht“ – weniger um Pläne als um Phantasien. Unverkennbar aber um seltsam anhaltende, Jahrzehnte und unterschiedlichste biographische Konstellationen überdauernde Phantasien. Die Konstellation ist schon bemerkenswert: dass die durch die Ring des Nibelungen-Aufführung 1876 inaugurierten Bayreuther Festspiele mit der Hundertjahrfeier der 31 Richard Wagner: Sämtliche Briefe, 6.Bd., edd. Hans-Joachim Bauer/Johannes Forner. Leipzig 1986, p. 49 sq. 32 Cf. Martin Gregor-Dellin: Richard Wagner, l. c., p. 747 und 788 sq. Eine bemerkenswerte Rolle spielt dabei der Dresdner Zahnarzt Newell S. Jenkins. Der begeisterte Wagnerianer hatte den Meister wiederholt in Bayreuth behandelt. Ihn wollte Wagner zum Vermittler seiner obskuren Pläne machen, für die Zahlung eines Betrages in Höhe von einer Millionen Dollar in die USA zu gehen. Am 8. Februar 1880 schrieb Wagner aus Neapel an Jenkins: „Ich halte es nicht für unmöglich, daß ich mich noch entschließe, mit meiner ganzen Familie und meinem letzten Werke (=Parsifal) für immer nach Amerika auszuwandern.“ Mit der Zahlung des Millionen-Dollar-Betrages „hätte mich Amerika Europa für alle Zeiten abgekauft.“ (zit. bei M. Gregor-Dellin: l. c., p. 788) Ausgerechnet Parsifal als das amerikanische Werk Wagners … Über eine Aufführung des Parsifal in New York im Jahr 1911 hat Stephan Zweig eine Miszelle geschrieben und in der Zeitschrift Der Merker (1911/Heft 20, p. 831 sq.) veröffentlicht, in der es von den glänzenden Augen deutschstämmiger Musikfreunde heißt: „Nie habe ich mehr gefühlt, als an diesem beglänzten Blick inmitten snobistischen Yankeetreibens, wie viel Wagner für Deutschland bedeutet, wie sehr er selbst Deutschland ist, höchstes, eindringlichstes Symbol seiner Nation und seiner Zeit.“
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amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zusammenfallen, ist kein von späteren Konstellationsdiagnostikern überzuinterpretierendes, sondern ein von Richard Wagner selbst bedachtes Überschneidungsdatum. Hat Wagner doch 1876 aus Anlass besagter Hundertjahrfeier einen „Amerikaner-Marsch“ komponiert. Und hat er doch ausgerechnet in den Jahren nach 1876 gegenüber König Ludwig II regelrecht mit dem alten Plan einer Auswanderung in die USA gedroht, um ihn zu weiteren Subventionszahlungen zu bewegen. Das wohl seltsamste Dokument in diesem Zusammenhang ist Wagners briefliche Äußerung an Ludwig II , er habe mit den Festspielen in Bayreuth „eine durchaus selbständige Schöpfung an einem Ort, der erst durch diese Schöpfung zu Bedeutung kommen sollte“, im Sinn gehabt – nämlich: „eine Art Kunst-Washington“.33 * Über den Geheimnissen des Goldes, des Geldes, des Reichtums und des Wertes hat Wagner, wie nicht zuletzt die 25-jährige Arbeit am Ring des Nibelungen belegt, tatsächlich unablässig „gebrütet“. Noch eine späte Tagebuchnotiz Cosima Wagners legt davon Zeugnis ab. „Donnerstag 29ten (September 1881) R(ichard) las in der Zeitung, daß in Amerika die Auffindung einer Diamant-Grube in kürzester Zeit eine Stadt habe entstehen lassen: ‚Da sieht man, wo die Menschen stehen, daß das Metall, was nur ein Zeichen zu sein hatte, eine Erleichterung des Tausches, eo ipso etwas ist, woraus Leben entsteht.‘“34 Die von Cosima festgehaltene Formel Richard Wagners nimmt sich wie eine knappe Selbstinterpretation des Rheingoldes, ja der gesamten Ring-Tetralogie aus. Und sie schlägt damit nochmals die Brücke zwischen dem mythischen Bühnengeschehen und seiner zeitgeschichtlichen Folie. Ein „Metall, was nur ein Zeichen zu sein hatte, eine Erleichterung des Tausches“ wird mehr als „nur ein Zeichen“. Es wird eo ipso, an und in sich selbst zu etwas, „woraus Leben entsteht“ – nämlich der initiale Stoff, aus dem das gewaltige Geschehen um den Ring des Nibelungen gemacht ist. „In diesem Zeichen wird nun jeder selig“, heißt es aus berufenem
33 Zitiert bei Curt von Westernhagen, l. c., p. 82. 34 Cosima Wagner: Die Tagebücher 1881 – 1883, Bd. 4, edd. Martin Gregor-Dellin/Dietrich Mack. München/Zürich 1982, p. 800.
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Mund, dem des Schatzmeisters, zu Beginn von Faust II .35 Gemeint ist damit unzweideutig das Zeichen des (Papier-) Geldes und nicht mehr das des christlichen Kreuzes, worauf der Spruch souverän-sarkastisch anspielt. In hoc signo vinces … Wagner hat seine Ring-Tetralogie auch als Komplementärwerk zu Goethes Faust-Drama entworfen. Beide Werke wollen nichts Geringeres als „alles“ erklären, verstehen und deuten. Sie wollen ergründen, was die neuzeitlich-moderne Welt im Innersten zusammenhält bzw. auseinanderbringt. Wagners Gegenentwurf zu Goethe ist eindeutig (oder wäre eindeutig, wenn Goethes Werk nicht seinerseits der tiefen Ambivalenzen einer im Zeichen des Geldes mobilmachenden Moderne eingedenk wäre): Im Zeichen des Rheingoldes wird nicht etwa jeder selig, sondern entfaltet sich ein Unheilszusammenhang, dem sich keiner, sei er ein Schwarz- oder ein Licht-Albe, ein Gott oder ein Mensch, ein Monstrum oder ein Halbgott entziehen kann – auch ein freier Held wie Siegfried nicht. Wagners spätes Diktum über den Fund einer Diamentengrube in Amerika liefert einen erhellenden Leitfaden, der durch das Labyrinth der Ring-Dichtung zu führen vermag. Denn auch diese arbeitet mit dem Oppositions-Schema bloßes „Zeichen“ vs. „etwas, woraus Leben entsteht“. Das Rheingold ist, bevor Alberich es raubt, ein bloßes, ein reines, also nicht einmal ein verwendbares, weil anderes als sich selbst bezeichnendes Zeichen. Was schön ist, scheint (nach der berühmten Schlußzeile von Mörikes Gedicht Auf eine Lampe) selig in sich selbst: „Durch die Flut ist von oben her ein immer lichterer Schein gedrungen, der sich nun an einer hohen Stelle des mittleren Riffes zu einem blendend hell strahlenden Goldglanze entzündet; ein zauberisch goldenes Licht bricht von hier durch das Wasser.“ (Regieanweisung)36 Erst in dem Augenblick, da Alberichs Blick auf diesen in sich leuchtenden und über sich hinaus strahlenden Glanz fällt, verliert das Gold seinen unschuldigen, seltsam beziehungslosen Status als ein Zeichen, das nichts als allenfalls sich selbst bezeichnet und „in sich selbst scheint“. Zum Objekt der Begierde, die noch die sexuelle Begierde überstrahlt, wird das Gold, weil und sofern es zum Ersatz für alles taugt. „Ersatz“ ist ein Schlüsselwort und ein dramaturgischer Schlüssel des Vorabends 35 Cf. dazu Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl – Die Poesie des Geldes. Ffm 1996, Kap. I/1. 36 Richard Wagner: Dichtungen und Schriften – Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 3, ed. Dieter Borchmeyer. Ffm 1983. Die folgenden eingeklammerten Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
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zur Ring-Tetralogie, der da unter dem Titel Rheingold steht. Als Ersatz für versagte Liebeslust erscheint das Gold Alberich. Nachdem auch die dritte unter den Rheintöchtern sich ihm „plötzlich entrissen“ und ihm ein zweideutiges „Wie billig am Ende vom Lied“ zugerufen hat (17), wird er des „blendend hell strahlenden Goldglanzes“, des „zauberisch goldenen Lichts“ gewahr, das durch das Wasser bricht. Ob das Gold zu etwas anderem tauge als den Augen wohlgefällig zu sein – das ist die zweite Frage, die Alberich den Rheintöchtern stellt, nachdem er die Antwort auf die erste Frage „was ist’s, ihr Glatten / das dort so gleißt und glänzt?“ erhielt. „Eurem Taucherspiele / nur taugte das Gold?“ Taugen – tauchen – tauschen: Wagners häufig belächelte Sprachkunst ist subtiler, als den meisten ihrer Kritiker schwant. Denn genau um das im Sprachspiel zwischen taugen und tauchen ausgesparte tauschen geht es ersichtlich. Alberich hört die doppelte Verheißung der Rheintöchter: „Der Welt Erbe / gewänne zu eigen, / wer aus dem Rheingold / schüfe den Ring, / der maßlose Macht ihm verlieh‘.“ (20) Erlangen aber kann (zweite Verheißung bzw. Unheilverkündigung) das Gold, aus dem sich der Weltenmacht verleihende Ring schaffen lässt, nur derjenige, der sich auf die Logik des Ersatzes einließe: Gold oder Liebe. „Nur wer der Minne / Macht versagt, / nur wer der Liebe / Lust verjagt, nur der erzielt sich den Zauber, / zum Reif zu zwingen das Gold.“ (21) Wagner liegt, wie die wiederholte Paraphrase dieser Bedingung zeigt, an dieser Konstruktion: der Liebesverzicht ist Voraussetzung dafür, aus dem Gold den Ring schmieden zu können, nicht aber dafür, das Rheingold selbst – also den Stoff, aus dem der Ring zu schaffen ist – an sich zu reißen. Das Rheingold hat ausdrücklich nicht im Jenseits der Begierde seinen Ort. Es fällt nicht unter das Liebesverbot. Umgekehrt: es ist ein Ersatz-Objekt der Begierde. „Die Minne macht ihn verrückt“, singen die drei Rheintöchter gemeinsam, als sie mit ansehen müssen, wie Alberich das Gold an sich reißt, und mit anhören müssen, wie er, das Odysseus regelmäßig zugesprochene Attribut ‚listig‘ auf sich selbst beziehend, zwischen Liebe und Lust unterscheidet: „Erzwäng‘ ich nicht Liebe, / doch listig erzwäng‘ ich mir Lust.“ Eine Verrückung im Wortsinn. Eine List, die für Lust sorgt. So kommt eine erste Ersatzfigur in die Welt der Wagnerschen Ring-Dichtung. Listig differenziert Alberich zwischen Liebe und Lust – und das Wort ‚Minne‘, das nicht ohne Grund schon zu Wagners Zeit hochgradig antiquiert klingt, bezeichnet den längst listig überwundenen Zustand,
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in dem beide noch zweieinig waren. Die Verrückung, die Verschiebung, die Unterscheidung von Liebe und Lust eröffnet ein Spiel der Ersatzfiguren. Es sorgt dafür, dass Besitz und Macht an die Stelle von Minne treten können. Und so beginnt das, was Fricka, eine göttliche Feministin avant la lettre, als männliches „Schächergewerbe“ (21) charakterisiert. „So ohne Scham / verschenktet ihr Frechen / Freia, mein holdes Geschwister, / froh des Schächergewerbs. – / Was ist euch Harten, / doch heilig und wert, / giert ihr Männer nach Macht.“ (24 f.) Das sind so harte wie klare Worte. „Schächergewerbe“ ist zudem ein Wort, das zu der Zeit, als es niedergeschrieben wurde, im deutschen Sprachraum häufig anzutreffen war, wenn es galt, die Unkultur der Yankees zu kritisieren. Fricka hat durchaus das Zeug zu einer Ethnologin, die die elementaren Strukturen des „Schächergewerbes“ analysiert, von dem der Ring erzählt. Schon in kurzer Frist macht sich nämlich ein Wiederholungszwang bemerkbar. Denn nicht nur Alberich stellt, nachdem er von ihnen zurückgewiesen wurde, nicht mehr den Rheintöchtern, sondern dem Rheingold und der mit ihm gegebenen Verheißung absoluter Macht nach. Gold und Ring werden auch den Göttern und den Riesen zum Ersatz-Objekt der Begierde, die zuvor Frauen galt. Die Lichtalben, denen sich das zweite Bild von Rheingold zuwendet, scheinen auf den ersten Blick die gute, alte (=europäische) Gegenwelt zu der neuen, korrupten, lieblosen, goldgierigen, geldfixierten, mit Traditionen rücksichtslos umgehenden und auf Schacher gerichteten neuen (=amerikanischen) Welt des Schwarzalben Alberich zu repräsentieren. Aber eben nur auf den allerersten Blick. Die alten Götter haben zwar eine „feste Burg“ gebaut, in der versammelt werden soll, „was des Überlebens wert ist (und) den Ansturm der feindlichen Mächte überdauern soll.“37 Doch die Logik des Ersatzes greift auch in diese vermeintlich geschützte und abgeschottete Sphäre über. So leben nun auch die Götter in ihrer lichten Höhe ganz offenbar nicht mehr in einer hellen Alternativwelt zu der dunklen Sphäre, der Alberich zugehört. Sie folgen vielmehr genau derselben Logik des Ersatzes, der auch Alberich sich verschrieben hat. Freia, die Holde, taugt ihnen als Pfand und Ersatz für die Lohnforderungen der Riesen Fafner und Fasolt, die die neue Götterburg bauten. Wotan bekennt sich im Streitgespräch mit seiner Frau sogar offensiv zu der Logik des Ersatzes, des 37 Peter Wapnewski: Weißt du wie das wird …? Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen – Erzählt, erläutert und kommentiert. München/Zürich 1995, p. 74.
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Wandels und des Wechsels. „Wandel und Wechsel / liebt wer lebt.“ (25) Das Wort ‚Wechsel‘ hat in diesen Kontexten durchaus seine Doppeldeutigkeit. Wotan bekennt sich nicht nur dazu, dass die Liebe das Wandern, den Wandel und den Wechsel liebt, sondern auch dazu, dass Freia ein lebender Wechsel auf eine fällige Zahlungsforderung ist. Frickas Wort vom männlichen „Schächergewerbe“ ist so böse wie zutreffend. Es gehört zu Loges listenreichem Verhandlungsgeschick, dass er den Göttern die naheliegende Einsicht erspart, in Alberich nicht ihr Gegenprinzip, sondern ihren engen Verwandten zu haben. Wider besseres Wissen stilisiert Loge Alberich als den einzigen, dessen Sinnen, Trachten und Begehren auf Ersatzfiguren gerichtet ist. „Nur einen sah ich, / der sagte der Liebe ab: / um rotes Gold / entriet er des Weibes Gunst.“ (34) Alberich ist aber gerade nicht der einzige bad boy, der sich auf eine Liebesökonomie des Ersatzes einlässt. Loges Aussage entbehrt darum nicht der Komik. Denn soeben erst hat er Wotan gemeldet, dass er sich weltweit umgesehen hat, um „Ersatz für Freia zu suchen“. (33) Seine Suche scheint vorerst ergebnislos zu bleiben. Auch Loge (dessen erotische Neigungen bzw. erotische Indifferenzen hier nicht weiter befragt werden sollen) kommt zu der schon die Rheintöchter in die Irre führenden These, es gebe schlechthin nichts, „was wohl dem Manne / mächtiger dünk‘, / als Weibes Wonne und Wert.“38 Aus dieser Einsicht macht er gleich ein Theorem: „nichts ist so reich, / als Ersatz zu muten dem Mann / für Weibes Wonne und Wert.“ Eine These, ein Theorem, ein Allsatz, der auch ohne den folgenden Hinweis auf Alberichs pervers-monströse Liebesverfluchung ganz offenbar nicht zu halten ist. Denn die Götter haben ja schon zuvor in ihrem Handel mit den Riesen Freia als Ersatz bzw. Wechsel eingesetzt. Und so sind auch und gerade die Götter in ein „Schächergewerbe“ verstrickt, das unablässig nach Substituten und Ersatzfiguren verlangt und in einem Netz von Verträgen die Stabilisierung seiner unabschließbaren Substitutionslogik erhofft. Verträge aber haben regelmäßig Ersatz- bzw. Substitutionsfiguren zum Inhalt. Was die Götter von Alberich unterscheidet, ist nicht etwa, dass sie die Logik der Substitution abweisen – Gold statt bzw. für Weibes Wonne und Wert ist auch ihre Maxime. Die Differenz zwischen dem Schwarz- und den Lichtalben besteht vielmehr darin, 38 Dazu ausführlicher Jochen Hörisch: Weibes Wonne und Wert – Richard Wagners Theorie-Theater, mit musikanalytischen Kommentaren von Klaus Arp. Berlin 2015.
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dass letztere die Logik der Substitution in Vertragsform gießen. Auf den wilden kalifornischen Goldsucher, der neomythologisierend an die Ufer des alten Vaters Rhein versetzt wird, folgen die Götter, die unablässig auf einen vorteilhaften „deal“ aus sind. Von den Möglichkeiten, die das Vertragsrecht bietet, sind sie eigentümlich fasziniert. Begriffe aus dem Vertragsrecht wie ‚Pfand‘, ‚Sold‘, ‚Lohn‘, ‚Gut‘, ‚Wechsel‘ und ‚Handel‘ durchziehen denn auch die zweite Szene des Rheingolds. Wotan schwant, dass ihm, der schon in der Vorzeit sein eines Auge daran setzte, um Fricka zum Weib zu gewinnen, der also schon vor Beginn der eigentlichen Ring-Handlung einer „do ut des“-Logik der Substitution ausgesetzt war, alle Attribute eines Souveräns fehlen. „Was du bist, / bist du nur durch Verträge“, muss er sich von Fasolt, der sich im selben Atemzug als „dummer Riese“ charakterisiert, sagen lassen (28). Nicht zuletzt aufgrund dieser Kränkung sinnt er unablässig darüber nach, ob es möglich sei, sich vom Bann der Ersatz-, der Substitutions-, der Vertrags-Logik zu lösen. So ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn am Ende des zweiten Bildes ein zweites Schlüsselwort die bannende Kraft einer Ersatzlogik seinerseits zu bannen antritt. Es ist kein anderes Wort als dieses: Erlösung. „Freia gilt es zu lösen.“ (40) Und um dieses Pfand aus dem Verfügungsbereich der Riesen zu lösen, „erjag(t) (Wotan) erlösendes Gold!“ (41) Erlösung hat hier in der profansten aller denkbaren Gestaltungen statt: ein Pfand wird eingelöst. Wotan will „erlösendes Gold“ erjagen, weil es Freia „zu lösen“ gilt. Vor jeder Theologie der Erlösung verschafft sich eine Ökonomie des Erlöses Geltung: In Go(l)d we trust. Alberich löst sich von dem Gesetz, dass alles, was lebt, Liebe will; und er erhält für diesen ungeheuren Verzicht das Rheingold als Erlös. Die Riesen bestehen darauf, einen angemessenen Erlös für ihre Arbeitsleistung zu erzielen und bekommen von den Göttern Freia als Pfand, das es nun ein- bzw. auszulösen gilt. Um die ewige Jugend schenkende Göttin aus der Gewalt der Riesen zu erlösen, machen sich Wotan und Loge zu Alberich auf, nehmen ihn seinerseits gefangen und akzeptieren das Rheingold, den Ring und die Tarnkappe als Lösesumme. Diese Dreiheit wird wiederum zum Äquivalent, zum Erlös für Weibes Wonne und Wert, wie er in Freia inkarniert ist. Gegen diese Vormacht des Erlöses vor der Erlösung kommt auch Siegfrieds Erlösungsprojekt nicht an. Zwar ist Siegfried gegenüber dem Reichtum des Rheingoldes, dessen Eigentümer er wird, gänzlich indifferent. Schnöder Mammon ist definitiv nicht das Objekt seiner Begierde. Und seine passionierte,
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Liebe und Lust vereinigende Minne zu Brünnhilde scheint auch das durch Alberich verletzte Ursprungs-Gesetz wiederherzustellen, danach schlechthin nichts zum Ersatz für Weibes Wonne und Wert taugt. Gerade aber, weil Siegfried im Diesseits der Logik von Ersatzwerten und Erlösen lebt, ist er ein Immoralist. Denn Moral kommt nicht nur etymologisch, sondern auch geneaologisch (eines der großen Themen Nietzsches!) von den mores, den Sitten, und die Grundfigur der Sittlichkeit ist die Fähigkeit, etwas zu versprechen und die Verträge einzuhalten, die immer Ersatz-, Erlös- und Äquivalenzverträge sind. Nietzsche war es, der die eigentliche Pointe dieser Konstruktion zuerst erkannte. Siegfried rennt den alten Gottheiten, die sich von ihrem Erlösungsgeschäft ab- und dem Erlös-Geschäft zugewandt haben, „wider den Leib. Seine Hauptunternehmung aber geht dahin, das Weib zu emanzipieren – ‚Brünnhilde zu erlösen‘ … Siegfried und Brünnhilde; das Sakrament der freien Liebe; der Aufgang des goldenen Zeitalters; die Götterdämmerung der alten Moral – das Übel ist abgeschafft… Wagners Schiff lief lange Zeit lustig auf dieser Bahn. Kein Zweifel, Wagner suchte auf ihr sein höchstes Ziel.“39 Dieses höchste Ziel lässt sich präzise angeben: ein erlöstes Leben jenseits der (neuzeitlichen, „amerikanischen“) Logik des Ersatzes und des Erlöses. Zu Hause ist es in einem romantischen Alteuropa, das „Weibes Wonne und Wert“ höher einschätzt als das männliche Schächergewerbe um die „bloßen Zeichen“ des Go/eldes, die mächtiger werden als das, was sie bezeichnen: Fetische im Wortsinn40. Die wirklichen Werte, so die nicht sonderlich originelle, aber hochsuggestive, etwa schon in der Mütterszene von Faust II oder in der reichen romantischen Ausgestaltung der Bergwerksmotivik vorangetriebene Einsicht, ruhen in der Materie, bei den Müttern (Materie – mater), die den eigentlichen Reichtum bergen: den der Prokreation. Wie bereits in der berühmten vierten Ekloge des Vergil muss eine Mutter einem göttlichen Kind das Leben schenken, damit Erlösung von einer Weltlogik statthaben kann, die fetischistisch auf Erlös fixiert ist. Zu den rätselhaftesten Passagen des Rings des Nibelungen zählt die zu Beginn des dritten Aufzugs der Götterdämmerung, in der das 39 Nietzsche: l. c., p. 911. 40 Cf. dazu Thomas Schestag: Zu Tisch – bei Marx; in: Text – Kritische Beiträge 6/2000, pp. 49 – 70 und Werner Hamacher: Lingua Amissa – Zum Messianismus der Warensprache; in: Zäsuren – Césures – Incisions Nr. 1/November 2000, pp. 71 – 113.
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heldenhaft erwachsen gewordene göttliche Kind Siegfried ganz nahe daran ist, die Welt von der fetischistischen Logik des Ersatzes und Erlöses zu erlösen. Bei der Jagd, an der er so beutelos teilnimmt, trifft er auf die Rheintöchter. Sie fordern ihn, der durch Hagens Vergessenstrank seiner Identität beraubt wurde, nicht ohne Koketterie auf, den Ring dem Element der Tiefe, das Zeichen dem Bezeichneten, den Fetisch der Materie zurückzuerstatten. Und Siegfried scheint dazu durchaus bereit zu sein: „Kämen sie wieder / zum Wasserrand, / den Ring könnten sie haben.– / He he! Ihr muntren / Wasserminnen! / Kommt rasch: ich schenk’ euch den Ring!“ (295) Doch die Rheintöchter weisen nun dieses Angebot zurück. Und das ist stimmig. Denn Siegfried, der Brünnhilde vergessen hat, ist bereit, sich auf die Logik des Ersatzes noch in seiner geächtetsten Form (der der Prostitution) seinerseits einzulassen: „ich geb’ ihn euch, gönnt ihr mir Lust.“ (297) Einen ungeheuren Schatz, der ein vieldeutiges Liebespfand und ein fetischistisches Erinnerungsstück ist, seinem Element zurückzugeben – dieses Motiv auszugestalten, blieb einem Kunstwerk und Kassenerfolg aus den USA vorbehalten. In seiner letzten Szene zeigt der Hollywood-Film Titanic, wie eine uralte Frau, die als junge Verlobte den Untergang des Schiffes überlebte und die Züge Erdas, Brünnhildes und der Rheintöchter trägt, den unsagbar wertvollen Diamanten, der zum wechselnden Liebespfand für Weibes Wonne und Wert wurde, in das tiefe Wasser wirft, das die alte von der neuen Welt trennt.
10. Das I-A-Sagen des Esels und das JA des Dionysos – Nietzsches poetische Kunst der Affirmation
Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf nichts, jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötzlich, Freundin! wurde eins zu zwei – Und Zarathustra ging an mir vorbei …
Friedrich Nietzsche: Sils-Maria
Die Worte ‚Kritik‘ und ‚kritisch‘ haben unabhängig von allen wechselnden Theoriemoden der letzten Jahre und Jahrzehnte, ja spätestens seit Kants drei Kritiken und also seit mindestens gut zwei Jahrhunderten in auch nur ansatzweise liberalen Gefilden einen erstaunlich konstanten guten Klang. Dass jemand, der Mindestansprüchen an Intellektualität genügen möchte, ein kritischer Geist zu sein hat, versteht sich von selbst. Auch die von Helmuth Kiesel erhellend so genannte „reflektierte Moderne“1 ist diesem klassisch-modernen Reflex treu geblieben: Kritik ist gut und darf nicht kritisiert werden. Der Bedeutungshof von Adjektiven wie ‚affirmativ‘ oder von Charakterisierungen wie ‚Ja-Sager‘ ist hingegen mit ebensolcher Konstanz ein durchschlagend negativer. Machen wir einen kleinen und halbwegs zufälligen Test: Zwischen der ‚Kritischen Theorie‘ von Adorno und Horkheimer und dem ‚Kritischen Rationalismus‘ von Popper und Albert herrscht wenig Einverständnis,
1 Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne – Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, p. 299 sqq.
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was Reflexionsgestus, Argumentationsweise, Methode und Optionen angeht. Einigkeit aber herrscht ersichtlich darüber, dass beide Theorien einen affirmativen Gebrauch des Wortes ‚kritisch‘ machen. Es wäre nur um den Preis der Inkaufnahme mäßig guter Kalauer denkbar, dass sich Theoretiker als solche selbst etikettieren, die ‚Unkritischer Theorie‘ oder gar einem ‚Unkritischen Irrationalismus‘ frönen. Mit einem Wort: wer intellektuell satisfaktionsfähig sein und bleiben möchte, hat Kritik zu affirmieren – und das ist auch gut so2. Dass es geboten sein mag, der Skepsis mit Skepsis zu begegnen, den Relativismus zu relativieren und die Dekonstruktion zu dekonstruieren, hat kluge Köpfe zu anregenden und weitreichenden Gedanken animiert. Doppelten Negationen wohnt eine eigentümliche Dynamik inne, von deren Produktivität sich wenn nicht viele, so doch zumindest einige spekulativ begabte Theoretiker haben inspirieren lassen. Hingegen hat der Gedanke, es könne sinnvoll und produktiv sein, gegenüber dem Geschäft der Kritik keine affirmative, sondern eben eine kritische Haltung zu pflegen, allenfalls einige exotische Anhänger gefunden. Nietzsche ist der profilierteste unter ihnen – gewissermaßen der kritischste Fall unter allen denkenden Jasagern. Und als ‚Jasagender‘ hat sich Nietzsche mit erstaunlicher Konstanz, mit zunehmender Lust und mit einem bemerkenswert früh entwickelten Gespür dafür präsentiert, dass in der späten Neuzeit das ‚Jasagen‘ die eigentliche Provokation für selbstredend kritische Geister bedeutet. Eine kleine, völlig unvollständige Blütenlese kann zweifelsfrei belegen, dass sich Nietzsche im Hinblick auf seine Lust an ursprünglicher Affirmation von keinem überbieten lassen wollte – Goethe ist die halbe Ausnahme. Nietzsche, nach eigenen Worten „der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos“ (II , 755 J)3, charakterisiert spätestens seit der Morgenröte seine Schriften als „jasagende“ Schriften. „Die Morgenröte ist ein jasagendes Buch.“ (II , 1127 EH ) Und er stilisiert 2 Cf. dazu Helmuth Kiesel: Literatur um 1968 – Politischer Protest und postmoderner Impuls; in: Protest! Literatur um 1968 – Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, ed. Ulrich Ott. Marbach 1998, pp. 593 – 640. 3 Zitate nach Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, ed. Karl Schlechta. München 1966 (mit Angabe der Band- und der Seitenzahl; die Siglen beziehen sich auf Jenseits von gut und böse (J), Götzen-Dämmerung (G-D), Ecce Homo (EH ), Fröhliche Wissenschaft (FW ), Also sprach Zarathustra (Z)).
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sich in riskanter Konkurrenz zu Christus als denjenigen, der anders als der welthistorische Konkurrent eine wirklich und eigentlich frohe Botschaft bereithält. „Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab.“ (II , 1152 EH ) Zu Beginn eines neuen Jahres, im Januar 1882 in Genua, formuliert Nietzsche geradezu programmatisch: „Zum neuen Jahre. – Noch lebe ich, noch denke ich: ich muß noch leben, denn ich muß noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum. Heute erlaubt sich jedermann, seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süßigkeit alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen – so werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Häßliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, alles in allem und großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Jasagender sein!“ (II / 161 FW ) Noch lakonischer stellt Nietzsche in der Götzen-Dämmerung seine „Art“ als eine dar und offensiv vor, „die jasagend ist und mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig zu tun hat.“ (II / 987) In der Zarathustra-Figur hat Nietzsche die Inkarnation der Affirmation gestaltet, die ganz und gar von dieser Welt ist. Zarathustra übt sich stets erneut in der Kunst des „ungeheuren unbegrenzten Ja- und Amensagens“ (II , 415 Z). „Ich aber bin ein segnender und ein Ja-Sager, wenn du nur um mich bist, du Reiner! Lichter! Du Licht-Abgrund! – in alle Abgründe trage ich da noch mein segnendes Ja-sagen.“ (II , 415 Z) Damit setzt Zarathustra, der doch nicht nur geographisch und chronologisch in einem Konkurrenzverhältnis zum Land der Griechen steht, seinen Überbietungsgestus gegenüber dem alt gewordenen Griechenland fort. „Das, was an der Religiosität der alten Griechen staunen macht, ist die unbändige Fülle von Dankbarkeit, welche sie ausströmt – es ist eine sehr vornehme Art Mensch, welche so vor der Natur und vor dem Leben steht!“ (II ,613 J) „Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem freudigen und vertrauten Fatalismus mitten im All, im Glauben, daß nur das Einzelne verwerflich ist, daß im Ganzen sich alles erlöst und bejaht – er verneint nicht mehr … Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft.“ (II , 1025 G-D)
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Solch ein offensives Jasagen ist in Zeiten der Kritik nicht nur suspekt und selbstredend kritikbedürftig, sondern so etwas wie eine ultimative Provokation. Verwunderlich ist das nicht. Die Motive für die eigentümliche Weigerung, das Geschäft der Kritik kritisch zu befragen und zum Jasagen ja zu sagen, liegen spätestens nach den trostlosen Desastern der Zustimmungsorgien zu totalitären Programmen aller Art auf der Hand und vor Augen. Aus besten Gründen haben wir Respekt vor denen, die auch dann „nein“ etwa zum Faschismus gesagt haben, als dieses Neinsagen noch ein, um zurückhaltend zu formulieren, sehr schwieriges und riskantes Unternehmen war4 – nicht nur wegen der Gefahr für Leib und Leben, sondern auch deshalb, weil unüberseh- und unüberhörbar war, dass die Massen den Faschismus gewollt haben. Dass ‚Kritikfähigkeit‘, ‚kritisch-sein‘ und ‚kritische Distanz wahren‘ in den letzten Jahrzehnten in westlichen Gefilden von riskanten Minderheiten-Optionen zu Tugenden geworden sind, die im Zentrum von Lehrplänen für alle stehen – das ist leicht zu ironisieren und doch auch ein buchenswert positives Ereignis. Zumal deshalb, weil sich der heiße Kern dialektischen Denkens – eben der Vollzug doppelter Negation – auch in dieser Hinsicht bewährt. In aller Regel stärkt nämlich Kritik das, was sie kritisiert. Wer und was immer kritisiert wird, erhält eben dadurch Informationen, Hinweise, Beachtung, Achtung und Energien, die zur Auslösung von Lernprozessen und Ausbildung höherer Komplexität beitragen. Ausbleibende Kritik ist die ultimative Form von Opposition. Um es aphoristisch kurz und mit naheliegenden politischen Beispielen zu illustrieren: Nordkorea hat keine Chance, weil es der undialektischsten Form des Umgangs mit Widersprüchen verschrieben ist – dem totalen Verbot von Kritik; die Militanz des islamistischen Fundamentalismus ist so verabscheuungswürdig wie ein Zeichen erbarmungswürdiger Schwäche, die auch damit zu tun hat, dass es (siehe etwa die Reaktion auf Salman Rushdis Satanische Verse) keine bedeutende islamische Tradition der Selbstkritik gibt; zum glücklichen Ruin des real existierenden Sozialismus der DDR hat ausgerechnet die Institution beigetragen, die eben diesen Ruin verhindern sollte: die Stasi – hat sie doch Hunderttausende von Kritikbekämpfern davon abgehalten, Produktiveres zu tun; und die bei aller eingestandenen Kritikbedürftigkeit vergleichsweise hohe Prosperität liberaler Staaten 4 Cf. Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Ffm 1982.
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beruht ersichtlich auch darauf, dass sie das Konkurrenzprinzip nicht nur auf dem Markt der Waren und Dienstleistungs, sondern auch auf dem der Theorien, Meinungen und eben Kritiken gelten lassen. Der Einsicht in die Produktivität der Kritik und gerade auch der systematischen Selbstkritik war in westlichen Sphären in den letzten Jahrzehnten durchschlagender Erfolg beschieden. Wer heute wem, welcher Partei, Richtung und Programm auch immer zustimmt und bejaht, läuft Gefahr, sich als jemand zu blamieren, dem es am gebotenen Durchblick und an Mut mangelt. Wer in kritischer Distanz wozu auch immer verharrt, hat selbstredend immer Recht und erhöht damit auch den Preis seiner vorbehaltlichen Zustimmung zu einem Projekt. Alle werden kritische Geister. Die Paradoxie einer solchen Konjunktur ist absehbar. Es gibt heute, nach dem so erhellenden wie bösen Wort von Norbert Bolz, einen Konformismus des Anderssein.5 Jeder wirft jedem vor, konventioneller, affirmativer und weniger kritisch als man selbst zu sein. Alle denken in dieselbe Richtung, nämlich quer, und also wird der ‚Querdenker‘ zum intellektuellen Massentypus. Schon Hegel hat über den homogenen Konformismus etwa der Kulturkritik um 1800 gespottet und dabei verletzende Formulierungen nicht gescheut. Heißt es doch an berühmter Stelle, nämlich in der Einleitung seiner Ästhetik, im Kontext einer Erörterung der zeitgenössischen Diagnose, die Verhältnisse seien prosaisch, die Kunst werde missachtet und der moderne Mensch lebe in entfremdeten Kontexten: „Wenn man es liebt, sich in Klagen und Tadel zu gefallen, so kann man diese Erscheinung für ein Verderbnis halten und sie dem Übergewichte der Leidenschaften und eigennützigen Interessen zuschreiben, welche den Ernst der Kunst wie ihre Heiterkeit verscheuchen; oder man kann die Not der Gegenwart, den verwickelten Zustand des bürgerlichen und politischen Lebens anklagen, welche dem in kleinen Interessen befangenen Gemüt sich zu den höheren Zwecken der Kunst nicht zu befreien vergönne, indem die Intelligenz selbst dieser Not und deren Interessen in Wissenschaften dienstbar sei, welche nur für solche Zwecke Nützlichkeit haben, und sich verführen lasse, sich in diese Trockenheit festzubannen.“6
5 Norbert Bolz: Die Konformisten des Anderssein – Ende der Kritik. München 1999. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I; in: ders.: Werke, Bd. 13, edd. Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer. Ffm 1970, p. 24.
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Der Unterton von Hegels Diatribe ist deutlich und verletzend. Beliebiges kritisieren (etwa die Männer, die Frauen, die Ökonomie, die Politik, das Leben, die Kunst, das Wetter), also dies und das kritisieren, kann, liberale Verhältnisse vorausgesetzt, jeder Trottel. Loben, rühmen und bejahen – das sind hingegen Vollzüge, die auf exquisite Fähigkeiten, nämlich auf eine seltene Verbindung von, um nochmals eine Wendung Hegels zu bemühen, Kraft und Verstand schließen lassen. Nietzsche hat Kraft und Verstand mit dem ihm eigentümlichen Aristokratismus offensiv für sich in Anspruch genommen. Ihm lag dabei ersichtlich nicht an wohlfeiler Provokation. Denn dass auch er sich auf das Geschäft einer scharfen Kritik versteht, hat er ja vielfach deutlich gemacht. Auch hier genügen nur einige schlagwortartige Hinweise: Die Geburt der Tragödie ist die denkbar schärfste Kritik an der Betriebsblindheit einflussreicher Philologen und Interpreten; Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen sind ein geradezu klassischer Fall gescheiter und hellwacher Kulturkritik, und seine späten Schriften gegen Wagner oder sein Fluch auf das Christentum legen nun wirklich nicht den Verdacht nahe, Nietzsche sei kritikunfähig oder -unwillig gewesen. Umso aufschlussreicher ist die Volte, die Nietzsche vollzieht, wenn er z. B. in Ecce homo schreibt: „Dieses Buch [Jenseits von Gut und Böse, J. H.] ist in allem Wesentlichen eine Kritik der Modernität, die modernen Wissenschaften, die modernen Künste, selbst die moderne Politik nicht ausgeschlossen, nebst Fingerzeigen zu einem Gegensatz-Typus, der so wenig modern als möglich ist, einem vornehmen, einem jasagenden Typus.“ (II , 1141 EH ) Diesen jasagenden Typus hat Nietzsche nur zweimal in hinreichender Vollendung gefunden und zwar ausgerechnet in unüberbietbar klassischen Kontexten: im antiken Griechenland und in Goethe. Siehe, das Gute liegt so nah. Nietzsche und die Weltliteratur – das ist eben auch die Suche nach einer Literatur, die auf kluge Weise ‚ja‘ zu sagen versteht. Ein Such-Projekt, dessen Energie sich ersichtlich auch aus der Geschichte der enttäuschten Liebe zum Musikdrama Richard Wagners speist. Der frühe Dionysiker Wagner hatte in Nietzsches Perspektive versprochen, genau diesen Gegensatz-Typus eines vornehmen Jasagers als eine heroische Möglichkeit auch und gerade der Moderne ins Recht zu setzen – und hatte sich dabei in dem Maße versprochen, in dem er wieder weltkritisch, metaphysisch und pessimistisch wurde. Denn damit verfehlt er das, was die griechische Kultur für Nietzsche so unwiderstehlich machte, nämlich „die Psychologie
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des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt. [Sie] gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten mißverstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauers zu beweisen, daß sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegen-Instanz zu gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen, der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – das nannte ich dionysisch, das erriet ich als die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters. Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen – so verstand es Aristoteles –: sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schließt. Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausging – die Geburt der Tragödie war meine erste Umwertung aller Werte: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft….“ (II , 1032 G-D) Dieser Lehrer hat seinerseits einen Lehrer, der die große Kunst der Affirmation beherrscht und vorgespielt hat. Er trägt den Namen Goethe. Zwei ebenso berühmte wie nachhaltig irritierende Texte Goethes genügen, um plausibel zu machen, warum Nietzsche sich im Hinblick auf seine Goethe-Bewunderung von keinem Zeitgenossen überbieten lassen mochte (und Nietzsches Zeit war noch eine Epoche, in der Schillers Prestige weit höher war als das Goethes). Der erste Text ist Goethes spätes Gedicht Der Bräutigam. Es macht in all seiner suggestiven Schönheit sofort, nämlich schon bei der ersten Lektüre klar, welchem Motiv es seinen unwiderstehlichen Reiz verdankt – nämlich seiner subtil durchgehaltenen Liebe zum Paradox. Denn alsbald wird erstens deutlich, dass der Bräutigam eben kein Bräutigam, sondern ein Witwer ist; zweitens, dass die Schwelle, die das Gedicht begrifflich wie motivlich evoziert, nicht so sehr die zwischen der ledigen und der verheirateten Lebensphase, sondern die zwischen Leben und Tod ist; und drittens, dass das entbehrungsreiche und ersichtlich kritikbedürftige Leben, von dem das Gedicht beeindruckend lakonisch berichtet, dennoch mit überraschendem Pathos als ein gutes Leben gefeiert wird.
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Der Bräutigam Um Mitternacht – ich schlief, im Busen wachte Das liebevolle Herz, als wär es Tag; Der Tag erschien, mir war, als ob es nachte – Was ist es mir, soviel er bringen mag. Sie fehlte ja, mein emsig Tun und Streben, Für sie allein ertrug ich’s durch die Glut Der heißen Stunde; welch erquicktes Leben Am kühlen Abend! lohnend war’s und gut. Die Sonne sank, und Hand in Hand verpflichtet Begrüßten wir den letzten Segensblick, Und Auge sprach, ins Auge klar gerichtet: Von Osten, hoffe nur, sie kommt zurück. Um Mitternacht – der Sterne Glanz geleitet Im holden Traum zur Schwelle, wo sie ruht. O sei auch mir dort auszuruhn bereitet, Wie es auch sei, das Leben, es ist gut.7 Diese Zeilen und die Schlußzeile zumal sind nun ersichtlich eine Provokation, die sich paradoxerweise der Ungeheuerlichkeit ihrer Affirmationslust verdankt. Heißt es doch ausdrücklich, sentenziös und in einer Allgemeinheit, die der Spezifikationslust des lyrischen Genres eklatant widerspricht: „wie es auch sei, das Leben, es ist gut“. Der Einspruch liegt nahe: dieses „wie es auch sei“ kann doch nicht ernst gemeint sein. Denn jedem werden sofort zahllose lyrikfähige, pathetische, passionierte Geschichten und Exempla von Krankheit, Leiden, Tod, Trennung, Verzweiflung und schreiendstem Unrecht einfallen, die diese Aussage eigentlich verbieten. Goethe aber hat sie offenbar so ernst gemeint, dass er sie an herausgehobener Stelle, nämlich im berühmten Türmerlied aus Faust II wiederholte.
7 Johann Wolfgang von Goethe: Der Bräutigam; in: ders: Gedichte 1800 – 1832, l. c., p. 702.
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Tiefe Nacht
LYNKEUS DER TÜRMER auf der Schloßwarte, singend.
Zum Sehen geboren, Zum Schauen bestellt, Dem Turme geschworen, Gefällt mir die Welt. Ich blick’ in die Ferne, Ich seh’ in der Näh’ Den Mond und die Sterne, Den Wald und das Reh. So seh’ ich in allen Die ewige Zier, Und wie mir’s gefallen, Gefall’ ich auch mir. Ihr glücklichen Augen, Was je ihr gesehn, Es sei wie es wolle, Es war doch so schön! Pause.8
Auch hier die provokante Verallgemeinerung „es sei wie es wolle“. Und auch hier eine Lust an der Paradoxie. Sie betrifft zwar nicht die Qualität des Gesehenen; denn das, was der Türmer schaut (Mond, Sterne, Wald, Reh und ewige Zier), verdient anders als das, was der Bräutigam erfuhr, ersichtlich das Prädikat „gut“. Paradox ist allerdings, dass dieses Prädikat eben nicht nur für das Aufgezählte (übrigens handelt es sich um geradezu irritierend konventionelle Motive – Mond, Sterne, Wald, Reh), sondern eben stellvertretend für „alles“ gilt: „so seh’ ich in allen / Die ewige Zier“ und „was je ihr gesehn“. Dass derjenige, dem nicht nur einzelnes, sondern schlechthin alles gefällt, auch noch sich selbst gefällt, dass ihm der gefällt, dem alles gefällt, dass er zum schön-und-gut-sagen selbst auch noch „das ist schön und gut“ sagt – das ist so etwas wie die ultimative Provokation, die von einem ersichtlich gut gelaunten, sein Dasein behaglich (ein Lieblingswort Goethes) genießenden (ebenfalls ein Lieblingswort des Jasagers Goethe) Türmer ausgeht. Klug, wie Goethe ist, hat er sein Lob des Lobens und seine 8 Johann Wolfgang von Goethe: Faust II , l. c., p. 436.
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Gutheißung des Gutheißens mit einigen Paradoxiesignalen versehen. Derjenige, der Welt und Dasein gut findet, ist ein „Türmer“, bewohnt also, einem Topos entsprechend, eben die Immobilie, die Schutz vor den Unbilden der Welt bietet. Und er, der zum Schauen bestellt ist, spricht seine Durchblickerworte ausgerechnet in „tiefer Nacht“. Ein Elfenbeinturm, in den sich ein von den Niederungen weltlicher Ereignisse angeekelter Kopf zurückzieht, ist der Turm des Lynkeus dennoch nicht. Gerade aufgrund der Distanz, die der Blick vom Turm in tiefer Nacht auf Sein, Welt und Dasein gewährt, kann der Türmer zu seiner tiefen Affirmation kommen. Nietzsche hat in dieser Geste eines so grundsätzlichen wie abgründigen Ja-Sagens Goethes größte Leistung gesehen. „Man könnte sagen, daß in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert das alles auch erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheißen, ein An-sichheran-kommen-lassen von jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Tatsächlichen. Wie kommt es, daß das GesamtErgebnis kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, zum achtzehnten Jahrhundert zurückzugreifen? (– zum Beispiel als Gefühls-Romantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Feminismus im Geschmack, als Sozialismus in der Politik). Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloß ein verstärktes verrohtes achtzehntes Jahrhundert, das heißt ein décadence-Jahrhundert? So daß Goethe nicht bloß für Deutschland, sondern für ganz Europa bloß ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre?“ (II / 1025 G-D) Auf die Frage, wie es denn komme, dass die Geste der Kritik eine so beeindruckende neuzeitlich-moderne Karriere erlebt hat, hat Nietzsche eine überraschende Antwort bereit. Neuzeit und Moderne sind nicht wirklich das, was sie zu sein versprechen. Sind sie doch weit weniger neu und modern, als es den Anschein hat. Denn sie setzen das platonisch-christliche Grunddesign fort: das einer Zweiweltenlehre, die zwischen richtigem und falschem Leben, zwischen ewigen Werten und zeitlichen Verfehlungen, zwischen Sollen und Sein, zwischen Erlösung und Verfehlung unterscheidet. Diesem binären Design sind gerade auch die meisten der cartesianisch-kantisch-marxistischen etc. Theorien und Weltanschauungen verfallen, die sich als spezifisch neuzeitlich oder modern präsentieren. Sie überwinden nicht die Metaphysik und Ontotheologie der Zweiweltenlehre, sondern verleihen ihr (etwa
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zwischen res cogitans und res extensa, zwischen transzendental und empirisch, zwischen befreitem Sozialismus und Gefangenschaft im Kapitalismus unterscheidend) vielmehr neue Kraft. Kurzum: es steckt viel mehr Mittelalter in der Neuzeit, als ihren kritischen Zeitgenossen lieb ist. Um es böse auszudrücken: wer kritisch ist, muss gläubig sein. Den Typus des gläubigen Kritikers hat Nietzsche in der Figur des I-A-sagenden Esels verletzend scharf charakterisiert: „Plötzlich aber erschrak das Ohr Zarathustras: die Höhle nämlich, welche bisher voller Lärmens und Gelächters war, wurde mit einem Male totenstill; – seine Nase aber roch einen wohlriechenden Qualm und Weihrauch, wie von brennenden Pinien-Zapfen. / ‚Was geschieht? Was treiben sie?‘ fragte er sich und schlich zum Eingange heran, daß er seinen Gästen, unvermerkt, zusehen könne. Aber, Wunder über Wunder! was mußte er da mit seinen eignen Augen sehn! / ‚sie sind alle wieder fromm geworden, sie beten, sie sind toll!‘ – sprach er und verwunderte sich über die Maßen. Und, fürwahr! alle diese höheren Menschen, die zwei Könige, der Papst außer Dienst, der schlimme Zauberer, der freiwillige Bettler, der Wanderer und Schatten, der alte Wahrsager, der Gewissenhafte des Geistes und der häßlichste Mensch: sie lagen alle gleich Kindern und gläubigen alten Weibchen auf den Knien und beteten den Esel an. Und eben begann der häßlichste Mensch zu gurgeln und zu schnauben, wie als ob etwas Unaussprechliches aus ihm herauswolle; als er es aber wirklich bis zu Worten gebracht hatte, siehe, da war es eine fromme seltsame Litanei zur Lobpreisung des angebeteten und angeräucherten Esels. / Diese Litanei aber klang also: / Amen! Und Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Stärke sei unserm Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit! / – Der Esel aber schrie dazu I-A. / Er trägt unsre Last, er nahm Knechtsgestalt an, er ist geduldsam von Herzen und redet niemals nein; und wer seinen Gott liebt, der züchtigt ihn. / – Der Esel aber schrie dazu I-A. / Er redet nicht: es sei denn, daß er zur Welt, die er schuf, immer ja sagt: also preist er seine Welt. Seine Schlauheit ist es, die nicht redet: so bekömmt er selten Unrecht. / – Der Esel aber schrie dazu I-A. / Unscheinbar geht er durch die Welt. Grau ist die LeibFarbe, in welche er seine Tugend hüllt. Hat er Geist, so verbirgt er ihn; jedermann aber glaubt an seine langen Ohren. / – Der Esel aber schrie dazu I-A. / Welche verborgene Weisheit ist das, daß er lange Ohren trägt und allein ja und nimmer nein sagt! Hat er nicht die Welt erschaffen nach seinem Bilde, nämlich so dumm als möglich? / Der Esel aber schrie dazu I-A. / Ist deine Unschuld, nicht zu wissen, was Unschuld
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ist. / Der Esel aber schrie dazu I-A. / Siehe doch, wie du niemanden von dir stößest, die Bettler nicht, noch die Könige. Die Kindlein lässest du zu dir kommen, und wenn dich die bösen Buben locken, so sprichst du einfältiglich I-A. / Der Esel aber schrie dazu I-A. / Du liebst Eselinnen und frische Feigen, du bist kein Kostverächter. Eine Distel kitzelt dir das Herz, wenn du gerade Hunger hast. Darin liegt eines Gottes Weisheit. / – Der Esel aber schrie dazu I-A.“ (II / 547 sq. Z) Zwischen dem dionysischen Ja-Sagen und dem I-A-Rufen des Esels liegt eine nicht nur phonetische Differenz. Die Pointe der zitierten Passage aber ist, dass selbst und noch der Esel über eine Einsicht verfügt, die Absolutisten der Kritik versagt ist. Die ausdrücklich an Nietzsches ‚Ja‘-sagende Geste anknüpfende Dekonstruktion Derridas hat diese Einsicht in dichte Theorieworte gefasst: „Der verlorenen oder unmöglichen Präsenz des abwesenden Ursprungs zugewandt, ist diese strukturalistische Thematik der zerbrochenen Unmittelbarkeit also die traurige, negative, nostalgische, schuldige und rousseauistische Kehrseite jenes Denkens des Spiels, dessen andere Seite Nietzsches Bejahung darstellt, die fröhliche Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist. Diese Bejahung bestimmt demnach das N i c h t-Z e n t r u m anders denn als Verlust des Zentrums. Sie spielt, ohne sich abzusichern. Denn es gibt ein sicheres Spiel: dasjenige, das sich beschränkt auf die Substitution vorgegebener, existierender und präsenter Stücke. Im absoluten Zufall liefert sich die Bejahung überdies der genetischen Unbestimmtheit aus, dem seminalen Abenteuer der Spur (l’aventure séminale de la trace).“9 In Verse, die, obwohl sie befremden, ansprechender sind als solche Theorieworte, hat Gottfried Benn Nietzsches ursprüngliche Einsicht gebannt. Sils-Maria I In den Abend rannen die Stunden, er lauschte im Abhangslicht 9 Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen; in: ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. Rodolphe Gasché. Ffm 1972, p. 441.
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ihrer Strophe: „alle verwunden, die letzte bricht …“ Das war zu Ende gelesen. Doch wer die Stunden denkt: Ihre Welle, ihr Spiel, ihr Wesen, der hat die Stunden gelenkt -: Ein Alles-zum-Besten-Nenner Den trifft die Stunde nicht, ein solcher Schattenkenner der trinkt das Parzenlicht. II
Es war kein Schnee, doch Leuchten, das hoch herab geschah, es war kein Tod, doch deuchten sich alle todesnah – es war so weiß, kein Bitten durchdrang mehr das Opal, ein ungeheures: Gelitten stand über diesem Tal.10
10 Gottfried Benn: Sils-Maria; in: ders.: Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe) – Gedichte 1, ed. Gerhard Schuster. Stuttgart 2002 (2.), p. 146. Das im Oktober 1933 entstandene Gedicht übersetzt formelhaft einen lateinischen Spruch, den Gottfried Benn in einem Brief an F. W. Oelze vom 9. August 1936 erwähnt: „Lasen Sie zufällig in einem früheren Aufsatz von mir den Spruch, den ich auf einer Sonnenuhr in einem kleinen Ort der Pyrenäen, nahe Hendaye, fand, zwischen den Zahlen der Stunden stand: ‚vulnerant omnes, ultima necat‘.“ (Briefe an F. W. Oelze, ed. H. Steinhagen/J. Schröder, Bd. I. Wiesbaden/München 1977, p. 138). Gemeint ist Benns Essay Pessimismus, der erst 1949 in der Sammlung Ausdruckswelt erschien und in dem es heißt: „Omnia fui et nihil expedit. Das Spiel ist die Kerzen nicht wert. Vulnerant omnes, ultima necat. ‚Alle verwunden, die letzte tötet‘, gemeint sind die Stunden – Inschrift auf dem Zifferblatt einer mittelalterlichen Sonnenuhr.“ (zit. nach dem Kommentar zu Gedichte 1, l. c., p. 406 sq.)
11. Sich in Stimmung bringen – Über poetisches und mediales mood-and-mind-management
Stimmen. Stimmung. (Musik) Von der richtigen Stimmung der Instrumente hängt bey der Aufführung der Tonstüke die Reinigkeit der Harmonie, folglich ein beträchtlicher Theil der guten Würkung eines Stüks ab. Wir haben deswegen für nöthig erachtet, in diesem Artikel das was zur richtigen Stimmung der verschiedenen Instrumente gehört, ausführlich vorzutragen. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771) Hausfrieden und Seelenfrieden. – Unsere gewöhnliche Stimmung hängt von der Stimmung ab, in der wir unsere Umgebung zu erhalten wissen. Nietzsche: Morgenröte
Der alte Briest und seine deutlich jüngere Frau sind in heiterer und guter Stimmung. Ihre gerade einmal siebzehn Jahre alte bzw. junge Tochter hat am Vortag Baron von Instetten geheiratet, der vor achtzehn Jahren schon der Brautmutter den Hof gemacht hatte, aber damals noch ein wenig zu jung zum Heiraten war. Das nun frisch vermählte Paar, also ein nicht mehr ganz junger Mann und eine Fast-noch-Kindfrau, ist zur Hochzeitsreise aufgebrochen, und die Brauteltern sitzen entspannt zusammen, um die vergangenen, gegenwärtigen und erwartbaren Ereignisse Revue passieren zu lassen. Dabei kommen sie nicht umhin, auch das eine oder andere ein wenig heikle Thema zumindest zu streifen. Die gelassene, gute Stimmung droht deshalb mitunter zu kippen, aber das in fast zwei Ehejahrzehnten gut aufeinander eingestimmte Ehepaar versteht sich auf die Kunst, Stimmungen und
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Stimmungsschwankungen nicht nur als gegebene oder vorgegebene, sondern auch als machbare oder zumindest beeinflussbare Mächte zu verstehen. „Briest war schon bei der dritten Zigarette, sah sehr wohl aus und erklärte, ‚nichts bekomme einem so gut wie eine Hochzeit, natürlich die eigene ausgenommen.‘ / ‚Ich weiß nicht, Briest, wie du zu solcher Bemerkung kommst. Mir war ganz neu, daß du darunter gelitten haben willst. Ich wüßte auch nicht, warum.‘ / ‚Luise, du bist eine Spielverderberin. Aber ich nehme nichts übel, auch nicht einmal so was. Im Übrigen, was wollen wir von uns sprechen, die wir nicht einmal eine Hochzeitsreise gemacht haben. Dein Vater war dagegen. Aber Effi macht nun eine Hochzeitsreise. Beneidenswert. Mit dem Zehnuhrzug ab. Sie müssen jetzt schon bei Regensburg sein, und ich nehme an, daß er ihr – selbstverständlich ohne auszusteigen – die Hauptkunstschätze der Walhalla herzählt. Innstetten ist ein vorzüglicher Kerl, aber er hat so was von einem Kunstfex, und Effi, Gott, unsere arme Effi, ist ein Naturkind. Ich fürchte, daß er sie mit seinem Kunstenthusiasmus etwas quälen wird.‘ / ‚ Jeder quält seine Frau. Und Kunstenthusiasmus ist noch lange nicht das Schlimmste.‘ / ‚Nein, gewiß nicht; jedenfalls wollen wir darüber nicht streiten; es ist ein weites Feld. Und dann sind auch die Menschen so verschieden. Du, nun ja, du hättest dazu getaugt. Überhaupt hättest du besser zu Innstetten gepaßt als Effi. Schade, nun ist es zu spät.‘ / ‚Überaus galant, abgesehen davon, daß es nicht paßt. Unter allen Umständen aber, was gewesen ist, ist gewesen. Jetzt ist er mein Schwiegersohn, und es kann zu nichts führen, immer auf Jugendlichkeiten zurückzuweisen.‘ / ‚Ich habe dich nur in eine animierte Stimmung bringen wollen.‘ / ‚Sehr gütig. Übrigens nicht nötig. Ich bin in animierter Stimmung.‘ / ‚Und auch in guter?‘ / ‚Ich kann es fast sagen. Aber du darfst sie nicht verderben.‘“1 Die kleine Szene hat es in sich – gerade dann, wenn man sie stimmungstheoretisch animiert liest, was der Text selbst ja nahelegt. Denn die beiden Ehepartner reflektieren nach ihrem souveränen Wortwechsel genau darüber, ob man in dieser oder jener Stimmung ist (Fontane lässt das Verb „bin“ kursiv setzen und Frau von Briest prononciert „Ich bin in animierter Stimmung“ sagen) oder aber ob man bzw. frau in diese oder jene Stimmung gebracht wird bzw. sich selbst bringt. 1 Theodor Fontane: Effi Briest – Roman; in: ders.: Romane und Erzählungen in acht Bänden, Bd. 7, edd. Peter Goldammer, Gotthard Erler, Anita Golz, Jürgen Jahn. Berlin und Weimar 1973, p. 39 sq.
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Diese Ambivalenz durchzieht die gesamte Textpassage. Allein der Umstand, dass Briest schon bei der dritten Zigarette angelangt ist, lässt nicht erst in Zeiten, in denen Majestätsbeleidigungen, Kuppeleien und Blasphemien entkriminalisiert werden, Rauchen aber fast schon als Kapitalverbrechen verfolgt wird (schreibt ein Nichtraucher, der misstrauisch gestimmt ist und fürchtet, dass bald auch der Alkoholkonsum unter Hinweis auf die Gefahren verboten wird, die vom Passivtrinken ausgehen), die Frage aufkommen, ob sich hier jemand im großzügigen Umgang mit sich selbst einen entspannten Genuß gönnt oder aber durch Drogenkonsum eine angespannte Stimmung vertreiben will. Sätze wie „nichts bekomme einem so gut wie eine Hochzeit, natürlich die eigene ausgenommen“, Unterstellungen wie ‚du hättest besser zum nicht ganz unproblematischen Schwiegersohn gepasst als unsre Tochter‘ aus dem Mund des Ehegatten oder eine Sentenz wie „jeder quält seine Frau“ aus dem Mund der Ehefrau könnten auch anders als mit den Bemerkungen wie „überaus galant“, „sehr gütig“ und „wir wollen darüber nicht streiten“ quittiert werden. Ersichtlich sind hier zwei Menschen bemüht, Contenance zu wahren, nicht aus der Fassung zu geraten und sich die Stimmung nicht verderben zu lassen. Stimmungen und Gestimmtheiten sind immer schon da. In Heideggers Worten: „Das Dasein [ist] je schon immer gestimmt. […] In der Gestimmtheit ist immer schon stimmungsmäßig das Dasein als das Seiende erschlossen, dem das Dasein in seinem Sein überantwortet wurde als dem Sein, das es existierend zu sein hat.“2 Man kann nicht nicht so oder so gestimmt sein.3 Gerade weil das so ist, versuchen wir vieles, um unsere Stimmung zu beeinflussen, ja um über unsere Stimmung zu bestimmen, selbst zu bestimmen, so gut das eben geht. „Animierte Stimmung“ lautet die Wendung, die beide Ehepartner übereinstimmend, also harmonisch und doch zugleich dissonant verwenden. Diese Wendung ist latent tautologisch. Denn das Wort ‚animieren‘ – daran erinnert nicht allein der ‚gentil animateur‘ in Ferienclubs – leitet sich direkt vom lateinischen Wort ‚anima‘ ab, das ja die gestimmte Seele meint. So wie 2 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1967 (11.), p. 134 sqq. Cf. dazu Hinrich Fink-Eitel: Die Philosophie der Stimmungen in Heideggers ‚Sein und Zeitʼ; in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 17/3 (1992), pp. 27 – 44. 3 Cf. Ingrid Vendrall Ferran: Die Emotionen – Gefühle in der realistischen Phänomenologie. Berlin 2008. Die Arbeit enthält ein aufschlussreiches Kapitel über fiktionale Emotionen, die rätselhaft sind, weil sie z. B. bei der Lektüre von Romanen entstehen, obwohl der Leser weiß, dass die erzählten Personen und Handlungen inexistent sind.
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Instrumente gestimmt werden müssen, um im Orchester polyphon, aber doch assonant erklingen zu können, so müssen Stimmungen animiert, also aufeinander ab- und miteinander eingestimmt werden. Das kann brachial geschehen – etwa mit dem üblichen Karnevals-Imperativ ‚Stimmung!‘, dem ein dreifacher Tusch und ein konditionierter Reflex alkoholisierter Massen folgt, die gemeinsam nicht schön, aber laut so sinnvolle Silben wie ‚Helau‘ oder ‚Alaaf‘ brüllen. Das kann aber auch fein dosiert und des Umstands eingedenk erfolgen, dass der Versuch des einen, die Stimmung des anderen zu animieren, auf den konkurrierenden Versuch des anderen treffen wird, den einen in eine ihm, dem anderen, gefällige Stimmung einzustimmen. Beim Versuch der Stimmungsmache müssen wir geradezu obligatorisch die Erfahrung machen, dass es viele Mächte gibt, die bei diesem Spiel mitspielen und die uns die Stimmung verderben können – z. B. dadurch, dass sie das Spiel so ernst nehmen, wie es der alte Briest seiner Frau vorwirft, die auf eine Frozzelei ihres Mannes verstimmt reagiert („Luise, du bist eine Spielverderberin. Aber ich nehme nichts übel, auch nicht einmal so was.“). Medien spielen nicht nur bei massensuggestiver Stimmungsmache, sondern auch bei feindosierter individueller Stimmungseinstimmung eine entscheidende Rolle. Denn sie bieten sich als Mittel der Stimmungsbeeinflussung von jeher an. Wie das geht, müssen auch eine junge Schauspielerin und ein Schriftsteller erfahren. Wie es geht lautet der lakonische Titel einer kurzen Prosaskizze von Peter Altenberg. Der Text aus der 1896 erschienenen Sammlung Wie ich es sehe des notorischen Kaffeehausbesuchers und Wiener Bohemiens ist schnell zitiert: „Sie war eine ganz kleine Schauspielerin des Sommertheaters, hatte Himmels-Augen und hungerte. / ‚Ich möchte Ihnen einmal Jeane [sic] Eyre vorspielen‘ sagte sie zu einem jungen Schriftsteller. / ‚Kommen Sie zu mir‘ sagte er. / ‚Oh‘, sagte sie, ‚erlauben Sie es mir?!‘ / Sie spielte es ihm vor. / Er lobte sie, brachte sie in eine glückliche Stimmung. / Dann küsste er sie, drückte sie an sich ---. / ‚Gott beschütze mich‘ sagte sie und überliess sich dem Schicksale. / Sie behielt ihre Himmels-Augen, hungerte und deklamierte Jeane [sic] Eyre, ihre Glanzrolle ---.“4 Wer sich in Stimmung bringen will, ist gut beraten, wenn er oder sie dabei nicht nur Stimulanzien wie Zigaretten, Wein oder härtere Drogen, sondern auch Medien einsetzt. Die ganz kleine 4 Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 1914 (9.), p. 39 sq.
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Schauspielerin des Sommertheaters weiß das ebenso wie der junge Schriftsteller. Sie spielt ihm J(e)ane Eyre vor, und er bringt sie durch Lob für ihr Spiel in eine glückliche Stimmung. Bei genauer Lektüre fällt allerdings auf, dass die junge Schauspielerin ihm, dem Schriftsteller, nicht etwa sie, nämlich J(e)ane Eyre oder sich selbst, sondern „es“ vorspielt („Sie spielte es ihm vor.“) und dass sie sich nach der glücklichen Erzeugung einer glücklichen Stimmung dem Schicksal, also dem überlässt, was sich selbst von einem souveränen Spieler-Subjekt nicht herstellen lässt, weil es uns zugesandt, eben geschickt wird. Um die Spannung zwischen dem unbeeinflussbaren Schicksal und der machbaren Stimmung geht es auch in Büchners Lustspiel Leonce und Lena. In einem seiner Mittelpunkte – das Stück ist tatsächlich eine Stückesammlung, es hat mehrere exzentrische Zentren – in einem seiner sprachspielerisch umtriebigen Mittelpunkte steht die Frage, wie geschickt sich mit dem Schicksal spielen lässt, was schicklich ist und welche Stimme welche Stimmung freisetzen kann. Leonce ist die Inkarnation des Antriebslosen, der sich selbst keine Stimmung verschreibt, sondern eine Stimmung vorgeben, ja vorschreiben lässt. Nicht umsonst ist ‚Gelassenheit‘ ein vieldeutiges Leitwort des melancholischen Lustspiels. „VALERIO [zu Leonce, der sich in den Fluss stürzen will, J. H.] Halt, Serenissime! / L EONCE Laß mich! / VALERIO Ich werde Sie lassen, sobald Sie gelassen sind und das Wasser zu lassen versprechen. / LEONCE Dummkopf! / VALERIO Ist denn Eure Hoheit noch nicht über die Lieutenantsromantik hinaus: das Glas zum Fenster hinauszuwerfen, womit man die Gesundheit seiner Geliebten getrunken? / L EONCE Ich glaube halbwegs, du hast Recht. / VALERIO Trösten Sie sich. Wenn Sie auch nicht heut nacht unter dem Rasen schlafen, so schlafen Sie wenigstens darauf. Es wäre ein eben so selbstmörderischer Versuch, in eins von den Betten gehn zu wollen. Man liegt auf dem Stroh wie ein Toter, und wird von [den Flöhen] gestochen, wie ein Lebendiger. / LEONCE Meinetwegen. Er legt sich ins Gras. Mensch, du hast mich um den schönsten Selbstmord gebracht. Ich werde in meinem Leben keinen so vorzüglichen Augenblick mehr dazu finden, und das Wetter ist so vortrefflich. Jetzt bin ich schon aus der Stimmung. Der Kerl hat mir mit seiner gelben Weste und seinen himmelblauen Hosen Alles verdorben. – Der Himmel beschere mir einen recht gesunden, plumpen Schlaf!“5 5 Georg Büchner: Leonce und Lena, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bdn, ed. Henri Poschmann. Ffm 1992, p. 118 sq.
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Selbstmord zu begehen, weil man tief und anhaltend verstimmt ist, setzt über diese depressive Verstimmtheit hinaus einen Entschluss und ein Mindestmaß an Tatkraft voraus. Daran aber mangelt es Leonce, und selbst, wenn es ihm daran nicht mangelte, würde er nicht Hand an sich legen, ist er doch „schon aus der Stimmung“ heraus, die den Suizid nahelegt. Das unterscheidet und das verbindet ihn mit dem berühmtesten aller literarischen Selbstmörder, mit Werther. Auf ihn spielt die Wendung von der gelben Weste deutlich an. Mit Werther teilt Leonce schnelle Stimmungswechsel, von ihm unterscheidet ihn neben anderen Aspekten die Willensschwäche. Werther will durchaus Herr seiner Stimmungen sein, Leonce hingegen will sich bestimmen lassen.6 Werther weiß, wie man durch Mediennutzung, etwa durch Klopstock-Evokation oder Walzer-Musik, eine, seine bzw. die bei und für Lotte erwünschte Stimmung erzeugt; er muss jedoch die Erfahrung machen, dass der Wortsinn von Poesie (= Machen, Herstellen) an Grenzen stößt, die auf Nicht-Herstellbares verweisen. Aus der Herrschaft über selbsterzeugte Stimmungen wird die Abhängigkeit von Stimmen und Stimmungen, die Werther in ihrer Gewalt haben. Wer sich das Leben nimmt, weil er depressiv verstimmt ist, mag den Trost genießen, Herr seiner Entscheidung zu sein und sich selbst den Tod zu geben. Stimmungen stellen sich ein und her im Grenzbereich von Nehmen und Geben, von Sich-etwas-Herausnehmen und etwas Hergeben-müssen, von Nomos und Gabe. Wer in der Literatur nach Szenen sucht, in denen sich Protagonisten Stimmungen medial verschreiben (wollen), wird vielfach fündig werden. Zwei Referenzen stellen sich dabei geradezu obligatorisch ein. Die erste ist die altehrwürdige Katharsis-Theorie der aristotelischen Poetik. An ihr wird allerdings häufig übersehen, dass sie nicht nur eine Medienwirkungstheorie vorschlägt, sondern auch als eine auf Rezipienten(entscheidungen) fokussierte Mediennutzungstheorie zu verstehen ist. Schon die Poetik des Aristoteles weist nämlich eindringlich darauf hin, dass Gattungsunterschiede (etwa die zwischen der Tragödie und der Komödie oder zwischen Epos und Drama) Stimmungsunterschiede implizieren – und dass sich Rezipienten bewusst für oder gegen diese oder jene Gattung bzw. Stimmung entscheiden
6 Cf. Martin Seel: Sich bestimmen lassen – Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie. Ffm 2002.
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können.7 Der zweite locus classicus für eine poetische StimmungsOptions-Theorie hat immerhin ein geflügeltes Wort freigesetzt: „an jenem Tage lasen wir nicht weiter“, erzählen in Dantes Divina Commedia Paolo und Francesca, als sie dem fassungslosen Besucher des Infernos darlegen, warum sie zu Höllenqualen verdammt wurden – weil die Lektüre einer Liebesszene sie in erotische Stimmung brachte. An beiden Texten, dem theoretischen von Aristoteles und dem poetischen von Dante, fällt auf, dass sie eigentümlich daran interessiert sind, allzu klare Täter-Opfer- oder Stimulus-Response-Schemata zu vermeiden. Wer durch eine Theatervorstellung ergriffen, gar überwältigt wird und dann die Katharsis-Erfahrung macht, von seinen Affekten gereinigt zu werden bzw. die Reinigung seiner Affekte zu erleben und in eine neue Stimmung und Gestimmtheit versetzt zu werden, ist weder Herr und Manager seiner Stimmungen noch bloßes Opfer einer Überwältigungsmaschinerie. Er ist vielmehr bereit, sich beeindrucken und bestimmen zu lassen – immerhin hat er dieses Theater, an dem gerade dieses Stück gespielt wird, aufgesucht, immerhin nimmt er mehr oder weniger billigend in Kauf, dass Regisseur, Dramaturg und Schauspieler mit diesem Text Unterschiedliches anstellen können. Der Theaterbesucher muss dennoch eine Vorahnung dessen haben, was ihn oder sie erwartet, steht doch auf der Ankündigung z. B. „ein Trauerspiel“ oder „ein Lustspiel“. Wer eine Operette besucht, weiß, wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen, was er tut; und ebenso weiß derjenige, der gleich an vier Spätnachmittagen und Abenden den Ring des Nibelungen anhört und ansieht, was er sich antut. Zu diesem Vor-Wissen und zur damit verbundenen Stimmungs-Erwartung gehört es, die Möglichkeit einzukalkulieren, sich von dieser spezifischen Aufführung, diesem Dirigat, dieser Stimme überraschen und bestimmen zu lassen. Die Erfahrung, dass gewünschte und erwartete Stimmungsmodulationen ins Unbestimmbare abdriften können8, müssen auch Paolo und Francesca machen. Ein junges Paar, das sich entschließt, gemeinsam 7 Cf. Aristoteles: Poetik 1149a32 – 1449b20. Emil Staiger fällt hinter diese alte Einsicht in Möglichkeiten, durch Lektürewahl für oder gegen eine bestimmte Stimmung zu optieren, zurück, wenn er in seinen Grundbegriffe(n) der Poetik (Zürich/Freiburg 1968 (8.), p. 57) z. B. formuliert: „Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung. Er gleitet im Strom des Daseins.“ 8 Cf. dazu Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III : Der Raum, 2. Teil: Der Gefühlsraum, Bonn 1969.
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eine der bekanntesten Liebesgeschichten zu lesen, kann seiner Jugend zum Trotz so naiv nicht sein, auszuschließen, dass es sich vom Lesen ab- und dem Leben bzw. Lieben zuwendet. Dennoch werden sie von der Stimmung überwältigt, die sie aufgelesen haben. Juristen würden in solchen Kontexten wohl von billigender Inkaufnahme reden. Thomas Buddenbrook kennt Tolstois Novelle Kreuzersonate und so weiß oder glaubt er doch zu wissen, in welche Stimmung sich seine schöne, aber ein wenig unterkühlte Frau Gerda bringen will, wenn sie zusammen mit einem Galan Beethovens Kreuzersonate spielt. Und Thomas Mann wusste, dass er Literaturwissenschaftlern, die auf der Suche nach Allusionen sind, kräftiges Futter gibt, wenn er in seinem Roman Königliche Hoheit den Duodez-Prinzen und seine reiche amerikanische Freundin nicht weiterlesen lässt, nachdem sie sich über dem Studium von „Lehr- und Handbüchern der Finanzwissenschaft, Ab- und Grundrisse der Staatswirtschaft, systematische Darstellungen der politischen Ökonomie“9 echauffiert haben. Kurzum: sich auf Medienrezeption (und sei es auf die Lektüre finanzwissenschaftlicher Fachliteratur) einzulassen, heißt immer auch, sich in die eigentümliche Sphäre zu begeben, die zwischen Aktiv und Passiv angesiedelt ist – eben in die des Mediums (auch im Sinne der griechischen Verbform Medium, die bestimmten Möglichkeiten der zwischen Aktiv und Passiv changierenden Gelassenheit Ausdruck verleiht). Wir lassen uns, Medien einsetzend und uns Medien aussetzend, auf bestimmte Stimmungen, also auf die Möglichkeit ein, uns von Stimmungen bestimmen zu lassen. Nicht nur Stimmungen, auch Medien- und Stimmungstheorien unterliegen Schwankungen, Konjunkturen und mitunter jähen Wechseln. Der Begriff ‚Zeitgeist‘ ist zwar deutlich häufiger anzutreffen als der der ‚Zeitstimmung‘, doch wir sprechen durchaus von ‚Herbststimmung‘, ‚Adventsstimmung‘ oder ‚Endzeitstimmung‘. Und wir wissen, wie wir diese Stimmung herstellen können (z. B. durch Spaziergänge im Nebel, Anzünden von Kerzen und Singen von Weihnachtsliedern oder Lektüre alarmistischer Literatur). Gerade die Geschichte der Medientheorie kennt viele Endzeitstimmungen; ein apokalyptischer Ton ist ihr nicht fremd. Medientheorien waren seit ihren platonischen Anfängen häufig von Panikstimmungen grundiert. Medien überhaupt im Namen von Unmittelbarkeit zu kritisieren, ist von Platon bis Postman ein übliches 9 Thomas Mann: Königliche Hoheit – Roman; in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurter Ausgabe. Ffm 1984, p. 327.
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Geschäft. Es begreift Mediennutzer als Opfer – users are loosers. Gegen diese Grundthese haben jüngere Mediennutzungstheorien aufbegehrt. So wie die eigentümlich ritualisierten Diskussion darüber, ob der Verzehr von Margarine oder Butter der Gesundheit zu- oder abträglich ist, ob Kleinkinder auf dem Rücken oder auf dem Bauch schlafen sollen, ob Gene oder Umwelt stärker Biographien bestimmen, ersichtlich von Zeitgeist und Zeitstimmung beeinflusst werden, so auch die Diskussion darüber, ob Mediennutzer Opfer der Kultur- und Bewusstseinsindustrie sind, die dies nur nicht merken, weil sie sich zu Tode amüsieren, oder aber ob die Mediennutzer es faustdick hinter den Ohren haben, wenn sie sich über ihren Opferstatus beklagen – können sie doch, heute mehr denn je zuvor, entscheiden, wie und wohin sie surfen, welches Programm sie einschalten und welche Musik sie sich runterladen und anhören. „Mood-and-mind-management“ ist das nüchterne Label, unter dem die Kritiker von Medienopfertheorien angetreten sind. Insbesondere die Arbeiten des amerikanischen Mediennutzungsforschers Dolf Zillmann und von Peter Vorderer10 haben diesem Begriff Prägung und Konturschärfe verliehen. Ihre Leitthese lässt sich schnell angeben bzw. zitieren: „The term ‚mood management‘ stands for a theory that aims to predict people’s choices from media messages. The audience is confronted with an enormous diversity of media channels and messages, thus selectivity in media use is inevitable. Hence, a classic key question in communication research is what drives the choices made by media users. Mood-management theory (Zillmann 1988) has been proposed by Zillmann and Bryant and was initially called the theory of affect-dependent stimulus arrangement (Zillmann & Bryant 1985). The core suggestion is that media users’ moods have a strong influence on media content choices because the individual aims to manage or, more specifically, optimize his or her feeling state. This motivation then 10 Dolf Zillmann: Mood management in the context of selective exposure theory; in: M. E. Roloff (ed.): Communication Yearbook 23, pp. 123 – 145. Dolf Zillmann/Peter Vorderer: Media entertainment – The Psychology of its appeal. 2000. Dolf Zillmann (1988) Mood management: Using television to full advantage. In: Communication, social cognition, and affect. ed. by L. Donohew, J. Bryant & Dolf Zillmann. Hillsdale, N. J.: Erlbaum, pp. 147 – 171. Dolf Zillmann /B. Mody/J. R. Cantor (1974) Empathetic perception of emotional displays in film as a function of hedonic and excitatory state prior to exposure. In: Journal of Research in Personality 8, pp. 335 – 349. R. Mangold, P. Vorderer, G. Bente (edd.): Lehrbuch der Medienpsychologie. Göttingen/Bern/ Toronto/Seattle 2004.
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drives what media content is selected, as different messages produce different effects on mood. This proposed pattern pertains to all media channels and genre types such as → news, music, movies, and online content (→ Internet) – even a → documentary film can be employed to enhance mood as the current ‚frame of mind.‘ (Zillmann 2000, 104).“11 Die Leitthese der mood-and-mind-management-theory leuchtet erst einmal ein, jeder kann sie lebensweltlich mit Beispielmaterial versehen. Wer eine schöne Frau verführen und in erotische Stimmung bringen will, wird sich überlegen, welche Gedichtzeilen er ihr rezitiert, welche Hintergrundmusik er zu welchem Apéritif erklingen lässt und welchen Film er mit ihr gemeinsam sehen möchte. Wer sich während einer Fakultätssitzung über Kollegen geärgert hat, wird auf dem Nachhauseweg andere Musik aus der Audioanlage seines Autos erklingen lassen als derjenige, der gerade erfahren hat, dass er einen Preis für seine herausragenden wissenschaftlichen Leistungen erhält. Wer entspannen will, wird nicht den Walkürenritt hören wollen. Menschen sind, das weiß nicht nur die mood-and-mind-management-theory, sondern auch Peter Sloterdijk, autoplastische Tiere, die sich auf das Kunststück verstehen, sich selbst zu formen und sich eine Fassung zu geben, die immer auch eine Fassung für bestimmte Stimmungen ist. Gerade dann, wenn droht, dass sie die Fassung verlieren, produzieren und managen Menschen die „selbstformenden Verfassungen übenden Lebens“.12 Menschen sind immer schon gestimmte bzw. eingestimmte Anthropotechniker, die ihre Stimmungslagen und Gestimmtheiten vorfinden und zugleich gestalten. Ob Menschen bei ihrem mood-and-mind-management auf Bücher zurückgreifen (müssen – z. B. mangels Alternativen, weil es noch keine gespeicherte und abspielbare Musik und noch keine Filme, DVD s, Fernsehgeräte und Computer gibt) oder aber Maschinen gebrauchen, die audiovisuelle Daten aktivieren, macht einen nicht nur medienhistorisch-technischen, sondern auch einen in jedem Wortsinne medialen Stimmungsunterschied. Das Spezifikum poetisch-autoplastischer Übungen hat Schiller am Ende des 18. Jahrhunderts, wenige Jahre nach dem anthropotechnischen Großversuch der Französischen 11 Silvia Knobloch-Westerwick: Mood Management in: The International Encyclopedia of Communication, ed. Wolfgang Donsbach. O. O. 2008. 12 Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern – Über Anthropotechnik. Ffm 2009, p. 240.
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Revolution herausgestellt, so als wolle er kurz vor den anstehenden medientechnischen Innovationen der Nach-Gutenberg-Ära (also vor Erfindung der Photo-, Phono- und Kinematographie) noch einmal das Pathos der gedruckten Literatur beschwören. In seiner ihre mediale Verfassung schon im Titel bedenkenden Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen aus dem Jahr 1795 betont Schiller die buchenswerten Freiheitsspielräume der Kunst. Sie versetzt Menschen, die allen möglichen natürlichen und sozialen Determinationen erliegen, in einen „ästhetischen Zustand“, dessen Reiz darin besteht, die Kette dieser Determinationen einzuklammern und „ihm nunmehr von Natur wegen“ zu ermöglichen, „aus sich selbst zu machen, was er will“: „In dem ästhetischen Zustande ist der Mensch also Null, insofern man auf ein einzelnes Resultat, nicht auf das ganze Vermögen achtet und den Mangel jeder besondern Determination in ihm in Betrachtung zieht. Daher muß man denjenigen vollkommen Recht geben, welche das Schöne und die Stimmung, in die es unser Gemüt versetzt, in Rücksicht auf Erkenntnis und Gesinnung für völlig indifferent und unfruchtbar erklären. Sie haben vollkommen Recht, denn die Schönheit gibt schlechterdings kein einzelnes Resultat weder für den Verstand noch für den Willen, sie führt keinen einzelnen, weder intellektuellen noch moralischen Zweck aus, sie findet keine einzige Wahrheit, hilft uns keine einzige Pflicht erfüllen und ist, mit einem Worte, gleich ungeschickt, den Charakter zu gründen und den Kopf aufzuklären. (…) Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Wert eines Menschen oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freiheit, zu sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben ist.“13 Eine starke These: Kunst ist ein Medium autoplastischer Freiheit. Sie gibt Menschen die Möglichkeit, aus sich selbst zu machen, was sie wollen – indem sie sich genau zu diesem Projekt in Stimmung bringen, indem sie sich, der Kunst sei Dank, von jeder Be-Stimmung befreien, sich also in kognitiver Hinsicht („in Rücksicht auf Erkenntnis“) ebenso wie in normativ-ethischer Hinsicht („in Rücksicht auf Gesinnung“) „für 13 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bdn, Bd. 8, ed. Rolf-Peter Janz. Ffm 1992, p. 636.
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völlig indifferent“, also selbst-bestimmbar erklären. Schiller selbst ist diese starke These wenige Jahre später problematisch geworden. Zu Beginn eines neuen Jahrhunderts, das das Jahrhundert der Sprengung der Gutenberg-Galaxis gewesen sein wird, genauer am 27. März 1801 schrieb er an Goethe: „Jeden, der im Stande ist, seinen Empfindungszustand in ein Object zu legen, so, daß dieses Objekt mich nöthigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig auf mich wirkt, heiße ich einen Poeten, einen Macher.“14 Diese These muss überraschen, ist sie doch kaum mit der Überlegung zur autoplastischen Kraft, deren Möglichkeitsbedingung im ästhetisch induzierten kognitiv-normativen Null-Zustand liegt, in stimmigen Einklang zu bringen. Zwischen dem Pathos der Behauptung, ein ästhetisch mit Fiktionen umgehender Mensch könne aus sich machen, was er wolle, und der Nüchternheit der Vermutung, es gebe die Nötigung, fremdinduzierte Empfindungszustände übernehmen zu müssen, liegen Welten. Es sind die Welten, die zwischen der Gutenberg-Galaxis und den neuen Medien liegen. Dass die neuen Medien ihren nötigenden Überwältigungscharakter durch n-fach gesteigerte Kombinations- und Optionsmöglichkeiten halbwegs kompensieren, hat die mood-andmind-management-These darzulegen versucht. Sie stellt von einer poetischen (=machenden, herbeiführenden) Entscheidungstheorie der Gestimmtheiten auf eine Cocktailtheorie der Empfindungen um. Zwischen Schillers Selbstbestimmungs-Pathos und dem gegenwärtigen Stand medialen mood-and-mind-managements liegt nicht nur in chronologischer, sondern auch in argumentationslogischer Hinsicht Nietzsches Überlegung über „Die Stimmung als Argument. – Was ist die Ursache freudiger Entschlossenheit zur Tat? – diese Frage hat die Menschen viel beschäftigt. Die älteste und immer noch geläufige Antwort ist: Gott ist die Ursache, er gibt uns dadurch zu verstehen, daß er unserem Willen zustimmt. Wenn man ehemals die Orakel über ein Vorhaben befragte, wollte man von ihnen jene freudige Entschlossenheit heimbringen; und jeder beantwortete einen Zweifel, wenn ihm mehrere mögliche Handlungen vor der Seele standen, so: ‚ich werde 14 Friedrich Schiller: Briefe II , 1795 – 1805; in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bdn, Bd 12, ed. Norbert Oellers. Ffm 2002, p. 563. Goethes Antwortbrief vom 3. bzw. 4. 4. 1801 markiert zu dieser These die schärfste Antithese, obwohl Goethe nur behauptet, „noch weiter“ zu gehen als sein Briefpartner: „Ich glaube daß alles was das Genie, als Genie, thut, unbewußt geschehe.“
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das tun, wobei jenes Gefühl sich einstellt.‘ Man entschied sich also nicht für das Vernünftigste, sondern für ein Vorhaben, bei dessen Bilde die Seele mutig und hoffnungsvoll wurde. Die gute Stimmung wurde als Argument in die Wagschale gelegt und überwog die Vernünftigkeit: deshalb, weil die Stimmung abergläubisch ausgelegt wurde, als Wirkung eines Gottes, der Gelingen verheißt und durch sie seine Vernunft als die höchste Vernünftigkeit reden läßt. Nun erwäge man die Folgen eines solchen Vorurteils, wenn kluge und machtdurstige Männer sich seiner bedienten – und bedienen! ‚Stimmung machen!‘ – damit kann man alle Gründe ersetzen und alle Gegengründe besiegen!“15
15 Friedrich Nietzsche: Morgenröte; in: ders.: Werke in drei Bdn, Bd. I, ed. Karl Schlechta. Müchen 1966, p. 1033.
12. K itsch als Kunst der Selbstunter bietung – Zur Rehabilitation eines s trapazierten Begriffs
Kunst soll Vergnügen bereiten und belehren. Wer noch Latein gelernt hat, zumeist ohne dabei besonders viel Vergnügen verspürt zu haben, kann diese Weisheit mit berühmten und zweitausend Jahre alten Versen belegen: „aut prodesse volunt aut delectare poetae“1 (Die Dichter wollen entweder erfreuen oder belehren – oder beides), heißt es ausgerechnet und wohl plaziert im Vers 333 der Ars poetica des Horaz.2 Der Vers hat es in sich. Denn Vergnügen ist, welch kitschig-triviale Tautologie, vergnüglicher als Belehrtwerden. Wer sich delektiert, wer sich vergnügt, wer genießt, wer sich erfreut, hat es besser und ist in aller Regel besser dran und drauf als der Be- und Gelehrte. Denken macht traurig, das wissen wir Neu- und Spätzeitlichen spätestens seit Hamlet und Robert Burtons 1621 erschienener Anatomie der Melancholie; nach Auskunft von George Steiner hat sich an dieser Einsicht auch in der alternden Moderne nichts geändert.3 Warum Denken traurig macht lautet der Titel einer Abhandlung des gelehrten Autors. Der melancholische Denker, der Gelehrte, ist dem Leistungsprinzip verpflichtet und hat schon deshalb allen Grund zu trauern. Er versäumt die wahren Freuden des Lebens. Der sich Delektierende genießt hingegen ein beneidenswertes Privileg: das des Dilettanten, der um seines Vergnügens willen sogar billigend Kitsch in Kauf nimmt.
1 Horaz: De arte poetica – Lateinisch-deutsch, übers. von Gerd Herrmann, ed. Gerhard Fink. Düsseldorf/Zürich 2000, p. 271. 2 Cf. dazu Jochen Hörisch: Warum lügen und was wissen die Dichter? In: ders.: Das Wissen der Literatur. München 2007, p. 25 sqq. 3 George Steiner: Warum Denken traurig macht – Zehn (mögliche) Gründe. Ffm 2006.
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Kitsch als Kunst der Selbstunterbietung
Dilettant – dieser sich recht direkt vom lateinischen ‚delectare‘ herleitende Begriff bezeichnete, als er in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts modisch wurde, noch ein Privileg. Der (prototypisch adelige) Liebhaber konnte es sich leisten, sich an dem zu erfreuen, was der (prototypisch bürgerliche) Gelehrte mühsam erschließen und analysieren musste. Der eine genoss die Laszivitäten und/oder die Idyllen, die in großen Werken ausgebreitet wurden, der andere schrieb eine gelehrte Abhandlung über Metrik; der eine griff zum Pinsel, weil es ihm Spaß machte, der andere musste damit seinen Lebensunterhalt verdienen; um ein kitschiges Klischee zu bedienen: der eine zog sich beim Anhören von Mozarts Don Giovanni mit einer schönen Frau und einer Flasche Champagner auf die Chaiselongue seiner Opernloge zurück, der andere analysierte beim Zuhören die Partitur. Der Privatgelehrte war das Weltkind in der Mitte zwischen Dilettant und besoldetem Fachmann. Ein großes Vermögen bereitet, recht angewandt, immer Freude. Und so war und ist der begüterte Privatgelehrte die Figur, der sich wie ein Dilettant vergnügt und dennoch seriöse Forschung betreibt – in vollendeter Muße lebt er in der Freude, die das Entdecken von Wahrheiten bereitet. Der ursprünglich zumeist positiv verwendete, weil ein Privileg markierende Begriff ‚Dilettant‘ erlitt nun aber im neunzehnten Jahrhundert schnell eine dramatische Bedeutungsverschlechterung. Goethe und Schiller haben dazu entscheidend beigetragen. Sie kontrastieren in ihren 1799 gemeinsam verfassten, aber erst nach Goethes Tod publizierten Notizen Über den Dilettantismus das Genie, das Genuines, eben Unverwechselbares generiert, dem Dilettanten, der ein „Plagiarius“ gängiger Gefühle ist. Noch in Goethes Faust wird diese Abwertung auf witzige Weise deutlich. Am Ende der Walpurgisnacht-Szene spricht Mephisto, zum theatralischen Walpurgisnachtstraum überleitend, die bemerkenswerten Worte: Nur immer diese Lust zum Wahn! Komm doch das Hügelchen heran, Hier ist’s so lustig wie im Prater; Und hat man mir’s nicht angetan, So seh’ ich wahrlich ein Theater. Was gibt’s denn da?
Kitsch als Kunst der Selbstunterbietung
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SERVIBILIS .
Gleich fängt man wieder an. Ein neues Stück, das letzte Stück von sieben; So viel zu geben, ist althier der Brauch. Ein Dilettant hat es geschrieben, Und Dilettanten spielen’s auch. Verzeiht ihr Herrn, wenn ich verschwinde; Mich dilettiert’s den Vorhang aufzuziehn.4
Dilettanten sorgen für ästhetische Überproduktion. Und Servibilis, dem servilen Mitmacher bei der Überproduktion, „dilettiert’s“, gefällt’s, dabei zu sein und den Vorhang aufzuziehen. Entblößungen, Entbergungen, Entfernungen von Vorhängen haben ihre erotischen Reize. ‚Erkennen‘ ist noch im Luther-Deutsch ein Wort, das aus seinen sexuellen Valenzen kein Geheimnis macht. „Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger“, heißt es in Genesis 4,1. Adam und Eva verlieren mit dem Sündenfall ihre Unschuld. Aber sie vergnügen sich, und sie vergnügen sich in produktiver Weise. Sie dilettieren fortan. Goethe verweist noch einmal auf die präzise Etymologie des Wortes: Dilettanten delektieren sich, und sie haben Gefallen daran, im Übermaß das Gefällige zu produzieren. Das bloß Gefällige aber steht unter Kitschverdacht. Allerdings steht in der Goethezeit dieses Wort – Kitsch – noch nicht zur Verfügung. Als ‚Dilettant‘ gilt seit der Goethezeit nicht länger der souveräne Liebhaber, das Wort ‚Dilettant‘ wurde vielmehr zur kritischen Bezeichnung für denjenigen, der sich im Vergleich mit Fachleuten, wirklichen Könnern und Kennern blamierte. Was der Dilettant schuf, konnte mit dem avancierten Stand der Dinge, Künste und Diskurse nicht mehr mithalten; es wurde dritt-bis fünftrangig, im schlimmsten und zugleich interessantesten Fall zu ‚Kitsch‘. ‚Kitsch‘ ist ein erst bemerkenswert spät (nämlich erst um das Jahr 1880) belegter Begriff, dessen Herkunft umstritten ist. Das gediegene Historische Wörterbuch der Philosophie gibt dazu folgende Auskunft: „Kitsch. Das Adjektiv ‚gekitscht‘ ist seit 1877, das Substantiv ‚K.‘ seit 1881 nachweisbar. F[erdinand] AVENARIUS [der Gründer der Zeitschrift Kunstwart, J. H.] schrieb 1920 über den Ursprung des Wortes selbstsicher: ‚Es ist ja klar, daß es mit dem 4 Goethe: Faust I, l. c., p. 180
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englischen ‚sketch‘ … zusammenhängt. Zufällig weiß ich aus eigener Erinnerung noch recht deutlich, wie das Wort aufkam. Im Anfang der achtziger Jahre war’s und in München‘. Amerikanische Touristen sollen damals mit dem Ausdruck ‚sketch‘ nach effekthaschenden und süßlich-sentimentalen, künstlerisch wertlosen Bildern verlangt haben. Die Herleitung aus dem Englischen wird gelegentlich auch heute noch als gesichert angesehen. Doch hat E. KOELWEL bereits 1937 auf einen wesentlich wahrscheinlicheren Ursprung des Wortes hingewiesen: Er leitet es von dem in Südwestdeutschland gebräuchlichen Ausdruck ‚Kitsche‘ her, der ‚ein beim Bau, bei der Unterhaltung und Reinigung der Straßen verwendetes Gerät [bezeichnet], das … vor allem zum Abziehen des Schlammes von der Straße … gebraucht wird‘. Die ‚soßigbraune Farbe‘ des mit der Kitsche geglätteten Schlammes war der Anlaß der Bedeutungsübertragung; man nannte den süßlichen Farbton damals modischer Bilder ‚soßigbraunen K.‘. Ungefähr seit 1890 kann ‚K.‘ auch literarische und musikalische Werke bezeichnen; das Wort entwickelte sich nach 1900 rasch zum gängigsten Schlag- und Schimpfwort der Kunstkritik, ohne daß es vorerst einen abgrenzbaren Begriffsinhalt hatte. / In den zwanziger Jahren tritt es in einen Prozeß ein, der es begriffsgeschichtlich zu einem höchst interessanten Fall werden läßt: Es zieht einen Begriffsinhalt an sich, der in der früh- und hochklassischen Ästhetik ausgebildet und bis dahin durch eine Vielzahl von Ausdrücken sprachlich umschrieben worden war (z. B. Dilettantismus, Unkunst, Modekunst, Schund), ohne daß einer dieser Ausdrücke eine feste Verknüpfung mit dem Begriffsinhalt eingegangen wäre.“5 Soweit der Artikel ‚Kitsch‘ aus dem gelehrten Wörterbuch. Rundum überzeugend sind seine wortgeschichtlichen Herleitungen des bis heute ungemein erfolgreichen Begriffs ‚Kitsch‘ aus dem englischen ‚sketch‘ und einem südwestdeutschen idiomatischen Ausdruck allerdings nicht. Morphologisch und sachlich plausibel ist hingegen die Etymologie aus dem Jiddischen ‚verkitschen‘ = ‚verkaufen‘ im Sinne des Andrehens, des an-den-Mann-bringen von überflüssigen und minderwertigen Waren.6 Diesen Sinn des Wortes ‚Kitsch‘ umspielen noch die gereimten Blätter aus Fiesole von Otto Birnbaum aus dem Jahr 1908.
5 ‚Kitsch‘ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, p. 844. 6 Abraham Moles: Psychologie des Kitsches. München 1971.
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Neue Jugend! – „Jugend“! Präge Tief es dir in dein Gemüte: Von der alten „Gartenlaube“ Sind wir absolut befreit. Auf, und greife in die Harfe! Unser Gretchen ist verwandelt, Unser Gretchen ist ästhetisch, Unser Gretchen ist modern. Sieh, sie geht in einen Laden, Wo man schöne Marmorsachen Billig kauft. Nun: was erstand sie? Ha! Ein nacktes Frauenbild! Schlag die Harfe! Schlag die Harfe! Denn Germania ist gerettet. Zwar: sie kaufte einen Kitsch, doch, Heil, es war ein nackter Kitsch!7 Noch deutlicher wird die auch im ökonomischen Sinne auf das Minderwertige zielende Bedeutung des Wortes ‚Kitsch‘ in einer Passage aus Ganghofers 1895 erschienenem Roman Schloß Hubertus. Die Passage ist bemerkenswert, verwendet sie doch ausdrücklich das Verb ‚verkitschen‘ – und das in einem Werk, das seinerseits schon von den Zeitgenossen, Karl Kraus voran, als Musterbeispiel für ‚Kitsch‘ angeführt wurde. „Erleichtert atmete Graf Egge auf und ließ sich den kalten Bund wieder um die Augen legen. ‚Franzl, wo bist du?‘ fragte er und streckte die Hand. Als er die Finger des Jägers fühlte, sagte er: ‚Ich danke dir! Diesen Weg vergeß ich dir nimmer. Jetzt tu mir den einen Gefallen und steig wieder hinauf und hüte mir meine Auerhähne! Wenn der andere da droben merkt, daß die Balzplätze ohne Aufsicht sind, ist er imstand und schießt mir den schönsten Hahn weg, um den Stoß zu verkitschen.‘“8
7 Otto Bierbaum: Blätter aus Fiesole; in: ders.: Gesammelte Werke, Band 1: Gedichte, ed. Michael Georg Conrad/Hans Brandenburg. München 1921, p. 343 sq. 8 Ludwig Ganghofer: Schloß Hubertus. Berlin 1917, p. 395.
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Ob ein Traditionalist wie Ludwig Ganghofer oder ein kecker moderner Dichter wie Otto Bierbaum: sie beide und viele andere mehr verwenden um 1900 das noch junge Wort ‚Kitsch‘, als habe es dieses immer schon gegeben. ‚Kitsch‘ ist aber ein Begriff, der sich erst in den letzten beiden Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts, dann aber rasant durchsetzte und der bald auch in anderen Sprachen ohne Übersetzungsäquivalent geläufig wurde. ‚Kitsch‘ ist ein Begriff mit beeindruckender Karriere, dem eine gleichermaßen beeindruckende Karriere des von ihm Bezeichneten entspricht. Kitsch wird um 1900 zum Massenphänomen, und das ist Kitsch über alle Weltkriege, Massenmorde und Kulturbrüche hinweg bis heute geblieben und wird es wohl noch lange bleiben. Dass dem so ist, ist leicht zu erklären. Kunst war über längste Zeiten hinweg vorrangig dem ‚delectare‘ und nicht dem ‚prodesse‘ verpflichtet. Was ja auch sofort einleuchtet – für letzte Wahrheiten waren die Philosophie und die Theologie, für das Wissen die Wissenschaften, für das Handwerk die Technik zuständig. Natürlich konnten es geniale Künstler wie Ovid, Walther von der Vogelweide, Shakespeare, Velasquez oder Mozart schaffen, die eine oder andere (in aller Regel verrätselte) belehrende Provokation, sachliche Kritik oder erhellende Frechheit in ihre Werke einzuschmuggeln. Deren Hauptzweck aber blieb es zu erfreuen, sehr häufig hieß das auch handfest: Gott und Herrscher mit Lob zu erfreuen. Die kritische Funktion von Kunst, die darin besteht, gängige Reden mit alternativen Diskursen zu irritieren, etwas anderes und etwas anders zu beobachten, als andere dies tun, lief in vormodernen Zeiten gewissermaßen mit, sie wurde aber nicht als primäre Aufgabe von Kunst präsentiert und wahrgenommen. Das änderte sich langsam ab 1750 und verstärkt seit 1850, also in Zeiten, die sich selbst als moderne Zeiten beschreiben und erfahren. Hohe Kunst wird im Prozess der Moderne immer komplexer, immer avancierter, immer intellektueller – sie ist keine Sache von und für Dilettanten mehr. Goethes Faust II und Hölderlins späte Hymnen sind voller Schönklang, aber leicht zu verstehen und eingängig sind diese Texte nicht. Ob die Lyrik von Mallarmé, die Zwölftonmusik Schönbergs, das Schwarze Quadrat von Malewitsch oder die Stücke von Heiner Müller – Kunstbanausen wie Kunstkenner würden zögern, zu bekennen, dass sie sich an diesen Werken delektieren. Das Argument ist von theoriekitschiger Trivialität und dennoch sachlich nicht falsch: große Kunst schaltet im Prozess der Moderne immer stärker von ‚delectare‘ auf ‚prodesse‘ um,
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vom Willen zu erfreuen auf den Impuls, zu irritieren und (Neues, zumindest neue Erkenntnisse) zu provozieren, von U wie Unterhaltung auf E wie Ernst. Noch die Scherze der Avantgarde-Kunst (wie das Jabberwocky-Gedicht von Lewis Carroll, die dadaistischen Werke oder das Urinoir Marcel Duchamps) sind irritierend ernste Scherze. Anspruchsvolle moderne Kunst ist kritische Kunst, wer wüsste das nicht? Gerade aber, weil das alle wissen, wird selten bedacht, dass sich Avantgarde-Kunst damit ein Problem einhandelt: sie steht zunehmend unter Hochleistungs- und Konkurrenzdruck wie viele andere gesellschaftliche Sphären auch – und deshalb ist sie zumindest in dieser zentralen Hinsicht nicht „kritisch“, sondern „affirmativ“, nämlich denselben Impulsen verschrieben und verpflichtet wie andere soziale Teilsysteme auch. Zeitgenössische Kunst geht mit der Zeit, sie will zumindest zeitgemäß und im besten Fall ihrer Zeit voraus sein. Damit kündigt sie den Pakt, den etwa Renaissance und Klassik geschlossen hatten. Schon diese Bezeichnungen sind Programm. Renaissance und Klassik orientieren sich an den Idealen der klassischen griechischen Antike, die sie wiederbeleben wollen. Ihr Epochenbezug ist offensiv traditionalistisch – so wie die alten Griechen gelebt haben, wollen und sollten wir heute im Florenz von 1500, in Paris um 1650 oder in Weimar um 1800 auch leben. Die9 Welt und Kunst (inkl. Lebenskunst!) der griechischen Antike markieren ein später nicht mehr erreichtes kulturhistorisches Optimum – das war die über lange Zeiten hinweg gültige Einschätzung gerade auch in Zeiten wie der Renaissance, des Humanismus und der Klassik, die sich ihrerseits nicht verstecken und kleinreden lassen mussten. Umso größer war die Erregung, mit der im Paris des 17. Jahrhunderts die Querelle des anciens et des modernes (Der Streit zwischen den Alten und den Modernen) ausgetragen wurde. Ihr Anlass ist schnell genannt: Charles Perrault hatte am 27. Januar 1687, also in einer Jahreszeit, die nicht gerade Vergleiche mit der Sonne Homers nahelegte, in der Académie francaise kühn und zugleich nicht ohne den Opportunismus desjenigen, der sich bei Ludwig XIV einschmeicheln wollte, behauptet, seine Gegenwart könne, bei allem gebotenen Respekt, es mit der klassischen Antike aufnehmen, ja diese sogar überbieten. Seine Verse wurden schnell berühmt: 9 Der folgende Abschnitt greift zurück auf meinen Beitrag Aus der Zeitflut weggerissen zum Katalog Moritz Götze: Schönheit und Untergang Halle 2013, p. 63 – 73.
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La belle Antiquité fut toujours venerable; Mais je ne crus jamais qu’elle fùt adorable. Je voy les Anciens sans plier les genoux, Ils sont grands, il es vray, mais homes comme nous; Et l’on peut comparer sans craindree d’estre injuste, Le Siecle de LOUIS au beau Siecle d’Auguste. Die schöne Antike war immer verherungswürdig, Aber sie war, so glaubte ich, nicht anbetungswürdig. Ich sehe die Menschen der Antike, ohne die Knie zu beugen, Sie sind groß, das ist wahr, doch Menschen wie wir; Und man kann, ohne fürchten zu müssen, ungerecht zu sein Das Zeitalter von LOUIS dem schönen Zeitalter von Augustus vergleichen.10 Mit diesen zugleich devoten und kecken Zeilen wird ein neuer Blick auf die Antike möglich. Er öffnet die Möglichkeit, sich aus theologischheilsgeschichtlichen Kontexten und Fixierungen auf Jerusalem und Rom zu lösen und Geschichte nicht nur als erlösungsbedürftigen Verfallsprozess, sondern womöglich gar als Prozess der Steigerung und Überbietung dessen zu verstehen, was in Athen und Arkadien erreicht war. Das Paris des Sonnenkönigs kann mit Athen mithalten, der Park von Versailles stellt Arkadien in den Schatten, die zeitgenössischen Schriftsteller und Künstler brauchen sich vor Euripides und Polyklet nicht zu verstecken – so lautet die kecke Botschaft. Die Weimarer Klassik hat knapp zweihundert Jahre später diese klassizistische französische Programmatik selbstbewusst fortgeschrieben. In den Schlussversen von Schillers Gedicht Der Spaziergang heißt es pointiert: Unter demselben Blau, über dem nehmlichen Grün Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter, Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.11
10 Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, ed. Hans-Robert Jauss. München 1964, p. 165. 11 Schiller: Der Spaziergang, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 1, ed. Georg Kurscheidt. Ffm 1992, p. 42.
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Dass diese ästhetischen Versuche einer Wiederbelebung alter Ideale in der jeweiligen Jetztzeit nicht ohne Paradoxie-Effekte zu haben sind, war zumindest den klügeren Künstlern der Renaissance und der Klassik einsichtig. Wer sich am besten an dem orientiert, was die Vergangenheit zu bieten hat, will diese Vergangenheit gegenwärtig auferstehen lassen. Und das geht nur, wenn man von Vergangenheitsbezug auf Gegenwart umstellt. Schon in den selbstbewussten ästhetischen Programmen der Renaissance und der Klassik schwingt also ein geschichtsphilosophisches Leistungsdenken mit. Wir wollen so gut sein wie die Alten. Auf die Idee, die idealisierte Antike nicht „nur“ zu wiederholen, sondern auch zu überbieten, muss man dann quasi automatisch kommen. Aus dem Programm des Wiederholens und Einholens wird fast automatisch das Programm des Überholens. Und genau diesem Programm ist die Moderne verpflichtet. Die Moderne ist permanent auf der Überholspur. Und die allermeisten unter denen, die – um berühmte Verse der Band Kraftwerk zu zitieren – „fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn“ (s. Kapitel 20), fühlen sich von denen genervt, die immer links fahren, aber insofern konservativ sind, als sie stets dasselbe tun: überholen. Das sorgt für Unfälle und für Staus. Denn allzu vielen wäre es am liebsten, alle anderen zu überholen. Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert, in Zeiten also, in denen das Wort ‚Kitsch‘ modisch wird, muss und will große, anspruchsvolle, komplexe Kunst neu, innovativ, gar avantgardistisch sein. Damit aber steht sie nicht allein da. Moderne Kunst teilt ihr avantgardistisches Programm u. a. mit der Militärtechnik und anderen Produkten der Ingenieurskunst. Klugen zeitgenössischen Köpfen wie dem schreibenden Ingenieur Robert Musil fällt bald auf, dass der Ingenieur und das künstlerische Genie mehr gemeinsam haben, als beiden lieb ist: beide generieren ständig Neues und lassen Altes nun eben alt aussehen. Wenn es aber allzu viel Neues gibt, wird das Alte, allein schon deshalb, weil es nicht mehr hegemonial ist, wieder reizvoll. Man muss kein Ökonom sein, um zu wissen, dass nur das Knappe wertvoll ist. Und in einer technisch, infrastrukturell, medial und eben auch ästhetisch rundum erneuerten Lebenswelt entfaltet das selten werdende Alte seinen spezifischen Zauber. Kitsch hat keine Angst vor Zauber – auch nicht vor falschem Zauber. Den Impuls, sich vom falschen Zauber des Alten zu verabschieden und sich ganz dem Fortschritt und der Moderne zu verschreiben, hat Kunst um 1900 mit den Modernisierungsschüben in der Lebenswelt gemeinsam. Nicht nur moderne Kunstwerke aller
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Gattungen, sondern auch die Elektrifizierung, die Eisenbahnen, die großen Kaufhäuser, die neue schnelle Medientechnik von Telegraphie und Telephonie faszinieren die Zeitgenossen – und irritieren, ja desorientieren sie. Die alten kanonischen Werte verlieren ihre Geltung ebenso wie die eingespielten Regeln der Lebenswelt. Moderne Kunst will zeitgenössisch sein – und zugleich will sie ihrer Zeit voraus sein. Genau das meint ja der Begriff der Avantgarde, der bezeichnender Weise aus dem Begriffsrepertoire des Militärs stammt. Avantgarde-Kunst muss aber die für sie selbst irritierende Erfahrung machen, dass auch andere Sphären (etwa Medien, Transporttechnik und Teile der Politik) auf das Avantgarde-Programm umgeschaltet haben. Die Paradoxie ist schwer zu verarbeiten: moderne Kunst ist zeitgemäß, ja epochenkonform, wenn sie ihrer Zeit voraus sein will. Diese Paradoxie der affirmativ-kritischen Avantgardekunst spürte schon Arthur Rimbaud, als er imperativisch formulierte: „il faut être absolument moderne!“12 (man muss absolut modern sein). Die Formel setzte sich auch in Deutschland schnell durch. So heißt es gleich in den Anfangszeilen des Gedichts Berliner Schnitzel von Wilhelm Arent, die 1885 in der Sammlung Moderne Dichter-Charaktere erschien: Kein rückwärts schauender Prophet, Geblendet durch unfaßliche Idole, Modern sei der Poet, Modern vom Scheitel bis zur Sohle. Und es folgt eine lyrische Schimpfrede auf „verruchtes Epigonenthum, / Egypter- und Teutonenthum“,13 die so tun, als könne man sich dem Imperativ, modern zu sein, entziehen. Wilhelm Arent spürt: Modern zu sein ist ein Angebot, das man um 1900 kaum ablehnen kann. Der Freund des Kitsches besetzt nun diese Nische des ‚kaum‘ – er ahnt, dass er der schweigenden Mehrheit angehört, die aber in Avantgardekreisen minoritär, kaum satisfaktionsfähig, ja tabu ist. Denn dort herrscht majoritär der anti-kitschige Modernitäts-Imperativ. Die Moderne befreit von alten Zwängen, Regeln und Vertrautheiten, aber sie tut dies ihrerseits auftrumpfend. Darauf weist der schon zitierte 12 Arthur Rimbaud: Une saison en enfer; in: ders.: Œuvres completes. Paris 1979, p. 116. 13 Wilhelm Arent (ed.): Moderne Dichter-Charaktere – Mit Einleitungen von Hermann Conradi und Karl Henckell. Leipzig 1885, p. 148.
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Lyriker Otto Bierbaum in seinem Gedicht Der Kunstmäcen in maliziösen Versen hin: Der Kunstmäcen „Sieh den kunstergebenen Herrn, Fortgeschritten und modern! An den Wänden: Thoma, Klinger, Stuck, Rops, Goya, Stauffer-Bern, Und die neuesten Meister-Singer Kennt er, kauft er, liest er gern!“ „Gut, gut, gut. Ich weiß es schon. Leider – spricht er auch davon.“14 Die Moderne weiß und präsentiert sich als Siegerin der Geschichte. Aber sie musste und muss stets erneut für diesen Sieg kämpfen. Anspruchsvolle Kunst steht in der Moderne wie Wissenschaft und Industrie, wie der Sport und das Bildungssystem, wie Militär- und Medientechnik unter Leistungs-, Optimierungs- und Überbietungsdruck. Dieser Leistungs- und Innovationsdruck muss geradezu obligatorisch eine Gegenbewegung provozieren. Viele, ja fast alle wachen Zeitgenossen um 1900 ahnen zumindest und geben mitunter offen zu, dass sie sich vom Stand der Dinge bzw. von ihrem nicht endenden Nicht-Stillstand überfordert fühlen. Neurasthenie wird deshalb zur Mode- bzw. Epochenkrankheit der europäischen Metropolenbewohner um 1900. Neurasthenie – das meint die Überreizung der Nerven, die all dem Neuen, Schnellen, Grellen, Modernen nicht mehr gewachsen sind und deshalb zur Ermüdung, zum Kopfschmerz, zur Dauerangespanntheit führen. Überreizung, Überforderung, Überspannung aber ist die Chance von Kitsch. Kitsch ist der wahre und paradoxer Weise zugleich der falsche Aussteiger aus den Zwängen der Moderne. Falscher Zauber ist der Kitsch, weil er verspricht, es sei möglich, Neuzeit und Moderne zu hintergehen. Das aber ist aus dem einfachsten Grund unmöglich: 14 Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe – Verliebte, launenhafte und moralische Lieder, Gedichte und Sprüche aus den Jahren 1885 bis 1900. Berlin/Leipzig 1901, p. 437.
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es gibt die Moderne. Und sie steht nicht zur Disposition. Denn sie ist nicht, wie kitschige Theorien suggerieren, Resultat des üblen Treibens der üblichen Verdächtigen (etwa der Freimaurer oder der Juden, der Kapitalisten oder Revolutionäre, der Protestanten oder der Jesuiten), sondern Effekt der funktionalen Ausdifferenzierung von Gesellschaften im Prozess der Neuzeit. Wer diese schlichte Wahrheit verkennt und lieber kitschige Verratsgeschichten erzählt, liegt falsch. Dennoch hat Kitsch auch ein starkes Wahrheitsmoment. Ohne jede heroische Verweigerungsattitude machen der Kitschproduzent wie der Kitschkonsument unmissverständlich klar, dass sie das Höhenniveau der großen modernen Avantgardekunst, Avantgardemusik und Avantgardeliteratur nicht erreichen können – ja selbst dann, wenn sie es erreichen könnten, nicht einmal erreichen wollen. In der Sphäre des Kitsches, des Schematischen, des Unterkomplexen, des Vertrauten, des Trivialen, des Absehbaren und des Erwartbaren finden systematisch gestresste Zeitgenossen die Möglichkeit, unter ihr Niveau und unter das Niveau ihrer Epoche zu gehen. So heißt es bei dem jungen, dem Neuen durchaus zugetanen, in den Avantgardezeitschriften Sturm und Aktion publizierenden Literaten Alfred Lichtenstein, der 25-jährig in den ersten Tagen des ersten Weltkrieges einen alsbald massenhaft üblichen, von jedem Kitschverdacht freien Tod starb: „Mir passiert häufig beim Lesen einer kitschigen rosanen Geschichte, daß mir trotz des inneren Lachens ein Schauer durch den Körper geht.“15 Und in Gustav Meyrinks Epochenroman Der Golem (er erschien 1913, also fast gleichzeitig mit Lichtensteins ästhetischer Beichte): „‚Da kennen Sie das schleichende Gift der Suggestion nicht,‘ unterbrach mich Charousek ernst. ‚Hätte ich in alltäglichen Worten geredet, würden Sie vielleicht recht behalten, aber auch den kleinsten Tonfall habe ich vorher berechnet. Nur das widerlichste Pathos wirkt auf solche Hundsfötter! Glauben Sie mir! Sein Mienenspiel bei jedem meiner Sätze hätte ich Ihnen hinzeichnen können. – Kein ‚Kitsch‘ wie es die Maler nennen, ist niederträchtig genug, als daß er nicht der bis ins Mark verlogenen Menge Tränen entlockte – sie ins Herz trifft! Glauben Sie denn, man hätte nicht längst sämtliche Theater mit Feuer und Schwert ausgetilgt, wenn es anders wäre? An der Sentimentalität erkennt man die Kanaille. Tausende armer Teufel können verhungern, 15 Alfred Lichtenstein: Gesammelte Prosa, ed. Klaus Kanzog. Zürich 1966, p. 95.
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da wird nicht geweint, aber wenn ein Schminkkamel auf der Bühne, als Bauerntrampel verkleidet, die Augen verdreht, dann heulen sie wie die Schloßhunde.‘“16 Denjenigen zu verachten, der auf Kitsch hereinfällt, ist eine leichte Übung. Sie verkennt, dass der kluge Apologet des Kitsches den Charme desjenigen hat, der seine Schwäche freimütig eingesteht: ich kann und will da nicht mithalten. Ihm schwant, dass an der Sottise „Das Niveau ist ungeheuer hoch, es ist nur keiner drauf“ etwas dran ist. Der bekennende Kitsch-Liebhaber um 1900 ist anders als der auf Avantgarde-Hochniveau Eingeschworene einigermaßen dagegen gefeit, Neurastheniker zu werden. Er bewahrt sich sentimentale Freiräume, die sein beschleunigtes Leben verlangsamen, die ihn vom Modernitätszwang entlasten und die ihn mit Vertrautem statt mit Innovationen umstellen. Im Liebhaber des Kitsches um 1900 findet der seit 1800 entwertete Dilettant bzw. Liebhaber seinen spezifisch modernen Wiedergänger. Ihm leuchtet der schöne Wiener Schmähsatz über die alt gewordene neue Musik ein: „Wenn’s den Leut auch nach fünfzig Jahren nicht gefällt, ja mei, dann ist es eben nicht gut.“ Vor dem Hintergrund solcher Sottisen entfaltet ein kurzes Gedicht von Wilhelm Busch seinen hintersinnigen Charme. Es steht unter dem Titel Modern und erinnert daran, dass das überwunden Geglaubte sich als eigentümlich zählebig erweisen kann: Modern Hinweg mit diesen alten Herrn, Sie sind zu nichts mehr nütz! So rufen sie und nähmen gern Das Erbe in Besitz. Wie andre Erben, die in Not, Vergeblich warten sie. Der alte reiche Hoffetot, Der stirbt bekanntlich nie.17
16 Gustav Meyrink: Der Golem; in: ders.: Gesammelte Werke, Band 1. Leipzig 1917, p. 250. 17 Wilhelm Busch: Modern; in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6, ed. Otto Nöldeke. München 1943, p. 46.
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Wilhelm Busch hat einen zu aggressiven Humor, um Materialien für eine Ästhetik des Kitsches zu liefern. Aber seine Verse und Bilder bringen viel Verständnis für Charakteren mit Kitschbedürfnis auf. Zur attraktiven Figur wird der Kitsch-Sympathisant in dem Maße, in dem er sich wie Wilhelm Buschs hartnäckige Dorf- und Kleinstadtbewohner der Moderne oder zumindest gewissen zumutungsreichen Ausprägungen der Moderne freundlich verweigert. Diesen Gestus kann er dann in einem seltsamen Gewebe aus Nähe und Distanz mit modernitätskritischen Avantgardekünstlern gemeinsam haben. Überzeugend ist der Kitschfreund, wenn er heiter auf dem Recht der Selbstunterbietung insistiert. Wer bekennt, lieber ein Gemälde von Paul Klee als eine Beuys’sche Badewanne mit Fettecke in seinem Wohnzimmer willkommen zu heißen, blamiert sich nicht als Kunstbanause oder gar als Analphabet der Moderne. Wer sich auf einen Rosenkavalier-Abend mehr freut als auf eine siebentägige Aufführung von Stockhausens Werk Licht, darf auf mehr als augenzwinkerndes Einverständnis selbst unter Liebhabern der neuesten Musik hoffen. Und altmeisterlich gereimte und metrisch glanzvoll getaktete Lyrik wie die von Robert Gernhardt braucht sich vor den Avantgarde-Experimenten etwa der konkreten Poesie nicht zu verstecken. Unter dem mit Kitsch-Klängen kokettierenden Titel Der letzte Gast ertönen Robert-Gernhardt-Verse, die modern sind um ihrer Überzeitlichkeit willen: DER LETZTE GAST
Im Schatten der von mir gepflanzten Pinien Will ich den letzten Gast, den Tod, erwarten: „Komm, tritt getrost in den betagten Garten, ich kann es nur begrüßen, daß die Linien sich unser beiden Wege endlich schneiden. Das Leben spielte mit gezinkten Karten. Ein solcher Gegner lehrte selbst die Harten: Erleben, das meint eigentlich Erleiden.“ Da sprach der Tod: „Ich wollt’ mich grad entfernen. Du schienst so glücklich unter deinen Bäumen, daß ich mir dachte: Laß ihn weiterleben. Sonst nehm ich nur. Dem will ich etwas geben.
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Dein Jammern riß mich jäh aus meinen Träumen. Nun sollst du das Ersterben kennenlernen.“18 Gernhardts kurz vor der Wende zum 21. Jahrhundert entstandene Verse versetzen uns in eine klassische Landschaft, in der Zitronen und Pinienbäume blühen. Und sie evozieren, den Kitsch streifend, einen Topos, der, wie es sich für Topoi gehört, nicht an nur eine Epoche gebunden ist: den Et-in-Arcadia-ego-Topos. Auch in der schönsten, der idealen, der arkadischen Landschaft west der Tod. Er ist es, der von sich sagen kann: selbst in Arkadien bin ich anwesend. Kitsch hat anders als Avantgardekunst ein entspanntes Verhältnis zu zeitlosen Problemen wie dem der zerrinnenden, reißenden Zeit. Eben deshalb kann sich Kitsch das Unzeitgemäße leisten. Wenn der Liebhaber des klügeren Kitsches listig argumentiert, erinnert er daran, dass auch die Renaissance-Kunst den neuzeitlich erreichten Stand der Dinge unterbot, als sie sich der ja ausdrücklich anti-avantgardistischen Direktive „ad fontes“ (zurück zu den Quellen) verschrieb, zurückblickte und auf die Neugeburt des Alten setzte. Im klugen Liebhaber des Kitsches lebt der Renaissance-Impuls in Zeiten der Avantgarde-Moderne weiter. Er weiß oder ihm schwant doch zumindest, dass ohne Rückorientierung, ohne Verlangsamung, ohne Entspannung, ohne Loslassen, ohne Höchstniveauunterbietung ein gelingendes Leben in der auf ständige Selbstüberbietungen getrimmten Moderne schlicht nicht möglich ist. Der gelassen-heitere Kitschliebhaber kennt die Stress-Psychologie der Avantgarde und die Vorzüge der Arrièregarde. Schon militärhistorisch gilt: die Avantgarde wird aufgerieben, die Arrièrgarde, der berühmte hinkende Bote, der auf dem Schlachtfeld auch die Toten und Verletzten der siegreichen Seite zählt und von ihnen erzählt, hat überlegene Durchblicker-Qualitäten. Von den Vorzügen der Arrièrgearde und des Nachgebens gegenüber vormodernen Impulsen zeugt auch eine Anekdote, die kein anderer als der Münchner Kulturrevolutionär Erich Mühsam überliefert hat. Unter dem Titel Ehrenhandel erzählt er von einem geharnischten Kampf zwischen zwei Schriftstellern, die sich über den Vorwurf des einen an den anderen, „Marlittschmock“ produziert zu haben, in die Haare geraten. Das Wort ‚Schmock‘ stammt wie ‚Kitsch‘ aus dem Jiddischen 18 Robert Gernhardt: Der letzte Gast; in: ders.: Gesammelte Gedichte 1954 – 2004. Ffm 2005, p. 578.
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und meint den oberflächlichen Laffen, den über seine intellektuellen Verhältnisse lebenden Snob, aber auch den gesteigerten Kitsch, das leere, phrasenhafte, prätentiöse Gerede und Geschreibe, als dessen Inkarnation aus leicht nachvollziehbaren Gründen die Schriftstellerin Eugénie Marlitt (1825 – 87) galt. „In der Münchener Ortsgruppe des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller hatte es Krach gegeben, in dessen Verlauf [der bekannte Bohemien, Schauspieler und Schriftsteller, J. H.] Carl Rößler dem Verhandlungsleiter [dem Schriftsteller und Dramaturgen, J. H.] Reinhold Ortmann zurief: ‚Sie sind ein unanständiger Mensch!‘ Die Folge war eine Beleidigungsklage. / Rößler wohnte damals in derselben Pension wie ich, und wir waren täglich beisammen. Der Konflikt mit dem Engelhorn-Autor versetzte ihn in eine höchst kämpferische Stimmung: ‚Der Kitschier, der elendige!‘ schrie er. ‚Er soll mich nur verklagen. Ich werd’s ihm beweisen, daß er ein unanständiger Mensch ist. Mögen sie mich zu 1000 Mark verurteilen – und wenn sie mich einsperren – ich nehme kein Wort zurück! Hier gibt’s keinen Vergleich! So ein Schmierfink! So ein erbärmlicher Nichtskönner, dieser Marlittschmock!‘ Michael Kohlhaas war ein friedfertiger Schlappschwanz gegen Carl Rößler. Und so ging es wochenlang. Man brauchte nur anzutippen, und alle Schleusen der Wut öffneten sich gegen den armen Reinhold Ortmann. / Eines Vormittags kam ich zu Rößler ins Zimmer, um ihn abzuholen. Er saß am Schreibtisch. ‚Ich schreibe grade an Ortmann‘, erklärte er, ‚hör mal zu.‘ Zu meinem maßlosen Erstaunen las er mir nun seinen Brief vor. Er nehme die im Eifer der Erregung gegen Ortmann geäußerte Beleidigung mit dem Ausdruck des tiefsten Bedauerns zurück; erkläre sich bereit, alle bereits dem Kläger erwachsenen Kosten zu tragen, und hoffe als alter Verehrer der Werke Reinhold Ortmanns auf dessen Verzeihung und auf die Zurückziehung der Klage. / ‚Aber‘, fragte ich völlig konsterniert, ‚du hast doch gestern noch –‘ – ‚Nun ja, da ist heute die Vorladung gekommen. Der Termin ist in der Früh um halb neun; ich kann doch nicht mitten in der Nacht aufstehn!‘“19 Der Avantgardist, der nicht früh aufstehen kann, ist zumindest in diesem einen Punkt kein Avantgardist. Sein Schlafbedürfnis ist stärker als sein Kampfbedürfnis. Mit der Militanz eines Michael Kohlhaas kann er nicht mithalten. Er entdeckt in sich den Anderen seiner 19 Erich Mühsam: Ehrenhandel; in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte, Prosa, Stücke. Berlin 1978, p. 266.
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selbst – den „Kitschier“, Spitzwegs armen Poeten, der zumindest um seiner Lust am Schlafen willen den Vormarsch der Avantgarde verpasst. Von „Anachronismus als lebensweltlichem Bedarf“ hat der Philosoph Hans Blumberg weise gesprochen.20 Die Formel lässt sich leicht illustrieren. Z. B. mit dem Hinweis, dass so gut wie alle auch nur ansatzweise aufgeklärten Köpfe heute wissen, dass die Sonne nicht auf- und untergeht, sondern die Erde tags wie nachts um die Sonne kreist. Dennoch aber überlebt die unzeitgemäße Redewendung vom Sonnenauf- und -untergang. Unzählige Kitschgemälde und Kitschfotos von Sonnenauf- und -untergängen machen unmissverständlich deutlich, dass es selbst in den Köpfen von Kitsch-Verächtern voraufgeklärt das gibt, was es nicht gibt – eben Sonnenauf- und -untergänge. Dem Liebhaber des Kitsches dürfte die Lektüre von Blumenbergs Werken zu anstrengend sein. Die Verteidigung des Unzeitgemäßen aber dürfte ihm einleuchten; der „Kitschier“ ist genau bei diesem Thema im Umkreis seiner Stärke. Soviel zur Rehabilitierung von Kitsch und Kitschliebhabern. Unerträglich aber wird der Freund des Kitsches, wenn er nicht gelassen und selbstdistanziert („ich kann da nicht mit, ich kann das nicht leisten“) das Recht auf Selbstunterbietung in Anspruch nimmt, sondern seine Ressentiments pflegt, nach dem Motto: was mir nicht gefällt, was ich nicht verstehe, was mir nicht zusagt, kann nichts taugen und muss deshalb bekämpft werden. Aus dem mit Kitsch kokettierenden Kunstliebhaber, der im Zeitalter der Leistungszwänge seinen Sinn für Unzeitgemäßes bewahrt, wird dann sofort eine grauenvolle und gefährliche Figur voller Aggressivität und Affekte. Die trostlose Inkarnation dieser Figur ist, darauf hat schon der Schriftsteller Hermann Broch in seiner bedeutenden Abhandlung über den Kitsch hingewiesen, der Kitschfanatiker Hitler. Sein antimodernes Blut-und-BodenRessentiment vertrug sich bekanntlich bestens mit einer Vorliebe für avancierte Technik – z. B. für Autos mit Kompressormotor, Flugzeuge und Raketen. Der heitere Kitschliebhaber verweigert die Militanzen des modernen Avantgardismus, er ist souverän genug, sich selbst zurückzunehmen und seine liebenswerte Schwäche einzugestehen. Der Kitschfanatiker will die Militanzen der Moderne hingegen überbieten, er fühlt sich nur dann souverän, wenn er alles, was ihn in Frage stellt, 20 Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Ffm 1975, p. 132 sqq.
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vernichten kann. Es ist bezeichnend, dass auffallend viele der militantesten Repräsentanten einer kitschfeindlichen Avantgarde (u. a. die Futuristen um Marinetti, Gabriele d’Annunzio, Drieu la Rochelle, Céline, Ezra Pound, Gottfried Benn, Arnold Bronnen, Yeats oder Eliot) offen faschistisch geworden sind.21 Zu den Paradoxien des militanten Kitsches gehört es, dass er so von sich selbst überzeugt ist, wie bestimmte Avantgardeprogramme ihrerseits von sich selbst überzeugt sind. Dass beide Positionen einander nichts zu sagen haben und sich doch in wechselseitiger Feindschaft brauchen, ist offensichtlich. Kitsch, den seine Liebhaber als den verbindlichen Stand der ästhetischen Dinge ansehen, bringt sich um sein produktives ironisch-gelassenes Potential: das der differenzbewussten Selbstunterbietung. Wo dieses Potenzial zur Geltung und zum Rendezvous mit dem Neuen kommt, kann sich Unerhörtes einstellen. Zu großer Form läuft der Kitschkünstler nämlich genau dann auf, wenn er Selbstunterbietung als seine genuine Möglichkeit präsentiert, also im Blick behält, dass er um den Preis, angestrengt zu sein, auch anders könnte, aber eben dies nicht will. An Beispielen dafür ist kein Mangel. Schon lange vor der Konjunktur des Begriffs ‚Kitsch‘ hat Franz Schubert auskomponiert, was Kitsch sein kann. Sein Ave Maria aus dem Jahr 1825 unterbietet grandios den Stand der Kompositionstechnik, den er mit dem Streichquartett Der Tod und das Mädchen (1824) erreicht hat. Kein anderer als Adorno, der unverdächtig ist, Kitsch-Apologet zu sein, hielt den sentimentalen Wirtshausmusiker Schubert für die Bedingung der Möglichkeit seiner avancierten Kompositionskunst. Das Werk Richard Wagners eignet sich wie kein zweites zur Illustration der hier vorgetragenen Thesen.22 Es vereinigt in einer Weise, die uns zu irritieren nicht aufhört, kompositionstechnische Revolutionen mit hemmungslosem Regieanweisungs-Kitsch und einem Sprachstil, der so outriert altertümelt, dass er schon wieder avantgardistisch ist. Nichts leichter, als diese Spannung zwischen Moderne und Regression auch in der Biographie des Meisters zu entdecken. Er war 1848-er Revolutionär und Monarchist, Bohémien und hartnäckiger Villenbewohner, Emanzipationsessayist und übler Antisemit. Richard Wag21 Cf. dazu u. a. Reinhold Grimm/Jost Hermand (edd.): Faschismus und Avantgarde. Königstein 1980. 22 Cf. Jochen Hörisch: Weibes Wonne und Wert – Richard Wagners Theorie-Theater – Mit musikanalytischen Kommentaren von Klaus Arp. Berlin 2015.
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ner hat schon durch die enthemmte Infantilität seiner Szenen (voller Bärenhäute, Eschen, Drachen, Waldvögel, Schwäne, Ritter, Burgen, Tafelrunden, Handwerkerkammern) und seines artifiziell-retrograden Sprachstils, der das Verlachtwerden nicht scheut, Kitschelemente an Kitschelemente gereiht. Eben damit hat er, der Meister in der Kunst grandioser (und schrecklicher!) Selbstunterbietung, seine in jedem Wortsinne unerhörten melodischen Einfälle und kompositorischen Finessen abgefedert. Mahlers Adagietto aus der fünften Symphonie ist Kitsch at its best, nur wer diesen Satz sentimental goutiert hat, kann die ambitionierteren anderen Sätze der Symphonie verstehen. Schönbergs Zwölfton-Werke waren, was Bewunderer seiner neuen Kompositionstechnik erst nach dem dritten Glas Wein zugeben, nie so überzeugend wie die Verklärte Nacht, die sich vom Imperativ „il faut etre absolument moderne“ souverän emanzipiert. Und Richard Strauss hat mit Salome und Rosenkavalier Werke geschaffen, die ewig er- und nachklingen werden, weil sie nicht um jeden Preis an der vordersten Avantgardefront ihrer Entstehungszeit sein wollten. Ein Einwand gegen diese und weitere Beispiele aus der Literatur (Stifter, Rilke, Trakl, Handke …) und bildenden Kunst (Nazarener, Chagall, Dali, Neo Rauch …) liegt nahe und ist auch überzeugend: diese Werke seien doch nicht die Inkarnation des Kitsches. Das ist zutreffend; wer Kitsch als Feindbild braucht, um bestimmte neuere Kunstlogiken zu rechtfertigen, wird in anderen Regionen als den hier evozierten fündig. Aber wer Gartenzwerge, röhrende Hirsche, Friederike Kempers Verse oder Heino-Schlager als Antipoden braucht, um seine Avantgarde-Option zu rechtfertigen, ist offenbar auf schwächste Gegner angewiesen, um siegesgewiss zu sein. Aller Aufmerksamkeit wert aber sind diejenigen Werke der Moderne, die die Kunst der Selbstunterbietung kultivieren und deshalb mit Kitschelementen kokettieren, weil sie mit dieser Strategie gegen ressentimentgeladenen Kitsch immunisieren. Das gilt auch in psychologischer Perspektive: wer sich (wie etwa der revolutionäre Romantiker Friedrich Schlegel oder der immer radikale und konsequente Georg Lukács) in jungen Jahren nie Momente der Selbstunterbietung geleistet hat, kann dann umso anfälliger werden für anspruchslose sei es katholische, sei es stalinistische Militanzen, die nicht einmal das Niveau des besseren Kitsches erreichen. Wer sich hingegen mit Walter Benjamin die Maxime „Immer radikal, niemals konsequent“ zu eigen macht, ist gegen solche Abstürze verlässlich gefeit. Forcierte Avantgardeschriftsteller wie Ezra Pound
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oder Céline, die sich keine Selbstunterbietung gestatteten, waren bereit, sich mit der unheimlichsten Form der kitschigen Massenmentalität, der faschistischen, gemein zu machen. Wer neuere Beiträge zur reichen Diskussion um den Kitsch verfolgt,23 wird schnell feststellen, dass ein entspanntes Verhältnis zu diesem Phänomen immer häufiger anzutreffen ist – auch bei kritischen Theoretikern. Zu den Gründen abnehmender Strenge in der Verurteilung des Kitsches dürfte gehören, dass der Gestus der Selbstunterbietung nicht mehr nur eine individuelle oder milieuspezifische Option darstellt, sondern zur ästhetischen Epochensignatur geworden ist. Und dies schlicht deshalb, weil in der Postmoderne Wiederholungen, Unterbietungen und Zitate (inklusive unfreiwilliger Zitate!) kaum zu vermeiden sind. Wer auch immer literarisch, musikalisch oder bildkünstlerisch Neues, Zumutungsreiches und Avantgardistisches präsentiert, wird mit dem Hinweis rechnen müssen, sein Werk stehe in dieser oder jener Tradition, erinnere an xyz, kombiniere bereits bekannte und vertraute Elemente neu. Man kann es auch direkter ausdrücken: auch die Moderne und die Avantgarde sind ihrerseits nicht mehr das, was sie früher einmal waren. Auch sie sind gealtert, auch über sie wird geschrieben und geforscht wie über andere Epochen, Stile und Programme. Es gehört einfach zum banalen Schicksal von Provokationen, dass sie mit den Jahren verblassen – und zwar in dem Maße, in dem sie sich durchsetzen. Dass die avantgardistische Häresie zum neuen Paradigma wird, an dem sich fast alle orientieren, ist so etwas wie der dissonant-assonante Grundakkord der sog. christlichabendländischen Kultur. Schon ihre legendären Gründungsfiguren Sokrates und Jesus Christus führen vor, wie aus Verfolgten maßgebliche und durchaus auch kitschtaugliche Figuren wurden. Viele Künstler (von Carravaggio bis Andy Warhol, von Goethe bis Celan, von Mozart bis zu den Beatles), aber auch Theoretiker und Wissenschaftler (wie 23 Neben der bereits 1960 zuerst erschienenen Studie von Ludwig Giesz: Phänomenologie des Kitsches. München 1971 (2.) seinen nur genannt die Bücher von Wolfgang Braungart: Kitsch – Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Tübingen 2002, Konrad Paul Liessmann: Kitsch! Oder warum dieser schlechte Geschmack der eigentlich gute ist. Wien 2002, Ute Dettmar, Thomas Küpper (ed.): Kitsch – Texte und Theorien. Stuttgart 2007 und die Beiträge von Johannes Grave, Ernst Osterkamp und Norbert Miller in Kap. IV (Romantischer Kitsch oder die Bedingung der Möglichkeit von hoher Kunst) in: Gerhard von Graevenitz et al. (edd.): Romantik kontrovers. Würzburg 2015.
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Giordano Bruno und Einstein) können aus gutem Grund hoffen, dass ihnen nach häretischen Anfängen eine kanonische Anerkennung zuteil wird. Der gelassen-heitere Freund des Kitsches weiß, was Ungleichzeitigkeiten sind. Im besten Fall schlägt er nicht nur eine Brücke aus der hektischen Jetztzeit in die überschaubare Vergangenheit, er wirft auch einen Blick auf seine Gegenwart aus der Perspektive der vergangenen Zukunft: einst werde ich diese Innovation im Modus ihres Veraltens erlebt haben – und deshalb leiste ich mir schon jetzt eine gelassene Distanz zur jeweils gegenwärtigen Avantgarde. Architekten wird nachgesagt, dass sie auffallend gerne in Altbauten wohnen. Der junge Hugo von Hofmannsthal publizierte 1893 in der Frankfurter Zeitung einen Essay über Gabriele D’Annunzio. In ihm versteht er den italienischen Futuristen als Inkarnation des Doppelcharakters einer Moderne, die sich stets selbst überbieten möchte und eben deshalb das Bedürfnis nach retrograder Selbstunterbietung freisetzt: „Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten. Modern ist das psychologische Graswachsenhören und das Plätschern in der reinphantastischen Wunderwelt. Modern ist Paul Bourget und Buddha; das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All; modern ist die Zergliederung einer Laune, eines Seufzers, eines Skrupels; und modern ist die instinktmäßige, fast somnambule Hingabe an jede Offenbarung des Schönen, an einen Farbenakkord, eine funkelnde Metapher, eine wundervolle Allegorie. Ein geistreicher Franzose schreibt die Monographie eines Mörders, der ein experimentierender Psychologe ist. Ein geistreicher Engländer schreibt die Monographie eines Giftmischers und Urkundenfälschers, der ein feinfühliger Kunstkritiker und leidenschaftlicher Kupferstichsammler war. Die landläufige Moral wird von zwei Trieben verdunkelt: dem Experimentiertrieb und dem Schönheitstrieb, dem Trieb nach Verstehen und dem nach Vergessen. / In den Werken des originellsten Künstlers, den Italien augenblicklich besitzt, des Herrn Gabriele d’Annunzio, kristallisieren sich diese beiden Tendenzen mit einer merkwürdigen Schärfe und Deutlichkeit: seine Novellen sind psychopathische Protokolle, seine Gedichtbücher sind Schmuckkästchen; in den einen waltet die strenge nüchterne Terminologie wissenschaftlicher Dokumente, in den andern eine beinahe fieberhafte Farben- und Stimmungstrunkenheit.“24 24 Hugo von Hofmannsthal: Gabriele D’Annunzio; in: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze 1 – 3, ed. Bernd Schoeller. Ffm 1979, p. 176.
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„Alte Möbel“ und „junge Nervositäten“ passen nach Hofmannsthals hellsichtiger Einschätzung gut zusammen. Moderne Zeiten, die sich einer „streng nüchternen Terminologie“ verschrieben haben, provozieren als geradezu obligatorische Gegenbewegung „eine beinahe fieberhafte Farben- und Stimmungstrunkenheit“. Ungleichzeitigkeit, das große Thema des Neomarxisten Ernst Bloch, dem Theoriekitsch nicht ganz fremd war, ist die Signatur der Moderne. Wer Rückgriff auf Altes und vermeintlich Überwundenes als Definitionskriterium von Kitsch akzeptiert, wird auch akzeptieren müssen, dass nicht mehr die Unterscheidung von Kitsch/Nicht-Kitsch, sondern von reflexivheiterem, sich zum Programm der souveränen Selbstunterbietung bekennendem Kitsch einerseits und ressentimentgeladenem aggressivem Kitsch andererseits ausschlaggebend ist, wenn es darum geht, die Qualität eines Werkes zu bestimmen. Das ahnte lange vor der ersten Konjunktur der Kitsch-Diskussion schon ein Schriftsteller, der wusste, dass er, der Epigone sein musste, so avanciert wie retrograd schrieb. Zu Heinrich Heines populärsten, klügsten und kitschigsten Versen zählen diese: „Es ist eine alte Geschichte, / Doch bleibt sie immer neu; / Und wem sie just passieret, / Dem bricht das Herz entzwei.“
13. Ver/speisen – Die bedeutsame Weisheit von Essen und Trinken
In Fontanes wunderbarem Roman Schach von Wuthenow besuchen zwei Regimentskameraden, Sander und Alvensleben, eine gute Gaststätte, bestellen beim Kellner Fritz eine schmackhafte Bowle und nehmen dieses geistige Getränk zum Anlass eines philosophischen und kulturhistorischen Crash-Kurses. „Damit war die Bestellung beendet, und ehe zehn Minuten um waren, erschien die Bowle, darauf nicht mehr als drei oder vier Waldmeisterblättchen schwammen, nur gerade genug, den Beweis der Echtheit zu führen. / ‚Sehen Sie, Fritz, das gefällt mir. Auf mancher Maibowle schwimmt es wie Entengrütze. Und das ist schrecklich. Ich denke, wir werden Freunde bleiben. Und nun grüne Gläser.‘ / Alvensleben lachte. ‚Grüne?‘ / ‚Ja. Was sich dagegen sagen läßt, lieber Alvensleben, weiß ich und laß es gelten. Es ist in der Tat eine Frage, die mich seit länger beschäftigt und die, neben anderen, in die Reihe jener Zwiespalte gehört, die sich, wir mögen es anfangen, wie wir wollen, durch unser Leben hinziehen. Die Farbe des Weins geht verloren, aber die Farbe des Frühlings wird gewonnen, und mit ihr das festliche Gesamtkolorit. Und dies erscheint mir als der wichtigere Punkt. Unser Essen und Trinken, soweit es nicht der gemeinen Lebensnotdurft dient, muß mehr und mehr zur symbolischen Handlung werden, und ich begreife Zeiten des späteren Mittelalters, in denen der Tafelaufsatz und die Fruchtschalen mehr bedeuteten als das Mahl selbst.‘“1 Die knappe Passage hat es in sich. Denn sie umkreist in all ihrer Profanität eine Reihe von Problemen, die philosophischer, kulturana-
1 Theodor Fontane: Schach von Wuthenow; in: ders.: Romane und Erzählungen in acht Bänden, Bd. 3, edd. Peter Goldammer, Gotthard Erler, Anita Golz und Jürgen Jahn. Berlin / Weimar 1973 (2.), p. 390.
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lytischer und kulinaristischer Betrachtung und Beachtung wert sind. Auf der Bowle schwimmen als Ausweis dafür, dass es sich tatsächlich um eine solche handelt, drei bis vier und eben nicht mehr Waldmeisterblättchen. Die Alternative wird deutlich benannt: die Bowle könnte so dicht mit grünen Blättchen versehen sein wie stille Gewässer häufig zur Gänze mit Wasserlinsen bedeckt sind, die im Volksmund auch Entengrütze genannt werden – einfach deshalb, weil Enten diesen grünen Belag tatsächlich gerne verzehren. Dann aber würden die Blätter den Blick auf das verstellen, was eigentlich zählt: eben das geistige Getränk unter der grünen Oberfläche. Das gut beleumundete Gasthaus aber hat offenbar nichts zu verbergen. Umso erstaunlicher ist es, dass Sander nun ausdrücklich grüne Gläser verlangt, die den seitlichen Blick auf die Färbung des Bowlenweins verstellen. Doch das ist vertretbar, denn der Blick von oben bleibt ja dank der geringen Zahl von Waldmeisterblättchen frei. Sander ist um eine Begründung seines Wunsches nach grünen Gläsern nicht verlegen. Grün ist als Farbe des Frühlings Symbol der Belebung und Erneuerung. Doch mit dieser konventionellen Begründung hat es nicht sein Bewenden; der denkende Soldat läuft vielmehr zu beeindruckender philosophischer Form auf. Steht seine Wahl der grünen Gläser für die Bowle – welch ein kleines, zartes, marginales Motiv – doch im Kontext einer bemerkenswert groß dimensionierten Frage, die ihn seit langem umtreibt: warum unser Leben durch eine „Reihe jener Zwiespalte“ geprägt ist, für die etwa die Opposition profane Entengrütze vs. edles Waldmeistergrün einsteht. Wie recht Fontanes Text hat. Auch in postmodernen Zeiten, in der (fast) alle gelernt haben, dass es nicht zwei, sondern n Geschlechter gibt, unterscheiden wir etwa zwischen zwei Geschlechtern so wie wir geradezu zwanghaft unterscheiden zwischen yin und yang, alt und neu, Signifikant und Signifikat, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Basis und Überbau, System und Umwelt, Sein und Schein, Gläubigen und Ungläubigen etc. „Draw a distinction“ – ohne diesen Imperativ, ohne binäre Unterscheidungen könnten wir uns in einer systematisch überkomplexen (Um)Welt nicht orientieren. Und ohne den Versuch, solche Binarismen zu überwinden, z. B. dadurch, dass wir sie auf sich selbst anwenden (etwa in Fragen wie dieser: ist der Unterschied von Sein und Schein ein seiender oder bloß scheinender Unterschied?), blieben wir unter dem möglichen Niveau einer komplexen und subtilen Weltorientierung.
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Essen ist ein „soziales Totalphänomen“ im Sinne von Marcel Mauss2 – also (wie u. a. auch der Potlatch, der Gabentausch oder der Krieg) ein Phänomen, in dem sich ökonomische, emotionale, juristische, erotische, ästhetische, mythische und religiöse Aspekte ineinander verschränken und verdichten. Essen ist, was aufgrund seiner allzu alltäglichen Selbstverständlichkeit häufig übersehen wird, darüber hinaus aber auch ein fundamentalsemiologisches Phänomen. Setzt es doch immer erneut eine Antwort auf die Frage in Szene, warum überhaupt Bedeutsamkeit ist und nicht vielmehr nicht – weil die Emergenz von Bedeutsamkeit an die Tilgung, an den Verzehr von Seiendem gebunden ist. Das weiß auch der romantaugliche Genießer einer Flüssigkeit, die man so schön geistiges Getränk heißt. Er schwingt sich zu einer bemerkenswerten Reflexion auf, die um den Zwiespalt von Gewinn und Verlust bzw. von Bedeutung und Sein kreist. Weil er die Bowle aus einem grünen Glas trinken will, geht der farbliche Eigenwert des Weines verloren, gewonnen wird ineins mit diesem Verlust aber die „Farbe des Frühlings“ und „mit ihr das festliche Gesamtkolorit“ der Szene. Eine bedeutsame Entscheidung. Verweist sie doch auf den Aspekt, der denn auch ausdrücklich als eigentlich „wichtiger Punkt“ markiert wird: die Unterscheidung von „gemeiner Lebensnotdurft“ und „symbolischer Handlung“. Wer isst und trinkt, folgt, wenn er denn weiterleben möchte, profanen Imperativen der „gemeinen Lebensnotdurft“, wer isst und trinkt, ist jedoch zugleich unweigerlich in „symbolische Handlungen“ verstrickt, die „mehr bedeuten als das Mahl selbst“. Ein Mahl ist immer auch mehr und weniger als das, was es ist – und dies aus mindestens zwei Gründen. Erstens, weil jedes Mahl und jedes Getränk über seine substantiellen Qualitäten hinaus noch über einen symbolischen Mehrwert verfügt, und zweitens, weil sein Sinn in der Vernichtung seiner Substanz liegt. Der erste Aspekt – die poetische Symbolqualität von Speisen und Tischarrangements aller Art – ist vielfach erforscht und doch anhaltend reizvoll; es macht eben Freude, sich etwa über die erotischen Assoziationen auszulassen, die Äpfel, Spargel, Artischocken, 2 „In diesen (wie wir sie nennen möchten) ‚totalen‘ gesellschaftlichen Phänomenen kommen alle Arten von Institutionen gleichzeitig und mit einem Schlag zum Ausdruck: religiöse, rechtliche und moralische …; ökonomische …; ganz zu schweigen von den ästhetischen Phänomenen …“ (Marcel Mauss: Die Gabe – Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Ffm 1968, p. 17sq.)
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Feigen und Bananen auslösen. Der zweite Aspekt – dass der Sinn des Essens in der Zerstörung des Essens gründet – ist hingegen ein wenig zu offensichtlich, um stets mitbedacht zu werden. Dabei verdankt sich der symbolisch-semantische Mehrwert des Essens eben gerade der somatischen Zerstörung des Verzehrten, die wiederum der „gemeinen Lebensnotdurft“, also der Aufrechterhaltung desjenigen dient, der da isst und trinkt. Alle anderen Dinge, die uns Genuss bereiten, aber auch solche, die zum gehobenen Lebensvollzug notwendig sind oder beitragen (Schuhe, Kleidung, Wohnungen, Möbel, Verkehrsmittel, Bücher, Smartphones etc.), wollen gepflegt und erhalten werden, um ihre Funktion zu erfüllen. Anders verhält es sich bei Speis und Trank. Sie müssen vertilgt, aufgezehrt, verschlungen, konsumiert, vernascht, vernichtet werden, um das zu sein, was sie in jedem Wortsinne ausmacht: Lebensmittel. Die Faszination dieses so schlichten wie tiefgründigen Gedankens auf Literatur und Kunst ist groß. Mahlzeiten haben einen symbolischen Mehrwert, der eng an ihre substanzielle Vernichtung bzw. an ihren Verzehr gekoppelt ist. Festlich gedeckte Tische, gerade auch solche, die den Symbolwert der dargereichten Speisen und Getränke in Szene setzen, sehen nach dem Essen so aus, als wollten sie die universale Gültigkeit des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, des Entropie-Satzes, drastisch vor Augen führen. Gedeckte Tische sind ein Lieblingsmotiv in der Geschichte der bildenden Kunst. Fast alle thematisch einschlägigen Gemälde und Szenen3 lassen sich einem schlichten Dreierschema zuordnen. Sie zeigen entweder erstens, wie aufgetafelt wird bzw. wurde, wie z. B. ein festlich gedeckter Tisch aussieht, oder zweitens, wie sich Speisen und Getränke präsentieren, die zumindest teilweise verzehrt wurden, oder drittens, wie verwüstet eine Tafel post festum bzw. post mortem, also nach dem Verzehr aussieht. Aufgetafelt wird z. B. im berühmten Gemälde Bauernhochzeit von Pieter Brueghel dem Älteren aus dem Jahr 1568. Das Arrangement ist hintersinnig, denn ein Bildsignal läuft stets mit, ist der Zeitmodus dieses Gemäldes doch das futurum exactum – wir werden gegessen und getrunken haben; das Kind im Bildvordergrund, dem ein Erwachsener eine viel zu große Kopfbedeckung aufgestülpt hat, wird, wenn 3 Dazu gab es 2010 in Wien (Bank Austria Kunstforum) eine Ausstellung unter dem Titel Augenschmaus – Vom Essen im Stillleben, die von einem klugen Katalog begleitet wurde (edd. Ingried Brugger/Heike Eipeldauer. München/ Berlin/ London/ New Nork 2010).
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Abb. 2: Pieter Bruegel der Ältere: Bauernhochzeitsmahl, Öl auf Holz, 1568, KHM , Wien. (Foto: © Bilddatenbank, KHM , Wien.)
es ordentlich isst und trinkt und gesund bleibt, einst groß sein, aber eben auch groß gewesen sein und gelebt haben – die Hochzeit ist ein rite de passage, dem in mehr oder weniger ferner Zukunft ein anderer rite de passage folgt, das Sterben. Der am Kopf des Tisches sitzende Bauer greift die Teller vom vorübereilenden Brett, verteilt sie weiter, riskiert dabei eine gefährliche Schieflage des Gedecks und macht so darauf aufmerksam, dass das Dargebrachte bald vertilgt sein wird – so wie die Krüge auf der linken Bildseite zu großen Teilen noch leer bzw. schon leergetrunken sind. Tischszenen können zweitens eine ordentlich gedeckte Tafel vor dem Verzehr bzw. eine im Anfangsstadium des Verzehrs befindliche Mahlzeit präsentieren, so wie Jacob von Hulsdoncks Stillleben mit Fisch, Schinken und Kirschen aus dem Jahr 1614 es tut. Alle guten und symbolträchtigen Gaben sind bereits nicht mehr in ihrer Ausgangsposition, Fisch und Fleisch sind zum Teil bereits von den Essenden inkorporiert worden, von Chaos und Entropie aber kann trotz der geknüllten Serviette am rechten unteren Bildrand die Rede noch nicht sein. Der angeschnittene Braten sieht zu verführerisch aus, um ihn so zurückzulassen, die Kirschen auf dem Teller laden noch dazu ein, vernascht zu werden, das Glas ist noch nicht ausgetrunken, das Besteck wartet noch auf weiteren Einsatz, von dem dahinsteht, ob wir ihn als de- oder konstruktiven Einsatz verstehen sollen. Bilder von Mahlzeiten können drittens den Stand der Dinge nach dem Verzehr anzeigen, so wie dies im 1643 entstandenen Stillleben von Maerten Boelema de Stomme der Fall ist. Es zeigt alle Requisiten
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Abb. 3: Jacob von Hulsdoncks: Stillleben mit Fisch, Schicken und Kirschen, Ölfarbe auf Holztafel, 1614, 65,4 × 106,8 cm / Bowes Museum Barnard Castle Durheim County, GB
im Schwebezustand: das Glas mit dem Wein ist halbvoll bzw. halbleer, das Brot ist fast aufgegessen, die Teller mit den Essensresten befinden sich in gefährlicher Schieflage am Tischrand, die übergroße Serviette wird nicht mehr vor Beschmutzung schützen, sondern droht vielmehr, das Verbliebene in die Tiefe zu reißen. Auch das scharfe Messer am linken Bildrand droht vom Tisch zu gleiten, sich aus der Scheide zu lösen und so Unheil zu stiften. Gemeinsam ist den drei evozierten und zahllosen weiteren Bildern mit Essensszenen, dass sie gerade auch dann, wenn es sich um Stillleben und also um Gemälde ohne Menschen handelt, Denkbilder sind. Geben sie doch zu bedenken, wie abgründig es beim Essen um den Zusammenhang von Leben und Tod, Konservieren und Zerstören, Geben und Nehmen, Ordnung und Unordnung bestellt ist. Essen war und ist, um Alois Wierlacher, den Begründer der Kulinaristik und Mitherausgeber des klassischen Sammelbandes Kulturthema Essen zu zitieren, „immer auch eine besondere Lust- und Leidquelle menschlicher Existenz, (Essen) bedeutete Genuß und erregte Ekel, förderte Gemeinschaft und Individuation, stiftete Krieg und Frieden, war Zeichen der Liebe oder des Hasses, spiegelte Armut und materiellen Wohlstand, galt als Integral des Alltags und des Festtags, fungierte als Herrschaftsinstrument und Sozialisationsmittel, Medium und Experimentierfeld sinnlicher, sozialer und ästhetischer Erfahrungen oder Sehnsüchte.“4 Ohne Gewinn und Verlust ist Essen nicht zu haben. Mahlzeiten sind metamorphotisch.5 Man muss sich nicht dem Tiefsinn Hegels 4 Alois Wierlacher: Einleitung; in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans J. Teuteberg (edd.): Kulturthema Essen – Ansichten und Problemfelder. Berlin 1993, p. 5. 5 Cf. dazu Birgit Althans: Metamorphosen des Essens – Mimetische Transformation der Mahlzeit; in: Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie Bd. 23/2014/Heft 2, pp. 99 – 114.
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Abb. 4: Maerten Boelema de Stomme: Stillleben (1642 – 44), Öl auf Holz, Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons
verschreiben, um zu wissen: You can’t have your cake and eat it. Aber man kann dennoch mit Gewinn lesen, wie Hegel an einer Scharnierstelle der Phänomenologie des Geistes Essen und Trinken als die profane Alltagserfahrung charakterisiert, in der Sein und Sinn ein Rendezvous haben, das schnell in transprofane Dimensionen wechselt. Im Kontext der Erörterung, wie verlässlich die vermeintlich sinnlich gewissen Erfahrungen sind und wie es mit der kognitiven, mentalen und sensitiven Erreichbarkeit des Dinges an sich steht, heißt es: „Bei dieser Berufung auf die allgemeine Erfahrung kann es erlaubt sein, die Rücksicht auf das Praktische zu antizipieren. In dieser Rücksicht kann denjenigen, welche jene Wahrheit und Gewißheit der Realität der sinnlichen Gegenstände behaupten, gesagt werden, daß sie in die unterste Schule der Weisheit, nämlich in die alten Eleusinischen Mysterien der Ceres und des Bacchus zurückzuweisen sind und das Geheimnis des Essens des Brotes und des Trinkens des Weines erst zu lernen haben; denn der in diese Geheimnisse Eingeweihte gelangt nicht nur zum Zweifel an dem Sein der sinnlichen Dinge, sondern zur Verzweiflung an ihm und vollbringt in ihnen teils selbst ihre Nichtigkeit, teils sieht er sie vollbringen. Auch die Tiere sind nicht von dieser Weisheit ausgeschlossen, sondern erweisen sich vielmehr, am tiefsten in sie eingeweiht zu sein; denn sie
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bleiben nicht vor den sinnlichen Dingen als an sich seienden stehen, sondern verzweifelnd an dieser Realität und in der völligen Gewißheit ihrer Nichtigkeit langen sie ohne weiteres zu und zehren sie auf; und die ganze Natur feiert wie sie diese offenbaren Mysterien, welche es lehren, was die Wahrheit der sinnlichen Dinge ist.“6 Hegels Überlegung hat es in sich. Lustvoll bringt sie, um die philosophischen Megathemen Sein und Zeit kreisend, Profanstes mit Tiefsinnigstem zusammen. Wer immer isst, wer immer etwas verzehrt, beschleunigt damit bei den verzehrten Substanzen den Prozess der Selbstverzehrung, der, wenn auch in sehr unterschiedlichen Zeitdimensionen, allem Seienden von der Eintagsfliege bis zur Galaxie bevorsteht. Und eben damit trägt er zur, wenn auch ihrerseits zeitlich beschränkten, Selbsterhaltung des Essenden bei. Das sese conservare ist engstens an das Vernichten gekoppelt.7 Georg Simmel hat in seiner 1910 erschienenen Soziologie der Mahlzeit das Essen als das zugleich „Egoistischste“ und „Gemeinsamste“ analysiert – wer isst, isst, was der andere nicht isst, er tut es aus blankem Egoismus; zugleich aber inkorporiert er (häufig gesellig mit anderen) das, was er isst, er konsumiert, er verzehrt das Andere seiner selbst.8 Das Überleben des einen ist an die Vernichtung des anderen gekoppelt; essende Menschen und fressende Tiere verzehren und vernichten also systematisch tierisches und pflanzliches Leben. Dieses Motiv ist bekannt, wenn nicht trivial; es grundiert alle und zumal vegetarisch und vegan orientierte Diskussionen um Ernährungsgewohnheiten. Weniger präsent ist hingegen die enge Koppelung zwischen dem Verzehr von Organismen einerseits und der Emergenz des Symbolischen und Semantischen andererseits. Um es sogleich auf eine Formel zu bringen: Vernichtung von Soma ist die – um es ambitioniert auszudrücken – temporalontologische Bedingung der Möglichkeit von Sema(ntik).9 Diesem komplexen Zusammenhang kann man sich auf vielfache Weise nähern. Besonders naheliegend sind bei diesen Annäherungsversuchen aber zwei Hinweise. Es fällt erstens auf, wie viele kultur- und religions6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes; in: ders.: Werke, Bd. 3, edd. Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer. Ffm 1970, p. 91. 7 Cf. dazu Stefan Hardt: Tod und Eros beim Essen. Ffm 1987. 8 Georg Simmel: Soziologie der Mahlzeit; in: Simmel: Gesamtausgabe Bd. 12 – Aufsätze und Abhandlungen. Ffm 2001, p. 140 sq. 9 Cf. zu diesem Motiv Jochen Hörisch: Bedeutsamkeit – Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. München 2009.
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historisch machtvolle Großversuche, letzte Bedeutungs-, Deutungsund Sinnfragen zu erhellen, geradezu intim an Essens-Szenen gebunden sind. Die für die monotheistischen Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam (Koran Suren 2, 7 und 20) prägende Urszene der Koppelung von Essen und Erkennen ist bis heute auch areligiösen Köpfen tief vertraut. Adam und Eva verzehren im Paradies den Apfel vom Baum der Erkenntnis (Genesis 3). Essend erfahren sie – um noch einmal die Formel aus Fontanes Roman zu evozieren – eine, wenn nicht die ausschlaggebende Größe in der „Reihe jener Zwiespalte“, die unser Leben bedeutsam organisieren und unsere Weltorientierung ermöglichen: die Distinktion von gut und böse – scientes bonum et malum. Das Lateinische signalisiert deutlich die enge Koppelung von Essen und Erkenntnis. Das Wort ‚sapientia‘ (Weisheit) geht auf ‚sapor‘ (Geschmack) zurück, das Verb ‚sapere‘ meint wissend, klug sein, aber eben auch schmecken. Der homo sapiens erfährt sich als bedeutendes Lebewesen, weil er wissend ist, Geschmack hat und anders als andere Tiere zwischen Rohem und Gekochtem unterscheiden bzw. Rohes in Gekochtes verwandeln kann.10 Die Sündenfallgeschichte ist die prominenteste, aber keineswegs die einzige Geschichte, die das Essen und den Verzehr als Urszene wesentlicher, bedeutender Einsichten versteht. Ob Platons Symposion oder das jüdische Passahfest, ob das christliche Abendmahl oder das islamische Fasten bzw. festliche Fastenbrechen, ob hinduistische Festgaben an die Götter oder shintuistische Tee- und Reiszeremonien (um nur diese wenigen Beispiele zu nennen) – so gut wie alle Religionen und Kulturen koppeln die Klärung fundamentalsemiologischer Fragen an den Verzehr von Speisen und Getränken: eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit in der kulturellen Tiefengrammatik. Dieser Feststellung korrespondiert (zweitens) der anthropologische Hinweis auf die vielfache Funktion ein und desselben Körper- bzw. Kopforgans, nämlich des Mundes. Er dient zum Atmen, Küssen und Beißen, zum Essen und Trinken und eben auch zum Sprechen. Der Mund ist das somatisch-semantische Doppelorgan, über den der Stoffwechsel, die Kommunion mit der Natur, aber auch die Kommunikation, die Bedeu10 Claude Lévi-Strauss: Mythologiques I – Le cru et le cuit (dt. v. Eva Moldenhauer, Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Ffm 1971). Zum homo sapiens als schmeckendem Tier cf. Harald Lemke: Über das Essen – Philosophische Erkundungen. München 2014.
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tungsproduktion läuft. Der Mund verzehrt Somatisch-Organisches und produziert Semantisches. Zum Kernbestand aller Kulturen gehören auch die Speisegesetze, die ein autoritativer Mund kundtut. Dies dürft ihr essen – jenes (z. B. den Apfel im Paradies) nicht. Menschen gehören bekanntlich (übrigens zusammen u. a. mit Ratten, Schweinen und Bären) zu den omnivoren Lebewesen; sie essen fast alles. Und eben weil dies so ist, errichten und kennen sie spezifische Speisetabus – so lautet die Kurzfassung des Omnivor-Paradoxes.11 Weil Menschen alles essen, essen sie nicht alles, sondern etablieren Speisegebote und -verbote. Die Vorliebe der einen Ess-Kultur (etwa Schweinefleisch und Wein) ist das Tabu der anderen Kultur. Gerade dies aber, emotional hochgradig besetzte und religiös bzw. quasi-religiös verankerte Speiseverbote zu haben, ist eine weitere starke Gemeinsamkeit, die alle (Ess-)Kulturen verbindet: wie kann man nur Pferde, Schlangen, Schwalbennester essen, fragen diejenigen, die sich die Frage gefallen lassen müssen, wie man nur verschimmelte Milch bzw. Käse essen kann. Zahlreiche (in profan-klinischer Perspektive pathologieanfällige, in religiöser Perspektive hingegen tiefsinnige) Fasten- bzw. SchweigeVerpflichtungen versuchen, diese elementare somatisch-semantische Doppelfunktion des Mundes einzuhegen und damit den Blick auf das fundamentalsemiologische Gesetz zu bannen, derzufolge die Tilgung bzw. die Wegnahme des Somatischen die andere Seite der Gabe von Bedeutsamkeit ist. Geben und Nehmen (von Leben und Lebensmitteln aller Art) gilt allen Religionen als die Aufgabe der Götter. Mit ihnen wollen Menschen Tischgemeinschaft pflegen. „Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast“, lautet bis heute das in christlichen Sphären mit Abstand am weitesten verbreitete Tischgebet. Tischgemeinschaften von Göttern und Menschen sind zumindest für letztere, wohl aber auch für erstere eine riskante Angelegenheit, wie man spätestens seit den Zeiten des Prometheus wissen kann. Und dies auch deshalb, weil man, um die doppelsinnige deutsche Wendung zu bemühen, zu Gericht sitzt, wenn man zu Gericht sitzt.12 Essende Menschen und fressende Tieren richten organisches Leben hin, sie sitzen darüber zu Gericht. Essende, organisches Leben 11 Michael Pollan: The Omnivore’s Dilemma – A Natural History of Four Meals. London 2006. 12 Cf. dazu Jochen Hörisch: Zu Gericht sitzen – Wilhelm Raabes abgründige Prosa; in: ders.: Das Wissen der Literatur. München 2007, pp. 65 – 74
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verzehrende Menschen können, wenn sie zu Gericht sitzen, nicht immer den Gedanken ausblenden, dass auch sie dereinst nicht mehr leben werden, dass sie sich aufgezehrt, dass ihr Leben sich verzehrt haben wird. Genau dies aber unterscheidet sie von Göttern. Zu deren Definition gehört es, ewig zu sein, also nicht sterben zu können. Menschen, die wie Adam und Eva, wie Abraham und Isaac, wie die Teilnehmer an einem Passah- oder einem Abendmahl, essend bedeutende Erfahrungen mit dem Göttlichen machen, machen immer auch so sinnliche wie wesentliche Erfahrungen mit der Ambivalenz von Geben und Nehmen. Hegel hat das bedacht, als er vom Bewusstsein der sinnlichen Gewissheit, als deren Inbegriff er das Essen verstand, schrieb: „Indem es als Bewußtsein die Einheit seiner selbst und seines Gegenteils ist, ist dieser Untergang noch für es, sein Zweck und seine Verwirklichung, sowie der Widerspruch dessen, was ihm das Wesen war und was an sich das Wesen ist; – es erfährt den Doppelsinn, der in dem liegt, was es tat, nämlich sein Leben sich genommen zu haben; es nahm das Leben, aber vielmehr ergriff es damit den Tod.“13 Wer isst, nimmt sich, was er zum Leben braucht – Lebensmittel, Überlebensmittel. Wer sich als zoon logon echon das Leben anderer organischer Substanzen nimmt und ihnen damit den Tod gibt, hat auch die Freiheit, sich selbst das Leben zu nehmen bzw. sich den Tod zu geben. Hegels sinnreiches Spiel mit den Wendungen ‚sich das Leben nehmen‘ bzw. ‚den Tod geben/ergreifen‘ knüpft an das ehrwürdige und zugleich fromme Gemüter irritierende Motiv an, das schon Plinius der Ältere in seiner Historia naturalis pointiert vortrug und das David Hume mit seinem Essay Of Suicide weiterentwickelte. In diesem Essay heißt es: „Die Macht, einen Selbstmord zu begehen, wird von Plinius als ein Vorzug angesehen, welchen der Mensch vor der Gottheit selbst hat. Deus non sibi potest mortem consciscere si velit, quod homini dedit optimum in tantis vitae poenis. (Gott kann sich, auch wenn er wollte, nicht den Tod geben, was er den Menschen als bestes Geschenk bei so vielen und großen Plagen des Lebens verlieh.) Lib. II . c. 5.“14 Ein schlagendes Argument, eine nicht zu lösende theo13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: l. c., p. 274. 14 David Hume: Dialoge über natürliche Religion – Über Selbstmord und Unsterblichkeit der Seele, übers. Friedrich Paulsen. Leipzig 1905, p. 155 (Fußnote 4). Hume zitiert aus liber II c 7 der Historia naturalis von Plinius dem Älteren.
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logische Grundparadoxie (mit der Drittelausnahme der christlichen Karfreitagstheologie: am Karfreitag und Karsamstag hat der christliche Gottessohn stellvertretend für die göttliche Trinität die Erfahrung des Sterbens gemacht, er ist hinabgefahren in das Reich des Todes). Der ewige und allmächtige Gott kann nicht nicht sein, er vermag nicht, was endliche Menschen vermögen – nämlich zu sterben, gar willentlich zu sterben. Hölderlin, Hegels Jugendfreund aus Tübinger Stiftstagen, hat für diese Paradoxie eine eindringliche Formulierung gefunden. In seiner Hymne Mnemosyne (ältere Fassung) heißt es: „Denn nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen / Die Sterblichen eh‘ an den Abgrund. Also wendet es sich, / das Echo / Mit diesen. Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.“15 Die Himmlischen vermögen, eben weil sie unsterblich sind, nicht an den verzehrenden Abgrund heranzureichen, ohne den es das Echo, das Sich-Vernehmen, die Bedeutsamkeit nicht gäbe. Einem ganz anderen genus dicendi als Hölderlins Hymne ist Goethes Faust-Drama verschrieben. Gerade in seinen theologisch-theoretisch anspruchsvollsten Passagen kreist es ebenfalls, wenn auch frivole Tonlagen nicht scheuend, um Geben und Nehmen, um Leben und Tod und – um Speisen und Verspeisen. Faust, der der Versuchung zum Selbstmord nur knapp entronnen ist und der mit seinem teuflischen Begleiter alsbald Auerbachs Keller aufsuchen wird, hat Mephisto eben erst kennengelernt. Der nimmt den Mund recht voll, wenn er Faust verspricht: „Ich gebe dir, was noch kein Mensch gesehn.“ Doch Faust bleibt, wie es sich für einen seriösen Wissenschaftler gehört, skeptisch. Er ist ganz dem Motiv verpflichtet, dass alles Geben ein Nehmen ist et vice versa, dass es Fülle und Erfüllung ohne Mangel nicht geben kann. Mit Platons Symposion weiß er, dass wir stets nur das begehren, was wir nicht haben: „So tauml‘ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht‘ ich nach Begierde.“ Deshalb antwortet er auf Mephistos vollmundiges Versprechen einer noch nie von einem Menschen gesehenen erfüllten Gabe, indem er sich eine Speise wünscht, die nicht sättigt. Worauf ausgerechnet Mephisto mit dem Hinweis kontert, man möge doch „was Guts in Ruhe schmausen“. Ausgerechnet das Essen als Inbegriff der Szene, die eine Ökonomie der Gabe an eine des Verzehrs koppelt, wird von Mephisto als Szene 15 Friedrich Hölderlin: Mnemosyne, Historisch-kritische Ausgabe (Frankfurter Ausgabe), ed. D. E. Sattler – Einleitung(sband). Ffm 1976, p. 67.
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einer Erfüllung präsentiert, die Ruhe verheißt, weil sie die Frage „was bedeutet das alles?“ stillstellt. FAUST . Was willst du armer Teufel geben?
Ward eines Menschen Geist, in seinem hohen Streben, Von deines Gleichen je gefaßt? Doch hast du Speise, die nicht sättigt, hast Du rotes Gold, das ohne Rast, Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt, Ein Spiel, bei dem man nie gewinnt, Ein Mädchen, das an meiner Brust Mit Äugeln schon dem Nachbar sich verbindet, Der Ehre schöne Götterlust, Die, wie ein Meteor, verschwindet. Zeig mir die Frucht, die fault, eh’ man sie bricht, Und Bäume, die sich täglich neu begrünen!
MEPHISTOPHELES .
Ein solcher Auftrag schreckt mich nicht, Mit solchen Schätzen kann ich dienen. Doch, guter Freund, die Zeit kommt auch heran Wo wir was Gut’s in Ruhe schmausen mögen.
FAUST .
Werd’ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, So sei es gleich um mich getan!16
Um ein Lebewesen ist es getan, wenn es verzehrt wird oder sich (selbst) verzehrt. Fausts und Mephistos erste gemeinsame Unternehmung ist der Besuch von Auerbachs Keller, in dem gegeben und genommen, ausgeteilt und eingesteckt und so enthemmt gezecht und gespeist wird, dass letzte fundamentalsemiologische Fragen im Rausch ersticken – und eben dadurch um so nachhaltiger ihrer Beantwortung harren. Der Gelehrte, der erkennen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, eilt mit Mephisto nach dem Besuch von Auerbachs Keller gleich zum zweiten Mal an einen kulinaristisch signifikanten Ort. Sie 16 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, l. c., p. 75 sq.
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besuchen die Hexenküche – eine mantische Sphäre, die letzte Antworten auf fundamentalsemantische Fragen verspricht und sich dabei verspricht. Goethe liegt offensichtlich an der Entfaltung des Motivs, dass Erkenntnis und Speisen bzw. Trinken eng aneinander gekoppelt sind. Faust wird in seinem unendlichen Streben und Bemühen sich selbst verzehren; er wird aber auch – ein überdeutliches und doch bis heute nur selten ausdrücklich problematisiertes Motiv – bemerkenswert viel Leben um sich herum vernichten. Leichen pflastern seinen weiteren Lebensweg; es sterben durch seine Schuld bzw. Mitschuld u. a. Gretchens Mutter, Gretchens Bruder, Gretchens Kind, Gretchen selbst, Euphorion, Philemon und Baucis. „Was ist Nahrung?“, fragt Roland Barthes. Und er antwortet: „Nicht nur eine Reihe von Produkten, die statistischen und diätetischen Studien unterworfen sind. Sondern zugleich auch ein Kommunikationssystem, ein Vorrat an Bildern, ein Regelwerk des Gebrauchs, des Reagierens und sich Verhaltens. […], daß jede Nahrung als Zeichen zwischen den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe fungiert. […] Sie ist von einem (übrigens völlig abstrakten) anthropologischen Standpunkt aus zweifellos das erste Bedürfnis; aber seitdem der Mensch sich nicht mehr von wilden Beeren ernährt, ist dieses Bedürfnis immer deutlich strukturiert worden: Substanzen, Techniken, Gebräuche bringen ihrerseits ein System bedeutungs-erzeugender Differenzen (différences significatives) hervor, und von diesem Augenblick an ist die alimentäre Kommunikation begründet.“17 Mahlzeiten sind – wie man mit Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes, aber eben auch mit Fontane, Goethe, Hölderlin und vielen weiteren kulinaristisch sensiblen Schriftstellern wissen kann – Mahlzeiten sind Metamorphosen von Natur und Kultur, die deutlich machen, dass Kultur eine wesentliche Option dessen ist, was wir Natur nennen. Wer speist und verzehrt, erfährt aber auch die noch tiefgründigere, wenn nicht abgründige Metamorphose von soma in sema. Das weiß auch Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart, in dem es aus dem Munde eines fahrenden Ritters heißt: „Ich suche den Stein der Weisen, erwiderte der Ritter ruhig. Leontin mußte über diese fertige, unerwartete Antwort laut auflachen. Ihr seid irrisch in Eurem Verstande, daß Ihr so lacht, sagte der Ritter etwas aufgebracht. Eben weil die Leute wohl 17 Roland Barthes: Für eine Psycho-Soziologie der zeitgenössischen Ernährung; in: Freiburger Universitätsblätter Heft 75/1982, p. 17.
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wissen, daß ich den Stein der Weisen wittere, so trachten die Pharisäer und Schriftgelehrten darnach, mir durch Reden und Blicke meine Majestät von allen Seiten auszusaugen, auszuwalzen und auszudreschen. Aber ich halte mich an das Prinzipium: an Essen und Trinken; denn wer nicht ißt, der lebt nicht, wer nicht lebt, der studiert nicht, und wer nicht studiert, der wird kein Weltweiser, und das ist das Fundament der Philosophie.“18 Wilhelm Busch hält eine lyrische Variante dieser Einsicht bereit. Sein Gedicht Pfannkuchen und Salat schildert und feiert die Vorlust, die sich einstellt, wenn das genannte Gericht zubereitet wird. Und es endet mit den bedeutenden Versen: Doch späterhin die Einverleibung, Wie die zu Mund und Herzen spricht, Das spottet jeglicher Beschreibung, Und darum endet das Gedicht.19
18 Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart; in: ders.: Werke in fünf Bänden (Frankfurter Ausgabe), Bd. 2, ed. Wolfgang Frühwald. Ffm 1985, S. 163. 19 Wilhelm Busch: Pfannkuchen und Salat, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6, ed. Otto Nöldeke. München 1943, p. 289.
14. Wer redet, ist nicht tot – Zur Kritik der Diskursethik
Kommt, reden wir zusammen wer redet, ist nicht tot, es züngeln doch die Flammen schon sehr um unsere Not. Kommt sagen wir: die Blauen, kommt sagen wir: das Rot. wir hören, lauschen, schauen wer redet, ist nicht tot. Allein in deiner Wüste, in deinem Gobigraun – du einsamst, keine Büste, kein Zwiespruch, keine Fraun, und schon so nah den Klippen, du kennst dein schwaches Boot – kommt, öffnet doch die Lippen, wer redet, ist nicht tot.1 Gottfried Benn schrieb diese betörenden, wenn auch nach der eindringlichen Analyse des „Lyrikwartes“ Robert Gernhardt2 nicht vollendeten Verse 1955, also ein Jahr vor seinem Tod. So positiv hatte er 1 In: Gottfried Benn: Sämtliche Werke – Gedichte 1, Stuttgarter Ausgabe. Stuttgart 2002 (2.), p. 300. 2 Robert Gernhardt: Wie arbeitet der Lyrikwart? Gottfried Benn wird verbessert; in: literaturkritik.de Mai 1999.
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nicht immer vom „zusammen reden“ gedacht und gedichtet. Um das Jahr 1933 herum hatte er sich wie so viele Menschen, darunter auch zahlreiche Intellektuelle, Schriftsteller, Professoren, Juristen und Künstler, von der gängigen Kritik am Parlament als Schwatzbude und vom Lob des Diktators faszinieren lassen, der ohne Widerreden horchenden und gehorchenden Ohren sagt, wo es langgeht. Gottfried Benn war im ersten Weltkrieg als Militärarzt tätig; er, der so suggestiv vom Zusammenhang zwischen Reden und Nicht-tot-sein zu dichten verstand, wusste also aus eigener Erfahrung sehr konkret, was es mit Worten wie „stillgestanden“ und „Totenstille“ auf sich hat. Am 12. Oktober 1915 war er in Brüssel bei der Hinrichtung der als Spionin verurteilten britischen Krankenschwester Edith Cavell, die alliierten Gefangenen die Flucht ermöglicht hatte, anwesend; er hatte ihren Tod offiziell festzustellen, und er tat dies mit der ihm eigentümlichen Ungerührtheit. Die Toten schweigen. Sie können uns nicht mitteilen, wie es ist, tot zu sein, obwohl wir genau dies gerne wüssten. Das macht den Tod so unerträglich – er ist, sit venia verbo, die Inkarnation des Antilogos. Tote kommunizieren nicht, sie haben nichts zu sagen, obwohl sie doch so viel zu sagen hätten. Und eben diese fundamentale Kommunikationsverweigerung sorgt für die Asymmetrie, dass Lebende völlig dialogfrei über den Tod und die Toten reden können, ohne mit Widerworten von Seiten der so Besprochenen rechnen zu müssen. Viel vom spezifischen Pathos der Dichtung rührt daher, dass sie etwa in orphischer Tradition so tun kann, als würde sie vom Ort einer Vertrautheit mit dem Tode aus reden. Der Preis für dieses Pathos ist bekannt: keiner unterstellt ernsthaft, dass Dichtung nach dem Vorbild der Wissenschaft sachlich belastbare und falsifizierbare Aussagen macht. Viel von der spezifischen Problematik religiöser Reden rührt daher, dass sie belangvoll nur dann werden, wenn sie mehr versprechen als andere Diskurse, die vor dem Thema Tod buchstäblich versagen. Aber genau dann, wenn sie dies tun, leben Religionen über ihre verantwortbaren diskursiven Verhältnisse. Allein der Umstand, dass es keinen Mangel an Offenbarungsreligionen gibt, verweist auf das Dilemma, dass deren Offenbarungen offenbar so offenbar nicht sind. Wären sie, wäre Gott, wäre das Leben nach dem Tod offenbar, könnte es keine konkurrierende Vielzahl an Offenbarungen geben. Wer einen offenbaren Gott behauptet, beleidigt, sollte es ihn geben, den Gott, der offenbar nicht offenbar sein kann oder will. Weil viele religiös gestimmte Köpfe genau diese Evidenz nicht einsehen wollen, sorgen sie dafür, dass
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Leute, die Widerworte zu ihren satanisch-frommen Reden riskieren, dran glauben müssen. Weil dem so ist, weil es kein Außerhalb des Textes und der Diskurse gibt, das sich verbindlich in Diskurse rückübersetzen ließe, weil die Toten nun eben nicht Tote wären, wenn sie reden würden, hat die knappe und dann leitmotivisch wiederholte Eingangswendung von Gottfried Benns Gedicht Kommt ihren unwiderstehlichen Reiz: „Wer redet, ist nicht tot.“ Wer aber lebt, kann nicht unterhalb des Niveaus von Spannungszuständen leben. Das gilt in somatischer wie semantischer Hinsicht. Wer keine Hirn- und Hautspannung mehr aufweist, ist tot. Und wer spannungslos redet, einsamst in einer Wüste, voll Gobigraun, ohne Zwiespruch, ohne Fraun, hat nicht etwa den Tod überwunden, sondern den Tod ins Leben hineinkopiert. Auf- und anregend ist Gottfried Benns Gedicht, weil es Sprache und Kommunikation nicht als Medien der Versöhnung und des Konsenses, sondern als Sphären einer strukturalen Polemik und Negation begreift: wer redet, ist nicht tot. Wer redet, hat zwar nicht dauerhaft, aber immerhin für die Zeitspanne, in der er redet, den Tod getötet. Töten aber ist noch dann ein aggressiver Akt, wenn er den Tod zum Feind hat. Man muss nicht auf den Hubertusberger Friedensgesprächen zugegen sein, um die überwältigende, sagen wir getrost: triviale Intuition zu haben, dass es besser ist, miteinander zu reden als sich wechselseitig zu töten und mundtot zu machen. So intuitiv, so überwältigend, so zustimmungspflichtig aber kann dieses schlichte Motiv nun auch wieder nicht sein. Warum sonst gilt Jürgen Habermas, der diesem trivialen, aber deshalb ja nicht falschen Motiv die komplexeste Ausgestaltung gewidmet hat, als einer der wichtigsten, wenn nicht als der bedeutendste, mit den meisten Auszeichnungen und Preisen (darunter dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels) versehene Philosoph in Deutschland und der weiten Welt? Kann, will irgendeiner ernsthaft widersprechen, wenn jemand dafür plädiert, in einem möglichst herrschaftsfreien Diskurs einen Konsens zu suchen und zu finden, der alle Beteiligten befriedet und zufriedenstellt? Und wer würde sich nicht wünschen, es gäbe die kontrafaktisch antizipierte herrschaftsfreie Kommunikation, die über konkrete Konfliktschlichtung hinaus gar noch quasitranszendentale Wahrheiten ausfindig zu machen verspricht?3 3 Cf. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. Ffm 1981.
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Wer angesichts der suggestiven Zustimmungspflichtigkeit des Plädoyers für konsensorientierte Diskurse z. B. als Philologe all seinen kleinen Beamten-Mut zusammennimmt und daran erinnert, dass das schöne, schon zu Friedrichs des Großen und Goethes Zeiten beliebte Wort ‚Diskurs‘ direkt vom lateinischen Verb ‚discurrere‘ abstammt und nichts anderes meint als auseinanderlaufen (dis-currere)4, in unterschiedliche Richtungen rennen und eben nicht zusammen kommen, macht sich nicht beliebt. Wer lakonisch sagt, es leuchte ihm ein, dass Intellektuelle und Professoren dafür plädierten, im Streit sollten Diskurse und nicht Fäuste entscheiden, es leuchte ihm aber auch ein, wenn Boxer und streikende Arbeiter mit starken Armen andere Medien der Auseinandersetzung bevorzugten, muss mit diskursethischer Missbilligung rechnen. Wer überdies etwa mit Niklas Luhmann darauf hinweist, dass Reden bzw. Diskurse offenbar nicht den Konsens zu ihrer regulativen Idee haben, weil ja dann, wenn Konsens herrscht, nichts zu bereden ist, muss mit mehr als nur unlieben Reaktionen, nämlich mit einer gewissen Aggressivität rechnen. Wer noch weiter geht und darauf hinweist, wie gerne an Habermas orientierte Diskursethiker das Spiel spielen, ihren Kontrahenten einen „pragmatischen Selbstwiderspruch“ nachzuweisen und sie deshalb lustvoll aus der Kommunikationsgemeinschaft zu exkommunizieren (häufig mit dem nachsichtigen Hinweis, dass habe er ja selbst verschuldet, weil selbst getan), versündigt sich wider den Heiligen Geist der Diskursethik. Wer gar polemisch wird und Sätze sagt wie „Diskurse zeigen: Konsens ist Nonsens, Diskurse sind Dissens-orientiert, denn Konsens ist der Konkurs von Kommunikation“ muss mit totalem Diskurskrieg derer rechnen, die den totalen Konsens wollen. Sie halten es mit den humanistischen Worten Sarastros aus der Zauberflöte: „Wen solche Lehren [wie die Konsenstheorie und die Diskursethik, J. H.] nicht erfreun, verdient es nicht, ein Mensch zu sein.“ Was aber soll 4 Nur ein Beispiel: In Eichendorffs Taugenichts werden das Nicht-stillstehen und das Diskurrieren immer wieder ineinandergeblendet, so etwa in dieser Textpassage: „In dem Garten war schön leben, ich hatte täglich mein warmes Essen vollauf, und mehr Geld, als ich zu Weine brauchte, nur hatte ich leider ziemlich viel zu tun. Auch die Tempel, Lauben und schönen grünen Gänge, das gefiel mir alles sehr gut, wenn ich nur hätte ruhig drin herumspazieren können und vernünftig diskurrieren, wie die Herren und Damen, die alle Tage dahin kamen.“ (Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts; in: ders.: Werke in fünf Bdn, Bd. 1, ed. Wolfgang Frühwald u. a. Ffm 1985, p. 455)
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ein Humanist oder Diskursethiker mit denen anstellen, die es nicht verdienen, ein Mensch zu sein? Etwa sie mitsamt ihren Büchern auf den Scheiterhaufen schicken? Dass es sich bei diesen Überlegungen nicht nur um Fragen nach theoretischen Inkonsistenzen eines Projekts handelt, das ein wenig zu konsensorientiert ist und seinerseits militant die Zustimmung aller einklagt, wird lebensweltlich immer erneut deutlich. Denn es kommt mit eigentümlicher Regelmäßigkeit zu handgreiflichen Paradoxien bei Repräsentanten diskursethischer Theorien. Ein diskursethischer Philosoph kann in einem Vortrag Herrn Falke und Herrn Taube über die Nachrüstung und den Frieden diskutieren lassen5, Herrn Taube den argumentativen Sieg zusprechen, in der anschließenden Diskussion aber ausrasten und gar handgreiflich werden. Und ein prominenter Habermas-Schüler und einflussreicher Feuilletonredakteur kann es begrüßen, wenn von einem Sachbuch „nur ein trauriges Häuflein akademischer Asche“6 übrigbleibt. Der Diskursethiker wird zum Bücher5 Cf. Ernst Tugendhat: Und wenn die ganze Welt sowjetisch würde? In: Spiegel 43/1983 (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14023603.html). 6 Thomas Assheuer in der ZEIT vom 17. 7. 2008 – hier der gesamte Text mitsamt dem aus Inkompetenz oder aus Inkompetenz plus Bösartigkeit definitiv falschem Referat einer Literatur- und Medientheorie: „Ab in die Tonne – Der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch widerlegt sich selbst. / Bekanntlich soll man Bücher nicht lesen, bevor man sie rezensiert, denn Lektüre macht voreingenommen und trübt die Reinheit des menschlichen Urteils. Der Kritiker Burkhard Müller hat sich nicht daran halten wollen und ein Buch des Literaturwissenschaftlers Jochen Hörisch erst gelesen und dann so liebevoll in die Tonne getreten, dass von dem Werk (Das Wissen der Literatur) nichts blieb als ein trauriges Häuflein akademischer Asche. Das konnte Hörisch nicht gefallen. Seit Wochen schreibt er Müller böse Briefe [falsch: zwei offene Briefe in drei Tagen, J. H.] und verteilt sie an verdiente Mitarbeiter des deutschen Kulturbetriebs (www.perlentaucher.de). Über den Tumult müsste man kein Wort verlieren, wäre Hörisch nicht eine führende Fachkraft auf dem Gebiet der postmodernen Literaturtheorie. Wir verdanken ihm die schöne Studie Brot und Wein (nebst zwei Folgebänden) sowie Aufsätze über die Sprache im Medienzeitalter. Darin suggerierte Hörisch, unsere Wirklichkeit sei eine mediale Konstruktion, nicht Sein, sondern Schein. Medienmenschen, also wir alle, glitten durch multiple Welten und virtuelle Galaxien, durch bunte Sprachspiele und funkelnde Simulakren. Nun reagiert Hörisch auf eine Buchkritik, als habe es seine Theorie nie gegeben. Plötzlich sind Worte nicht Schein, sondern Sein, und sie erschaffen eine reale Welt der Verletzung und Unterscheidung. Seltsam. Nichts verspotten postmoderne Diskursdesigner gemeinhin mehr als die Normativität von Sprache. Aber wehe, sie werden ihrer ansichtig, dann benehmen sie sich, als brenne ein Alien ihnen die Hütte ab. Das kann nur heißen: Jochen Hörisch will von der innig geliebten Fabel, unsere Welt sei nur ein Zeichenspiel, nichts mehr wissen. Der Propagandist der Postmoderne trägt seine bleiche Theorie eigenhändig zu Grabe. Dafür sollten wir
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verbrenner. Nun könnte man dergleichen Peinlichkeiten nun eben als persönliche Peinlichkeiten verbuchen, die nicht gegen die Konsistenz eines diskursethischen Friedensprojekts sprechen. Aber sie sind mehr, nämlich Indices eines tiefer liegenden Problems. Würde der Satz vom zu vermeidenden pragmatischen Selbstwiderspruch bei Strafe der Exkommunikation aus der Diskursgemeinschaft gelten, so hätten sich dieser friedensbewegte Philosoph und jener diskursethische Feuilletonredakteur selbst ausgeschlossen. Sie reden und schreiben aber weiter – und das ist auch gut so. Denn Paradoxien und Selbstwidersprüche sind nicht etwa Katastrophen für Theorien, sondern Anzeigen für komplexe und nicht schlicht zu lösende Problemlagen. Sie halten eine Botschaft bereit: hier wird es spannend, hier muss man gegen Suggestionen und Trivialitäten andenken, hier lohnt es sich, dem zu misstrauen, was allzu selbstverständlich scheint.
ihm dankbar sein. Thomas Assheuer.“ In dem Buch, dem Assheuer wünscht, es möge zum „traurigen Häuflein akademischer Asche werden“, weil es die unsinnige These vertrete, „unsere Wirklichkeit sei eine mediale Konstruktion, nicht Sein, sondern Schein“, heißt es: „Die Literaturwissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten mit bemerkens- und buchenswerter Subtilität die internen Modi, Strukturen und Funktionsweisen poetischer Rede analysiert. (…) Das ist auch gut so. Aber das wäre noch besser, wenn sich daraus nicht ein – mal implizites, mal explizites – Verdikt über eine themen- und problembezogene Literaturwissenschaft ergeben hätte. Eine sich für sachlich relevante Themen interessierende Literaturwissenschaft gilt vielen Fachvertretern immer noch als ‚inhaltistisch‘. Deshalb wissen wir Philologen z. B. vieles über rhetorische Figuren wie die Prosopopoie, aber bedenklich wenig über die Sach-Themen und Probleme, die ein belletristischer … Text so avisiert, daß die poetisch dissidente Rede sachlich-fachliche Aufmerksamkeit verdient.“ (Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München 2007, p. 35). Dass Literatur sachlichfachlich Relevantes weiß, ist die deutlich exponierte Leitthese des Buches („Eine zukunftsfähige Literaturwissenschaft … muß in sachlicher Hinsicht Valides zu sagen haben.“, p. 42), die der Flachleser Assheuer aus Inkompetenz und/oder Bösartigkeit verkennt. Dennoch sollte man seinen Beitrag nicht verbrennen, sondern zur Kenntnis nehmen. Im dritten Band der von Assheuer erwähnten Trilogie argumentiere ich mit Kracauer u. a. gegen Virilio und andere Medientheoretiker zugunsten der These, dass der Realitätsbezug neuerer (audiovisueller) Medien nach Gutenberg höher ist als der früherer Medientechniken (cf. Jochen Hörisch: Das Ende der Vorstellung – Die Poesie der Medien. Ffm 1999, Kap. II /3: ‚Non plus ultra‘ – Mediale Verwerfungen oder Errettungen des Realen, pp. 165 – 190). Es ist Assheuer, der ein delirantes und unkontrolliertes Verhältnis zur Sprache unterhält, wenn er so projezierend und aggressiv schreibt wie in dem zitierten Artikel, der dennoch nicht zum traurigen Feuilleton-Aschehäufchen verbrannt werden, sondern als Dokument pragmatischer Selbstwidersprüche und irrationaler Impulse im Lager der Diskursethiker zur Kenntnis genommen und geschätzt werden sollte.
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Für das Thema „Sprache und Frieden“ heißt das: die Alternative „Kommunikation oder Krieg“ ist rettungslos unterkomplex. Wer dafür plädiert, miteinander zu reden statt einander zu töten und dadurch mundtot zu machen, hat immer Recht – und muss sich fragen (lassen), warum alle diesem Satz zustimmen und es dennoch immer wieder Streit, Kampf und Krieg gibt. Die Antwort auf diese Frage ist so schwer nicht. Man muss sich nur von dem frohgemuten diskursethischen Glauben verabschieden, Kommunikation sei die Alternative zu Kampf, Streit und Krieg. Wenn ein Diskursethiker wie Thomas Assheuer sich auf der ersten Seite des ZEIT -Feuilletons wünscht, von einem literaturwissenschaftlichen Sachbuch möge nur „ein trauriges Häuflein akademischer Asche“ übrigbleiben, so ist er deshalb nicht schon ein Faschist, sondern er ist und bleibt ein Diskursethiker – aber eben einer, der den Wunsch artikuliert, Bücher, die ihm nicht passen, mögen verbrannt werden. Natürlich ist das hochgradig peinlich, für die Person wie für die Theorie, in deren Namen er spricht, aber zugleich ist es auch ein produktiver Widerspruch – wir sollten Thomas Assheuer für seinen Ausfall dankbar sein, der ein Licht auf interne Widersprüche der Konsenstheorie wirft. Führt er doch drastisch vor Augen, dass Kommunikation nicht die konsensuelle Alternative zu Streit und (im Extremfall) Krieg ist, sondern deren funktionales Äquivalent. Nach dem vielzitierten Wort von Clausewitz ist der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Eindringlich verweist Clausewitz selbst darauf, dass diese Wendung einen doppelten Sinn hat. Normativ verweist der berühmteste Clausewitz-Satz darauf, dass noch der Krieg am politischen Modell der Konfliktlösung orientiert sein sollte, ja muss – einer Konfliktlösung, die weiß, dass es auf Erden die finale Lösung aller Konflikte nie geben wird. Deskriptiv und analytisch macht die Wendung vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln darauf aufmerksam, dass der Krieg nicht das schlechthin Andere der Politik ist, deren Medium nun einmal Verhandlungen, Gespräche und Diskurse zwischen sich bekämpfenden Parteien, im eskalierenden Fall: zwischen Feinden sind. Was im Umkehrschluss auch heißt: in der Politik, im Verhandeln, im Miteinanderreden, im Dis-currieren steckt der Konflikt, der Streit, der Krieg. Diskurse und Kriege sind funktionale Äquivalente. Wer redet (sei es als Mutter, als Lehrer, als Politiker, als Vortragender, als Diskussionsteilnehmer, als Befehlsgeber, als Prüfungskandidat, als Prediger, als Liebender etc.), will dem, der discurriert, also in eine andere Rich-
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tung denkt und spricht, dazu bringen, so zu denken, zu reden und zu handeln, wie er selbst es tut bzw. will. Wer Krieg führt, will mit verschärften, eben auch außerdiskursiven Mitteln dasselbe – nämlich Macht ausüben und d. h. anderen seinen Willen aufzwingen. So gut wie alle, die Krieg führen, betonen wie ein guter, auf Konsens fokussierter Habermas-Schüler, dass sie nun eben Konfliktlösung, Konsens und Frieden wollen. Si vis pacem para bellum – einer der ältesten und wohl bekannteste Spruch über das Verhältnis von Krieg und Frieden behauptet, dass Friede die regulative Idee des Krieges ist, so wie Konsens die regulative Idee von kommunikativem Handeln sein soll. Nun ist es offensichtlich, dass Sprache ebenso ein Medium der Verständigung wie des Kampfes sein kann. Man kann, um harmlose Beispiele zu bemühen, miteinander reden, um sich zu verabreden, um Interaktion zu koordinieren oder um Grüße und Höflichkeiten auszutauschen, kurzum: um sich zu verständigen und miteinander ins Benehmen zu setzen. Und man kann reden, um zu provozieren, zu beeinflussen, zu überzeugen, zu überreden, zu verletzen, zu propagieren, den anderen von Irrlehren abzubringen etc. Dass das Medium Sprache zu beidem, zur friedlichen Verständigung wie zur Provokation und Verletzung taugt, ist eine höhere Trivialität. Dass Sprache ein Medium der Befreiung und der Herrschaft zugleich ist, ist schon ein weniger trivialer Satz. Dass die Befreiung von Herrschaft in aller Regel den Beginn einer neuen (im günstigen Fall: besseren, gerechteren, offeneren etc.) Herrschaft bzw. Diskurshoheit markiert, sollte stets mitbedacht werden. Gar nicht trivialitätsverdächtig ist schließlich die Vermutung, dass noch und gerade in konsens- und friedensorientierten Diskursen ein Macht- und Gewaltpotenzial steckt. Die Aufregung in geisteswissenschaftlichen, hermeneutischen und diskursethischen Sphären war denn auch groß, als der französische Philosoph Jacques Derrida die bösen Worte vom „guten Willen zur Macht“7 und vom „Terrorismus des Konsenses“ lancierte. Man muss aber nicht in die paradoxen Untiefen der Diskurskonflikte über die Macht der Diskurse zwischen Heidelberg, Paris und Frankfurt eintauchen, um erkennen zu können, wie konfliktträchtig das Plädoyer für die friedliche Macht von Sprache und Kommunikation ist. Symptomatisch illustrieren lässt sich das Ge7 Jacques Derrida: Guter Wille zur Macht (I) – Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer; in: Philippe Forget (ed.): Text und Interpretation. München 1984, pp. 56 – 58 und Teil II pp. 62 – 77.
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Abb. 5 Nationalhymne DDR
waltpotenzial von Konsenszumutungen z. B. am Text der DDR -Hymne, die Johannes R. Becher dichtete und Hanns Eissler suggestiv vertonte. Wer wird denn Widerworte geben wollen, wenn es gilt, dem Guten zu dienen, die Not zu bezwingen und die Sonne zum Scheinen zu bringen? Niemand – und so ist „vereint“ denn auch das Leitwort der konsensorientierten Hymne. Niemand, der guten Willens ist (notabene: eine Lieblingswendung des Kanzlers Helmut Kohl), wird ernsthaft gegen Frieden, Solidarität, Gerechtigkeit und Sonnenschein diskurrieren wollen. Wenn er es doch tut, so verdient er es nicht, ein Mensch zu sein, so hat er sich selbst aus der Kommunikationsgemeinschaft der Guten ausgeschlossen, so gehört er nicht zu den im Friedensdienst Vereinten. An der gebotenen Reaktion lässt die Hymne keine Zweifel aufkommen, sie redet und singt Klartext: „Wenn wir brüderlich uns einen, schlagen wir des Volkes Feind“ heißt es bündig, klar und aggressiv genau in der Mitte der friedensbewegten Hymne. An diese Parole haben sich die DDR -Politiker gehalten, als sie am 17. Juni 1953
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auf streikende Arbeiter schießen ließen, als sie am 13. August 1961 die Berliner Mauer hochziehen ließen, als sie am 21. August 1968 halfen, die Freiheitsbewegung in Prag niederzuschlagen, als sie Volksfeinde an der Grenze erschossen oder Oppositionelle in Bautzen einlochten. Wenn es gut geht, bleibt nur von den Werken der Nicht-Einverstandenen „ein trauriges Häuflein akademischer Asche“, wenn es schlecht läuft, müssen sie selbst mit Auslöschung rechnen. „Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ Es lohnt sich, Heines Wort im Kontext zu zitieren. In seinem Almansor-Drama klingt das so: HASSAN .
Gibt’s irgendwo ’nen Glauben zu verschachern, So sind zuerst die Pfaffen bei der Hand.
ALMANSOR .
Bald hörten wir, daß auch der große Zegri, In feiger Todesangst, das Kreuz umklammert; Daß vieles Volk dem Beispiel Großer folgte, Und Tausende ihr Haupt zur Taufe beugten; –
HASSAN .
Der neue Himmel lockt viel alte Sünder.
ALMANSOR .
Wir hörten, daß der furchtbare Ximenes, Inmitten auf dem Markte, zu Granada – Mir starrt die Zung’ im Munde – den Koran In eines Scheiterhaufens Flamme warf!
HASSAN .
Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.8
Heinrich Heine liefert denn auch ein frühes und gutes Gegenbeispiel zu allen konsensseligen Diskurstheorien zwischen Gadamers 8 Heinrich Heine: Almansor – Eine Tragödie; in Sämtliche Schriften in zwölf Bdn, Bd. 1, ed. Klaus Briegleb. München 1968, p. 284 sq.
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Horizontverschmelzungen und Habermasschen Kommunikationsgemeinschaften. Aggressiver und witziger als Heinrich Heine ist selten ein Schriftsteller aufgetreten. Heine lässt etwa im Streit mit August von Platen oder mit Ludwig Börne keinen Zweifel daran aufkommen, dass seine Reden und Schriften verletzen sollen und dass er in der Diskussion siegen will. Für Heine ist der Diskurs ein funktionales Äquivalent zu Streit und Krieg. Eben wegen der ihnen inhärenten Aggressivität machen Heines Diskurse die kriegerische Vernichtung des Feindes überflüssig. Wer mit Worten ficht, braucht nicht zum Degen zu greifen; das kann Heine den burschenschaftlichen Schlägertypen überlassen. In Diskussionen siegen wollen – das ist ein evidentes Motiv aller, die da diskurrieren. Es einzugestehen, fällt hingegen schwer; das gilt vielen als Sünde wider den Heiligen Geist der Verständigung und der Kommunikation, die allem Reden angeblich innewohnt. Ob der Streit um das rein literarisch verstörend schlechte Israel-Gedicht von Günter Grass, ob der Kampf um Walsers Paulskirchenrede, ob die Auseinandersetzungen um Handkes Verständnis für serbische Mörder, ob der Historikerstreit zwischen Nolte und Habermas, welch letzterer hier zu großer Form auflief, oder ob die großen Theoriedebatten der letzten Jahrzehnte (Adorno gegen Hans Albert im Positivismusstreit der Soziologie, Habermas gegen Luhmann im Streit um Kritische Theorie und Systemtheorie, Derrida gegen Searle im Streit um analytische Philosophie und Dekonstruktion) – jedes Mal ist unverkennbar, dass in diesen Diskursen ein Wille zur Macht, zur Diskurshoheit, zum Sieg waltet. Und das ist auch gut so. Nicht nur, weil es funktional unvermeidbar ist, sondern auch deshalb, weil Leben unterhalb des Niveaus von Differenzen nicht zu haben ist. Wer so argumentiert, schließt nicht aus, sondern ein, dass derjenige bessere Aussichten auf den diskursiven Sieg hat, der über die besseren Sach-Argumente verfügt. Er sieht aber zugleich, dass noch die Sätze, Ableitungen und Sachhinweise, die als Argumente tituliert und in den Diskurs eingespeist werden, eine Konflikte eskalierende Kraft entfalten können. Argumente wollen nun eben Argumente und nicht bloße Meinungen, subjektive Urteile oder diplomatische Wendungen sein. Argumente sind aber nur dann Argumente, wenn sie Zustimmungspflichtigkeit einklagen; sie müssen sachlich richtig, logisch konsistent und intersubjektiv nachvollziehbar sein – sonst sind sie eben keine Argumente, sondern Hypothesen, Meinungen, Ansichten oder Orakel. Deshalb sind Argumente gewissermaßen unhöflich bis unversöhnlich.
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Sie lassen dem dis-kurrierenden Dialogpartner nur die Wahl, die Gegenrede einzustellen und dem Argument zuzustimmen oder aber den Gesprächspartner durch den Hinweis zu diskreditieren, dass es sich eben nicht um ein Argument handelt, sondern z. B. um eine frohe Botschaft. Noch der berühmten Habermas-Formel vom „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ ist ja zu entnehmen, dass sie, auf die sich die Kritiker pragmatischer Selbstwidersprüche gerne stützen, nur um den Preis einer evidenten logischen Inkonsistenz zu haben ist. Ein Zwang ist ein Zwang, die Zwanglosigkeit ist zwanglos; ein zwangloser Zwang oder eine zwanghafte bis zwangsneurotische Zwanglosigkeit ist eine contradictio in adjecto. Auch Gewalt kann freundlich daher kommen; wir wollen ja nur Dein Bestes, wenn wir Dich durch reine Sachlichkeit, wodurch sonst, zwingen, uns zuzustimmen. Wen solche Lehren nicht erfreun, der ist des Volkskonsenses Feind und den schlagen wir vereint. Von dessen Schriften soll nur „ein trauriges Häuflein akademischer Asche“ übrigbleiben. Konsens und Gewaltsamkeit vertragen sich glänzend. Das gilt nicht nur kommunikationsstrukturell, sondern auch empirisch. Um polemisch überzupointieren: die Zeiten, in denen die Deutschen den totalen Konsens wollten und um den Preis, Volksfeinde vereint geschlagen zu haben, auch hergestellt hatten, die Zeiten also, in denen sie „ein Volk, ein Reich, ein Führer“ skandierten, waren keine friedvollen Zeiten. Die Zeiten und Sphären, in denen man lustvoll und streitlustig darauf hinweisen kann, wieviel bücherverbrennungswillige Aggressivität noch und gerade in diskursethischer Konsensrhetorik stecken kann, sind im Vergleich dazu friedliche Zeiten. Seitdem wir diskurrieren und ohne Gefahr für Leib und Leben noch über friedensaggressive Diskursethiken streiten dürfen, leben wir in bemerkenswert friedlichen Zeiten. Wer den Frieden will, muss auch den kommunikativen Dissens wollen. Wollt ihr den totalen Konsens? Nein.
15. Das Untier und das Einhorn – Eine Anmerkung zum Bestiarium von Günter Grass
Das Werk von Günter Grass ist ein einziges und einzigartiges Bestiarium. Wie schon die Titel seiner Werke klarstellen, ist diese Feststellung fast ein wenig zu evident, um ganz geheuer zu sein. Die Vorzüge der Windhühner (1956), Katz und Maus (1961), Hundejahre (1963), Aus dem Tagebuch einer Schnecke (1972), Der Butt (1977), Die Rättin (1986), Unkenrufe (1992), Im Krebsgang (2002) – im Werk von Günter Grass haben Tiere bzw. Untiere buchstäblich das Sagen. Das gilt selbstredend auch für die Werke, die darauf verzichten, ihre bestialischen Momente und Motive schon im Titel anzuzeigen. Es genügt die Erinnerung an das Kapitel Karfreitagskost aus der Blechtrommel, das trotz der darin entfalteten Ästhetik des Schocks, des Ekels und des Schreckens mittlerweile klassisch zu nennen ist. Aale im Pferdekopf: das sind wortmächtige Bilder, die sich auch demjenigen Leser unauslöschlich einprägen, dem die subtil allegorischen Momente dieser zwischen Aas und Aal, Thanatos und Eros, Satanisch-Profanem und Sakralem changierenden Szene entgehen. Die tierischen Motive im Werk von Günter Grass sind auf den ersten Blick schnell und plausibel zu erschließen. Im Bestiarium von Günter Grass kreuzen sich mindestens vier Traditionslinien (die Liste lässt sich leicht erweitern): Günter Grass schreibt erstens Novellen, auch wenn er Romane schreibt. Alle seine Prosatexte kreisen novellistisch um unerhörte Begebenheiten. Sie stellen dabei den Doppelsinn des Wortes „unerhört“ heraus, und sie folgen geradezu musterschülerhaft dem Strickmuster der Falkennovelle, wie Paul Heyse es herausgestellt hat. Günter Grass schreibt zweitens und nicht nur im Butt in einer Märchentradition, die dem Motiv der sprechenden Tiere1 verpflichtet 1 Cf. dazu die Studie von Jan M. Ziolkowski: Talking Animals – Medieval Latin Beast Poetry 750 – 1150. Philadelphia 1993.
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ist. Ein produktiv paradoxes Motiv: gerade weil Tiere nicht sprechen können, könnten sie, wenn sie denn doch artikulieren könnten, ausdrücken, was Menschen entgeht. Nur der Mensch ist ein zoon logon echon; Tiere hingegen sind stumm. Könnten sie wie in vielen Märchen oder in der Prosa von Günter Grass reden, so würden sie sagen, warum sie verstummen. Die Natur ist stumm, weil sie trauert; und sie erstarrt vor Trauer, weil sie stumm ist. Literatur, gerade auch die von Grass, ist der Versuch, diesen circulus vitiosus zu (er)lösen und die stumme Natur beredt werden zu lassen. Günter Grass ist drittens ein religiös musikalischer Autor von Graden. Er schreibt in der Tradition des frommen Physiologos, also jenes Buches, das seit dem dritten nachchristlichen Jahrhundert in vielen Varianten überliefert und fortgeschrieben wurde. Nach dem Schema „der Pelikan opfert sein Blut für seine Jungen, so wie Gott seinen Sohn geopfert hat“, macht sich der Physiologos einen christlichen Reim auf den Heils-Sinn der Tiere. Dem kontrastiert viertens das satanische Interesse am Animalischen, das das Werk von Günter Grass wie ein basso continuo begleitet. Die intertextuelle Primärreferenz (um im Philologen-Jargon zu formulieren) ist deutlich; Goethes Mephisto spricht die Weisheit aus, dass Menschen ihre animal-rationale-Überlegenheit gegenüber anderen Kreaturen nur dazu nutzen, der Steigerung „gut, besser, am besten, bestialisch“ Plausibilität zu verleihen. Mephisto, bekanntlich des Pudels Kern, zum göttlichen Schöpfer: Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen, Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen. Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag, Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. Ein wenig besser würd’ er leben, Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein. Die Tiere, unter ihnen die Menschentiere, die die Prosa von Günter Grass durchziehen, bestätigen die Einsicht des Gottes-Antipoden mit dem Pferdefuß. Zu Satan, dem Herrn der Fliegen, Mäuse und Vampyre, unterhält Oskar Matzerath bekanntlich einvernehmliche Beziehungen. Schöne, edle, ästhetische Tiere schätzt er weniger. Um so bemerkenswerter ist es, dass der Blechtrommler zeitweise in den
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Bann eines Tieres gerät, das erstens anders als Unken, Schnecken, Aale und Ratten zweifellos zu den schönsten Tieren gehört, ja wohl das schönste Tier schlechthin wäre, wenn es nicht (nach dem berühmten Eingangsvers eines der Sonette, die Rilke an Orpheus adressierte) das Tier wäre, das es nicht gibt, und das zweitens von der Tradition überwiegend als Christus-Allegorie verstanden wurde – in den Bann des Einhorns2. „Wir [die Mitglieder der Stäuberbande, deren Anführer Oskar Matzerath ist, J. H.] begannen mit der Umgestaltung unserer Kellerräume. (…) Aus Sankt Katharinen bezogen wir einen halbhohen, wie sich herausstellen sollte, echten Joseph aus dem sechzehnten Jahrhundert, einige Kirchenleuchter, etwa Meßgeschirr und ein Fronleichnamsbanner. Ein nächtlicher Besuch der Trinitatiskirche brachte einen hölzernen, doch künstlerisch uninteressanten Posaunenengel und einen bunten, als Wandschmuck verwendbaren Bildteppich ein. Die Kopie nach älterer Vorlage zeigte eine geziert tuende Dame mit einem ihr ergebenen Fabeltier, Einhorn genannt. (…) Als der Teppich an der Stirnwand des Kellers hing, wo zuvor allerlei Unsinn wie ‚Schwarze Hand‘ und ‚Totenkopf‘ abgebildet war, als das Einhornmotiv schließlich all unsere Beratungen beherrschte, fragte ich mich: Warum, Oskar, warum beherbergst du, da schon die Luzie hier kommt und geht und hinter deinem Rücken kichert, warum nun noch diese zweite, gewebte Luzie, die deine Unterführer zu Einhörnern macht, die es lebend und gewebt im Grunde auf dich abgesehen hat, denn nur du, Oskar, bist wahrhaft fabelhaft, bist das vereinzelte Tier mit dem übertrieben geschnörkelten Horn.“ (463)3 Die Szene ist fein ausgesponnen und gewebt. Die Web- und Schleiermetaphorik4 durchzieht das Werk von Günter Grass wie ein roter Faden, man denke nur (die meisten Rezensenten und Interpreten haben’s überlesen) an das schwereleichte Gewicht der Spinnwebmotivik im Roman Ein weites Feld. Der Text über das Textil, das Oskar hier aufhängen lässt, hat es in sich. Es handelt sich bei dem „Bildteppich“, wie schnell ersichtlich, um die Kopie eines der berühmten Teppiche 2 Cf. zur Geschichte des Einhorns Jochen Hörisch: Das Tier, das es nicht gibt – Eine Text- und Bild-Collage zum Einhorn. München 2005 (2.) 3 Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf den Band Blechtrommel im Rahmen der Grass-Gesamtausgabe (Werkausgabe in zehn Bänden, ed. Volker Neuhaus. Darmstadt/Neuwied 1987). 4 Cf. Uwe C. Steiner: Verhüllungsgeschichten – Die Dichtung des Schleiers. München 2006.
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La Dame à la Licorne aus dem Pariser Cluny-Museum. Die echten Teppiche zeigen das Tier, das es nicht gibt; diese Bildteppich-Kopie, die Oskar und die seinen so in den Bann schlägt, dass sie selbst „zu Einhörnern gemacht“ und phallisch aktiv werden, gibt mithin ein Gewebe wieder, das Nichtexistentes wiedergibt. An solchen dekonstruktiven Arrangements (avant la lettre: als die Blechtrommel geschrieben wurde, war in Paris noch nicht die Dekonstruktion, sondern ein Existentialismus Sartrescher Prägung angesagt) hat der Teufel sein Vergnügen. So ist er gleich zweifach präsent – in Gestalt einer leibhaften Luzie und der gewebten Dame auf der Bildteppich-Kopie, der Oskar flugs den luziferischen Namen Luzie gibt. Und so kommt ein rasantes Umbesetzungsspiel in Gang, das es in sich hat, weil „der Mensch in seinen Selbstmontagen immer wieder auf ein verstörendes Gegenüber (stößt), welches vor allem eines ist: das uneindeutige Lebewesen.“5 Aus der Trinitatis-Kirche entwendet, wendet der Einhorn-Teppich seinen Sinn: er wird zur Allegorie des weiblichen Dreiecks und sorgt als solches dafür, dass die Mitglieder der Stäuberbande ihre Einhörner-Qualitäten phallisch entfalten. Über Luzie, die leuchtende, erleuchtende, Luziferische heißt es: „die Augen rastlos hinter zwei schwarzen Schlitzen, die Haut wie gehämmert, ein kauendes Dreieck, Puppe, Schwarze Köchin, Wurst mit den Pellen fressend, beim Fressen dünner werdend, hungriger, dreieckiger, puppiger – Anblick, der mich stempelte. Wer nimmt mir das Dreieck von und aus der Stirn? Wie lange wird es noch in mir kauen, Wurst, Pellen, Menschen, und lächeln wie nur ein Dreieck lächeln kann und Damen auf Teppichen, die sich Einhörner erziehen?“ (469) So sinnlich erscheint das sinnreiche Tier, wenn es aus dem Zeichen der Dreieinigkeit heraustritt und in das Dreieck eingeht, das diesseits aller Zeichenhaftigkeit ist. Das Einhorn ist eines der am besten etablierten Christus-Symbole; schon sein griechischer bzw. lateinischer Name monoceros/unicornis verweist durch sinnreiche Assonanz, so will es die fromme Allegorese, ebenso wie sein mächtiges Horn auf den einen Gott (monos `o kyrios) bzw. den eingeborenen Sohn (unigenitus). Fangen und domestizieren lässt sich das Einhorn nur von einer reinen Jungfrau, in deren Schoß es sein namengebendes Merkmal legt – so wie Jesus Christus im Schoß 5 Volker Demuth: Tiermenschen, Räuber, ästhetische Spiele; in: ders.: Textwelten und Bildräume – Essays zu Literatur und Medien. Würzburg 2007, p. 91.
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der Jungfrau Maria, die Oskar seit jeher faszinierte, Mensch geworden ist. Aus diesem Christus-Symbol macht die Blechtrommel ein Gewebe, das Sympathie mit dem Teuflischen hegt. Die Pointe dieser Umbesetzung liegt nun aber darin, dass sie binäre Entgegensetzungen nach dem Schema „profan vs. sakral“, „Luzie vs. Maria“ oder „Teufel vs. Gott“ vermeidet, um vielmehr der Denkfigur des Chiasmus Raum zu geben und das heißt, zu entdecken, wieviel Profanes im Sakralen (et vice versa), wieviel Diabolisches im Göttlichen (et vice versa), wieviel Sinnliches im Sinn (et vice versa), wieviel Ausblendung in Aufklärung (et vice versa) liegt. Kein Wunder, dass sich Oskar als fabelhaftes Einhorn erfährt, dass er sich in der „Nachfolge Christi“ weiß und dass er die Skulptur des Jesusknaben zu den Worten verleiten kann: „Du bist Oskar, der Fels, und auf diesem Fels will ich meine Kirche bauen. Folge mir nach.“ (440) Ein Angebot, das Oskar empört abweist. Mit der Rolle eines Stellvertreters ist er nicht zufrieden. Zugleich weiß er, der Künstler, dass es nur Gleichnisse und Stellvertreter gibt. Dem Programm einer profanen Erleuchtung ist auch die dritte Erwähnung des Einhorns in der Blechtrommel verpflichtet. Oskar und seine neue Gespielin Ulla schlagen sich als Atelier-Modelle durch: „Sie schlafend, ich sie erschreckend: Faun und Nymphe. / Ich hockend, sie mit kleinen, immer ein wenig frierenden Brüsten über mich gebeugt, mein Haar streichelnd: Die Schöne und das Untier. / Sie liegend, ich zwischen ihren langen Beinen mit einer gehörnten Pferdemaske spielend: Die Dame und das Einhorn.“ (579) Das Einhorn ist selbst dann, wenn es aus der Region des verbürgten Zentralsinns in die Regionen der Sinne tritt, zu schön, um wahr zu sein. Deshalb ist es in einem präzisen Sinne „Untier“ zu nennen. Die Bücher von Günter Grass hat es nicht wieder betreten. Den Chiasmus, den das animal rationale und das Animalische bilden, hat das Werk von Günter Grass jedoch weiter bedacht – als das Kreuz, das wir Untiere zu tragen haben.
16. Ü berantwortung der Geschichte an die Ökonomie – Gegenwartsdiagnostik im Werk von Botho Strauss
Kurz nach der iranischen Revolution von 1979 hielt Botho Strauß in Paare, Passanten (1981) eine Überlegung fest, die sich im Rückblick aus einem Vierteljahrhundert-Abstand als bemerkenswert treffend und haltbar erweist: „Ohne sich in kulturell nicht zulässige Vergleiche zu begeben, muß man doch feststellen, daß die iranische Revolution und ihre Folgen eine weit größere Stimmungswende in der Weltpolitik herbeiführten, als dies zunächst irgend jemand für möglich gehalten hätte. Eine Lehre kam uns (Entwurzelten) vom Orient herüber, daß zwar das ‚Rad der Geschichte‘ nicht aufzuhalten und zurückzurollen sei, daß es aber sehr stabile menschliche Daseinsformen gebe, in denen das ‚Rad der Geschichte‘ selbst eine vollkommen untergeordnete Rolle spielt. Und diese Lehre wurde uns gerade zu dem Zeitpunkt erteilt, da unsere eigene Kultur mitsamt ihrem Zwangssystem der wirtschaftlichen Überentwicklung und Überentfaltung in eine akute Krise der Geschichtsbestimmung geriet.“ Zu den seitdem anschwellenden Irritationen und Verstörungen, die von der islamistischen Revolution für westliche Köpfe ausgehen, gehört, dass sie keine Revolution ist. Denn sie kündigt präzise die Programmatik der Moderne schlechthin: sich von hypostasierten Übermächten zu befreien. Unterwerfung unter den offenbarten Willen Gottes zu fordern und deshalb weltliche Übermächte wie den Einfluss westlicher Wirtschafts-, Kommunikations-, Lebens- und Liebesformen zu verwerfen: das ist eben kein revolutionäres Pathos, sondern ein Programm, das tatsächlich „fundamentalistisch“ heißen darf. Verteidigt es doch erbittert ein Fundament, einen Raum, heilige Orte und altehrwürdige Hierarchie-Ordnungen gegen den übermächtig scheinenden Zeitsog einer entgrenzten Moderne.
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Die Faszination, die für Botho Strauß von dieser Programmatik ausgeht, ist unverkennbar. Mit militant konservativen bis reaktionären Affekten ist sie, dem Verdammungsurteil vieler Botho-Strauß-Kritiker zum Trotz, nicht oder allenfalls so verwandt, wie man mit ungeliebten Figuren unbefragt verbandelt ist. Vielmehr reagiert Botho Strauß in dieser und nicht nur in dieser Passage komplex auf eine Paradoxie (es ist die einzige nicht) des westlichen Konservatismus. Dieser akzeptiert nämlich die genuin moderne Bewegung, die Botho Strauß in Die Fehler des Kopisten auf eine schlagende Formel bringt: „Überantwortung der Geschichte an die Ökonomie“: „Im Grunde bleibt jeder von einer Zukunft überzeugt, die auf Prolongation und Steigerungsraten hinausläuft. Gleichzeitig bekennt er sich (öffentlich, statistisch etc.) zu der Überzeugung, ‚daß es so nicht weitergehen kann‘. Beim vielbeschworenen Umdenken verhält sich der Mensch im Grunde nicht anders als ein Tier: erst die Not macht es ihm notwendig, sich anders zu verhalten. Ein Leben mit der bitteren Einsicht in die Unrettbarkeit der angenehmen Verhältnisse ist bei weitem erträglicher, als die geringste Konsequenz aus ihr zu ziehen. / Sie produzieren, sie arbeiten, sie verteilen den Reichtum, sie bezahlen den Frieden. Diese Überantwortung der Geschichte an die Ökonomie diente dem Erhalt des inneren und äußeren Friedens besser als jede ideelle Politik.“ Nur wer den Erhalt von innerem und äußerem Frieden als ein feiges Krämergut verächtlich machen möchte, wird verkennen können, dass hier auch ein Lob der Ökonomie vorliegt: wer Handel treibt und gerne genüsslich konsumiert, unterlässt kriegerisches Handeln, weil er weiß, dass das Tun des Einen das Tun des Anderen ist und sich deshalb derjenige selbst ausschließt, der den und die Anderen ausschließt. Als Leitmedium der Ökonomie ist Geld ein Element, das, wie Max Weber souverän formulierte, für „Vergesellschaftung mit Ungenossen, also Feinden“ sorgt. „Ideelle Politik“, gar Polittheologie, die das Böse bekämpfen will, eskaliert, wie man spätestens seit Lessings Nathan wissen kann, interne wie externe Konfliktlagen; ökonomische Kontakte hingegen deeskalieren und pazifizieren. Seinem Ökonomie-Lob lässt Botho Strauß nun allerdings sofort eine Reflexion folgen, die alle Aufmerksamkeit verdient, weil sie Ökonomie und Metaphysik nicht etwa gegeneinander führt, sondern aneinander koppelt: „Da niemand weiß und niemanden es zu wissen drängt, was ‚dahinter‘ noch sein könnte, da Eroberungen weder im ideellen noch im sozialen Sinne verlockend erscheinen, wird das, was ist, zum stetig erschwerten, stetig
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erneuerten Ziel. Das Können, Wissen, Verwalten richtet sich auf die Renovierung des Gegebenen und Gehabten. / Dies bringt den Konservativen um seinen Begriff. Die Summe dessen, was er nicht für erhaltenswert erachtet, steht in keinem Verhältnis zu den bettelhaften Resten, die er schützen möchte. Sein aktuelles Nein zu den Gegebenheiten ist weitaus radikaler als das systematische des Revolutionärs. Seine Unduldsamkeit ist – not-gedrungen – zur Kritik der versagenden Kritik geworden.“ Es gehört zu den mitunter anmutigen, mitunter produktiv zumutungsreichen Qualitäten der narrativen Reflexionsprosa von Botho Strauß, dass sie den müßigen Flaneuren im Reiche der Thesen die wohlfeilen Überzeugungen raubt. So auch hier. Die dichte Reflexion entdeckt den heißen bzw. kalten Kern im Projekt einer „Überantwortung der [politisch, ideell, religiös motivierten, J. H.] Geschichte an die Ökonomie“: sie verwindet das ‚Dahinter‘ der Metaphysik erfolgreicher, als Denker wie Nietzsche oder Heidegger es je vermochten. So ergibt sich eine rätselhafte Konstellation. Wer auf die Überantwortung der Geschichte an die Ökonomie setzt, wird zum Spinozisten und Immanentisten, der die Welt und ihre Geschichte von ihrer Orientierung auf ein ‚Dahinter‘ sowie von ihrer Fixierung auf Erlösung erlöst. Gerade auch dann, wenn ihm Theorie-Etiketten wie ‚postmetaphysisches Zeitalter‘ oder ‚Verwindung der Ontotheologie‘ wenig sagen, erfährt er: die Welt ist, wie sie ist. Keine metaphysische Größe, kein ‚Dahinter‘ hält sie im Innersten zusammen und verweist sie auf ein erlösendes Richtungsziel. Revolutionäre wie militante Fromme bilden hingegen als feindliche Brüder das ideelle Gegenlager zu so viel weltimmanenter heiliger Nüchternheit, die nicht anders kann, als mit den Beständen zu rechnen. Permanente „Renovierung des Gegebenen und Gehabten“ tritt an die Stelle von Endzielen jeder Art. Um es laxer auszudrücken: das Durchwurschteln ersetzt und diskreditiert den Heroismus. Damit zeichnet sich eine Paradoxie ab, die den Konservativen so um seinen Begriff bringt, dass es ihm schier unmöglich wird, sich und seine Kontexte zu begreifen. Bewahren, konservieren kann der Konservative nie und nimmer einen status quo, dessen Kennzeichen unablässige „Renovierung“ ist. Wenn nur eines einigermaßen konstant bleibt: dass alles sich unablässig ändert, ohne dass auch nur die Idee eines ganz Anderen am Horizont erschiene – dann hat der Konservative keinen genuinen Ort und keine genuine Zeit mehr. Alles, was ihm bleibt, sind „bettelhafte Reste“: anachronistische Bildungsrestbestände, ehemals
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kanonische Kunstwerke, unzeitgemäße Medien und Lebensformen. Das Intrikate an dieser Konstellation besteht nun aber darin, dass es eben eine machtvolle konservative Denk- und Handlungsfigur war, die „Überantwortung der Geschichte an die Ökonomie“ nicht nur kulturkritisch missbilligend zur Kenntnis zu nehmen, sondern entschieden voranzutreiben. Sich gegen den idealistischen Übermut revolutionär oder militant-fromm gestimmter Gutmenschen auf ökonomische Sachzwänge zu berufen, ist die politökonomische Geste des Konservatismus schlechthin. Konservativen Kopisten, die altehrwürdige Bestände erhalten wollen, ist tatsächlich ein gravierender Fehler unterlaufen, der sie seltsam hilflos erscheinen lässt. Sie haben nämlich den funktionalen Primat der Ökonomie über Religion, Metaphysik, Ideen, Erziehung und Politik nicht nur akzeptiert, sondern nach Kräften vorangetrieben, während linke Politik mit buchenswerter Sturheit darauf bestand, dass Werte wichtiger seien als Wertakkumulation, dass Politik einen Primat über Wirtschaft haben müsse, dass Geschichte wenn nicht vollendet machbar, so doch gestaltbar sei. Botho Strauß ist der Schriftsteller, der die Paradoxien des Konservatismus am Ende des 20. Jahrhunderts eindringlicher bedacht und benannt hat als Autoren, die ihre antikonservativen oder konservativen Gesinnungen auf dem Meinungsmarkt ostentativ ausstellen. Seine Texte verweben dabei einen doppelten Faden. Der eine knüpft bewusst unzeitgemäß, aber stets reflexiv geschmeidig an die Tradition eines in jedem Wortsinne unerhörten hohen Tons an, den das antiquierte Medium der schönen Literatur durch den Noise der Mediengesellschaft hindurch erklingen lässt. „In dem Moment, da eine Sprache bereit ist für das Unvermittelbare, für Anspruch und Anklang, wird sie unverzüglich auf den erbitterten Widerstand der Kommunikationsangestellten stoßen“, heißt es in Die Fehler des Kopisten. In einer Medienkultur, die den Satz, man könne nicht nicht kommunizieren, zu ihrem eigentlichen Glaubenssatz erklärt hat, übt die Reflexionsprosa von Botho Strauß die anmutige Kunst der Kommunikationserschwerung ein. Poetische Kommunikation ist das Andere der Kommunikationsökonomie: sie treibt die Kosten hoch, sie verausgabt sinnlos, sie ist dysfunktional, sie verlangsamt, sie ist exzentrisch, und so provoziert sie allergische Reaktionen all der diskursversessenen Geister, die vergessen haben, was das Wort ‚Diskurs‘ meint: zu dis-currieren, also nicht mitzulaufen. Ein zweiter Faden, der die Texte von Botho Strauß durchwebt (und es gibt deutlich mehr als nur diese zwei!), unterläuft hingegen alle
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hohen Tonlagen. Denn er verbindet mit einem hohen Grad an Paradoxiebewusstheit das („konservative“) Projekt der Kritik vollendeter Profanität mit dem der Profanitätsheiligung. So beschwört eine kurze Passage aus Das Partikular eine Szene, die das traditionelle ‚Dahinter‘ der Metaphysik in profaner Erleuchtung wiedererstehen lässt: „Man meint doch manchmal, wie kann soviel köstliches Leben sein, ohne die geringste Ahnung vom Höchsten zu haben, was das Dasein hervorbringen kann! … Kein Dante, kein Mallarmé, nichts, keine Berührung, nicht einmal mit den bloßen Namen. Und doch sind die Finger der scheineblätternden Kassiererin in unserer neuen Barclay Bank, die ganze auszahlende Schönheit dort hinter Panzerglas und der ferne Coup de dés auf irgendeine spirituelle Weise miteinander verwandt … unser geringes Bewußtsein kann nur die Verknüpfung nicht herstellen!“ Botho Strauß ist der Autor von Verknüpfungen zwischen nichtverknüpfbaren Sphären. Er hat in Zeiten, die sich ein wenig zu ostentativ als postmetaphysische selbst beschreiben, erfahren und seinen Lesern erfahrbar gemacht, dass wir die Metaphysik auch dann nicht loswerden, wenn Geschichte an Ökonomie übereignet wurde.
17. „ Der Mensch ist ein denkender Meteorit“ – Peter Sloterdijks Werk als Tractatus poetico-philosophicus
Philosophen, die elegant schreiben, sind hierzulande verdächtig. Das ahnt, ja das weiß doch jeder: die wollen mit Schönklang überreden und nicht, wie es sich gehört, mit Argumenten überzeugen. Heinz Schlaffers Studie über Nietzsches Stil hat dieses traditionsreiche Urteil kürzlich erneut bestätigt. Philosophen, die überdies bereit und fähig sind, schöne Literatur (etwa Dramen, Gedichte, Romane) zu verfassen, sind sehr verdächtig. Der Verfasser des Romans Candide, des Langgedichts Le Temple du gout oder des Dramas Mahomet mag als geistreicher Spötter durchgehen, als ernstzunehmender Denker, als richtiger Philosoph kann Voltaire zumindest in deutschen Sphären nicht gelten. Wer, weil er dennoch einen Roman schreibt, als Philosoph einen Ruf in der Zunft zu verlieren hat, ist gut beraten, wenn er eine gerade noch akzeptable Form von Spaltungsbewusstsein einräumt und eine doppelte Identität sowie einen doppelten Namen annimmt: Peter Bieri ist Philosoph, Pascal Mercier ist Romanschriftsteller. Philosophen, die brillant schreiben und keine Angst davor haben, sog. schöne Literatur zu verfassen, sind nun äußerst suspekt, man muss sie aus der scientific community exkommunizieren; sie haben die Grenze überschritten, die den Philosophen einhegt; sie gelten aus der Universitätsperspektive schlicht nicht als Philosophen. Peter Sloterdijk schreibt brillant; und er nimmt schöne Literatur als Erkenntnismedium so ernst, dass er, ohne ein Pseudonym vorzuschieben, fast einen Roman geschrieben hat. Fast – denn die Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ ist dem Titel seines 1985 erschienenen Buches Der Zauberbaum nicht nachgestellt. Vielmehr lautet der doppelte Untertitel: Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahr 1785 – Epischer Versuch zur Philosophie der Psychologie. „Epischer Versuch“ ist eine
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hybride Gattungsbezeichnung. Denn sie kombiniert das Narrative mit dem Essayistischen – und die Philosophie, die sich an (Er-)Klärungen großer Fragen versucht, mit der Psychologie, die gar nicht anders kann als große Fragen so zu erörtern, dass deren systematische Verstrickung in Lebensgeschichten, die epischer Entfaltung wert sind, deutlich wird. Ein Außenseiter der Gegenwartsphilosophie wäre Peter Sloterdijk deshalb auch dann, wenn er plump oder kanzleihaft schreiben und schöne Literatur als Erkenntnismedium nicht ernst nehmen würde. Sloterdijk hat nämlich das philosophische Selbstverstümmelungsspiel, das in den letzten hundert Jahren gegeben wurde, nicht mitgespielt. Sein Verhältnis zur Universitätsphilosophie ist von schöner Eindeutigkeit – was vermutlich auch umgekehrt gelten würde, wenn diese denn Sloterdijks Schriften überhaupt zur Kenntnis nähme. „Der Philosophieprofessor ist an die Universität angepaßt wie der Pinguin an die Antarktis. In evolutionärer Sicht ist der Akademismus in der Philosophie aus der chronischen Überproduktion von Habilitierten (zu erklären), der zum Wettbewerb um falsche Vorzüge führt – es werden über Generationen hinweg Unarten belohnt und Fehlleistungen hochgezogen.“1 Die universitäre Philosophie hat in dem Maße, in dem sie sich als Kritik der reinen Vernunft und der reinigenden Analyse unhaltbaren Sprechens verstand, ihre traditionell unreinen Themen abgestoßen und entsorgt. Von porösen Themen wie Liebe, Geld, Alltag, Erziehung, Lebenskunst etc. wollte sie nicht mehr viel wissen. Selbst die Phänomenologie, die in ihren Anfängen auch vom Pathos lebte, die Fülle der Phänomene und Probleme nicht auszublenden, endete in einem offensiven Programm der eidetischen Reduktion, Abstraktion und Epoché. Auffallend an Sloterdijks Schriften ist, dass sie – wie literarische Texte – keine thematischen Beschränkungen (etwa auf Erkenntnistheorie und Sprachanalyse) kennen. Der Grundimpuls seines Denkens lässt sich so leicht benennen: alles kommt darauf an, dem Gewicht der Welt, der verwirrenden Fülle von Ereignissen und dem In-der-WeltSein sprachlich standzuhalten. Zur Welt kommen und zur Sprache kommen sind zwei Seiten einer Medaille; beide, Welt und Sprache, sind schon da, wenn wir von denen, die vor uns zur Welt und zur Sprache gekommen sind, benannt werden, erwachen und uns einen 1 Peter Sloterdijk im Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod – Dialogische Untersuchungen. Ffm 2001, p. 63 sq.
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Reim auf all das machen müssen, was uns umgibt und uns vorausgeht. Kein zweiter Kopf, zumal kein zweiter, der mit östlicher Weisheit und westlicher Avantgarde mehr als nur kokettiert hat, dürfte dem falschen Reiz preiswerter Schweigemystik und der Tradition der Unsagbarkeitstopik so lustvoll entsagt haben wie Peter Sloterdijk. Gerade die überreiche Fülle seiner Themen – von der Anthropotechnik bis zum Zynismus – macht es jedoch zum schwierigen Unterfangen, so etwas wie einen Grundgedanken, einen roten Faden, eine Systematik seines Denkens auszuloten. Dabei gibt es einen frühen programmatischen Text von Peter Sloterdijk, der genau dies präsentiert: eine Denkfigur, die so elastisch ist, dass sie als belastbarer roter Faden durch sein gewaltiges und ungemein vielfältiges Œuvre zu leiten vermag. Ein Tractatus psychologico-philosophicus, ein Traité de la philosophie maudite oder Parva Psychologica beschließt den epischen Versuch Der Zauberbaum. Er kreist, ohne in Schwindel zu enden, um ein Motiv, das gleich der erste Paragraph an- und ausspricht: „Die moderne Philosophie ist verflucht. Sie ist ihrer wissenschaftlichen Ambitionen wegen dazu verurteilt, die ganze Geschichte der ganzen Welt zu verstehen, und kennt doch weder die Geschichte, noch die Welt, noch das Ganze aus allem. Nur soviel kann die Philosophie wissen, daß die Geschichte der Welt die Geschichte eines Erwachens sein muß. Wie wäre es anders möglich, daß im Unermeßlichen ein Lebendiges auftritt, das in den Pausen und Lücken seines Lebens staunend sich über den Rand des unmittelbar Gegebenen beugt?“2 Pause, Lücke, Rand bezeichnen Leitmotive auch der späteren Werke von Peter Sloterdijk. Sie verweisen auf eine starke, empirisch wie argumentativ gleichermaßen haltbare Intuition. Danach gelangt man sehr schnell in widerspruchsreiche Sphären, wenn man nach Fundamenten sucht, die frei von Lücken, Rändern, Pausen und Sprüngen sind. Und man gelangt ebenso unausweichlich dorthin, wo man unvordenklich immer schon war und ist, wenn man nicht nach lückenlos konsistenten Sphären sucht. Denn – die großspurigen Worte lassen sich kaum vermeiden – die Welt, der Mensch und die Sprache sind gleichermaßen porös. Suchte man nach einem und nur nach einem Wort, das das kontinuierlich durchgehaltene Leitmotiv von Sloterdijks Theorien bezeichnet und das dauerhafte Moment im 2 Peter Sloterdijk: Der Zauberbaum – Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahr 1785 – Epischer Versuch zur Philosophie der Psychologie. Ffm 1985, p. 281.
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Wechsel seiner Themen und Thesen charakterisiert, so wäre es eben dieses: Porosität. Menschen sind poröse, durchlässige Wesen, die nicht nicht im dauerriskanten Kontakt mit ihrer überkomplexen Umwelt sein können. Genau dies aber haben Menschen mit ihren Umwelten bzw. mit den Sphären, die sie umgeben, gemeinsam. Auch diese sind porös, lückenhaft und systematisch inkonsistent und passen eben deshalb eigentümlich genau zu porösen Menschen. Zu den faszinierenden Aspekten der Schriften von Sloterdijk gehört es nun, dass sie die Einsicht in die doppelt bis vielfach poröse Struktur von Sein, Dasein und Sprache nicht nur als Problem, sondern – enthusiastisch gelassen – auch als Lösung von Problemen begreifen. Porosität sorgt für Erfahrungen, die ihrerseits porös, komplex, durchlässig sein müssen, die also – fad nomenklatorisch gesprochen – immer schon psychologische mit philosophischen Dimensionen verkoppeln, weil sie nicht unterhalb des Niveaus einer emotional und reflexiv getakteten Doppelung zu haben sind. „Der Mensch ist ein denkender Meteorit. Nur in der Reibung mit dem Vorhandenen beginnt seine Hülle zu glühen. Durch mein Glühen wird das Vorhandene für mich geöffnet und als Umgebung bedeutsam. Ich glühe, also kann es nicht sein, daß nichts da wäre. Wenn ich glühe, bin ich da, um mit dem, was da ist, umzugehen.“3 Dieser Umgang ist hochgradig unterschiedlich modellierbar. Über die Frage, ob philosophische Fragenkataloge Konstanz besitzen (was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen?) und ob es kulturübergreifende anthropologische Konstanten gibt, lässt sich lange streiten. Nicht aber darüber, dass es erschreckend bzw. faszinierend viele Weisen des Umgangs „mit dem, was da ist,“ gibt. So oder eben in vielfach anderer Weise kann man tauschen, essen, lieben, sprechen, erziehen, produzieren, tanzen, singen, träumen, beten, philosophieren etc. Es ist immer wieder erstaunlich, wie häufig Philosophen das Staunen als Urszene des Philosophierens herbeizitieren und reklamieren, um es dann so zügig wie möglich zugunsten verlässlicher Größen auszutreiben. Von unfreiwillig komischen Dimensionen ist dieses Spiel nicht frei. Philosophen haben ihre Markenzeichen, ihre totemistischen Begriffe, ihre eindimensionalen Obsessionen, die die Vielfalt von Umgangsweisen mit dem, was da ist, auf einen Grundgedanken beziehen 3 Ibid., p. 282.
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und zumeist auch reduzieren – auf ein Fundament, das allen porösen Verhältnissen ein Ende bereiten soll. Jeder philosophisch auch nur einigermaßen Belesene weiß, wer der Autor von Texten ist, in denen wiederholt etwa „Anerkennung“, „Konsens“, „Verstehen“, „Selbstbewußtsein“, „Überlieferungsgeschehen“, „Lebenskunst“ oder „Dekonstruktion“ zu lesen steht. Zur intellektuellen Lust an der Lektüre von Sloterdijks Texten gehört es, dass man nicht schon vor ihrer Lektüre wissen kann, was sie vorzutragen haben – wohl aber, dass man sich auf Überraschungen gefasst machen darf. Denn Sloterdijk hält sich seit mehr als drei Jahrzehnten verlässlich an den Impuls, den der zweite Paragraph des Tractatus psychologico-philosophicus benennt: „Die moderne Philosophie ist verflucht, weil sie mit ihrem Verlangen nach wissenschaftlicher Sicherheit das Erscheinungsprinzip des Glühens vergißt. Meteore kennen keinen Halt und finden keine Sicherheit im Vorstellen der Welt. Mit allem Glühen sind sie nie über ihrer Welt oder jenseits ihres eigenen Sturzes durchs Vorhandene. Was über der Welt sein will, ist nur der glühende Drang über sich selbst hinauszugehen – wie wenn das Glühen sich durch Erlöschen in Sicherheit bringen wollte. Aber es gibt kein Über im Glühen. Das Schicksal des menschlichen Geistes wird zwischen den Polen von Gegen und Innen entschieden. Sie sind die Pole des Lebendigen schlechthin. Nur wer alles Glühen ausgelöscht hätte, könnte zum Schein sich ins Außerhalb stellen und ‚über‘ alles reden, als wäre er dem Gesetz des Innen und Gegen entronnen.“4 Zur Faszinationskraft, die von Sloterdijks Schriften ausgeht, gehört es, dass sie selbst porös sind und sein müssen. Denn sie sind der Obsession „entronnen“, irgendein „Außen“, irgendeinen archimedischen Punkt auszumachen, von dem aus sich angeben lässt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Mit Heidegger teilt Sloterdijk die Einsicht, dass es kein Entrinnen aus dieser einen porösen Welt in eine zweite konsistente Welt gibt. Der Denker auf der Bühne, der mit Nietzsche die Einsicht teilt, dass das Leben ohne Musik ein Irrtum wäre, ermuntert dazu, auf die Erosion aller, auch aller postmetaphysischen, Hinterwelten in enthusiastischer Gelassenheit und vollendeter Ruhe zu reagieren – eben weil Glühen und Verglühen das letzte Wort behielten, wenn es nicht ein Diesseits des Sagens gäbe. 4 Ibid., p. 283.
18. D ie Erlösung der Physis – Die Poetisierung Gottes im Werk von Patrick Roth
Der erste, 1991 erschienene Band von Patrick Roths Christus-Trilogie steht unter dem Titel Riverside – Christusnovelle und beginnt, wie er endet: mit einer textilen Szene. Ein alter, aussätziger, in einer Höhle lebender Mann „beäugt … die Wand, sucht darin obenhin. Nach einem Zeichen? Einem Versteck? Und scheint bald fündig und stellt dann die Leiter. Und nimmt auf vom Boden, bevor er noch steigt, ein Männergewand, das schon gefaltet bereit dort lag. Und steigt auf die Leiter hinauf. Und hält, unter der nächstletzten stehend, auf der siebenten Sprosse, und lehnt gegen die Leiter. Und greift aus der Seite sich, einer lappigen Falte des Lumpengewands, Nagel und Stein. Und schlägt den Nagel dort in die Wand, auf der Höhe etwa der letzten Sprosse der Leiter. Und hängt daran auf das Kleid, hoch oben, das sich entfaltet. Ein einfaches Männergewand. Und läßt den Stein fallen und klettert hinab.“1 Patrick Roth versteht sich auf die Kunst, bei aller Lust an suggestiven stilistischen Archaismen wie der syntaktischen Inversion (wie „nimmt auf vom Boden … ein Männergewand“), der Anapher (neun der zwölf Sätze dieses Absatzes beginnen mit „und“) oder der Parataxe nicht aufdringlich zu formulieren. Dass diese Leiter ein alltagspraktisches Höhlenrequisit, aber eben auch eine Jakobsleiter ist, dass es aus dieser unplatonischen Höhle bzw. Grabkammer eine Auferstehung geben wird und dass hier handwerklich für ordentliches Wohnen unter unordentlichen Lebensbedingungen gesorgt, aber eben auch aufs Kreuzigungsgeschehen angespielt wird, ist Botschaft eines Subtextes, der sich erst im Lauf der Lektüre erschließt bzw. offenbart. Die dichte Novelle – dem Verfasser liegt offenbar daran, diese Gattungsbezeichnung zu lancieren, die die Goethe-Formel von der sich 1 Patrick Roth: Riverside – Christusnovelle, Ffm 1992 (3.), S. 9 sq.
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ereignet habenden unerhörten Begebenheit assoziiert – die dichte Novelle schließt, wie sie begann. Der alte Mann mit dem schönen Namen Diastasimos (Dia-stasimos: da scheint etwas durch den nüchternen Ekstatiker hindurch2) sagt zu einem der beiden jungen Männer, die ihn in seiner Höhle besuchten, um schriftlich zu protokollieren, was er von seiner Begegnung mit Jesus zu berichten weiß: „Geh, hol mir mein Kleid, du, den sie Andreas nennen. / Und Andreas ging zum Eingang der Höhle, wo das Kleid hing. Es hing aber hoch. Und er muß hochspringen, von der Erde hoch. Und ausgestreckter Hand zweimal versuchen, bis er es unbeschadet vom Nagel hebt, das dritte Mal, und in Händen hält. Ja, in Händen hält. Und da erst, noch abgewandt vom Alten, das Kleid aber in Händen, und das Springen noch in den Gliedern, erkennt er ihn: dem das Kleid gehört. Und erinnert, wer früher so sprang, als Neunjähriger nämlich, am Eingang des Hauses, das Kleid zu holen dem Vater.“3 Zwei Söhne haben ihren Vater und ein Vater, der von seiner Begegnung mit dem Sohn Gottes Zeugnis abgelegte, hat seine Söhne wiedergefunden. Das wäre nun ein Plot, der ein wenig zu suggestiv und literarhistorisch zwischen der Odyssee und der Prosa Paul Austers allzu sehr durchdekliniert wäre, wenn Patrick Roth ihm nicht diese spezifisch textile Wende gegeben hätte. Fünfmal erscheint in der kurzen Textpassage das Wort ‚Kleid‘ plus zweimal das sich auf ‚Kleid‘ beziehende Pronomen ‚es‘. Das leitmotivische, Anfang und Ende der Novelle ineinander verwebende Textil verweist auf seine textliche Qualität. Text und Textil sind nächstverwandte, ineinander verwobene Worte.4 Textile Leitsymbolik versieht auch Patrick Roths jüngsten Roman Sunrise5 mit Webmustern. Er erzählt dingsymbolisch von einem Seil und einem Tuch, und in seinem Zentrum steht, der mythischen Arachne6 gleich, die Weberin Neith, die von Joseph, dem
2 Cf. Gerhard Kaiser: Resurrection – Die Christus-Trilogie von Patrick Roth, Tübingen/ Basel 2009, S. 69: „der Name Diastasimos, was griechisch der Auseinanderstehende, in sich Geteilte heißen kann.“ Ähnlich interpretiert Keith Bullivant: Jesus meets Hollywood, Patrick Roth’s Resurrection-Trilogy; in: Michaela Kopp-Marx (ed.), Der lebendige Mythos – Das Schreiben von Patrick Roth, Würzburg 2010, S. 20: „Diastasimos, whose name means inwardly torn …“. 3 Patrick Roth: Riverside, l. c., S. 92. 4 Cf. die grundlegende Studie von Uwe C. Steiner: Verhüllungsgeschichten – Die Dichtung des Schleiers, München 2006. 5 Patrick Roth: Sunrise – Das Buch Joseph, Göttingen 2012. 6 Cf. Zur Wirkungsgeschichte des griechischen Arachne-Mythos: Raimar Zons/Klaus
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Nichtvater Jesu, Zeugnis ablegt. Patrick Roths rhythmisch gewebte Prosa stellt ihre textlich-mediale Qualität subtil aus. Patrick Roths Christusnovelle macht also nicht nur durch ihren Untertitel deutlich, dass sie ein fiktionaler Text ist, der seine medialen Qualitäten signalisiert. Im Mittelpunkt dieser Christusnovelle steht denn auch nicht Christus, sondern Diastasimos, der dem Medium Christus begegnet ist. Wer Patrick Roths religiöse Prosa als bloße Feier mystischer Unmittelbarkeitserfahrungen missversteht, übersieht ihren zugleich hochgradig konstruktiven und distanzierenden Gestus.7 Die Christusnovelle erzählt in einem subtilen third-order-observation-Arrangement davon, wie Andreas und Tabeas verschriftlichen wollen (1.), was Diastasimos von Jesus erfuhr (2.), der seinerseits von sich sagte, er sei ein Medium, nämlich der Weg, die Wahrheit und das Leben (3.), ohne den niemand zum göttlichen Vater gelangen könne (Joh. 14,6). Wer noch den Autor Patrick Roth, der den Namen des irischen Nationalheiligen trägt, und den jeweiligen Leser mitrechnet, findet sich schnell in eine fünfstufige Beobachtungslogik verstrickt. Zum eigentümlichen Reiz der intellektuell archaisierenden Prosa von Patrick Roth gehört es, dass sie, die virtuos filmische Dissolve-Techniken in narrative Wandlungspassagen übersetzt, Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit (bzw. Medialität) miteinander vermittelt. Sie ist damit tatsächlich Christus nahe. Denn auch Christus versteht und präsentiert sich ja nicht (wie etwa Moses oder Mohammed) als Medium, das eine göttliche Botschaft überbringt, sondern als das Medium und der Mittler, der die frohe Botschaft ist. Von Jesus Christus gilt zwei Jahrtausende vor Marshall McLuhan: The medium is the message. Diastasimos und seine Söhne Andreas und Tabeas wiederholen eine frühe Szene, wenn sie ein Textil, das ein Text ist, und einen Text, der ein Textil ist, wiederfinden und das Geheimnis ihrer Identität entschleiern. Sie machen die Erfahrung der wiedergefundenen Zeit und selbstredend auch die Erfahrung, dass die wiedergefundene nicht die ursprüngliche Zeit ist. Eine στάσις, eine Stauung, ein Stillstand, eine Blockade hat sich gelöst. Der Vater und seine Söhne machen die Erfahrung der erlösten Zeit, wie der Kirchenvater Origines mit seinem Lindemann (edd.), Lauter schwarze Spinnen – Spinnenmotive in der deutschen Literatur, Bonn 1990. 7 Gerhard Kaiser (l. c., p. 57) konstatiert in Patrick Roths Prosa einen „besonders hohen Grad von Relativität des Erzählten“.
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Konzept der ἀποκατάστασις (Apokatastasis) sie entwarf8, das Goethes Faust II aufgriff9 und das Walter Benjamins Geschichtsdenken umtrieb: im Zustand der Erlösung sind demnach alle im reißenden Flusse der Zeit vergangenen und verlorenen Ereignisse wieder versammelt. Auf das Theologumenon des Origines, den Patrick Roth in seiner Vorrede zur Heidelberger Palais-Boisserée-Lesung aus ‚Corpus Christ‘ ausdrücklich erwähnt10, spielt die Christusnovelle (was für ein bindestrichfreies Kompositum!) ebenso deutlich wie subtil an. Recht genau in der Mitte der Novelle schildert Diastasimos seinen jungen und protokollbegierigen Besuchern seine zentrale Erfahrung, die Begegnung mit Jesus. „Und Er, was sagte der Meister? fragte Andreas, schon leiser. / Hier mußt du wissen, daß er gar nichts gesagt, lieber Andreas. Ich weiß nicht, wie ihr das in Schrift fassen wollt. Es war einfach still. (…) Es war seltsam. Sinnlos nicht nur das Ausweichen, wie ichs euch demonstriert, hier in der Höhle von hier nach hier, wo ich jetzt steh. Sondern mir war, als sei ich diesem, der vor mir stand, den Schweiß noch im Angesicht, seine Augen auf mir, immer ausgewichen, schon immer. Aber ich weiß, da rede ich töricht, denn ich hatte ihn ja nie zuvor gesehen. Ich will euch nur das ‚sinnlos‘ beschreiben, das ich hier meine; sinnlos das Ausweichen hier in der Höhle, sinnlos die Höhle, das Leben, das mich hierhergebracht, auch die Eltern, welche in ferner Vergangenheit einmal waren, mich aufgezogen, mich angefaßt, sinnlos: als hätte ich Zeit sinnlos, ziellos verbracht, umsonst. Umsonst und jetzt, in diesem Moment, da ich vor ihm stand, für eine Weile ihn sah, denn ich hielt nicht lang aus die Augen, aber die Weile lang, die eine Weile lang: hatte er alles eingeholt, was ich sinnlos verloren, und so alles Verlorene eingesammelt, daß ich verstand. Verstand, wie alles verloren, wie so sich zerstreuen mußte, 8 Dass Patrick Roth auf den „Weltendtraum der Apokatastasis panton“ verweist, erwähnt auch Gerhard Kaiser (l. c., p. 107). Lothar van Laak hat die Präsenz des Apokatastasis-Motivs in Patrick Roths Christus-Trilogie herausgestellt: Jenseits der Lesbarkeit – Unsichtbare Spuren und Spuren der Unsichtbarkeit in der Erzählpoetik Patrick Roths; in: Michaela Kopp-Marx (ed.), Der lebendige Mythos, l. c., S. 230 sqq. Der Beitrag Lothar van Laaks ist mit der Widmung „Für Werner“ versehen, und auf Werner van Laaks Studie Allversöhnung – Die Lehre von der Apokatastasis, ihre Grundlegung durch Origines und ihre Bewertung in der gegenwärtigen Theologie bei Karl Barth und Hans Urs von Balthasar, Sinzig 1990 verweist der Beitrag denn auch ausdrücklich (p. 231, Fn. 41). 9 Siehe dazu die Studie von Arthur Henkel: Das Ärgernis Faust; in: ders., Goethe-Erfahrungen – Studien und Vorträge – Kleine Schriften 1, Stuttgart 1982, p. 163 – 180. 10 In: Michaela Kopp-Marx (ed.): Der lebendige Mythos, l. c., p. 442.
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verloren jetzt aber und eingeholt, gesät und gestorben, ausgestreut und verdorben sein mußte, um hier zu bestehen, das ist: hier von ihm zu mir zurückgebracht und geordnet zu sein.“11 Das ist, um angesichts solch tiefsinniger bzw. hochgestimmter Motive handwerklich-profan zu formulieren, souverän gemacht. Eingeleitet wird die Passage mit der ironieaffinen Paradoxie, dass das Ungesagte protokolliert werden soll. „Ich weiß nicht, wie ihr das in Schrift fassen wollt. Es war einfach still.“ Sodann häuft sich das kulturkritisch inflationäre Schlüsselwort „sinnlos“. In diesem Kontext aber entfaltet es eine spezifische Kraft. Denn in der Begegnung mit Jesus versammelt und verdichtet sich, dem Apokatastasis-Denken des Origines (und des Diastasimos!) all das, was zuvor verloren und zerstreut war. Jesus hat bekanntlich keine Schriften hinterlassen. Aber über ihn und seine Reden wurde seit den Evangelisten unendlich viel geschrieben. In der zentralen bzw. exzentrischen Christus-Szene der Novelle erscheint Jesus nun als jemand, der nicht nur nicht schreibt, sondern, obwohl ansonsten als begnadeter Redner bekannt, auch nicht spricht. Zu den rätselhaftesten Passagen des Neuen Testaments zählt die einzige Szene, die Jesus doch als Schreibenden vorstellt – als einen Schreiber, dessen Schrift verloren ging. Die Passage findet sich im achten Kapitel des Johannes-Evangeliums, das ja schon anfänglich um die Fleischwerdung des Wortes kreist. Jesus wird von den Schriftgelehrten mit der Frage konfrontiert, was mit einer in flagranti erwischten Ehebrecherin anzustellen sei. Seine Reaktion ist es, erst einmal nichts zu sagen, still zu sein, also sich so zu verhalten wie der Jesus in der zitierten Passage aus Patrick Roths Novelle. Dann aber „bücket (er) sich nider / vnd schreib mit dem Finger auf die erden“, wie es in Luthers Übersetzung heißt. Was Jesus da niedergeschrieben hat, wird nicht offenbart. Überliefert werden hingegen die viel zitierten Worte, die er spricht, nachdem er sich aufgerichtet (Erektion/Resurrektion) hat: „Wer vnter euch on sunde ist / der werffe den ersten stein auff sie.“ Sodann „bücket (er) sich wider nider / vnd schreib auff die erden.“ (Joh. 8, 7 sq. Nach Luthers Übersetzung von 1545) Was der auf Erden wandelnde, sich vom Schreiben aufgerichtet habende Gottessohn da in zwei Akten geschrieben hat – wir wissen es nicht, und keiner der doch nahestehenden Schriftgelehrten will es lesen. 11 Patrick Roth: l. c., S. 48 sq.
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Abb. 6: Tuschzeichnung von Robert Thiesmeyer (Meta Bene) 2016
Patrick Roths Prosa aber will das Verlorene und Zerstreute einsammeln und präsentieren. Sie ist vergegenwärtigende Apokatastasisund Anagnorisis-Prosa durch und durch. Und so machen Diastasimos und seine wiedergefundenen, wiedererkannten Söhne die religiöse Erfahrung schlechthin – die der dichten, erfüllten, versammelten, wiedergefundenen Zeit. Diese Erfahrung von Präsenz machen sie hier und jetzt, wo und wann sonst? Es gibt keine bessere und, wie wir seit Augustinus und mit Meta Bene wissen, keine andere Zeit als die Gegenwart. Die Gegenwart kann erfüllt oder entleert sein. Erfüllt ist sie, wenn sie dicht, verdichtet, dichterisch ist. Patrick Roths Prosa poetisiert das Göttliche und deifiziert das Medium Poesie – sofern es so bild- und präsenzmächtig ist wie der Film. Sich auf diesen Chiasmus einzulassen, ist aus frommer und theologischer Perspektive ein heikles, ja frivoles Unterfangen. Denn gerade dann, wenn Gott und das Göttliche sich poetisch und in ihrer Poetizität offenbaren, offenbaren sie ihre nichtevidente, sondern eben dichterische Qualität – eine Konstellation, die schon den Reiz der Hymnik von Novalis und Hölderlin kennzeichnet. Metaphysik und Metaphorik sind zwei Seiten einer Medaille. Nun ist, wie jeder Leser bezeugen kann, das genus dicendi der religiösen Prosa
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von Patrick Roth, der lange eben nicht in Jerusalem oder Rom oder Wittenberg, sondern in Los Angeles, der Stadt der Medien-Engel, lebte, alles andere als das der Frivolität. Patrick Roth bringt das Kunststück fertig, all das, was religiöse Literatur von frommer Literatur (um von frömmelnder zu schweigen) unterscheidet, nämlich Psychologie, Medienreflexion, second-order-observation, Dogmatik- und Kirchenferne in seiner dichten Prosa zu versammeln und doch ganz anders, nämlich beschwörender und präsenzpoetischer zu schreiben als es etwa Thomas Mann in seinen religiösen Werken praktiziert (in der Trilogie Joseph und seine Brüder, dem Erwählten oder dem Doktor Faustus). Mit einem Wort: Patrick Roths religiöse Prosa ist chiastische Prosa. Seine Novellen, Romane und Filme poetisieren und medialisieren das Göttliche und deifizieren das Mediale. Genau damit aber sind sie – unabhängig von aller kircheninstitutionellen Dogmatik – christologisch. Sie entsprechen nämlich dem Medium Jesus Christus, das als Medium die inkarnierte Botschaft ist. Große Dichtung ist mit eigentümlicher Regelmäßigkeit auch religiöse Dichtung.12 Von Pindars Oden und dem Mahabharata über die Gralsepen, Dantes Divina Commedia, Miltons Paradise Lost, Goethes Faust und die Hymnik von Yeats, Novalis und Hölderlin bis zu Chateaubriand und Dostojewski, Thomas Manns Buddenbrooks, dem Ulysses von James Joyce, den Romanen von Graham Green und der Lyrik Paul Celans bewährt sich die These, dass Hochliteratur obligatorisch vom Höchsten, vom Transzendenten und dessen Verhältnis zum Weltimmanenten handeln muss. Wer diese assoziative short-list um weitere Dutzende, ja Hunderte von Titeln ergänzt, wird nur dann auf Widerstand stoßen, wenn er Titel wie die Thora, das Lukas-Evangelium, die Johannes-Apokalypse, den Koran oder das Buch Mormon mit aufnimmt. Das sei doch keine religiöse Literatur, lautet sodann der Einwand sei es gattungstheoretisch versierter, sei es frommer Köpfe, sondern etwas ganz anderes, nämlich ein Offenbarungstext. Schöne Literatur, Belletristik (und sei es Transzendentalbelletristik) zu sein, ist in der Perspektive von Gläubigen nicht 12 Von der kaum überschaubaren Literatur zum Thema Literatur und Religion seien nur folgende Bücher genannt: Walter Jens, Hans Küng: Dichtung und Religion, München 2001; Erich Garhammer/Udo Zelinka (edd.): „Brennender Dornbusch und pfingstliche Feuerzungen“ – Biblische Spuren in der modernen Literatur, Paderborn 2003; Georg Langenhorst: Theologie und Literatur – Ein Handbuch, Darmstadt 2005; Andrew Hass, David Jasper, Elisabeth Jay (edd.): The Oxford Handbook of English Literature and Theology, Oxford 2007.
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unbedingt ein Kompliment an Bücher; solche Literatur zu verfassen und zu lesen kann auch dann als Sakrileg gelten, wenn man nicht über Texte wie die de Sades oder die Satanischen Verse von Salman Rushdi spricht, deren religiöser Gehalt unbestreitbar ist. Auch ein Drama wie Goethes Faust, das gleich am Anfang den Herrgott höchstselbst auf die Bühne bringt, kann flugs auf dem Index librorum prohibitorum landen, der mehr als 500 Jahre gültig war und von der katholischen Kirche offiziell erst 1966 aufgehoben wurde. Das Verhältnis von Religion und Literatur ist ebenso intim wie angespannt. Deutlich wird das nicht zuletzt durch den Umstand, dass die Umkehrung des Satzes, große Literatur sei immer auch religiöse Literatur, nicht gilt: religiöse Literatur ist in literarischer Perspektive häufig eine ausgemachte Peinlichkeit und eben nicht große Literatur. Selbst Autorinnen und Autoren, die wie Elisabeth Langgässer, Luise Rinser, Albrecht Goes oder auch Heinrich Böll gewisse literarische Mindeststandards wahren, sind vielen Lesern heute eher peinlich geworden. Der Grund für das (Epochen übergreifend!) ebenso intime wie angespannte Verhältnis von Literatur und Religion ist schnell genannt. Der Bezug von Literatur zur höheren wie niederen Wirklichkeit ist heikel und eben deshalb reizvoll; man sagt nichts ganz Neues und auch nichts ganz Umstrittenes, wenn man behauptet, dass schöne Literatur noch dann fiktional ist, wenn sie sich auf Fakten und Realien bezieht. Literarische Texte stehen anders als etwa wissenschaftliche oder journalistische Texte nicht unter der Verpflichtung, wahre im Sinne von sachlich angemessenen Sätzen aneinanderzureihen. Dichter erfinden Geschichten, sie fingieren, sie lügen; sie kultivieren ein enthusiastisch entspanntes Verhältnis zu Metaphern. Wer ihnen wahre Aussagen zuspricht, meint deshalb mit eigentümlicher Regelmäßigkeit eine höhere Wahrheit als die der sachlich-nüchternen Richtigkeit. Und eben deshalb sind literarische und religiöse Texte eng verwandt. Wer den Wahrheitsgehalt religiöser Texte sehr handfest versteht, verwickelt sich nicht erst heute in teuflische Schwierigkeiten. Die GenesisTheorie von der Erschaffung der Welt in sechs göttlichen Arbeitstagen muss, wenn sie denn buchstäblich verstanden werden soll, mit Widerspruch und Spott rechnen. Zum Lachen aber haben religiös Gestimmte nur selten ein enthusiastisch entspanntes Verhältnis. Mit großem bis militantem Ernst müssen sie die schreienden Inkonsistenzen ihres Glaubens an die Wahrheit religiöser Texte überkompensieren. Auch die elementare Inkonsistenz der monotheistischen Offenbarungs-
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religionen lässt sich leicht benennen. Judentum, Christentum und Islam, um nur sie zu nennen, müssen davon ausgehen, dass Gott sich in Texten, in Visionen oder in Personen offenbart hat. Also müssen sie Erklärungen dafür finden, dass es von diesen Offenbarungen ein paar zu viele gibt, die dann auch noch die unangenehme Eigenschaft haben, miteinander zu konfligieren. Offenbar ist allenfalls, dass Gott nicht offenbar ist. Über die Gründe für die Nichtevidenz Gottes lässt sich trefflich streiten. Gott ist ein verborgener Gott, entweder weil es ihn nicht gibt oder weil er sich nicht in der Weise von Evidenz offenbaren will oder kann oder weil er die nicht mag, die glauben, ihn beobachten und einer Logik, einer Theo-Logie, unterwerfen zu können oder weil er keine exhibitionistischen Gelüste pflegt oder oder oder. Nur eines steht fest: distinkt offenbar, evident ist er mitsamt seiner Botschaft nicht. Wer anderes behauptet, versündigt sich an Gott, so es ihn gibt. Polytheismen haben es leichter als strenge Monotheismen, mit dem unbestreitbaren Faktum der Nichtevidenz Gottes umzugehen. Sie sind liberal und antifundamentalistisch per se. Missionieren wollen sie nicht, sind sie doch stolz darauf, andere und bessere Götter zu haben als die anderen (der eine jüdische Gott ist in diesem Sinne polytheistisch, aus gutem Grund kennt das Judentum kein Missionsgebot – diesen Takt und diese Freundlichkeit haben Christen und Muslime Juden selten verziehen). Polytheisten können sich einen ironischen Gestus leisten. Kein antiker Grieche dürfte ernsthaft an seine Götter und die Faktizität ihrer herrlichen sex-and-crime-stories geglaubt haben.13 Religiös musikalisch waren die antiken Griechen wie der klassische Neuheide und neuzeitliche Polytheist Goethe gleichwohl. Denn dies ist fast ebenso offenbar wie die Nichtevidenz Gottes: dass es Religionen und Religiosität gibt, weil es das Problem der absoluten Kontingenz gibt, also die gewaltige bis erhabene Frage, warum überhaupt Sein ist und nicht vielmehr nicht(s) und warum wir mit unserer Geburt unbefragt in diese und nicht etwa eine andere raumzeitlichkontextuelle Situation hinein geworfen werden.14 Solange es Wesen gibt, die auf absolute Kontingenz reagieren können und müssen, wird es Religion und religiöse Literatur geben. 13 Cf. Paul Veyne: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ffm 1987. 14 Cf. dazu Peter Sloterdijk: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen – Frankfurter Vorlesungen, Ffm 1988. und Jochen Hörisch: Minima theologia – Paul Celans Psalm; in: ders.: Gott, Geld, Medien, l. c., pp. 33 – 44.
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Religiöse Literatur bzw. Literatur, die religiöse Erfahrungen und Probleme zum Thema hat, kann sehr unterschiedlich daherkommen. Große Dichtung ist religiöse, aber nicht notwendig fromme Dichtung. Um grob zu schematisieren: Religiöse Dichtung kann (nennen wir es das Thomas-Mann-oder Umberto-Eco-Paradigma) religiöse Fundamentalismen narrativ verflüssigen, psychologisieren, aufklären, entdogmatisieren und hermeneutisch disponibel halten. Ihren Reiz bezieht sie daraus, dass sie die leisen und manchmal auch brutalen Übergänge von Seelsorge und irdischer Psychotherapiebedürftigkeit gerade auch der transzendenzfokussierten Seelsorger subtil analysiert. Oder religiöse Literatur kann (nennen wir es das Martin-MosebachModell) dies- und jenseits aller Psychologica und Pathologica wie Missbrauchspriester, prügelnde Bischöfe, Holocaust-leugnende Piusbrüder, homosexuelle Geistliche mit einer fatalen Neigung zur Homosexualitätsverteufelung, Päpste mit einem Faible für rote Schuhe und einen schönen Privatsekretär, Priester, die anderen Priestern mit ihrer Ermordung drohen, wenn sie Skandale aufklären und vor Gott und den Menschen Zeugnis ablegen wollen – religiöse Dichtung kann all diese Peinlichkeiten und nicht hochliteraturfähigen Banalitäten als schmutzigen Erdenrest ignorieren (ab und an gar nicht mal ignorieren), der von der Schönheit und Wahrheit einer lateinisch zelebrierten Messfeier überstrahlt und gereinigt wird. Patrick Roths Prosa ist zwischen diesen Polen das mediale und (im Hölderlinschen Sinne) exzentrische Weltkind in der Mitten. Und dies aus einem präzisen in sich gedoppelten Grund: Das Medium ist die Botschaft – Patrick Roths unverwechselbare Prosa begreift nicht nur das Christentum als Medienreligion par excellence15, sie versteht überdies den Film, das neoklassische Medium unter den neuen Medien nach dem Ende der Gutenberg-Galaxis einerseits und archetypisch-archaische Erfahrungen andererseits nicht als sich ausschließende Gegensätze, sondern als die zweieinigen Seiten eines Möbiusbandes. Diese Motiv-Struktur gibt Patrick Roths Prosa eine dunkle Strahlkraft, die Hubert Winkels und andere aus nachvollzieh-
15 Cf. Dazu Jochen Hörisch: Die Heilsversprechen der neuen Medien; in: ders.: Gott, Geld, Medien – Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten, Ffm 2004, pp. 163 – 171 und ders.: Eine Geschichte der Medien – Vom Urknall zum Internet, Ffm 2010 (4.), p. 308 sqq.
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baren Gründen immer wieder gefeiert haben.16 Bis zur Obsession ist Patrick Roths Werk vom Motiv der ἀναγνώρισις / Anagnorisis / Wiedererkennung fasziniert. Ob Vater und Söhne, Bruder und Schwester, das Verlorenen und das Wiedergefundene, das Alte und das Neue, das Dort und das Hier, der Verfolgte und der Verfolger und noch Jesus und Judas – so gut wie alle Texte von Patrick Roth kulminieren in Akten der Wiedererkennung, die als Wiedererkennung hier und jetzt alles neu macht. Die christologische Tiefenstruktur dieses Motivs ist offenbar: es gilt, im Menschen Jesus aus Nazareth Christus, den Gottessohn, zu erkennen, im Erdig-Irdischen das Heilig-Hohe zu erfahren.17 Die von vielen Patrick Roth-Interpreten eindringlich analysierte Dissolve-Technik seiner Prosa, die ein genuin filmisches Mittel ins Narrative transformiert, ist die neumediale Überblendfigur, die dem schon in der vorchristlichen Antike angelegten, im Christentum dann theologisch pointierten Anagnorisis-Motiv entspricht. Dieses Kind in der Krippe, dieser geschundene Körper am Kreuz ist der Erlöser, dieses Medium ist die Botschaft. Man muss sich vergegenwärtigen, dass das Anagnorisis-Motiv zwar Inbegriff, ja Inkarnation der pathetischen Erfahrung ist, aber eben noch im Profanen wiedererkannt werden kann und will. Noch und gerade mathematische Gleichungen sind auf Wiedererkennungen aus, sie prozedieren wiedererkennend Identitätsprobleme, wenn sie am Ende logischer Operationen Gleichungen wie x=y oder π=3,14… oder e=mc2 lösen, erlösen. Wer Patrick Roth nur als den befremdlich ekstatischen Pathetiker in einer ansonsten postsäkular geprägten Literaturszene wahrnimmt, verkennt (neben der Literaturszene) die Pointe seiner lyrischen Diastasis-Prosa: dass sie, das alte theologische Schema Heil und Heilung aufnehmend und transformierend, im Profanen das Heilige wiedererkennt. In theoriegeschichtlicher Perspektive heißt das: Patrick Roth entplatonisiert das platonische Motiv, alles Erken16 Hubert Winkels: Auf dem Sternenross – Warum gelingt es Patrick Roth, uns so himmlisch zu verzaubern? Eine Antwort, ja ein begeisterter Hinweis auf seinen neuen Erzählband Starlite Terrace; in: Die Zeit 41/2004), „Die Literatur darf das Erhabene und das Pathos reiten wie ein Sternenross – wenn sie kann. Und Patrick Roth kann es wie niemand sonst.“ In der hymnischen Rezension finden sich aber auch Ansätze einer Kritik an Patrick Roths Stil: „Es wäre nicht nötig, die erzählten Epiphanien in dem Maße erzählerisch zu deuten, wie dies geschieht.“ 17 Michaela Kopp-Marx: Das Heilig-Hohe und das Erdig-Irdische. Versuch über das Schreiben Patrick Roths; in: Wolfgang W. Müller (ed.): Suche nach dem Unbedingten – Spirituelle Spuren in der Kunst, Zürich 2008.
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nen sei Wiedererkennen. Wiedererkannt wird nicht die Idee in ihrer defizienten Stofflichkeit, sondern die demiurgische Stofflichkeit der Idee. In christologischer Fassung: wiedererkannt wird nicht Christus in Jesus, sondern Jesus in Christus. Mit unüberbietbarer Eindringlichkeit wird das in der lyrisch verdichteten Szene deutlich, in der Patrick Roth den Schluss von Chaplins Film City-Lights evoziert: „Jetzt aber – aus ihrer Sicht hinterm Schaufenster sehen wir’s: / Beginnt das Lumpenmännchen sich … / umzudrehen / Noch gedemütigt blickt er. / Noch im Wenden. / Und da! / Sieht er sie? / Sieht er sie und …? / Stillstehend sieht er sie an. / Und alle Zeit / steht still. / Hinter ihm tobt der Verkehr, Passanten hasten vorbei, Sonnenlicht sprüht durch den aufgewirbelten Straßenstaub. / Aber stillstehend er. / Hat sie erkannt.“18 Auch diese Szene symbiotisiert möbiusbandgleich die Distanzierungslogik der third-order-observation (wir sehen, wie das von Blindheit geheilte Blumenmädchen den Tramp wiedererkennt, der sie wiedererkennt) mit aufgeladener, stillgestellter Präsenz („jetzt aber“, „und da!“), in der Sonnenlicht und Straßenstaub ebenso ihr Rendezvous haben wie Anagnorisis und Apokatastasis („alle Zeit / steht still“). Es sind profane Erleuchtungen, die Patrick Roths Prosa ihren unverwechselbaren Glanz geben. Seine Prosa ist christologisch in dem präzisen Sinn, dass sie die Menschwerdung Gottes narrativ präsentiert und ekstatisch wiedererkennbar macht. In Patrick Roths Prosa werden religiöse Erfahrungen und Motive so aufgeladen, dass sie in erleuchtete(r) Profanität eingehen. In seinem 1960 erschienenen bedeutenden Klassiker Theory of Film – The Redemption of Physical Reality hat Siegfried Kracauer die profanen Erleuchtungen gefeiert, die den geglückten Film so unwiderstehlich machen. Der klassische Film hat, so Kracauers Argument, per se ein zärtliches Verhältnis zur Wirklichkeit. Er erlöst die Physis, weil er die Metaphysik verwindet, die sich als das andere der Physis versteht. Der „transcendental style in film“, den Paul Schraders 1972 erschienene Untersuchung eindringlich analysiert hat,19 gibt dem Begriff des Transzendenten eine neue Dimension, weil der Film dafür sorgt, im Immanenten das Transzendente zu erkennen, wiederzuerkennen – auch Paul Schrader versteht den Film, ohne dies ausdrücklich so auf den Begriff zu bringen, als medial gewordene Christologie. Dieser filmischen Einsicht entspricht 18 Patrick Roth: Meine Reise zu Chaplin, Ffm 1977, p. 30. 19 Paul Schrader: Transcendental Style in Film – Ozu, Bresson, Dreyer. Berkeley 1972.
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in der narrativen Sphäre, dass sich Patrick Roth nicht als Autor begreift, dessen Autorität stimmige Korrelationen zwischen „les mots et les choses“ erfindet, sondern seinerseits als ein Medium versteht, das der ihn überwältigenden Bilder „nicht Herr ist“20, weil „ich (das) nicht gemacht“, wohl aber „gefunden“ habe.21 „Als Schriftsteller lege ich es darauf an, diese andere – unten schon immer wartende – Schicht, Bedeutungsschicht, im Geschriebenen durchscheinen zu lassen, als hielte ich die beschriebene Handlung in einem dauernden oder immer wieder ansatzweise aufscheinenden Dissolve.“22 Patrick Roths Prosa bringt das nicht-artifizielle Kunststück fertig, diese Dissolve-Struktur Sprache werden zu lassen. Für Patrick Roths Filme wie für seine Prosa gilt, dass sie „no fiction“23 sind, wenn sie die Geschichten erzählen, in die wir verstrickt sind. In Patrick Roths Werken werden Sein und Dasein mit einer Intensität und Bedeutsamkeit aufgeladen, die Immanenz und Transzendenz in eins verwebt.
20 Patrick Roth: Zur Stadt am Meer – Heidelberger Poetikvorlesungen. Ffm 2005, p. 34. 21 Ibid., p. 82. 22 Patrick Roth: Ins Tal der Schatten. Ffm 2001, p. 53. 23 „No fiction“ – so lautet der Titel der fünften Frankfurter Poetikvorlesung, l. c., pp. 143 – 170.
19. „ Ich bin ein Mensch wie ihr“ und „Was hätten Sie denn gemacht?“ – Unkorrekte Konstellationen von Nazis, Sex und Religion in Bernhard Schlinks Der Vorleser und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten
Traduttore traditore, the translater is a traitor, traduire c’est trahir. Übersetzungen sind bekanntlich voller Tücken. Das vielzitierte und beliebte italienische Paronym „traduttore traditore“ lässt sich einigermaßen elegant und präzise ins Englische und Französische übersetzen. Nicht aber ins Deutsche. Denn die Sentenz „Übersetzer sind Verräter“ verspielt den Witz des Beinahe-Gleichklangs, der die Wendung in anderen europäischen Sprachen so attraktiv macht. Dass Übersetzer Verräter sind, ja sein müssen, ist keine neue Einsicht. Um so seltsamer ist es, dass die zahlreichen Rezensionen und Interpretationen, die Bernhard Schlinks 1995 erschienener Roman Der Vorleser1 und Jonathan Littells 2006 erschienener Roman Die Wohlgesinnten2 weltweit gewidmet wurden, auf die Übersetzungsabgründe, die schon im Titelwort stecken, kaum je eingegangen sind. Das deutsche Wort ‚Vorleser‘ lässt sich weder im Englischen noch im Französischen bündig wiedergeben. The Reader – dieses Wort unterschlägt gleich zwei Dimensionen, die das deutsche Wort ‚Vorleser‘ anzeigt: erstens, dass da jemand einer oder mehreren Personen einen Text laut vorliest und zweitens, dass dieser jemand männlichen Geschlechts ist. Dabei steht das Thema Geschlechterbeziehung unüberlesbar im Zentrum von Schlinks Roman. Le Lecteur – der französische Romantitel gibt immerhin zu erkennen, dass der (Vor-)Leser nun eben ein Leser und keine Leserin ist. Dass dieser männliche Leser einer ist, der seine Stimme laut erschallen lässt, 1 Bernhard Schlink: Der Vorleser – Roman. Zürich 1995. 2 Jonathan Littell: Les Bienveillantes. Paris 2006.
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verrät der Titel der französischen Übersetzung von Schlinks Roman so wenig wie die englische Übersetzung. Die Wohlgesinnten ist der Titel der Übersetzung von Littells Roman Les Bienveillantes ins Deutsche. The Kindly Ones lautet der Titel der englischen Übersetzung – was dazu beigetragen haben mag, dass Littells Roman im angelsächsischen Sprachraum noch ungünstiger aufgenommen wurde als in Deutschland. Doch auch die deutsche Wendung Die Wohlgesinnten bedeutet einen Verrat nicht etwa kleiner Nuancen, sondern zentraler Impulse des Werkes – unterschlägt sie doch das Geschlecht derer, die da guter Gesinnung sind. Um Missverständnisse zu vermeiden: das ist kein Verrat, der dem Übersetzer persönlich anzulasten ist; es handelt sich vielmehr um einen strukturellen Verrat, der Inkompatibilitäten zwischen Sprachsystemen geschuldet ist. So wie das deutsche Wort ‚Vorleser/in‘ sich nicht bündig, sondern allenfalls mit grotesken Paraphrasierungen ins Englische oder Französische übersetzen lässt, so lässt sich im Deutschen nicht bündig wiedergeben, dass Die Wohlgesinnten weiblich sind, was der vorletzte Buchstabe ‚e‘ in Les Bienveillantes ebenso dezent wie deutlich zu erkennen gibt. Les Hommes de Bonne Volonté ist übrigens der Titel eines nicht weniger als 27 Bände umfassenden Werkes des französischen Autors Jules Romains, das zwischen 1932 und 1946 erschien und dessen erste sieben Bände von Franz Hessel unter dem Titel Die guten Willens sind ins Deutsche übertragen wurde.3 Romains wurde 1936 Vorsitzender des internationalen PEN -Clubs, was nachvollziehbarer Weise gereizte Debatten auslöste – gab Romains doch als Mitbegründer des nazifreundlichen, ja von Nazi-Propagandisten 1935 initiierten Comité-France-Allemagne (CFA ) Anlass zu Fragen darüber, was er unter ‚bonne volonté‘ verstand. Sich an „alle Menschen guten Willens“ zu wenden, ist eine beliebte rhetorische Figur, die u. a. auch Bundeskanzler Kohl gerne benutzte. Die Frage, wen diese Floskel ausschließt, an wen man sich nicht wendet, wenn man sich an alle Menschen guten Willens wendet (offenbar an die Böswilligen – aber wären die nicht gerade guter Zureden bedürftig?), ist so wenig beliebt wie die in wunderbaren Takten der Zauberflöte dunkel mitschwingende Frage, was man mit den Leuten anstellen solle, die es nicht verdienen, Mensch zu sein, weil sie gewisse 3 Paris 1932 bis 1946. Der Romanzyklus wurde 1983 von Francois Villiers unter dem Titel Quelques hommes de bonne volonté verfilmt.
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Lehren nicht erfreun. Es gehört zu den subtilen Implikationen von Littells Roman, dass er eben nicht von „Hommes (de bonne volonté)“/Männern/Menschen/Leuten, sondern von Bienveillantes handelt. Hainer Kober hat Littells Text bemerkenswert genau und souverän ins Deutsche übertragen4; diese maskulin-feminin-Differenz aber kann auch er im Deutschen nicht so fein signalisieren wie das Französische. Dass Littell, in dessen Familiennamen das französische feminine Personalpronomen „elle/s“ anklingt, seinem Roman den Titel Les Bienveillantes (Die weiblichen Wohlgesinnten) und nicht Les Bienveillants (Die männlichen Wohlgesinnten) mitgibt, hat einen vergleichsweise handfesten Sinn, aber eben auch einen Sinn, der sich nur nach gründlicher Lektüre des monströsen Buches ergibt. Mit ‚bienveillantes‘ werden im Französischen die Eumeniden, also die griechischen Erinnerungs- und Rachegöttinen, bezeichnet. Eumeniden (Εὐμενίδες) – das ist das vor allem von Aischylos bevorzugte Wort, ja die apotropäisch beschwichtigende Anrede für die Erinnyen (Ἐρινύες), die darauf verzichten, Rache-Furien zu sein, aber darauf bestehen, dass Erinnerungen frei von Verdrängungen bleiben. Seltsame Eumeniden kreuzen in Littells Roman wiederholt den Lebensweg des gebildeten Ich-Erzählers Dr. Max(imilian) Aue, der 1913 im Elsass als Sohn einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters geboren wurde und zweisprachig aufwuchs. Die Kriminalbeamten Clemens und Weser stellen ihm nach, weil er im gut begründeten Verdacht steht, wie der von Erinnyen verfolgte Orest in Antibes seine Mutter und seinen Stiefvater bestialisch ermordet zu haben. Seltsam dürfen diese Eumeniden/Erinnyen genannt werden, weil sie gerade nicht den antiken Rachegöttinen entsprechen, sondern vielmehr groteske, slapstickartige Charakterzüge aufweisen – und weil sie, dem femininen Romantitel widersprechend, Männer sind. Rollenwechsel und mann-weibliche Identitätswechsel sind ein Leitmotiv von Littells wie von Schlinks Roman. Beide Romane weisen nicht nur in dieser Hinsicht signifikante Ähnlichkeiten und Differenzen auf. Die Gemeinsamkeit lässt sich schnell benennen. Gereizte Diskussionen haben beide Erfolgs-Romane ausgelöst, weil sie die monströsen Verbrechen der Nazis nicht aus der Opfer-, sondern direkt aus der Täterperspektive (Littell) bzw. nicht ohne Empathie mit der Täterinnen4 Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten, übers. von Hainer Kober. Berlin 2008
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perspektive (Schlink) schildern – und sich deshalb dem Verdacht aussetzen, diese Verbrechen gemäß dem Spruch „tout comprendre, c’est tout pardonner“ zu relativieren (gerade diesem Spruch hat der bedeutende Romanist und ehemalige SS -Mann Hans-Robert Jauß eine Studie gewidmet5). Die Differenzen zwischen beiden Romanen sind ebenso deutlich wie diese Gemeinsamkeit. Um nur die wichtigsten zu nennen: Schlinks Hauptfigur ist eine Frau; Littells Protagonist ist ein Mann. Hanna ist heterosexuell, Max Aue ist homosexuell. Hanna ist Analphabetin, Dr. Aue ist hochgebildet. Von Hanna wird in der dritten Person erzählt; der SS -Mann Max Aue erzählt (mit Brechungen) in der Ich-Perspektive von seinen und den von ihm miterlebten und mitorganisierten Verbrechen. Man tritt Bernhard Schlink nicht zu nahe, wenn man sein genus dicendi als prosaisch-konventionell charakterisiert; unverkennbar schreibt Littell einen deutsch-französischen Amalgam-Stil (um nur drei von buchstäblich Tausenden von Beispielen zu nennen: „ca n’est pas gemütlich“ (180), „Tu es un Hiwi maintenant“ (158), „il présentait l’incarnation de l’Übermensch“ (86)6), der um so schriller klingt, als sein Französisch ansonsten durchaus klassisch-cartesianischen Anforderungen an Klarheit und Eleganz zu entsprechen versucht und zu entsprechen vermag. Gemeinsam ist beiden Werken neben der Bereitschaft zur Empathie mit den Nazi-Tätern ein auffallendes Interesse an den heikelsten Motiven jeder Diskussion um die Massenmorde der Nazis. Schlink wie Littell fragen nämlich erstens nach Korrespondenzen zwischen Unterschichten-Emanzipation bzw. Elitenversagen und Nazi-Erfolgen und zweitens nach Korrespondenzen zwischen sexueller Orientierung und Affinität zum Faschismus; Littell fragt darüber hinaus drittens auch noch nach Korrespondenzen zwischen religiöser Orientierung und deren Affinität zum Faschismus. Alle drei Fragen sind in Zeiten von Political Correctness hochgradig heikel und selbst in Sphären, die Tabubrüche kultivieren, von Tabus umstellt (und das ist wohl auch gut so, wie dieser Essay an seinem Ende darzulegen versucht). Im Mittelpunkt von Schlinks Roman steht eine analphabetische Unterschichten-Frau, die aber selbstbewusst genug ist, sich mit einem 5 Hans-Robert Jauß: Tout comprendre, c’est tout pardonner; in: ders.: Wege des Verstehens. München 1994, pp. 49 – 84. 6 Seitenangaben beziehen sich auf die in den obigen Fußnoten genannten Ausgaben.
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deutlich jüngeren Sohn aus gebildeter Professorenfamilie einzulassen. An ihrer erotischen Dominanz, die den jungen Mann ebenso fasziniert wie irritiert, lässt der Text keinen Zweifel aufkommen. „Als ich wiederkam, stand sie im Zimmer, halb angezogen, zitternd vor Wut, weiß im Gesicht. / ‚Wie kannst du einfach so gehen!‘ / Ich setzte das Tablett mit Frühstück und Rose ab und wollte sie in die Arme nehmen. ‚Hanna….‘ / ‚Faß mich nicht an.‘ Sie hatte den schmalen ledernen Gürtel in der Hand, den sie um ihr Kleid tat, machte einen Schritt zurück und zog ihn mir durchs Gesicht. Meine Lippe platzte, und ich schmeckte Blut. Es tat nicht weh. Ich war furchtbar erschrocken. Sie holte noch mal aus. / Aber sie schlug nicht noch mal. Sie ließ den Arm sinken und den Gürtel fallen und weinte. Ich hatte sie noch nie weinen sehen. Ihr Gesicht verlor alle Form. (…) Bei uns zu Hause weinte man nicht so. Man schlug nicht, nicht mit der Hand und erst recht nicht mit einem Lederriemen. Man redete.“ (54 sq.) Man redete. Als Hanna ihren jugendlichen Liebhaber einmal zu Hause besucht, ist es an der Analphabetin, fasziniert und irritiert von einer Sphäre zu sein, die auf kultivierte Sprache, Schrift und Konversation statt auf körperliche Gewalt setzt. „Ihr Blick tastete alles ab, die Biedermeiermöbel, den Flügel, die alte Standuhr, die Bilder, die Regale mit den Büchern, Geschirr und Besteck auf dem Tisch. Als ich sie alleine gelassen hatte, um den Nachtisch fertigzumachen, fand ich sie nicht am Tisch wieder. Sie war von Zimmer zu Zimmer gegangen und stand im Arbeitszimmer meines Vaters. Ich lehnte mich leise an den Türpfosten und sah ihr zu. Sie ließ ihren Blick über die Bücherregale wandern, die die Wände füllten, als lese sie einen Text. Dann ging sie zu einem Regal, fuhr in Brusthöhe mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam die Buchrücken entlang, ging zum nächsten Regal, fuhr mit dem Finger weiter, Buchrücken um Buchrücken, und schritt das ganze Zimmer ab. Beim Fenster blieb sie stehen, sah in die Dunkelheit, auf den Widerschein der Bücherregale und auf ihr Spiegelbild.“ (60 sq.) Der Icherzähler liest seiner Geliebten auf deren Wunsch aus den Büchern vor, die sein Professorenvater über Kant und Hegel geschrieben hat. Am Ende der etwas überdeutlich konstruierten Szene schenkt der Sohn seiner Geliebten keinen Text, sondern ein Textil, genauer: ein seidenes Nachthemd. „Hanna freute sich, lachte und strahlte. Sie sah an sich herab, drehte sich, tanzte ein paar Schritte, sah sich im Spiegel, betrachtete kurz ihr Spiegelbild und tanzte weiter. Auch das ist ein Bild, das mir von Hanna geblieben ist.“ (62)
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Hanna ist eine überkonstruierte Figur. Schon der Umstand, dass Schlink der KZ -Aufseherin ausgerechnet einen jüdischen Namen verleiht, verweist allzu deutlich auf den Willen, eingefahrene Muster der Diskurse über Nazi-Verbrechen zu irritieren. Zugleich fällt Schlinks Roman selbst wiederum in etablierte narrative Schemata zurück, u. a. indem er in der Figur der analphabetischen KZ -Wächterin die Figur der verfolgten Verfolgerin bzw. der unterdrückten Unterdrückerin abruft. Dennoch gelingt es Schlink, gleich zwei Tabus der NS -Forschung, aber auch allgemeiner (alltäglicher, journalistischer, politischer) Diskurse über das NS -Regime nicht nur zu streifen, sondern zentral zu treffen. Das NS -Regime gab nämlich erstens Angehörigen der Unterschicht und zweitens Frauen bis dahin unbekannte Möglichkeiten sich durchzusetzen. Hitler selbst ist der phänotypische Unterschichtenangehörige, dem eine phänomenale Karriere gelingt. Joachim Fest hat das in seiner Hitler-Biographie, deren Verfilmung den Untertitel Eine Karriere trägt7, eindringlich dargestellt; er war sich des Tabubruchs, den er mit diesem Hinweis beging, durchaus bewusst. Das Nazi-Regime rekrutierte sich zu erheblichen Teilen aus Unterschichten und auffallend jungen Alterskohorten, die während des „zweiten Reiches“, der wilhelminischen Kaiserzeit, und auch während der Weimarer Republik nie und nimmer zum Zuge hätten kommen können. Ein arbeitsloser junger Österreicher ohne Abitur und Studium, aber mit Nachtasyl-Vergangenheit als Reichskanzler in Berlin – das wäre vor 1918 ein schlechthin undenkbares Szenario gewesen; Schlägertypen wie die SA -Leute in Spitzenämtern ebenso. Das NS -Regime als Sphäre für z. T. rasante Unterschichten-Karrieren – dieser Blick auf das Dritte Reich ist in der Tat bis heute ein Tabu. Das NS -Regime als Sphäre für frappierende Frauen-Karrieren – das ist kein geringeres Tabu. Aber es ist tatsächlich irritierend (zumal für einen naiven Political-Correctness-Standard), dass das NS -Regime nicht nur Mutterkreuze für Vielgebärende vergab, sondern auch prominente, selbstbewusste und erzkonservativen Rollenklischées mitnichten entsprechende Frauenfiguren wie die Filmregisseurin Leni Riefenstahl, die Festivalleiterin Winifred Wagner oder die Kampffliegerin Hanna(!) Reitsch hofierte und in ihnen fanatische Gefolgsfrauen fand. Bis dahin 7 Joachim Fest: Hitler – Eine Biographie. Ffm/Berlin/Wien 1973 und: Hitler – Eine Karriere, ein Film von Joachim C. Fest und Christian Herrendoerfer. Produktion: 1977, UA : Berlinale 1977, TV -Erstsendung: 4. Januar 1987.
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unbekannte Durchsetzungschancen hatten aber nicht nur prominente Frauen mit Oberschichtenhintergrund wie die drei genannten, sondern auch zahllose BdM-Mädchen aus „einfachen Verhältnissen“, die eine hohe Loyalität zum NS -Regime entwickelten. Es gab eben nicht nur NS -Täter, sondern auch zahlreiche NS -Täterinnen.8 Wer über ein nüchtern-funktionales Emanzipationsverständnis verfügt, wird kaum umhinkönnen, das Nazi-Regime auch als eine Sphäre der Frauen-Emanzipation zu begreifen. Hanna als analphabetische Unterschichten-Frau mit dominanten Zügen, die im Nazi-Reich die Gelegenheit zur kleinen Karriere von der Straßenbahnschaffnerin zur KZ -Aufseherin ergreift, findet in Dr. Max Aue eine eigentümliche Entsprechung. Eigentümlich darf diese Komplementärfigur genannt werden, weil sie (wohl ohne direkten, intentionalen Bezug des Autors Littel zu Schlinks Romanfigur) denkbar kontrastiv angelegt ist. Max Aue ist ein Mann, er ist homosexuell, und er ist gebildet – also in mindestens dreifacher Hinsicht eine Gegenfigur zu Hanna. Mit ihr aber teilt er die Bereitschaft, sich vorbehaltlos auf die Nazis einzulassen – und lustvoll das feine Umgangs-Niveau zu unterbieten, das er seiner Herkunft eigentlich schuldig wäre. Littell hat ein auffallendes Interesse daran, Nazis mit akademischen Titel oder aus aristokratischen Kreisen vorzuführen. So kreuzen die historischen Personen des SS -Brigadeführers Prof. Dr. Franz (im Roman trägt er den Vornamen Alfred) Six, der SS -Brigadeführer Dr. Dr. Otto Rasch oder der SS -Sturmbandführer Waldemar von Radetzky den Lebensweg des Dr. Max(imilian) von Aue. Unter den fiktiven Romanfiguren fällt der hochgebildete SS -Brigadeführer Dr. med. Max Thomas auf, der die alten Sprachen ebenso beherrscht, wie er fließend englisch und französisch spricht. Ein brillanter Bildungshintergrund stellt so wenig wie Analphabetismus ein Immunsystem gegen Nazibegeisterung und den Kollaps aller humanistischen Mindeststandards bereit. Aus dem Grund seiner spezifischen Bereitschaft, nicht „nur“ Nazi oder Nazisympathisant zu sein, sondern sich an den Greueltaten der Nazis aktiv zu beteiligen, macht 8 Cf. Kathrin Kompisch: Täterinnen – Frauen im Nationalsozialismus, Böhlau Verlag, Köln 2008; den Band Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus, ed. KZ -Gedenkstätte Neuengamme (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 7). Bremen 2002 und Elissa Mailänder Koslov: Gewalt im Dienstalltag – Die SS -Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek 1942 – 1944. Hamburg 2009.
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Dr. Aue kein Geheimnis. Er erfährt das Nazireich nämlich nicht etwa als ein Regime der Unterdrückung, sondern als eine extrem libertäre Sphäre. Ermöglicht es ihm doch, seine sadistischen und perversen Impulse ungehemmt auszuleben. Um es psychoanalytisch auszudrücken: weniger Triebrepression, weniger Kontrolle des polymorph-perversen Es durch ein mächtiges Über-Ich als in der Nazizeit gab es nie. Wer Lust daran hatte, andere zu demütigen, zu quälen, zu erniedrigen, zu foltern, massenhaft zu töten und zu verbrennen, konnte das in Jahren 1933 – 1945 zunehmend enthemmt tun und zugleich die Privilegien hochangesehener Positionen genießen. Vor Littell haben wohl nur skandalträchtige Fim-Regisseure wie Pier Paolo Pasolini (Die 120 Tage von Sodom / 1975) oder Liliana Cavani (Der Nachtportier / 1974, mit Dirk Bogarde und Charlotte Rampling) die Nazi-Zeit als Epoche der enthemmten Entfaltung polymorphperverser und insbesondere sadomasochistisch-libertärer Impulse dargestellt. Auch diese Sichtweise streift zumindest ein Tabu; dürfen und sollen sexuelle Minoritäten doch heute (mit einigen Ausnahmen wie Pädophile und Kannibalen) nicht diskriminiert werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf Homosexuelle, die während der Nazizeit grauenhaften Verfolgungen ausgesetzt waren. Aue sind nun homosexuelle Impulse so wenig fremd wie inzestuöse Neigungen zu seiner Schwester. Durchgängig macht Littell darauf aufmerksam, dass viele Nazis aus männerbündischen bis homophilen Kontexten stammten, dass aber die Ermordung der SA -Leute um den Homosexuellen Röhm und die Verfolgung Homosexueller im Dritten Reich den Blick auf diese Konstellation verstellt und tabuisiert hat. Die gereizte Diskussion um die Hitler-Biographie des Historikers Lothar Machtan, die den Führer plausibel als einen Mann darstellt, der alles tut, um seine homosexuelle Orientierung nicht deutlich werden zu lassen, zeigt an, wie heikel auch heute noch dieses Thema ist9. Littell thematisiert die männerbündische bis homosexuelle Grundierung weiter Teile der Nazi-Bewegung wiederholt, so etwa in einem platonisch gebildeten Gespräch, das Aue mit seinem Freund Partenau führt und das mit Diskussionen über Röhms öffentlich bekannte Homosexualität begann. Das Gespräch kreist kenntnisreich um die erratische Gestalt von Hans Blüher (1888 – 1955), den die und der die 9 Lothar Machtan: Hitlers Geheimnis – Das Doppelleben eines Diktators. Berlin 2001.
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Wandervogelbewegung prägte, der mal (nach dem Ersten Weltkrieg) sozialistisch-atheistisch, dann monarchistisch-protestantisch, dann nationalsozialistisch und nach der Ermordung von Röhm auch mal NS kritisch eingestellt war. Sein zweibändiges, 1917 und 1919 erschienenes Buch Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft10 irritierte und faszinierte viele Zeitgenossen und Nachgeborenen, weil es die homoerotischen Valenzen vieler Männerbünde nicht etwa kritisierte, sondern offen enttabuisierte. Mit Blühers Werk hat Aue sich gründlich beschäftigt. „Il est évident que seul l’homme est réellement créatif: la femme donne la vie, elle élève et nourrit, mais elle ne crée rien de neuf. Blüher, un philosophe très proche en son temps des hommes des Freikorps, et qui est allé jusqu’à se battre avec eux, a montré que l’éros intramasculin, en stimulant les hommes à rivaliser de courage, de vertu et de moralité, contribue et à la guerre et à la formation des Etats, qui ne sont qu’une version étendue des sociétés masculines comme l’armée. Il s’agit ainsi d’une forme supérieure de dévoloppement, pour des hommes intellectuellement évolués. Les bras des femmes, c’est bon pour les masses, le troupeau, mais pas pour les chefs.‘ (…) ‚Ce Blüher dont tu parlais, qu’est-il devenu?‘ – ‚Il est encore vivant, je crois. Durant le Kampfzeit, le ‚temps du combat‘, il était très lu en Allemagne, et, malgré ses convictions monarchistes, fort apprécié par certains cercles de droite, y compris mationaux-socialistes. Après je crois qu’il a èté trop identifié à Röhm et depuis 1934 il est interdit de publication. Mais un jour on lèvera cet interdit. Il y a encore une autre chose que je voudrais te dire: aujourd’hui encore, le nationalsocialisme fait beaucoup trop de concessions aux Eglises. Tout le monde en est conscient, et le Führer en souffre, mais en temps de guerre il ne peut pas se permettre et les combattre ouvertement. Les deux Eglises ont encore trop d’emprise sur les esprits des bourgeois, et nous sommes obligés de les tolérer.“ (289 sq.) Dass die Diskussion über Blüher und die Rolle der Homoerotik gerade auch unter Nazis und Nazisympathisanten plötzlich abbricht, um sich sodann dem Verhältnis von Kirche(n) und NS -Staat zuzuwenden, evoziert und verletzt ein weiteres Tabu. Der Übergang ist so abrupt allerdings nun auch wieder nicht; denn Littells Protagonist zeigt sich von 10 Neuausgabe, Stuttgart 1962. Cf. dazu Nicolaus Sombart: Die deutschen Männer und ihre Feinde – Carl Schmitt, ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos. München 1991.
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den unverkennbar männerbündischen bis homophilen Valenzen der katholischen Kirche mehrfach fasziniert – auch wenn er, wie zeitweise Blüher, ansonsten kirchenkritisch eingestellt ist. Diskussionen über das Verhältnis der Kirchen zum NS -Staat (etwa über das frühe Konkordat zwischen dem Vatikan und NS -Deutschland, über das Verhalten von Papst Pius XII angesichts des Massenmordes an Juden oder über die Protektion von NS -Massenmördern durch kirchliche Institutionen nach 1945) sorgen immer erneut für Gereiztheiten (stärker im Hinblick auf die katholische als auf die protestantische Kirche, die anders als die konfessionelle Konkurrenz mit der Stuttgarter Schulderklärung von 1945 früh ihre Mitverantwortung für die NS -Politik einbekannte). Der Religionsphilosoph Jacob Taubes hat in Gesprächen und Vorträgen mit der ihm eigenen Lust an rücksichtslosen Provokationen wiederholt darauf hingewiesen, dass Hitler, Goebbels und Himmler (wie auch Stalin) katholisch geprägt waren und dass die Spitzennazis bis zum April 1945 brav Kirchensteuern zahlten11. Verletzender für politisch korrekt Denkende und für gläubige Katholiken zumal ist jedoch sein Hinweis, dass nicht nur Karrieren wie die von Hitler und Goebbels, sondern auch die des erzkatholischen NS -Kronjuristen Carl Schmitt, der unter den Nazis preußischer Staatsrat wird, oder auch die des Katholiken Martin Heidegger, der im Dritten Reich den Ruf auf den renommiertesten Lehrstuhl für Philosophie in Berlin erhält (und ablehnt), im preußisch-kulturprotestantisch geprägten Kaiserreich bis 1918 schlechthin undenkbar waren. Der Lyriker Gerald Zschorsch hat dieses Tabu in seinem 2009 erschienenen Gedichtband Zur elften Stunde namhaft gemacht: Engelhaschen (…) Gärtnerei der Seele: die Protestanten meinen, Deutschland wurde erledigt von drei Katholiken: Heidegger, Carl Schmitt Und Hitler.
11 Theophil Veritas: Katholik Hitler – Über eine der Wurzeln von Adolf Hitlers Wahnsystem. Hamburg 2008
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Die Katholiken meinen, Deutschland sei erledigt seit der Wiedervereinigung. Und Deutschland meint, es sei erledigt unter jeder Republik. Der Westen treibt; Der Osten schlurft. Wägebalken der Balance: Westsamen im Ostschoß; Ostsamen im Westschoß – Engelhaschen. Die gezeugten Kinder aber bilden und binden ein neues, anderes GERMANIA .12 Die Diskussion über die konfessionelle Prägung führender Nazis13 ist aus schnell nachvollziehbaren Gründen ohne Gereiztheiten ebenso wenig zu haben wie die Diskussion über Nazi-Karrieren von Unterschichtenangehörigen oder von Homosexuellen. In ein und derselben Zeitschrift kann man entschiedene Zurückweisungen der These von Affinitäten zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus und Hinweise auf irritierende Motive in den politischen Äußerungen von 12 Gerarld Zschorsch: Zur elften Stunde – Gedichte. Ffm 2009, p. 63. 13 Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus – Die religiöse Dimension der NS -Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler. München 2002; Georg Denzler/Volker Fabricius (edd.): Die Kirchen im Dritten Reich, Band I. Darstellung – Christen und Nazis Hand in Hand. Frankfurt am Main 1988; dies.: Die Kirchen im Dritten Reich, Band II . Dokumente – Christen und Nazis Hand in Hand. Frankfurt am Main 1988; Friedrich Heer: Der Glaube des Adolf Hitler – Anatomie einer politischen Religiosität. Esslingen 1982; David Clay Large: Hitlers München – Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung. München 1998; Heinrich Missalla: Für Gott, Führer und Vaterland – Die Verstrickung der katholischen Seelsorge in Hitlers Krieg. München 1999; Heinrich Missalla: Wie der Krieg zur Schule Gottes wurde: Hitlers Feldbischof Rarkowski – Eine notwendige Erinnerung. Oberursel 1997; Heinrich Missalla: Für Volk und Vaterland – Die Kirchliche Kriegshilfe im Zweiten Weltkrieg. Bodenheim 1982; Götz Planer-Friedrich/Heinrich Missalla/Hans Prolingheuer/Thomas Breuer: Dem Führer gehorsam: Christen an die Front – Die Verstrickung der beiden Kirchen in den NS -Staat und den Zweiten Weltkrieg – Studie und Dokumentation. Oberursel 2005.
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Papst Benedikt zum Nationalsozialismus finden14. Wie immer man die von Schlink wie von Littell provozierten Verletzungen von Tabus in Diskussionen um den Nationalsozialismus bewertet, wie kontrovers auch immer die außerliterarischen fachwissenschaftlichen Äußerungen zu diesen Themen ausfallen, wie immer man auch die Funktion von Tabus und Tabuverletzungen einschätzt – das eigentlich Abgründige am Nationalsozialismus erschließt sich gerade nicht, wenn man sich auf die Provokationen einlässt, die beide Romane lancieren, sondern wenn man sie und andere literarische wie wissenschaftliche Bücher über das Nazisystem synoptisch liest. Dann nämlich wird der verstörende Umstand deutlich, dass alle Versuche, bestimmte Bevölkerungsgruppen im Deutschland der zwanziger bis vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Nazi-immun oder auch nur Nazi-fern zu charakterisieren, scheitern müssen (mit der bizarren Ausnahme der Zeugen Jehovas). Um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen: Marion Gräfin Dönhoffs Versuche, unter Verweis auf Klaus Graf Schenk von Stauffenberg die Ehre des deutschen Adels angesichts seiner Verstrickungen ins Nazi-Regime zu restaurieren, scheitern in trostloser Weise. Der junge Stauffenberg war von Hitler in den Jahren nach 1933 durchaus angetan, Gräfin Dönhoffs eigene Brüder waren fanatische Nazis, viele deutsche Adelige und Hochadelige (etwa aus dem Haus Hohenzollern) haben sich den Nazis in peinlicher Weise verdingt. Und Joachim Fests Buch mit dem trotzigen Titel Ich nicht – Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend15, das die Nazi-Ferne seiner bildungsbürgerlich-katholischen Familie schildert, mag für den Fall des Autors stimmen, taugt jedoch nicht für auch nur zaghafte Weiterungen. Auch Heinrich Himmler kam aus einer bildungsbürgerlich-katholischen Familie, sein Vater war Studienrat für alte Sprachen; Goebbels war promovierter Germanist, er stammte aus rheinisch-katholischem Milieu; die Liste der Gegenbeispiele zu Fests These (wenn sein Buch denn eine verallgemeinerbare These vertreten will) ist allzu lang, um sie hier aufzuführen; sie würde auch die Familie Ratzinger anführen müssen, die so Nazi-fern nicht war, wie der ehemalige deutsche Papst gerne glauben machte.
14 Cf. Jürgen Busche: Katholiken wählten Hitler nicht (ganz buchstäblich kann dieser Titel-Satz nicht gemeint sein, J. H.), in: Cicero 4/2009, p. 62 sq. und Alan Posener: Benedikt, ein Papst in deutschem Namen; in: Cicero 1/2010, pp. 65 – 68. 15 Joachim Fest: Ich nicht – Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend. Reinbek 2006.
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Kurzum: das zutiefst Unheimliche am Nationalsozialismus, das sich bei der synoptischen Lektüre von Schlinks und Littels Romanen (und anderer Texte und Dokumente) erschließt, ist, dass „alle“ Deutschen für den Nationalsozialismus anfällig waren: Protestanten, Katholiken und Atheisten, Arbeitslose, Arbeiter, Angestellte, Bauern, Beamte und Adelige, Mediziner, Juristen, Professoren, Geistliche, Geistes- und Naturwissenschaftler, Alte und Junge, Norddeutsche und Süddeutsche, Gebildete und Analphabeten, Hetero- und Homosexuelle, Vegetarier und Fleischkonsumenten, Männer wie Frauen. So unterschiedliche Charakteren und Temperamente aus unterschiedlichsten Milieus wie Hans Filbinger und Walter Jens, Hanns-Martin Schleyer und HansRobert Jauß, Winifred Wagner und der Vater von Jürgen Habermas, Leni Riefenstahl und Werner Höfer, Hans Schwerte/Schneider und Arnold Gehlen und eben auch die Millionen, deren Namen heute nicht öffentlich bekannt sind, hatten doch diese Gemeinsamkeit: dass sie Nazis waren. Die Absurdität, dass heute fast alle davon erzählen, wie Nazi-resistent ihre Familien waren (weil sie durch Katholizismus, Protestantismus, Bildungsniveau, regionale Bindung, intaktes Arbeitermilieu etc. gefeit waren), sich aber niemand ernsthaft Illusionen über den Ausgang freier Wahlen unter Völkerbundaufsicht im Deutschland des Jahres 1936, 1939 oder 1942 machen würde, verweist auf das seltsam intakte Tabu in Diskussionen über die Nazizeit: dass wenn nicht „die Massen“ (Wilhelm Reich), so doch Mehrheiten aus allen Schichten und Milieus den Faschismus gewollt haben. Gerade deshalb ist das Tabu über allen Versuchen, signifikante Korrelationen zwischen Nazis und einzelnen Merkmalen wie konfessioneller Prägung, sozialem Milieu, Bildungsstand, regionaler Herkunft oder sexueller Orientierung zu benennen, sachlich und nicht nur im Interesse der De-Eskalation von Konflikten gerechtfertigt. Was umgekehrt auch heißt, dass alles dafür spricht, die Rede „wir nicht, die Gruppe, der ich angehöre und aus der ich stamme, war vor den Nazis gefeit“, einzustellen (was auch und noch für Altnazis unter SED -Spitzenpolitikern gilt). Nach einem so bösen wie zutreffenden Wort von Götz Aly war Hitlers Volksstaat eine „Wohlfühl-“ und „Konsensdiktatur“16. Das Unheimliche – und unheimlich ist, dass das Abgründige nicht im Fernen und Fremden, sondern im 16 Götz Aly: Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Ffm 2005.
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Heimisch-Vertrauten liegt – das Unheimliche am Nationalsozialismus ist, dass er anders als etwa das SED -Regime breiteste und z. T. enthusiastische Zustimmung aus allen Bevölkerungsgruppen erfuhr. Genau diese These umkreisen auch die so unterschiedlichen Romane von Bernhard Schlink und Jonathan Littell. Ihre Scharniersätze lassen sich leicht angeben. Als Hanna vor Gericht nach den Gründen für ihr tödliches Handeln gefragt wird, fragt sie den Richter hilflos zurück: „‚Ich habe… ich meine… Was hätten Sie denn gemacht?’ Das war von Hanna als ernste Frage gemeint. Sie wußte nicht, was sie hätte anders machen sollen, anders machen können, und wollte daher vom Vorsitzenden, der alles zu wissen schien, hören, was er gemacht hätte.“ (107) Die Frage ist dem Richter unangenehm, obwohl oder weil sie ein Ausdruck von Hilflosigkeit ist und weil sie, um eine eindringliche Formel von Hans Mayer zu bemühen, „das Monstrum als Ernstfall der Humanität“17 begreift. Direkter als Hannas hilflose Frage kommt die forsche Selbstcharakterisierung von Aue daher: „Je suis un homme comme vous. Allons, puisque je vous dis que je suis comme vous!“ (43) Die Äußerungen von Hanna und Aue sind eigentümlich wahr und falsch zugleich. Sie sind falsch; denn nicht alle, die zwischen 1933 und 1945 aktive Erwachsene waren, haben wie Hanna Gefangene selektiert; nicht alle haben so viel und so lustvoll gemordet wie Max Aue. Und sie sind wahr; denn viel zu viele, ja Mehrheiten aus fast allen Milieus haben, wissend oder verdrängend, was Menschen wie Hanna oder Max Aue taten, Nazis gewählt und ihnen zugejubelt, kurzum: den Faschismus gewollt. Kein geringerer als Thomas Mann hat in seinem unübertroffenen Kurz-Essay Bruder Hitler, der 1938 entstand und am 03. 09. 1939 in der Chicagoer Zeitschrift Esquire unter dem Titel That man is my brother zuerst erschien, energisch und verletzend, ja Selbstverletzungen in Kauf nehmend, auf den Schwachpunkt vieler Versuche hingewiesen, den Nationalsozialismus zu „verstehen“. Die meisten Analysen verzichten nämlich darauf, auf die für überwältigend viele Menschen aus unterschiedlichsten Kontexten unwiderstehliche Anziehungskraft des Nationalsozialismus einzugehen und die eigene Anfälligkeit für faschistische Motive und Impulse mitzubedenken. Thomas Mann tut genau dies: er erkennt in Hitler viel von dem wieder, was auch 17 Hans Mayer: Außenseiter. Ffm 1975, p. 9.
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ihn, Thomas Mann, ausmacht – und kann ihm deshalb widerstehen. Thomas Mann begreift Hitler als „Bruder“ – und in dieser Titelformulierung schwingen durchaus homophile Assoziationen mit – als „ein(en) etwas unangenehme(n) und beschämende(n) Bruder; er geht einem auf die Nerven, es ist eine reichlich peinliche Verwandtschaft. Ich will trotzdem die Augen nicht davor verschließen.“18 Auch wer die Augen vor den Schwächen von Schlinks und Littells Romanen nicht verschließt, kann anerkennen, dass sie zum Verständnis gerade der unheimlichen Aspekte des Nationalsozialismus das Ihre beitragen.
18 Thomas Mann: Bruder Hitler; in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XII . Ffm 1974, p. 845.
20. D ie Maschine, der Sinn und die Energie – Der Kraftwerk-Sound
Die erste 1970 gepresste Scheibe von ‚Kraftwerk‘ heißt nach altem metonymischen Schema so wie die Band selbst: Kraftwerk. Ein ungewöhnlicher, weil extrem sachlicher Name für eine Band. Kraftwerk – das klingt ganz anders als die Namen von Bands, die damals das Sagen und Singen hatten, etwa die Beatles (ein Name, der ja nicht nur auf den Beat verweist, sondern homophon ist mit beetles/Käfer), die Rolling Stones (auch hier ein naturnaher Name, wenn auch Steine lebloser sind als Käfer) oder The Who (ein Name, der auf Lebewesen und nicht auf Technik verweist). Der Signalwert des Bandnamens Kraftwerk1 ist hoch: hier geht es nicht um Personen, die ihre Erfahrungen (boy meets girl) oder Befindlichkeiten (I can get no satisfaction) kund und zu wissen geben. Hier erklingt vielmehr transpersonale Energie selbst, hier erschallen Töne dies- und jenseits des Menschen. Also ertönt ein seltsam apersonaler Sound, ein Sound, der von weither erschallt und doch nur wenig, ja fast nichts gemein hat mit der natura-loquiturTopik oder mit einer ‚Die Welt ist Klang‘-Esoterik, ein halluzinogener, obsessiv rhythmischer bis trancehaft repetitiver, maschinell beseelter Sound, der eine seltsame Wahlverwandtschaft mit dem Echo des Urknalls aufweist. Die kosmische Urexplosion war, wenn man ihrem ‚Kraftwerk‘-Echo nachhört, eben nicht der Schöpfungsakt eines personal konzipierten und konzipierenden Gottes, sondern ein quasi1 Nach Auskunft von Pascal Bussy: Neonlicht – Die Kraftwerk Story (= Titel auf dem Buchdeckel) bzw. Kraftwerk – Mensch, Maschine und Musik (= Titel auf dem Titelblatt). Berlin 2005 wurden Hütter und Schneider bei einer „Reise nach Ostdeutschland“ durch Namen für Fußballvereine wie Dynamo Dresden zur Namensgebung ‚Kraftwerk‘ angeregt. Vgl. auch ders.: Kraftwerk – Synthesizer, Sounds und Samples – die ungewöhnliche Karriere einer deutschen Band. München/Mainz 1995. Nach der Düsseldorfer Tagung erschien David Buckley: Kraftwerk – Die unautorisierte Biographie. Berlin 2013.
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maschinelles, dynamisch-explodierendes, aber sogleich bemerkenswerte Ordnungsmuster ausbildendes Ereignis. Die Töne, der Schall, der Sound, den ‚Kraftwerk‘ erzeugt, bezieht seine eigentümliche Sogkraft aus der in ihm mitschwingenden These, dass das Computer-Zeitalter eine Rückkoppelungsschleife zum dynamischen Kosmos-Ursprung schaltet, der seinerseits alles Sein an Sound koppelt.2 Big Bang: Am Anfang war der Sound, am Anfang war die Energie, am Anfang war die Technik. Das zweite Album von Kraftwerk erscheint nur ein Jahr später; es heißt ebenso wie das erste, allerdings ergänzt um die Ordnungszahl 2: Kraftwerk 2. Auch hier also ein Titel von schwer zu überbietender numerischer Sachlichkeit. Die dritte LP , die zwei Jahre später, also 1973 erschien, trägt nun aber nicht etwa erwartungsgemäß den Titel Kraftwerk 3, dieser besteht vielmehr aus zwei Vornamen: Ralf und Florian. In der kunstsinnigen Stadt Düsseldorf gab es dafür eine damals noch frische Vorläuferschaft3: auch die sich golem- bis roboterhaft gerierenden Performance-Künstler Gilbert&George, die 1971 in der Kunsthalle Düsseldorf auftraten und 1972 auf der documenta 5 präsent waren, haben ihre Vornamen zu einem ästhetischen Markenzeichen gemacht. Ralf und Florian: So lauten bekanntlich die Vornamen der beiden Gründer der Band – Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben (der den zweiten Teil seines Doppelnamens allerdings bald kappte). In den vom LP -Titel ausgesparten Nachnamen schwingen eigentümliche Bedeutungen mit. Der Name Hütter verweist auf Hüttenwerke; in ihnen wird unter großem Energieeinsatz Rohstoff zu Metall veredelt, eben verhüttet. Esleben ist gleichermaßen ein Name, der zu denken gibt. Kombiniert er doch das neutrale dritte Personalpronomen ‚es‘, das die Psychoanalyse Freuds als kognitiv schwer zu steuernden Energieund Triebgegenpol zu Ich und Überich verstand, mit dem Wort ‚Leben‘. Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben tragen signifikante Namen (wer es psychologisierend und biographisch mag: Florian Schneider ist väterlicherseits technikaffin geprägt, ist er doch der Sohn des in Bauhaus-Tradition arbeitenden bekannten Architekten Paul Maximilian Heinrich Schneider von Esleben (1915 – 2005), der sich Paul SchneiderEsleben nannte und der u. a. die berühmte Haniel-Garage in Düssel2 Cf. Jochen Hörisch: Bedeutsamkeit – Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. München 2009. 3 Pascal Bussy: l. c., p. 47 weist darauf hin.
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dorf, eines der ersten Parkhäuser, baute). Die Eigennamen Hütter und Schneider-Esleben verweisen auf Schnittstellen von Maschinen und Menschen und lassen dabei einen hybrid-übermenschlichen Sound anklingen, der aus der Ferne an Nietzsches Selbststilisierung jenseits aller zu sehr auf die Kategorie eines humanen Selbst fokussierten Ichverständnisse gemahnt. Er sei kein Mensch, sondern Dynamit, hatte Nietzsche verlauten lassen. Damit verstand und stilisierte er sich als ein anticartesianisches Medium, von dem nicht gilt „ich denke, also bin ich“, sondern „ich bin Medium, Schauplatz, Sub-jekt im Sinne von Unterlegener/Untertan einer Seins- und Technikgeschichte“. In Nietzsches Schrift Ecce homo aus dem Jahr 1888 heißt es: „Warum ich ein Schicksal bin / Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. – Und mit alledem ist nichts in mir von einem Religionsstifter – Religionen sind Pöbel-Affären, ich habe nötig, mir die Hände nach der Berührung mit religiösen Menschen zu waschen… Ich will keine ‚Gläubigen‘, ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen… Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tags heilig spricht: man wird erraten, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, daß man Unfug mit mir treibt… Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst… Vielleicht bin ich ein Hanswurst… Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem – denn es gab nichts Verlogneres bisher als Heilige – redet aus mir die Wahrheit. – Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit.“4 Auffallend an Nietzsches vielzitierten Worten ist, dass sie, wie der Sound von ‚Kraftwerk‘, eigentümlich zwischen Individualisierung und Entindividualisierung changieren. Ecce homo heißt der auf keinen Geringeren als Jesus Christus anspielende Titel der autobiographischen Abhandlung, in der Nietzsche sein unverwechselbares Werk Revue passieren lässt und sich selbst als sein bester Interpret ins Spiel bringt. Auf mangelndes Selbstbewusstsein lässt der Text nicht schließen, von 4 Nietzsche: Ecce homo; in: ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 2, ed. Karl Schlechta. München 1966, p. 1152.
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der ersten Person Singular macht er exzessiv Gebrauch. Beides, nämlich Selbstbewusstsein und Lust am Ich-Sagen, bekunden schon die berühmt-berüchtigten Kapitelüberschriften, die u. a. so lauten: „Warum ich so weise bin“, „warum ich so klug bin“, „warum ich so gute Bücher schreibe“. Mit diesem in jedem Sinne extremen und exzentrischen Ich-Zentralismus geht eine nicht minder extreme und exzentrische Ich-Entgrenzung einher: ich bin kein Religionsstifter, kein Sinngeber, ich glaube nicht einmal an mich selbst, denn ich bin kein Mensch, sondern Medium, reine Energie, Dynamit. Eine Formulierung, die Nietzsche übrigens aus einer von V. J. Widmann verfassten Rezension seiner Abhandlung Jenseits von Gut und Böse in der Berner Zeitung Der Bund vom 16./17. September 1886 übernommen hat. Sie trägt den Titel Nietzsches gefährlichstes Buch, und in ihr heißt es, wie Nietzsche nicht ohne Stolz in seinem Brief an Malwida von Meysenbug aus SilsMaria vom 24. September 1886 zitiert: „Jene Dynamitvorräte, die beim Bau der Gotthardtbahn verwendet wurden, führten die schwarze, auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge. – Ganz nur in diesem Sinne sprechen wir von dem neuen Buche des Philosophen Nietzsche als von einem gefährlichen Buche. Wir legen in diese Bezeichnung keine Spur von Tadel gegen den Autor und sein Werk, so wenig als jene schwarze Flagge jenen Sprengstoff tadeln sollte. Noch weniger könnte es uns einfallen, den einsamen Denker durch den Hinweis auf die Gefährlichkeit seines Buchs den Kanzelraben und den Altarkrähen auszuliefern. Der geistige Sprengstoff, wie der materielle, kann einem sehr nützlichen Werke dienen; es ist nicht notwendig, daß er zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht werde. Nur tut man gut, wo solcher Stoff lagert, es deutlich zu sagen ‚Hier liegt Dynamit!‘“5 ‚Kraftwerk‘ ist eine nietzscheanische Band. Nietzsche war der erste Philosoph, der seine Manuskripte auf einer Schreibmaschine tippte und Medientechnik dachte – „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unsren Gedanken“, lautet die durch Friedrich Kittler berühmt gewordene Formulierung, die Nietzsche nun eben nicht niederschrieb, sondern auf seinen Typewriter tippte.6 Auch ‚Kraftwerk‘ war medienlogistisch 5 Nietzsche: l. c., Bd. 3, p. 1244. 6 Nietzsche in seinem auf Schreibmaschine bzw. auf einer Frühform der Schreibmaschine, nämlich auf der sog. „Schreibkugel“, die der dänische Pastor und Taubstummenlehrer Hans Rasmus Johan Malling Hansen 1867 entwickelt hatte, geschriebenen Brief von Ende Februar 1882 an seinen Freund Peter Gast. Cf. dazu Friedrich A. Kittler: Film, Grammophon, Typewriter. Berlin 1986, p. 293 sqq.
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gebändigter Dynamit; die Band sprengte mit ihrer Maschinenästhetik alle damals ertönenden sei es neoromantische Flower-Power-, sei es harte Rock-, sei es politikkritische Klänge. Als die synthetischen und computergenerierten ‚Kraftwerk‘-Klänge erstmals erschallten und noch heute, bald vierzig Jahre später, irritierten und irritieren sie viele Ohren nicht nur durch ihren spezifischen Sound, sondern auch durch ihren seltsam neutralen Gestus. Denn da standen nicht revoltierende Outsider auf der Bühne, die gegen den Vietnamkrieg, den Kapitalismus und die repressive bürgerliche Moral ansangen; da dekonstruierte kein Jimi Hendrix die US -Hymne, da fragte kein Beatle „Why don’t we do it in the road?“, da befand kein sich mit der DDR Diktatur solidarisierender Franz Degenhardt „Zwischentöne sind nur Krampf / Im Klassenkampf“. Da manifestierte sich im medialen Sound von ‚Kraftwerk‘ vielmehr dies- und jenseits jeder kritischen das, was der Fall war: dass Leute gerne auf der Autobahn fuhren, Mediengeräte und zunehmend eben auch Computer anschalteten, die begannen, den Alltag mitsamt seiner Lebenswelt zu strukturieren. Wer aber nur die maschinellen, roboterhaften und programmfokussierten Dimensionen des ‚Kraftwerk‘-Sounds hört und wahrnimmt, überhört die durchaus subjektiven Vibrationen, die den Robotersound umtanzen. Dass Subjekte mitsamt ihren Emotionen nicht im Zentrum der ‚Kraftwerk‘-Songs stehen, versteht sich sofort und von selbst. Dennoch sind Subjekte nicht schlichtweg aus dieser Ton-Wort-KlingKlang-Welt verschwunden. So wie Nietzsche gerade in den Texten, die den humanistisch konzipierten Menschen am entschiedensten negieren, am intensivsten von Ich und sich spricht, und so wie nach zwei sachlichen ‚Kraftwerk‘-Titeln auf einmal zwei Eigennamen als Titel eines ‚Kraftwerk‘-Albums dienen, so hat auch schon in einem der berühmtesten Songs von ‚Kraftwerk‘ der überschaubare und unüberhörbare Text ein entspanntes Verhältnis zum ersten Personalpronomen – und zum dritten sowieso. Heimcomputer It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute
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It’s more fun to compute It’s more fun to compute Am Heimcomputer sitz ich hier programmier mir die Zukunft hier Am Heimcomputer sitz ich hier programmier mir die Zukunft hier It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute Am Heimcomputer sitz ich hier programmier mir die Zukunft hier Am Heimcomputer sitz ich hier programmier mir die Zukunft hier It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute It’s more fun to compute Man kann diesen hier nach dem Songbook von ‚Kraftwerk‘ zitierten Text mit Fug und Recht Klartext nennen. Es mag auf den ersten Blick schräg erscheinen, einen nicht eben überkomplexen Songtext mit literaturwissenschaftlichem Sezierbesteck zu analysieren – aber es lohnt. Der Text besteht aus fünf Strophen. Drei davon, die erste, dritte und fünfte, sind in englischer Sprache verfasst, sie rahmen die beiden deutschsprachigen Strophen zwei und vier ein. Die englischsprachigen Strophen bestehen aus je sieben sich variationslos wiederholenden Zeilen: „It’s more fun to compute.“ Diese Wendung – sie erklingt erstmals 1981, also vor mehr als 30 Jahren, noch bevor die heutigen Digital
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Natives geboren wurden – ist ebenso eingängig wie rätselhaft. Denn die Wendung unterschlägt den Vergleich, auf den hin sie angelegt ist. Es bereitet mehr Spaß, einen Computer zu programmieren und mit einem Computer dies oder jenes anzustellen als – ja, als was? Lieder zu singen, Goethe zu lesen, Sex zu haben, Drogen zu nehmen? Wie immer die elliptisch ausgesparte Antwort lauten mag, die Wendung hat es in sich. Unterschlägt sie doch nicht nur die Vergleichsebene, sondern auch die Größe, die da Spaß, Freude, Fun erfährt. Die Formulierung könnte ja nicht sachlicher sein: „it’s more fun“, es ist, es macht mehr Spaß – wem? Die interpretatorisch und analytisch mögliche und ja nicht uninteressante Antwort wäre: dem „es“, dem Funktionieren selbst, dem Prozessieren von Computern, die sich an sich selbst erfreuen. Die beiden deutschsprachigen Strophen aber geben eine andere Antwort. Sie sind ostentativ auf ein Subjekt fokussiert, das locker in der ersten Person Singular erscheint. In diesen Versen kommt statt der dritten die erste Person Singular gleich zweifach vor, im Nominativ und im Dativ, als „ich“ und „mir“: „Am Heimcomputer sitz ich hier / programmier mir die Zukunft hier.“ Es gibt etwa aus Goethes, Rilkes oder Robert Gernhardts Feder Verse, die schöneren und komplexeren Kling-Klang freisetzen. Aber auch diese dichten Zeilen haben es in sich. Denn sie leisten sich den klugen Scherz, dass die Silbe „mir“ rein phonetisch zweifach und zwar gleich aneinander gekoppelt auftaucht: „programmier mir“. Ohnmächtig und exzentrisch scheint dieses munter „ich“ und „mir“ sagende Subjekt nicht zu sein. Programmiert es sich „hier“ und jetzt, nämlich in seinem Heim, an seinem Personal Computer doch nichts Geringeres als „die Zukunft“. Und selbstredend muss es dabei die faustische Erfahrung machen, dass es seinerseits von der Macht programmiert wird, die es, das Subjekt bzw. die erste Person Singular, programmieren will. „Am Ende hängen wir doch ab / Von Kreaturen, die wir machten“, heißt es in der Homunculus-Szene aus Goethes Faust II .7 Der ‚Kraftwerk‘-Song ist durchweg binär strukturiert. Er springt zwischen zwei Sprachen, dem Englischen und dem Deutschen, hin und her; er kontrastiert das „it“ mit dem „ich“, die Gegenwart (die Zeilen stehen durchweg im Präsens) mit der Zukunft, die erste Person Singular (ich) mit der dritten Person Singular (mir) und den Computer mit dem Computer-Nutzer. Und er hebt genau diesen Kontrast wieder 7 Goethe: Faust II , l. c., p. 284 (v. 7003 sq.)
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auf; die stark betonten binären Kontraste zeigen sich als zweieinig wie die Seiten eines Möbiusbandes. Das programmierende Ich ist, wie die Silbenfolge „programmier mir“ anzeigt, geradezu symbiotisch mit dem Computerprogramm verschmolzen, so wie das „es“ („it“) und das „ich“ keinerlei Kämpfe austragen, sondern am selben Programm und an der Selbstprogrammierung arbeiten und diese Arbeit nicht einmal als Kontrast zu Fun begreifen und erfahren. Eine Mensch-MaschinenSymbiose erweist sich als Telos der überstark akzentuierten Binarität. Der Ruhm von ‚Kraftwerk‘ gründet in einer schlagenden Trendsetter-Leistung. Um es mit den lakonischen Worten von Sean Albiez und Davie Pattie zu sagen, die 2011 einen bemerkenswerten Forschungsband über ‚Kraftwerk‘ herausgaben: „The immediate musical and cultural context within which the band found themselves was one that placed its greatest emphasis on newness of all kinds: a new approach to composition, to technology and to music’s place in German culture.“8 Lange bevor Computer wirklich Heimcomputer für jeden wurden, lange bevor das Kürzel PC entweder politisch korrekt oder Personal Computer, aber nicht mehr Parti Communiste evozierte, lange bevor es Digital Natives gab, lange vor Filmen wie Existence und Matrix hat ‚Kraftwerk‘ Mensch-Maschine-Symbiosen gestaltet und geschaltet. Und dies ausgerechnet in dem Medium, das als besonders Subjekt-affin gilt, im Medium der Musik. An der programmatischen Klarheit ihrer Zeitdiagnose hat die Band ‚Kraftwerk‘ keine Zweifel aufkommen lassen. Die viel bemerkte Emotionslosigkeit der Kraftwerk-Töne, die allen Topoi der Musiktheorie und -praxis eklatant widerspricht, die Weigerung der Band-Mitglieder, Homestories zu liefern oder auch nur Interviews zu geben, die roboterhafte Selbststilisierung im Outfit bei Konzertauftritten, die zu großen Teilen computergenerierten Kompositionen, der spezifische Sound des Elektropops – all dies und vieles mehr sorgten für ein scharf konturiertes Image der Kultband. Sie war und ist hochindividuell um ihrer Entindividualisierungsimpulse willen. Was vielen frühen ‚Kraftwerk‘-Hörern, darunter durchaus auch Fans, in den 70-er und 80-er Jahren noch als Übertreibung erschien – etwa der Song Wir sind die Roboter –, hat sich auf alltagssuggestive Weise als schlicht wahr erwiesen: Roboter produzieren Roboter, die Automatisierung automatisiert sich selbst, 8 Sean Albiez/David Pattie: Introduction The (Ger)man Machines; in: dies. (edd): Kraftwerk – Music Non-Stop. New York/London 2011, p. 7.
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Programme programmieren Programme. Und wir sind diejenigen, die diesen Programmen in jedem Wortsinne entsprechen müssen. Der Song Die Roboter ist deshalb als Komplementärtext zum Song Heimcomputer zu verstehen. Er beginnt nicht mit englischen, sondern mit russischen Worten; er startet nicht mit der dritten Person Neutrum („it“), sondern mit der russischen ersten Person Singular („ja“/ ich); und er wechselt entschieden die Perspektive. Aus dem, der sich die Zukunft programmiert, wird der Sklave („sluga“) bzw. Arbeiter („rabotnik“), der, wie es so schön eindeutig heißt, „unter“ diesem oder jenem Programm (damals zumeist noch unter MS -DOS , heute zumeist unter Windows etc.) arbeitet, der also seinerseits programmiert wird. In der Mitte des Songs heißt es denn auch klartextmäßig: „Wir sind auf alles programmiert und was du willst wird ausgeführt.“ Die Roboter Ja tvoi sluga (ich bin dein Sklave) ja tvoi rabotnik (Ich bin dein Arbeiter) Wir laden unsre Batterie jetzt sind wir voller Energie wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter Wir funktioniern automatik jetzt wolln wir tanzen mechanik wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter ja tvoi sluga ja tvoi rabotnik ja tvoi sluga ja tvoi rabotnik Wir sind auf alles programmiert und was du willst wird ausgeführt wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter Wir funktioniern automatik jetzt wolln wir tanzen mechanik wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter
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Wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter Wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter wir sind die Roboter Nicht nur programmierende und programmierte Menschen, sondern auch Roboter bewegen sich. Mobilität ist neben dem Themenfeld Mensch-Maschine das zweite große Thema der Band, deren Elemente sich bei Konzerten so routiniert bewegen wie Maschinen und die eben deshalb ihren Begriff, Personen zu sein, durch die hindurch etwas erklingt (per-sonare), erfüllen.9 Deutlich wird in den Auftritten von ‚Kraftwerk‘, dass diese Band, die wirklich musikdiskursbegründend war, als sie den Elektropop in Szene setzte, ihrerseits in eine bewegte und mittlerweile museumstaugliche Traditionslinie gehört10: die des homme-machine. Eine Tradition, die spätestens mit der Dädalos-Mythe einsetzt, im Pygmalion-Mythos sogleich eine romantisch-sentimentale Nebenströmung erfindet, in La Mettries homme-machine-Konzept neuzeitliche Höhenkonjunktur gewinnt, in Kempelens Schachautomaten und sprechenden Maschinen Gestalt wird, in Jean Pauls und E. T. A. Hoffmanns Automatenmenschen ins Unheimliche kippt, im Futurismus und in Filmen wie Metropolis und Modern Times ein geradezu symbiotisches Verhältnis mit dem damals neuen Medium Film eingeht und sich eben auch scheinbar maschinen-aversen Künsten wie dem Ballett (man denke nur an George Antheils Ballet mécanique, das um 1925 für eine ganze Reihe von Skandalen sorgte) und der Musik aufdrängt. Eine Traditionslinie, die durchaus im Maschinen-Kling-Klang von Kraftwerk mitschwingt.11 Dass die jüngeren und jüngsten Auftritte von ‚Kraftwerk‘ mit eigentümlicher Verlässlichkeit innerhalb von 9 David Pattie spricht von „music as flow, as an exercise in endless momentum – the ‚Musique Non-Stop‘ towards which much of the band’s output tends.“ (David Pattie: Kraftwerk: Playing the Machines; in: l. c., p. 131) 10 Cf. Dazu Jochen Hörisch: Jean Pauls Sprach-, Wunsch- und Junggesellenmaschinen; in: ders.: Die andere Goethezeit. München 1992, pp. 29 – 46. 11 Zur Präsenz von „German folk or ‚Teutonic/Romantic‘ classical music“ cf. den Essay
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Museumswänden statthaben12 (2005 bei der Biennale in Venedig, 2011 im Münchner Lenbachhaus, im selben Jahr gab es eine Retrospektive im MoMa New York und im Januar 2013 im Kunstmuseum Düsseldorf), markiert eine Konstellation, in der die Zeit reizvoll aus den Fugen ist: ‚Kraftwerk‘ lebt im museumsträchtigen Zeitmodus des Futur II – unsere Prognosen, unser Habitus, unsere Mensch-Maschinen-Hypothese werden sich bewährt haben. Die Avantgarde ist keine Avantgarde mehr, wenn sie hier und jetzt massenhaft realisiert hat – wenn jeder Smartphone-user die eigene Frage als Gestalt erfährt: ob er user, looser oder hybride Menschmaschine-Symbiose ist. Auffallend ist an all diesen hier nur stichwortartig evozierten Konstellationen von Kunst und Maschine zwischen Dädalos und Hütter, dass sie seit ihren Anfängen vom großen Thema Bewegung fasziniert und motiviert sind. Wer und was immer sich bewegt, setzt Änderungen in der Raum-Zeit-Konstellation voraus und zugleich frei. Man ist nicht mehr die-, der- oder dasselbe, wenn man sich bewegt, also verändert. Der bekannteste Song von ‚Kraftwerk‘ dürfte bis heute Autobahn (1974) sein. Und das aus gutem Grund. Denn dieser über 20 Minuten andauernde und die ganze erste Seite der 1974 erschienenen LP füllende Song hat es in sich. Ob der Mythos stimmt, dass die ‚Kraftwerk‘-Musiker bei einer Fahrt im VW -Käfer von Ralf Hütter einen Kassettenrekorder dabei hatten, den sie aus dem Autofenster hielten, um die Umweltgeräusche aufzunehmen?13 Technisch eher unwahrscheinlich, dass sich mit einem so gewonnenen Material im Studio etwas anfangen ließ. Das Resultat ist jedenfalls überzeugend; nicht umsonst kam die LP in den US -Charts auf Platz 5, in England auf Platz 4, in Deutschland nur auf Platz 7. Der Ohrwurm ist zu bekannt, um hier detailliert evoziert zu werden; es genügt, daran zu erinnern, welche Töne hier erklingen – gleich am Anfang das damals allen vertraute Geräusch eines luftgekühlten, laut startenden VW -Käfer-Boxer-Motors, sodann die irrlichternden Hupgeräusche überholender Autos (der VW -Käfer war nicht einer der schnellsten PKW s) und die elektronisch erzeugten Klangteppiche, die die durchquerten Landschaften charakterisieren. von Sean Albiez and Kyrre Tromm Lindvig: Autobahn and Heimatklänge: Soundtracking the FRG ; in: l. c., p. 33. 12 Siehe dazu den Artikel Kunst, die nie welche sein wollte in: Art – Das Kunstmagazin Januar 2013, p. 126 f. 13 Cf. Albert Koch: Kraftwerk. Höfen 2005 (2.), p. 73 sq.
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Angesichts dieser jedem Autobahnnutzer der 70-er Jahre vertrauten Geräuschkulisse ist es frappierend, dass ‚Kraftwerk‘ gerade hier zu einer lyrisch-romantischen Textur findet, die ein weites Tal, grünen Rasen, die glitzernde Sonne und weiße Streifen ineinander blendet.14 Und mit einer prototypisch romantischen Rückkoppelungsschleife endet (und immer hör ich’s rauschen…): man schaltet das Autoradio an und hört nun eben aus technischer Quelle, was man zuvor aus einer Quelle hörte, die man sicherlich auch technisch, aber eben primärtechnisch nennen muss: wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn. Wobei das deutsche Wort „fahr’n“ trotz seiner elliptischen Verkürzung wie die gedehnte Version des englischen Wortes „fun“ klingt. It’s more fun to fahr’n… Autobahn Songtext Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn (6x) Vor uns liegt ein weites Tal Die Sonne scheint mit Glitzerstrahl Die Fahrbahn ist ein graues Band Weiße Streifen, grüner Rand Jetzt schalten wir das Radio an Aus dem Lautsprecher klingt es dann: Wir fahr’n auf der Autobahn… We are driving on the Autobahn In front of us is a wide valley The sun is shining with glittering rays The driving strip is a grey track White stripes, green edge We are switching the radio on From the speaker it sounds: We are driving on the Autobahn Der alte homo viator, aber eben auch der deutschromantische Vagant, der ausschwärmende, ausschweifende Taugenichts, dessen Lust das 14 Die Wiedergabe des Notenbildes von Autobahn stößt hier naturgemäß an Grenzen, vgl. Kraftwerk: Autobahn – Radio-Aktivität – Trans Europa Express. O. O. (Printed in the EU , The Music Sales Group) 2008.
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Wandern ist, findet in diesem Lied seine spezifische, bundesrepublikanische Ausprägung. Zu den bei Diskussionen um und über ‚Kraftwerk‘ geradezu obligatorischen Streitpunkten gehört die Frage, wie „deutsch“, gar deutschnational die Gruppe mit dem so deutschen wie neutral-technischen Namen ‚Kraftwerk‘ sei. Der neutrale bis funktional-affirmative, im Nietzsche-Sinn „mediale“ Gestus von ‚Kraftwerk‘ – schaut, hört, registriert, was sich hier und jetzt und tiefenstrukturell vollzieht – ermöglicht selbstredend kritische Projektionen zuhauf. Doch gerade der funktional-sachliche Gestus setzt Beobachtungsmöglichkeiten frei, die durch schnelle Kritik- und Empörungslust eher verstellt werden. Mit ‚Kraftwerk‘ wird ein „affirmativer“ Blick auf die Geschichte der halbwegs erwachsenen Bundesrepublik möglich, der gerade im Maße der Affirmation zum „bösen“ Blick wird. Sind im Westen Deutschlands nach 1945 nicht die von weiten Teilen der Bevölkerung affirmierten Programme der Nazis (gewissermaßen die Programme unterhalb der monströsen Progromschwelle und des industrialisierten Massenmords) realisiert worden – ein Volkswagen für alle Volksgenossen, Autobahnen, eine formierte Gesellschaft, ein fast totaler Konsens, Ausländer, Kommunisten und Juden raus aus Deutschland, Deutsche dafür in aller Welt, wenn auch nicht mehr als Soldaten, sondern als Touristen. Und waren nicht die Nazis mit ihrer Faszination für Technik und Techniker (man denke an Ikonen wie den Raketenpionier Wernher von Braun, den Computerpionier Konrad Zuse, den Autopionier Ferdinand Porsche, die Ufa-Filme, den Volksempfänger und die Lufthansa) diejenigen, die eine technisch eingepegelte Gesellschaft und Kultur propagiert haben? Die Nazis sprachen von sich selbst häufig als „die Bewegung“. ‚Kraftwerk‘ nimmt bei aller Faszination für statische und kalkulierbare Momente den Begriff ‚Bewegung‘ ernst. Der Mensch in seinem Lebenslauf und der romantische Wanderer bewegen sich nicht nur, sie selbst werden bewegt, sie werden technikgeschichtlich andere. Dass der romantische Wanderer zum PKW -Fahrer auf der Autobahn geworden ist, und sich dabei radikal verändert, transsubstantiiert, konvertiert hat, ist unüberhörbar. Der ‚Kraftwerk‘-Taugenichts ist ein anderer Taugenichts als der Eichendorffs und doch mit diesem verwandt. Der rundum erneuerte Taugenichts „got some kicks on the highway 66“ – er ist eine ebenso seltsame wie reizvolle deutsch-amerikanische easy-rider-Symbiose. Buchenswert ist es nun, dass auf der zweiten Seite der Autobahn-LP eine Kometenmelodie erklingt, die den
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transromantischen Natur-Technik-Möbiusband-Sound von Autobahn aufnimmt und ins Kosmische transponiert. Ohm sweet ohm (ein erhabener Kalauer), Schaufensterpuppen und Metall auf Metall schließen sich nicht aus, sie bilden bei ‚Kraftwerk‘ eine signifikante Konstellation, die die Einsicht erklingen lässt, dass der philosophiegeschichtlich so gut etablierte Unterschied von erster und zweiter Natur medientechnisch geschwunden ist. Die Welt ist Klang – die Technik auch. Und Menschen, zumal solche, die deutsch-romantisch sozialisiert sind, Menschen, die heute natürlich gar nicht anders können, als Symbiosen mit Medien und Maschinen einzugehen, machen die eigentümliche Erfahrung, dass Technik eine authentische Dimension von Natur ist. 1976 stiegen die ‚Kraftwerk‘-Musiker dann vom Auto in den Trans Europa Express um. Und dann aufs Fahrrad – 2003 erschien das Album Tour de France. Ralf Hütter ist offenbar ein „Velomane“ wie sonst nur noch Peter Sloterdijk.15 Man muss aber nicht biographiefixiert sein (und man sollte das aus stilistischen wie methodischen Gründen gerade bei Künstlern nicht sein, die deutliche Distanz zu aller biographischen Indiskretionslust aufbauen), um im medientechnisch doch so avancierten Werk von ‚Kraftwerk‘ eine thematisch eigentümliche Rückwärtsentwicklung in der Technikgeschichte von Mobilität zu konstatieren. Das Auto (Autobahn) wurde nach der Eisenbahn (Trans Europa Express) und diese nach dem Fahrrad (Tour de France) erfunden. ‚Kraftwerk‘ entfaltet seine technik- und mobilitätsgeschichtlichen Obsessionen wie der homo faber von Max Frisch – nämlich entgegen der Chronologie, gewissermaßen im Rückwärtsgang. Auch der Protagonist von Max Frischs 1957 erschienenem Roman folgt auf seinem spät verdichteten Curriculum vitae dem Impuls „ad fontes“: er, der Techniker und Maschinenmensch, kehrt aus der neuen in die alte Welt zurück, und auf dem Weg von New York nach Athen werden die in Anspruch genommenen Mobilitätstechniken immer unzeitgemäßer und langsamer. Aus dem Flugreisenden wird der Autofahrer, der Eisenbahnreisende, der Schiffspassagier, der Reiter auf einem Esel und schlussendlich der Fußgänger. Die Faszination, die viele beim Hören des unerhörten ‚Kraftwerk‘Sounds erfuhren und erfahren, dürfte mit den Spannungsverhältnissen zusammenhängen, die in diesem Sound ihren Ausdruck finden. Dieser 15 Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage – Notizen 2008 – 2011. Ffm 2012, p. 68.
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Sound ist forciert technologisch, Elektropop eben – zugleich aber schwingen in ihm deutsch-romantische Untertöne unüberhörbar mit; dieser Sound ist unerhört maschinell und transsubjektiv – zugleich und eben deshalb aber nennt er die Dinge und Menschen beim Vornamen; dieser Sound ist instrumentell in jedem Wortsinne, er revoziert die musikhistorische Entwicklung, die in Beethovens neunter Symphonie, im Kunstlied, in Wagners Musikdramen und in den Songs der Rockmusik den Sieg des Vokalen und damit der menschlichen Stimme über die Instrumente erhörte, indem er das Vokale zum Begleitmedium des instrumentellen Kling-Klangs machte – und er lässt doch Worte erklingen, die das Sagen haben; dieser Sound lässt sich offensiv auf die technologischen Möglichkeiten der späten Moderne ein – und geht doch back to the roots. Ursprung ist das Ziel. Wir müssen uns ‚Kraftwerk‘ als nietzscheanische, als seinsgeschichtliche Band vorstellen, nämlich als eine metaphysische Performance nach dem Ende der Metaphysik, als eine Performance, die den Sound des mobilen Seins einfängt.
21. Massenhafte Individuen – Das Öffentliche und das Private oder: Medienanalyse(n) in Daniel Kehlmanns Roman Ruhm
Das Fach Medien- und Kommunikationswissenschaft zählt nicht zu den altehrwürdigen unter den Fächern, die an Universitäten vertreten sind. Das ist seltsam, denn Wissenschaft ist auch in Zeiten vor Radio, Fernsehen und Internet auf Medien (wie Mitschriften, Skripte, Bücher) angewiesen gewesen. 1988, also ein Jahr vor dem Ende des Kalten Krieges, der ein vom „Westen“ gewonnener Medienkrieg mit bemerkenswert wenig Toten gewesen war, erschien ein Werk, das eine Zukunft für ein noch nicht recht existierendes Fach entwarf: Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft.16 Allzu lange musste, wer sich analytisch gründlich mit Medien beschäftigen wollte, dann nicht mehr warten. Aus dem Zu-Künftigen wurde in den neunziger Jahren zügig das Zünftige. Alle Universitäten, die auf sich hielten, richteten Studiengänge und Professuren ein, deren Schlüsselwort „etwas mit Medien“ signalisierte und auf breites Interesse einer Studentengeneration traf, die zu großen Teilen ihrerseits wild entschlossen war, „etwas mit Medien“ zu studieren – Medien und Kommunikation/Wirtschaft/ Kultur/Erziehung/Gesellschaft/Literatur etc. Es ist leicht, über diese verbreitete Formel zu spotten; es fällt mitunter schwer, Moden die Qualität abzusprechen, tatsächlich an der Zeit zu sein. Nach Gründen für die späte, dann aber heftige Konjunktur der Medienwissenschaft braucht man nicht lange zu suchen. Die Revolutionierung der Medientechnologie und der Medienverhältnisse wurde in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts unüberseh- und unüberhörbar. Man musste nicht Medienwissenschaften betreiben, 16 Rainer Bohn/Eggo Müller/Rainer Ruppert: Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft. Berlin 1988.
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um lebensweltlich zu erfahren, was sich da geändert hatte und wie tiefgreifend diese Änderungen den Alltag nicht nur in den Metropolen neu formierte. Erst einige wenige, dann bald mehrere, sehr schnell viele und ab der Jahrtausendwende fast alle hatten Handys und Personal Computers, die ihr privates wie ihr berufliches Leben mit verlockenden Angeboten konfrontierte. Mit Angeboten, die man kaum ablehnen konnte und die deshalb von verbindlichen Imperativen nicht recht zu unterscheiden waren. Wer um die letzte Jahrtausendwende keinen PC und keinen Internet-Zugang hatte, musste die Erfahrung machen, buchstäblich wie spirituell aus vielen relevanten Kommunikationsund alsbald auch (Stichwort Social Media/Web 2.0) KommunionsVerhältnissen exkommuniziert zu sein. Die Geschichte einer trostlosen Exkommunikation erzählt auch das Kapitel Osten in Daniel Kehlmanns 2009 erschienenem grandiosem Medien-Roman Ruhm. Die mäßig erfolgreiche Schriftstellerin Maria Rubinstein ist geschmeichelt, für ihren berühmten Kollegen Leo Richter bei einer staatlich organisierten Kulturreise durch eine ferne Provinz des ehemaligen Sowjetreiches einspringen zu dürfen. Die Reise erweist sich bald als real existierender Albtraum. Denn alle Geld-, Kommunikations- und Medienströme versanden zügig in einer von der Globalisierung vergessenen Weltecke. „Nirgendwo ein Geldautomat“ (95)17, nirgends ein Ladegerät für das Mobiltelefon, dessen Akku sich bedrohlich schnell leert, nirgends ein Mensch, der auch nur basic english spricht. Stattdessen Kollektivrituale, etwa Kinderchöre und Arbeiterdelegationen, die dem Landesvater huldigen. „Endgültig versagen“ (103), in jedem Wortsinne, auch das Fernsehgerät und das Telephon in der Lobby des verlassenen Hotels, in dem sie allein untergebracht wird, weil sich kein Platz in der überfüllten Herberge findet, die die restlichen Mitglieder der Gruppe aufnimmt. So elegant wie das Hotel im Film Lost in Translation ist Marias verlassene Absteige nicht; so gespenstisch unterhaltsam wie das Hotel in Shining ist ihre Unterkunft auch nicht; dieses Haus ist einfach nur trostlos. Maria Rubinstein geht und ist fortan buchstäblich verloren. Die Botschaft des eminent medienkritischen Romans ist von gleißender Eindeutigkeit: nur eines ist schlimmer als den liberaltotalitären Imperativen der Mediengesellschaft ausgeliefert zu sein – aus ihr exkommuniziert 17 Eingeklammerte Seitenangaben beziehen sich hier und im Folgenden auf Daniel Kehlmann: Ruhm – Ein Roman in neun Geschichten. Reinbek 2009.
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zu sein. Präsent ist die Verlorene nur noch durch ihre Bücher. Nicht ohne Neid muss Leo Richter, den sie vertrat, feststellen, dass, „seitdem Maria Rubinstein vor einem Jahr verschwunden ist, … ihre Bücher in Mode sind wie noch nie.“ (194) Dass Maria Rubinstein in der Steppenkleinstadt ein in kyrillischer Schrift übersetztes Exemplar ihres erfolgreichsten Romans findet (116), hilft ihr nicht weiter. Ein zu ihrem Handy passendes Ladegerät wäre hilfreicher als dieses Buch. Maria Rubinstein gelangt im postsowjetischen Osten in Sphären, die noch weitgehend frei von technischen Medien sind. Zu ihrem Lebensglück trägt diese Medienfreiheit nicht bei. Doch auch die alten Medien, wie das Gespräch von Mensch zu Mensch (etwa mit den Polizisten) oder das Buch, erweisen sich nicht als gute alte Medien. Die neuen Geräte und die neue Infrastruktur des Internets ändern die alten Kommunikationsverhältnisse gründlich, und sie sorgen für eine eigentümliche Paradoxie – nämlich für massenhafte Individualisierung, also genau für das, was Maria in der Ferne vermisst. Anders als zu den Hochzeiten von Radio und Fernsehen, die noch Millionen Menschen zur selben Zeit Aufmerksamkeit für einunddieselbe Sendung abverlangte, sieht, hört, schreibt, spricht, liest, spielt, photographiert und filmt heutzutage jeder, was er gerade will. Aber genau diese Individualisierung hat er mit allen anderen Mediennutzern gemeinsam. Der Personal Computer heißt zu Recht so; er macht, was ich persönlich will; Kultur- und Medienkritiker pflegen zu ergänzen: er macht mit mir, was er will, er will mein Bestes, er kennt mein Profil, er schlägt mir vor, was ich zu konsumieren und zu rezipieren habe. Auch der Begriff Handy suggeriert, dass ich es in der Hand habe, mit wem ich wann und wie worüber kommuniziere, welche frohen oder unfrohen Botschaften ich rezipiere, produziere, speichere, transportiere oder bearbeite. Solche Megatrends wie massenhafte Individualisierung und Liberalisierung sind ohne Paradoxien nicht zu haben. Alle werden unverwechselbar, alle sind kreativer als die anderen, alle werden Querdenker. Der Megatrend Privatisierung und Liberalisierung beschränkte sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten allerdings nicht auf die Mediensphäre. Durchschlagenden Erfolg hatten Privatisierungs- bzw. Entstaatlichungsprogramme auch in der ökonomischen Sphäre. Privatisiert wurden in den meisten westlichen Ländern u. a. die klassischen Transportmonopole von Bahn, Post und Fluglinien; (teil)privatisiert wurden die Altersvorsorge und Bildungseinrichtungen (es gibt immer mehr private Schulen und Universitäten), ehemals öffentliche Banken
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und Security-Dienste; privatisiert wurde der Dienstleistungssektor (von der Müllabfuhr bis zur Straßenreinigung); privatisiert wurde die Energieversorgung; und privatisiert wurden eben auch Sendeanstalten und Telekommunikationsanbieter. Seit drei Jahrzehnten gibt es, wie es so klartextmäßig heißt, private und öffentlich-rechtliche Sendeanstalten. Die verbreitete Kritik, der Staat und die öffentliche Hand würden gegenüber der privaten Sphäre immer übergriffiger und mächtiger, ist von schwer zu überbietender Unsinnigkeit – nicht nur, weil es in Deutschland und vielen weiteren westlichen Staaten keine Wehrpflicht, kein Homosexualitätsverbot und keinen Kuppeleiparagraphen mehr gibt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die außerordentlich medientaugliche und in der Tat grenzwertige Antirauchergesetzgebung oder EU -Normierungen von Gurkenformen selbst von ihren entschiedensten Kritikern dankbar zur Kenntnis genommen wurden, weil sich darin nochmals, wenn auch nur in Form einer Selbstkarikatur, das Feindbild vom starken Staat bewährte. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich am Zurechnungsschema für alles Verfehlte wenig geändert hat. Was auch immer schief läuft – nicht die individuierten Massen und die massenhaften Individuen, sondern der Staat, die Politik, die Politiker sind nach Einschätzung der alten wie der neuen Medien schuld. Der neue Berliner Flughafen wird und wird nicht fertig, also soll der regierende Bürgermeister zurücktreten und nicht die BWL -Professoren, die die Vorzüge der Einschaltung unübersehbar vieler Subunternehmen gelehrt haben. Das internationale Bankensystem gerät in eine bedrohliche Krise; die Verantwortung dafür trägt der Staat, nicht die betroffene Bank und ihre Anteilseigner. Die Alterspyramide westlicher Gesellschaften (inkl. der chinesischen und der japanischen, seitdem dort westliche Ökonomielogiken bestimmend sind) wird immer problematischer; Schuld daran trägt der Staat, wer sonst. Die Wetterextreme häufen sich, Schuld daran sind die Politiker und nicht die Energieverbraucher etc. Zu den Paradoxien der medial induzierten massenhaften Individualisierung gehört es, dass die Zurechnung aller Fehlentwicklungen auf die klassische Gegenseite der Individualität, die da Staat heißt, ihrerseits massenhaft stattfindet – bei rechts- wie linksorientierten, religiösen wie areligiösen, reichen wie armen, jungen wie alten Querdenker-Individuen, die alle mitsamt einen Konformismus des Andersseins kultivieren und sich als kritische Köpfe stilisieren. Ohne die
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Medien(r)evolution der letzten Jahrzehnte wäre diese Neujustierung im Verhältnis zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ nicht möglich gewesen. Noch die NSA -Abhöraffäre, die nun tatsächlich ein kategorial anderes Bedrohungsszenario darstellt als die EU -Normierung von Gurken und Tomaten, verdankt ihre Dimensionen ja der Infrastruktur und der Kooperationsbereitschaft von Mediendiensten, die in jedem Wortsinne privat sind. Firmen wie Facebook und Yahoo, Google und LinkedIn, Microsoft und Twitter, Telekom und Vodafone und zahllose weitere werbe- bzw. kunden- bzw. user- bzw. looser-orientierte Firmen sammeln Daten von Privaten und über Private(s), auf die die NSA dankbar zugreift. Es ist schlicht schwieriger, aufwendiger und somit auch teurer, das Lektüreverhalten eines klassischen Buchlesers als das eines Ebook-Lesers, Face-to-face-Gespräche als Handy-Telephonate, Stammtischgeplaudere als Facebook-Postings zu kontrollieren. Kehlmanns Roman Ruhm kontrastiert systematisch die alten Printmedien mit den neuen Medien. Zu den Pointen der wohlkomponierten Geschichte(n) dieses Buches gehört es, dass sie bei aller Lust an der Kritik neuer Medien nicht auf eine Apologie der Gutenberg-Galaxis hinauslaufen. Die Schriftsteller/innen, die diesen Roman bevölkern (der anspruchsvolle Erfolgsschriftsteller Leo Richter, der nach dem Bilde Paulo Coelho geformte megaprominente Verfasser gehobener Allerweltsweisheiten Miguel Auristo Blanco oder die schon erwähnte Zweite-Liga-Autorin Maria Rubinstein), sind nicht überzeugender als ihre neomedialen Antipoden aus der Welt des Films, des Fernsehens, der Smartphones, der PC s und des Internets. Blanco, der ein entspanntes Verhältnis nicht nur zu einem „persönlichen Fitneßtrainer“ (123), sondern auch zum von seinen Fingern verlässlich mit schwarzen Zeichen gefüllten „schimmernden Weiß des Bildschirms“ (122), zur Bildschirm-„Maus“ (129) und zum „Drucker“ (129) hat, wird durch die ja nicht sonderlich neue briefliche Gretchenfrage einer Äbtissin, wie er es mit der Theodizeefrage halte, aus der Bahn geworfen. Nicht nur die Welt des Buches, sondern auch das Buch der Welt, der Schöpfung und des Lebens erscheint ihm plötzlich als sinnentleert. Der sanftesoterische Sinn-Guru aber kann seine an Hofmannsthals ChandosKrise gemahnende Abgrunderfahrung nicht veröffentlichen – verlöre er dann doch sein Markenzeichen. „Er sah die Kirchentage vor sich, von deren Verkaufstischen man seine Bücher entfernen würde, er sah die Buchhandlungen mit Lücken in den Regalen, er sah die erschrockenen Priester und erbleichenden Hausfrauen, die fassungslosen
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Arztgattinnen und all die mittleren Angestellten auf fünf Kontinenten, denen nun keiner mehr erzählte, ihr Leiden habe Sinn.“ (131) Dem freundlich-monströsen Herrn der Bücher, der virtuos die neue Medien-Infrastruktur für die Promotion seiner Bücher nutzt, korrespondiert in gespenstischer Weise der Computer-Nerd Mollwitz. Ausgerechnet er ist von der Welt des Buches so fasziniert, dass er um jeden Preis versucht, selbst in einer Story Leo Richters vorzukommen. In seinem Medienneudeutsch klingt das so: „In einer Story vorkommen – irgendwie auch nichts andres als in einen Chatroom gehen. Transformation eben! Sich selbst übertragen in was andres. In einer Geschichte wäre ich ein andrer, aber auch ich selbst. In der gleichen Welt wie Lara [Gaspard, einer Romanfigur Leo Richters, J. H.]. / Kapiert ihr? Ich verehre diesen Mann wie Irrsinn, und ich wollte in eine Geschichte rein.“ (146 sq.) Es gehört zu den gezielten Provokationen Kehlmanns, dass er die zumindest latente Offenbarung seines Leitmotivs einer von den neuen Medien besessenen Figur und nicht einem Buchmenschen anvertraut. So gut wie alle Figuren dieses Romans aus neun Geschichten transformieren sich. Sie werden mit einem gespensterhaften Mediendouble versehen (z. B. weil eine Handynummer zweifach vergeben wird), das sie doppelgängerhaft begleitet. Und für alle Figuren gilt, dass sie nicht Autoren ihrer eigenen Lebensgeschichte sind, weil sie in Medien-Geschichten verstrickt sind, die sie erzählen, in denen sie sich aber zugleich auch als erzählte Figuren erleben müssen. Allerdings konturiert sich dann doch eine entscheidende Diskrepanz zwischen dem alten Buchmedium und den neuen Medien. Die narrative Figur Rosalie kann gegen ihren Autor revoltieren, der sie zu einer tödlichen Krankheit verurteilt hat; andere Figuren erliegen hingegen dem Problem, dass sie ihre Kritik nicht adressieren können. Welchen Namen, welche Adresse hat das Internet, die Smartphone-Infrastruktur, die Mediengesellschaft? Sie sind so prägend wie eigentümlich anonym. Festzustellen, dass es in den letzten Jahrzehnten eine Medienrevolution gegeben hat, ist eine Trivialität. Die Feststellung, dass ältere Medien wie Theater und Film, Tageszeitung und Buch, Radio und Fernsehen nicht zu existieren aufhören, weil es PC s und Smartphones, das Internet und Tablets gibt, ist schon weniger trivial. Die daran anschließende These, dass die älteren Medien Schwierigkeiten haben, ihren spezifischen Funktionsplatz im neuen Mediensystem zu finden, ist gründlicher Analyse wert. Schlicht zur Kenntnis zu nehmen ist
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hingegen der Umstand, dass sich bestimmte Diskurse und Meinungsoptionen (etwa über Vorzüge und Nachteile von Individualisierung und Liberalisierung oder über die angemessene Zurechnung von Verantwortung für Fehlentwicklungen) nicht bestimmten Medien zuordnen lassen – etwa nach dem Schema, dass öffentlich-rechtliche Sender weniger staatskritisch sind als die privaten oder dass die alten Printmedien per se hochkulturell, die Internetformate hingegen hochkulturuntauglich sind. Es gilt weiterhin der Satz von der inhaltlichen Unschuld der jeweiligen Medientechnik. Die Bergpredigt wie Hitlers Mein Kampf liegen in Buchform vor; ein übler Propagandafilm hat mit einem verspielten Autorenfilm die Gemeinsamkeit, nun eben ein Film zu sein; das Internet kann eine Abzock-Ökonomie, eine hochspezialisierte Blog-Diskussion, eine Bombenbastelei, einen Zugriff auf Millionen Bücher, eine riesige Datenbank, unfassbar viele Informationen und anderes mehr ermöglichen. Dem Satz von der inhaltlichen Unschuld der Medientechniken widerspricht der berühmte Satz McLuhans „The medium is the message“ – jedoch nur scheinbar. Denn beide Sätze fokussieren unterschiedliche Sphären, zum einen die der Inhalte (der Semantik), zum anderen die der (Medien-) Grammatik. Die Welt der Bewohner der Gutenberg-Galaxis ist eine andere als die des Internetzeitalters; die Welt des Buchdrucks ist einer anderen Tiefenstruktur, einer anderen Grammatik verpflichtet als die der Monitore und Displays. Allein der Umstand, dass Menschen, die einen Laptop, ein Smartphone oder ein Tablet vor sich haben, anders als solche, die eine Zeitung oder ein Buch vor Augen haben, entscheiden können, ob sie ihren Geräten Buchstaben, Tabellen, Bilder oder Töne entlocken wollen, sorgt dafür, dass sich jeweils andere Welten jeweils anders erschließen. Doch beide, ja viele Medien-Welten koexistieren. Neue Medien haben alten Medien kaum je den Garaus gemacht. Die Leute reden weiter, auch wenn die Schrift erfunden wird; Handschriften zu produzieren, ist nicht verboten, wenn es die Drucktechnik gibt; Theater gibt es auch in der Nachbarschaft von Kinos; Kinos erleben eine mehr oder weniger produktive Krise, wenn das Fernsehen seinen Siegeszug antritt, aber es gibt sie weiterhin; und das Fernsehen wirkt schnell altertümlich, wenn so gut wie alle einen Internetzugang haben, aber es hört nicht auf zu senden. Allerdings müssen alte Medien sich im neuen Mediensystem einen neuen Funktionsplatz suchen. Wer heute handschriftlich einen Brief verfasst anstatt eine Email zu senden, weiß, dass er damit ein anderes Signal
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setzt als sein Urgroßvater, der nicht einmal vor der Alternative Füller oder Schreibmaschine stand. Das Medium ist die Botschaft. Die neuen hochindividualisierten Massenmedien haben bei den Älteren, die noch vor der Internetrevolution sozialisiert wurden, eingeübte Formen von Hören und Sehen zügig in Frage gestellt und vergehen lassen – und dennoch nicht ein schlechthin neues Denken, Wahrnehmen und Erfahren freigesetzt. Sie leben in manchmal fröhlicher, manchmal sanft paranoisch angehauchter Medienschizophrenie in zwei Welten – der des Internets und der des Buches mitsamt seiner klassischen Buchmetaphorik (Buch der Welt, der Natur, der Schöpfung, der Geschichte, des Lebens, des Buches etc.). Die Digital Natives haben ihrerseits ein gänzlich entspanntes, weil distanziertes Verhältnis zur Gutenberg-Galaxis, sie bewegen sich, ohne Angst vor Katachresen, im Netz wie ein Fisch im Wasser. An der NSA -Abhöraffäre fällt auf, dass Digital Natives auf sie in der Regel gelassener reagieren als ältere: sie haben sich, Facebook-gestählt, an Neujustierungen des Verhältnisses von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ gewöhnt; sie wussten, dass E-Mails so offen lesbar sind wie Postkarten; und sie machten sich, offenbar anders als viele kritische und zugleich bemerkenswert naive Kommentatoren, keine Illusionen über das, was Geheimdienste nun einmal tun, nämlich sich als unerwünschten Adressaten von Kommunikationsakten ins Spiel zu bringen. Es gehört zu den nur selten bedachten Eigentümlichkeiten kultureller und ästhetischer Kommunikation, dass sie mit dem Adressatenproblem sorglos umgeht und umgehen muss. Schriftsteller schreiben, Maler malen, Komponisten komponieren und Filmemacher machen Filme für alle und keinen. Sie können schlechthin nicht wissen, wen und wie viele Rezipienten ihre Werke wann und wo erreichen werden. Sie haben die Öffentlichkeit im Visier und kommen doch ohne eine existentialistische Rhetorik und Hermeneutik nicht aus, die stets damit rechnet, dass Individuen ihr Leben, ihre Ansichten, ihre Einsichten ändern, wenn sie dieses Gedicht lesen oder dieses Kunstwerk erblicken. Einrichtungen wie das Grimme-Institut erbringen neben vielen anderen segensreichen Leistungen auch die, das Adressatenproblem zumindest ein wenig zu lindern. Sie adressieren ihrerseits an alle, aber eben nicht an keinen, sondern an sogenannte Multiplikatoren, dass es sich lohnt, dieser oder jener Sendung Aufmerksamkeit zu widmen. Wer hingegen jemanden anruft, wer jemandem eine E-Mail schreibt oder wer einem Lebensweg auf Twitter folgt, individuiert Kommuni-
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kation und Rezeption – und genau dies geschieht massenhaft. Damit wird nicht nur das tradierte Verhältnis zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre neu justiert, sondern auch das Konzept von Wirklichkeit. Das schwant in Kehlmanns Roman wiederum keinem anderen als dem Medien-Junkie Mollwitz, der im selben Kongresshotel nächtigt wie der berühmte Schriftsteller Leo Richter und dämmernd sein Internetdeutsch hochfährt: „Im selben Haus wie Leo Richter, Erfinder von Lara Gaspard. Der Typ, der bestimmte, was sie sah und tat. Ihm die Hand schütteln, das war fast, als ob man ihre Hand – überzieht ihr, was ich meine? / Und da, in diesem Moment, in meinem dunklen Zimmer [die Camera obscura lässt grüßen, J. H.], hatte ich die eins a Stahlidee. Wenn einer so viel im Internet unterwegs ist wie ich, dann weiß er, daß – wie soll ichs sagen? Also dann weiß er, daß Wirklichkeit nicht alles ist. Daß es Räume gibt, in die man nicht mit dem Körper geht. Nur in Gedanken und trotzdem da. Lara Gaspard treffen. Das war possible! Eben in einer Story.“ (146) Kehlmanns Roman knüpft ersichtlich an die Überlegung an, dass die Unterscheidung von Wirklichkeit und Unwirklichkeit, von Faktizität und Fiktion, von Sein und Schein insofern problematisch ist, als es wirklich das Unwirkliche (etwa nur Ausgedachte), die Fiktion und den Schein gibt. Eine Fata Morgana ist tatsächlich eine Fata Morgana, Träume, Halluzinationen und Romangeschichten sind wirklich Träume, Halluzinationen und Geschichten. Und auch das in virtuelle und virtuose Medien verstrickte Leben ist real life – selbst dann, wenn ein berühmter Schauspieler, dessen Identität mit seiner Handynummer abhanden kommt, sich wirklich so erfährt, als werde er selbst unwirklich. „Im Frühsommer seines neununddreißigsten Jahres wurde der Schauspieler Ralf Tanner sich selbst unwirklich. / Von einem Tag zum nächsten kamen keine Anrufe mehr.“ (79) Ganz unerwartet kommt die im berühmten BeatlesSong Strawberry Fields artikulierte Erfahrung „nothing is real“ nicht über den Schauspieler. Denn er lebt schon lange in einer Furcht, die schon früh Balzac überkam – dass die Photographie den Photographierten quasi-vampyrell nach und nach aufzehre. „Er hatte schon lange den Verdacht, daß das Fotografiertwerden sein Gesicht abnützte. Sollte es möglich sein, daß jedesmal, wenn man gefilmt wurde, ein anderer entstand, eine nicht ganz gelungene Kopie, die einen aus sich selbst verdrängte? Ihm war, als wäre nach den Jahren des Bekanntseins nur mehr ein Teil von ihm übrig und als brauchte er bloß noch zu sterben,
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um einzig und allein dort zu sein, wo er eigentlich hingehörte: in den Filmen und auf den unzähligen Fotografien. Und jener Körper, der noch immer atmete, Hunger hatte und sich aus irgendwelchen Gründen hier und dort herumtrieb, würde endlich nicht mehr stören – ein Körper, der dem Filmstar ohnehin nicht sehr ähnlich war. So viel Arbeit und Schminke waren nötig, so viel Aufwand und Formung, damit er wirklich aussah wie Ralf Tanner auf der Leinwand.“ (81 sq.) Ruhm: wer berühmt ist, ist ein unverwechselbares Individuum, er geht nicht in der Masse auf – weil unübersehbar viele Individuen sich in ihm selbst entdecken. Im stets prekären Spannungsfeld zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre muss der berühmte Schauspieler Tanner die Erfahrung machen, dass er der Öffentlichkeit wie sich selbst abhandenkommt – eben deshalb kann er sich selbst neu begegnen. Zu den Pointen dieses Romans, der virtuos noch einmal die Beobachtungs-Möglichkeiten eines Produkts der Gutenberg-Galaxis vorführt, gehört es, dass er die neuen Medien daran erinnert, wieviel von der alten spiritistischen Semantik des Medienbegriffs in ihnen steckt. Aus der Feder eines tiefsinnigen Vordenkers neuer Medien stammt der Satz „Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst innewerden können.“18 Die Figuren aus Daniel Kehlmanns Roman Ruhm kämpfen, nachdem sie schreckhafte Begegnungen mit dem medialen Anderen ihrer selbst gehabt haben, alle mitsamt um eine zweite Form medialer Gelassenheit. Denn ihnen schwant, dass neue Medien zum unhintergehbaren Apriori dessen geworden sind, was wir Wirklichkeit nennen.
18 Walter Benjamin: Einbahnstraße; in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. IV /1. Ffm 1972, p. 113.
Nachweise
Die in diesem Band wiedergegebenen Texte sind durchgesehene, überarbeitete und z. T. stark erweiterte bzw. gekürzte Fassungen folgender Erstveröffentlichungen: 1. Die großen Werke und ihre Dorfrichter – Der literarische Kanon und seine Feinde; in: Literaturen 1,2 / 2002, pp. 32 – 35. 2. Lieblingsbücher – Hinweise zur Lebens-, Liebes- und Lesekunst; in: Lehmann, Klaus-Dieter (ed.): Mein Lieblingsbuch – Geschichte(n) einer Freundschaft. München 2010. 3. Die Kluft zwischen Mord und Dolch – Einige Bemerkungen zum Konzept des Erfolgs und dessen Siegeszug in der Kulturgeschichte der Neuzeit; in: Literaturen April 2009, p. 14 sq. 4. Zähne zeigen: Wie aggressiv, wie blasphemisch kann und darf Lachen sein? In: Johann N. Schmidt/Felix H. Sprang/Roland Weidle (edd.): Wer lacht, zeigt Zähne – Spielarten des Komischen. Trier 2014, pp. 19 – 26. 5. Vortrag gehalten am 4. April 2007 in der Matthäus-Kirche Berlin im Rahmen der Vortragsreihe ‚Ein Gast auf Erden – Annäherungen an Paul Gerhardt‘. 6. Erstveröffentlichung 7. Goethe, der Gott der Texte – Drei von unübersehbar vielen Gründen, im 21. Jahrhundert noch Goethe zu lesen; in: Andreas Remmel/Paul Remmel (edd.): Liber Amicorum – Katharina Mommsen zum 85. Geburtstag. Bonn 2010, pp. 265 – 275. 8. „Da du so sittsam, mein Herr Tristan…“ – Sittlichkeit, Lust und Verlust in Wagners Musikdramen; in: Tristan – Programmheft I der Bayreuther Festspiele 1993, pp. 6 – 33. 9. „Weibes Wonne und Wert“ oder Rheingold und Goldrush; in: Programmbuch Bayreuther Festspiele 2001. Bayreuth 2001, pp. 44 – 80. 10. Das I-A-Sagen des Esels und das JA des Dionysos: Nietzsches poetische Kunst der Affirmation; in: Carsten Dutt/Roman Luckscheiter
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Nachweise
(edd.): Figurationen der literarischen Moderne – Helmuth Kiesel zum 60. Geburtstag. Heidelberg 2007, pp. 137 – 148. Sich in Stimmung bringen – Über poetisches und mediales Moodand-Mind-Management; in: Anne Gisbertz (ed.): Stimmung – Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie. München 2011, pp. 33 – 44. Kitsch als Kunst der Selbstunterbietung – Eine Bagatelle; in: medien&zeit 4/2012, pp. 40 – 43. Vortrag gehalten auf dem IVG -Kongress in Shanghai im September 2015; in: (Ver)Speisen – Die bedeutsame Weisheit von Essen und Trinken; in: Kulinaristik – Wissenschaft/Kultur/Praxis Heft 1/2016, pp. 36 – 44. Wer redet, ist nicht tot – Zur Kritik der Diskursethik; in: Susanne Hahn (ed.): Sprache und Frieden – 4. Hubertusburger Friedensgespräche 21. – 23. September 2012 Protokollband. Jena 2013, pp. 112 – 123. Das Untier und das Einhorn – Eine Anmerkung zum Bestiarium von Günter Grass; in: die horen 3/2007, pp. 50 – 54. Überantwortung der Geschichte an die Ökonomie (= ungekürzte Fassung von 2004); in: Thomas Oberender (ed.): Unüberwindliche Nähe – Texte über Botho Strauß. O. O. (Theater der Zeit Berlin) 2004, pp. 80 – 85. „Der Mensch ist ein denkender Meteorit“ – Peter Slotderdijks Werk als Tractatus poetico-philosophicus; in: Marc Jongen u. a. (edd.): Die Vermessung des Ungeheuren – Philosophie nach Peter Slotderdijk. München 2009, pp. 29 – 33. Die Erlösung der Physis – Die Poetisierung Gottes im Werk von Patrick Roth; in: Michaela Kopp-Marx/Georg Langenhorst (edd.): Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth. Göttingen 2014, pp. 11 – 22. Nazis, Sex und Religion – Unkorrekte Konstellationen in Bernhard Schlinks Der Vorleser und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten; in: Merkur 734/Juli 2010, pp. 593 – 602. Die Maschine, der Sinn und die Energie – Der Kraftwerk-Sound; in: Dirk Matejowski (ed.): Kraftwerk – Die Mythenmaschine. Düsseldorf 2016, pp. 35 – 52.
Nachweise
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21. Massenhafte Individuen – Medienanalyse(n) in Daniel Kehlmanns Roman ‚Ruhm; in: Jochen Hörisch/Uwe Kammann (edd.): Organisierte Phantasie – Medienwelten im 21. Jahrhundert – 30 Positionen (zum 50. Geburtstag des Grimme-Instituts). München 2014, pp. 109 – 119.