Kino der Unordnung: Filmische Narration und Weltkonstitution bei Nicolas Roeg [1. Aufl.] 9783839426678

Nicolas Roeg, known for films such as Don't Look Now, Walkabout, and The Man Who Fell to Earth, was never a directo

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German Pages 474 Year 2014

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Kino der Unordnung: Filmische Narration und Weltkonstitution bei Nicolas Roeg [1. Aufl.]
 9783839426678

Table of contents :
Inhalt
I. Kino der Entropie – Einleitende Bemerkungen
II. Die (Eisen-)Bahnen des narrativen Realismus
III. Spiegelwelten und Zeitlabyrinthe
IV. Wege des Erzählens – und ihre Verzweigungen
V. Roegs manieristisches Prämissenkino – Schlußbetrachtung
Literatur- und Filmverzeichnis
Anhang
Danksagung

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Keyvan Sarkhosh Kino der Unordnung

Film

2014-07-24 10-32-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607222534|(S.

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4) TIT2667.p 372607222542

Keyvan Sarkhosh (Dr. phil.) ist Postdoc-Fellow am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt a.M.

2014-07-24 10-32-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607222534|(S.

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Keyvan Sarkhosh

Kino der Unordnung Filmische Narration und Weltkonstitution bei Nicolas Roeg

2014-07-24 10-32-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607222534|(S.

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Gedruckt mit Unterstützung durch die Österreichische Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: The Man Who Fell To Earth © STUDIOCANAL Films Ltd, (1976). All rights reserved. Lektorat & Satz: Keyvan Sarkhosh, Frankfurt a.M. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2667-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2667-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-24 10-32-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607222534|(S.

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Inhalt

I KINO DER ENTROPIE – EINLEITENDE BEMERKUNGEN | 9 II DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS | 25 1) Die Geburt des Kinos aus dem Geiste der Eisenbahn | 25

a) ›Gründungsmythos‹ und ›Eisenbahnfilme‹ | 27 b) Eisenbahnraum und filmisches Sehen | 39 c) Die Eisenbahn als ›Motor‹ der Standardisierung der Zeit | 50 2) Aufs Gleis gebracht: Die Eisenbahn als Voraussetzung realistischen Erzählens | 55

a) Die Vollendung der Newtonschen Raum- und Zeitkonzeption | 56 b) Mit (Voll-)Dampf voraus: Der thermodynamische Zeitpfeil | 61 c) Die Montage als Basis räumlicher und zeitlicher Anordnungen im Film | 67 3) Raum, Zeit, Ereignis und Kausalität – Grundlagen ›realistischen‹ Erzählens | 80

a) Was bedeutet Erzählen? Voraussetzungen und Konzepte der ›Narrativität‹ | 82 b) Lineare Abhängigkeiten: Realismus, ›précinema‹ und das Kino der Ordnung | 93 c) Stabilisierende Rahmen: Realismus als genrebasierter ›Hollywood-Stil‹ | 110

III SPIEGELWELTEN UND ZEITLABYRINTHE | 115 1) ›Beyond the Fragile Geometry of Space‹ – Der ungesicherte Raum Nicolas Roegs | 116

a) Von Anfang an: Desorientierung und Dislokation | 119 b) ›Strangers in Strange Lands‹ – Grenzgänger zwischen den Welten | 137 c) Jenseits des geometrischen Raums: Roegs (be)fremd(lich)e Welten | 152 2) Suchen – und nicht finden: Konstanten der Figuren- und Weltkonstitution | 172

a) »Time for a change« – Spiegel, Doppelgänger und die Fragilität des Selbst | 173 b) Bergman, Borges, Nabokov – oder: »…our will to master reality« | 203 c) Roegs labyrinthische Welten – Schwellenphase und Existenzbedrohung | 226 3) ›Die dunklen Dimensionen der Zeit‹: Erfahrungen der Zeitbedingtheit | 249

a) Die zyklische Zeit – oder: die ewige Wiederkehr des ›Zu-spät‹ | 251 b) Die parawissenschaftliche Zeit: Beobachtung, Serialität und der infinite Regreß | 267 c) Die relativitätstheoretische Zeit: Synchronizität und ›bad timing‹ | 281

IV WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 297 1) Das Gleiche, nochmal anders – oder: Roegs ›anti-klassisches‹ Erzählen | 298

a) »But it’s new to me…« – Aufbrechen der Erzählchronologie | 299 b) Ereignisserien und Permutation – Roegs narrative Puzzlespiele | 314 c) Jenseits der Kausalität: Assoziationsmontage und Farbkohäsion | 327

2) Ein Mosaik aus Zitaten und Versatzstücken | 344

a) ›Roeg-Konstanten‹ und antitransparente Selbstbezüge | 346 b) »A tale… signifying nothing« – Filme, Bücher und andere Zitatanspielungen | 356 c) Das narrative Universum expandiert – Zur Konstitution möglicher Welten | 373 3) »…ein wachsendes, schwindelerregendes Netz…« – Narrative Bifurkationen | 384

a) »I prefer to label myself an observer« – Der Zuschauer als Voyeur und Spion | 386 b) Beobachtung schafft Wirklichkeit(en) – Quantenmechanische Annäherungen | 397 c) »Pfade, die sich verzweigen…« – Narrative Multiversen und Polyvalenz des Erzählens | 404

V ROEGS MANIERISTISCHES PRÄMISSENKINO – SCHLUSSBETRACHTUNG | 417 LITERATUR- UND FILMVERZEICHNIS | 427 ANHANG | 467 DANKSAGUNG | 471

I

Kino der Entropie – Einleitende Bemerkungen The motion picture is a gateway to the nature of Time. – NICOLAS ROEG Nothing is what it seems. – JOHN BAXTER IN ›DON’T LOOK NOW‹

Am 15. August 2013 wurde Nicolas Roeg 85 Jahre alt. In den letzten Jahren ist es eher ruhig geworden um den britischen Regisseur, der in den 1970ern und frühen 80ern als einer der vielversprechendsten europäischen Regisseure gehandelt, mindestens aber kontrovers diskutiert wurde.1 Wenngleich sein Name vielen nicht geläufig ist, so scheint es doch kaum einen halbwegs cineastisch veranlagten Zuschauer zu geben, der nicht zumindest DON’T LOOK NOW (1973 – im Deutschen unter dem Titel WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN geläufig) kennt.2 Seit den aus-

1

So zeigt sich beispielsweise David Robinson anläßlich einer Besprechung von DON’T LOOK NOW in der Times überzeugt: »Nicholas Roeg is firmly established as the outstanding talent to have emerged in British cinema in least the past decade.« (David Robinson: »Spellbound in Nicholas Roeg’s Venice«, in: The Times, 12.10.1973, S. 15.) – Dominik Graf summiert den Status Roegs wie folgt: »Roeg ist ein bis heute weitgehend unterschätzter Regisseur, der sich allein mit seinen ersten sechs Filmen, von 1970 bis Mitte der Achtziger, einen eigenen Kontinent der Filmgeschichte eroberte.« (Dominik Graf: »Vom Alleinsein nach der Liebe. Nicolas Roegs ›Wenn die Gondeln Trauer tragen‹, 1973«, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 285, 10.12.2005, S. 13 [Graf 2005a].)

2

Mit dem Namen des Regisseurs, mindestens mit seiner Schreibweise, scheinen es dagegen selbst die Autoren, die über ihn schreiben, oft nicht allzu genau zu nehmen. So konstatiert auch Brian Baxter vollkommen korrekt: »[…] his name is spelled wrongly more often than correctly and the critical attitude to his work is ambiguous to say the least.« (Brian Baxter: »The Significance of Mr Roeg«, in: Films and Filming 370 [July 1985],

10 | KINO DER UNORDNUNG

gehenden 1980er Jahren ist das Interesse an Roeg und seinen neueren Filmen allerdings deutlich abgeflacht; in den 90er Jahren hat er eher mit TV- als mit ›großen‹ Kinofilmen von sich hören lassen. Nach über zehnjähriger Schaffenspause kam erst Ende 2007 mit PUFFBALL wieder ein Film von ihm in die Kinos – sein zugleich (bisher) letzter.1 Zwar war zunächst für 2009 ein neues Projekt angekündigt: »Night Train«, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Martin Amis (1997).2 Aber wenngleich das Projekt noch immer auf den Seiten der von Luc Roeg, dem Sohn des Regisseurs, geführten Filmproduktionsgesellschaft Independent geführt wird,3 ist es in der Internet Movie Database (IMDb) nicht einmal mehr als »in deve-

S. 14-17; hier: S. 14.) – Neben der korrekten Schreibweise von Roegs Vornamen, Nicolas, ist fälschlicherweise oftmals ›Nicholas‹ zu lesen. Die Wiedergabe der Schreibweise von Roegs Namen in Zitaten und Literaturangaben folgt jeweils dem zitierten Text. 1

Streng genommen handelt es sich nicht um eine wirkliche Schaffenspause. Neben einigen Regiearbeiten für Werbespots hat Roeg in dieser Zeit auch den Kurzfilm THE SOUND OF CLAUDIA SCHIFFER (2000) gedreht. – Während Roegs vorletzte größere Arbeit, die TVAdaption des Bibelstoffs SAMSON AND DELILAH (1996), schwerlich als ein typischer Roeg-Film zu erkennen war, trägt PUFFBALL unverkennbar die Handschrift des Regisseurs. Viele bekannte Motive aus früheren Filmen, darunter insbesondere DON’T LOOK NOW, begegnen uns hier wieder. So stellt beispielsweise Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Nicolas Roeg fest: »Ihr neuer Film PUFFBALL greift einiges wieder auf, was Sie bereits in früheren Filmen gemacht haben. Nach spätestens fünf Minuten kann man sehen, dass es ein Film von Ihnen ist.« (Rüdiger Suchsland: »Gott liebt den nicht, der ohne Fehler ist. Ein Gespräch mit dem Regisseur Nicolas Roeg«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 189, 14.08.2008, S. 45.) – In Deutschland hat der Film den Weg in die Kinos nicht gefunden, wurde aber Anfang Dezember 2008 auf DVD veröffentlicht.

2

Vgl. Martin Amis: Night Train. London: Cape 1997.

3

Vgl. http://www.independentfilmcompany.com/films/nighttrain.php (30.09.2013). – Bereits während der Filmfestspiele von Cannes im Jahr 1999 hatte Roeg angekündigt, Amis’ Roman verfilmen zu wollen (vgl. Geoffrey Macnab: »The Man Who Fell Out of Sight«, in: The Times, 17.06.1999, S. 39 [auszugsweise zitiert in: »Night Train. Nicolas Roeg set to film Heavy Water«, http://www.martinamisweb.com/pre_2006/ntfilm.htm (30.09.2013)]). Noch im Jahr 2009 bestätigte Roeg, daß er weiter an dem Projekt arbeite, das sich im Stadium der Finanzierung befinde. Einen Drehbuchentwurf habe er sogar Amis zukommen lassen, wie der Regisseur im Gespräch mit Phil de Semlyen erläutert: »I wanted Martin to see the script, obviously, and I’m very flattered with the comments he made. He said in his way, after his fashion, ›I think it’s captured what I was trying to say‹, which is the best you can do.« (Phil de Semlyen: »Nic Roeg On His Greatest Films – And The Future«, in: Empire Online, http://www.empireonline.com/interviews/interview.asp?IID=954 [30.09.2013].)

KINO DER ENTROPIE – EINLEITENDE BEMERKUNGEN | 11

lopment« gelistet. Mit The World is Ever Changing hat Nicolas Roeg 2013 schließlich einen autobiographischen Rückblick auf sein langes Schaffen im Film, seine kreativen Vorbilder sowie seine filmästhetischen Auffassungen vorgelegt.1 Roeg ist und war nie ein Regisseur, mit dem sich die Öffentlichkeit leicht getan hat – die Kritik noch weniger als das Publikum. Es gehört zu den wiederkehrenden Konstanten, daß seine Filme immer wieder die schärfsten Reaktionen und die erbittertsten Ablehnungen hervorgerufen haben – die zum Teil bis zur Diffamierung reichen. Mit voller Wucht trifft der Haß der Kritik bereits seine erste Arbeit als Regisseur. So urteilt Paul D. Zimmerman in der Zeitschrift Newsweek über PERFORMANCE (1970): »[…] this sordid little story […] is one of the ugliest, most contrived and self-indulgent films of the year.«2 Nicht weniger vernichtend fällt das Urteil von Arthur Knight aus: »PERFORMANCE is a picture without a single visible excuse for its existence.«3 Und er begründet seinen Eindruck wie folgt: »Even perversion can have dramatic validity; but perversion exploited for its own sake, as in PER4 FORMANCE, represents perhaps the nadir of tastelessness.« Auch John Simon betrachtet PERFORMANCE in seiner Besprechung in der New York Times als einen perversen Film: »You do not have to be a drug addict, pederast, sado-masochist or nitwit to enjoy PERFORMANCE, but being one or more of these things would help.«5 Und er gelangt zu dem Schluß: »It is all mindless intellectual pretension and pathologically reveled-in gratuitous nastiness, and it means nothing.«6 Dagegen spricht Peter Schjedahl wenige Tage zuvor in derselben Zeitung von »that perfect, poisonous cinematic flower«,7 denn PERFORMANCE sei ein Film, der sich durch Komplexität und Anspielungsreichtum auszeichne: »The great power of the film finally owes a lot to its bravura collaging of small things, of cultural details […].«8 Doch auch der Detail- und Anspielungsreichtum von Roegs Filmen hat durchaus Anlaß zur Kritik geboten. So bemängelt Jonathan Baumbach an Roegs drittem Film:

1

Nicolas Roeg: The World is Ever Changing. London: Faber and Faber 2013. – Roeg selbst bezeichnet sein Buch als eine Zusammenstellung von Erinnerungen und Reflexionen (ebd., S. 4).

2

Paul D. Zimmerman: »Under the Rock«, in: Newsweek, 17.08.1970, S. 51.

3

Arthur Knight: »A Matter of Taste«, in: Saturday Review, 22.08.1970, S. 61.

4

Ebd.

5

John Simon: »The Most Loathsome Film of All«, in: The New York Times, 23.08.1970, S. D1 u. D5; hier: S. D5.

6 7

Ebd. Peter Schjedahl: »One Emerges a Little Scorched, But...«, in: The New York Times, 16.08.1970, S. D1 u. D5; hier: S. D1.

8

Ebd., S. D5.

12 | KINO DER UNORDNUNG »Let me say it right away. I hated Nicolas Roeg’s slick, supernatural horror movie, DON’T LOOK NOW. There are extraordinary details in the film, perhaps enough for ten films […], but they exist mainly to call attention to themselves and to the fine eye of the director […]. In terms of cinema language, DON’T LOOK NOW is irritatingly overwritten.«1

Auch diesem Film wird implizit das Attribut der Perversion zugeschrieben, wenn Moira Walsh die beiden vorhergehenden Filme des Regisseurs mit eben diesem Begriff belegt: sie verurteilt »[...] Nicolas Roeg, who has previously directed one overtly perverse film, PERFORMANCE and another, WALKABOUT, that I at least thought was covertly perverse.«2 Und mit Blick auf BAD TIMING (1980) stellt James Morton lapidar fest: »BAD TIMING directed by Nicolas Roeg is quite simply a bad film.«3 Die teils verächtliche Ablehnung, die Roegs Filmen entgegengebracht wurde (und wird), ist zunächst eine Reaktion auf den jeweiligen Inhalt, d.h. auf ihre Geschichten. Denn eines haben fast alle seine Filme gemeinsam: sie schaffen beim Zuschauer »ein Klima eisiger Beklemmung und totaler Unsicherheit«,4 sie stürzen ihn in Verwirrung und Ratlosigkeit. Dies ist einerseits der thematischen Schwerpunktsetzung der Filme geschuldet, die uns mit so komplexen Identitätskrisen ihrer Figuren konfrontieren, »dass beim Kinozuschauer in kürzester Zeit jede Behaglichkeit des gewohnten Kino-Erlebnisses einer gewissen Verstörung« weicht.5 Mindestens ebenso aber ist das Gefühl der Verwirrung und die harsche Ablehnung, die Roegs Filme erfahren (haben), der Art und Weise geschuldet, wie sie erzählen. Sie sind in ihrer Ästhetik oft so radikal, daß sie bei Publikum und Kritik überwiegend auf Unverständnis stießen6 – und nach wie vor stoßen. Ein Grund dafür mag darin liegen, daß das beherrschende Prinzip bei Roeg Unordnung zu sein scheint. Nicht

1

Jonathan Baumbach: »Show-Offs«, in: Partisan Review 41 (1974), Nr. 2, S. 273-278; hier: S. 274f.

2

Moira Walsh: »I Don’t Want to Look«, in: America. The National Catholic Weekly, Nr. 130, 23.02.1974, S. 134.

3

James Morton: »Quarterly Film Review«, in: Contemporary Review 237 (1980), Nr. 1375, S. 102-104; hier: S. 103.

4

Hans C. Blumenberg: »Ein Film der leisen Fallen. ›Wenn die Gondeln Trauer tragen‹ von Nicholas Roeg«, in: Die Zeit, Nr. 37, 06.09.1974, S. 24.

5

Dominik Graf: »Vorwort. Nicolas, mein Held«, in: Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann (Hg.), Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 (= Film-Konzepte; 3), S. 5-14; hier: S. 7.

6

Vgl. Carsten Bergemann: »›And death shall have no dominion‹. Eine Annäherung an Nicolas Roeg«, in: Marcus Stiglegger/ders. (Hg.), Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 (= Film-Konzepte; 3), S. 15-22; hier: S. 15.

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ganz unpassend weist Dominik Graf darauf hin, daß sich Roegs Filme mit der Entropie als dem wissenschaftlichen Gesetz der zunehmenden Unordnung beschreiben ließen: »Man könnte sagen, dass Roeg der einzige Regisseur ist, der beim Erzählen absichtlich mehr Unordnung schafft als Ordnung.«1 Die Reihenfolge der erzählten Ereignisse ist bei ihm oft bunt durcheinandergewürfelt, ihr Zusammenhang oftmals unklar – wenn ein solcher überhaupt existiert. Roegs Filme bilden in dieser Hinsicht in der Tat ein »cinema of disintegration«.2 Die Eigentümlichkeit der Filme Roegs, ja ihre Radikalität, ist demnach strukturell, genauer: narratologisch begründet. Roeg bricht mit den Konventionen eines realistischen Erzählkinos, verweigert sich gängigen Erzählmustern, verstößt gegen das Gebot des unsichtbaren Schnitts und setzt an die Stelle linearer Erzählstrukturen komplexe Montagesequenzen, in denen sich Raum und Zeit verdichten und die zugleich den gewohnten Ablauf der Zeit aufzuheben scheinen. »His films are rarely simple linear structures. There is a very original treatment of time in them«, wie Neil Sinyard betont.3 Roegs Filme erzählen keine Geschichten im konventionellen Sinn. »Roeg is a modernist, and […], in a Borgesian way, he is probably better at anti-stories than stories.«4 Entsprechend wird Jorge Luis Borges in diesem Buch immer wieder eine wichtige Referenzfolie sein. Gerade in Rückbindung an und im Vergleich zu den Schriften Borges’ tritt deutlich hervor, daß Roegs Filme stets auch Reflexionen über die Modalitäten, über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Erzählens im Film darstellen: es geht ihnen, wie schon Hans C. Blumenberg anläßlich von DON’T LOOK NOW, Roegs wohl bekanntestem Film, feststellte, »weniger um die Geschichte […] als um die Demonstration von filmischen Sehweisen.«5 Und Erzählweisen, sollte man hinzufügen. Der Film erweist sich dabei als ein Medium, das wesentlich den Bedingungen

1

Graf 2006, S. 9.

2

Neil Sinyard wendet diese Formulierung beispielsweise auf PERFORMANCE an: »[…] fundamentally, PERFORMANCE is cinema of disintegration, reflecting uncertainties not only in the old stable narrative-character of story-telling but in society itself.« (Neil Sinyard: The Films of Nicolas Roeg. London: Letts 1991, S. 14.)

3 4

Ebd., S. 4. Ebd., S. 138. – Auch Jörg Helbig zählt Roeg »zu den wenigen Modernisten des britischen Kinos […].« (Jörg Helbig: Geschichte des britischen Films. Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, S. 254.) Ganz in diesem Sinne stellt beispielsweise PERFORMANCE für Marcus Stiglegger »ein nahezu klassisches Drama mit dem Gestus der Moderne« dar (Marcus Stiglegger: »›Vice. And Versa.‹ Letale Doubles in den Filmen von Nicolas Roeg«, in: ders./Carsten Bergemann [Hg.], Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 [= Film-Konzepte; 3], S. 33-42; hier: S. 37).

5

Blumenberg 1974, S. 24.

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von Zeit unterliegt. Dies gilt auch für die Art und Weise, wie er erzählt. »I realized that film was a time machine«,1 stellte Roeg einst fest – und nahm dies zum Anlaß, mit der Zeit im Film zu experimentieren. »Just seeing a character going forwards and backwards, up and down, expanded my thoughts about what you could do with images«, berichtet Roeg über seine Erfahrungen, die er als junger Mann sammelte, als er an einer ›Editola‹ beim Synchronisieren fremdsprachiger Filme ins Englische mitwirkte, was das permanente Vor- und Zurückspulen des Films erforderte. – Erfahrungen, die sein späteres Schaffen als Regisseur nachträglich prägen sollten.2 »One of Roeg’s unique talents, aside from his ability to evoke atmosphere is his original approach to cinematic time, in some key scenes Roeg suspends time. […] At other moments, Roeg uses cross-cutting to give us the sensation of being in two places – or two times – at once«, faßt Stephen Farber das für Roeg typische Verfahren zusammen.3 Roeg hat damit nicht nur genuine ›filmische‹ Werke,4 sondern vor allem auch »modern experimental films« geschaffen.5 Sie tragen in sich das Bewußtsein der Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen, die das Medium zuläßt – und die Roeg als sehr weit gefaßt betrachtet: »The motion picture is still such a magical and mysterious combination of reality, art, science and the supernatural – as well as a gateway to the nature of Time, and perhaps even the first clues in solving the puzzle of what we’re doing here on this world.«6 Roegs Aussage, aus der das Motto zu diesem Einleitungskapitel entnommen ist, macht zugleich deutlich, daß seine Filme in diesem Sinne hochgradig selbstreflexiv sind. Dies zeugt nicht zuletzt davon, daß der Film für Roeg eine Kunstform, mehr noch: ein intellektuelles Medium darstellt,7 das den Zuschauer herausfordert. »His films are open structures which make an audience work and think«, konstatiert auch Neil Sinyard.8 All dies ist zugegebenermaßen nicht ungewöhnlich – auf viele andere Regisseure und Filme vor und nach Roeg trifft dies gleichermaßen zu.9 So gibt auch Domi-

1

Scott Salwoke: Nicolas Roeg Film by Film. Jefferson, NC, London: McFarland 1993, S. 1.

2 3

Roeg 2013, S. 15. Stephen Farber: »›Don’t Look Now‹ Will Scare You«, in: The New York Times, 23.12.1973, S. D15 u. D20; hier: S. D15.

4

So konstatiert etwa Neil Sinyard: »Roeg’s films are so cinematic that they are inconceivable in any other form.« (Sinyard 1991, S. 2.)

5

Neil Feineman: Nicolas Roeg. Boston: Twayne 1978, S. 16.

6

Roeg 2013, S. 3.

7

Salwolke 1993, S. viii.

8

Sinyard 1991, S. 5.

9

Roeg selbst vertritt die Auffassung, daß seine eigene und die unmittelbar folgende Generation noch einen sehr konservativen Zugang zum Filmschaffen (gehabt) haben: »My

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nik Graf zu bedenken: »Man findet natürlich auch vor Roeg unzählige andere Bilderstürmer in der Filmgeschichte. Im Unterschied hat Roeg jedoch quasi Experimentalfilme geschaffen, die er als Mainstream-Projekte zu tarnen verstand.«1 Was Roeg auszeichnet, ist die Tatsache, daß er, obgleich er ausgeprägt selbstreflexive Filme hervorgebracht hat, sich doch nur schwerlich als ein ›Autorenfilmer‹ bezeichnen ließe.2 Zwar betrachtet Neil Feineman Roeg als »a remarkable example of film auteur«,3 doch gibt Jay Padroff dagegen zu bedenken: »Nicholas Roeg is more than an auteur in that he is an artist – one of the very able to work in the Englishspeaking ›commercial‹ cinema.«4 Hierin unterscheidet sich Roeg wesentlich von den »Rebellen der 1960er« Jahre wie dem New Hollywood, der Nouvelle Vague, dem Neuen deutschen Film und dem New British Cinema; im Unterschied zu diesen Bewegungen liegen seine Filme »zwischen Avantgarde und Mainstream«.5 Diese Mittelstellung des Regisseurs ist wohl nicht zuletzt Roegs eigener Überzeugung geschuldet, daß der Film (als System) eine Art Zwitterwesen ist: »I still think it’s an industry – just as art is an industry. It’s a combination of the two things: art and industry.«6 Tatsächlich scheinen Roegs Filme ihren Stoffen nach zunächst durchaus massentauglich: ob Gangsterfilm, Horrorfilm, Science-Fiction oder Kriminalfilm – Roegs Werke weisen eine deutliche Affinität zum populären Kino auf.7 Folglich ge-

generation and the generation following me is still trying to believe in rules: that there is a right and wrong way of constructing and performing a story.« (Roeg 2013, S. 219.) Erst der Übergang vom analogen zum digitalen Zeitalter habe endgültig zu völlig neuen Formen filmischen Erzählens geführt: »Digital has changed the whole attitude towards editing. In effect, it changed the whole art of movie storytelling.« (Ebd., S. 143.) 1

Graf 2006, S. 7.

2

Zum Begriff filmischer Autorschaft und der emphatischen Betonung des autonomen Künstlersubjekts vgl. Kay Kirchmann: »Autorentheorie«, in: Helmut Schanze (Hg.), Metzler-Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Unter Mitarb. v. Susanne Pütz. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 14f.

3 4

Feineman 1978, S. 7 (Herv. i.O.). Jay Padroff: »Roegian Thought Patterns. An American View of Nicolas Roeg«, in: Films: On Screen and Video 1 (September 1981), S. 16-19 [Padroff 1981a]; hier: S. 17.

5

Graf 2006, S. 6f.

6

»Identity. Nicolas Roeg in an Interview with Gordon Gow«, in: Films & Filming 18 (1972), Nr. 4, S. 18-24 [Gow 1972]; hier: S. 20.

7

Der Regisseur selbst läßt unmißverständlich seine Begeisterung für seine ersten Filmerfahrungen erkennen, die ganz im Zeichen des ›populären‹ Kinos – und dies heißt wohl unausgesprochen: des Kinos in klassischer Hollywood-Tradition – standen: »I have

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langt Joseph Lanza zu dem Schluß, daß Roeg »remains a commercial director meeting the conservative trend with a formal assault, deploying hackneyed stories and subverting them at the same time.«1 Roeg bleibt also einerseits dem kommerziellen Mainstream verpflichtet, und fordert ihn anderseits radikal – und d.h. vor allem formal – heraus. Auf diesen Umstand verweist auch Robert Phillip Kolker: »Nicolas Roeg is one of the few commercial directors who upholds a spirit of experimentation, who deals with narrative as if it were a flexible structure to be used, rather than a given form to be realised.«2 Roegs Filme brechen in der Tat mit etablierten Formen des filmischen Erzählens, die sich als ›klassisch‹ und ›realistisch‹ bezeichnen ließen.3 Während das ›klassisch-realistische‹ filmische Erzählen auf Prinzipien der linearen Chronologie, Homogenität, Transparenz, Kausalität und Kohärenz aufbaut, bilden Roegs Filme – mindestens seine bekannteren der 1970er und 80er Jahre – allenfalls auf Erzählfragmenten basierende Narrationen. Dabei erweisen sich diese die Narration konstituierenden Elemente mithin als beliebig und arbiträr. Ähnliches gilt für die Konstitution erzählter Welten (Diegesen), in denen sich die fragmentarisch erzählten Geschichten vollziehen. Es stellt sich damit die Frage nach dem Zusammenhalt und dem daraus resultierenden ›Sinn‹ dieser einzelnen Elemente. Roegs Filme führen dabei vor, daß auf der Ebene der filmischen Oberflächenstruktur allenfalls Kohäsion gestiftet werden kann, nicht aber Kohärenz. Die im Vergleich zur Kohärenz eher lockere Kohäsion ermöglicht es, daß die Reihenfolge der einzelnen Narrationsfragmente nahezu beliebig vertauscht werden kann. Anders ausgedrückt: Die Narration erweist sich bei Roeg weniger als eine ›Ereigniskette‹, deren einzelne Glieder nach einem Kausalität- oder Chronologieprinzip geordnet sind,4 sondern vielmehr als ein filmisch-narratives ›Anagramm‹. Durch die nahezu

always felt rather lucky about the period I was born into. That is, in terms of being around in the early years of popular film-going.« (Roeg 2013, S. 221.) 1

Joseph Lanza: Fragile Geometry. The Films, Philosophy, and Misadventures of Nicolas Roeg. New York: PAJ 1989, S. 36.

2

Robert Phillip Kolker: »The Open Texts of Nicolas Roeg«, in: Sight and Sound 46 (1977), Nr. 2, S. 82-84 u. 113; hier: S. 82.

3

Auch Toni Ross sieht in Roeg einen Regisseur, der es sich zur Aufgabe gemacht habe, »to challenge the veristic claims of ›realist‹ or ›classical‹ narrative cinema.« (Toni Ross: »Nicolas Roeg’s ›Bad Timing‹. Fabulising the Author Among the Ruins of Romance«, in: Laleen Jayamanne [Hg.], Kiss Me Deadly. Feminism and Cinema for the Moment. Sydney: Power Publications 1995, S. 180-220; hier: S. 183.)

4

Eine solche narrative ›Unordnung‹ nimmt Roeg sogar für seine autobiographischen Erinnerungen in Anspruch; sein Buch müsse in keiner linearen Ordnung (»progressive order«) gelesen werden, denn: »Memory has no continuity of time […].« (Roeg 2013, S. 4.)

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beliebigen Möglichkeiten dieser anagrammatischen Anordnung führen Roegs Filme die Möglichkeit der Optionalität des Erzählens (und des Erzählten) vor. In den traditionellen Erzählmedien, zu denen auch der Film zählt, erscheint diese Optionalität prima facie nicht gegeben. Aufgrund der medialen und materiellen Eigenheiten erscheint der lineare Ereignis- und Handlungsverlauf – und damit letztlich die Narration selbst – fest vorgegeben. Gleichwohl erweist sich das feste Korsett als ein Trugschluß, denn erstens ist die vermeintlich feste Reihenfolge in der Regel das Ergebnis festgeschriebener Konventionen – Konventionen sind jedoch nicht absolut, sie können gebeugt, gar gebrochen werden. Und zweitens sind die Verknüpfung der die Erzählung konstituierenden Ereignisse und die Zusammensetzung der einzelnen Informationen zu einer erzählten Welt (Diegese) nicht absolut vorausgesetzt (und damit unauflöslich), sondern sie werden vom rezipierenden Subjekt vollzogen. Im Regelfall – d.h. in Übereinstimmung mit den Konventionen klassisch-realistischen Erzählens – wird der Rezipient versucht sein, eine vermeintlich kohärente Narration und eine vermeintlich stimmige Welt zu (re-)konstruieren, indem er – mehr unbewußt als bewußt – die einzelnen Fragmente auf der Grundlage von Literatur-, Filmund Genre-Erfahrungen sowie allgemein seinem ›Weltwissen‹ verknüpft und ergänzt. Da dieses Wissen stets unterschiedlich ausgestaltet ist, ergeben sich unterschiedliche Narrationsverläufe und parallele ›mögliche Welten‹. Diese sind alle gleich wahrscheinlich. Das bedeutet: die narrative und die diegetische Kohärenz sind niemals absolut, sondern immer subjektiv und relational zum verfügbaren Wissen des Rezipienten bedingt. Die als aktuell wahrgenommene erzählte Welt samt ihrer Narration ist stets eine von vielen möglichen, die sich mitunter nur minimal unterscheiden. Aus der Pluralität möglicher Narrations- und Diegesekonstruktionen leitet sich die These her, daß es eigentlich kein unzuverlässiges Erzählen gibt, weil im strengen Sinne kein zuverlässiges Erzählen existiert. Da kein Rezipient jemals über ein vollständiges enzyklopädisches Wissen verfügen kann, sind erzählte Welten stets beliebig, kontingent und arbiträr. Vermeintlich zuverlässiges Erzählen entpuppt sich als ein ›Naturalisierungsprozeß‹, in welchem der Rezipient die Narrationsfragmente in Einklang mit seinem enzyklopädischen Wissen (dazu zählt auch das Wissen von Erzählkonventionen) zu ergänzen und zu ›naturalisieren‹, d.h. letztlich Kohärenz zu stiften sucht. Letztere erweist sich damit als eine Form der Wissensordnung. Wo dieser Naturalisierungs- bzw. Kohärenzstiftungsprozeß scheitert, deutet der Rezipient die Erzählung als unzuverlässig.1 Die unzuverlässige Instanz ist also – und zwar

1

Diese Ausführungen sind wesentlich Ansgar Nünnings Ansatz einer kognitivistisch orientierten Theorie des unzuverlässigen Erzählens verpflichtet (vgl. Ansgar Nünning: »›Unreliable Narration‹ zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens«, in: ders. [Hg.], Unreliable Narration. Studien zur

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immer – das rezipierende Subjekt, das versucht, Sinn in Form von Kohärenz zu stiften. Mit anderen Worten: auch ›unzuverlässiges Erzählen‹ ist der Versuch einer Sinnstiftung angesichts des Scheiterns und der Ratlosigkeit des sinnsuchenden Subjekts: wo das enzyklopädische Wissen nicht ausreicht, um Stimmigkeit und Vollständigkeit herzustellen, beruft sich dieses auf ein alternatives Erklärungsmodell als Naturalisierungsversuch, nämlich die Erklärung unzuverlässigen Erzählens. Sinnstiftung und Kohärenz sind also allenfalls Annährungen und im wesentlichen spekulativ. An die Stelle von Kohärenz tritt damit Ambi- bzw. Polyvalenz. Roegs Filme, insbesondere BAD TIMING (aber auch andere), führen verschärft vor, was grundsätzlich für (filmisches) Erzählen gilt. Die Kohärenzbildung erweist sich also als problematisch, und zwar vor allem mit Blick auf das rezipierende Subjekt. Es stellt sich von hier aus allgemein die Frage nach der Subjektkonstitution. Eingedenk der Tatsache, daß Roegs Filme im hohen Maß selbstreflexiv sind, erscheint es sinnvoll, einen genaueren Blick auf die Subjektkonstitution der Figuren in seinen Filmen zu werfen. Die Figuren in Roegs Filmen sind instabile, unabgeschlossene Entitäten. Dies gilt sowohl für die materielle wie für die psychologisch motivierte Figurenzeichnung. Zentrale Bedeutung kommen hier dem Spiegel- und dem Doppelgängermotiv zu; beide fungieren als permeable Scharnierstelle zwischen einer vermeintlich eindeutigen, bekannten und gefestigten physischen und psychischen Wirklichkeit und alternativen, scheinbar ›anti-realistischen‹ Konzepten. Dabei erweist sich, daß die Figurenkonzeption eng mit der erzählten Welt und ihren Bedingungen im Sinne möglicher Welten zusammenhängt. Die Figuren als Entitäten der erzählten Welt unterliegen selbstverständlich deren Bedingungen. Als Synonym für ›erzählte Welt‹ hat sich in der Narratologie der Begriff ›Diegese‹ etabliert, der auf Étienne Souriau zurückgeht,1 und der darunter die ›fiktionale Wirklichkeit‹ des Films versteht.2 Diese ist wesentlich durch zwei

Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Unter Mitw. v. Carola Surkamp/Bruno Zerweck. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998, S. 3-39). 1

Étienne Souriau hat den Begriff ›Diegese‹ Anfang der 1950er Jahre als eine der acht Dimensionen des ›filmischen Universums‹ definiert. Von der Filmwissenschaft ausgehend, wurde der Begriff dann in die literaturwissenschaftliche Narratologie übernommen (vgl. Anton Fuxjäger: »Diegese, Diegesis, diegetisch. Versuch eine Begriffsentwirrung«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 16 [2007], H. 2, S. 17-37; hier: S. 17).

2

Vgl. Étienne Souriau: »Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 6 (1997), H. 2, S. 140-157; hier: S. 152.

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Faktoren geprägt: Raum und Zeit.1 Den Kategorien Raum und Zeit kommt in den Filmen Roegs eine zentrale Rolle zu, sowohl für das Ausbilden der Diegese und der Subjektkonstitution der diegetischen Figuren, als auch für die Konstruktion der Narration. Die Montage als grundlegende narrative Verfahrensweise wirkt bei Roeg oft sprunghaft und verwirrend, was zu einem Großteil daran liegt, daß räumlich und zeitlich disparate Montagesequenzen enggeführt werden. Dies läßt sich deutlich an der Eingangssequenz von BAD TIMING oder der berühmten ›Liebesszene‹ in DON’T LOOK NOW demonstrieren. Roegs Figuren und deren fiktionale Welten sind durch die Überlagerung zeitlicher Ebenen und das Durchbrechen räumlicher Grenzen gekennzeichnet. Die filmisch-diegetische Wirklichkeit wirkt räumlich und insbesondere zeitlich amorph, instabil und verwirrend. Mit Borges ließe sich sagen: Roegs Welten sind Labyrinthe aus Symbolen und Zeit.2 Gerade das Labyrinth erweist sich dabei nicht nur als ein zentrales visuelles Motiv in Roegs Filmen, sondern es fungiert – ähnlich wie Grenzen, Spiegel und Doppelgänger – als ein abstraktes Konzept. Als Reflexionsfigur spiegelt es die Vorstellungen und Auffassungen des Regisseurs sowohl über die menschliche Existenz (verkörpert durch die fiktionalen Figuren) als auch über das Wesen des Erzählens wider. In diesem Sinne ließen sich all diese Motive und Symbole auch als ›Denkfiguren‹ bezeichnen.3 In ihrer narrativen wie diegetischen Raum- und Zeitkonzeption weichen Roegs Filme am deutlichsten von den Konventionen eines realistischen filmischen Erzählens ab, wie es vor allem durch den ›klassischen‹ Hollywood-Stil geprägt wurde.4 Während der konventionelle filmische Realismus, einer von Nicolas Abercrombie, Scott Lash und Brian Longhurst formulierten These folgend, im wesentlichen auf einem mechanistisch-szientifischen Weltbild basiert (der Film und seine Erzählweisen sind hierin ihrer Genese nach deutlich ein Kind des 19. Jahrhunderts),5 bedienen

1

Vgl. ebd., S. 141.

2

Vgl. Jorge Luis Borges: »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 161-173; hier: S. 168.

3

Zum Begriff der ›Denkfigur‹ vgl. Achim Hölter: »Denkfiguren der Komparatistik«, in: Rüdiger Zymner/ders. (Hg.), Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 87-90.

4

Ein Verstoß gegen bzw. eine Abweichung von Konventionen des Hollywood- bzw. Studiokinos setzt freilich voraus, daß man diese kennt und beherrscht, wie Roeg selbst zu bedenken gibt (vgl. Roeg 2013, S. 16).

5

Vgl. Nicolas Abercrombie/Scott Lash/Brian Longhurst: »Popular Representation: Recasting Realism«, in: Scott Lash/Jonathan Friedman (Hg.), Modernity and Identity. Oxford/Cambridge, MA: Blackwell 1992, S. 115-140; hier: S. 118.

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sich die Filme Roegs alternativer Raum- und Zeitkonzeptionen; neben zyklischen und seriellen Raum- und Zeit-Konzepten, die sich teilweise der Parawissenschaft und des Okkultismus verdanken, spielen hier vor allem relativitätstheoretische und quantenmechanische Vorstellungen eine zentrale Rolle.1 Gerade Roegs Film INSIGNIFICANCE kommt dabei eine selbstexplikative Bedeutung zu mit Blick auf die zugrundeliegenden alternativen Raum- und Zeitvorstellungen. Besondere Aufmerksamkeit ist in diesem Kontext dem sogenannten Viele-Welten-Modell zu schenken. Die Raum- und Zeitkonzeptionen, die in Roegs Filmen verhandelt werden, bilden den Schlüssel zum Verständnis fiktionaler Welten als ›Multiversum‹ möglicher Welten. Gesteht man Roegs Filmen ein hohes selbstreflexives Potential zu, dann erscheinen sie in der Tat wie eine Dekonstruktion der Konventionen ›realistischen‹ filmischen Erzählens und ›realistischer‹ filmischer Weltkonstitution. An die Stelle einer filmischen Wirklichkeit, einer stimmigen und herausragenden Diegese bzw. Welt tritt eine Polyvalenz möglicher und wahrscheinlicher Welten, die sich berühren, überschneiden oder überlagern, mindestens aber permeabel erscheinen: jede Grenze setzt auch einen Grenzgänger voraus. Die vermeintlich eine, abgeschlossene Welt scheint ins Amorphe zu entgleiten. Ebenso werden in Roegs Filmen die etablierten Verfahrensweisen eines auf Konvention und Kausalität beruhenden realistischen Erzählens überwunden. Roegs Filmkorpus erweist sich damit in der Tat auf mehreren Ebenen als ein Kino der ›Un-Ordnung‹. Die hier vorgetragenen Thesen machen bereits deutlich, daß die folgenden drei Kapitel keinesfalls eine chronologische Gesamtdarstellung von Roegs filmischem Œuvre bieten werden. Selbstverständlich ist es auch ein Anliegen dieses Buches, eine Würdigung Roegs als einen der herausragenden, wenngleich nach wie vor oft stiefmütterlich behandelten oder gar verkannten europäischen Regisseure vorzunehmen. Dies scheint um so mehr geboten, als die Anzahl monographischer Werke zu Roeg überschaubar ist und bis dato nur eine einzige umfangreichere deutschsprachige Publikation zu ihm vorliegt.2 Die einzelnen Filme werden weder ausgie-

1

Wie Roeg selbst betont, stellen die modernen physikalischen Theorien für ihn eine Brükke zum Okkulten und Paranormalen dar (vgl. Roeg 2013, S. 227).

2

In den 1970er und 1980er Jahren ist eine Reihe von Aufsätzen zu Roeg publiziert worden, seit den 1990er Jahren aber ist die Auseinandersetzung mit dem Regisseur deutlich abgeebbt. Darüber hinaus sind Monographien und umfangreiche Gesamtdarstellungen zum Œuvre Nicolas Roegs rar; die letzten stammen aus den frühen 1990er Jahren. Die aktuellste und bisher zugleich einzige umfangreichere deutschsprachige Publikation ist der von Marcus Stigglegger und Carsten Bergemann 2006 herausgegebene Sammelband im Rahmen der Reihe Film-Konzepte (Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann [Hg.], Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 [= Film-Konzepte; 3]). Es liegt in der

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big nacherzählt noch ausschließlich inhaltsorientiert interpretiert. Dem filmwissenschaftlichen Anteil kommt vielmehr exemplarische Bedeutung zu. Denn die Fragen, die im Vordergrund stehen, sind medienästhetischer, kulturwissenschaftlicher und vor allem narratologischer Natur. Es soll aufgezeigt werden, wie Roegs Filme mit einem traditionellen Verständnis ›realistischen‹ Erzählens (im Gewand des Films) brechen und dabei alternative Modi offerieren. Dies läßt sich zwar nicht vollständig von der inhaltlichen Ebene trennen – vor allem, wenn es um die Funktion und Konstitution der narrativen Welten und der Figuren geht –; vorrangig setzt die Untersuchung jedoch auf der Ebene der filmischen Textstruktur an. Die Annäherung an das Werk Nicolas Roegs erfolgt hier somit aus einer medienkulturwissenschaftlichen komparatistischen Perspektive.1 Der deutlich komparatistische Impetus wird dabei nicht nur im permanenten Vergleich zu anderen Filmen, sondern vor allem in der Bezugnahme auf andere Kunstwerke und ganz besonders literarische Texte deutlich. Eine herausragende Rolle kommt dabei den Essays und Erzählungen des argentinischen Autors Jorge Luis Borges zu, die für Roegs Filme eine wichtige Inspirationsquelle darstellen und Vorbildfunktion übernehmen. Der Vergleich mit Borges ist daher nicht rein illustrativ. Es kommt ihm vielmehr eine zentrale argumentative Bedeutung zu: Roegs Filmerzählungen sind eine konkrete Umsetzung programmatischer und hypothetischer Entwürfe des Erzählens, wie sie in Borges’ Schriften in Aussicht gestellt werden, und die sich als ein Bruch mit Traditionen und Konventionen – nicht nur eines filmischen – ›klassisch-realistischen‹ Erzählens auffassen lassen. Um zu verdeutlichen, inwiefern Roeg mit etablierten, gemeinhin als ›realistisch‹ aufgefaßten Konventionen filmischen Erzählens, wie sie sich vor allem im sogenannten ›Hollywoodstil‹ herausgebildet haben, bricht, ist es natürlich unabdingbar, als erstes einen Blick auf diese ›Norm‹ und ihre Grundlagen und Voraussetzungen zu werfen. Kapitel II führt daher zunächst zu den Anfängen des Kinos. Denn an dieser Stelle läßt sich filmhistorisch wie epistemologisch am deutlichsten nachvollziehen, wie sich die Konventionen des ›klassischen‹, ›realistischen‹ Erzählens herausgebildet haben, die dann zu einer dominanten Norm im vom so genannten ›Hol-

Natur der Sache, daß ein Sammelband viele Aspekte nur anreißen und Perspektiven aufzeigen, nicht aber ausführlich besprechen kann. 1

Dieser Zugang betrifft vor allem poetologische Fragen, die dem Teilbereich der Allgemeinen Literaturwissenschaft als einer der beiden Säulen der Komparatistik anheimfallen. Zum Verhältnis von Allgemeiner Literaturwissenschaft und Vergleichender Literaturwissenschaft als den beiden gleichberechtigten, tragenden Säulen der Komparatistik vgl. Achim Hölter/Rüdiger Zymner: »Einleitung. Konturen der Komparatistik«, in: Rüdiger Zymner/Achim Hölter (Hg.), Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 1-4.

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lywoodstil‹ geprägten Kino avancierten. Die Rekonstruktion dieser Norm wird dabei gleichsam auf den Gleisen der Eisenbahn erfolgen. Die Tatsache, daß sich in Roegs Filmen immer wieder Anspielungen auf Eisenbahnen finden, kann dabei als Rechtfertigung für diesen Exkurs dienen.1 Darüber hinaus zeichnen sich, wie sich noch zeigen wird, das Kino und die Eisenbahn durch eine nicht zu übersehende Affinität aus. Die Eisenbahn erweist sich als Motor, vermittels dessen sich überhaupt erst die Vorstellung einer einheitlichen, gleichförmig verlaufenden Zeit und eines homogenen, zusammenhängenden Raumes in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts, die stark durch ein physikalisches, mechanistisch-thermodynamisches Wissensparadigma geprägt ist, etabliert haben. Diese Vorstellungen einer linearen, einheitlichen Zeit und eines homogenen Raumes sind es dann, die nicht nur allgemein die Auffassung, was Erzählen sei, sondern vor allem auch das Konzept eines ›realistischen‹ Erzählens prägen, das Homogenität, Linearität, Kausalität und Transparenz zu unabdingbaren Leitbegriffen erhebt. Mit diesen für das klassisch-realistische Erzählen grundlegenden Vorstellungen brechen Roegs Filme – und zwar zunächst auf inhaltlicher Ebene. Ausgehend von Roegs erster eigener Regiearbeit, PERFORMANCE, wird zu Beginn des dritten Kapitels zunächst dargelegt, wie Roegs Filme an die Stelle eines homogenen Raumes narrative Weltentwürfe setzen, die sich durch räumliche Disparatheit und Dislokation auszeichnen. Dabei kommt den Aspekten der Fremdheit, der Grenze und der Grenzüberschreitung eine herausragende Rolle als Denkfiguren für die Konstitution der erzählten Welten in Roegs Filmen zu. Bei Roeg erweisen sich die Diegesen als fragile und fragmentarische Welten, was durch die in seinen Filmen immer wieder zu sehenden Spiegel verdeutlicht wird. Das Motiv des Spiegels verweist indes nicht nur auf die Konstitution der narrativen Welten. Es reflektiert gemeinsam mit der bei Roeg immer wieder aufgegriffenen Doppelgängermotivik auf die Verfaßtheit der Figuren, die durchaus jener der fiktionalen Welten, in denen sie existieren, entspricht. Sie sind eben keine gesicherten Individuen. Vielmehr befinden sie sich in einem ständigen Zustand der existentiellen Krise und der Suche nach Sinn und Orientierung. Dabei spiegeln sie die Situation des realen Zuschauersubjekts angesichts eben dieser Filme wider. Ihre existentielle Bedrohung und die permanente Suchbewegung findet ihren sinnfälligen Ausdruck in der Form des Labyrinthes, das uns in Roegs Filmen immer wieder begegnet, und das als die zentrale Denkfigur des Re-

1

Diesen intrinsischen Zusammenhang zwischen der Eisenbahn und einem auf starken Konventionen beruhenden ›klassischen‹ filmischen Erzählens erkennt auch Roeg selbst an: »We’re bound by conventions, and it’s astounding how we have to learn to see what is happening in front of your eyes. It’s the classic thing of the train coming into the station – it was one of the very first films, made by the Lumière brothers – and as the train came hurtling towards the audience, the recoiled!« (Roeg 2013, S. 51.)

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gisseurs schlechthin betrachtet werden kann. Deutlich tritt dabei hervor, daß das Labyrinth nicht nur als räumliches, sondern auch als zeitliches Gebilde verstanden werden muß – insbesondere dann, wenn man nicht von einem gleichförmigen, linearen und homogenen Zeitbegriff ausgeht, sondern an dessen Stelle alternative Zeitkonzeptionen setzt. Vor allem drei Zeitkonzeptionen sind es, denen in Roegs Filmen nachdrückliche Bedeutung zugesprochen wird: zum einen der Begriff einer zyklischen Zeit, zum anderen eine auf Jorge Luis Borges und John William Dunne zurückgehende Vorstellung einer seriellen Zeit und schließlich das Konzept einer relativitätstheoretischen Raumzeit, wie sie von den Figuren in Roegs Film INSIGNIFICANCE (1985) verhandelt wird – womit dem Film eine selbstexplikative Schlüsselrolle zukommt. Der Bruch mit einem absoluten, gleichförmigen Zeitbegriff ist eine wesentliche Grundlage, um die formale Radikalität von Roegs ›Anti-Geschichten‹ zu verstehen. In Kapitel IV stehen daher vorrangig die strukturellen narrativen Charakteristika seiner Filme (bzw. deren Verfahrensweisen) im Vordergrund. Dabei wird sich zeigen, daß Roegs Filme durchaus in bewußter Bezugnahme auf das klassische Hollywood-Kino auch formal mit den Konventionen eines ›realistischen‹ Erzählens brechen. An die Stelle chronologischer Erzählverläufe treten bei Roeg permutierende Ereignisketten, die sich einer linearen Rekonstruktion oftmals verweigern. Der Begriff des Ereignisses, der bereits in Kapitel II als zentraler Begriff zur Bestimmung der Grundlagen des Erzählens ins Spiel kommt, wird hier wieder aufgegriffen, dabei jedoch aus der Perspektive der gegen Ende von Kapitel III eingeführten raumzeitlichen Prämissen der Einsteinschen Relativitätstheorie betrachtet.1 Das hat zur Folge, daß Ereignissen keine absolute Anordnung in einer linearen Kette, sondern nur noch eine relative Anordnung in einer Serie zugesprochen werden kann. Dies geht einher mit Roegs Montageverfahren, das nicht darauf abzielt, Kausalzusammenhänge zu insinuieren und Kohärenz zu stiften, sondern das statt dessen Assoziationen zu schaffen sucht. Roegs Filme erweisen sich damit als assoziative PuzzleSpiele. Der im Vergleich zur ›klassischen‹ Norm eher lose Zusammenhang zwischen diesen einzelnen Montage-Puzzlestücken ist dabei zum einen die Folge visueller Rekurrenzen, wobei insbesondere dem Einsatz von Farbe als ›Kohäsionsmittel‹ eine zentrale Rolle zukommt. Zum anderen ergibt sich ein vermeintlicher Zusammenhang durch die zahlreichen Anspielungen auf andere Filme, Kunstwerke, literarische Texte und sonstige Artefakte in Roegs Filmen, die sich dadurch als ›enzyklopädische‹ bzw. ›archivische‹ Texte erweisen und damit augenscheinlich ausstellen, daß narrative Welten stets ein mosaikartiges Geflecht aus ›Wirklichkeits-

1

Roeg selbst bezeugt seine Verbundenheit mit den Einsteinschen Theorien in seinen autobiographischen Reflexionen, wenn er das Kapitel »The Future« mit einem Einstein-Zitat beginnt (vgl. ebd., S. 193).

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fragmenten‹ und intertextuellen Bezügen sind. Sie sprechen damit das Wissensarchiv des Zuschauers an, das jedoch individuell verschieden ist. Je nach individuellem Wissensarchiv des Zuschauers wird damit die erzählte Welt unterschiedlich ausfallen. An die Stelle der einzigmöglichen Welt tritt damit das Konzept vieler möglicher Welten. Narrative Welten (und zwar grundsätzlich, nicht nur in Roegs Filmen) sind somit abhängig vom rezipierenden Subjekt, das diese eigentlich erst hervorbringt – und das im Falle des Films als ein Beobachter aufgefaßt werden kann. Es ist daher sicherlich kein Zufall, daß uns in Roegs Filmen immer wieder Voyeure und andere Beobachterfiguren begegnen. Die bei Roeg selbstreflexiv ausgestellten Bedingungen narrativer Welt(en)konstitution entsprechen damit durchaus den Annahmen, wie sie in einem von Literatur und Film auf den ersten Blick sehr weit entfernten Wissens- und Erkenntnisgebiet formuliert werden: auch die Quantenmechanik setzt zum einen die Figur eines Beobachters voraus, zum anderen bietet sie mit der so genannten Viele-WeltenInterpretation ein Modell, das nicht zuletzt an die Vorstellung sich verzweigender, parallel existierender Welten erinnert, wie es von Jorge Luis Borges in seiner Erzählung El jardín de senderos que se bifurcan (1941) entworfen wird.1 Die von Borges in dieser Erzählung entwickelten Gedanken können als paradigmatisch nicht nur für die Erzählverfahrensweisen in Roegs Filmen, sondern auch als eine Reflexion über das grundsätzliche Wesen des Erzählens betrachtet werden. Roegs Filme führen damit vor Augen, daß jedes Erzählen – unabhängig vom Medium – immer schon Verzweigungen mit vielen verschiedenen möglichen, parallelen und gleichberechtigten Pfaden und Ausgängen hervorbringt. Die Vorstellung eines eindeutigen, linear rekonstruierbaren Sinns, wie er vom klassisch-realistischen Erzählen propagiert wird, erscheint damit obsolet. Roegs Überwindung traditioneller Erzählweisen und eines konventionellen Realismusprinzips kann damit als Reflexion des grundsätzlichen Problems des Erzählens im Modus des Films zwischen Avantgarde und Mainstream aufgefaßt werden. Doch Roeg beläßt es, anders als beispielsweise Borges in seinen Schriften, nicht bei einer bloßen Reflexion. Mit seinen Filmen hat der Regisseur die Möglichkeiten filmischen Erzählens auch im Praktischen radikal erweitert: sie machen deutlich, daß gerade das Ausbrechen aus den Konventionen des filmischen Realismus das Potential eines Erzählens schafft, das mitunter deutlich näher an einer Realität ist, wie sie sich dem Menschen tatsächlich darbietet. Oder anders gewendet: Die Frage nach Narration und möglichen Welten ist letztlich immer auch ein Versuch, die Wirklichkeit besser zu verstehen. Indem sich Roeg der Fesseln eines auf starren Konventionen beruhenden filmischen Realismus’ entledigt, öffnet er nicht zuletzt die Türen zu einem freieren, gesteigerten, mitunter ›wirklichkeitsnäheren‹ Erzählen im Film.

1

Vgl. Borges: Der Garten der Pfade, bes. S. 170 u. 172.

II Die (Eisen-)Bahnen des narrativen Realismus The greatest electric train set a boy ever had! - ORSON WELLES The closest to the time machine we have is the movies. - NICOLAS ROEG

Die Filme Nicolas Roegs stellen, wie bereits im einleitenden Kapitel herausgestellt, stets auch eine implizite Auseinandersetzung mit einer Tradition filmischen Erzählens dar, die sich als ›realistisch‹ bezeichnen ließe, und von der sie sich mal mehr, mal weniger deutlich abgrenzen. Diese ›realistische‹ Tradition des narrativen Kinos stellt eine wichtige Folie dar, vor der die inhaltlichen wie strukturellen Eigenheiten der Filme Roegs überhaupt erst deutlich werden. Es erscheint daher konsequent und notwendig, zunächst die Grundlagen dieser ›realistischen‹ Erzähltradition des Kinos aufzuarbeiten. Dies soll gleichsam auf den Gleisen der Eisenbahn geschehen.

1) D IE G EBURT DES K INOS DER E ISENBAHN

AUS DEM

G EISTE

Als am 28. Dezember 1895 im Indischen Salon des Grand Café am Pariser Boulevard des Capucines der Kinematograph der Brüder Auguste und Louis Lumière erstmals öffentlich vorgestellt wurde,1 bekam das zahlende Publikum unter anderem folgenden Film zu sehen: An einem Bahnsteig, auf dem mehrere Menschen auf die Ankunft des Zuges warten, fährt auf dem anliegenden Gleis eine Lokomotive mit etlichen Waggons im Schlepptau ein. Der Zug kommt zum Halten, aus den Wag-

1

Bereits vor der öffentlichen Präsentation hatten die Brüder Lumière ihre neue Erfindung vor geschlossenem Publikum vorgestellt. In der Pariser Société d’Encouragement pour l’Industrie Nationale zeigten sie am 22. März 1895 vor Wissenschaftlern ihren Film LA SORTIE DES USINES

(1895). – Vgl. Joachim Paech: Literatur und Film. 2., überarb. Aufl.

Stuttgart/Weimar: Metzler 1997 (= Sammlung Metzler; 235), S. 296.

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gons steigen Passagiere aus und auf dem Bahnsteig entwickelt sich reichlich Bewegung unter den Ankommenden und den Wartenden (Abb. 1). Abbildung 1: Gründungsmythos des Kinos: Die Einfahrt des Zuges

L’ARRIVÉE D’UN TRAIN À LA CIOTAT (Auguste Lumière/Louis Lumière, 1895)

So unspektakulär dieser kurze Film (mit weniger als einer Minute Spielzeit) auch anmuten mag – für die Geschichte des Films, für die Entstehung und die Anfangsbedingungen des neuen Mediums (neben der Photographie vielleicht das prominenteste Beispiel für eine neue Kunstform, deren ›Beginn‹ sich exakt datieren läßt) spielt L’ARRIVÉE D’UN TRAIN À LA CIOTAT (1895) eine kaum zu überschätzende Rolle.1 Die Bilder dieses Films der Brüder Lumière »[have] become canonised as one of cinema’s ›unforgettable‹ and ›unrepeatable‹ impressions«,2 und seine Präsentations- wie Rezeptionsumstände bilden einen, um nicht zu sagen: den »Gründungsmythos« des Kinos.3 Sie verweisen darauf, wie von Anbeginn die Geschichte

1

Yuri Tsivian verweist auf die frühe Kanonisierung von L’ARRIVÉE D’UN TRAIN À LA CIOTAT: »Bereits um die Jahrhundertwende (!) hoben die Feuilletonisten L’ARRIVÉE D’UN

TRAIN als unantastbar aus den anderen Lumière-Werke heraus.« (Iouri Tsiviane:

»La réception de l’espace mobile. ›Anna Karénine‹ et ›L’arrivée du train en gare de La Ciotat‹«, in: Études de lettres 2 [1993], S. 29-44; hier: S. 32 [Übers. KS].) 2

Yuri Tsivian: Early Cinema in Russia and its Cultural Reception. Transl. by Alan Bodger with a Foreword by Tom Gunning. Ed. by Richard Taylor. Chicago, IL/London: The Univ. of Chicago Press 1998, S. 136.

3

Vgl. Martin Loiperdinger: »Lumières ›Ankunft des Zugs‹. Gründungsmythos eines neuen Mediums«, in: KINtop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 5 (1996), S. 36-70. – Vgl. auch: Stephen Bottomore: »The Panicking Audience? Early Cinema and the ›Train Effect‹«, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 19 (1999), Nr. 2, S. 177216; hier: S. 177. – Ebenso zählt Tom Gunning die Darstellung des einfahrenden Zuges zu den »myths of origin« des Kinos und bezeichnet sie als »primal scene« der Filmgeschichte (Tom Gunning: »An Aesthetic of Astonishment: Early Film and the [In]Credulous Spectator«, in: Linda Williams [Hg.], Viewing Positions. Ways of Seeing

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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und die spezifischen medialen und narrativen Bedingungen und Möglichkeiten des Films mit dem technischen Dispositiv der Eisenbahn verbunden sind. a) ›Gründungsmythos‹ und ›Eisenbahnfilme‹ Der Gründungsmythos des Kinos erzählt von einem Publikum im Grand Café, das angesichts des einfahrenden Zuges in panischer Reaktion aufgesprungen und davongelaufen sein soll: das Bild auf der Leinwand solle auf die ›naiven‹ Zuschauer so echt gewirkt haben, daß sie es für die Realität selbst, den dargestellten Zug für einen echten gehalten haben sollen. So zumindest kann man es in den »Standardwerke[n] der Filmgeschichte« nachlesen.1 »Am Anfang des Kinos soll also die Verwechslung des Filmbilds mit der Realität gestanden haben.«2 Und zwar eine Illusion angesichts des Bewegungseindrucks, der von einem fahrenden Zug vermittelt wird. Entsprechend hat Yuri Tsivian für die panische Reaktion den Begriff »train effect« vorgeschlagen.3 Ob die Geschichte des in Panik geratenen Publikums nun wahr ist oder nicht,4 sie macht in ihrem impliziten Verweis auf L’ARRIVÉE D’UN

Film. New Brunswick, NJ: Rutgers Univ. Press 1995, S. 114-133 [zunächst in: Art and Text 24 (1989), S. 31-36]; hier: S. 114f.). 1

Loiperdinger 1996, S. 38. – Als Beispiele führt Loiperdinger an: Ulrich Gregor/Enno Patalas: Geschichte des Films 1. Reinbek: Rowohlt 1976, S. 13; und: Georges Sadoul: Geschichte der Filmkunst. Frankfurt a.M.: Fischer 1982, S. 27. Insbesondere letzterem spricht Albert Kümmel eine entscheidende Rolle bei der Etablierung dieses Gründungsmythos des Kinos zu: »In der Nachfolge Sadouls wurde die Vorstellung vom naiven Publikum, das zwischen Schein und Sein nicht zu unterscheiden vermag, zum erfolgreichsten Mythos der Mediengeschichtsschreibung.« (Albert Kümmel: »Ein Zug fährt ein. Anmerkungen zur Kinodebatte«, in: ders./Leander Scholz/Eckhard Schumacher [Hg.], Einführung in die Geschichte der Medien. Paderborn: Fink 2004, S. 151-173; hier: S. 152.)

2

Loiperdinger 1996, S. 40.

3

Tsivian 1998, S. 139. – Vgl. auch Bottomore 1999, S. 177.

4

Während Martin Loiperdinger als Argument, das gegen eine solche Reaktion spricht, die fehlenden Berichte über eine Panik im Grand Café in der aktuellen Tagespresse anführt (Martin Loiperdinger: »Lumiere’s ›Arrival of the Train‹: Cinema’s Founding Myth«, in: The Moving Image 4 [2004], Nr. 1, S. 89-118; hier: S. 94), hat Noël Burch keinen Zweifel daran, daß der Mythos aus der Realität heraus erwachsen ist: »There is no reason to doubt the reports that some spectators started up from their seats when first they saw Lumière’s train rushing at them where they sat, comfortably ensconced at their tables in the Salon Indien.« (Noël Burch: »Narrative/Diegesis – Thresholds, Limits«, in: Screen 33 [1982], Nr. 2, S. 16-33; hier: S. 17.) Tom Gunning zieht die panische Reaktion bei der öf-

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mindestens deutlich, »daß von Anbeginn der Filmgeschichte die Züge ihren festen Platz im Kino hatten.«1 Nicht nur glich das Grand Café einer »Art Bahnhof, auf dem man die Ankunft der neuen Maschine für die Reproduktion von bewegten Bildern (Bildern von Bewegung) erwartete«, wie Joachim Paech herausstreicht;2 vielmehr erwies sich die Eisenbahn als herausragendes Objekt des frühen ›Attraktionskinos‹,3 denn hier hatten die Filmemacher die Chance, die Möglichkeiten ihres neuen Mediums voll auszuspielen und das Publikum zu beindrucken. So stellt auch Lynne Kirby fest: »In a most elementary sense, shooting a moving train, the fastest TRAIN

fentlichen Erstvorführung ebenfalls in Zweifel, gibt aber zu bedenken, daß eine überraschte oder gar geschockte Reaktion des frühen Kinopublikums angesichts der Darstellung eines einfahrenden Zuges nicht auszuschließen sei: »Although I have my doubts whether actual panic took place in the Grand Café’s Salon Indien, there is no question that a reaction of astonishment and even a type of terror accompanied many early projections.« (Gunning 1995, S. 116.) Letztlich ist aber wohl vor allem Stephen Bottomore in seiner Feststellung zuzustimmen, »that it matters not at all […] whether or not the panic reaction really did happen on a few occasions; what matters is that the idea of the panic reaction was to become a fascinating ›myth/parable‹ of cinema’s origins ever since.« (Bottomore 1999, S. 184.) Auch das Kino selbst hat an diesem seinen Mythos mitgearbeitet, ihn perpetuiert und immer wieder zitiert, und das bereits seit seinen Anfangstagen, so etwa in THE COUNTRYMAN’S FIRST SIGHT OF THE ANIMATED PICTURES (Robert. W. Paul, 1901) oder in Edwin S. Porters Film UNCLE JOSH AT THE MOVING PICTURE SHOW (1902), in welchem die titelgebende Figur aus Angst vor einem projizierten vorbeifahrenden Zug in Deckung springt; vgl. hierzu auch Loiperdinger 1996, S. 39. 1

Ulfilas Meyer: Kino-Express. Die Eisenbahn in der Welt des Films. 150 Jahre deutsche Eisenbahnen. Jubiläumskatalog Nürnberg 1985. Offizieller Katalog des EisenbahnFilmfestivals »Zug der Zeit – Zeit der Züge«. München/Luzern: Bucher 1985, S. 6.

2

Joachim Paech: »Die Ankunft des Zuges«, in: epd Film 1 (1984), Nr. 6, S. 16-23; hier: S. 19.

3

Zum Konzept des ›Attraktionskinos‹ vgl. Tom Gunning: »The Cinema of Attraction. Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde«, in: Robert Stam/Toby Miller (Hg.), Film and Theory. An Anthology. Malden, MA/Oxford: Blackwell 2000, S. 229-235 (zunächst in: Wide Angle 8 [1986], Nr. 3/4, S. 63-70). – Joseph Garncarz plädiert dafür, den Begriff des ›cinema of attractions‹ lediglich in einem engen Sinne für europäische Jahrmarktsfilme zu verwenden und nicht auf alle Filme, die vor 1907 produziert wurden, auszudehnen (vgl. Joseph Garncarz: »The European Fairground Cinema. [Re]defining and [Re]contextualizing the ›Cinema of Attractions‹«, in: André Gaudreault/Nicolas Dulac/Santiago Hidalgo [Hg.], A Companion to Early Cinema. Malden, MA/Oxford: Wiley 2012, S. 317-333; hier: S. 317).

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vehicle in the world in 1895, gave filmmakers an opportunity to show off film’s powers of registration, its ability to capture movement and speed.«1 Wenn der Mythos vom panischen Publikum wahr ist, so wandelte sich dessen Reaktion alsbald in einen Schock angesichts einer neuen Erfahrung von Geschwindigkeit, Beschleunigung und Gleichzeitigkeit,2 der sich schließlich in ein wohliges Gefühl der Faszination aufzulösen vermochte. Als Objekt der Darstellung konnte die Eisenbahn dem Publikum das bieten, was es begehrte: die Illusion von Bewegung und Geschwindigkeit. Das Potential der Eisenbahn war rasch erkannt: »Die Bewegung, die Wucht, der Dampf entsprachen den Anforderungen des Films nach Illusion und Sensation.«3 Von ihren ersten Anfängen an gingen Film und Eisenbahn somit eine Symbiose ein, die sich durch die Filmgeschichte und alle populären Genres hindurchzieht. Die Lokomotive samt angespannten Waggons, die in Georges Méliès’ LE VOYAGE À TRAVERS L’IMPOSSIBLE (1904) die Reisenden bis in den Weltraum befördert, gehört zu den ikonischen Bildern des fantastischen Stummfilms. Auch Edwin S. Porters THE GREAT TRAIN ROBBERY (1903) hat Bilder geprägt, die sich in das kollektive (Film-)Gedächtnis eingeschrieben haben – und eine Reihe von Filmen nach sich gezogen, die von Raubüberfällen auf Eisenbahnen handeln, so zum Beispiel in Michael Crichtons THE FIRST GREAT TRAIN ROBBERY (1978) oder auch in BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID (George Roy Hill, 1969). Letzterer ruft auch in Erinnerung, welch eine zentrale Rolle die Eisenbahn als kardinales Motiv im Western spielt: von UNION PACIFIC (Cecil B. DeMille, 1939) über HIGH NOON (Fred Zinnemann, 1952) und HOW THE WEST WAS WON (John Ford, 1962) bis hin zur Western-Komödie WILD WILD WEST (Barry Sonnenfeld, 1999). Nicht zu vergessen die Anfangssequenz von Sergio Leones C’ERA UNA VOLTA IL WEST (1968), die wohl unbestritten zu den größten Kinomomenten gehört. Gerade im Western ist die Eisenbahn nahezu genrebestimmend. »So wie die Schiene das Land zerschneidet und aufteilt, strukturiert die Eisenbahn das dramatische Geschehen«, so Ulfilas

1

Lynne Kirby: Parallel Tracks. The Railroad and Silent Cinema. Exeter: Univ. of Exeter Press 1997, S. 19f. (Herv. i.O.).

2 3

Vgl. ebd., S. 7. Meyer 1985, S. 6. – Jochen Hörisch indes weist darauf hin, daß sich bereits die Photographie durch eine deutliche Affinität zur Eisenbahn auszeichnete, wenngleich sie im strengen Sinne eben nicht in der Lage war, die Bewegung einzufangen und wiederzugeben: »Eisenbahnen können und müssen sich fortbewegen, das ist ihre Bestimmung. Die Photographie kann eine Eisenbahn festhalten, nicht aber sie in Bewegung zeigen (es sei denn, daß sie diese Bewegung ›impressionistisch‹ durch Verwischung und zu lange Verschlußzeit anzeigt).« (Jochen Hörisch: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 295f.)

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Meyer.1 Doch auch in anderen Genres nimmt die Eisenbahn in zahlreichen prominenten Beispielen eine zentrale dramaturgische Rolle ein. Als Beispiel für den Thriller mögen die beiden Alfred-Hitchcock-Filme STRANGERS ON A TRAIN (1951) und NORTH BY NORTHWEST (1959) dienen, oder auch der James-Bond-Film FROM RUSSIA WITH LOVE (Terence Young, 1963), in welchem 007 im Orient-Expreß von Istanbul Richtung Venedig reist. Der gleiche Zug kommt bereits im Titel von Sidney Lumets Adaption des Agatha-Christie-Romans MURDER ON THE ORIENT EXPRESS (1974) vor, womit wir nicht nur beim Kriminalfilm, sondern auch bei einem bekannten Beispiel für eine Literaturverfilmung wären. Ein Film wie SILVER STREAK (Arthur Hiller, 1976) verschiebt das Genre Thriller – und mit ihm und in ihm die Eisenbahn – ins Komödiantische, doch das vielleicht berühmteste Eisenbahn-Motiv aus dem Komödien-Genre dürfte aus Buster Keatons THE GENERAL (1926) stammen: Buster, wie er auf dem Kuhfänger der Dampflokomotive ausharrt. Auch im experimentellen Dokumentarfilm begegnet uns die Eisenbahn, in Walther Ruttmanns BERLIN – DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927) ebenso wie in Dziga Vertovs DER MANN MIT DER KAMERA (ЧЕЛОВЕК С КИНОАППАРАТОМ, 1929), in denen sie als Symbol der Moderne und des Fortschritts auftritt. Den Rausch der Geschwindigkeit feiern so unterschiedliche Filme wie Jean Renoirs LA BÊTE HUMAINE (1938) – eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Émile Zola –, wenn Jean Gabin als Lokomotivführer Jacques Lantier mit kohlenverschmierten Gesicht und Windschutzbrille über die Gleise schießt, oder Mike Hodges’ GET CARTER (1971), in dessen Eröffnungssequenz die von Michael Caine gespielte Hauptfigur Jack Carter von London nach Newcastle braust. Kurz und gut: die Filme, in denen Eisenbahnen vorkommen, als Handlungsort, als Objekt des Interesses oder auch nur als zufälliges Motiv, sind Legion,2 und womöglich bestätigt dies die Feststellung Ulfilas Meyers, daß »Eisenbahnfilme […] vielleicht das filmischste Genre überhaupt« sind.3 Mit auffallender Häufigkeit begegnen uns auch in den Filmen Nicolas Roegs Eisenbahnen und eisenbahnähnliche (d.h. schienengebundene) Gefährte, erstmals in PERFORMANCE (1970): Nachdem Chas (James Fox) Joey Maddox (Anthony Valentine) erschoßen hat und von seinem Boss Harry Flowers (Johnny Shannon) Rache

1 2

Meyer 1985, S. 21. Eine Übersicht über Eisenbahnen im Film bietet John Huntley (John Huntley: Railways in the Cinema. London: Ian Allen 1969), wenngleich seine Darstellung nicht über die 1960er Jahre hinausreicht und es sich, wie auch Lynne Kirby zurecht feststellt (Kirby 1997, S. 15), überwiegend um eine rein deskriptive Auflistung handelt, ohne das Auftreten von Eisenbahnen im Film im medialen und kulturellen Zusammenhang zu interpretieren.

3

Meyer 1985, S. 7.

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fürchten muss, will er zunächst zu seiner Tante nach Devon flüchten und begibt sich daher zum Bahnhof Paddigton (Abb. 2), wo er in der Bahnhofsgaststätte auf die Abfahrt des Zuges wartet. Abbildung 2: Bahnhof Paddington

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Besonders häufig kommen Eisenbahnen dann in THE MAN WHO FELL TO EARTH (1976) vor, und zwar schon gleich zu Beginn des Films. Noch während der Titelsequenz sehen wir, wie der soeben auf der Erde gelandete Thomas Jerome Newton (David Bowie) durch ein verlassenes und verfallenes Bergwerk läuft. Hinter ihm liegt das Wrack einer dahinrostenden Dampflokomotive (Abb. 3, oben).1 Zugleich

1

Die Eingangssequenz von THE MAN WHO FELL TO EARTH spiegelt in gewisser Weise die Szene gegen Ende von WALKABOUT (1971) wider, in der das Mädchen (Jenny Agutter) und der Junge (Lucien John) in den Ruinen einer verlassenen Bergwerksstatt im australischen Outback spielen. Auf den ersten Blick könnte man das Gefährt, das der Junge den Hang herunter rollen läßt, für die Überreste eines Grubenhunts oder einer Lore halten (es ist jedoch weder das eine, noch das andere, denn es verfügt über eine Lenkachse). Kurz zuvor sehen die beiden Kinder einen mehrgliedrigen, überlangen Lastwagen auf einer Straße entlangbrausen. Solche Fahrzeuge werden in Australien (und nicht nur dort) als »road train« bezeichnet (vgl. Art. »road«, in: Oxford English Dictionary. Third Edition [June 2010]. OED Online Version September 2013, http://www.oed.com/view/Entry/ 166506?-redirectedFrom=road+train& [30.09.2013]). Und wenn in einer früheren Szene des Films, als der Junge eine Herde Kamele sieht, die Sequenz einer Kamelkarawane samt Reitern einmontiert wird, so verweist dies implizit drauf, daß vor dem Bau der ersten Eisenbahnstrecken in Australien der Gütertransport mittels Kamelen erfolgte, die

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ist auf der Ebene der Tonspur das Pfeifen einer Dampflok zu vernehmen. Als Newton mit dem Auto im Ort Artesia in New Mexico eintrifft, ist, kurz bevor er unter dem Namen Sussex im Hotel eincheckt, ein Güterzug zu sehen;1 wenig später – Newton teilt sich mittlerweile eine Wohnung mit Mary-Lou (Candy Clark), die er als Zimmermädchen im Hotel kennengelernt hat – blickt der Außerirdische aus einem Fenster und schaut auf einen vorbeifahrenden Güterzug. Abbildung 3: Dampflokomotive und Einschienenbahn-Haus

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

samt ihren Führern eigens aus Afghanistan nach Australien ›eingeführt‹ wurden. Nicht nur wurden – und werden – diese Karawanen als »camel trains« bezeichnet, sondern noch heute trägt die Eisenbahnverbindung von Adelaide über Alice Springs nach Darwin in Erinnerung an die afghanischen Kamelkarawanen den Namen »The Ghan« (vgl. hierzu »Afghan Cameleers in Australia«, http://australia.gov.au/about-australia/australian-story/ afghan-cameleers [30.09.2013]). 1

Wenngleich es natürlich – oder vielleicht besser: sicherlich – keine unmittelbare Verbindung gibt, so fügt es sich mindestens als überraschende Anekdote, daß die französische Eisenbahngesellschaft SNCF in Kooperation mit der italienischen Trenitalia von 1995 bis 2011 die TGV-Schnellzugverbindungen zwischen Paris und Italien unter dem Namen »Artesia« vermarktet hat.

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Wieder ein wenig später, als Newton, sein Chauffeur und Mary-Lou unterwegs nach Haneyville sind, dem Ort, an dem Newton auf die Erde gekommen ist, muß der Wagen an einem Bahnübergang warten und einem vorbeifahrenden silberfarbenen Personenzug den Weg lassen. Während das Signalhorn des herannahenden Zuges zu hören ist und noch bevor Mary-Lou »Tommy! Tommy look. A train!« ausrufen kann, bekommen wir erstmals Newtons Haus auf seinem Heimatplaneten zu sehen: eine merkwürdig anmutende, keilförmige Konstruktion mit Segeln, die auf einer einzigen Schiene durch die Wüste gleitet. Noch mehrfach wird diese Einschienenbahn (Abb. 3, unten) im Laufe des Films auftauchen.1 Eisenbahnen üben eine nicht zu übersehende Faszination auf Newton aus.2 Und nicht nur auf ihn, sondern auch auf Roeg selbst, der im Gespräch mit Richard Combs festhält: »It’s a marvelously symbolic thing, a train – long carriages, a little community on the rails, parallel lines that seem to get together.«3 Und so verwundert es nicht, daß auch in Roegs nächstem Film, BAD TIMING (1980), Eisenbahnen vorkommen. Mehrfach fährt Alex Linden (Art Garfunkel) mit der Straßenbahn durch Wien. Noch wichtiger erscheint jedoch eine andere Szene: nachdem er das Krankenhaus verlassen hat, in welchem die Ärzte um das Leben Milenas (Theresa Russell) kämpfen, lehnt er sich über die Balustrade des Zollamtsstegs, der über den Wienfluß führt. Während er eine Zigarette raucht, schaut er auf die Zollamtsbrücke, die den Steg unterhalb quert, und auf der eine U-Bahn vorbeifährt. So wie Albert Einstein in seinen populären Erklärungen der speziellen Relativitätstheorie immer wieder auf Züge und Bahndämme zurückgegriffen hat, um seine Theorien und ihre Grundlagen zu veranschaulichen,4 so besorgt sich in INSIGNIFI-

1

Es mag auf der Handlungsebene naheliegen, daß Newton auf der Erde ein besonderes Interesse an Eisenbahnen erkennen läßt, da diese ihn an sein Haus auf seinem Heimatplaneten erinnern, wie Scott Salwolke zu bedenken gibt (vgl. Salwolke 1993, S. 60). Gleichwohl zeigt die massive Häufung von Eisenbahnen in den Filmen Roegs, daß ihnen eine über bloße inhaltliche Anschlüsse hinausgehende, selbstreflexive Bedeutung zukommt.

2

Richard Eder zufolge gehört Newtons Faszination für Eisenbahn zu einem der großen Plot-Rätsel von THE MAN WHO FELL TO EARTH. Und so fragt er (sich): »Why is he intrigued by railroad trains?« (Richard Eder: »›Man Who Fell to Earth‹ Is Beautiful Science Fiction«, in: The New York Times, 29.05.1976, http://movies.nytimes.com/movie/review?res=9A04EFD6123BE334BC4151DFB366838D669EDE [18.11.2007].)

3

Richard Combs: »Relatively Speaking. An Interview with Nicolas Roeg and Terry Johnson«, in: Monthly Film Bulletin 52 (1985), Nr. 612/623, S. 237f. [Combs 1985b]; hier: S. 238.

4

Vgl. z.B. Albert Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. 24. Aufl. Berlin/Heidelberg: Springer 2009 [EA u.d.T.: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie: gemeinverständlich. Braunschweig: Vieweg 1917], passim.

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(1985) die Schauspielerin, die Marilyn Monroe gleicht (Theresa Russell), neben Luftballons, einer Taschenlampe, einer Taschenuhr und einem Spielzeugauto auch eine Spielzeugeisenbahn, um später am Abend dem Professor, der Einstein so ähnlich ist (Michael Emil), mit diesen Utensilien die Relativitätstheorie zu erläutern (Abb. 4). CANCE

Abbildung 4: Utensilien der Relativitätstheorie

INSIGNIFICANCE (Nicolas Roeg, 1985)

Gleich mehrfach finden sich Eisenbahnen in TRACK 29 (1988), und zwar einerseits in Form der großen Modelleisenbahnanlage, die Dr. Henry Henry (Christopher Lloyd) in seinem Haus betreibt (Abb. 5), andererseits in Form von Ausstellungsstücken und Bummelzügen auf dem »Trainorama«-Fest, auf dem Henry eine Ansprache hält. Und als sich Henry in ›Spanking‹-Spielen mit Nurse Stein (Sandra Bernhard) ergeht, kann man auf der Audiospur das ansteigende Schnaufgeräusch einer Dampflokomotive vernehmen, das in die Melodie einer Drehorgel übergeht.1

1

Manuel Koch weist auf die starke sexuelle Konnotation der Eisenbahnen in TRACK 29 hin, wenn er die Lokomotive, die den amerikanischen Frontiergeist verkörpert (vgl. auch Meyer 1985, S. 17), als das »phallische Symbol des aggressiven Expansionswillens, der Amerika letztlich begründet hat«, deutet (Manuel Koch: »Keine Versöhnung. Wie Frauen und Männer sich in Nicolas Roegs Filmen auf tragische Weise verfehlen«, in: Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann [Hg.], Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 [= Film-Konzepte; 3], S. 84-93; hier: S. 92).

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Abbildung 5: Dr. Henrys Modelleisenbahn

TRACK 29 (Nicolas Roeg, 1988)

Wenn schließlich am Ende von THE WITCHES (1990) der von den bösen Hexen in eine Maus verwandelte Junge Luke (Jasen Fisher) auf einer Lego-Einschienenbahn durch die Wohnung fährt, in der er gemeinsam mit seiner Großmutter (Mai Zetterling) lebt, dann erinnert dies nicht nur an das Schienenhaus auf Newtons Heimatplaneten in THE MAN WHO FELL TO EARTH, sondern aufgrund der Stelzen, auf denen beide fahren, auch an die Schwebebahn in François Truffauts Film FAHREN1 HEIT 451 (1966), bei dem Roeg als Kameramann mitgewirkt hat. Neben einem werkinternen wird damit ein werkexterner Bezug impliziert, und schon dieser Bezug macht deutlich, daß Eisenbahnen in Roegs Filmen mehr als eine bloße Requisite, mehr als ein zufälliges Element sind, und weit über eine rein motivische Ebene hinausweisen.2

1

Zu seiner Mitwirkung an François Truffauts Film und die Einflüsse auf sein eigenes Schaffen besonders erhellend ist ein Interview, das Roeg 1984/85 Richard Combs in der Zeitschrift Sight and Sound gegeben hat: »Looking at the Rubber Duck. Nicolas Roeg talks to Richard Combs about working with François Truffaut on ›Fahrenheit 451‹«, in: Sight and Sound 54 (1984/1985), Nr. 1, S. 43f.

2

Die herrausagende Bedeutung von Eisenbahnen in den Filmen Roegs wird darüberhinaus dadurch unterstrichen, daß sie selbst in nicht realisierten Szenen bzw. Filmprojekten vorgesehen waren. So weist Joseph Lanza darauf hin, daß analog zu THE MAN WHO FELL TO

EARTH auch in INSIGNIFICANCE das Motiv des Zuges als ein zeitliches Verbindungs-

element dienen sollte (Lanza 1989, S. 67). Wie Richard Combs ausführt, war an Stelle der Szene in INSIGNIFICANCE, in welcher der Professor zunächst in einem Boot auf einem See segelt und dann mit Ansehen muß, wie es von Nazischergen verwüstet wird, eine

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Über einen etwaigen intertextuellen Verweis zu Truffauts Film – und damit zur Tradition des ambitionierten, eher auf ein kleines, intellektuelles Publikum zugeschnittenen Kunstkinos, hinaus verdeutlicht die massive Präsenz von Zügen in Roegs Werk aber zugleich auch, wie sehr er sich mit seinen Filmen in eine Tradition populärer Genres eingeschrieben hat, in denen, wie oben dargestellt, immer wieder die Eisenbahn als Motor der Handlung auftritt, gleichsam die Bahnen des Genres ebnet, gar zum Signifikat von Genrehaftigkeit wird. In der Tat läßt sich Roeg nur schwer einordnen. Ihrer Form nach, in ihrem Spiel mit komplexen Montagesequenzen und in ihrer Auseinandersetzung mit existentiellen Themen stehen seine Filme eher in einer Tradition des (europäischen) Kunstfilms, und doch bedient sich Roeg zugleich populärer Stoffe, verpackt seine Filme in Gewändern populärer Genres wie dem Kriminalfilm oder der Science-Fiction.1 Auf die Frage nach Genre-Traditionen und die Bedeutung des Genre-Bezugs als Rahmen der Filmerzählung wird noch an späterer Stelle zurückzukommen sein (vgl. II 3) c)). An dieser Stelle erscheint zunächst wichtiger, daß die Präsenz von Zügen, sowohl im allgemeinen als auch ganz besonders im speziellen Fall der Filme Roegs, als eine (wenngleich mehr oder minder implizite) selbstreferentielle Aussage aufzufassen ist.2 Eisenbahnen im Film verweisen stets auf die enge Bezie-

Szene in einem Zugabteil vorgesehen, die dann aber aus produktionstechischen Gründen doch nicht umgesetzt wurde (vgl. Combs 1985b, S. 238). Allerdings findet sich diese Szene noch in der Druckfassung des Drehbuchs, das Eingang gefunden hat in das ›Buch zum Film‹. Die Szene, die im Jahr 1933 spielt und in der der Professor aus dem Abteilfenster hinausblickt, wird wie folgt beschrieben: »Through the window he watches another train shunt past in the opposite direction. It is loaded to the hilt with silent, ashen refugees.« (Neil Norman/Jon Barraclough: Insignificance. The Book. London: Sidgwick and Jackson 1985, S. 93; Herv. i.O.). Darüber hinaus zitiert Lanza aus dem Script zu einem gemeinsamen, aber nicht realisierten Filmprojekt von Roeg und Paul Mayersberg, der die Drehbücher zu THE MAN WHO FELL TO EARTH und EUREKA verantwortete, und das den Titel »Miraclejack« tragen sollte. Dort heißt es: »We continue the movement from trains and planes as well as cars, an exciting journey through the cities of the world…« (Lanza 1989, S. 79; Herv. i.O.) Lanza wertet dies als einen weiteren Beleg für Roegs selbstreferentiellen Zugang zum Geschichtenerzählen (vgl. ebd.). 1

Auf diese ›Zwitterstellung‹ Roegs wurde bereits in der Einleitung verwiesen (vgl. I). Sie wird mit Blick auf einen einerseits starken Genre-Bezug seiner Filme und andererseits der Schwierigkeit, diese klar einem einzigen Genre zuordnen zu können, unter III 1) a) noch ausführlicher dargelegt.

2

Auch Joachim Paech geht davon aus, »daß die Eisenbahn(fahrt) eine viel grundsätzlichere Rolle für die Geschichte des Kinos spielt« als die bloße thematische oder genrehafte Darstellung von Zügen im Film. Er nimmt an, »daß in der Eisenbahn(fahrt) noch vor der

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hung zwischen beiden, die seit der ersten Projektion durch die Brüder Lumière immer wieder aktualisiert wurde. So erläutert etwa Christa Blümlinger: »Mit einem Zug hat die Geschichte des Kinos angehoben, und es ist, als fahre dieser Zug seither immer wieder neu in die Filmgeschichte ein […].«1 Die Filme machen sich damit einer Beziehung bewußt, die über die Tatsache hinausweist, daß einer der ersten Filme überhaupt die Einfahrt eines Zuges darstellt. Die Beziehung zwischen Film und Eisenbahn reicht weiter zurück, ist viel grundsätzlicherer und durchaus auch reziproker Natur. So betont auch Joachim Paech mit Blick auf die kontinuierliche wechselseitige Geschichte beider: »Eisenbahn und Kino bleiben einander eingeschrieben.«2 Schon allein die Anordnung des Films – zumindest in jener Form, die vor dem Aufkommen digitaler Techniken die Produktion und Projektion von Filmen im Kino bestimmt hat – kommt einer Eisenbahnanordnung gleich: mittels zweier Perforationstreifen, je einer auf einer Seite, fährt der Film, gleichsam wie auf Schienen, durch die Apparatur hindurch und vor bzw. hinter der Linse entlang, fängt so, in der Kamera, Bewegung ein, die er dann, im Projektor, wiedergibt. Doch die Affinität von Film und Eisenbahn weist über die technische Anordnung hinaus und basiert auf einer viel grundlegenderen Verwandtschaft. Lynne Kirby faßt sie prägnant zusammen: »As a machine of vision and an instrument for conquering time and space, the train is a mechanical double for the cinema and for the transport of the spectator into fiction, fantasy, and dream.«3 Die Eisenbahn stellt damit eine Vorwegnahme des Kinos dar, sie repräsentiert die Vorgeschichte des Films und ist zugleich sein medialer wie epistemologischer Vorgänger. Dementsprechend sieht Blümlinger in der Eisenbahn auch weniger einen ›Ursprungsmythos‹ des Kinos, als vielmehr »eines der Ursprungsmotive des Kinematographen«,4 und sie führt als Begründung an: »Kaum eine Maschine hat als Wahrnehmungsdispositiv das Kino derart vorweggenommen wie die Eisenbahn.«5

›Geburt‹ des Films ein Stück Geschichte des filmischen Sehens vorweggenommen ist.« (Joachim Paech: »Unbewegt bewegt – das Kino, die Eisenbahn und die Geschichte des filmischen Sehens«, in: Ulfilas Meyer, Kino-Express. Die Eisenbahn in der Welt des Films. 150 Jahre deutsche Eisenbahnen. Jubiläumskatalog Nürnberg 1985. Offizieller Katalog des Eisenbahn-Filmfestivals »Zug der Zeit – Zeit der Züge«. München/Luzern: Bucher 1985, S. 40-49; hier: S. 42.) 1

Christa Blümlinger: »Lumière, der Zug und die Avantgarde«, in: Malte Hagener/Johann N. Schmidt/Michael Wedel (Hg.), Die Spur durch den Spiegel. Der Film in der Kultur der Moderne. Berlin: Bertz 2004, S. 27-41; hier: S. 27.

2

Paech 1984, S. 19.

3

Kirby 1997, S. 2.

4

Blümlinger 2004, S. 27.

5

Ebd., S. 28.

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Freilich, als und kurz nachdem die Brüder Lumière ihre Erfindung der Öffentlichkeit vorgestellt hatten, war der Film zunächst eine Novität. Und es liegt in der Natur einer solchen Novität, daß sich die Filmschaffenden wie das Publikum mit den Eigenschaften und Möglichkeiten des neuen Mediums zunächst vertraut machen mußten.1 Gleichwohl ist es nur die halbe Wahrheit, wenn Martin Loiperdinger konstatiert, daß wir es »im Jahr 1896 mit Zuschauern zu tun [haben], die noch keine Sehgewohnheiten bei der Betrachtung von Filmen ausgebildet haben.«2 Es ist ihm nur bedingt zuzustimmen, daß in den Kindertagen des neuen Mediums die Zuschauer »mit der kontinuierlichen Bewegung fotografischer Projektionsbilder erstmals Seherfahrungen [machen], die für sie überraschend und verwirrend sind.«3 Die allerersten Lumière-Filme wie L’ARRIVÉE D’UN TRAIN À LA CIOTAT oder auch LA SORTIE DE L’USINE LUMIÈRE À LYON (1895) und nicht zuletzt eine ganze Reihe anderer Filme zwischen 1895 und 1905, also in einer Zeit, bevor bzw. in der das Kino langsam narrativ wurde, machen deutlich, daß es zunächst einmal die Aufzeichnung und Wiedergabe von Bewegung waren, die als besondere Leistungen des Films aufgefaßt wurden.4 Bewegung kann somit als eines der medienspezifischen Merkmale des Films festgehaltent werden. Joachim Paech führt dazu aus: »Das filmische Sehen, soweit es das Sehen von Filmen ist, hängt wesentlich mit der Produktion und Rezeption eines Eindrucks von Bewegung während der Projektion eines Filmes im Kino zusammen.«5 Bewegung verbindet den Film mit der Eisenbahn, sie kann als beider »gemeinsame[s] Grundprinzip«6 aufgefaßt werden; sie ist es, die die »homologe (strukturähnliche) Beziehung zwischen Eisenbahn(fahrt) und Kino«7 begründet. Die Wahrnehmung von Bewegung – einer sehr spezifischen Art der Bewegung – war also den frühen Filmzuschauern keinesfalls unbekannt; sie kannten sie von der Eisenbahn. Die Eisenbahn kann daher als eine Vorwegnahme filmischen Sehens aufge-

1

Auf die Besonderheit der frühen Rezeptionsumstände macht auch Yuri Tsivian aufmerksam: »Die Unmöglichkeit, den Eindruck, den die [zeitgenössischen] Beobachter heraufbeschwören, wiederzugeben, ist seiner Neuheit geschuldet, nicht seiner Undurchführbarkeit; eine Neuheit ist definitionsgemäß einmalig.« (Tsiviane 1993, S. 32 [Übers. KS].)

2

Loiperdinger 1996, S. 46.

3

Ebd.

4

In diesem Sinne betont auch Stephen Heath: »[…] mobility is exactly what is possible in film […].« (Stephen Heath: »Narrative Space«, in: Philip Rosen [Hg.], Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader. New York: Columbia Univ. Press 1986, S. 379420; hier: S. 389. Herv. i.O.)

5

Paech 1984, S. 17 (Herv. i.O.).

6

Meyer 1985, S. 6.

7

Paech 1985, S. 42.

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faßt werden, wie auch Lynne Kirby herausstreicht: »As a perceptual paradigm, the railroad established a new, specifically modern mode of perception that the cinema absorbed naturally.«1 Und Paech konstatiert, daß »dem Sehen von Filmen […] filmisches Sehen vorangegangen [ist] in der homologen Bewegungswahrnehmung durch das historisch ältere Dispositiv der Eisenbahn(fahrt).«2 Dieses Wahrnehmungsparadigma, das Kino und Eisenbahn gleichermaßen verbindet, ist auf den ersten Blick geprägt durch eine vermeintliche Passivität der Rezeption. Im Blick aus dem Zugfenster wie auch im Blick auf die Leinwand wird der Reisende bzw. Zuschauer visuell einer Wahrnehmung bewußt, ohne sie (zumindest was die Eisenbahnfahrt anbelangt: im Idealfall) unmittelbar, d.h. am eigenen Körper, zu spüren. Demgemäß faßt Paech zusammen: »Der Zuschauer in seiner eigenen Fortbewegung am Abteilfenster findet sich bewegungslos bewegt – und das gleiche gilt für einen Kinozuschauer, der einen Film sieht.«3 b) Eisenbahnraum und filmisches Sehen Mit dem Siegeszug der Eisenbahn als modernem Transportmittel verändert sich im 19. Jahrhundert die Wahrnehmung von Raum, Zeit und Bewegung radikal. In der Tat kann die »anthropologische Rückwirkung der Eisenbahn auf Raumerlebnis, Zeiterlebnis, Landschaftserlebnis und Gemeinschaftserlebnis der Menschen« kaum überschätzt werden.4 Ausführlich hat diese Veränderung Wolfgang Schivelbusch in seiner Studie zur Geschichte der Eisenbahnreise dargelegt,5 die immer noch als

1

Kirby 1997, S. 6 (Herv. i.O.).

2

Paech 1985, S. 42.

3

Ebd. – Ähnlich argumentiert Silke Rösler-Keilholz, wenn sie betont: »Die wesentliche Strukturähnlichkeit zwischen der Wahrnehmung durch das Zugfenster und dem Blick auf die Leinwand besteht also in der passiven Rezeption.« (Silke Rösler-Keilholz: »L’arrivée d’un train – transdisziplinär. Eisenbahn-, Kino- und Reisedispositive«, in: Arcadia 46 [2011], H. 2, S. 396-405; hier: S. 400.)

4

Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. München: Fink 1982. – Während Mahr sich auf die deutschsprachige Literatur beschränkt, zeigt Remo Cesarini aus einer komparatistischen Perspektive, wie die Eisenbahn zu einer tiefgreifenden Veränderung »in der kollektiven Wahrnehmung und im kollektiven Denken« geführt hat, die ihren Niederschlag in der Literatur der Moderne gefunden habe (vgl. Remo Cesarini: Treni di carta. L’immaginario in ferrovia: l’irruzione del treno nella letteratura moderna. Torino: Bollati Boringhieri 2002, S. 21 [Übers. KS]).

5

Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 2007.

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Standardwerk zu diesem Thema betrachtet werden kann. Gegenüber vorindustriellen Reiseformen, allen voran der Kutschfahrt, die sich bei weiteren Reisen oft über Tage und Wochen zog und nicht zuletzt aufgrund der in der Regel unbefestigten Wege, dem Reisenden jede Bewegung (unangenehm) spüren ließ, brachte die Eisenbahn eine erhebliche Komfortsteigerung mit sich. Wie Schivelbusch darlegt, ist die Eisenbahn als ein unauflösliches Ensemble von Fahrzeug (d.h. Zugmaschine und eventuell Waggons) und befestigter Trasse anzusehen; sie zeichnet sich damit durch einen »doppelten Maschinencharakter« aus: »Erstens stellt die Dampfmaschine (Lokomotive) gleichförmige mechanische Bewegung her. Zweitens wird diese Bewegung räumlich umgesetzt durch das maschinelle Ensemble von Rad und Schiene.«1 Paech weist darauf hin, daß die neuartige ›Laufruhe‹ der Eisenbahnbewegung die Wahrnehmung der Reisenden, die beim Blick aus dem Abteilfenster die Landschaft in nie zuvor gekannter Geschwindigkeit an sich vorbeiziehen sahen, nachhaltig verändert habe, und daß diese Veränderung – die Analogie zum ›train effect‹ drängt sich auf – zunächst als Schock empfunden worden sei: »Die Veränderung, der schockierende Bruch, den die Eisenbahnreise in der zeitgenössischen Wahrnehmung produzierte, war, daß man die Erfahrung der Bewegung nicht mehr ›am eigenen Körper‹ machte, sondern selbst bewegungslos, Bewegung nur noch, oder primär als visuellen Eindruck, als Relation zwischen Gegenständen, die nur noch dem Blick verfügbar sind, wahrgenommen hat.«2

Die Erfahrung des aus dem Fenster schauenden Zugreisenden gleicht damit der vom Film suggerierten Bewegungsillusion; sie zeichnet sich, wie Kirby betont, durch ein grundsätzliches Paradoxon aus, nämlich: »simultaneous motion and stillness.«3 Der Blick aus dem Abteilfenster veränderte den Blick auf die durchreiste Landschaft. Mit der Eisenbahn wurde die Natur ›mechanisiert‹. Michael Freeman etwa gibt zu bedenken, daß »in the eyes of someone living in the 1830s straight lines were relatively rare occurrences in transport undertakings and were still more unusual in nature.«4 Laufruhe und Geschwindigkeit der Eisenbahnfahrt führten zu einer gegenüber vorindustriellen Reiseformen als ›denaturalisiert‹ aufgefaßten Wahrnehmung, die sich zunächst und vor allem im Verlust des Gefühls von Unmittelbarkeit ausdrückte: »Die Wahrnehmung, die durch das maschinelle Ensemble strukturiert

1

Ebd., S. 24.

2

Paech 1984, S. 17.

3

Kirby 1997, S. 2.

4

Michael Freeman: Railways and the Victorian Imagination. New Haven/London: Yale Univ. Press 1999, S. 71.

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wird, erscheint gegenüber der alten Wahrnehmung ärmer, unnatürlicher, auch unfreier […].«1 Wie Schivelbusch anhand literarischer Beschreibungen von Goethe über Heine und Eichendorff bis hin zu Flaubert zeigt, wird das neue Reisen zunächst als ein Verlust der Nähe – und zwar ein Verlust der quasi greifbaren Nähe der durchreisten Natur – empfunden.2 An ihre Stelle tritt eine Wahrnehmung, die Schivelbusch als »den panoramatischen Blick aus dem Abteilfenster« bezeichnet.3 Dieser ›panoramatische Blick‹ erlaubt zwar, im Sinne eines Überblickschauens, zunächst die Erfassung eines vermeintlich Ganzen, er ist aber vorrangig gekennzeichnet durch einen Moment des Transitorischen, der die gesehene durchreiste Landschaft in eine durch »Bewegung konstruierte Szenerie«4 verwandelt, sie dadurch in die Virtualität überführt.5 In diesem Sinne kann die Distanzierung als eine Medialisierung aufgefaßt werden; die durchreiste Landschaft wird nicht mehr unmittelbar erlebt, sondern durch ein Medium hindurch wahrgenommen: »Der panoramatische Blick gehört […] nicht mehr dem gleichen Raum an wie die wahrgenommenen Gegenstände. Er sieht die Gegenstände, Landschaft usw. durch die Apparatur hindurch, mit der er sich durch die Welt bewegt. Diese Apparatur, d.h. die Bewegung, die sie herstellt, geht ein in den Blick, der folglich nur noch mobil sehen kann.«6

1 2

Schivelbusch 2007, S. 28. Vgl. ebd., bes. S. 35-66, passim. – An literarischen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Eisenbahn mangelt es nicht – und zwar von Anbeginn des neuen Transportmittels an. Einen breiten Überblick über ›Eisenbahntexte‹ in der deutschsprachigen Literatur vermittelt die Anthologie von Wolfgang Mintay, die Gedichte und Prosatexte (begleitet von zahlreichen Abbildungen) aus einem Zeitraum von über 150 Jahren umfaßt (Wolfgang Mintay [Hg.]: Die Eisenbahn. Gedichte – Prosa – Bilder. Frankfurt a.M.: Insel 1984).

3

Ebd., S. 59 (Herv. i.O.).

4

Ebd.

5

Eine solche Virtualisierung des Raumes beschreibt auch Wolfgang Kaschuba, wenn er ausführt: »So erscheint das Transitorische nun als zentrale Ambivalenz: Einerseits ermöglichen die neuen Reisegeschwindigkeiten des Zuges und die damit erweiterten Reiseradien erst die Wahrnehmung des Raumes in großen Zusammenhängen und kontinentalen Dimensionen. Anderseits verunmöglicht dieselbe Reisegeschwindigkeit die Erfahrung des Raumes in der alten Weise, nämlich als psycho-physische Speicherung von Körpererfahrungen und Sinneseindrücken entlang einer linearen Raum- und Zeitschiene. Durch die neue Perspektive der Geschwindigkeit wird der Raum beides zugleich: kleiner und größer.« (Wolfgang Kaschuba: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne. Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 94.)

6

Schivelbusch 2007, 61f.

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Die Veränderung der Raumerfahrung ist dabei im wesentlichen der Geschwindigkeit und der Geradlinigkeit der Bewegung geschuldet.1 Schivelbusch führt dazu aus: »Die Geschwindigkeit und mathematische Gradlinigkeit, mit der sie [die Eisenbahn] durch die Landschaft schießt, zerstören das innige Verhältnis zwischen Reisendem und durchreistem Raum. Der Landschaftsraum wird […] zum geographischen Raum.«2 Ganz im Sinne des mathematischen Prinzips, daß die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten eine gerade Linie ist, war die zunächst offensichtlichste Folge der mit der Eisenbahn neu erreichten Geschwindigkeiten, daß – im Vergleich mit vorindustriellen Transportmitteln – »in derselben Zeit […] nun ein Mehrfaches der alten räumlichen Entfernung zurückgelegt werden [konnte]. Verkehrsökonomisch bedeutet dies eine Verkleinerung des Raumes.«3 Peter Borscheid faßt diese Veränderung treffend zusammen: »Die Welt verengt sich, und der Raum wird kleiner, komprimierter. Weite und Ferne verschwinden […].«4 Wie Schivelbusch anhand von Textbeispielen aus dem 19. Jahrhundert darlegt, wurde die »Schrumpfung des

1

In diesem Sinne stellt Marc Baroli nicht nur fest, »daß die Eisenbahn dem Menschen das Gefühl und den Begriff von Geschwindigkeit vermittelte und ihm folglich eine dynamische Weltsicht ermöglichte.« (Marc Baroli: Le train dans la littérature française. 3e éd. rev. et mise à jour. Paris: Éd. N.M. 1969, S. 10 [Übers. KS].) Er unterstreicht gar: »Was die Eisenbahn als größte Neuheit, die zugleich am unmittelbarsten erfahrbar war, mit sich bringt, ist die schnelle Bewegung, die die bis dahin weitestgehend statische Sicht auf die Außenwelt transformiert.« (Ebd., S. 145 [Übers. KS].) – Auch Silke Rösler-Keilholz hebt insbesondere die Linearität der Eisenbahnbewegung als Agens der veränderten Wahrnehmung hervor: »Mit der geraden Linie der Eisenbahnstrecke entsteht ein maschinelles Ensemble, von dem aus der Reisende die Landschaft wahrnimmt. Diese Verschränkung von Technik und Natur generiert eine neue Wahrnehmung.« (Rösler-Keilholz 2011, S. 397.)

2

Schivelbusch 2007, S. 52 (Herv. i.O.). – Ebenso verweist Wolfgang Kaschuba auf die infolge der neu erreichten Geschwindigkeiten veränderte Raumwahrnehmung, die sich in einem gefühlten Verlust von Unmittelbarkeit ausdrückt: »Je komfortabler und je schneller man reise, desto mehr reise man ›durch‹ den Raum nicht mehr ›im‹ Raum.« (Kaschuba 2004, S. 53.)

3

Schivelbusch, S. 35. – Die Aussage Schivelbuschs findet Bestätigung durch die Feststellung Michael Freemans, der mit Blick auf viktorianische Eisenbahnvorstellungen schreibt: »The annihilation of space by time must be among the most familiar concepts associated with railways in nineteenth-century Britain.« (Freeman 1999, S. 78)

4

Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt a.M./New York: Campus 2004, S. 142.

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Raumes« von den Zeitgenossen als eine »Vernichtung von Raum« (und Zeit) empfunden.1 So äußert sich etwa Heinrich Heine 1843 wie folgt: »Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providenzielles Ereigniß, das der Menschheit einen neuen Umschwung giebt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsere Generazion darf sich rühmen, daß sie dabey gewesen. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getödtet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.«2

Heines Aussage kann als prototypisch aufgefaßt werden. Die Folge der ›schwankenden Elementarbegriffe‹3 Raum und Zeit ist ein Gefühl der Orientierungslosigkeit auf Seiten der Reisenden. Entsprechend argumentiert Kirby: »The speed of the train created a temporal and spatial shrinkage and a perceptual disorientation that tore the traveler out of the traditional space-time continuum and thrust him/her into a new world of speed, velocity, and diminishing intervals between geographical points.«4 Diese wahrnehmungsinduzierte Desorientierung verbindet die Eisenbahn nun wieder mit dem Kino; sie befällt den frühen Filmschauenden ebenso wie den Bahnreisenden des 19. Jahrhunderts. In beiden Fällen ist das daraus resultierende Gefühl eines der Verunsicherung. Christa Blümlinger führt dazu aus: »Im Kino vermittelt sich diese Verunsicherung über hohe Geschwindigkeit, die daraus folgende erhöhte Anzahl von Eindrücken, die Desorientierung sowie den permanenten Ortswechsel.«5

1 2

Schivelbusch 2007, S. 35f. Heinrich Heine: »Lutezia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. Zweiter Theil«, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verb. m. d. Heinrich-HeineInstitut hg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 14/1: Lutezia II. Text. Apparat 43.-58. Artikel. Bearb. v. Volkmar Hansen. Hamburg: Hoffmann und Campe 1990, S. 58. – Vgl. auch Mahr 1982, S. 57.

3

Einen ähnlichen Gedanken verfolgt Michael Freeman, wenn er anstelle von ›schwankenden Begriffen‹ von einem neuen Gefühl für die ›Relativität der Orte‹ spricht: »The railway became associated with a new sense of relativism as regards place (i.e. space). The experience of place, or space, was greatly enlarged by the facility that railway travel brought.« (Freeman 1999, S. 21.)

4 5

Kirby 1997, S. 44f. Blümlinger 2004, S. 29. – Schivelbusch verweist darauf, daß das Gefühl der Desorientierung im wesentlichen soziokulturellen Veränderungen geschuldet ist: »Die Verkehrstechnik ist das materielle Substrat der Verfügbarkeit oder Verfügbarmachung, d.h. sie ist

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Die mit der Eisenbahn neu erreichten Geschwindigkeiten führen auch zu einer Akzeleration der Sinneseindrücke, in der der Zwischenraum zwischen zwei Punkten nicht nur an Bedeutung verliert, sondern sich gleichsam aufzulösen scheint: »Die Eisenbahn steht für den Verlust des als lebendige Kontinuität erfahrenen Reiseraums, denn sie dient dazu, einen Zwischenraum zu überwinden und zu durchfahren.«1 Wie Schivelbusch darlegt, ist der Blick des Zugreisenden im 19. Jahrhundert keinesfalls ein kontinuierlicher. In regelmäßigen Abständen treten die entlang der Bahntrassen aufgestellte Masten der Telegraphenleitungen in den Blick des Betrachters und zergliedern ihn phasenartig.2 Somit ist der Telegraph nicht nur die wohl »wichtigste technische Ergänzung der Eisenbahn«, er wird, wie Schivelbusch herausstreicht, »in seiner physischen Erscheinung« gar »zum bedeutendsten Zeichen des Reisens«: »Über ihn vermittelt sich die Außenwelt jenseits des Abteilfensters dem Reisenden. Der Eisenbahnreisende nimmt die am Abteilfenster vorüberfliegenden Telegraphenmaste und ‑drähte wahr. Er sieht nie allein die Landschaft, durch die er fährt, sondern immer auch diese Maste und Drähte, die zur Eisenbahn gehören wie die Schienen. Die Landschaft erscheint hinter den Telegraphenmasten und -drähten, sie wird durch sie hindurch gesehen.«3

Der mittels der Telegraphenmasten phasenhaft unterbrochene Eindruck der Reisenden kommt dabei einer Zergliederung und zugleich Virtualisierung der Wahrnehmung gleich. So führt auch Lorenz Engell aus: »Für den Eisenbahnreisenden gerinnt die durchquerte Landschaft zu einer schnell ablaufenden Kette visueller, bildhafter Einzeleindrücke. Die Landschaft wird zweidimensional.«4 Indem die Eisen-

ebenso sehr das materielle Substrat der Raum-Zeit-Wahrnehmung im Reisen. Wird ein wesentliches Element eines bestimmten soziokulturellen Raum-Zeit-Gefüges verändert, so hat das Auswirkungen auf das gesamte Gefüge. Das Raum-Zeit-Bewußtsein verliert die gewohnte Orientation.« (Schivelbusch 2007, S. 38.) – Auch Lynne Kirby streicht die veränderten soziokulturellen Voraussetzungen hervor und sieht hier eine Parallele zwischen Eisenbahn und Kino: »In a literal sense, both the railroad and the cinema wiped out preexisting ideas and experiences of time and space and substituted their own as new sociocultural norms.« (Kirby 1997, S. 48.) 1 2

Blümlinger 2004, S. 27. Im Grunde gilt dies für viele Bahnstrecken auch noch heute, nur daß an die Stelle der Telegraphenmasten die Masten für die stromführenden Oberleitungen getreten sind.

3 4

Schivelbusch 2007, S. 34. Lorenz Engell: Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte. Frankfurt a.M./New York: Campus; Paris: Éd. de la Maison des Sciences de l’Homme 1992 (= Edition Pandora; 7), S. 20f. – Die Zergliederung des gesehenen Raumes muß man dabei

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bahnreise dem aus dem Abteilfenster Schauenden phasenhaft zergliederte Einzeleindrücke liefert, die aufgrund der gleichförmigen, schnellen Bewegung in einen kontinuierlichen Fluß überführt werden, stellt die Eisenbahn eine ›Bildmaschine‹ dar, die eine homologe Struktur zum Kinematographen aufweist. Auch Blümlinger gibt zu bedenken, daß der Zug ebenso wie das Kino »als Blick anordnende Maschine und Erzeuger von Linearität und Bewegung« dient, und führt weiter aus: »Es gibt also eine apparative Verwandtschaft zwischen Kino und Eisenbahn, oder vielmehr den Maschinen, die beiden eingeschrieben sind: Lokomotive, Waggon und Projektor.«1 Die sich für den ›unbewegt bewegten‹ Bahnreisenden beim Blick aus dem Abteilfenster entfaltende Szenerie kann in gewisser Weise als eine Vorwegnahme filmischer Bewegungsdarstellung aufgefaßt werden.2 Die Eisenbahn stellt damit – neben Photographie und bestimmten literarischen Erzählstrategien, auf die unter II 3) b) noch einzugehen sein wird – ein ›pré-cinéma‹ dar. Freilich geht der Begriff pré-cinéma (bzw. das englische Äquivalent pre-cinema), der sich, ausgehend von Jean Mitry,3 in der Debatte um die Vorgeschichte des Films etabliert hat, über rein 4 technische Entwicklungen und Einflüsse des Films hinaus. Und doch impliziert er natürlich stets und zunächst auch eine technische Vorgeschichte des Films. Das Panorama der Eisenbahnfahrt stellt insofern ein pré-cinéma dar, als auch die ver-

ebenfalls als eine Erfahrung auffassen, die zum Topos der ›Zerstörung des Raumes‹ beigetragen hat, die aber auch, mit Michael Freeman gesprochen, als eine ›Differenzierung des Raumes‹ aufgefaßt werden kann: »Although railways acted toward the annihilation of space, they simultaneously differentiated it.« (Freeman 1999, S. 23.) 1 2

Blümlinger 2004, S. 27. Lynne Kirby plädiert ebenfalls dafür, die Eisenbahn als technische Vorwegnahme des Kinos zu betrachten: »The railroad should be seen as an important protocinematic phenomenon […].« (Kirby 1997, S. 2; Herv. i.O.)

3

Vgl. Joachim Paech: »›Filmisches Schreiben‹ im Poetischen Realismus«, in: Harro Segeberg (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. München: Fink 1996 (= Mediengeschichte des Films; 1), S. 237-260; hier: S. 237.

4

Zum Begriff und Konzept des ›pré-cinéma‹ vgl. Laurent Mannoni: »Archaeology of Cinema/Pre-Cinema«, in: Richard Abel (Hg.), Encyclopedia of Early Cinema. London/New York: Routledge 2005, S. 32-35; hier: S. 34. – Weitgehend synonym gebraucht werden die Begriffe ›proto-cinema‹ und ›archeo-cinema‹ (vgl. ebd.). Den Bedeutungsumfang des Konzepts ›pré-cinéma‹ faßt Mannoni wie folgt zusammen: »Theoretically, pre-cinema refers to the period running from the earliest instances of writing in movement down to 1895, when moving picture screenings began in Europe and the United States.« (Ebd., S. 34.)

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meintlich kontinuierliche Bewegungsdarstellung des Films auf einer phasenweisen Zergliederung eines vorfilmischen Vorgangs in Einzelmomente beruht. Was sich zunächst paradox anhören mag, ist der technischen Grundlagen des Films geschuldet. Aufnahmetechnisch und seiner materiellen Grundlage nach (zumindest für die ersten etwa 100 Jahre der Filmgeschichte) beruht der Film zunächst auf photographischen Verfahren; er setzt sich aus photographischen Einzelbildern zusammen. Volker Pantenburg bringt es auf den Punkt: »Film ist, vor jeder inhaltlichen Bestimmung des Mediums und auf seine technischen Bedingungen reduziert, nichts anderes als eine Aneinanderreihung von physikalisch und chemisch erzeugten Einzelbildern – von Fotografien, die in Reihe geschaltet und in Fluss gebracht werden.«1 Die Photographie, insbesondere die Serienphotographie, stellt mit Blick auf die materiellen und technischen Grundlagen des Films also ein wesentliches précinéma dar. Mit der Serienphotographie, wie sie von Eadweard Muybridge ab 1872 entwickelt wurde, wird eine kontinuierliche Bewegung in diskontinuierliche Sequenzen übertragen und in Einzelbilder zergliedert.2 Die Serienphotographie läßt sich also als eine Bildanalyse auffassen, der gegenüber die Kinematographie bzw. der Film als Bildsynthese erscheint. Zugleich ist sie die Voraussetzung für die Aufnahme eines zu projizierenden Films, stellt die Projektion doch nichts anderes als die Umkehrung der Aufnahme dar. Daß in der Projektion die in Serie gestellten, fixierten Momentaufnahmen wieder in einen scheinbaren Bewegungsfluß überführt werden, ist zunächst ein Illusionseffekt, der wesentlich der Physiologie des (menschlichen) Auges geschuldet ist. Der Bewegungseindruck ist die Folge eines Nachbildeffekts, der sich als eine Trägheit des Auges angesichts einer schnell hintereinander folgenden Projektion von Einzelbildern (im Kino seit der Einführung des Tonfilms auf 24 Bilder pro Sekunde standardisiert3) erweist: Während das neue Einzelbild längst eingeblendet ist, befindet sich die Netzhaut noch in einem Reizzustand, der vom vorhergehenden Bild verursacht wurde. Für den Bruchteil einer Se-

1

Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard. Bielefeld: transcript 2006, S. 189.

2

Für eine konzise Darstellung der Voraussetzungen und Charakteristika der Serienphotographie Muybridges unter dem Gesichtspunkt einer »Photographie des Unsichtbaren« vgl. bspw. Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München: Fink 2001, S. 99-110. – Eine breite Übersicht serienphotographischer Aufnahmen Muybridges bietet Hans Christian Adam (Hg.): Eadweard Muybridge. The Human and Animal Locomotion Photographs. Köln: Taschen 2010.

3

Vgl. hierzu den Eintrag »Bildfrequenz« in James Monaco: Film und Neue Medien. Lexikon der Fachbegriffe. 3. Aufl. Übers. v. Hans-Michael Bock. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2006 [Monaco 2006a], S. 24.

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kunde verweilt das schon vergangene Bild auf der Retina. Aus der Synthese von Nachbild und neuem Bild entsteht die Illusion eines zusammenhängenden Bewegungsablaufes. »Das unwillkürliche physiologische Gedächtnis der Retina gestattet die technische Reproduktion von Bewegungsabläufen.«1 Damit diese physiologische Illusionswirkung gelingt, muß das Einzelbild in der Projektion indes für den Bruchteil einer Sekunde zum Stillstand kommen und unbewegt verweilen. Der intermittierende Filmtransport durch den Projektor, ergänzt von der Unterbrechung des projizierenden Lichtstrahls mittels Umlaufblende beim Filmtransport, mag dabei verglichen werden mit der Phaseneinteilung des Bildverlaufs während der Zugfahrt mittels der die Bahntrasse flankierenden Telegraphenmasten. Die Eisenbahn als Ensemble erscheint damit in der Tat wie eine Vorwegnahme der technischen Apparatur der Filmprojektion. Neben der phasenweisen Zergliederung der Wahrnehmung aus dem Abteilfenster zeichnet sich das Erlebnis der Eisenbahnfahrt, wie dargelegt, zudem durch eine empfundene Kontraktion des Raumes, oder besser gesagt: von auseinanderliegenden Räumen bzw. Orten, aus: »Indem der Raum zwischen den Zielorten, der traditionelle Reiseraum, vernichtet wird, rücken diese unmittelbar aneinander, sie prallen geradezu aufeinander. Sie verlieren ihr altes Hier und Jetzt. Dieses war bestimmt von den Zwischen-Räumen.«2 Tatsächlich kann man diese Zusammenziehung der Räume während der Eisenbahnfahrt als eine (proto-)kinematographische Konstellation auffassen. Auch Schivelbusch vergleicht sie mit der Erfahrung des Kinozuschauers und führt aus: »In der filmischen Wahrnehmung – d.h. in der Wahrnehmung montierter Einstellungen verschiedenster Bilder als Einheit – findet die neue Wirklichkeit der vernichteten Zwischenräume wohl ihren deutlichsten Ausdruck. Die Filmmontage bringt die Dinge sowohl dem Zuschauer wie einander näher.«3

Allerdings scheint der relevante Punkt hier zunächst ein anderer zu sein (Schivelbusch macht, indem er auf die Montage verweist, gleichsam den zweiten Schritt vor dem ersten): Auch für den Film ist ein Zwischen-Raum grundlegend, der als solcher aber eben nicht wahrgenommen wird. Dafür sorgen der bereits genannte intermittierende Filmtransport sowie die Umlaufblendenunterbrechung. Und doch existiert er, dieser Zwischenraum zwischen den Bildkadern – zumindest auf dem Filmstreifen. Und wenngleich er in der Filmprojektion nicht wahrgenommen, d.h. nicht gesehen wird, so spielt er doch für die Darstellung eines kontinuierlichen Bewegungsflußes

1

Stiegler 2001, S. 104.

2

Schivelbusch 2007, S. 39.

3

Ebd., S. 43, Anm. (Herv. i.O.).

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im Film eine kaum zu unterschätzende Rolle. Wie Gilles Deleuze im ersten Band seiner einflußreichen Kino-Bücher darlegt, arbeitet der Film »mit unbeweglichen Schnitten«1, aus denen die Bewegung rekonstruiert wird.2 Wenn die einzelnen Bilder unbeweglich sind, so kann die Bewegung eigentlich nur zwischen den Bildern, d.h. im dunklen Zwischenraum der Kader liegen. Film stellt damit strenggenommen keine kontinuierliche Bewegung dar. Er ist vielmehr stets ein »Durchschnittsbild«3 bzw., anders ausgedrückt, ein »Beziehungsbild«.4 Abbildung 6: Kuß im Tunnel I – Bewegung zwischen den Bildern

WHAT HAPPENED IN THE TUNNEL (Edwin S. Porter, 1903)

Man kann diese Eigenschaft des Films in gewisser Weise in einer Reihe von Filmen verkörpert sehen, die sich in den ersten Jahren der Kinogeschichte großer Beliebtheit erfreuten. Diese Filme laufen stets nach dem mehr oder weniger gleichen Muster ab: In einem Zugabteil sitzt eine Anzahl von Leuten, darunter in der Regel ein Pärchen. Sobald der Zug in einen Tunnel einfährt, küßt der Mann die Frau (oder versucht es zumindest). In Edwin S. Porters Version dieses Filmtypus, WHAT HAPPENED IN THE TUNNEL aus dem Jahr 1903, nimmt das Gesehen allerdings eine unerwartete Wendung: Während einer Zugfahrt macht ein Mann einer jungen Dame Avancen und will sie küssen. Dann fährt der Zug in einen Tunnel, das Bild ist dunkel. Sobald der Zug den Tunnel verläßt und das Bild wieder zu sehen ist, sieht man, wie der verwunderte Mann die falsche Person küßt, nämlich die schwarze Haushälterin der jungen Dame (vgl. Abb. 6). Was Porters Version des ›Kuß-im-Tunnel‹Filmtypus verdeutlicht (abgesehen davon, daß sich hier der Kreis schließt, der die enge Beziehung zwischen Kino und Eisenbahn bezeugt), ist nicht weniger als die

1

Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997 [Deleuze 1997a], S. 14.

2

Auch Volker Pantenburg, weist darauf hin, daß der Film »somit die Abbildung einer paradoxen Bewegungsform vor[führt], die aus der bloßen Addition gefrorener Momente besteht.« (Pantenburg 2006, S. 189.)

3

Deleuze 1997a, S. 14.

4

Pantenburg 2006, S. 189.

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Tatsache, daß sich die dargestellte Bewegung als das ›Eigentliche‹ des Films im Dunkel zwischen den Bildern vollzieht.1 Ein Film gibt uns eben »kein Photogramm, sondern ein Durchschnittsbild, dem dann nicht etwa noch Bewegung hinzugefügt oder hinzugezählt würde – Bewegung ist im Gegenteil im Durchschnittsbild unmittelbar gegeben.«2 Aus dieser Eigenschaft des Films resultiert Gilles Deleuze zufolge, daß der Film »uns unmittelbar ein Bewegungsbild« gibt.3 Zugleich wird dadurch die Grundlage für die strukturellen und narrativen Möglichkeiten des Films gelegt, die im wesentlichen durch Montage bestimmt sind: »Erst diese Eigenschaft als Beziehungsbild erlaubt zwischen klar voneinander abgehobenen Einzelaufnahmen Schnitte und ermöglicht damit die Montage unterschiedlicher Bilder und Filmstreifen.«4 Vermittels der Montage wiederum wird der Film von einem Bewegungs- zu einem Zeitbild erweitert; sie ist eine wesentliche Grundlage für den Zeitcharakter des Films.5 Indes, der ›Faktor Zeit‹ nimmt auch im Kontext der Eisenbahn eine entscheidende Rolle ein, dessen Auswirkungen sich auch im Film bemerkbar machen, gar zu einer unabdingbaren Grundlage für ein dominantes Konzept von Montage werden. Statt den ›Faden der Montage‹ hier weiterzuverfolgen (es wird an späterer Stelle unter II 2) c) auf ihn zurückzukommen sein), scheint es daher angebracht, den Blick zunächst wieder auf die Eisenbahn und auf das Zeitkonzept, das sie mit sich brachte, zu richten.

1

Auch Mary Ann Doane streicht die Bedeutung der Kaderzwischenräume, die nicht wahrgenommen werden, heraus, wenn sie diese als den Ort der primären Artikulation filmischer Zeit (die freilich wiederum in enger Verbindung zur Bewegung steht) betrachtet: »The primary viable articulation of time takes place off-screen, between the frames, in darkness. It is in the intervals, invisible aspects, blind spots, the gaps, that time becomes accessible to manipulation, narrativization, and ultimately commodification.« (Mary Ann Doane: The Emergence of Cinematic Time. Modernity, Contingency, the Archive. Cambridge, MA/London: Harvard Univ. Press 2002, S. 190)

2

Deleuze 1997a, S. 14.

3

Ebd., S. 15.

4

Pantenburg 2006, S. 190.

5

Vgl. Deleuze 1997a, S. 16. – Vgl auch: Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997 [Deleuze 1997b], S. 53.

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c) Die Eisenbahn als ›Motor‹ der Standardisierung der Zeit In der homologen Raumkonzeption von Eisenbahn und Kino wird die enge Filiation beider Dispositive deutlich. Diese Analogie ist zugleich von entscheidender Bedeutung, um den ideengeschichtlichen Horizont des Mediums Film abzustecken, denn, so Lorenz Engell: »Die Kinematographie, auch wenn sie erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts entsteht, ist in erheblichem Umfang von den Grundzügen geprägt, die kennzeichnend sind für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. In seiner Substanz bleibt das Kino bis heute seinen Entstehungsbedingungen, also den sozial-, technischen- und geistesgeschichtlichen Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts verpflichtet […]. Das Kino verlängert das 19. Jahrhundert in das zwanzigste hinein.«1

Während die Eisenbahn ihren Siegeszug im Verlauf des 19. Jahrhunderts antrat, ist das Kino erst in dessen letzten Jahrzehnt ›geboren‹ worden. Technik- wie auch ideengeschichtlich führt indes das Kino das 19. Jahrhundert weiter fort bis in die heutige Zeit; es ist einer der Orte, an denen sich Jürgen Osterhammels These, daß »das 19. Jahrhundert die Vorgeschichte der Gegenwart« sei,2 anschaulich manifestiert. Neben dem veränderten Raumkonzept wird dies insbesondere mit Blick auf die sich in Folge der Eisenbahn wandelnden Zeitvorstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich, die schließlich auch für das Kino und seine Erzählstrukturen grundlegend werden sollten. Um es mit Peter Borscheid auf den Punkt zu bringen: »Die Eisenbahn wird in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum großen Vermittler des neuen Zeitverständnisses.«3 Der bereits erwähnte Topos der ›Vernichtung des Raumes‹ geht einher mit jenem von der ›Vernichtung der Zeit‹ (eine »annihilation of time and space«, wie Schivelbusch anführt4): »Als vernichtet erlebt wird das überlieferte Raum-ZeitKontinuum.«5 Genaugenommen bedeutet dies allerdings mehr eine Verwandlung als eine Vernichtung der Zeit; die Zeit bleibt übrig, wie schon Heine konstatierte. Und doch ist es nicht mehr dieselbe Zeit wie zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts

1 2

Engell 1992, S. 15. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: C.H. Beck 2011, S. 87.

3

Borscheid 2004, S. 128. – In diesem Sinne betont auch Wolfgang Kaschuba, daß die Eisenbahn als »die tatsächliche Verkörperung der ›neuen Zeit‹« erscheint (Kaschuba 2004, S. 79).

4

Schivelbusch 2007, S. 16.

5

Ebd., S. 37.

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oder gar in der vorindustriellen Ära. Mehr noch als eine Homogenisierung des Raumes, wie sie Freeman als Folge der Ausbreitung der Eisenbahn betrachtet,1 brachte diese eine Vereinheitlichung der Zeit mit sich, die die bis dahin geltenden Zeiterfahrungen der Menschen vollständig transformierte. Nachdrücklich unterstreicht Jürgen Osterhammel in seiner großangelegten »Geschichte des 19. Jahrhunderts« (so der Untertitel seines Buches Die Verwandlung der Welt) die Relevanz dieser tiefgreifenden Veränderung, wenn er ausführt: »Keine andere Epoche sah eine ähnliche Vereinheitlichung der Zeitmessung. Am Anfang des Jahrhunderts gab es Myriaden unterschiedlicher Zeiten, lokaler und milieugebundener Zeitkulturen. An seinem Ende hatte sich über solche verminderte, aber nicht verschwundene Vielfalt die Ordnung einer Weltzeit gelegt.«2

Doch mehr noch: Die Eisenbahn wird im 19. Jahrhundert nicht nur »zur Lokomotive, die den Zug der Zeit auf ein einheitliches Gleis zieht«.3 Mit der neuen Transporttechnik breitete sich überhaupt erst ein verschärftes Zeitbewußtsein aus. »The railroad provided the paradigm of a radically new time consciousness, for it is the railroads that gave rise to, indeed mandated, standard time the world over.«4 Wie Peter Galison, der die Veränderung der Zeitvorstellungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wissenschaftsgeschichtlich aufgearbeitet hat, darlegt, manifestierte sich das verschärfte Zeitbewußtsein am offensichtlichsten im Bestreben von Wissenschaftlern und Ingenieuren, eine immer präzisere Messung und Angabe der Zeit – und das bedeutet: der Uhrzeit – vorzunehmen: »Bis zum 19. Jahrhundert hatten die Uhren in der Regel noch nicht einmal Minutenzeiger gehabt, doch jetzt [i.e. zu Beginn der 1880er Jahre] konnte eine Abweichung von fünfzehn Sekunden die Ingenieure zu Manipulationen an öffentlichen Uhren veranlassen.«5 Die Eisenbahn trug dabei wesentlichen Anteil daran, überhaupt erst »eine Zeitempfindlichkeit zu schaffen«.6 Fahrpläne, Abfahrts- und Ankunftszeiten mußten eingehalten werden. Ungenauigkeiten konnten fatale Folgen haben: Die panische Angst vor dem Eisenbahnunfall, wie er sich durchaus immer wieder ereignete, vermag beigetragen zu haben zur womöglich ängstlichen Reaktion der Zuschauer auf die Projektion von

1

Freeman 1999, S. 78.

2

Osterhammel 2011, S. 119.

3

Borscheid 2004, S. 128.

4

Kirby 1997, S. 50.

5

Peter Galison: Einsteins Karten, Poincarés Uhren. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit. Übers. v. Hans Günter Holl. Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 93.

6

Ebd., S. 108.

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Eisenbahnen im frühen Film.1 Wie Galison darlegt, waren es vor allem Kollisionen von Eisenbahnen, die zur Erkenntnis leiteten, daß ein geregelter, überregionaler Eisenbahnverkehr einer Standardisierung der Zeit bedurfte.2 Auch Osterhammel verweist darauf, daß »die Sachlogik der Eisenbahn« eine »Koordination« der Zeit erzwang.3 Diese Koordination artikulierte sich als Homogenisierung und Standardisierung der Zeitmessung. Es dürfte unmittelbar einleuchtend sein, daß ein überregionaler Eisenbahnfahrplan eine einheitliche Zeit in allen Regionen erforderte. Auf diesen Umstand macht auch Schivelbusch in seiner Eisenbahn-Studie aufmerksam: »Ein geregelter Verkehr erfordert eine Vereinheitlichung der Zeit, ganz analog wie die technische Einheit von Schiene und Wagen den Individualverkehr desavouierte und das Transportmonopol erzwang.«4 Doch nicht nur die ländlichen Regionen verloren mit der Ausbreitung der Eisenbahn ihre jeweils individuelle Zeit. Hatte zu Beginn des Eisenbahnzeitalters nicht nur jeder Ort, sondern auch noch nahezu jede Eisenbahngesellschaft selbst innerhalb eines Landes seine bzw. ihre eigene ›Lokalzeit‹, so waren es letztere, die am nachdrücklichsten die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung von Zeitmessung und Zeiteinteilung erkannten und dabei, noch vor Wissenschaft und staatlicher Administration, eine Vorreiterrolle einnahmen.5 Die Eisenbahn wurde damit zu dem Motor der Zeittransformation schlechthin.6 So kann auch Osterhammel festhalten: »Um 1800 findet man in keinem Land der Welt eine Synchronisation von Zeitsignalen über die Grenzen einer Stadt hinaus. […] Um 1890 war die Zeitmessung nicht nur in den technisch fortgeschrittenen Industriestaaten intern koordiniert.«7 Diese Koordinierung war das augenscheinliche Ergebnis »eines gleichförmigen Zeitregiments«, deren »Emblem« die Uhr,8 insbesondere wohl die Bahnhofsuhr,

1

Zur Angst vor Eisenbahnunfällen und dem Schock-Erlebnis als Teil des ›train effect‹ vgl. z.B. Meyer 1985, S. 32 und Kirby 1997, S. 7.

2

Vgl. Galison 2006, S. 105.

3

Osterhammel 2011, S. 119.

4

Schivelbusch 2007, S. 43.

5

Vgl. Galison 2006, S. 99.

6

Dabei stellt einmal mehr der Telegraph den untrennbaren Begleiter der Eisenbahn dar – in diesem Fall, da er zu einer wichtigen technischen Grundlage der Zeitsynchronisation an weit auseinandergelegenen Orten wurde. Das Problem der transatlantischen Zeitsynchronisation und die Rolle, die dabei die Übertragung von Zeitsignalen mittels Telegraphenkabel spielte, wird vom Peter Galison ausführlich dargestellt und muß an dieser Stelle nicht eigens rekapituliert werden. – Vgl. ebd., S. 128-145.

7

Osterhammel 2011, S. 119.

8

Ebd., S. 124.

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| 53

war; mit der Eisenbahn vollzog sich der Siegeszug der normierten ›clock time‹. Uhren indes werden uns noch wiederbegegnen, und zwar nicht nur immer wieder in Roegs Filmen (am offensichtlichsten in INSIGNIFICANCE), sondern auch bei Einstein und seiner Entwicklung der Speziellen Relativitätstheorie (vgl. III 3) c)). Ohne zuviel vorwegzunehmen: So wie für Einsteins Theorie die Frage der Gleichzeitigkeit räumlich auseinander liegender Ereignisse von entschiedener Rolle ist, erwies sich auch die Einführung einer standardisierten ›Eisenbahnzeit‹ letztlich als ein Simultaneitätsproblem. Auch Kirby kommt auf diesen Aspekt zu sprechen: »Clearly, the turn to national and then international standards of time involved a turn to ›simultaneous‹ thinking: one’s own time was now to be thought of in relation to concurrent times in faraway places.«1 Um zunächst eine lokale und dann schließlich gar eine überregional einheitliche ›Standardzeit‹ zu schaffen, mußten die Uhren an verschiedenen Orten miteinander synchronisiert werden, d.h., es mußte eine ortsabhängige Gleichzeitigkeit geschaffen werden, die von einer Referenzzeit – und damit von einem Referenzort – abgeleitet und abhängig war. Galison legt ausführlich dar, wie sehr die Einführung einer einheitlichen und verbindlichen Zeit das Ergebnis langwieriger Verhandlungen war, sich nur schrittweise durchsetzen und nur auf dem Wege von Konventionen erreicht werden konnte – wobei die Einführung des metrischen Systems 1875 als großes Vorbild galt.2 »Die jeweilige Zeit war also eine Konvention, eine Übereinkunft wie jede andere, die je nach Zustimmung für Städte, Bahnlinien, Zonen, Länder oder die ganze Erde gelten würde. Diese Willkür der kollektiven Sprache einzuschreiben, erschien als ein ebenso großer Wandel wie der Erwerb eines regelhaften Zeitbewusstseins.«3

Grundlage für die Standardisierung und Normierung der Zeit war damit letztlich die Anerkennung der »Konventionalität der Uhrzeit«.4 Galison kann sich dabei auf Henri Poincaré berufen, der in seinem 1898 unter dem Titel »La mesure du temps« in der Revue de Métaphysique et de Morale veröffentlichtem Aufsatz herausstrich, daß Zeit – verstanden als Gleichzeitigkeit – »lediglich eine Konvention, eine Übereinkunft zwischen Menschen, ein Vertrag [sei], den man geschlossen hatte, nicht weil er unbedingt der Wahrheit entsprach, sondern weil er unseren menschlichen Bedürfnissen am besten entsprach.«5 Die infolge der Eisenbahn veränderte Zeitauf-

1

Kirby 1997, S. 53.

2

Vgl. Galison 2006, S. 97.

3

Ebd., S. 124.

4

Ebd., S. 125.

5

Ebd., S. 29.

54 | KINO DER UNORDNUNG

fassung mißt der Zeit eben nicht mehr den »Status eine absoluten Wahrheit« zu, wie dies etwa noch bei Issac Newton der Fall ist (und der Gegenstand des nächsten Unterkapitels sein wird), sondern faßt sie als Konvention auf.1 Konventionalität und Homogenisierung bzw. Standardisierung der Zeit sind auch für das Kino relevant; ebenso wie die Eisenbahn basiert der Film »auf der Institutionalisierung einer standardisierten Zeit.«2 Am offensichtlichsten tritt diese Standardisierung zunächst auf der technischen Ebene des Films zutage: Als Standard für die Projektionsgeschwindigkeit im Kino hat sich, wie bereits erwähnt, eine Rate von 24 Bildern pro Sekunde durchgesetzt.3 Doch auch über die technischen Aspekte einer Zeitstandardisierung bei der Aufnahme und insbesondere Projektion von Filmen hinaus, weisen diese eine in vielerlei Hinsicht homologe Zeitkonzeption mit jener der Eisenbahn auf. Oder, wie es Lynne Kirby ausdrückt: »Though characterized by its own unique articulation of temporality, the cinema owes much of its temporal sense to this train-infected consciousness.«4 Wie sich im folgenden noch ausführlich zeigen wird, erweist sich Zeit – im Zusammenspiel mit Raum – als ein tragendes Gerüst für das Medium Film und seine narrativen Möglichkeiten und Regeln. Die Verbindungen zur Eisenbahnzeit und zum Eisenbahn-Raum reichen dabei über die Tatsache hinaus, daß etwa für einen Regisseur wie Orson Welles der Film so viele faszinierende Möglichkeiten versprach, daß dies ihn in dieselbe Aufregung zu versetzen mochte wie einen Jungen angesichts einer Spielzeugeisenbahn.5 Vielmehr gilt es die Spur weiterzuverfolgen, daß sich Film im Sinne von Roegs als

1 2

Vgl. ebd., S. 32. Blümlinger 2004, S. 28. – Eine Filiation von standardisierter Eisenbahnzeit und der Zeit im Kino nimmt auch Mary Ann Doane an, die eine von Eisenbahn und Telegraphie ausgehende Rationalisierung der Zeit im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert anführt: »Time becomes uniform, homogeneous, irreversible, and divisible into verifiable units.« (Doane 2002, S. 6.) Diese Rationalisierung führe zugleich zu einer Externalisierung der Zeit, zu deren Signum die Taschenuhr geworden sei (ebd., S. 7).

3

Für die Fernsehdarstellung haben sich andere Standards etabliert: 25 Bilder pro Sekunde in Europa (resultierend aus der Frequenz des Wechselstroms von 50 Hertz) bzw. 30 Bilder pro Sekunde in den USA und Japan (bei 60 Hertz Wechselstrom; vgl. Monaco 2006a, S. 24).

4

Kirby 1997, S. 53.

5

Vgl. den als Motto zu diesem Kapitel getätigten Ausruf Orson Welles’, mit dem er in der Vorbereitungsphase seines nicht realisierten Projekts einer Adaption von Joseph Conrads Heart of Darkness die RKO-Studios und die Möglichkeiten, die sie ihm als Filmemacher boten, beschrieb (vgl. Barbara Leaming: Orson Welles. A Biography. New York: Limelight 1995, S. 174).

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Motto zu diesem Kapitel zitierter Aussage als eine wahre ›Zeit-Maschine‹ erweist:1 Die Eisenbahn als ›Zeit-Maschine‹ freilich ist selbst als Bild in die Filmgeschichte eingegangen, und zwar am Ende des dritten und abschließenden Teils der BACK TO THE FUTURE-Trilogie (Robert Zemeckis, 1990), wenn der Wissenschaftler Dr. Emmett Brown (Christopher Lloyd) samt seiner Familie aus seiner neuen Zeitmaschine heraustritt – dieses Mal nicht in Form eines modifizierten Autos, sondern einer umgewandelten Dampflokomotive. Der Erfolg dieser Trilogie, die wohl als typischer Vertreter des Hollywood-Kinos der 1980er Jahre aufgefaßt werden kann, führt einmal mehr vor, inwiefern die Verbindung von Film, Eisenbahn und Zeitreise bzw. Zeit-Manipulation einer populären Auffassung entspricht. Doch zurück zum Eigentlichen: Film erlaubt das Spiel mit Zeit, manipuliert Zeit, produziert Zeit – aber bedarf ihrer auch. Diese Zeit kommt zum Film über den Weg der Eisenbahn; hier erfüllt sich, was Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften von der Zeit sagt, nämlich: »Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich her rollt. Der Fluß der Zeit ist ein Fluß, der seine Ufer mitführt.«2

2) AUFS G LEIS GEBRACHT : D IE E ISENBAHN ALS V ORAUSSETZUNG REALISTISCHEN E RZÄHLENS ›Zug‹ und ›Fluß‹ der Zeit stellen bestimmende Größen für die Zeitkonzeptionen des Films dar; und mit ihnen bahnt sich ein realistisches Erzähldispositiv den Weg, das mindestens so sehr auf Konventionen beruht, wie die standardisierte Eisenbahnzeit. Es ist wohl genau dieser Umstand, den auch Ulfilas Meyer im Sinn hat, wenn er feststellt: »Der industriellen Normierung von Zeit und Raum entsprach die zunehmende Konfektionierung in der Filmkunst.«3 Diese für die Eisenbahn wie für den Film relevante Normierung und Standardisierung ist wiederum nur vor dem Hintergrund einer Raum-, Zeit- und Wirklichkeitsvorstellung zu erfassen, die auf die Physik Issac Newtons zurückweist, und als deren Vollendung, und zum Teil bereits Überwindung, sie erscheint.

1

»I suppose I’ve always been interested in the idea of the time machine«, erklärt Roeg anläßlich seines Films THE MAN WHO FELL TO EARTH und ergänzt: »The closest to the time machine we have is the movies.« (Mel Gussow: »Roeg: The Man Behind ›The Man Who Fell to Earth‹«, in: The New York Times, 22.08.1976, S. 11.)

2

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Band 1. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1990, S. 445.

3

Meyer 1985, S. 26.

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a) Die Vollendung der Newtonschen Raum- und Zeitkonzeption Die Eisenbahn und das sich in ihrer Folge etablierende Raum- und Zeitregime, das noch bis in das Kino und seine narrativen Grundlagen hineinwirkt, kann im wesentlichen als die konsequente Umsetzung eines mechanistisch-szientifischen Weltbildes erachtet werden. Aus mechanistischer Sicht stellen dabei ›Eisenbahnraum‹ und ›Eisenbahnzeit‹ gleichsam die Vollendung einer physikalischen Konzeption von Raum und Zeit dar, wie sie von Isaac Newton postuliert wurde. Das für die Eisenbahn – und darüber hinaus bis hin zum Film – grundlegende mechanistisch-szientifische Weltbild läßt sich mit dem von Pierre-Simon de Laplace formulierten Prinzip beschreiben, das Michel Serres referiert: »Alle Formen und sämtliche beobachtbaren wirklichen oder scheinbaren Bewegungen sind vollständig aus dem sogenannten Newtonschen Gesetz der Zentralkräfte ableitbar. Die Welt ist ein System durch Einheitlichkeit, Deduktion, Kohärenz und: sie entspringt einem Prinzip.«1 Bei Newton ist dieses Prinzip die absolute bzw. substantialistische Auffassung, daß Raum und Zeit eine eigenständige Existenz neben den Körpern (d.h. neben der Materie) zukommt.2 So heißt es bei Newton: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfliesst an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig, und ohne Beziehung auf irgend einen äusseren Gegenstand. Sie wird so auch mit dem Namen: Dauer belegt.«3 Und weiter: »Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äussern Gegegenstand, stets gleich und unbeweglich.«4 Während Materielles, also die Körper, von Raum und Zeit ontologisch abhängig sind, da diese nur in Raum und Zeit existieren können, sind Raum und Zeit hingegen von den Körpern unabhängig; »Raum und Zeit könnte es auch

1

Michel Serres: »Paris 1800«, in: ders. (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 597-643; hier: S. 614. – Zur Vorrangstellung des mechanistischen Weltbildes vgl. auch die Aussage Einsteins, der zufolge im 19. Jahrhundert eine »dogmatische Starrheit« herrschte, in welcher »die Mechanik als Grundlage der Physik« betrachtet wurde (Albert Einstein: »Autobiographisches/Autobiographical Notes«, in: Paul Arthur Schlip [Hg.]: Albert Einstein. Philosopher-Scientist. 2nd ed. New York: Tudor 1951, S. 2-95; hier: S. 18).

2

Vgl. Martin Carrier: Raum-Zeit. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 168; vgl. auch Michael Esfeld: Einführung in die Naturphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 18.

3

Isaac Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre. Mit Bemerk. u. Erl. hg. v. J.Ph. Wolfers. Unv. Nachdr. d. Ausg. Berlin 1872. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 25.

4

Ebd.

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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geben, wenn es nichts Materielles gäbe.«1 Raum und Zeit bilden damit »gleichsam ein Behältnis, in dem die Ereignisse«2 bzw. relative Räume und relative Zeiten ihre Stelle haben. Zu dieser Behältnisfunktion von Raum und Zeit gehört, daß diese mit von den relativen Beziehungen zwischen Körpern und Ereignissen unabhängigen, intrinsischen Eigenschaften ausgestattet sind.3 Dazu zählen die absolute Dauer und die absolute Simultaneität.4 Anders ausgedrückt: Raum und Zeit sind kontinuierlich und homogen, in dem Sinne, »daß das, was für einen Teil gilt, auch für jeden anderen gilt«.5 Der absolute Raum und die absolute Zeit sind unveränderlich. Und die sie bestimmenden Merkmale sind Homogenität und Kontinuität. Wie bereits dargelegt wurde, sind es genau diese Merkmale, die sich in der ›Eisenbahnzeit‹ und im ›Eisenbahnraum‹ manifestieren. Das Bestreben nach einer für die Eisenbahn so essentiellen einheitlichen Zeit entspricht der Homogenität der absoluten Zeit bei Newton, wenngleich die Einheitlichkeit der Zeit nunmehr eine Konvention ist und nicht mehr, wie noch bei Newton, als eine der »Modalitäten des göttlichen Sensoriums«6 erachtet wird. Und wenngleich die Erfahrung der Zugreisenden zunächst eine andere gewesen sein mag, so entsprach natürlich das technische Ensemble Eisenbahn auch einer Homogenisierung des Raumes: mittels der Eisenbahn wurden auseinanderliegende Punkte (Orte) zu einem einheitlichen Raum zusammengeführt, der nun mit hoher Geschwindigkeit kontinuierlich und geradlinig durchreist werden konnte. ›Eisenbahnzeit‹ und ›Eisenbahnraum‹ stellen damit, im Newtonschen Sinne, ›Behältnisse‹ dar, in denen sich die Körper – nämlich die Eisenbahnen – bewegen. Bewegung nun ist freilich nicht nur die offensichtliche Folge des neuen Transportmediums Eisenbahn (und ihre Repräsentation die wohl wesentliche Eigenschaft des Films); sie ist zugleich wesentlicher Gegenstand, ja Dreh- und Angelpunkt der Newtonschen Mechanik. Wie John Earman darlegt, bleibt die Struktur des Raums Newton zufolge zu jeder Zeit und in jeder physikalisch möglichen Welt gleich und entspreche dem dreidimensionalen euklidischen Raum.7 Innerhalb dieses Raums kann Veränderung nur stattfinden als Bewegung, d.h., als Lageveränderung von

1

Esfeld 2002, S. 20.

2

Carrier 2009, S. 169; vgl. auch Karen Gloy: »Newtons Zeittheorie und ihre Rezeption bei Kant«, in: dies., Philosophiegeschichte der Zeit. München: Fink 2008, S. 123-137; hier: S. 127.

3

Vgl. Carrier 2009, S. 169.

4

Vgl. John Earman: World Enough and Space-Time. Absolute versus Relational Theories of Space and Time. Cambridge, MA/London: MIT Press 1989, S. 11.

5

Gloy 2008, S. 127.

6

Galison 2006, S. 34.

7

Vgl. Earman 1989. S. 8f.

58 | KINO DER UNORDNUNG

Körpern.1 Diese Bewegung muß nicht gleichförmig sein, »alle Bewegungen können beschleunigt oder verzögert werden: allein der Verlauf der absoluten Zeit kann nicht verändert werden. Dieselbe Dauer und dasselbe Verharren findet für die Existenz aller Dinge statt«.2 Wesentlich für Newtons mechanistische Auffassung von Bewegung sind zwei Faktoren, nämlich Gleichförmigkeit und Geradlinigkeit. Er faßt dies in zwei ›Gesetzen‹ zusammen, von denen ersteres besagt: »Jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern.«3 Und im zweiten Bewegungsgesetz postuliert Newton: »Die Aenderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt.«4 Die Eisenbahn kann als Gipfel der technischen Umsetzung dieser mechanistischen Bewegungsgesetze angesehen werden, insofern sie die mittels (Dampf-)Maschine erfolgte Umsetzung gleichförmiger Bewegung auf einem (möglichst) geradlinigen Schienenkörper darstellt. Entsprechend beschreibt Schivelbusch das ›Ensemble Eisenbahn‹ in mechanistischen Begriffen: »Die durch Dampfkraft hergestellte mechanische Bewegung ist gekennzeichnet durch Gleichförmigkeit, Regelmäßigkeit, beliebige Dauer und Steigerung (Unermüdbarkeit).«5 Im Sinne der neuen Geschwindigkeiten der Eisenbahn können die Bewegungen (nahezu) beliebig beschleunigt und verzögert werden. Dies führt schließlich auch Schivelbusch zu dem Schluß, man könne die Eisenbahn »definieren als das technische Mittel, Newtons Erstes Gesetz der Bewegung zu operationalisieren.«6 Kennzeichen der durch die Eisenbahn realisierten Bewegung ist also allem voran Linearität. So hebt auch Peter Borscheid hervor: »Kennzeichen der Geschwindigkeit ist die gerade Linie, nicht die Kraft verzehrende Kurve […].«7 Gerade die Linearität der Bewegung ist es, die die Eisenbahn und das Kino in eine Kontinuität setzt. Die Linearität der Bewegung schafft dabei, wie wir bereits gesehen haben, für den Zugreisenden eine

1

Vgl. Newton 1963 [1872], S. 25f.

2

Ebd., S. 27.

3

Ebd., S. 32 (Herv. i.O.).

4

Ebd. (Herv. i.O.).

5

Schivelbusch 2007, S. 15.

6

Ebd., S. 24. – Auch andernorts hebt Schivelbusch hervor, daß sich die Eisenbahn einer Newtonschen Physik verdanke: »So wie die Eisenbahn die Newtonsche Mechanik im Verkehrswesen realisiert, schafft sie die Bedingung dafür, daß die Wahrnehmung der in ihr Reisenden sich ›mechanisiert‹.« (Ebd., S. 53.)

7

Borscheid 2004, S. 118. – In diesem Sinne verweist auch Michael Freeman darauf, daß das, was »the remarkable novelty of the steam railway« ausmache, »the striking linearity of its permanent way« sei (Freeman 1999, S. 24).

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neue Form der Wahrnehmung, die sich im Kino unmittelbar fortsetzt. Ebenso wie die Eisenbahn fungiert auch der Film »als Blick anordnende Maschine und Erzeuger von Linearität und Bewegung.«1 Für den Film noch mehr bestimmend als für die Eisenbahn ist jedoch ein weiterer Aspekt von Linearität, und zwar: die Linearität der Zeit. Die Abfahrt des Zuges erfolgt vor seiner Ankunft, der Anfang eines Filmes liegt vor seinem Ende. Die Linearität der Zeit teilt die Ereignisse also in ein Vorher und ein Nachher, in ein Früher und in ein Später. Eine lineare Auffassung der Zeit scheint zunächst ebenfalls im Einklang mit Newtons mechanistischer Theorie zu stehen. So nimmt Newton an, daß die »Reihenfolge der Zeittheile […] unveränderlich« ist.2 Mit anderen Worten: »Ist von zwei Ereignissen A früher als B, so gilt dies durchgehend für alle Zeiten von der Zukunft über die Gegenwart bis zur Vergangenheit.«3 Diese sogenannte ›Anisotropie der Zeit‹ verweist auf das Problem der Kausalität, genauer auf das Problem einer kausalen Theorie der Zeit, mit der überhaupt erst eine zeitliche Differenzierung in ein Früher und ein Später, in Vergangenheit und Zukunft möglich wird: »Die gerichtete Zeit ist auch von wesentlicher Bedeutung für die Kausalität. […] Die gerichtete Zeit und die Kausalität führen auch zur Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft […].«4 Kausalität als Ursache-Wirkungs-Relation läßt sich in einem physikalischen Sinne verstehen »als den Erhalt einer physikalischen Ereignisgröße (insbesondere Energie) zwischen zwei Ereignissen« basierend auf raum-zeitlichen Beziehungen.5 Augenscheinlich wird dieses Prinzip im Kugelstoßpendel (auch ›Newtonpendel‹ genannt), das dazu dient, den Impulserhaltungssatz zu verdeutlichen. In dieser Anordnung mehrerer Kugeln scheint sich, wenn man eine der äußeren Kugel anhebt und zurückschlagen läßt, lediglich die von der den Stoß ausführenden am weitesten entfernte Kugel zu bewegen. Diese setzt sodann einen Rückstoß in die entgegengesetzte Richtung in Gang. Außer den beiden äußeren Kugeln scheinen sich alle anderen in dieser Anordnung dagegen durchgehend in einem Zustand der Ruhe zu befinden. Doch dieser Eindruck täuscht. Friedrich Herrmann und Michael Seitz begründen dies in ihrer Erklärung des Kugelstoßpendels wie folgt: »When, after the first collision sequence, the last ball swings back, the ›resting‹ chain of balls is now

1

Blümlinger 2004, S. 27.

2

Newton 1963 [1872], S. 27.

3

Gloy 2008, S. 127.

4

Wolfgang Achtner/Stefan Kunz/Thomas Walter: »Zeit der Welt – Die Zeit aus naturwissenschaftlicher Sicht«, in: dies., Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 115141; hier: S 124.

5

Esfeld 2002, S. 41.

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in a different state than it was initially. When the last ball swings back, the other balls are not only moving, each is now separated from its neighbors by a small distance.«1 Das Kugelstoßpendel demonstriert ein physikalisches Verhalten, das den Gesetzen der Energie- und Impulserhaltung entspricht.2 Mehr noch: es teilt die Ereignisse in ein Vorher und ein Nachher ein (vor dem Stoß/nach dem Stoß), so daß sich eine Zeitabfolge auf eine Ursache-Wirkungsrelation, und das heißt im physikalischen Sinne: auf Kausalität, zurückführen läßt. Eine kausale Theorie der Zeit führt die Zeitrelationen auf Kausalrelationen zurück – und damit zeitliche Ordnungsbeziehungen auf den Begriff der Verursachung.3 »Die zentrale Festlegung der kausalen Zeittheorie lautet: Wenn Ereignis A dazu beiträgt, Ereignis B hervorzubringen, dann ist A früher als B.«4 Auf der Grundlage eines solchen mechanistischen Weltbildes, das eine »kinematische Auffassung der Bewegung«5 und damit der Veränderung propagiert, können Ereignisse im Sinne des Impulserhaltungsgesetzes als kausal miteinander verbunden angesehen und damit ungeachtet ihrer relativen Lage zueinander in eine zeitliche Beziehung in Form einer Vorher-Nachher-Relation gesetzt werden. Im Umkehrschluß bedeutet dies zugleich, daß zwischen gleichzeitigen Ereignissen im Sinne der klassischen, mechanistischen Physik keine Kausalbeziehungen vorliegen: Zwischen ihnen besteht keine zeitliche Differenz, keine Vorher-Nachher-Relation und damit keine Kausalbeziehung, sondern eine räumliche Differenz. Kurz: »Zwischen Ereignissen mit raumartigem Abstand gibt es keine Kausalbeziehungen.«6

1

Friedrich Herrmann/Michael Seitz: »How Does the Ball-Chain Work?«, in: American Journal of Physics 50 (1982), Nr. 11, S. 977-981; hier. S. 981.

2

Herrmann und Seitz erklären hierzu ausführlicher: »The observed behavior is in agreement with the laws of conservation of energy and momentum. […] an additional condition is required, namely, the absence of dispersion.« (Ebd., S. 977.)

3 4

Vgl. Carrier 2009, S. 8f. Ebd., S. 10. – Unter Auslassung von Variablen ließe sich dies auch so ausdrücken, daß gemäß eines »zeitgerichteten Konzept[s] der ›Kausalität‹ […] jedes Ereignis eine ›Ursache‹ in der Vergangenheit haben muß.« (Heinz-Dieter Zeh: Die Physik der Zeitrichtung. Berlin u.a.: Springer 1984 [= Lecture Notes in Physics; 200], S. 1.)

5

Hans Reichenbach: »Die Bewegungslehre bei Newton, Leibniz und Huyghens«, in: KantStudien 29 (1924), S. 416-438; hier: S. 418.

6

Esfeld 2002, S. 41.

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b) Mit (Voll-)Dampf voraus: Der thermodynamische Zeitpfeil Das mechanistische Weltbild im Sinne Newtons ist indes nur im beschränkten Maße dazu geeignet, eine Richtung der Zeit zu bestimmen. Zwar faßt Newton die Zeit als Fluß, als fluxus auf, jedoch geht aus seinen Ausführungen nicht hervor, daß die Zeit zwangsläufig nur in eine Richtung fließen kann bzw. muß. So sind in der klassischen Mechanik alle Prozesse als grundsätzlich reversibel anzusehen; mathematisch gesehen erscheint die Zeit hier als umkehrbar.1 Auf diesen Umstand einer Zeitsymmetrie verweist beispielsweise Roger Penrose: »All the successful equations of physics are symmetrical in time. They can be used equally well in one direction in time as in the other. The future and the past seem physically to be on a completely equal footing.«2 Auch die oben dargelegte kausale Theorie der Zeit ist letztlich kein Beweis, sondern lediglich eine Setzung. Doch nicht nur zeichnen sich zahlreiche Vorgänge, darunter auch physikalische, dadurch aus, daß sie eine Zeitrichtung implizieren (bzw. zu implizieren scheinen);3 auch in unserem Alltagsverständnis gehen wir in der Regel von einer Gerichtetheit der Zeit aus, die von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft verläuft. So erscheint beispielsweise Martin Amis’ Roman Time’s Arrow (1991) mit seinem rückwärts in die Vergangenheit gehenden Er-

1

Heinz-Dieter Zeh hält ebenfalls fest: »Die bekannten dynamischen Gesetze der Physik sind symmetrisch bzgl. einer Umkehrung der Zeitrichtung […].« (Zeh 1984, S. 1.)

2

Roger Penrose: The Emperor’s New Mind. Oxford: Oxford Univ. Press 1989, S. 302. – Auch Karin Gloy hebt die mathematische Umkehrbarkeit der Zeit in der Physik hervor, verweist aber zugleich darauf, daß dieser Umstand bei Newton z.T. nicht deutlich genug hervortrete: »Es ist bekannt, daß die Gesetze der klassischen Mechanik unverändert gelten, ob für die Zeitvariable t +t oder –t eingesetzt wird. Die klassische Mechanik kennt keine irreversiblen Prozesse, nur reversible. Daß dieser Sachverhalt bei Newton durch die Annahme einer absoluten realen Zeit mit eindeutigem Zeitsinn verwischt wurde, gehört zu den Ungereimtheiten und Widersprüchen der Newtonischen Zeitkonzeption.« (Gloy 2008, S. 136.) Diese Zeitsymmetrie gilt neben der Mechanik auch für die klassische, vorrelativistische Elektrodynamik: »Die klassischen Gesetze der Mechanik und der Elektrodynamik verhalten sich bei der Zeitumkehrung invariant.« (Achtner/Kunz/Walter 1998, S. 119).

3

Als »Beispiele für Klassen von Vorgängen, welche die Zeitrichtung auszeichnen«, listet bspw. Heinz-Dieter Zeh Strahlung und Wellen, exponentiellen Verfall, die Thermodynamik (insbesondere deren Zweiter Hauptsatz), die Evolution, die quantenmechanische Messung, die Gravitation sowie die ›Geschichtlichkeit‹ der Welt auf (Zeh 1984, S. 1f.).

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zählverlauf und der Umkehrung von Prozessen kontrafaktisch.1 Der Titel des Romans verweist dabei auf den Begriff des Zeitpfeils. Der Physiker Arthur Stanley Eddington prägte den Begriff, um damit die Gerichtetheit der Zeit zu erklären, die sich aus dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ergibt – und die unserer menschlichen Wahrnehmung, unserem Bewußtsein der Zeit als einer linear verlaufenden entgegenkomme (ob dem wirklich so ist, sei fürs erste dahingestellt). Eddington hält dazu fest: »I shall use the phrase ›time’s arrow‹ to express this one-way property of time which has no analogue in space. It is a singularly interesting property from a philosophical standpoint. We must note that – (1) It is vividly recognised by consciousness. (2) It is equally insisted on by our reasoning faculty, which tells us that a reversal of the arrow would render the external world nonsensical. (3) It makes no appearance in physical science except in the study of organisation of a number of individuals. Here the arrow indicates the direction of progressive increase of the random element.«2

Während in den Naturgesetzen der Mechanik der Unterschied zwischen ›Vergangenheit‹ und ›Zukunft‹ lediglich der eines positiven oder negativen Vorzeichens, der Unterschied von +t und −t, ist, resultiert gemäß Eddington aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik das einzige Naturgesetz, »in welchem ein tiefer gehender Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft zum Ausdruck kommt, als der zwischen plus und minus.«3

1

Auf diese wenn nicht kontrafaktische, so doch zumindest unserer menschlichen Wahrnehmung widerläufige Grundprämisse, die als erzählerisches Grundmuster von Time’s Arrow dient, weist auch Adam Głaz hin: »[…] in the world which we know the direction of the thermodynamic time’s arrow is the same as that of the psychological time’s arrow. Amis’s novelty lies in breaking this rule: in his book the two do not align.« (Adam Głaz: »The Self in Time. Reversing the Irreversible in Martin Amis’s ›Time’s Arrow‹«, in: Journal of Literary Semantics 35 [2006], Nr. 2, S. 105-122; hier: S. 110.)

2

Arthur S. Eddington: The Nature of the Physical World. Clifford Lectures 1927. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1928, S. 69. – Vgl. auch Carrier 2009, S. 98. Zur Relevanz von Eddingtons Konzept des ›Zeitpfeils‹ für Amis’ Roman Time’s Arrow vgl. Richard Menke: »Narrative Reversals and the Thermodynamics of History in Martin Amis’s ›Time’s Arrow‹«, in: Modern Fiction Studies 44 (1998), Nr. 4, S. 959-980.

3

Arthur S. Eddington: »Der Ablauf des Weltgeschehens«, in: Walter Ch. Zimmerli/Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 134-171; hier: S. 137.

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Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik befaßt sich mit der Umwandlung thermischer Energie in isolierten, d.h. geschlossenen Systemen.1 Je nach Formulierung besagt er – unter anderem –, daß ein System »nie von selbst in einen bedeutend unwahrscheinlicheren Zustand« übergeht, daß es kein Perpetuum mobile zweiter Art gibt, daß es irreversible Vorgänge gibt bzw. daß sich ein System nur so ändert, »daß seine Entropieänderung größer oder gleich Null ist.«2 Gemäß des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik nimmt in geschlossenen Systemen die Entropie niemals zu, wenn Wärmeverluste oder Reibungsvorgänge auftreten.3 Die Entropie (S) stellt dabei eine Größe dar, die das Maß der Unordnung in einem geschlossenen System beschreibt. Mittels der Entropie kann der zweite Hauptsatz der Thermodynamik mathematisch formuliert werden als t2 > t1 => S(t2) ≥ S(t1). »Damit ist aber umgekehrt eine Zeitrichtung fest vorgegeben«, wie Wolfgang Achtner, Stefan Kunz und Thomas Walter hervorheben.4 Der thermodynamische Zeitpfeil ist demnach gekennzeichnet durch eine Zunahme der Entropie,5 denn alle mit Entropie verbundenden Vorgänge sind irreversibel, d.h. sie laufen nur in eine Richtung ab.6 Die Zunahme der Entropie stellt ein Wahrscheinlichkeitsresultat dar, sie ist das Ergebnis einer Wahrscheinlichkeitsverteilung, z.B. von Teilchen (Atomen, Molekülen) innerhalb eines geschlossenen Systems. Sie bezieht sich daher stets auf eine Menge und auf einen Zustand von Organisation. Eddington interpretiert daher den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik als Ausdruck des ›Zufall-Elements‹ (»random element«) in einer großen Menge.7 Irreversibilität erscheint ihm als das Anwachsen des Zufall-Elements (d.h. der Entropie8), das etwas Unwiderrufliches in die Welt

1

Douglas C. Giancoli: Physik. Lehr- und Übungsbuch. Übers. v. Micaela KriegerHauwede u.a. 3., aktual. Aufl. München u.a.: Pearson 2010, S. 713. – In der Thermodynamik werden verschiedene Systemkategorien unterschieden: »Ein geschlossenes System ist eines, das keine Materie (wohl aber Energie) mit der Umgebung austauscht. Ein offenes System kann dagegen Materie (und Energie) mit der Umgebung austauschen.« (Ebd., S. 663; Herv. i.O.)

2

Achtner/Kunz/Walter 1998, S. 122f.

3

Carrier 2009, S. 73.

4

Achtner/Kunz/Walter 1998, S. 124.

5

Vgl. Zeh 1984, S. 23.

6

Carrier 2009, S. 73.

7

Auf den Umstand, daß mit der Thermodynamik der Zufall Einzug in die Physik der Zeitrechnung hält, verweist auch Mary Ann Doane: »The alliance of thermodynamics with statistics yokes time to the domain of chance rather than destiny […].« (Doane 2002, S. 112.)

8

»Das praktische Maß für das Zufall-Element im Universum, das immer nur zunehmen, niemals aber abnehmen kann, heißt Entropie.« (Eddington 2007, S. 143; Herv. i.O.)

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bringe, und dessen Verlauf durch den ›Zeitpfeil‹ indiziert werde: »Können wir entlang seiner ein ständiges Anwachsen des Zufall-Elements in dem Zustande der Welt feststellen, so weist der Pfeil in die Zukunft, nimmt das Zufall-Element jedoch ab, so weist er in die Vergangenheit.«1 Das Zufalls-Element bzw. die Entropie wird in Eddingtons Interpretation des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, dem er ein Primat vor allen anderen Naturgesetzen einräumt,2 zu einem Mittel der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft,3 wobei Eddington nachdrücklich unterstreicht, »daß der Entropie-Gradient in Wirklichkeit der Ablauf der Zeit ist und nicht umgekehrt.«4 Die »irreversibl[e] Zeit der Thermodynamik«5 ist letztlich also identisch mit dem Entropie-Gradienten, d.h. Zeit ist nichts anderes als Entropiezunahme. Diese stellt einen dynamischen Prozeß dar, der Eddington zufolge vom menschlichen Bewußtsein als ein ›Werden‹, und das ›Werden‹ wiederum als ein Ablauf der Zeit, wahrgenommen werde.6 Er folgert daraus, daß der Entropie-Gradient als direktes Äquivalent unseres menschlichen Zeitbewußtseins dient.7 Zusammengefaßt bedeutet dies: Während der mecha-

1

Ebd., S. 139. – Diesem Zusammenhang zwischen Entropie, ›Zeitpfeil‹ und Wahrscheinlichkeit widerspricht dagegen Karl R. Popper mit aller Vehemenz: »[…] the ›arrow‹ of time, or the ›flow‹ of time, does not seem to be of a stochastic character: nothing suggests that it is subject to statistical fluctuation, or connected with a law of large numbers.« (Karl Popper: »Time’s Arrow and Entropy«, in: Nature 4994 [1965], 12. Juli, S. 233f.; hier: S. 233.)

2

Vgl. Eddington 2007, S. 143. – Auch Charles Percy Snow weist dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eine herausragende Stellung unter den Naturgesetzen zu, wenn er ihn mit quasi-religiöser Verehrung umschreibt: »This law is one of the greatest depth and generality: it has its own sombre beauty: like all the major scientific laws, it evokes reverence.« (Charles Percy Snow: The Two Cultures and A Second Look. An Expanded Version of the Two Cultures and the Scientific Revolution. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1964, S. 72.) Für Snow hat der zweite Hauptsatz geradezu universelle Bedeutung: »The Second Law is a generalisation which covers the cosmos.« (Ebd., S. 74.)

3

Vgl. Eddington 2007, S. 141.

4

Ebd., S. 160 (Herv. i.O.).

5

Serres 1994, S. 623.

6

Vgl. Eddington 2007, S. 155.

7

Vgl. ebd., S. 161. – Eddington ist beileibe nicht der einzige, der einen Zusammenhang zwischen Entropie (verstanden als Zunahme von Unordnung) und menschlichem Zeitbewußtsein postuliert. So verweisen bspw. auch Ilya Prigogine und Isabelle Stengers auf einen phänomenologischen Zeitbegriff im Zusammenhang mit entropischen, irreversiblen Vorgängen, wenn sie konstatieren: »This association of irreversible time, loss of control and waste coincides with an impenetrable human experience often expressed by philoso-

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nistische Zeitbegriff keine Richtung auszeichnet, kann durch die Hinzunahme thermodynamischer Vorgänge eine phänomenologische Richtung der Zeit definiert werden.1 Für das 19. Jahrhundert, seine technischen Entwicklungen wie auch seine kulturellen und erkenntnistheoretischen Grundlagen kann die Thermodynamik in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, und die mit ihr verbundenen zeittheoretischen Implikationen wirken weit über den Bereich der Physik hinaus:2 »Nicht länger der frühneuzeitliche Mechanismus, sondern der dynamische Kraftzusammenhang war das naturwissenschaftliche Leitbild des 19. Jahrhunderts.«3 Mit den theoretisch erschlossenen thermischen Prozessen setzte ein durchgreifender technischer wie physikalischer Wandel der Welt ein: »Die Wärme, irreversibel in ihrer eigenen Zeit, reißt mit ihrer Theorie einen enormen Spalt auf, der die Zeit der Geschichte, der Technik, aber auch der Wissenschaftsgeschichte durchzieht.«4 So beschreibt Michel Serres diesen Wandel, der ihm zufolge einem Bruch gleichkam – und der sich technik- wie kulturgeschichtlich in der Industrialisierung manifestierte, die, obschon im 18. Jahrhundert einsetzend, im 19. Jahrhundert zu ihrer Blüte gelangte. Als einen der »wichtigsten Aspekte« der Industrialisierung betrachtet Jürgen Osterhammel den »Wechsel im Energieregime«;5 das 19. Jahrhundert stellt für ihn das »Jahrhundert der Kohle«6 dar: »Die industrielle Zivilisation des 19. Jahrhunderts beruhte auf der Erschließung fossiler Brennstoffe und auf der immer effizienteren technisch-mechanischen Umsetzung der aus ihnen gewonnenen Energie.«7 Der ›Ort‹ dieser Umwandlung war nun freilich vorrangig die Dampfmaschine, jene

phers: Time is what opposes our projects, it is the basic opacity which prevents us from conceiving the world in which we live as one responsive to our plans and decisions.« (Ilya Prigogine/Isabelle Stengers: »A New Model of Time, a New View of Physics«, in: Jacques Richardson [Hg.], Models of Reality. Shaping Thought and Action. Mt. Airy, MD: Lomond 1984, S. 302-315; hier: S. 310.) 1 2

Vgl. Zeh 1984, S. 5. Auf die über ihren angestammten physikalischen Bereich hinaus wirksamen zeittheoretischen Implikationen kommt etwa auch Mary Anne Doane im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit dem Hervortreten einer filmischen Zeit zu sprechen: »In the realm of physics and beyond, the refinement of the Second Law of Thermodynamics (the law of entropy) engendered a conceptualization of time as the tightness of a direction, an inexorable and irreversible linearity.« (Doane 2002, S. 4f.)

3

Osterhammel 2011, S. 929.

4

Serres 1994, S. 622.

5

Osterhammel 2011, S. 931.

6

Ebd., S. 928.

7

Ebd., S. 932.

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»Apparatur zur Umwandlung toter Materie in technisch nutzbare Kraft«.1 Die Dampfmaschine ist es also, in der der zweite Hauptsatz der Thermodynamik zur praktisch-technischen Anwendung gelangt. Die (Dampf-)Eisenbahn erscheint als die augenscheinlichste und wohl populärste Verkörperung des neuen energetischen ›Regimes‹ des 19. Jahrhunderts, das Wissenschaftler wie Laien gleichermaßen ansprach.2 Sie stellt die Verkörperung des Prinzips der Gewinnung von Kraft und Beschleunigung aus Energie und der Produktion von Dampf (Wärme) dar. Die Dampflokomotive wurde damit zum Motor einer umgreifenden Wandlung, deren Konsequenzen in den neuen Geschwindigkeiten der Eisenbahn ihren sinnfälligen Ausdruck fanden. Festgehalten finden wir dieses Zusammenspiel von Thermodynamik (Dampf) und Eisenbahn, die nicht nur Geschwindigkeit mit sich brachte, sondern die Natur (dargestellt durch den ›Regen‹) geradlinig durchschneidet und transformiert, in William Turners Gemälde Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway (1844; Abb 7).3 Als Ort von

1 2

Ebd., S. 929. Auf die Popularität dieses neuen ›Energie-Regimes‹ verweist Jürgen Osterhammel. Er führt dazu aus: »Energetische Kulturtheorien passen gut in das 19. Jahrhundert. Kaum ein naturwissenschaftlicher Begriff beschäftigte die Wissenschaftler stärker und zog das Publikum mehr in seinen Bann als derjenige der Energie.« (Ebd., S. 928.) Die von der Dampflokomotive gezogene Eisenbahn kann dabei als Arrangement aufgefaßt werden, in der sich diese populären Theorien auch praktisch manifestierten.

3

Wie Monika Schmitz-Emans herausstellt, deutet Michel Serres den Maler Turner »als künstlerisches Pendant einer Revolution in den Naturwissenschaften, welche alle Lebensbereiche erfaßt habe: die Thermodynamik wurde zum leitenden naturwissenschaftlichen Paradigma. […] Aus Turners Bildern liest Serres ein neues Verständnis der Materie ab. Turners Natur ist die Welt der thermodynamischen Kräfte, kein geometrisch vermeßbarer Raum.« (Monika Schmitz-Emans: »Die Intertextualität der Bilder. William Turner im Spiegel literarischer Interpretationen«, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2002/2003, S. 41-71; hier: S. 56.) Die in Turners Werk mehrfach wiederkehrenden Darstellungen von Wolken interpretiert Serres dabei als Ausdruck von Turners Verpflichtung an ein thermodynamisches Weltmodell: »Die Materie bleibt nicht länger den Gefängnissen des Schemas überlassen. Das Feuer löst sie auf, läßt sie vibrieren, zittern, oszillieren, läßt sie in Wolken explodieren. Von Garrard zu Turner oder von der gefaserten Gitterstruktur zur Zufallswolke. […] eine neue Welt [wird] schon bald die Auflösung und Zerstreuung der Atome und Moleküle entdecken. Das Feuer des Dampfkessels atomisiert die Materie und setzt sie dem Zufall aus, der schon immer ihr Herr und Meister war. Boltzmann wird es bald verstehen, aber Turner hat es schon vor ihm verstanden. Turner ist ganz und gar lebendig in den Käfig und das Gewimmel der Maxwellschen Dämonen gegangen.« (Michel Serres:

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Entropie-Vermehrung, der sich dazu noch mit zuvor ungekannter Geschwindigkeit geradlinig durch den Raum bewegt, erweist sich die (Dampf-)Eisenbahn damit wahrlich als eine ›Zeit-Maschine‹. Abbildung 7: J.M. William Turner: »Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway« (1844)

Öl auf Leinwand, 91×122 cm. London, National Gallery

c) Die Montage als Basis räumlicher und zeitlicher Anordnungen im Film Damit sind wir zurück bei der Eisenbahn. Und zugleich auch wieder beim Film. Denn mit der Eisenbahn als Motiv, Handlungsort und ›heimlichen Star‹ kristallisiert sich auch ein Konzept von Raum und Zeit, Sukzession und Gleichzeitigkeit, Ursache und Wirkung (Kausalität) heraus, das zum Fundament des filmischen Erzählens wird.1 Dient die Eisenbahn zunächst im Sinne des ›train effect‹ als Faszinosum, das

Hermes III. Übersetzung. Übers. v. Michael Bischoff. Berlin: Merve 1992, S. 333f.; Herv. i.O.) 1

Dieses Sich-Herauskristallisieren kann durchaus im Sinne Arnold Gehlens verstanden werden, der »mit dem Wort Kristallisation denjenigen Zustand auf irgendeinem kulturellen Gebiet zu bezeichnen [pflegt], der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind.« (Arnold Gehlen: »Über kulturelle Kristallisation«, in: ders., Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsy-

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die filmische Darstellungsleistung von Bewegung augenscheinlich vorführt, agiert sie alsbald in gewisser Weise als Motor, der das ›primitive Kino‹ in den ›narrativen Film‹ überführt. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Montage als strukturelle Grundlage filmischen Erzählens, in der sich Raum und Zeit manifestieren und die als Ausdrucksmittel von Sukzession, Gleichzeitigkeit und Kausalität dient. Wenngleich der Begriff eines ›primitiven Kinos‹, der sich gewöhnlich auf die erste Dekade des Kinos, also in etwa auf die Jahre 1895-1905, bezieht, und in der das ›Attraktionskino‹ noch Vorrang vor ›narrativen Filmen‹ hatte,1 aufgrund der mit dem Ausdruck verbundenen negativen Konnotationen eher mit Vorsicht zu gebrauchen ist,2 so eignet er sich indes, wie Tom Gunning hervorhebt, um das erste Jahrzehnt des Kinos als eine Frühphase des Films zu bezeichnen, die sich gegenüber späteren Entwicklungen durch einen (gefühlten) Mangel auszeichnet: »This lack

chologische, soziologische und kulturanalytische Schriften. Frankfurt a.M.: Klostermann 2004, S. 298-314 [= Gesamtausgabe Bd. 6]; hier: S. 308.) 1

Eine definierende Eingrenzung bzw. Umschreibung des Konzepts eines ›primitive cinema‹ bietet Kristin Thompson im von ihr gemeinsam mit David Bordwell und Janet Staiger verfaßten Standardwerk zum Classical Hollywood Cinema (1985). Sie stellt fest: »Historians have called these very early years of film production the ›primitive‹ period. This period is generally assumed to have begun with the cinema’s commercial origins in 1894 and lasted until somewhere between 1906 and 1908. During most of the primitive period, films appealed to audiences primarily through simple comedy or melodrama, topical subjects, exotic scenery, trick effects, and the sheer novelty of photographed movement. Non-fiction films outnumbered narratives, at first, and the latter were usually imitations of popular theatrical forms of the day. According to the traditional account, the primitive style began to disappear as individual innovators like Edwin S. Porter and D.W. Griffith introduced devices such as crosscutting, the close-up, and so on.« (Kristin Thompson: »The Formulation of the Classical Style, 1909-28«, in: David Bordwell/Janet Staiger/dies., The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960. Repr. London: Routledge 2006, S. 155-240; hier: S. 157.)

2

Thompson gibt in diesem Sinne zu bedenken: »The term ›primitive‹ is in many ways an unfortunate one, for it may imply that these films were crude attempts at what would later become classical filmmaking.« (Ebd., S. 158.) Auch Tom Gunning hält fest: »Recent scholars have expressed reservations about the term and emphasized that they use it in an nonpejorative sense.« (Mit »recent scholars« meint Gunning freilich in erster Linie Thompson, Bordwell und Staiger selbst.) Und er führt weiter aus: »The most regrettable connotations are those of an elementary or even childish mastery of form in contrast to a later complexity (and this viewpoint often shelters its apparent reversal in the image of a cinema of a lost purity and innocence).« (Tom Gunning: »›Primitive‹ Cinema – A Frameup? or The Trick’s on Us«, in: Cinema Journal 28 [1989], Nr. 2, S. 3-12: hier: S. 4.)

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has most often been specified as a relative absence of editing, a nearly monolithic concept of the shot unsubordinated to any editing schema.«1 Das frühe Kino erscheint dabei »as a sort of degree zero in the evolution of montage«.2 Als herausstechendes Merkmal des ›primitiven Kinos‹ ließe sich die ununterbrochene, ungeschnittene einzelne Einstellung,3 d.h. die lineare Kontinuität der Bewegung, auffassen, wie sie im Bild des einfahrenden Zuges verkörpert wird. Diese einfache, ungebrochene Form des Films stellt gleichsam seine Substanz dar: Es handelt sich dabei, mit Erwin Panofsky gesprochen, um eine »Reihung von Bildfolgen, die ein unmittelbarer Fluß von Bewegung im Raum zusammenhält.«4 Die Kontinuität des einzelnen Bildes im Bewegungsablauf wird dabei, wie schon Walter Benjamin feststellt, »durch die Folge aller vorangegangenen vorgeschrieben«.5 Mit der Montage indes treten Raum und Zeit in ein komplexes Verhältnis. Der Schnitt strukturiert die räumliche Konfiguration des Films. Dabei konstruiert die Montage, der Argumentation Deleuzes folgend, selbst das räumliche Ganze als ein Ensemble, wobei die Zeit aus einer einfachen Isochronie heraustritt. Die Zeit läßt sich nicht direkt anhand der Darstellung ablesen; sie wird nunmehr mittels der Montage in der Synthese der Bilder indirekt repräsentiert.6 »die Montage ist die Komposition, die Anordnug der

1

Ebd.

2

Ebd., S. 4f.

3

Gleichwohl gilt es hier zu bedenken, daß selbst im frühen Kino die Einstellung oftmals keinesfalls ununterbrochen ist. So läßt sich beispielsweise die »stop-camera technique« als früheste Form der Montage auffassen (André Gaudreault: »Editing. Early Practices and Techniques«, in: Richard Abel [Hg.], Encyclopedia of Early Cinema. London/New York: Routledge 2005, S. 204-206; hier: S. 204). Bei diesem Trickverfahren wird die Kamera angehalten, die Szene verändert und dann der Dreh wieder fortgesetzt. André Gaudreault bezeichnet dieses Verfahren daher als ›in-vivo-Montage‹ (vgl. ebd.).

4

Erwin Panofsky: »Stil und Medium im Film«, in: ders., Stil und Medium im Film & Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers. Übers. v. Reiner Grundmann/Helmut Färber. Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 19-57; hier: S. 27.

5

Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders., Medienästhetische Schriften. Mit e. Nachw. v. Detlev Schöttker. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 351-383; hier: S. 363.

6

Für Deleuze ergibt sich aus der Zusammenstellung einzelner Einstellungen, die er mit dem Bewegungs-Bild gleichsetzt, ein Ganzes, das er als Montage bezeichnet, und das ein indirektes Bild der Zeit wiedergebe. Er führt dazu aus: »Das Bewegungs-Bild hat zwei Seiten. Die eine ist den Gegenständen zugewandt, deren relative Position es variieren läßt, während sich die andere auf ein Ganzes bezieht, dessen absolute Veränderung es ausdrückt. Die Positionen sind im Raum, während das veränderliche Ganze in der Zeit ist. Gleicht man das Bewegungs-Bild der Einstellung an, dann bezeichnet man die erste,

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Bewegung als Organisation eines indirekten Bildes der Zeit«, wie Deleuze konstatiert.1 Montage darf dabei in ihrer räumlichen wie zeitlichen Konfiguration nicht mit einer bloßen Aneinanderreihung gleichgesetzt werden: »das Ganze ist ebensowenig eine Addition wie die Zeit eine Sukzession von Gegenwarten.«2 Montage ist vielmehr ein komplexes und dynamisches Geflecht, dessen strukturelle Entwicklungen und Variationen sich nicht zuletzt bildlich gesprochen auf den Schienen der Eisenbahn im Film durchgesetzt haben. Womöglich kann schon die »Eisenbahnreise an sich« als eine Art Erzählgerüst aufgefaßt werden, das sich »beliebig variieren« läßt.3 Für die narrativen Grundlagen des Films indes wird die Eisenbahn relevant, da sie, verstanden als »Erzählprinzip […] in konsequenter Form«, die Verkörperung und den Garanten »der Einheit von Raum und Zeit« darstellt.4 Der bereits erwähnte ›Kuß-im-Tunnel‹-Filmtypus verdeutlicht dies nicht nur in exemplarischer Weise; er stellt vielmehr den Beginn eines auf Montage basierenden filmischen Erzählens dar. So markiert Ulfilas Meyer zufolge George Albert Smiths THE KISS IN THE TUNNEL (1899) nicht nur »den Beginn der Eisenbahnfilme«, sondern seine besondere Leistung liegt vor allem darin, daß er »bei aller Einfachheit der Komposition schon einige Elemente einer filmischen Fiktion« aufweist.5 An die Stelle von ›Fiktion‹ könnte man aber ebensogut

den Gegenständen zugewandte Seite der Einstellung als Kadrierung und die zweite, dem Ganzen zugewandte Seite als Montage. Hieraus ergibt sich eine erste These: die Montage selbst konstituiert das Ganze und liefert uns folglich das Bild der Zeit. Demnach macht sie im Kino den Hauptvorgang aus.« (Deleuze 1997b, S. 53.) 1

Deleuze 1997a, S. 50.

2

Deleuze 1997b, S. 53.

3

Meyer 1985, S. 10f.

4

Ebd., S. 11.

5

Ebd., S 6f. – Darüber hinaus spricht Meyer THE KISS IN THE TUNNEL auch eine zentrale Rolle bei der Entwicklung filmischer Themen und Metaphern zu. Er stellt fest: »Auch das Spiel mit Metaphern, die in den Eisenbahnfilmen eine bedeutende Rolle spielen, kommt hier schon zum Tragen: die Einfahrt in den Tunnel als Zeichen erotischer Wünsche.« (Ebd., S. 7.) Freilich scheint dies noch eine nahezu prüde Auslegung (oder zumindest Wortwahl) Meyers. Jenseits psychoanalytischer Deutungsversuche sind im (englischen) umgangssprachlichen Jargon Zug und Tunnel vor allem Euphemismen für Penis und Vagina (vgl. Art. »Trains and Tunnels«, in: Urban Dictionary, http://www.urbandictionary.com/define.php?term=Trains%20and%20Tunnels&defid=4049625 [30.09.2013]; vgl. auch Ian Carter: Railways and Culture in Britain: The Epitome of Modernity. Manchester: Manchester Univ. Press 2001, S. 136, Anm. 31), das Bild eines durch einen Tunnel fahrenden Zuges damit eine Metapher für den Koitus. Diese Metapher hat, nicht selten unter humoristischen Vorzeichen, auch in den Film Eingang gefunden, so etwa in Monty

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(oder gar besser) ›Narration‹ setzten: Smiths etwas über eine Minute dauernder Kurzfilm präsupponiert eine Vorher-Nachher-Relation (Einfahrt des Zuges in den Tunnel – Ausfahrt des Zuges aus dem Tunnel), insinuiert Gleichzeitigkeit (Zug im Tunnel – Kuß) und gibt vor allem eine Ereignisabfolge (Einfahrt – Kuß – Ausfahrt) wieder (Abb. 8). Das Minimalnarrativ ließe sich also auf die Formel bringen: Während ein Zug durch einen Tunnel fährt, küssen sich ein Mann und eine Frau. Wesentlich ist dabei, daß die Handlungsfolge nicht in einer einzigen, ununterbrochenen Einstellung dargestellt, sondern mittels Schnitten zergliedert wird. Die geradlinige Bewegung des Zuges auf den Schienen sowie die rahmende Ein- und Ausfahrt aus dem Tunnel stellen dabei zugleich wesentliche Darstellungselemente dar, die die lineare zeitliche Kontinuität der Handlungsfolgen bzw. Ereignisse und die Homogenität des Raumes (das Zugabteil) verbürgen. Abbildung 8: Kuß im Tunnel II – Die Anfänge des Erzählens mittels Montage

THE KISS IN THE TUNNEL (George Albert Smith, 1899)

In der Tat ist es der Schnitt, der die Grundlage, ja die Essenz der Montage darstellt. Sofern man Montage wörtlich als die Zusammenfügung verschiedener Filmstreifen versteht, ermöglicht der Schnitt erst die Montage. In diesem Sinne lassen sich Schnitt und Montage weitgehend gleichsetzen.1 Montage als grundlegende Struktur

Pythons AND NOW FOR SOMETHING COMPLETELY DIFFERENT (Ian MacNaughton, 1971) oder in THE NAKED GUN 2½: THE SMELL OF FEAR (David Zucker, 1991), wo Züge in Tunneln neben Tiefpumpen, abhebenden Raketen und einem Feuerwerk allesamt als (persiflierende) Umschreibung einer Sexszene herhalten müssen. 1

Tatsächlich bildet der Schnitt die Grundlage einer elaborierten Form der Montage; die Montagetheorien setzen ihn voraus. Ein sprechendes Beispiel dafür ist Sergej Eisensteins sich mit dem Prinzip der Montage auseinandersetzender und Béla Balázs korrigierender Aufsatz »Бела забывает ножницы« von 1926 (Sergej M. Eisenstein: »Béla vergißt die Schere«, in: ders., Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Hg. v. Felix Lenz/Helmut H. Diedrichs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 50-57). Gleichwohl setzt auch Balázs Schnitt und Montage gleich (vgl. Béla Balázs: »Montage«, in: Helmut H.

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des Films scheint demnach mit einer Abkehr des Kinos von unverbundenen Attraktionen und der Entwicklung des narrativen Films einherzugehen, die sich Gunning zufolge zwischen 1907 und 1923 vollzog,1 und die damit den Weg zum ›klassischen‹ Kino ebnete (auf das in Kap. II 3) b) noch genauer einzugehen sein wird).2 Mit dem Schnitt als Aneinanderfügung verschiedener Einstellungen, mit dem Zusammenfügen mehrerer Filmstreifen, entwickelt sich das eigentliche Potential der Montage, deren Herausforderung zunächst darin bestand, eine Kontinuität des Dargestellten zu wahren, mehr noch: narrative Kontinuität und Homogenität zu schaffen. In ihren Anfängen erweist sich die Montage deutlich als Kontinuitätsmontage.3 Damit einhergehend bildet sich vermittels der Montage ein eigener filmischer Raum, mehr noch aber eine eigene filmische Zeit heraus: Sofern er nicht unge-

Diedrichs (Hg.), Geschichte der Filmtheorie. Kunsthistorische Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 279-287; hier: S. 279). 1

Gunning spricht in diesem Zusammenhang von einer »narrativization of the cinema« (Gunning 2000, S. 233; Herv. i.O.).

2

Daraus erklärt sich auch die übliche Bestimmung D.W. Griffiths als einem der großen »Pioniere der filmischen Montage« (Hanno Möbius: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München: Fink 2000, S. 357).

3

Zum Begriff ›Kontinuitätsmontage‹ vgl. Christine N. Brinckmann: »Die anthropomorphe Kamera«, in: Birgit Erdle/Sigrid Weigel (Hg.), Mimesis, Bild und Schrift. Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste. Köln u.a.: Böhlau 1996, S. 99-121; hier: S. 111. – Eine wichtige Rolle für die Entwicklung dieser Kontinuitätsmontage als nahtloser Übergang zwischen verschiedenen Einstellungen spielten die sogenannten Chase Films, deren Blüte die Zeit zwischen 1903 und 1906 war (vgl. Gunning 2000, S. 233). Bereits Siegfried Kracauer verweist auf das Prinzip der Kontinuität, das den Chase Films zugrundeliegt: »This complex of interrelated movements is motion at its extreme, one might say, motion as such – and of course it is immensely serviceable for establishing a continuity of suspenseful physical action.« (Siegfried Kracauer: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. Princeton, NJ: Princeton Univ. Press 1997, S. 42.) In den Chase Films wird der Raum in seiner Gänze gebrochen und in einzelne Einstellungen zergliedert, die sich dann in der Montage als ein neues Ganzes zusammenfügen. Damit wird aber auch der Zeitfluß unterbrochen und zerstückelt. Ein Ereignis, eine Bewegung wird nicht mehr isochron dargestellt. Vielmehr erfolgt eine zeitliche Konzentration, eine – so Wsewolod Pudowkin – »Konzentration der Handlung durch Vernichtung unnötiger Übergangsmomente« (Wsewolod I. Pudowkin: »Besonderheiten des Filmmaterials«, in: Helmut H. Diedrichs [Hg.], Geschichte der Filmtheorie. Kunsthistorische Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 265-274; hier: S. 268).

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schnitten und/oder isochron ist, liefert ein Film in der Montage Deleuze zufolge »das indirekte Bild der Zeit, der Dauer.«1 Die Montage erweist sich als Basis der räumlichen und zeitlichen Anordnung und damit als die Grundlage filmischer Narration. In diesem Zusammenhang kann Edwin S. Porters THE GREAT TRAIN ROBBERY (1903) durchaus als ein Meilenstein in der Entwicklung filmischen Erzählens auf der Grundlage von Montage betrachtet werden. Nicht nur stellt dieser Klassiker des frühen Kinos gleichsam »eine Hommage an den Ursprung des Films aus dem Geist der Eisenbahnfahrt« dar.2 Die Bedeutung dieses gut zehnminütigen Films liegt, wie auch Lynne Kirby hervorhebt, vor allem »in its advance of narrative continuity« begründet.3 Während, wie Roberta Pearson zu bedenken gibt, die »Schnittmethoden des Kinos der Attraktionen vor 1907 […] in erster Linie darauf ab[zielten], das visuelle Vergnügen zu stärken, und nicht so sehr, eine kohärente und lineare Handlung zu erzählen«,4 so finden sich – wenngleich nicht exklusiv, so aber doch filmhistorisch sehr prominent – in Porters Film deutliche Ansätze, »Einstellungen zu einer kontinuierlich ablaufenden Handlung« zu montieren und »gleichzeitig ablaufende Ereignisse hintereinander« zu zeigen.5 Auch Richard Abel verweist auf den Innovationswert von THE GREAT TRAIN ROBBERY: »The film already departs from the usual practice of the ›cinema of attractions‹ in that it includes one virtual match on action and rudimentary crosscutting.«6 Porters Film (Abb. 9) beginnt mit einer Szene, in der zwei Räuber eine Telegraphenstation überfallen und den Telegraphisten mit vorgehaltener Pistole dazu zwingen, den Zug zum Halten zu bringen. Anschließend fesseln und knebeln sie ihn. Gemeinsam mit zwei weiteren ›Kollegen‹ besteigen die Banditen den Zug, während die Lokomotive mit Wasser betankt wird. Nachdem der Zug seine Fahrt fortgesetzt hat, dringen zwei der Banditen in einen Gepäckwagen ein, erschießen den Angestellten und sprengen einen Tresor auf. Währenddessen bringen die beiden anderen den Lokomotivführer dazu, den Zug anzuhalten und die Lokomotive mitsamt Tender abzutrennen. Sodann zwingen die Banditen die Passagiere, den Zug zu verlas-

1

Deleuze 1997a, S. 49.

2

Paech 1984, S. 22.

3

Kirby 1997, S. 55.

4

Roberta Pearson: »Das frühe Kino«, in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.), Geschichte des Internationalen Films. Übers. v. Hans Michael Bock u.a. Sonderausg. Stuttgart/Weimar: Metzler 2006, S. 13-25 [Pearson 2006a]; hier: S. 22.

5

Harald Schleicher: »Montage«, in: Thomas Koebner (Hg.), Reclams Sachlexikon des Films. 2., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart: Reclam 2007, S. 447-450; hier: S. 448.

6

Richard Abel: »Early and Pre-Sound Cinema«, in: Pam Cook (Hg.), The Cinema Book. 3rd ed. London: British Film Institute 2007, S. 3-11; hier: S. 9.

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sen, und berauben sie ihrer Wertsachen. Als ein Passagier versucht, fortzulaufen, wird er hinterrücks erschossen. Mit ihrer Beute machen sich die Räuber zunächst in der Lokomotive ›aus dem Staub‹, um dann ihre Flucht auf Pferden fortzusetzen. Zur gleichen Zeit erlangt in der Station der Telegraphist wieder das Bewußtsein und kann sich mit Hilfe seiner Tochter von seinen Fesseln befreien. Auf einer Tanzveranstaltung ruft er daraufhin mehrere Männer zusammen, die die Verfolgung der Banditen aufnehmen, die in einem abschließenden Schußwechsel allesamt getötet werden. Der Film endet mit einer frontalen Nahaufnahme, in welcher der von Justus D. Barnes gespielte Anführer der Banditen das Publikum mit seinem Revolver anvisiert und schließlich mehrfach abrückt. Abbildung 9: Das Fortschreiten der Handlung unter den Auspizien der Uhr

THE GREAT TRAIN ROBBERY (Edwin S. Porter, 1903)

THE GREAT TRAIN ROBBERY zeigt bereits deutlich das Bemühen des Regisseurs, die Einstellungen in einer solchen Weise miteinander zu verknüpfen, daß mittels linearer kausaler Verbindungen eine narrative Entwicklung insinuiert wird. Nicht nur dient dabei die Eisenbahn als Handlungsort; sie stellt, indem sie sich über mehrere miteinander verbundene, d.h. montierte, Einstellungen hinweg wiederfindet, ein augenscheinliches Bindeglied dar, das der Erzeugung interner narrativer Kohärenz dient. Ihre über weite Strecken durchgehende Präsenz ist eine notwendige Bezugsgröße für die Etablierung temporaler und, davon abgeleitet, narrativer Kontinuität. Dies deckt sich mit einer Feststellung Noël Burchs, der betont: »Temporal continuity can […] only be measured relative to some other uninterrupted visual of auditory continuity.«1 Zugleich schreitet die Handlung der Filmerzählung über weite Strekken quasi gemeinsam mit der Vorwärtsbewegung der Eisenbahn voran. Wenngleich noch sehr rudimentär und nicht bis zu ihrem logischen Ende ausgeführt, zeigt THE GREAT TRAIN ROBBERY darüber hinaus bereits erste Ansätze zu einer parallelen Handlungskonstruktion – d.h. der Darstellung gleichzeitiger Ereignisse – mittels al-

1

Noël Burch: »›Spatial and Temporal Articulations‹ and ›Editing as Plastic Art‹«, in: Peter Lehman (Hg.), Defining Cinema. London: Athlone Press 1997, S. 135-148; hier S. 137 (Herv. i.O.).

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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ternierender Parallelmontage: Der Film ordnet sich nach dem Schema AB-A-B-ABI, wobei A den Handlungsstrang, in dem die Banditen agieren, B den Handlungsstrang um den Telegraphisten und I die Einstellung, in welcher der Anführer der Räuber auf das Publikum schießt, repräsentieren.1 Der Eindruck der Gleichzeitigkeit der alternierend wiedergegebenen Ereignisse wird dabei nicht zuletzt durch die rechts oben neben der Tür in der Telegraphenstation hängende Uhr suggeriert – wenngleich diese stillsteht. Aus einer medienkultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive mag es mehr als ein bloßer Zufall erscheinen, daß die Etablierung narrativer Kontinuität in der Alternation, eine Formulierung Lynne Kirbys aufgreifend, »under the auspices of the station’s railroad clock« erfolgt.2 Telegraphie – als Mittel zur Bestimmung und Erreichung einer konventionellen Gleichzeitigkeit3 – und die standardisierte Eisenbahnzeit bilden gleichsam die notwendige Grundlage bzw. Voraussetzung, mittels welcher Porter die narrative Entwicklung sozusagen auf ein einheitliches Gleis zieht. Die Leistungen von THE GREAT TRAIN ROBBERY liegen somit vor allem in der Etablierung einer Homogenität der Räume, einer Kontinuität und Linearität der Handlung sowie der überzeugenden Darstellung gleichzeitiger Ereignisse in (zumindest ansatzweise) alternierender Parallelmontage. Die Innovationsleistungen von THE GREAT TRAIN ROBBERY werden um so mehr deutlich, wenn man diesen Film Porters mit seinem nur unwesentlich früher entstandenen Film THE LIFE OF AN AMERICAN FIREMAN (1903) vergleicht. In der vorletzten Einstellung des Films sehen wir in einer Innenaufnahme, wie ein Feuerwehrmann in ein brennendes Zimmer eindringt, das Fenster einschlägt und zunächst die Mutter und dann das Kind über eine Leiter in Sicherheit bringt, bevor weitere Feuerwehrleute über die Leiter in das Zimmer steigen und mit den Löscharbeiten beginnen. In der letzten Einstellung wird all dies wiederholt, dieses Mal jedoch als Außenaufnahme vor dem Haus (Abb. 10). So befremdlich eine solche wiederholen-

1

Vgl. hierzu auch André Gaudreault: »Detours in Film Narrative. The Development of Cross-Cutting«, in: Cinema Journal 19 (1979), Nr. 1, S. 39-59; hier: S. 53.

2

Kirby 1997, S. 55. – Freilich kommt der Uhr als Motiv – im allgemeinen wie auch hier im besonderen – durchaus symbolische Bedeutung zu. So gelangt etwa Klaus Kreimeier zur Feststellung: »Der Chronometer suggeriert Zähmung und Verfügbarkeit der Zeit und decouviert zugleich mit jedem Blick, den wir auf seine Ziffern werfen, das Spiel, das wir mit uns und gegen uns selbst spielen, wie auch die Symbolik, auf die wir uns eingelassen haben.« (Klaus Kreimeier: »Extension bis zum Nullpunkt. Die stillgestellte Zeit im Bewegungsbild«, in: Christine Rüffert u.a. [Hg.], ZeitSprünge. Wie Filme Geschichte[n] erzählen. Berlin: Bertz 2004, S. 17-28; hier: S. 19.)

3

Zur Rolle, welche die Telegraphie im 19. Jahrhundert bei der Ermittlung und Etablierung einer Konvention von Gleichzeitigkeit spielte, vgl. Peter Galison 2006, bes. S. 97-106 u. S. 128-145.

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de Darstellung auf heutige Sehgewohnheiten wirken mag – für das ›Attraktionskino‹ war sie keinesfalls ungewöhnlich. So konstatiert Roberta Pearson: »Eine der seltsamsten Schnittmethoden, die in dieser Periode benutzt wurde, war der überlappende Schnitt, der aus dem Wunsch der Filmemacher entstand, den profilmischen Raum zu erhalten und wichtige Ereignisse zu betonen, daß man sie zweimal zeigte.«1 Abbildung 10: Die Verdopplung von filmischem Raum und filmischer Zeit

THE LIFE OF AN AMERICAN FIREMAN (Edwin S. Porter, 1903)

Die doppelte Darstellung eines (vorfilmischen) Raumes zeugt also zunächst von einem noch nicht vollständig entwickelten Bewußtsein eines eigenständigen filmischen Raumes. Daneben führt sie aber auch zu einer ›Verdopplung der Zeit‹, indem ein Ereignis, das eine konkrete Dauer hat, zweimal dargestellt wird. Dementsprechend bezeichnet André Gaudreault diese Form der Montage als »temporal overlap«.2 Dabei wirkt diese Verdopplung allerdings nicht nur redundant, sondern gar störend. »The repeating action is felt as a kind of jump, obscuring the temporal fluidity.«3 Der Bruch im Zeitfluß wie die Verdopplung des Raumes führen zu einer räumlichen wie zeitlichen Desorientierung des Zuschauers. Daß diese Montagepraxis nicht nur für einen von heutigen Sehgewohnheiten geprägten, sondern auch schon auf den zeitgenössischen Zuschauer befremdlich und ungeachtet der Bemühung um Erhalt des realen vorfilmischen Raumes gar ›unrealistisch‹ gewirkt haben muß, davon zeugt nicht nur die Tatsache, daß eine alternative, spätere Schnittfas-

1

Pearson 2006a, S. 21. – Auch Stephen Heath verweist darauf, daß in der Frühzeit des Kinos ein Bestreben vorherrschte, den Raum einer vermeintlichen vorfilmischen Realität einzufangen und zu beherrschen. Hier gelte noch: »the space of film is the space of reality, film’s ambition and triumph is to ›reproduce life‹ […].« (Heath 1986, S. 384.)

2

André Gaudreault: »Temporality and Narrativity in Early Cinema (1895-1908)«, in: Roger Holman (Hg.), Cinema 1900-1906. An Analytical Study by the National Film Archive (London) and the International Federation of Film Archives. Brüssel: fiaf 1982, S. 201218; hier: S. 203f.

3

Ebd., S. 205.

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sung von THE LIFE OF AN AMERICAN FIREMAN existiert, in der die Ereignisse statt in Sukzession in Alternation dargestellt werden, sondern womöglich ebenso der Umstand, daß Porter schon kurze Zeit später in THE GREAT TRAIN ROBBERY dieses Verfahren nicht mehr verwendet. Grundsätzlich gilt, daß im Film jeder Schnitt destabilisierend auf den Blick des Zuschauers, auf seine Orientierung, wirkt, da, wie Hans Beller hervorhebt, »die Alltagswahrnehmung an Konstanz und Kontinuität gewöhnt ist.«1 Im Übergang vom frühen ›Attraktionskino‹ hin zum ›klassischen‹ narrativen Film bilden sich daher grundlegend Verfahren aus, die einer Stabilisierung räumlicher und zeitlicher Orientierung sowie Etablierung und Wahrung narrativer Kontinuität dienen. Als Instrument kommt dabei der Montage eine Vorrangstellung zu, wenngleich nicht alle Formen der Montage zum gleichen Ziel führen. So läßt sich eine »Typologie narrativer Sequenzbildung«2 auf der Grundlage von Montage aufstellen, die die verschiedenen Formen der raum-zeitlichen Kontinuität und Diskontinuität im Film widerspiegelt. Dabei können zunächst vier Möglichkeiten räumlicher Darstellung simultaner Aktionen differenziert werden:3 1.

2. 3. 4.

1

Simultaneität von Aktionen innerhalb einer Einstellung. Diese muß so gewählt sein, daß durch den Kamerawinkel zwei oder mehr Handlungen gleichzeitig erfaßt werden. Simultaneität von Aktionen innerhalb eines Kaders. Dies kann mittels Doppelund Mehrfachbelichtung oder des split-screen-Verfahrens geschehen. Simultaneität von Aktionen in Sukzession als »additive Reihung autonomer, inhaltlich aufeinander bezogener Einstellungen«.4 Simultaneität von Aktionen in Alternation (Parallelmontage).5

Hans Beller: »Transition. Oder: der Zeitsprung zwischen den Sequenzen«, in: Christine Rüffert u.a. (Hg.), ZeitSprünge. Wie Filme Geschichte(n) erzählen. Berlin: Bertz 2004, S. 43-56; hier: S. 44.

2 3

Paech 1997, S. 8. Die Übersicht zu einer Typologie räumlicher Anordnungen mittels Montage folgt im wesentlichen Gaudreault 1979, S. 41f.

4 5

Paech 1997, S. 9. Abgesehen von Punkt eins, d.h. der Darstellung simultaner Ereignisse innerhalb einer Einstellung, kann die räumliche Distanz zwischen verschiedenen Orten der Handlungen beliebig groß sein. Sie ist allein durch die Handlung und das Arrangement einer geschlossenen diegetischen Welt bestimmt.

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Ebenso wie die Montage eine variable räumliche Konfiguration erlaubt, ermöglicht sie auch verschiedene zeitliche Anordnungen. Auch hier lassen sich wiederum vier Möglichkeiten unterscheiden (vgl. Abb. 11):1 1. 2.

3.

4.

1

Die Zeit einer Einstellung B liegt vor der Zeit einer Einstellung A. In diesem Fall handelt es sich um einen Flashback (Rückblende).2 Die letzten Momente einer Einstellung A überschneiden sich mit dem Beginn einer Einstellung B. In diesem Fall liegt eine partielle Überlappung, ein Temporal Overlap vor. Die Zeit am Ende einer Einstellung A wird ohne Unterbrechung in einer Einstellung B fortgesetzt. Dieser paßgenaue Anschluß wird als Match-cut bezeichnet. Zwischen dem Ende einer Einstellung A und dem Beginn einer Einstellung B liegt eine zeitliche und/oder räumliche Lücke. Der Übergang zwischen beiden Einstellungen und damit die Fortführung der Handlung sind diskontinuierlich. In diesem Fall liegt ein Jump-cut bzw. eine Ellipse vor.3

Die Übersicht zu einer Typologie temporaler Anordnungen mittels Montage folgt im wesentlichen Gaudreault 1982, S. 203. – Vgl. auch Paech 1997 S. 10-17.

2

Neben dem Flashback als Analepse ist natürlich auch eine Prolepse möglich. Diese kann entweder einen zeitlichen Vorgriff, eine Vorausahnung oder die Darstellung eines möglichen künftigen Ereignisses, das dann doch nicht eintritt, darstellen. Als Beispiel für letztere Möglichkeit ließe sich die Einstellung der am Mast gehängten Matrosen in Sergej M. Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN (БРОНЕНОСЕЦ »ПОТЁМКИН«, 1925) benennen. – Markus Kuhn betrachtet in seiner an Gérard Genette orientierten Filmnarratologie (2011) Analepsen und Prolepsen als »Grundkategorien der Ordnung« und setzt sie in Relation zur filmwissenschaftlich etablierten Terminologie: »Der Begriff der Analepse entspricht grob dem des Flashbacks/der Rückblende in der Filmwissenschaft […], die Prolepse etwa dem Flashforward/der Vorausblende […].« (Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/New York: de Gruyter 2011 [= Narratologia; 26], S. 196; Herv. i.O.) Analepsen und Prolepsen stellen für Genette Formen der Anachronie dar, d.h. sie sind für ihn Ausdruck einer »Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte und der Erzählung« (Gérard Genette: Die Erzählung. Übers. v. Andreas Knop, m. e. Nachw. hg. v. Jochen Vogt. 2. Aufl. München: Fink 1998, S. 23).

3

Joachim Paech verweist darauf, daß – zumindest im ›klassischen‹ narrativen Film – selbst im Falle einer Ellipse die narrative Kontinuität stets gewahrt bleibt bzw. bleiben muß: »Die Ellipse oder Auslassung ist eine narrative Figur, die der Beschleunigung der erzählten Aktion über eine Reihe von Szenen hinweg dienen kann. Wenn etwas ausgelassen wird, dann ausschließlich im Sinne narrativer Kontinuität; unabhängig davon handelt es sich um eine Reihe oder (je nach ihrer figurativen Beziehung und/oder syntagmatischen

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Abbildung 11: Temporale Montage-Anordnungen

Aus: Gaudreault 1982, S. 204.

Wie aus diesen beiden Typologien hervorgeht, ermöglicht die Montage im wesentlichen eine differenzierte (wie auch differenzierende) räumliche und zeitliche Anordnung von Einstellungen, die der narrativen Sequenzbildung dient. Somit sind es letztlich Raum und Zeit, die in ihrer jeweiligen Anordnung als Grundlagen filmischen – aber nicht nur filmischen – Erzählens aufzufassen sind. Hierauf wird nun ausführlicher einzugehen sein.

An-Ordnung) Serie von mehr oder weniger unterschiedlichen Szenen.« (Joachim Paech: »Eine Szene machen. Zur räumlichen Konstruktion des filmischen Erzählens«, in: Hans Beller u.a. [Hg.], Onscreen/Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raumes. Ostfildern: Hatje Cantz 2000 [= Schriftenreihe der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe; 11], S. 93-121; hier: S. 110.)

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3) R AUM , Z EIT , E REIGNIS UND K AUSALITÄT – G RUNDLAGEN › REALISTISCHEN ‹ E RZÄHLENS Unübersehbar erfolgen bereits im ersten Jahrzehnt der Kinogeschichte Bestrebungen, im Film nicht nur eine ununterbrochene Darstellung eines Bewegungsablaufes zu präsentieren, sondern Ereignisse in miteinander verbundenen und geordneten Einstellungen so zu kombinieren, daß diese in der Zusammenstellung eine zunehmend komplexere Geschichte wiedergeben. Mit der Etablierung der Montage als »das Nacheinander und die Verbindung einzelner Einstellungen«1 wird der Film ›narrativ‹. Damit tritt die Geschichte in ihrer Darstellung aber zugleich aus der ununterbrochenen Wiedergabe eines vorfilmischen Ereignisses heraus. Es ist dies der Moment, in dem sich eine Differenz auftut zwischen einer einfachen linearen Abfolge bzw. einer bloßen Chronologie der Ereignisse und ihrer tatsächlichen Anordnung im Film. Diese Differenz führt freilich zu dem aus der literaturwissenschaftlichen narratologischen Diskussion hinlänglich bekannten »fundamentalen Gegensatz zwischen dem ›Wie‹ und dem ›Was‹«2 der (filmischen) Darstellung, für den sich in der Folge der Dominanz Genettescher Terminologie3 die Unterscheidung von Geschichte (histoire) und Erzählung (discours) etabliert hat.4

1

Jan-Oliver Decker/Hans Krah: »Zeichen(-Systeme) im Film«, in: Zeitschrift für Semiotik 30 (2008), H. 3-4, S. 225-235; hier: S. 227.

2

Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 3. Aufl. München: Beck 2002, S. 20.

3

Wohl nicht zu unrecht verweist Markus Kuhn darauf, daß Gérard Genette mit seinem im Discours du récit (1972) und im Nouveau discours du récit (1983) erweiterten und revidierten Ansatz »sowohl inner- als auch außerhalb der scientific community der Narratologen« (Kuhn 2011, S. 9) große Bekanntheit erlangt habe, und dessen Terminologie »als lingua franca der Narratologie anerkannt« sei (ebd., S. 10; Herv. i.O.).

4

Genette selbst nimmt zunächst eine Unterscheidung von erstens »Geschichte« (histoire) als narrativem Inhalt, zweitens »Erzählung« (récit) als Erzählung, also als »den Text oder Diskurs […] im eigentlichen Sinne«, sowie drittens den hervorbringenden narrativen Akt, d.h. das Erzählen bzw. die »Narration« (narration), vor (Genette 1998, S. 16; vgl. auch ders.: Discours du récit. Paris: Éd. du Seuil 2007, S. 15). Dies ist eine Erweiterung und Modifikation der von Boris Tomaševskij in seiner Theorie der Literatur (Теория литературы, 1925) formulierten Differenzierung von ›Fabel‹ (фабула) als »die Gesamtheit der Motive in ihrer logischen, kausal-temporalen Verknüpfung« und ›Sujet‹ (сюжет) als »die Gesamtheit derselben Motive in derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk vorliegen« (Boris V. Tomaševskij: Theorie der Literatur, Poetik. Nach d. Text d. 6. Aufl. [Moskau, Leningrad 1931]. Hg. u. eingel. v. Klaus-Dieter Seemann. Übers. v. Ulrich Werner. Wiesbaden: Harrassowitz 1985 [= Slavistische Studien-

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Hier ist nicht der Ort, die einzelnen Differenzierungen und Aspekte zwischen Handlungs- und Darstellungsebenen von – nicht nur filmischen – Erzählungen zu referieren oder gar die gesamte, nach wie vor nicht abgeschlossene narratologische Debatte zu rekapitulieren. Gleichwohl erscheint es als angebracht und notwendig, einige narratologische Aspekte etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. So war bereits vielfach von ›Erzählung‹, ›Narration‹ oder ›narrativem Film‹ die Rede, ohne daß bisher geklärt wurde, was genau mit diesem Begriff der ›Narrativität‹1 gemeint

bücher, N.F.; 1], S. 128; vgl. auch Martínez/Scheffel 2002, S. 22), die dann von Tzvetan Todorov aufgegriffen und von ihm in Anlehnung an Émile Benveniste mit ›histoire‹ gegenüber ›discours‹ ins Französische übertragen wurden (vgl. ebd., S. 22f.). Im Englischen dagegen haben sich z.T. andere Begriffe etabliert, so z.B. das Gegensatzpaar von ›story‹ (»Erzählung von Ereignissen in ihrer zeitlichen Folge«) und ›plot‹ (»Erzählung von Ereignissen, die den Akzent auf Kausalität legt«), das auf E.M. Forster zurückgeht (Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. 10. Aufl. Paderborn: Fink 2008, S. 98). Dagegen greift David Bordwell in seinem neoformalistischen Ansatz einer Filmnarratologie auf die Terminologie Tomaševskijs zurück, wenn er zwischen ›fabula‹ als »a chronological, cause-and-effect chain of events occurring within a given duration and a spatial field« und ›syuzhet‹ als »the actual arrangement and presentation of the fabula in the film« unterscheidet (David Bordwell: Narration in the Fiction Film. Madison, WI: The Univ. of Wisconsin Press 1985, S. 49f.). Seymour Chatman dagegen folgt in seiner Unterscheidung von ›story‹ und ›discourse‹ der Tradition strukturalistischer Terminologie (vgl. Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca, NY/London: Cornell Univ. Press 1980, S. 19). Für eine Übersicht über die verschiedenen Begriffsverwendungen sei insbesondere auf die tabellarische Zusammenstellung bei Matínez/Scheffel 2002, S. 26 verwiesen. Eine weitere tabellarische Übersicht von Alternativbezeichnungen findet sich in Silke Lahn/Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. Unter Mitarb. v. Matthias Aumüller u.a. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 17. 1

Mit Marie-Laure Ryan ließe sich ›Narrativität‹ in der simpelsten Form als diejenige Eigenschaft verstehen, »which makes a text a narrative.« (Marie-Laure Ryan: »Toward a Definition of Narrative«, in: David Herman [Hg.], The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 2007, S. 22-35; hier: S. 26.) Eine ähnliche Definition von ›Narrativität‹ bietet Gerald Prince: »Narrativity designates the quality of being narrative, the set of properties characterising narratives and distinguishing them from non-narratives.« (Gerald Prince: »Narrativity«, in: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan [Hg.], Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York: Routledge 2005, S. 387f.; hier: S. 387.) Die ›Narrativität‹ ist somit als die differentia specifica narrativer Texte (verstanden im Sinne eines weiten Textbegriffes) aufzufassen.

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ist, was er genau impliziert und/oder voraussetzt. Dies scheint aber um so notwendiger, als die Aspekte filmischer Narration (und Weltkonstitution) im allgemeinen, aber auch im besonderen in den Filmen Nicolas Roegs nur dann richtig eingeordnet und verstanden werden können, wenn die normativen Voraussetzungen und Grundannahmen geklärt sind – vor allem, da das Konzept des ›Erzählens‹ wesentlich mit den Begriffs- und Vorstellungskategorien Zeit, Raum, Ereignis, Sequenz und Kausalität verbunden ist. a) Was bedeutet Erzählen? Voraussetzungen und Konzepte der ›Narrativität‹ Wenn nicht das Aufkommen, so ist doch zumindest die Etablierung des narrativen Films (oder gleichsam die Narrativwerdung des Films) wesentlich an die Entwicklung der Montage und ihrer formalen Möglichkeiten gebunden, die die einzelnen Einstellungen eines Films nicht nur räumlich arrangieren, sondern auch in eine zeitliche Anordnung überführen.1 So ist es zunächst vor allem der zeitliche Aspekt, der in zahlreichen Definitionsansätzen von Narrativität hervortritt. David Herman beispielsweise konstatiert: »At a minimum, stories concern temporal sequences – situations and events unfolding in time.«2 In eine ähnliche Richtung geht der Defi-

1

Roberta Pearson etwa spricht von einem »Kino des Übergangs«, das sie zwischen dem »Kino der Attraktionen« und dem »Kino der narrativen Integration« ansiedelt, und in welchem sich die »Konventionen zur Konstruktion von in sich kohärenten Narrationen« langsam herausbildeten, wobei »der zunehmende Gebrauch des Schnitts« eine nicht unwesentliche Rolle spielte (Roberta Pearson: »Das Kino des Übergangs«, in: Geoffrey Nowell-Smith [Hg.], Geschichte des Internationalen Films. Übers. v. Hans Michael Bock u.a. Sonderausg. Stuttgart/Weimar: Metzler 2006, S. 25-42 [Pearson 2006b]; hier: S. 31). Auch Richard Abel weist darauf hin, daß der Übergang vom ›Attraktionskino‹ hin zum narrativen Film auf einer Transformation fußt, die die Montage hervorbrachte: »Initially, this involved a change in spatial coherence as the autonomous tableau gave way to a synthetic space constructed out of interrelated, discrete shots. Correlated with this was a change in temporality, with greater attention given to issues of succession, simultaneity and internally generated causality. Both of these produced a new form of contiguity and sequentiality […].« (Abel 2007, S. 4.)

2

David Herman: Basic Elements of Narrative. Chichester u.a.: Wiley-Blackwell 2009, S. 1. – Gleichwohl beläßt es Herman nicht bei dieser sehr basalen Definition. Statt dessen stellt er ihr weitere Kriterien zur Seite: »I characterize narrative as (i) a mode of representation that is situated in – must be interpreted in light of – a specific discourse context or occasion for telling. This mode of representation (ii) focuses on a structured time-course of particularized events. In addition, the events represented are (iii) such that they intro-

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nitionsversuch von Gerald Prince, der feststellt: »[…] narrative is the representation of at least two real or fictive events or situations in a time sequence, neither of which presupposes or entails the other.«1 Demzufolge setzt eine Minimaldefinition von Narrativität eine zeitliche Differenz zwischen mindestens zwei verschiedenen Ereignissen voraus;2 ihre Präsentation ist eine zeitliche Ordnung: »Narrativ ist ein Text schon dann, wenn er nur temporale Verbindungen enthält.«3 Doch wenngleich Wolf Schmid der Auffassung ist, daß »Kausalität und andere Formen der Motivierung« in eine Definition von Narrativität nicht einzugehen brauchen,4 finden sich in zahlreichen Definitionsansätzen doch weitere Ergänzungen, neben Kausalität z.B.

duce some sort of disruption or disequilibrium into a storyworld, whether that world is presented as actual or as fictional, realistic or fantastic, remembered or dreamed, etc. The representation also (iv) conveys what it is like to live through this storyworld-in-flux, highlighting the pressure of events on real or imagined consciousnesses undergoing the disruptive experience at issue.« (Ebd., S. 9.) Ergänzend führt er aus: »[…] these elements can be abbreviated as (i) situatedness, (ii) event sequencing, (iii) worldmaking/world disruption, and (iv) what it’s like.« (Ebd.; Herv. i.O.) 1

Gerald Prince: Narratology. The Form and Functioning of Narrative. Berlin/New York/Amsterdam: Mouton 1982 (= Janua Linguarum, Series Maior; 108), S. 4.

2

Die Notwendigkeit einer solchen zeitlichen Differenz zwischen Ereignissen nimmt etwa Gerald Prince an, wenn er konstatiert: »[…] an object is a narrative if it is taken to be the logically consistent representation of at least two asynchronous events that do not presuppose or imply each other.« (Gerald Prince: »Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability«, in: John Pier/José Angel García Landa [Hg.], Theorizing Narrativity. Berlin/New York: de Gruyter 2008 [= Narratologia; 12], S. 19-27; hier: S. 19.)

3

Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 2., verb. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter 2008, S. 6. – Wenngleich er in seiner Argumentation von den Wirkungen auf das rezipierende Subjekt (in diesem Fall den Zuschauer eines Films) ausgeht, stellt auch David Bordwell die zeitliche Komponente des Erzählens heraus. Er definiert Erzählen (›narration‹) »as a process, the activity of selecting, arranging, and rendering story material in order to achieve specific time-bound effects on a perceiver« (Bordwell 1985, S. XI; Herv. i.O.).

4

Ebd. – Schmid unterstreicht diesen Punkt mit einiger Vehemenz. So wendet er etwa gegen Boris Tomaševskij, der neben einer zeitlichen auch eine kausale Verbindung, die er »Motivation« nennt und als wesentlich für narrative Texte ansieht (vgl. Tomaševskij 1985, S. 215), ein: »Gleichwohl sollte und kann eine Minimaldefinition der Narrativität ohne das Postulat einer zusätzlichen (z.B. kausalen) Verbindung zwischen den Zuständen auskommen.« (Schmid 2008, S. 5.)

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Aspekte wie Wandel oder ein erfahrendes Subjekt.1 Denn zu Recht gibt MarieLaure Ryan zu bedenken: »But a temporally ordered sequence of events could be a list rather than a story […].«2 Und auch Schmid selbst beläßt es nicht bei einer bloßen zeitlichen Verbindung. Er nimmt an, daß mit der zeitlichen Differenz3 zwischen zwei Ereignissen eine Transformation erfolgt: »Die Minimalbedingung der Narrativität ist, dass mindestens eine Veränderung eines Zustands zu einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird. Die Veränderung des Zustands und ihre Bedingungen brauchen nicht explizit dargestellt zu werden. Für die Narrativität ist hinreichend, wenn die Veränderung impliziert wird, etwa durch die Darstellung von zwei miteinander kontrastierenden Zuständen.«4

1

Ein Definitionsansatz, der ein erfahrendes Subjekt als notwendige Bedingung für eine Erzählung voraussetzt, findet sich bei José Angel García Landa: »[…] I will define narrative as the sequential and retrospective representation of experience as an interpreted/evaluated series of events (i.e. the experiential sequence has been interpreted and evaluated and thereby forged into a sequence of events).« (José Angel García Landa: »Narrating Narrating: Twisting the Twice-Told Tale«, in: John Pier/ders. [Hg.], Theorizing Narrativity. Berlin/New York: de Gruyter 2008 [= Narratologia; 12], S. 419-451; hier: S. 422.)

2

Ryan 2007, S. 23. – Einen ähnlichen Einwand artikuliert Rick Altman, der ebenfalls der Meinung ist, daß es eines Zusatzes bedürfe, um über eine bloße Liste bzw. einen ›Katalog‹ hinauszukommen. Dieser notwendige Zusatz ist für ihn Aktivität, d.h. ein Geschehen: »Narratives require action. Without action, we may have portraiture, catalogue, or nature morte, but not narrative.« (Rick Altman: A Theory of Narrative. New York: Columbia Univ. Press 2008, S. 11.)

3

Die Bedeutung einer solchen zeitlichen Differenz hebt auch Gerald Prince hervor: »There is widespread agreement about what constitutes a narrative and what does not. In particular, many people would agree that any representation of non-contradictory events such that at least one occurs at a time t and another at a time t1 following time t constitutes a narrative (however trivial).« (Prince 1982, S. 145.)

4

Schmid 2008, S. 4. – In expliziter Anlehnung an Wolf Schmid formuliert auch Markus Kuhn eine nahezu gleichlautende »Minimalbedingung der Narrativität: Es muss mindestens eine Zustandsveränderung in einem gegebenen zeitlichen Intervall dargestellt werden. Der Ausgangszustand vor und der Endzustand nach der Veränderung müssen dabei explizit repräsentiert sein, die Veränderung und ihre Bedingungen nicht.« (Kuhn 2011, S. 61; Herv. i.O.)

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So verstanden stellt Narrativität eine Zustandsveränderung im Zeitverlauf dar.1 Diese Zustandsveränderung bezieht sich zunächst einmal auf die Seite des ›Was‹ der Darstellung: folgen die Ereignisse chronologisch aufeinander, so stellen sie ein Geschehen dar.2 So konstatiert auch Gerald Prince: »The events recounted in a narrative are organized along a temporal axis.«3 Für Prince ist eine (rekonstruierbare) chronologische Anordnung von Ereignissen auf der Handlungsseite gar eine unabdingbare Voraussetzung, die einen Text überhaupt erst zu einer Erzählung werden läßt. Zwar gesteht er zu, daß »in some narratives, it may happen that certain events cannot be dated with any degree of precision and cannot be situated temporally in relation to other events. If their number is relatively small, this characteristic does not affect the chronological coherence of the narrative and it may even be quite meaningful thematically, symbolically, or otherwise.«4

Aber er wendet zugleich ein: »Should contradictions be very numerous in a text, it becomes impossible to establish any kind of chronology and we are then no longer in the presence of a narrative.«5 Zu einer Geschichte (histoire) formt sich die chronologische Ereignissequenz,1 wenn ein weiterer Faktor hinzu tritt: die Kausalität.2 Während Kausalität für David

1

Diese Zustandsveränderung kann selbst als ein Minimalnarrativ aufgefaßt werden, verstanden »as a sequence of two propositions that denote identical entities occurring in temporally and qualitatively distinct states […]. State 2 can thus be read as narrative transformation of state 1.« (Jan Christoph Meister: »Minimal Narrative«, in: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan [Hg.], Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York: Routledge 2005, S. 312.) – Bereits Günther Müller hebt in seinen Ausführungen zu »Erzählzeit und erzählter Zeit« (1948) hervor, »daß die Erzählkunst es in besonderer Weise mit der Zeit als solcher und mit dem Ablauf von Begebenheiten zu tun hat.« (Günther Müller: »Erzählzeit und erzählte Zeit«, in: ders., Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verb. m. Helga Egner hg. v. Elena Müller. Tübingen: Niemeyer 1968, S. 269-286; hier: S. 270.)

2

Vgl. Martínez/Scheffel 2002, S. 25. – Markus Kuhn bezeichnet diese simple chronologische Aneinanderreihung von Ereignissen als »story« (Kuhn 2011, S. 66).

3 4

Prince 1982, S. 64. Ebd. – Daß Unbestimmtheiten in der chronologischen Anordnung der Ereignisse auf der Ebene des Geschehens durchaus intendiert sein können, erkennt auch Prince an: »Chronological contradictions can also be part of an overall narrative strategy and function in specific thematic and structural ways […].« (Ebd., S. 65.)

5

Ebd. – Als Beispiel für eine solche ›Nicht-Erzählung‹ führt Prince Alain Robbe-Grillets La Jalousie (1957) an.

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Prince ein fakultatives – aber gleichwohl charakteristisches – Element von Narrativen darstellt,3 sieht es David Hermann als ein wesentliches Merkmal von Erzähltexten (im Sinne eines weiten Textbegriffs) an, daß diese neben dem Aspekt zeitlicher Sukzession auch Kausal-, d.h. Ursache-Wirkungs-Beziehungen stiften: »[…] narrative is a primary source for building causal-chronological patterns – that is, sequences of events are linked not just by temporal succession but also by relations of cause and effect […].«4 Dieses Zusammenspiel von Temporalität und Kausalität

1

Für Genette stellt die ›histoire‹, wie er im Nouveau discours du récit kurz ausführt, zunächst eine ›Handlungskette‹, »un enchaînement d’actions« (Genette 2007, S. 301) bzw. eine »Verknüpfung von Handlungen«, wie es in der deutschen Übersetzung heißt (Genette 1998, S. 201), dar.

2

Vgl. Martínez/Scheffel 2002, S. 25. – Markus Kuhn bezeichnet eine »Ereignisfolge«, die »zusätzlich zum chronologischen auch einen kausalen Zusammenhang aufweist«, als ›plot‹ (Kuhn 2011, S. 66). Dies deckt sich mit E.M. Forsters klassischer Definition des ›plot‹ als eine um Kausalität erweiterte Zeitsequenz in Abgrenzung zur einfachen Chronologie der ›story‹. In Aspects of the Novel (1927) schreibt er: »Let us define a plot. We have defined a story as a narrative of events arranged in their time-sequence. A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality. ›The king died and then the queen died‹, is a story. ›The king died, and then the queen died of grief‹, is a plot. The time-sequence is preserved, but the sense of causality overshadows it. Or again: ›The queen died, no one knew why, until it was discovered that it was through grief at the death of the king.‹ This is a plot with a mystery in it, a form capable of high development. It suspends the time-sequence, it moves as far away from the story as its limitations will allow.« (Edward M. Forster: Aspects of the Novel. Harmondsworth: Penguin 1962, S. 93f.) Damit wird deutlich, daß die Kategorie ›plot‹ keinesfalls mit der Genetteschen Kategorie des ›discours‹ gleichzusetzten ist, sondern eher dessen Begriff der ›histoire‹ entspricht. – David Bordwell dagegen sieht die chronologisch-kausale Verknüpfung von Ereignissen als bestimmendes Merkmal der ›fabula‹ an: »More specifically, the fabula embodies the action as a chronological, cause-and-effect chain of events occurring within a given duration and a spatial field.« (Bordwell 1985, S. 49.)

3

Gerald Prince stellt zwar grundsätzlich Kausalität als eine Verknüpfungsmöglichkeit von Ereignissen in narrativen Texten fest: »Two events or a series of events may be related not only temporally and spatially but also causally […].« (Prince 1982, S. 66.) Er schränkt aber dann deren Relevanz sogleich ein: »[…] although causal connections are not an integral part of all narratives, they are characteristic of many of them.« (Ebd.)

4

David Herman: »Toward a Transmedial Narratology«, in: Marie-Laure Ryan (Hg.), Narrative Across Media. The Languages of Storytelling. Lincoln, NE/London: Univ. of Nebraska Press 2004, S. 47-75; hier: S. 57. – Auch Michael Scheffel weist darauf hin, daß zur Bestimmung der Narrativität eines Textes »das Minimalkriterium der Darstellung

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sieht auch Nicole Mahne in ihrer kognitivistisch orientierten, transmedialen Definition als ein wesentliches Merkmal von Narrativität an. Sie stellt fest: »Das Erzählerische oder Narrative beschreibt eine grundlegende kognitive Fähigkeit des Menschen, Ereignisse der Lebenswirklichkeit sinnvoll zu organisieren und zu vermitteln. Das menschliche Wahrnehmungsvermögen, zeitliche Prozesse in eine chronologische und kausale Ordnungsstruktur zu überführen, bildet das Fundament für die Gestaltung von Erzählwerken.«1

Faßt man den Begriff der Kausalität so auf, wie er in der klassisch-mechanistischen Physik vestanden wird, dann bezeichnet er, daß ein zeitlich früheres die Ursache für ein zeitlich späteres Ereignis ist.2 Letzteres ist damit die Folge einer Wirkung. Als ›Ursache‹ im narratologischen Sinne ließe sich dabei dasjenige (Ereignis) auffassen, das auf der Ebene des Geschehens eine Veränderung hervorruft.3 So postuliert auch

einer zeitlichen Folge von Ereignissen oder Situationen um ein weiteres Kriterium ergänzt« werden muss, und fügt hinzu: »In der Regel ist das das Kriterium der Kausalität.« (Michael Scheffel: »Was heißt [Film-]Erzählen? Exemplarische Überlegungen mit einem Blick auf Schnitzlers ›Traumnovelle‹ und Stanley Kubricks ›Eyes Wide Shut‹«, in: Susanne Kaul/Jean-Pierre Palmier/Timo Skrandies [Hg.], Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Bielefeld: transcript 2009, S. 15-31; hier: S. 16.) – Für Marie-Laure Ryan ist die Kausalität (gemeinsam mit Sequentialität und Geschlossenheit) ein wesentlicher Bestandteil der formalen und pragmatischen Dimension von Erzählen: »The sequence of events must form a unified causal chain and lead to closure.« (Ryan 2007, S. 28.) 1

Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 9 (Herv. i.O.). – Eine formale Definition von Erzählen unter kognitivistischen Vorzeichen bietet auch David Bordwell: »In the fiction film, narration is the process whereby the film’s syuzhet and style interact in the course of cueing and channeling the spectator’s construction of the fabula.« (Bordwell 1985, S. 53; Herv. i.O.)

2

An die zeitliche Gebundenheit von Ursache-Wirkungs-Relationen (Kausalität) verweisen auch Bordwell und Thompson, die festhalten: »Causes and their effects are basic to narrative, but they take place in time.« (Bordwell/Thompson 2008, S. 80.)

3

David Bordwell und Kristin Thompson zufolge sind es dabei die Figuren innerhalb einer Erzählung, die diese Veränderungen induzieren: »Usually, the agents of cause and effect are characters. By triggering and reacting to events, characters play roles within the film’s formal system.« (David Bordwell/Kristin Thompson: Film Art. An Introduction. 8th ed. Boston u.a.: McGraw-Hill 2008, S. 77; Herv. i.O.) Und sie führen weiter aus: »In any narrative film, either fictional or documentary, characters create causes and register effects.« (Ebd., S. 78.)

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Brian Richardson: »A cause in narrative is an action or event that directly or obliquely produces a transformation […].«1 Dabei scheint es, daß kausale Verbindungen nicht zwangsläufig offensichtlich sein müssen in einem narrativen Text. Wolf Schmid etwa gibt zu bedenken: »In literarischen Texten ist die Kausalität ja nur in den seltensten Fällen explizit und zuverlässig ausgedrückt.«2 Sie müssen dies wohl auch nicht, da die Rezipienten eines narrativen Textes dazu tendieren, diese zu inferieren. David Bordwell weist darauf hin, daß es einem Grundbedürfnis von Zuschauern (oder auch Lesern) gleichkommt, zwischen zwei dargebotenen Ereignissen neben räumlichen und zeitlichen Beziehungen auch eine kausale Relation anzunehmen: »Presented with two narrative events, we look for causal or spatial or temporal links.«3 Die Linearität der Ereignisse bleibt auf der Ebene der Geschichte gewahrt, denn »all stories move only in one direction, forward through time. If there is a knowable beginning, that’s where they begin. If there is a knowable end, that’s where they end. The process of telling is the story’s narration«, wie H. Porter Abbot herausstellt.4 Gerade für den Film scheint diese Linearität besonders bestimmend zu sein, schon allein aufgrund seiner technisch-mechanischen Prädisposition. So betont Mary Ann Doane:

1

Brian Richardson: »Causality«, in: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York: Routledge 2005, S. 48-52; hier: S. 48. – Richardson weist darüber hinaus darauf hin, daß Kausalität nicht nur ein wesentliches Element der Verbindung von Ereignissen in narrativen Texten ist, sondern auch grundlegend für die Kondition fiktiver, narrativer Welten (vgl. ebd., S. 51).

2 3

Schmid 2008, S. 5. Bordwell 1985, S. 49. – Gemeinsam mit Thompson hebt Bordwell dieses Bestreben des Rezipienten, Kausalbeziehungen zwischen dargestellten Ereignissen anzunehmen, nochmals deutlich hervor: »In general, the spectator actively seeks to connect events by means of cause and effect. Given an incident, we tend to imagine what might have caused it or what it might in turn cause. That is, we look for causal motivation.« (Bordwell/Thompson 2008, S. 75.) Ähnlich argumentiert Jon K. Adams, der ebenfalls annimmt, daß Kausalität eine von den Rezipienten auf der Grundlage von Sukzession und Kontiguität inferierte Verbindung zwischen (mindestens) zwei Ereignissen ist. Diese Inferenz ist ihm zufolge indes nicht das Ergebnis von Erfahrung bzw. Wahrnehmung, sondern die Folge einer Interpretation auf Seiten der Rezipienten (vgl. Jon K. Adams: »Causality and Narrative«, in: Journal of Literary Semantics 18 [1989], Nr. 3, S. 149-162; hier: S. 151).

4

H. Porter Abbot: »Story, Plot, and Narration«, in: David Herman (Hg.), The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 2007, S. 39-51; hier: S. 39 (Hervor. i.O.).

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»The temporal irreversibility at issue here is, indeed, a mechanical one – that of the cinematic apparatus and its representation of movement. It is not narrative irreversibility, although it is arguable that narrative as a temporal form tends, overall, to corroborate the directionality, linearity, and hence irreversibility of time. Yet film narrative can and does depend upon the temporal aberrations of memories and projections, incarnated in flashbacks, flashforwards, and radical ellipses.«1

Die temporale Linearität des Films ist also, wenn Doane Recht behält, nicht nur eine mechanische, sondern auch und sogar eine narrative. Zwar können die verschiedenen Formen der Montage als Versuch angesehen werden, die einfache Chronologie der Ereignisse auf der Ebene der Darstellung aufzubrechen und neu und sinnvoll zu arrangieren; letztlich holt aber die aller filmischer Darstellung zugrundeliegende Linearität der dargestellten Bewegung diese wieder ein. Doane führt dazu aus: »This basic commitment to the irreversibility of movement subtends and supports all the various experimentations with narrative temporality that punctuate the history of cinema. It is this basic commitment which impresses the spectator with the inexorably forward movement of film, with the ›truth‹ of irreversibility.«2

Gleichwohl ist die Montage im Film ein sprechendes Beispiel dafür, daß die einfache Chronologie der Ereignisse auf der Ebene des Geschehens keinesfalls der tatsächlichen Anordnung auf der Ebene der Darstellung entsprechen muß. Für die Anordnung der erzählten Ereignisse auf der Ebene der Darstellung, d.h für die »Gestaltung und zeitliche Umgruppierung der Ereignisse im Text«, hat sich im Zuge der Genetteschen Terminologie der Begriff ›discours‹ bzw. ›Erzählung‹ etabliert.3 Andernorts findet sich allerdings auch die Bezeichnung ›plot‹ (wenngleich nicht im Sinne E.M. Forsters, dessen plot-Konzept eher dem Begriff Geschichte bzw. histoire entspricht). So betont beispielsweise H. Porter Abbot, die Entscheidung »to redistribute the order in which the story events are told is a plot decision.«4 Mit Bezug auf den Film fassen Bordwell und Thompson ›plot‹ gar als »everything visible and audible present in the film before us« auf: »The plot includes, first, all the story events that are directly depicted.«5 Demzufolge gehören

1

Doane 2002, S. 131.

2

Ebd.

3

Martínez/Scheffel 2002, S. 25. Vgl. auch Kuhn 2011, S. 66.

4

Abbott 2007, S. 40. – Und er fügt als Erklärung zu dieser Unterscheidung hinzu: »The distinction between plot and story, like that between narration and story, is an implicit presumption that a story is separate from its rendering.« (Ebd.)

5

Bordwell/Thompson 2008, S. 76.

90 | KINO DER UNORDNUNG

auch alle anderen sicht- und hörbaren Element wie Titel (›credits‹) und Musik – also nicht-diegetisches Material1 – zum Plot. Der Begriff ›plot‹ wird damit – mindestens im Vergleich zu seiner ursprünglichen Verwendung bei Forster – immer schwammiger,2 eine genauere Differenzierung von ›plot‹ und ›story‹ immer schwieriger.3 Dementsprechend konstatieren sie: »In sum, story and plot overlap in some respect and diverge in others. The plot explicitly presents certain story events, so these events are common to both domains. The story goes beyond the plot in suggesting some diegetic events that we never witness. The plot goes beyond the story world by presenting nondiegetic images and sounds that may affect our understanding of the action.«4

Die Summe aller erzählten Ereignisse inklusive stilistischer Mittel und ihrer Darstellungsverfahren, kurz: die eigentliche Präsentation der Geschichte (einschließlich der Art und Weise der Präsentation) indes stellt die eigentliche Narration (bzw. das Erzählen) dar.5

1

Zum Begriff der ›Diegese‹ und dem Status von ›diegetischem‹ und ›nicht-diegetischem‹ Material vgl. III 1) b).

2

Jörg Schönert etwa definiert, dem ganzen noch einen neuen Akzent versetzend, ›plot‹ als »die sequentielle Organisation von Aktionen und Ereignissen zu […] einer bedeutungsbesetzten Geschichte.« (Jörg Schönert: »Narratologie als Texttheorie – mit Perspektiven für die textanalytische Praxis interkultureller Narratologie«, in: Magdolna Orosz/ders. [Hg.], Narratologie interkulturell. Entwicklungen – Theorien. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2004 [= Budapester Studien zur Literaturwissenschaft; 5], S. 179-188 [Schönert 2004a]; hier: S. 181.

3

Daß eine genauere Differenzierung zwischen den Begriffen ›plot‹ und ›story‹ wie auch eine Unterscheidung zwischen dem ›Was‹ und dem ›Wie‹ der Darstellung nicht immer möglich ist, bringt Abbot auf den Punkt, wenn er konstatiert: »But nothing is tidy in the study of narrative. This is largely because narrative happens in the mind, with its empirical components – words spoken or printed, pictures on a screen, actors on a stage – transformed by cognitive processes that are still largely mysterious.« (Abbott 2007, S. 40.)

4

Bordwell/Thompson 2008, S. 77. – Zu den Überschneidungen, mehr noch aber zu den Unterschieden von ›plot‹ und ›story‹ führen sie weiter aus: »We can think about these differences between story and plot from two perspectives: From the standpoint of the storyteller – the filmmaker – the story is the sum total of all the events in the narrative. […] From the perceiver’s standpoint things look somewhat different. All we have before us is the plot – the arrangement of material in the film as it stands. We create the story in our minds on the basis of cues in the plot.« (Ebd.)

5

Vgl. Martínez/Scheffel 2002, S. 25 und Kuhn 2011, S. 66.

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Nach wie vor ungeklärt geblieben ist dabei die Bedeutung eines bisher vielfach angeführten Begriffes: des ›Ereignisses‹. Was ist mit einem ›Ereignis‹ im (zunächst) narratologischen Sinne überhaupt gemeint? Für Martínez und Scheffel ist es die »elementare Einheit eines narrativen Textes im Bereich der Handlung«.1 Markus Kuhn ergänzt diese Definition um die Feststellung, daß ein Ereignis »eine spezifische Form der Zustandsveränderung« sei.2 Dies scheint nur bedingt überzeugend, insofern gemäß obiger Ausführungen eine Transformation, also eine Zustandsveränderung, zwischen zwei Ereignissen erfolgt. Demnach ist ein Ereignis keine Zustandsveränderung, sondern einer solchen unterworfen bzw. Auslöser und/oder Ergebnis einer solchen. Grundlegend betrachtet stellt ein Ereignis zunächst ein Geschehen dar: »something is happening«, wie Doane es ausdrückt.3 Dabei muß es noch nicht einmal »ein besonderer, nicht alltäglicher Vorfall« sein, wie ihn Wolf Schmid als grundsätzlich für ein Ereignis ansieht4 – im Sinne der Physik

1

Martínez/Scheffel 2002, S. 25.

2

Kuhn 2011, S. 66. – Kuhn folgt in seiner erweiterten Definition Wolf Schmid, der mit Blick auf die Kategorie ›Ereignis‹ die Auffassung vertritt, daß jedes Ereignis eine Zustandsveränderung impliziere, aber auch anfügt: »nicht jede Zustandsveränderung bildet ein Ereignis.« (Schmid 2008, S. 12.) Schmid schlägt fünf Merkmale vor, »die in einer Zustandsveränderung realisiert sein müssen, damit diese ein Ereignis genannt werden kann.« (Ebd., S. 13) Es sind dies: »1. Das erste Kriterium ist die Relevanz der Veränderung. Die Ereignishaftigkeit steigt in dem Maße, wie die Zustandsveränderung in der jeweiligen narrativen Welt als wesentlich empfunden wird. […] 2. Das zweite Kriterium ist die Imprädiktabilität. Die Ereignishaftigkeit steigt mit dem Maß der Abweichung von der narrativen ›Doxa‹, dem in der jeweiligen Welt allgemein Erwarteten. […] 3. Konsekutivität: Die Ereignishaftigkeit einer Zustandsveränderung steigt in dem Maße, wie die Veränderung im Rahmen der erzählten Welt Folgen für das Denken und Handeln des betroffenen Subjekts hat. […] 4. Irreversibilität: Die Ereignishaftigkeit nimmt zu mit der Irreversibilität des aus der Veränderung resultierenden Zustands, d.h. mit der Unwahrscheinlichkeit, dass der erreichte Zustand rückgängig gemacht werden kann. […] 5. NonIterativität: Veränderungen, die sich wiederholen, konstituieren, selbst wenn sie relevant und imprädiktabel sind, bestenfalls nur geringe Ereignishaftigkeit.« (Ebd., S. 14-18; Herv. i.O.) – Jörg Schönert faßt Geschichten allgemein auf »als verknüpfende Darstellungen von Zustandsveränderungen« (Jörg Schönert: »Zum Status und zur disziplinären Reichweite von Narratologie«, in: Vittoria Borsò/Christoph Kann [Hg.], Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien. Köln/Weimar/Wien: Böhlau: 2004 [= Europäische Geschichtsdarstellungen; 6], S. 131-143 [Schönert 2004b]; hier: S. 131).

3 4

Doane 2002, S. 141. Schmid 2008, S. 11. – Wenngleich mit einem etwas anderen Akzent, sieht auch Klaus Kreimeier Ereignisse als die Zeit einteilende und markierende Phänomene an: »Ereignis-

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kann schließlich schon das Aussenden eines Lichtstrahls ein Ereignis darstellen.1 Vielmehr kann ein Ereignis als eine ›Zelle der Zeit‹ angesehen werden; es ist, mit Doane gesprochen, »the most condensed and semantically wealthy unit of time«.2 Doch jedes Ereignis hat zugleich seinen konkreten Ort, es vollzieht sich im Raum, ist in diesem verortet. So stellt auch Jakob Lothe fest: »A narrative presents a chain of events which is situated in time and space.«3 Neben Zeitlichkeit und Kausalität erscheint damit Räumlichkeit als ein weiteres wesentliches, ›Narrativität‹ bestimmendes Merkmal. Demgemäß gesteht zwar auch Teresa Bridgeman der Zeit eine herausragende Rolle für das Konzept des Erzählens zu, »given that we tend to think of stories as sequences of events«; zugleich aber hebt sie die Bedeutung des Raumes hervor, der stets in einer engen Beziehung zur Zeit (und vice versa) gedacht werden müsse: »Space has often been set in opposition to time, associated with static description which slows up and intrudes into the narration of dynamic events. However, this opposition fails to recognize how far time and space are bound up with each other in narrative […].«4 Zieht man all dies – also das Zusammenspiel von Zeit, Raum, Ereignis und Kausalität – in Betracht, dann ist ein narratologischer Definitionsvorschlag wie jener von David Bordwell und Kristin Thompson der bei weitem überzeugendste. Sie definieren ›Erzählen‹ (Narration) – bzw. genauer: eine Erzählung – wie folgt: »We consider a narrative to be a chain of cause-effect relationships occurring in time and space.«5

se sind Einschnitte, sie schneiden in die Formlosigkeit des tempo fugit eine Struktur, sind Kerben im Strom der Zeit.« (Kreimeier 2004, S. 19; Herv. i.O.) 1

So spricht beispielsweise Albert Einstein in seiner allgemeinverständlichen Erklärung der Speziellen Relativitätstheorie von einem Blitzeinschlag (und dem von ihm ausgehenden Lichtstrahl) als einem ›Ereignis‹ (vgl. Einstein 2009, S. 16f.).

2

Doane 2002, S. 141. – Für Doane steht gerade das Kino in einem besonderen Verhältnis zum Ereignis als ›Zelle der Zeit‹, und zwar insofern, als »the cinema, together with other technologies of modernity, is instrumental in producing and corroborating an event, in dividing temporality to elicit eventful and uneventful time.« (Ebd., S. 144.)

3

Jakob Lothe: Narrative in Fiction and Film. An Introduction. Oxford/New York: Oxford Univ. Press 2000, S. 3.

4

Teresa Bridgeman: »Time and Space«, in: David Herman (Hg.), The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 2007, S. 52-65; hier: S. 53.

5

Bordwell/Thompson 2008, S. 75 (Herv. i.O.). – Ergänzend stellen sie fest: »All the components of our definition – causality, time, and space – are important to narrative in most media, but causality and time are central. A random string of events is hard to understand as a story.« (Ebd.)

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b) Lineare Abhängigkeiten: Realismus, ›précinema‹ und das Kino der Ordnung Im Zusammenspiel mit Kausalität, ja als Voraussetzung für diese, nehmen die Kategorien Raum und Zeit unbestreitbar eine herausragende Rolle in der Bestimmung von Narrativität ein; sie können als das Fundament jeglichen Erzählens unabhängig vom jeweiligen Trägermedium erachtet werden.1 Teresa Bridgeman stellt demgemäß völlig zu Recht fest: »Time and space are thus more than background elements in narrative; they are part of its fabric, affecting our basic understanding of a narrative text and of the protocols of different narrative genres.«2 Allerdings sollte dabei nicht außer acht gelassen werden, daß ›Zeit‹ und ›Raum‹ zunächst abstrakte Begriffe darstellen, die in unterschiedlichen Kontexten (Philosophie, Theologie, Mythologie, Naturwissenschaften etc.) historisch je verschieden aufgefaßt und mit

1

Es ist die Grundannahme der trans- bzw. supramedialen Narratologie, daß das Erzählen bzw. ›das Erzählerische‹ nicht an ein bestimmtes Medium gebunden ist; lediglich die konkreten Ausformungen des Erzählprozesses unterliegen den spezifischen Möglichkeiten und Beschränkungen des jeweiligen Mediums. In diesem Sinne betont Rick Altman: »Clearly, narrative exists independently of the media that give it concrete form.« (Altman 2008, S. 1.) Auch David Bordwell »treats narration as a process which is not in its basic aims specific to any medium.« (Bordwell 1985, S. 49.) Demgemäß betrachtet Nicole Mahne das »Narrative als formales Verstehens- und Kommunikationsprinzip«, das »nicht auf dem medialen Leistungspotential einer einzelnen Erzählgattung« beruht, sondern »im Gegenteil allen medialen Erscheinungsformen übergeordnet« ist (Mahne 2007, S. 9). Für Marie-Laure Ryan ist diese transmediale Reichweite des Narativen dem Umstand geschuldet, daß eine Erzählung zwar einerseits textbasiert ist, andererseits aber einer Vorstellung, einem mentalen Konstrukt auf Seiten des Rezipienten entspricht (vgl. MarieLaure Ryan: »Introduction«, in: dies. [Hg.], Narrative Across Media. The Languages of Storytelling. Lincoln, NE/London: Univ. of Nebraska Press 2004, S. 1-40; hier: S. 9). Gleichwohl gibt sie zu bedenken, daß nicht alle Medien gleichermaßen geeignet sind, um Geschichten zu transportieren. »When it comes to narrative abilities, media are not equally gifted; some are born storytellers, others suffer from serious handicaps.« (Marie-Laure Ryan: »On the Theoretical Foundations of Transmedial Narratology«, in: Jan Christoph Meister [Hg.], Narratology Beyond Literary Criticism. Mediality, Disciplinarity. Berlin/New York: de Gruyter 2005 [= Narratologia; 6], S. 1-23; hier: S. 1.) Einige Medien (Erzählliteratur, Film, Comic etc.) können also als deutlich erzählaffiner erachtet werden, als andere. Ryan schließt daraus: »The fullest realization of narrative occurs when we have a text that is both intended as narrative, and possesses sufficient narrativity to be construed as such.« (Ebd., S. 7.)

2

Bridgeman 2007, S. 52f.

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weitreichenden Implikationen versehen wurden. Es ist hier nicht der Ort, die gesamte Begriffs- und Vorstellungsgeschichte beider Kategorien zu rekapitulieren; vielmehr gilt es, sich vor Augen zu führen, daß die unterschiedlichen begrifflichen Vorstellungen von Raum und Zeit zweifelsohne auch unser jeweiliges Verständnis von den spezifischen Ausprägungen von Erzählen bestimmen. Auch Bridgeman gibt zu bedenken: »Different cultural concepts of both time and space and their interrelationships can influence how narrative is constructed and experienced.«1 Wie nun schon zuvor ausführlich dargelegt, hat sich die Eisenbahn, die gleichsam auf den Gleisen eines klassisch-physikalischen, der Newtonschen Mechanik wie der Thermodynamik verpflichteten Raum- und Zeitbegriffs dahinrollt, als ein wichtiger Motor (und Promotor) für die Grundlegung der erzählerischen Möglichkeiten des Films erwiesen. Jedes Artefakt indes, das im wesentlichen auf einem mechanistisch-szientifischen Weltbild basiert – also auch der narrative Film –, ließe sich, einer von Nicolas Abercrombie, Scott Lash und Brian Longhurst formulierten These folgend, als ›realistisch‹ auffassen. Sie heben hervor: »To be realist a cultural form must be compatible with an ontology rooted in secular and scientific cosmology. And more specifically in a scientific cosmology (based on Galilean and Newtonian concepts) that is primarily mechanistic.«2

1 2

Bridgeman 2007, S. 56. Abercrombie/Lash/Longhurst 1992, S. 118. – In gewisser Weise spiegelt sich in dieser Auffassung die bereits zuvor festgestellte Popularität physikalischer (d.h. mechanistischer und auch thermodynamischer) Theorien für das kulturelle Paradigma des 19. Jahrhunderts wider, das sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Dies deckt sich mit der Auffassung von Abercrombie, Lash und Longhorst, die über den Zusammenhang von ›Realismus‹ und einer Art populärer communis opinio festhalten: »To define realism is evidently to say that cultural forms must be plausible and significantly conform with visions of reality in everyday life. But to make sociological sense, realism must be substantially more spatio-temporally delimited than this. Realism must include only cultural forms which conform with a particular vision of everyday reality, with a particular ›high‹ or ›popular‹ ontology.« (Ebd., S. 117f.) Auf einen solchen engen Zusammengang eines ›Realismus‹Begriffs mit unseren Konzeptionen bzw. Vorstellungen, was Wirklichkeit sei, kommt auch Torben Grodal zu sprechen, der ›Realismus‹ in den Medien als eine Übereinstimmung mit den Erfahrungen des Zuschauers deutet: »The degree to which there is a positive connection between representation and concepts of ›reality‹, determines the degree to which the representation will be evaluated as ›realistic‹.« (Torben Grodal: »The Experience of Realism in Audiovisual Representation«, in: Anne Jerslev [Hg.], Realism and ›Reality‹ in Film and Media. Copenhagen: Tusculum Museum Press 2002, S. 67-91; hier: S. 68.) Einige Parameter, auf denen unsere Vorstellungen von Wirklichkeit aufbauen, können ihm zufolge als mehr oder weniger allgemeingültig angesehen werden. So basiere

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Ein auf physikalischen, sowohl mechanistischen wie thermodynamischen Raum- und Zeitvorstellungen fußendes Erzählen, wie es für die Entwicklung des narrativen Films wesentlich ist, ist demgemäß also als ein ›realistisches Erzählen‹ aufzufassen. Diese Form eines spezifischen ›Realismus‹ hat sich – so apodiktisch dies klingen mag – als die dominante, bis heute wohl erfolgreichste ästhetische wie narrative (das eine ist kaum vom anderen zu trennen) Konzeption durchgesetzt – zunächst jener des ›realistischen‹ Romans, dann, darauf aufbauend, des (Spiel-) Films.1 Colin MacCabe bringt es auf den Punkt: »realism is, and has been, the dominant aesthetic in film […].«2 Diese Dominanz einer realistischen Tendenz3 des

unsere grundlegende Wahrnehmung der physischen Welt unter anderem auf angeborenen Fähigkeiten. Gleichwohl sei die Wahrnehmung und mehr noch die Darstellung von Wirklichkeit stark durch kulturelle, epochale und individuelle Erfahrungen bestimmt (ebd., S. 69). Eine solche bestimmende kulturelle Dominanz für die communis opinio kann den physikalischen Raum- und Zeitkonzeptionen zugeschrieben werden. 1

David M. Baulch argumentiert, daß der realistische Roman des 19. Jahrhunderts (dessen Ursprünge ins 18. Jahrhundert zurückreichen) in seinem ihm zugrundeliegenden Weltbild, das sich auch in der formalen und narrativen Konstruktion niederschlägt, den Vorstellungen einer klassisch-mechanistischen Physik, die auf Newton zurückgeht, verpflichtet sei: »With the rise to predominance of the novel in the eighteenth century as the primary vehicle for narrative realism, the truth of the literary real has been closely connected to the assumptions of Newtonian or classical physics and its empirical epistemology as the dominant forms within which our cultural understanding of physical reality since the Enlightenment is constructed.« (David M. Baulch: »Time, Narrative, and the Multiverse: Post-Newtonian Narrative in Borges’s ›The Garden of the Forking Paths‹ and Blake’s ›Vala or the the Four Zoas‹«, in: The Comparatist 27 [2003], S. 56-78; hier: S. 56.) – Für einen detaillierten Überblick über die diversen Realismus-Debatten vgl. Stephan Kohl: Realismus. Theorie und Geschichte. München: Fink 1977.

2

Colin MacCabe: »Theory and Film: Principles of Realism and Pleasure«, in: Screen 17 (1976), Nr. 3, S. 7-27; hier: S. 8.

3

Bereits André Bazin, selbst einer der prominentesten Wortführer einer realistischen Ästhetik des Films, weist auf eine dominante realistische Tendenz in der Filmgeschichte hin, wenn er feststellt: »Seit dem Ende der expressionistischen Irrlehre und vor allem seit Beginn des Tonfilms läßt sich auf der Leinwand eine deutliche Tendenz zum Realismus erkennen. Grob gesagt, will der Film dem Zuschauer eine möglichst perfekte Illusion der Wirklichkeit verschaffen, unter Berücksichtigung der logischen Erfordernisse der filmischen Handlung und der neuesten technischen Möglichkeiten. Damit steht das Kino deutlich im Widerspruch zur Dichtung, zur Malerei und zum Theater und nähert sich immer mehr dem Roman.« (André Bazin: »Der filmische Realismus und die italienische Schule

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narrativen Kinos gilt es um so mehr hervorzuheben, als sie eben gerade auch eine Folie bildet, vor der sich vermeintlich ›nicht-realistische‹ Filme überhaupt erst verstehen lassen. Dies gilt freilich auch und im besonderen Maße für die Filme Nicolas Roegs. Dabei zeichnet sich an dieser Stelle schon ab, daß ›Realismus‹ hier vor allem im Sinne einer Erzählverfahrensweise und als ästhetische Strategie aufgefaßt wird,1 die sich durch eine spezifische ›Ökonomie‹ des Raum- und Zeitarrange-

nach der Befreiung«, in: ders., Was ist Film? Berlin: Alexander Verlag 2004 [Bazin 2004a], S. 295-326; hier: S. 307f.) 1

Freilich ist dies nur eine mögliche Konzeption, die sich hinter dem Begriff ›Realismus‹ verbirgt. Daneben lassen sich andere Bedeutungen ausmachen, die teils in enger Verzahnung mit dem hier Berücksichtigung findenden Konzept stehen, teils aber auch in völlig andere Richtungen gehen. So differenziert bspw. Roman Jakobson in seinen Ausführungen »Über den Realismus in der Kunst« (»О художественном реализме«, 1921) fünf verschiedene Bedeutungen des Begriffs ›Realismus‹, die als mustergültig erachtet werden können. In der Bedeutung A handelt es sich »um ein Streben, eine Tendenz, d.h. unter einem realistischen Werk wird ein Werk verstanden, das von einem bestimmten Autor als wahrscheinlich konzipiert worden ist […].« Es handelt sich hierbei also um die Intention des Künstlers bzw. Autors; ›Realismus‹ ist in dieser Bedeutung ein Phänomen auf der Seite des Produzenten. Gemäß Bedeutung B wird ein Werk realistisch genannt, »das ich kraft meines Urteilsvermögens als wahrscheinlich rezipiere […].« Dies betrifft also die Seite des Rezipienten und seine subjektive Wahrnehmung. Bedeutung C meint »die Summe charakteristischer Merkmale einer bestimmten Kunstrichtung des 19. Jahrhunderts« und erfaßt den Realismus als Schule bzw. künstlerische Epoche des 19. Jahrhunderts. ›Realismus‹ in der Bedeutung D »ist die Verdichtung des Erzählten mit Hilfe von Bildern, die aufgrund ihrer Korrespondenz herangezogen werden, d.h. also der Übergang vom eigentlichen Terminus zur Metonymie und Synekdoche.« Hier meint ›Realismus‹ also eine bestimmte Form der Sprachverwendung, genauer: das Erzählen auf metonymischer Ebene. Bedeutung E schließlich benennt »die Forderung nach konsequenter Motivierung, nach Realisierung des poetischen Verfahrens« und dient als Rechtfertigung von poetischer Konstruktion (Roman Jakobson: »Über den Realismus in der Kunst«, in: Jurij Striedter [Hg.], Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. 5. Aufl. München 1994, S. 373-191; hier: S. 375-389. Herv. i.O.). Wie Rosmarie Zeller herausgestellt hat, enthalten die Bedeutungen A und B den Begriff des ›Wahrscheinlichen‹ und referieren auf kommunikationstheoretische, historische bzw. evolutionäre Aspekte. Bedeutung C betrifft die historische Erscheinung. Hier wird ›Realismus‹ zum Epochenbegriff. Während die Definitionen A-C literaturhistorischer Art sind, sind die Definitionen D und E literaturtypologischer Art und führen »zu einer Art Modell realistischer Schreibweise« (Rosmarie Zeller: »Realismusprobleme in semiotischer Sicht«, in: Richard Brinkmann [Hg.], Begriffsbestimmungen des literarischen Rea-

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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ments, d.h. vor allem durch Prinzipien der Linearität, Kausalität, Kohärenz, Homogenität und Transparenz auszeichnet. Sie steht in enger Beziehung zu einer Strömung der europäischen Literatur, die jene Verfahren und Merkmale im literarischen Erzähltext, wenn nicht hervorgebracht, so doch mindestens verfestigt hat, dabei als ein (weiteres) ›précinema‹ fungiert – und die gemeinhin unter dem Epochenbegriff ›Realismus‹ firmiert.1 Gerade in seiner Ausprägung als narratives Medium weist der Film – wie auch die Erzählliteratur – zunächst einmal eine starke Affinität zu ›realistischen‹ Konzepten auf. Wir können es auch umdrehen: ein realistisches Weltbild läßt sich womöglich am besten narrativ vermitteln.2 Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, daß die grundlegenden Begriffe, die uns schon bei der Bestimmung dessen begegnet sind, was überhaupt ›Erzählen‹ ist, was die Merkmale von ›Narrativität‹ ausmacht, auch für die Bestimmung des ›Realismus‹ und ›realistischer‹ Erzählverfahren wesentlich sind. Dies scheint zu suggerieren (wohlgemerkt: zu suggerieren), daß Erzählen naturgemäß immer realistisches Erzählen ist. Dieser Zusammenhang tritt nicht nur, aber ganz besonders bei Abercrombie, Lash und Longhurst in ihrer pointierten und luziden Annäherung an den Realismus als einem kulturellen Paradigma zutage. Sie halten zunächst fest:

lismus. 3., erw. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987 [= Wege der Forschung; 212], S. 561-587; hier: S. 564). 1

Unter den Vorzeichen des Realismus offenbart sich, mit Joachim Paech gesprochen, eine »›medien-ontologische‹ Verbindung«, die den »›klassischen‹ Film zum natürlichen Erben und den ›klassischen‹ bürgerlichen Roman zu dessen Vorläufer macht.« (Paech 1996, S. 242.) Diese Verbindung verdankt sich in erster Linie einem, wenn man so will, gemeinsamen ›Weltbild‹: »Im poetischen Realismus sind Stilmomente und Schreibweisen feststellbar, die nach dem Auftreten des Films ›filmisch‹ genannt werden können. Zwar gehört der Film noch nicht zur Umwelt und zur Erfahrungsrealität dieser Literatur, dennoch sind ihre Stilmittel und Schreibweisen offenbar auf eine Realität bezogen, der sich ebenfalls der Film verdankt […].« (Ebd., S. 245; Herv. i.O.)

2

Eine solche Affinität von Realismus und Narration konstatieren auch Abercrombie, Lash und Longhurst und stellen letzterer das Spektakel entgegen: »The important point is that for realist texts the narrative is the central organizing principle. In this respect realist forms may be contrasted with those texts that are essentially ›spectacular‹. The pleasure of texts involving ›spectacle‹ lies in the images themselves; it is a visual, not a narrative, pleasure.« (Abercrombie/Lash/Longhurst 1992, S. 121.) Aus dieser Perspektive muß das auf (im durchaus wörtlichen Sinne) Spektakel und Sensation setzende ›Attraktionskino‹ wenn nicht als un-, so doch als anti-realistisch erscheinen.

98 | KINO DER UNORDNUNG »There seem to be three main parameters of realism: (1) realism offers a window on the world; (2) realism employs a narrative which has rationally ordered connections between events and characters; (3) realism conceals authorship and disguises the production process of a text.«1

Je nach Medium und Modus der Repräsentation bzw. Vermittlung basiert die Konzeption von Realismus auf einer spezifischen räumlichen oder zeitlichen (An-) Ordnung: »Pictorial realism, indeed the pictorial qualities of any cultural paradigm, is a matter of the organization of space. Narrative realism, and the narrative qualities of all cultural paradigms, have to do with the organization of time. All cultural paradigms […] can be characterized in terms of their specific mode of organization of time and space. They can be characterized in terms of (a) how time and space are organized and (b) in terms of what imparts organization to time and space.«2

Der ›klassische‹, und das heißt: realistische, Spielfilm als pikturales wie narratives Hybridmedium indes führt diese beiden Formen der Organisation zusammen, setzt beide gleichermaßen voraus. Damit Raum und Zeit nun aber die Bedingung erfüllen, daß sie als ›realistisch‹ gelten können, müsse diese Organisation sich an Ordnung und Stabilität orientieren und damit Kontingenz und Instabilität entgegentreten, so Abercrombie, Lash und Longhurst.3 Garantiert werde dies durch das Prinzip der Kausalität: »The rationality of cause and effect is manifested in realist narrative. Realist cultural forms consist of a caused, logical flow of events, often structured into a beginning, a middle and a closed conclusion.«4 Die ›klassische‹ realistische

1

Ebd., S. 119.

2

Ebd. (Herv. i.O.). ›Narrativer Realismus‹ kann damit, wie es sich am Medium Film ganz besonders abzeichnet, als Ausdruck und Übermittlung einer (spezifischen) raumzeitlichen Organisation (Ordnung) verstanden werden (ebd., S. 120).

3

Vgl. ebd., S. 119f. – Dieses ›Bezwingen‹ von Kontingenz, das Schaffen von Ordnung, wie es für das ›klassische Kino‹ kennzeichnend ist, verortet Mary Ann Doane mentalitätsgeschichtlich nun wiederum im 19. Jahrhundert, wenn sie auf den Zusammenhang dieser Tendenz mit einem Effizienzdenken im Gefolge der Industrialisierung verweist: »The developing classical convention structures time and contingency in ways constant with the broader rationalization and abstraction of time in an industrialized modernity. Efficiency becomes a crucial value, and time is filled with meaning.« (Doane 2002, S. 32.)

4

Abercrombie/Lash/Longhurst 1992, S. 121. – Diese Auffassung deckt sich mit der Diagnose von Gerald Prince, daß kausale Beziehungen zwar keine notwendige Vorausset-

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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Erzählung zeichnet sich damit dadurch aus, daß sie eine logische Kette von Ursache und Wirkung aufbaut.1 Indem realistische Erzählungen das Konzept der Kausalität an eine zeitliche Relation knüpfen (die Ursache muß zeitlich vor der Folge liegen, suggeriert der ›gesunde Menschenverstand‹), schreiben sie sich in eine Tradition naturwissenschaftlicher, genauer: physikalischer, und noch genauer: klassischmechanistischer Begrifflichkeiten und Theorien ein – oder besser: sie schreiben diese fort. Freilich geschieht dies mit den jeweiligen medienspezifischen Mitteln. Dabei kommt im Film, wie bereits dargelegt, der Montage als Raum und Zeit (an-)ordnendes Verfahren eine Schlüsselrolle bei der vermeintlichen Erzeugung (vulgo Suggestion) kausaler Beziehungen zu. Kennzeichnend für den als realistisch aufgefaßten ›klassischen‹ Stil ist dabei ein Montageverfahren, das Kausalität vor allem als Folge von Kontinuitätseffekten zugrunde legt. Mit dem so genannten ›continuity editing‹ hat sich ein Verfahren etabliert, das den Schnitt bzw. die Montage scheinbar nach den Gesetzen von Ursache und Wirkung organisiert: Raum und Zeit werden in einem vermeintlich logischen Zusammenhang dargestellt, so daß sich der Zuschauer in einer scheinbar natürlichen Ereigniskette orientieren kann.2 Die Begriffe ›klassisches Kino‹ (›classical cinema‹) und ›klassischer realistischer Text‹

zung für Narrativität sind, daß sie aber insbesondere in den so genannten ›realistischen Romanen‹ zahlreich und mit erheblicher Signifikanz aufzufinden seien (vgl. Prince 1982, S. 66). Auch David Bordwell hebt die Bedeutung der Kausalität für das Erzählen im Hollywood-Kino als Idealfall des ›klassischen‹ realistischen Films hervor: Als »the premise of Hollywood story construction« listet er auf: »causality, consequence, psychological motivations, the drive toward overcoming obstacles and achieving goals. Charactercentered – i.e., personal or psychological – causality is the armature of the classical story.« (David Bordwell: »The Classical Hollywood Style, 1917-60«, in: ders./Janet Staiger/Kristin Thompson, The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960. Repr. London: Routledge 2006, S. 1-84; hier: S. 13.) 1

Eine solche Gleichsetzung von realistischem mit auf kausalen Vorstellungen und Organisationstrukturen basierendem Erzählen findet sich etwa auch bei Richard Armstrong, der zudem die Rolle eines glaubhaft erscheinenden Handlungsfortschritts hervorhebt und darauf verweist, daß Verstöße gegen diese Art der narrativen Logik, d.h. gegen die Etablierung von Ursache-Wirkungs-Ketten, illusionsstörend und damit antirealistisch wirken (Richard Armstrong: Understanding Realism. London: bfi Publishing 2005, S. 12).

2

Vgl. ebd., S. 16. – Das ›continuity editing‹ ließe sich damit als eine Form eines Naturalisierungsprozesses auffassen (vgl. ebd., S. 17). – Auch Robert P. Kolker spricht von einem »continuity style«, welchen er als »classical for Hollywood cinema« ansieht (Robert P. Kolker: »The Film Text and Film Form«, in: John Hill/Pamela Church Gibson [Hg.], The Oxford Guide to Film Studies. Oxford: Oxford Univ. Press 1998, S. 11-23; hier: S. 17).

100 | KINO DER UNORDNUNG

(›classical realist text‹) benennen somit eine Reihe formaler Parameter, darunter Schnitt, Kameraführung und Ton, die allesamt dazu dienen, das Erscheinen bzw. den Eindruck von räumlicher und zeitlicher Kontinuität zu fördern.1 Diese Parameter sind in einer Weise normiert, daß sie die klassischen Konventionen von Handlungsanschlüssen und räumlicher Kontinuität erfüllen.2 Die Entwicklung der ›klassischen‹ Kontinuitätsmontage ist dabei wesentlich an den Namen David Wark Griffith gebunden, der in den 1910er Jahren einer der innovativsten Filmschaffenden Hollywoods war, und den schon Sergej Eisenstein als den ›Vater der Montage‹ als »Bau- und Konstruktionsprinzip« zu bezeichnen pflegte.3 Robert P. Kolker faßt die Merkmale dieses durch Griffith etablierten ›continuity style‹ wie folgt zusammen: »Narrative flow is pieced together out of small fragments of action in such a way that the piecing together goes unnoticed and the action appears continuous. Sequences that occur at the same time but in different places are intercut to create narrative tension. Dialogue sequences are constructed by a series of over-the-shoulder shots from one participant in the dialogue to the other. The gaze of the viewer is linked to the gaze of the main characters through a series of shots that show a character and then show what the character is looking at. The result of these constructions is that narrative proceeds in a straight trajectory through time.«4

1

Vgl. Robert Stam: Film Theory. An Introduction. Malden, MA u.a.: Blackwell 2005, S. 143.

2

David Bordwell zufolge konstituiert das klassische Filmschaffen ein ästhetisches System, das durch ästhetische Normen bestimmt wird (vgl. Bordwell 2006, S. 4f.). Dabei komme insbesondere den nahtlosen Handlungsanschlüssen und der räumlichen Kontinuität eine herausragende Rolle zu: »A match-on-action cut is a classical convention; so is the principle of spatial continuity. But the first convention is a particular application of the second.« (Ebd., S. 6)

3

Sergej M. Eisenstein: »Dickens, Griffith und wir«, in: ders., Ausgewählte Aufsätze. 2. Aufl. Übers. v. Lothar Fahlbusch. Mit einer Einf. v. Rostislaw Jurenew. Berlin: Henschel 1960, S. 157-229; hier: S. 168.

4

Kolker 1998, S. 19. – Bei Griffith finden sich also jene Prinzipien realisiert, die Kolker als grundlegend für filmische narrative Kontinuität erachtet: »an apparent seamlessness of storytelling; the movement of characters and story that appear to be flowing in an orderly, logical, linear progression, with the camera positioned in just the right place to capture the action without being obtrusive; and, perhaps most important of all, an authority of presentation and expression that elicits precisely the correct emotional response at precisely the right moment, without showing the means by which the response is elicited.« (Ebd., S. 18f.)

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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Die Rolle D.W. Griffiths für die Etablierung des klassischen narrativen Films und die Grundlegungen der Kontinuitätsmontage (wie auch der Parallelmontage) sind andernorts hinreichend ausführlich erörtert worden und müssen hier nicht im einzelnen rekapituliert und rekonstruiert werden.1 Entscheidend ist jedoch, daß die Kontinuitätsmontage, die sich in der Nachfolge Griffiths als normierend erwies, sich also zunächst durch ein spezifisches Verhältnis von Raum und Zeit auszeichnet. Genauer gesagt: In der Montage werden der vorfilmische Raum und die vorfilmische Zeit zergliedert und in der Sukzession neu montiert. »Eine derartige Folge von Einstellungen – konventionelle Analyse einer kontinuierlichen Wirklichkeit – ist es, die die aktuelle Filmsprache definiert«, stellt etwa noch André Bazin fest.2 In der Montage, am augenscheinlichsten in der mit dem Namen Griffith so deutlich assoziierten Parallelmontage, werden ein homogener Raum und eine homogene Zeit aufgelöst und in einzelne Einstellungen zergliedert. Indem Griffith eine narrative Struktur etabliert, die auf »räumlicher Trennung und temporaler Gleichzeitigkeit« fußt, löst er, wie Joachim Paech unter Verweis auf Jacques Aumont hervorhebt,3 die Homogenität des vor-filmischen Raumes auf und schafft einen für das HollywoodKino typischen heterogenen Raum, der indes wiederum homogenisiert wird.4 Die Darstellung von Gleichzeitigkeit in der räumlichen Sukzession der Einstellungen führt zugleich zu einer »Verräumlichung der Zeit«.5 Es ist dies ein Verfahren räumlich-zeitlicher Organisation, das aus der Literatur, insbesondere jener des Realismus, hinlänglich bekannt ist.6 Griffith selbst hat auf die Vorbildfunktion der

1

Neben Eisensteins Aufsatz »Dickens, Griffith und wir« (»Диккенс, Гриффит и мы«, 1942; vgl. Eisenstein 1960) sei aus der Fülle aufschlußreicher Publikationen insbesondere verwiesen auf die luziden Ausführungen Joachim Paechs zu Griffith im Kontext einer »Literaturgeschichte als Vorgeschichte des Films« (Paech 1997, S. 45-63) und Roberta Pearsons Darlegungen zum »Beginn der Narration« in der Zeit des ›Kinos des Übergangs‹ (Pearson 2006b, S. 31-35).

2

Bazin 2004a, S. 310. – Bazin fügt ergänzend hinzu: »Der Schnitt führt also zu einer deutlichen Abstraktion innerhalb der Wirklichkeit.« (Ebd.)

3

Jacques Aumont: »Griffith, le cadre, la figure«, in: Raymond Bellour (Hg.), Le cinéma américain. Analyse de filmes. Tome 1. Paris: Flammarion 1980, S. 57-60; hier: S. 59.

4 5

Vgl. Paech 1997, S. 45f. Paech 1996, S. 246. – Paech nimmt dabei an, daß diese »Verräumlichung der Zeit« die Zeit keinesfalls aufhebe; vielmehr mache sie sie zirkulär »und dehnt sie in einer Fülle von Einzelbeobachtungen zu einer Folge von Momentaufnahmen, die weniger Ent/faltungen einer Geschichte als deren Ein/faltungen für ihre Intensivierung sind.« (Ebd.)

6

Es ist vielleicht ein Schritt zu viel gewagt, von jener bereits zitierten »›medienontologische[n]‹ Verbindung« zu sprechen, die den »›klassischen‹ Film zum natürlichen Erben und den ›klassischen‹ bürgerlichen Roman zu dessen Vorläufer macht.« (Paech

102 | KINO DER UNORDNUNG

Romane Charles Dickens’ für die filmische Parallelmontage hingewiesen;1 er bedient sich also der ausreichend erprobten Strukturen und der narrativen Operationen, wie sie für den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts kennzeichnend sind.2 Gleichwohl folgt auch auf die Heterogenisierung der Zeit im Sinne einer Aufteilung auf räumlich montierte Montageeinheiten eine instantane Homogenisierung. Kennzeichnend für »das Verfahren des ›klassisch-realistischen Filmtextes‹« ist, mit Joachim Paech gesprochen, eine narrative Strategie »der kontinuierlichen Montage für die Homogensierung des Heterogenen«.3 Denn ungeachtet einer etwaigen Zergliederung der Zeit auf der discours-Ebene bleibt in der realistischen Erzählung die lineare Chronologie der Zeit auf der Ebene der histoire unangetastet, wird gar implizit vorausgesetzt. Hier zeigt sich die Verplichtung ›realistischer Erzähltexte‹ (literarischer wie filmischer) an ein mechanistisches, naturwissenschftliches Weltbild, das auf der Vorstellung von Linearität fußt, wie David M. Baulch zu bedenken gibt:

1996, S. 242.) Gleichwohl sind die Filiationen im Sinne eines ›pré-cinema‹-Begriffs nicht zu übersehen. So führt auch Paech aus: »Die Rede vom ›filmischen Schreiben im Poetischen Realismus‹ behauptet eine Verbindung zwischen einer dominanten bürgerlichen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts und einem bestimmten Cinéma, das als marktbeherrschende Industrie einen ›klassisch‹ genannten (Hollywood-)Stil durchgesetzt hat, der die Tradition des Erzählens der bürgerlich-realistischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts und ihre soziale Funktion fortgesetzt hat.« (Ebd.) 1

Vgl. Paech 1997, S. 48. – Auch Eisenstein erkennt in den Werken Dickens’ »die Wurzeln des Films« (Eisenstein 1960, S. 157), und er nimmt eine vollkommen organische und genetisch konsequente Beziehung zwischen dem Romancier und D.W. Griffith an: »Hier, bei Dickens, beim viktorianischen Roman, entspringt jenes erste Aufblühen der Ästhetik im amerikanischen Film, das mit dem Namen David Wark Griffith verbunden ist.« (Ebd.) Wie Eisenstein, der Griffith als einen »Zauberer des Tempos und der Montage« honoriert (ebd., S. 163), weiter ausführt, fände sich in Dickens’ Roman Oliver Twist (1838) nicht nur bereits die für Griffith typische Montageexposition vorgeprägt, sondern auch »die Montage der parallel ineinandergeschnittenen Szenen« (ebd., S. 183).

2

Als ein weiteres Beispiel für das Verfahren der Parallelmontage im realistischen Roman führt Paech die Ereignisse während der Jahresversammlung der Landwirte in Yonvile (8. Kapitel) in Gustave Flauberts Madame Bovary (1857) an – die »wohl komplexeste Textpassage ›filmischen Schreibens‹« avant la lettre (Paech 1996, S. 254). Wie Paech herausstellt, hat Eisenstein auf diese Szene bei Flaubert als »eines der vorzüglichsten Vorbilder der ›Überkreuz‹-Montage mit deutlich ausgeprägter Tendenz zu ausdrucksvoller Zuspitzung mittels dieses Verfahrens« hingewiesen (ebd.; vgl. auch: Sergej M. Eisenstein: »Das Mittlere von Dreien [1934]«, in: ders., Schriften 1: Streik. Hg. v. HansJoachim Schlegel. München: Hanser 1974, S. 238-373; hier: S. 263).

3

Paech 1997, S. 62.

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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»Foremost among the concepts of classical/empirical science that structure literary realism in particular, and narrative in general, is the assumption that time is a more or less endless linear progression and that events within time refer to a single-valued, objectively verifiable world.«1

Dies gilt, wie David Bordwell herausstellt, insbesondere für das klassische Hollywood-Kino, das selbst auf der Ebene des discours in der Regel der einfachen Chronologie verpflichtet bleibe: »Hollywood cinema, however, refuses the radical play with chronology […]; the classical film normally shows events in a 1-2-3 order.«2 Grundlegend für die Zeit im ›realistischen‹ Film ist und bleibt damit die lineare Kontinuität, der sie unterworfen ist: So gelangt auch Richard Maltby zu der Feststellung, daß »time in the movies is constrained by the need for linear continuity and the achievement of goals.«3 Zeit im klassischen Film ist demgemäß an die Handlungen der Figuren und deren Ziele gebunden, diesen gar unterworfen, und damit letztlich an das Prinzip der Kausalität gebunden, als deren Vehikel sie dient.4 In diesem Sinne hebt auch Bordwell hervor, daß das Handeln der Figuren im klassischen Hollywood-Film wesentlich zielorientiert ist.5 Indem sie in ihren Handlungen auf ein bestimmtes Ziel hinstreben, stiften die Figuren Kausalbeziehungen zwischen den dargestellten Ereignissen, kurz: »characters’ goals produce causal chains.«6

1 2

Baulch 2003, S. 56. Bordwell 2006, S. 42. – Bordwell weist in diesem Kontext darauf hin, daß der proleptische ›flash-forward‹ untersagt ist, da er die Allwissenheit (»omniscience«) und die Unterdrückung (»suppressiveness«) der Erzählung ausstelle. »The only permissible manipulation of story order is the flashback«, gibt Bordwell zu bedenken, allerdings nicht ohne sogleich hinzuzufügen: »Flashbacks are rarer in the classical Hollywood film than we normally think.« (Ebd.) Zudem sei die filmische Analepse stets ›realistisch‹ motiviert (und zwar im Sinne eines psychologischen Realismus): »[…] classical narration almost always motivates flashbacks by means of character memory.« (Ebd., S. 43.) Innerhalb der klassischen filmischen Narration komme damit dem ›flashback‹ stets eine konkrete Funktion zu: »Classical flashbacks are motivated by character memory, but they do not function primarily to reveal character traits.« (Ebd.)

3 4

Richard Maltby: Hollywood Cinema. 2nd ed. Malden, MA u.a.: Blackwell 2003, S. 416. Bordwell stellt in diesem Zusammenhang fest: »Time in the classical cinema is a vehicle for causality, not a process to be investigated on its own.« (Bordwell 2006, S. 47.)

5

Bordwell führt hierzu aus: »Hollywood characters, especially protagonists, are goaloriented. The hero desires something new to his/her situation, or the hero seeks to restore an original state of affairs.« (Ebd., S. 16.)

6

Ebd. – Bordwell fügt ergänzend hinzu: »The ending is, most simply, the last effect. It should be justified causally.« (Ebd., S. 18.)

104 | KINO DER UNORDNUNG

Wie auch Robert Stam herausstellt, präsentiert der klassische Hollywood-Film psychologisch definierte Individuen als wichtige kausale Agenten: »Causality revolving around characters provides the prime unifying principle […].«1 Eng mit der figurenvermittelten Kausalität hängt also die Einheit (bzw. Einheitlichkeit) des ›klassischen‹ Films zusammen.2 Diese Einheit ist nicht zuletzt das Ergebnis einer narrativen ›Ökonomie‹, die für die Handlungsprogression unnötige, ja störende Elemente zu vermeiden, wenn nicht gar zu eliminieren sucht, insbesondere das Element des Zufalls.3 Am deutlichsten zeichnet sich dies am Zeitregiment des klassischen Films ab: so werden für den linearen Handlungsfortschritt relevante Ereignisse gezeigt, d.h. solche, die die Einhaltung des Prinzips der linearen Kausalität gewährleisten.4 Andere, unwichtige oder vom Eigentlichen der Handlung fortführende Ereignisse werden nicht dargestellt: »The narration shows the important events and skips the intervals between them.«5 Dieses Auslassen bestimmter Ereignisse ist nun freilich eine Montageoperation. Montage im klassischen Film erweist sich damit als ein Eingriff in die temporale Linearität des Geschehens. Zugleich

1 2

Stam 2005, S. 144f. Für Bordwell ist diese Einheit (›unity‹) das Ergebnis von Motivierung: »Motivation is the process by which a narrative justifies its story material and the plot’s presentation of that material.« (Bordwell 2006, S. 19.) Der Aspekt der Motivierung soll uns an dieser Stelle jedoch nicht weiter beschäftigen.

3

Auf dieses Bestreben des klassischen Hollywood-Films, den Zufall in der Handlungskette zu eliminieren, weist auch David Bordwell hin. Er führt dazu aus: »This movement from cause to effect in the service of overarching goals, partly explains why Hollywood so prizes continuity. Coincidence and haphazardly linked events are believed to flaw the film’s unity and disturb the spectator. Tight causality yields not only consequence but continuity […].« (Ebd., S. 18.)

4

Dieses Prinzip der linearen Kausalität, das Bordwell als so bestimmend für den Hollywood-Film auffaßt (»Classical films are especially likely to bare the central principle of causal linearity«; Bordwell 2006, S. 22), sieht auch Kristin Thompson als ein wesentliches Merkmal des ›klassischen‹ Films an, stellt diesem allerdings zugleich eine Alternative gegenüber: »The classical narrative settled into a pattern of linear causality with multiple lines of intertwined actions. But there was at least one alternative narrative model which filmmakers could theoretically have adopted – a model based on parallelism. A film may follow several lines of action which are not causally related, but which are similar in some significant way. American filmmakers of the silent period did occasionally experiment with parallelism.« (Thompson 2006, S. 176.)

5

Bordwell 2006, S. 44. – Eine ähnliche Diagnose stellt Richard Maltby. Er verweist auf »a fundamental principle of a movie’s temporal organization: elision. In the movies, time lasts as long as necessary and no longer.« (Maltby 2003, S. 429.)

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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bleibt die Linearität der Zeit aber insofern gewahrt, als die klassische Montagesequenz keinesfalls Zeit ausläßt, sondern diese komprimiert;1 in den Zwischenräumen zwischen den Schnitten ist sie immer noch impliziert, konserviert. Es offenbart sich hier ein Charakteristikum des ›realistischen‹ Films, das in gewisser Weise wie ein Paradoxon anmuten muß: Die Linearität der Zeit kommt gleichsam auf dem ›Zeitpfeil‹ daher, doch der diesem zugrundeliegenden Entropie und dem mit ihr verbundenen Zufallselement setzt der ›klassische‹ Film ein Ordnungsbegehren entgegen, das unter Beibehaltung des Linearitätsprinzips jegliche Kontingenz zu unterdrücken sucht. »The classical cinema, in line with the logic of statistics, acknowledges the force of contingence and mobilizes chance, but ultimately it overrides both«, so Mary Ann Doane.2 Zu dieser scheinbar paradoxalen Konstellation zählt auch, daß die Zergliederung und die Kompression der Zeit (und des Raumes) keinesfalls anti-realistisch wirken, ganz im Gegenteil: »The fact that moving pictures are selected paradoxically makes the impression of reality all the more convincing. The cut that produces the sequence of takes in a movie does not lend itself to the destruction of the impression of reality, but instead produces a shift of this impression to the level of the relationship of each take to the next one and to the relationships of all of the takes to each other.«3

Die Montage erweist sich als ein narrativer wie »ästhetischer ›Transformator‹«; nicht nur schafft sie »einen Sinn, den die Bilder nicht schon objektiv enthalten, der allein aus ihrer Beziehung hervorgeht«,4 sie zeichnet sich zugleich durch eine ein-

1

Wie – einmal mehr – David Bordwell feststellt: »The montage sequence does not omit time but compresses it.« (Bordwell 2006, S. 44.)

2 3

Doane 2002, S. 138. Dirk Baecker: »The Reality of Motion Pictures«, in: MLN: Modern Language Notes 111 (1996), Nr. 3, S. 560-577; hier: S. 570.

4

André Bazin: »Die Entwicklung der Filmsprache«, in: ders., Was ist Film? Berlin: Alexander Verlag 2004, S. 90-109 [Bazin 2004b]; hier: S. 93. – Diese Feststellung Bazins deckt sich mit der von Eisenstein artikulierten »Methode der Montage«, die ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes schaffe und damit ein Bild bzw. einen Ausdruck hervorrufe: »Durch die Gegenüberstellung in sich starrer und sogar zueinander in keinerlei Beziehung stehender Detailbilder wird das gewünschte Bild des Ganzen geschaffen.« (Eisenstein 1960, S. 201; Herv. i.O.) Bazin hebt dabei insbesondere die Rolle des Filmzuschauers hervor, der aufgrund der Zusammenstellung der Bilder in der Montage erst einen Sinn in diese inferiert, den sie allein nicht besitzen: »Der Sinn liegt nicht im Bild, sondern die Montage projiziert dessen Schatten ins Bewußtsein des Zuschauers.« (Bazin

106 | KINO DER UNORDNUNG

heitsstiftende Struktur aus, indem sie eine Einheit aus einer Vielheit (von Einstellungen) schafft.1 Unter den Vorzeichen einer Kontinuitätsmontage wird dies vor allem mit Blick auf die Organisation des Raumes im ›klassischen‹ Film deutlich. Wie die Zeit, so ist auch der Raum in der Montage zunächst einer Zerstückelung unterworfen.2 Hieraus müßte zunächst eine Desorientierung des Zuschauers folgen. Im ›klassischen‹ Kino indes hat sich mit der auf visueller Kontinuität beruhenden Kontinuitätsmontage ein Verfahren etabliert, das nicht nur die Konkretheit des Raumes suggeriert, 3 sondern zugleich räumliche Orientierung zu garantieren verspricht. So hebt auch Bordwell hervor: »Classical continuity editing […] reinforces spatial orientation.«4 Dabei kommt an erster Stelle der Bewegung eine wesentliche Integrationsrolle bei der Konstruktion eines homogenen-heterogenen Raumes zu; sie wirkt als verbindendes Element zwischen den zunächst disparaten Teilen.5 Als sich durch den Raum bewegende Agenten kommt allerdings auch – wie schon zuvor bei der Frage der Kausalität – den Figuren der Erzählung eine wesentliche Rolle bei der Etablierung eines einheitlichen, Orientierung bietenden filmischen Raumes zu. Das Ergebnis ist die Etablierung eines gesicherten, um nicht zu sagen: sicheren Raumes im klassischen

2004b, S. 93; Herv. i.O.) Auch Paech hebt am Beispiel der alternierenden Darstellung paralleler Handlung in Griffiths AFTER MANY YEARS (1908) die Bedeutung des Rezipienten hervor, der überhaupt erst eine Bedeutung in die Zusammenstellung der Einstellungen hineininterpretieren muß: »Der Zuschauer ist syntaktisch aufgefordert, eine Beziehung der Gleichzeitigkeit zwischen zwei Szenen herzustellen, deren räumliche und handlungsorientierte Verbindung […] er zugleich trennen muß zugunsten der dominanten Funktion des Erzählens.« (Paech 1997, S. 45f.) 1

So sieht es Robert P. Kolker etwa als eine der herausragenden Leistungen der Kontinuitätsmontage an, »[to] create unity out of plurality« (Kolker 1998, S. 20).

2

Auf diese hypothetische Konsequenz der Montage verweist auch Hans Beller, wenn er feststellt: »Jeder Schnitt destabilisiert den Blick der Betrachtenden im Kino, da die Alltagswahrnehmung an Konstanz und Kontinuität gewöhnt ist.« (Beller 2004, S. 44.)

3

Für Kristin Thompson ist die räumliche Konkretheit im ›klassischen‹ Film ein wesentliches Element, das diesen wiederum von der Erzählliteratur unterscheidet: »The filmmaker juxtaposes a series of disparate spaces, building from them an overall narrative space. That space is concrete, not the verbal construction of the novelist. Hence the filmmaker must be able to guide the spectator’s understanding of spatial relations if the film’s causal actions are to be clear.« (Thompson 2006, S. 194.)

4 5

Bordwell 2006, S. 55. Dabei ist diese Integration eine Leistung des Zuschauer, nicht des flimischen Textes, wie Bordwell zu bedenken gibt: »The various depth cues, most prominently movement, require an act of spatial integration on the viewer’s part.« (Ebd.)

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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Film – und zwar sowohl für die Figuren, die in diesem agieren,1 wie auch für den Zuschauer, der diesen als einheitlichen, homogenen Raum wahrnimmt. So konstatiert Richard Maltby »that the continuity system provides a safe space for the development of a story, for the pleasure of spectacle, and most importantly for the secure placement of the audience in relation to the fictional world represented in the movie.«2 Die Zergliederung und (Re-)Konstitution des Raumes (und der Zeit) im ›klassischen‹ Film unterliegen damit einer narrativen Logik, die diese in den Dienst einer kausalen Linearität stellt, wobei das Verfahren wesentlich durch seine Unauffälligkeit geprägt ist.3 Der klassische Film ist gekennzeichnet durch seine ›Transparenz‹ – und diese zeichnet ihn wesentlich als ein ›realistisches‹ Werk aus. Es scheint eine große Übereinkunft darüber zu herrschen, daß für den Realismus ein Kaschieren der Gemachtheit der kulturellen Form wesentlich ist: »Realist cultural forms present themselves as already constructed or as a report upon external events«, wie Abercrombie, Lash und Longhurst betonen.4 Auch Rosmarie Zeller zufolge ist das »Erzeugen der Referenzillusion« nicht zu trennen vom »Vertuschen der Künstlichkeit« als einem »grundlegenden Verfahren realistischer Schreibwei-

1

Richard Maltby verweist auf die ausgeprägte räumliche Verankerung der Figuren im klassischen Hollywood-Film. Er stellt dazu fest: »Characters in Hollywood movies have a pressing need to establish themselves spatially, to dominate the composition or to keep a secure hold on their place in it, in order to maintain their narrative centrality.« (Maltby 2003, S. 318.)

2

Ebd., S. 313 (Herv. i.O.). – Auch Bordwell hebt die Bedeutung eines solchen sicheren Raums für die Geschichte in ›klassischen‹ Filmnarrationen hervor: »Once graphic continuity is achieved, the editing can concentrate upon orienting us to scenographic space. [….] Thus the principles and devices of continuity editing function to represent space for the sake of the story.« (Bordwell 2006, S. 56.) Und er verweist ebenfalls auf die besondere Beziehung dieses Raumes zum Zuschauer: »Classical narration of space thus aims at orientation: The scenography is addressed to the viewer.« (Ebd., S. 54.)

3

Mit Blick auf die ›unsichtbare‹ Montage im klassischen Hollywoodfilm vor dem Zweiten Weltkrieg konstatiert bereits Bazin: »Die Zerstückelung der Einstellungen hatte keinen anderen Zweck, als das Geschehen der inhaltlichen oder dramatischen Logik der Szene folgend zu analysieren. Es ist ihre Logik, die diese Analyse unmerklich macht […].« (Bazin 2004b, S. 91.)

4

Abercrombie/Lash/Longhurst 1992, S. 121. – Abercrombie, Lash und Longhurst sehen es dabei als typisch für ›realistische‹ Artefakte an, daß sie insbesondere versuchen, ihren Fiktionsstatus zu leugnen: »Realist forms, in other words, are fictitious but do not present themselves as fictions.« (Ebd.)

108 | KINO DER UNORDNUNG

se«.1 Dies gilt nicht nur für die Literatur, insbesondere den Roman des Realismus,2 sondern ebenso für den klassischen narrativen Filmtext. So hebt etwa David Bordwell hervor, »that the Hollywood film strives to conceal artifice through techniques of continuity and ›invisible‹ storytelling«.3 Mit Zeller ließe sich allerdings fragen: »wie kann das Kunstwerk seine Eigengesetzlichkeit und Künstlichkeit verbergen?«4 Die Feststellung, daß der klassische realistische Film insofern ›transparent‹ sei, als er versuche, alle Spuren der Arbeit des Films, d.h. jegliche Artifizialität auszulöschen und so als natürlich durchzugehen, wie sie von Robert Stam artikuliert wird,5 kommt zunächst nicht über eine bloße Tautologie hinaus. Der Schlüssel scheint vielmehr darin zu liegen, daß ›Transparenz‹ eine Umschreibung derjenigen Mittel darstellt, mit denen der Zuschauer gleichsam ›gefangen‹ genommen wird.6 Erreicht wird dies dadurch, daß der Zuschauer im ›klassischen‹ Film mittels einer Schnittechnik nahtloser Anschlüsse und der dem Voranschreiten der linearen Kausalität der Handlung zweckdienlichen Kontinuitätsmontage in eine besondere,

1

Zeller 1987, S. 570. – Neben der ›Transparenz‹ gehört für Zeller die ›Lesbarkeit‹ eines Textes »in den Bereich des Vertuschens der Künstlichkeit, denn der lesbare Text wird sowenig als möglich auf seine Künstlichkeit aufmerksam machen, auch wenn oft gerade um die Lesbarkeit zu erhalten sehr künstliche Mittel eingeführt werden müssen.« (Ebd., S. 573.) Dabei stellt ihr zufolge die »Kohärenz des Erzählten« ein wichtiges Kriterium für die Lesbarkeit eines Textes dar (ebd.).

2

So sind etwa für Gustav Frank Grenzziehung, Selektion, Verklärung und insbesondere die Verschleierung der eigenen Verfahrensweisen für den Roman des Bürgerlichen Realismus kennzeichnend (vgl. Gustav Frank: »Auf dem Weg zum Realismus«, in: Christian Begemann [Hg.], Realismus. Epochen – Autoren – Werke. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 27-44; hier: S. 43).

3

Bordwell 2006, S. 3. – Auch für Robert P. Kolker stellt der klassische Hollywoodfilm mit seiner Kontinuitätsmontage »a remarkable form because of its persistence, its invisibility« dar (Kolker 1998, S. 17). Torben Grodal stellt sogar verallgemeinernd fest, daß für viele narrative Filme »a basic ›transparent‹ perceptual-experiential realism« typisch sei (Grodal 2002, S. 75).

4

Zeller 1987, S. 570. – Für Zeller rührt diese Frage an »das Grundproblem realistischer Kunst« (ebd.).

5

Stam 2005, S. 143. – Ergänzend, aber uns bei der Beantwortung der Frage, wie ein Kunstwerk seine Artifizialität kaschiert, nur wenig weiterbringend, stellt Stam fest: »By effacing the signs of production, dominant cinema persuaded spectators to take in what were really nothing but constructed effects as transparent renderings of the real.« (Ebd.)

6

Vgl. Armstrong 2005, S. 32. – Für Richard Armstrong ist dieses ›Gefangengenommenwerden‹ ein wesentliches Merkmal des Hollywood-Kinos: »In Hollywood film what really counts is being wrapped up in the ›reality‹ of the film.« (Ebd.)

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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privilegierte Position versetzt wird. Der Zuschauer des ›klassischen‹ Films ist zugleich Beobachter als auch Teilnehmer des Geschehens auf der Leinwand.1 Colin MacCabe führt dazu aus: »The logic of this contradictory movement can be understood on the basis of the set of interchanges that take place between screen and viewer – that complicated circulation which ensures that I am not only a spectator in the cinema but also, by a process of identification, a character on the screen. The cinema constantly poses me as the constant point of a fixed triangle and it constantly obscures and effaces the complicated progress of the shots, the impossible movements of that point by the logic of events on the screen.«2

›Transparenz‹, das Verwischen der eigenen Künstlichkeit, wie es sich insbesondere im unsichtbaren Schnitt artikuliert, hängt also zusammen mit einer privilegierten Beobachter- und Identifikationsrolle des Zuschauers, die diesen gleichsam in eine ›halbsubjektive‹ Position versetzt.3 Diese wird letztlich garantiert durch das Ordnungsstreben und die Erzeugung (bzw. Suggestion) einer vermeintlichen Stabilität, die im ›klassischen‹ Film wesentlich das Ergebnis normierender wie normativer Prozesse sind. Dies führt zur Frage nach der Rolle von Genres und Konventionen.

1

Mikkel Eskjær weist darauf hin, daß beim Betrachten eines Spielfilms gerade die Unsichtbarkeit bzw. Transparenz der Leinwand eine wichtige Rolle spielt: »In watching a film, we distinguish between what happens on the screen and the screen itself. We do not see the screen, though it is a precondition for watching the film.« (Mikkel Eskjær: »Observing Movement and Time – Film Art and Observation«, in: Anne Jerslev [Hg.], Realism and ›Reality‹ in Film and Media. Copenhagen: Tusculum Museum Press 2002, S. 117-137; hier: S. 119.)

2

MacCabe 1976, S. 16. – Auch Robert Stam sieht eine solche privilegierte Position des Zuschauersubjekts als typisch für den ›klassischen‹ Film an, die ihn wiederum mit der Literatur des Realismus verbinde: »Dominant cinema inherited from the nineteenth-century novel a precise kind of textual structuration which positioned the reader/spectator as a ›subject who is supposed to Know [sic]‹. The alternative is to fracture and disperse this Knowing [sic] subject.« (Stam 2005, S. 144.)

3

Giles Deleuzes übernimmt den Begriff des »halbsubjektiven Bildes« von Jean Mitry, der damit das ›Mitsein‹ des Zuschauers mit der Kamera bezeichne: »die Kamera verschmilzt nicht mit der Person, sie ist auch nicht außerhalb, sie ist mit ihr.« (Deleuze 1997a, S. 104f.)

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c) Stabilisierende Rahmen: Realismus als genrebasierter ›Hollywood-Stil‹ Das für den ›realistischen‹ narrativen Film kennzeichnende Stabilitäts- und Orientierungsbegehren wird, wie es im klassischen Hollywoodfilm zugrunde gelegt ist, wesentlich durch Genres gewährleistet und verstärkt. Die Genres dienen dabei als stabilisierende und Wahrscheinlichkeit vermittelnde Rahmen, indem sie ein System schaffen, das durch ästhetische Normen und Konventionen geprägt ist.1 Die Genrezugehörigkeit kann somit als ein besonderes Merkmal der ›Klassizität‹ angesehen werden, sie trägt wesentlich dazu bei, daß ein spezifischer Film als ›realistisch‹ angesehen wird. Dies gilt es um so mehr hervorzuheben, als die Filme Roegs, die sich ja gerade dezidiert von dieser ›Klassizität‹ abheben, zunächst im Gewand traditioneller Genres wie etwa des Kriminalfilms (BAD TIMING), des Abenteuerfilms (WALKABOUT, CASTAWAY), der Science-Fiction (THE MAN WHO FELL TO EARTH), des Horrors (DON’T LOOK NOW) etc. daherkommen. Der Begriff ›Genre‹ bezeichnet in der Filmwissenschaft zunächst »Gruppen von Spielfilmen«, wobei jedes Genre ein bestimmtes »Gruppierungsmerkmal aufweist«.2 Allgemeiner ließe sich ›Genre‹ definieren als eine »Gruppe von Texten mit ähnlichen Eigenschaften«.3 Diese Eigenschaften bilden ein Korpus, das sich neben einem (einheitlichen) Stil und genretypischer Charakteristika insbesondere durch Konventionen auszeichnet: »each genre creates its own rules, and the spectator judges any given element in the light of its appropriateness to generic conventions«, wie etwa David Bordwell konstatiert.4 Genres stellen damit geregelte Möglichkeiten innerhalb des narrativen Systems des Films dar,5 sie bilden einen Kontext, in

1

Vgl. Bordwell 2006, S. 4. – Daß das Hollywood-Kino ein normiertes Genre-Kino ist, wird auch von Bordwell hervorgehoben: »Plainly, the Hollywood style has functioned as a set of norms.« (Ebd., S. 5.)

2

Jörg Schweinitz: »Genre«, in: Thomas Koebner (Hg.), Reclams Sachlexikon des Films. 2., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart: Reclam 2007, S. 283-285; hier: S. 283.

3

Dieter Burdorf: »Genre«, in: ders./Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler-Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Begr. v. Günter u. Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 275.

4

Bordwell 2006, S. 20. – Vgl. auch Armstrong 2005, S. 35f. – Susan Hayward umreißt ›Genre‹ als »a set of codes and conventions« (Susan Hayward: Cinema Studies. The Key Concepts. 3rd ed. London/New York: Routledge 2006, S. 186; Herv. i.O.).

5

Vgl. Stephen Neale: »Genre and Cinema [1980]«, in: Tony Bennett u.a. (Hg.), Popular Television and Film. A Reader. London: bfi Publishing 1985, S. 6-25; hier: S. 7.

DIE (EISEN-)BAHNEN DES NARRATIVEN REALISMUS

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welchem Bedeutung produziert wird.1 Genres leisten damit einen wesentlichen Beitrag dazu, »konventionalisierte Welten und symbolische Systeme der filmischen Imagination« auszubilden; sie bieten somit einen »spezifischen Rahmen für Handeln, Motivation und Charakteristik der meist stark typisierten Figuren«, der die »Erwartungen der Rezipienten« bedient,2 dabei aber genug Raum für Innovation läßt.3 Indem Genres die Erwartung des mit den Genrekonventionen vertrauten Zuschauers bedienen, versetzen sie ihn gleichsam in eine privilegierte, ›(all-)wissende‹ Position und tragen damit zur Kohärenz der filmischen Erzählung bei, wie Stephen Neale argumentiert: »[…] genres institutionalise, guarantee coherence by institutionalising conventions, i.e. sets of expectations with respect to narrative process and narrative closure which may be subject to variation, but which are never exceeded or broken. The existence of genres means that the spectator, precisely, will always know everything will be ›made right in the end‹, that everything will cohere, that any threat or danger in the narrative process itself will always be contained.«4

1

Vgl. Douglas Pye: »The Western (Genre and Movies)«, in: Barry Keith Grant (Hg.), Film Genre Reader III. Austin, TX: Univ. of Texas Press 2003, S. 203-218; hier: S. 203f. – Auch Stephen Neale zufolge gehen Genres über den bloßen Text-Status hinaus; sie formen mindestens ebenso einen Kontext, denn »genres are not to be seen as forms of textual codifications, but as systems of orientations, expectations and conventions that circulate between industry, text and subject.« (Neale 1985, S. 6.)

2

Schweinitz 2007, S. 284. – Ähnlich argumentiert Richard Maltby, wenn er feststellt: »a genre is not simply a combination of repetition and difference, but a process of difference in repetition. […] The rules of a genre are thus not so much a body of textual conventions as a set of expectations shared by audiences and producers alike. […] Generic consistency allows for the shorthand of convention and stereotype, but also for the interplay between confirmed expectation and novelty.« (Maltby 2003, S. 76.)

3

Trotz ihrer vermeintlichen Stabilität erlauben Genres dennoch auch Innovation innerhalb der vorgegebenen Regeln, wie Richard Maltby hervorhebt: »Generic conventions offer more durable frames of reference, but they also accommodate change: the variations in plot, characterization, or setting in each imitation inflect the audience’s generic expectations by introducing new elements or transgressing old ones. Each new movie extends the repertoire of conventions […].« (Ebd., S. 82.)

4

Neale 1985, S. 15. – Auch Maltby hebt diese privilegierte Position des Zuschauers, in der sich Erwartung und Wissen vereinen, hervor: »Central to the operation of any genre movie […] is the cumulative expectation and knowledge of the audience.« (Maltby 2003, S. 93.)

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Genres stellen somit einen wesentlichen Rahmen für die narrativ vermittelte fiktionale Glaubwürdigkeit des ›klassischen‹ Films dar;1 sie schaffen Plausibilität und Probabilität innerhalb der durch die Konventionen des jeweiligen Genres festgelegten Grenzen: Ereignisse, die innerhalb eines bestimmten Genres als unwahrscheinlich und wenig glaubwürdig erscheinen, können in einem anderen als eben dies, und mithin als ›realistisch‹, erscheinen (so ist z.B. eine Zeitreise oder das Reisen mit Lichtgeschwindigkeit im Science-Fiction-Film ein durchaus gewöhnliches Ereignis, im Kriminalfilm ist sie dagegen eher fehl am Platze). Indem sie als ›Wahrscheinlichkeitsrahmen‹ dienen, tragen Genres zum ›Realismus‹ des ›klassischen‹ Films bei. Plausibilität, ja Vorhersagbarkeit stellen grundlegende Merkmale des narrativen Realismus dar. So konstatieren auch Abercrombie, Lash und Longhurst: »Narrative realism, while dispensing with final causality, must be true to the Aristotelian tenets of plausibility and predictability.«2 Ohne hier auf die Einzelheiten einer aristotelischen Poetik einzugehen, die Wahrscheinlichkeit (εἰκός) und Notwendigkeit (ἀνἀγκαῖον) als wesentliche Handlungskriterien (der Tragödie) definiert,3 bleibt mit Blick auf den Realismus festzuhalten, daß die narrativ dargestellte Welt glaubhaft erscheint.4 Der Genrerahmen trägt dabei wesentlich dazu bei, daß narrative Unwahrscheinlichkeiten ›realistisch‹ motiviert werden, z.B. durch Kausalketten.5 Dementsprechend betont auch David Bordwell: »On the whole, generic convention cooperates with causal, or compositional, unity.«6 Daß,

1

In diesem Sinne stellt auch etwa Neale fest: »[…] genres function as to provide and to institutionalise a variety of possibilities of fictional credibility allied to a variety of the possibilities of ›cinematic credibility‹ […].« (Neale 1985, S. 19.)

2 3

Abercrombie/Lash/Longhurst 1992, S. 122f. Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982, Kap. 9, 1451a36-38.

4

Nach Abercrombie, Lash und Longhurst zeichnet sich der narrative Realismus dadurch aus, daß er »a believable world« etabliert (ebd., S. 122). Einen ähnlichen Gedanken verfolgen Julia Hallam und Margaret Mashment, wenn sie festhalten: »Realism emphasises the ordinary, not the extraordinary, rejecting unbelievable plots and impossible characters.« (Julia Hallam/Margaret Mashment: Realism and Popular Cinema. Manchester/New York: Manchester Univ. Press 2000, S. 20.)

5

Vgl. Zeller 1987, S. 576. – Auch Gérard Genette weist darauf hin, daß eine ›realistische Illusion‹ die Ablehnung von Unwahrscheinlichkeiten um ihrer selbst willen bedeutet, denn »hierin besteht die realistische Illusion im eigentlichen Sinne« (Gérard Genette: »Vraisemblance et motivation«, in: Communications 11 [1968], S. 5-20; hier: S. 16 [Übers. KS]).

6

Bordwell 2006, S. 20. – Eine Stufe weitergedacht bedeutet dies, daß Genres selbst eine kompositorische Motivierung des Erzählens darstellen, »das heißt, die kausalen Zusam-

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wie bereits dargelegt, diese kausale Motivierung im ›klassischen‹ Film nach Manier des Hollywood-Kinos nun wesentlich durch Figuren und ihre Handlungen induziert wird, macht deutlich, daß der Genre-Rahmen einen genuinen, überzeugenden Handlungsraum limitiert und stabilisiert, in welchem die Figuren ›realistisch‹ überzeugend handeln können. Dazu gehört, daß das ›klassische‹ Genre-Kino »ein kompaktes Konzept von ›Person‹ verfolgt, der ›Charakter‹ als konsistentes Modell einer Person konstruiert« wird, wie Hans J. Wulff erläutert und hinzufügt: »Widersprüche und Ähnliches werden unterdrückt. Zeigen sich solche am realen Verhalten, dann treten in den Attributionsprozessen Probleme auf, die durch ›Arbeit am Charakter‹ aufgefangen werden müssen – der Entwurf der Person muss dem Handeln der Person nachgeführt und angepasst werden.«1

Anstelle von ›Konsistenz des Charakters‹ ließe sich auch von einer gesicherten Identität der Figuren sprechen, die wesentlich für den ›klassischen‹ Realismus im Film ist. So hebt etwa auch Colin MacCabe hervor: »The question, as always in classical realism, is one of identity. This identity may be questioned and suspended, but it is, in a deferred moment asserted and read back over the text. Nor is this reading back an optional extra. Without it the very concept of identity and truth, the very concept of character, on which classical realism rests, would disintegrate.«2

Die gefestigte Identität der Figuren, die Konsistenz des Charakters kumuliert in der Salienz des Protagonisten, der als wichtige Vermittlungsinstanz im klassischen Film auftritt und eine wesentliche Rolle beim Erschaffen des Genre-Realismus spielt. Torben Grodal merkt dazu an: »Those things, those perceptions are real that can guide our (re)actions. Thus, the question of ›reality‹ and ›realism‹ poses the problem of ›agency‹. In the typical narrative fiction film, the question of ›agency‹ is solved though the existence of a protagonist for whom the perceived serves to orient actions.«3 Die Identifikation fungiert, wie dargelegt, als ein Garant der ›Transparenz‹ des ›realistischen‹ Textes und ermöglicht für den Rezipienten eine gesicher-

menhänge müssen offengelegt werden«, wie Rosmarie Zeller zu bedenken gibt und hinzufügt: »Diese Art der Motivation gehört wiederum in den großen Zusammenhang der Bevorzugung metonymischer Verfahren.« (Zeller 1987, S. 577.) 1

Hans J. Wulff: »Attribution, Konsistenz, Charakter. Probleme bei der Wahrnehmung abgebildeter Personen«, in: montage/AV 15 (2006), H. 2 (= Figur und Perspektive; 1), S. 45-62; hier: S. 50 (Herv. i.O.).

2

MacCabe 1976, S. 18.

3

Grodal 2002, S. 83.

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te Orientierung. Dabei nimmt die Rolle des ›Stars‹ gerade im genrehaften Hollywood-Kino eine nicht zu unterschätzende Rolle ein. Die Ausbildung eines ›Starsystems‹ verdankt sich wohl nicht zuletzt dem Umstand, daß die Figur des Stars, der als Sympathieträger dient und Wiedererkennen garantiert,1 für den Kinozuschauer eine Projektionsfläche eigener Wunschvorstellungen darstellt, die die Akzeptanz der narrativ dargestellten Welt als einer gleichsam ›realen‹ Welt (wenn auch einer letztlich imaginierten) erleichtert. In der Summe bedeutet dies: Unter den Vorzeichen eines ›klassischen‹, dem Prinzip der linearen, kausalen Handlungsprogression verpflichteten Genrekinos erweist sich ›Realismus‹ als ein Merkmalsbündel, als ein Konglomerat von Konventionen, Regeln und Verfahrensweisen – oder, wie es Jörg Lau ausdrückt: »Realismus im Film ist Effekt von Auswahl, Arrangement und Stilisierung.«2 Keinesfalls ist es aber ein naiver Abbildrealismus.3 Damit ist nunmehr die notwendige Referenzfolie erarbeitet, vor deren Hintergrund die Merkmale und Eigenheiten der Narration und Weltkonstitution in den Filmen Nicolas Roegs, vor allem aber ihre Abweichungen vom vorgegebenen Schema, erörtert werden können.

1

Vgl. Knut Hickethier: »Star/Starsystem«, in: Thomas Koebner (Hg.), Reclams Sachlexikon des Films. 2., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart: Reclam 2007, S. 679-684; hier: S. 681.

2

Jörg Lau: »Wunderlicher Realismus. Kino als Erfahrung«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 59 (2005), Nr. 9/10, S. 963-971; hier: S. 965.

3

Narrativer ›Realismus‹ ließe sich folglich mit Philippe Hamon als ein unnatürliches, ein erzwungenes Verfahren, als einen »discours contraint« bezeichnen (Philippe Hamon: »Un discours contraint«, in: Poétique. Revue de théorie et d’analyse littéraires 16 [1973], S. 411-445).

III Spiegelwelten und Zeitlabyrinthe Mirrors are really fascinating. They are the essence of cinema. - NICOLAS ROEG Time is the school in which we learn, Time is the fire in which we burn. - DELMORE SCHWARTZ

Wie bereits hervorgehoben, weichen die Filme Nicolas Roegs trotz ihrer deutlichen Bezugnahme auf eine Tradition klassischen filmischen Erzählens von dieser ab. Dies betrifft vorrangig die Art und Weise, wie Roegs Filme erzählen. Und doch ist dies zugleich nie vollständig von dem zu trennen, was sie erzählen. Diese intrinsische Verbindung vom ›Was‹ und ›Wie‹ des Erzählens ist in den vorangegangen Ausführungen zur Narrativität bereits hervorgetreten. Und so läßt sich in den folgenden Kapiteln, die dazu dienen sollen, nunmehr die Eigenheiten filmischer Narration und Weltkonstitution bei Roeg darzulegen und damit die These von Roegs Deviation von einer ›realistischen‹ Erzähltradition bei gleichzeitiger Ausstellung einer mehr oder minder deutlichen Verbundenheit zu dieser zu belegen, die Frage nach den Inhalten von der Art und Weise, wie diese erzählt werden, kaum trennen. Eine solche Trennung erscheint auch nicht sinnvoll, bedingt und formt das eine doch das andere und umgekehrt. Dennoch werden Schwerpunktsetzungen erfolgen, allein schon, um eine strukturierte und nachvollziehbare Argumentation zu gewährleisten. Während zentrale Aspekte der besonderen Erzählweise, also des ›Wie‹, vor allem in Kapitel IV verhandelt werden sollen, werden in diesem und seinen Unterabschnitten vor allem Fragen nach der narrativen Konstitution der erzählten Welten sowie inhaltliche und thematische Aspekte – also des ›Was‹1 – in Roegs Filmen im Vor-

1

So ordnen etwa Martínez und Scheffel die erzählten Welten dem ›Was‹ der Erzählung unter, insofern diese wesentlich mit der Handlung eines spezifischen Textes verbunden seien. »Die Handlung eines narrativen Textes […] ist Teil der erzählten Welt.« (Martínez/Scheffel 2002, S. 123.)

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dergrund stehen. Ein Schwerpunkt wird insbesondere auf deren räumlicher und zeitlicher Verfaßtheit liegen. Doch führt gerade letzteres unweigerlich wieder zur Frage, wie diese Welten vermittelt werden. Und dies wiederum bringt uns zum Aspekt, inwiefern Roegs Filme sich hier von einer dominanten Tradition ›realistischen‹ Erzählens im fiktionalen Film unterscheiden.

1) ›B EYOND THE F RAGILE G EOMETRY OF S PACE ‹ – D ER UNGESICHERTE R AUM N ICOLAS R OEGS Nachdem sich Nicolas Roeg in den 1960er Jahren als einer der gefragtesten – und in den Augen mancher: besten – Kameramänner Englands etabliert hatte,1 übernahm er 1968 mit PERFORMANCE erstmals die Verantwortung als Regisseur in Zusammenarbeit mit Donald Cammell.2 Und gleich bei seiner ersten Regiearbeit steht

1

Colin MacCabe zufolge war Roeg, als er zum von Donald Cammell lancierten PERFORMANCE-Filmprojekt

hinzustieß, »arguably the best cinematographer working in Britain at

that time.« (Colin MacCabe: Performance. London: British Film Institute 1998, S. 22.) Seine Kameraarbeit für Roger Cormans THE MASQUE OF RED DEATH (1964) bezeichnet McCabe gar als »one of the greatest photographic achievements in the history of British cinema« (ebd., S. 23). – Zu seinem eigenen Blick auf seinen Beitrag zu THE MASQUE OF RED DEATH vgl. Roeg 2013, S. 33. 2

Nachdem PERFORMANCE lange Zeit überwiegend als ein Werk Nicolas Roegs angesehen wurde – so behandeln die Monographien von Feinemann (1978), Sinyard (1991) und Salwolke (1993) den Film beispielsweise als erste Regiearbeit im Kanon Roegs – mehren sich in jüngerer Zeit die Stimmen, die den Film hauptsächlich Donald Cammell zuschreiben. Paul Buck etwa, der PERFORMANCE eine umfangreiche Monographie gewidmet hat, betrachtet den Film wesentlich als ein Werk »that Donald Cammell conceived« (Paul Buck: Performance. A Biography of the Classic Sixties Film. London u.a.: Omnibus Press 2012, S. 7; vgl. auch MacCabe 1998, S. 23). Dennoch erscheint eine Debatte, wessen Handschrift der Film, der erst zwei Jahre nach seiner Fertigstellung in die Kinos kam, da er von Warner als skandalös und für das Studio imageschädigend zurückgehalten wurde, nun letztlich trägt, müßig. Wie Philip French treffend darlegt, gebühren die Meriten für PERFORMANCE gleichermaßen »to Nicolas Roeg for his virtuoso camerawork and to Donald Cammell for an inventive, often very funny script […]« (Philip French: »Performance«, in: Sight and Sound 40 [1971], Nr. 2, S. 67-69; hier: S. 67). Roeg selbst äußerte sich dazu bereits 1972 in einem Interview mit Gordon Gow wie folgt: »PERFORMANCE was really a fifty-fifty collaboration. I wouldn’t take credit for more than fifty per cent of the movie, and I know Donald wouldn’t either.« (Gow 1972, S. 22.) Und noch in einem Interview mit Tom Milne und Penelope Houston anläßlich von DON’T LOOK NOW strich Roeg die paritätische, nicht auseinander dividierbare Zusammenarbeit von ihm und

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eine Eisenbahn am Beginn. Man kann sie nicht sehen, aber sie ist zu hören – und zwar auf der Ebene des Soundtracks. PERFORMANCE setzt ein mit zwei kurzen, montierten Einstellungen eines Düsenfliegers, woraufhin ein scharfer Schnitt zu einem schwarzen Rolls-Royce folgt, der, während der Vorspann abrollt, auf einer Straße durch die englische Landschaft fährt – abwechselnd mit Einstellungen, die ein Paar beim wilden Sex zeigen (Abb. 12). Abbildung 12: Eingangssequenz – »It’s a Gone Dead Train.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Auf der Audiospur liegt über dieser Sequenz ein Auszug aus dem Randy-NewmanLied »Gone Dead Train«:1 »Shootin’ my supply through my demon’s eye Instead of holdin’ my time, I hope I will

Cammell als Regieteam hervor: »[…] it’s impossible to sort out the elements in PERFORMANCE:

it’s a fifty-fifty collaboration […].« (»Don’t Look Now. Nicolas Roeg inter-

viewed by Tom Milne and Penelope Houston«, in: Sight and Sound 43 [1973/1974], Nr. 1, S. 2-8 [Milne/Houston 1973/74]; hier: S. 5.) Man wird wohl beiden Regisseuren gerecht, wenn man diese Aussage ernstnimmt. 1

Der Song, der von Russ Titelman und Jack Nitzsche geschrieben (letzterer verantwortete den PERFORMANCE-Soundtrack) und von Randy Newman gesungen wurde, erschien erstmals im September 1970 auf dem Warner-Bros.-Album Performance – Original Motion Picture Sound Track (Katalognummer WS 2554).

118 | KINO DER UNORDNUNG When the fire in my boiler Up and quit before I came There ain’t no empty cellar Need a Gone Dead Train Yes, it’s a Gone Dead Train«1

Die Musik verklingt, als die Namen der beiden Hauptdarsteller eingeblendet werden: James Fox und Mick Jagger. Die wenigen Zeilen aus Newmans Lied können zunächst wie eine Vorwegnahme wesentlicher inhaltlicher Aspekte des Films interpretiert werden: die Gewalt, die vom Gangster und Geldeintreiber Chas (James Fox) verkörpert wird (»Shootin’ my supply through my demon’s eye«), sein ausgeprägter Sexualtrieb (»the fire in my boiler«), sein Ausstieg aus der Welt der Kriminalität (»quit before I came«) sowie sein zum Scheitern verurteilter Versuch, abzutauchen (»There ain’t no empty cellar«) und sich abzusetzen (»Need a Gone Dead Train«). Aber all dies ist nur die halbe Wahrheit, nur ein Teil der Geschichte, die erst noch folgen wird. Bezeichnend dagegen ist die letzte Zeile des Auszugs – »Yes, it’s a Gone Dead Train« –, dessen Bedeutung mittels einer Epipher (bezogen auf die vorhergehende Zeile) noch herausgehoben wird. Das Ausklingen der Musik verweist zudem auf eine Leerstelle, den fehlenden Teil des Songs. In diesem zunächst unterschlagenen ›Rest‹ finden sich folgende Zeilen, die gleich dreimal refrainartig wiederholt werden: »You know it’s a gone dead train Got to help it to burn You know it’s a gone dead train You got to help it to learn«

Der Zug, um den es hier geht, wird nicht nur als tot und vergangen charakterisiert – ein Umstand, den man akzeptieren müsse (»You got to help it to learn«) –, sondern als etwas, an dessen Überwindung und Zerstörung man mitwirken solle (»Got to help it to burn«).2 Eingedenk der bereits im vorherigen Kapitel dargelegten massi-

1

Vgl. Donald Cammell: Performance. Ed. by Colin MacCabe. London: Faber and Faber 2001, S. 3. – Alle Zitate folgen den gesprochenen Dialogen im Film, nicht der Druckfassung.

2

Der vollständige Song ist erst im Abspann zu hören. Daneben begegnet er auch in jener Szene, in der Pherber (Anita Pallenberg) und Lucy (Michèle Breton) in Turners (Mick Jagger) Küche Essen zubereiten und über Chas sprechen, als Hintergrundmusik, womit der Song diegetischen Status erlangt. Dies hebt auch Kevin J. Donnelly hervor: »Gone Dead Train functions as a dominant figure for the film, marking the audience’s entry and

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ven Präsenz von Eisenbahnen auch in anderen Filmen Roegs, kann man den kurzen Auszug aus Newmans Song mit gutem Recht auch und besonders als selbstreflexiven und metapoetischen Kommentar verstehen. Der »gone dead train« verweist auf das Bewußtsein für eine Verbundenheit zu einem realistischen, auf einem linearen Zeit- und einem homogenen Raumbegriff fußenden ›klassischen‹ Erzählkino, in dessen Nachfolge man (d.h. Roeg und seine Filme) steht, das aber zugleich als überlebt und überkommen markiert wird. a) Von Anfang an: Desorientierung und Dislokation Das Konzept einer linearen Zeit und eines homogenen Raumes dienen als zentrale Grundlagen des ›klassischen‹ Spielfilms, der einen gesicherten Raum zu etablieren sucht, in welchem die Figuren und mit ihm die Zuschauer, die in eine privilegierte Beobachterrolle versetzt werden, Stabilität, Transparenz und vor allem Orientierung finden. Demgegenüber zeichnen sich die Filme Roegs typischerweise dadurch aus, daß sie, beginnend mit der Eröffnungssequenz, nicht nur den Zuschauer über das ›Was‹, ›Wann‹ und ›Wo‹ der Erzählung im unklaren lassen, sondern ihn in eine räumliche wie zeitliche Desorientierung stürzen,1 die er teilweise mit den Figuren der Erzählung teilt. Dies ist zwar auch für etablierte Genrefilme wie etwa den Thriller oder den Film noir kein unbekanntes Verfahren, dient es doch der Erzeugung von Spannung; doch anders als in diesen ›klassischen‹ Filmen wird diese anfängliche Verwirrung, die Desorientierung und das Verlorensein der Figuren, und mit ihnen des Zuschauers,2 bei Roeg keinesfalls aufgelöst, sondern perpetuiert, allenfalls permutiert, nicht selten gar verstärkt. Desorientierung und Dislokation stellen sich damit als wesentliche Charakteristika der Roegschen Filmerzählungen heraus.3

exit while breaking into the diegesis in the middle of the film to emphasize the theme song’s status as a privileged signifier […]. In spite of this, the words are difficult to hear […].« (Kevin J. Donnelly: »›Performance‹ and the Composite Film Score«, in: ders. [Hg.], Film Music. Critical Approaches. Edinburgh: Edinburg Univ. Press 2001, S. 152166; hier: S. 157.) 1

Auch Mary Hurd konstatiert, daß viele von Roegs Filmen von Figuren handeln, »who are thrust into dislocating experiences and are forced to cope with disorientation […].« (Mary Hurd: »›Play‹ in Nicolas Roeg’s ›Track 29‹«, in: Journal of Evolutionary Psychology 16 [1995], Nr. 3-4, S. 292-298; hier: S. 292.)

2

In diesem Sinne hält auch Robert Phillip Kolker fest: »We are, in short, like a Roeg character: aliens in a strange land, trying to make sense of our perceptions, and failing.« (Kolker 1977, S. 84.)

3

Neil Feineman etwa sieht demgemäß in Roegs (ersten vier) Filmen »an extended comment on the effects of a dislocating experience that thrusts the characters« – und mit ih-

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Als Musterbeispiel einer solchen Desorientierung erweist sich die bereits angeführte Eingangssequenz von PERFORMANCE. Schon die ersten beiden Einstellungen mit dem Düsenflugzeug suggerieren beim Zuschauen ein Gefühl des Schwindels: das Flugzeug ändert mehrfach seine Richtung, so daß eine Zuordnung zwischen oben und unten unmöglich ist und man meinen könnte, das Gleichgewicht zu verlieren. Aber mehr noch: die Bedeutung der beiden Einstellungen bleibt zu Gänze unklar, sie scheinen prima facie in keinerlei Beziehung zu den nach einem abrupten Schnitt folgenden Einstellungen zu stehen, die in alternierender Parallelmontage die Fahrt des schwarzen Rolls-Royce und das wilde Liebesspiel des Paares zeigen. Doch auch diese Einstellungen lassen den Zuschauer zunächst ratlos zurück. Was hat es mit dem Rolls-Royce auf sich? Wer sind der Mann und die Frau? Und vor allem: in welcher Beziehung stehen die beiden Einstellungen zueinander?1 Während rasch klar ist, daß es sich um Chas handelt, einem Mitglied in einer Gangsterbande im Londoner East End, die für ihren Boss Harry Flowers Geld eintreibt oder ›Geschäften‹ mit Gewalt Nachdruck verleiht, der Sex mit seiner Freundin Dana hat, dauert es deutlich länger – gute zehn Minuten des Films sind bereits vergangen –, bis klar wird, was es mit dem Rolls-Royce auf sich hat. Er gehört einem Anwalt (Allan Cuthbertson), der Fraser (Anthony Roye) vertritt, der wegen unrechtmäßiger Geschäfte angeklagt ist, in die auch Flowers involviert war – den als eigentlichen Schuldigen der Anwalt bloßzustellen droht. Mehr als das nur schrittweise Deutlichwerden von Personen- und Handlungszusammenhängen sind es dabei vor allem die formalen Aspekte der Eingangssequenz, die Desorientierung erzeugen. Die einzelnen Einstellungen folgen in solch rascher Geschwindigkeit aufeinander, daß es für den Zuschauer kaum möglich ist, innezuhalten und sie in ihrem Gesamtzusammenhang richtig einzuordnen – ein Umstand, der auch von Scott Salwolke benannt wird, wenn er konstatiert, PERFORMANCE beginne mit »an opening montage where images move so fast that the viewer is left disoriented.«2 Unklar bleibt in diesem schnellen Wechsel, wo die Einstellungen in-

nen die Zuschauer, so möchte man ergänzen – »into a new invironment.« (Feinemann 1978, S. 131.) 1

Auf das Problem der Deutung und Zuordnung der Einstellungen in der Eingangssequenz von PERFORMANCE kommt auch Colin MacCabe zu sprechen – wobei er das Deutungsproblem nicht als Rezeptionsphänomen, sondern als Phänomen des filmischen Textes betrachtet. Er hält dazu fest: »The film’s inability to interpret what we see for us is foregrounded the opening sequence of the film in which the black Rolls Royce and Chas’s and Dana’s lovemaking are intercut in such a way as to leave it completely unclear as to the direct relationship between them.« (MacCabe 1998, S. 55.)

2

Salwolke 1993, S. 3. – Eine ähnliche Einschätzung findet sich bereits bei Janet Ann Baker, die über PERFORMANCE festhält: »This fast-paced movie, done with rapid cross-

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nerhalb des Handlungsablaufs genau – und das heißt: zeitlich – zu verorten sind. Handelt es sich bei den alternierend dargestellten Ereignissen der Konvention entsprechend um gleichzeitige Abläufe? Wohl kaum. Dem widerspricht allein eine Montagefolge wie diejenige, in der sich an das Plädoyer des Anwalts eine Einstellung anschließt, in der Flowers Chas mit »Hello, Chas« begrüßt, worauf ein harter Schnitt folgt: wir sehen, wie Chas in einem Büro den Taxiunternehmer Pooley malträtiert. Erst in einer weiteren Einstellung setzt sich Chas in einem Stuhl vor Harry Flowers Schreibtisch nieder (Abb. 13). Die beiden unterhalten sich, wobei weitere Einstellungen mit Pooley wie auch dem Anwalt eingeflochten sind. Abbildung 13: »Hello, Chas.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Für den gesamten ersten Teil von PERFORMANCE ist diese Montageweise kennzeichnend. Und demgemäß bilanziert Stephen Farber, für den PERFORMANCE »a genuinely revolutionary vision, explosive and totally disorienting«, darstellt: »From its opening second the film throws us off balance. Every scene is interrupted with subliminal flashbacks, flash forwards, or flashes of a completely unrelated action

cutting, chaotic narrative dislocation, surrealistic transformations, and distressing noise, disorients the audience from the start, immersing us in a most subjective cinematic experience.« (Janet Ann Baker: Alien Visions in the Films of Nicolas Roeg. Gainesville, FL: Univ. of Florida 1977 [Diss.], S. 12.)

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apparently taking place simultaneously […].«1 Verstärkt wird die Desorientierung dadurch, daß in der schnellen Folge der Eingangssequenz zahlreiche visuelle wie auch akustische Elemente montiert sind, die – mindestens beim erstmaligen Sehen – in ihrer Fülle wie auch ihrer kurzen Verweildauer kaum zu erfassen sind oder deren Sinn sich erst retrospektiv erschließt. So setzen, als der Anwalt sein Plädoyer beginnt, auf der Audiospur »jarring electronic sounds« ein, wie es im Drehbuch heißt,2 die an einen Computer erinnern. Erst mehrere Einstellungen später, in denen derweil Chas bei der ›Arbeit‹ und im Gespräch mit Flowers gezeigt wird, werden das Plädoyer und mit ihm die elektronischen Töne fortgesetzt. Und jetzt erst erschließt sich ihre Bedeutung; sie nehmen gleichsam eine Aussage des Anwalts vorweg und illustrieren sie zugleich, wenn dieser sein Argument mit den Worten »words still have meaning in our days of the computer« unterstreicht.3 Die den Beginn von PERFORMANCE bestimmende Desorientierung ist also das Ergebnis einer Montage, die, wie es Larry Gross bezeichnet, auf einem »principle of dislocation« beruht.4 Obgleich sich Roeg als Kameramann profiliert hatte, bevor er ins Regiefach wechselte, wäre es falsch anzunehmen, daß das Wesentliche und Charakteristische seiner Filme in der Kameraarbeit begründet ist; vielmehr avancierte die Montage zu seinem Markenzeichen.5 Und so wundert es kaum, daß das

1

Stephen Farber: »Performance. The Nightmare Journey«, in: Cinema 6 (1970), Nr. 2, S. 16-21; hier: S. 17. – Auch Donnelly verweist auf die oftmals unklare Verbindung der einzelnen Einstellungen und hebt dabei die Rolle der Filmmusik als verbindungsstiftendes Element hervor, wenn er konstatiert, daß »the opening sequence amounts to a number of disconnected incidents that may be retrospectively motivated, but are unified almost solely by the music track.« (Donnelly 2001, S. 158.)

2 3

Cammell 2001, S. 7. Die Wirkung, die ein solches Verfahren auf den Zuschauer haben kann, spiegelt sich etwa in Foster Hirschs Besprechung von PERFORMANCE wider. Er kritisiert: »The opening, in fact goes on much too long, and it gives us more detail than we need. The sense of dislocation is really more alienating than it ought to be […].« (Foster Hirsch: »Underground Chic: ›Performance‹«, in: Film Heritage 6 [1971], Nr. 3, S. 1-6 u. 36; hier: S. 6.)

4 5

Larry Gross: »Film après noir«, in: Film Comment 12 (1976), Nr. 4, S. 44-49; hier: S. 49. Vgl. Sinyard 1991, S. 137. – Zu einer ähnlichen Feststellung gelangt Thomas Koebner: »Obwohl er als Kameramann begonnen hat […], bevorzugt […] Roeg, sobald er als Regisseur arbeitet, […] wider Erwarten nicht vornehmlich die Kamera als erzählerisches Instrument. Roeg entwickelt vielmehr eine Art virtuose Akrobatik der Montage […].« (Thomas Koebner: »Der Animist der Moderne. Das Kino des Nicolas Roeg«, in: Marcus Stiglegger [Hg.], Splitter im Gewebe. Filmemacher zwischen Autorenfilm und Mainstreamkino. Mainz: Bender 2000, S. 163-180; hier: S. 163.) Auch Roeg selbst weist darauf hin, daß, obwohl er als Kameramann tätig war, die Kameraarbeit nicht das Ent-

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Prinzip der desorientierenden und dislozierenden Montage auch für Roegs nächsten Film (und zugleich ersten, bei dem er allein als Regisseur verantwortlich war) kennzeichnend ist: WALKABOUT (1971). Nach einer Texttafel, die darüber informiert, daß es sich bei einem ›Walkabout‹ um einen Initiationsritus der indigenen Bevölkerung Australiens handelt, folgt ein kurzer Vorspann, dessen Hintergrund eine rote Felsformation darstellt. Auf der auditiven Ebene setzen mit dem Vorspann verzerrte Töne ein, die sich als das Einstellen eines Radiosenders entpuppen. Es folgt ein Schnitt auf eine rote Ziegelsteinwand, während eine Stimme »Faites vos jeux, messieurs-dames, s’il-vous plaît« spricht. Die Kamera schwenkt die Wand entlang nach rechts unten und gibt den Blick frei auf einen Straßenzug. Derweil setzen auf der Tonspur Didgeridoo-Klänge ein. Es folgen in rascher Sukzession Einstellungen von in der Menge laufenden Menschen (zum Teil als Halbnah- und Großaufnahmen von Beinen) und Häuserfassaden, dann von uniformierten Mädchen in einer Schulklasse beim Atem- und Sprechtraining, gefolgt von einer Soldatenparade, einer Gruppe Schuljungen auf dem Pausenhof und eines Geschäftsmannes beim Verlassen eines Gebäudes, bis wieder eine rote Ziegelsteinwand zu sehen ist. Dieses Mal gibt der Kameraschwenk von der Mauer weg den Blick frei auf eine Wüstenszene, derweil noch immer die Didgeridoo-Klänge zu vernehmen sind, in die sich das Geräusch hupender Autos mischt. Es folgen weitere Einstellungen der Stadt, die sich als Sidney zu erkennen gibt (Abb. 14). Kurz: »The film begins with a disjointed and very fast montage of modern life«, wie schon Neil Feineman konstatiert,1 und die Mise-en-scène dieser Eingangssquenz ist, in den Worten Leonard Helds, duchdrungen von »images of disintegration, dissociation«.2

scheidende für seine Filme sei. Im Interview mit Gordon Gow hält er fest: »Because I was a cameraman, people tend to look at what I do on the visual level first, and to imagine that the camerawork is primarily in my mind. But I don’t think it really is.« (Gow 1972, S. 18.) In seinem autobiographischen Rückblick erläutert er, daß es während seiner frühen Lehrjahre gerade die Erfahrungen im Schnittraum waren, die einen nachhaltigen Eindruck auf ihn ausübten: » It was fantastic… and the thoughts and possibilities of that time in the cutting room have stayed with me all my life.« (Roeg 2013, S. 151.) Und so stellt Dominik Graf zum ›Typischen‹ der Filme Roegs fest: »Erst der Ablauf der Bilder, die Montage, die Kombination, die Assoziationen machen einen Roeg-Film aus.« (Dominik Graf: »Wasser. Blut. Zerbrechendes Glas. Nicolas Roeg, sein Film ›Don’t Look Now‹ und die Gehirnströme des mystischen Kino-Realismus«, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 160, 14.07.2005, S. 14 [Graf 2005b].) 1 2

Feineman 1978, S. 62. Leonard Held: »Myth and Archetype in Nicolas Roeg’s ›Walkabout‹«, in: Post Script 5 (1986), Nr. 3, S. 21-46; hier: S. 31.

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Abbildung 14: Eingangssequenz – »Faites vos jeux, s’il-vous plaît.«

WALKABOUT (Nicolas Roeg, 1971)

Vieles bleibt in dieser Sequenz zunächst unklar. Erst in der Rückschau kann es sich dem Zuschauer erschließen, daß im Klassenzimmer das Mädchen (Jenny Agutter) sitzt und auf dem Pausenhof ihr Bruder (Lucien John) spielt.1 Nachdem ihr Vater –

1

Es handelt sich hierbei um Luc Roeg, den Sohn des Regisseurs, der aber im Vor- und Abspann unter dem Namen Lucien John geführt wird. – Anders als in James Vance Marshalls Jugendbuch Walkabout (1959 zunächst unter dem Titel The Children erschienen), das als Grundlage für den Film gedient hat, und in welchem die Kinder Peter und Mary heißen (über weiter Strecken aber einfach nur als »the boy« und »the girl« bezeichnet

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der Geschäftsmann (John Meillon) – versucht, sie während eines Picknickausflugs ins Outback zu erschießen und sich dann das Leben nimmt, müssen die Geschwister ihren Nachhauseweg durch die Wüste suchen. Ein Kofferradio ist dabei ein fester Begleiter des Mädchens. Die ersten Töne wiesen bereits auf ein späteres Ereignis voraus, wobei das Suchen und Einstellen des Senders dem Versuch des Zuschauers entspricht, Orientierung in der Montagefolge der Eingangssequenz zu finden. Verstärkt wird diese Orientierungslosigkeit durch eine Strategie nicht nur temporaler, sondern auch spatialer Dislokation, in welcher Stadt und Land, Zivilisation und Wildnis, die graue Beton- und die rote Sandwüste, weniger gegenübergestellt werden, sondern vielmehr in ihrer Sukzession nahezu zu verschmelzen scheinen, was durch den Chiasmus von Bild und Ton noch unterstrichen wird. Auch für den weiteren Verlauf des Films bleibt das Prinzip der Dislokation bestimmend, so etwa im Wechsel zwischen handlungsrelevanten und scheinbar handlungsirrelevanten Einstellungen.1 Das desorientierende und dislozierende Montageprinzip, das Roeg in den Eröffungssequenzen seiner bekanntesten Filme anwendet, kann als programmatisch für alles, was auf diese folgt, betrachtet werden. »Der Anfang ist in allen filmischen Gattungen ein besonders exponierter Textteil«, wie Britta Hartmann betont und dazu weiter ausführt: »Formen, Themen und Motive eines Films werden am Anfang etabliert, und der Filmanfang bildet damit so etwas wie einen textuellen Knotenpunkt.«2 Die Funktion des Anfangs zeichnet insbesondere die Filme Roegs aus. Selten haben die Eingangssquenzen bei ihm handlungsexpositorischen Charakter, zu sehr wird der Zuschauer dafür medias in res geworfen. Vielmehr nehmen seine

werden), trägt bei Roeg keine der Figuren einen Namen. Im übrigen weicht Roegs Film deutlich von der Vorlage ab. So sind bei Marshall die Geschwister Amerikaner und die beiden einzigen Überlebenden eines Flugzeugabsturzes im australischen Outback (vgl. James Vance Marshall: Walkabout. London: Puffin 2009). Entsprechend hält Anthony Boyle fest: »Roeg’s film transforms everything in the novel except the setting.« (Anthony Boyle: »Two Images of the Aboriginal: ›Walkabout‹, the Novel and Film«, in: Literature/Film Quarterly 7 [1979], Nr. 1, S. 67-76; hier: S. 71.) 1

John Izod merkt hierzu an: »The film’s frequent recourse to intercutting between ongoing narrative action and entirely unexpected scenes contributes to this dislocating method, which requires the audience to make its own associations.« (John Izod: »Walkabout: A Wasted Journey?«, in: Sight and Sound 49 [1980], Nr. 2, S. 113-116; hier: S. 115; vgl. auch John Izod: The Films of Nicolas Roeg. Myth and Mind. Houndmills/London: Macmillan 1992, S. 58.)

2

Britta Hartmann: »Anfang, Exposition, Initiation. Perspektiven einer pragmatischen Texttheorie des Filmanfangs«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 5 (1995), H. 2, S. 101-122; hier: S. 101f.

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Eingangssequenzen einer Ouvertüre, einem Wagnerschen Vorspiel gleich nahezu alle wesentlichen Motive vorweg. Obgleich sie mehr Verwirrung als Orientierung zu stiften scheinen, machen sie dabei von Anfang an die formalen Bedingungen und Grundlagen der Narration deutlich. Dies deckt sich mit Hartmanns Unterscheidung zwischen einer »Initialphase des textuellen Diskurses und der diesem Textteil zukommenden spezifischen Funktion der Initiation des Zuschauers.«1 Die Initialphase weist dabei über eine rein thematische Einführung hinaus: »Der Initialphase obliegt es, das ›initiatorische Programm‹ des Textes zu starten. Zu den initiatorischen Leistungen zählen die Einweisung und Einübung des Zuschauers in die Modalitäten und Wahrscheinlichkeiten der Narration. Es müssen Hinweise vergeben werden, mit deren Hilfe sich der Zuschauer in diesem spezifischen System zu orientieren lernt, um Kohärenz zwischen den Textelementen und Informationsstücken herstellen zu können.«2

Gerade letzteres, das Angebot einer Orientierung und die Einladung zu kohärenten Verknüpfungen, verweigern die Eingangssequenzen von Roegs Filmen nur zu häufig. Sie machen dem Rezipienten damit von Anbeginn an unmißverständlich deutlich, daß er auch im weiteren Verlauf nur mit wenig, wenn nicht gar keiner Orientierung rechnen kann. So gesehen warnen sie davor, immer und überall kohärente Beziehungen zwischen den Montageteilen anzunehmen. Gerade bei Roeg erweisen sich die Eingangssequenzen somit als Nuklei der filmischen Erzählung und bestätigen damit Thierry Kuntzels Diagnose »what is fascinating about beginnings is the fact that, in the space of a few images – a few seconds – almost the entire film can be condensed«.3 Für vielleicht kaum einen anderen Film (Roegs) gilt dies mehr als für DON’T LOOK NOW (1973).

1

Ebd., S. 112 (Herv. i.O.). – Hartmann zufolge ist der »Begriff Initialphase […] ein morphologisches Konzept und kennzeichnet die funktionale Beziehung des Filmanfangs zum Textganzen. Aufgabe der Initialphase ist die Initialisierung sämtlicher textuellen Register.« Demgegenüber »zielt der Begriff von Initiation auf die pragmatische Dimension des Filmanfangs. Dazu zählt zuallererst die Aufgabe, den ritualisierten Übergang des Zuschauers in die fiktionale Welt zu ermöglichen.« (Ebd.; Herv. i.O.)

2

Ebd. – Hartmann zufolge kommt dabei dem Filmanfang gleichsam der Status eines Paktes bzw. Vertrags zu, der den Zuschauer und den filmischen Text in Verbindung bringt. Dies beziehe sich nicht nur auf die inhaltlichen, sondern auch auf die formalen Aspekte der Narration: »Damit ist klar, daß sich ›Initialisierung‹ wie ›Initiation‹ nicht allein auf die Handlung beziehen, sondern alle Ebenen und Register des narrativen Diskurses umspannen.« (Ebd., S. 113.)

3

Thierry Kuntzel: »The Film-Work, 2«, in: Camera Obscura 5 (1980), S. 6-69, hier: S. 24.

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Die gut siebenminütige Eingangssequenz von Roegs wohl bekanntestem Film umfaßt nahezu alle inhaltlichen und formalen Aspekte, die für DON’T LOOK NOW kennzeichnend sind. Sie enthält, wie Feineman ausdrückt, bereits »all the elements of that subliminal, supernatural design«, das den Film auszeichnet.1 Wenn Laura Baxter (Julie Christie) auf die Frage ihrer Tochter Christine (Sharon Williams) »If the world is round why is a frozen pond flat?« hin in einem Buch herausfindet, daß der Ontariosee »curves more than three degrees from ist eastern shore to its westernmost shore. So frozen water isn’t flat« und ihr Mann John (Donald Sutherland) dies mit den Worten »Nothing is what it seems« kommentiert,2 so verweist dies auf das Problem des Sehens, der Täuschung der Sinne. Johns Kommentar, der die Begrenztheit der Wahrnehmung unterstreicht,3 kann sogar als das Motto des Films aufgefaßt werden4 – ebenso wie die Aussage »Seeing is believing«. Mit diesen Worten kommentiert John die Versicherungen seiner Frau, sie habe sich seit dem Unfalltod ihrer gemeinsamen Tochter Christine nie besser gefühlt, nachdem sie auf die zwei schottischen Schwestern Heather (Hilary Mason) und

1

Feineman 1978, S. 84. – Auch Mark Sanderson, der eine minutiöse Aufstellung der einzelnen Einstellungen der Eröffnungssequenz angefertigt hat, stellt fest: »The opening sequence of DON’T LOOK NOW, which includes the titles, contains more than one hundred shots but lasts only seven minutes. It is a textbook example of compression and encapsulation, giving the unwitting viewer virtually the whole ensuing film in a nutshell.« (Mark Sanderson: Don’t Look Now. London: British Film Institute 1996, S. 33.)

2

Vgl. Allan Scott/Chris Bryant: Don’t Look Now. Screenplay. [London:] Sight and Sound 1997, S. 10-12. – Alle Zitate folgen den gesprochenen Dialogen im Film, nicht der Druckfassung.

3

Janet Ann Baker hebt ebenfalls die programmatische Dimension von Johns Aussage »Nothing is what it seems« hervor; ihre Bedeutung liege darin, »the theme of the limitations of human perceptions« einzuführen (Baker 1977, S. 60f.).

4

James Palmer und Michael Riley sehen diese beiden Kommentare als geradezu programmatisch für DON’T LOOK NOW an: »Between these opposing and familiar attitudes, the film examines the dangers and rewards of different kinds of vision.« (James Palmer/Michael Riley: »Seeing, Believing, and ›Knowing‹ in Narrative Film. ›Don’t Look Now‹ Revisited«, in: Literature/Film Quarterly 23 [1995], Nr. 1, S. 14-25; hier: S. 14.) Scott Salwolke sieht John Baxters Kommentar, daß nichts ist, wie es scheint, nicht nur als kennzeichnend für die erzählerische Strategie von DON’T LOOK NOW, sondern für Roegs gesamtes filmisches Schaffen an (vgl. Salwolke 1993, S. 39.) Bestätigung findet dies durch die Aussage des Regisseurs, der im Interview mit Sean O’Hagan preisgibt: »For me, the basic premise is that in life, nothing is what it seems.« (Sean O’Hagan/Philip French: »The Sexual Power and Terror that Produced a Classic«, in: The Observer, 09.04.2006, S. 6.)

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Wendy (Clelia Matania) getroffen ist, und Heather, die behauptet hellseherische Fähigkeiten zu haben, vermeintlich eine Nachricht von Christine aus dem Jenseits übermittelt. Hiermit kommt der Aspekt der Vorausahnung bzw. Präkognition ins Spiel, zu der vor allem John Baxter fähig ist, was er jedoch bis zu seinem fatalen Tod am Ende des Films nicht wahrhaben will; wiederum damit verbunden ist das Ineinanderfließen der Zeiten, das Nebeneinander von Gegenwart und Zukunft.1 »Already the present and the future coalesce«, wie Scott Salwolke mit Blick auf die Eingangssequenz feststellt.2 Abbildung 15: Vorspann

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

1

Zum Interesse des Regisseurs an multidimensionalen Zeiten, Parawissenschaften, Spiritismus und dem Übernatürlichen (»the supernatural«) vgl. Roeg 2013, S. 206-210.

2

Salwolke 1993, S. 38.

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Diese Koaleszenz wird, wie auch in den zuvor genannten Fällen, durch die Montage überhaupt erst erzeugt, die wieder einmal dem Prinzip der Desorientierung und Dislokation folgt. So stellt auch Neil Sinyard fest: »At certain points in the film, it is not clear where we are in time […]«1 – ›and space‹, sollte man ergänzen. Bereits die ersten beiden Einstellungen verdeutlichen dies, vor denen der weniger als eine Minute dauernde Vorspann abläuft. Es ist zunächst das Bild eines Teiches zu sehen, auf den Regen fällt. Die Kamera zoomt auf den Teich heran, und das Bild blendet über zur zweiten Einstellung, die Fensterläden zeigt, durch die Licht einfällt (Abb. 15). Während der zweiten Einstellung ist zudem eine vor sich hin summende bzw. brummende Männerstimme zu vernehmen. Relativ rasch – d.h. noch während der Eingangssequenz – wird klar, daß es sich bei dem in der ersten Einstellung gezeigten Teich um jenen handelt, in welchem Christine, die Tochter der Baxters, beim Spielen im Garten ertrinkt. Er gehört damit in das räumliche Setting der Eingangssequenz, welches das Haus und den Garten der Baxters umfaßt. Abbildung 16: Venedig

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973) Zeitlich ist die Zuordnung indes deutlich weniger klar. Denn als Christine und ihr Bruder Johnny (Nicholas Salter) im Garten spielen, regnet es nicht. Lediglich die Tatsache, daß Christine einen roten Regenmantel trägt und die diesige Stimmung lassen vermuten, daß es kurz zuvor geregnet haben mag. Damit wäre die erste Einstellung den Ereignissen in der Eingangssequenz aber zeitlich vorgelagert. Tatsäch-

1

Sinyard 1991, S. 44. – Ähnlich wie auch Salwolke verweist Sinyard wenn nicht auf ein Ineinanderfließen, so doch auf das Nebeneinander der Zeiten in der Eingangssequenz, welche »anticipates the way in which the film will show the present and the future operating side by side […].« (Ebd.)

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lich aber nimmt sie ein späteres Ereignis vorweg: die Einstellung des Teiches, auf den Regen fällt, erweist sich im Verlauf des Films als Teil einer Rückblende, die Johns Erinnerung visualisiert, wie er und seine Frau Laura an einem verregneten Tag in ihrem mit Koffern beladenen Auto ihr Heim verlassen. Laura trägt in dieser Rückblende Trauerkleidung, womit der Aufbruch zeitlich eindeutig nach Christines Tod einzuordnen ist. Der Flashback wiederum ist in jene Szene im Anschluß an die Eingangssequenz einmontiert, in der John in einem Restaurant in Venedig sitzt. Hierhin, nach Venedig, haben sich die Eltern nach dem Tod ihrer Tochter hinbegeben. John überwacht in der Lagunenstadt die Restaurierung einer Kirche. Die Fensterläden, die in der zweiten Einstellung zu sehen sind, erweisen sich sodann als diejenigen des Hotelzimmers in Venedig, in dem Laura und John zunächst untergekommen sind – und in welchem letzterer seinen Arbeitsplatz einrichtet hat (vgl. Abb. 16). Weder räumlich noch zeitlich gehören die ersten beiden Einstellungen damit in das Umfeld der Ereignisse der Eingangssequenz; sie sind an dieser Stelle vollkommen disloziert. Sinn, Zeit und Ort bleiben dem Zuschauer somit zunächst verschlossen, was zu Ratlosigkeit, ja zu Orientierungslosigkeit führt: »Significantly, then, when they first appear, these two images (pond and window) are without context, seemingly unlocated in time and unrelated in any narrative sense, although visually similar as patterns of light.«1 Ungeachtet dessen handelt es sich bei beiden Einstellungen um Orte (und Ereignisse), die Teil der Diegese sind. Auf die Spitze getrieben wird eine solche Montage der zeitlichen Dislokation in der Eröffungssequenz von BAD TIMING (1980). Der Film setzt ein mit einer Szene, in der Alex Linden und Milena Flaherty in der Österreichischen Galerie im Wiener Belvedere zu sehen sind. Unmittelbar im Anschluß sieht man, wie die ohnmächtige Milena in Begleitung von Alex in einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht wird, gefolgt von einer Szene am österreichisch-tschechoslowakischen Grenzübergang, in der sich Milena von ihrem Mann Stefan Vognic (Denholm Elliott) verabschiedet. In ihrer raschen Sukzession ist zunächst völlig unklar, wie sich die einzelnen Szenen inhaltlich und chronologisch zueinander verhalten, und ihr Sinn erschließt sich – wenn überhaupt – erst retrospektiv. Auch Izod stellt mit Blick auf das Arrangement der Eingangssequenz fest: »From the start, the control of time (the film’s ›bad timing‹) provokes a sense of profound dislocation in the spectator.«2 Die

1 2

Palmer/Riley 1995, S. 22. Izod 1992, S. 107. – Auf das Prinzip zeitlicher Dislokation und Desorientierung in BAD TIMING verweist auch Toni Ross und hebt dabei hervor, daß es nicht nur kennzeichnend für die Eingangssequenz sei, sondern »the whole film, with the crucial exception of the closing sequence, is made up of unexpected cuts into flash-forwards and flash-backs, that deny any direct access to a present moment, producing a temporal rhythm that contaminates past and future tenses.« (Ross 1995, S. 188.)

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Eingangssequenz von BAD TIMING wird uns an späterer Stelle noch ausführlicher beschäftigen (vgl. IV 1) a)). Sie kann, wie bereits erwähnt, gleichsam als Höhepunkt von Roegs dislozierender Montagestrategie angesehen werden. Es ist kaum zu übersehen, daß sich in der Nachfolge von BAD TIMING, insbesondere ab der Mitte der 1980er Jahre, die Verfahrensweisen in Roegs Filmen ändern. Immer deutlicher rückt er von der für ihn als typisch geltenden Montagestrategie ab – ein Umstand, über dessen Grund nur spekuliert werden kann.1 Dies hat auch Rückwirkung auf die Gestaltung der Eingangssequenzen seiner späteren Filme. Dennoch bleibt er sich auch hier in der Regel einer Strategie der Desorientierung treu, wenngleich diese nunmehr weniger das Ergebnis einer dislozierenden Montage ist, sondern sehr viel stärker auf der Kameraarbeit beruht. Exemplarisch ließe sich hier THE WITCHES (1990) anführen, wo dieses Verfahren deutlich hervortritt. Abbildung 17: Vorspann und Eröffnungssequenz

THE WITCHES (Nicolas Roeg, 1990)

Der Film beginnt mit einem Tiefflug über eine schneebedeckte Felslandschaft, der mit seiner schwindelerregenden Perspektive einer Achterbahnfahrt gleicht (Abb. 17, li.). Der Flug endet in einem kleinen norwegischen Dorf. Straßen und Häuser werden mal aus Unter-, mal aus Obersicht gefilmt, und mehrfach erfolgen Zooms auf Fenster in den Obergeschossen. Die Perspektive scheint verzerrt zu sein. Und besonders in der Szene, in der sich Polizisten und Schaulustige vor dem Elternhaus

1

Scott Salwolke fragt sich beispielsweise, ob Roegs Hinwendung zu einer eher linearen Erzählweise ein Zugeständnis an das breite Publikum ist: »At times it seems Roeg is resonding to the criticism that his films are too complex for the general audience.« (Salwolke 1993, S. 138.) Zugleich könnte der Wandel durch einen Wechsel des Mediums beeinflußt sein. Denn ab den späten 1980er Jahren drehte Roeg vermehrt Fernseh- statt Kinospielfilme.

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von Erica (Elsie Eide) versammeln, die von einer Hexe entführt wurde, erscheint die Kamera nahezu schwankend (Abb. 17, re.). Salwolke merkt zu dieser Szene an: »The action is photographed at an angle, so that the viewer is disoriented as are the participants.«1 Eine ähnliche Kameraeinstellung findet sich in der Szene, in der sich die Eltern (Darcy Flynn, Vincent Marzello) von Luke, der Hauptfigur des Films, aus dem Haus begeben und in ihr Auto einsteigen – zu jener Fahrt, die mit einem tödlichen Unfall enden wird.2 Freilich ist dabei im Gegensatz zu den stärker durch eine rasante und sprunghafte Montagetechnik bestimmten früheren Filmen Roegs die Desorientierung hier vorrangig eine räumliche, keine zeitliche.3 Abbildung 18: Eingangssequenz

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1973)

1

Salwolke 1993, S. 175. – Vgl. Auch Sinyard 1991, S. 127.

2

Neil Sinyard deutet »Roeg’s cockeyed camera-angle« in dieser Szene als Ausdruck einer aus den Fugen geratenen Welt (vgl. Sinyard 1991, S. 127).

3

Dies deckt sich mit der Einschätzung John Izods, der zu Kameraarbeit in THE WITCHES festhält: »[…] although we know where we are in time, we do not always appreciate where we are in space […].« (Izod 1992, S. 223.)

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Das Spiel mit ungewöhnlichen, gar desorientierenden Kameraperspektiven ist indes kein Alleinstellungsmerkmal der späteren Filme Roegs. Schon in seinen früheren, durch die dislozierende Montage geprägten Filmen spielt auch immer die Kameraperspektive eine wesentliche Rolle bei der Desorientierung. Zu denken wäre hier etwa an jene Aufnahmen aus der Anfangssequenz von WALKABOUT, in denen der Junge durch einen Park läuft, die mit einer weiten Brennweite aufgenommen wurden und dadurch verzerrt und unnatürlich wirken.1 In besonderem Maße gilt dies auch für die ersten Einstellungen aus THE MAN WHO FELL TO EARTH, in denen der Außerirdische Newton in der Nähe der verlassenen Mine einen Hügel hinunterläuft: Der Wechsel der Perspektiven zwischen Ferne und Nähe, Unter- und Aufsicht, Gesicht und Füßen Newtons vermittelt und verstärkt das Gefühl von schwindelndem Gleichgewichtsverlust und Orientierungslosigkeit, das man zunächst der Figur zusprechen möchte, zugleich aber mit ihr teilt (Abb. 18). Allerdings sind diese Aufnahmen eingebunden in eine schnell geschnitte Montagefolge, die einzelnen Einstellungen verweilen oft nur für wenige Sekunden. Verglichen damit erscheint die Montage in Roegs späteren Filmen deutlich verlangsamt, so auch in SWEET BIRD OF YOUTH. Der Film beginnt mit Aufnahmen eines Filmtheaters in den späten 1950er Jahren, in welchem ein Film mit der alternden Schauspielerin Alexandra Del Lago (Elizabeth Taylor) gezeigt wird. Es wird damit nicht nur ein zeitliches Setting etabliert; die Sequenz weist auch einen deutlichen selbstreflexiven Gestus auf, wie Salwolke richtig feststellt: »The set recalls not only an earlier era, but an earlier style of filmmaking.«2 Wachgerufen wird damit das Bild des ›klassischen‹ Hollywood-Kinos – also desjenigen Kinos, das im wesentlichen durch Genres als stabilisierende und orientierungsstiftende Rahmen geprägt ist. Doch auch hier, in ihrer Verbundenheit – bzw. Nichtverbundenheit – zu bestimmten Genres stiften Roegs Filme mehr Verwirrung als Klarheit, mehr Desorientierung als Orientierung. Auf den ersten Blick erscheinen Roegs Filme als typische Genre-Filme, die sich klar verorten lassen. So könnte man nach den ersten Minuten von PERFORMANCE beispielsweise annehmen, es handele es sich um einen Thriller.3 Doch schnell wird

1

Diese besondere Aufnahmeperspektive konstatiert bereits Neil Feineman. Er führt dazu aus: »As the boy goes into the park, Roeg switches to a wide angle lens, which gives the greenery an unnatural, distorted, almost artificial appearance.« (Feinemann 1978, S. 62.)

2

Salwolke 1993, S. 160. – Salwolke fügt anmerkend hinzu: »Gone is the rapid montage that opens most of Roeg’s films […].« (Ebd.)

3

Eckhard Haschen etwa spricht mit Blick auf PERFORMANCE von »einer zunächst klassisch daherkommenden Genre-Geschichte […].« (Eckhard Haschen: »Bewußte Desorientierung des Zuschauers. Ein Außenseiter der Filmgeschichte: Nicolas-Roeg-Reihe im BMovie«, in: Die Tageszeitung, 05.02.2004, Hamburg lokal, S. II.) Noch deutlicher sieht

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klar, daß nicht nur Zeiten und Räume bei Roeg verschmelzen, sondern auch Genres, deren Grenzen sich aufzulösen scheinen. So konstatiert Mattias Frey mit Blick auf PERFORMANCE: »It is a gangster film that dissolves into a hippie psychodrama and […] it seems as if two quite disparate films are somehow slapped together as one.«1 Ein solches Verschmelzen unterschiedlicher Genre-Traditionen ist auch kennzeichnend für DON’T LOOK NOW: »On the level of genre, Roeg integrates narrative action from a gothic horror movie with the stylistic surface beauty of the abstract ›visual‹ film«, so Beverle Houston und Marsha Kinder.2 THE MAN WHO FELL TO EARTH läßt sich noch weniger klar einem bestimmten Genre (oder auch zweien) zuordnen. Als wirklicher Science-Fiction-Film mag er schwerlich durchgehen.3

Jack Kroll den Film in einer klaren Genre-Tradition: »PERFORMANCE can be looked at as a genre movie, an interestingly updated gangster film which, in its way, continues a tradition.« (Jack Kroll: »A Last Word on ›Performance‹«, in: Art in America (March 1971), S. 114f.; hier: S. 114.) 1

Mattias Frey: »London à la mod: Fashion, Genre, and Historical Space in ›Performance‹«, in: Quarterly Review of Film and Video 23 (2006), Nr. 4, S. 369-375; hier: S. 370. – Ganz ähnlich konstatieren auch Beverle Houston und Marsha Kinder ein Verschmelzen von Genres in PERFORMANCE – wenngleich von etwas anderen: »On the level of genre, Roeg and Cammell fuse the gangster film and the trip movie; through a process of dialectical transformation they create a new genre.« (Beverle Houston/Marsha Kinder: »Cultural and Cinematic Codes in ›The Man Who Fell to Earth‹ and ›Walkabout‹. Insiders and Outsiders in the Films of Nicolas Roeg«, in: dies., Self and Cinema. A Transformalist Perspective. Pleasantville, NY: Redgrave 1980, S. 345-469; hier: S. 370.) Gleichwohl sehen beide PERFORMANCE zugleich in einer deutlichen Tradition bzw. Nachfolge des Gangster-Genres, wie es durch Arthur Penns BONNY AND CLYDE (1967) repräsentiert wird, wenn sie festhalten: »In addition to playing with these conventions, PERFORMANCE […] explores the roots of the genre. In fact, a poster of Gene Hackman as Buck Barrow hangs on Chas’s wall.« (Marsha Kinder/Beverle Huston: »The Ultimate Performance«, in: dies., Close-up. A Critical Perspective on Film. New York: Harcourt Brace Jovanovich 1972, S. 359-376; hier: S. 364.)

2

Houston/Kinder 1980, S. 370. – Eckhard Haschen sieht in DON’T LOOK NOW ein »elegant zwischen Thriller, Horrorfilm und Melodram angelegte[s] Werk« (Haschen 2004, S. II). Für Dominik Graf führt bereits die berühmte ›Liebesszene‹, in der Einstellungen von John und Laura beim Sex mit Einstellungen ihrer anschließenden Verrichtungen alternieren, »den Film über sein Genre weit hinaus [...]« (Graf 2005a, S. 13).

3

Schon allein die inhaltliche Ausrichtung von THE MAN WHO FELL TO EARTH »entspricht nicht den üblichen Erwartungen an das Genre«, wie Peter Ruckriegl zu bedenken gibt. »Das Alien, das auf die Erde kommt, stellt für die Menschen keine Bedrohung dar […].« (Peter Ruckriegl: »Der Mann, der vom Himmel fiel«, in: Thomas Koebner [Hg.]: Film-

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Kennzeichnend für den Film ist nach Milne vielmehr »the restless switch from genre to genre (mystery, spy, private eye, Western, science fiction, romance, documentary)«.1 Ebenso unklar ist die Einordnung von BAD TIMING. Wie Teresa de Lauretis festhält, »there are films that do not seem to fit anywhere, and BAD TIMING is one

genres. Science Fiction. Stuttgart: Reclam 2003, S. 278-282; hier: S. 280.) Allenfalls wohl ließe sich THE MAN WHO FELL TO EARTH als ein »semi-science-fiction film« bezeichnen (Roger Greenspun: »Films«, in: Penthouse. The International Magazine for Men 8 [September 1976], Nr. 1, S. 46f.; hier: S. 46). Roeg selbst stellt dazu fest: »[…] it is not a science fiction movie per se, there is no hardware […].« (John Lifflander/Stephan Shroyer: »Nick Roeg… and the Man Who Fell to Earth«, in: Andy Warhol’s Interview 3 [March 1976], S. 34-36; hier: S. 34.) 1

Tom Milne: »The Man Who Fell to Earth«, in: Sight and Sound 45 (1976), Nr. 3, S. 145147; hier: S. 146. – Auch Bodo Fründt sieht in dem Film geradezu ein Konglomerat verschiedenster Genres: »THE MAN WHO FELL TO EARTH beginnt als SF-Geschichte und endet (unter anderem) als Parabel aufs Showbusiness. Dazwischen sieht man fast zweieinhalb Stunden lang Versatzstücke aus fast allen gängigen Genres des amerikanischen Films.« (Bodo Fründt: »The Man Who Fell to Earth [1976]«, in: Norbert Stresau/Heinrich Wimmer [Hg.], Enzyklopädie des phantastischen Films, Band 4. Meitingen: Corian 1986-2004 [2. Erg.-Lfg. November 1986], S. 2 u. 4.) Paul Mayersberg, der das Drehbuch zu THE MAN WHO FELL TO EARTH verfaßt hat, verweist darauf, daß der Film vielmehr ein Spiel mit unterschiedlichen Genres darstellt: »It would actually be misleading to call the movie a detective or even a mystery story. It has elements of almost every genre, even the Western, partly because of the way one aspect of the story leads into another (mystery – detection – science fiction) and partly because the film is set in and about America. And America is the home of all the genres.« (Paul Mayersberg: »The Story so Far...: A Commentary on ›The Man Who Fell To Earth‹«, in: Sight and Sound 44 (1975), Nr. 4, S. 225-231; hier: S. 226.) Justin Smith ist sich sicher, daß gerade dies für Roeg den besonderen Reiz von Mayersbergs Drehbuch ausmachte: »Nicolas Roeg became interested in Paul Mayerberg’s screenplay of Walter Nevis’s [sic – es muß natürlich ›Tevis’s‹ lauten] sci-fi story The Man Who Fell to Earth because it eschewed genre convention in favour of a remarkably human dimension.« (Justin Smith: »›The »lack« and How to Get it‹. Reading Male Anxiety in ›A Clockwork Orange‹, ›Tommy‹ and ›The Man Who Fell to Earth‹«, in: Paul Newland [Hg.], Don’t Look Now. British Cinema in the 1970s. Bristol/Chicago: Intellect 2010, S. 144-160; hier: S. 147.) Mit Carsten Bergemann kann man somit wohl nur den Schluß ziehen, »dass es sich bei diesem Film um ein Werk handelt, das über die Inszenierung innerhalb von Genre-Stereotypen hinausgeht.« (Carsten Bergemann: »Der gefallene Engel. Nicolas Roegs ›The Man Who Fell to Earth‹«, in: Ikonen. Zeitschrift für Kunst, Kultur und Lebensart 0/1 [2002], S. 16-19; hier: S. 18).

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such film.« Und sie fügt hinzu: »And then there is the question of genre: neither a thriller nor a love story […].«1 Scott Salwolke ordnet BAD TIMING dem Film noir zu und verweist darauf, daß in diesem Genere »the stories were often told in flash back.«2 Unterstützung kann diese Einschätzung durch das Setting finden: Wien, das seine wohl maßgebliche filmische Repräsentation in Carol Reeds THE THIRD MAN (1949) gefunden hat.3 Letztlich ist aber auch dieser Film Roegs allenfalls ein Amalgam verschiedener Genres. Toni Ross etwa konstatiert: »Generically speaking, BAD TIMING begins as a romance and concludes in a tragic register.«4 Wie dem auch immer sei, die genannten Beispiele zeigen, daß sich Roegs Filme einer klaren Genrezuweisung, die als orientierungsstiftender Rahmen dienen könnte, entziehen. Noch für seinen jüngsten Film, PUFFBALL, gilt dies, wie der Regisseur selbst im Gesräch mit Steve Rose einräumt: »I’ve been told my movies are difficult to market […]. It isn’t a horror film, it isn’t a thriller. Yes, there’s a love story in it but it could hardly be called a romance. People love things in boxes, classified a genre. But it’s just life. Life and birth and sex and love – they don’t necessarily all go together.«5

So verwundert es nicht, wenn Roeg betont: »[…] meine Filme haben keine Genres.«6 Trotz einer gewissen Affinität passen der Regisseur und seine Filme nicht in das Hollywood-Schema. Er selbst stellt in einem Interview aus dem Jahr 1982 fest: »I think Hollywood sees me as a friendly foreigner, someone who’s been able to

1

Teresa de Lauretis: »Now and Nowhere. Roeg’s ›Bad Timing‹«, in: Discourse 5 (1983), S. 21-40; hier: S. 24.

2

Salwolke 1993, S. 74.

3

Wie Barry Langford darlegt, habe THE THIRD MAN »a generic lexicon of noir atmospherics, international intrigue, and disenchanted skullduggery« etabliert, und BAD TIMING stelle – was duchaus richtig festgestellt ist – seine Verbundenheit zum ›klassischen‹ Vorbild anspielungshaft aus: »In fact, BAD TIMING not only alludes in passing to Reed’s classical film – in the zither we hear in the soundtrack in a characteristically tortuous café scene – but also recalls to the viewer the ineluctable implication of all of central Europe’s great cities in the Cold War […].« (Barry Langford: »Strangers [to] Themselves. Cityscapes and Mindscapes in 1980s European Cinema«, in: European Studies 23 [2006], S. 147-162; hier: S. 150. Herv. i.O.)

4 5

Ross 1995, S. 210. Steve Rose: »›You don’t know me‹«, in: The Guardian, 12.07.2008, http://www.guardian.co.uk/culture/2008/jul/12/film.features [30.09.2013].

6

Suchsland 2008, S. 45.

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make himself at home there but doesn’t make them feel threatened.«1 Roeg und seine Filme sind gleichsam ›Fremde in fremden Landen‹ – und gleichen den Figuren, von denen sie handeln. b) ›Strangers in Strange Lands‹ – Grenzgänger zwischen den Welten Die Ausführungen zu einer Technik der Desorientierung mittels Kameraarbeit haben bereits anklingen lassen, daß dies ein Zustand ist, den der Zuschauer von Roegs Filmen mit den Figuren teilt. So wie der Zuschauer in einer von dislozierender Montage und desorientierender Kameraführung bestimmten filmischen Narration seinen Halt finden muß, so müssen sich die Figuren in ihrer Welt zurechtfinden. Nirgends wird dies vielleicht deutlicher als am Anfang von THE MAN WHO FELL TO EARTH: der Einsatz der schwankenden Kamera – so z.B. in jener Szene, in der Newton, nachdem er einen Ring verkauft hat, mit einem Becher Wasser aus einem Fluß schöpft und trinkt – unterstreicht, wie sehr sich der Neuankömmling auf Erden zunächst orientieren muß. Dabei stellt Newton als auf die Erde gekommener Außerirdischer geradezu die extreme Ausprägung jenes Typus dar, die für nahezu alle von Roegs (Anti-)Helden kennzeichnend ist: sie sind – um eine Bezeichnung Tom Milnes aufzugreifen – ›strangers in strange lands‹.2 Sie teilen damit zugleich eine Eigenschaft, die bereits für das narrative Montageverfahren von Roegs Filmen kennzeichnend ist, nämlich jene der Dislokation. Sie ließen sich – freilich im übertragenen, wenngleich den Begriff wörtlich nehmenden Sinne – als ›displaced persons‹ bezeichnen. Sie finden sich immer wieder in Situationen und Lokalitäten, die ihnen fremd sind, auf sie befremdlich wirken, und in denen sich ihr Unzuhausesein, ihr Ein- oder Ausgesperrtsein spiegelt. Roegs narrative Welten verweigern den Figuren, die in ihnen leben und agieren, aber auch uns Zuschauern, jegliche Geborgenheit, jegliches Gefühl von Sicherheit. Statt dessen sind sie verzerrt, fragil, unabgeschlossen und oftmals schlicht befremdlich. Als Begriff für die fiktionale, narrativ vermittelte Welt, die den Figuren einer Erzählung als Handlungsraum dient, hat sich der Begriff der Diegese (frz. diégèse) etabliert, der zunächst von Étienne Souriau in die filmwissenschaftliche Terminologie eingeführt wurde – noch bevor Gérard Genette ihn von ihm entlehnt hat.3 Im

1

Christopher Keats: »How Roeg Struck Gold in Hollywood«, in: The Guardian, 01.07.1982, S. 11.

2 3

Vgl. Milne 1976, S. 145. Genette führt den Begriff ›Diegese‹ unter Verweis auf seinen filmwissenschaftlichen Ursprung in einer Fußnote im Discours du récit als Synonym für ›Geschichte‹ (frz. histoire) ein (vgl. Genette 1998, S. 16, Anm. 2 u. Genette 2007, S. 15, Anm. 1). Im Sachregister

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Sinne Souriaus umfaßt die Diegese »alles, was man als vom Film dargestellt betrachtet und was zur Wirklichkeit, die er in seiner Bedeutung voraussetzt, gehört.«1 Sie bezeichnet damit die »fiktionale Wirklichkeit«, die ein Film darstellt.2 Indem sich die Narratologie dieses Begriffs ermächtigt hat, hat er zugleich eine Erweiterung von zunächst nur einer Dimension des von Souriau beschriebenen ›filmischen Universums‹ hin zu einer wesentlichen Komponente eines verallgemeinerten ›narrativen Universums‹ erfahren, wobei er insbesondere die ›erzählte Welt‹ bezeichnet, von der sich nicht- bzw. außerdiegetische Elemente und eine Reihe anderer Phänomene wie »z.B. heterodiegetische Erzählstimmen oder nicht-diegetische Musik« abgrenzen lassen.3 Als ›erzählte Welt‹ bezeichnet die Diegese also zunächst jenen Raum, jenes Universum, in welchem eine Geschichte spielt, in welchem sich Handlungen vollziehen und Ereignisse geschehen. Sie bezeichnet damit aber vor allem jene ›Welt‹, in der die Figuren einer jeweiligen Geschichte agieren, gleichsam daheim sind. Britta Hartmann und Hans J. Wulff stellen dazu fest: »Wie der Zuschauer in seiner Welt lebt, so leben die Figuren des Films in einer ›zweiten Realität‹, die jedoch lediglich in der Simulation der Geschichte gültig ist, in der eigene

definiert er dann genauer: »für gewöhnlich bezeichnet ›Diegese‹ das raumzeitliche Universum der Erzählung […]« (Genette 1998, S. 313; vgl. auch Genette 2007, S. 287f.); in diesem Sinne sei das Adjektiv ›diegetisch‹ synonym mit ›intradiegetisch‹ (ebd., S. 288). Im Vorwort zum Nouveau discours du récit bezieht er sich dann explizit auf Souriau und grenzt die Diegese von der Geschichte ab: »Die Diegese […] ist eher ein ganzes Universum als eine Verknüpfung von Handlungen (Geschichte): Die Diegese ist mithin nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt […].« (Genette 1998, S. 201; Herv. i.O.; vgl. auch Genette 2007, S. 301.) 1

Souriau 1997, S. 151 (Herv. i.O.).

2

Ebd., S. 152.

3

Vgl. Frank Kessler: »Von der Filmologie zur Narratologie. Anmerkungen zum Begriff der Diegese«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 16 (2007), H. 2, S. 9-16. – Wie Anton Fuxjäger darlegt, hat sich daher in der Filmwissenschaft – und nicht nur dort – die Unterscheidung ›diegetisch‹ versus ›nicht-diegetisch‹ durchgesetzt: Die bewegten Bilder von Figuren oder Schauplätzen sowie die akustische Wiedergabe von in der erzählten Welt stattfindenden Dialogen, Geräuschen oder Tönen gelten als diegetisch, Schrifttafeln und -einblendungen (z.B. Angaben zu Handlungsort oder Handlungszeit) oder das Voice-over eines allwissenden Erzählers sowie schließlich die Vor- und Abspanntitel gelten als nicht-diegetisch (vgl. Fuxjäger 2007, S. 24).

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Gesetze herrschen, die aber auch eigenen Gesetzen unterliegt.«1 In diesem Sinne hebt Hartmann hervor: »Die Figuren befinden sich nicht nur im Zentrum der Diegese, sondern sind ganz wesentliche Elemente zur ›Auskleidung‹ und Bestimmung erzählter Welten.«2 Bezogen auf den Film plädiert Christine N. Brinckmann dementsprechend dafür, die Diegese gleichzusetzen mit dem, »was auch die filmischen Figuren wahrnehmen oder wahrnehmen könnten, was zu ihrer Lebenswelt gehört«.3 Diese »diegetische Realität« der Figuren wiederum umfaßt, wie Hans J. Wulff darlegt, verschiedene Bereiche bzw. ›Teilwelten‹: »Sie ist gleichzeitig physikalische Welt, Wahrnehmungswelt, soziale Welt und moralische Welt.«4 Potentiell wahrnehmen können die Figuren aber auch Elemente, die wir als Zuschauer aktuell nicht zu sehen bekommen (ebenso, wie bestimmte Elemente, die wir sehen und hören können – beispielsweise die Titel und Filmmusik –, in der Regel nicht von den Figuren wahrgenommen werden können und damit als nichtdiegetisch anzusehen sind).5 Das bedeutet aber nicht, daß wir als Rezipienten diese Elemente nicht annehmen, implizieren oder gar voraussetzen. Die Diegese entspricht vielmehr »einer Art mentaler Rekonstruktion«6 bzw. einem imaginären

1

Britta Hartmann/Hans J. Wulff: »Alice in den Spiegeln. Vom Begehren und Konstruieren diegetischer Welten«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 16 (2007), H. 2, S. 4-7; hier: S. 4.

2

Britta Hartmann: »Diegetisieren, Diegese, Diskursuniversum«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 16 (2007), H. 2, S. 5369; hier: S. 60.

3

Christine N. Brinckmann: »Diegetisches und nondiegetisches Licht«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 16 (2007), H. 2, S. 70-91; hier: S. 71.

4

Hans J. Wulff: »Schichtenbau und Prozesshaftigkeit des Diegetischen. Zwei Anmerkungen«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 16 (2007), H. 2, S. 39-51; hier: S. 40 (Herv. i.O.).

5

Auch Brinckmann verweist auf diesen Umstand und führt dazu weiter aus: »Die Diegese ist also bereits quantitativ nicht identisch mit den Bildern und Tönen eines Spielfilms: Einerseits ist sie größer als die Materialisierungen auf der Leinwand, da vieles nicht sinnfällig gemacht wird oder zu machen ist, andererseits kleiner, denn manches, das sich materialisiert, gehört der Diegese gar nicht an […]« (Brinckmann 2007, S. 71.)

6

Frank Kessler: »Etienne Souriau und das Vokabular der filmologischen Schule«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 6 (1997), Nr. 2, S. 132-139; hier: S. 137.

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Konstrukt, welches »der Zuschauer aus dem Dargestellten«1 – und nicht Dargestellten – erschließt. Hartmann führt dazu aus: »Die Diegese speist sich aus dem Gezeigten und im Tonfilm selbstverständlich aus dem zu Hörenden sowie aus den daraus unmittelbar erschließbaren Implikationen, die unter Rückgriff auf unser Welt(en)- und Geschichtswissen sowie auf unser spezifisch filmisches Wissen ergänzt, ›ausgestattet‹ und ›abgerundet‹ wird.«2

Als Zuschauer tendieren wir dabei freilich dazu, diese Welt unter realistischen, an unserer eigenen Lebenswirklichkeit orientierten Vorzeichen zu deuten und so »eine möglichst konsistente raum-zeitliche Vorstellung von der Diegese [zu] bilden.«3 Gleichwohl muß dies nicht zwingend der Fall sein, was nicht zuletzt daran liegt, daß unsere (Re-)Kon-struktion der Diegese den jeweiligen Bedingungen und Prinzipien der Erzählung und ihren Verfahrensweisen unterliegt, von diesen beeinflußt wird und von ihnen abhängig ist. Keine Diegese existiert unabhängig vom Text, der sie trägt. Umgekehrt ist die Diegese grundlegend für unser Verständnis jeder Erzählung und der Geschichte, die sie vermittelt. Mehr noch: »Das Hervorbringen einer Diegese ist notwendige Implikation jedes textuellen oder zumindest jedes narrativen Aktes«, wie Hans J. Wulff betont.4 Dies setzt aber voraus, daß wir uns als Rezipienten mit der Verfaßtheit, mit der »Kondition der Diegese als Voraussetzung der Nar-

1

Hartmann 2007, S. 56. – Daß die Diegese eine ›imaginäre Welt‹ ist, weiß auch Paul Verstraten hervorzuheben, der konstatiert: »[…] der diegetische Raum ist nicht derselbe wie der physische, reale Raum. Es ist klar, daß der diegetische Raum hauptsächlich imaginär ist und daß man die räumlichen Beziehungen zwischen den Aufnahmen, die eine Szene konstituieren, topologisch interpretiert, das heißt, daß man sie mittels einer geistigen Konstruktion zu einem globalen Raum verknüpft.« (Paul Verstraten: »Diëgese«, in: Versus [1989], Nr. 1, S. 59-70: hier: S. 65 [Übers. KS].)

2

Hartmann 2007, S. 54f. – Diesen ergänzenden, ›abrundenden‹ Rezeptionsprozeß des Zuschauers bezeichnet Hartmann als »Diegetisieren« (ebd., S. 56; Herv. i.O.).

3

Fuxjäger 2007, S. 18. – Auch Alexander Böhnke weist darauf hin, daß der »fiktionale Raum des Films auf merkwürdig paradoxe Weise mit einem ›realistischen‹ Drängen verknüpft ist. Ein mimetisches Begehren schleicht sich ein, wenn der Begriff ›Diegese‹ Verwendung findet.« (Alexander Böhnke: »Die Zeit der Diegese«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 16 [2007], H. 2, S. 93104; hier: S. 94.)

4

Wulff 2007, S. 47 (Herv. i.O.) – Ähnlich argumentiert Hartmann, der zufolge die »Diegetizität als die Fähigkeit, eine erzählte Welt hervorzubringen, eine grundlegende Eigenschaft und notwendige Bedingung narrativer Texte« darstellt (Hartmann 2007; Herv. i.O.).

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ration«1 vertraut machen und diese akzeptieren. – Grund genug, einen näheren Blick auf die Eigenschaften und Besonderheiten der Diegesen in den Filmen Nicolas Roegs zu werfen. Abbildung 19: »I’m British. I have a passport.«

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

Auf den ersten Blick scheinen die narrativen Welten Roegs nicht allzu fern von unserer eigenen realen Zuschauerwelt zu sein. Selbst jener Film Roegs, der am deutlichsten an das Genre der Science-Fiction heranreicht, spielt eben nicht im Weltraum oder auf fernen Planeten, sondern auf der Erde, genauer: in den USA (bzw. einer fiktiven Repräsentation derselben). Für die Hauptfigur Newton allerdings ist es ein fremder Ort, fern von seinen Heimatplaneten, auf dem seine Frau und seine Kinder weilen, an die er sehnsuchtsvoll-traurig zurückdenkt.2 Seine äußere mensch-

1 2

Wulff 2007, S. 46. »Your wife’s somewhere out there«, sagt Mary-Lou zu Newton, nachdem dieser sich ihr zuvor als Außerirdischer in seiner wahren Gestalt zu erkennen gegeben hat, und fährt fragend fort: »She’s waiting for you, isn’t she? And your children, they must miss their dad. What are they like, your children?« Newton steht derweil auf dem Steg am See neben

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liche Erscheinung ist nur Maskerade, hinter der sich ein echsenhaftes Wesen verbirgt (Abb. 19, oben). Doch auch Newton wird von den anderen als Fremder angesehen, mehrfach wird auf seinen Status als Außenseiter angespielt. Als er Nathan Bryce (Rip Torn), der für ihn arbeitet, sein Raumfahrzeug vorstellt, mit dem er zu seinem Heimatplaneten zurückkehren will, fragt dieser ihn »Are you Lithuanian?«. Die ist allerdings kaum die Frage, die wir als Zuschauer erwartet haben dürften, als Newton Bryce dazu auffordert, endlich jene Frage zu stellen, »you’ve been wanting to ask ever since we met.« Weniger dürfte da schon Newtons mit einem Grinsen vorgetragene Antwort überraschen: »I’m from England«, entgegnet er. Und in der Tat kann sich Newton, als er zu Beginn des Films im Geschäft einen seiner Ringe gegen Geld eintauscht, mit einem englischen Reisepaß ausweisen (Abb. 19, unten).1 Newton ist nicht der einzige ›Engländer‹ in Roegs Filmen, der als Fremder in Amerika weilt. Auch Martin (Gary Oldman) in TRACK 29 ist ein solcher, der als Tramper auf der Suche nach seiner Mutter, die ihn nach seiner Geburt zur Adoption freigegeben hatte, durch die USA reist und schon allein aufgrund seiner deutlichen britischen Sprachfärbung auffällt. Sprachliche Barrieren sind es auch, die John und Laura Baxter als verlorene Fremde in der Ferne auszeichnen. Nach Christines Tod halten sich die Baxters im winterlichen Venedig auf, wo John die Restaurierungen an einer alten Kirche leitet. »Tutto è marcio«, alles ist morsch, sagt er zu dem italienischen Arbeiter, der Bohrungen an den Fundamenten der Kirche vornimmt, und fordert ihn auf, für heute die Arbeiten zu beenden: »Mia moglie mi aspetta al ristorante.« John scheint im Italienischen hinlänglich zurechtzukommen – anders als Laura, die die Sprache nicht beherrscht: sie läßt John für sie im Restaurant bestellen. Doch im Verlauf des Films scheint gerade John seine Italienischkenntnisse immer mehr einzubüßen. Er hat zunehmend Probleme sich zu artikulieren und scheint in der fremden Sprache wie in den labyrinthischen Straßen Venedigs zunehmend verloren. Die Desorientierung und das Gefühl der Fremdheit werden für den Zuschauer dabei noch dadurch verstärkt, daß die italienischen Passagen im Film nicht untertitelt sind. Zugleich verweist Sprache auf einen Unterschied, auf eine Trennung zwischen den Baxters. Während Laura, die von der Engländerin Julie Christie gespielt wird, sich durch einen britischen Akzent auszeichnet, ist John – verkörpert vom Kanadier Donald

seinem Haus. »They’re like children. Exactly like children...«, antwortet er und starrt verloren ins Leere. 1

Später, in Artesia, wo er Mary-Lou kennenlernt, checkt Netwon unter dem Namen Sussex – was bekanntermaßen zugleich der Name einer Grafschaft in Südengland ist – in ein Hotel ein.

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Sutherland – seiner Sprache nach Amerikaner.1 Damit ist eine kulturelle Differenz zwischen den Eheleuten markiert. Roeg scheint dies sehr bewußt konstruiert zu haben. So gesteht er selbst zu: »I liked the idea of an English woman and an American man, rather than two English or two American people, the idea of fitting but misfitting, coming from two totally different backgrounds but living on common ground […].«2 Im Falle der Baxters fällt der kulturelle Gegensatz freilich noch moderat aus, denn eine sprachliche Verständigung ist ohne weiteres möglich. Ganz anders stellt sich dies in WALKABOUT dar, wo sich das nicht zusammenfindende Aufeinanderprallen zweier völlig verschiedener Kulturen, Denk- und Kommunikationsweisen, wie sie vom weißen Mädchen und dem Aborigine verkörpert werden, auch in einer scheiternden, überhaupt erst nicht zustande kommenden verbalen Verständigung äußert. Als die beiden Geschwister feststellen müssen, daß über Nacht alles Wasser aus einem Tümpel verschwunden ist, erscheint auf einmal wie der Retter in der Not der junge Aborigine am Horizont. Der erste Gedanke des Mädchens gilt dem Weg zurück in die ›Zivilisation‹. »We’re English! English, do you understand? This is Australia, yes? Where is Adelaide?«, fragt sie, sich ihrer Position vergewissernd und Orientierung suchend. Es ist der jüngere Bruder, der sie auf das Wesentliche stoßen muß: »Ask him for water!« Doch die Verständigung will nicht klappen, das Mädchen, so sehr sie sich bemüht, schafft es nicht, dem Aborigine zu verdeutlichen, was sie will: »Water. Drink. We want water to drink. You must understand! Any-

1

Dieser kulturelle und sprachliche Gegensatz artikuliert sich noch in Roegs jüngstem Film PUFFBALL. Wie Dominik Graf bemerkt, hat die von der Engländerin Kelly Riley gespielte Hauptfigur Liffey einen amerikanischen Lebenspartner – ein weiteres Mal ein ›fremdes‹ Paar bei Roeg (vgl. Dominik Graf: »Wenn Omi sich beim Hexen überanstrengt. Kino ohne Gebrauchsanleitung: Nicolas Roeg präsentiert sich in ›Puffball‹ als geistiger Erbe von Jean Renoir«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 65, 18.03.2009, S. 36).

2

Sanderson 1996, S. 17. – Bereits als DON’T LOOK NOW erstmals in die Kinos kam, machte Roeg auf diesen Umstand aufmerksam. Im Interview mit Tom Milne und Penelope Houston stellt er dazu fest: »I like the idea of an international marriage, people from two different cultures and backgrounds.« (Milne/Houston 1973/74, S. 3.) Auch Dominik Graf weist darauf hin, daß die Wahl der Schauspieler von Roeg sehr bewußt getroffen wurde: »Donald Sutherland und Julie Christie wollte er immer für das Ehepaar in DON’T LOOK NOW haben, erzählt er, wegen des Kulturclashs zwischen England und den Vereinigten Staaten. ›Dieselbe Sprache, völlig verschiedene Welten.‹« (Dominik Graf: »In den Scherben eines halbblinden Spiegels. Nicolas Roeg und eine Wiederbegegnung mit seinem Meisterwerk ›Don’t Look Now‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 240, 16.10.2007, S. 39.) – Zur internationalen Ehekonstellation in DON’T LOOK NOW vgl. auch Roeg 2013, S. 107f.

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one can understand that. We want to drink. I can’t make it any simpler. Water. To drink. The water hole has dried up. Where do they keep the water?« Anders als die Schwester, die so sehr auf die Sprache fixiert ist, schafft es der kleine Junge, dem Fremden lautmalerisch und mit Handzeichen klarzumachen, was sie wollen: »Water! Glug, glug, glug…« (Abb. 20).1 Abbildung 20: »Water! Glug, glug, glug…«

WALKABOUT (Nicolas Roeg, 1971)

Diese sprachliche Unvereinbarkeit zwischen dem Mädchen und dem Aborigine markiert eine Differenz zwischen zwei offensichtlich nicht zusammenkommenden Kulturen, ja eine Grenze zwischen zwei Welten, was sich bereits in der Eingangssequenz abzeichnet. Wie Arno Meteling herausstellt, wird bereits in den ersten Mi-

1

Das Problem scheiternder Kommunikation, unterschiedlicher Denk- und Kommunikationsweisen scheint ein bestimmender thematischer Aspekt von WALKABOUT zu sein und wird an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen. Joseph Gomez weist auf eine entscheidende Stelle hin: »After the white boy tells the story of the boy who, after climbing the ladder to spy on his mother, falls and breaks his neck, Roeg cuts to the aborigine making paintings on the side of a cliff. Clearly, the aborigine has not understood a word of the white boy’s story, but neither do the white children understand the narrative he creates with his pictures. The problem is not one of incompatible cultures; the problem is one of failing to understand correspondences.« (Joseph Gomez: »Another Look at Nicolas Roeg«, in: Film Criticism 6 [1981], S. 43-54; hier: S. 52.) Houston und Kinder gehen davon aus, daß das Scheitern der Kommunikation vor allem durch eine unterschiedliche Interpretation von sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen bedingt ist (vgl. Houston/Kinder 1980, S. 377f.).

SPIEGELWELTEN UND ZEITLABYRINTHE

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nuten des Films deutlich, »dass die verschiedenen Kulturen zwar auf der Tonspur miteinander verknüpft sind (Wüste-Radio/Stadt-Didgeridoo), aber visuell – vor allem durch das Motiv der Ziegelwand – strikt getrennt bleiben.«1 Bezeichnend ist dabei ein Detail, daß Meteling unterschlägt: in der Tat werden die StadtEinstellungen auf der Audiospur von Didgeridoo-Klängen begleitet – ausgenommen jene, die das Mädchen beim Stimmunterricht zeigen: »O-o-o-o-u-o-u-o-b-b-bb-b-t-t-t-t-t-a-e-i-o-u«, trainieren das Mädchen und ihre Mitschülerinnen die Artikulation von Vokalen und Konsonanten, was nicht nur einer Vorwegnahme ihrer sprachlichen Fixiertheit darstellt, sondern aufgrund der abrupt veränderten Musikbegleitung (statt des Didgeridoos ist das Anschlagen eines Klaviers zu vernehmen) ihre strikte Abgrenzung von der andersgearteten Kultur unterstreicht. Akustisch wie visuell wird eine Grenze konstruiert.2 Jurij M. Lotman zählt die Grenze zu den wichtigsten topologischen Merkmales des Raumes, deren grundlegendes Merkmal ihre Unüberschreitbarkeit ist: »Sie teilt den Text in zwei disjunkte Teilräume. […] Die Art, wie ein Text durch eine solche Grenze aufgeteilt wird, ist eines seiner wesentlichen Charakteristika.«3 Gemäß Lotmans raumsemantischer Konzeption wird dabei »die Struktur des Raumes eines Textes zum Modell der Struktur des Raumes einer ganzen Welt […].«4 Im Fall von WALKABOUT bedeutet dies, daß die sich aus disjunkten Räumen zusammensetzende Diegese somit nicht als homogene, sondern als eine durchaus heterogene Welt konstruiert wird.5 Im Verlauf des Films wird derweil deutlich, daß die Verschiedenheit zwischen dem weißen Mädchen und dem schwarzen Jungen vor allem auf sexuellen Spannungen beruht: auf einer deutlichen Anziehung auf Seiten des schwarzen Jungens,

1

Arno Meteling: »Im Herzen der Finsternis. Das Fremde in Nicolas Roegs ›Walkabout‹«, in: Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann (Hg.): Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 (= Film-Konzepte; 3), S. 43-52; hier: S. 46.

2

Trennende

Grenzen

bestimmen

die

Bildarchitektur

der

Eingangssquenz

von

WALKABOUT an mehreren Stellen. Leonard Held beobachtet völlig richtig: »[…] the film provides a number of images suggesting separateness: the mother working alone in the kitchen; the father alone on the deck watching (but not interacting with) his children.« (Held 1986, S. 27.) 3

Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München: Fink 1972, S. 327.

4

Ebd., S. 312.

5

Während, wie Martínez und Scheffel herausstellen, sich »homogene erzählte Welten« dadurch auszeichnen, daß »das zugrundeliegende System von Möglichem, Wahrscheinlichem und Notwendigem jeweils einheitlich ist«, umfaßt eine »heterogen erzählte Welt […] gänzlich unterschiedliche Systeme von Möglichkeiten« (Martínez/Scheffel 2002, S. 127; Herv. i.O.).

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einer latenten auf Seiten des weißen Mädchens, die sich dann in der – für die Figuren wohl mehr noch als für den Zuschauer – verstörenden Zurückweisung des Jungens durch das Mädchen bündelt, die wieder einmal auch aus kommunikativen Mißverständnissen resultiert. »What’s he dancing for?«, fragt der Junge seine große Schwester, als der Aborigine bis zur Erschöpfung mit einem Tanz um sie wirbt. »I don’t know«, entgegengeht sie lediglich und weiß den Tanz allenfalls als Bedrohung zu interpretieren. Und so stellt auch Neil Feineman fest: »The real difference between the aborigine and the girl is not national or even racial, but a sexual tension between the two adolescents.«1 Nur selten geht es bei den Paaren in Roegs Filmen so harmonisch zu wie zwischen Laura und John Baxter in DON’T LOOK NOW, die sich, trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen und häufigen Streitereien, im Grunde aufrichtig lieben,2 wovon die berühmtgewordene ›Liebesszene‹ zeugt. Roeg selbst legt im Gespräch mit Sean O’Hagan die Bedeutung dieser Szene für die Narration von DON’T LOOK NOW dar: »Well, I thought that it was needed because they were human and they were in love. Otherwise, they would seem to be disagreeing all the time. And they become people in their own right in the love scene, not characters in a narrative. Just like a couple.«3 Für Dominik Graf zeichnet sich diese Szene durch eine Natürlichkeit aus, die ihresgleichen sucht;4 in ihr artikuliert sich die harmonische Vertrautheit des Paa-

1

Feinemann 1978, S. 64. – Leonard Held dagegen gibt zu bedenken, daß kulturelle Trennung und sexuelle, geschlechterspezifisch Spannungen zwischen dem Mädchen und dem Aborigine Hand in Hand gehen: »Her socialized consciousness, her civilized persona appears to be struggling to maintain its dominance over her sexual shadow.« (Held 1986, S. 33.)

2

Wiederholt wird die Verbundenheit der Baxters von Roeg »in the simplest and most economical of ways« ausgedrückt, wie Sanderson herausstellt: »he shows John and Laura holding hands.« (Sanderson 1996, S. 57.)

3

O’Hagan/French 2006, S. 6. – Diese Motivation der ›Liebesszene‹ legt Roeg auch in seinen autobiographischen Aufzeichnungen noch einmal dar (Roeg 2013, S. 164f.) und bilanziert: »Of course it was sexy; it’s because it had a truth in it. There was a normality to it. The truthfulness came from the characters, because of who they were.« (Ebd., S. 165f.)

4

Graf führt zu dieser Natürlichkeit der Sexszene aus: »Roeg sagt, diese Szene sei für ihn ›Sex ohne Verführung‹ (was für ein großartiger Gedanke! Wo gibt es heute noch Sex ohne irgendeine möglichst bescheuerte Art von Verführung?), sie ist in seinen Augen ›völlig natürlich‹.« (Graf 2007, S. 39.) Ein ähnliches Argument bringt Chuck Kleinhans vor, der zur ›Liebesszene‹ anmerkt: »Here Roeg expands sex into love, no small accomplishment.« (Chuck Kleinhans: »Nicholas Roeg. Permutations Without Profundity«, in: Jump Cut 3 [1974], S. 13-17; hier: S. 15.)

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res.1 Viel typischer ist es bei Roeg, daß Männer und Frauen nicht zusammenfinden: Alex und Milena in BAD TIMING sind ein Paar, wie es unterschiedlicher und gegensätzlicher nicht sein könnte, nicht nur ihrem Äußeren nach,2 sondern auch in ihren Einstellungen über- und zueinander.3 Während Milena, die bedacht ist, ihre Freiheiten zu wahren, im Hier und Jetzt zu leben und geliebt zu werden, will der Psychoanalytiker Alex sie besitzen. Er behandelt sie nahezu wie ein Objekt, seine Fixierung auf sie ist vor allem eine der Lust, des sexuellen Begehrens.4 Nirgends wird dies deutlicher als in jener Szene, in der Alex Milena besucht und feststellt, daß sie dieses Mal keinen Sex mit ihm haben, sondern einfach nur reden will, woraufhin er sie unverzüglich wieder verläßt. Milena läuft ihm ins Treppenhaus hinter, entblößt ihre Vagina und ruft: »You want me? Huh? Come on. Come on, do it now, Alex. […] That’s what you wanted, huh? […] Come here and take it. […] It’s what you wanted. Do it now. Fuck me. Fuck me right here now, goddamn it.«5 In seiner Darstellung sexueller Handlungen ist BAD TIMING, wie auch andere Filme Roegs, durchaus freizügig, was dem Film seinerzeit einige scharfe Kritik entgegenbrachte.6

1

So hebt Patrick Minks hervor, daß das Paar gerade in seiner Nacktheit ein Gefühl von Geborgenheit und Vertrautheit ausstellt: »Ihre Nacktheit ist häuslich, vertraut.« (Patrick Minks: »Liefde onder her mes. Seksscènes door de ogen van een cutter«, in: Skrien 195 [April/May 1994], S. 49-55; hier: S. 52 [Übers. KS].)

2

Diese auch physische Gegensätzlichkeit des Paares hebt Verena Lueken hervor, wenn sie feststellt: »Art Garfunkel und Theresa Russell sind ein merkwürdiges Paar, so merkwürdig unausgeglichen in ihrer gegensätzlichen Körperlichkeit – er zart, schüchtern in seiner physischen Präsenz, aber doch von nicht geringem Selbstbewußtsein, sie üppig, direkt und von schamloser Hemmungslosigkeit – wie es auch Mick Jagger und Anita Pallenberg in PERFORMANCE oder David Bowie und Candy Clark im MANN, DER VOM HIMMEL FIEL waren.« (Verena Lueken: »Fast tödlich. Eyes Wide Shut: Nicolas Roegs ›Bad Timing‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 240, 16.10.2007, S. 39.)

3

Für Thomas Koebner zeichnet sich dieser Gegensatz bereits im Titel des Films ab: »›Bad Timing‹ bezeichnet das ständige Sich-Verfehlen, die traurige, ja tragische Ungleichzeitigkeit der Empfindungen und des Begehrens zwischen einer Frau und einem Mann.« (Koebner 2000, S. 172.)

4

Dieses besitzergreifende, gleichsam mortifizierende Begehren Alex’ stellt auch Teresa de Lauretis heraus: »Literally, Milena is the ›object‹ of Alex’s desire; she is most desirable when unconscious, body without speech, look, or will […].« (de Lauretis 1983, S. 26.)

5

Salwolke merkt zu dieser Szene an: »She literally invites him to rape her on the stairs, which he does, in an act which is quick an violent, almost masturbatory.« (Salwolke 1993, S. 83.)

6

So entrüstet sich beispielsweise James Morton: »It seems to me that Roeg is trying to extend the logical boundaries of sex in the legitimate cinema so that they overlap with the

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Doch wie alle seine Filme, ist auch dieser dabei – bzw. trotz dessen – nicht erotisch. So ist für Stuart Cunningham BAD TIMING eben kein Sexfilm, sondern ein Film über Sex: »There are (normatively) films with sex, this is a film about sex, sex put into discourse under the regimes of law, psychoanalysis, medicine (and cinema).«1 Und ebensowenig sind Roegs Filme Liebesfilme, auch wenn der Regisseur selbst anderweitiges beteuert: »I always think in terms of some kind of love story and I just continue to make love stories really, I suppose, because it’s an exciting human condition.«2 Anstelle von Liebe begegnen uns vielmehr »Sexualität, Begehren, die Affinität zu Ähnlichem und die Anziehungskraft des Fremden«.3 Die Anziehungskraft ist, wenn überhaupt, eine zwischen Fremden, und zumeist endet sie fatal. Hierzu paßt Roegs Beitrag zur ›Die Bibel‹-Serie: mit SAMSON AND DELILAH (1996) hat er einen Stoff gewählt, in welchem der Mann einer verräterischen Frau verfällt und damit seinem eigenen Untergang entgegenläuft (vgl. Ri 13-16).4 In der Mehrzahl von Roegs Filmen bleiben die Paare einander fremd.5

porn movie.« (Morton 1980, S. 103.) Mehr als 30 Jahre später verweist der Regisseur darauf, daß sich die Grenzen des Darstellbaren längst immer mehr verschoben haben: »Love scenes have become so acceptable, but the way the reality of sex is being filmed, it’s become so blatant that it’s becoming closer to pornography. But everyone’s view on what is and isn’t pornography is different. And is pornography always a bad thing?« (Roeg 2013, S. 159.) 1

Stuart Cunningham: »Good Timing: ›Bad Timing‹«, in: The Australian Journal of Screen Theory 15/16 (1982), S. 101-112; hier: S. 105. – Ähnlich argumentiert Salwolke: »This film received an X-rating in its release for its sexual content, but there is no eroticism to any of these scenes because of the context in which they are presented.« (Salwolke 1993, S. 81.)

2

Victor Bockris: »I Would Have been a Soldier. An Interview with Nicloas Roeg«, in: ders., Beat Punks. [New York:] Da Capo Press 2000, S. 131-146; hier: S. 135.

3

Koch 2006, S. 85. – Roeg selbst betont die Unvereinbarkeit von Liebe und Sex, denn Sex stehe letztlich nur für den Fortpflanzungstrieb: »Love and sex don’t go together. More often than not, they don’t. What isn’t often touched is the reason for sex – procreation. Obviously everyone knows that, but it’s ignored in stories. The reason for a love scene is that the characters are physically attracted to one another – but the reason behind this attraction is to procreate.« (Roeg 2013, S. 164.)

4

Abgesehen von dieser thematischen ›Konstante‹ weist recht wenig SAMSON AND DELILAH

als einen typischen Roeg-Film aus. Marcus Stiglegger attestiert Roeg bei diesem

Film gar eine mangelnde Hingabe (Marcus Stiglegger: »Splitter im Gewebe der Existenz. Die Filme von Nicolas Roeg«, in: Splatting Image 36 [1998], S. 19-24; hier: S. 24). 5

Insbesondere Fremdheit im Sex ist für Carsten Bergemann ein typisches Merkmal der Paarbeziehungen in Roegs Filmen, über die er feststellt: »Sexualität wird zum aggressi-

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Mit gutem Recht kann man dies auch von den Protagonisten in CASTAWAY (1986) behaupten. Der Film beginnt mit einer Anzeige, die der Schriftsteller Gerald Kingsland (Oliver Reed) in der Zeitschrift Time Out schaltet: »One year on a deserted tropical island. ›Wife‹ 20-30 needed to accompany man 35+«. Daß ›wife‹ in Anführungszeichen gesetzt ist, ist für Sinyard ein wichtiges Detail, denn im Gegensatz zu Gerald, der während des gemeinsamen Jahres auf Tuin unentwegt bemüht ist, die Anführungszeichen zu tilgen, setzt Lucy (Amanda Donohoe) alles daran, diese aufrechtzuerhalten.1 »The mismatch of Gerald and Lucy’s desires is the film’s central theme, and it does have considerable potential as battle-of-the-sexes drama«, konstatiert etwa Pam Cook.2 Denn obwohl sie tatsächlich vor ihrem Aufbruch zur Insel geheiratet haben – andernfalls hätten sie von den Behörden keine Genehmigung erhalten, sich dort aufzuhalten –, verweigert Lucy ostentativ, mit Gerald zu schlafen. Demgemäß stellt Salwolke fest: »The central mystery in Gerald and Lucy’s story is her decision not to have sex with him once they reach the island.«3 In Abwandlung der Sartreschen Formel »L’enfer, c’est les Autres«4 ließe sich das Verhältnis von Gerald und Lucy – und nicht nur ihnen, sondern im Grunde allen Paaren Roegs – im Singular zusammenfassen als ›L’enfer, c’est l’Autre‹ – die Hölle ist der oder die jeweils andere, das andere Geschlecht. Aufgrund ihrer Gegensätze, gerade auch ihrer sexuellen, und der daraus resultierenden Spannungen gelingt es

ven Konsum fremder Körperlichkeit ohne die wirkliche Vereinigung zweier Individuen, ohne die das Selbst überschreitende Liebe.« (Bergemann 2002, 17.) 1

Vgl. Sinyard 1991, S. 106. – In seinem Setting und seiner Figurenkonstellation erweist sich CASTAWAY für Sinyard damit als ein typischer Roeg-Film: »It is another Roeg study of characters in a foreign land whose relationship disintegrates.« (Ebd.) Roeg selbst bezeichnet CASTAWAY als »a concentration of what I’ve been concerned about all along: relationships between people and the pain of not communicating.« (Lanza 1989, S. 155.)

2

Pam Cook: »Castaway«, in: Monthly Film Bulletin 54 (1987), Nr. 637, S. 42f.; hier: S. 42. – Cook sieht CASTAWAY dabei durchaus in einer thematischen und motivischen Nähe zu DON’T LOOK NOW: »Both films feature a couple in extremis seeking an unobtainable romantic ideal: in both, water imagery serves to connect desire and death […]« (Ebd.; Herv. i.O.)

3

Salwolke 1993, S. 132. – Als mögliche Begründung für Lucys Verhalten führt Salwolke aus: »Roeg and Scott« – letzterer, Allan Scott, verantwortete das Drehbuch, das auf dem ›Tatsachenbericht‹ der realen Lucy Irvine basiert (vgl. Lucy Irvine: Castaway. London: Gollancz 1983) – »provide their own hypothesis on Lucy’s change in attitude: the island has become Lucy’s obsession, eliminating her need for Gerald.« (Ebd.)

4

Jean-Paul Sartre: »Huis Clos. Pièce en un acte«, in: ders., Théâtre. Les Mouches, Huis Clos, Mort sans sépulture, La Putain respectueuse. Paris: Gallimard 1966, S. 123-182; hier: S. 182.

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Gerald und Lucy, eine vermeintlich paradiesische Welt in eine Hölle zu verwandeln, wie auch Roeg im Gespräch mit Jonathan Hacker und David Price selbst anmerkt: »[...] with CASTAWAY, I liked the idea of two actors naked on the empty stage of a desert island with no place to hide from each other – a generically attractive place but in fact really poisonous and dangerous.«1 In diesem Sinne sind Roegs Diegesen geradezu infernalisch. Und die sie delimitierenden Grenzen sind stets auch Grenzen der sozialen – einschließlich der sexuellen – Interaktion. Als Grenzgänger zwischen den verschiedenen Welten in WALKABOUT erweist sich allenfalls der Junge, in seiner Erziehung noch nicht so konditioniert und in seiner Identität nicht so gefestigt wie seine Schwester, so daß er als Vermittler zwischen beiden Kulturen auftreten kann.2 Viele von Roegs Figuren sind Grenzgänger, die eine Welt verlassen, um in eine andere einzutauchen, einzudringen. Newton, der von seinem Planeten auf die Erde reist, Martin in TRACK 29, der die Grenze zwischen Einbildung und Realität quert, Alex Davenport (Mark Harmon) in COLD HEAVEN (1991), der zwischen Leben und Tod wandelt…3 So stellt auch Carsten Bergemann fest: »Zwischen Spiritualität, Materialität, Leben, Tod, weiblich und männlich konnotierten Eigenschaften sind Roegs Protagonisten Reisende entlang der Schwelle, die die Grenze zwischen komplementären Welten markiert und die oftmals auch übertreten wird.«4 Ihren sinnfälligen Ausdruck findet diese Grenzüberschreitung kaum deutlicher als in jenen Szenen in BAD TIMING, in denen Milena den sich auf einer Brücke über die Donau befindenden Grenzübergang zwischen Österreich und der Tschechoslowakei durchschreitet (Abb. 21, oben), gleichsam hin- und her wandelnd zwischen ihrem Ehemann Stefan und ihrem Liebhaber Alex. Und so verwundert es nicht, daß Roeg für diesen Film Wien als Handlungsort gewählt hat: eine Stadt, die deutlich östlich in Österreich und zur Zeit des Settings des

1

Jonathan Hacker/David Price: »Nicolas Roeg«, in: dies., Take Ten. Contemporary British Film Directors. Oxford/New York: Oxford Univ. Press 1991, S. 349-380; hier: S. 369.

2

Diese unterschiedlichen Rollen und Konditionierungen des Jungen und des Mädchens heben auch Jonathan Hacker und David Price hervor, die in ihnen gemeinsam mit dem Aborigine die archetypische Repräsentation einer Kernfamilie entdecken wollen: »The girl, very much from the civilized and urban environment, a primeval man, and a child so young that he does not fully belong to either, act together and so, in a sense, become the most basic family structure of man, woman, and child.« (Ebd., S. 359.)

3

Den Aspekt von Grenze und Grenzüberschreitung in COLD HEAVEN bringt auch John Izod zur Sprache. Zur Szene, in der Alex kurz vor seinem Unfall in der Bucht von Acapulco schwimmt, merkt er etwa an: »Like Alex as he swims, we find ourselves dipping in and out of this shimmering, disorienting world. It is rather like being in a borderline, and no less perilous than other borders in Roeg’s films.« (Izod 1992, S. 231.)

4

Bergemann 2006, S. 19.

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Films am Rande zum Ostblock gelegen ist. Roeg selbst merkt dazu an: »I like cities on a border, people who live on the borderline.«1 Abbildung 21: »I love you. I love you, Milena.«

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980)

Als eine solche ›borderline‹-Figur ließe sich insbesondere Alex Linden betrachten. In gewisser Weise stellt auch er einen Grenzgänger zwischen zwei verschiedenen Welten dar, wenn er sich mit Milena, die einen völlig unterschiedlichen Lebensstil führt, einläßt. Mehr noch, seine Liebe zu Milena ist grenzwertig; sie artikuliert sich erst in jenem Moment, in welchem sie, nachdem sie sich mit Alkohol und Medikamenten vergiftet hat, um sich das Leben zu nehmen, komatös auf dem Bett liegt und von Alex vergewaltigt wird. Zum ersten Mal überhaupt sagt er in dieser Situation zu Milena, daß er sie liebe – was er nahezu frenetisch gleich siebenmal wiederholt (Abb. 21, unten). Es ist dies eine ›Liebe‹, die gesellschaftliche, moralische wie juristische Normen überschreitet,2 eine Liebe »bordering on necrophilia as Milena lies

1

Glenys Roberts: »The Disturbing Imagination of Nicolas Roeg«, in: The New York Times, 10.04.1980, S. 9.

2

Bezeichnend dürfte in diesen Kontext eine Kritik wie diejenige von Vernon Young sein, der Roeg vorwirft: »The barriers he breaks are those of taste, the assumptions he chal-

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on the border between life and death.«1 Und das Überschreiten einer Grenze, insbesondere einer solchen Verbotsgrenze, stellt, wenn man Lotman folgt, überhaupt erst ein Ereignis dar, das die Handlung (in Lotmans Terminologie: Sujet) in Gang bringt.2 c) Jenseits des geometrischen Raums: Roegs (be)fremd(lich)e Welten Eine Grenzüberschreitung zwischen zwei Welten bestimmt auch in Roegs und Cammells PERFORMANCE den Handlungsfortschritt und stellt damit ein Ereignis dar, das unsere Aufmerksamkeit verdient. Chas, der entgegen der deutlichen Anweisung seines Bosses Harry Flowers nicht nur das Wettbüro von Joey Maddox verwüstet, das Flowers übernehmen will, sondern diesen kurze Zeit später, als Maddox versucht, Rache an ihm zu nehmen, erschießt, muß vor Flowers und seinen Handlangern, die nunmehr nach seinem Leben trachten, flüchten. Unter dem Namen Gerald Dean will er Unterschlupf im Kellerappartement des früheren Rockstars Turner finden, bevor er sich nach Amerika absetzen kann. Doch Turner steht dem neuen Untermieter zunächst ablehnend gegenüber und wiederholt mehrfach, daß er nicht bleiben könne: »You can’t have the room. […] It’s not for rent.« Ungeachtet seiner Beteuerung »I’m an artist, Mr Turner, like yourself«, erweist sich Chas als Eindringling in einen fremden Ort, in eine andere Welt, die aus den Fugen, aus dem Gleichgewicht gerät: Am Ende wird er Turner mit einem Kopfschuß töten. Zurecht ist darauf hingewiesen worden, daß das Eindringen an einen fremden Ort und die Umkehrung eines gefestigten Machtgefüges eine Konstellation ist, die an Harold Pinter erinnert3 – und mehr noch an Joseph Loseys Film THE SERVANT

lenges those of judgement.« (Vernon Young: »Film Chronicle: The Bloody British Cinema«, in: Hudson Review 33 [1980/1981], Nr. 4, S. 560-564; hier: S. 563.) 1

Sinyard 1991, S. 74. – Sinyard führt zur formalen Gestaltung der Szene weiter aus: »Gradually these borders merge, the lines between them begin to disappear. The lovemaking scenes and the scenes on the operating table are intercut in such a way that they seem not separate but inseparable, as if the second is the logical consequence of the first.« (Ebd.)

2

Vgl. Lotman 1972, S. 338. – Wie Lotman darlegt, bekräftigt dagegen ein sujetloser Text »die Unverletzbarkeit derartiger Grenzen.« (Ebd.)

3

So verweist etwa Foster Hirsch auf die thematische Nähe des Films zu Harold Pinter, die zu dessen ›Literarizität‹ beitrage: »The exchange of identity and role is one of several motifs which give the film a distinctly ›literary‹ patina. (The source is largely Harold Pinter.)« (Hirsch 1971, S. 6.) Auch Neil Sinyard betont die thematischen Parallelen von Roegs und Cammells Film mit den Werken Pinters (vgl. Sinyard 1991, S. 13). Philip

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(1963), in welchem James Fox, der Chas verkörpert, eine der Hauptrollen spielt.1 So gelangt auch Jörg Helbig zu dem Schluß: »Von Pinter […] übernimmt der Film das typische Motiv des Eindringens einer fremden Bedrohung in eine geordnete (hier freilich betont anti-)bürgerliche Welt.«2 Abbildung 22: »Confirmed bachelor, aren’t you?«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

French meint gar, daß der Dialog der Figuren in der ersten halben Stunde »sounds like taped conversations edited by Pinter.« (French 1971, S. 68.) – Es sollte in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden, daß Roeg in THE CARETAKER (1963), der Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks von Pinter (1960) durch Clive Donner, für die Kamera verantwortlich zeichnete. Und am Rande sei bemerkt, daß in einer Szene in BAD TIMING deutlich zu sehen ist, wie auf der Rückbank in Alex’ Auto eine deutsche Rowohlt-Ausgabe von Pinters Niemandsland und anderen Stücken liegt (vgl. Abb. 99, unten). 1

Nachdrücklich streicht auch Peter Wollen diese Filiation heraus: »The roots of the film plainly go back to Losey’s masterpiece THE SERVANT, made five years earlier, in 1963.« (Wollen 1995, S. 23.) In Loseys Film sind allerdings die Rollen gleichsam vertauscht: Während Fox hier den jungen und reichen Londoner Tony spielt, ist es Dirk Bogarde, der in der Rolle des Hugo Barrett einen Eindringling darstellt und dabei langsam die Rolle und Position seines Herren übernimmt. Zu den formalen Unterschieden zwischen beiden Filmen vgl. Lee Hill: »The Wanderlust of a Romantic Nihilist«, in: Senses of Cinema 20 (2002), http://sensesofcinema.com/2002/great-directors/roeg/ (30.09.2013).

2

Helbig 1999, S. 255.

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Dabei ist es auf den ersten Blick Chas’ Welt, die geordnet scheint. Er lebt das nüchterne Leben eines »confirmed bachelor«, als den ihn Dana bezeichnet. Chas’ Wohnung, die wir in der ersten Hälfte des Films zu sehen bekommen, ist sachlich, geradezu steril eingerichtet und aufgeräumt, alles hat seinen festen und nahezu geometrisch geordneten Platz (Abb. 22). Abbildung 23: »Look I need a… I need a bohemian atmosphere.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Ganz anders dagegen die Welt Turners, die Chas selbst mit den Worten einer »bohemian atmosphere« beschreibt. Einhergehend mit einer Veränderung des Stils der filmischen Narration, die vom rasanten Tempo der ersten Hälfte des Films in einen ruhigeren Rhythmus wechselt1 und die deutliche Trennung dieser beiden Welten

1

Es ist dies ein Umstand, auf den auch Foster Hirsch hinweist: »[…] it isn’t until Chas moves into Turner’s that the film settles down by moving into an entirely different gear.« (Hirsch 1971, S. 6.) Die gleiche Beobachtung macht Neil Sinyard: »Whereas the style in the first part of the film was hard and staccato, it is now more fluid and languorous.« (Sinyard 1991, S. 20.) Dabei scheint dieser Stil durchaus in Übereinstimmung mit dem erzählten Geschehen zu stehen. Wie auch Neil Feineman feststellt, herrscht in der ersten Hälfte von PERFORMANCE eine nahezu hektische Aktivität; demgegenüber wirkt das Geschehen in der zweiten Hälfte des Films verlangsamt. Erst im Anschluß an die Drogenszene erfährt der Film gegen Ende wieder eine Beschleunigung (vgl. Feineman 1978, S. 24 u. S. 58). – Eine ähnliche Strategie wendet Roeg dann auch in WALKABOUT an, um den Gegensatz von Stadt und Wüste zu unterstreichen, wie Feineman ebenfalls darlegt: »The contrast between urban life and nature is made not just thematically, but also through the film’s editing. The urban montages are disjointed, confusing, and unrelated

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noch unterstreicht,1 tritt Chas in eine Welt ein, die sich durch ein arabeskes Dekor auszeichnet, in welchem schwere, rote Farben dominieren, daneben vorhangverhangene Betten und Fenster, durch die kaum Tageslicht eindringt, ringsum orientalische Teppiche mit ornamentalen und geometrischen Mustern (Abb. 23). Turners Welt strahlt eine Dekadenz aus, wie sie für das Fin de siècle kennzeichnend und in welchem Exotismus und Orientalismus beliebte Modeerscheinungen waren.2 Die orientalisierende Einrichtung von Turners Heim erinnert zugleich daran, daß Persien in der zweiten Hälfte von PERFORMANCE ein bestimmendes Thema ist. Musikalisch ist diese Referenz bereits angelegt, wenn wir Turner kurz nach der Ankunft von Chas das erste Mal dabei sehen, wie er Sex mit Pherber (Anita Pallenberg) und Lucy (Michèle Breton) hat. Begleitet wird diese Szene mit Santur-Musik des Iraners Nasser Rastegar-Nejad.3 Doch auch auf diegetischer Ebene wird Persien immer wieder evoziert, so wenn Turner Chas die Marco-Polo-Version der Geschichte vom ›Alten vom Berge‹ vorliest: »The Old Man was called, in the language of Persia, Hassan-i Sabbah.«4 Die Berge Persiens sind es auch, die Lucy als der bessere Zufluchtsort für Chas erscheinen. »Why is he going to America?«, fragt sie sich, während sie sich eine stereoskopische Aufnahme iranischer Gebirgslandschaf-

except by the themes of anonymity and directionless, perpetual motion. Buildings, cars, and people move at rapid pace, giving us little time to sort our sensory impressions. Once in the desert, however, Roeg uses a more fluid, more relaxed editing style.« (Ebd., S. 70.) 1

Der Gegensatz zwischen den beiden Hauptfiguren, Chas und Turner, sowie ihren Welten äußert sich für Sinyard auch in einer, wie er sagt, »structural division«, zu der er weiter ausführt: »The two, in other words, are so sharply divided, as almost to belong to different worlds, or different films: this film will throw them together.« (Sinyard 1991, S. 17; Herv. i.O.)

2

Eine solche Nähe zu einer Fin-de-siècle-Ästhetik sieht auch Jack Kroll, der PERFORMANCE

eine »continuation of late romanticism, with its Pre-Raphaelitism, its nineties

decadence, its Dorian Grayism« bescheinigt (Kroll 1971, S. 114). Hierzu paßt auch, daß »dandyism« für Peter Wollen »one of the keys to PERFORMANCE« darstellt (Peter Wollen: »Possession. 25 Years on, Peter Wollen Explores Drugs, Decadence and Death in ›Performance‹«, in: Sight and Sound [n.s.] 5 [1995], Nr. 9, S. 20-23; hier: S. 21). 3

Zum Soundtrack von PERFORMANCE, insbesondere auch zum Einsatz persischer Musik, vgl. Frances Morgan: »In the Moog«, in: Sight and Sound (n.s.) 23 (2013), Nr. 2, S. 68f.; hier: S. 68.

4

Joseph Gomez sieht dabei Turner gleichsam selbst in der Position Hassan-i Sabbahs: »Turner is this indifferent century’s version of the Old Man of the Mountain who offers Chas, the assassin, the drug-induced insight into the heaven of his enclosed MiddleEastern paradise in Notting Hill Gate.« (Joseph Gomez: »›Performance‹ and Jorge Luis Borges«, in: Literature/Film Quarterly 5 [1977], Nr. 2, S. 147-153; hier: S. 152.)

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ten anschaut (Abb. 24, unten). »He should go here«, sagt sie und reicht Turner das Stereoskop. Später, als sich zwischen Lucy und Chas zärtliche Gefühle entwickeln, wiederholt sie ihm gegenüber diesen Wunsch: »Maybe I come with you, why not?«, träumt Lucy, deren Visum nicht verlängert wird und die nach Frankreich zurückkehren muß, und fügt hinzu: »But I don’t want to go to America. I wish you’d be a bandit in Persia.«. Als gegen Ende des Films schließlich Rosebloom (Stanley Meadows) auftaucht, um Chas auf seine ›letzte Reise‹ mitzunehmen, hinterlegt er einen Zettel, auf dem zu lesen ist, daß Chas nach Persien aufgebrochen sei (Abb. 24, oben). Abbildung 24: »I wish you’d be a bandit in Persia.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Persien stellt für die Figuren in PERFORMANCE eine Projektionsfläche ihrer Wünsche und Vorstellungen dar, es verkörpert eine Utopie, die ihrem Wesen gemäß unerreichbar und unerfüllt bleibt. Turners Haus dagegen erweist sich für alle als ein

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zunächst ›realer‹ Rückzugsort, konkret verortbar in der Geographie des realen Londons: »81, Powis Square, Notting Hill Gate«, teilt Chas Tony die Anschrift mit, zu der er ihm seinen neuen Paß bringen muß.1 Und doch fällt Turners nach außen so hermetisch abgeriegelte Haus aus der Welt ›dort draußen‹ heraus, nicht nur mit seinen orientalisierenden Dekors: Die Regeln und Normen der Außenwelt scheinen hier außer Kraft gesetzt: Turner sitzt mit zwei Freundinnen (und einem Joint) in der Badewanne; Promiskuität und Homosexualität sind kein Tabu, denn Pherber und Lucy sind ebenso zärtlich miteinander wie Turner mit beiden gleichermaßen schläft; und schließlich wird Chas mit halluzinogenen Pilzen in einen Rauschzustand versetzt. Für solche im Gegensatz zur Utopie tatsächlich existierenden Orte, in denen die Regeln und Normen der Gesellschaft aufgehoben sind, und die deswegen eben völlig anders sind, hat Michel Foucault den Begriff der ›Heterotopie‹ geprägt.2 Zur Bedeutung dieses Begriffs führt er aus: »Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichnen.«3

1

Der Darstellung Colin MacCabes zufolge war es Donald Cammell, der sehr bedacht darauf war, vor Ort zu filmen und der nahezu alle Drehorte selbst ausfindig machte (vgl. MacCabe 1998, S. 51). Nichtsdestotrotz stellt Turners Haus, wie wir es im Film zu sehen bekommen, ein Amalgam verschiedener Drehorte dar (vgl. Buck 2012, S. 113-115).

2

Bereits in Les mots et les choses (1969) entwickelt Foucault einen Gegensatz von Utopien und Heterotopien, denn während erstere, die »keinen realen Sitz haben«, tröstend wirken, seien letztere verstörend, da sie ein Mißtrauen zwischen der Sprache und den von ihnen bezeichnete Dingen hervorrufen (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaft. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 20). Mißtrauen gegenüber Sprache, der Kommunikationsmöglichkeit über Barrieren hinweg, begegnet uns, wie bereits gesehen, auch bei Nicolas Roeg.

3

Michel Foucault: »Von anderen Räumen«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 317-327; hier: S. 320.

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Dabei zeichnen sich bestimmte Orte, bestimmte Institutionen für Foucault ganz besonders durch einen heterotopen Status aus: Gefängnisse, Hotels, Museen und Gärten, Krankenanstalten (in Form psychiatrischer Kliniken), Schiffe und Kolonien – viele der von Foucault benannten (und hier nur in Auswahl wiedergegebenen) Heterotopien begegnen uns in Roegs Filmen wieder. Mit am auffälligsten dürfte sein, daß regelmäßig Krankenhäuser als Handlungsort fungieren, angefangen bei DON’T LOOK NOW, wenn Laura nach ihrem Zusammenbrauch im Restaurant in einer Krankenstation in Venedig versorgt wird. In BAD TIMING ringen die Ärzte eines Wiener Krankenhaues um Milenas Leben – während Alex im Physiologiezimmer verhört wird. In TRACK 29 ist es dann eine geriatrische Abteilung, die den Arbeitsplatz von Dr. Henry Henry darstellt, und wo er sich von Nurse Stein lustvoll den Hintern versohlen läßt. Nach seinem Badeunfall in Acapulco wird Alex Davenport in COLD HEAVEN ins dortige Krankenhaus eingeliefert, wo Marie (Theresa Russell) kurze Zeit später die Nachricht vom Tode ihres Mannes entgegen nehmen muß. Noch in Roegs letzten Film, PUFFBALL (2007), begibt sich Liffey (Kelly Reilly) für pränatale Untersuchungen und zur Entbindung in ein Krankenhaus. Der koloniale Raum wird wachgerufen in HEART OF DARKNESS (1993), Roegs TV-Adaption der Erzählung von Joseph Conrad (und Marlows Reise tief in den Kongo hinein erfolgt per Dampfboot) – aber ebenso in BAD TIMING: wenn sich Alex während des gemeinsamen Urlaubs mit Milena in Marokko nach einer Autopanne mit Einheimischen auf französisch unterhält und um Hilfe bittet, so erinnert dies auch daran, daß das Land einst französische Kolonie war. Stellt schon das Land, in das Alex und Milena reisen, im Sinne Foucaults eine Heterotopie dar, so gilt dies erst recht für das Hotel, in welchem sie unterkommen, und das mit seinen orientalischen Dekors Erinnerungen an Turners Haus wachruft. Hotels begegnen uns bei Roeg als Setting mindestens ebensooft wie Krankenhäuser – und nicht selten in denselben Filmen. In DON’T LOOK NOW weilen John und Laura in einem Hotel, kurz bevor es für die Winterpause schließt. Es ist nicht nur der Ort, an welchem John am Schreibtisch sitzt und Pläne und Skizzen Venedigs studiert; es ist auch und vor allem der Ort, an dem sich das Paar leidenschaftlich liebt. Foucault verweist mit Bezug auf den lange gehegten Brauch der Hochzeitsreise auf die enge Verbindung von Hotels und Sexualität.1 Dabei fungiert das Hotelzimmer als Aus- und Zufluchtsort in einer Situation, die als krisenhaft empfunden wird, es gehört zu den ›Krisen-Heterotopien‹.2 In einem solchen Zustand der Krise befinden sich Roegs

1

Foucault zufolge habe der Zweck der Hochzeitsreise vor allem darin bestanden, daß die Entjungferung der Braut an einem anderen Ort als dem heimischen stattfinden sollte (ebd., S. 322).

2

Die ›Krisen-Heterotopie‹ ist für Foucault ein zunächst in ›primitiven Kulturen‹ existierendes Phänomen, das aber auch in modernen Gesellschaften überlebt habe. Es handele

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Figuren nahezu permanent, und so scheint es, daß Krankenhäuser und Hotels ihr privilegierter Ort sind: In THE MAN WHO FELL TO EARTH ist es der Ort, an dem Newton das Zimmermädchen Mary-Lou kennenlernt; in SWEET BIRD OF YOUTH nimmt der Masseur Chance Wayne (Mark Harmon) die alternde Schauspielerin Alexandra Del Lago mit in seinen Heimatort St. Cloud. Dort müssen sie in einem anderen Hotel unterkommen, als zunächst von Chance geplant, denn das Sazarac Arms Hotel, in welchem Chance zum ersten Mal Sex mit Heavenly Finley (Cheryl Paris) hatte, existiert längst nicht mehr. Und so wird das Hotelzimmer von einer Hetero- zu einer Utopie, zu einem irrealen Ort der Wünsche, trauert Chance seiner Jugendliebe doch immer noch nach und erinnert sich sehnsuchtsvoll zurück (Abb. 25). Abbildung 25: »Right up there I had my first experience in love.«

SWEET BIRD OF YOUTH (Nicolas Roeg, 1989)

In COLD HEAVEN ist es in einem Hotelzimmer, wo Marie Davenport ihrem totgeglaubten Mann Alex wiederbegegnet, den sie kurz vor dessen tragischem Unfall noch betrogen hatte; in THE WITCHES ist es ein Hotel, in welchem die Hexen ihren Kongreß abhalten und Luke in eine Maus verwandeln; und im Kurzfilm HOTEL PARADISE (1995) schließlich ist es eine Braut (Theresa Russell), die am Tag ihrer Hochzeit in einem Hotelzimmer neben einem fremden Mann (Vincent D’Onofrio) erwacht, mit Handschellen ans Bett gefesselt und ihr Brautkleid tragend. Gleichwohl geht die Bedeutung von Hotelzimmern bei Roeg über eine bloße Krisen-Heterotopie hinaus. Für Dominik Graf stellen sie in Roegs Filmen »Obser-

sich dabei um » privilegierte, heilige oder verbotene Orte, die solchen Menschen vorbehalten sind, welche sich im Verhältnis zu der Gesellschaft oder dem Milieu, in denen sie leben, in einem Krisenzustand befinden.« (Ebd.)

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vatorien der Unendlichkeit von Zeit und Raum« dar,1 und für keinen seiner Filme gilt dies mehr als für INSIGNIFICANCE.2 Nahezu der gesamte Film spielt während einer Nacht im Jahre 1954 in einem New Yorker Hotel:3 es ist der Ort, an dem die Schauspielerin dem Professor seine Relativitätstheorie ›erklärt‹; und es ist der Ort, an dem sich die Figuren ihrer Position, gesellschaftlich, historisch wie auch kosmisch und kosmologisch, vergewissern oder diese hinterfragen. »I know you. You are Cherokee«, wendet sich der Indianer (Will Sampson), der als Liftboy im Hotel arbeitet, an den Professor, als er ihn von der Lobby zu seinem Zimmer fährt (Abb. 26). »I’m an old fool. You are Cherokee«, entgegnet dieser und erkundigt sich, ob es stimme, daß jeder Cherokee, unabhängig davon, wo er sich gerade befinde, annehme, er befände sich im Zentrum des Universums. Nickend bestätigt dies der Indianer, doch setzt er hinzu: »But it’s hard to believe in an elevator. […] But I watch TV. And I see your face, I hear your thoughts. And so I know: you are Cherokee.«

1

Graf 2006, 10. – Gleiches nimmt Graf für Milenas Apartmentzimmer in BAD TIMING in Anspruch (ebd.).

2

Roegs Film ist eine Adaption von Terry Johnsons gleichnamigem Theaterstück Insignificance, das 1982 am Royal Court Theatre aufgeführt wurde (vgl. Terry Johnson: »Insignificance«, in: ders., Plays: 1. With an Introd. by Rob Ritchie. London: Methuen Drama 1997, S. 1-61). »The play was just a source and it didn’t click immediately. […] I’m not wild about the theatre. But I saw in it scenes suitable for disguising my own emotional attitudes of the time«, räumt Roeg ein (Glenys Roberts: »A Roegish Look at the Marilyn Myth«, in: The Times, 03.-09.08.1985, S. 20). – Daß Roeg kein allzu großer Theaterbegeisterter ist, ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, daß er dieses als grundverschieden vom Film betrachtet: »Film has nothing to do with the theatre because the theatre is driven by language – but film is not driven by language, it’s driven by image.« (Roeg 2013, S. 16.)

3

Richard Combs datiert die Handlungszeit des Films auf das Jahr 1954 (vgl. Richard Combs: »Insignificance«, in: Monthly Film Bulletin 52 [1985], Nr. 612/623, S. 235f. [Combs 1985a]; hier: 235). Dies ist insofern überzeugend, als zu Beginn des Films die Schauspielerin, die Marilyn Monroe ähnelt, an den Dreharbeiten zu einer Szene teilnimmt, bei der sie über einem U-Bahn-Schacht steht und ihr Rock hochgeblasen wird. Diese Szene ist selbstverständlich eine Anspielung auf Billy Wilders Komödie THE SEVEN

YEAR ITCH, in der Marilyn Monroe die Hauptrolle spielte, und die 1955 in die Kinos

kam. Trotz der klaren Datierbarkeit des Settings sehen Judith Maus und Holger Wacker in INSIGNIFICANCE aber auch eine Parabel auf das (seinerzeit) aktuelle Tagesgeschehen: »[…] die Parallelen und Verweise auf die Zeit seiner Entstehung, die achtziger Jahre Ronald Reagans, sind offensichtlich.« (Judith Maus/Holger Wacker: »Insignificance«, in: Norbert Stresau/Heinrich Wimmer [Hg.], Enzyklopädie des phantastischen Films, Band 4. Meitingen: Corian 1986-2004 [32. Erg.-Lfg. November 1993], S. 8.)

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Doch der Professor weist dies von sich und insistiert, er wolle niemals im Zentrum von irgendwas stehen, »and certainly not the…« Noch bevor er das Wort »universe« aussprechen kann, antwortet der Indianer: »But the thoughts in your head will lead you there.« Abbildung 26: »You are Cherokee.«

INSIGNIFICANCE (Nicolas Roeg, 1985)

So wie die Reflexionen des Physikers über Raum und Zeit ins Zentrum des Universums führen, so durchmißt der Aufzug vertikal das Hotel, das zu einem Mikrokosmos der Außenwelt wird.1 Es ist der Ort einer hypothetischen Zusammenkunft; der Ort, an dem vier Figuren mit Symbolcharakter aufeinandertreffen:2 ein Senator (Tony Curtis), der sich als Joseph McCarthy identifizieren läßt, ein Physiker, der unzweifelhaft die Züge von Albert Einstein trägt, ein Baseballspieler (Cary Busey), in welchem sich Joe DiMaggio erkennen läßt, der weniger als ein Jahr mit Marilyn

1

Auf das Hotel als Mikrokosmos verweist auch Tim Pulline: »[…] Roeg’s short bursts of genuinely cinematic inspiration give the film a feeling that it is indeed a microcosm of the world at large […].« (Tim Pulline: »Backward into the Myths«, in: The Guardian, 08.08.1985, S. 9.) Der gleiche Gedanke wird im Branchenmagazin Variety aufgegriffen: »When, towards the end of the film, the Elevator Attendant greets the dawn Cherokeestyle, the hotel has become a microcosm of the world outside.« (Japa.: »Insignificance«, in: Variety, 15.05.1985, S. 20.)

2

Wie Johnson im Interview mit Richard Combs darlegt, nahm die Idee zu seinem Theaterstück ihren Ausgang von der Tatsache, daß man nach Marilyn Monroes Tod in ihrem Nachlaß eine signierte Photographie von Albert Einstein fand (vgl. Combs 1985a, S. 237).

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Monroe verheiratet war. Deren Ebenbild ist die Schauspielerin in INSIGNIFICANCE, die sich mehrfach vor ihrem Ehemann in das Badezimmer des Professors – ein heterotoper Schutzraum innerhalb der Heterotopie des Hotelzimmers1 – flüchtet.2 Abbildung 27: »As the years went by, Erica grew older, too.«

THE WITCHES (Nicolas Roeg, 1990)

Gleichwohl stellen die Roegschen Heterotopien in der Regel weniger Schutzräume, als vielmehr Gefängnisse dar – wobei es letztlich unerheblich ist, ob die Gefangenen nun ein- oder ausgesperrt sind. Wenn in TWO DEATHS (1995) auf den Straßen einer osteuropäischen Stadt – es soll wohl Bukarest zur Zeit des Sturzes von Nicolae Ceaușescu sein – die Revolution wüstet, dann sind Daniel Pavenic (Michael Gambon) und die drei Gäste, die der Arzt zum Abendessen in sein Haus geladen hat, mindestens ebenso Eingesperrte,3 wie es Chas in PERFORMANCE ist, wenn er zu Turner flüchtet. Das gleiche gilt für Newton gegen Ende von THE MAN WHO FELL TO EARTH: von Bryce verraten, von Wissenschaftlern untersucht, ist er eingesperrt

1

Auf diese – letztlich erfolglose – Schutzraumfunktion des Badezimmers in INSIGNIFICANCE

2

weist auch Scott Salwoke hin (vgl. Salwolke 1993, S. 117).

In der Tat sind Badezimmer ein in Roegs Filmen regelmäßig wiederkehrendes Motiv. Dies verbindet den Regisseur mit seinem Kollegen Stanley Kubrick (zu Badezimmern bei Kubrick vgl. Philip Kuberski: »Plumbing the Abyss: Stanley Kubrick’s Bathrooms«, in: Arizona Quarterly. A Journal of American Literature, Culture, and Theory 60 [2004], Nr. 4, S. 139-60).

3

Eine durchuas treffende Beschreibung der Situation bietet Stephen Holden, demzufolge »the conversation among the four becomes a high-flown, philosophical kind of lockerroom confession about sexual obsession, power and betrayal.« (Stephen Holden: »Tormentors’ Cruel Acts, In the Bedroom and Out«, in: The New York Times, 24.05.1996, http://movies.nytimes.com/movie/review?res=9403E5D71039F937A15756C 0A960958260 [18.11.2007].)

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in bizarren Räumlichkeiten, denen Feineman das Prädikat eines »claustrophobic prison« zuschreibt.1 Zu den verstörendsten Gefängnissen bei Roeg aber zählt das Bild in THE WITCHES, in welches das Mädchen Erica von einer Hexe verbannt wurde, und das im Wohnzimmer ihrer Eltern hängt. Über Jahre bleibt sie dort, bis sie eines Tages, längst eine alte Frau, völlig aus dem Bild verschwindet (Abb. 27). Abbildung 28: »…in the fluid state of business…«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Roegs Gefängnisse brauchen keine Mauern. Die Insel Tuin in CASTAWAY stellt ebenso ein Gefängnis dar, wie es in WALKABOUT die Wüste des australischen Outbacks ist.2 Im Grunde gleichen alle ›Welten‹, die Roeg in seinen Filmen entwickelt,

1 2

Feineman 1978, S. 113. Basil Wright etwa interpretiert WALKABOUT so, daß Roeg in diesem Film zeige »how the brash yet old-before-its-time white civilization of Australia is liable to be trapped in the

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Gefängnissen, doch – und hier liegt die Paradoxie – sind deren Grenzen alles andere als rigide und stabile Strukturen. Roegs Welten erweisen sich statt dessen als im höchsten Maße zugleich fragil und fluid. Die Fluidität des Raumes in Roegs Filmen wird an keiner anderen Stelle deutlicher als in PERFORMANCE, wenn der Anwalt sein Plädoyer hält: während die elektronischen Geräusche auf der Tonspur übergehen in das ratternde Geräusch eines Projektors, löst sich das Bild der Geschworenen auf. Sie werden statt dessen zu Zuschauern in einem kleinen Pornokino in Soho, dessen Besitzer von Chas zur Zahlung von Schutzgeld erpreßt wird (Abb. 28). Diese Transformation, dieses Verschmelzen wird gleichsam durch das Plädoyer des Anwalts kommentiert, wenn er von »the fluid state of business ethics pertaining today« und einer »commercial union« spricht, vor allem aber, wenn er betont: »I say merger, gentleman, not takeover«. ›Merger‹ bezeichnet nicht nur die Geschäftsfusion, sondern auch die räumliche Verschmelzung, die sich hier ereignet. Dabei sind es nicht nur diegetische Räume, die Roeg und Cammell miteinander verschmelzen lassen, sondern auch der nicht-diegetische Raum mit dem diegetischen, wenn vormals nicht-diegetische Musik – Newmans Song ›Gone Dead Train‹ – im Verlauf des Films zu diegetischer Musik wird, und umgekehrt. Diese metaleptische Verschmelzung unterschiedlicher diegetischer Ebenen und Räume1 begegnet uns auch in THE MAN WHO FELL TO EARTH, wenn Musik, die zunächst Teil des Soundtracks und nicht-diegetisch zu sein scheint, sich plötzlich als Musik aus Newtons futuristischer Stereoanlage entpuppt, die von ihm abrupt unterbrochen wird.2 Daneben ist die (scheinbare?) Verschmelzung von der Zeit oder der Distanz nach getrennten diegetischen Räumen ein immer wiederkehrendes Phänomen in THE MAN WHO FELL TO EARTH, wohl am deutlichsten in jener Szene, in der Newton in einem japanischen Restaurant speist, in welchem eine Kabuki-

vast prison of the island continent because of a failure to consider, or even to try to understand, the million-year aspects of the vegetation, the animals and the aborigines on whom they have only in part succeeded in imposing themselves.« (Basil Wright: The Long View. London: Secker & Warburg 1974, S. 670.) 1

Zur Metalepse als Ebenenbruch zwischen verschiedenen diegetischen Ebenen und Welten vgl. Keyvan Sarkhosh: »Metalepsis in Popular Comedy Film«, in: Karin Kukkonen/Sonja Klimek (Hg.): Metalepsis in Popular Culture. Berlin/New York: de Gruyter 2011 (= Narratologia; 28), S. 171-195.

2

Ganz ähnlich ist zu Beginn des Films, wenn Newton am Ufer eines Flusses Wasser trinkt, auf der Ebene des Soundtracks ein Auszug aus dem Satz ›Mars, the Bringer of War‹ aus Gustav Holsts The Planets (op. 32, 1914-16) zu hören, der, wie John Izod anmerkt, zunächst die Gefährlichkeit des Außerirdischen zu suggerieren scheint, sich dann aber in der darauffolgenden Einstellung als Musik aus der Stereoanalage des Patentanwalts Oliver Farnsworth (Buck Henry) entpuppt (vgl. Izod 1992, S. 90).

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Aufführung stattfindet. In alternierender Parallelmontage bekommen wir zu sehen, wie Bryce wilden Sex mit einer seiner Studentinnen hat. Über beide Einstellungen hinweg legt sich ein gemeinsamer Ton, ein Amalgam aus den Geräuschen des Schwerttanzes und den Lauten von Bryce und seiner Studentin beim Sex. Die akustische Verbindung räumlich wie zeitlich getrennter Orte und Ereignisse markiert auch den Übergang zwischen der Eröffnungssequenz und dem in Venedig spielenden Teil von DON’T LOOK NOW. Lauras entsetzter Schrei, als sie ihre tote Tochter in Johns Armen sieht, geht über in das Geräusch eines Schlagbohrhammers, den einer der italienischen Arbeiter in die Fundamente der venezianischen Kirche treibt.1 Das Ineinanderübergehen der Räume gleicht hier allerdings keinem geschmeidigen Zusammenfließen mehr; der Übergang ist abrupt und schmerzhaft, begleitet von einem Schrei, der so schrill ist, daß man meinen könnte, er könne Glas zerspringen lassen. Apropos zerspringendes Glas: tatsächlich stürzt in der Eingangssequenz Johnny Baxter in der Nähe des Teiches mit seinem Fahrrad, nachdem er über eine Glasscheibe gefahren ist, die daraufhin zerspringt (Abb. 29, oben). Wenig später wirft John beim Betrachten von Dias ein Glas um und das Wasser färbt eines der Dias rot. Wie kein zweiter Film Roegs führt DON’T LOOK NOW die enge Verbindung von Wasser und Glas, von Fluidität und Fragilität vor. Wie Fabienne Liptay hervorhebt, ist diese Verbindung auch für die Gestaltung des ›Bildraums‹ in Roegs Film kennzeichnend: »Den Einstellungen gemeinsam ist das Motiv der Fragilität: das Gläserne, das in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis steht. Festigkeit und Formbarkeit verbinden das Glas als Baustoff mit der Architektur, Schmelzbarkeit und spiegelnde Transparenz hingegen mit dem Wasser.«2 Es ist mehr als ein bloßer Zufall und muß als bewußter metapoetischer Kommentar betrachtet werden, daß in dem Moment, als John in den Garten hinausrennt, um seine Tochter zu retten, auf der Couch neben Laura, die zunächst im Haus bleibt, ein Buch liegt, das John verfaßt hat: ›Beyond the Fragile Geometry of Space‹ (Abb. 29,

1

Salwolke sieht in diesem ›Sound-cut‹ eine Anspielung auf Alfred Hitchcock. Roeg zitiere eine klassische Szene aus THE 39 STEPS (1935), in der der Schrei einer Frau übergehe in das Pfeifen einer Dampflokomotive, die aus einem Tunnel ausfährt (vgl. Salwolke 1993, S. 37). Sanderson meint hierin eine Hommage zu erkennen (Sanderson 1996, S. 14f.). Bestätigung findet dies, wenn Roeg auf die Frage, ob er ein Bewunderer Hitchcocks sei, entgegenet: »Very much.« (Milne/Houston 1973/74, S. 5.) Mit JAMAICA INN (1939) und REBECCA (1940) hatte Hitchcock immerhin bereits zwei Vorlagen verfilmt, die ebenso wie Don’t Look Now aus der Feder Daphne du Mauriers stammen.

2

Fabienne Liptay: »›Beyond the Fragile Geometry of Space‹. Zur Bildarchitektur in Nicolas Roegs ›Don’t Look Now‹«, in: Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann (Hg.), Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 (= Film-Konzepte; 3), S. 53-61; hier: S. 56.

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unten).1 Wovon es handelt, bleibt unbekannt, und so muß man annehmen, daß der im Titel genannte Raum der des Films ist – wenngleich die Präposition ›beyond‹ auch evoziert, daß es etwas gibt, was jenseits des Raumes liegt.2 Abbildung 29: ›Beyond the Fragile Geometry of Space‹

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

Der fiktive Buchtitel impliziert zunächst einmal, daß es der Raum ist, der selbst fragil erscheint; ebensosehr aber stellt er dessen Berechnung und Berechenbarkeit, die

1

Auf die Frage von Milne und Houston, ob ›Beyond the Fragile Geometry of Space‹ ein tatsächlich existierendes Buch sei, entgegnet Roeg: »No, it’s John Baxter’s book; I imagined it maybe as a treatise he’d written.« (Milne/Houston 1973/74, S. 5.)

2

Für Scott Salwolke ist dies die Zeit. Er betont: »The title could easily summarize Roeg’s attitude towards time […].« (Salwolke 1993, S. 40.)

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geometrische Vermessung in Frage.1 ›Beyond the Fragile Geometry of Space‹ liest sich wie das Programm zur Raumgestaltung in den Filmen Roegs2 – zumal in Verbindung mit dem Werkstoff Glas. Thermodynamisch gesehen stellt Glas »eine eingefrorene, unterkühlte Schmelze« dar.3 Glas ist demnach eine gefrorene, aber nicht erstarrte Flüssigkeit; sie befindet sich thermodynamisch in einem metastabilen Zustand.4 Aufgrund dieser Eigenschaften ist Glas »ein nichtkristalliner Festkörper«.5 Im Gegensatz zur geometrisch geordneten Gitterstruktur eines Kristalls weist Glas also eine ungeordnete Struktur auf. Abbildung 30: Mosaikikone

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

1

In diesem Sinne konstatiert auch Fabienne Liptay: »Die Geometrie, Instrument einer mathematischen Beherrschung des Raumes, ist fragil geworden und zerbricht.« (Liptay 2006, S. 56.)

2

Auch Robert Phillip Kolker merkt mit Bezug auf den fiktiven Buchtitel an: »Roeg has created his own geometry of space, a visual-aural field in which many signifiers are gathered and connected.« (Kolker 1977, S. 113.)

3

Günther Heinz Frischat: »Glas – Struktur und Eigenschaften«, in: Chemie in unserer Zeit 11 (1977), Nr. 3, S. 65-74; hier. S. 65.

4

Die Eigenschaften von Glas sind somit kontraintuitiv, »thermodynamisch entspricht es, trotz der andersartigen alltäglichen Erfahrung, einem Ungleichgewichtszustand.« (Ebd., S. 66.) Für Sanderson repräsentiert Glas daher »a visual paradox, a supercooled liquid that appears to be solid.« (Sanderson 1996, S. 43.) »Nothing is what it seems«, würde John Baxter wohl darauf entgegnen.

5

Frischat 1977, S. 66. – Es ist dies die allgemeinste Definition von Glas, die »die ganze Stoffbreite und auch alle möglichen Herstellungsmethoden« umfaßt (ebd.).

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Es ist diese ungeordnete Struktur, die für den erzählten Raum kennzeichnend ist – und zwar sowohl, was die Art und Weise seiner Repräsentation mittels dislozierender Montage anbelangt, als auch was die Qualität der heterogenen narrativen Welten betrifft. Die Welten, wie sie in Roegs Filmen angelegt sind, gleichen eher einem bunten Mosaik (dazu paßt, daß John Baxter während seiner Restaurierungsarbeiten in der Kirche ausgerechnet ein Mosaik neu zusammensetzen will; Abb. 30). So hat insbesondere die Darstellung des australischen Outbacks in WALKABOUT, die keiner realen Geographie entspricht, sondern sich mosaikartig aus vielen Versatzstücken zusammensetzt, Roeg negative Stimmen eingebracht. Bezeichnend etwa ist die Kritik von Ernest Callenbach, der bemängelt: »Jumping about the continent for dramatic photographic effects, the film’s exoticism actually involves a disrespect for the Australian environment which it theoretically counterposes to the decadence of ›civilization‹; Australians find its muddled geography hilarious, and probably nobody can imagine what an aborigine would think of it.«1

Roeg, der durchaus schon mit Australien vertraut war, als er sich zu den Dreharbeiten für WALKABOUT dorthin begab,2 zeichnet mit seiner narrativen Welt eben nicht einfach nur die reale Geographie im Sinne eines naiven Abbildrealismus nach. Dies gilt wohl für die meisten Filme, doch bei Roeg wird dieses Verfahren noch weiter-

1

Ernest Callenbach: »Walkabout«, in: Film Quarterly 26 (1973), Nr. 4, S. 64. – Auch Craig McGregor kritisiert, Roegs Film sei zwar »beautiful but fake« und wift ihm vor, Australien als Klischee behandelt zu haben: »Roeg has determinedly photographed every cliché he can point a camera at, from silhouettes of the aboriginal boy standing onelegged against a fading sunset (ugh) to repeated close-ups of kangaroos, wombats, goannas, frilled lizards and other Antipodean Exotica.« (Craig McGregor: »›Walkabout‹: Beautiful But Fake?«, in: The New York Times, 18.07.1971, S. D1 u. D11; hier: S. D11.) Gavin Millar zieht daraus den Schluß, »Roeg’s film is not really concerned with Australia itself […].« (Gavin Millar: »Walkabout«, in: Sight and Sound 41 [1971/1972], Nr. 1, S. 48.) – Zur irrealen Geographie Australiens in WALKABOUT und zur Kritik an dieser vgl. auch Baker 1977, S. 53.

2

Wenngleich nicht im Abspann aufgeführt, zeichnet Roeg bei Fred Zinnemanns in Australien gedrehtem Film THE SUNDOWNERS (1960) für die Kameraführung verantwortlich (vgl. Gow 1972, S. 22). Zu Roegs Studien von Australien-Darstellungen vgl. inbesondere Louis Nowra: Walkabout. Sydney: Currency Press; Canberra: ScreenSound 2003, S. 1921. – Über die Dreharbeiten in Australien für WALKABOUT hält Roeg rückblickend fest: »And for myself, making the film was also a journey: we didn’t have a location manager, we simply got into the trucks every day and drove till we found a location I felt was right for the film, we found the film as we made it.« (Roeg 2013, S. 75)

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getrieben. An die Stelle einer für das realistische filmische Erzähldispositiv kennzeichnenden homogenen, stabilen und Orientierung bietenden Welt setzt Roeg heterogene, sich aus vielen Mosaiksteinchen zusammensetzende Welten, die ihren Figuren, und mit ihnen dem Zuschauer, keinen Halt und keine Orientierung zu bieten vermögen, in denen, mit John Baxter gesprochen, nichts ist, wie es zu sein scheint. Abbildung 31: ›Structural Geology‹

WALKABOUT (Nicolas Roeg, 1971)

Wenn in WALKABOUT der Vater, kurz bevor er versucht, seine Kinder zu töten, ein Buch über Structural Geology liest (Abb. 31), dann ist Arno Meteling unbedingt darin zuzustimmen, daß man dies, ebenso wie das Buch von John Baxter, »als metapoetischen Kommentar interpretieren« kann und muß.1 Die Strukturgeologie, die einen Teilbereich der Tektonik darstellt, »befasst sich mit der Analyse von Gesteinsdeformationen«, d.h. mit »den Formen und der räumlichen Anordnung der tektonischen Strukturen«.2 Die Deformation der Roegschen Welten manifestiert sich nicht zuletzt in deren Befremdlichkeit, die Vertrautes unvertraut zu machen scheint – eine von Roeg bewußt gewählte Strategie.3 In WALKABOUT äußert sich

1

Meteling 2006, S. 48. – Am Rande sei bemerkt, daß dieses Buch tatsächlich existiert: Donal M. Ragan: Structural Geology. An Introduction to Geometrical Techniques. New York: Wiley 1968.

2

Claus-Dieter Reuther: Grundlagen der Tektonik. Kräften und Spannungen der Erde auf der Spur. Heidelberg: Spektrum 2012, S. 2.

3

»Ich mag diesen Satz: ›Nimm das Vertraute und mach es unvertraut‹ (take the familiar and make it strange) – ich weiß nicht, wer das gesagt hat«, erklärt sich Roeg im Gespräch

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die Fremdheit des von Roeg assemblierten Australiens nicht zuletzt in der Darstellung der Fauna. So hebt etwa John Izod hervor: »Its creatures are real, yet in their strangeness fantastic dragons and monsters.«1 Noch mit Blick auf Roegs jüngsten Film PUFFBALL ist es gerade die Befremdlichkeit des Ortes, die Dominik Graf erwähnenswert scheint.2 Und sie war es schließlich auch, die beim ersten Glastonbury Festival im Jahre 1971 einen besonderen Reiz auf Roeg ausübte. Roeg, der unter dem Titel GLASTONBURY FAYRE (1972) gemeinsam mit Peter Neal einen Dokumentarfilm über das Musikfestival drehte, hatte dabei insbesondere das disproportionale Verhältnis von anwesenden Menschen und zur Verfügung stehendem Raum im Blick (Abb. 32, links). Abbildung 32: Disproportionales Raumverhältnis und sexuelle Ausgelassenheit

GLASTONBURY FAYRE (Peter Neal/Nicolas Roeg, 1972)

Über den fertigen Film hält er fest: »And the film we shot has a strange medieval quality, maybe because the relationship between the amount of space that was available for this event and the number of people who actually turned up.«3 Ausgelagert außerhalb der eigentlichen Stadt, mit seinem anachronistischen Ambiente, als

mit Rüdiger Suchsland und fährt fort: »Alles, was wir kennen, ist fremd. Um solche Erfahrungen geht es mir.« (Suchsland 2008, S. 45.) 1 2

Izod 1980, S. 113. Graf führt dazu aus: »Immer noch kann Roeg eine scheinbar vertraute Umgebung – hier das irische Landleben mit Bauarbeiten eines jungen Paars, umgeben von polnischen Schwarzarbeitern und von anfänglich hilfreichen, etwas bizarren Nachbarn – in Sekundenschnelle in eine völlig fremde Welt verwandeln. Immer noch kann er schlichte Bilder von Hausbau, von Auto-aus-dem-Matsch-Ziehen, Spaziergängen, Zärtlichkeiten blitzartig und spielerisch mit unerwarteten Expressionismen kontrastieren.« (Graf 2009, S. 36.)

3

Gow 1972, S. 24.

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Ort auch der sexuellen Ausgelassenheit und Freizügigkeit (vgl. Abb. 32, rechts), erscheint das Festival damit einmal mehr als Heterotopie schlechthin. Die Fremdheit der Welten in Roegs Filmen wird nicht nur durch die bereits angeführten ungewöhnlichen Kameraperspektiven vermittelt, sondern mittels einer Darstellung, die Klischees und Zuschauererwartungen zuwiderläuft. Es ist eben nicht das sommerliche Touristen-Venedig, das wir in DON’T LOOK NOW zu Gesicht bekommen, sondern eine graue und abweisende Lagunenstadt im Winter. So kommentiert auch Kristi Wilson: »Roeg’s portrayal of the landscape of Venice in DON’T LOOK NOW is made especially unfamiliar to non-Venetians as he presents his audience with an urban touristic centre devoid of tourists.«1 Gleiches kann man von der Darstellung Wiens in BAD TIMING behaupten, das als graue Alltagswelt daherkommt,2 und eben nicht als beschwingte Johann-Strauß-Stadt mit ihrer RingstraßenPracht. Nicht wenig erinnert Roegs Wien an dasjenige der unmittelbaren Nachkriegszeit, das der Erzähler Colonel Calloway zu Beginn von Graham Greenes Novellen-Fassung von The Third Man (1950) beschreibt.3

1

Kristi Wilson: »Time, Space and Vision. Nicolas Roeg’s ›Don’t Look Now‹«, in: Screen 40 (1999), Nr. 3, S. 277-294; hier: S. 289. – Auch Neil Sinyard betont, daß Roegs Bild der Stadt eher einem ›Anti-Venedig‹ gleiche, das von typischen filmischen Repräsentationen abweicht: »It is also interesting to compare Roeg’s vision of Venice in DON’T LOOK NOW with that of Losey’s in EVE (1962), where it is a city of baroque decadence, and David Lean’s in SUMMER MADNESS (1955), where it is the city of summery romance. Roeg’s Venice is the ›abhorrent, green slippery city‹ of D.H. Lawrence’s poem, ›Pomegranates‹. Venice is a protagonist in this film, a city that is stagnant and submerging (the motifs of drowning and hidden depths are crucial in the film) and a city in peril, like the hero.« (Neil Sinyard: »Film«, in: Boris Ford [Hg.], The Cambridge Guide to the Arts in Britain. Vol. 9: Since the Second World War. Cambridge u.a. 1988, S. 239-251; hier: S. 249.)

2

Es ist dies eine Beobachtung, die auch Barry Lonford macht. Er konstatiert: »The film’s Vienna, in fact, is truly remarkable in nothing so much as in its sheer banality. […] most of the exteriors and streetscapes traversed by Alex, Milena and Inspector Netusil […] are as anonymous, functional and unmemorable as the streets of any other post-war central European city […].« (Longford 2006, S. 151.)

3

Gleich im zweiten Absatz des ersten Kapitels von Greenes The Third Man zeichnet der Erzähler von Wien das desillusionierende Bild einer – frei nach Storm – ›grauen Stadt am grauen Fluß‹ (und eben nicht à la Strauß ›an der schönen blauen Donau‹). Er beschreibt die Nachkriegsstadt wie folgt: »I never knew Vienna between the wars, and I am too young to remember the old Vienna with its Strauss music and its bogus easy charm; to me it is simply a city of undignified ruins which turned that February into great glaciers of snow and ice. « (Graham Greene: »The Third Man«, in: ders., The Heart of the Matter,

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Abbildung 33: Newtons utopische Heimat

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

Der befremdlichste aller Orte in Roegs Filmen dürfte aber Newtons Heimatplanet in THE MAN WHO FELL TO EARTH sein, jene Wüstenlandschaft, die durchkreuzt wird von einer Einschienenbahn, die Newtons Haus zu sein scheint, merkwürdig anmutend in seiner Keilform und den wie Flügeln ausgebreiteten Segeln (Abb. 33). Es ist dies der Ort, nach dem der Außerirdische sich zurückzusehnen scheint, »infused with a melancholy and nostalgic longing beyond the subjectivity of the alien’s memory: an idealized, pre-lapsarian state of reproduction without intercourse, pleasure without penetration.«1 Als Heterotopie läßt sich dieser Ort schon nicht mehr bezeichnen, er ist vollends eine Utopie.

2) S UCHEN – UND NICHT FINDEN : K ONSTANTEN DER F IGUREN - UND W ELTKONSTITUTION Desorientierung und Dislokation sind nicht nur für die erzählten Welten in Roegs Filmen kennzeichnend, sondern auch für die Figuren, die in ihnen mehr un-zuHause als zu Hause sind, sich in ihnen zurechtfinden müssen und in denen sie agieren. Roegs Welten changieren oftmals zwischen Heterotopie und Utopie. Das verbindende Glied zwischen beiden, mehr noch: das eigentliche ›Dazwischen‹ ist

Stamboul Trail, A Burnt-Out Case, The Third Man, The Quiet American, Loser Takes All, The Power and the Glory. London: Book Club Associates 1980, S. 469-528; hier: S. 471.) – Tatsächlich hatte man der Rank Organisation als Verleiher BAD TIMING als »a drama set in Vienna«, angepriesen: »A THIRD MAN for the 80s«, wie Jeremy Thomas, der Produzent des Films, zu berichten weiß (Richard Combs: »Mad Dogs. Interviews with Jeremy Thomas and Nicolas Roeg«, in: Monthly Film Bulletin 50 [1983], Nr. 588/599 [Combs 1983b], S. 116-120; hier: S. 116). 1

Smith 2010, S. 149.

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Foucault zufolge der Spiegel, der damit zum Mittler zwischen Virtualität und Aktualität wird.1 Der Spiegel stellt indes nicht nur den »Schnittpunkt, in dem Wirklichkeitserfahrung und das Unbekannte zusammentreffen«, dar; die von ihm reflektierten Bilder zeugen auch von einem »oft nahezu verzweifelten Ringen mit innerer Gewißheit und Selbsterkenntnis«, einhergehend mit einem »Verlust der Orientierung« und der Furcht vor dem Persönlichkeitsverlust.2 Dieses Spiegelbilddasein beschreibt die conditio humana der Roegschen Figuren. Sie sind in ihrer Identität mindestens ebenso fragil und fragmentiert wie der Raum, der ihre Welt bildet. Permanent befinden sie sich in einem Status der Selbstvergewisserung und der Suche. Aber nach wem oder was? a) »Time for a change« – Spiegel, Doppelgänger und die Fragilität des Selbst Kein anderes Objekt, kein anderes Medium weist für Roeg eine solch intrinsische Verbindung mit dem Film auf wie der Spiegel: »Mirrors are really fascinating. […] I really love them – they are the essence of cinema.«3 So wundert es kaum, daß Spiegel zu den regelmäßig in Roegs Filmen wiederkehrenden Motiven gehören. In nahezu jedem seiner Filme finden sich Spiegelszenen. Nehmen wir als Beispiel die folgende aus DON’T LOOK NOW: Als sich John und Laura Baxter zu Beginn der dargestellten Ereignisse in Venedig zum Mittagessen in einem Restaurant zusammenfinden, treffen sie erstmals auf die beiden schottischen Schwestern Heather und Wendy. Laura folgt ihnen auf die Damentoilette, um Heather zu helfen, die sich ein Staubkorn im Auge eingefangen hat. Über den marmornen Waschbecken hängen mehrere Flügelspiegel, in den das Bild der drei Frauen vielfach reflektiert und gebrochen wird (Abb. 34). Im Kontext des Films und seines Themas des übernatürlichen ›zweiten Gesichts‹ kann die Spiegelszene – gemeinsam mit Johns Aussage, daß nichts ist, wie es scheint – zunächst als ein metapoetischer Kommentar über das Problem des Sehens in DON’T LOOK NOW aufgefaßt werden. Dabei ist es nicht nur bezeichnend, daß es gerade die blinde der beiden Schwestern ist, die über vermeintlich hellseherische Fähigkeiten verfügt: »My sister is a psychic«, erklärt Wendy Laura bei ihrer Begegnung im Toilettenraum, »She sees things.« Es fällt auf, daß Heather erst in

1

Zu dieser Mittlerfunktion des Spiegels vgl. Foucault 2006, S. 321.

2

Horst S. Daemmrich/Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Weltliteratur. Ein Handbuch. 2. Aufl. Tübingen/Basel: Francke 1995, S. 325f.

3

Roeg 2013, S. 175. – Nachdrücklich bekräftigt der Regisseur diese Verbindung zwischen den beiden Medien: »The mirror is, for me, very much part of film, of cinema and the retention of the image.« (Ebd., S. 176.)

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dem Moment, in dem Wendy die Blindheit ihrer Schwester preisgibt, erstmals vollständig im Spiegel erscheint (vgl. Abb. 34, unten).1 Die ›Dinge‹ in DON’T LOOK NOW offenbaren sich nur schrittweise, bruchstückhaft und oftmals unvollständig, und der Schein der Oberfläche vermag zu trügen. Abbildung 34: »My sister is blind, you see.«

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

Wenn aber Heather zugleich Laura davon zu überzeugen vermag, daß sie genau in diesem Moment, in dem sich die drei Frauen vor dem Toilettenspiegel befinden, in Kontakt mit der verstorbenen Christine tritt, dann erscheint der Spiegel an dieser Stelle auch als ein Mittler zwischen ontologisch verschiedenen Welten, die hier aber vermittels der Scharnierstelle Spiegel miteinander verbunden und verwoben sind. Mehr noch: »die reale, sichtbare Welt ist als Spiegel einer übersinnlichen Rea-

1

Vgl. Salwolke 1993, S. 41.

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lität konzipiert«, wie Andreas Blödorn zu bedenken gibt.1 Der Spiegel gibt somit bei Roeg Auskunft über den Status der Welt, wie sie durch das Filmbild vermittelt wird. Dabei erscheint der Spiegel bei Roeg als eine herausragende Reflexionsfigur – denn dies ist es, was ein Spiegel per se schafft: reflektierte Bilder.2 »There’s a certain truth in mirrors – a sort of surreal truth. They’re reflecting things all the time«, so Roeg.3 Doch die ›Auskunft‹, die der Spiegel über diese Welt liefert, geschieht aus der Welt heraus. Selbst ein Medium, das Bilder erzeugt, kann sich der Spiegel nahtlos in das Filmbild einfügen. Die Reflexion erfolgt dabei immer auf mehreren Ebenen. Durch Wahl der Einstellung und Kadrierung verschmelzen Filmbild und diegetisches Spiegelbild so miteinander, daß sich für den Zuschauer ein fragmentarisch aufgespaltenes Bild der narrativen Welt ergibt. Als diegetische Elemente sind die Spiegel aber auch immer Objekte, mit denen die Figuren, die in dieser fragmentarisch vermittelten Welt ›zu Hause‹ sind, agieren können, indem sie sich in ihnen betrachten können. Diese Betrachtung erfolgt, wie sich zeigen wird, nie aus reinem Selbstzweck. Sie dient vorrangig der Selbstvergewisserung der Figuren. Roeg zufolge offeriere das Spiegelbild dabei einen Moment der Wahrheit: »A moment of truth in a mirror, that’s where people examine themselves. A lot is revealed when one is caught looking in the mirror at oneself.«4 Der Spiegel erscheint somit auch und besonders als eine Reflexionsfigur, die ›Auskunft‹ über Verfassung und Verfaßtheit der Figuren liefert. Entsprechend konstatiert Sabine Schülting: »The mirrors in DON’T LOOK NOW […] are a means of questioning seemingly clear-cut identities.«5 In der Tat erscheinen die Figuren in Roegs Filmen – anders als im klassisch-realistischen Film – oftmals nicht als eindeutig umreißbare und gefestigte Individuen. Ihr Status ist vielmehr fragil und ambivalent, was sie

1

Andreas Blödorn: »Verweissystem Farbe. Semiotisierung und Referatialisierung von ›Sehen‹ und ›Erkennen‹ am Beispiel von Nicolas Roegs ›Don’t Look Now‹ (1973)«, in: Zeitschrift für Semiotik 30 (2008), Nr. 3-4, S. 321-353; hier: S. 344.

2

Im Sinne einer Minimaldefinition versteht Umberto Eco unter ›Spiegel‹ »zunächst jede regelmäßige Fläche mit der Fähigkeit, die eintreffenden Lichtstrahlen zu reflektieren […].« (Umberto Eco: »Über Spiegel«, in: ders., Über Spiegel und andere Phänomene. Übers. v. Burkhart Kroeber. 6. Aufl. München: dtv 2001, S. 26-61; hier: S. 29.)

3

Roeg 2013, S. 176.

4

Ebd., S. 178.

5

Sabine Schülting: »›Dream Factories‹. Hollywood and Venice in Nicolas Roeg’s ›Don’t Look Now‹«, in: Manfred Pfister/Barbara Schaff (Hg.), Venetian Views, Venetian Blinds. English Fantasies of Venice. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1999 (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft; 37), S. 195212; hier: S. 206.

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zu permanenter Selbstreflexion zwingt. So kommentiert Neil Feineman die Spiegelszenen bei Roeg wie folgt: »[…] mirrors are not just reflections of how we look, but are the means by which we may affirm our existences. And, as a result, our images become not just illusions, but the roles that define our existences. As such, they are essential tools in the establishment of identities and identity transformations.«1

Auch Roeg bekräftigt diese transformative Funktion von Spiegeln, wenn er emphatisch betont: »I love mirror shots. I love them because they somehow do something with the character. It isn’t part of the narrative and it isn’t part of the performance; it’s like spying on someone – even spying on themselves.«2 Das Selbstbild der Figuren steht dabei in einem prekären Spannungsverhältnis zur Fremdwahrnehmung durch die jeweils anderen Figuren. Diese Feststellung findet Bestätigung durch den Regisseur selbst: »We are always being watched. Someone is watching us. I like that thought. Apart from by the mirror and by someone who actually wants to know about us, we are always being watched. It’s just a state of our existence.«3 Die Folge daraus ist, wie Dominik Graf hervorhebt, daß typischerweise in Roegs Filmen »sich alle handelnden Figuren wie in einem Spiegel endlos gegenseitig reflektieren […]«4 Die Interaktion zwischen ihnen ist wesentlich durch das ›Prinzip Spiegel‹ bestimmt.5 Noch in Roegs Beitrag zu den YOUNG INDIANA JONES CHRONICLES, der Episode »Paris, October 1916« (1993),6 finden sich mehrere Spiegelszenen. Doch während hier der Spiegel als oberflächliches Symbol für Doppelbödigkeit, für Sehen und Verkennen sowie für ein doppeltes Rollenspiel steht – die Tänzerin Mata Hari (Domiziana Giordano), mit der sich Indy (Sean Patrick Flanery) auf eine Affäre

1

Feineman 1978, S. 44.

2

Roeg 2013, S. 177.

3

Ebd., S. 186.

4

Dominik Graf: »Als das Kino Trauer trug. Psychische Labyrinthe, kosmische Eruptionen, Desaster – das wilde Werk des Nicolas Roeg«, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 192, 21.08.2003, S. 12.

5

Mit Blick auf das Wechselspiel der Figuren in Roegs Filmen gelangt auch Janet Ann Baker zu dem Schluß: »Intersubjectivity, necessary for any communication to occur, is heavy-handedly symbolized by mirror and mirror-like transformations.« (Baker 1977, S. 24.)

6

Gemeinsam mit der Episode »Verdun, September 1916« (René Manzor, 1992) wurde diese Folge, bei der Roeg Regie führte, 2007 als Filmfassung unter dem Titel THE ADVENTURES OF YOUNG INDIANA JONES: DEMONS OF DECEPTION

neu aufgelegt.

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einläßt, erweist sich als Spionin der Deutschen (Abb. 35) – und nicht zuletzt als Signatur die Handschrift des Regisseurs ausweist, ist das Problem des Erkennens des prekären Bildes des eigenen Selbst und des Verkennens jenes der Anderen in den meisten Filmen Roegs grundlegender angesetzt. Abbildung 35: ›Paris, October 1916‹ (1993)

DEMONS OF DECEPTION (René Manzor/Nicolas Roeg, 2007)

Wohl am deutlichsten von allen Filmen Roegs setzt sich INSIGNIFICANCE mit der Frage nach Selbst- und Fremdbildern sowie Stereotypen auseinander. Terry Johnson hatte sein Theaterstück, das als Grundlage für den Film diente, wesentlich als eine Reflexion über Ruhm und Berühmtheit angelegt. »It was always meant to be a play about the era, about fame«, so der Dramatiker im Gespräch mit Richard Combs, in welchem Roeg zugleich darlegt, wie er diesen Gedanken Johnsons weitergesponnen hat: »Famous people are only perceived in images; they’re inventions, everything’s an invention.«1 Tatsächlich ist im Fall der Schauspielerin wie auch des Ballspielers die Selbst- und Fremdidentifikation vor allem eine in Bildern. Als letzterer einen Drink in einer Bar einnimmt, hängt dort ein Kalender mit einem Bild seiner Frau, der Schauspielerin, das sich aus vielen kleinen Schnipseln zusammensetzt und an die Aufnahmen von Marilyn Monroe in der ersten Playboy-Ausgabe vom Dezember 1953 erinnert (Abb. 36, oben li.). Freilich gleicht dieses Bild einem Mosaik, doch statt für Facettenreichtum steht die Zweidimensionalität des Papiers hier für den oberflächlichen Schein, wie er von Hochglanzmagazinen vermittelt wird. Dies deckt sich damit, daß die Schauspielerin an der Erschaffung ihres künstlichen Selbstbildes mitgewirkt hat: als sie sich vor ihrem Ehemann, der sie im Hotelzimmer des Professors ausfindig gemacht hat, ins Badezimmer flüchtet, betrachtet sie sich ausführlich im Spiegel (Abb. 36, oben re.). Als sie diesen plötzlich mit Blut beschmiert, wechselt die Einstellung zu einer Szene, wie die von Natur aus

1

Combs 1985b, S. 237.

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brünette Schauspielerin erstmals ihre Haare blond färbt (Abb. 36, unten li.): »the initial step in creating her image.«1 Immer wieder flüchtet sich die Schauspielerin im Verlauf des Films in das Badezimmer und betrachtet sich im Spiegel, wie um sich ihres eigenen Bildes (wohl mehr als ihrer selbst) zu vergewissern. Abbildung 36: Star-Image und Selbstbespiegelung

INSIGNIFICANCE (Nicolas Roeg, 1985)

Doch auch der Ballspieler betrachtet sich im Spiegel (Abb. 36, unten re.), auch er definiert sich vorrangig über das oberflächliche und stereotype Bild, das sich vermarkten läßt.2 Als er dem Professor einen Kaugummi anbietet, zückt er eine Sammelkarte, die den Packungen beiliegt. »You know how many bubble-gum series I’ve been in?«, fragt er und beantwortet seine Frage sogleich selbst: »Thirteen. Thirteen series. It’s a lot.« Mit Stolz verweist er auf seine Bekanntheit über die Grenzen der USA hinaus. Sein Ruhm ist für ihn selbst in seinem Abbild begründet. Das Wechselverhältnis von abbildhaftem Selbstbild und jenem, das andere von einem entwerfen, wird in Verbindung mit der Kindheitsthematik auch in TRACK 29 verhandelt, wie Neil Sinyard hervorhebt: »Childhood is just a dimension of this theme […], one illustration of the split between the identity that society and other people place on us and what we feel ourselves actually to be and what we secretly

1 2

Salwolke 1993, S. 117. In diesem Sinne konstatiert auch Salwolke: »The ballplayer looks into a mirror, just as his wife is doing. To both of them, image is everything.« (Salwolke 1993, S. 117.)

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desire.«1 Ebenso ist in SWEET BIRD OF YOUTH die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung der Hauptfiguren unverkennbar: Während Alexandra Del Lago nicht wahrhaben will, daß sie eine alternde Schauspielerin auf absteigendem Ast ist, macht sich Chance Wayne die illusorische Hoffnung, er könne als Hollywoodstar reüssieren. Und: »Once again the mirror is a primary motif for the Roeg film, as the two examine their images and their reality. Alexandra sees herself as a star, but sees Chance as the ghost of a golden boy.«2 Offenkundiger noch als in INSIGNIFICANCE erweisen sich in SWEET BIRD OF YOUTH das Selbst- wie das Fremdbild als Vanitas-Bilder, als Bilder der Eitelkeit3 – im Sinne von Vergänglichkeit wie auch von oberflächlicher Selbstverliebtheit.4 Letztere stellt auch Chas zu Beginn von PERFORMANCE deutlich aus, nicht nur, wenn er sich am Morgen nach seinen nächtlichen Vergnügungen mit Dana kokett im Spiegel betrachtet (Abb. 37, oben), sondern insbesondere bereits während ihres wilden Liebesspiels: für einen kurzen Augenblick ist zu sehen, wie Chas einen Spiegel vor sich hält. Er betrachtet dabei nicht nur Dana, die ihn oral befriedigt, sondern zugleich genußvoll sein eigenes Spiegelbild. Es scheint, als ergehe sich sich Chas in einer narzißtischen Autofellatio (Abb. 37, unten).5 Die Selbstverliebtheit in das eigene Spiegelbild wird bereits im Mythos von Narziß beschrieben: als Rache für seine Hybris, seinen überheblichen Stolz auf seine eigene Schönheit und das kalte Abweisen aller Werbungsversuche um ihn, verdammen ihn die Götter zur Selbstverliebtheit in sein eigenes Spiegelbild, das er auf der Oberfläche eines Gewässers erblickt, und woran er sich aufzehrt und zugrunde geht.6

1

Sinyard 1991, S. 120.

2

Salwolke 1993, S. 171.

3

Wie auch Christiane Dahms herausstellt, gilt der Spiegel in Literatur und Malerei »als Symbol für Superbia und Vanitas, daneben konkurrieren Prudentia und Sapientia um die Verweisfunktion […].« (Christiane Dahms: Spiegelszenen in Literatur und Malerei. Heidelberg: Synchron 2012 [= Hermeia; 13], S. 217.)

4

Diese Eitelkeit beschränkt sich nicht nur auf Personen. In geradezu barocker Manier findet sich in DON’T LOOK NOW die Vanitassymbolik im Stadtbild Venedigs manifestiert (vgl. Liptay 2006, S. 57).

5

Karlheinz W. Kopanski weist darauf hin, daß der »männliche Blick« in Spiegelbilddarstellungen »als soziologisches und nicht als biologisches Phänomen aufzufassen« ist – ein Aspekt, den es im Hinterkopf zu halten gilt, da er noch von Relevanz sein wird (Karlheinz W. Kopanski: Der männliche Blick in den Spiegel. Eine motivgeschichtliche Untersuchung. Münster u.a.: Lit 1998, S. 137).

6

In der literarischen Ausarbeitung des Mythos durch Ovid in den Metamorphosen stirbt Narziß weniger, als daß er sich letzlich in eine Blume, wohl eine Narzisse, verwandelt

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Abbildung 37: Narzißstische Selbstbespiegelung

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Dienen der Mythos und seine Motive ab der Spätantike in Literatur und bildender Kunst – insbesondere ausgehend von Ovids literarischer Bearbeitung des Stoffs in den Metamorphosen1 – nicht nur als Beispiel für Hybris, sondern für eine Vielzahl

(Ov. met. 3, 339-510; vgl. Publius Ovidius Naso: Metamorphoses. Hg. v. William S. Anderson. 5., unv. Aufl. Stuttgart: Teubner 1991, S. 64-70). 1

Ovids Darstellung bildet, wie Almut-Barbara Renger hervorhebt, ohne Zweifel die »meistrezipierte Fassung des Mythos, die aus dem Altertum auf uns gekommen ist« (Almut-Barbara Renger: »Lektürehinweise«, in: dies. [Hg.], Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jacques Lacan. Leipzig: Reclam 1999, S. 259-292; hier: S. 265).

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»allegorisch-moralisierend[er]« Darstellungen,1 hat sich der Begriff ›Narzißmus‹ in der Psychoanalyse für eine »ichverhaftete Libido«, für »die libidinöse Besetzung, die das Ich sich selbst entgegenbringt«, etabliert.2 »Den Zustand, in dem das Ich die Libido bei sich behält, heißen wir Narzißmus, in Erinnerung der griechischen Sage vom Jüngling Narcissus, der in sein eigenes Spiegelbild verliebt blieb«, hält Sigmund Freud definierend fest.3 Dieser beschreibe ihm zufolge ein Verhalten, »bei welchem ein Individuum den eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts, ihn also mit sexuellem Wohlgefallen beschaut, streichelt, liebkost, bis es durch diese Vornahmen zur vollen Befriedigung gelangt.«4 Der Begriff bezeichnet gemäß Freud die »libidinöse Ergänzung zum Egoismus des Selbsterhaltungstriebes, von dem jedem Lebewesen mit Recht ein Stück zugeschrieben wird.«5 Jacques Lacan, der in seinen Ausführungen zum Spiegelstadium Freuds Narzißmus-Begriff aufgreift, hebt die Gefahren einer pathologischen permanenten Selbstbespiegelung hervor: die »Befangenheit des Subjekts in der Situation« führt zu einer selbstdestruktiven »Trägheit« – gleichsam einer Erstarrung, wie sie bereits im Narziß-Mythos beschrieben wird –, zu einem »Knoten imaginärer Knechtschaft, den die Liebe immer neu lösen oder zerschneiden muß«: die Rettung des Subjekts liegt allein in der Anerkennung des Anderen, »in der Formel ›du bist es‹«.6 Eine solche narzißtische Erstarrung zeichnet sich deutlich an Jack McCann (Gene Hackman) in EUREKA (1983) ab. Als junger Mann am Yukon im Jahre 1925 ist all seine libidinöse Energie in seiner Goldsuche gebündelt. Während sich die an-

1

Almut-Barbara Renger: »Vorwort«, in: dies. (Hg.), Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jacques Lacan. Leipzig: Reclam 1999, S. 14-20; hier: S. 17.

2 3

Gerda Pagel: Jacques Lacan zur Einführung. 5., erg. Aufl. Hamburg: Junius 2007, S. 23. Sigmund Freud: »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, in: ders., Werke aus den Jahren 1917-1920. Unter Mitw. v. Marie Bonaparte hg. v. Anna Freud. 6. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 1986 (= Gesammelte Werke Bd. 12), S. 3-12 [Freud 1986a]; hier: S. 6.

4

Sigmund Freud: »Zur Einführung des Narzißmus«, in: ders., Werke aus den Jahren 19131917. Unter Mitw. v. Marie Bonaparte hg. v. Anna Freud. 6. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 1973 (= Gesammelte Werke Bd. 10), S. 137-170; hier: S. 138.

5

Ebd., S. 139. – Freud gibt indes zu bedenken, daß ein partieller Narzißmus eine normale Veranlagung in jedem Menschen sei, und zwar insofern, als niemals »die gesamte Libido des Ichs auf die Objekte übergeht. Ein gewisser Betrag von Libido verbleibt immer beim Ich, ein gewisses Maß von Narzißmus bleibt trotz hochentwickelter Objektliebe fortbestehen.« (Freud 1986, S. 6.)

6

Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949«, in: ders., Schriften 1. Ausgew. u. hg. v. Norbert Haas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 61-70; hier: S. 70.

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deren Goldsucher abends im Bordell mit den Prostituierten vergnügen, sinniert Jack lediglich: »Gold smells stronger than a woman.« Sein anschließendes Gespräch mit Frieda (Helena Kallianiotes), die das Bordell betreibt, unterstreicht, worauf sein Begeheren allein gerichtet ist: »The conversation makes it clear that McCann has channeled his sexual energies into the quest«, wie Michael Pursell konstatiert.1 Jacks Entdeckung des Goldes gleicht folglich einem Geschlechtsakt: Er bricht durch eine Schneedecke und stürzt in eine Höhle. Als er seine Spitzhacke in deren Wände schlägt, ergießt sich das Gold in Strömen in die Höhle. Sein Fund endet in einem gewaltigen Orgasmus der Elemente;2 die Szene trägt die Merkmale einer ekstatischen Sexualität (vgl. Abb. 66).3 Filmmusikalisch wird der Goldfund begleitet von einem Auszug aus dem Vorspiel zu Richard Wagners Rheingold (1869), dem ersten Teil der Tetralogie Der Ring des Nibelungen (1869-1874). Nicht nur die thematische Verbindung von Gold und Wasser wird damit unterstrichen; das musikalische Zitat scheint auch Jacks Unfähigkeit zu zwischenmenschlicher Liebe und seinen fehlenden Sexualtrieb zu bestätigen. Jack McCann gleicht Alberich, dem Zwerg in Wagners Ring: von den Rheintöchtern verhöhnt, entsagt dieser der Liebe; all sein Begehren gilt fortan ausschließlich dem Gold.4 So schließt auch Harlan Kennedy: »For the consummation of Hackman’s love for gold has been bought, like Alberich’s, at the cost of human sexual love.«5

1

Michael Pursell: »From Gold Nugget to Ice Crystal. The Diagenetic Structure of Roeg’s ›Eureka‹«, in: Literature/Film Quarterly 11 (1983), Nr. 4, S. 215-220; hier: S. 217.

2

Diese orgiastische Qualität der Szene, in der Jack das Gold findet, benennt auch Michael Dempsey und führt noch weiter aus: »The connection to orgasm becomes all the clearer as the camera whirls, Roeg cuts in flashes to Frieda in her consumptive decline […].« (Michael Dempsey: »Eureka. Insignificance«, in: Film Quarterly 39 [1985/1986], Nr. 2, S. 49-59; hier: S. 52.) Harlan Kennedy spricht von einem »elemental orgasm«, als das flüssige Gold aus dem Fels strömt (Harlan Kennedy: »Roeg: Warrior«, in: Film Comment 19 [1983], Nr. 2, S. 20-23; hier: S. 21).

3

Diese »ecstatic sexuality of the find« (Pursell 1983, S. 217) entspricht durchaus Roegs übergeordneter Intention: »I wanted to make a film about ecstasy, […] the many forms of ecstasy. Ecstasy in individual people, and ecstasy as the mystic sense of life.« (Kennedy 1983, S. 21; Herv. i.O.)

4

Vgl. Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Vorabend: Das Rheingold. Textbuch mit Varianten der Partitur. Hg. v. Egon Voss. Stuttgart: Reclam 1991, S. 17-25.

5

Kennedy 1983, S. 21. – Diese Unfähigkeit Jack McCanns zu zwischenmenschlichen Beziehungen – auch solchen sexueller Natur – benennt auch Michael Pursell, der auf Jacks »total rejection of partnership, including the sexual partnership represented by his colleague’s girl, whom McCann also fights off«, hinweist (Pursell 1983, S. 215).

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Mit dem Goldfund, mit dem das erste Drittel des Films endet,1 ist Jacks Leben im Grunde vollständig gelebt; er kennt keine weiteren Antriebe, seine libidinöse Energie ist erschöpft – oder vielmehr nur noch auf sich selbst gerichtet: 20 Jahre nach seinem Fund am Yukon lebt er in Reichtum und Überfluß auf seiner Karibikinsel. Das Verhältnis zu seiner Frau Helen (Jane Lapotaire), einer Alkoholikerin, seiner Tochter Tracy (Theresa Russell), die eine Beziehung mit dem von ihm verhaßten Flüchtling Claude Maillot Van Horn (Rutger Hauer) eingeht, sowie zu allen anderen, die ihn umgeben, ist zerüttet. So bleibt ihm, wie Manuel Koch feststellt, allein die »Beziehung zum eigenen Spiegelbild«; seine ›Liebe‹ ist »also zutiefst narzisstisch geprägt«.2 Doch Jack ist nicht die einzige narzißtische Figur in EUERKA. Am Ende des Films tritt Claude, der nach Jacks brutaler Ermordung als vermeintlicher Täter angeklagt, schließlich aber freigesprochen wird, vor einen Spiegel und sagt zu sich selbst: »I knew it would be you.« (Abb. 38) Abbildung 38: »I knew it would be you.«

EUREKA (Nicolas Roeg, 1983)

Dies klingt nahezu wie eine Wiederholung der Lacanschen Formel ›du bist es‹, doch ist ›der Andere‹ hier letztlich wieder nur das eigene Spiegelbild, für das sich Claude anstelle von Tracy entscheidet.3 Im Sinne Lacans artikuliert sich in Claude

1

Wie Michael Pursell herausstellt, läßt sich EUREKA in drei deutlich distinkte Teile untergliedern: »The first culminates in McCann’s discovery of the gold; the second in his murder; and the third in Claude’s abandonment of Tracy.« (Ebd., S. 216.)

2 3

Koch 2006, S. 86. Manuel Koch interpretiert diese Spiegelszene ebenfalls als Ausdruck eines tief in Claude verwurzelten Narzißmus: »Indem er sich für das spiegelbildliche Gegenüber und nicht für Tracy entscheidet, erkennt er seinen narzisstischen Persönlichkeitskern an.« (Ebd.)

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die narzißtische Haltung des »Eins-sein-Wollens mit sich selbst als einem anderen«,1 wie sie aus dem Spiegelstadium resultiert, und wie es hier noch für das erwachsene ›Individuum‹ prägend ist. Dieses frühkindliche Stadium der Selbstwahrnehmung im Spiegel ist eben nicht nur der Ort des eigenen Erkennens, sondern auch der Ort einer »durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste[n] Verwandlung«, die Lacan als »Identifikation« bezeichnet: Diese Identifikation ist der Moment, indem das motorisch noch unterentwickelte Kind sich erstmals seiner Selbst als einer leiblichen Einheit bewußt wird und noch vor jeder sprachlichen Artikulation eines Ich (je) in Abgrenzung von einem Anderen im Angesicht seines eigenen Bildes die Vorstellung von einem Ich (moi) entwirft.2 Das Spiegelstadium trägt somit nicht nur zur Selbstvergewisserung des Individuums bei, sondern es führt auch zur Spaltung des Subjekts in ein reales Ich (je) und in ein fiktiv-imaginäres Ich (moi),3 die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzt. Dieses Changieren zwischen Selbstvergewisserung und Ich-Spaltung4 manifestiert sich in keiner anderen Figur in Roegs Filmen deutlicher als in Chas. Wie bereits Neil Sinyard hervorhebt, weisen seine permanenten Selbstbespiegelungen über einen bloß eitlen Narzißmus hinaus und offenbaren vielmehr, daß sich Chas angesichts eines fragilen Ichs immer wieder seiner selbst zu vergewissern sucht.5 In diesem Sinne stellt etwa Peter Schulze fest: »Auch wenn Chas’ narzißtische Selbstbespiegelung seiner sexuellen Stimulierung dienen mag, manifestiert sich darin zugleich auch der Zwang zur ständigen Selbstvergewisserung.«6 Dabei scheint sich Chas zu Beginn von PERFORMANCE seiner Identität vermeintlich durchaus sicher: »I

1

Pagel 2007, S. 30.

2

Lacan 1975, S. 64 (Herv. i.O.).

3

Lacan betont, daß »die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert« ist (ebd.), es ist die eines »imaginären Erkennens, das zugleich Verkennen ist« (Pagel 2007, S. 30). Entsprechend gelangt Umberto Eco unter Berufung auf Lacan zu dem Schluß: »Der Spiegel ist ein Schwellenphänomen, das die Grenzen zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen markiert.« (Eco 2001, S. 27.)

4

Christiane Dahms spricht in diesem Zusammenhang von einer »Stabilisierungsfunktion des Spiegels«. Diese fange »das Gefühl der Fremdheit mit dem eigenen Bild auf, was jeden Blick in den Spiegel begleitet.« (Dahms 2012, S. 19.)

5

Sinyard führt dazu aus: »His constant inspection of himself in a mirror goes beyond narcissism: it seems to suggest a subconscious anxiety over identity, a sense of fragility, and possible fragmentation of identity.« (Sinyard 1991, S. 18.)

6

Peter Schulze: »Identität als Travestie und Maskerade. ›Performance‹ von Donald Cammell und Nicolas Roeg. Eine Annäherung an Nicolas Roeg«, in: Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann (Hg.), Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 (= Film-Konzepte; 3), S. 23-32; hier: S. 26.

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know who I am«, versichert er seinem Boß Harry Flowers, als dieser mit den Worten »Who do you think you are? The Lone Ranger?« dafür zurechtweisen will, daß er sich entgegen seiner Anweisungen in die Angelegenheit um Joey Maddox eingemischt habe. Wer er ist, daran läßt Chas keinen Zweifel: Als wenig später Maddox aus Rache gemeinsam mit zwei Freunden Chas’ Wohnung verwüstet und diesen verprügelt, zückt dieser eine Pistole und richtet sie auf Maddox. Kurz bevor er abdrückt, proklamiert Chas: »I am a bullet.« (Abb. 39) Abbildung 39: »I am a bullet.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Chas referiert damit nicht nur auf seine gewalttätige Profession. Die Pistole mit der herausschießenden Kugel hat vielmehr den Charakter einer phallischen Ejakulation, mit der sich Chas als Symbol der Männlichkeit identifiziert.1 Vermeintlich nichts scheint einen Zweifel an dieser dominanten Männlichkeit zu lassen, wie auch Stephen Farber hervorhebt: »For Chas masculinity has always been defined simply and clearly. The emphasis in the Playboy insignia, and a brief scene of one of the gangsters lifting weights in a gym imply the emphatic man’s world Chas moves in. Chas is the Playboy lover, cool, casual, aggressive […].«2

1

Zur Symbolik des Phallus vgl. Alexander Wöll: »Phallus«, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), Metzler-Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 277f.

2

Farber 1970, S. 19. – Wie in Abb. 22 zu sehen ist, sind in Chas’ Junggesellenwohnung diverse Gegenstände versammelt, die mit dem sogenannten »Playboy-Bunny« als Logo versehen sind, darunter eine Aftershave- bzw. Eau-de-Toilette-Flasche.

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Abbildung 40: »Who am I?«: Lucys verzerrte Selbstwahrnehmung

CASTAWAY (Nicolas Roeg, 1986)

Diese ausgeprägte Selbstsicherheit Chas’, sein unerschüterter »Glaube an die Zuverlässigkeit des Spiegels«,1 scheinen im diametralen Gegensatz zur Unsicherheit zu stehen, die viele andere Figuren in Roegs Filmen zum Ausdruck bringen – am vielleicht deutlichsten Lucy Irvine in CASTAWAY. Immer wieder sucht sie sich während ihres einjährigen Inselaufenthaltes in einem Spiegel ihrer selbst zu versichern, doch ist dieser Spiegel ein zersprungener und aus vielen einzelnen Scherben neu zusammengesetzter. Er versinnblidlicht damit einen Verlust von Halt und Orientie-

1

Dahms 2007, S. 19. – Ralf Konersmann, der den Spiegel als ein »Modell« auffaßt, »in dem die Subjektivität vorzüglich in Worte gefaßt wird«, verweist ebenfalls auf diese seine Bestätigungsfunktion: »Der Spiegel festigt Verhältnisse und verspricht damit ihre Handhabbarkeit.« (Ralf Konersmann: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 33; Herv. i.O.)

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rung.1 Damit einhergehend ist Lucys Selbstwahrnehmung eine verzerrte: Die Einstellungen wechseln zwischen dem Spiegelbild einer jungen, attraktiven Dame und jenem einer verbrauchten und ausgezehrten Frau (Abb. 40). Welches dieser Bilder ist das wahre? Welches ist Imagination und welches Realität? Handelt es sich um Lucys Einbildung, um die Visualisierung ihrer Ängste, wenn sie sich selbst als ausgemergelte Frau sieht? Oder hat das Jahr auf der Insel tatsächlich so an ihren Kräften gezerrt, und sie will dies beim Betrachten im Spiegel lediglich nicht wahrhaben? Die eigentliche Frage, die sich hinter dieser Selbstbespiegelung verbirgt und Lucy bewegt, ist die, ob sie noch als Frau gelten kann, die auf Männer anziehend wirkt. Für Lucy ist es letztlich also auch eine Frage ihrer sexuellen Identität.2 Doch auch im Falle von Chas ist die Frage der sexuellen Identität keinesfalls so eindeutig geklärt, wie dies zunächst erscheinen mag. Schon die erste Spiegelszene, in der sich Chas selbst betrachtet, während Dana an ihm Fellatio praktiziert, kann als früher Hinweis auf eine latente Homosexualität verstanden werden. Wie Freud darlegt, zeichnet sich die männliche Homosexualität durch eine »Tendenz zur narzißtischen Objektwahl« aus.3 Was in dieser Selbstbespiegelung noch subtil angelegt ist, wird explizit, wenn Maddox und seine Gehilfen, als sie Chas’ Appartement verwüsten, mit roter Farbe das Wort »poof« an die Wand malen, was sich wohl am besten mit ›Schwuchtel‹ übersetzen ließe.4 Deutlich wird damit im Wertesystem der

1

So hält Christiane Dahms mit Blick auf solche Arrangements allgemein fest: »Zerbrochene Spiegel und Spiegelarrangements sorgen für eine Potenzierung von Gegenständen und Räumen, für die es keine definiten Bezugspunkte mehr gibt.« (Ebd., S. 21.)

2

Es ist bezeichnend, daß diese Spiegelszene erfolgt, als sich mit Jason (Tony Rickards) und Rod (Todd Rippon) kurzzeitig zwei junge Männer auf der Insel aufhalten: Lucys Interesse für diese ist nicht zu übersehen, ja sie läßt sich während einer Wanderung durch die Berge der Insel von Rod gar dazu verführen, ihn zu küssen – ob mehr geschieht, bekommen wir nicht zu sehen, statt dessen ist auf der Audiospur Lucys Stimme zu vernehmen: »No. I’m married, I’m a married woman«. Salwolke stellt in diesem Zusammenhang über Lucys Befinden und ihre inneren Vorgänge fest: »She also worries about what she has become and wonders if she still has a sexual identity.« (Salwolke 1993, S. 134.)

3

Sigmund Freud: »Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität«, in: ders., Werke aus den Jahren 1917-1920. Unter Mitw. v. Marie Bonaparte hg. v. Anna Freud. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 1963 (= Gesammelte Werke Bd. 13), S. 193-207; hier: S. 206.

4

Dem Oxford English Dictionary zufolge ist ›poof‹ ein abwertender Slang-Ausdruck zur Bezeichnung eines »homosexual man; an affected or effeminate man« (Art. »poof«, in: Oxford English Dictionary. Third Edition [June 2010]. OED Online Version September 2013, http://www.oed.com/view/Entry/147702?isAdvanced=false&result=1&rskey=1mU EWn& [30.09.2013]).

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Gang von Harry Flowers Chas’ Männlichkeit in Frage gestellt.1 Die permanente Selbstbespiegelung zu Beginn des Films dient damit der Selbstvergewisserung des eigenen Männlichkeitsstatus.2 Abbildung 41: »Time for a change.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Es ist dieser Status, der dann im zweiten Teil des Films zunehmend hinterfragt und demontiert wird. Nachdem Chas von Pherber und Turner halluzinogene Pilze zu essen bekommen und seinen wohl ersten ›Trip‹ durchlebt hat, ist Turner der Meinung, es sei »time for a change«. Eine Einstellung, in der sich Pherber im Spiegel betrachtet geht über in das Spiegelbild Chas’, der von Pherber verkleidet wird: Sie setzt ihm eine Perücke auf, legt ihm einen Morgenrock an und schminkt ihm die Augenlider mit Eyeliner (Abb. 41). Und während Turner im Hintergrund die Geschichte des ›Alten vom Berge‹ vorliest, betrachtet sich Chas in mehreren Spiegeln. Kurze

1

Joseph Gomez führt die Möglichkeit einer homosexuellen Verbindung zwischen Chas und Joey Maddox ins Feld. Er betrachtet letzteren als »Chas’s demon, his childhood friend, and probable homosexual lover.« (Gomez 1977, S. 150.)

2

Grundsätzlich läßt sich von einer »kontextstiftenden Funktion« des Spiegels sprechen, welche »Orientierung, Gewißheit, Identität« schafft (Dahms 2012, S. 19). Dabei dienen die Spiegelszenen im ersten Teil von PERFORMANCE offensichtlich wesentlich der sexuellen Selbstvergewisserung Chas’ und deuten bereits auf deren Demontage im zweiten Teil des Films voraus. Es ist daher Scott Salwolke zu widersprechen, wenn er den Spiegelszenen im ersten Teil von PERFORMANCE zwar eine ästhetische, aber keine erzählerische Relevanz zugesteht (Salwolke 1993, S. 3).

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Zeit später liegt Pherber mit Chas im Bett.1 »Do you like my physique?«, fragt sie ihn und zeigt ihm ihre Brust. Doch sie will mehr von ihm wissen: »Did you never have a female feel?«, was Chas auf das Entschiedenste zurückweist: »No, never. I feel like a man. A man all the time.« Chas’ entrüstete Reaktion ist Ausdruck einer tiefen Verunsicherung, in die Pherber ihn wirft: »He is frightened of the sexual disorientation she is suggesting«, wie Stephen Farber treffend feststellt.2 Doch Pherber beharrt auf ihrem Standpunkt und führt Chas gegenüber Turner als Beispiel an: »He’s a man. Male and female. And he feels like me.«3 Während dieser gesamten ›Bettszene‹ spielt Pherber immer wieder mit einem Spiegel. Zunächst hält sie ihn so, daß er ihre Brust auf der von Chas widerspiegelt, dann führt sie ihn zu seinem Gesicht, so daß zur Hälfte seines, zur Hälfte ihres zu sehen ist, und schließlich hält sie sich den Spiegel so vor das Gesicht, daß Chas’ Anblick von ihrem Haar umrahmt wird (Abb. 42). Chas und Pherber scheinen damit im Spiegelbild zu einem Zwitterwesen zu verschmelzen.

1

Nachdrücklich hebt Neil Feineman die Bedeutung dieser ›Bettszene‹ innerhalb des Gesamtfilms hervor: »Pherber and Chas’s interaction in this scene is one of the most important and most lucid in the entire film.« (Feineman 1978, S. 44.)

2

Farber 1970, S. 19 – Ähnlich argumentiert Peter Schulze: »Die von Pherber und Turner verkörperte Auffassung von Identität als Performance bedeutet für Chas vor allem eine tiefe Verunsicherung in seiner Geschlechtlichkeit sowie den Verlust eines festen Selbstbildes.« (Schulze 2006, S. 32; Herv. i.O.)« – Im Verlauf ihres Gesprächs provoziert Pherber Chas immer wieder mit seiner vermeintlichen latenten Homosexualität. Auf ihr Gesäß verweisend, fragt sie ihn etwa: »Tell me, my Gluteus Maximus. Hmm? How does it feel like, huh? Wha…« Sie kann ihre Frage nicht zu Ende bringen, denn Chas fährt ihr dazwischen: »I said I’m not one of those.« Aber zwischen den Zeilen wird deutlich, daß sie über seine Erfahrungen mit Analsex (als passiver Partner?) mehr in Erfahrung bringen will. Chas’ Abwehrreaktion indes ist eindeutig: »You’re sick«, entrüstet er sich und entgegnet ihr: »You, you, you degenerate! You’re perverted!« – Zum Begriff der Krankheit als Abwehrreaktion gegen sexualmoralische Normverstöße vgl. Keyvan Sarkhosh: »›Sick, sick, sick‹? Pornography, Disgust, and the Limit Values of Aesthetics«, in: Paul Ferstl/ders. (Hg.), Quote, Double Quote. Aesthetics between High and Popular Culture. Amsterdam/New York: Rodopi 2014 (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft; 171), S. 99-120.

3

Diese Abwehrreaktion Chas’ ebenso wie Pherbers Provokation decken sich mit Roegs grundsätzlicher Auffassung über Rollenspiele und Geschlechterbilder: »[…] I do think that there’s a tremendous difference between male and female actors, apart from the obvious ones. […] Men are very cautious, much more cautious about their ›image‹ than women – there’s masculine fears of being thought weak and emasculated – they’re very careful about those parts. Women are much more daring.« (Roeg 2013, S. 121.)

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Abbildung 42: »Did you never have a female feel?«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Deutlicher noch als im ersten Teil des Films kommt hier dem Spiegel eine wesentliche Rolle bei der Auflösung einer eindeutigen (sexuellen) Identität zu, an deren Stelle ein fragmentiertes Bild tritt. So hebt auch Peter Schulze hervor: »Mit einem Spiegel – den Pherber der rein mimetischen Funktion enthebt, um diesen zur Fragmentierung und Montage von Körperteilen zu verwenden – löst sie die klaren Trennlinien zwischen den Geschlechtern auf.«1

1

Schulze 2006, S. 28. – Die Auflösung fester sozialer und Geschlechterrollen, einhergehend mit der Relevanz des Spiegelmotivs in der zweiten Hälfte von PERFORMANCE, diagnostiziert auch Philip French: »In the first part of the film, characters are always looking into mirrors narcissistically, their sexual aberrations are viewed as departures from a prescribed norm, they are plagued with guilt, if only of a kind imposed upon them

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Die Auflösung der Geschlechtertrennlinien, die sexuelle Ambivalenz und die Erschütterung einer vermeintlich gefestigten Identität gehören zu den Konstanten im filmischen Œuvre Roegs. Es ist dies ein Punkt, den auch Joseph Lanza mit Nachdruck betont: »Many of Roeg’s identity struggles can be reduced to a sexual combat between masculine forces that impose distinctions and feminine powers that erode them. This often involves androgynous character formations wherein the male, sometimes resisting till the bitter end, appropriates female characteristics.«1

Für das Unscharfwerden der Geschlechtergrenzen haben sich, so Remigius Bunia, seit der Antike insbesondere zwei Konzepte behauptet: der Androgyn und der Hermaphrodit.2 Während Chas und Pherber mittels des Spiegels zu einem Hermaphroditen zu verschmelzen scheinen, stellt Turner die Verkörperung eines androgynen Prinzips dar. »Male and female« ist er Pherber zufolge zugleich. Und sein Aussehen scheint dies an vielen Stellen des Films zu bestätigen: Mit seinen langen und lockigen schwarzen Haaren und den vollen, lippenstiftgeschminkten Lippen wirkt der Rockstar geradezu feminin (Abb. 43, oben). Foster Hirsch bringt es auf den Punkt: »Turner, who paints his lips red, is a man-woman.«3

by Cammell and Roeg. In the second part, Turner and his androgynous seraglio use mirrors and cameras to probe beyond, to question the surface of reality; they have abandoned the notion of fixed sexual and social roles.« (French 1971, S. 68.) 1

Lanza 1989, S. 136. – Daß die Frage der Identität bei Roeg im besonderen Maße eine sexuelle Komponente beinhaltet, unterstreicht auch Foster Hirsch, der mit Blick auf das konkrete Beispiel von PERFORMANCE festhält: »[…] the film’s obsessive concern with identity is articulated primarily in terms of sexual identity.« (Hirsch 1971, S. 6; Herv. i.O.)

2

Remigius Bunia: »Die Natur der Androgynie. Grimmelshausen, Goethe und Meinecke im Raster von Natur und Kultur«, in: KulturPoetik 8 (2008), Nr. 2, S. 153-169; hier: S. 154. – Zum Bedeutungsspektrum der Androgynie als literarischem Symbol vgl. auch AlmutBarbara Renger: »Androgynie«, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), Metzler-Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 18-20.

3

Hirsch 1971, S. 6. – Wie Adrian Danks hervorhebt, ist diese Ambivalenz wesentlich der »instability of Jagger’s image – particularly its androgyny« – geschuldet (Danks 2001, a.a.O.). Auch Roger Greenspun führt die Androgynie Turners letztlich auf eine gleiche Veranlagung im Schauspieler zurück, wenn er konstatiert: »Mick Jagger, with luxurious black hair and full red lips that suggest an androgynous pre-Raphaelite beauty […].« (Roger Greenspun: »Screen: ›Performance‹. Jagger and Fox Shape Tone of the Action«, in: The New York Times, 04.08.1970, S. 21.) Gleiches kann man – womöglich mit noch

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Abbildung 43: »He’s a man. Male and female.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Auf die Spitze getrieben wird die Uneindeutigkeit des Geschlechtlichen, wenn Chas im Bett erwacht und Turner neben sich findet: Turner dreht sich zu ihm und küßt ihn, doch als der Kuß vorüber ist, ist es Lucy, die Chas in seinen Armen hält. Auch Lucy kann dabei durchaus als Beispiel für eine androgyne Gestalt herhalten. »You’re a funny little frog. You’ve got small titties, eh?«, kommentiert Chas ihr Aussehen, nachdem sie Sex miteinander hatten, und hakt nach: »Bit underdevel-

mehr Recht – auch von David Bowie in der Rolle von Thomes Jerome Newton in THE MAN WHO FELL TO EARTH, einem weiteren Androgyn in Roegs Filmen, behaupten. So erkennt Richard Eder in einer zeitgenössischen Besprechung des Films an: »Mr. Roeg has chosen the garish, translucent, androgynous-mannered rock-star, David Bowie, for his space visitor. The choice is inspired.« (Eder 1976, a.a.O.)

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oped?«, was Lucy ebenso wie die erste Nachfrage bejaht, wenngleich sie hinzufügt: »What does that mean?« Chas erklärt es ihr: »You’re very skinny. Like a little boy or something.« Komplementär zur Knabenhaftigkeit der jungen, wenngleich vollständig entwickelten Frau mit der Kurzhaarfrisur, für die Chas gegen Ende des Films zarte Gefühle entwickelt, erscheint die Maskerade von Lorraine (Laraine Wickens), der Tochter von Turners Haushälterin. Als Chas zum ersten Mal auf sie trifft, trägt das kleine Mädchen einen falschen Schnurrbart, ganz so, als wolle sie eine ausgereifte Maskulinität zur Schau stellen (Abb. 43, unten).1 Abbildung 44: ›Un ballo in maschera‹ (1987)

ARIA (Robert Altman/Jean-Luc Godard/Nicolas Roeg u.a., 1987)

Einen falschen Schnurrbart trägt auch Theresa Russell in »Un ballo in maschera«, Roegs Beitrag zum Kompilationsfilm ARIA (1987), in welchem zehn Regisseure jeweils eine Opernarie zu einer Episode adaptiert haben. Vor dem musikalischen Hintergrund von Giuseppe Verdis Oper (1859) erzählt Roegs Beitrag frei nach dem Originallibretto die Geschichte eines versuchten Attentats auf König Zog von Albanien vor der Wiener Staatsoper im Jahr 1931, bei welchem der Monarch kurzerhand das Feuer erwiderte. Russell spielt in dieser Episode nicht nur eine junge Frau, die zu Beginn und am Ende durch die Wiener Hofburg wandelt – sich dabei in einer Spiegelwand betrachtend – (es bleibt unklar, ob die dadurch gerahmten Darstellungen ein Produkt ihrer Phantasie sein sollen), sondern auch eben jenen wehrhaften Monarchen, der das Attentat überlebte (Abb. 44). Diese auf den ersten Blick viel-

1

Auch für Schott Salwolke ist dies einmal mehr ein Beispiel für eine Transformation von Geschlechteridentität. Daß Lorraine einen falschen Schnurrbart trägt, beweise, »that even the child’s sexual identity is modified.« (Salwolke 1993, S. 9.)

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leicht ungewöhnliche Besetzung kann als ein weiteres Beispiel für das hermaphroditische Verwischen der Geschlechteridentitäten bei Roeg gewertet werden.1 Abbildung 45: »Suppose something happened. Suppose he tried to…«

WALKABOUT (Nicolas Roeg, 1971)

Gleichwohl muß die sexuelle Bedrohung, die eine Identität in Frage zu stellen scheint, nicht immer von einem Verschwimmen der Geschlechtergrenzen ausgehen. Im Fall von WALKABOUT sind es vielmehr sprachliche und kulturelle Barrieren, die

1

Es zeugt schon von reichlich Unvertrautheit mit den bei Roeg regelmäßig wiederkehrenden Themen und Motiven, wenn sich Janet Maslin in einer Besprechung wundert: »Nicolas Roeg, for reasons that are quite obscure, casts his wife, Teresa Russell, as King Zog of Albania and has her wear a mustache.« (Janet Maslin: »Directors’ Daydreams Become the Stuff of Opera«, in: The New York Times, 21.05.1988, http://movies.nytimes.com/ movie/review?res=940DE5DC1339F932A15756C0A96E948260 [30.09.2013].)

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das Mädchen erschrecken lassen, als der Aborigine um ihre Liebe wirbt, nachdem er sie und ihren Bruder an der Rand der Zivilisation geführt hat. Nur halb ausgesprochen steht ihre Angst im Raum, vergewaltigt zu werden, als sie ihrem jüngeren Bruder erklärt, sie wolle fortan ohne den Aborigine weiterziehen: »Suppose he wanted to do something or something happened. Suppose he tried to… Suppose he went off and left us.« Der Entscheidung des weißen Mädchens und dem Werbetanz des schwarzen Jungen vorangegangen ist freilich ein Gespräch zwischen beiden: wenngleich die Worte des Aborigine uns verschlossen bleiben, so scheint es doch, daß er hier dem Mädchen seine Liebe zu ihr zu offenbaren versucht. In das Zwiegespräch einmontiert ist die Einstellung einer auf dem Boden liegenden Spiegelscherbe, in der das Sonnenlicht reflektiert und prismatisch aufgespalten wird1 und den Aborigine blendet (Abb. 45).2 Symbolisiert dies sein Verkennen der Situation? Eine solche prismatische Aufspaltung, in der ein vermeintlich Einheitliches in seine unterschiedlichen Bestandteile zerlegt wird, zeichnet nahezu alle Spiegelszenen bei Roeg aus. Dies gilt für das Bild Lauras in DON’T LOOK NOW, das in den Flügelspiegeln der Damentoilette in Einzelbilder fragmentiert wird, ebenso wie für das Bild mehrfacher Spiegelung, wenn Newton in THE MAN WHO FELL TO EARTH im Badezimmer seines Hauses am See erst seine Kontaktlinsen herausnimmt (Abb. 46) und sich dann seiner menschlichen Verkleidung entledigt, um sein wahres Antlitz preiszugeben. In letzter Konsequenz ist es nicht weit von einer solchen prismatischen Aufspaltung, von einer solchen Fragilität des Ichs, die die Figuren verunsichert und in Angst versetzt, hin zu Zuständen der Paranoia und Schizophrenie, wie sie auf Linda in TRACK 29 zutreffen mögen: Wenn sie sich zu Beginn des Films im Spiegel selbst betrachtet, so kann dies als Vorwegnahme ihres geistigen Zustandes betrachtet werden, der sich dem Zuschauer nur sukzessive erschließt. »Die Verdopplung ihres

1

Auf einen Zusammenhang von prismatischer Lichtaufspaltung und Spiegel verweist auch Umberto Eco: »Ein partielles Spiegelungsphänomen ist der Regenbogen, wenn auch vermischt mit Phänomenen der Brechung und Streuung des Sonnenlichts, das winzige Wassertröpfchen in den niederen Schichten der Atmosphäre durchquert.« (Eco 2001, S. 53.)

2

Gleichsam als Omen einer scheiternden Beziehung fungiert der Spiegel zu Beginn von COLD HEAVEN. Während der Titelsequenz sind Hochzeitsbilder von Alex und Marie Davenport sowie von Anna (Julie Carmen) und Daniel Corvin zu sehen. Wie sich rasch herausstellt, hat Marie mit letzterem eine Affäre. In den ersten Minuten des Films folgt sodann eine Szene, in der Alex und Marie vor einem Spiegel stehen, »their pose resembling that of their respective wedding photographs«, wie Scott Salwolke meint, und hinzufügt: »but as always with Roeg, the characters must confront themselves in the reflection.« (Salwolke 1993, S. 189.)

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Antlitzes im Spiegelbild kündigt auf subtile Weise bereits die Spaltung der eigenen Persönlichkeit und den Wahn an, dem die Frau verfällt«, so Manuel Koch.1 Abbildung 46: Thomas Jerome Newton

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

Doch noch vor solchen pathologischen Zuständen stellt Roeg mit seinen Figurenkonzeptionen grundsätzlich einen monolithischen Begriff des Individuums in Frage. »Das Ich-Gefühl ist eine Täuschung, ist aber keine Lüge«, lautete eine Formulierung Fritz Mauthners, der dem »subjektiven Ich« etwas gegenübergestellt wissen will: »etwas Objektives«, wie er sagt und das er »in den Einheiten, die man Individuen nennt«, verortet.2 Es ist dieser Antagonismus eines doppelten Ichs, der für die Figuren im Roegschen Universum konstitutiv ist. »JE est un autre.«3 Dieser Ausspruch Arthur Rimbauds in einem Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871 erscheint geradezu wie das Motto für Roegs Figurenkonzeption, die in der Tat sehr deutlich einer Fin-de-siècle-Atmosphäre verpflichtet ist – das dekadente Setting

1

Koch 2006, S. 91. – Ein labiler geistiger Zustand scheint auch für eine andere von Russell verkörperte Figur kennzeichnend: Milena in BAD TIMING. »Milena displays an absence of coherent and stable identity. She oscillates between extremes«, wie es Toni Ross formuliert (Ross 1995, S. 200). Ganz ähnlich argumentiert Gerrit Oliver: »Paradoxical as it may seem, Milena’s identity has been her difference, her playful, kaleidoscopic variegatedness which reveals itself throughout in her manifold hairstyles, clothes, and the actions which she performs.« (Gerrit Olivier: »Identity and Difference in Nicolas Roeg’s ›Bad Timing‹«, in: Standpunte 172 [1984], Nr. 4, S. 26-33; hier: S. 30f.)

2

Fritz Mauthner: »Individualismus«, in: ders., Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band. Zürich: Diogenes 1980, S. 552f.; hier: S. 552 (Herv. i.O.).

3

Arthur Rimbaud: Correspondance inédite (1870-1875). Précédée d’une introduction de Roger Gilbert-Lecomte. Paris: Cahiers Libres 1929, S. 49-61; hier: S. 51 (Herv i.O.).

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von Turners Haus in PERFORMANCE bezeugt dieses ›Erbe‹ mindestens ebensosehr wie die Rekurrenzen auf Gustav Klimt und Egon Schiele in BAD TIMING. Kurz und gut: Roegs Figuren sind ›Doppel-Ichs‹ im Mauthnerschen Sinne. Der Begriff des ›Doppel-Ichs‹ bezeichnet nach Mauthner den »Gegensatz von Individuum, also ein Dividuum: einen Menschen mit zwei Köpfen, siamesische Zwillinge.«1 Als literarisches Symbol wiederum stellen Zwillinge ebenso wie Doppelgänger die Verkörperung »der Identitätskrise, der Ich-Spaltung, des Verlusts der Selbsttransparenz und der Selbstkontrolle« dar.2 Wie auch das Spiegelbild symbolisiert der Doppelgänger die Spaltung eines Ichs, das in der Spaltung ein unvollständiges ist.3 So wundert es kaum, daß neben Spiegeln Doppelgänger zu den kardinalen Symbolen in Roegs Filmen zählen, wenn es um die Verfaßtheit der Figuren geht.4

1

Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und Psychologie. 3. Aufl. Stuttgart/Berlin: Cotta Nachf. 1921, S. 666.

2

Monika Schmitz-Emans: »Zwillinge/Doppelgänger«, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), Metzler-Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 441f.; hier: S. 441 (Herv. i.O.). Auch Chava Eva Schwarcz weist darauf hin, daß »zur Motivkonstanz des Doppelgängers […] die Identitätsproblematik« gehört (Chava Eva Schwarcz: »Der Doppelgänger in der Literatur. Spiegelung, Gegensatz, Ergänzung«, in: Ingrid Fichtner [Hg.], Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern u.a.: Haupt 1999 [= Facetten der Literatur; 7], S. 1-14; hier: S. 7.)

3

Das Konzept des Doppelgängers als ein unvollständiges Ich wird beispielsweise von Clifford Hallam propagiert, der dazu ausführt: »[…] the Double, insofar as it is understood as a psychological phenomenon, represents the lost, hidden, or denied aspect of the personality which we shall call the ›Incomplete Self‹.« (Clifford Hallam: »The Double as Incomplete Self. Definition of Doppelgänger«, in: Eugene J. Crook [Hg.], Fearful Symmetry. Doubles and Doubling in Literature and Film. Papers from the Fifth Annual Florida State University Conference on Literature and Film. Tallahassee, FL: Univ. Press of Florida 1981, S. 1-31; hier: S. 18f.) – Vgl. auch Dahms 2012, S. 218.

4

»Sieht der Blick in den Spiegel einen ›Doppelgänger‹?«, fragt Hans-Hagen Hildebrandt (Hans-Hagen Hildebrandt: »Das geschriebene Ich oder: Wer ist wer im Spiegel?«, in: Ingrid Fichtner [Hg.], Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern u.a.: Haupt 1999 [= Facetten der Literatur; 7], S. 218-243; hier: S. 221). Tatsächlich stehen Spiegel und Doppelgänger in einem engen Zusammenhang, auch und mindestens aus mathematischer Sicht. Im Sinne der Elementargeometrie erzeugt eine Spiegelung von einem Objekt »seinen gespiegelten Doppelgänger« (Lew Tarassow: Symmetrie, Symmetrie! Strukturprinzipien in Natur und Technik. Übers. v. Rolf Rudolph. Heidelberg: Spektrum 1999, S. 25; Herv. i.O.). Dabei ist es die Spiegelsymmetrie, die im metaphorischen Sinne eine ›Ich-Spaltung‹ darstellt, und zwar insofern, als hier die Spiegelachse ein Objekt in

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Abbildung 47: Fatale Begegnung mit dem Doppelgänger

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

Schon in PERFORMANCE gleicht die Grundkonstellation einem Aufeinandertreffen von Doppelgängern: Chas und Turner. Sie wird im nächsten Abschnitt noch ausführlicher behandelt.1 In WALKABOUT wird während ihrer gemeinsamen Wanderschaft der Junge immer mehr zu einer Art Doppelgänger des Aborigines, wie Neil

gleichsam zwei Hälften ›teilt‹. So lautet die elementargeometrische Definition für Spiegelsymmetrie: »Wenn die eine Hälfte eines Objekts das Spiegelbild der anderen Hälfte ist, heißt ein solches Objekt spiegelsymmetrisch. Es geht bei einer Spiegelung in sich selbst über; die Spiegelebene ist eine sogenannte Symmetrieebene.« (Ebd., S. 27; Herv. i.O.) 1

Unter Berufung auf Roeg selbst hebt auch Peter Wollen diese DoppelgängerKonstellation in PERFORMANCE hervor: »As Roeg put it, ›Turner is like a man who meets a mirror of himself.‹« (Wollen 1995, S. 23.)

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Feineman betont: »[…] in the following days, he will delightedly imitate the aborigine’s movements and dress, will learn the aborigine’s language, and will adapt to the aborigine’s environment.«1 Das Mädchen dagegen erscheint als Doppelgängerin ihrer Mutter, nicht nur, wenn sie am Ende des Films deren Rolle eingenommen hat, sondern auch schon zu Beginn des Films, wenn sie in der Wüste das Picknick ausbreitet, kurz vor dem Selbstmord des Vaters: »By setting out the food the mother has prepared, the girl is already assuming her role«, so Scott Salwolke.2 Im wahrsten Sinne des Wortes wie ein roter Faden zieht sich das Spiel mit Doubles und Doppelgängern durch DON’T LOOK NOW3 und kulminiert in der fatalen Begegnung Johns mit der Zwergenfrau im roten Regenmantel, in der er seine verstorbene Tochter wiederzuerkennen meint (Abb. 47). Zentral wird das Doppelgängerspiel dann in BAD TIMING. Hier sind es Alex Linden und Friedrich Netusil, die sich gleich kleiden, in der gleichen Manier rauchen und am Ende sogar ihre Rollen zu tauschen scheinen.4 Diese Parallelität der beiden Figuren wird von Roeg selbst bestätigt: »Keitel and Garfunkel in the film are really aspects of the same character. Keitel’s a kind of alter ego. They’re both watchers and analysts – men who want everything to be tidy, obedient, pliant to their wills.«5 Diese Auffassung scheinen schon die Figuren selbst zu teilen. »I have the feeling we’re talking about you and not me«, entgegent Alex Netusil, als dieser Mutmaßungen über dessen Verhältnis zu Milena anstellt, woraufhin der Kommissar konstatiert: »We are not unalike.« Während Netusil versucht, ein Geständnis aus Alex herauszulocken, daß dieser Milena in ihrem komatösen Zustand vergewaltigt hat, rückt er dem Verdächtigen immer näher (Abb. 48). »The systematic doubling of Linden/Netusil reaches its culmination in this scene«, so die korrekte Diagnose Stuart Cunninghams.6

1

Feineman 1978, S. 64.

2

Salwolke 1993, S. 22.

3

In diesem Sinne konstatiert auch Mark Sanderson: »The idea of ›duplicates‹ – whether slides, toys or doppelgangers – is played throughout the film.« (Sanderson 196, S. 42.)

4

Vgl. Lanza 1989, S. 131f. – Lanza ist der Meinung, daß es am Ende Alex ist, der Milenas Geschichte investigativ zu untersuchen sucht, während Netusil, der Kommissar, in die Rolle eines Psychoanalytikers schlüpft (vgl. ebd.).

5

Kennedy 1980, S. 25. – Im Gespräch mit Glenys Roberts wird Roeg dann noch expliziter, wenn er von »Friedrich Netusil, the Keitel character, who is really a kind of Doppelganger of Dr. Alex Linden«, spricht (Roberts 1980, S. 9; Herv. i.O.).

6

Cunningham 1982, S. 108.

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Abbildung 48: »We are not unalike.«

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980)

Doch auch schon zuvor weisen Analogien und Wiederholungen auf eine etwaige Verbindung zwischen den beiden Männern hin und lassen sie als Doubles erscheinen. Tom Milne stellt dazu fest: »The first parallel made between them in fact suggests a divergence: in his apartment, Alex is carefully hanging a framed print on his wall, while in the next shot, in his apartment, Netusil is carefully removing an identical print from the wall and putting it away in a drawer.«1 Eingedenk all dessen mag es gut möglich sein, daß Netusil, wenn er sich am Ende des Films in einem Spiegel betrachtet, seine Doppelgänger-Beziehung mit Alex Linden reflektiert, wie Neil Sinyard mutmaßt.2 Dagegen erscheint Stefan Vognic, Milenas deutlich älterer tschechoslowakischer Ehemann, als das Gegenstück zu Alex; er ist seine negative Spiegelung.3 Mehr noch als in BAD TIMING wird in EUREKA »the idea of the double« zu einem grundlegenden narrativen Konstruktionsprinzip, wie Neil Sinyard betont: »Each character seems a reflection of another.«4 Am deutlichsten tritt dies im Verhältnis von Jack McCann zu seiner Tochter Tracy zutage (Abb. 49). Tom Milne unterstreicht ihren Doppelgängerstatus, der vor allem einer inneren Disposition geschuldet ist: »Jack McCann’s daughter so closely resembles him that she might be

1

Tom Milne: »Bad Timing«, in: Monthly Film Bulletin 47 (1987), Nr. 552/563, S. 43f.; hier: S. 43 (Herv. i.O.).

2 3

Vgl. Sinyard 1991, S. 78. Auf diese Konstellation verweist bereits Tom Milne und führt dazu aus: »Standing on one side of the mirror, Alex demonstrates how the passion aroused in him by the mystery of Milena falls short of love when it aspires to total understanding; while on the other side, his reflection, Stefan, shows how the love born of an understanding that mysteries must be accepted falls sadly short of passion.« (Milne 1987, S. 43.)

4

Sinyard 1991, S. 83.

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him. She has every aspect that is his, almost nothing of her mother. […] They don’t resemble each other in a physical sense, but they act and think alike. At root they belong together.«1 Abbildung 49: »Look at yourself!«

EUREKA (Nicolas Roeg, 1983)

Wieder ist es der Regisseur selbst, der diesen Doppelgängerstatus bestätigt und dabei hervorhebt, daß ein solcher auch zwischen zwei Figuren unterschiedlichen Geschlechts möglich sei: »It doesn’t matter what shell you come out of, whether it’s male or female, there is some thread in there; which is why Tracy to me is Jack McCann. The deep thread, the link is there…«2 Doch auch das Verhältnis zwischen McCann und Mayakofsky (Joe Pesci), einem geldgierigen Gauner, der auf Jacks Insel ein Glücksspielparadies einrichten will und, als sich dieser dem verweigert, nach dessen Leben trachtet, gleicht dem von Doppelgängern.3 Dem äußeren Auftreten nach ist es aber vor allem Claude, der am Ende zu Jacks Doppelgänger wird: »Standing in the hallway, dressed in clothes that make him resemble Jack, Claude

1 2

Tom Milne: »Eureka«, in: Sight and Sound 51 (1982), Nr. 4, S. 280-285; hier: S. 283. »Nicolas Roeg. Interview by Neil Norman«, in: The Face. The World’s Best Dressed Magazine 38 (June 1983), S. 61-64 [Norman 1983]; hier: S. 62 (Herv. i.O.).

3

Diese Auffassung vertritt auch Richard Combs: »The link between the miner and the mafioso, the prospector and the exploiter, suggests another form of the Roeg double, the Doppelgänger who has turned up in more explicitly psychological guise in PERFORMANCE

and BAD TIMING.« (Richard Combs: »A Miner and His Daughter«, in: Sight and

Sound 52 [1983], Nr. 2, S. 134-136 [Combs 1983a]; hier: S. 136.) – Neil Sinyard sieht in McCann und Mayakofsky in gewisser Weise Spiegelbilder (Sinyard 1991, S. 83).

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has become him«, wie Salwolke anmerkt und ergänzt: »Tracy may have inherited Jack’s soul, but Claude has become his double.«1 Das Spiel mit Doppelgängern begegnet uns auch in INSIGNIFICANCE, wenn sich der Senator eine Prostituierte (Desirée Erasmus) auf das Zimmer kommen läßt, die der Schauspielerin zum Verwechseln ähnlich sieht (später hält er diese selbst für eine solche). Und Scott Salwolke macht darauf aufmerksam, daß in COLD HEAVEN Marie in Sister Martha (Talia Shire) ein Double findet,2 während Monsignor Cassidy (Richard Bradford) und Daniel Corvin (James Russo) zu einer Person zu verschmelzen scheinen.3 In der Summe kann man also durchaus Joseph Lanza beipflichten, der festhält: »Roeg never creates a single character. There are instead character clusters which often appear as Doppelgängers, mirror images or foils.«4 Das Bild des Doppelgängers dient damit bei Roeg als Ausdruck einer grundsätzlichen menschlichen Gespaltenheit, einer Fragilität und Fragmentarität, die die Konstitution seiner Figuren prägt. Umso mehr verwundert es, daß Roeg in HEART OF DARKNESS (1993) das Doppelgänger-Motiv aus der literarischen Vorlage von Joseph Conrad nicht aufgegriffen und ausgearbeitet hat.5 »Critics often note the theme of the Doppelgänger in the novella«, gibt Seymour Chatman zu bedenken, und fügt hinzu: »Marlow is fascinated by Kurtz even before he meets him, and so is already prone to contagion.«6 Chatman weist darauf hin, daß es eher wieder sexuelle Ambi-

1

Salwolke 1993, S. 106. – Auch Tom Milne sieht in dieser abschließenden Spiegelszene die Realisierung eines Doppelgängertums: »[…] Roeg’s favourite theme of the double, of a man being confronted with his demonic alter ego, is very much in evidence in the image, which virtually ends the film, of Claude coming face to face with his own reflection in a mirror and despairingly muttering, ›I knew it would be you‹.« (Tom Milne: »Eureka«, in: Monthly Film Bulletin 50 [1983], Nr. 588/599, S. 115f.; hier: S. 115.)

2

Vgl. Salwolke 1993, S. 193.

3

Vgl. ebd., S. 196.

4

Lanza 1989, S. 130 (Herv. i.O.). – Zu den zahlreichen Doppelgängern in Roegs Filmen zählt Lanza auch Newton und Bryce in THE MAN WHO FELL TO EARTH, die ihm zufolge eine Art Christus-Judas-Beziehung führen (ebd., S. 131).

5

Schließlich ist es doch gerade der Film – »das Auge der Kamera« –, der Michael Niehaus »das adäquate Medium zu sein [scheint], um den Doppelgänger selbst zu zeigen, um das Subjekt und seinen Doppelgänger zugleich einzufangen.« (Michael Niehaus: »Der Doppelgänger als Figur der Enthüllung«, in: Ingrid Fichtner [Hg.], Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern u.a.: Haupt 1999 [= Facetten der Literatur; 7], S. 59-76; hier: S. 75.)

6

Seymour Chatman: »2½ Film Versions of ›Heart of Darkness‹«, in: Gene M. Moore (Hg.), Conrad on Film. Cambridge/New York/Melbourne: Cambridge Univ. Press 1997, S. 207-223; hier: S. 218. – Auf die Doppelgänger-Thematik in Conrads Roman kommt

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valenzen und eine zumindest latente homoerotische Tendenz im Verhältnis von Marlow zum schwarzen Steuermann Mfumu sind, denen Roegs Interesse in diesem TV-Film gelten.1 Freilich ist dies auch nur eine Rückkehr zu einem thematischen Schwerpunkt, der schon für PERFORMANCE relevant war. In welcher konkreten Ausformung auch immer, es ist stets das Konzept einer Fragmentierung und Destabilisierung einer vermeintlich gefestigten Identität, das für die Figurengestaltung in Roegs Filmen nahezu ausnahmslos bestimmend ist. Nicht zuletzt hier zeigt sich, wie sehr Roeg mit seinen Filmen vom Muster und den Konventionen eines vermeintlich realistischen, ›klassischen‹ filmischen Erzählens abweicht. Roeg bietet uns eben keine stabilen, nachvollziehbaren Figuren. b) Bergman, Borges, Nabokov – oder: »…our will to master reality« Spiegel und Doppelgänger – das ist in den vorausgegangen Ausführungen bereits deutlich geworden – stehen in einem intrinsischen Zusammenhang. Schon im mathematischen, elementargeometrischen Sinne produziert jede Spiegelung einen Doppelgänger. »Gewöhnlich glaubt man, daß das Spiegelbild eine genaue Kopie des Objektes selbst sei«, wie Lew Tarassow festhält.2 Doch dies ist nur die halbe Wahrheit, denn: »Der Spiegel kopiert nicht einfach das Objekt, sondern vertauscht die Plätze seiner im Vorder- beziehungsweise Hintergrund befindlichen Teile.«3 Das Spiegelbild ist also niemals eine bloße Kopie des Originals, Objekt A und seine Spiegelung A' sind niemals identisch. Statt dessen markiert und produziert jede Spiegelung eine Differenz bzw. Divergenz.4 So verstanden ist der Spiegel nicht das Medium einer Spaltung, sondern das einer variierenden Vervielfältigung. Wenn

auch Clifford Hallam zu sprechen, der darauf hinweist, daß Marlow Kurtz nicht kenne und keine Gemeinsamkeiten mit ihm aufweise, dessenungeachtet aber eine zunehmende Faszination für den Mann, den er ausfindig machen soll, entwickelt: »[…] the object of that obsession, Mr. Kurtz, is Marlow’s Double, his Incomplete Self.« (Hallam 1981, S. 20.) 1

»Roeg apparently was not attracted by the theme of doubleness«, so Chatman in seinem Vergleich unterschiedlicher Filmadaptationen von Conrads Heart of Darkness. »Nothing in Tim Roth’s performance suggests an affinity with Kurtz, although Marlow does develop a friendly regard for Mfumu, the handsome helmsman.« (Ebd., S. 219.)

2

Tarassow 1999, S. 25.

3

Ebd.

4

Auch Tarassow hebt hervor, »daß ein Gegenstand und sein gespiegelter Doppelgänger trotz ihrer Ähnlichkeit verschiedene, sich nicht deckende Gebilde sein können.« (Ebd., S. 27; Herv. i.O.)

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Claude am Ende von EUREKA vor den Spiegel tritt, dann mag er vielleicht nach wie vor keine identische Kopie von Jack McCann sein – und doch ist er in gewisser Weise zu Jack McCann geworden. Die Differenzen und Divergenzen, wie sie sich in der einen Doppelgänger produzierenden Spiegelung manifestieren, sind es, die einen Übergang von Eigenschaften überhaupt erst ermöglichen. Der Mangel an Kohärenz und Stabilität, der für die Roegschen Figuren kennzeichnend ist, läßt sie anfällig werden für die Aufnahme anderer Identitätsmerkmale. Die Transformation von Identitäten ist demgemäß auch eine der herausragenden thematischen Konstanten im Œuvre Roegs, und wieder einmal tritt dies bereits in Roegs erstem Film PERFORMANCE augenscheinlich zutage: alles in diesem Film dreht sich um das Thema der Transformation und Übertragung von Identitäten.1 Spiegelung, Doppelgängertum und Transformation sind indes nicht nur kardinale Motive, sie beschreiben zugleich die Verfahren, wie Roegs Filme konstruiert sind und wie sie erzählen – und zwar mit Blick auf die zahlreichen intertextuellen Bezüge im Kontext eben dieser thematischen Trias. Wiederum am Beispiel von PERFORMANCE zeigt sich, wie und welchen Vorbildern Roeg verpflichtet ist; vor allem aber, wie er sie nicht bloß kopiert, sondern spiegelnd verdoppelt, variiert – eine Spiegelung, die freilich nicht immer Beifall findet. So macht etwa John Simon in seiner Besprechung von PERFORMANCE aus seiner Verachtung für den Film keinen Hehl, in dem er ein unwürdiges Plagiat eines anderen Films zu erkennen vermeint: »Here, this indescribably sleazy, self-indulgent and meretricious film – written and codirected by Donald Cammell, whose name does not deserve to live even in ignominy – dares to plagiarize and subvert one of the profoundest films of all time, Ingmar Bergman’s PERSONA:

the faces of Fox and Jagger melt together and, thenceforth, the two perform toward,

against, and into each other.«2

1

Ein ähnliches Resümee, das ebenfalls die Spiegel- und Doppelgängermotive sowie das Spiel mit unklaren Identitätsgrenzen und Transformationen herausstreicht, findet sich bei Adrian Danks: »PERFORMANCE is a film where everything has its mirror image or double, where appearances can be both deceiving and fleeting, and where it is uncertain where the boundaries of character and actor lie. Thus, PERFORMANCE utilises the instability of Jagger’s image – particularly its androgyny – to reinforce its ideas of dissolution, archetype and the chimerical nature of identity.« (Adrian Danks: »›What’s Been Puzzling You is the Nature of My Game‹. Performance«, in: Senses of Cinema 14 [2001], http://senses-ofcinema.com/2001/cteq/performance/ [30.09.2013].)

2

Simon 1970, S. D5.

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Abbildung 50: Verschmelzende Gesichter

PERSONA (Ingmar Bergman, 1966)

Simon bezieht sich hier auf jene Szene in Ingmar Bergmans PERSONA (1966), in der die Krankenschwester Alma (Bibi Anderson) der Patientin Elisabeth Vogler (Liv Ullmann) deren eigene Lebensgeschichte rekapituliert und ihr mangelnde Liebe zu ihrem Sohn vorwirft. Schließlich war es eine ungewollte Schwangerschaft, die Elisabeth abzubrechen in Erwägung gezogen hatte. Die Einstellung schließt mit den Gesichtern der beiden Frauen in teilweiser Überschneidung, so daß diese zu verschmelzen scheinen (Abb. 50). Nicht nur ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen sind Themen, die auch bei Roeg immer wieder angerissen werden (und auf die in III 3) a) noch näher eingegangen wird). Eine solche Engführung von Gesichtern à la Bergman, die zu verschmelzen oder sich zumindest zu spiegeln scheinen, ist in ein mehrfach wiederkehrendes Bildmotiv in Roegs Filmen: Es findet sich ebenso in BAD TIMING, wo die Gesichter von Alex Linden und Netusil eins zu werden scheinen (vgl. bspw. Abb. 48), wie in THE MAN WHO FELL TO EARTH, wenn die Gesichter von Newton und Mary-Lou mehrfach in Juxtaposition gezeigt werden (Abb. 51).1

1

Auch Janet Ann Baker nimmt an, daß die Großaufnahme, die Mary-Lous und Newtons Gesichter nebeneinander stellt und deren Ähnlichkeit herausstellt, eine Anspielung auf Bergmans PERSONA darstellt (vgl. Baker 1977, S. 101). Will Aitken hat für dieses vermeintliche Bergman-Zitat nur wenig schmeichelhafte Worte übrig: »[…] Roeg does a whole trashy series or PERSONA-type close-ups […].« (Will Aitken: »Icarus Drowned«, in: Take One 5 [1976], Nr. 4, S. 38f.; hier: S. 39.)

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Abbildung 51: Newton und Mary-Lou

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

Tatsächlich ist es insbesondere PERFORMANCE, der thematisch in vielerlei Hinsicht am deutlichsten Bergman und vor allem PERSONA verpflichtet ist. Denn neben vielem anderen ist Bergmans Film ein Spiel mit Ähnlichkeiten, Rollentausch und Identitätsfragen. Alma, die sich um die schweigende Elisabeth kümmern soll, glaubt rasch, immer mehr Ähnlichkeiten zwischen sich und dieser erkennen zu können. Und als eines Tages Elisabeths Mann (Gunnar Björnstrand) auftaucht, spricht dieser nicht nur mit Alma als ob diese seine Frau wäre; die Krankenschwester nimmt tatsächlich ihre Rolle ein, und Alma und Herr Vogler schlafen miteinander. Einen Rollen-, mehr noch: einen Identitätentausch präsentiert uns auch PERFORMANCE, wenngleich radikaler und schockierender als in Bergmans Film: wird in der zweiten Hälfte des Films Chas’ Männlichkeitsbild und seine vermeintlich gefestigte Identität im Masken- und Rollenspiel zunehmend in Frage gestellt, so löst sich letztere am Ende des Films vollständig auf. Als Chas’ Versteck aufgeflogen ist, sucht Rosebloom gemeinsam mit einigen anderen Männern den Flüchtigen in Turners Haus auf. Chas, der weiß, daß sein Schicksal besiegelt ist, erbittet sich zwei Minuten, um sich von Turner zu verabschieden. »I’ve got to shoot off now«, teilt Chas dem Rockstar mit, der mit Pherber im Bett liegt. Seinen Abschied gleichsam wörtlich nehmend, tötet er Turner mit einem Kopfschuß. Chas wird anschließend von den Gangstern nach draußen gebracht, wo Harry Flowers bereits in seinem

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weißen Rolls-Royce auf ihn wartet. Und wieder spricht Flowers die gleichen Worte, mit denen er seinen Schergen schon in der ersten Hälfte des Films begrüßt hat: »Hello, Chas.« Chas steigt in den Wagen ein, doch als dieser losfährt, ist es nicht mehr Chas, sondern Turner, der neben Flowers auf dem Rücksitz sitzt, im selben Mantel und mit derselben Perücke, die zuvor Chas getragen hat (Abb. 52). Chas ist nicht mehr bloß »a bullet«, wie er noch ausgerufen hat, als er Joey Maddox erschoß; er und Turner sind eins geworden. Abbildung 52: »I’ve got to shoot off now.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Deutlicher noch als der Einfluß Bergmans auf PERFORMANCE ist der von Jorge Luis Borges. »The principal source for the film’s ideas […] is Borges […]«, wie auch

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Jan Dawson betont.1 So sind Spiegel und Doppelgänger zwei der Metaphern, die sich wie ein roter Faden auch durch das Werk des argentinischen Schriftstellers ziehen.2 In beiden Fällen, bei Roeg wie bei Borges, dienen sie als Denkfiguren, in denen komplexe Reflexionen über das Problem von Identität und Nicht-Identität bildhaft-prägnant eingeschlossen sind.3 Tatsächlich stellt der Film in selbstreflexiver Weise aus, daß er sich dieser Filiation durchaus bewußt ist. Gleich mehrfach ist im Film deutlich eine englische Borges-Ausgabe zu sehen. Als Chas im ersten Teil den Pornokinobetreiber Maltese erpreßt, wartet Rosebloom draußen vor dem Lokal im Rover und liest ein Buch (Abb. 53, oben). Es handelt sich um Borges’ A Personal Anthology.4 Später dann schleudert Turner genau jene Ausgabe in die Ecke, nachdem er aus ihr vorgelesen hat (diese Einstellung ist auch Teil des Abspanns; Abb. 53, unten). Und gegen Ende des Films liest Rosebloom diese seine Ausgabe bei Tony in der Wohnung auf, nachdem dieser ihm Chas’ Versteck verraten hat. Sie liegt in einem Regal in Tonys Schlafzimmer hinter einem abgehängten Druck von Vladimir Tretchikoffs Bild Miss Wong.5

1

Jan Dawson: »Performance«, in: Monthly Film Bulletin 38 (1971), Nr. 444/455, S. 27f. [Dawson 1971a]; hier: S. 28. – Carsten Bergemann spricht im Zusammenhang mit PERFORMANCE

von einer »Bilderwelt«, die geprägt sei von »Motiven, die den Schriften des

argentinischen Dichters Jorge Luis Borges entlehnt sind« (Carsten Bergemann: »Jongleure im Spiegelkabinett. Popstars in den Filmen von Nicolas Roeg«, in: Bernd Kiefer/Marcus Stiglegger [Hg.], Pop & Kino. Von Elvis zu Eminem. Mainz: Bender 2004, S. 96-103; hier: S. 100). – Einer der ersten, dem die borgesianische Natur von PERFORMANCE

ins Auge gesprungen ist, ist Peter Schjedahl. In seiner Besprechung bezeichnet er

den Film als »a symbolical drama about abstractions – identity, illusion – and – reality – evidently inspired somewhat by the works of […] Jorge Luis Borges […].« (Schjedahl 1970, S. D1.) 2

Als »Borgesianische Metaphern« führt Adelheid Hanke-Schaefer auf: »Labyrinth, Spiegel, Tiger, Rose, Münze, Mond, Schwert, Schach und Sanduhr« (Adelheid HankeSchaefer: Jorge Luis Borges zur Einführung. Hamburg: Junius 1999, S. 125). Den Doppelgänger kann man getrost ergänzen.

3

Basil Wright etwa gelangt zur Feststellung, daß sich in PERFORMANCE in den »questions of identity« ein »Borgesian approach« zeige (Wright 1974, S. 670).

4

Anders als im von Colin MacCabe edierten Drehbuch angegeben, handelt es sich bei der Ausgabe, die Rosebloom liest, nicht um den Borges-Band Labyrinths (vgl. Cammell 2001, S. 13). Vielmehr is es die folgende: Jorge Luis Borges: A Personal Anthology. Ed. with a foreword by Anthony Kerrigan. London: Cape 1968.

5

Auf diese Szene macht auch Philip French aufmerksam: »We see a copy of A Personal Anthology again in the cut between Rosebloom’s discovery of Chas’ hiding place and a scene confirming that the fugitive has become part of the Turner ménage.« (French 1971,

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Abbildung 53: »It’s unlike him to forget an important thing.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Aufgrund dieser zahlreichen Anspielungen kann man der Diagnose von Joseph Gomez nur zustimmen: »On the simple visual level, Borges’ presence haunts the film.«1 Doch die Verpflichtung zu Borges geht über eine rein oberflächliche, bildhafte Anspielung hinaus. So hebt auch Gomez hervor: »These references are not mere homage or tribute; they are clues to the filmmakers’ central ideas and methods

S. 69.) Er weist auch darauf hin, daß Turner »invokes Borges’ Tlön, Uqbar and Orbis Tertius [...]« und »quotes from the penultimate paragraph of The South […]« (ebd.). 1

Gomez 1977, S. 148. – Neil Feineman bezeichnet in diesem Kontext Borges als »the film’s patron saint« (Feineman 1978, S. 49).

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[…].«1 Als Schlüssel erweist sich hier jene Szene, in der Chas Turner erschießt: Wir bekommen zu sehen, wie die Kugel in den Kopf des Musikers eindringt, das Gehirn penetriert und schließlich auf einen Spiegel trifft. In dessen zerspringendem Glas erscheint das Bild eines alten Mannes (Abb. 54). Es handelt sich um Jorge Luis Borges. Der Moment, in welchem sich mutmaßlich die Identitätstransformation zwischen Chas und Turner vollzieht, ist damit eindeutig mit Borges assoziiert. So betont auch Philip French: »Chas and Turner have become one in the Borgesian universe.«2 Es ist dies ein Universum, in dem die Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit, zwischen Traum und Realität, zwischen Ich und Nicht-Ich verschwimmen.3 Vollzieht sich die Verwandlung von Chas in Turner wirklich? Oder ist es nur eine Einbildung? Und wenn ja, wessen? Vielleicht muß diese Frage ebenso unaufgelöst blieben wie das Paradoxon des Traums von Tschuang-Tsu, den Borges in seiner Nueva refutación del tiempo (1944/46) referiert: »Dieser träumte vor vierundzwanzig Jahrhunderten, er sei ein Schmetterling, und beim Aufwachen wußte er nicht, ob er ein Mensch war, der geträumt hatte, er sei ein Schmetterling, oder ein Schmetterling, der nun träumte, er sei ein Mensch.«4

1

Gomez 1977, S. 148. – Auch Allen B. Ruch und John Coulthart heben hervor, wie sehr PERFORMANCE borgesianischen Ideen verpflichtet ist: »While not overtly based upon any Borges story, PERFORMANCE charts a twisted odyssey through a world that contains not a few Borgesian ideas, particularly about the nature of identity, duality, and the tension between an artist’s persona and his real life.« Sie fügen hinzu: »PERFORMANCE is a haunting film, a voyage into alienation and unreality that calls to mind some of Borges’ darker visions.« (Allen B. Ruch/John Coulthart: »Borges – Film: Performance«, in: The Modern World, 25.03.2004, http://www.themodernword.com/borges/borges_film_performance .html [30.09.2013].) Dies deckt sich mit der Auffassung Edgardo Cozarinskys, der konstatiert: »Although it adapted no specific Borges text, PERFORMANCE explicitly derives from all his work […].« (Edgardo Cozarinsky: Borges in/and/on Film. Transl. by Gloria Waldman/Ronald Christ. New York: Lumen 1988, S. 90.)

2 3

French 1971, S. 69. Die Verschmelzung der beiden Figuren Chas und Turner stellt auch die Vorstellung einer vermeintlich gesicherten ›Realität‹ in Frage. So konstatiert Neil Feineman mit Blick auf die Szene, in der Chas Turner erschießt: »And as the bullet goes through the mirror, it magically redefines reality and effects the identity transfer.« (Feineman 1978, S. 49.)

4

Jorge Luis Borges: »Neue Widerlegung der Zeit«, in: ders., Inquisitionen. Vorworte. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2003 (= Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil), S. 180-201; hier: S. 196f.

SPIEGELWELTEN UND ZEITLABYRINTHE

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Abbildung 54: »You don’t know where I’m going, pal.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Es ist jedoch vor allem die fatal endende Begegnung mit einem Doppelgänger, wie sie sich in PERFORMANCE ereignet, die als durchaus typische borgesianische Konstellation erachtet werden kann. In La muerte y la brújula (1942) stellen Erik Lönnrot, der Detektiv, und Red Scharlach, der Verbrecher, durchaus Doppelgängergestalten dar, deren Begegnung am Ende für den Detektiv tödlich endet: »›Für das nächste Mal, daß ich Sie töte‹, antwortete Scharlach, ›verspreche ich Ihnen dieses Labyrinth, das aus einer einzigen geraden Linie besteht, und das unsichtbar, unaufhörlich ist.‹ Er trat einige Schritte zurück. Dann, sehr sorgfältig, feuerte er.«1 Das Ende von Borges Erzählung liest sich nahezu wie eine Beschreibung jener Szene, in der Chas, der ebenfalls sehr sorgfältig zielt, Turner erschießt. Wenn die Kugel in Turners Kopf eindringt, folgt sie auch einer geraden Linie, doch der Weg, den sie sich durch die Windungen der Hirnmasse bahnt, erinnert nicht wenig an ein Labyrinth (auf das Labyrinth als borgesianische und Roegsche Denkfigur wird im nächsten Abschnitt noch näher einzugehen sein). Von einer fatalen Begegnung mit seinem eigenen Doppelgänger berichtet Borges in seiner Erzählung Veinticinco de agosto, 1983: Als der Ich-Erzähler in einem Hotel einchecken will, muß er feststellen, daß der Name Jorge Luis Borges bereits im Gästebuch eingetragen ist. »Der

1

Jorge Luis Borges: »Der Tod und der Kompaß«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 201-214; hier: S. 214.

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andere ist Ihnen sehr ähnlich, aber Sie sind jünger«, teilt ihm der Hotelier mit.1 Im Zimmer trifft er auf seinen älteren Doppelgänger, der Selbstmord begeht – und damit in gewisser Weise auch den Erzähler tötet: »Ich starb gewissermaßen mit ihm«, bezeugt der jüngere Borges, nachdem er den Tod des älteren festgestellt hat. Die Begegnung mit seinem eigenen Doppelgänger ist bereits für Borges’ Kurzgeschichte El otro (1972) bestimmend. Der Erzähler Borges berichtet hier, wie er im Jahr 1969 auf einer Parkbank in Cambridge, Massachusetts, einen jungen Argentinier getroffen habe, der aber schon seit 14 Jahren in Genf lebe: »›In diesem Fall‹, sagte ich entschlossen, ›heißen Sie Jorge Luis Borges. Auch ich bin Jorge Luis Borges. Wir befinden uns im Jahr 1969 und in der Stadt Cambridge.‹ ›Nein‹, antwortete er mit meiner eigenen, ein wenig fernen Stimme. Nach einer Weile beharrte er: ›Ich bin hier in Genf, auf einer Bank, ein paar Schritte von der Rhône entfernt. Das Seltsame ist, daß wir uns ähneln, aber Sie sind viel älter und haben graues Haar. ‹«2

Der ältere Borges versucht im weiteren Verlauf den jüngeren von beider Identität zu überzeugen; doch diese Identität ist eigentlich eine Diversität – eine Tatsache, der sich auch der alte Borges in der Erzählung bewußt ist: »Der Mensch von gestern ist nicht der von heute«, erklärt er seinem jüngeren Gegenüber.3 Die Differenz zwischen diesen beiden Ichs ist dabei nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine örtliche: »Die beiden Gesprächspartner trennen fünfzig Jahre und zwei Kontinente, sie sind durch Zeit und Raum getrennt und werden in einem Zwiegespräch vereint, das nur im Traum oder in der Imagination möglich ist«, betont Adelheid HankeSchaefer und fügt hinzu: »Strenggenommen handelt es sich in dem Text um eine Bilokation, da sich Borges gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten befindet.«4

1

Jorge Luis Borges: »25. August 1983«, in: ders., David Brodies Bericht. Das Sandbuch. Shakespeares Gedächtnis. Übers. v. Curt Meyer-Clason/Dieter E. Zimmer/Gisbert Haefs. München/Wien 2001 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen zweiter Teil), S. 189-194; hier: S. 189.

2

Jorge Luis Borges: »Der Andere«, in: ders., David Brodies Bericht. Das Sandbuch. Shakespeares Gedächtnis. Übers. v. Curt Meyer-Clason/Dieter E. Zimmer/Gisbert Haefs. München/Wien 2001 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen zweiter Teil), S. 91-99; hier: S. 92.

3

Ebd., S. 96 (Herv. i.O.). – Und der Erzähler hebt die Individualität der beiden personae hervor: »Es existieren nur Individuen, wenn überhaupt etwas existiert.« (Ebd.)

4

Hanke-Schaefer 1999, S. 139. – Hanke-Schaefer unterstreicht dabei auch den engen Zusammenhang zwischen dem Doppelgänger-Motiv bei Borges und den Fragen der Zeitlichkeit, die den Schriftsteller beschäftigen: »Das Doppelgängermotiv zählt zu den Meta-

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Die beiden letztgenannten Erzählungen von Borges sind zwar erst nach PERFORMANCE entstanden, teilen aber in ihrem Spiel mit Doppelgängertum und Identitätstransformation viele thematische Aspekte mit diesem. In gewisser Weise wird der Film damit zu einem Vorläufer seines eigenen Vorbildes – eine durchaus borgesianische Idee.1 Entscheidender für den Einfluß auf PERFORMANCE scheint jedoch, daß zahlreiche dieser Themen und Motive auch schon in den früheren Erzählungen Borges’ angelegt sind. Aus einer dieser Erzählungen liest Turner Pherber und Lucy vor, als diese in der Küche Pilze zubereiten: »From a corner of the old room, the old ecstatic gaucho threw him a naked dagger, which landed at his feet.« Es ist eine Passage aus der Kurzgeschichte El Sur (1953), die Turner hier vorträgt – und zwar aus derselben Ausgabe, aus der zuvor schon Rosebloom liest, und die dieser auch bei Tony daheim entdeckt (Abb. 53). Wenn Turner aus El Sur vorliest, so liegt in der Tat ein Vergleich mit Juan Dahlmann, der Hauptfigur aus Borges’ Erzählung, nahe. Joseph Gomez spekuliert: »Perhaps, likewise, Turner’s death is his ideal death – to be shot by a gangster.«2 Doch in der Kurzgeschichte El Sur verhandelt Borges auch Fragen der Identität bzw. Nicht-Identität. So begegnet sich Dahlmann zu Beginn der Erzählung mit Selbsthaß, der sich vor allem in einer Verachtung für seine Körperlichkeit äußert. Aufgrund einer Kopfverletzung liegt er über mehrere Tage fiebrig im Bett: »In diesen Tagen haßte sich Dahlmann Stück für Stück; er haßte seine Identität, seine körperlichen Bedürfnisse, seine Erniedrigung, den Bart, der sein Gesicht stachelig machte.«3 Doch einige Zeit später blickt er während einer vielleicht nur eingebildeten Zugreise gen Süden voller Zuversicht in die Zukunft und freut sich über die bevorstehenden Tage auf seinem Landgut: »›Morgen werde ich auf der Estancia erwachen‹, dachte er, und es war, als sei er zur selben Zeit zwei Menschen: einer, der durch den Herbsttag, durch die heimatliche Landschaft dahin-

phern, die wie Scharniere funktionieren, Türen öffnen, Ideen ermöglichen, die in die Vergangenheit oder in die Zukunft weisen.« (Ebd., S. 141.) 1

Die Idee retrograder Beeinflussung artikuliert Borges etwa in Kafka y sus precursores (1951): »Tatsache ist, daß jeder Schriftsteller seine Vorläufer erschafft. Seine Arbeit modifiziert unsere Auffassung von der Vergangenheit genauso, wie sie die Zukunft modifiziert.« (Jorge Luis Borges: »Kafka und seine Vorläufer«, in: ders., Inquisitionen. Vorworte. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2003 [= Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil], S. 114-117; hier: S. 116; Herv. i.O.)

2 3

Gomez 1977, S. 152. Jorge Luis Borges: »Der Süden«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 238-245; hier: S. 239.

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fuhr, und der andere in einem Sanatorium eingesperrt und planmäßiger Knechtschaft unterworfen.«1 In dieser Situation ist Dahlmann gleichsam ein ›Dividuum‹, sein Ich ist gespalten zwischen zwei Orten, womit er als ein Modell für viele der Figuren im Roegschen Universum erscheint. Doch auch andere Eigenschaften teilt Dahlmann mit den Figuren in Roegs Filmen. Ebenso wie diese ist jener ein Grenzgänger. »Auf dem Weg zum Süden passiert Dahlmann schließlich die Schwelle zum Süden«, so Dominic Büker.2 Doch Dahlmann ist auch in anderer Hinsicht ein Grenzgänger, und zwar in dem Sinne, daß er der Nachkomme von Angehörigen zweier unterschiedlicher Kulturen ist. Obgleich sich Dahlmann »zutiefst als Argentinier fühlt« – diese Selbstsicherheit erinnert nicht wenig an Chas’ Beteuerung, er fühle wie »a man – a man all the time« –, verweist sein Nachname auf eine deutsche Herkunft: väterlicherseits war sein Großvater der evangelischer Pfarrer Johannes Dahlmann, dessen Vornamen er in der hispanisierten Form geerbt hat, mütterlicherseits dagegen der Argentinier Francisco Flores: »[…] im Widerstreit seiner beiden Abstammungen entschied sich Juan Dahlmann (vielleicht auf Drängen seines germanischen Blutes)

1

Ebd., S. 241. – Es bleibt mithin unklar, ob Dahlmann also wirklich im Zug sitzt oder sich immer noch im Sanatorium aufhält, in das er nach seinem Unfall gebracht wurde. Seine Verletzung war immerhin so gravierend, »daß er beinahe an einer Sepsis gestorben wäre«, wie ihn der Chirurg informiert (ebd., S. 240) – und womöglich ist er dies auch: »Obwohl sich nicht mit letzter Sicherheit sagen lässt, ob Dahlmann die Sepsis überlebt, legen zahlreiche Textstellen den Verdacht nahe, dass seine Reise letztlich nur das Produkt eines Fiebertraums ist«, wie Dominic Büker unterstreicht (Dominic Büker: »Labyrinth ohne Zentrum. Kulturelle und narrative Grenzerfahrungen bei J.L. Borges und Jim Jarmusch: Ein Vergleich zwischen ›El Sur‹ und ›Dead Man‹«, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2008/2009, S. 203-217; hier: S. 210).

2

Ebd., S. 205 (Herv. i.O.). – »Jedermann weiß, daß der ›Süden‹ jenseits der Straße Rivadavia beginnt«, heißt es in Borges’ Erzählung. »Dahlmann sagte immer, daß das keine bloße Redensart ist, daß, wer diese Straße überquert, eine ältere und festere Welt betritt.« (Borges: Der Süden, S. 241.) Das Überschreiten der Schwelle zum ›Süden‹ kann dabei als das Überschreiten der Schwelle zum Tod interpretiert werden. »Der Süden durchzieht als Metapher, Chiffre und zentrales Thema die Arbeiten von Borges«, wie Adelheid Hanke-Schaefer konstatiert und erläuternd ausführt: »Der Süden wird zum Synonym für Sterben und Tod. Der Süden steht bei Borges für Schicksal, Herausforderung, Einsamkeit, Tod, Zweikampf, Gauchos, Ebene; im Süden offenbart sich das wahre Argentinien in seiner Vergangenheit.« (Hanke-Schaefer 1999, S. 40.) Es ist also vielleicht kein Zufall, daß Persien als Chas’ imaginärer Zufluchtsort von England aus gesehen im Süd(ost)en liegt.

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für die Linie dieses romantischen Vorfahren mit seinem romantischen Tod.«1 Während im Falle Dahlmanns die Trennlinie zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen durch eine einzige Figur läuft, sind es, wie bereits dargestellt, bei Roeg oft die Paare – seien es John und Laura Baxter in DON’T LOOK NOW oder Newton und MaryLou in THE MAN WHO FELL TO EARTH2 –, die sich durch kulturelle Differenzen, durch eine jeweils unterschiedliche Herkunft auszeichnen. Differenz zeichnet indes auch immer die Doppelgänger bei Borges aus.3 Sie ist nicht nur eine des Alters, der Zeit und des Ortes, sondern auch eine des Wesens.4 Deutlicher noch ist diese Differenz, die sich auch optisch äußert, indes in einer ganz anderen Doppelgänger-Geschichte angelegt: Vladimir Nabokovs Отчаяние (1934) bzw. Despair (1937/1965).5 Neben Borges’ Erzählungen kann dieser Roman als ei-

1

Borges: Der Süden, S. 238. – Dominic Büker führt zu diesen beiden Vorfahren Dahlmanns aus: »Dahlmann vereint folglich zwei unterschiedliche Kulturen und Weltanschauungen: Heroismus, Oralität, rurale Ursprünglichkeit und Tapferkeit (culto al coraje) stehen der europäischen Kultur und ihrer Tendenz zur Intellektualität und literarischen Bildung (culto a los libros) gegenüber.« (Büker 2008/09, S. 204; Herv. i.O.)

2

Es ist bezeichnend, daß es Paul Mayersberg, der das Drehbuch zu THE MAN WHO FELL TO

EARTH verfaßte, war, der Edgardo Cozarinsky zufolge in einem Beitrag zur Filmzeit-

schrift Movie erstmals Borges in die englische Filmkritik einführte: »In its second issue, September 1962, Borges made his first appearance in English-language film criticism when Paul Mayersberg juxtaposed the first and the last sentence of The Library of Babel […] with the first and last sequences of PARIS BELONGS TO US, as an ›explanatory parallel‹.« (Cozarinsky 1988, S. 83.) Und zudem kommentiert Cozarinsky: »By 1976 it was […] Roeg, predictably enough, with THE MAN WHO FELL TO EARTH […] who provoked references to Borges […].« (Ebd., S. 56.) 3

Adelheid Hanke-Schaefer zufolge ist diese Differenz der Doppelgänger bei Borges deutlich funktionalisiert: »Das Spiel mit dem Doppelgänger entlastet das Ich, das von Borges angezweifelt wird, die beiden begegnen sich mit Humor, Respekt und leiser Kritik. Für Eigenheiten, die Borges an sich weniger mag, macht er den Doppelgänger verantwortlich.« (Hanke-Schaefer 1999, S. 137.)

4

Die Wesensdifferenz ist Chava Eva Schwarcz zufolge eine grundlegende Eigenschaft des Doppelgängers: »Beim Doppelgänger handelt es sich meistens – jedoch nicht immer – um zwei Gestalten, die einander äußerlich gleichen oder ähneln, also vertausch- und verwechselbar, im Wesen aber verschieden sind.« (Schwarcz 1999, S. 3.)

5

Von Nabokov in seinen Berliner Exiljahren zunächst auf Russisch verfaßt, hat er diesen Roman, der im Deutschen den Titel Verzweiflung trägt, bereits 1937 selbst ins Englische übersetzt. 1965 erschien dann bei Putnam in New York eine überarbeitete und erweiterte Eigenübersetzung.

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ne der wichtigen Inspirationsquellen für PERFORMANCE angesehen werden.1 Im Interview mit Tom Milne und Penelope Houston konzediert Roeg: »I think I came to Borges through Donald Cammell. […] for years the question of identity had interested me. I wanted to do something on the idea of a change of identity. A book that had interested me for a long time was Nabokov’s Despair. […] So I had been interested in Nabokov, and Donald I think in Borges.«2

Auch Nabokovs Roman handelt von der Begegnung eines Mannes mit seinem vermeintlichen Doppelgänger, die für letzteren fatal endet. Nachdem der wirtschaftlich angeschlagene und in seiner Ehe frustrierte Ich-Erzähler Hermann Karlowitsch3 während einer Reise in Prag auf den Landstreicher Felix getroffen ist, in dem er seinen Doppelgänger zu erkennen meint, heckt er einen Versicherungsbetrug aus: unter einem Vorwand führt er Felix in einen Wald, bringt ihn dazu, seine eigene Kleidung anzulegen, und erschießt ihn dann hinterrücks. Doch der Plan geht nicht auf. Zu unähnlich sehen sich die beiden Männer. Schon als er den Paß des Toten an sich nimmt, muß Karlowitsch feststellen: »Oddly enough, his pictured face did not resemble mine closely; it could, of course, easily pass for my photo – still, that made an odd impression upon me, and I remember thinking that

1

Neben Borges und Joseph Conrad stellt Nabokov für Fritz Göttler einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Filme Roegs dar: »Mit Erinnerungen an Borges kommt man leichter zurecht im Universum des Nicolas Roeg, oder an Conrad und Nabokov (dessen Pale Fire in der Roeg-Episode des Opernfilms ARIA aufflackert).« (Fritz Göttler: »Die Finsternis des Herzens. Die Filme von Nicolas Roeg – mit seiner Frau Theresa Russell«, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 144, 27.06.1995, S. 12.)

2

Milne/Houston 1973/74, S. 5. – Vgl. auch Lanza 1989, S. 37. Zu Borges und weiteren literarischen Vorbildern für PERFORMANCE vgl. auch MacCabe 1998, S. 16. – Peter Wollen unterstreicht, daß sowohl literarische wie auch filmische Vorbilder eine zentrale Rolle für Roegs und Cammells Film einnehmen: »The cinematic influences of Losey or Godard or Anger run parallel with the literary influences of Nabokov or Burroughs or Borges […].« (Wollen 1995, S. 23.)

3

Auch Nabokovs Ich-Erzähler ist wiederum ein Grenzgänger zwischen zwei Kulturen: »My father was a Russian-speaking German from Reval, where he went to a famous agricultural college. My mother, a pure Russian, came from an old princely stock«, behauptet Hermann Karlowitsch zu Beginn seiner Aufzeichnungen (Vladimir Nabokov: Despair. A Novel. New York: Vintage 1989, S. 4) – eine Aussage, die angesichts der Unzuverlässigkeit des Erzählers freilich mit Vorsicht zu genießen ist.

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here was the real cause of his being so little aware of our likeness: he saw himself in a glass, that is to say, from right to left, not sunway as in reality.«1

Es wundert kaum, daß auch in Nabokovs Roman Spiegel ein zentrales Motiv darstellen. Nabokovs Despair ist mindestens ebenso ein Reservoir für die Motive und Denkfiguren in Roegs Filmen wie es die Erzählungen und Essays Jorge Luis Borges’ sind. Selbst das Doppelgesicht-Motiv, das auf Bergmans PERSONA rekurriert, findet sich im Grunde schon in Despair angelegt, wenn der Erzähler sinniert: »[…] the two faces should be pictured side by side, by means of real colors, not words, then and only then would the spectator see my point.«2 Auch dies ist selbstverständlich ein Spiegelmotiv, ein Bild der Spiegelsymmetrie. In Nabokovs Roman verweisen Spiegel dabei nicht nur auf den Narziß-Mythos,3 sondern sie versinnbildlichen vor allem die Vorstellung einer Ich-Spaltung. Letztere wird an keiner Stelle des Romans deutlicher als im zweiten Kapitel, wo der Erzähler expressis verbis von seiner eigenen »Dissoziation« spricht, wenn er mit seiner Frau Lydia Sex hat. Hermann Karlowitsch wird dabei zu seinem eigenen Beobachter: »The dissociation had now reached its perfect phase. I sat in an armchair half a dozen paces away from the bed upon which Lydia had been properly placed and distributed. From my magical point of vantage I watched the ripples running and plunging along my muscular back, in the laboratorial light of a strong bed-lamp that picked out a mother-of-pearl glint in the pink of her knees and a bronze gleam in her hair spread on the pillow – which were about the only bits of her I could see while that big back of mine had not yet slid off to prop up again its panting front half in the audience.«4

Diese dissoziative Beobachtung versetzt den Erzähler in einen geradezu ekstatischen Zustand. »The next phase came when I realized that the greater the interval between my two selves the more I was ecstasied«, führt Hermann Karlowitsch seinen Bericht fort.5 Er gleicht damit seinem eigenen Voyeur – eine Konfiguration,

1

Nabokov 1989, S. 173.

2

Nabokov 1989, S. 16. – Im übrigen ist die partielle Überschneidung der Gesichter von Alma und Elisabeth in PERSONA ein Selbstzitat Bergmans. Eine ähnliche Einstellung findet sich bereits in TÖRST (1949).

3

Als Felix etwa Hermann die Hand reicht, erwidert dieser den Händedruck, jedoch nicht ohne sich zu rechtfertigen: »I grasped it only because it provided me with the curious sensation of Narcissus fooling Nemesis by helping his image out of the brook.« (Nabokov 1989, S. 13.)

4

Ebd., S. 27f.

5

Ebd., S. 28.

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die sich durchaus auch bei Roeg wiederfindet, und zwar in jener Szene in BAD TIMING, in der Netusil zum ersten Mal Milenas Wohnung in Augenschein nimmt. Die Einstellungen, in denen sich Netusil in der Wohnung umsieht, alternieren mit Einstellungen, die Milena und Alex beim Sex zeigen. Imaginiert Netusil, was sich im Bett vollzogen haben könnte, auf das er gerade einen Blick wirft? Geradezu lustvoll streckt er die Zunge hinaus und leckt sich über die Lippen (Abb. 55). Der Kommissar wird gleichsam zum Voyeur, er scheint die Lust von Alex zu teilen, mit ihm gar zu verschmelzen. Abbildung 55: »Right again.«

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980)

Zu den Doppelgängerbegegnungen der durchaus kuriosen Art zählt jene Szene in PERFORMANCE, in der Turner ein Gemälde geliefert erhält, das er aber mit dem Hinweis, es komme drei Jahre zu spät, von sich weist. Getragen wird das Bild von den ›Myers Twins‹ (Abb. 56, oben).1

1

Wie Colin MacCabe in seinen Anmerkungen zum Drehbuch darlegt, gehörten die aus Brighton stammenden Zwillinge John und Dennis Myers zur Entourage Salvador Dalís (vgl. Cammell 2001, S. 82). – Zur Symbolik des Zwillings als Doppelgänger vgl. Schmitz-Emans 2008.

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Abbildung 56: »You don’t know where I’m going, pal.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Zwillinge stellen die natürliche, biologische Ausprägung des Doppelgängers dar.1 Damit nicht genug: Auch das Gemälde, das die Myers-Brüder als ›biologische

1

Paul Coates indes weist auf eine wesentliche Differenz der (literarischen) Darstellung von Doppelgängern und Zwillingen hin: »Paradoxically, the Double enhances the ideology of individualism: it puts the self in the place of the other. What is more, it denies that the other who resembles oneself could be one’s identical twin, and hence a real person existing outside the bounds of selfhood and its projections. Whereas twins are staple figures of comic literature, which feeds on the confusions their similarity generates, the Double recaptures the image of the twin for non-comic literature: the Double is the emissary of death.« (Paul Coates: The Double and the Other. Identity and Idelology in Post-Romantic

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Doppelgänger‹ tragen, ist selbst wiederum ein Doppelgängerbild. Wie Joseph Gomez konstatiert: »[…] Turner rejects the painting, which is really a portrait of Harry Flowers done in the style of Rene Magritte.«1 Was die Ähnlichkeit mit Flowers anbelangt, mag Gomez durchaus recht haben; allerdings handelt es sich hier nicht nur um ein Bild in der Manier Magrittes; vielmehr ist das Gemälde ein ›echter Magritte‹.2 Trotzdem – oder gerade deswegen – insistiert Turner, daß er sich das Bild nicht leisten könne und behält statt dessen nur den Rahmen, den er in einer Besenkammer unter der Treppe unterstellt. Genau dort findet am Ende des Films Rosebloom Turners Leiche mit dem Einschuß im Kopf, der vor dem Rahmen gelehnt ist (vgl. Abb. 56, unten). In gewisser Weise ist Turner damit an die Stelle Flowers’ getreten. Viel deutlicher vollzieht sich dieser Rollentausch derweil in Turners GesangsEinlage »Memo from Turner«. Am Ende dieses Musikclips3 nimmt Turner nicht nur die Position von Harry Flowers ein, er ist sogar gleich gekleidet (Abb. 57). Die Sequenz endet mit dem Blick Turners in einen Spiegel, den er mit dem Lauf einer Pistole zerschlägt. Eine Pistole und ein zerspringender Spiegel, hinter dem Borges erscheint, sind es, die später die Identitätstransformation zwischen Chas und Turner einläuten.

Fiction. New York: St. Martin’s Press 1988, S. 2f.) Tatsächlich hat der Auftritt der ›Myers Twins‹ bei Turner durchaus einen komischen Effekt. 1

Gomez 1977, S. 150.

2

Bei dem im Film gezeigten Bild handelt es sich um René Magrittes Portrait of Alex Salkin (Öl auf Leinwand, 50x40 cm, 1945), eines belgischen Anwalts und Sammlers der Werke Magrittes (vgl. David Sylvester [Hg.]: René Magritte. Catalogue raisonné. Vol. II: Oil Paintings and Objects 1931-1948. Paris u.a: Flammarion u.a. 1993, S. 362; Nr. 596). Roeg war es, der darauf bestanden hatte, daß das im Film gezeigte Bild ein Original des belgischen Surrealisten und nicht eine bloße Reproduktion sein müsse, und so wurde das Gemälde für 60 £ die Woche von der Londoner Brook Street Gallery geliehen (vgl. Buck 2012, S. 219). Auch Paul Buck verweist darauf, daß das Bild Salkins eine gewisse Ähnlichkeit mit Flowers aufweise, sieht dahinter jedoch keine weitere Bewandtnis. »What was important was that it was real, not a reproduction.« (Ebd.)

3

Dominik Graf zufolge habe Roeg mit dieser Sequenz »das Musikvideo miterfunden« (Graf 2003, S. 12). Ob dem so ist, sei dahin gestellt, aber in ihrer ästhetischen Gestaltung ist diese Sequenz mindestens so sehr dem Maler Francis Bacon wie dem Schriftsteller Borges verpflichtet. So konstatiert etwa Alexander Walker, daß es sich beim »Memo« um eine Sequenz handle, »that left the screen as raw-looking as a Bacon painting of subhuman nudes.« (Alexander Walker: Hollywood UK. The British Film Industry in the Sixties. New York: Stein and Day 1974, S. 422.)

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Abbildung 57: »You gentlemen…why you all work for me.«

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Wenngleich sich PERFORMANCE am offensichtlichsten als ein von Borges inspirierter Film zeigt, so erweisen sich doch auch Roegs spätere Filme als durchaus borgesianische Werke. Freilich, es war Cammell, der Roeg überhaupt erst an Borges herangeführt hat, doch noch in WALKABOUT, Roegs zweitem Film und erster eigenständiger Regiearbeit, ist der Einfluß des Argentiniers unverkennbar. So hält beispielsweise Jan Dawson fest: »Though Roeg returns to some of the Borgesian ideas that informed PERFORMANCE – the coexistence of past and present, the fluidity of ›identity‹ – and builds again to a ritual suicide,

222 | KINO DER UNORDNUNG even more than in the film with Donald Cammell he incorporates these ideas in an imaginative form that takes on the unassailable authority of pure mythology.«1

Diese Borges-typische Durchdringung von Vergangenheit und Zukunft kennzeichnet auch COLD HEAVEN. Oder, wie es Scott Salwolke formuliert: »The influence of Borges remains; Marie is convinced that it is her past which is influencing her present.«2 Und die Idee der Identitätstransformation spielt Roeg auch in CASTAWAY aus: Als kurz vor dem Ende ihres gemeinsamen Jahres auf der Insel Lucy und Gerald dort zum ersten Mal Sex haben, betrachtet sich Lucy zunächst im Nachthemd vor einem Spiegel und fordert dann in einem für sie ungewöhnlichen Dialekt Gerald auf, sie Rosie zu nennen.3 Nur indem sie in die Rolle einer anderen schlüpft, ist Lucy überhaupt in der Lage, Gerald zu lieben und mit ihm intim zu werden. Es ist aber insbesondere in der Gestaltung seiner narrativen Welten, in der Roeg dem Vorbild Borges’ verpflichtet ist und bleibt. So beschriebt Pauline Kael das Venedig in DON’T LOOK NOW als ein ›Borges-Universum‹: »The movie has a special ambience: the dislocation is eroticized, and rotting Venice, the labyrinthine city of pleasure, with its crumbling, leering gargoyles, is obscurely, frighteningly sensual. It’s a Borgesian setting – the ruins tokens of a mysteriously indifferent universe […]. Roeg, drawn to Borges’s tone – the controlled, systematic way in which Borges turns life into a mystical, malevolent nightmare – brings out the sensuality that is hidden in our response to the Borges cool.«4

1

Jan Dawson: »Walkabout«, in: Monthly Film Bulletin 38 (1971), Nr. 444/455, S. 227f. [Dawson 1971b].; hier: S. 228.

2

Salwolke 1993, S. 196. – Salwolke betont darüber hinaus, daß sich Roeg thematisch und formal seit PERFORMANCE stets treugeblieben sei: »In the twenty years since the release of PERFORMANCE, Roeg has remained committed to the themes and experiments which first attracted him to film. COLD HEAVEN is not the kinetic mind experience PERFORMANCE

3 4

was, but it is unmistakably the work of the same director.« (Ebd.)

Scott Salwolke identifiziert diesen Dialekt als Cockney (ebd., S. 136). Pauline Kael: »The Current Cinema. Labyrinths«, in: The New Yorker, 24.12.1973, S. 68-73; hier: S. 68. – Nachdrücklich unterstreicht Kael den borgesianischen Charakter von Roegs DON’T LOOK NOW: »The material is Daphne du Maurier, but it’s treated in the intricate manner of Borges […].« (Ebd.) Und unterstreichend fügt sie hinzu, daß sich diese Verpflichtung Roegs Borges gegenüber auch stilistisch äußere: »Using du Maurier as a base, Roeg comes closer to getting Borges than those who have tried it directly, but there’s a distasteful clamminess about the picture – not because Venice is dying […], but because Roeg’s style is in love with disintegration.« (Ebd., S. 71.)

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Gleichwohl bleibt es Turners Haus in PERFORMANCE, das am deutlichsten die Merkmale eines ›Borges-Universums‹ aufweist. Zu diesen Merkmalen gehört die Omnipräsenz von Spiegeln, deren borgesianische Qualität Peter Schulze noch einmal herausstreicht: »Vor der tödlich endenden Konfrontation mit Joey gelingt es Chas noch, klar konturierte Bilder von sich im Spiegel zu erblicken. Mit dem Eintritt in die Welt Turners wandelt sich die Funktion des Spiegels grundlegend. Die scharfen Konturen der Abbilder weichen nun flottierenden Spiegelungen gleichsam Borges’schen Ausmaßes, die Chas keine Bezugspunkte mehr liefern und somit ihren affirmativen Charakter verlieren.«1

Im ›Borges-Universum‹ verweisen Spiegel auf die Illusion der Wirklichkeit. »Copulation and mirrors are abominable«, meint Bioy Casares in Borges’ Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius (1940) in der (fiktiven) ›Anglo-American Cyclopedia‹ gelesen zu haben. Doch der Text, der die Lehren eines nicht genannten Häresiarchen referiert, lautet genau: »Für einen dieser Gnostiker war das sichtbare Universum eine Illusion oder (genauer) ein Sophismus. Der Spiegel und die Vaterschaft sind abscheulich (mirrors and fatherhood are hateful), weil sie diesen Sophismus vervielfältigen und verbreiten.«2 Spiegel und Vaterschaft (Kopulation) vervielfältigen also die Illusion des Universums. Spiegel lassen bei Borges aber vor allem vermeintlich überschaubare Orte unvertraut erscheinen, so daß sich die Figuren in diesen zu verlieren schienen. Als Lönnrot in La muerte y la brújula in die Villa Triste-le-Roy kommt, wo er den nächsten Mord vermutet und Red Scharlach stellen will, fühlt er sich im großen und leerstehende Haus verloren: »›An sich ist das Haus nicht so groß‹, dachte er. ›Die Dunkelheit, die Symmetrie, die Spiegel, die vielen Jahre, meine Unvertrautheit, die Einsamkeit, lassen es größer erscheinen.‹«3 Ganz ähnlich, stellt auch Turners Haus in PERFORMANCE »a dislocating environment« dar:4 »Turner’s house is literally a hall of mirrors«, resümiert Jan Dawson.5

1

Schulze 2006, S. 26. – Joseph Lanza verweist auf die Charakteristika von »Turner’s universe which is much like those described in the Borges stories […].« (Lanza 1989, S. 96.)

2

Jorge Luis Borges: »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 99-118; hier: S. 100 (Herv. i.O.).

3

Borges: Der Tod und der Kompaß, S. 210.

4

Feineman 1978, S. 46.

5

Dawson 1971a, S. 28. – Wieder zeigt sich, daß Spiegel Medien der »Desorientierung, Multiperspektivität und Wahrnehmungs(un)fähigkeit« sind (Dahms 2012, S. 27).

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Der unklare Status einer Welt, in der Traum und Wirklichkeit ununterscheidbar zu sein scheinen, bildet bei Roeg wie bei Borges den Rahmen, in dem die Konfrontation mit dem eigenen Doppelgänger erst möglich wird. In Veinticinco de agosto, 1983 erweist sich die Begegnung des jüngeren Borges mit seinem Doppelgänger als ein Traum des Älteren. »Ich bin sicher, es ist mein letzter Traum«, versichert der ältere Borges sein jüngeres Pendant.1 Und doch bleibt unklar, wessen Traum hier überhaupt geträumt wird: »Wer träumt wen?«, fragt der alte Borges. »Ich weiß, daß ich dich träume, aber ich weiß nicht, ob du mich träumst.«2 Das Schicksal des Erzählers und seines Alter egos sind unauflöslich miteinander verbunden. Eine ähnliche Situation präsentiert Borges bereits in El otro. Es bleibt unklar, ob die Begegnung von Borges’ Erzähler-Ich mit seinem jüngeren Pendant tatsächlich stattgefunden hat oder ob sie ein bloßer Traum war. Der alte Borges schließt die Erzählung mit den Worten: »Die Begegnung fand wirklich statt, aber der andere sprach mit mir in einem Traum, und so kam es, daß er mich vergessen konnte; ich sprach mit ihm im Wachen, und die Erinnerung quält mich noch immer. Der andere träumte mich, aber er träumte mich nicht konsequent. Er träumte, jetzt begriff ich es, das unmögliche Datum auf der Dollarnote.«3

Ist also alles im ›Borges-Universum‹ und ebenso in jenem der Roegschen Filme bloß ein Traum? Reine Imagination? Wie steht es zum Beispiel mit der »Memo from Turner«-Sequenz? Wie ein eingeschobenes Musikvideo wirkend, sind ihr Status und ihre Bedeutung zunächst vollkommen schleierhaft. Kevin Donnelly plädiert dafür, daß es sich um eine Einbildung Chas’ handelt: »The narrative motivation for the song sequence is that it is an extremity of Chas’ subjectivity: it is ›inside his head‹.«4 Und wenn Turner im Gespräch mit Chas die »tetrarchs of Sodom« in einer Reihe mit einem »orbis tertius« erwähnt, ist dies ein offensichtlicher Verweis auf Borges’ Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. Dort erzählt Borges von einer imaginären Welt Tlön, die zunächst nur in einer fiktiven Enzyklopädie existiert, die aber, als Objekte dieser Welt in der realen auftauchen, den Status von Wirklichkeit

1 2

Borges: 25. August 1983, S. 190. Ebd., S. 191. – Gleichwohl ist der junge Borges sich sicher: »Der Träumer bin ich[.]« (Ebd.) – Adelheid Hanke-Schaefer resümiert die Situation wie folgt: »Der Ich-Erzähler träumt den Tod seines Doppelgängers, der eine ist des anderen Traum.« (Hanke-Schaefer 1999, S. 142.)

3

Borges: Der Andere, S. 99.

4

Donnelly 2001, S. 161.

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erlangt.1 Vielleicht ist dies ein Hinweis darauf, daß auch Turners Welt eine imaginierte ist, die zur Wirklichkeit wird.2 Vielleicht verhält es sich aber auch anders herum. Diese Ununterscheidbarkeit zwischen Realität und Imagination ist für viele von Roegs Filmen bestimmend.3 Es genügt auf zwei einschlägige Beispiele zu verweisen: Wenngleich Martin in TRACK 29 zunächst eine ›reale‹ Gestalt zu sein scheint, die mit anderen Figuren agiert, enthüllt der Film schließlich, daß nur Linda ihren verlorenen und wiedergefunden geglaubten Sohn sehen kann. Ist er ein Hirngespinst, ein Produkt ihrer Imagination?4 In BAD TIMING bleibt dagegen nicht nur auf inhaltlicher Ebene die Frage ungelöst, ob Alex Milena tatsächlich in ihrem komatösen Zustand vergewaltigt hat; der Film läßt uns auch in seiner formalen Gestaltung im unklaren darüber, ob die bildhafte Darstellung der Vergewaltigung eine analeptische Vergegenwärtigung tatsächlicher Ereignisse ist oder ob es sich um Bilder der Imagination Netusils handelt. »I have the feeling we’re talking about you and not me«, wirft Alex dem Kommissar vor und insinuiert, daß die Behauptungen seiner bloßen Phantasie entspringen. Netusil weist dies noch nicht einmal entschieden zurück. Vielmehr unterstreicht er seine und Alex’ Ähnlichkeit, sieht sich und

1

Vgl. Borges: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, S. 115. – Wie William H. Bossart betont, ist diese Ununterscheidbarkeit von Fiktion und Realität eine der Konstanten im Œuvre Borges’: »[…] throughout his writings Borges maintains that fiction and reality interpenetrate one another and that there is no clear line of demarcation between them.« (William H. Bossart: Borges and Philosophy. Self, Time, and Metaphysics. New York u.a.: Lang 2003 [= Studies in Literary Criticism and Theory; 16], S. 17.)

2

Auch der Einfluß von Bergmans PERSONA macht sich hier eventuell wieder bemerkbar – für Thomas Koebner ein Film, in welchem »zwischen Traum und Wirklichkeitswahrnehmung, insbesondere der Vorstellungen von Alma, nicht scharf getrennt werden kann […].« (Thomas Koebner: Ingmar Bergman: Eine Wanderung durch das Werk. München: Edition Text+Kritik 2009, S. 107.) Insbesondere die Szene, in der Alma mit Elisabeths Mann im Bett liegt, dient Koebner als Beleg dafür, daß sich nicht mehr erschließen läßt, inwiefern »das Traumartige dieser Sequenz noch Bezug zum Wirklichkeitserleben der jungen Frau hat« (ebd., S. 102).

3

Die Ununterscheidbarkeit von Realität und Imagination bzw. Fiktion ist Roeg zufolge wesentlich dem Wesen des Films geschuldet: »Film opened the door of doubt to the collapse of the difference between fiction and reality.« (Roeg 2013, S. 219.)

4

Diese Ambivalenz konstatiert auch Neil Sinyard, wenn er TRACK 29 als ein »game with fantasy and reality« bezeichnet und insbesondere ein »mingling of fantasy and reality around Linda and Martin« diagnostiziert (Sinyard 1991, S. 119f.). Scott Salwolke attestiert dem gesamten Film »a dreamlike quality […] that is imparted by the way Martin appears and disappears […]« (Salwolke 1993, S. 154).

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ihn als Menschen des gleichen Schlags an, die sich deutlich von jenem Milenas unterscheiden. »I could understand…«, baut er dem Verdächtigen eine Brücke, damit dieser seine Tat zugibt, und fährt fort: »…people who live in this sort of disorder. A sort of moral and physical sewer. They spread it around them like an infectious disease. Dangerous creatures. To themselves and others. They envy our strength, our... capacity to fight, our will to master reality. What do they do? They try to drag us into their confusion, their chaos.«

Der Kampf gegen Konfusion, der Wille zur Beherrschung der Realität sind es, die Gestalten wie Netusil umtreiben. Doch in Roegs Welten wie im ›BorgesUniversum‹ scheint dies ein hoffnungsloses Unterfangen. Was Realität ist, ist nicht mehr entscheidbar, die Grenzen zur Imagination verschwimmen.1 Hierin ähneln sich die Filme Roegs und die Erzählungen (und Essays) Borges’. Oder wie es Philip French formuliert: »In Borges’ world dreams can become reality and reality become a dream, systems of rational speculation can lead to a nightmare demonstration that life is like a labyrinth, both carefully ordered and meaningless.«2 Das Labyrinth indes ist mindestens so sehr eine Roegsche Denkfigur wie eine borgesianische. Es bietet sich daher an, einen näheren Blick auf das Labyrinth als Denkfigur im Kontext der Weltkonstitution bei Roeg (und Borges) zu werfen. c) Roegs labyrinthische Welten – Schwellenphase und Existenzbedrohung Doppelgänger und Verunsicherung, Spiegel und Selbstvergewisserung: In Roegs Filmen sind die Figuren latenten oder manifesten Bedrohungen der Existenz ausgesetzt und im Status einer permanenten Suche gefangen. Die Welten, in denen sie sich bewegen, vermögen nur wenig Halt und Orientierung zu bieten, zumal ihr Status alles andere als eindeutig und gesichert ist. Wie auch die Traumwelten Borges’, in denen Wirklichkeit und Imagination ineinander übergehen, gleichen Roegs narrative Welten Labyrinthen, in denen die Identität der Figuren einem grundlegenden Wandel oder gar einer Auflösung unterworfen ist. Das Labyrinth erscheint als der

1

Joseph Gomez vergleicht in dieser Hinsicht das Ende von PERFORMANCE mit jenem von Michelangelo Antonionis BLOW-UP (1966). In beiden Filmen sieht er ein Verschwimmen der Grenzen von Imagination und Realität. Mit Blick auf PERFORMANCE hält er fest: »Finally, the ending of the film, like the final sequence of BLOW-UP, forces us, if we have not already done so, to question the boundaries between the real and the imaginary.« (Gomez 1977, S. 152.)

2

French 1971, S. 69.

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privilegierte Ort einer solchen Indentitätstransformation. Denn es gilt: »Keiner verläßt das Labyrinth als derselbe, als der er in das Labyrinth eingetreten ist. Spielen bedeutet auch Identitätsverlust oder zumindest Identitätswechsel.«1 Abbildung 58: Flächenmäander und Teppichornamente

PERFORMANCE (Donald Cammell/Nicolas Roeg, 1970)

Tatsächlich gleichen auch die Welten in Roegs Filmen Labyrinthen, in denen sich die Figuren in ihrer kreisenden, mäandernden Suche zu verlieren drohen. Das Labyrinth kann als die Denkfigur in Roegs Filmen schlechthin aufgefaßt werden. Mehr noch: seine Filme selbst sind, wie Jay Padroff hervorhebt, »labyrinthine films«.2 So

1

Hans Richard Brittnacher/Rolf-Peter Janz: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Labyrinth und Spiel. Umdeutungen eines Mythos. Göttingen: Wallstein 2007, S. 7-17; hier: S. 12.

2

Padroff 1981a, S. 17. – Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Nick Roddick. Über seinen Interview-Partner Roeg und dessen Filme urteilt er: »Like his films, his conversation

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verwundert es vielleicht nicht, daß sich in Roegs Filmen nicht nur immer wieder versteckte, sondern zum Teil auch sehr offensichtliche Anspielungen auf die (geometrische) Figur des Labyrinths bzw. des Irrgartens finden.1 Wieder einmal ist es PERFORMANCE, wo sich eine der Roegschen Konstanten erstmals manifestiert: Zu Beginn des zweiten Teils, kurz nachdem Turner als Figur eingeführt wurde, badet der Rockstar zusammen mit seinen beiden Geliebten Pherber und Lucy. Auffällig ist das ornamentale Fliesenmuster, das die große Badewanne umrahmt. Seiner Form nach erinnert es an römische Mosaik-Labyrinthe bzw. an ein Flächenmäander (Abb. 58, oben).2 Aufgegriffen wird diese mäandernde Form auch auf dem Teppich, auf dem Pherber liegt, kurz bevor sie im Bett mit Chas das Spiegelspiel spielt (Abb. 58, unten). Eine weitere explizite Bildanspielung findet sich in BAD TIMING, und zwar in jener bereits angeführten Szene, in der Alex ein Bild aufhängt, und in der anschließenden Einstellung Netusil genau das gleich Bild bei sich zu Hause von der Wand abnimmt (Abb. 59). »It is significant that the picture is a maze, a two-dimensional representation of the films labyrinth-like exploration.«3 – Scott Salwolkes Feststellung unterstreicht noch einmal, was bereits offensichtlich sein dürfte: Die Labyrinth-Bilder in Roegs Filmen fungieren als ein selbstreflexiver, metapoetischer Kommentar.

is labyrinthine.« (Nick Roddick: »None of the Above«, in: Cinema Papers 53 [1985], S. 41-44; hier: S. 41.) 1

Zu den zum Teil versteckten Labyrinth-Anspielungen in Roegs Filmen vgl. Izod 1992, S. 13.

2

Zur Form der römischen Labyrinth-Mosaiken vgl. Hermann Kern: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. 2. durchges. u. erw. Aufl. München: Prestel 1983, S. 118-138. – Der Mäander bezeichnet ein Ornamentband, d.h eine Linie, die »rechtwinklig gebrochen oder als Welle mit spiraligem Überschlag« verläuft (Christoph Wetzel: Reclams Sachlexikon der Kunst. Stuttgart: Reclam 2007, S. 291). Kern verweist darauf, daß der Mäander häufig mit dem Labyrinth verwechselt werde, strenggenommen von diesem aber zu unterscheiden sei, da er »zwar mit dem Labyrinth das ›Prinzip Umweg‹ gemeinsam hat, sich aber von ihm durch das Fehlen einer Abgrenzung nach außen, durch den Mangel sowohl einer geschlossenen Form als auch eines Zentrums unterscheidet.« (Kern 1983, S. 13f.) Gleichwohl zeigen zahlreiche der von Kern versammelten Beispiele eine enge Affinität von Labyrinth und Flächenmäander (vgl. ebd., passim).

3

Salwolke 1993, S. 80.

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Abbildung 59: Alex Linden, Friedrich Netusil und ihre Labyrinthe

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980)

Der Begriff ›Labyrinth‹ wurde bisher unreflektiert und undifferenziert verwendet. In der Tat ist eine genaue terminologische Differenzierung zum Teil nur schwer möglich (und wenig sinnvoll), denn der Begriff kann in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werden.1 Hermann Kern unterschiedet drei verschiedene Verwendungen: erstens als Metapher, d.h. als »Hinweis auf eine schwierige, unübersichtliche, verwirrende Situation«; zweitens in der Bedeutung von Irrgarten, d.h. »als Anlage (Gebäude oder Garten), die dem Besucher viele Wege zur Wahl anbietet, die ihn auch in Sackgassen oder in die Irre führen«; und drittens schließlich das »Labyrinth im eigentlichen Sinn«.2 Letzteres stellt eine »geometrische Form, mit runder oder rechteckiger Begrenzung nach außen« dar, die einem Grundriß ent-

1

Monika Schmitz-Emans spricht in diesem Zusammenhang folglich von einer »Unschärfe des ›Labyrinth‹-Begriffs« (Monika Schmitz-Emans: »Labyrinthe. Zur Einführung«, in: Kurt Röttgers/dies. [Hg.], Labyrinthe. Philosophische und literarische Modelle. Essen: Die Blaue Eule 2000, S. 7-32 [Schmitz-Emans 2000a]; hier: S. 9).

2

Kern 1983, S. 13 (Herv. i.O.). – Als »Irrgang-System« fungiert Kern zufolge das Labyrinth zunächst »als literarisches Motiv« (ebd.; Herv. i.O.).

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spricht.1 Im Gegensatz zum Irrgarten kann man sich in diesem univialen Labyrinth nicht verlaufen.2 Seine Gefahr besteht also nicht darin, eventuell nicht aus ihm herauszufinden. Im Mythos weist der Faden der Ariadne dem Helden Theseus den Weg aus dem Labyrinth hinaus, das Dädalus als Gefängnis für den Minotaurus geschaffen hat.3 Die Gefahr für den Labyrinthwanderer liegt aber gerade hier, in Form des Minotaurus, der im Zentrum des Labyrinths weilt. In diesem Sinne kann das Labyrinth als Sinnbild für einen existenzfeindlichen Kosmos betrachtet werden.4 Demgegenüber steht der Irrgarten, der den Wanderer immer wieder vor Alternativentscheidungen stellt, ohne das ihm ein Leitfaden (der Ariadne) in die Hand gegeben würde.5 Zwangsläufig enden viele der Wege in einer Sackgasse.1 Diese Ty-

1

Ebd. – Obgleich Labyrinth und Irrgarten also strukturell durchaus verschieden sind, weist Kern darauf hin, daß bereits in der Antike der »visuell eindeutige Begriff« des eigentlichen Labyrinths von der »Vorstellung ›Irrgarten‹ überlagert« wurde (ebd.). William Henry Matthews verwendet in seiner klassischen Studie über Mazes and Labyrinths (1922) – ›maze‹ entspricht der deutschen Bezeichnung ›Irrgarten‹ – beide Begriffe weitestgehend synonym (vgl. William Henry Matthews: Mazes and Labyrinths. Their History and Development. New York: Dover 1970 [Repr. d. Ausg. London: Longmans, Green 1922], S. 2f.).

2

Vgl. Schmitz-Emans 2000a, S. 25. – Umberto Eco dagegen spricht im mathematischen Sinn vom »›unikursalen‹ Labyrinth«, das ihm zufolge den ersten Grundtypus darstellt (Umberto Eco: »Prefazione«, in: Paolo Santarcangeli, Il libro dei labirinti. Milano: Sperling & Kupfer 2000, S. XI-XIV; hier: S. XIII [Übers. KS]).

3

Vgl. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. Bd. 2: Die Heroen-Geschichten. 19. Aufl. München: dtv 2001, S. 185. – Kern setzt die von den Begrenzungsmauern freigelassene Gasse gleich mit dem Faden der Ariadne (Kern 1983, S. 13).

4

Eco führt zu diesem Typus des univialen Labyrinths aus: »Dies ist das klassische Labyrinth, das keinen Ariadnefaden benötigt, da es von sich aus dieser Faden ist. Daher muß sich im Zentrum der Minotaurus befinden, um die ganze Sache weniger eintönig zu machen. Das Problem, das dieses Labyrinth stellt, ist nicht die Frage ›Wo komme ich heraus?‹, sondern ›Komme ich überhaupt heraus?‹ oder ›Komme ich lebend heraus?‹. Dieses Labyrinth ist das Bild eines Kosmos, in dem schwer zu leben ist, der aber alles in allem geordnet ist (es ist einen Verstand, der ihn erdacht hat).« (Eco 2000, S. XII [Übers. KS].)

5

Zu diesem Typus des Labyrinths als Irrgarten heißt es bei Eco: »[…] wenn man durch das klassische unikursale Labyrinth geht, hält man einen Faden in den Händen, aber wenn es einem gelingt, das manieristische Labyrinth zu entwirren, hält man keinen Faden in den Händen, sondern eine Baumstruktur, mit endlosen Verzweigungen, von denen neunundneunzig Prozent in seine Sackgasse führen (jede Gabelung stellt den Wanderer vor ein binäres Dilemma, doch nur eine Entscheidung – die richtige – führt zum Ausgang).« (Eco 2000, S. XII [Übers. KS].)

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pologie des Labyrinths ließe sich noch um eine weitere ›Spielart‹ erweitern: das Rhizom, das aber im Gegensatz zu den beiden anderen Formen keine Unterscheidung zwischen einem Innen und einem Außen kennt.2 Statt dessen ist für das rhizomatische Labyrinth seine Virtualität kennzeichnend.3 Trotz aller Unterschiede läßt sich gleichwohl eine Eigenschaft ausmachen, die für alle Formen des Labyrinths gleichermaßen kennzeichnend ist: »der desorientierende Effekt, den sie auf den ausüben, der sie betritt«, so Monika Schmitz-Emans.4 Alle Formen des Labyrinths können damit als Sinnbild der Welt eines suchenden und verlorenen Individuums gelten: »Was als gemeinsamer Nenner heterogener Labyrintherfahrung bleibt, ist die Idee des Irrens und der Suche, doch vielfach ist weder die Existenz des Gesuchten gewährleistet, noch die Existenz eines Wegs, der dorthin führt.«5 Umso mehr scheint es nötig, einen Führer durch das Labyrinth zu

1

Wie auch das univiale Labyrinth fungiert der Irrgarten Monika Schmitz-Emans zufolge »als Gleichnis des Erkenntnisprozesses« (Schmitz-Emans 2000a, S. 29; Herv. i.O.). Dabei drücke der Irrgarten aus, daß die Welt »Anlaß zu Irrgängen [bietet], bei denen man oftmals getroffene Entscheidungen revidieren und vorrübergehend eingeschlagene Richtungen aufgeben muß. Ein Sinn-Zentrum existiert, aber man kann es auch verfehlen.« (Ebd.)

2

Für Umberto Eco ist »das Rhizom oder das unendliche Netzwerk, in dem alle Punkte miteinander verbunden sind und in der die Reihenfolge der Verbindungen keinen theoretischen Endpunkt hat, da kein Innen und kein Außen mehr existiert«, der dritte Typus des Labyrinths (ebd. [Übers. KS])

3

Monika Schmitz-Emans führt zur Virtualität des Rhizoms als dritter Form des Labyrinths (neben dem univialen Labyrinth und dem Irrgarten) aus: »Besteht das Labyrinth des ersten Typs aus einem Weg, das des zweiten aus vielen Wegen, so entstehen beim dritten die Wege erst beim Gehen, sind also zunächst virtuell.« (Schmitz-Emans 2000a, S. 26.)

4

Monika Schmitz-Emans: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alices schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, in: Hans Richard Brittnacher/RolfPeter Janz (Hg.), Labyrinth und Spiel. Umdeutungen eines Mythos. Göttingen: Wallstein 2007, S. 138-169; hier: S. 138.

5

Schmitz-Emans 2000a, S. 10. – Suche und Irren des Individuums sind dabei zunächst das Ergebnis einer räumlichen Desorientierung: »Von Labyrinthen erzwungene Richtungswechsel sind Inbegriff der Desorientierung mit all ihren irritierenden Begleiterscheinungen, da die Orientierung im Raum die fundamentalste Form und die geläufigste Metapher von Orientierung überhaupt ist.« (Schmitz-Emans 2007, S. 138.) Als Denkfigur läßt sich dies aber auf die Erkenntnis der Welt übertragen, und zwar insofern, als das Labyrinth als »Gleichnis einer Welt, die nicht (oder nicht mehr) durchschaut werden kann, [als] Gleichnis eines Denkens, das nicht (oder nicht mehr) weiß, in welche Zielrichtung es sich bewegt«, aufgefaßt werden kann (Schmitz-Emans 2000a, S. 10).

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haben. Es ist just dieser Punkt, der Paolo Santarcangeli als Minimaldefinition des Labyrinths dient: »Ein gewundener Pfad, auf dem man ohne einen Führer leicht die Route verliert.«1 Tatsächlich findet sich in mindestens einem von Roegs Filmen die Gestalt eines solchen Führers: es ist der Aborigine in WALKABOUT, der das Mädchen und ihren jungen Bruder mit auf seine Initationsreise nimmt, so ihr Überleben sichert und sie schließlich zurück an den Rand der Zivilisation führt – und damit im übertragenen Sinne zum Ausgang des Labyrinths. Denn die Wüste läßt sich durchaus als ein Labyrinth betrachten.2 Diese Idee der Wüste als Labyrinth findet sich bereits bei Roegs ›Gewährsmann‹ Borges. Die Kurzgeschichte Una Leyenda Arábiga (Historia de los dos Reyes y los dos Laberintos, como Nota de Burton) (1939) erzählt von einem Labyrinth »wo keine Treppen zu steigen, keine Türen aufzustoßen, auch keine unermüdlichen Gänge zu durchwandern sind, und wo keine Mauern […] den Weg versperren.«3 Gemeint ist hiermit die Wüste Arabiens. Daneben ist es aber auch bezeichnend, daß der Aborigine mit seinem ›Walkabout‹ einen Initiationsritus durchläuft, wobei schon der Begriff ›to walk about‹ ein orientierungloses Herumziehen, ein Sich-verlieren impliziert.4 Für Hermann Kern nun stellt gerade das Labyrinth »eine Verkörperung des Initations-Vorgangs dar, wie sie vollkommener kaum gedacht werden kann«.5 Und Joseph Leo Koerner betont: »Sogar bei den Ureinwohnern Australiens hat das Labyrinthsymbol eine sehr alte Tradition.«6 Entscheidender jedoch erscheint: Initiationsriten gehören zu jenen Übergangsriten (rites de passage),7 die sich, wie Arnold van Gennep in seiner klassischen Stu-

1

Paolo Santarcangeli: Il libro dei labirinti. Milano: Sperling & Kupfer 2000, S. 27 [Übers. KS].

2 3

Vgl. auch Izod 1992, S. 13. Jorge Luis Borges: »Die zwei Könige und die zwei Labyrinthe«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 355f.; hier: S. 355.

4

Vincent Canby ist sogar der Auffassung, daß wir in WALKABOUT »actually the story of two, quite different rites of passage, those of a cheerful aborigine boy and of a sweet, very self-possessed English girl«, zu sehen bekommen (Vincent Canby: »›Walkabout‹, a Tribal Study in Survival«, in: The New York Times, 02.07.1971, S. 26).

5

Kern 1983, S. 26. – Kern zufolge versetzt das Labyrinth den Initianden in eine Situation körperlicher wie mentaler Prüfung, die dieser bestehen muß (vgl. ebd., S. 27.)

6

Joseph Leo Koerner: Die Suche nach dem Labyrinth. Der Mythos von Dädalus und Ikarus. Übers. v. Lore Brüggemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 25f.

7

Dem Verhältnis von Labyrinth und Initiation (rite de passage) spricht Manfred Schmeling eine besondere Bedeutung als ›Erzählmodell‹ zu: »In der Erzählliteratur erinnert an

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die (1909) dargelegt hat, grundsätzlich in drei Phasen unterteilen lassen: die Ablösungsphase, die Zwischenphase, d.h. Schwellen- oder Umwandlungsphase, und schließlich die Integrationsphase.1 Victor Turner hat van Genepps Begriff der Zwischenphase aufgegriffen und einer erweiterten Betrachtung unterzogen. Wesentlich für diese Schwellenphase sei der ungesicherte und mehrdeutige Status des Subjekts, das sich in einem Zustand von Nicht-mehr (Vergangenheit) und Noch-nicht (Zukunft) befindet: »during the intervening liminal period, the state of the ritual subject (the ›passenger‹) is ambiguous; he passes through a realm that has few or none of the attributes of the past or coming state […].«2 Während der Liminalphase ist der Initiand also ein Übergangswesen, eine »liminal persona«.3 Turner legt dar, daß dieser Zwischenzustand durch eine Reihe von Symbolen begleitet wird, zu denen Androgynität und Geschlechtslosigkeit gehören. Die Initianden »are symbolically either sexless or bisexual and may be regarded as a kind of human prima materia – as undifferentiated raw material.«4 Eingedenk dieser liminalen Ambiguität kann man Chas, dessen Männlichkeitsbild im zweiten Teil von PERFORMANCE auf die Probe gestellt und dessen gefestigte Sexualität hinterfragt wird, durchaus auch als einen Initianden auffassen, der seinen ganz persönlichen Übergangsritus durchläuft. Die in Turners Haus ausgelebte Promiskuität, mehr aber noch die Kostümierungsszene, in der Pherber Chas schminkt

den Einweihungsgedanken die grenzüberschreitende Bewegung des Helden in Zeit und Raum, wobei die äußere Überwindung einer Grenzzone (resp. des Labyrinths) immer auch einer inneren Bewegung vom Nicht-Wissen zum Wissen, d.h. einer ›geistigen Suche‹ entsprechen kann.« (Manfred Schmeling: Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, S. 15f.) 1

Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passages). Übers. v. Klaus Schomburg/Silvia M. Schomburg-Scherff. Mit einem Nachw. v. Silvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a.M.: Campus; Paris: Ed. de la Maison des Sciences de l’Homme 1999, S. 21.

2

Victor Turner: »Betwixt and Between: The Liminal Period in ›Rites de Passage‹«, in: Arthur C. Lehman/James E. Myers (Hg.), Magic, Witchcraft, and Religion. An Anthropological Study of the Supernatural. 5th ed. Mountain View, CA: Mayfield 2001, S. 46-55 (zunächst in: Melford E. Spiro [Hg]: Symposium on New Approaches to the Study of Religion. Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society. Seattle: Univ. of Washington Press 1964, S. 4-20); hier: S. 47.

3

Ebd. (Herv. i.O.) – In diesem Stadium ist der Initiand beispielsweise weder Junge noch bereits ausgereifter Mann, eine Eigenschaft, die auch auf den Aborigine auf seinem ›Walkabout‹ zutrifft.

4

Ebd., S. 49 (Herv. i.O.). – Turner hebt in diesem Zusammenhang hervor, daß sich Androgynität und Geschlechtslosigkeit durchaus soziologisch erklären lassen und daß dafür nicht psychologische Deutungsversuche bemüht werden müssen (vgl. ebd.).

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und eine Perücke aufsetzt, symbolisieren eine geradezu karnevaleske Subversion und Freiheit, wie sie Victor Turner zufolge für das Schwellenstadium kennzeichnend ist: »Liminality is the realm of primitive hypothesis, where there is a certain freedom to juggle with the factors of existence.«1 Turners Haus stellt damit eine Liminalität dar, als deren Manifestation das Labyrinth erscheint. So spricht Nick James mit Blick auf den Ort, an welchem sich die Handlung des zweiten Teils von PERFORMANCE zuträgt, von »a labyrinthine house in Powis Square«.2 Die labyrinthischen Qualitäten dieses Hauses bringt Stephen Farber auf den Punkt: »The intricate mise en scene and the shifts of perspective keep us from getting any clear sense of the house’s layout. Rooms seem to change in size and shape, and since Turner seems to have arranged a room every time we see it again, we are never secure in our bearings, never convinced that we have seen everything Turner’s luxurious world has to offer; we must make our way cautiously through a mysterious, enchanted labyrinth that always defies our comprehension.«3

Gleichwohl ist das Haus-Labyrinth in PERFORMANCE eines, aus dem es letztlich kein Entkommen gibt. Das Eindringen endet fatal, mehr noch für Chas als für Turner, den jener erschießt, der aber seine Identität einnimmt. Turner gleicht damit der Schreckenskreatur des Minotaurus, für den Dädalus im Auftrag des Königs Minos ein Labyrinth als Gefängnis entworfen hat. Doch auch für den Erbauer und seinen Sohn Ikarus wird das Labyrinth zu einem Gefängnis, in das beide von König Minos als Strafe eingesperrt werden, nachdem dieser von der Flucht des Theseus erfahren

1

Ebd., S. 53. – Wohl nicht von ungefähr erwähnt Turner François Rabelais, dessen Werke wiederum Michail Bachtin als Exempel des Karnevalesken und der subversiven Gegenkultur in der Literatur dienen. Dabei erkennt Bachtin im Karneval einen »Mischbereich von Realität und Spiel […], der sich den alltäglichen sozialhierarischen Beziehungen des gewöhnlichen Lebens entgegensetzt.« Mit anderen Worten: »Das karnevalistische Leben ist ein Leben, das aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgetreten ist. Der Karneval ist die umgestülpte Welt.« (Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Übers. u. mit einem Nachw. v. Alexander Kaempfe. Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 48.)

2

Nick James: »Nicolas Roeg – The Last British Romantic«, in: Sight and Sound (n.s.) 21 (2011), Nr. 3, S. 28-30; hier: S. 29. – Carsten Bergemann wiederum interpretiert die Ereignisse, die sich in Turners Haus vollziehen, als eine »labyrinthische Reise« (Bergemann 2004, S. 99).

3

Farber 1970, S. 19. – In einem ähnlichen Sinne spricht Carsten Bergemann von dem »magisch verspiegelte[n] Labyrinth der Behausung Turners« (Bergemann 2004, S. 100).

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hat.1 Allerdings gelingt ihnen die Flucht, von der Ovid in den Metamorphosen berichtet, und die mit dem Sturz des übermütigen Sohnes ins Meer endet.2 Eine direkte Anspielung auf den Ikarus-Mythos finden wir in THE MAN WHO FELL TO EARTH. Als Geschenk seiner Tochter findet Nathan Bryce in seiner Wohnung ein Kunstbuch vor. Als er es aufschlägt, ist eine Reproduktion der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus von Pieter Bruegel dem Älteren zu sehen (Abb. 60, oben). Später, nachdem er mit einer seiner Studentinnen Sex hatte, schlägt er das Buch noch einmal an der gleichen Stelle auf. Dieses Mal schwenkt die Kamera auch auf die gegenüberliegende Buchseite, auf der ein Auszug aus W.H. Audens Gedicht Musée des Beaux-Arts (1938) abgedruckt ist: »In Breughel’s Icarus, for instance: how everything turns away Quite leisurely from the disaster; the ploughman may Have heard the splash, the forsaken cry, But for him it was not an important failure; the sun shone As it had to on the white legs disappearing into the green Water, and the expensive delicate ship that must have seen Something amazing, a boy falling out of the sky, Had somewhere to get to and sailed calmly on.«3

Bild und Gedicht stellen einen offensichtlichen Kommentar auf die Situation Thomas Jerome Newtons dar: Ikarus gleich ist auch er auf die Erde (bzw. genauer in einen See) gefallen, doch in ihrer Geschäftigkeit scheinen die Menschen dies gar nicht wahrgenommen zu haben.4

1

Vgl. Apollodor: »Epitome, I, 12-14«, in: Achim Aurnhammer/Dieter Martin (Hg.), Mythos Ikarus. Texte von Ovid bis Wolf Biermann. 2. Aufl. Leipzig: Reclam 2001, S. 33f.; hier: S. 33.

2 3

Vgl. Ov. met. 8, 152-259 (Ovid 1991, S. 179-183). Zitiert nach: Wystan Hugh Auden: »Musée des Beaux-Arts«, in: Achim Aurnhammer/Dieter Martin (Hg.), Mythos Ikarus. Texte von Ovid bis Wolf Biermann. 2. Aufl. Leipzig: Reclam 2001, S. 189.

4

Für Aitken spiegelt diese Anspielung auf Bruegels Sturz des Ikarus vor allem die eigene Überladenheit von Roegs Film wider: »Brueghel gives us a world so cluttered with activity, the fall of a wax-winged man goes unremarked. But Breughel gives us a vision of the overwhelming busyness of living, a vision of impending chaos. Roeg gives us a clutter.« (Aitken 1976, S. 39.)

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Abbildung 60: Ikarus-Sturz und Labyrinth-Gefängnis

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

Zugleich weckt die Figur des Ikarus immer auch die Erinnerung an dessen Vater Dädalus, den Schöpfer des Labyrinths als Gefängnis. Tatsächlich befindet sich Newton gegen Ende des Films, nachdem er von Bryce verraten, von den Behörden gefangen und von Ärzten ausgiebig untersucht wurde, in einer Art Gefangenschaft. Die Räumlichkeiten, in denen er eingesperrt bzw. unter Hausarrest gestellt ist, gleichen einem Labyrinth: nur mit Hilfe eines niedergeschrieben Plans findet Mary-Lou den Weg durch die Räume zu Newton (Abb. 60, unten).1 Das Labyrinth als Gefängnis nimmt hier konkrete Form an; es ist ein Ort, »den man einfach betreten, aber nur schwer wieder verlassen kann«, wie es Eco formuliert.2 Vor allem mit Blick auf DON’T LOOK NOW wurde die labyrinthische Qualität des Settings immer wieder hervorgehoben. So ist nicht etwa nur John Izod der Auffassung, daß die dunklen Wege durch Venedig, in denen sich John und Laura immer wieder zu verlieren scheinen, einem Labyrinth gleichen: »Venice is the ›unseen‹ great maze of the film, an authentic multicursal labyrinth with endless win-

1

Izod 1992, S. 23.

2

Eco 2000, S. XI (Übers. KS).

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ding passages, false turnings, abrupt endings, and bridges to nowhere.«1 Amy Sargeant gelangt zu dem Schluß: »Venice (as in Italo Calvino’s novel Invisible Cities) is portrayed as a labyrinthine city […].«2 Ein Vergleich des Settings in DON’T LOOK NOW mit literarischen Venedig-Darstellungen liegt in der Tat nahe, ist hier die Beschreibung der Lagunenstadt als Labyrinth doch durchaus eine Konstante. Neben dem von Sargeant genannten Calvino-Roman Le città invisibili (1972) – selbst ein Buch, das seiner Struktur nach als labyrinthisch zu bezeichnen wäre3 – führt George B. von der Lippe einige einschlägige Beispiele aus der (deutschen) Literatur an,4 die hier als exemplarisch referiert werden können. Bereits Goethe notiert in seiner Italienische Reise unter dem Eintrag »Den 29sten, Michaelistag, abends« über seine Venedig-Impression: »Nach Tische eilte ich, mir erst einen Eindruck des Ganzen zu versichern, und warf mich ohne Begleiter, nur die Himmelsgegenden merkend, ins Labyrinth der Stadt, welche, obgleich durchaus von Kanälen und Kanälchen durchschnitten, durch Brücken und Brückchen wieder zusammenhängt. Die Enge und Gedrängtheit des Ganzen denkt man nicht, ohne es gesehen zu haben.«5

In seinem Eintrag vom nächsten Tag (»Den 30. September«) greift Goethe seinen Eindruck von der Lagunenstadt wieder auf: »Gegen Abend verlief ich mich wieder ohne Führer in die entferntesten Quartiere der Stadt. […] Ich suchte mich in und aus diesem Labyrinthe zu finden, ohne irgend jemand zu fragen, mich abermals nur nach der Himmelsgegend richtend. Man entwirrt sich wohl endlich, aber

1 2

Izod 1992, S. 21. – Vgl. auch ebd., S. 13 sowie Palmer/Riley 1995, S. 15. Amy Sargeant: British Cinema. A Critical History. London: British Film Institute 2005, S. 282.

3

Vgl. Italo Calvino: Le città invisibili. Milano: Mondadori 1993. – Zur labyrinthischen Stadtdarstellung in und zur labyrinthischen Struktur von Le città invisibili vgl. Kerstin Pilz: »Reconceptualising Thought and Space: Labyrinths and Cities in Calvino’s Fictions«, in: Italica 80 (2003), Nr. 2, S. 229-242.

4

Vgl. George B. von der Lippe: »Death in Venice in Literature and Film. Six 20th-Century Versions«, in: Mosaic – A Journal for the Interdisciplinary Study of Literature 32 (1999), Nr. 1, S. 35-54.

5

Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise. Teil 1. Hg. v. Christoph Michel/Hans Georg. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993 (= Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hg. v. Friedmar Apel u.a. 1. Abteilung. Sämtliche Werke Bd. 15/1), S. 73. – Vgl. auch von der Lippe 1999, S. 37.

238 | KINO DER UNORDNUNG es ist ein unglaubliches Gehecke ineinander, und meine Manier, sich recht sinnlich davon zu überzeugen, die beste.«1

Abbildung 61: »I never minded being lost in Venice.«

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

Ebenso verlaufen sich John und Laura Baxter, als sie im Anschluß an die ›Liebesszene‹ in einem Restaurant etwas zu Abend essen wollen. »Hey, come, here, I think I’ve found the way«, ruft Laura, doch John ist sich sicher: »We’ve been over this bridge already.« Dem Zuschauer gleich, der von Anfang an Schwierigkeiten hat, die dargestellten Ereignisse richtig einzuordnen, sich im Film zu orientieren, haben sie in den labyrinthischen Gassen die Orientierung verloren; immer wieder geraten sie in Sackgassen, die nirgends weiterführen (Abb. 61). Laura nimmt es gelassen: »I never minded being lost in Venice.« Die Erfahrung der Baxters gleicht damit jener, die August von Platen in seinem Sonett-Zyklus ›Venedig‹ (1824) artikuliert. Dort heißt es über die Lagunenstadt: »Dies Labyrinth von Brücken und von Gassen, Die tausendfach sich ineinander schlingen, Wie wird hindurchzugehn mir je gelingen? Wie werd ich je dies große Rätsel fassen?«2

1

Ebd., S. 75. – Vgl. auch von der Lippe 1999, S. 37. – Es ist bezeichnend, daß Goethe hier explizit auf den fehlenden Führer verweist – jene Gestalt, die Santarcangeli zum Bestandteil seiner Minimaldefinition des Labyrinths macht (vgl. Santarcangeli 2000, S. 27).

2

August von Platen: Gedichte. Ausw. u. Nachw. v. Heinrich Hensel. Stuttgart: Reclam 1984, S. 51. – Vgl. auch von der Lippe 1999, S. 38.

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Dislokation und Desorientierung, wie sie in diesen Texten und der Filmszene zum Ausdruck kommen, sind wesentlich mit dem Labyrinth verbunden. So konstatiert auch Monika Schmitz-Emans, »daß Labyrinth-Erfahrungen sich im Spannungsfeld zwischen Orientierung und Desorientierung vollziehen«.1 Ganz in diesem Sinne erinnert sich gegen Ende von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1911) Gustav von Aschenbach, wie er in den Straßen Venedigs die Orientierung verlor: »Mit versagendem Ortssinn, da die Gäßchen, Gewässer, Brücken und Plätzchen des Labyrinthes zu sehr einander gleichen, auch der Himmelsgegenden nicht mehr sicher«, folgte er dem Jüngling Tadzio durch »das innere Gewirr der kranken Stadt«.2 Auch John Baxter folgt am Ende des Films einer vermeintlichen Kindergestalt durch die Gassen Venedigs, das in DON’T LOOK NOW mit seiner tristen Winteratmosphäre deutlicher noch als bei Thomas Mann als eine morbide und sogar bedrohliche Stadt daherkommt. Er ist am Ende des Films »lost in a labyrinth without a pattern.«3 Nicht ganz unpassend spricht Thomas Koebner daher mit Blick auf DON’T LOOK NOW von der »Halb-Unterwelt des venezianischen Stadt-Irrgartens«4 – freilich ohne daß sich John Baxter dieser Gefahren bewußt wäre. Oder, wie HansJoachim Neumann es formuliert: »Die Welt, in der er sich bewegt, wird zu einem labyrinthischen Zeichen- und Hinweissystem, das der Held unter Lebensgefahr deuten muß.«5 Das Bild des roten Regenmantels fungiert dabei als Ariadne-Faden in seiner Verkehrung – ein fataler Faden, der John nicht aus dem Labyrinth und seiner Gefahr hinaus, sondern tiefer hinein und seinem Tode entgegen führt. Fabienne Liptay stellt mit Blick auf das Motiv des roten Mantels fest: »Geisterhaft spukt dieses Bild in den Wasserstraßen Venedigs, als sei das Mädchen (eine Eurydike, über

1

Schmitz-Emans 2000a, S. 18. – Es ist dabei nicht außer acht zu lassen, daß der umgangssprachliche Gebrauch des Wortes ›Labyrinth‹ Schmitz-Emans zufolge »fast immer verbunden mit den Implikationen der Komplexität und der zumindest drohenden Desorientierung« ist (ebd., S. 11).

2

Thomas Mann: »Der Tod in Venedig«, in: ders., Frühe Erzählungen. Hg. u. textkrit. durchges. v. Terrence J. Reed unter Mitarb. v. Malte Herwig. Frankfurt a.M.: Fischer 2004 (= Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. v. Heinrich Detering u.a.; Bd. 2.1), S. 501-592; hier: S. 586f. – Vgl. auch von der Lippe 1999, S. 40.

3 4

Farber 1973, S. D15. Thomas Koebner: »›No Way Out‹. Zum Labyrinthmotiv im Film«, in: Hans Richard Brittnacher/Rolf-Peter Janz (Hg.), Labyrinth und Spiel. Umdeutungen eines Mythos. Göttingen: Wallstein 2007, S. 127-137; hier: S. 133.

5

Hans-Joachim Neumann: »Don’t Look Now«, in: Norbert Stresau/Heinrich Wimmer (Hg.): Enzyklopädie des phantastischen Films, Band 2. Meitingen: Corian 1986-2004 (8. Erg.-Lfg. September 1988), S. 5.

240 | KINO DER UNORDNUNG

die ein Blickverbot verhängt ist?) gefangen in einer labyrinthischen Hadeswelt, aus der es keinen Ausweg gibt.«1 Johns Desorientierung und Verlorensein im Labyrinth Venedigs sind dabei eng an das Problem von Sehen und Verkennen geknüpft. Bereits als er und Laura sich auf ihrem nächtlichen Spaziergang verirren, ist er sich sicher, den richtigen Weg zu kennen, was sich indes als Trugschluß herausstellt. Es ist also durchaus Marcus Stiglegger zuzustimmen: »Die geheimnisvolle Stadt Venedig bricht die Macht des kontrollierenden Blicks mit einem unüberschaubaren Labyrinth an Gäßchen und Brücken, Säulengängen und Kanälen.«2 Die Einschränkung des Blicks gehört zu den Charakteristika des Labyrinths. So führt Penelope Reed Doob aus: »Ancient and medieval labyrinths or mazes […] are characteristically double. […] They presume a double perspective: maze-treaders, whose vision ahead and behind is severely constricted and fragmented, suffer confusion, whereas maze-viewers who see the pattern whole, from above or in a diagram, are dazzled by its complex artistry.«3

Kennzeichnend für Labyrinthe ist somit immer eine Form der ›doppelten Optik‹.4 Eine Verdoppelung der ›Labyrinth-Optik‹ wird in der Polizeistation deutlich, die John Baxter aufsucht, um nach Laura fahnden zu lassen: obwohl diese nach England zurückgeflogen ist, meint John, in Verkennung seiner eigenen hellseherischen Fähigkeit, sie zusammen mit den schottischen Schwestern in Venedig gesehen zu

1

Liptay 2006, S. 58.

2

Stiglegger 1998, S. 21.

3

Penelope Reed Doob: The Idea of the Labyrinth. From Classical Antiquity through the Middle Ages. Ithaca, NY/London: Cornell Univ. Press 1990, S. 1. – Wie Doob weiter ausführt, ist für die Wahrnehmung des Labyrinths wesentlich der Standpunkt des Betrachters entscheidend: »What you see depends on where you stand, and thus, at one and the same time, labyrinths are single (there is one physical structure) and double: they simultaneously incorporate order and disorder, clarity and confusion, unity and multiplicity, artistry and chaos. They may be perceived as path (a linear but circuitous passage to a goal) or as pattern (a complete symmetrical design). They are dynamic from a mazewalker’s perspective and static from a privileged onlooker’s point of view. […] Our perception of labyrinths is thus intrinsically unstable: change your perspective and the labyrinth seems to change.« (Ebd.)

4

Zur Semantik der ›doppelten Optik‹ vgl. Achim Hölter: »›Doppelte Optik‹ and ›lange Ohren‹ – Notes on the Aesthetic Compromise«, in: Paul Ferstl/Keyvan Sarkhosh (Hg.), Quote, Double Quote. Aesthetics between High and Popular Culture. Amsterdam/New York: Rodopi 2014 (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft; 171), S. 43-63.

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haben. Die Polizeistation weist dabei eine Labyrinthstruktur auf, die mise-enabyme-gleich die der Lagunenstadt verdoppelt (Abb. 62).1 Abbildung 62: Venedigs labyrinthische Hades-Welt

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

Die mehrfache labyrinthische Struktur und ihr Zusammenspiel mit dem übernatürlichen Erkennen und Verkennen verdeutlichen, daß in DON’T LOOK NOW Vernunft und die Auffassung einer vermeintlich eindeutigen Wirklichkeit ins Wanken geraten.2 »I found the real world. It’s down here«, sagt John zu Laura, als er bei der nächtlichen Wanderung endlich den Weg aus den labyrinthischen Seitenstraßen hinausgefunden hat – und charakterisiert damit deren Wesen zugleich als ein irreales. Darin erweist sich einmal mehr der sehr borgesianische Charakter des Films. So gelangt auch Philip French zu dem Schluß: »The way of looking at labyrinthine Venice and its relationship to the characters’ fates derives, in part at least, from Jorge Luis Borges.«3 Wie Adelheid Hanke-Schaefer betont, spielt das »Labyrinth als architektonischer Wunderbau […] für Borges in all seinen Varianten als Spirale, konzentrischer

1

Vgl. auch Sanderson 1996, S. 27. – Für Sanderson sind diese labyrinthischen Strukturen ein Beleg dafür, daß sich das ganze Geschehen in der Einbildung Johns abspielt: »The network of sulci – the serpentine grooves on the surface of the brain – resembles a labyrinth: in one sense the whole film takes place inside John’s head.« (Ebd.)

2

In diesem Sinne konstatiert auch Janet Ann Baker: »Roeg steadily undermines our faith in reason until the audience is as lost as the Baxters in the maze of Venice streets.« (Baker 1977, S. 58.)

3

O’Hagan/French 2006, S. 6.

242 | KINO DER UNORDNUNG

Kreis, Mandala oder Feuerrad eine signifikante Rolle.«1 Dabei zeichnet es sich durch ein Wechselspiel von Flucht und immer tieferem Eintauchen aus,2 wie es auch für die Handlung von PERFORMANCE kennzeichnend ist. Und hier sind es gerade die zahlreichen Anspielungen auf Jorge Luis Borges, die den Film eng mit dem Konzept des Labyrinths verbinden – was schließlich in jener Szene kulminiert, in der Chas auf Turner schießt: der Weg der Kugel durch das Gehirn des Rockstars gleicht selbst einem Labyrinth.3 Diesem entspricht das labyrinthische Wesen von Turners Haus, das seinen sinnfälligen Ausdruck bereits im Mäandermuster der Badezimmerfliesen findet, und das unterstreicht, daß hier die Regeln einer geordneten Wirklichkeit außer Kraft gesetzt sind.4 Gerade für die Figur des Labyrinths ist ein Dualismus von Ordnung und Unordnung kennzeichnend. Das Labyrinthsymbol »verkörpert in seinen Mustern sowohl Chaos wie Ordnung, Wissen wie intellektuelle Verwirrung«, wie es Joseph Leo Körner formuliert.5 Ebenso hebt Manfred Schmeling hervor: »Im Wort ›Labyrinth‹ ist strukturell und konzeptuell auf einen Begriff gebracht, was die Welt an chaogenen, aber auch an ordnenden Elementen beinhaltet.«6 Mit anderen Worten: Das Labyrinth, das sich als Liminalität auffassen läßt, zeichnet sich durch eine Polarität von Struktur und Anti-Struktur aus, wie sie Victor Turner zufolge Grundlage für Rituale ist (wozu freilich auch die rites de passage gehören).7 Diese Polarität ist auch kennzeichnend für die formale Struktur von Roegs Filmen; sie sind strukturell labyrinthisch: »Finally, the films themselves are labyrinths – of each it might be

1

Hanke-Schaefer 1999, S. 126. – Sie konkretisiert diese Bedeutung wie folgt: »Das Labyrinth zählt in Borges’ Werk zu den ›Urbildern‹ im Sinne von C.G. Jung als Bilder des kollektiven Unbewußten.« (Ebd.)

2

Vgl. Sharon Lynn Sieber: »Time, Simultaneity, and the Fantastic in the Narrative of Jorge Luis Borges«, in: Romance Quarterly 51 (2004), Nr. 3, S. 200-211; hier: S. 208.

3

Vgl. Izod 1992, S. 20. – Zu den Anspielungen auf Labyrinthe durch die Schriften Jorge Luis Borges’ und den Mythos des Minotauros in PERFORMANCE vgl. auch ebd., S. 13.

4

Dies deckt sich mit John Izods Interpretation, der hervorhebt: »The bath maze in PERFORMANCE

reinforces expectations set up by repeated reference to Borges’s work that are

to encounter the strange distortions the unconscious effects on consciously ordered reality.« (Ebd., S. 18.) 5

Koerner 1983, S. 35. – Auch Penelope Reed Doob weist darauf hin, daß sich das Labyrinth wesentlich durch Antagonismen auszeichne: »In short, the maze is an embodiment of contraries – art and chaos, comprehensible artifact and inexplicable experience, pleasure and terror.« (Doob 1990, S. 24f.)

6 7

Schmeling 1987, S. 15f. Vgl. Victor Turner: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. New Brunswick, NJ: Aldine Transaction 2008.

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said that it is a maze and does amaze«, so John Izod.1 Roegs Filme stellen offensichtlich Reflexionen über eine grundsätzliche labyrinthische Verfaßtheit des Menschen, seine Wahrnehmung und seine Welt dar.2 Dieses spiegelt sich auch in der Weise wider, wie Roegs Filme erzählen. Einmal mehr ist es John Izod, der dies treffend zusammenfaßt: »Roeg, ignoring the structures of mainline commercial movies, presents his audiences with material which has not been totally ordered into such a linear structure. The spectator is left with work to do, work which makes the process of bringing fragments of the film together to form meaning comparable to finding a way through a maze.«3

In der Art und Weise, wie wir als Zuschauer Roegs Filme sehen, teilen wir zugleich die labyrinthische Weltwahrnehmung der Figuren in den Diegesen, die diese hervorrufen. So konstatiert auch Janet Ann Baker: »Roeg immerses the viewer in an

1

Izod 1992, S. 14. – Mit Blick auf PERFORMANCE hat Jörg Helbig eine ähnliche Einschätzung: »An Borges […] erinnert vor allem die labyrinthische Struktur des Films.« (Helbig 1999, S. 255.) Andrew Patch wiederum spricht von »temporal labyrinths of dissociation« in DON’T LOOK NOW (Andrew Patch: »Beneath the Surface. Nicolas Roeg’s ›Don’t Look Now‹«, in: Paul Newland [Hg.], Don’t Look Now. British Cinema in the 1970s. Bristol/Chicago: Intellect 2010, S. 254-264; hier: S. 258.) – Für Joseph Lanza wird diese Affinität Roegs zu labyrinthischen Strukturen bereits bei A PRIZE TO ARMS (Cliff Owen, 1962) offenkundig. Er schreibt über diesen Film, dessen Drehbuch Roeg mitverfaßt hat: »[…] A PRIZE TO ARMS is too supernatural to be realistic and vice versa. Hence, Roeg makes his first entry into the maze of narrative paradox, like an Escher moebius, gets more vertiginous and reflexive as the 1960s continue.« (Lanza 1989, S. 21.)

2

Dies ist ein Anliegen, das Roeg wieder einmal offensichtlich mit Borges teilt. So rekurriert auch dieser permanent auf das Labyrinth »to express the nature of the world, the universe and reality itself«, wie es Ernest H. Redekop formuliert (Ernest H. Redekop: »Labyrinths in Time and Space«, in: Mosaic. A Journal for the Interdisciplinary Study of Literature and Ideas 13 [1980], Nr. 3/4, S. 95-113; hier: S. 95). Er zieht daraus den Schluß: »All Borges’ work, one might say, is a multiplication of labyrinths.« (Ebd., S. 97.)

3

Izod, 1992, S. 15. – Ähnlich argumentiert Peter Schulze: »Insbesondere PERFORMANCE weist einen Montagestil auf, der das Filmgeschehen gerade nicht zu einer überschaubaren Handlung zusammenfügt und ordnet. Vielmehr entstehen durch die Montage labyrinthische Verknüpfungen und zeitliche Verschachtelungen, wobei diese nicht zuletzt auch auf die zunehmende Fragmentierung der Persönlichkeit des Protagonisten und dessen immer brüchiger werdende Identität hinzudeuten scheinen.« (Schulze 2006, S. 25.)

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experience similar to his characters’; thus his movies offer potentially transforming growth experiences.«1 Das Labyrinth fungiert bei Roeg ganz offensichtlich als Sinnbild und als Reflexion über eine grundlegende Struktur des menschlichen Denkens und Wahrnehmens, das sich immer schon in labyrinthischen Bahnen vollzieht – und anders auch gar nicht kann. Denn wie Umberto Eco hervorhebt, ist ein ›Antilabyrinth‹ gar nicht zu denken: »Wenn es nicht möglich war, sich ein Antilabyrinth vorzustellen, so bedeutete dies wahrscheinlich, daß der menschliche Geist mehr dazu geeignet ist, Labyrinthe zu denken, als ihr Gegenteil, und somit stellt das Labyrinth eine archetypische Struktur dar (welche Bedeutung man diesem Begriff auch beimißt), die unsere Art und Weise, wie wir die Welt denken, widerspiegelt (oder bestimmt) [...].«2

Und wenn Eco behauptet, daß ein Buch über Labyrinthe selbst auch stets die Form eines Labyrinths hat,3 so kann man dies mit Fug und Recht auch von Roegs Filmen sagen. Ein gutes Beispiel hierfür ist EUREKA, bei dem die Denkfigur des Labyrinths geradezu als Schlüssel zum Verständnis des Films dient: »The best avenue of approach to the film, offering an Ariadne’s thread through this maze of criss-crossing paths and connections, is probably by way of the title and its twin echo in Poe and Welles.«4 Der Film ist damit selbst ein Labyrinth, durch das man seinen Weg nur in Kenntnis der zahlreichen intertextuellen Anspielungen finden kann.5 Einen Erzähltext – sei es nun ein literarischer oder ein filmischer – als labyrinthisch zu bezeichnen, scheint prima facie paradox, und zwar insofern, als für Erzähltexte ihre zeitliche Gebundenheit konstitutiv zu sein scheint (vgl. II 3) a)). Dagegen sind Labyrinthe »zunächst einmal räumliche Strukturen«, wie Monika Schmitz-Emans hervorhebt und ausführt: »Labyrinthe haben eine Gestalt, auch wenn diese sich dem Überblick entziehen mag; sie unterwerfen den von ihnen umfaßten Raum einer Ordnung, auch wenn diese dem Betrachter undurchschaubar ist.«6 Gleichwohl lassen sich ihr zufolge auch zeitliche Labyrinthe denken – und

1

Baker 1977, S. iv.

2

Eco 2000, S. XII [Übers. KS].

3

Eco betont: »Ein Buch über Labyrinthe kann selbst nur labyrinthisch sein […].« (Eco 2000, S. XI [Übers. KS].)

4 5

Milne 1983, S. 116. Dazu paßt die Einschätzung Harlan Kennedys von EUREKA als »one of the richest movie labyrinths since CITIZEN KANE.« (Kennedy 1983, S. 20.) – Zu Roegs intertextuellen Verfahrensweisen vgl. IV 2) b).

6

Schmitz-Emans 2000a, S. 17 (Herv. i.O.).

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zwar, wenn man vom Handlungsaspekt ausgeht: Der Weg, den ein Labyrinth beschreibt, kann als Bild für einen Handlungsverlauf gedeutet werden. »Auf diesem Weg-Charakter des Labyrinths beruht seine zeitliche Komponente.«1 Dieses ›Begehen eines Weges‹ als Grundlage eines Zeit-Labyrinths ist der zentrale Gedanke in Borges’ Geschichte El Jardín de senderos que se bifurcan (1941). Diese handelt von dem chinesischen Englisch-Dozenten Yu Tsun, der während des Ersten Weltkriegs als Spion für die Deutschen arbeitet. Als dies auffliegt, flüchtet er in das Haus des Sinologen Dr. Stephen Albert. Dieser berichtet Yun von dessen Vorfahren Ts’ui Pên, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, nicht nur ein Buch zu schreiben, sondern auch »ein Labyrinth zu bauen, in dem alle Menschen sich verirren sollten.«2 Wie der Sinologe dem Ur-Enkel – und damit uns, den Lesern, – kundtut, hat er herausgefunden, daß Ts’ui Pên beides in einem realisiert hat: Das Buch, das den Titel ›Der Garten der Pfade, die sich verzweigen‹ trägt und sich durch sein Durcheinander auszeichnet, beschreibt Albert als ein »unsichtbares Labyrinth aus Zeit.«3 Die Pfade, die der fiktive Roman in seinem Titel trägt, bezeichnen eine »Verzweigung in der Zeit«.4 Dieser Gedanke der Bifurkation wird an späterer Stelle (vgl IV 3) c)) noch genauer aufzugreifen sein. 5 Für den Moment mag er als Beispiel dafür genügen, daß Texte als labyrinthisch zu bezeichnen sind, wenn »sich unterschiedliche Zeit- und Handlungsebenen ineinander verschlingen und ein Strukturplan infolgedessen die Gestalt eines graphischen Labyrinths annehmen müßte.«6 Borges ist der Gedanke der Zeit als Labyrinth also alles andere als fremd: Es liegt im Wesen der Zeit, daß sie labyrinthisch ist. So legt auch Mark Mosher mit Blick auf die Schriften Borges’ dar: »Time, then, is just as labyrinthine as space; it twists, turns, moves forward and backward, etc.«7

1

Ebd., S. 18 (Herv. i.O.).

2

Borges: Der Garten der Pfade, S. 165.

3

Ebd., S. 168.

4

Ebd., S. 169.

5

Zum Aspekt zeitlicher Bifurkation in Borges’ Erzählung vgl. auch Robert M. Philmus: »Wells and Borges and the Labyrinths of Time«, in: Science-Fiction Studies 1 (1974), Nr. 4, S. 237-248; hier: S. 238.

6

Monika Schmitz-Emans: »Text-Labyrinthe. Das Labyrinth als Beschreibungsmodell für Texte«, in: Kurt Röttgers/dies. (Hg.), Labyrinthe. Philosophische und literarische Modelle. Essen: Die Blaue Eule 2000, S. 135-166 [Schmitz-Emans 2000b]; hier: S. 147.

7

Mark Mosher: »Atemporal Labyrinths in Time. J.L. Borges and the New Physicists«, in: Symposium. A Quarterly Journal of Modern Literatures 48 (1994), Nr. 1, S. 51-61; hier: S. 57. – Gerade wegen dieser Eigentümlichkeit der Zeit kann Monika Schmitz-Emans behaupten: »Als roter Faden durch das Labyrinth der Weltenentwürfe bewährt sich der

246 | KINO DER UNORDNUNG

Ein zeitliches Labyrinth entwirft aber auch Alain Resnais in seinem Film L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (1961), zu dem Alain Robbe-Grillet das Drehbuch verfaßt hat. »The repetition of scenes forms a maze in time rather than in space«, faßt Clark M. Zlotchew die Struktur des Films treffend zusammen.1 Wie Zlotchew weiter argumentiert, fordert dieser Film den Zuschauer dazu heraus, eine lineare Handlung aus dem zeitlichen Labyrinth zu extrahieren2 – ein Unterfangen, das alles andere als leicht ist, ist doch der Zuschauer angesichts des Films ebenso orientierungslos wie der Wanderer im Labyrinth. Resnais’ Film ruft eine labyrinthische Erfahrung im Zuschauer hervor.3 So wundert es wahrlich nicht, daß Roegs Filme wiederholt Vergleiche mit jenem Resnais’ und Robbe-Grillets hervorgerufen haben.4 Nicolas Roeg selbst räumt den Einfluß von L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD auf sein eigenes Schaffen ein. Im Gespräch mit Tony Crawley äußert er sich geradezu überschwenglich über L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD – und insbesondere über den Regisseur des Films: »Curiously enough, Robbe-Grillet was trying to

Faden der Erzählung, gerade weil er sich vielfach verschlingen läßt.« (Schmitz-Emans 2007, S. 169.) 1

Clark M. Zlotchew: »The Collaboration of the Reader in Borges and Robbe-Grillet«, in: The Michigan Academican 14 (1981), Nr. 2, S. 167-173; hier: S. 169.

2 3

Vgl. ebd. Ursula von Keitz etwa ist der Auffassung, daß »die dem Film eigene Form der Zeittraversierung, des unvermittelten Abbruchs von Szenen und des Neueinsetzens der Imagination […] die Wahrnehmung des Zuschauers elementar« verunsichere (Ursula von Keitz: »Das Zeitverlies. Zur Desorientierung filmischer Chronologie in Alains Resnais’ ›L’année dernière à Marienbad‹«, in: Christine Rüffert u.a. [Hg.], ZeitSprünge. Wie Filme Geschichte[n] erzählen. Berlin: Bertz 2004, S. 151-161; hier: S. 156). Weiterhin führt sie zu L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD aus: »Das Verfahren des Erinnerns (oder Vorstellens) gleicht dabei einem Versuch-und-Irrtum-Prinzip, gemäß dem in einem Labyrinth nach immer neuen Wegen zum Zentrum gesucht wird.« (Ebd., S. 157.)

4

Marsha Kinder und Beverle Huston vergleichen PERFORMANCE mit L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD:

»As in LAST YEAR AT MARIENBAD, past, present, future, and conditional

are all accessible to the camera, but in this film they are not changed into the present time and personal vision of any individual character. Instead, the point of view is frankly clairvoyant, polymorphous in its perspective, and completely omniscient as it views phenomena.« (Kinder/Huston 1972, S. 366.) Neil Sinyard gelangt allgemein zum dem Schluß: »Like Resnais, Roeg is an obsessive time-traveller in his films.« (Sinyard 1991, S. 137.) Auch Scott Salwolke hebt den Einfluß Resnais’ auf das Schaffen Roegs hervor: »If Roeg was impressed with HIROSHIMA, MON AMOUR, LAST YEAR AT MARIENBAD was revelation, with its manipulated time and inclusion of fantasy and memory.« (Salwolke 1993, S. 1.)

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shift literature to the cinema and Resnais was shifting cinema from literature. Resnais is an amazing film-maker. A-m-a-z-i-n-g! Just one of the superb film-makers.«1 Abbildung 63: Altern als Maß der Zeit? – Nathan Bryce

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

Der Vorstellung des Labyrinths liegt also grundsätzlich auch eine zeitliche Dimension zugrunde. Dieses kommt schon im Gedanken des Labyrinths als einem Schwellenzustand, als Liminalität zum Ausdruck, den Manfred Schmeling aufgreift: »Für den Initianden beispielsweise, der nach dem Labyrinth-Abenteuer einen neuen gesellschaftlichen Status erreicht, erscheint der Aufenthalt im Labyrinth […] als ein Zustand ›außerhalb der Zeit‹.«2 Gleichsam außerhalb der Zeit befindet sich auch Thomas Jerome Newton in THE MAN WHO FELL TO EARTH; während MaryLou, Bryce und alle anderen um ihn herum im Laufe des Films deutlich altern, scheint er von diesem Vorgang nicht betroffen zu sein. Besonders deutlich tritt dies zutage, als Newton am Ende des Films sein ›Gefängnis‹ verlassen hat und Nathan Bryce wiederbegegnet, der längst ein älterer Mann mit Bart und grauen Haaren ge-

1

Tony Crawley: »The Last British Film Maker«, in: Films Illustrated (July 1980), S. 391396; hier: S. 394 (Herv. i.O.). – In einem Gespräch mit Georges Cohen wiederum vergleicht Roeg seinen eigenen Film THE MAN WHO FELL TO EARTH mit dem genannten Film Resnais’ und weist auf die eigentümliche Zeitstruktur hin, die beiden zugrunde liege: »Als L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD zum ersten Mal in die Kinos kam, hörte ich einige Leute aus dem Filmbusiness sagen, daß der Film lächerlich sei. Heute haben die gleichen Leute, die gleichen Produzenten, die Revolution der Formen angenommen. Wir entwickeln uns ständig weiter. Wenn man sich THE MAN WHO FELL TO EARTH ansieht, muß man sich gleichfalls von jeglicher zeitlichen Kategorie befreien. Die Zeit ist etwas, was wir erfinden.« (Georges Cohen: »Lettre de Londres. Entretien avec Nicholas Roeg«, in: Cinéma 210 [juin 1976], S. 22-25; hier: S. 25 [Übers. KS].)

2

Schmeling 1987, S. 43.

248 | KINO DER UNORDNUNG

worden ist (Abb. 63). Doch auch Newtons ›Gefängnis‹ gleicht einem ZeitLabyrinth. John Izod führt dazu aus: »[…] when he tries to escape, Newton finds as he reaches the main door that he is kept back not so much by bars and bolts (of which there is no sign) as by something which has to do with time – for whenever her approaches the door we hear a grinding and clattering of clocks.«1 Akustisch wird damit die Temporalität von Netwons Gefangenschaft mehr als deutlich ausgestellt. Es ist dies ein Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist, schließlich ist ein Gefangensein im Labyrinth grundsätzlich mit einer existentiellen Erfahrung der Zeit verbunden: »Einem Labyrinth nicht mehr entkommen zu können bedeutet, daß die Stelle, an der der Wanderer schon gewesen ist – der Eingang ins Labyrinth –, verlorengegangen und die Stelle, zu der er hinstrebt – das Ziel, zu dem die düsteren Pfade führen –, unbekannt ist. Die Zeit ist die begrenzende Dimension seines Gesichtskreises. Der Wanderer existiert nur in einem zeitlichen Kontinuum, in der Geschichte, und er kann den Lauf des Labyrinths nicht zu gegenwärtigem Sein zusammenfassen. Er kann nicht gleichzeitig dort sein, wo er war, wo er ist und wo er sein wird, sondern er muß die Erfahrung des Labyrinths jeweils an einer ganz bestimmten Stelle und zu einer bestimmten Zeit machen.«2

Das Labyrinth verweigert dem Subjekt die Möglichkeit, seine Erfahrungen als eine lineare Geschichte zu interpretieren. In diesem Sinne können die Figuren in Roegs Filmen als Repräsentanten der Zuschauers betrachtet werden, der sich in einer nämlichen Position befindet: dem Begehren des Zuschauers, eine lineare Geschichte anzunehmen, setzen die Filme Roegs labyrinthische Strukturen entgegen, die sich jeglicher Linearität entziehen, da Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oftmals nicht klar voneinander zu trennen sind, nebeneinander existieren oder zusammenfallen. Roegs Filme sind in dieser Hinsicht Labyrinthe aus Zeit. Sich auf sie einzulassen, bedeutet nicht weniger als »die Erfahrung der Zeitbedingtheit in ihren dunkelsten Dimensionen« erkennen zu müssen.3

1

Izod 1992, S. 22.

2

Koerner 1983, S. 37.

3

Ebd., S. 30. – Dieser Zeiterfahrung verleiht Koerner besonderen Nachdruck, wenn er nochmals hervorhebt: »Im Labyrinth zu wandern bedeutet, das Chaos und die entfremdete Dimension der Zeit zu erfahren.« (Koerner 1983, S. 36.)

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3) ›D IE DUNKLEN D IMENSIONEN DER Z EIT ‹: E RFAHRUNGEN DER Z EITBEDINGTHEIT Die Figuren in den Filmen Nicolas Roegs erweisen sich immer wieder als Wanderer und Gefangene in Labyrinthen der Zeit – und damit in der Zeit selbst. Die Zeit stellt für sie eine existentielle Erfahrung dar, sie ist, in Anlehnung an die beiden Schlußverse aus Delmore Schwartz’ Gedicht »We Walk Through This April’s Day«, die als Motto zu diesem Kapitel dienen, die Schule, die sie durchlaufen, aber auch das Feuer, in dem sie brennen.1 Roegs Figuren gleichen darin dem Magier in Borges’ Las ruinas circulares (1940), der am Ende der Erzählung eine »konzentrische Feuersbrunst« auf sich zukommen sieht: »Einen Augenblick dachte er daran, sich ins Wasser zu flüchten, dann aber begriff er, daß der Tod kam, sein Alter zu krönen und ihn seiner Mühsal zu entheben. Er schritt auf die Feuerfetzen zu. Sie bissen nicht in sein Fleisch, sie liebkosten und überfluteten ihn ohne Hitze und Brand. Erleichtert, erniedrigt, entsetzt begriff er, daß auch er nur ein Scheinbild war, daß ein anderer ihn träumte.«2

Der Magier in Borges’ Erzählung muß erkennen, daß die Wirklichkeit nur ein imaginäres Konstrukt des Bewußtseins eines anderen ist. Auch Dahlmann in El Sur wird sich einer Illusion bewußt, nämlich jener der Berührung, als er eine schwarze Katze streichelt: er muß erkennen, daß er, der Mensch, und das Tier in unterschiedlichen Zeiten leben: er in der Sukzession, das Tier in der reinen Gegenwart.3 Nicht nur bei Borges, auch bei Roeg prägt die Zeit in ihren verstörenden Dimensionen die Figuren bis in das Tiefste ihres Wesens. Explizit begegnet uns die Metapher der Zeit als einem brennenden Feuer in INSIGNIFICANCE – ein Film, dessen dominantes Thema das Wesen der Zeit ist: Nachdem der Senator den Professor das erste Mal in seinem Hotelzimmer aufgesucht hat, zieht dieser eine Taschenuhr hervor, und als er auf sie schaut, sieht er das Bild einer brennenden Standuhr (Abb. 64). Die Taschenuhr, die stehengeblieben ist, zeigt acht Uhr fünfzehn an – die Uhrzeit, als die Atombombe über Nagasaki detonierte.

1

Delmore Schwartz: Selected Poems. Summer Knowledge. New York: New Directions 1967, S. 66f.

2

Jorge Luis Borges: »Die kreisförmigen Ruinen«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 130-136; hier: S. 136.

3

Vgl. Borges: Der Süden, S. 241.

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Abbildung 64: »We are all haunted by our pasts.«

INSIGNIFICANCE (Nicolas Roeg, 1985)

Roeg selbst sagt über die Bedeutung dieser Bildmetapher und ihres Hintergrundes »that time doesn’t diminish the scale of the act. I believe that once something is done in the world, that past becomes part of us forever, and it is just as big now as it ever was.«1 Daraus leitet er eine allgemeine Regel ab: »We are all haunted by our pasts. That’s certainly true with most of my characters. You can’t escape from the past, and you’re always living out your future. But we usually don’t know it.«2 Doch auch die Zeit selbst, die das Bewußtsein und damit die Welt hervorbringt, bleibt chimärenhaft, wenig greifbar. »Time is fascinating. […] We have no concept

1 2

Combs 1985b, S. 238. Lanza 1989, S. 92. – Die Zukunft ist für Roeg nicht nur die große Unbekannte; ihre Offenheit mache zugleich ihre Fiktionalität aus: »The future is the ultimate fiction. It has no end.« (Roeg 2013, S. 297.)

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of what it means«, ist sich Roeg sicher.1 Es klingt dies beinahe wie ein Echo auf die Frage »Was also ist die Zeit?«, die Augustinus sich im 11. Buch der Confessiones stellt, und dabei zu der Erkenntnis gelangt: »Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s; will ich’s aber einem Fragenden erklären, so weiß ich’s nicht.«2 Und so wundert es wohl nicht, daß Roegs Filme um das Problem der Zeit kreisen, mehrere Entwürfe entwickeln und sie zugleich wieder verwerfen. Diese Kreisbewegung entspricht selbst wiederum einem Konzept der Zeit: dem der zyklischen Zeit. a) Die zyklische Zeit – oder: die ewige Wiederkehr des ›Zu-spät‹ Als Denkfigur der Zeit scheint das Labyrinth zunächst im wesentlichen eine zyklische Zeitkonzeption zu repräsentieren. Als geometrische Figur beschreibt die Form des klassischen Labyrinths eine Kreisbewegung. Leo Joseph Koerner führt dazu aus: »[…] das Labyrinth ist selbst auf dem Prinzip der Wiederholung aufgebaut. Seine Wege streben nicht in gerader Linie von einem Punkt zum nächsten, sondern sie kurven ohne viel Fortschritt vor und zurück. Sie kreisen immer wieder um ihren Endpunkt und zwingen den Wanderer, im Kreis herumzugehen und praktisch zum gleichen Punkt zurückzukehren, von dem er ausgegangen war. Auf anderer Ebene scheint das Labyrinth selbst nur eine Wiederholung zu sein, die Repräsentation eines ursprünglichen, zeitlosen Musters.3

Das Labyrinth verkörpert somit ein Prinzip, das Mircea Eliade als »die zyklische Wiederkehr des Vorhergewesenen […], in einem Wort: die ›ewige Wiederkehr‹« beschrieben hat.4 Eliade, der davon ausgeht, »daß es überall eine Vorstellung vom

1

»Roeg Elements. Nick Setchfield talks to Nicolas Roeg«, in: SFX Magazine 54 (1999), S. 46-49; hier: S. 49. – Auch Borges hebt verschiedentlich hervor, daß die Zeit für ihn ein Rätsel darstellt, so beispielsweise in seinem Aufsatz über El tiempo y J.W. Dunne: »Ich gebe nicht vor zu wissen, was die Zeit ist (nicht einmal ob sie ›etwas‹ ist), aber mir scheint, daß der Ablauf der Zeit und die Zeit ein einziges Mysterium sind und nicht deren zwei.« (Jorge Luis Borges: »Die Zeit und J.W. Dunne«, in: ders., Inquisitionen. Vorworte. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2003 [= Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil], S. 25-28, S. 26f.)

2

Conf. 11, 14 (Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Übers. u. mit einer Einf. v. Wilhelm Timme. 10. Aufl. München: dtv 2003, S. 312).

3 4

Koerner 1983, S. 58. Mircea Eliade: Kosmos und Geschichte. Übers. v. Günter Spaltmann. Frankfurt a.M.: Insel 1994, S. 101. – Das wohl prominenteste Beispiel für ein solches zyklisches Modell findet sich freilich bei Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra (1883-85). Insbe-

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Ende und Anfang einer zeitlichen Periode gibt, die auf die Beobachtung biokosmischer Rhythmen gegründet ist«, beschreibt aus religionswissenschaftlicher Perspektive eine Reihe von Jahresfesten und Ritualen, insbesondere Initiationsriten, die alle auf die Vorstellung einer »periodischen Erneuerung des Lebens« und »der zyklischen Erneuerung der Zeit« ausgerichtet sind und eng mit den Vorstellungen von Geburt, Wiedergeburt und Fruchtbarkeit verbunden sind.1 Als ›ewiges Bild und Sinnbild‹2 ist das Labyrinth eben diesen letztgenannten Vorstellungen verbunden. Hermann Kern verweist insbesondere auf die »geburtssymbolische Deutung« des Labyrinths, die getragen werde »durch Form und Enge der Windungen«.3 Das ›Uterus-Labyrinthe‹ versinnbildliche den Ort einer kosmischen Zeugung.4 Die Vorstellung des Uterus als Labyrinth mag wissenschaftlichen und insbesondere anatomischen Tatsachen kaum standhalten. Gleichwohl bekundet Roeg in seinen autobiographischen Aufzeichnungen selbst explizit seine Faszination für die Erfahrungen des Fötus im Mutterleib.5 Hieran ließe sich die – wohlweislich spekulative – Interpretation des Labyrinths als Uterus anschließen, wie sie sich auch bei Koerner findet: »Mit seinen Eingängen und Ausgängen, seiner kreisförmigen Struktur, hat das Labyrinth formale Ähnlichkeiten mit der ersten Erfahrung im Leben jedes Menschen, der Erfahrung des Mutterleibs.«6 Es mag also vielleicht kein Zufall sein, daß der labyrinthische Weg, den sich in PERFORMANCE die Kugel durch den Kopf Tur-

sondere das Kapitel »Der Genesende« ist hier erhellend. Dort beschreiben die Tiere im Gespräch mit Zarathustra dessen Gedanken einer ›ewigen Wiederkunft‹: »Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins./ Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins./ In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.« (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra I-IV. Hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München: dtv; Berlin/New York: de Gruyter 1999 [= Kritische Studienausgabe; Bd. 4], S. 272f.) 1 2

Ebd., S. 66. So in Anlehnung an den Titel von Mircea Eliade: Ewige Bilder und Sinnbilder. Über die magisch-religiöse Symbolik. Übers. v. Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M.: Insel 1998.

3

Kern 1983, S. 28.

4

Vgl. ebd., S. 37-39. – Als Beispiel eines »Labyrinth-Uterus« führt Kern neben diversen megalithischen und bronzezeitlichen Darstellungen auch Leonardo da Vincis anatomische Studie einer Koituspositions im Längsschnitt (ca. 1492/94) an.

5

Vgl. Roeg 2013, S. 225.

6

Koerner 1983, S. 26.

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ners bahnt, an eine Vagina erinnert.1 Die Innenaufnahme einer Vagina, in die sich eine Ejakulation ergießt, zeigt Roeg dann in PUFFBALL (Abb. 65, oben re.), als Liffey und Richard (Oscar Pearce) Sex auf einem alten Kultstein im Wald haben. Später dann, als Liffey zur Vorsorgeuntersuchung geht, sind Aufnahmen eines Embryos in der Gebärmutter zu sehen (Abb. 65, unten re.). Der Regisseur hebt die zentrale Bedeutung der erstgenannten Szene hervor: »It’s a crucial part of PUFFBALL, it’s part of the character’s story – it’s about the nature of life.«2 Das Leben indes faßt Roeg als einen Zyklus von Sex und Fortpflanzung und Tod auf.3 Abbildung 65: »…you see heaven through that hole.«

PUFFBALL (Nicolas Roeg, 2007)

Es artikuliert sich hier im Denken Roegs gleichsam die Idee einer kosmologischen Konstante. Es muß daher um so mehr ins Auge springen, daß der Stein, auf dem Liffey und Richard Sex haben, in der Mitte über ein Loch verfügt. Liffey, die unter den Stein kriecht, schaut durch dieses Loch hindurch Richard an – als ob sie in einer Höhle gefangen sei (Abb. 65, oben li.). Die Assoziation dieses Steinlochs mit

1

Um die Art und Weise, wie diese Szene gedreht wurde, ranken sich einige – durchaus abstruse – Spekulationen: »Das, was wir sehen, als die Kugel in Turners/Jaggers Hirn eindringt, soll das Innere von Anita Pallenbergs Vagina sein. Cammell hatte dort angeblich eine Miniaturkamera eingeführt. Auch das wird bis zum heutigen Tag kolportiert, obwohl es der bare Unsinn ist.« (Hans Schmid: »Das psycho-sexuelle Labor des Dr. Cammell«, in: Telepolis, 04.09.2010, http://www.heise.de/tp/artikel/33/33184/3.html [30.09.2013].)

2

Roeg 2013, S. 164.

3

Vgl. ebd., S. 168.

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einer Vagina wird noch dadurch verstärkt, daß später im Film, als Liffey eine Fehlgeburt erleidet, auf eine Naheaufnahme ihres blutigen Schritts (Abb. 69) eine Naheaufnahme eben diese Öffnung im Stein folgt. Die Vorstellung einer Erdhöhle als Uterus bzw. Vagina wiederum zieht sich, wenn man Hans-Peter Duerr Glauben schenken darf, durch zahlreiche archaische Kulturen.1 Verbunden mit einer »Symbolik des ›Zentrums‹« als Ort kosmogonischer Zeugung,2 findet dies seinen symbolischen Ausdruck im ›Labyrinth-Uterus‹. Kern führt dazu aus: »Der Weg ins Labyrinth bedeutet dann den Weg in die Unterwelt, wobei die Rückkehr zur Mutter Erde mit der Hoffnung auf Wiedergeburt verbunden ist. Der Weg nach innen, ins Labyrinth, bedeutet dann gleichzeitig den Weg nach unten, in die viscera terrae. Hier sehe ich einen der Kanäle, durch die Vorstellungen aus Höhlenkulten auf die Labyrinth-Vorstellung übertragen werden konnten.«3

Abbildung 66: Jack McCann im Höhlen-Labyrinth

EUREKA (Nicolas Roeg, 1983)

Das offensichtlichste Bild eines solchen Labyrinth-Uterus findet sich in EUREKA: die Gold-Höhle, in die Jack McCann stürzt, gleicht nicht nur einem Labyrinth,4 sondern die Szene inszeniert einen kosmogonischen Zeugungsakt, wenn Jack seinen

1

Vgl. Hans-Peter Duerr: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 46.

2

Vgl. Eliade 1998, S. 46.

3

Kern 1983, S. 28.

4

Vgl. Izod 1992, S. 14.

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Pickel in den Fels treibt und sich, gefolgt auf eine Schnee-Eruption, das Gold in einem ›kosmischen Orgasmus‹ in die Höhle und über Jack ergießt (Abb. 66). Bezeichnend ist auch, daß sich John und Laura in DON’T LOOK NOW gerade im Anschluß an die ›Liebesszene‹, die die Möglichkeit eröffnet, daß Laura wieder schwanger geworden ist, in den Seitengassen Venedigs verlaufen.1 Die Darstellung der Stadt stellt dabei Pauline Kael zufolge eine ›Erotik des Labyrinths‹ aus: »The movie has a special ambience: the dislocation is eroticized, and rotting Venice, the labyrinthine city of pleasure, with its crumbling, leering gargoyles, is obscurely, frighteningly sensual.«2 Erotik und sinnliche Lust sind nicht mit Liebe zu verwechseln. Mehr noch: die ›labyrinthische Liebe‹ ist in Roegs Filmen stets eine übermenschliche, primordiale. So konstatiert auch Lanza: »Roeg’s labyrinths always lead to and never arrive at ›love‹, a subject whose dubious simplicity gets increasingly wondrous and grotesque the more it is examined. This is not just the love between persons, but that protean exchange between the forces of nature and us creatures whom nature forever mystifies and abuses.«3

Liebe, Begehren und Labyrinthe sind durchaus als eine Einheit zu denken. George B. von der Lippe verweist darauf, daß »the intricate relationship of love and death […] is equally intrinsic to the Cretan labyrinth myth«, und hebt unter Bezug auf Koerner hervor, daß dessen Motive Gewalt und unnatürliches Begehren vereinen.4 Koerner selbst sieht die primordiale labyrinthische Zeugung vor allem als eine sündenbeladene an: »Der Ursprung des Labyrinths ist Sünde; es wurde erbaut durch den mit Blutschuld beladenen Dädalus als Versteck für den schrecklichen Minotaurus, den Bastard-Sproß aus Pasiphaes schändlicher Leidenschaft.«5 Es ist dieser Aspekt von sündhafter Zeugung und Blutschuld, der sich auch bei Roeg wiederfinden läßt. Wenngleich sich seine Filme einer moralischen Bewertung enthalten, so gehören ungewollte Zeugung, Schwangerschaftsabbrüche und vor allem der schmerzhafte Verlust eines Kindes zu den thematischen Konstanten in seinem Werk. In DON’T LOOK NOW müssen John und Laura den tragischen Unfalltod ihrer Tochter Christine erleben, in PUFFBALL ist es Molly (Rita Tushingham) – die

1

Die Möglichkeit, daß Laura erneut schwanger sein könnte, bringt Roeg selbst ins Spiel. Im Gespräch mit Tom Milne und Penelope Houston sagt er über die ›Liebesszene‹ in DON’T LOOK NOW: »I desperately wanted the feeling that at the moment of making love she might have become pregnant again.« (Milne/Houston 1973/74, S. 4.)

2

Kael 1973, S. 68.

3

Lanza 1989, S. 158.

4

von der Lippe 1999, S. 44.

5

Koerner 1983, S. 64.

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»Oma der Nachbarn«, wie Dominik Graf sie bezeichnet –, die beim Brand des Hauses, das Liffey und Richard renovieren, einst ihren kleinen Sohn verloren hat: »Dieses Söhnchen will sie wiederhaben.«1 Den Verlust eines Kindes muß auch Linda in TRACK 29 verkraften: als Jugendliche auf einem Jahrmarkt vergewaltigt, wurde ihr ihr Sohn unmittelbar nach der Geburt entrissen und zur Adoption freigegeben. Ihre Ehe mit Henry Henry bleibt ebenso kinderlos wie die zwischen Alex und Marie Davenport in COLD HEAVEN. Kinderlos ist auch Lucy in CASTAWAY. Doch zu Beginn des Films, als sie Geralds Annonce im Time Out-Magazin entdeckt, fährt sie sich mit einem roten Filzstift über den Bauch (Abb. 67). Soll der rote Strich an eine Kaiserschnittwunde erinnern?2 Ist dies als ein Wunschtraum zu deuten? Der Film versagt eine eindeutige Antwort. Abbildung 67: Kaiserschnittwunde – Lucys Wunschtraum?

CASTAWAY (Nicolas Roeg, 1986)

Eindeutig dagegen sind in Roegs Filmen die zahlreichen gewollten und nicht gewollten Schwangerschaftsabbrüche, die angesprochen oder gezeigt werden. In BAD TIMING erzählt Milena Alex von ihren Abtreibungen, während beide im Auto unterwegs sind. »Twice?«, fragt er nach, und Milena bestätigt: »Yeah… Once when I was eighteen. Again last year.« Und sie fügt hinzu: »Both times I… I thought I wanted a child, but… at the last minute I changed my mind.« Während Milena diese Geschehnisse lediglich berichtet, zeigt Roeg in TWO DEATHS eine Abtreibung in drastischen Bildern, begleitet von nicht weniger drastischen Worten. Als Daniel Pavenic von Ana Puscasu (Sonia Braga) erfährt, daß diese ein Kind von ihm erwartet,

1 2

Graf 2009, S. 36. Diese Möglichkeit bringt zumindest John Izod ins Spiel (vgl. Izod 1992, S. 178). Wenn dem so wäre, dann müßte der Strich allerdings waagerecht und nicht senkrecht verlaufen.

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führt der Arzt an seiner Geliebten den Eingriff persönlich durch: »I ripped my son out«, gesteht Pavenic seinen sichtbar schockierten Gästen (Abb. 68). Abbildung 68: »I ripped my son out.«

TWO DEATHS (Nicolas Roeg, 1995)

In SWEET BIRD OF YOUTH ist es Heavenly Finley, die von Chance Wayne schwanger zurückgelassen wird: »I was too scared to tell papa«, erzählt sie Chance, als sie sich wiederbegegnen, »so I went to a backstreet butcher.«1 Als sie anschließend nach Hause zurückkehrt, leidet sie unter massiven Blutungen. Ihr Vater bringt sie ins Krankenhaus, wo sie ärztlich versorgt wird, doch kann sie fortan keine Kinder haben. Darin ähnelt sie der Schauspielerin in INSIGNIFICANCE. »Honey? You bleedin’ again?«, ruft der Ballspieler seine Frau durch die verschlossene Tür zum Badezimmer des Professors hindurch, in das sie sich zurückgezogen hat, und fährt dann, zum Professor gewandt, fort: »She bleeds inside. She’s loose inside. She can’t hold a baby when it get’s too big. They’re tryin’ to tighten her up. But she just keeps gettin’ loose again.« Später, nachdem der Senator, der sie für eine Prostituierte hält, ihr einen Schlag in den Bauch versetzt hat, erleidet sie tatsächlich eine Fehlgeburt (Abb. 69). Auch Liffey in PUFFBALL wird während ihrer Renovierungsarbeiten plötzlich von einem Schmerz ergriffen. Als sie sich hinsetzt, sieht sie, daß sie im Genitalbereich blutet. Sie hat eines ihrer beiden ungeborenen Kinder verloren. Diese thematische Konstante von (ungewollter) Zeugung, Schwangerschaftsabruch und Unfruchtbarkeit ist dabei durchaus im Zusammenhang mit Fragen der Zeit zu betrachten. So hebt auch Joseph Lanza hervor:

1

Entgegen der Zusammenfassung von Stephen Farber ist es Heavenlys eigene Entscheidung, das Kind abtreiben zu lassen (vgl. Stephen Farber: »A Stellar Cast Films a Steamy Williams Play«, in: The New York Times, 30.06.1989, http://www.nytimes.com1989/ 07/30/arts/television-a-stellar-cast-films-a-steamy-williams-play.html?pagewanted=all&s rc=pm [30.09.2013]).

258 | KINO DER UNORDNUNG »Roeg’s repeated references to desiccated embryos, stillbirths, miscarriages and infertility reveal another time thread which, in some ways, may be his most salient. The cycles of regeneration are nature’s most inescapable prison. So, we are not surprised to find Roeg’s work betraying constant misgivings about insemination and pregnancy.«1

Abbildung 69: »She bleeds inside. She’s loose inside.«

INSIGNIFICANCE (Nicolas Roeg, 1985)

Das Trauma des verlorenen Kindes ist mit Blick auf die Frauengestalten in Roegs Filmen offensichtlich ein beherrschendes Thema. In ihm artikuliert sich der Wunsch, einen als existentiell empfundenen Verlust rückgängig zu machen. Doch ist dieser Wunsch als vergeblich anzusehen. Folgt man Eliade, so offenbart sich in archaische Heilungsriten die Vorstellung, »daß sich das Leben nicht wiederherstellen, sondern nur wiedererschaffen läßt durch die Wiederholung der Kosmogonie […].«2 Eine solche neue Geburt – und mit ihr die periodische Erneuerung der Zeit – ist Gegenstand zahlreicher Initiationsriten.3 Da WALKABOUT einen solchen Initiationsritus zeigt, könnte zunächst die Vermutung naheliegen, daß dieser Film stark das Konzept einer zyklischen Zeit propagiert – zumal eingedenk der augenscheinlichen Symmetrien zu Beginn und Ende

1

Lanza 1989, S. 108.

2

Eliade 1994, S. 94.

3

Eliade legt dar, daß sich in Initiationsriten eine Struktur von »Tod« und »Auferstehung«, eine »neue Geburt« und die Schaffung eines »neuen Menschen« vollziehe (ebd., S. 82; vgl. auch ebd., S. 92).

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des Films: »The end of the film, a coda, mirrors its beginning.«1 In dieser ›Koda‹ wiederholen sich mehrere Einstellungen aus der Eröffnungssequenz: Straßenzüge und Mauern in der Stadt, ein junger Mann (John Illingsworth) verläßt denselben Bürokomplex wie zu Beginn des Films der Vater und kehrt zum gleichen Apartmentgebäude heim wie dieser. Es ist der Ehemann des nunmehr verheiraten Mädchens, die wie ihre Mutter zu Beginn des Films Essen in der Küche zubereitet. Diese Symmetrien scheinen dem Muster einer ›ewigen Wiederkehr des Immergleichen‹ zu entsprechen. Entsprechend gelangt John Izod zu dem Schluß: »This journey turns full circle, starting and ending in the enclosed life of the city.«2 In einem selbstreflexiven Kommentar scheint der Film diese seine zyklische Struktur sogar zu bestätigen: Während zu Beginn die Worte »Faites vos jeux, messieurs-dames, s’il-vous plaît« zu vernehmen sind, wird ganz am Ende, noch nach dem Abspann, eine Texttafel eingeblendet, auf der »rien ne va plus« zu lesen ist. Die beiden Ansagen markieren eine Spielrunde beim Roulette – und damit eine Periode. Doch mit den Ansagen wird nicht nur das Bild des Kreises evoziert, sondern auch die Möglichkeit in Erinnerung gerufen, daß man aus jeder Spielrunde entweder als Gewinner oder als Verlierer hervorgeht. Was von beiden ist das Mädchen, das am Ende von WALKABOUT an die Stelle der Mutter getreten ist? Am Ende des Films berichtet der junge Mann, der von der Arbeit nach Hause zurückgekehrt ist, seiner Frau von seinen Aufstiegschancen in seiner Firma. Doch diese folgt dem Gespräch nur geistesabwesend. Die Einstellung wechselt: wieder ist jener von Felsen umgebene See zu sehen, in welchem das Mädchen an einem früheren Zeitpunkt nackt geschwommen ist. Filmmusikalisch erklingt John Barrys »Back to the Nature«-Thema, das bereits die frühere Szene begleitet hat. Doch während sie seinerzeit alleine im Waser war, sind nun auch ihr Bruder und der Aborigine zu sehen. Alle drei sitzen auf einem Felsen, springen ins Wasser, schwimmen und tollen gemeinsam (Abb. 70). Es ist eine Szene, die so wohl nie während der Reise stattgefunden hat und allein der Einbildung des Mädchens entspringt, und in welcher sie

1

Izod 1980, S. 116 u. gleichlautend Izod 1992, S. 64. – Auch Scott Salwolke beobachtet diese symmetrische Struktur des Films: »The closing of the film mirrors its opening […].« (Salwolke 1993, S. 34.)

2

Izod 1980, S. 114. – Auch Neil Sinyard verweist auf die zirkuläre Struktur des Films, verbindet dies jedoch mit einer Wertung, wenn er darin vor allem den Ausdruck eines Teufelskreises sieht: »[…] the opening of the film is being reprised: life as a vicious circle.« (Sinyard 1991, S. 37.) Ebenso greift Joseph Lanza den Aspekt der Zirkularität auf, führt aber aus: »Walkabout reinforces its circular theme by framing the story with crossreferences between past and future.« (Lanza 1989, S. 97.)

260 | KINO DER UNORDNUNG

einen paradiesischen Zustand herbeiträumt.1 Die gesamte Szene zeichnet sich dabei durch eine Nostalgie aus, die durch das musikalische Thema verstärkt wird.2 Abbildung 70: »That is the land of lost content…«

WALKABOUT (Nicolas Roeg, 1971)

Linda Hutcheon, die die Begriffsgeschichte der Nostalgie referiert, verweist auf die griechischen Wurzeln des Ausdrucks, »nostos, meaning ›to return home‹ and algos, meaning ›pain‹«.3 Zunächst ein medizinischer terminus technicus für Heimweh, hat

1

Eine nahezu identische Zusammenfassung dieser Szene formuliert Stephen Farber: »The final image is one we did not see earlier – an extension of the swimming scene, in which she and her brother and the aborigine, all nude, frolic together in Eden-like contentment. It seems sentimental for a moment, until you realize that the scene is fantasy, not memory – the girl’s simplification and idealization of what actually happened.« (Stephen Farber: »Non-Talking Pictures«, in: The Hudson Review 24 [1971/1972], Nr. 4, S. 638-646; hier: S. 640.)

2

Für Gregory Stephens stellt die frühere Szene »the film’s central Edenic moment« dar. Schon diese Szene zeichne sich dabei durch eine nostalgische Atmosphäre aus (Gregory Stephens: »Confining Nature: Rites of Passage, Eco-Indigenes and the Uses of Meat in ›Walkabout‹«, in: Senses of Cinema 51 [2009], http://sensesofcinema.com/2009/51/walkabout/ [30.09.2013]).

3

Linda Hutcheon/Mario J. Valdés: »Irony, Nostalgia, and the Postmodern: A Dialogue«, in: Poligrafías. Revista de Literatura Comparada 3 (1998-2000), S. 18-41; hier: S. 19 (Herv. i.O.).

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sich, so Hutcheon, die Semantik des Begriffs langsam verschoben hin zu einer idealisierenden Erinnerung an die Vergangenheit: »Simultaneously distancing and proximating, nostalgia exiles us from the present as it brings the imagined past near. The simple, pure, ordered, easy, beautiful, or harmonious past is constructed (and then experienced emotionally) in conjunction with the present – which, in turn, is constructed as complicated, contaminated, anarchic, difficult, ugly, and confrontational.«1

Die Rückkehr nach Hause ist für das Mädchen offensichtlich mit einer schmerzhaften Erinnerung an einen Ort und eine Zeit verbunden, die so nie existiert haben, mehr Utopie, denn Heterotopie sind, und die eine nostalgische Verklärung hervorrufen.2 So hebt auch Izod hervor: »The girl’s loss is not of a perfect past – that never happened – but of a possible future.«3 Verstärkt wird dieser Eindruck des Verlusts einer möglichen idyllischen Existenz noch durch die Worte, die aus dem Off gesprochen werden und das Bild kommentieren. Sie stammen aus dem Gedichtzyklus A Shropshire Lad (1896) von A.E. Housman: »Into my heart an air that kills From yon far country blows: What are those blue remembered hills, What spires, what farms are those? That is the land of lost content, I see it shining plain, The happy highways where I went And cannot come again.«4

Die aus dem Off gesprochenen Worte lassen sich als ein Kommentar auf die Situation des Mädchens verstehen; ihre Verfassung entspricht einem ›Land verlorener

1

Ebd., S. 20.

2

Das erinnernde Wachrufen einer Vergangenheit, die nie existiert hat, ist auch kennzeichnend für einige Szenen in THE MAN WHO FELL TO EARTH, wie John Lanza darlegt: »Relics and artifacts creep into the landscape as reminders of eras that have come and gone before us or of a past which may never have happened.« (Lanza 1989, S. 101.)

3

Izod 1992, S. 65 u. gleichlautend Izod 1980, S. 116. – In Übereinstimmung mit dieser Interpretation spricht Vincent Canby von WALKABOUT als »a very sincere movie that evokes […] nostalgia for an innocence that probably never existed.« (Canby 1971, S. 26.)

4

Alfred Edward Housman: A Shropshire Lad and Other Poems. Ed. by Archie Burnett with an Introd. by Nick Laird. London: Penguin 2010, S. 51.

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Zufriedenheit‹ – doch ist dieser Verlust rein virtuell. So betont auch Anthony Boyle: »Of course, in her case there was never such a world.«1 Die zyklische Erneuerung scheitert, die nostalgisch erinnerte Vergangenheit, die nicht existierte, läßt sich nicht herstellen. Es ist dieser Verlust einer Vergangenheit in idealisierender Erinnerung, der niemals rückgängig gemacht werden kann, der uns in den Filmen Roegs immer wieder begegnet. Da wäre zum Beispiel die Schauspielerin in INSIGNIFICANCE, über die Izod urteilt: »[…] her interest in time has some of its roots in her continuing sense of loss.«2 Da wäre aber auch Chance in SWEET BIRD OF YOUTH, der sich Heavenly zurück- und eine glückliche Zukunft mit ihr herbeiwünscht. Doch vergebens. Chance hängt an einer unwiderbringlichen Vergangenheit. Als erstes Indiz dafür kann das Hotel in St. Cloud gelten, in dem Chance und Heavenly Sex hatten und zu dem er die alternde Schauspielerin Alexandra bringen will, das aber längst nicht mehr existiert. Die zeitliche Konstitution von Chance ist die eines ›Zu-spät‹, wie in jener Szene deutlich wird, in der er Heavenly anruft, nachdem er nach St. Cloud zurückgekehrt ist. Gleich dreimal sagt sie zu ihm: »It’s too late.« Roeg selbst bestätigt, daß es diese zeitliche Konstitution des ›Zu-spät‹ ist, um die es ihm in diesem und anderen seiner Filme geht: »Time has been the central theme of a lot of my films [...]. Chance and Heavenly, like most of us, think they have plenty of time. We always think it’s never too late. But sometimes it is too late.«3 Dieses ›Zu-spät‹ bedeutet auch, daß Fehler und Verfehlungen der Vergangenheit nicht ungeschehen gemacht werden können. Die Unmöglichkeit einer solchen Korrektur kann auch als die Kernaussage von INSIGNFICANCE aufgefaßt werden.4 Die Vergänglichkeit von allem war es schließlich, die Roeg an Johnsons Theaterstück Insignificance faszinierte: »The overall thought of the piece is that everything is passing. Nothing is forever. The only thing that is forever is hope.«5 Gerade weil alles vergänglich ist, scheint die verrinnende Zeit um so wertvoller. Sie markiert die Gegenwart, die darin besteht, daß sie sich immer im Zustand des Übergangs befindet: »Sed fugit interea, fugit irreparabile tempus« – »es flieht unwiederbringlich die Zeit«, wie es bei Vergil in den Georgica

1

Boyle 1979, S. 76. – Beverle Houston und Marsha Kinder sehen in dieser Schlußszene gar eine doppelte Einbildung: die des Mädchens werde zu der des Publikums: »Like the poem, the film transforms the lost culture into an imaginative ideal, which lives on in the girls fantasies and in the minds of the audience.« (Kinder/Houston 1980, S. 371.)

2

Izod 1992, S. 157.

3

Farber 1989, a.a.O.

4

Vgl. Lanza 1989, S. 107.

5

Norman/Barraclough 1985, S. 55.

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heißt.1 Die Flüchtigkeit der Zeit und ihre Begrenztheit bekommen auch Roegs Figuren zu spüren. Dies zeigt sich beispielsweise in jener Szene in WALKABOUT, in der der Vater seine Kinder zu töten versucht und sich dann selbst das Leben nimmt. Kurz zuvor ruft er: »It’s getting late. I’ve got to go now… We can’t waste time… Can’t… waste time.‹«2 Später ist es dann das Mädchen, das zu einem verbalen Doppelgänger ihres Vaters wird: »It’s getting late. We’ve got to go. We can’t waste time«, ruft sie ihren Bruder. Abbildung 71: »We only have three hours…«

SWEET BIRD OF YOUTH (Nicolas Roeg, 1989)

Die Zeit ist ein flüchtiges und kostbares Gut. Als Chance und Heavenly im Hotel zusammenkommen, um sich zu lieben, blick Heavenly auf die Uhr und erinnert Chance daran, daß sie nur drei Stunden haben (Abb. 71). »Time«, erwidert dieser, schmeißt die Uhr fort, und schwört Heavenly, er werde sie immer lieben… Wenn die Zeit flüchtig, die Vergangenheit unwiederbringlich und die Zukunft ungewiß sind, dann ist es vor allem die Gegenwart, die kostbar scheint. »We’re gonna meet. Might as well be now«, sagt Milena zu Alex, als sie sich zum ersten Mal auf einer

1

Verg. georg. 3, 284f. (Publius Vergilius Maro: Georgica. Vom Landbau. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1994, S. 90f.) – Auch Borges spricht das »Problem der Flüchtigkeit« der Zeit an, wenn er betont: »die Zeit vergeht.« (Borges: Die Zeit, S. 59.) Daraus resultiere unmittelbar die Flüchtigkeit der Gegenwart: »Meine Gegenwart – oder: das, was meine Gegenwart war – ist schon Vergangenheit.« (Ebd., S. 60.)

2

Vgl. auch Stephens 2009, a.a.O.

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Party begegnen. »You could be right. Then again, why spoil the mystery?«, entgegnet dieser und fügt auf Milenas irritierte Nachfrage hinzu: »If we don’t meet, there’s always the possibility it could have been perfect.« Während Alex einen hypothetischen Idealzustand evoziert, der so nie bestehen wird, ist Milena ein Mensch, der vollständig in der Gegenwart leben will. »What about now?«, fragt Milena nach, als Alex ihr während ihrer gemeinsamen Reise einen Heiratsantrag macht. Während er eine gemeinsame Zukunft plant – »But I say we go back, we get married, we build something solid together« –, will Milena nur den Moment genießen. Daß es allein die Gegenwart ist, die existiert, daß Vergangenheit und Zukunft irreal sind und daß die Zeit zyklisch ist, sind Gedanken, auf die man auch immer wieder in den Schriften von Jorge Luis Borges stößt.1 So rekurriert Borges in El tiempo circular (1943) auf Marc Aurel, der in seinen Selbstbetrachtungen Vergangenheit und Zukunft »die Wirklichkeit abgesprochen« habe.2 Statt dessen formuliere der Stoiker die Vorstellung der Gegenwart als ganze Geschichte: »Er behauptet, daß irgendeine Zeitspanne, – ein Jahrhundert, ein Jahr, eine einzige Nacht, vielleicht die ungreifbare Gegenwart – die gesamte Geschichte birgt.«3 Dies könnte ebensogut als Beschreibung der Situation in INSIGNIFICANCE dienen, in denen die Ereignisse einer Nacht Vergangenheit und Zukunft umschließen und damit kosmische Bedeutung erlangen. Oder auch für die Situation in CASTAWAY, in der Gerald und Lucy die ›Geschichte‹ einer Ehe innerhalb eines Jahres während ihres Inselaufenhaltes durchleben. Borges, der in La Doctrina de los Ciclos (1934) Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr zurückweist,4 propagiert ein zyklisches Modell der Simultaneität in der Gegenwart. »The simultaneity of circular time« ist es, der Borges’ Interesse gilt, wie Robert Roland Anderson betont und ausführt: »Borges’ circle is simply one of simultaneity in which all moments of time co-exist, unrelated, in a sort of infinite present.«5 Der Gedanke einer bloßen Gegenwart steht in-

1

William H. Bossart etwa konstatiert: »The notion of cyclical time persists throughout Borges’ oeuvre.« (Bossart 2003, S. 103.)

2

Vgl. Jorge Luis Borges: »Die kreisförmige Zeit«, in: ders., Geschichte der Ewigkeit. Von Büchern und Autoren. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2005 (= Gesammelte Werke. Der Essays zweiter Teil), S. 71-76; hier: S. 74.

3 4

Ebd., S. 75. Jorge Luis Borges: »Die Lehre von den Zyklen«, in: ders., Geschichte der Ewigkeit. Von Büchern und Autoren. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2005 (= Gesammelte Werke. Der Essays zweiter Teil), S. 59-70; bes. S. 62

5

Robert Roland Anderson: »Jorge Luis Borges and the Circle of Time«, in: Revista de studios hispánicos 3 (1969), Nr. 2, S. 313-318; hier: S. 315f. – Sharon Lynn Sieber hebt mit Blick auf dieses Gegenwarts-Denken zugleich den Aspekt der Irrealität der Wirklichkeit in toto hervor; Borges’ Zeitkonzept sei das einer ›Traum-Zeit‹: »Dream time is an analog

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des durchaus im Einklang mit einer zyklischen Zeitvorstellung. So verweist auch Eliade auf die Vorstellung einer Wiederholung, d.h. Aktualisierung der Kosmogonie in Kulturen mit einer zyklischen Zeitauffassung: »Der mythische Vorgang war gegenwärtig […]. Der Kampf, der Sieg der Schöpfung fanden im gegenwärtigen Augenblick statt.«1 Demzufolge lebe, so Eliade, »der Primitive in einer dauernden Gegenwart.«2 Dieser Gedanke bloßer Gegenwart kommt gerade in INSIGNIFICANCE zum Tragen: »All past is present, all history is now«, faßt Richard Combs die Zeitveranlagung des Films zusammen.3 Die Zeit wird somit aufgehoben – d.h., die Zeit im Newtonschen Sinne als ein gleichmäßiges Fließen, als ein Übergang von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft.4 Es zeigt sich hier eine erste deutliche Abkehr Roegs in seinen Ver- und Behandlungen der Zeit, wie sie für einen auf klassisch-mechanistischen Zeitvorstellungen fußenden narrativen Realismus kennzeichnend sind (vgl. Kap. II 3) b)). Roeg sympathisiert, wie er bekundet, mir einer Positionierung »against the Newtonian concept of creation, which is the idea that there is an absolute time and an absolute space and that energy and matter were created within a certain time-frame.«5 Eine solche Aufhebung der Zeit ist aber vor allem auch das Ergebnis einer zyklischen Auffassung derselben. Eliade zufolge ist es die »zyklische Struktur der Zeit, die sich mit jeder neuen ›Geburt‹ regeneriert, auf welcher Ebene sie auch geschehe. Diese ›ewige Wiederkehr‹ verrät eine Ontologie, die noch nicht durch die Zeit und das Werden verunreinigt worden ist.«6 Dies deckt sich mit der von Koerner behaupteten Periodizität des Labyrinths, die einerseits eine zyklische Zeit impliziere, andererseits eben diese Zeit zugleich nichtig werden lasse. Denn »wenn alles Wiederholung ist, gibt es nichts Neues oder Ursprüngliches.«7 Diese Auslöschung der Zeit ist auch bestimmend für die zyklischen Auffassungen, die Borges verhandelt und propagiert, und aus der sich zugleich ein Infragestellen jeglicher Ge-

for simultaneity, which manifests the surrealist infusion of unconscious material and dreams into art.« (Sieber 2004, S. 201.) 1

Eliade 1994, S. 70 (Herv. i.O.).

2

Ebd., S. 98.

3

Combs 1985a, S. 235.

4

Vgl. Newton 1963, S. 25.

5

Roeg 2013, S. 212.

6

Eliade 1994, S. 101. – Einige Seiten zuvor erörtert Eliade das Konzept einer Aufhebung der Zeit im »mythischen Augenblick« (ebd., S. 76).

7

Koerner 1983, S. 58. – Koerner sieht jedoch zugleich eine Ambivalenz in der Zeiterfahrung des Labyrinths: »Indem es die Wiederholung verkörpert, kann das Labyrinth für die Freiheit von und für das Gefangensein in der ewig wiederkehrenden Zeit stehen.« (Ebd., S. 61.)

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schichte ableitet. Leopold Federmair stellt dazu fest »Die beunruhigende Schlußfolgerung aus der Hypothese der ewigen Wiederkehr lautet: Es gibt keine Geschichte, es gibt keine sukzessiv ablaufende Zeit. Borges zufolge genügt eine einzige Wiederholung, um der Geschichte den Boden zu entziehen.«1 Insofern, als ›Geschichte‹ eine lineare Zeitauffassung voraussetzt, führt jedes Vorstellung von Periodizität und damit von zyklischer Zeit zur Aufhebung von ›Geschichte‹.2 Eliade etwa ist der Auffassung, daß alle Rituale und Jahresfeste, die eine zyklische Erneuerung der Zeit intendieren, im selben Ziel geeint sind: »sie wollen die abgelaufene Zeit annullieren, die Geschichte vernichten durch andauernde Rückkehr in illud tempus, durch die Wiederholung des kosmogonischen Aktes.«3 Mit Wolfgang Kaempfer ließe sich in diesem Sinne eine externalisierte lineare, d.h. »irreversibel verlaufende Geschichtszeit« von einer die inneren Vorgänge einer Gesellschaft bestimmenden »zyklischen verlaufenden Verkehrszeit« scheiden.4 Doch was heißt all das für die Filme Roegs? Gibt es bei ihm allein eine solche ›Verkehrszeit‹, die alle Geschichte – und damit auch alle Geschichten – negiert? Oder legt er in seinen Filmen doch auch eine ›Geschichtszeit‹ zugrunde? Klarheit kann hier (wenn überhaupt) nur ein genauerer Blick auf weitere Zeitkonzepte schaffen, die grundlegend für Roegs Filme sind.

1

Leopold Federmair: »Von falschen und richtigen Alephs. Die Zeit und Jorge Luis Borges«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 60 (2006), H. 8, S. 685695; hier: S. 685.

2

Vgl. Eliade 1994, S. 67.

3

Ebd., S. 91. – Ähnliche Argumente finden sich etwa bei Wolfgang Kaempfer, demzufolge in ›prähistorischen‹ Gesellschaften noch die Selbsterhaltung des Urmenschen im Vordergrund stand, verbunden mit »einer zyklischen Verlaufsform seiner Zeit-Erfahrung« (Wolfgang Kaempfer: Die Zeit und die Uhren. Mit einem Beitr. v. Dietmar Kamper: »Umgang mit der Zeit. Paradoxe Wiederholungen«. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1991, S. 103; Herv. i.O.). Die Angehörigen solcher Gesellschaften haben, so Kaempfer, noch keine Zeit gekannt: »Sozusagen sind sie ›jederzeit‹ und damit aller Zeit voraus.« (Ebd., S. 104.)

4

Ebd., S. 35 (Herv. i.O.). – Vgl. auch ebd., S. 13.

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b) Die parawissenschaftliche Zeit: Beobachtung, Serialität und der infinite Regreß Die zyklische Aufhebung der Geschichte führt, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, zu einer Auslöschung der Zeit – und damit zu einer Zeitlosigkeit. ›Zeitlosigkeit‹ ist allerdings auch ein Merkmal, das für das Setting in vielen von Roegs Filmen kennzeichnend ist, so etwa in der zweiten Hälfte von PERFORMANCE: Die Zeit scheint hier nahezu stillzustehen, wie Neil Sinyard zu Recht vermerkt.1 Nicolas Roeg selbst wiederum hebt die ›Zeitlosigkeit‹ in Glastonbury hervor, die ihn fasziniert habe: »And the music the pop groups were playing seems to have a timeless quality.«2 ›Zeitlosigkeit‹ im Sinne einer uneindeutigen Zeitzuordnung wiederum ist bestimmend für THE MAN WHO FELL TO EARTH: »Time suddenly seems out of joint«, so Sinyard mit Blick auf jene Szene zu Beginn des Films, in der Newton das Geschäft betritt, um dort einen seiner Ringe zu verkaufen. Diese aus den Fugen geratene Zeit ist aber auch für den restlichen Film prägend, was wesentlich mit der Hauptfigur und seiner zeitlichen Konstitution zusammenhängt: »[…] Newton, it seems, has fallen from a different zone of time as well as space«, konstatiert Amy Sargeant.3 Roeg selbst hält dazu fest: »In THE MAN WHO FELL TO EARTH I wanted to get rid of any sense of time, because it’s surprising how often we mention it in our lives.«4 Der Verlust eines jeglichen Gefühls von Zeit zeichnet auch die Szenen im Outback in WALKABOUT aus. Einzige Richtschnur für das Verfließen der Zeit sind hier allenfalls die zahlreichen Sonnenauf- und -untergänge, die der Film zeigt. »I know I’ve put a lot of sunsets in it« gesteht der Regisseur selbst ein und rechtfertigt: »I’m not in love with sunsets, but they’re a time-passing thing – suggesting the long period of the journey.«5 Gleichwohl sind diese Einstellungen nur wenig dazu geeignet, eine konkrete Dauer abzubilden; vielmehr vermitteln sie in ihrer Häufung eine eigentümliche Unbestimmtheit der Zeitabläufe.6 So vertritt

1

Vgl. Sinyard 1991, S. 17.

2

Gow 1972, S. 24.

3

Sargeant 2005, S. 291.

4

Setchfield, S. 49.

5

Gow 1972, S. 23.

6

Auch Justine Kelly unterstreicht den Aspekt der zeitlichenn Unbestimmtheit in Walkabout, wenn sie von dem Mädchen und ihrem Bruder spricht: »So they go walkabout with the Aborigine for what must be months but, just like the characters, we are unable to gauge time. In a way the film marks the movement from conventional ›white‹ urban society to Australia’s outback by creating this feeling of timelessness (the meaning of ›time‹ in the traditional Western sense is lost), or through abstracting time and taking on an eerie, eternal feeling of time and being.« (Justine Kelly: »Walkabout«, in: Senses of

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auch Arno Meteling die Auffassung, daß die »regelmäßigen Sonnenauf- und Sonnenuntergänge […] zunehmend ihre Zeitmessfunktion« verlieren.1 Für Joseph Gomez repräsentieren die wiederkehrenden Einstellungen von Himmelskörpern den Ausdruck eines kosmischen Weltbildes: »Indeed, the numerous dissolves and speeding zooms to the sun and moon accomplish more than the mere suggestion of time passing. They reflect a find of microcosmic-macrocosmic structure which is basic to the film.«2 Diese Struktur ist eine von Zeitlosigkeit und Ewigkeit: In WALKABOUT ist eine längere Zeitspanne zu einem Augenblick kondensiert, in welchem die Zeit stillzustehen scheint. Auch für den Professor in INSIGNIFICANCE ist die Zeit – als Uhrzeit, die auf dem Ziffernblatt seiner Taschenuhr abzulesen ist – für immer stehengeblieben, und zwar im Augenblick der Detonation der Atombombe über Nagasaki. Doch anders als für den Goetheschen Faust, der »zum Augenblick sagen« will: »Verweile doch! Du bist so schön!«,3 ist diese ›Ewigkeit im Augenblick‹ kein Moment erhabener Schönheit, sondern einer von Schrecken und quälendem Schmerz. Der Begriff des Augenblicks bezeichnet im alltäglichen Sprachgebrauch einen ›zeitlosen‹ Zustand, er wird, wie, Hans Holländer darlegt, »als etwas außerhalb der Zeit verstanden«: »Der Sprachgebrauch ist hier durchaus im Einklang mit den sehr mannigfaltigen Überlegungen zum Augenblick, die stets einen Gegensatz zur bloßen Zeit im Sinne physikalischer Zeitmessung, erlebter Zeitmaße, erfundener Zeitmaße in Erzählungen, Berichten, Chroniken und der Geschichte in beiderlei Sinne bekräftigen.«4

Der Augenblick stellt somit einen »Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit« dar.5 Als solchen faßt ihn etwa Søren Kierkegaard in Begrebet Angest (Der Begriff Angst, 1844) auf: »Der Augenblick ist jenes Zweideutige, worin Zeit und Ewigkeit einan-

Cinema 13 (2001), http://sensesofcinema.com/2001/13/walkabout-3 [30.09.2013].) – Vgl. hierzu auch Baker 1977, S. 53. 1

Meteling 2006, S. 46.

2

Gomez 1981, S. 52.

3

Goethe: Faust I, V, 1699f. (Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte. Hg. v. Albrecht Schöne. 6., rev. Aufl. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994 [= Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hg. v. Friedmar Apel u.a. 1. Abteilung. Sämtliche Werke Bd. 7/1], S. 76).

4

Hans Holländer: »Augenblick und Zeitpunkt«, in: Christian W. Thomsen/ders. (Hg.), Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 7-21; hier: S. 12.

5

Ebd., S. 17.

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der berühren, und hiermit ist der Begriff ›Zeitlichkeit‹ gesetzt, wo die Zeit ständig die Ewigkeit abschneidet und die Ewigkeit ständig die Zeit durchdringt.«1 Einem klassischen philosophischem Verständnis folgend stehen Zeit und Ewigkeit in Relation zueinander. Schon Platon definiert die Zeit als »ein bewegtes Bild der Ewigkeit«.2 Auf diesen bezieht sich wiederum Arthur Schopenhauer, wenn er in Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) über das Verhältnis von augenblickshafter Gegenwart und Ewigkeit schreibt (I, 4, § 54):3 »Die Gegenwart allein ist Das, was immer da ist und unverrückbar feststeht. Empirisch aufgefaßt das Flüchtigste von Allem, stellt sie dem metaphysischen Blick, der über die Formen der empirischen Anschauung hinwegsieht, sich als das allein Beharrende dar, das Nunc stans der Scholastiker.«4

Als einer der Hauptvertreter der Scholastik ist es Thomas von Aquin, der in seiner Summa theologica die Unterscheidung zwischen der Zeit als einem Fluß, einem Vorübergehen, und der Ewigkeit als einem ›stehenden‹ bzw. ›stehenbleibenden Jetzt‹ vornimmt. Unter I, 10, 2 heißt es bei ihm: »Wie nämlich in uns die Gewahrung der Zeit dadurch verursacht wird, daß wir den Fluß eben des Jetzt merken, so wird die Erfassung der Ewigkeit in uns verursacht, insofern wir ein stehenbleibendes Jetzt erfassen.«5 Die bereits erwähnte stehengebliebene Uhr des Professors in INSIGNIFCANCE kann damit als treffendes Sinnbild der Ewigkeit als einem ›stehendem Jetzt‹ aufgefaßt werden.

1

Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst. Übers. u. mit Glossar, Bibliographie sowie e. Essay »Zum Verständnis des Werkes« hg. v. Liselotte Richter. Hamburg: Rowohlt 1960, S. 82 (zit. n. Holländer 1984, S. 13).

2

Plat. Tim 37d (Platon: »Timaios«. Übers. v. Franz Susemihl, in: ders., Sämtliche Werke in drei Bänden. Hg. v. Erich Loewenthal. Bd. III. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, S. 91-191; hier: S. 116).

3

Vgl. auch Otto J. Most: Zeitliches und Ewiges in der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers. Frankfurt a.M.: Klostermann 1977 (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts; 33), S. 18.

4

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält. Zürich: Haffmans 1988, S. 367 (Herv. i.O.).

5

Thomas von Aquino: Summe der Theologie. Zusammengef., eingel. u. erl. v. Joseph Bernhardt. 1. Bd.: Gott u. Schöpfung. 3., durchges. u. verb. Aufl. Stuttgart: Kröner 1985, S. 77.

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Auf das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit kommt auch Jorge Luis Borges immer wieder zurück. »Was ist die Ewigkeit?«, fragt er im Essay El tiempo (1979) und führt aus: »Die Ewigkeit ist nicht die Summe all unserer Gestern. Die Ewigkeit ist all unsere Gestern, alle Gestern aller bewußten Wesen. Die ganze Vergangenheit, von der wir nicht wissen, wann sie begann. Und dann die ganze Gegenwart. Dieser gegenwärtige Moment, der alle Städte, alle Welten, den Raum zwischen den Planeten umfaßt. Und dann die Zukunft. Die Zukunft, die noch nicht erschaffen ist, die aber doch existiert.«1

Die Vorstellung eines solchen »Augenblicks, in dem alle Augenblicke enthalten sind«,2 entwickelt Borges auch in seiner Erzählung El Aleph (1945). Der Erzähler berichtet vom Dichter Carlos Argentino Daneri, dem Cousin seiner verstorbenen Geliebten Beatriz Viterbo, der eines Tages im Keller seines Hauses ein »Aleph« entdeckt habe. Dabei handele es sich um »eine[n] jener Punkte im Raum, die alle Punkte in sich enthalten.«3 Doch das Aleph ist nicht nur ein Ort räumlicher, sondern auch zeitlicher Kopräsenz. So berichtet Carlos Argentino: »In diesem gigantischen Augenblick habe ich Millionen köstlicher oder gräßlicher Vorgänge gesehen: keiner erstaunte mich so sehr wie die Tatsache, daß sie alle in demselben Punkt stattfanden, ohne Überlagerung und ohne Transparenz. Was meine Augen sahen, war simultan: was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist.«4

Für Hans Holländer ist Borges’ ›Aleph‹ die Vergegenwärtigung »des Begriffs ›Augenblick‹« zugleich »als ›Fülle der Zeit‹ und als Aufhebung der Zeit im Bewußtsein«.5 Eine solche ›Aufhebung der Zeit im Bewußtsein‹ ist aber vor allem Gegenstand einer weiteren Erzählung Borges’: Funes el memorioso (1942). Seit einem

1

Borges: Die Zeit, S. 60.

2

Federmair 2006, S. 691.

3

Jorge Luis Borges: »Das Aleph«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 369-386; hier: S. 378.

4

Ebd., S. 381. – Der Mathematiker Rudolf v. B. Rucker spekuliert, daß Borges’ ›Aleph‹ durchaus »as a description of how a space-time singularity might look like« aufgefaßt werden könne (Rudolf v. B. Rucker: Geometry, Relativity and the Fourth Dimension. New York: Dover 1977, S. 120). Auch Floyd Merrell ist der Auffassung, das ›Aleph‹ habe »a contemporary counterpart in the concept of a space-time-singularity, especially the so-called ›naked‹ singularity.« (Merrell 1991, S. 145.)

5

Holländer 1984, S. 21.

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Reitunfall ist Ireneo Funes nicht mehr in der Lage, zu vergessen. Alles, was er einmal wahrgenommen hat, ist in seiner gegenwärtigen Erinnerung zur Gänze präsent: »Beim Sturz verlor er das Gedächtnis, als er wieder zu sich kam, war die Gegenwart fast unerträglich reich und klar, und ebenso seine frühesten und beiläufigsten Erinnerungen.«1 Mark Mosher erkennt hierin ein herausragendes Beispiel dafür, daß Borges in seinen Erzählungen die Implikationen einer ewigen Gegenwart verarbeitet: »[…] Ireneo Funes atomizes time to an ultimate extreme by perceiving reality as a series of autonomous ›Now-contents‹ […].«2 In Funes’ Bewußtsein verschmelzen Vergangenheit und Zukunft zu einer Kopräsenz in der Gegenwart.3 Abbildung 72: Imaginierte, vergangene Kamelkaravane?

WALKABOUT (Nicolas Roeg, 1971)

Die borgesianische Vorstellung einer Kopräsenz der Zeiten findet auch in Roegs Werk ihren Niederschlag. So konstatiert Scott Salwolke: »Roeg’s films often break down the dimension of time, as if the past, present, and future coexist, something Borges had long conjured.«4 Mehr noch: Die Kopräsenz der Zeiten ist geradezu ein

1

Jorge Luis Borges: »Das unerbittliche Gedächtnis«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 179-188; hier: S. 184.

2 3

Mosher 1994, S. 56. In diesem Sinne hält Mosher mit Blick auf die Figur des Funes’ fest: »His mind, then, functions like time; it is a chaotic jumble of past and future moments that has no net movement in either direction, and where all events are eternally present.« (Ebd.)

4

Salwolke 1993, S. 4.

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Markenzeichen der Filme Roegs. John Walker merkt dazu an: »Roeg plays not only with images, but, through them, with the notion of time itself, as past, present and future coalesce.«1 Sie findet ihren Niederschlag in der Stilistik der Filme Roegs, über die Thomas Koebner schreibt: »Er ist fasziniert von der Gleichzeitigkeit der Vorgänge und der Gleichförmigkeit der Dinge und Handlungen.«2 Ein Beispiel hierfür ist jene Szene in WALKABOUT, in der die drei Hauptfiguren auf eine Kamelherde stoßen. Das Bild der wildlebenden Trampeltiere blendet über zu einer halbtransparenten Einstellung einer Kamelkarawane, wie sie in der Vergangenheit zum Warenund Posttransport im australischen Outback eingesetzt wurde (Abb. 72). Dies mag zwar lediglich die Visualisierung der Imagination des kleinen Jungen sein, auf den die Kamera immer wieder gerichtet ist. Andererseits: weiß der kleine Junge überhaupt von der Vergangenheit der Kamelkarawanen in Australien? Abbildung 73: Erwiderte Blicke über die Zeiten hinweg?

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

1

John Walker: »Rogue Talents. Nicholas Roeg and Ken Russell«, in: ders., The Once and Future Film. British Cinema in the Seventies and Eighties. London 1985, S. 95-105; hier: S. 97.

2

Koebner 2000, S. 176 (Herv. i.O.).

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Wie dem auch sei, die Szene scheint zu bestätigen, was Beverle Houston und Marsha Kinder über den Film festhalten: »WALKABOUT often moves freely through past, future, and conditional tenses, showing the simultaneity of times in the experience of a single event.«1 Ähnliches ließe sich von jener Szene gegen Ende des Films behaupten, in der zwei weiße Männer aus einem Jeep heraus Jagd auf einen Büffel machen. Scott Salwolke vertritt dabei die These, daß diese Szene nicht in der diegetischen Gegenwart stattfinde, sondern der Erinnerung des Aborigines entspringe: Hier verschmelzen Erinnerung und Einbildung.2 Ein solches Verschmelzen von Erinnerung und Einbildung, Gegenwart und Vergangenheit kennzeichnet auch jene Szene in THE MAN WHO FELL TO EARTH, in der Newton aus dem Autofenster herausblickt und auf einmal eine Gruppe Siedler während der Erschließung des ›Wilden Westens‹ zu erblicken scheint. Mehr noch: diese erwidern gar seinen Blick (Abb. 73).3 Carsten Bergemann schließt daraus: »Da Newton seine Wahrnehmung in beliebiger Richtung ausdehnen kann, finden Ereignisse, die durch Parallelmontage verbunden werden, nicht zwingend zur gleichen Zeit statt.«4 Im besonderen Maße ist die Kopräsenz der Zeit prägend für DON’T LOOK NOW, was wohl schon allein seiner Thematik geschuldet ist, denn, so hebt Leslie Dick hervor: »[…] this film is all about time, and memory – as any film about loss and desire must be.«5 Als Folge dieser temporalen Kopräsenz ist an zahlreichen Stellen des Films unklar, wo in der Zeit wir uns gerade befinden. Schon in der Eröffnungssequenz tritt diese Uneindeutigkeit nachdrücklich zutage. Formal findet sie ihren Ausdruck im Verfahren der dislozierenden Montage (vgl. III 1) a)). Die Eingangssequenz weist damit darauf voraus, daß in DON’T LOOK NOW Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nebeneinander existieren, agieren.6 Wenn Joseph Lanza Recht hat, dann findet dieses Nebeneinander der Zeiten seinen bildhaften Ausdruck bereits in der Gestaltung des Hauses der Baxters in England: dieses sei »an awkward

1 2

Houston/Kinder 1980, S. 452. Vgl. Salwolke 1993, S. 32. – Roeg selbst widerlegt und bestätigt diese Interpretation zugleich: die Büffeljagd ereigne sich tatsächlich und versetze den jungen Aborigine in einen Schockzustand. Die sich anschließende Einstellung, die zeigt, wie der Büffel wieder aufsteht (das Ergebnis einer Montage mittels Filmrücklauf), stelle indes »a beautiful moment in the thoughts of a child« dar (Roeg 2013, S. 151).

3

Womöglich ist dies eine Folge von, so Scott Salwolke, Newtons »ability to see across spatial and temporal distances« (Salwolke 1993, S. 60).

4 5

Bergemann 2002, S. 18. Leslie Dick: »Desperation and Desire«, in: Sight and Sound (n.s.) 7 (1997), Nr. 1, S. 1013; hier: S. 12 (Herv. i.O.).

6

Vgl. Sinyard 1994, S. 44.

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combination of modern and Tudor style.«1 Das Nebeneinander von einer alten Welt und neuen Eindringlingen kennzeichne Lanza zufolge aber auch die Geschehnisse in Venedig.2 In der Figur des Zwerges im roten Mantel schließlich verschmelzen die unterschiedlichen Zeitebenen. So argumentiert Neil Feineman: »[…] the extremes of the age spectrum are twisted together and united by the merging of the very young girl and the ancient woman.«3 Abbildung 74: Das Nebeneinander der Zeiten – die berühmte ›Liebesszene‹

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

1

Lanza 1989, S. 99. – Ähnlich vereine auch das Apartment von Oliver Farnsworth in THE MAN WHO FELL TO EARTH Stile verschiedener Epochen in sich, und Newtons Haus am See »is equally devoid of a stable time period« (ebd., S. 101).

2

Lanza führt dazu aus: »Roeg incorporates time ambivalence into minute scenic detail to give us the sense of an older world waiting to vindicate itself against new invaders.« (Ebd., S. 99.)

3

Feineman 1978, S. 92.

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Am deutlichsten aber wird das Nebeneinander zweier Zeiten, die zu einer zu verschmelzen scheinen, in der ›Liebesszene‹, in der Einstellungen, die John und Laura beim leidenschaftlichen Sex zeigen, mit Einstellungen alternieren, wie sich beide anschließend zurecht machen, um sich auf den Weg zum Abendessen ins Restaurant zu begeben (Abb. 74). Den Effekt dieser simultanen Darstellung zweier zeitlich differenter Ereignisse faßt Michael Dempsy zusammen: »The splintered editing imposes a feeling of desperation on their thrusting and caressing. And since the two scenes are shown simultaneously although they presumably happened one after the other, we get lost with the characters as past, present, and future merge into a single evanescent mirage.«1 Im Falle von DON’T LOOK NOW geht diese formale Kopräsenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einher mit dem inhaltlichen Aspekt der Präkognition, zu der John fähig ist, was ihm aber erst im Moment seines Todes klar wird. Roeg selbst stellt in diesem Zusammenhang fest: »There’s no such thing as seeing into the future because the future is already here. A premonition is just a way of confirming something you know. And I think film is the perfect medium to show this paradox. It’s a time machine.«2 Deutlich tritt in Roegs Aussage hervor, daß sein Denken und Schaffen den parawissenschaftlichen Theorien John William Dunnes verpflichtet sind.3 In seinem wohl einflußreichsten Werk, An Experiment with Time (1927), geht Dunne von dem Phänomen des In-die-Zukunftschauens, d.h. insbesondere von hell-

1

Michael Dempsey: »Don’t Look Now«, in: Film Quarterly 27 (1974), Nr. 3, S. 39-43; hier: S. 41.

2 3

Lanza 1989, S. 92. Wie John Lanza hervorhebt, stellt das Zeitkonzept, das Dunne entwickelt und das konträr zur euklidischen Stabilität stehe, einen wichtigen literarischen Einfluß für Roeg dar (vgl. ebd., S. 19). Roeg jedenfalls scheint Dunne in selbstreflexiver Manier seinen Respekt zu zollen: Performance setzt ein mit zwei Einstellungen eines durch die Lüfte schnellenden Düsenjets, in WALKABOUT ist im Titelvorspann das Triebwerksgeräusch eines Flugzeugs zu vernehmen. Und als der Vater auf seine Kinder schießt, fliegt eine Propellermaschine über sie hinweg. Diese und weitere Stellen in Roegs Filmen, in denen Flugzeuge vorkommen, erinnern daran, daß J.W. Dunne eigentlich Flugzeug-Ingenieur war (vgl. Brian Inglis: »Introduction«, in: John William Dunne: An Experiment with Time. London u.a.: Macmillan 1981, S. v-xvii; hier: S. vi). – Freilich mag man in solchen Momenten auch einen selbstbezüglichen Verweis darauf erkennen, daß es Roegs Kindheitstraum war, Pilot zu werden: »All through my boyhood I’d wanted to go into the Air Force. I wanted to fly.« (Roeg 2013, S. 9.) Das eine schließt gleichwohl das andere nicht aus… – Roegs Interesse an parawissenschaftlichen Vorstellungen wird nicht zuletzt durch seine autobiographischen Reflexionen bestätigt, in denen er sich weitläufig zu diesen äußert (vgl. ebd., S. 206-210).

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seherischen Träumen, aus. Jeder habe schon mal die Erfahrung gemacht, Ereignisse gesehen zu haben, bevor sie geschehen sind: »[…] we habitually observe events before they occur […]«.1 Dunne versucht, für dieses Phänomen eine rationale Begründung zu finden. Dazu geht er von der Annahme aus, daß das Vorausschauen in der Zeit eine vierdimensionale Beobachtung innerhalb des vierdimensionalen Universums darstelle: »Then, as a disciple of science, I must assume, pending absolute proof of the contrary, that precognition was scientifically possible, i.e., that the nature of Time allowed the observer a four-dimensional outlook of the universe.«2 Dunne nimmt an, daß das Vorausschauen in die Zukunft das Ergebnis einer Mischung verschiedener Zeiten sei, und er macht es sich zur Aufgabe zu zeigen, wie Verlagerungen innerhalb der Zeit als vierter Dimension möglich sind.3 Zu diesem Zweck entwickelt er das Modell einer seriellen Zeit und eines seriellen Universums.4 Dunne setzt dabei zunächst an der Beobachterabhängigkeit aller sensorischen ›Tatsachen‹ in der physikalischen Welt an: im Gegensatz zu einer Auffassung der Welt als unabhängig von seiner sensorischen Wahrnehmung, wie sie die klassische Physik vertritt, nimmt Dunne an, alle Erscheinungen seien »matters essentially dependent upon the presence of a human observer, and non-existent in his ab-

1 2

John William Dunne: An Experiment with Time. London u.a.: Macmillan 1981, S. 7. Ebd., S. 87 (Herv. i.O.). – Die Annahme der Vierdimensionalität des Universums, die sich auf alles, was dieses umfasse – also auch etwaige Beobachter – erstrecke, ist grundlegend für Dunnes Theorie und stellt gleichsam ein Axiom dar. Deutlich hebt er dies hervor, wenn er ausführt: »[…] for, if modern science insisted upon the reality of its fourdimensional ›space-time‹ […], it could not dispute that observers in that world must be similarly four-dimensional.« (Ebd., S. 87f.)

3

Vgl. ebd., S. 63f. – Dunne ist sich sicher, daß diese seine Annahme nicht nur wissenschaftlichen Sichtweisen, sondern auch der menschlichen Erfahrung der Zeit entspreche: »For Time has always been treated by men of science as if it were a fourth dimension. What had to be shown was the possibility of displacement in that dimension.« (Ebd.)

4

Den Zusammenhang zwischen serieller Zeit und einem seriellen Universum stellt er in der einleitenden Anmerkung zur zweiten Auflage deutlich heraus: »If Time be serial, the universe as described in terms of Time must be serial, and the descriptions, to be accurate, must be similarly serial […].« (Dunne 1981, S. 8.) – In seinem Buch The Serial Universe unternimmt Dunne den Versuch einer allgemeinverständlichen Erklärung seiner bereits in An Experiment with Time entwickelten Vorstellungen eines infiniten zeitlichen Regresses und der Beobachterabhängigkeit von Zeit und Universum. Dabei ›erprobt‹ er diese Konzepte, indem er sie an die Einsteinsche Relativitätstheorie wie auch an die Quantentheorie anbindet (vgl. John William Dunne: The Serial Universe. London: Faber and Faber 1934).

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sence«.1 Wie Dunne weiter ausführt, erscheinen dem menschlichen Beobachter alle Phänomene »arranged in two sorts of order. There are those which appear to be merely separated in Space, and those which appear to be ›successive‹.«2 Diese Differenzierung impliziert, daß die menschliche Zeitwahrnehmung stets die einer Sukzession ist.3 Die Zeitdimension stellt damit eine Dimension der Sukzession dar: »A Time dimension, for any observer, is a dimension in which all the events which he experiences appear to him to follow one another in a definite sequence – a dimension in which he (or his attention) does not move backwards so as to upset that order of successive experience.«4 Daß die Zeit vom Beobachter als Sukzession wahrgenommen wird, besagt für Dunne aber zunächst nichts über die Richtung dieser Sukzession aus. Diese sei allein abhängig vom jeweiligen Beobachter – genauer davon, welcher Dimension dieser Beobachter angehöre. So unterliegt der dreidimensionale Beobachter den Beschränkungen der drei räumlichen Dimensionen, seine Beobachtung ist eine rein räumliche. Die zeitliche Dimension, die Dunne zufolge im rechten Winkel zu den drei räumlichen steht, kann er nicht erfassen. Da Dunne allerdings von der Vierdimensionalität des Universums ausgeht, resultiert für ihn daraus die Tatsache, daß es auch einen vierdimensionalen Beobachter geben muß, dessen Beobachtung sich nicht nur auf die vierte, zeitliche Dimension erstrecke, sondern auch die drei räumlichen Dimensionen umfasse.5 Doch Dunne macht an diesem Punkt keinesfalls halt: er geht so weit anzunehmen, daß sich diese Beobachtungskonstellation bis zum ndimensionalen Beobachter fortsetzen lasse. Floyd Merrell faßt diesen Gedanken Dunnes zusammen: »For example, our Time, T1, is for us linear and trapped within three-dimensional space. To a four-dimensional observer, on the other hand, our time would be tantamount to another di-

1

Dunne 1981, S. 23. – Dunne kritisiert deutlich das klassische Modell der Naturwissenschaften, in denen der Beobachter soweit wie möglich verdrängt werde und zu einem bloßen hilflosen Zaungast (»onlooker«) verkomme, ähnlich dem Zuschauer im Kino (vgl. ebd.).

2

Ebd., S. 133f. (Herv. i.O.). – Dunne spricht in diesem Zusammenhang auch von der »apparent succession of phenomena« (ebd., S. 134; Herv. i.O.).

3

Es dürfte nicht verwundern, wenn es dem Einfluß Dunnes geschuldet ist, daß es in Borges’ Erzählung El Sur heißt, der Mensch lebe in der Sukzession, die Katze aber, die Dahlmann streichelt, »in der Gegenwart, in der Ewigkeit des Augenblicks.« (Borges: Der Süden, S. 241.) – Zu dieser Szene vgl. auch: Albert I. Bagby, Jr.: »The Concept of Time of Jorge Luis Borges«, in: Romance Notes 6 (1965), S. 99-105; hier: S. 101.

4

Dunne 1981, S. 170 (Herv. i.O.).

5

Vgl. ebd., S., 170f. u. S. 187-189.

278 | KINO DER UNORDNUNG mension of space at right angles to each of the three dimensions of our space, and this observer would see our past, present, and future in simultaneity. A fifth-dimensional observer would see the forth-dimensional observer’s universe in the same fashion, from yet a higher dimension, and so on, to infinity.«1

Wie Dunne selbst darlegt, läßt sich diese zeitliche Wahrnehmung auf verschiedenen dimensionalen Stufen als Serie im mathematischen Sinne bezeichnen.2 Diese Serialität finde ihren Niederschlag darin, daß die Feststellung der Zeitlichkeit einer bestimmten Dimension das Vorhandensein einer anderen Zeit – Dunne meint wohl eine andere zeitliche Verfaßtheit bzw. eine andersgeartete Zeit – des Beobachters auf der nächst höheren Stufe voraussetze, mit der dieser die Zeit der von ihm beobachteten Dimension erfasse.3 Daraus ergibt sich die Konstellation eines infiniten Regresses: Jeder Beobachter unterliegt zugleich der Beobachtung eines Beobachters auf der nächst höheren dimensionalen Stufe bis zur Unendlichkeit. Die Folge daraus ist, so Floyd Merrell, daß wir als Beobachter nicht den Beschränkungen eines dreidimensionalen Raumes und einer eindimensionalen Zeit unterliegen.4 »Die eigentliche Zeit ist für Dunne der unerreichbare Schlußpunkt einer unendlichen Reihe«, resümiert Borges, der sich ausführlich mit Dunne und seinen Theorie auseinandergesetzt hat.5 So waren Dunnes Bücher nicht nur Gegenstand zahlreicher Gespräche zwischen ihm und Adolfo Bioy Casares,6 sondern Borges hat ihm mit El tiempo y J.W. Dunne (1952) auch einen Aufsatz gewidmet. Es ist insbesondere das Konzept der Serialität und der unendlichen Reihe, das auch bei Borges seinen Niederschlag gefunden hat. So beschreibt etwa der Erzähler in El Aleph zu Beginn der Erzählung eine Serie von Porträtaufnahmen von Beatriz: »Beatriz Viterbo im Profil, in Farbe; Beatriz mit Halblarve beim Karneval 1921; Beatriz bei ihrer Erstkommunion […]« – in insgesamt acht verschiedenen Positio-

1

Floyd Merrell: Unthinking Thinking. Jorge Luis Borges, Mathematics, and the New Physics. West Lafayette, IN: Purdue Univ. Press 1991, S. 101.

2

Dunne führt zum Begriff der ›Serie‹ aus: »›Series‹ is a collection of individually distinguishable items arranged, or considered as arranged, in a sequence determined by some sort of ascertainable law. The members of a series – the individually distinguishable items – are called its ›Terms‹.« (Ebd., S. 157; Herv. i.O.)

3 4

Vgl. ebd., S. 158. Merrell 1991, S. 77. – Zum infiniten Regreß in Dunnes Erklärungsmodell vgl. auch Inglis 1981, S. xii. – Dunne selbst legt dar, daß es insbesondere die Frage des infiniten Regresses, der das gesamte Universum kennzeichne, sei, die ihn beschäftige (Dunne 1981, S. 4).

5 6

Borges: Die Zeit und J.W. Dunne, S. 27. Mireya Camurati: »Borges, Dunne y la regression infinita«, in: Revista Iberoamericana 53 (1987), Nr. 141, S. 925-931; hier: S. 926.

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nen und Situationen ist das Bild der verstorbenen Geliebten in Serie zu sehen.1 »This series of photographs is the first, in what will be a series, of references to successive events, dates, generations, and literary endeavors. These finite series prepare the reader for the appearance of the infinite, the Aleph, well before it occurs«, argumentiert Jean F. Cappello.2 In der Mengenlehre nach Georg Cantor bezeichnet das Aleph-Symbol ℵ »die Mächtigkeit von ℝ, der Menge reeller Zahlen«.3 N. Katherine Hayles macht darauf aufmerksam, daß Borges wohlvertraut mit Cantors Mengenlehre war, wie seine Historia de la eternidad (1936)4 und die Besprechung von Mathematics and the Imagination von Edward Kasner und James Newman in seiner Discusión (1932)5 belegen.6 Wie Hayles weiter darlegt, nehme Borges dann in seinem Essay Nueva refutación del tiempo allerdings eine Übertragung vor »from the possibilities that infinite series have for space to the implications they have for time« und mache dabei »an almost imperceptible shift from ›continuity‹ to ›series‹ when he talks of time’s flow.« 7 Damit stellt sich erneut die Frage nach der Richtung dieses ›Zeitflusses‹ als Sukzession.

1 2

Borges: Das Aleph, S. 369f. Jean F. Cappello: »›El Aleph‹ Read as New Physics Realism«, in: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos 19 (1995), Nr. 3, S. 463-477; hier: S. 466. – Mireya Camurati wiederum weist darauf hin, daß Borges’ Erzählung Las ruinas circulares sowohl an Dunnes Konzept des Serialismus, als auch an die im dritten Kapitel von Dunnes Buch Nothing Dies (1940) erwähnte Existenz von jemandem, der einem anderen untergeordnet sei, erinnere (vgl. Camurati 1987, S. 930f.). Dunne entwickelt hier die Annahme einer »series of knowers each of which is aware of an inferior knower and is known by a superior knower.« (John William Dunne: Nothing Dies. London: Faber and Faber [1941], S. 31.)

3

Art. »ℵ (Aleph)«, in: Lexikon der Mathematik in sechs Bänden. Bd. 1: A bis Eif. Heidelberg/Berlin: Spektrum 2000, S. 39.

4

Vgl. Jorge Luis Borges: »Geschichte der Ewigkeit«, in: ders., Geschichte der Ewigkeit. Von Büchern und Autoren. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2005 (= Gesammelte Werke. Der Essays zweiter Teil), S. 9-32.

5

Vgl. Jorge Luis Borges: »Edward Kasner and James Newman: ›Mathematics and the Imagination‹ (Schuster and Schuster)«, in: ders., Evaristo Carriego. Diskussionen. Übers. v. Karl August Horst/Kurt Meyer-Clason/Melanie Walz/Gisbert Haefs. München/Wien 1999 (= Gesammelte Werke. Der Essays erster Teil), S. 269f.

6

Vgl. N. Katherine Hayles: The Cosmic Web. Scientific Field Models and Literary Strategies in the Twentieth Century. Ithaca, NY/London: Cornell Univ. Press 1984, S. 142.

7

Ebd., S. 162. – Hayles hebt in diesem Zusammenhang hervor, daß Borges, indem er die Zeit als Serie behandele, im Grunde eine ähnliche Auffassung wie Isaac Newton vertrete, den er eigentlich zu widerlegen suche: »From the foregoing, it appears that Borges is engaged in refuting the Newtonian idea of time. But the very terms he uses to refute it are

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Neben Dunne bezieht sich Borges wiederholt auf den englischen Philosophen Francis Herbert Bradley und seine Schriften. In El tiempo geht Borges dabei insbesondere auf Bradleys Vorstellung eines umgekehrten Zeitflusses ein. Er führt dazu aus: »Es gibt zwei Theorien über die Zeit. Die eine, die, wie ich glaube, unser aller Vorstellungen entspricht, betrachtet die Zeit als einen Fluß. Der Fluß fließt seit dem Beginn, dem unvorstellbaren Anfang, und hat uns erreicht. Die andere Theorie ist die des englischen Metaphysikers James Bradley. Bradley sagt das Gegenteil: die Zeit fließt von der Zukunft zur Gegenwart. Der Moment, in dem die Zukunft Vergangenheit wird, ist jener, den wir Gegenwart nennen.«1

Wie Borges weiter darlegt, entwerfe Bradley die »Idee, daß es viele Zeiten gibt, und daß diese Zeitreihen – wobei natürlich die einzelnen Glieder der Reihen zueinander vorzeitig, gleichzeitig oder nachzeitig sind – weder vorzeitig noch nachzeitig noch gleichzeitig sind.«2 Anders als Dunne weist Bradley allerdings die Idee eines seriellen Universums zurück. Serialität sei eine Erfahrung: »It is true that, in a sense and more or less, we arrange all phenomena as events in a series. But it does not follow from that in the universe, as a whole, the same tendency holds good.«3 Die Anordnung von Ereignissen als Serie sei laut Bradley keinesfalls eine reale Tatsache, sondern das Resultat menschlicher Erfahrung.4 Ihm zufolge gebe es daher keine ›Realität‹ einer Zeitrichtung: »For the direction, and the distinction between past and future, entirely depends on our experience.«5 Dies bringt uns zurück zu Roeg, denn auch er verweigert sich der ›Realität‹ einer Zeitrichtung. Statt dessen erfolgt bei ihm ein Aufbrechen der simplen Linearität der erzählten Ereignisse, an deren Stelle er das Konzept einer ›lateralen Zeit‹ setzt. Beverle Houston und Marsha Kinder verstehen darunter, daß Roeg in seinen Filmen

imbued with the Newtonian world view, because […] it is in the Newtonian view that time exists as a series of universal moments.« (Ebd., S. 163.) 1

Jorge Luis Borges: »Die Zeit«, in: ders., Borges, mündlich. Sieben Nächte. Neun danteske Essays. Persönliche Bibliothek. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2004 (= Gesammelte Werke. Der Essays vierter Teil), S. 58-69; hier: S. 63.

2 3

Ebd. Francis Herbert Bradley: Appearance and Reality. A Metaphysical Essay. Oxford: Clarendon 1999 (= Collected Works of F.H. Bradley; Vol. 9), S. 187.

4

Bradley führt hierzu aus: »What […] I call ›real‹ events are the phenomena which I arrange in a continuous time-series. This has its oneness in the identity of my personal existence.« (Ebd.)

5

Ebd., S. 189,

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immer wieder Verschiebungen und Verlagerungen in beliebige zeitliche Richtungen vornimmt, statt sich an einen absoluten und eindeutigen linearen Zeitablauf zu halten.1 Roeg selbst räumt ein, daß es gerade das Spiel mit Linearität ist, dem sein Interesse gilt: »The thought of being able to capture time moving backwards and forwards has always fascinated me.«2 Wenn man Dunnes Erklärungsansatz vertrauen mag, dann hängt eben diese Richtung der Zeit von der Verfaßtheit des Beobachters ab. Doch Dunne ist für Roeg nicht der einzige Gewährsmann dafür, daß sich erst aus der Position eines Beobachters eine Richtung der Zeit ableiten läßt. c) Die relativitätstheoretische Zeit: Synchronizität und ›bad timing‹ Die Theorie eines seriellen Universums und der daraus abgeleitete ›Beweis‹ einer Möglichkeit der Präkognition von zukünftigen Ereignissen, wie sie John William Dunne entwickelt, sind rein spekulativer Natur. Gleichwohl sieht sich Dunne in seinen Ausführungen durch Erkenntnisse der (zu seiner Zeit) neueren Physik bestätigt. Wiederholt bezieht er sich in An Experiment with Time auf die Relativitätstheorie und insbesondere auf Albert Einstein, der festgestellt habe, daß »not merely the idea that different individuals could hold different views regarding both Time (as told by clocks) and Space (as measured by rods), but that such judgments would be equally valid.«3 Nun fällt die Entwicklung der Relativitätstheorie – Einstein hatte seine Er-

1

Vgl. Houston/Kinder 1980, S. 451f. – Vgl. auch die Feststellung von Raymond Lefevre: »Da jeglicher linearer Aspekt gebannt ist, basiert der Verlauf der Geschichte durchgehend auf einer Diskontinuität, die den Raum und die Zeit beeinflußt, sei es durch die Verwendung der abruptesten Ellipsen, sei es durch die systematische Ablehnung der logischen Beziehungen.« (Jean-Louis Cros/Raymond Lefevre: »Pour réhabiliter Nicholas Roeg«, in: Revue du cinéma/Image et son 362 [juin 1981], S. 61-76; hier: S. 70 [Übers. KS].)

2

Crawley 1980, S. 392. – Diese Faszination reicht zurück bis in seine frühen Lehrjahre, als er erste Erfahrungen beim Synchronisieren von Filmen sammelte: »From the first time I sat at the Editola and ran film backwards and forwards, I’ve been fascinated by the idea of reversing time; in fact, every aspect of time and how we are fooled by it and all its emotional changes. I believe that film and the ability to trap the moving image and replay it has been a big scientific step in understanding reality and existence.« (Roeg 2013, S. 219.)

3

Dunne 1981, S. 45. – An anderer Stelle versichert Dunne, daß seine Theorie der Serialität nicht nur in Beziehung zur Relativitätstheorie stehe, sondern auch eine Nähe zu Erkenntnissen der Quantentheorie aufweise (vgl. ebd., S. 230). – Diese Engführung von strenger Naturwissenschaft und parawissenschaftlicher Spekulation kommt durchaus Roegs Inter-

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kenntnisse, die den Grundstein zur Speziellen Relativitätstheorie bilden, unter dem Titel »Zur Elektrodynamik bewegter Körper« 1905 in den Annalen der Physik publiziert1 – nicht nur zeitlich in etwa mit dem Aufkommen des Films und insbesondere dem Übergang vom Attraktionskino zum ›klassischen‹ Spielfilm zusammen, sondern das Medium Film und das Kino weisen von Anbeginn an eine starke Affinität zur Relativitätstheorie auf, wie Manfred Schneider versichert und darüber hinaus sogar betont, daß die »Relativitätstheorie […] eine Kino-Theorie« sei, denn: »Spätestens seit Einstein werden die Spekulationen über eine Reversibilität der kosmischen Zeit im Kino-Beispiel anschaulich gemacht. So hat überhaupt erst das Kino im Verbund mit anderen technischen Speichermedien die Umkehrung des Zeitpfeils darstellbar, und das heißt: denkbar werden lassen.«2 Die Implikationen, die die Einsteinsche Relativitätstheorie mit sich gebracht hat, können in ihrer universellen Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn nicht zuletzt haben die Spezielle und mehr noch die Allgemeine Relativitätstheorie den Anstoß zu kosmologischen Modellen gegeben. Während Einstein noch 1915, als er die Allgemeine Relativitätstheorie formulierte, »an die statische Beschaffen des Universums glaubte«,3 gelang es dem russischen Mathematiker und Physiker Alexander Friedmann auf der Grundlage von Einsteins Theorie die Expansion des Universums zu erklären, womit er die Grundlage für die sich anschließenden ›Urknall‹-Theorien legte.4 Eine Nähe zu Friedmanns Annahmen wird indes Edgar Allan Poe nachgesagt, der in seinem Essay Eureka (1848) ebenfalls die Vorstellung eines expandierenden Universums entwickelt.5 Poe war mit seinem letzten

esse entgegen. Er spricht nicht nur von »a coming together of science, myth, faith, art and time – and of them being connected… as of course they always have been«, sondern betont sogar: »The idea of separating science from the inventive imagination and keeping it mainly rooted in the world of proven thought denies it that wonderful quality of being constantly surprising.« (Roeg 2013, S. 211.) 1

Albert Einstein: »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«, in: Annalen der Physik (Vierte Folge) 17 (1905), Nr. 1, S. 891-921.

2

Manfred Schneider: »ENTROPIE tricolore. Die Logik der Bilder in Godards ›Weekend‹«, in: Michael Wetzel/Herta Wolf (Hg.), Der Entzug der Bilder. Virtuelle Realitäten. München: Fink 1994, S. 235-248; hier: S. 242f.

3

Stephen W. Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. Übers. v. Hainer Kober. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1988, S. 59.

4

Vgl. hierzu das Kapitel »Das expandierende Universum« in Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit (ebd., S. 53-73; bes. S. 58-67).

5

Vgl. Emily Eakin: »What Did Poe Know About Cosmology? Nothing. But He Was Right«, in: The New York Times, 02.11.2002, http://www.nytimes.com/2002/11/02/

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großen Werk angetreten, die zeitliche, räumliche und materielle Beschaffenheit des Universums zu erklären: »I design to speak of the physical, metaphysical and mathematical – of the material and spiritual universe; of its essence, its origin, its creation, its present condition and its destiny«, leitet Poe seine spekulative Abhandlung ein.1 Roegs Film EUREKA übernimmt nicht nur den Titel von Poes Text, sondern auch einige der dort dargelegten Annahmen.2 So gelangt etwa Richard Combs zu der Feststellung: »[…] the Poe thesis, which argues a version of the ›Big Bang‹ theory of the cosmos, with all matter being dispersed by an exercise of divine will then tending inevitably to return to the unity of ›the One‹, is both intellectual context and a metaphor for Roeg’s cross-cutting method.«3 Paul Mayersberg, der das Drehbuch zu EUREKA verfaßt hat, verweist aber auch darauf, wie sehr der Film einem relativitätstheoretischen Gedanken im Sinne Einsteins verpflichtet ist: »What Nic Roeg has done in EUREKA, I think, is to give relativity a human form.«4 Auch Mayersberg sieht dabei eine grundlegende Affinität des Kinos zur Relativitätstheorie: der Film sei die geeignetste aller Kunstformen, um Raum und Zeit gemeinsam zu denken und zu reflektieren: »Film, which coincided with the theory of relativity, is one of the most malleable forms in dealing with space and time. It’s easier to consider space and time with film than with sculpture or painting or even music, which traditionally aim at timelessness.«5 Die offensichtlichsten Bezüge zur Relativitätstheorie finden sich bei Roeg in INSIGNIFCANCE.6 Als die Schauspielerin in der Nacht den Professor in seinem Ho-

books/think-tank-what-did-poe-know-about-cosmology-nothing-but-he-was-right .html [30.09.2013]. 1

Edgar Allan Poe: Eureka. An Essay on the Material and Spiritual Universe. Foreword by Sir Patrick Moore. London: Hesperus 2002, S. 5.

2

Nicolas Roeg selbst bestätigt im Gespräch mit Harlan Kennedy: »But actually the direct idea for our title came from Edgar Allan Poe’s essay Eureka.« (Kennedy 1983, S. 23.) Gleiches bestätigt der Regisseur im Interview mit Richard Combs (vgl. Combs 1983b, S. 117).

3

Combs 1983a, S. 135.

4

So Mayersberg im Interview mit Tom Milne (Milne 1982, S. 285).

5

Ebd. – Mayersberg führt weiter aus, daß zwar auch der Film in gewisser Weise ›zeitlos‹ sei, aber es handele sich um eine andere Art der ›Zeitlosigkeit‹ als in der Malerei: »The point about film is that it is not timeless; it is without time in the sense of historical or biographical chronology. It’s not timeless like Rembrandt’s portraits of old age.« (Ebd.)

6

Wie bereits im Einleitungskapitel vermerkt, weist Roeg selbst sein Interesse an Einstein und seinen Theorien dadurch aus, daß er das Kapitel »The Future« in seinem Buch The World is Ever Changing mit einem Zitat des Physikers beginnen läßt (vgl. Roeg 2013, S. 193).

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telzimmer aufsucht, hat sie es sich auf die Fahne geschrieben, ihm seine eigene Theorie, die Relativitätstheorie, zu erklären. Sie erläutert zunächst das Prinzip des Inertialsystems, dann das Additionstheorem der Geschwindigkeiten gemäß der klassischen Mechanik und daran anschließend die Prämisse von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, um schließlich die Relativität der Gleichzeitigkeit und das Problem der Synchronizität von Uhren an weit auseinanderliegenden Orten darzulegen (Abb. 75). Abschließend hält sie fest: »So given a constant frame of reference within which to experiment according to Galileo’s original principles and accepting the hypothesis that light always travels at a hundred and eighty-six thousand two hundred and eighty-two point three nine seven miles per second in all directions at once, then the main point I have demonstrated is that all measurements of time and space are necessarily made relative to the observer and are not necessarily the same for two independent observers. And that is the Specific Theory of Relativity. Isn’t it?«

Abbildung 75: »And that is the Specific Theory of Relativity.«

INSIGNIFCANCE (Nicolas Roeg, 1985)

Der Professor zeigt sich beeindruckt – bis die Schauspielerin erklärt, sie habe alles lediglich auswendiggelernt, ohne es zu verstehen. »That’s nothing«, entrüstet er sich und gibt zu bedenken: »If I say I know, I stop thinking. But as long as I keep thinking, I come to understand. That way I might approach some truth.« Es bietet sich daher an, die Mahnung des Professors ernst zu nehmen und ein wenig genauer

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hinzuschauen, um zu verstehen, welche Bewandtnis es mit dem hat, was die Schauspielerin verständnislos referiert.1 In seinem bereits erwähnten Aufsatz zur »Elektrodynamik bewegter Körper« (1905), mit dem er den Grundstein zur Speziellen Relativitätstheorie legte, geht Einstein von der Prämisse aus, »daß alle unsere Urteile, in welchen Zeit eine Rolle spielt, immer Urteile über gleichzeitige Ereignisse sind.«2 Wie so oft bedient sich Einstein zur Erläuterung dieses Problems dabei zweier Bilder, nämlich des Zuges und der Uhr.3 Die massive Präsenz von Uhren und Zügen in Roegs Filmen kann also durchaus als Beleg angesehen werden, daß es vor allem die Einsteinschen Raumund Zeitbegriffe sind, denen der Regisseur verpflichtet ist. Dies rechtfertigt zugleich eine mithin ausführliche Darstellung der relativitätstheoretischen Annahmen bezüglich Raum und Zeit. Zur Grundlegung letzterer führt Einstein zunächst aus: »Wenn ich z.B. sage: ›Jener Zug kommt hier um 7 Uhr an‹, so heißt dies etwa: ›Das Zeigen des kleinen Zeigers meiner Uhr auf 7 und das Ankommen des Zuges sind gleichzeitige Ereignisse‹.«4 Diese Auffassung von Gleichzeitig erscheint nur so lange unproblematisch, wie es darum geht, »eine Zeit zu definieren ausschließlich für den Ort, an welchem sich die Uhr eben befindet.«5 Das Problem, das den Ausgangspunkt der Speziellen Relativitätstheorie bildet, ist folglich die Frage, wie »an verschiedenen Orten stattfindende Ereignisreihen miteinander zeitlich zu verknüpfen« sind.6 Sollen die Ereignisse an zwei unter-

1

Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch: Keyvan Sarkhosh: »Wanderungen auf Pfaden, die sich verzweigen. Relativitätstheoretische und quantenmechanische Annäherungen an das Problem des ›Erzählens‹ bei Nicolas Roeg und Jorge Luis Borges«, in: Alexandra Strohmaier (Hg.): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript 2013, S. 246-268.

2 3

Einstein 1905, S. 893 (Herv. i.O.). Vollkommen zu Recht weist Julie M. Johnson darauf hin, daß »Einstein frequently used a train in his explanations to non-scientists« (Julie M. Johnson: »The Theory of Relativity in Modern Literature. An Overview and ›The Sound of Fury‹«, in: Journal of Modern Literature 10 [1983], Nr. 2, S. 217-230; hier: S. 226).

4

Einstein 1905, S. 893.

5

Ebd.

6

Ebd. – Daniel Frost Comstock, der fünf Jahre nach den Ausführungen Einsteins mit dem Vorhaben antrat, eine kurze, leichtverständliche und nicht-mathematische Einführung in die Relativitätstheorie zu geben, bringt dieses Ausgangsproblem treffend auf den Punkt: »The whole principle of relativity may be based on an answer to the question: When are two events which happen at some distance from each other to be considered simultaneous? […] The question is, how can we make two events happen at the same time when

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schiedlichen Raumpunkten A und B, an denen sich jeweils ein Beobachter samt jeweils gleichbeschaffener Uhr befindet, zeitlich verglichen werden, so muß zunächst eine für A und B gemeinsame Zeit definiert werden.1 Einstein nimmt dazu eine operationale Bestimmung der Gleichzeitigkeit vermittels der Synchronisierung von Uhren durch Aussendung von Lichtstrahlen vor.2 Unter Anwendung der von ihm eingebrachten Voraussetzung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit3 definiert er nun die gemeinsame Zeit, indem er festsetzt, »daß die ›Zeit‹, welche das Licht braucht, um von A nach B zu gelangen, gleich ist der ›Zeit‹, welche es braucht, um von B nach A zu gelangen.«4 Daraus ergibt sich, »daß die Zeit, welche die Uhr B im Moment der Reflexion eines von Uhr A ausgesendeten Lichtstrahls anzeigt (t2), die Hälfte der Zeit zwischen der Aussendung des Lichtstrahls A (t1) und dessen Wiedereintreffen in A ist (t3).«5 Gemäß dieser Definition ist die Uhr in B genau dann synchron zur Uhr in A, wenn sie im Moment der Reflexion des synchronisierenden Lichtstrahls zusätzlich zur Zeit t1 in A die Hälfte der Zeit, die zwischen dem Aussenden des Lichtstrahls in A (t1) und dem Wiedereintreffen des Lichtstrahl in A (t3) verstrichen ist, anzeigt6 – oder mathematisch ausgedrückt: t2 = ½ (t1 + t3). Definitionsgemäß laufen die Uhren also synchron, wenn gilt: t2 – t1 = t3 – t2.7 Aus dieser Setzung leitet Einstein eine allgemeine Definition von ›Zeit‹ ab: »Die ›Zeit‹ eines Ereignisses ist die mit dem Ereignis gleichzeitige Angabe einer am Orte des Ereignisses befindlichen, ruhenden Uhr, welche mit einer bestimmten, ruhenden Uhr, und zwar für alle Zeitbestimmungen der nämlichen Uhr, synchron läuft.«8 Diese Form der Zeitbestimmung steht zunächst noch nicht im Widerspruch zur zweistelligen Gleichheitsrelation der Newtonschen Physik. Gemäß dieser gilt: »Ein gegebenes Ereignis E1 ist entweder gleichzeitig mit oder es ist nicht gleichzeitig mit einem anderen gegebenen Ereignis E2.«9 Wie Michael Esfeld hervorhebt, gilt es allerdings zu bedenken, daß die Bestimmung von Gleichzeitigkeit in diesem Sinne

there is a considerable distance between them.« (Daniel Frost Comstock: »The Principle of Relativity«, in: Science [n.s.] 31 [1910], Nr. 803, S. 767-772; hier: S. 768.) 1

Vgl. Einstein 1905, S. 893f.

2

Vgl. Carrier 2009, S. 20.

3

Die Prämisse der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit besagt, »daß sich das Licht im leeren Raume stets mit einer bestimmten, vom Bewegungszustande des emittierenden Körpers unabhängigen Geschwindigkeit V fortpflanze.« (Einstein 1905, S. 891f.)

4

Ebd., S. 894.

5

Esfeld 2002, S. 30.

6

Vgl. ebd.

7

Vgl. Einstein 1905, S. 894.

8

Ebd.

9

Esfeld 2002, S. 31.

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nur innerhalb eines Inertialsystems gilt.1 »Uhren, in Inertialsystemen, die relativ zueinander bewegt sind, gehen nicht synchron.«2 Einstein erläutert das Problem anschaulich am Beispiel eines sehr langen Zuges, der mit einer konstanten Geschwindigkeit v an einem Bahndamm entlangfährt.3 Für einen Beobachter innerhalb des Zuges stellt dieser ebenso einen starren Bezugskörper dar, wie der Bahndamm für einen dortigen Beobachter. Zug und Bahndamm stellen somit relativ zueinander bewegte Inertialsysteme dar. Auf dem Bahndamm gehen sodann von zwei entgegengesetzten Punkten A und B Lichtstrahlen aus in Richtung eines in der Mitte von A und B gelegenen Beobachters M. Den Ereignissen A und B auf dem Bahndamm entsprechen die Stellen A und B des fahrenden Zuges, in deren Mitte sich ebenfalls ein Beobachter Mʹ befindet. Da sich der Zug in Bewegung befindet, bleibt die Position von Mʹ nicht mit der von M identisch, sondern bewegt sich in Richtung des auf dem Bahndamm einen Lichtstrahl aussendenden Punktes B. Während für den Beobachter M auf dem Bahndamm die Ereignisse in A und B nach dem soeben beschriebenen Synchronisierungsverfahren gleichzeitig erscheinen, sind sie es für den Beobachter Mʹ im fahrenden Zug nicht. Vom Bahndamm aus beurteilt, eilt er »dem von B herkommenden Lichtstrahl entgegen, während er dem von A herkommenden Lichtstrahl vorauseilt. Der Beobachter wird also den von B ausgehenden Lichtstrahl früher sehen, als den von A ausgehenden.«4 Ein Beobachter, der den Zug als Bezugssystem benutzt, muß somit zu dem Ergebnis kommen, daß das Ereignis in B früher stattgefunden hat als das in A, während beide Ereignisse für einen Beobachter, der den Bahndamm als Bezugssystem zugrunde legt, gleichzeitig sind.5 Mehr noch, aus Sicht des Beobachters im bewegten Zug erscheinen die Uhr und damit alle Vorgänge und die Zeit auf dem Bahndamm verlangsamt. Die Physik bezeichnet diesen Effekt als Zeitdilatation. Sie besagt, daß in zwei wechselseitig zueinander bewegten Inertialsystemen6 die Zeit wechselseitig verlangsamt erscheint, während sie im jeweiligen Ruhezustand am schnellsten verläuft.7 Einstein weist damit das von Newton postulierte »Axiom des absoluten Charakters der Zeit, bezw. der Gleichzeitigkeit« als willkürlich und fehlerhaft zurück:8

1

Vgl. ebd., S. 30.

2

Ebd.

3

Einstein 2009, S. 16f.

4

Ebd., S. 17.

5

Vgl. ebd.

6

Dies kann z.B. auch bedeuten, daß sich das eine System in relativer Ruhe befindet, während das andere System sich in relativer Bewegung dazu befindet.

7

Vgl. Carrier 2009, S. 35.

8

Einstein 1951, S. 52.

288 | KINO DER UNORDNUNG »Wir sehen also, daß wir dem Begriffe der Gleichzeitigkeit keine absolute Bedeutung beimessen dürfen, sondern daß wir Ereignisse, welche, von einem Koordinatensystem aus betrachtet, gleichzeitig sind, von einem relativ zu diesem System bewegten System aus betrachtet, nicht mehr als gleichzeitige Ereignisse aufzufassen sind.«1

Da Einstein von der physikalischen Gleichwertigkeit aller Inertialsysteme ausgeht,2 kann es keinen absoluten Begriff der Gleichzeitigkeit geben. In der Speziellen Relativitätstheorie wird die Gleichzeitigkeit damit zu einer dreistelligen Relation: »Ein gegebenes Ereignis E1 ist gleichzeitig mit einem anderen gegebenen Ereignis E2 relativ zu einem Bezugssystem B1. Es gibt ein anderes Bezugssystem B2, relativ zu dem dasselbe Ereignis E1 nicht gleichzeitig mit E2 ist, sondern auf E2 folgt; und relativ zu einem dritten Bezugssystem B3 liegt E1 vor E2.«3

Es gibt in diesem Sinne »keine für alle Bezugssysteme zeitliche Anordnung der Ereignisse«.4 Das Problem der Zeitsynchronisation ist auch für die Filme Roegs kennzeichnend. BAD TIMING spricht es gleichsam schon in seinem Titel an.5 Neil Sinyard erläutert dazu: »More fundamentally, the notion of ›bad timing‹ informs the whole relationship between Alex and Milena, whose senses of time are out of synchronization with each other and whose different attitudes to time define their personalities to some degree.«6 Während ihres Tunesien-Urlaubs sagt Milena zu Alex, der bereits in die Zukunft plant, sie liebe die Gegenwart. Gerrit Olivier schließt daraus:

1 2

Einstein 1905, S. 897 (Herv. i.O.). Vgl. Carrier 2009, S. 17. – Konsequenterweise heißt das auch, »dass alle geradliniggleichförmigen bewegten Beobachter in jedweder physikalischen Hinsicht gleichberechtigt sind.« (Ebd.)

3

Esfeld 2002, S. 31.

4

Ebd., S. 29.

5

Als Titel für diesen Film hatte Roeg ursprünglich »Illusions« vorgesehen, der jedoch wegen Copyrightproblemen zurückgezogen werden mußte (vgl. Roeg 2013, S. 46), und an der Seite von Art Garfunkel sollte zunächst Sissy Spacek die Rolle Milenas spielen (vgl. Bockris 2000, S. 134). Ihren Part übernahm dann Theresa Russell. Sie war es auch, die Roeg zufolge den finalen Titel BAD TIMING vorschlug, »claiming that it was bad timing for the sort of film I’d made. This certainly proved to be the case«, wie der Regisseur mit Blick auf die zum Teil harsche zeitgenössische Kritik anmerkt (Jason Wood: »Q&A with Puffball Director Nicolas Roeg«, in: The Guardian, 18.07.2008, http://www.guardian.co.uk/ film/2008/jul/18/features.culture [15.12.2008]).

6

Sinyard 1991, S. 71.

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»the ›now‹ has a self-sufficiency for her […].«1 Das Leben in unterschiedlichen, gleichsam asynchronen Zeiten erscheint dabei geradezu wesensdefinierend für die Roegschen Figuren. Dies wird auch in EUREKA ersichtlich: »Wo McCann als ewiger Dinosaurier ausschließlich in der Vergangenheit lebt, erscheint Mayakovsky als Mann der Zukunft und des unaufhaltsamen Fortschritts«, so Ivo Ritzer über die Hauptfigur und ihren Gegenspieler.2 Fortschritt impliziert freilich ein Denken in linearen Bahnen, wie es in BAD TIMING wiederum für Netusil und seine auf Gewißheit ausgerichteten detektivischen Nachforschungen kennzeichnend ist – und das insbesondere im Gegensatz zur volatilen Gegenwartsgebundenheit Milenas steht.3 Teresa de Lauretis führt dazu aus: »Linear time, with its logic of identity and non-contradiction, its predication of a definite identification of characters and events, before or after a ›now‹ which is not ›not now‹, a here where ›I‹ am or an elsewhere where ›I‹ am not, is a necessary condition of all investigation and of all narrative […].«4

Doch gerade diese lineare Rekonstruktion der detektivischen Ermittlung wird in BAD TIMING in Frage gestellt, was wiederum wesentlich mit dem Problem asynchroner Zeiten zusammenhängt. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem geradezu exzessiven Zigaretten-Konsum in BAD TIMING zu, der Sinyard zufolge nicht allein Ausdruck der Nervosität der Figuren ist: »The cigarettes also become crucial to the plot, because the number of Alex’s cigarettes in Milena’s ashtray on the night of her attempted suicide cast doubt on Alex’s story about the amount of time he spent in

1

Olivier 1984, S. 28.

2

Ivo Ritzer: »Kosmos, Körper, Kino. Nicolas Roegs ›Eureka‹«, in: Marcus Stiglegger/ Carsten Bergemann (Hg.), Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 (= FilmKonzepte; 3), S. 74-83; hier: S. 78 (Herv. i.O.).

3

Linearität und Gewißheit verschmelzen auch in der Ansprache von Dr. Henry Henry in TRACK 29, in der er die Eisenbahn – ein Inbegriff der Linearität – als »a ›picture of long ago when we knew who we were, what we were and where we were going‹« glorifiziert (Hurd 1995, S. 296).

4

de Lauretis 1983, S. 32. – Wie de Lauretis weiter hervorhebt, fußt diese detektivische Linearität wesentlich auf einem Konzept von Ursache und Wirkung: »There is the linear time of the investigation, with its logical succession of cause and effect, crime and punishment, guilt and reparation, its movement forward toward resolution and backward toward the original scene, the traumatic moment of an oedipal drama which narrativity endlessly reconstructs.« (Ebd.)

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her room.«1 Sie sind der Beleg dafür, daß Alex’ Darstellung der Ereignisse, insbesondere sein Bericht über die Zeit, die zwischen Milenas Hilferuf und seinem Eintreffen in ihrer Wohnung vergangen ist, nicht mit den Indizien übereinstimmt.2 Dies ist freilich ein weiterer Fall von ›bad timing‹. Gerrit Oliver resümiert daher vollkommen zurecht: »The film’s title applies […] to various events in the film […], but finally it is a metaphor which captures the image of the world projected by the film«, und fügt erläuternd hinzu: »But it is not so much a matter of supposing that ›better timing‹ could have altered the course of events, say, for the better. I think that Roeg’s film suggests, rather, that given the contingency of human decisions, we do not possess a criterion in terms of which such a judgment can be made absolutely. Any notion of ›timing‹, however – be it good or bad – seems to presuppose such a ›stable‹ criterion of judgment.«3

Jedes Urteil, das zeitliche Vorstellungen zugrunde legt, erweist sich damit letztlich als relativ und abhängig vom individuellen Beobachterstandpunkt. Ein absoluter, alles umfassender Zeitbegriff, wie ihn die klassische Physik im Sinne Newtons vertritt, wird damit in Roegs Film deutlich verneint. So konstatiert auch Olivier: »Hence the ›bad‹ of BAD TIMING seems to suggest that precisely those notions of ›timing‹ (or time, for that matter) that do presuppose an overarching dimension of ›Time‹, may be called instances of ›bad‹ timing. It also suggests that the universe is contaminated, to its very core, by the ambiguity which makes any ›final‹ judgment or interpretation impossible. We are all caught in a web of ambiguity […].«4

Eine solche temporale Ambiguität, wie sie für die Filme Roegs bestimmend ist, ist durchaus auch kennzeichnend für das Denken Borges’, der explizit (wenngleich mit einem für ihn sehr typischen Understatement) nicht nur auf »den jüngsten Relativi-

1

Sinyard 1991, S. 70. – Sinyard unterstreicht die Bedeutung der Zigaretten für die Geschichte mit allem Nachdruck: »The cigarettes, then, relate to a second plot that gradually begins to take over the first, turning the film from love story into murder mystery […].« (Ebd.)

2

Vgl. ebd., S. 77.

3

Olivier 1984, S. 32f.

4

Ebd., S. 33. – Auch Teresa de Lauretis weist darauf hin, daß Roegs Film eben keine absolute, übergeordnete Zeit, sondern nur noch die Annahme unterschiedlicher Zeiten zuläßt: »In BAD TIMING, as the title insists, temporality is directly in question, and its different orders must be established symbolically, i.e., cinematically.« (de Lauretis 1983, S. 31.)

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tätsalarm« verweist,1 sondern auch vehement den absoluten Zeitbegriff Newtonscher Prägung zurückweist und an dessen Stelle die Auffassung verschiedener Zeitreihen setzt: »Ich glaube, diese Idee, daß es nicht nur eine, sondern verschiedene Zeiten gibt, ist in gewisser Weise von der neueren Physik, die ich nicht verstehe und zu kennen nicht behaupte, aufgenommen wurden. Warum sollte man nur eine einzige, absolute Zeit annehmen, wie Newton es tat?«2 Ihren literarischen Niederschlag findet diese Vorstellung relativ zueinander verlaufender Zeiten beispielweise in Borges’ Erzählung El milagro secreto (1943): In dem Moment, als Jaromir Hladik von einem Erschießungskommando exekutiert werden soll, bleiben die Zeit und die Welt um den Verurteilen herum stehen. Es ist dies die Erfüllung seines Wunsches an Gott, ihm ein Jahr Aufschub zu gewähren, damit er sein Drama, das er zu schreiben begonnen hatte, beenden könne. Doch während für den Todeskandidaten die Zeit gedehnt und die Welt stillzustehen scheinen, verläuft sie aus Sicht des Pelotons ›normal‹, so daß es am Ende heißt: »Jaromir Hladik starb am Morgen des 29. März, zwei Minuten nach 9 Uhr.«3 Diese Szene läßt sich als fiktionale Umsetzung der relativitätstheoretischen Zeitdilatation interpretieren, der zufolge für den bewegten Beobachter die Zeit verlangsamt erscheint.4 Solche Momente der Zeitdilatation finden sich auch in Roegs Filmen, so zum Beispiel in DON’T LOOK NOW, als John Baxter auf einer hängenden Arbeitsbühne das zu restaurierende Fresko in Augenschein nimmt und beinahe von einem herabstürzenden Balken erschlagen wird. In dieser Szene scheint das fatale Ereignis (das Herabfallen des Balkens) zeitlich vorweggenommen zu sein, mindestens aus der Einstellung heraus, in der sich die Kamera auf einer Höhe mit dem Balken und damit in einer übergeordneten Beobachterposition befindet. Aus der Perspektive Johns und der Arbeiter dagegen scheint das Ereignis erst später stattzufinden (Abb. 76). Darüber hinaus erscheint in der Gesamtanordnung der Einstellungen die Zeit aus der John Baxter zugeordneten Beobachtungsperspektive im Sinne der relativitätstheoretischen Zeitdilatation gedehnt, was durch den Zeitlupeneffekt unterstri-

1

Vgl. Borges: Geschichte der Ewigkeit, S. 10. – Vgl. auch Borges: Die Zeit, S. 63.

2

Ebd., S. 66.

3

Jorge Luis Borges: »Das geheime Wunder«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 215-222; hier: S. 222.

4

Auch Mark Mosher interpretiert die unterschiedlichen Zeitabläufe in El milagro secreto vor dem Hintergrund der Relativitätstheorie: »In other words, Hladik and the soldiers represent two distinct frames of reference. Under these conditions, relativity theory predicts that they will perceive the same events differently.« (Mosher 1994, S. 57.)

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chen wird.1 Solche Zeitlupen ziehen sich nicht nur durch DON’T LOOK NOW, sondern begegnen uns auch in anderen Filmen Roegs, so etwa in INSIGNIFICANCE. Scott Salwolke, der grundsätzlich von einer »temporal distortion« bei Roeg spricht,2 verweist auf eine Szene mit dem Professor und der Schauspielerin, die sich als Beispiel für Zeitdilatation auffassen ließe: »The scene of them innocently preparing for bed […] shows just how long Roeg can extend time: Their motions are slowed down, while the action of the other participants continue at a normal pace, as if some bizarre theory of relativity were in effect.«3 Abbildung 76: Zeitdilatation? – Johns Sturz vom Gerüst

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

Von ›Zeitdilatation‹ läßt sich aber auch im Falle von CASTAWAY sprechen: Die Zeit, die Gerald und Lucy auf der Insel verbringen, erscheint in gewisser Weise gedehnt bzw. gestaucht – je nach Perspektive kann man sie als eine auf ein Jahr komprimierte Ehe, die scheitert, bzw. als auf ein Jahr in die Länge gezogene Flitterwochen auffassen.4 Neil Sinyard weist dabei darauf hin, daß es sicherlich kein Zufall

1

Auch John Izod sieht in dieser Szene einen Ausdruck der Relativität der Zeit, jedoch einer Relativität, die auf einem psychologischen Effekt basiere (Izod 1992, S. 83).

2

Salwolke 1993, S. 4.

3

Ebd., S. 108.

4

Vgl. Sinyard 1991, S. 108. – Roeg selbst äußert sich in der Oktober-1987-Ausgabe der Zeitschrift Lighting Dimensions über die Idee der kondensierten Zeit auf der Insel in CASTAWAY: »[…] this is an extraordinary metaphor – a marriage of 20 years reduced to a

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ist, daß es gerade eine Anzeige im Time Out-Magazin ist, die Gerald und Lucy zusammengebracht hat: »Time Out has brought them together, but time is running out […] In their final embrace, Lucy is holding a clock, as if aware that their ostensible paradise would always be subject to time, and that time has run out between her and Gerald at the point when the two are closer than before. Another example of bad timing.«1

Abbildung 77: »One o’clock.«

CASTAWAY (Nicolas Roeg, 1986)

Während des Jahres auf der Insel ist es Gerald, der sich immer wieder auf Uhren bezieht (Abb. 77) und den Mondverlauf nachzuhalten versucht, um die verstrichenen Tage festzuhalten, während Lucy jedes Gefühl für die Zeit und sich selbst immer mehr an die Insel verliert.2 Uhren und kalendarische Messung stellen für Roeg Instrumente dar, die unser Wesen und unser Denken grundlegend prägen, wie er betont: »Those two rational and useful tools – the clock and the calendar – have for centuries dictated and set boundaries on your ability to fantasise.«3 Die massive Präsenz von Uhren in Roegs Werk erinnert nicht zuletzt an die Bedeutung, die Uhren in der Theorie Einsteins zukommt. So fällt zunächst in INSIGNIFICANCE das im-

year.« Und er fügt hinzu: »But on a pretty island, every hour becomes a month, every day a year.« (Lighting Dimensions 13 [1987], Nr. 3, S. 75; zit. n. Salwolke 1993, S. 126.) 1

Sinyard 1991, S. 113.

2

Vgl. auch Salwolke 1993, S. 132.

3

Roeg 2013, S. 218.

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mer wiederkehrende Motiv der Armband- bzw. Taschenuhr auf.1 Bereits die erste Einstellung nach dem Titelvorspann zeigt eine herabfallende Armbanduhr. Für Scott Salwolke ist dies ein Motiv, das für alle Filme Roegs von herausragender Bedeutung ist: es verweist auf die thematische Dominanz der verzerrten Zeit bei Roeg.2 Abbildung 78: »Time… who can beat it?«

SWEET BIRD OF YOUTH (Nicolas Roeg, 1989)

Zugleich versinnbildlichen Uhren die existentielle Bedeutung der Zeit in ihrer jeweiligen Ausprägung.3 Roeg selbst merkt dazu an: »Well, everybody has their own inbuilt clock.«4 Diesem scheinen sich auch Chance und Alexandra in ihrem letzten Gespräch am Ende von SWEET BIRD OF YOUTH bewußt zu sein, als Chance zum er-

1

Im Gespräch mit Nick Setchfield verweist Roeg auf die mehr schon menschheits- als bloß kulturgeschichtliche Relevanz der Taschenuhr, wenn er zu bedenken gibt. »I think that the computer and the internet will change our whole idea of time, as much as the sprung watch did. The watch altered the world terrifically, altered our entire consciousness of time, it changed everything. It changed imagination.« (Setchfield 1999, S. 49.)

2

Vgl. ebd., S. 110. – Richard Combs spricht mit Blick auf den Filmbeginn von »such Magritte-like visual elements as the shot of a watch dropping down a subway grating […]« (Combs 1985a, S. 236).

3

Auf die mehrfache Bedeutung des Uhrenmotivs verweist auch Salwolke: »For both the actress and the professor, watches have a meaning beyond their function as objects that measure time.« (Salwolke 1993, S. 113.)

4

Norman 1983, S. 62.

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sten Mal die Uhr auf dem Kaminsims wahrnimmt (Abb. 78): »I didn’t know there was a clock in this room.« Daraufhin antwortet Alexandra: »I guess there’s a clock in every room that people live in.« Das Gespräch nimmt zunehmend fatalistische Töne an, als Chance sinniert: »Time… who can beat it?« In Roegs Filmen kann niemand die Zeit schlagen, ihr entkommen. So könnte die Antwort lauten – wäre da nicht Thomas Jerome Newton in THE MAN WHO FELL TO EARTH, der anders als alle anderen um ihn herum nicht zu altern scheint. Die anderen Figuren, von Mary-Lou über Bryce bis Farnsworth dagegen scheinen geradezu einem beschleunigten Alterungsprozeß zu unterliegen. Dies ist eines der augenscheinlichen Beispiele für »Roeg’s variable concept of time«, von dem Neil Feineman spricht und ausführt: »What separates us most from Mary Lou, however, is not her action or fate, but the way Roeg has her age. So that Roeg could develop his new concept of time, he planned for his characters to age at varying rates, keeping only Newton and the sets chronologically constant.«1 Die Geschwindigkeit, mit der die Figuren in THE MAN WHO FELL TO EARTH altern, ist schließlich der einzige Indikator dafür, wieviel diegetische Zeit überhaupt verflossen ist.2 Wenngleich Drehbuchschreiber Paul Mayersberg zufolge THE MAN WHO FELL TO EARTH »the complete movie time machine in action« darstelle,3 so läßt uns Roeg in diesem wie in vielen seiner anderen Filmen über die Zeit mehr im unklaren als im klaren – oder, wie es Oliver Baumgarten formuliert: »Besonders der Parameter Zeit, an sich ein Indikator für das Fortschreiten der Handlung, wird […] in der Konstruktion der Szenenabfolge weitgehend ausgeblendet. Es bleibt zum Teil komplett dem Zuschauer überlassen zu entscheiden, wieviel Zeit zwischen den Szenen vergangen sein mag.«4 Dies ist nicht zuletzt einer relativitätstheoretisch eingefärbten Zeitkonzeption geschuldet, die programmatische Bedeutung für Roegs

1

Feineman 1978, S. 121. – Scott Salwolke macht darauf aufmerksam, daß der Patentanwalt Farnsworth »the first illustration of Roeg’s experimentation with aging processes« sei: »During the film, the characters will age at varying rates, with the exception of Newton, who remains eternally youthful.« (Salwolke 1993, S. 60.) – Roeg selbst räumt im Gespräch mit Harlan Kennedy über THE MAN WHO FELL TO EARTH ein: »I’m fascinated by the interchange between aging and time. People age at different speeds.« (Kennedy 1980, S. 27.)

2

Vgl. Auch David Bartholomew: »The Man Who Fell to Earth«, in: Film Heritage 12 (1976), Nr. 1, S. 18-25; hier: S. 24.

3 4

Mayersberg 1975, S. 231. Oliver Baumgarten: »Nicht von dieser Welt. Nicolas Roegs Reflexion über Idealismus in ›The Man Who Fell to Earth‹«, in: Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann (Hg.), Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 (= Film-Konzepte; 3), S. 68-73. Hier: S. 69 (Herv. i.O.).

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Filme gewinnt. Wenn aus dem Fernseher in Lindas Wohnung in TRACK 29 eine Stimme ertönt und verkündet, daß »even time itself can be bent and twisted, and unbelievable as it may seem, two or more objects can inhabit the same area at the same time, co-existing in parallel dimensions…«, dann kann dies als ein selbstreflexiver Kommentar darüber aufgefaßt werden, auf welche Weise Roegs Filme Figuren und Ereignisse räumlich und zeitlich miteinander in Verbindung setzen. Damit indes sind bereits wesentliche strukturelle Merkmale der Weise, wie Roegs Filme erzählen, tangiert.

IV Wege des Erzählens – und ihre Verzweigungen Abandon preconceptions all ye who enter here. - NICOLAS ROEG Ich leugne die Existenz einer einzigen Zeit, in der alle Tatsachen miteinander verkettet sind. - JORGE LUIS BORGES

Es ist kaum zu übersehen, daß zum Ende des letzten Kapitels eine Verschiebung von Fragen des ›Was‹ hin zu Fragen des ›Wie‹ der Filmerzählungen Roegs stattgefunden hat. Konkret gesprochen bedeutet dies: Die Implikationen der besprochenen unterschiedlichen Zeitkonzeptionen haben nicht nur inhaltliche Relevanz für die Konstitution der narrativen Welten und der Verfassung der Figuren, die in ihnen ›leben‹. Sie bestimmen auch die Art und Weise, wie Roegs Filme narrativ verfahren. So schlägt sich die Idee einer zyklischen Zeit, wenngleich sie letztlich inhaltlich bei Roeg in Frage gestellt wird, formal in WALKABOUT nieder, wenn die Koda die Eingangssequenz wiederaufgreift. Vor allem aber das Konzept der Serialität sowie die relativitätstheoretischen Annahmen zu Raum und Zeit in der Nachfolge Albert Einsteins finden ihren Eingang in der Art und Weise, wie Roegs Filme erzählen – ein narratives Verfahren, das Neil Sinyard treffend als »narrative fragmentation« bezeichnet.1 Noch deutlicher als in ihrer inhaltlichen Ausrichtung weichen hier Roegs Filme von dem ›klassischen‹ Modell des Hollywood-Kinos und seiner ihm zugrundeliegenden ›realistischen Vorstellungen‹ einer linearen, auf UrsacheWirkungs-Relationen aufbauenden kontinuierlichen Zeit und eines ebenso kontinuierlichen, homogenen Raums ab – und das in bewußter Bezugnahme auf und Ab-

1

Sinyard 1991, S. 13.

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grenzung von eben diesem ›klassisch-realistischen‹ Muster, dessen Grundlagen in Kapitel II ausführlich dargelegt wurden.1

1) D AS G LEICHE , NOCHMAL ANDERS – ODER : R OEGS › ANTI - KLASSISCHES ‹ E RZÄHLEN Wenn am Ende vom BAD TIMING der Abspann einsetzt, erklingt auf der Audiospur das Billie-Holiday-Lied »The Same Old Story« (1940) zur Gänze und begleitet den Abspann bis zum Ende: »The same old story It’s as old as the stars above The same old story Of a boy and a girl in love The scenes say more moonlight The times say more June light Romance’s the thing Two hearts away deep in a dream The same old story It’s been told much too much before The same old story But it’s worth telling just once more It’s all fun and laughter They lived ever after in ecstasy The same old story but it’s new to me«

1

Die zyklische Struktur, wie sie für WALKABOUT kennzeichnend ist, ist bereits ein solches Beispiel für eine Abweichung von einer ›realistischen‹ Erzählweise – zumindest wenn man Brian Richardson Glauben schenken darf, der insgesamt sechs Formen zeitlicher Rekonstruktion unterscheidet, die »violations of realistic temporality present in recent texts« darstellen. An deren erste Stelle stehe die auf einer zirkulären Zeitvorstellung aufbauende Erzählung: »Perhaps the best known type, this kind of fiction, instead of ending, returns to its own beginning, and thus continues infinitely. Its circular temporality partially mimes but ultimately transforms the linear chronology of everyday existence; it always returns to and departs from its point of origin – which is also its conclusion.« (Brian Richardson: »Narrative Poetics and Post-modern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame«, in: Narrative. The Journal of the Society for the Study of Narrative Literature 8 [2000], Nr. 1, S. 23-42; hier: S. 25.)

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Die Wortwahl könnte kaum treffender sein, um zu beschreiben, was der Zuschauer in den vorausgegangenen annähernd zwei Stunden zu sehen bekommen hat. BAD TIMING scheint zunächst die ›alte Geschichte‹ einer ekstatischen und letztlich scheiternden Liebe zwischen einem ›Jungen‹ und einem ›Mädchen‹ zu erzählen, wie sie schon so oft erzählt wurde. Inhaltlich mag das stimmen, aber dann kann das ›Neue‹ an dieser Geschichte Roegs nicht darin bestehen, was sie erzählt, sondern wie sie es erzählt: »What distinguishes this melodramatic ›love story‹, however, is the singularly compelling manner of its telling«, ist schon in einer frühen Besprechung des Films zu lesen.1 Und so wundert es wohl kaum, daß das den Abspann begleitende Lied verschiedentlich – und völlig zu recht – als selbstreflexiver, metapoetischer Kommentar für die Eigenarten der Roegschen Erzählung aufgefaßt wurde.2 Wie erzählt BAD TIMING also was? a) »But it’s new to me…« – Aufbrechen der Erzählchronologie Der Inhalt von BAD TIMING ist schnell erzählt. Alex Linden, Psychoanalytiker aus New York und Gastdozent an der Universität Wien, trifft auf die jüngere USAmerikanerin Milena Flaherty. Obgleich Milena mit dem deutlich älteren Tschechoslowaken Stefan Vognic verheiratet ist, läßt sie sich auf eine leidenschaftliche Affäre mit Alex ein, doch aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebenseinstellungen finden die beiden nicht zusammen. In ihrer Verzweiflung versucht Milena, sich mit Alkohol und Tabletten zu vergiften. Alex, von Milena über ihren Suizidversuch am Telefon unterrichtet, fährt in ihre Wohnung und ruft den Rettungsdienst. Während die Ärzte im Krankenhaus um ihr Leben ringen, wird Alex von Kommissar Friedrich Netusil verhört, der den Selbstmordversuch polizeilich untersucht. Im Laufe des Verhörs erhärtet sich der Verdacht, daß Alex Milena in ihrem komatösen Zustand vergewaltigt haben könnte. Beweisen kann Netusil es aber ebenso wenig wie Alex ein Geständnis abringen. Milena überlebt, doch sie und Alex gehen fortan getrennte Wege. Soweit, so gut (oder schlecht). Der Inhalt bereitet keine großen Verständnisprobleme. »Structurally, of course, the film is not that simple«, wendet indes Neil

1

John Pym: »Ungratified Desire: Nicolas Roeg’s ›Bad Timing‹«, in: Sight and Sound 49 (1980), Nr. 2, S. 111f.; hier: S. 112.

2

Vgl. z.B. Milne 1987, S. 43, de Laurentis 1983, S. 35 u. Cunningham 1982, S. 109. – Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bezeichnend, daß Billie Holidays Lied »The same old story« aus dem Jahr 1940 stammt – und damit in die Phase des klassischen Hollywood-Kinos fällt.

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Sinyard ein, und fügt hinzu: »It jumps around in time […].«1 Ganz ähnlich gibt Tom Milne zu bedenken: »But nothing in a Roeg film is ever quite so simple as it may seem, and in BAD TIMING the old story, unfolded in Roeg’s usual achronological, mosaic manner, proves well ›worth telling just once more‹, if only for the extraordinarily rich texture of perceptions with which Roeg and Udoff clothe it.«2 Es ist dieses achronologische, mosaikartige, und das heißt vor allem nichtlineare Erzählen, das Roegs Film neu erscheinen läßt – mindestens, wenn man eine ›klassische‹ Form als Vergleichsfolie zugrunde legt. Der Film selbst weist in einem weiteren metapoetischen Kommentar in diese Richtung. BAD TIMING beginnt mit einer über einer bereits abspielenden Szene eingeblendeten Titelsequenz, der Tom Waits’ Lied »Invitation to the Blues« (1976) unterlegt ist. Dieses wird mit dem Beginn der dritten Strophe ausgeblendet und geht nach einem Einstellungswechsel in das Geräusch des Signalhorns eines Rettungswagens über.3 Der Liedtext ließe sich dabei (retrospektiv) wie eine antizipatorische Beschreibung der asymmetrischen Beziehung zwischen Milena und Alex interpretieren: »Well she’s up against the register with an apron and a spatula Yesterday’s deliveries, tickets for the bachelors She’s a moving violation from her conk down to her shoes Well, it’s just an invitation to the blues And you feel just like Cagney, she looks like Rita Hayworth At the counter of the Schwab’s drugstore You wonder if she might be single, she’s a loner and likes to mingle Got to be patient, try and pick up a clue

1

Sinyard 1991, S. 70. – Ähnlich äußert sich Scott Salwolke: »BAD TIMING is the culmination of Roeg’s fascination with time manipulation. Its story is simple – one found in many mysteries. […] Like all of Roeg’s work, however, nothing is quite so simple.« (Salwolke 1993, S. 75.) – Daß der Inhalt eher banal scheint und sich schnell zusammenfassen läßt, gilt mehr oder minder für alle Filme Roegs, zumindest wenn man den kritischen Aussagen über diese folgt. So urteilt etwa Janet Ann Baker über PERFORMANCE: »The plot is non-linear but relatively simple once pieced together.« (Baker 1977, S. 12.) Und Philip Kolker ist der Auffassung, DON’T LOOK NOW sei, »on the level of plot, a not too interesting story […].« (Robert Phillip Kolker: The Alternating Eye. Contemporary International Cinema. Oxford u.a.: Oxford Univ. Press 1983, S. 221.)

2

Milne 1987, S. 43. – Milne bezieht sich hier neben Nicolas Roeg auf Yale Udoff, aus dessen Feder das Drehbuch zu BAD TIMING stammt.

3

»Invitation to the Blues« ist der erste Song auf der zweiten Seite des Tom-Waits-Albums Small Change, das 1976 bei Asylum Records veröffentlicht wurde.

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She said ›How you gonna like ’em, over medium or scrambled?‹ You say ›Anyway’s the only way‹, be careful not to gamble«

Neben inhaltlichen Referenzen zur Filmhandlung ist es vor allem bezeichnend, daß Tom Waits hier gerade von James Cagney und Rita Hayworth singt, die 1941 Seite an Seite in der Warner-Bros.-Komödie THE STRAWBERRY BLONDE von Raoul Walsh spielten. Damit ist ein deutlicher intertextueller Bezug zum klassischen Hollywood-Kino gesetzt.1 Stuart Cunningham weist darauf hin, daß durch diese Allusion Zuschauererwartungen geweckt werden, die einen klassisch-realistischen Text erwarten lassen, nämlich: »the desire of the spectator to read this film as another Hollywood romance with its characteristic set of identificatory mechanisms.«2 Wie er weiter ausführt, ist in dieser Hinsicht bereits der Filmtitel sprechend: dieser sei »an instance of that overdetermination or redundancy so endemic to classical ›realist‹ cinema insofar as it merely restates the obvious: detective film, suspect’s suspect alibi, ›narrative cinema‹.«3 Es sind diese auf Konventionenwissen beruhenden Zuschauererwartungen, die Roeg bewußt von sich weist. Gerade auf sie will er sich nicht einlassen, wie er selbst hervorhebt: »But film-goers have been conditioned. They expect the same sort of answers in a film: What’s the plot? What happens here? What comes next? I get very frustrated.«4 Es ist dies eine Frustration, die angesichts der Struktur vieler seiner Filme freilich oftmals auf Gegenseitigkeit beruht. Teresa de Lauretis etwa stellt fest: »Nicolas Roeg’s BAD TIMING: A SENSUAL OBSESSION seems to have caused more displeasure than pleasure to virtually everyone […].« Und sie fährt fort:

1

Mehr als eine bloße Marginalie dürfte in diesem Zusammenhang die Tatsache sein, daß Walsh, den David Bordwell immerhin als Gewährsmann für eine erzählerische Allwissenheit garantierende Schnittechnik des klassischen Kinos heranzieht (vgl. Bordwell 2006, S. 30), seine Filmkarriere unter der Obhut von D.W. Griffith und damit dem Ahnvater des klassischen narrativen Films begann (vgl. Douglas Gomery: »Walsh, Raoul«, in: Tom Pendergast/Sarah Pendergast [Hg.], International Dictionary of Films and Filmmakers. Vol. 2: Directors. 4th ed. Detroit, MI u.a.: St James 2000, S. 1046-1048). Mit Blick auf Cagney und Hayworth verweist Scott Salwolke darauf, daß es sich bei beiden um typische Film-noir-Darsteller handele (vgl. Salwolke 1993, S. 75), womit natürlich wiederum der Bezug zu einem klassischen Hollywood-Filmgenre hergestellt ist.

2

Cunningham 1982, S. 109.

3

Ebd., S. 107.

4

Keats 1982, S. 11.

302 | KINO DER UNORDNUNG »Its problem, I suggest, is not displeasure but unpleasure: it prevents spectators’ pleasure by undercutting spectator identification in terms of both vision (literally, a difficulty in seeing) and narrative (a difficulty in understanding events in their succession, their timing), and thus problematizes our ›time‹ in the film, its vision for us.«1

Die Frustration – im Sinne von nicht erfüllten Erwartungen – ist das Ergebnis von Roegs bewußtem Bestreben, sich von den dominanten Formen eines ›klassischen‹ Erzählens abzugrenzen. Im Gespräch mit Rüdiger Suchsland merkt er dazu an: »Plotline und Storyline, das was heute alle so wichtig nehmen, sind völlig unwichtig für das Gelingen und die Ausdruckskraft eines Films. […] Das Leben funktioniert anders, die inneren Dinge und Erlebnisse sind das Entscheidende. Das Kino kann sie sichtbar machen. Es ist ein phantastisches wunderbares Medium.«2

Das von Roeg ins Spiel gebrachte Wechselspiel von Plotline und Storyline beinhaltet die Annahme, daß sich ungeachtet der konkreten Anordnung der erzählten Ereignisse auf der Ebene des filmischen Textes (discours) eine lineare Anordnung der Ereignisse, wie sie sich vermeintlich in der erzählten Welt abgespielt haben, rekonstruieren lasse. Dies setzt wiederum die Annahme einer linearen Zeit voraus, die dieser Anordnung zugrunde liegt. Jason Mitchell bezeichnet diese lineare Zeit der Diegese in Abgrenzung zur »discourse-time« als »story-time« und erläutert: »Storytime typically follows realist conventions of straightforward chronology and linear progression from moment to moment.«3 Eine solche rekonstruierbare zeitliche Linearität innerhalb der erzählten Welt wird aber gerade von BAD TIMING in Frage gestellt. Wie in III 3) c) dargelegt, läßt sich der Ablauf der Ereignisse der Nacht, in der Milena sich vergiftet hat, und der Gegenstand von Netusils Ermittlungen ist, eben nicht eindeutig rekonstruieren (und nicht nur dieser, sondern insgesamt die Anordnung der erzählten Ereignisse, wie wir in kürze noch sehen werden). Teresa de Lauretis faßt dieses prekäre Zeitarrangement des Films zusammen: »In Roeg’s film this time is ›bad‹, for the sequence of events between Milena’s phone call to Alex and his call for the ambulance, and the time between them, cannot be reconstructed (except in his ›confession‹); the ›evidence‹ is insufficient. As Netusil’s detection hangs on

1

de Lauretis 1983, S. 24.

2

Suchsland 2008, S. 45.

3

Jason Mitchell: »Film and Television Narrative«, in: David Herman (Hg.), The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 2007, S. 156171; hier: S. 161.

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Alex’s confession, we depend on the film’s structuring of visual and aural clues, but find ourselves adrift between narrative and shot, amidst mismatching images and sounds.«1

Als Zuschauer sind wir zur Rekonstruktion der Ereignisse der Diegese also auf die Informationen angewiesen, die uns der Film in seiner strukturellen Anordnung der Ereignisse auf der Ebene des discours liefert.2 Doch gerade BAD TIMING versagt eine solche Rekonstruktion.3 Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, daß in diesem Film Roegs – deutlicher noch als in vielen seiner anderen – »die Zeitebenen ständig extatisch wechseln«, wie es Dominik Graf formuliert.4 Man kann hierin das Resultat einer Zeitauffassung des Regisseurs erkennen, in der vor allem die in III 3) c) referierten raumzeitlichen Annahmen der Relativitätstheorie ihren Niederschlag gefunden haben, insbesondere die aus der Zeitdilatation abgeleitete Konsequenz, daß es »keine für alle Bezugssysteme zeitliche Anordnung der Ereignisse« gibt.5 Überträgt man diese Annahme als Erklärungsmodell auf die unterschiedliche Anordnung von Ereignissen auf der Ebene des filmischen discours und auf der histoire-Ebene der erzählten Welt, dann ließen sich beide Ebenen als zwei unter-

1

de Lauretis 1983, S. 32. – de Lauretis zieht daraus den Schluß: »The question of time, the ›bad timing‹ of conflicting orders of temporality and the filmic representation of noncongruent temporal registers, is the problem of the film, its work with and against narrative […].« (de Lauretis 1983, S. 32.)

2

Wie David Bordwell und Kristin Thompson herausstellen, sind ›Mainstream-Filme‹ in der Regel darum bemüht, eine solche lineare Rekonstruktion der Ereignisse leicht zu ermöglichen, selbst wenn sie sie auf der Ebene des Diskurses umstellen, auch und gerade um Frustrationen beim Zuschauer zu vermeiden: »Although temporal scrambling and ›what if?‹ premises make it more difficult for us to piece story events together, filmmakers usually give us enough clues along the way to keep us from frustration. Usually, the film does not provide a huge number of alternative futures – perhaps only two or three. Within these futures, the cause-effect chain remains linear, so that we can piece it together.« (Bordwell/Thompson 2008, S. 84.)

3

Roegs BAD TIMING ließe sich in dieser Hinsicht als ›modulare Erzählung‹ auffassen. Allan Cameron definiert diesen Begriff wie folgt: »›Modular narrative‹ and ›database narrative‹ are terms applicable to narratives that foreground the relationship between the temporality of the story and the order of its telling.« (Allan Cameron: »Contingency, Order, and the Modular Narrative: ›21 Grams‹ and ›Irreversible‹«, in: The Velvet Light Trap 58 [2006], S. 65-78; hier: S. 65.) Und er leitet daraus die Frage ab: »Do the temporal disjunctures of modular narrative subvert the rational, linear temporality of classical cinema?« (Ebd., S. 68.) Im Falle von Roeg wäre dies eindeutig mit ›ja‹ zu beantworten.

4

Graf 2003, S. 12.

5

Esfeld 2002, S. 29.

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schiedliche, relativ zueinander stehende Bezugssysteme mit je eigener zeitlicher Anordnung der Ereignisse auffassen, für die es eben keine übergeordnete, absolute Zeit im Newtonschen Sinne gibt. Besonders deutlich tritt dies in der Eingangssequenz von BAD TIMING zutage, die in ihrem Spiel mit unterschiedlichen Zeiten und divergierenden Zeitabläufen die gewohnte Sukzession der Ereignisse aufzuheben scheint, und in der damit das Verfahren einer relativistischen zeitlichen Anordnung von Ereignissen radikal auf die Spitze getrieben wird – schon allein aufgrund der Vielzahl der sich in rascher Sukzession abwechselnden Zeitebenen (wieder einmal, wie so oft bei Roeg, ist hier der Film in nuce enthalten).1 Die Eröffnungssequenz stellt eine Abfolge von Szenen (Ereignissen) dar, die fünf verschiedenen Zeiten zugerechnet werden müssen und keine Chronologie von der Vergangenheit hin zur Gegenwart bilden: Noch während die Titel eingeblendet werden, beginnt der Film mit einer Szene, in der sich Alex und Milena Gemälde von Gustav Klimt und Egon Schiele in der Österreichischen Galerie im Wiener Belvedere anschauen;2 eine akustische Überblendung eines Signalhorns leitet über zu der Szene, in der die ohnmächtige Milena in Begleitung von Alex in einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht wird. Diese zweite Szene könnte man, wie der weitere Verlauf des Films suggeriert, als Gegenwart des Erzählens auffassen; die Szene im Belvedere wiederum wäre dem Ereignis im Rettungswagen zeitlich vorgelagert. Während Milena beatmet wird, hören wir ihre Stimme und die Worte »Oh Stefan, I’m sorry«, was zur Szene am österreichischtschechoslowakischen Grenzübergang überleitet, in der sich Milena von ihrem Mann Stefan Vognic verabschiedet; auch dieses Ereignis ist ein vergangenes, wobei anzunehmen ist, daß es zeitlich vor der Szene im Belvedere anzusiedeln ist. Es schließt sich wiederum eine Szene in der Gegenwart an: der Rettungswagen ist am Krankenhaus angekommen, und Milena wird in einen Operationssaal gebracht. Wieder ist Milenas Stimme zu vernehmen; benommen sagt sie: »Oh Alex, I’ve done something stupid.« Dies leitet über zu einem alterniernden Wechsel von Einstel-

1

Auf die besondere zeitliche Gestaltung der Eingangssequenz verweist bereits Janet Maslin in einer zeitgenössischen Besprechung von BAD TIMING: »Though the title refers to the vagaries of their relationship, it could just as easily denote the pattern of the story’s exposition. Scrambled flashbacks help complicate this tale, which begins as a tepid romance and ends with a tepid crime.« (Janet Maslin: »›Bad Timing‹ Starring Art Garfunkel«, in: The New York Times, 21.09.1980, S. 70.)

2

Folgt man Harlan Kennedy, dann ist es sicherlich kein Zufall, daß am Anfang von BAD TIMING ausgerechnet ein Bild von Gustav Klimt steht: »Klimt was a painter who broke up the classical contours of oil painting into rainbow-hued fragments. In much the same way, Roeg has splintered and rearranged the linearity of orthodox movie storytelling.« (Kennedy 1980, S. 25.)

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lungen, in denen sich Milena mit Alkohol und Tabletten vergiftet, und jenen, in denen Alex den aufgezeichneten Anruf Milenas auf seinem Anrufberater abspielt. Beide Szenen stellen aus Sicht der implizierten Gegenwart Ereignisse der jüngsten Vergangenheit dar, sind jedoch trotz der akustischen Verbindung durch die von Milena auf den Anrufbeantworter gesprochenen Worte nicht als gleichzeitig anzusehen, denn das Abspielen des Anrufs erfolgt später. Noch während Milenas Stimme vom Anrufbeantworter zu hören ist, folgt erneut ein Szenen- und damit Zeitwechsel hin zur vermeintlichen Gegenwart (Abb. 79). Abbildung 79: Eingangssequenz (in der Reihenfolge der Präsentation)

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980)

Nimmt man auf der histoire-Ebene eine rekonstruierbare Chronologie an, wobei die Szene am Grenzübergang den zeitlich fernsten Zeitpunkt (E1), die im Belvedere ein Ereignis der mittleren Vergangenheit (E2), die alternierenden Szenen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, wobei sich Milena zunächst vergiftet (E3) und Alex sodann die Nachricht abhört (E4), und die Szene im Rettungswagen und im Krankenhaus

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schließlich Ereignisse der Gegenwart darstellen (E5), so entspräche die Anordnung auf der discours-Ebene der Reihenfolge E2–E5(E1)–E1–E5(E4) –E3/E4(E4)–E5(E4).1 Es ist dies freilich lediglich eine Vermutung, eine Annäherung an eine Chronologie der Ereignisse, wie sie sich in der erzählten Welt zugetragen haben könnten. Der Konjunktiv hat seine volle Berechtigung, denn Gewißheit darüber kann es nicht geben. Diese Rekonstruktion ist das Ergebnis einer Interpretation aus den Daten und Informationen, die der Film in seinem weiteren Verlauf liefert, die aber keinesfalls eine klare zeitliche Zuordnung gewährleisten. Was schon die Eingangssequenz bestimmt, schreibt sich in der Folge des Films fort, wie auch Scott Salwolke hervorhebt: »This prologue for BAD TIMING is typical of Roeg’s manner, which seems designed more to confuse than to enlighten; once again he presents material in a haphazard way. […] Sometimes Roeg will discard this disjointed matter once he begins the proper story, but with BAD TIMING he uses this technique throughout and it is integral to our understanding of the film.«2

Das Resultat ist letztlich eine »virtual ›disappearance‹ of chronology and causality in BAD TIMING«, wie Michael Pursell es formuliert.3 All dies ist im Einklang mit Roegs eigener Auffassung, wie filmisches Erzählen sich vollziehen solle. Joseph Lanza gegenüber hält er dazu fest: »But it’s really hard for me to take a straightforward, linear film all that seriously anymore. It seems we’ve grown up now and don’t need to be led by the hand.«4 Und der Regisseur räumt ein: »I’ve always tried to discourage chronology in my work.«5 Diese Lossagung von einer Chronologie begründet Roeg mit der Struktur menschlicher Gedankengänge, die sich seiner Auffassung nach eben nicht durch Linearität auszeichnen.6 Die »Prinzipien der klassischen Narration (Linearität, Kausalität, Allwissen-

1

Die Ereignisse in Klammern sind jeweils – zumindest temporär – noch auf der Ebene der Tonspur präsent. – Zum relativistischen Zeitarrangement der Eingangssequenz von BAD TIMING vgl. auch Sarkhosh 2013, S. 255f.

2

Salwolke 1993, S. 76.

3

Pursell 1983, S. 220. – Auch Harlan Kennedy weist darauf hin, daß sich BAD TIMING nicht an einer linearen Chronologie orientiere: »And throughout the movie, structure is dictated less by the demands of linear chronology than by the polar attraction of opposite themes.« (Kennedy 1980, S. 25.)

4

Lanza 1989, S. 33.

5

Ebd., S. 91.

6

Auf die Nachfrage Lanzas »When you disrupt the chronology, you are accurately showing the human thought process« antwortet Roeg bejahend und auf THE MAN WHO FELL TO

EARTH verweisend: »I wanted the story to be told through Newton’s mind, how his

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heit etc.)«1 stünden damit immer im Widerspruch zur Struktur menschlichen Denkens und zwängen diese in ein unnatürliches Korsett.2 Entsprechend weist Roeg Begriffe wie Rückblende (›flashback‹) oder Vorausschau (›flashforward‹) – ersteres Verfahren gehört durchaus zum Inventar klassischer Filmerzählungen3 – vehement von sich: »BAD TIMING isn’t in flashback or flashforward. It’s ›thought pattern‹.

thoughts could wander to the past, then the future, or even some point in time that never existed, until we’re not sure where he is or who we are.« (Lanza 1989, S. 92; Herv. i.O.) Durchaus in Übereinstimmung mit dieser Selbstaussage des Regisseurs ist daher Carsten Bergemanns Zusammenfassung der Struktur der Roegschen Filme: »Abrupte Ortswechsel, Sprünge in der Zeit, komplexe Parallelität und Fragmentierung von Handlungssträngen – auch die Montage in Roegs Filmen ist verwandt mit Gedanken, erzeugt Assoziationen und neigt immer wieder zu traumartigen Verknüpfungen.« (Bergemann 2006, S. 17.) Dagegen ist John Izod der Auffassung, unser Verstand produziere normalerweise Informationen in einer linearen, kumulativen Weise und unterdrücke unnötige Informationen (vgl. Izod 1992, S. 15). 1

Thomas Christen: »Die Thematisierung des Erzählens im Film«, in: Film und Kritik 2 (1994), S. 39-53; hier: S. 50.

2

Eine durchaus ähnliche Ansicht vertritt Matthew Campora, wenn er unter Bezug auf Slavoj Žižek argumentiert »that the idea of one’s experience of reality as only one of many possibilities clashes with linear narrative models common in the majority of films and literary texts.« (Matthew Campora: »Art Cinema and New Hollywood. Multiform Narrative and Sonic Metalepsis in ›Eternal Sunshine of the Spotless Mind‹«, in: New Review of Film and Television Studies 7 [2009], Nr. 2, S. 119-131; hier: S. 130.) Žižek geht von der Annahme aus, daß unsere Wahrnehmung der Realität stets die einer von vielen möglichen ›offenen‹ Situationen sei, wobei die nicht realisierten Möglichkeiten dennoch stets latent vorhanden seien, wodurch der Wirklichkeit eine extreme Fragilität und Kontingenz zukomme, die im Widerspruch zu den dominierenden linearen Erzählweisen der Literatur und des Kinos stehe (vgl. Slavoj Žižek: The Art of the Ridiculous Sublime. On David Lynch’s ›Lost Highway‹. Seattle: Walter Simpson Center for the Humanities 2000, S. 40.)

3

»Breaking the syuzhet into flashbacks is of course now commonly identified with Hollywood films of the 1940s, although brief expository flashbacks were not rare in the silent era«, erläutert David Bordwell in seiner Studie Narration in the Fiction Film und verweist darauf, daß die Popularität der ›Flashback‹-Konstruktion vor allem durch Orson Welles’ CITIZEN KANE (1941) gefördert wurde (Bordwell 1985, S. 194). Dagegen sei der ›Flashforward‹ undenkbar »in the classical narrative cinema, which seeks to retard the ending, emphasizing communicativeness, and play down self-consciousness.« (Ebd., S. 210.)

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The film takes place really during an interrogation, while she [Milena] is hovering on the operating table. […] And thought patterns aren’t necessarily in chronology.«1 Abbildung 80: »I told you… he doesn’t understand.«

WALKABOUT (Nicolas Roeg, 1971)

Ein Beispiel für ein solches nichtlineares Erzählen in freien Gedankenmustern findet sich auch in WALKABOUT. An einem Punkt während ihrer Wanderung erzählt der kleine Junge dem Aborigine eine Geschichte. Obgleich letzterer sie sprachlich nicht versteht, hält dies die ältere Schwester nicht davon abhält, den Jungen immer wieder zu unterbrechen und in seine Erzählung einzugreifen, »correcting his details, adding parts he left out, and pointing out inconsistencies in his version.«2 Kurzum: die Geschichte, die der Junge vorträgt, verläuft alles andere als linear. Sie entspricht damit den Filmen Roegs, und die Reaktion des Mädchens gleicht derjenigen des Zuschauers auf die Filme. So meint auch Janet Ann Baker: »If the story is nonlinear, if it is not going anywhere, if she cannot understand the content, she is irritated, as are many viewers of Roeg’s non-linear films.«3 Auffallend ist, daß Roeg

1

Padroff 1981a, S. 18. – Roeg macht keinen Hehl daraus, daß er den Begriff ›Flashback‹ im Sinne einer bloßen filmischen Spielerei verabscheut: »I loathe the term ›flashback‹ – it has come to mean a cinematic gimmick and is generally attacked by the critics.« (Roeg 2013, S. 154.) Gleichwohl hebt er zugleich einmal mehr hervor, daß ein tatsächliches Springen zwischen den Zeiten der Natur unserer Gedanken entspreche: »But our memory and our thoughts are constantly going backwards and forwards like a clock, tick-tock, tick-tock, tock-tick, tock-tick.« (Ebd.)

2

Feineman 1978, S. 68.

3

Baker 1977, S. 46f.

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diese Szene mit einer Schnittechnik begleitet, die den Wechsel zwischen den Einstellungen als ein Umblättern von Buchseiten inszeniert (Abb. 80).1 Deutlicher als an keiner anderen Stelle zeigt sich hier, daß Roegs Filme immer auch eine mindestens implizite Auseinandersetzung mit den Modi des Erzählens darstellen, und zwar in einem transmedialen, die Mediengrenzen überschreitenden Sinne. »Theoretically, narrative is a type of meaning that transcends particular media; practically, however, narrative has a medium of choice, and this medium is language«, konstatiert Marie-Laure Ryan.2 Wenn dem so ist, dann ist für Roeg der Film näher an der Sprache, an oralen Erzähltraditionen, als jedes andere Medium – und das heißt insbesondere, näher als an der geschriebenen Literatur. Tatsächlich betont der Regisseur sogar die fundamentale Differenz von Film und Schriftliteratur: »Film can be much more of a reality than a page with words can ever be. You cannot compare a film with a book.«3 Diese Differenz ist letztlich eine der Freiheit, wie Roeg Harlan Kennedy gegenüber darlegt: »Before the whole Gutenberg galaxy thing, storytelling was more intimate, more immediate – like film. Printing confined a story within a binding and imposed artificial limits. It made stories into lengths. But before that, in the oral tradition, stories could continue forever«, legt der Regisseur seine Auffassung dar.4 Die potentielle Unabgeschlossenheit der Ge-

1

Scott Salwolke sieht in dieser Szene und in der hier zur Anwendung kommenden Schnittechnik ein Experimentieren Roegs mit traditionellen Formen des Erzählens (vgl. Salwolke 1993, S. 28f.). Für John Lanza stellen die Seiten, die umgeblättert werden, als der Junge dem Aborigine eine Geschichte erzählt, »a reminder that we are seeing not only a story within the story, but all of reality reconstituted through an alien medium that denies us direct access« dar (Lanza 1989, S. 116).

2 3

Ryan 2004, S. 13. Roeg 2013, S. 68. – Diese Auffassung einer essentiellen Verschiedenheit von Film und Schriftliteratur reicht zurück bis in Roegs Lehrzeit, als er an einer ›Editola‹ Filme synchronisierte: »I realised that there was another way of telling stories, of passing on information – not on the page, but through the retention of the image, the moving page.« (Ebd., S. 15.)

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Kennedy 1980, S. 23 (Herv. i.O.) – Dagegen sieht Buck Henry, der in THE MAN WHO FELL TO EARTH den Patentanwalt Oliver Farnsworth spielt, und der selbst Drehbuchautor ist, in Roeg vor allem einen durchaus literarischen Filmschaffenden. So äußert er sich im Gespräch mit Richard Combs über Roeg wie folgt: »In spite of the fact that he’s thought of as a particularly cinematic director, because of the barrage of images he gives you, in effect he seems to me to be particularly literary. He will stop at any time to explore an idea within a scene that ordinarily only a novelist can afford to stop for, as though the camera were like the first person, like the ›I‹ character in a novel.« (Richard Combs: »Buck Henry’s Voices«, in: Sight and Sound 45 [1976], Nr. 3, S. 454f.; hier: S. 454.)

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schichte ist für ihn entsprechend ein fundamentales Merkmal jeglichen Erzählens: »The idea that a story has a beginning, a middle, and an end is wrong. A real story continues on either side.«1 Hier klingt Jean-Luc Godard mit, der auf die Frage, ob nicht jede Geschichte einen Anfang, eine Mitte und ein Ende brauche, geantwortet haben soll: »Ja, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.«2 Die Aufhebung von Linearität und Chronologie stellt also eine grundsätzliche Möglichkeit des Erzählens dar, von der Roeg reichlich Gebrauch macht. Hierin weichen seine Filme am deutlichsten von den Vorgaben nicht nur des klassischen Hollywood-Kinos im eigentlichen Sinne, sondern grundsätzlich vom dem ab, was vor dem Siegeszug eines postmodernen Kinos à la Quentin Tarantino und Christopher Nolan als filmischer Mainstream gegolten haben dürfte.3 Das bekannteste Beispiel für ein Aufbrechen der Chronologie in Roegs Filmen stellt die ›Liebesszene‹ in DON’T LOOK NOW dar (Abb. 74). »Die Liebesszene in DON’T LOOK NOW […] ist gemäß dieser Ästhetik des Bruchs konstruiert«, konstatiert Lefevre.4 David Robinson zufolge schafft die Montage in dieser Szene »an effect which is at once surprisingly erotic and surprisingly unsettling in its negation of any ordinary notion of chronology.«5 Mehr noch als ein Spiel, stellt die ›Liebessze-

1

Hacker/Price 1991, S. 372. – In einem ähnlichen Sinn äußert sich Roeg auch in seinen autobiographischen Reflexionen, wenn er von jenen Filmkünstlern spricht, »who work strictly to the rules of storytelling – that is, one of progression in time from beginning to middle to end« (Roeg 2013, S. 219).

2

Kolportiert wird diese Anekdote bei Jean-François Chassay: Robert Coover. L’écriture contre les mythes. Paris: Belin 1996, S. 28 (Übers. KS).

3

Bordwell und Thompson weisen darauf hin, daß sich seit den 1980er Jahren eine Reihe von Filmen die Freiheit genommen habe, mit Chronologien und mit einer »unpredictable presentation of story events« zu spielen, und zwar »by using techniques other than straightforward flash-backs and flash-forwards to tell their stories.« Für die neuere Entwicklungen sprechen sie dabei insbesondere Quentin Tarantinos PULP FICTION (1994) eine Vorbildfunktion zu: »The success of PULP FICTION made such a play with story order more acceptable in American filmmaking.« (Bordwell/Thompson 2008, S. 83.) Sie bezeichnen diese Filme, die mit der Chronologie und der Anordnung von Ereignissen spielen, als »puzzle films« und führen als Beispiele MEMENTO (Christopher Nolan, 2000), DONNIE DARKO (Richard Kelly, 2001), IDENTITY (James Mangold, 2003), PRIMER (Shane Carruth, 2004) und THE BUTTERFLY EFFECT (Eric Bress/J. Mackye Gruber, 2004) an (ebd., S. 85; Herv. i.O.).

4 5

Cros/Lefevre 1981, S. 71 (Übers. KS). Robinson 1973, S. 15. – In einem ähnlichen Sinne hält Stephen Farber fest: »Roeg’s complex, highly developed technique is dare more expressive than straightforward ›linear‹ storytelling.« (Farber 1973, S. D15/D20.) Auch Neil Feineman stellt fest, daß die

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 311

ne‹ einen bewußten Bruch mit den Konventionen eines klassisch-realistischen Erzählens dar. Die alternierende Parallelmontage insinuiert hier eine Gleichzeitigkeit, die gemäß den Konventionen des klassischen Kinos gar nicht existieren kann: »Der Cutter von DON’T LOOK NOW, Graeme Clifford, arbeitet hier mit einer Parallelmontage – normalerweise ein Mittel um anzuzeigen, daß zwei Handlungen gleichzeitig stattfinden«, erläutert dazu Patrick Minks und hebt hervor: »Die suggerierte Gleichzeitigkeit ist in diesem Fall jedoch unmöglich.«1 Joseph Lanza zieht daraus den richtigen Schluß, daß Roeg es vorziehe, »to disfigure narrative conventions prior to obliterating them.«2 Und er sieht in dem Regisseur »a visual trickster who plays havoc with conventional screen narratives.«3 Diese narrativen ›Zaubertricks‹ sind nicht zuletzt Roegs Erfahrungen als Filmschaffender geschuldet, der das Handwerk ›von der Pike auf‹ erlernt hat. Über das, was ihn zum Film gebracht hat, erklärt Roeg: »What first really hooked me into thinking that this was a job I would like to become deeply involved in was as a young man sitting at an editola at ›Lingua Synchrome‹, where they dubbed French films into English. Running the films backwards and forwards to get the words right, I realized that film is a time machine. Film has nothing to do with the theatre at all – it has much more potential.«4

›Liebesszene‹ »does not fit the patterns of clearly defined, linear development« (Feineman 1978, S. 101). 1

Minks 1994, S. 52 (Übers. KS). – Ein Spiel mit klassischen Konventionen erkennt hier auch John Izod: »The established convention of parallel development shows two actions happening in different places which the spectator understands as occurring simultaneously. But in this scene Roeg constructs the rhetorical device by showing two events occurring in the same place, but at different times.« (Izod 1992, S. 77.) Ähnlich äußert sich Joseph Gomez: »Cross-cutting usually serves the function of suggesting simultaneous action: we accept this convention as a given. Roeg, however, by playing with time and space, removes this easy interpretation and forces the audience to perceive relationships in different ways.« (Gomez 1981, S. 48.) Und Sabine Schülting resümiert: »Deviating from Hollywood conventions, Roeg leaves out ›crucial narrative markers‹ to indicate breaks in the linear presentation of events […].« (Schülting 1999, S. 199.)

2

Lanza 1989, S. 36.

3

Joseph Lanza: »Roeg, Nicolas«, in: Nicholas Thomas (Hg.), International Dictionary of Films and Filmmakers. Vol. 2: Directors. 2nd ed. Chicago, IL/London: St James Press 1991, S. 706f.; hier: S. 706.

4

Hacker/Price 1991, S. 367. – Zu seinen Erfahrungen, die er zu Beginn seiner Arbeit in der Filmindustrie gesammelt hat, vgl. bes. erhellend Roeg 2013, S. 9-12. Roeg selbst be-

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Abbildung 81: »Bye.« (Schlußszene)

INSIGNIFICANCE (Nicolas Roeg, 1985)

Das Spiel mit Vor- und Zurücklauf des Filmbildes wird an keiner anderen Stelle deutlicher als in der apokalyptischen Schlußszene von INSIGNIFICANCE, in der mit einer Explosion das Hotelzimmer und mit ihr die Schauspielerin in die Luft gesprengt werden, sich in einem Moment der augenscheinlichen Desintegration auflösen, bis das Filmbild rückwärts läuft und alles wieder so scheint, wie es vor der Explosion war (Abb. 81). »A clock burns, then everything goes in reverse«, kommentiert Scott Salwolke diesen Effekt.1 INSIGNIFICANCE ist in dieser Hinsicht ein typischer Roeg-Film, über den John Coleman urteilt: »The invitation […] is to suspend normal expectations of logic, continuity, even sense in favour of some greater, supremely cinematic ›experience‹.«2 Womöglich macht sich in Roegs nichtlinearen, achronologischen Erzählverfahren auch der Einfluß Richard Lesters bemerkbar. Dessen Film PETULIA (1968), bei dem Roeg zum letzten Mal als Kameramann unter der Ägide eines anderen tätig war, bevor er mit PERFORMANCE selbst erstmals die Regie übernahm, »anticipates the kind of splintered narrative and complex time

zeichnet diese Phase seines Lebens als eine ›Lehrzeit‹: »It was more like apprenticeships.« (Ebd., S. 11.) 1 2

Salwolke 1993, S. 121f. John Coleman: »How I Wonder What You Are«, in: New Statesman 110 (1985), Nr. 2038, S. 28.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 313

jumps that crop up in Roeg’s work«.1 Im Vergleich dazu weist PERFORMANCE freilich weitestgehend »a logical, even linear narrative structure« auf, wie Feineman zu bedenken gibt.2 Gleichwohl ist es vor allem die Montagestruktur des Films, die zum Teil erheblichen Widerstand hervorgerufen hat: In der bereits mehrfach genannten vernichtenden Kritik John Simons heißt es: »There is something promiscuous and amoral about the very construction and editing of the film. […] almost every sequence is a structural orgy in which disparate and jarring elements are nasty together and beget monsters.«3 Für nicht weniger Entrüstung hat die narrative Struktur von THE MAN WHO FELL TO EARTH gesorgt. So warf seinerzeit Barry Diller, Produktionschef bei Paramount, dem ausführenden Produzenten von British Lion, Michael Deely, vor: »You promised me a linear narrative.« So zumindest kolportiert es Neil Sinyard und fügt zur teilweise verständnislosen Reaktion auf den Film hinzu: »Undoubtedly, part of the problem for critics and audience was simply unravelling the plot.«4 Er zieht daraus den Schluß: »The plot does not seem to have interested Roeg and his screenwriter Paul Mayersberg very much.«5 Als Konsequenz daraus wollte der Verleiher für den US-Markt, Walter Rugoff, sogar Faltblätter mit Erklärungen zu Schlüsselszenen von THE MAN WHO FELL TO EARTH austeilen lassen.6 Für Neil Feineman ist die Reaktion durchaus verständlich: »[…] because it never develops a strongly flowing narrative, traditionally developed characters or themes, or, its own visual consistency, many people have a difficult time with the movie.«7 Neil Sinyard attestiert THE MAN WHO FELL TO EARTH gar einen Mangel an »narrative energy or forward propulsion«, der mit dem eigensinnigen Stil des Films einhergehe,8 und folgert: »A director who has started out with a blaze of brilliance has ended, seemingly, in an exhausted heap, having lost his narrative thread and gone through the mo-

1

Sinyard 1991, S, 7. – Neil Feineman sieht das Verfahren schneller und unzusammenhängender Schnitte als typisch für Richard Lester an und verweist darauf, daß Roeg auch Kameramann bei dessen Film A FUNNY THING HAPPEND ON THE WAY TO THE FORUM (1966) war (Feineman 1978, S. 28). – Mit Blick auf DON’T LOOK NOW gelangt Philip French zu dem Schluß: »The fragmented editing style has its origins in PETULIA, the 1968 Dick Lester movie photographed by Roeg.« (O’Hagan/French 2006, S. 6.)

2

Feineman 1978, S. 47.

3

Simon 1970, S. D1.

4

Sinyard 1991, S. 57f.

5

Ebd., S. 58.

6

Vgl. Feineman 1978, S. 106.

7

Ebd.

8

Sinyard 1991, S. 65.

314 | KINO DER UNORDNUNG

tions of techniques that seem increasingly strained and arbitrary.«1 Entgegen Sinyards Einschätzung ist es allerdings keinesfalls so, daß Roeg den Faden durch die Erzählung verloren hat. Vielmehr konstruiert er auch formal Erzähllabyrinthe, die, wie erwähnt, keinen ›Ariadnefaden‹ zur Orientierung mehr bieten (vgl. III 2) c)). »The narrative isn’t sewn along one clearly delineated track but scattered over a multiplicity of indicators«, stellt etwa Ian Penman mit Blick auf BAD TIMING fest.2 Mehr noch: wer in dieses Erzähllabyrinth eintritt, solle sich von allen Erwartungen, von allem codifizierten Konventionenwissen befreien: »As in 1976 when THE MAN WHO TO EARTH was released, Roeg still wants to stand outside cinemas shouting, ›Abandon preconceptions all ye who enter here.‹«, wie Christopher Keats anläßlich von EUREKA darlegt.3 Carsten Bergemann bringt das Erzählverfahren Roegs auf den Punkt: »Roeg spielt bewusst mit der Verunsicherung des Zuschauers. Er erschwert die Orientierung im filmischen Universum durch die Abwesenheit einer kontinuierlich verlaufenden Handlung.«4 Dies ist der Form, weniger dem Inhalt der Filme Roegs geschuldet. Im Grunde weist ein Film wie THE MAN WHO FELL TO EARTH »a relatively straight-forward plot« auf, wie Neil Feineman betont und daraus den Schluß zieht: »[…] what seems to bother people is not the plot, but the way that Roeg chooses to tell his story.«5 Die Konsequenz daraus sei, so Feineman, daß wir einen solchen Film »not as a coherent whole, but as a series of almost independent moments« betrachten.6 b) Ereignisserien und Permutation – Roegs narrative Puzzlespiele In der Mehrzahl verweigern sich Roegs Filme inhaltlich wie formal jeglicher Tendenz, in welcher sich die einzelnen Teile der Erzählung zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen, das eine eindeutige lineare und chronologische Rekonstruktion der erzählten Ereignisse ermöglicht. Damit weicht Roeg von den Konventionen und den durch diese geweckten Erwartungshaltungen des Zuschauers, wie sie für ein klassisches realistisches Erzählen kennzeichnend sind, ab. Das Verfahren dieses klassischen Erzählens faßt Gottfried Schröder zusammen: »The combination of individual shots is understood as a continuum. The film audience watching a conven-

1 2

Ebd., S. 67. Ian Penman: »›Bad Timing‹. A Codyfing Love Story«, in: American Film 21 (1980), Nr. 3, S. 107-109; hier: S. 108.

3

Keats 1982, S. 11.

4

Bergemann 2002, S. 18.

5

Feineman 1978, S. 106f.

6

Ebd., S. 108.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 315

tionally ›told‹ film knows from experience how to connect two (or more) shots as part of a whole.«1 Roegs Filme dagegen zielen nicht auf das Erzeugen einer Ganzheitlichkeit, ebensowenig wie auf das Erschaffen eines Kontinuums. Statt dessen macht sich hier auch strukturell der Einfluß von J.W. Dunne und Jorge Luis Borges bemerkbar, indem Roegs Filme sich am ehesten nach dem Prinzip der Serialität beschreiben lassen (vgl. III 3) b)), was bereits in THE MAN WHO FELL TO EARTH deutlich wird. Im Verlauf des Films ist an mehreren Stellen unklar, wieviel (diegetische) Zeit zwischen einzelnen Szenen und Einstellungen vergangen sein soll. So hebt auch John Izod hervor: »Since elision of time between one scene and the next often goes unmarked, and is never motivated, the spectator has to work back from observations in one scene to perceive that time has elapsed since the previous one.«2 Das einzige Richtmaß scheint die Diskrepanz zwischen Newtons ewiger Jugend und dem beschleunigten Alterungsprozeß der übrigen Figuren zu sein, doch auch dies ohne Gewißheit (vgl. III 2) c) und 3) c)). Ebenso ist am Ende von WALKABOUT, wenn das Mädchen bereits verheiratet ist und die Stelle ihrer Mutter eingenommen hat, unklar, wieviel Zeit zwischen den Ereignissen im Outback und der Koda vergangen ist.3 Einen ähnlichen Sprung in der Zeit bietet das Ende von BAD TIMING. Dieser Film endet ebenfalls mit einer Koda. Nachdem Netusil Alex nicht der Vergewaltigung überführen konnte, und Stefan, der mittlerweile auch in Wien eingetroffen ist, die beiden Männer darüber informiert hat, daß Milena überleben werde, kehrt der Kommissar nach Hause zurück, legt sein Schulterholster ab und betrachtet sich Spiegel. Es folgt ein Schnitt auf das PanAm-Gebäude in New York, von wo die Kamera auf das Hilton Hotel schwenkt, aus dessen Eingang Alex Linden heraustritt. Er steigt in ein Taxi ein, aus dem kurz zuvor mehrere junge Damen ausgestiegen sind. Erst als das Taxi losfährt, begreift Alex, daß eine von ihnen Milena ist: mit deutlich kürzerem Haarschnitt und einer Halsnarbe – eine Erinnerung an die Tracheotomie, die die Ärzte vornahmen, als sie um ihr Leben kämpften. Vergeblich ruft er ihr hinterher (Abb. 82). Der Status dieser Koda bleibt schleierhaft. Findet das Gezeigte allein in der Einbildung Netusils statt, der in einer einmontierten Einstellung noch einmal vor dem Spiegel zu sehen ist, wie er sich schmerzgeplagt an den Kopf faßt? Ob Einbildung oder nicht, der Film liefert keine Anhaltspunkte dafür, wieviel Zeit zwischen den Ereignissen jener Nacht, in der Milena im Krankenhaus

1

Gottfried Schröder: »›Don’t Look Now‹: Daphne du Maurier’s Story and Nicolas Roeg’s Film«, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 20 (1987), Nr. 1, S. 232-245; hier: S. 243.

2 3

Izod 1992, S. 87. Die Ungewöhnlichkeit dieses Verfahrens hebt Stephen Farber hervor: »Roeg ends the film with a daring flash forward […].« (Farber 1971/72, S. 640).

316 | KINO DER UNORDNUNG

um ihr Leben ringt und Alex von Netusil verhört wird, und der Koda in New York vergangen ist. Abbildung 82: »Milena!« (Koda)

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980)

Diese Lücken im Verlauf, der sich nicht rekonstruieren läßt, stellen einen deutlichen Widerspruch zum Prinzip der Kontinuität dar. »Continuity, particularly continuity of space and time, implies that moving from point A to point B requires transversing the intermediate distance«, erläutert N. Katherine Hayles und verweist darauf, daß es gerade Borges ist, der mit einer solchen Annahme (narrativer) Kontinuität bricht: »Borges prefers, on the contrary, to break continuities into sequences so that point A suddenly turns into point B (or point Z).«1 Dieses Prinzip der diskontinuierlichen Serialität ist für Borges nicht nur inhaltlich relevant, sondern wird zu einem narrativen Verfahren auf der Ebene der Textstruktur erhoben. Hayles hält dazu fest:

1

Hayles 1984, S. 153. – Der Abstand zwischen diesen Punkten kann sogar potentiell unendlich sein und mit immer weiteren Unterserien ausgefüllt werden, wie Hayles weiter ausführt: »Because the transition between terms is discontinuous, it is also possible for Borges to suggest that space intervenes between terms – and into this space he can insert a sub-series of infinite length.« (Ebd.)

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 317

»In addition to its thematic uses, the inherent discontinuity of a sequence provides a model for the narrative structure of the stories. The ›middle distance‹ that narrative fiction usually extends is excised in Borges through ellipses and sudden breaks that transform a chronologically continuous story into a series of disconnected narrative points.«1

Mit Ts’ui Pêns Buch-Labyrinth, das eben nicht auf einer »gleichförmige[n], absolute[n]« Zeit beruhe, wie sie von Newton und Schopenhauer propagiert worden sei, sondern sich aus »unendliche[n] Zeitreihen« zusammensetze, entwirft Borges schließlich ein Modell, das in der Fiktion das Prinzip diskontinuierlichen seriellen Erzählens realisiert.2 Abbildung 83: Stereo-Audiospur im Lichttonverfahren

INSIGNIFICANCE (Nicolas Roeg, 1985)

Der Gegensatz von Serialität und Kontinuität wird auch bereits in der Titelsequenz von INSIGNIFICANCE deutlich. Als Hintergrund dient die Darstellung eines Filmstreifens, wie er durch den Kinoprojektor läuft. Neben der Filmperforation ist dabei auch die Stereo-Audiospur entsprechend des Lichttonverfahrens zu sehen (Abb. 83). John Izod verweist darauf, daß durch dieses Arrangement die filmische Zeit präsentiert wird, die auf zwei unterschiedlichen Formen der Aufzeichnung basiert:3 der diskontinuierlichen Bildaufzeichnung von 24 Stehkadern pro Sekunde, die ein

1

Ebd. – Hayles hebt in diesem Zusammenhang hervor, daß der Abstand zwischen den einzelnen Teilen der Sequenz weniger zeitlich, als vielmehr räumlich gedacht werden müsse (vgl. ebd., S. 154).

2

Borges: Der Garten der Pfade, S. 172.

3

Vgl. Izod 1992, S. 152.

318 | KINO DER UNORDNUNG

serielles Verfahren darstellt, steht die kontinuierliche Aufnahme des Tons gegenüber. Wie James Monaco darlegt, werden zwar sowohl das Bild als auch der Ton im Film linear aufgezeichnet, dennoch gebe es einen gravierenden Unterschied: »Wegen der verschiedenen Art, wie wir sie rezipieren, müssen der Ton kontinuierlich, die Bilder jedoch einzeln aufgezeichnet werden. Zur Nachbildwirkung gibt es beim Ton keine Entsprechung, deshalb existiert auch nicht so etwas wie der ›Stand-Ton‹, der den Standbildern entspräche. Der Ton braucht die Dimension der Zeit.«1

Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß das Filmbild der Dimension des Raumes unterliegt. Gemäß der Relativitätstheorie, die in INSIGNIFCANCE verhandelt wird (vgl. III 3) c)), stellen Raum und Zeit keinesfalls getrennte Größen dar, sondern werden gemeinsam zur Raumzeit. Es liegt vor diesem Hintergrund nahe, die Einsteinsche Relativitätstheorie, die im Film von der Schauspielerin und dem Professor diskutiert wird, sowie die daraus abgeleiteten Konsequenzen als einen metapoetischen Kommentar für die Struktur des Filmes wie für das filmische Erzählen bei Roeg im allgemeinen aufzufassen.2 Denn das Problem der uneinheitlichen zeitlichen Abstände zwischen Ereignissen läßt sich nicht nur vor dem Hintergrund einer durch Dunne und Borges vermittelten Konzeption von Serialität verstehen. Es läßt sich auch aus der Perspektive der Relativitätstheorie erklären. So wie es gemäß der Speziellen Re-

1

James Monaco: Film verstehen: Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Mit einer Einführung in Multimedia. Mit Grafiken von David Lindroth. Dt. Fassung hg. v. Hans-Michael Bock. Übers. v. Brigitte Westermeier/Robert Wohlleben. 7. Aufl., überarb. u. erw. Neuausg. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2006 [Monaco 2006b], S. 122.

2

Die Übertragung der Implikationen der Relativitätstheorie, wenngleich vereinfacht und popularisiert, auf Probleme der Literaturtheorie und Narratologie, ist keinesfalls so ungewöhnlich, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Michail Bachtins Begriff des ›Chronotopos‹ (russ. ›хронотоп‹) zeugt mit seinem expliziten Verweis auf Albert Einstein davon, daß sich schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Literaturtheorie jüngerer naturwissenschaftlicher Erkenntnis und Begriffe bedient hat, um sie mindestens in einem metaphorischen Sinne für sich brauchbar zu machen. In seiner Studie über »Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman« (Формы времени и хронотопа в романе, 1937) erläutert Bachtin, daß er den Begriff des Chronotopos von Einstein geborgt habe, ihn allerdings metaphorisch verwende (vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Übers. v. Michael Dewey. Mit e. Nachw. v. Michael C. Frank/Kirsten Mahlke. [Frankfurt a.M.:] Suhrkamp 2008, S. 7; vgl. hierzu auch Jonathan Stone: »Polyphony and the Atomic Age: Bakhtin’s Assimilation of an Einsteinian Universe«, in: PMLA 123 [2008], Nr. 2, S. 405-421; hier: S. 412).

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lativitätstheorie keine absolute zeitliche Anordnung der Ereignisse gibt, so gibt es auch keine räumliche. Michael Esfeld erläutert dazu: »Die räumliche Entfernung zwischen den Ereignissen E1 und E2 ist – ebenso wie der zeitliche Abstand zwischen ihnen – relativ zu einem Bezugssystem.«1 Als unmittelbare Konsequenz der Zeitdilatation kann die relativistische Längenkontraktion bzw. Lorentzkontraktion hergeleitet werden. Sie besagt, daß in zwei relativ zueinander bewegten Inertialsystemen die Entfernung bzw. die Längen eines Körpers wechselseitig verkürzt, im jeweiligen Ruhesystem dagegen maximal erscheinen.2 Zeitdilatation (vgl. III 3) c)) und Lorentzkontraktion verweisen zugleich darauf, daß Raum und Zeit anders als in der Newtonschen Physik nicht als getrennte Größen betrachtet werden können, sondern untrennbar miteinander verbunden sind. In der Umformulierung der Speziellen Relativitätstheorie durch Hermann Minkowski wird die Raumzeit zu einer vierdimensionalen Struktur.3 Während Einstein die Spezielle Relativitätstheorie mit Bezug auf die relative Bewegung von Körpern und Beobachtern formulierte,4 wonach räumliche und zeitliche Abstände zwischen zwei verschiedenen Ereignissen immer relativ zu einem Bezugsystem sind, zeigte Minkowski, daß der vierdimensionale raumzeitliche Abstand zwischen zwei verschiedenen Ereignissen »invariant unter dem Wechsel von einem Bezugssystem zu einem anderen« ist: »Welches Bezugssystem auch immer man betrachtet, der raumzeitliche Abstand zwischen zwei Ereignissen ist immer derselbe.«5 Wie Einstein betont, ist damit in der Relativitätstheorie eine vierdimensionale Betrachtung der Welt geboten, wobei Welt im Sinne Minkowskis als »die Welt des physikalischen Geschehens« aufzufassen ist.6 Diese Welt »setzt sich aus Einzelereignissen zusammen, deren jedes durch vier Zahlen, nämlich die drei räumlichen Koordinaten x, y, z und eine zeitliche Koordinate, den Zeitwert t, beschrieben ist.«7 Ein Ereignis ist damit eine vierdimensionale Größe;8 es kann verstanden werden als »etwas, das an einem bestimmten Punkt im Raum und zu einer bestimmten Zeit geschieht.«9 Eine Folge von Ereignissen wiederum stellt einen Prozeß dar.10 Nimmt man nun den Raumund Zeitbegriff und die Auffassung des vierdimensionalen Minkowski-Raums als

1

Esfeld 2002, S. 31.

2

Vgl. Einstein 1905, S. 903. – Vgl. auch Comstock 1910, S. 770 u. Carrier 2009, S. 36.

3

Vgl. ebd., S. 29.

4

Vgl. ebd.

5

Esfeld 2002, S. 31.

6

Einstein 2009, S. 37.

7

Ebd.

8

Esfeld 2002, S. 31.

9

Hawking 1988, S. 40.

10 Vgl. Esfeld 2002, S. 37.

320 | KINO DER UNORDNUNG

Folie, vor der die geläufigen Definitionen von Narration zu betrachten sind, so wird deutlich, daß allein ein Rückgriff auf den Begriff des ›Ereignisses‹ immer schon Raum und Zeit als untrennbar miteinander verbundene Koordinaten innerhalb der narrativen Textur bzw., metaphorisch gesprochen, des ›narrativen Koordinatensystems‹ verlangt. Eine Privilegierung der Zeit gegenüber dem Raum – wie sie etwa bei Gerald Prince und, noch deutlicher, Wolf Schmid zu finden ist (vgl. II 3) a)) – scheint wenig sinnvoll. Das vielleicht offensichtlichste Beispiel für einen invarianten raumzeitlichen Abstand findet sich in der schon mehrfach angesprochenen ›Liebesszene‹ in DON’T LOOK NOW. Wenngleich die in der Szene dargestellten Ereignisse durch die Montage in eine räumliche Nähe gebracht werden, zeichnen sie sich doch zugleich durch einen zeitlichen Abstand aus. Roeg ist in seiner Gestaltung dieser Szene also näher am relativitätstheoretischen Begriff der Raumzeit als an den Konventionen klassischen filmischen Erzählens, gemäß derer der zeitliche Abstand der Ereignisse in dieser alternierenden Parallelmontage null sein müßte. Es ist diese relativitätstheoretische Grundlage, die es Roeg erlaubt, zeitlich verschiedene Ereignisse räumlich miteinander in Verbindung zu setzen. Der Effekt läßt sich freilich auch weniger theorielastig beschreiben: »Through elaborate intercutting, Roeg mixes disparate moments in time, thereby implying that the present is imbued with the future.«1 Dies führt wiederum dazu, daß es Roeg mit dieser Szene, in der Neil Feineman eine »juxtaposition of natural time and sequence« sieht, gelingt, die Ereignisse in ihrer zeitlichen Sequenz zu verschieben.2 Damit weicht der Regisseur deutlich von der literarischen Vorlage ab: »[…] the narrative gives a straightforward account of the strange events in Venice«, wie auch Gottfried Schröder mit Blick auf du Mauriers Erzählung betont.3 Dem gegenüber steht das narrative Verfahren von Roegs Film: »The editing style destroys the linear structure of the literary source«, so Marsha Kinder und Beverle Houston.4 Wenn Schröder gleichwohl feststellen kann: »[…] the ›skeleton‹ of the story remains untouched«,5 so erklärt sich dies aus der Annahme einer unauflöslichen raumzeitlichen Verbindung der Ereignisse. Das ›Skelett‹ wäre in diesem Sinne der invariante raumzeitliche Abstand im vierdimensionalen Raum der Erzählung.

1

Charles Thomas Samuels: »Films about Film«, in: The American Scholar 43 (1974), Nr. 3, S. 467-471; hier: S. 467.

2

Feineman 1978, S. 102.

3

Schröder 1987, S. 235.

4

Marsha Kinder/Beverle Houston: »Seeing is Believing. ›The Exorcist‹ and ›Don’t Look Now‹«, in: Gregory A. Waller (Hg.), American Horrors. Essays on the Modern American Horror Film. Urbana, IL u.a.: Univ. of Illinois Press 1987, S. 44-61; hier: S. 57.

5

Schröder 1987, S. 241.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 321

Was Gottfried Schröder hier eher im Sinn hat, ist die Tatsache, daß sich trotz aller serieller Verschiebungen in Roegs Filmen wie DON’T LOOK NOW zumindest ›Restspuren‹ einer Chronologie ausmachen lassen: »You can never totally get away from it, I realize that«, erläutert Roeg im Gespräch mit Joseph Lanza das Problem der Chronologie. »But when you’re in the cutting room, you see how drastically you can change your perceptions and memories by rearranging the order of events.«1 Demnach vermitteln Roegs Filme keine Ereignisketten, sondern Ereignisserien, in denen die einzelnen Glieder bzw. Elemente nur lose miteinander verbunden sind und sich beliebig neu anordnen lassen.2 Der Begriff der Ereigniskette impliziert, daß jedes Glied seinen festen Platz hat, und die einzelnen Glieder der Kette so miteinander verzahnt sind, daß ein Ereignis ein nächstes auslöst, das wiederum zur Ursache für ein weiteres Ereignis wird. Dies ist die Beschreibung eines Kausalprozesses, der sich auch als ›Domino-Effekt‹ bezeichnen ließe, und der sich linear entlang der Kette ausbreitet. Der ›Domino-Effekt‹ und die (Ereignis-)Kette stellen somit für Bordwell Konzepte dar, die die für das klassisch-realistische Erzählen grundlegende Annahme der linearen Kausalität versinnbildlichen: »The famous ›linearity‹ of classical Hollywood cinema thus consists of a linkage which resembles a game of dominoes, each dangling cause matches by its effect in the following scene.«3 Roeg dagegen ist hier wieder einmal näher an Jorge Luis Borges, der in seiner Nueva refutación del tiempo das Konzept der Ereigniskette deutlich von sich weist: »Hume hat die Existenz eines absoluten Raums geleugnet, in der jedes Ding seinen Ort hat; ich leugne die Existenz einer Zeit, in der alle Tatsachen miteinander verkettet sind.«4 Unter den Vorzeichen einer Serialität im Gefolge Dunnes und Borges’ konstruiert Roeg Ereignisserien, in denen die einzelnen Elemente nicht nur nicht notwendig kausal miteinander verbunden sind, sondern auch (und gerade deswegen) frei neu arrangiert werden können. Wenn die Lücken zwischen den einzelnen Gliedern (Ereignissen, Szenen, Einstellungen) unerheblich sind, dann können sie frei vertauscht

1 2

Lanza 1989, S. 91f. Ungeachtet dessen bemüht Thomas Koebner den Begriff der ›Kette‹, wenn er über das Schicksal der Figuren in Roegs Film-Erzählungen konstatiert: »Nicht im Augenblick, sondern anhand einer Kette von Ereignissen setzt sich bei seinen Helden die deutliche oder dunkle Erkenntnis durch, dass ihnen der Eintritt in eine heile Welt misslingt […].« (Thomas Koebner: »Es gibt keine Rückkehr ins Paradies. Nicolas Roegs Einspruch gegen populäre Ideen der Weltverbesserung«, in: Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann [Hg.], Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 [= Film-Konzepte; 3], S. 94-106; hier: S. 94; Herv. i.O.)

3

Bordwell 2006, S. 64.

4

Borges: Neue Widerlegung der Zeit, S. 186.

322 | KINO DER UNORDNUNG

und verschoben werden. Mathematisch wird eine solche Verschiebung als Permutation bezeichnet.1 Die Möglichkeit der Permutation ist für David Bordwell dabei eine logische Ableitung aus Roman Jakobsons ›poetischer Funktion‹ als Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.2 Auf den Film übertragen schließt er daraus: »One consequence of these ideas is that the phenomenal form of the text tends to be seen as a permutational distribution of the invisible set.« 3 Dieses Verfahren der äquivalenten (Re-)Kombination wird bei Roeg konsequent weitergedacht und ins Extreme geführt. Sein Erzählen ließe sich in dieser Hinsicht als ein anagrammatisches Erzählen bezeichnen – wenngleich im übertragenen Sinn, ist doch das Anagramm zunächst eine Spielart der Wortpermutation und -kombinatorik und meint die »Umstellung der Buchstaben eines Wortes, Namens oder einer Wortgruppe zu einer neuen sinnvollen Lautfolge.«4 Eine Folge dieser Umstellungen bei Roeg ist, daß die Narration immer wieder Wege einschlägt, die von der eigentlichen Haupthandlung wegzuführen scheinen. Anders ausgedrückt: Roegs Filme enthalten immer wieder Szenen, deren Relevanz für die erzählte Geschichte schleierhaft bleibt.5 Zu diesen Digressionen zählt etwa eine Szene in THE MAN WHO FELL TO EARTH, die den Killer Peters (Bernie Casey) zusammen mit seiner Frau (Claudia Jennings) im heimischen Swimmingpool zeigt. Oder jene Szene in WALKABOUT, in der eine Gruppe italienischer Meteorologen im Outback zu sehen ist: die beiden Männer interessieren sich dabei

1

Für die mathematische Permutation ist das Prinzip der Vertauschung innerhalb einer Zahlenreihe charakteristisch. Mathematisch gesehen heißen die Elemente einer symmetrischen Gruppe bzw. Permutationsgruppe

n

»Permutationen der Zahlen 1,…, n, da sie

sozusagen diese Elemente in ihrer Reihenfolge vertauschen.« (Siegfried Bosch: Lineare Algebra. 3. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York: Springer 2006, S. 134; Herv. i.O.) 2

Vgl. Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik [1960]«, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1912-1971. Hg. v. Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert. [Frankfurt a.M.:] Suhrkamp 1979, S. 83-121; hier: S. 94.

3 4

Bordwell 1985, S. 277. Rose Beate Schäfer: »Anagramm«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moenninghof (Hg.), Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe u. Definitionen. Begr. v. Günther u. Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 20. – Zum Anagramm unter dem Gesichtspunkt des Wortflechtens und der Kombinatorik vgl. auch Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2002 (= Pictura et poesis; 9), S. 169-225.

5

Diesen Eindruck einer oftmals digressiven Erzählweise bestätigend konstatiert Neil Feineman: »[…] Roeg rejects the notion that a movie must finish every idea it introduces or that it needs to be coherent.« (Feineman 1978, S. 141.)

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 323

mehr für die Reize ihrer Kollegin als für den Wetterballon, mit dem sie Experimente durchführen sollen…1 EUREKA wirkt in gewisser Weise wie eine einzige große Digression, so daß Neil Sinyard von »the film’s oblique style, in which Roeg’s former narrative drive […] seemed to disperse itself in montage particles that pulled the film sideways or upwards more than forwards« spricht.2 Thomas Koebner attestiert daher Roegs Filmen einen »über weite Strecken […] merkwürdig schlendernden Charakter«.3 Vor allem aber fallen Roegs Filme durch eine sehr ungleichmäßige Verteilung von Ereignissen in der narrativen Gesamttextur auf: vieles ereignet sich innerhalb kurzer Zeit, dann folgen lange Abschnitte, in denen rein gar nichts zu geschehen scheint, bis plötzlich wieder ein Ausbruch erhöhter Aktivität folgt.4 Folglich urteilt Oliver Baumgarten über THE MAN WHO FELL TO EARTH: »Die narrative Struktur ist lose geprägt von dem Eindruck einer Nummernrevue […].«5 Bestätigung findet diese Einschätzung durch eine Aussage Paul Mayersbergs, der dem Film einen zirkushaften Charakter attestiert, der sich vor allem im Zeitarrangement und in der Vernachlässigung eines nachvollziehbaren, linearen Inhalts äußere: »The circus aspect of the movie is also, and in a rather different way, a game with time. It is all a matter of convention. Nobody talks of the non sequiturs of a circus because the plot isn’t clear. The reason is that everybody knows the form at a circus.«6 Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß Roeg in dieser Hinsicht eine größere Verwandtschaft mit dem frühen ›Attraktionskino‹ (vgl. II 2) c)) als mit dem klassischen narrativen Spielfilm aufweist. Insbesondere im Fall von THE MAN WHO FELL TO EARTH könnte dies die Struktur und den Stil des Films erklären, über den Richard Eder urteilt: »The movie has its incoherences. Sometimes the mannerisms – overlapping shots, for instance – are excessive.«7 Das Ergebnis davon sei, so Neil

1

Wenngleich diese Szenen keine Relevanz für die Haupthandlung zu haben scheinen, bedeutet dies freilich nicht, daß sie bedeutungslos sind. So stellt bereits Stephen Farber fest, daß die Szene mit den Meteorologen »no purpose in the story« habe; »but it is included in order to contrast the unnatural, lecherous attitudes toward sex that are inculcated by society with the girl’s unashamed, unselfconscious acceptance of her body as she swims in the lagoon.« (Farber 1971/72, S. 641.) Auch Anthony Boyle konstatiert: »But Roeg gives us an aside; he takes us to a meteorological group which is at work in another area of the desert to show what controls human behavior.« (Boyle 1979, S. 74.)

2

Sinyard 1991, S. 91.

3

Koebner 2000, S. 163.

4

Vgl. Feinemann 1978, S. 24.

5

Baumgarten 2006, S. 69.

6

Mayersburg 1975, S. 231.

7

Eder 1796, a.a.O.

324 | KINO DER UNORDNUNG

Feineman, daß »the film’s lack of a visual or intellectual structure that would have enforced a coherence alienated, then, much of the film community […].«1 Dessenungeachtet wehrt sich Roeg durchaus gegen den Vorwurf, seine Filme seien ›unordentlich‹: »But I don’t think my films are messy, to me they are quite precise.«2 Wenngleich sie oftmals für Unverständnis gesorgt haben und sorgen, so ist die anagrammatische, abschweifende Struktur doch das Ergebnis einer sehr bewußten Entscheidung, wie der Regisseur hervorhebt: »Having tried to push the structure of film grammar into a different area, I find myself explaining it, the reason why certain things are in. Whenever one plays with film grammar, it offends people.«3 Das Spiel mit der ›Grammatik‹ des Films ist für Roeg dabei gleichbedeutend mit einem Spiel mit den Regeln und Konventionen der Montage – die man natürlich zunächst kennen und beherrschen muß, bevor man sie biegen, brechen und letztlich neu aufstellen kann.4 In den Worten Roegs lautet dies dann so: »The montage of the film is a great part of the film making – I don’t think one can think of a film without the juxtaposition of one shot to one reaction. […] I’ve been in films a long time and always felt that rules needed to be broken in terms of editing, although one must know one’s basic grammar, otherwise it gets confusing.«5

Eine Form der Ereignisanordnung, die – anders als Roegs permutative und anagrammatisch montierte Ereignisreihen – nicht für Konfusion sorgen möchte, ist dagegen die auf dem Prinzip linearer Kausalität basierende Ereigniskette: eine solche zu rekonstruieren ist die Intention des Kommissars Netusil in BAD TIMING – und mit ihm wohl die des Zuschauers, der wissen will, was sich wirklich zugetragen hat.6 Die kriminalistische Indizienkette erweist sich dabei als ein auf Eindeutigkeit und Konsistenz ausgerichteter Extremfall der Ereigniskette:

1

Feineman 1978, S. 34.

2

Roberts 1980, S. 9.

3

Gussow 1976, S. 11.

4

Eine Bestätigung für diese Annahme findet sich bei Roeg selbst, der zu bedenken gibt: »[…] in order change things, to go against the conventions imposed by the studio, you have to know how to do it in the first place, you have to know what the conventions of the time are.« (Roeg 2013, S. 19.)

5

Lifflander/Shroyer 1976, S. 36.

6

Als lineare Ereigniskette zielt die Indizienkette letztlich also darauf, einen Sinn zu rekonstruieren. So verstanden, ist Sinnhaftigkeit also das Ergebnis einer linearen Chronologie. Diese Auffassung vertritt beispielsweise Wolfgang Müller-Funk, der hervorhebt: »Narrative stiften Sinn, nicht aufgrund ihrer jeweiligen Inhalte, sondern aufgrund der ihnen eigenen strukturellen Konstellationen: weil sie eine lineare Ordnung des Zeitlichen etablie-

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 325

»Lassen sich mehrere I[ndizien] sachlich und logisch dergestalt miteinander verknüpfen, dass immer von einem I[ndiz] auf das nachfolgende I[ndiz] geschlossen werden kann, dann ergibt sich eine Indizienkette. Zunächst erfolgt der Schluss immer wieder von einem I[ndiz] auf ein weiteres und am Ende dann auf die entscheidungserhebliche Tatsache.«1

Netusil gelingt es nicht, zu dieser ›entscheidungserheblichen Tatsache‹ vorzudringen. »Confess. Please, Dr Linden. As a personal favour«, fleht Netusil den Verdächtigen nahezu an, und er fährt fort: »You see, a swab would prove nothing. I fear I’m not so good a detective. But… but what is detection if not confession?«2 Doch ebensowenig wie für den Kommissar eine Rekonstruktion der Ereignisse in der erzählten Welt möglich ist, so ist für uns Zuschauer eine schlüssige Rekonstruktion der Ereigniskette aus der narrativen Gesamttextur möglich. Teresa de Lauretis resümiert daher: »As Netusil’s detection hangs on Alex’s confession, we depend on the film’s structuring of visual and aural clues, but find ourselves adrift between narrative and shot, amidst mismatching images and sounds.«3 Als Zuschauer stehen wir nicht weniger ratlos dar als Netusil, der über sich selbst sinniert: »Of course. Only detection. What is it if not a process of elimination? Why I chose this profession… A puzzle.«4 Tatsächlich gleichen Roegs Filme selbst oftmals »einem sehr komplizieren Puzzle, von dem einige Teile fehlen und das insofern nie aufgehen kann«, wie es Hans C. Blumenberg formuliert.5 Eine solche Puzzle-Struktur ist insbesondere für

ren.« (Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2., bearb. u. erw. Aufl. Wien/New York: Springer 2008, S. 29.) 1

Michael Soiné: »Indiz«, in: Ingo Wirth (Hg.), Kriminalistik-Lexikon. 4., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Heidelberg u.a.: Kriminalistik 2011, S. 294 (Herv. i.O.).

2

Susan Barber zieht aus Netusils Verhalten den Schluß: »The film ultimately suggests that detective work does not discover the truth, but manufactures its own version of it.« (Susan Barber: »Bad Timing/A Sensual Obsession«, in: Film Quarterly 35 [1981], Nr. 1, S. 46-50; hier: S. 46.)

3

de Lauretis 1983, S. 32.

4

Dominik Graf dagegen sieht eher den Regisseur selbst in der Rolle des Kommissars: »Er ist wie ein Detektiv, der die Puzzleteile seines Falls schließlich nicht zusammensetzen kann, und die Größe besitzt, dies auch zuzugeben.« (Graf 2006, S. 13.)

5

Blumenberg 1974, S. 24. – Auch für Janet Maslin gleicht BAD TIMING einem Puzzle: »When a film is structured like a puzzle, qualities that are merely bewildering can be made to seem mysterious, if only for a while. Nicolas Roeg, who habitually structures his films this way, has again relied on jumbled time sequences, allusive cutting and a wealth of similar techniques to give BAD TIMING/A SENSUAL OBSESSION its suggestive, secretive air.« (Maslin 1980, S. 70.) Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt David Robinson:

326 | KINO DER UNORDNUNG

EUREKA kennzeichnend. So hebt Tom Milne hervor: »Even more than most Roeg films, EUREKA is composed of such an intricate series of interlocking pieces that it is difficult to pick out the pattern without destroying or at least falsifying it.«1 Die Metapher des Puzzles impliziert freilich, daß die Teile zu einem stimmigen Ganzen zusammengesetzt werden können. Da sich Roegs Filme gerade diesem konsequent verweigern, böte es sich an, mit Blick auf ihre narrative Oberflächenstruktur eher von einer Assemblage oder einer Collage zu sprechen.2 Ersteren Begriff verwendet mindestens Toni Ross, wenn er festhält: »For Roeg, a film is principally an assemblage of parts brought together at the editing table.«3 Auf den Begriff der Collage dagegen greift Chris Drake zurück, der über Roegs Kurzfilm THE SOUND OF CLAUDIA SCHIFFER (2000) schreibt: »Roeg and Utley’s film THE SOUND is a shifting collage of sound and images through which supermodel Claudia Schiffer drifts – here composited into black-and-white silent footage, there shimmying through fields.«4 In einem Interview mit Roeg kommt auch Daniel Kothenschulte auf diesen Kurzfilm zu sprechen: »Ihr Bild von Claudia Schiffer ist ein Fragment, das auf eine Ganzheit verweist, die erst noch zu rekonstruieren wäre…«, woraufhin Roeg entgegnet: »Ihre Interpretation gefällt mir sehr. Ich mag diesen Gedanken.«5

»BAD TIMING is composed of a mosaic of small pieces, flitting backwards and forwards in time and place. The pieces from a jigsaw puzzle which the spectator is invited, bit by bit, to reassemble, so that the whole picture appears only when the very last piece fits into the place.« Und, noch einmal unterstreichend, ergänzt er: »Every scene, indeed, is like a picture puzzle.« (David Robinson: »Roeg’s New Curiosity Shop«, in: The Times, 11.04.1980, S. 10.) 1

Milne 1983, S. 115. – Dieser Eindruck wird von Richard Combs bestätigt: »Which makes it appropriate that the chief film reference should be to that pre-eminent time puzzle, CITIZEN KANE.« (Combs

2

1983a, S. 136.)

Im kunstgeschichtlichen Sinn handelt es sich bei der Assemblage um eine »Erweiterung der Collage durch dreidimensionale Gegenstände zum reliefartigen Materialbild« (Wetzel 2007, S. 39). Dagegen ist die Collage »eine Flächenkunst« (ebd., S. 95).

3 4

Ross 1995, S. 185. Chris Drake: »We’ve all seen Claudia – now we can hear her«, in: The Independent, 25.02.2001, Culture, S. 3. – Zu THE SOUND OF CLAUDIA SCHIFFER sowie der ästhetischen Konzeption und Intention dieses Kurzfilms vgl. – besonders erhellend – Roeg 2013, S. 47-49.

5

Daniel Kothenschulte: »Die Unschuld der Welt. Gespräch mit Nicolas Roeg über den Zufall, die Pop-Musik und den Ursprung des Klangs«, in: Film-Dienst 15 (2000), S. 8-11; hier: S. 11.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 327

c) Jenseits der Kausalität: Assoziationsmontage und Farbkohäsion Roegs Filme setzen sich aus einzelnen Ereignissegmenten zusammen, deren Teile sich nicht wie bei einem Puzzle zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen, sondern unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Dies drückt sich selbstverständlich auch in der formalen Gestaltung seiner Filme aus, die Dominik Graf als bewußt uneinheitlich bezeichnet.1 Pauline Kael geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie feststellt: »Roeg has an elegant, edgy style that speaks to us of the broken universe and out broken connection, of modern man’s inability to order his experience and to find meaning and coherence in it.«2 Und ihre Schlußfolgerung daraus lautet: »[…] Roeg’s style is in love with disintegration.«3 Von einer solchen Desintegration zeugt etwa THE MAN WHO FELL TO EARTH: »[…] almost everyone has criticized the movie for its failure to develop a consistency that directs and focuses our responses«, faßt Neil Feineman die typischen Reaktionen auf den Film zusammen.4 Dieser mangelnde Zusammenhalt ist dabei die Folge fehlender Kausalzusammenhänge zwischen den einzelnen Montageteilen und Sequenzen und den darin repräsentierten Ereignissen. So hebt auch Feineman hervor: »When, then, Roeg fails not just to fill us in on causes, effects, and the gradual unfolding of events or character motivation, but also fails to impose a recognizable visual consistency on the film as well, he is only pushing the refusal for an adherence to rationality to its logical end.«5 Gleiches läßt sich in bezug auf die Montagestruktur von DON’T LOOK NOW sagen: »Roeg and Clifford’s elliptical editing style prepared the spectator for a visual strategy that questions our complicit spectatorial passivity in our acceptance of classical narrative structures based around chronology and causality.«6 Die strukturelle Desintegration von Roegs Filmen resultiert also wesentlich daraus, daß sie sich der ›Tyrannei‹ des Kausalitätsprinzips entziehen, um eine Wortwahl Jean-Louis Cros’ und Raymond Lefevres aufzugreifen.7 In dieser Hinsicht macht auch Roegs ›Opus Magnum‹ EUREKA8 keine Ausnahme. So konstatiert Michael Pursell: »[…]

1

Graf 2006, S. 9.

2

Kael 1973, S. 68.

3

Ebd., S. 71.

4

Feineman 1978, S. 146.

5

Ebd., S. 140.

6

Patch 2010, S. 257.

7

Vgl. Cros/Lefevre 1981, S. 70.

8

Den Produktionsmaßstäben nach war EUREKA Roegs ambitioniertester Film, geriet aber zu einem finanziellen Desaster und fand auch seitens der Kritik wenig Anklang. Mehr

328 | KINO DER UNORDNUNG

EUREKA is not simply a collection of incidents loosely related by theme; nor […] is it a strictly organised cause and effect narrative.«1 Pursell spricht statt dessen von einer ›diagenetischen‹ Struktur des Films: »The structure of EUREKA, like that of all Roeg’s films, is diagenetic. Diagenesis is a term that refers to the process of transformation through the dissolution and recombination of elements.«2 Ergänzend führt er aus: »[…] the diagenetic structure is deeply implicated with perennial Roegian themes of the collapse of time, space, and character, as well as identity and transformation.«3 Beim Kollaps von Raum und Zeit klingt wieder die Relativitätstheorie mit, die Paul Mayersberg zufolge eine wesentliche Hintergrundfolie für EUREKA ist (vgl. III 3) c)). Gerade die Frage nach einer möglichen kausalen Verbindung von Ereignissen ist auch als Gegenstand relativitätstheoretischer Zeitreflexionen zu betrachten. In der Tat propagiert die Spezielle Relativitätstheorie eine kausale Theorie der Zeit. Indem Einstein eine »operationale Festlegung von Gleichzeitigkeitsbeziehung« vornimmt, die Ereignisse durch Lichtsignale miteinander verbindet (vgl. III 3) c)), impliziert er eine kausale Verknüpfbarkeit von Ereignissen; die Lichtausbreitung stellt dabei den schnellstmöglichen Kausalprozeß dar.4 Da das von einem Ereignis E, d.h. »zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort im Raum«, ausgehende, sich ausbreitende Licht »einen dreidimensionalen Kegel in der vierdimensionalen Raumzeit« bildet, kann man vom Zukunftslichtkegel eines Ereignisses sprechen.5 Innerhalb des Zukunftslichtkegels liegen alle Ereignisse, die von dem Ereignis E aus »mit einer Geschwindigkeit erreicht werden können, die kleiner als

noch: wieder einmal war es das Studio, das von dem fertigen Produkt so schockiert war, daß es den Film vom Verleih fernhielt. »EUREKA was so hated by its distributers that they were even reluctant to let it out to cinemas that wanted it«, beschreibt Neil Sinyard den Umstand wohl sehr treffend (Sinyard 1991, S. 91). 1

Pursell 1983, S. 215. – Für Ivo Ritzer ist es vor allem psychologische Kausalität, die der Film verneint: »Roeg und Mayersberg hebeln die psychoanalytische Kausalkette von Ursache und Wirkung aus, sodass sich in EUREKA allenfalls die Wirkung als kosmisches Symptom codiert findet.« (Ritzer 2006, S. 76.)

2

Pursell 1983, S. 218. – Zu dieser ›diagenetischen‹ Struktur führt Pursell aus: »Diagenetic structures are reflective as well as anticipatory. That is why the film’s final shot is of McCann striding through a snow field. The end takes us back to the beginning, yet it also suggests that McCann, despite his death, remains actively present, separating Claude from Tracy.« (Ebd. 1983, S. 219.)

3

Ebd., S. 220.

4

Carrier 2009, S. 39f.; vgl. auch Esfeld 2002, S. 32.

5

Hawking 1988, S. 41f.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 329

die Lichtgeschwindigkeit ist.«1 Diese Ereignisse können durch das Geschehen in E beeinflußt werden und sind damit kausal erreichbar.2 Diese Ereignisse liegen später als das Ereignis E und bilden somit dessen Zukunft; umgekehrt gelten alle Ereignisse, die auf das Ereignis E einwirken können, als früher und stellen demnach seine Vergangenheit dar.3 Auf diese Weise kann also analog zum Zukunfts- ein Vergangenheitslichtkegel für ein gegenwärtiges Ereignis E gebildet werden.4 Ereignisse, die außerhalb des Vergangenheits- oder Zukunftslichtkegels liegen, können das Ereignis E weder erreichen noch von ihm aus erreicht werden, »weil nichts schneller als das Licht sein kann.«5 Somit können zu diesen Ereignissen auch keine kausalen Verbindungen hergestellt werden.6 Kausale Beziehungen im Sinne physikalischer Interaktion kann es also nur zwischen Ereignissen geben, deren Abstand licht- oder zeitartig ist.7 Eine raumartige Verbindung setzt dagegen voraus, daß es »ein Bezugssystem gibt, relativ zu dem die beiden Ereignisse gleichzeitig sind.«8 In diesem Fall kann zwischen den beiden Ereignissen nicht zwischen Ursache und Wirkung unterschieden werden. Es liegt somit keine Kausalrelation vor. Eine solche raumartige Verbindung gleichzeitiger Ereignisse, zwischen denen keine Kausalbeziehungen vorliegen können, suggeriert die bereits in III 1) c) erwähnte Szene in THE MAN WHO FELL TO EARTH, in der Thomas Newton in einem japanischen Restaurant eine Kabuki-Aufführung verfolgt, während scheinbar gleichzeitig (zumindest gemäß der Konventionen der alternierenden Parallelmontage) Bryce wilden Sex mit einer seiner Studentinnen hat. Nicht nur schafft die Tonmontage einen gemeinsamen akustischen Raum, sondern es scheint gleichsam eine Interaktion zwischen diesen gleichzeitigen Ereignissen stattzufinden: die Montage ist so gestaltet, als verfolge Newton nicht die Theateraufführung, sondern das Sextreiben, das auf ihn so verstörend wirkt, daß er das Restaurant hastig verläßt (Abb. 84). Für Carsten Bergemann ist diese Szene ein Beleg dafür, daß in Roegs Filmen

1

Esfeld 2002, S. 32.

2

Vgl. Hawking 1988, S. 42 u. Carrier 2009, S. 41.

3

Vgl. Carrier 2009, S. 40.

4

Vgl. Hawking 1988, S. 42.

5

Ebd.

6

Vgl. ebd., S. 44.

7

Esfeld 2002, S. 32. – Dabei sind Ereignisse dann voneinander lichtartig getrennt, wenn sie durch einen Lichtstrahl miteinander verbunden werden können; sie sind zeitartig voneinander getrennt, wenn sie mit einer Geschwindigkeit kleiner als die Lichtgeschwindigkeit miteinander verbunden werden können (vgl. ebd.).

8

Ebd., S. 31.

330 | KINO DER UNORDNUNG

oftmals »Sequenzen assoziativ nebeneinander gestellt« werden.1 Tatsächlich finden sich auch an anderen Stellen in Roegs Œuvre solche assoziativen Verbindungen.2 Abbildung 84: ›Kabuki‹-Theater und Studentinnen-Sex

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

In WALKABOUT folgt mittels Parallelmontage auf eine Einstellung, in der der Aborigine ein Känguruh erlegt, eine Einstellung, in der ein Fleischer mit seinem Beil ein Stück Fleisch zerteilt (Abb. 85).3 Während John Izod hierin Roegs »full

1

Bergemann 2002, S. 18. – Bergemann interpretiert die Sequenz dabei so, daß Roeg hier »durch die Gegenüberstellung mit den sexuellen Eskapaden von Bryce […] einen deutlichen Eindruck [vermittelt], wie die menschliche Sexualität durch die nichtmenschliche Sensibilität wahrgenommen wird: fremdartig und aggressiv.« (Ebd.)

2

Sandra Bernhard, die in TRACK 29 die Rolle der Nurse Stein spielt, legt dar, daß Roegs Montage grundsätzlich durchaus einer sehr präzisen Vorstellung des Regisseurs folge: »Nic is figuring out shots; he has the whole thing plotted out in his head. Since he was an editor, his thoughts are precise, but he leaves room for great little improvisational touches. And he cuts as he goes, so you know he won’t be missing some important segue down the line.« (Sandra Bernhard: »Right on ›Track‹«, in: American Film [April 1988], S. 31 u. 51-53; hier: S. 53.)

3

Neil Feineman sieht hierin ein Beispiel für eine kontrastive Montage, die dazu diene, »the fragmentation of modern civilization« zu verdeutlichen (Feineman 1978, S. 69f.). – Thomas Koebner wiederum spricht von »Analogiebehauptungen«, die einen »geradezu

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 331

debt to Eisenstein’s idea of intellectual montage« zu erkennen vermeint, 1 wendet Scott Salwolke ein, daß dies zwar durchaus an Eisensteins Montagetheorie erinnere, das Resultat aber ein völlig anderes sei, denn anders als bei Eisenstein ergebe sich kein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen den Montageteilen.2 Für Eisenstein bildet die Montage einen Ausdruckseffekt;3 mehr noch: sie ist »ein Gedanke, der im Zusammenprall zweier voneinander unabhängiger Stücke 4 ENTSTEHT […].« Eisenstein geht davon aus, daß sich mittels der Montage die Aufmerksamkeit und die Emotion des Zuschauers gewinnen und lenken lassen.5 In seinen frühen theoretischen Grundlegungen bezeichnet er dies als ›Montage der Filmattraktionen‹. Eisenstein sieht darin eine sinnliche oder psychologische Einwirkung auf den Zuschauer, eine genau kalkulierte emotionale Erschütterung des Rezipienten.6 Im Film lasse sich diese Erschütterung durch die Zusammenstellung einzelner Einstellungen erreichen, die bestimmte Assoziationen provozieren sollen.7

animistischen Charakter« besäßen: »Zumindest wird durch die Konstitution der Parallelen in der Montage die Besonderheit des gerade stattfindenden Ereignisses relativiert, vielleicht sogar in ironischer Absicht.« (Koebner 2000, S. 174.) 1

Izod 1980, S. 115. – Auch in einer anonymen Besprechung wird eine Verpflichtung des Briten dem Sowjetfilmkünstler gegenüber unterstellt: »Almost single-handed, he has given life to the old notion of montage as the great Russian director, Sergei Eisenstein, understood it – editing as synergy, in which two shots combined give an effect greater than the sum of its parts.« (»Lands of Lost Content«, in: The Economist 294 [1985], Nr. 7378, S. 85f.; hier: S. 86.)

2

Salwolke 1993, S. 27. – Ebenso hebt Michael Dempsey mit Blick auf DON’T LOOK NOW eher die Unterschiede der Ansätze hervor: »Roeg joins Eisenstein, Resnais, and Lester in leaning heavily on editing for his effects, but his montage is not quite like anybody else’s.« (Dempsey 1974, S. 40.)

3 4

Eisenstein 2006a, S. 54. Sergej M. Eisenstein: »Dramaturgie der Filmform«, in: ders., Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Hg. v. Felix Lenz/Helmut H. Diedrichs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 88-111 [Eisenstein 2006b]; hier: S. 92 (Herv. i.O.).

5

Vgl. Sergej M. Eisenstein: »Montage der Filmattraktionen«, in: ders., Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Hg. v. Felix Lenz/Helmut H. Diedrichs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 15-40 [Eisenstein 2006e]; hier: S. 16.

6

Vgl. Sergej M. Eisenstein: »Montage der Attraktionen«, in: ders., Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Hg. v. Felix Lenz/Helmut H. Diedrichs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 9-14 [Eisenstein 2006d]; hier: S. 10.

7

Ein einschlägiges Beispiel für diese Form der Attraktionsmontage ist das Ende von Eisensteins Film STREIK (СТАЧКА, 1925). Die Einstellungen einer Massenerschießung alternieren mit denen der Schlachtung eines Rinds. Beide Einstellungen stehen indes nicht

332 | KINO DER UNORDNUNG

Abbildung 85: Assoziationsmontage

WALKABOUT (Nicolas Roeg, 1971)

Obgleich auch Eisensteins Attraktionsmontage auf dem Prinzip der Alternation beruht, weist er explizit darauf hin, daß diese nicht mit der Griffithschen Parallelmontage verwechselt werden dürfe. »Technisch näher ist das Verfahren einfach kontrastierender Gegenüberstellungen […].«1 Die Attraktionsmontage basiere auf der »Kopplung von Sujets im Hinblick auf einen thematischen Effekt«.2 Konkret gesprochen bedeutet dies: in Eisensteins Montagekonzeption stoßen zwei oder mehr disparate Einstellungen aufeinander. Das Verhältnis zwischen den Einstellungen gleicht einem Zusammenprall, einem Konflikt.3 Oder, wie Deleuze es formuliert:

für sich, sondern verschmelzen gleichsam zu einem einzigen Ausdruckseffekt, der das Ergebnis einer assoziativen Kopplung der einzelnen Montageteile ist. In späteren Ausführungen, beispielsweise in »Dickens, Griffith und wir« (»Диккенс, Гриффит и мы«), sieht Eisenstein in dieser Form der Zusammenstellung nicht mehr nur einen rein emotionalen bzw. psychologischen Effekt, sondern eine filmische rhetorische Figur. So bilde das Ende von STREIK »das Filmsymbol eines ›Menschenschlachthofes‹« (Eisenstein 1960, S. 133). 1

Eisenstein 2006e, S. 19.

2

Ebd.

3

Vgl. Sergej M. Eisenstein: »Jenseits der Einstellung«, in: ders., Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Hg. v. Felix Lenz/Helmut H. Diedrichs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 58-74 [Eisenstein 2006c]; hier: S. 66. – Vgl. hierzu auch: William C. Wees: »Dickens, Griffith and Eisenstein. Form and Image in Literature and Film«, in:

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 333

bei Eisenstein wird die Parallelmontage zur »Oppositionsmontage«.1 Doch die in der Montage in einen gemeinsamen Kontext gestellten Einstellungen verbleiben nicht einfach in Opposition. Der Konflikt löst sich auf, die Einstellungen gehen eine Synthese ein. Sie bilden eine »Einheit in der Verschmelzung«, die nach Eisenstein den eigentlichen »Montage-Tropus« darstellt.2 Aus der assoziativen Verbindung »von thematisch scheinbar unvermittelten Bildern«3 entsteht somit eine »stabilisierte Bildformel«,4 in der sich aufgrund eines dialektischen Prinzips »aus der Gegenüberstellung des einzelnen eine neue Qualität des Ganzen« ergibt.5 Einer solchen Vorstellung von ›Ganzheitlichkeit‹ leisten die Filme Roegs, wie bereits hervorgehoben, allerdings eine Absage. Gerade deswegen läßt sich seine Form der assoziativen Montage nicht mit der Eisensteins gleichsetzen. So argumentiert auch Chuck Kleinhans: »For Roeg juxtaposition is basic, but he does not follow Eisenstein’s idea of montage establishing a synthesis of a higher order than the individual shots. Nor does he succeed in using contrasts in a metaphoric, oxymoronic, or even ambiguous way. Rather juxtaposition is presented, and in being simply presented, it gives a kind of implied irony.«6

Michael Dempsey bringt die Unterschiede knapp gefaßt auf den Punkt: »Eisenstein’s editing aims for certainty; Roeg’s, for uncertainty.«7 Eine solche Unsicher-

The Humanities Association Review/La Revue de l’Association des Humanités 24 (1973), S. 266-276, bes. S. 269. 1

Deleuze 1997a, S. 55 (Herv. i.O.). – Das Sinnbild dieses Zusammenpralls schlechthin findet sich in der berühmten Szene des Massakers auf den Treppenstufen von Odessa in Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN (БРОНЕНОСЕЦ »ПОТЁМКИН«, 1925), wenn die Mutter, deren Kind soeben von den Kosakentruppen getötet wurde, mit der Leiche auf dem Arm auf diese zuläuft. In Alternation werden die beiden Konfliktparteien gezeigt, bis sie sich schließlich im Angesicht gegenüberstehen.

2

Eisenstein 1960, S. 118.

3

Möbius 2000, S. 361.

4

Die Zusammenstellung zweier Einstellungen, die in der Montagekonfiguration einen Ausdruck bilden, bezeichnet Siegfried Kracauer als »stabilisierte Bildformel« (Siegfried Kracauer: »Film 1928«, in: ders., Das Ornament der Masse. Essays. Mit e. Nachw. v. Karsten Witte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 295-310; hier: S. 304).

5

Eisenstein 1960, S. 116.

6

Kleinhans 1974, S. 14.

7

Dempsey 1974, S. 41. – Gleichwohl präzisiert Dempsey sein Argument noch, wenn er über Roegs Montage schreibt: »When his rapid juxtapositions outrun our ability to sort

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heit kennzeichnet auch die assoziativen (oder sollte man besser von suggestiven sprechen?) Parallelmontagen in BAD TIMING: Einstellungen von Milena im Krankenhaus alternieren mit Einstellungen, in denen sie Sex mit Alex hat: auf eine Einstellung, in der die Ärzte sie auf den Operationstisch hieven, folgt das lustvolle Aufbäumen ihres Körpers im Bett, ihr Stöhnen geht über in ein Röcheln, woraufhin die Ärzte einen Luftröhrenschnitt vornehmen (Abb. 86). Abbildung 86: »Die Tube einführen…«

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980)

An anderer Stelle wechseln Einstellungen, in denen Milena reanimiert wird, mit einer Szene, in der Alex sie anschreit und durchrüttelt, nachdem er erfahren hat, daß sie mit Stefan verheiratet ist.1 Den Effekt dieser Zusammenstellung beschreibt John Walker: »The juxtaposition of images in Roeg’s films sets up several kinds of tension in the viewer, beginning with the basic level of confusion: is what is being seen

them out, we tumble into an uncertainty that, in the hands of a hack, would be merely cheap but that, in his, becomes genuinely metaphysical.« (Ebd.) 1

Pamela Church Gibson und Andrew Hill zufolge dient diese Juxtaposition vor allem dazu, uns, die Zuschauer, als Voyeure zu entlarven: »We, like Alex and Netusil, have become voyeurs, we want to see more, we want to know more.« (Gibson/Hill 2003, S. 267.) – Zum Voyeurismus in Roegs Filmen vgl. IV 3) a).

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 335

reality or fantasy or a visual equivalent of the protagonist’s state of mind?«1 Gleichwohl ist sich der Regisseur sicher, daß der Sinn dieser Zusammenstellungen vom Zuschauer durchaus richtig erfaßt und eingeordnet werden kann: »Thought can be transferred by the juxtaposition of images, and you mustn’t be afraid of the audience not understanding. You can say things visually, immediately, and that’s where film, I believe, is going.«2 Die assoziative Montage stellt für Roeg also einen Gedankenausdruck dar – oder präziser: sie kann, wie er unter Verweis auf die Experimente Wsewolod Pudowkins hervorhebt,3 Gedanken formen: »Whoever is in charge of editing a film really plays God. It’s the juxtaposition of images that changes

1 2

Walker 19851, S. 96. Kennedy 1980, S. 22. – Neil Feineman hält grundsätzlich zu Roegs Verfahren der Parallelmontage fest: »He also makes extensive use of cross-cutting that connects events and characters visually before he connects them narratively.« (Feineman 1978, S. 137.)

3

Gemeint sind hier Pudowkins ›Gedankenexperimente‹, daß ein Publikum aus der unterschiedlichen Kombination von Bildern einen je verschiedenen Eindruck von den durch die Bilderreihe vermittelten Emotionen gewinnen werde. Er führt dazu aus: »[Lew] Kuleschow machte mit mir zusammen einen interessanten Versuch. Wir entnahmen irgendeinem Film verschiedene Großaufnahmen des bekannten russischen Schauspielers Mosjukhin. Wir wählten Aufnahmen, die keinen besonderen Ausdruck hatten, Großaufnahmen des unbewegten, ruhigen Antlitzes. Diese Aufnahmen, die einander sehr ähnlich waren, montierten wir mit anderen Filmstücken in drei verschiedenen Kombinationen. In der ersten Kombination folgte auf die Großaufnahme des Schauspielers die Aufnahme eines Tellers Suppe auf einem Tisch. Ganz offensichtlich schaute Mosjukhin die Suppe an. In der zweiten Kombination wurden dem Bild Mosjukhins die Aufnahme eines Sargs mit der Leiche einer Frau beigefügt; in der dritten folgte auf die Großaufnahme die Aufnahme eines kleinen Mädchens, das mit einem Teddybär spielt. Als wir die drei Kombinationen dem Publikum, dem wir unser Geheimnis nicht verraten hatten, vorführten, war die Wirkung ungeheuer. Das Publikum war von der schauspielerischen Leistung Mosjukhins hingerissen. Man wies auf die tiefe Nachdenklichkeit seiner Stimmung über der vergessenen Suppe hin, man war gerührt und bewegt über die Trauer seines Antlitzes angesichts der Toten und bewunderte das sanfte, glückliche Lächeln, mit dem er dem spielenden Mädchen zuschaute. Nur wir wußten, daß in allen Fällen der Gesichtsausdruck der nämliche gewesen war.« (Wsewolod I. Pudowkin: »Filmtypen statt Schauspieler. Vortrag vor der ›Film Society‹«, in: ders., Über die Filmtechnik. Übers. u. bearb. v. Leonore Kündig auf Grund d. erw. engl. Memorial-Edition. Zürich: Arche 1961, S. 195-204, hier: 198f.) »Die Aufgabe des Regisseurs besteht« Pudowkin zufolge somit »darin, die richtige Reihenfolge der aufgenommenen Stücke und den Rhythmus ihrer Zusammenstellung zu finden. Diese Kunst nennen wir die ›Montage‹.« (Ebd., S. 199f.)

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peoples view.«1 In dieser Hinsicht nähert er sich schließlich doch der Attraktionsmontage Eisensteins – wenngleich es eine sehr freie Gedankenassoziation auf der Folie einer fragmentierenden Gesamtmontage ist.2 In erste Linie basiert die Assoziationsmontage bei Roeg allerdings auf visuellen Anschlüssen und Formähnlichkeiten. Dabei sind es – wie in jener Szene, in der Newton einer Kabuki-Aufführung beiwohnt – vor allen Eyeline-match-Schnitte, die eine Interaktion und mehr noch einen Kausalzusammenhang zwischen gleichzeitigen, räumlich getrennten Ereignissen suggerieren, die so gesehen gar nicht stattfinden können.3 Ein solches suggestives Eyeline-Matching findet sich bereits in DON’T LOOK NOW: während Laura einer Séance bei den schottischen Schwestern beiwohnt, wartet John in einem Café. Zweimal folgt auf eine Einstellung von Heathers blinden, stahlblauen Augen eine Einstellung auf die Fensterscheibe eines Cafés: beim ersten Mal sehen wir John noch hinter der Gardine sitzen, bei der zweiten hat er das Café bereits verlassen. »Despite their being in different locations, Heather seems to look across the room to John«, beschreibt Scott Salwolke den Effekt dieser Montage.4 Die visuellen Anschlüsse in dieser Szene gehen aber noch darüber hinaus: Auf eine Einstellung von Laura, die zu Beginn der Séance ein Whisky-Glas in den Händen hält,5 folgt eine ähnliche Einstellung, in der John im Café ebenfalls ein Whisky-Glas in den Händen hält. Das deutlichste Beispiel für solche Anschlüsse findet sich in der Eröffnungssequenz von DON’T LOOK NOW. Alternierend wird gezeigt, wie John und Laura im Hause ihren Verrichtungen nachgehen, während ihre beiden Kinder Christine und Johnny draußen im Garten am Teich spielen. Laura ist auf der Suche nach ihren Zigaretten, die sie nicht finden kann, und faßt sich an den Mund, wie um zu unterstreichen, daß sie sich eine Zigarette anzünden will. Derweil hat John die Schachtel mit Zigaretten gefunden. Doch bevor gezeigt wird, wie er sie seiner Frau, die auf der Couch sitzt, herüberwirft, folgt ein Einstellungswechsel zu Christine, die einen Spielball wirft. Laura fängt die Schachtel, doch Christines Ball

1 2

Lanza 1989, S. 92. Jean-Louis Cros und Raymond Lefevre etwa betonen: »Nicholas Roeg zerstückelt die wahrgenommene Wirklichkeit, indem er sie mittels der Montage zerbricht. Die freien Assoziationen treten an die Stelle einer logischen Erklärung.« (Cros/Lefevre 1981, S. 70 [Übers. KS].)

3

Auch in der unter III 2) b) bereits angeführten Szene aus BAD TIMING, in der Netusil Milenas Wohnung in Augenschein nimmt, lassen sich solche Eyeline-match-Schnitte finden, wenn Alex den voyeuristischen Blick des Kommissars zu erwidern scheint. Hier wird eine Interaktion zwischen zwei verschiedenen Zeitebenen an einem Ort suggeriert.

4 5

Salwolke 1993, S. 44. »Even when apart they are linked by a common gesture«, deutet Mark Sanderson die Bedeutung dieser Montage (Sanderson 1996, S. 57).

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 337

landet im Teich, nachdem John ein Glas umgeworfen hat, dessen Inhalt sich über seine Dias ergießt (Abb. 87). Durch Match-cut-Anschlüsse und besonders durch die Verdopplung von Gesten scheint es, als ob die Figuren innerhalb und außerhalb des Hauses miteinander interagieren, mehr noch, daß die Ereignisse kausal miteinander verbunden sind. Abbildung 87: »My cigarettes.« (Eröffnungssequenz)

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

In der Eingangssequenz werden kausale Beziehungen zwischen gleichzeitigen Ereignissen suggeriert, wie sie gemäß der relativitätstheoretischen ›Lichtkegeltheorie‹ nicht möglich sind. Statt dessen handelt es sich um visuelle Ähnlichkeitsbeziehungen, die zwar eine Verbindung zwischen den beiden Montageteilen herstellen, die jedoch weniger als Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufzufassen sind, sondern vielmehr als formale, oberflächliche Relationen, die eine semantische Verknüpfung zu implizieren scheinen. Diese eher assoziativen Verbindungen wären daher nicht mit dem Begriff der Kausalität (im physikalischen Sinne), sondern allenfalls mit jenem der Kohäsion zu bezeichnen. Im linguistischen Sinne vermittelt die grammatisch-lexikalische Kohäsion einen Textzusammenhang auf der Textoberfläche, indem sie dem Rezipienten formale Hinweise zur Verknüpfung von Textteilen bietet. Sie kann insofern als Indiz für eine semantisch-kognitive Kohärenz, die auf der Ebene der Texttiefenstruktur anzusiedeln ist, angesehen werden, stellt jedoch dafür kein notwendiges Kriterium dar.1 Faßt man diese Beziehungen als lose Bindungs-

1

Vgl. Hadumod Bußmann (Hg.): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart: Kröner 2002, S. 352. – Vgl. auch: Angelika Linke/Markus Nussbaumer/Paul R.

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kraft auf, kann man sie – um auf der Ebene des naturwissenschaftlichen Diskurses zu bleiben – im physikalischen bzw. chemischen Sinne ebenfalls als Kohäsion verstehen: Kohäsion bezeichnet hier »[i]ntermolekulare Kräfte, die ähnliche Moleküle aneinanderbinden wie die Wasserstoffbrückenbindung in Wasser«.1 Eine solche Rückkoppelung der assoziativen Verbindungen bei Roeg an einen chemischen Kohäsionsbegriff erscheint nicht zuletzt deshalb naheliegend, weil Paul Mayersberg im Falle von EUREKA auf das Vorbild von Goethes Wahlverwandtschaften (1809) und das Prinzip einer Verbindung zwischen den Figuren analog zu chemischen Verbindungen verwiesen hat.2 Die vielleicht wichtigste Kohäsionskraft in DON’T LOOK NOW, die sich wie der sprichwörtliche rote Faden durch die Filmerzählung zieht, ist der rote Regenmantel (vgl. Abb. 47). Für den Zuschauer wie für John Baxter jedoch stellt er eine falsche Fährte dar, die sich für letzteren als fatal erweist. Es ist am Ende eben nicht die verstorbene Tochter, die als Geist durch die Gassen zieht, sondern eine mordende, kleinwüchsige Frau. Die assoziative Verbindung zwischen beiden beruht lediglich auf der Ähnlichkeit von Form und Farbe, sie ist, diegetisch gesehen, eine rein zufällige. Schon Robert Philip Kolker hebt in diesem Zusammenhang hervor: »The association of Baxter’s daughter in her red mac and the strange red figure in the church is based on nothing but the coincidence of events and the perception of those events […]. The paradox, of course, is that there is no coincidence at all; Roeg has managed and manipulated the association. The text is coded so that all the images, signs, events and dialogue that make it up refer to and control the association.«3

Daß wir als Zuschauer ebenso wie John Baxter eine Verbindung zwischen den Figuren und Ereignissen herstellen wollen, ist das Ergebnis eines bewußt inszenierten

Portmann: Studienbuch Linguistik. Tübingen: Niemeyer 1991 (= Reihe Germanistische Linguistik; 121), S. 224-226. 1

Theodore L. Brown/H. Eugene LeMay/Bruce E. Bursten: Chemie. Die zentrale Wissenschaft. Dt. Bearb. v. Christian Robl/Wolfgang Weigand. 10., aktual. Aufl. München u.a.: Pearson 2007, S. 526. – Im Gegensatz zur Kohäsion werden »[i]ntermolekulare Kräfte, die einen Stoff an eine Oberfläche binden, […] als Adhäsion(skräfte) bezeichnet« (ebd.; Herv. i.O.).

2

Mayersberg weist im Gespräch mit Joseph Lanza darauf hin, daß Goethes Roman für ihn einen wichtigen Einfluß beim Erstellen des Drehbuchs dargestellt habe: Die Vorstellung, daß sich Menschen nicht aufgrund von Psychologie, sondern allein auf Grundlage von Chemie angezogen oder abgestoßen fühlen, habe ihn fasziniert (vgl. Lanza 1989, S. 84; vgl. hierzu auch Ritzer 2006, S. 75).

3

Kolker 1977, S. 84.

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Verfahrens des Films; sie ist das Resultat der Kohäsionskräfte, die auf der Textoberfläche des Films angelegt sind. Andrew Patch führt dazu erklärend aus: »From the outset of the film, Roeg’s aesthetic strategy, through composition, soundtrack and edit, coerces the spectator into connecting together the twin red bodies of Christine and the dwarf. In part this coercion is intended to alleviate the lack of causality, the lack of reason behind the film’s narrative.«1

Wieder wird damit deutlich, daß es Kohäsions- und nicht Kohärenz vermittelnde Kausalstrukturen sind, die durch Roegs narratives Verfahren gestiftet werden. Die Farbkohäsion erweist sich als das vielleicht wichtigste ›Bindemittel‹ in seinen Filmen. Und hier kommt insbesondere der Farbe Rot eine herausragende Rolle zu; es handelt sich offensichtlich um die Lieblingsfarbe des Regisseurs.2 »Patently, red’s an incredibly strong colour«, wie er darlegt.3 Schon als Kameramann arbeitet Roeg stark mit dieser Farbe in seiner Bildgestaltung. Besonders auffällig ist dies in Roger Cormans Edgar-Allan-Poe-Verfilmung THE MASQUE OF RED DEATH (1963), wo Roeg sie massiv und als ein organisierendes Konstruktionsprinzip einsetzt.4 In DON’T LOOK NOW – einem Film, der für Andrew Patch »a network of chromatic association« darstellt5 – ist die Farbe Rot die stärkste Bindungskraft. Gleich eine ganze Reihe von Beobachtungen bestätigt dies. So hebt etwa Neil Feineman hervor: »[…] the color red will tie the entire film together«,6 und führt weiter aus: »[…] the color red serves as the film’s unifying force, linking the world of the dead, Christine, to the world of the living.«7 Er interpretiert Rot dabei als »the color of

1

Patch 2010, S. 260. – Auch Leslie Dick verweist auf die Bedeutung von Gestalt und Farbe der Figur im Regenmantel für die narrative Strukturierung von DON’T LOOK NOW: »[…] Roeg proposes that the whole narrative is somehow contained within a lager, inexplicable scheme, a scheme marked out formally, using the figure of the dead child, and by association, the colour red, to structure the events.« (Dick 1997, S. 13.)

2

Im Gespräch mit Neil Norman antwortet Roeg auf die Frage nach seiner Lieblingsfarbe: »Red seems to matter. Yes. You can do a lot with red.« (Norman 1983, S. 64.)

3 4

Roeg 2013, S. 33. Zu THE MASQUE OF RED DEATH und dem Einsatz der Farbe Rot vgl. ebd. – Vgl. auch Feineman 1978, S. 27. – Andrew Patch betont ebenfalls, daß Roegs Einsatz von Farbe als Strukturprinzip bereits auf seine Jahre als Kameramann zurückgehe: »Roeg’s use of colour in the 1970s can be seen as a continuation of the experimentation with colour prevalent in his cinematographic work in the 1960s […].« (Patch 2010, S. 259.)

5

Ebd., S. 258.

6

Feineman 1978, S. 92.

7

Ebd., S. 98.

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blood, passion, and violence, […] a color typifying the unknown, the dangerous, the non-rational, the emotional.«1 Leslie Dick hat dagegen eine andere Deutung parat: »Throughout, the colour red functions as a sign for this loss, and the wild hope that emerges out of it.«2 Gleichwohl werden Andreas Blödorn zufolge »der Rekurrenz des signalhaften Roten im Filmverlauf additiv weitere semantische Merkmale zugefügt […] – indem sich die Farbe in neuen Formen konkretisiert (zum Beispiel ein roter Bleistift in Johns Reverstasche, ein roter Kugelschreiber des Kellners im Restaurant, Lauras rote Stiefel, Johns rotgemusterter Schal; das ewige Licht in der Kirche usw.).«3 Er sieht dabei in der Farbe Rot ein »handlungsauslösende[s] Signal«.4 Dessenungeachtet betont Feineman, daß Rot bei Roeg eben kein »conventional literary symbol« darstelle.5 Statt dessen übernimmt Rot eine Signalwirkung, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers bindet und ihn dazu veranlaßt, Verbindungen – formal wie inhaltlich – zwischen den Einheiten des Films anzunehmen. Entsprechend stellt auch Patch fest: »[…] Roeg implements colour, at one level, to attract the spectator’s gaze, and simultaneously elevates the significance of red’s presence.«6

1

Ebd., S. 99. – Jean-Louis Cros und Raymond Lefevre sehen in der Farbe Rot ebenfalls einen Ausdruck von Gewalt, verbinden sie daneben aber auch mit Sprache: »Die Farbe Rot spielt im Universum von Nicholas Roeg übrigens eine bestimmende Rolle, sowohl wegen ihrer aggressiven Bedeutung (in PERFORMANCE: die Farbe auf der Wand, das Blut) wie auch aufgrund ihres sprachlichen Wertes (insbesondere in DON’T LOOK NOW).« (Cros/Lefevre 1981, S. 73 [Übers. KS].)

2

Dick 1997, S. 12.

3

Blödorn 2008, S. 336.

4

Ebd., S. 337. – Für Andrew Patch erfüllt bereits die Farbe Rot selbst das Merkmal der Narrativität, wenn er von »the notion of colour as narrative« spricht (Patch 2010, S. 260).

5

Feinemann 1978, S. 99. – Ein ähnliches Argument bringt Mark Sanderson vor, wenngleich mit einer leicht anderen Schwerpunktsetzung: »But DON’T LOOK Now does not adhere to a strict symbolic code. The colours are used impressionistically to enhance mood, not for their intrinsic meaning.« (Sanderson 1996, S. 44.)

6

Patch 2010, S. 259. – Daß sich die Farbe Rot in erster Linie an uns als Zuschauer wendet, ist ein Punkt, den auch Neil Feineman unterstreicht: »[…] it becomes an almost subconscious, subliminal presence that consolidates and heightens our reaction to the film.« (Feineman 1978, S. 99.) Cros und Lefevre sehen hierin eine Einladung, das Netzwerk an Bedeutungen, das der Film aufbaut, zu entziffern: »Auf diese Weise schaffen die Objekte, die Wesen, denen die Figuren begegnen, die Farben, die Töne und die mentalen Bilder ein Netzwerk an Bedeutungen, das es so zu entschlüsseln gilt, als handle es sich um eine esoterische Sprache.« (Cros/Lefevre 1981, S. 73 [Übers. KS].)

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Mit der Bedeutung von Farbe nicht nur im Fall von DON’T LOOK NOW, sondern auch im Film im allgemeinen hat sich Andreas Blödorn ausführlich auseinandergesetzt. Ihm zufolge »fungiert Farbwahrnehmung im Film grundsätzlich als ein Kode, der am Bedeutungsaufbau des Films beteiligt ist.«1 Er verweist dabei auf eine zweifache Funktion von Farben: »[…] auf formaler Ebener tragen sie zur Distinktion von Formen bei, auf einer inhaltlichen Ebene kann ihnen explizit-ausgesprochen oder implizit-unausgesprochen Bedeutung zugewiesen werden.«2 Wie er weiter ausführt, hat »das signalhafte Setzen von Farbakzenten« neben der »Schaffung von filmischem Raum« und »Evozierung von funktional auf die Fabel bzw. das Sujet bezogener Emotionalität/Stimmung« auch und besonders die Funktion der »Erzeugung narrativer Kohärenz in sukzessiven Bildfolgen (im diachronen Nacheinander: Farbe übernimmt hier die Funktion, Verbindungen herzustellen)«.3 In Blödorns Argumentation ist dies eine Folge davon, daß Farben »latente Beziehungen zwischen Figuren, Orten, Ereignissen usw. herstellen« können.4 Wohlgemerkt können. Denn gerade im Falle der Filme Roegs zeigt sich, daß diese Verbindungen weniger eine festgefügte, auf kausalen Zusammenhängen basierende tiefenstrukturelle ›Kohärenz‹ vermitteln, als vielmehr eine an der Oberflächenstruktur haftende Kohäsionskraft darstellen. Gleichwohl beweisen Roegs Filme, »dass Farbe an sich im Film bedeutungslos ist und immer einer Referentialisierung bedarf, um eine bedeutungstragende Funktion zu bekommen […].«5 Mit Nachdruck hebt Blödorn deshalb hervor, »dass entscheidend für die Bedeutung einer Farbe immer der Bezug zum jeweiligen Kontext ist […], und dass die Farbkodes im Film nie absolute, sondern immer nur relative Ausdrucksfunktion besitzen.«6 Im Falle von Roegs Filmen, und insbesondere von DON’T LOOK NOW, wird diese relative Ausdrucksform von Farben dadurch deut-

1

Blödorn 2008, S. 322.

2

Ebd. (Herv. i.O.). – Indem sie zur Distinktion von Formen beitragen, haben Farben eine entscheidende Rolle bei der Erschaffung des filmischen Raumes: »Farbe kann somit eine eigengesetzliche Ebene im Film schaffen, die der Erzeugung einer spezifischen Realitätsund Raumkonzeption dient und hinsichtlich Raumwirkung und Raumerfahrung etwa als Ausdruck psychischer Realitäten konzipiert sein kann […].« (Ebd., S. 328.)

3

Ebd., S. 334.

4

Ebd.

5

Ebd.

6

Ebd., S. 343. – Auch Hans J. Wulff betont, daß Farben »als Mittel des filmischen Ausdrucks […] keine eigenständige semantische Potenz zuerkannt wird, sondern daß ihre Eigenschaften in der übergeordneten Ganzheit des Textes funktionalisiert werden.« (Hans J. Wulff: »Die signifikativen Funktionen der Farben im Film«, in: Kodikas/Code – Ars semiotica 11 [1988], Nr. 3-4, S. 363-376; hier: S. 366.)

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lich, daß das dominante Rot meist nicht allein auftritt, sondern in der Regel im Wechselspiel oder Seite an Seite mit der Farbe Blau. Schon in der Eröffnungssequenz tritt diese Farbopposition – Blödorn spricht davon, daß »dem Roten kontrapunktisch […] die Farbe Blau« entgegengesetzt werde1 – offensichtlich zutage: Während Christine einen roten Mackintosh trägt (Abb. 47, oben u. Abb. 87), hat ihr Bruder Johnny beim Spielen im Garten eine sportliche blaue Jacke an. Rot und Blau rücken gemeinsam ins Bild, wenn Johnny als ein Beobachter am Rande miterleben muß, wie sein Vater seine tote Schwester aus dem Wasser birgt. Als er zuvor mit seinem roten (!) Fahrrad über eine Glasscheibe gefahren ist, hat er sich beim Versuch, die Scherben aus dem Reifen zu entfernen, in den Finger geschnitten. Deutlich ist nun die blutende Wunde zu sehen (Abb. 88, oben). Abbildung 88: Blau als komplementärer Farbkontrast zu Rot

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

1

Blödorn 2008, S. 338.

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Vollkommen zu Recht hebt Blödorn hervor, daß sich die »dominante Opposition von Rot versus Blau […] nach der rahmenden Eingangssequenz in Venedig« fortsetzt, wobei Rot und Blau »ein farbliches Paar, das gemeinsam auftritt«, bilden.1 So trägt John bei seinen Spaziergängen durch Venedig einen rotgemusterten Schal zu seinem blauen Mantel (Abb. 88, unten). Letzteren trägt er auch, als es am Ende des Films zur fatalen Begegnung mit der Zwergenfrau in Rot kommt (Abb. 47, unten). Die Farben Rot und Blau bilden für Blödorn in DON’T LOOK NOW indes nicht nur einen Dualismus, sondern auch einen Antagonismus. Und er interpretiert diesen aus der Tradition einer christlichen Ikonographie: »Denn wie Himmel und Erde, Gut und Böse, sind beide Farbtöne nicht nur in der semantischen Tiefenstruktur des Films stets aufeinander bezogen, sondern deuten – wie im kulturellen Wissen verankert – in ihrem Zusammenspiel zugleich auf eine christlich-religiöse Heilsperspektive hin.«2 Gleichwohl läßt sich der Antagonismus von Rot und Blau auch unter anderen Vorzeichen lesen, die wieder auf die Relativitätstheorie als für Roeg wichtige ideengebende Referenzfolie verweisen.3 Gemeint ist hier, daß gemäß des Dopplereffekts, der die Beziehung zwischen Frequenz und Geschwindigkeit erfaßt, das Licht-Spektrum »von Sternen, die sich von uns fortbewegen, zum roten Ende hin verschoben (rot-verschoben) sind und daß die Sterne, die sich auf uns zubewegen, blau-verschobene Spektren ausweisen.«4 Edwin Hubble stieß bei seinen astro-

1

Ebd. – Daneben finden sich aber auch Beispiele für eine alleinige Dominanz der Farbe Blau. Auf eines verweist Leslie Dick: »Baxter’s bulbous pale blue eyes are implicitly linked […] to the huge blue eyes of the blind psychic.« (Dick 1997, S. 12.)

2

Ebd. – Ergänzend merkt Blödorn dazu an: »In der christlichen Ikonographie des Abendlandes bezeichnet der ›Farbakkord‹ Rot und Blau traditionell die Kleiderfarben von Maria (und Jesus), wobei Maria häufig ein blauer Mantel und ein rotes Gewand zugewiesen wird […]. […] DON’T LOOK NOW aktualisiert diese religiöse Konnotation des Farbakkords Rot-Blau […].« (Ebd., S. 350, Anm. 17.)

3

Auch Blödorn weist darauf hin, daß lediglich die Naturwissenschaften allgemeingültige »Strukturierungssysteme für Farben« bereithalten. Aus linguistischer und anthropologischer Perspektive sei die Farbsemantik kultur- und sprachabhängig (ebd., S. 323). Er hat dabei den Gedanken des Linguisten Louis Hjelmslevs im Sinn, »daß die Welt der Farben aus der Sicht der vielen Sprachen, durch die sie unterschiedlich bezeichnet werden, amorph ist, denn jede Sprache gliedert das Farbspektrum auf eigene Weise. Die semiotisch noch unstrukturierte Inhaltsmaterie der Farben ist jedoch durch andere Wissenschaften, etwa die Physik bzw. die Optik, ganz unabhängig von der Semiotik strukturiert, denn das chromatische Spektrum der Optik ist nach Gesetzmäßigkeiten strukturiert, die physikalischer und nicht semiotischer Natur sind.« (Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 83.)

4

Hawking 1988, S. 57.

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nomischen Forschungen in den 1920er Jahren darauf, daß in der Mehrzahl der Galaxien eine Rotverschiebung vorliegt. Das bedeutet: »Sie bewegen sich alle von uns fort!«, wie Stephen Hawking mit Nachdruck hervorhebt und darauf verweist, daß dies ein Beweis für die Expansion des Universums sei.1 Unter Berücksichtung von Roegs Interesse für die Relativitätstheorie kann man in der Dominanz roter und blauer Objekte in seinen Filmen einen weiteren Beleg für eine narrative Textur sehen, die eher zum dynamischen Auseinanderdriften neigt, als daß sie sich durch einen festen und statischen Zusammenhang auszeichnet.

2) E IN M OSAIK

AUS

Z ITATEN UND V ERSATZSTÜCKEN

Einer Auffassung, daß Rot und Blau im Sinne kosmologischer Rot- und BlauVerschiebungen selbstbezüglich auf ein Auseinanderdriften der filmischen Textur, mindestens aber auf deren dynamische Struktur verweisen, steht indes entgegen, daß der Rot-Blau-Antagonismus nicht nur in DON’T LOOK NOW ein massiv präsentes Element darstellt, sondern sich durch den Kanon der Roegschen Filme hindurchzieht. Er stellt jedoch anders als Spiegel und Doppelgänger nicht nur eine motivische, sondern eine strukturelle Konstante dar, die dem filmischen Werk Roegs gewissermaßen einen inneren Zusammenhalt gibt. Abbildung 89: Rot-blaue Farbkontraste – Newton am Bootssteg

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

Eine Auflistung wann und wo die Farben Rot und Blau in Roegs Filmen, sei es allein, sei es im Zusammenspiel, auftauchen, würde sich über Seiten erstrecken. So

1

Ebd., S. 58. – Hubbles Entdeckungen lieferten Hawking zufolge den Beweis dafür, daß das Universum eben nicht statisch sei, was dann von Alexander Friedmann auf Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie auch mathematisch erklärt wurde (ebd., S. 58f.); vgl. hierzu auch III 3) c).

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sollen an dieser Stelle zwei einschlägige Beispiele genügen: Nachdem sich Newton in THE MAN WHO FELL TO EARTH Mary-Lou in seiner wahren Gestalt gezeigt hat, steht er wieder als Mensch mit roten Haaren am Bootssteg, an dem ein Blaulicht angebracht ist (Abb. 89). Eine blaue Leuchte setzt auch Fitch (Bryan Brown) in Roegs TV-Film FULL BODY MASSAGE (1995) in eine Lampe ein, als er Nina (Mimi Rogers) einer Ganzkörpermassage unterzieht, tauscht dann aber im Verlauf der Sitzung, in der auch blaue und rote Seidentücher zum Einsatz kommen, die Glühlampe gegen eine rote aus (Abb. 90). Abbildung 90: Fortgesetzte Farbkontraste – blaues Licht und rote Tücher

FULL BODY MASSAGE (Nicolas Roeg, 1995)

Das Zusammenspiel von Rot und Blau ist nur eines aus einer ganzen Reihe von, wie es Neil Feineman formuliert, »subtly related elements that, when taken together, give the movies their visual consistencies and identities.«1 Roegs Filme gleichen in dieser Hinsicht einem Mosaik, wie es John Baxter in DON’T LOOK NOW zu rekonstruieren versucht: anders als bei einem Puzzle, in dem jedes Teil sich in das andere fügt und somit in der Gesamttextur seinen festen Platz hat, ergibt sich die finale Form des Mosaiks erst aus der Zusammensetzung kleiner Steine, die sich prinzipiell in eine beliebige Anordnung bringen lassen können.

1

Feineman 1978, S. 139.

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a) ›Roeg-Konstanten‹ und antitransparente Selbstbezüge Der Rot-Blau-Antagonismus, der sich in einem Großteil von Roegs Filmen finden läßt, stellt nicht nur deutlich die Handschrift des Regisseurs aus, der seine Verbundenheit mit dem französischen Kino der Nouvelle Vague signalisiert,1 sondern er bindet seine Filme auch immer wieder an seinen wohl bekanntesten und erfolgreichsten Film zurück: DON’T LOOK NOW erscheint dabei gleich in mehrfacher Hinsicht als eine werkinterne Referenzfolie. So dient der Film zunächst als ein thematischer Ankerpunkt, an dem spätere Filme Roegs anknüpfen. Pam Cook beispielsweise hebt hervor, daß CASTAWAY einen Vergleich mit DON’T LOOK NOW herausfordere und führt als Begründung an: »Both films feature a couple in extremis seeking an unobtainable romantic ideal: in both, water imagery serves to connect desire and death […].«2 Neben inhaltlichen sind es also besonders motivische Parallelen, die beide Filme miteinander verbinden. Gleiches gilt Scott Salwolke zufolge für COLD HEAVEN: »The similarities between this film and DON’T LOOK NOW are obvious: the apparition which both protagonists try to deny, the death associated with water, and the religious symbolism which runs through the film.«3 In beiden Fällen muß aber der Vergleich zum Nachteil der jüngeren Filme gereichen. So hebt auch Cook hervor, daß sich CASTAWAY qualitativ nicht mit seinem Vorbild messen lassen könne: »But where DON’T LOOK NOW was deeply disturbing, successfully using the framework of the fantastic and refusing to refer to reality to explain the inexplica-

1

Ein solches Spiel mit den Farben Rot und Blau findet sich auch bei Jean-Luc-Godard, etwa in LE MÉPRIS (1963), von dem Hans C. Blumenberg als einem »Film in Blau und Rot« spricht (Hans C. Blumenberg: »Film in Blau und Rot: Godards ›Verachtung‹«, in: Die Zeit, Nr. 14, 31.03.1978, S. 48). Auch in in PIERROT LE FOU (1965) wird dieses Spiel mit den beiden Farben augenscheinlich, so wenn Marianne (Anna Karina) ein rotes Kleid trägt oder Ferdinand ›Pierrot‹ Griffon (Jean-Paul Belmondo) mit blau angemaltem Gesicht und rotem Hemd auftritt. Nicholas Paige, der neben Rot und Blau auch Gelb als Teil einer Farbtriade in LE MÉPRIS auffaßt, spricht dieser weniger eine symbolische, als vielmehr eine wahrnehmungssteuernde Bedeutung zu: »it is impossible to forget that these colors are not natural.« (Nicholas Paige: »Bardot and Godard in 1963 [Historicizing the Postmodern Image]«, in: Representations 88 [2004], Nr. 1, S. 1-25; hier: S. 11.) Paul J. Sharits verweist auf die Dominanz von Rot und Blau nicht nur in LE MÉPRIS, sondern auch in UNE FEMME EST UNE FEMME (1961) und hebt hervor: »These stylized, symbolic color values are more than likely formalizations of direct sensual experience, formalizations based upon relationships of hue sensation and inner emotional states […].« (Paul J. Sharits: »Red, Blue, Godard«, in: Film Quarterly 19 [1966], Nr. 4, S. 24-29; hier: S. 25.)

2

Cook 1987, S. 42 (Herv. i.O.).

3

Salwolke 1993, S. 187.

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ble, CASTAWAY’s scenario is hampered by the unavoidable intrusion of the real […].«1 Die Rahmenstruktur von DON’T LOOK NOW, von der Cook spricht, ist dabei insbesondere gekennzeichnet von einer Vielzahl interner und externer Bezüge, die zur Komplexität der filmischen narrativen Textur beitragen. Diesen Punkt sprechen auch James Palmer und Michael Riley an und führen dazu aus: »In the complexity of its images and their suggestive if ambiguous correspondences, what the film’s narration does […] is provide an almost overwhelming array of associations among details in the images as well as individual shots and whole sequences. Multiple (sometimes competing) codes are invoked that must be sorted through in the process of interpretation.«2

Auch Leslie Dick verweist auf die Dichte der Referenzen in DON’T LOOK NOW, von denen einige in kürze noch im Detail angesprochen werden sollen, und sieht darin eine Einladung an den Zuschauer, diese zu erkennen und zu entschlüsseln: »One of the real pleasures of this film, as with others by Roeg, lies in the details […]. Insignificant details become meaningful, and DON’T LOOK NOW is full of peripheral characters […].«3 Gerade die Figurenbesetzungen – und zwar nicht nur die der Neben-, sondern auch und vor allem der Hauptfiguren – sind es, in denen das anspielungsreiche Spiel mit dem Zuschauerwissen am deutlichsten zutage tritt und sich mit einer Enttäuschung von Erwartungshaltungen mischt. So besetzt Roeg in gleich drei seiner Filme die männliche Hauptrolle nicht mit einem professionellen Schauspieler, sondern mit einem Musiker bzw. Sänger. Man kann hierin wiederum eine der typischen ›Roeg-Konstanten‹ erkennen. Roeg, der verschiedentlich auf seine Zusammenarbeit mit Musikstars angesprochen wurde, begründet seine Besetzungsentscheidung dabei vor allem mit der besonderen Qualität ihrer Darstellung: »[…] I think rock stars see their performance a different way.«4 Es ist der Aspekt der Darstellung, der ›performance‹, an dem Roeg gelegen ist: »There’s a very fine line between actor and performer. Performers have to have an extraordinary gift of projection or personality«, ist sich der Regisseur sicher.5 So hebt er über Mick Jagger, den Frontmann der Rolling Stones, in der Rolle von Turner in PERFORMANCE hervor: »He is a performer and you know that PERFORMANCE wasn’t called PERFORMANCE right from the

1

Cook 1987, S. 42.

2

Palmer/Riley 1995, S. 28.

3

Dick 1997, S. 13.

4

Norman 1983, S. 64.

5

Roeg 2013, S. 119f.

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very beginning.«1 In der Tat scheint der Film von Roeg und Cammell mehr als einmal zu bestätigen, was John L. Austin, der den Begriff des ›Performativen‹ geprägt hat, darunter versteht, nämlich, daß mit sprachlichen Äußerungen Handlungen vollzogen werden.2 Wie Erika Fischer-Lichte darlegt, habe Austins Konzept des Performativen zu einer Destabilisierung »dichotomischer Begriffspaare wie Subjekt/Objekt oder Signifikat/Signifikant« geführt.3 Im Falle von PERFORMANCE sind es ebenfalls dichotomische Begriffspaare, die obsolet erscheinen, nämlich insbesondere der Gegensatz männlich-weiblich, der sich im androgynen Äußeren Turners, wie er von Jagger verkörpert wird, manifestiert. Gleiches gilt für David Bowie in THE MAN WHO FELL TO EARTH.4 So schriebt Richard Eder über die Besetzung: »Mr. Roeg has chosen the garish, translucent, androgynous-mannered rock-star, David Bowie, for his space visitor. The choice is inspired.«5

1

Lifflander/Shroyer 1976, S. 34. – Ganz ähnlich äußert sich Roeg über David Bowie: »[…] he wasn’t an actor, he was a performer – but he was extraordinary.« (Roeg 2013, S. 117.)

2

Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Übers. v. Eike von Savigny. Bibliograph. erg. Ausg. Stuttgart: Reclam 2002, S. 30.

3

Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 33.

4

Auf die körperliche Ambiguität kommt auch Joachim Hausschild zu sprechen: »[…] David Bowie: der ›erste synthetische Rock-Star‹, hier als Nur-Schauspieler zu sehen, wird mit seiner Rolle eins: hypersensibel, bleich, blond und hohlwangig, zwitterhaft und hinfällig spielt er keinen Menschen, sondern ein Wesen […].« (Joachim Hauschild: »Wenn einer vom Himmel fällt«, in: Münchner Merkur, Nr. 192, 20.08.1976, S. 7.) – Dazu paßt, daß Roeg von einer noch nicht gefestigten Identität der Sänger als Schauspieler ausgeht: »What I love about the other actors – the non-actors, the singers – is that they do not know who they are yet.« (Kennedy 1980, S. 26; Herv. i.O.) – Für die Rolle Newtons hatte Roeg im übrigen zunächst einen anderen Darsteller vorgesehen, wie Bowie im PlayboyInterview vom September 1976 verrät: »He had Peter O’Toole cast, but he couldn’t do the film. And I believe the editor of the film advised Nick to watch the documentary about me, CRACKED ACTOR, that was on the BBC. Nick watched it and I guess it was my attachment to Ziggy, the alter ego, that captured his interest and imagination. And my looks helped, too. Roeg wanted a definite, pointedly stark face – which I had been endowed with.« (»Playboy Interview: David Bowie. An Outrageous Conversation with the Actor, Rock-Singer and Sexual Switch-Hitter«, in: Playboy 23 [1976], Nr. 9, S. 57-72; hier: S. 72.) – Zur Besetzung der Rolle mit David Bowie vgl. auch Roeg 2013, S. 116f.

5

Eder 1976, a.a.O. – Der Eindruck einer perfekten Besetzung findet Bestätigung durch Nicolas Roeg, der der Auffassung ist, daß im Fall Bowies Schauspieler und Figur miteinander verschmelzen: »I really came to nelieve that Bowie was a man who had come to Earth from another galaxy, he brought with him a trailer full of books and things; he

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Fischer-Lichte weist in ihrer maßgeblichen Studie zur Ästhetik des Perfomativen auf die Rolle der Körperlichkeit von Künstlern in ihren Aufführungen hin und betont unter Verweis auf Helmuth Plessner die »Spannung zwischen dem leiblichen In-der-Welt-Sein des Schauspielers und seiner Darstellung einer Figur«.1 Gerade diese Spannung zwischen der Figur und ihrem Darsteller ist es, auf die Roeg in seinen Besetzungen mit Musikern besonders zielt. Er selbst merkt dazu an: »What I find interesting about singers […] is that they have all the qualities of performers but they’re untouched in terms of acting.«2 Was er damit meint, führt er genauer am Beispiel von Art Garfunkel aus, der in BAD TIMING Alex Linden spielt, und der trotz gelegentlicher Filmrollen bis heute maßgeblich als der Sänger an der Seite von Paul Simon bekannt ist: »I think Art is extraordinarily good in BAD TIMING and I remember people at the time saying that they couldn’t quite see him in the role. It was rooted in their heads that he was not an actor. It’s that box that people would like everybody else to be in. It’s very difficult to defeat.«3 Es ist dieser Klassifizierungsgedanke des Publikums, den Roeg mit seinen Besetzungen zu untergraben sucht. So betont er anläßlich von THE MAN WHO FELL TO EARTH: »That’s again what’s extraordinary about David. As an artist he can’t be classified. He can’t be singled out, ah, this is Bowie because that’s the way he always does that. He never does the same thing twice, he never appears the same way twice.«4 Diese Einschätzung Roegs scheint auch eine Feststellung Georg Seeßlens zu bestätigen, der zu Bowie als Schauspieler ausführt: »Asymmetrie ist das erste Merkmal seiner Rollen, Asymmetrie zwischen dem Star und seiner Darstellung, Asymmetrie zwischen der Wirkung in der Quantität seines Auftritts, Asymmetrie aber auch in der Plot-Konstruktion.«5 Daß Bowie ein Darsteller ist, der sich in keine Schublade zwängen läßt, steht dabei im Spannungsverhältnis zur Tatsache, daß wir in der Figur zugleich auch immer ihren Darsteller sehen – im Falle von Bowie, der in seinem Lied »Space Oddity« (1969; wiederveröffentlicht 1973) und dem dazu-

hardly mixed with anyone at all. He seemed to be alone, which is what Newton is in the film – isolated and alone. I can’t imagine now anyone else in the part. David Bowie is Thomas Newton.« (Roeg 2013, S. 118f.) 1

Fischer-Lichte 2004, S. 130. – Vgl. auch: Helmuth Plessner: »Zur Anthropologie des Schauspielers«, in: ders., Ausdruck und menschliche Natur. Hg. v. Günther Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982 (= Gesammelte Schriften; 7), S. 399-418.

2

Kennedy 1980, S. 26.

3

Norman 1983, S. 64.

4

Lifflander/Shroyer 1976, S. 36.

5

Georg Seeßlen: »Ein Gott auf Durchreise. Bowies Movie«, in: Schnitt – Das Filmmagazin 31 (2003), Nr. 3, S. 18-21: hier: S. 19.

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gehörigem Musikvideo bereits die Rolle des Major Tom eingenommen und damit zwar keinen Außerirdischen, aber doch einen ›Sternenjungen‹ verkörpert hatte.1 So konstatiert auch William F. van Wert mit Blick auf jene Szene, in der Newton einen Ring verkaufen will und sich mit einem Reisepaß als Brite ausweist (Abb. 18, unten): »And we take him at his word, for, even though his statement is a ›lie‹ within the film, it’s obviously true outside the film. Tommy Newton is always David Bowie as well.«2 Auch Seeßlen zeigt sich überzeugt: »Natürlich kann jemand wie Bowie nichts anderes als ein Selbstzitat vor der Kamera sein«, fügt allerdings ergänzend hinzu: »Aber in seinen guten Filmen ist er immer ein entscheidendes Stück mehr.«3 Am Ende von THE MAN WHO FELL TO EARTH freilich scheinen Figur und Darsteller vollends zu verschmelzen, wenn Thomas Jerome Newton zum Musikstar wird: Als Mittel zur Kommunikation mit seiner Familie auf seinem Heimatplaneten hat er ein Plattenalbum mit dem Titel »The Visitor« aufgenommen (Abb. 91, oben).4 Doch der Zuschauer, der erwartet, daß nun, wie schon zuvor in PERFORMANCE, der Musikstar endlich in Aktion zu erleben ist, wird bitter enttäuscht: wir bekommen keinen Laut von Newtons/Bowies Gesang zu hören: Bryce, der in einem Plattengeschäft probeweise in das Album hineinhört, trägt Kopfhörer, und der Film enthält uns vor, was aus diesen erklingt. Nur einmal ist Tommy zu sehen, wie er von Mary-Lou in einen Gottesdienst mitgenommen und zum Mitsingen aufgefordert wird, was ihn reichlich Mühe kostet: mehr als ein Krächtzen ist nicht zu vernehmen (Abb. 91, unten).

1

In den Songs »Ashes to Ashes« (1980) und »Hallo Spaceboy« (1995) greift Bowie die Figur des Major Tom wieder auf.

2

William F. van Wert: »Film as Science Fiction. Nicolas Roeg’s ›The Man Who Fell to Earth‹«, in: Western Humanities Review 33 (1979), Nr. 2, S. 141-148; hier: S. 143. – Daß Musiker-als-Schauspier und Figur nie ganz auseinanderzuhalten sind, ist ein Punkt, auf den auch Carsten Bergemann verweist: »Durch die Besetzung David Bowies in der Rolle des Außerirdischen öffnet Roeg sein filmisches Universum und verweist ganz konkret auf die Lebenswirklichkeit des Zuschauers: Bowie ist Teil einer gesellschaftlichen Struktur, in der Menschen nur noch durch ihre Abbilder repräsentiert werden. Als Popstar ist sein Abbild unendliche Male verfügbar, und doch ist er dadurch für niemanden existentiell erfahrbar.« (Bergemann 2004, S. 103.)

3 4

Seeßen 2003, S. 20. Zu dieser Feststellung gelangt auch van Weert: »And Tommy Newton finally becomes David Bowie, recording albums.« (van Weert 1979, S. 143.)

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Abbildung 91: »The Visitor« (David Bowie als Nicht-Sänger)

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

In BAD TIMING ist es erst recht unvorstellbar, daß Art Garfunkel zu einem Lied anstimmen könnte:1 Alex Linden erscheint nicht gerade wie ein Charakter, der zum Singen aufgelegt ist. Er macht den Eindruck eines eher biederen Wissenschaftlers und Theoretikers – »I’m a research psychoanalyst«, hebt er hervor, als Netusil nach seinem Fachgebiet fragt –, ein Charakterzug, den Roeg durchaus durch den biographischen Hintergrund Garfunkels gedeckt sieht: »He’s an actor as well as a singer and actually he’s a mathematician. He lectures at NYU. Rather an academic chap.«2 Wie aus Roegs Äußerung hervorgeht, war Garfunkel, anders als zur Zeit des jewei-

1

Angesichts von BAD TIMING spekuliert auch Tom Buckley, daß es Roeg bei seinen Rollenbesetzungen mit Sängern weniger um deren musikalischen, als um ihre performativen Qualitäten geht: »BAD TIMING is the third of Mr. Roeg’s films in which someone best known as a singer has been cast in a nonsinging lead role. As the director sees it, singers, particularly in the rock and pop idiom, must be expert performers, generating high energy, and this is just a step away from what he will be wanting them do.« (Tom Buckley: »At the Movies: The Man Behind ›Bad Timing‹«, in: The New York Times, 19.09.1980, S. C6.)

2

Crawley 1980, S. 395.

352 | KINO DER UNORDNUNG

ligen Films Jagger und Bowie, dem Publikum durchaus auch als Schauspieler bekannt. Vor BAD TIMING hatte er in zwei Filmen von Mike Nichols mitgewirkt: Neben einem Part in CATCH-22 (1970) spielt er in CARNAL KNOWLEDGE (1970) an der Seite von Jack Nicholson. Nicholson und Garfunkel schlüpfen hier in die Rollen von zwei jungen Männern, die sich als Zimmergenossen in ihrer Collegezeiten kennenlernen; der Film begleitet beide über einen Zeitraum von 25 Jahren bei ihren diversen sexuellen Abenteuern und Beziehungen mit Frauen. Wohl nicht zu Unrecht schließt Stuart Cunningham daraus: »Art Garfunkel’s Linden is a development of his role in Nichols’ CARNAL KNOWLEDGE.«1 Art Garfunkel in BAD TIMING ist also nicht nur der Sänger, sondern auch immer der Schauspieler, der mit sexuell aufgeladenen Rollen in Verbindung gebracht wird.2 In der Summe bedeutet all dies: Indem Roeg in mehreren seiner Filme die Hauptrolle mit Musikern besetzt, spielt er geschickt mit der Erwartung der Zuschauer wie auch mit der Starpersona.3 Abbildung 92: Donald Sutherland als Lars Richard

PUFFBALL (Nicolas Roeg, 2007)

1 2

Cunningham 1982, S. 110. Im Englischen wird der Begriff ›carnal knowledge‹ heutzutage hauptsächlich im juristischen Kontext als Bezeichnung für Geschlechtsverkehr verwendet (vgl. Art. »carnal, adj.«, in: Oxford English Dictionary. Third Edition [June 2010]. OED Online Version September 2013, http://www.oed.com/view/Entry/28064?isAdvanced=false&result=4&r skey=9Fm5B1& [30.09.2013]).

3

Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Carsten Bergemann, der argumentiert, »dass Roegs Interesse nicht primär der Anwesenheit von Musikern und Musik in seinen Filmen gilt. Vielmehr ist es das Image der Stars, die öffentliche Selbstinszenierung, die mediale Präsenz seiner Darsteller, die den gespielten Charakteren als Zusatzinformation anhaftet, die Roeg in den Mittelpunkt seiner Filme stellt.« (Bergemann 2004, S. 96.)

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Doch es ist nicht nur die Besetzung mit Rock- und Popstars, die in Roegs Filmen eine Konstante darstellt, die einerseits das Werk zusammenhält und andererseits im Zuschauer bestimmte Erwartungen weckt, die dann aber doch enttäuscht werden. Auch das ›Wiederauftauchen‹ von Hauptdarstellern aus seinen früheren Filmen als Nebendarsteller in seinen späteren kann als eine solche Konstante betrachtet werden – konkret in zwei Fällen: In PUFFBALL ist es Donald Sutherland, der in DON’T LOOK NOW John Baxter verkörperte, der hier Liffeys Boss Lars Richard spielt (Abb. 92). Der werkinterne intertextuelle Bezug wird noch dadurch ergänzt, daß Lars Richard bei einem seiner Besuche bei Liffey ein blaues Hemd, einen blauen Pullover und eine blaue Jacke sowie – wie könnte es anders sein – eine rote Krawatte trägt. Eine Wiederbegegnung gibt es auch in Roegs TV-Film HEART OF DARKNESS, wenn Marlow in dem kongolesischen Dorf eintrifft, in dem sein Boot für ihn bereitliegen soll. Er will mit dem verantwortlichen Hauptverwalter Gosse sprechen – und dieser wird von niemandem anders gespielt als von James Fox (Abb. 93). Zehn Jahre zuvor hatte Fox bereits in einem anderen ›Kolonialismus-Film‹ eine prominente Rolle übernommen: den Schuldirektor Richard Fielding in A PASSAGE TO INDIA (1984). Es war die zweite Rolle, die Fox nach einer achtjährigen Abstinenz von der Schauspielerei übernommen hatte.1 Zugleich ist die Adaption des gleichnamigen Romans von E.M. Forster (1924) das letzte Werk David Leans. Abbildung 93: Wiederbegegnung mit James Fox

HEART OF DARKNESS (Nicolas Roeg, 1993)

1

In der der Folge von PERFORMANCE hatte sich Fox von der Schauspielerei zurückgezogen und der evangelikalen Missionsbewegung der Navigatoren angeschlossen (vgl. MacCabe 1998, S. 63 u. Buck 2012, S. 289).

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Lean kann in vielerlei Hinsicht als der Antipode zu Roeg betrachtet werden – bzw. (im Sinne der historischen Chronologie) umgekehrt: Roeg steht in deutlicher Abgrenzung zu einer dominanten Form des englischen Kinos, wie sie von David Lean repräsentiert wird, und die sich an den Maßstäben des klassischen, realistischen Films orientiert.1 Nicht nur Dominik Graf betont: »David Lean war schon immer Roegs Gegenmodell.«2 Auch Neil Sinyard hebt hervor: »In a way, Lean and Roeg represent the two extremes of British film artistry: between a tasteful, restrained, literary sensibility on the one side, and fire, poetry and passion on the other.«3 Dabei war Roeg bei Leans LAWRENCE OF ARABIA (1962) noch als Second-UnitKameramann tätig, doch schon bei DOCTOR ZHIVAGO (1965) kam es nach kurzer Zeit zum Zerwürfnis zwischen beiden, so daß Roeg das Set verließ und im Abspann nicht genannt wird.4 Ästhetisch wie narrativ stellt für Neil Sinyard DON’T LOOK NOW das deutlichste Beispiel dar, wie sehr die beiden Regisseure auseinanderliegen, wenngleich er in Roegs Film auch eine implizite Bezugnahme auf Leans BRIEF

1

So ordnet etwa auch Neil Sinyard Leans Filme »in the traditional style of humanist realism and classical restraint« ein (Sinyard 1991, S. 54).

2

Graf 2007, S. 39.

3

Sinyard 1988, S. 251.

4

In seinen autobiographischen Aufzeichnungen äußert sich Roeg ausführlich zu den Differenzen mit David Lean und die Gründe für seinen Rausschmiß bei DOCTOR ZHIVAGO. Lean soll wohl angenommen habe, daß Roeg über ihn gelästert und ihn als altmodisch bezeichnet habe (vgl. Roeg 2013, S. 135f.). Daraufhin wurde er durch Freddie Young ersetzt: »It didn’t come as that giant a surprise – it was a big disappointment, but I was moving away into other thoughts about film«, erläutert Roeg und fährt fort: »I wanted to make my own films, I wanted to be further into my own thoughts on the whole art of movies.« (Ebd., S. 139.) Nachdrücklich hebt Roeg den Starrsinn des älteren Regisseurs hervor, wenn es um alternative Ansätze und kollegiale Ratschläge ging: »Lean didn’t take kindly to any sort of structural or production suggestion.« (Ebd., S. 133.) Hierin habe letztlich auch der Grund für das Zerwürfnis gelegen: »[…] once you didn’t agree with him, the shutters came down. It was very difficult to seduce him to a thought of yours – the films were certainly nobody else’s but Lean’s.« (Ebd.) Dabei klingt durchaus eine gewisse Wehmut auf Seiten Roegs mit an, wenn er berichtet: »We became friends again towards the end of his life, it was OK, but there’s a time for coming and a time for going, as there is in all things. And we’d had our time.« (Ebd., S. 137.) Schließlich zollt Roeg trotz aller künstlerischer Differenzen Lean durchaus seinen Respekt und erkennt ihn in gewisser Weise sogar als Vorbild an: »The thing I love about Lean’s work, the aspect of him that I thought was terrific – he loved a small story in a huge landscape, and that’s an unusual thing because we often fall into the trap of stuffing a huge landscape full of bits and pieces.« (Ebd.)

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ENCOUNTER (1945) sieht: »Is it accidental that Laura in DON’T LOOK NOW (whose name, incidentally, is the same as Lean’s heroine) meets the two sisters exactly the same way that Celia Johnson meets Trevor Howard in BRIEF ENCOUNTER – grit in the eye? (It is not that way in the du Maurier story.)«1 Gleichwohl könnten die Filme unterschiedlicher nicht sein: »DON’T LOOK NOW is, in many ways, a defiant repudiation of the David Lean tradition. It is full-blooded, violent, unrestrained. It shows the limits of rationalism and civilisation.«2 Das ›klassische‹ Kino, wie es von David Lean und seinen Filmen repräsentiert wird, zeichnet sich wesentlich durch seine Transparenz aus, d.h., es ist bemüht, die Gemachtheit des Films zu kaschieren und alle Anzeichen von Künstlichkeit zu eliminieren (vgl. II 3) b)). Roegs Filme dagegen stellen ihre Gemachtheit und Künstlichkeit offen aus. Sie stellen damit gemäß der Definition Patricia Waughs metafiktionale Werke dar: »Metafiction is a term given to fictional writing which self-consciously and systematically draws attention to its status as an artefact in order to pose questions about the relationship between fiction and reality. In providing a critique of their own methods of construction, such writings not only examine the possible structures of narrative fiction, they also explore the possible fictionality of the world outside the literary fictional text.«3

Was Waugh mit Bezug auf die Literatur feststellt, läßt sich leicht auf den Film übertragen. Und Roegs Filme sind ein deutliches Beispiel für filmische Erzählungen, die die Methoden ihrer eigenen Konstruktion ausstellen. In dieser Hinsicht stellen sie selbstreflexive Filme dar. »Selbstreflexiv ist ein Film, der eine oder mehrere seiner Konstituenten thematisiert«, bietet Kay Kirchmann als Basisdefinition an und faßt als Reflexivität den Prozeß auf, durch den ein Film auf seine Produktion, seine Autorschaft, seine intertextuellen Einflüsse, seine Rezeption, seine Ausdrucksweise bzw. Enunziation und seine Artifizialität hinweist.4 Es sind insbeson-

1

Sinyard 1991, S. 53. – Sinyard zieht daraus den Schluß: »It would not be the first Roeg movie to allude to, but also subvert the David Lean tradition.« (Ebd., S. 53f.)

2 3

Sinyard 1988, S. 249. Patricia Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London/New York: Methuen 1984, S. 2 (Herv. i.O.).

4

Kay Kirchmann: »Zwischen Selbstreflexivität und Selbstreferentialität. Überlegungen zur Ästhetik des Selbstbezüglichen als filmische Modernität«, in: Film und Kritik 2 (1994): Selbstreflexivität im Film, S. 23-37; hier: S. 24. – Als eine Sonderform der Selbstreflexivität faßt Kirchmann die Selbstreferentialität auf. Diese schließe, anders als die Selbstreflexivität, jegliche Fremdreferenz aus. Selbstreferentiell wäre demnach ein Film, der keinen Referenten mehr an ein wie auch immer geartetes ›Außerhalb‹ des filmischen

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dere diese intertextuellen Einflüsse, die Roegs Filme zum Teil unmißverständlich und im wahrsten Sinne des Wortes ausstellen. b)

»A tale… signifying nothing« – Filme, Bücher und andere Zitatanspielungen

»Unusually, Roeg also indulges himself in bits of self-reference, hanging posters of George Harrison and David Bowie on the teenage Linda’s bedroom walls«, schreibt Tim Lucas über TRACK 29.1 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß selbstreferentielle Anspielungen in Roegs Filmen ebensowenig ungewöhnlich sind wie Bezüge auf eine außerfilmische Wirklichkeit. Dergleichen zitathaften Anspielungen treten bei ihm sogar in einer solchen Fülle auf, daß sie John Izod als ein Beleg für »the characteristic symbolic excess of Roeg’s cinema« dienen.2 Auch dies ist eine Roeg-

Kontextes mehr erkennen läßt, für den kein mimetisches Prinzip mehr konstitutiv ist (ebd., S. 28). Dies sei kennzeichnend für den postmodernen Film: »Die Postmoderne zitiert nur noch die moderne Selbstreferentialität.« (Ebd., S. 34; Herv. i.O.) Damit erweist sich die Postmoderne als eine Metareferenz der Moderne. Kirchman schließt daraus: »Selbstrefrentielle Filme wären also solche, die die historisch generierte Selbstbezüglichkeit des Ästhetischen in der Moderne zum Objekt der filmischen Repräsentation erheben.« (Ebd., S. 37; Herv. i.O.) Roegs Filme sind in dieser Hinsicht deutlich selbstreferentiell und das heißt in der Folgerung modern, und eben nicht postmodern. – Dagegen steht die Unterscheidung von Gloria Withalm: ihr zufolge verweisen selbstreferentielle Filme auch auf den Film bzw. das Zeichensystem Film an sich. Selbstreflexiv wiederum sind Filme, die in bestimmten Momenten tatsächlich sich selbst thematisieren, womit die Aufmerksamkeit des Zuschauers mit verschiedenen filmischen Mitteln auf den Film selbst gelenkt werde (vgl. Gloria Withalm: »Der Blick des Films auf Film und Kino. Selbstreferentialität und Selbstreflexivität im Überblick«, in: Michael Latzer [Hg.], Die Zukunft der Kommunikation. Phänomene und Trends in der Informationsgesellschaft. Innsbruck/Wien: Studien-Verlag 1999, S. 149-160). Letzteres trifft auf die Filme Roegs wahrlich nicht zu. 1 2

Tim Lucas: »Emotional Train Wreck«, in: Sight & Sound (n.s.) 22 (2012), Nr. 4, S. 88. Izod 1992, S. 208. – Izod spricht an dieser Stelle von »motifs and dislocated images«, meint damit aber zitathafte Anspielungen und insbesondere Bildzitate. – Als kunstwissenschaftlicher Terminus bezeichnet das Bildzitat »die Verwendung von Motiven aus (bekannten) Kunstwerken in neuem Zusammenhang« (Wetzel 2007, S. 64). Wenngleich dies zum Teil auf die Filme Roegs durchaus zutrifft, so meint hier Bildzitat aber auch und besonders die im medienrechtlichen Sinne vollständige Abbildung ganzer Bilder bzw. Abbildungen in Form eines Großzitats (vgl. Hans-Jürgen Homann: Praxishandbuch Filmrecht. Ein Leitfaden. 3., aktual. Aufl. Berlin/Heidelberg: Springer 2009, S. 54).

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Konstante, die den Filmen die Handschrift des Regisseurs verleiht und zugleich zum Zusammenhalt des Werks beiträgt. Letzteres gilt besonders für solch selbstbezügliche Anspielungen wie das von Lucas angeführte Bowie-Poster in TRACK 29, das natürlich dem Zuschauer auch in Erinnerung zu rufen vermag, daß Bowie der Hauptdarsteller in einem früheren Film Roegs war. Tatsächlich zitiert sich Roeg mehrfach selbst, unter anderem mit dem erwähnetn Rot-Blau-Antagonismus. Abbildung 94: Zwillingsschwestern als Doppelgänger

PUFFBALL (Nicolas Roeg, 2007)

Apropos Rot: Wenn in PUFFBALL zwei kleine Mädchen – offensichtlich Zwillingsschwestern (Abb. 94) – in roten Regenjacken zu sehen sind, dann verweist dies natürlich auf Christine und ihren mordenden ›Doppelgänger‹ in DON’T LOOK NOW. Die Eingangssequenz des letztgenannten Films wird wiederum in Erinnerung gerufen, wenn Newton auf seiner Autofahrt durch New Mexico aus dem Fenster seines Wagens blickt und ein weißes Pferd vorbeigaloppieren sieht: zu Beginn von DON’T LOOK NOW galoppiert ebenfalls ein weißes Pferd durch den Garten, in dem Christine und Johnny spielen. Izod deutet das Pferd in der Eingangssequenz als einen Psychopompos, einen Führer der Seelen der Verstorbenen ins Jenseits: »For although the horse is a figure charged in myth with a variety of powerful associations, one which recurs in a number of forms shows it a psychopomp leading the souls of the dead to the other world.«1 Markus Stiglegger erinnert es an ein Einhorn; es evoziere das Bild einer »irrealen Märchenatmosphäre«, wodurch »der Traumcharakter des Films offenbar« werde.2 Joseph Lanza wiederum sieht im weißen Pferd ein Zeichen

1

Izod 1992, S. 72 (Herv. i.O.).

2

Stiglegger 2006, S. 33f.

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der Unschuld.1 Jenseits dieser Deutungsversuche ist das Entscheidende allerdings, daß das weiße Pferde auch in anderen Filmen Roegs als DON’T LOOK NOW und THE MAN WHO FELL TO EARTH zu sehen ist. Es taucht, wie John Izod aufzählt, erneut als weißes Einhorn in BAD TIMING und als ein Karussellpferd in TRACK 29 auf.2 Und ergänzen ließe sich das weiße Pferd in den Straßen Bukarests in TWO DEATHS, das erschossen wird. Izods Deutungsversuch des Pferds als die mythologische Gestalt des Psychopompos verweist indes bereits darauf, daß dieses Bildmotiv neben einem werkinternen Bezug auch einen werkexternen darstellt. In der Tat finden sich in Roegs Filmen vor allem externe Verweise und zitathafte Anspielungen, die oft nur für einen kurzen Moment zu sehen sind und so der Aufmerksamkeit des Zuschauers leicht entgleiten, der sie überdies kennen und einzuordnen verstehen muß. »Roeg gives his audience credit for literacy. He expects them to pick up cultural allusions with only the barest hints«, wie es in einer anonymen Besprechung seiner Filme heißt.3 Einige der externen Anspielungen sind bereits in den vorangegangen Ausführungen aufgrund ihrer inhaltlichen Relevanz angeführt worden, von einem Magritte-Gemälde und einer Borges-Ausgabe in PERFORMANCE über ein Lehrbuch für Strukturgeologie in WALKABOUT bis hin zu Gemälden von Klimt und Schiele in BAD TIMING. Einige weitere sollen hier nun vorgestellt werden. Die Auswahl wird sich allein aufgrund der Fülle der Anspielungen bei Roeg auf wenige Beispiele konzentrieren müssen. Andernfalls könnte man Gefahr laufen, der gleichen Überreizung ausgesetzt zu sein wie Newton in THE MAN WHO FELL TO EARTH, der vor einer TV-Bank sitzt, an der zwölf Fernsehgeräte vertikal und horizontal nebeneinander angebracht sind, und auf der parallel mehrere Filme und Berichte zu sehen sind (Abb. 95, oben). Newton wird zum exzessiven Bilderkonsumenten und kann sich der Überflutung durch Impressionen kaum erwehren: »Get out of my mind! All of you! Leave my mind alone.« Newtons Unfähigkeit, die Film- und TV-Bilder aus seinem Geist zu verbannen, scheint im Widerspruch zu stehen zur Flüchtigkeit, die Roeg den Bildern des Fernsehens attestiert: »[…] das Fernsehen […] ist für mich eine Ausdrucksform ohne Verantwortungssinn. Im Fernsehen ist jede Ausstrahlung flüchtig und fällt augenblicklich dem Vergessen anheim […].«4 Der Flüchtigkeit der Fernsehausstrahlungen entsprechend wechseln die Bilder auf den Monitoren ebenso schnell wie die Einstellungen, die mittels Großaufnahmen einige Ausschnitte aus dem zeigen, was Newton sich anschaut: Ausschnitte aus einer Tierdokumentation und diversen Cartoons laufen parallel neben Szenen aus END OF THE ROAD (Aram Avakian, 1970),

1

Lanza 1989, S. 46.

2

Vgl. ebd.

3

Lands of Lost Content 1985, S. 86.

4

Cohen 1976, S. 24 [Übers. KS].

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BILLY BUDD (Peter Ustinov, 1962), THE THIRD MAN sowie einem Elvis-PresleyFilm. Im Fernseher in der mittleren Reihe links außen derweil ist ein Auszug zu sehen aus PACIFIC DESTINY (Wolf Rilla, 1956). Nicht nur wirkte Roeg an diesem Film als Kameraassistent mit. In den Hauptrollen spielen Roegs erste Ehefrau Susan Stephen und Denholm Eliott (Abb. 95, unten).1 Letzterer ist es, der in Roegs nächstem Film, BAD TIMING, Milenas Eheman Stefan Vognic spielt. Abbildung 95: »Get out of my mind! All of you!«

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

In erster Linie dürften Newtons exzessiver TV-Konsum und die Ausschnitte aus Filmen und Fernsehprogrammen eine selbstreflexive Geste darstellen. Zu diesem Schluß gelangt auch Janet-Ann Baker: »By the entire system of allusions in THE MAN WHO FELL TO EARTH, Roeg acknowledges his own influences, showing that

1

Vgl. Lanza 1989, S. 21. – Auch Tony Crawley verweist nachdrücklich auf diesen Ausschnitt: »There is another actress in Roeg’s life. She was a fond tribute during THE MAN WHO FELL TO EARTH. His wife: Susan Stephen. She’s just there, among all the movies Bowie scans at once – centre of left, and lost within seconds during a pan right, with Denholm Elliott in one of her last British films, PACIFIC DESTINY (1956), as Roeg merrily time-trips again.« (Crawley 1980, S. 396.)

360 | KINO DER UNORDNUNG

he is as mediated as his characters.«1 Gleichwohl handelt es sich dabei nicht um einen inhaltsleeren Verweis, wie Scott Salwolke hervorhebt, der in den TVAnspielungen einen graduell gesteigerten intradiegetischen Kommentar zur erzählten Handlung sieht: »The televisions have multiplied in Newton’s room, and the images begin to comment on the action.«2 Obgleich quantitativ geringer, tritt diese Kommentarfunktion von TVProgrammen in zwei späteren Filmen Roegs noch deutlicher zutage. Als Gerald und Lucy in CASTAWAY zum ersten Mal miteinander telefonieren, läuft bei beiden im Hintergrund der Fernseher, in welchem Jack Claytons THE PUMPKIN EATER (1964) gezeigt wird. Nicht nur stammt das Drehbuch zu diesem Filmdrama aus der Feder von Harold Pinter, zu dem Roeg bereits implizit in PERFORMANCE und explizit in BAD TIMING seine Verbundenheit bezeugt hat. Mehr noch, die Szene, die auf beiden Fernsehgeräten zu sehen ist, ist eine »of bitter martial breakdown«, wie es Philip French formuliert.3 Der Auszug nimmt also in gewisser Weise kommentierend die Ereignisse auf der Insel vorweg. Scott Salwolke verweist sogar auf Gemeinsamkeiten mit dem gesamten Film von Clayton und Pinter: dieser stelle eine Untersuchung »of a woman’s search« dar, mit dem Roegs Film nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Parallelen aufweise: »The style of the film predates Roeg’s use of flashback to show what is going through the female protagonist’s mind. The excerpt includes concerns about the breakup of the woman’s marriage. [….] There can be no missing the connection between this story and the relationship Roeg is portraying […].«4 Eine solche kommentierende Begleitung des Filminhalts mittels diegetischer TV-Ausschnitte findet sich auch in TRACK 29: Als Linda ihrer Freundin Arlanda (Colleen Camp) davon berichten will, wie sie sich an ihrem 15. Geburtstag auf einem Jahrmarkt in den Burschen vom Autoscooter ›verguckt‹ hat, der sie dann vergewaltigt hat, läuft im Hintergrund eine Szene aus J. Lee Thompsons CAPE-FEARVersion (1962): Max Cady (Robert Mitchum), der acht Jahre wegen Vergewaltigung im Gefängnis saß, ist in das Haus von Sam Bowden (Gregory Peck) eingedrungen – jenes Anwalts, den er für seine Verurteilung verantwortlich macht und an dem er Rache nehmen will – und terrorisiert dessen Frau Peggy (Polly Bergen). Auch Martin, Lindas imaginierter (?) Sohn, entwickelt sich zunehmend zu einer Bedrohung, indem er das Haus von Linda und Henry belagert. Damit nicht genug der Parallelen, ist zu Beginn des Films zu sehen, wie Martin an einer Brücke steht, die über den »Cape Fear River« führt.

1

Baker 1977, S. 107.

2

Salwolke 1993, S. 59.

3

Philip French: »Invited to a Beach Party«, in: The Observer, 22.02.1987, S. 27.

4

Salwolke 1993, S. 127.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 361

Die Einspielung von Filmausschnitten auf Fernsehgeräten innerhalb der Filme Roegs stellt für Richard Combs eine Verdopplung fiktionaler Welten dar, wodurch – durchaus borgesianisch – die Fiktionalität der vermeintlichen diegetischen Wirklichkeit unterstrichen werde. »[…] it is almost as if, by introducing a parallel fictional world, Roeg were emphasising the mysterious reality of this one.«1 Die Filmzitate haben damit eine deutlich metafiktionale Funktion und gehen über eine bloß vergnügliche, rein auf den Zeichengestus beschränkte postmoderne Anspielung hinaus. Sie sind, so Combs, eben »not the usual in-jokiness of movie references but evidence of the persistent intractability of the human problems being broached.«2 Sie stellen aber vor allem aus, daß sich gemäß Julia Kristevas Intertextualitätsbegriff jeder Text immer schon auf andere Texte bezieht, das Ergebnis einer »Absorption und Transformation eines anderen Textes« ist und somit ein »Mosaik von Zitaten« darstellt.3 Im weiten Textsinn gilt dies auch für Filme, und ganz besonders für diejenigen Roegs.4 Abbildung 96: »Uno contro tutti« – Charles-Chaplin-Poster

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973)

1

Vgl. auch: Richard Combs: »Track 29«, in: Monthly Film Bulletin 55 (1988), Nr. 654, S. 191f.; hier: S. 192.

2 3

Ebd. Julia Kristeva: »Wort, Dialog und Roman bei Bachtin«, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl. Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Frankfurt a.M: AthenäumFischer 1972, S. 345-375; hier: S. 348.

4

So resümiert auch Baker treffend: »Movies are largely made out of other movies, and Roeg self-consciously admits the fact.« (Baker 1977, S. 107.)

362 | KINO DER UNORDNUNG

Daß es ausgerechnet ein Mosaik ist, wie es Kristeva als Metapher für Intertextualität dient, das John Baxter in DON’T LOOK NOW zu rekonstruieren sucht, erscheint in diesem Zusammenhang wie ein weiterer metapoetischer Kommentar. Und auch dieser Film macht in den bildlichen Verweisen auf andere Filme keine Ausnahme. Als John nach dem Unfall mit dem herabstürzenden Balken vor der Kirche San Nicolò dei Mendicoli steht, ist an der Wand ein Filmplakat mit Charles Chaplin zu sehen (Abb. 96). Die Bedeutung dieses Verweises bleibt zunächst schleierhaft. »Why is there a Charlie Chaplin poster on a Venetian wall behind Donald Sutherland in DON’T LOOK NOW?«, stellt ein anonymer Rezensent die berechtigte Frage und zieht in Erwägung, daß der Titel ein Kommentar auf die Situation Johns sein könnte, gegen den sich alle und alles verschworen zu haben scheinen: »Is it coincidence that the Italian title of the Chaplin film is UNO CONTRO TUTTI (one against all)?«1 Robert Phillip Kolker zumindest ist sich sicher: »The Chaplin reference is inexplicable«, denn der Verweis werfe mehr Fragen auf, als er Antworten liefere: »Is Baxter or the dwarf Chaplinesque? Is it meant to undercut the seriousness of the goings on? The anomaly of the Chaplin poster may be the very point of its appearance.«2 Keine großen Erklärungsschwierigkeiten scheint dagegen ein weiterer ChaplinVerweis in einem anderen Film Roegs zu bereiten: Nachdem McCann seine Tochter Tracy und ihren Verlobten Claude in ihrem Schlafzimmer gestellt und letzteren bedroht hat, kommt er auf dem Weg nach Hause an einem Poster von Chaplins THE GOLD RUSH vorbei (Abb. 97, oben). »Very apposite: the film is being reissued at that time in 1942, but was originally issued in 1924, the year McCann struck gold«, legt Sinyard die Bezüge zur diegetischen Zeit der Filmhandlung dar.3 Ivo Ritzer

1

Lands of Lost Content 1985, S. 86. – Bei dem Film UNO CONTRO TUTTI handelt es sich um eine 1962 von Valiant Films vertriebene Kompilation mehrerer Kurzfilme Chaplins, darunter HIS NEW JOB aus dem Jahre 1915, der auch unter dem Verleihtitel CHARLIE GEGEN ALLE

2

in die Kinos kam.

Kolker 1977, S. 82. – Roeg selbst klärt das Rätsel auf: das Poster befand sich zufällig an einer Wand in der Nähe der Kirche San Nicolò dei Mendicoli, an der man drehte, und der italienische Titel erschien ihm durchaus passend für die Geschichte, die sein eigener Film erzählt: »One other seeming ›coincidence‹ was that on the wall of the church, close to the entrance, there was a film poster advertising an old Charlie Chaplin film that was showing at a local cinema. […] The Italian title on the poster was UNO CONTRO TUTTI. How true that turned out to be.« (Roeg 2013, S. 234.) Im übrigen wurde die Kirche zur Zeit der Dreharbeiten tatsächlich restauriert, und zwar »funded by the English ›Venice in Peril‹ fund – which could almost be a subtitle for DON’T LOOK NOW.« (Ebd.)

3

Sinyard 1991, S. 87. – Chaplin brachte seinen ursprünglichen Stummfilm 1942 in einer neugeschnittenen, mit einer neuen, von ihm komponierten Filmmusik und einer von ihm gesprochenen begleitenden Erzählerstimme erneut in die Kinos.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 363

zieht daraus den banalen, aber richtigen Schluß: »Roeg zeigt das Kinoplakat des Films, um Jack McCanns Situation zu illustrieren.«1 – Es ist nicht die einzige Anspielung auf einen anderen Film in EUREKA: Als Jack McCann zu Beginn des Films in der Bergbaustadt eintrifft, ist auf einem verbretterten Fenster eines verlassenen Geschäfts der Hinweis »no trespassing« geschrieben. Dieselben Worte sind später im Film am Tor zu Jacks Anwesen »Eureka« zu lesen (Abb. 97, unten). In beiden Fällen wird auf Orson Welles’ CITIZEN KANE (1941) angespielt, in welchem sich ein anderer Egomane ebenfalls sein eigenes Anwesen »Xanadu« geschaffen hat, und an dessen Zaun ein Schild mit denselben Worten alle Eindringlinge abwehren soll. Mehr noch: »Eureka physically resembles Kane’s Xanadu, and as in the film bearing that name, there is a distinct Gothic influence in its presentation.«2 Abbildung 97: Anspielungen auf Charles Chaplin und Orson Welles

EUREKA (Nicolas Roeg, 1983)

1

Ritzer 2006, S. 76.

2

Salwolke 1993, S. 98.

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Verglichen mit dem Chaplin-Poster, durch das der zitierte Film zu einem Bestandteil der diegetischen Realität wird, ist der Bezug auf Welles’ Film eine Referenz, die sich dem Wissen der Figuren entzieht, damit nicht-diegetischen Status hat, gleichwohl unsere ›Lesart‹ des Films und seiner narrativen Welt beeinflußt: »It’s Roeg’s CITIZEN KANE, with Eureka as Xanadu, and a hero with his own Rosebud […]«, wie Sinyard konstatiert.1 Im weitesten Sinne kann diese Anspielung als eine Hommage aufgefaßt werden, ähnlich wie der die Klippen herabrollende Kinderwagen in THE WITCHES. Luke kann ihn zwar gerade noch stoppen und somit das im übrigen in Rot gekleidete Baby darin retten. Doch, wie Klaus Dahm es formuliert, »weiß jeder Cineast sofort, daß Roeg PANZERKREUZER POTEMKIN liebt.«2 Als eine Verbeugung vor einem anderen großen Regisseur kann kann gelten, daß Roeg zu Beginn von INSIGNIFICANCE als Regisseur der diegetischen Filmcrew zu sehen ist, »making a Hitchcock-like cameo.«3 Eine implizite filmgeschichtliche Referenz stellt hier auch die Besetzung der Rolle des Senators mit Tony Curtis dar. In Billy Wilders Komödie SOME LIKE IT HOT (1959) spielte er an der Seite von Marilyn Monroe, deren Pendant die von Theresa Russell verkörperte Schauspielerin in INSIGNIFICANCE ist.4 Daß dieser Film mit dem Hinweis »This story and its contents are entirely fictitious« beginnt, läßt uns erst recht die Figuren mit ihren historischen Vorbildern in Verbindung setzen. INSIGNIFICANCE erweist sich in der Tat als »a film full of allusion and reference«, wie Neil Sinyard betont.5 Als die Schauspielerin dem Professor seine Relativitätstheorie erläutert, geraten zwei Bücher ins Blickfeld: Dostojewskis Die Brüder Karamasoff (Братья Карамазовы, 1880) und Jane Eyre (1848) von Charlotte Brontë. Der Schauspielerin dienen beide Bücher lediglich als Wurfgeschosse, um das physikalische Prinzip von Inertialsystemen zu veranschaulichen – und doch stockt sie in beiden Fällen, als sie auf den jeweiligen Titel schaut. Hat das Vorhan-

1

Sinyard 1991, S. 82. – Sinyard sieht dabei auch im Werk und Ego der beiden Regisseure deutliche Parallelen: »If EUREKA is a British film-maker’s CITIZEN KANE – both are gigantic films about egomaniac tycoons who achieve their materialist goals too early in life and then have to discover how to live – then maybe Roeg is to the British cinema what Welles was to the American: a talent too big to contain, constantly in conflict with the economic/exhibition side of the industry.« (Ebd.)

2

Klaus Dahm: »Hexen hexen«, in: Cinema 7 (1990), Nr. 146, S. 116-118; hier: S. 118.

3

Salwolke 1993, S. 110.

4

Michel Dempsey konstruiert dabei noch eine weitere Verbindung zwischen Tony Curtis und dem im Film repräsentierten Einstein, der aus Nazi-Deutschland fliehen mußte, denn ersterer habe gesagt, »that working with Monroe in SOME LIKE IT HOT was like kissing Hitler […].« (Dempsey 1985/86, S. 54.)

5

Sinyard 1991, S. 99.

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densein der Bücher also mehr zu bedeuten? In Dostojewskis Roman zweifelt Iwan Karamasoff, der mittlere der drei Brüder, die Existenz Gottes an: in der von ihm niedergeschriebenen Legende »Der Großinquisitor« erörtert er das Problem der Theodizee angesichts der Grausamkeiten in der Welt. »Dein Großinquisitor glaubt nicht an Gott, sieh, das ist sein ganzes Geheimnis«, entgegnet Aljoscha seinem Bruder Iwan auf dessen Legende.1 Abbildung 98: Charlotte Brontës Roman und Picassos Gemälde

INSIGNIFICANCE (Nicolas Roeg, 1985) Die Frage der Existenz bzw. Nicht-Existenz Gottes wird dabei im Zusammenhang mit dem Problem der Freiheit des Menschen, die immer auch Verantwortung impli-

1

Fjodor M. Dostojewski: Die Brüder Karamasoff. Roman in vier Teilen mit einem Epilog. Übers. v. E.K. Rahsin. München: Pieper 1968, S. 426.

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ziere, vor der dieser jedoch zurückschrecke, erörtert.1 Im Film ist es der Professor, der mit der Verantwortung für seine Taten leben muß, die er an keinen anderen als an sich selbst delegieren kann. Für Sinyard liegt damit eine eindeutige Referenzfolie zum Filmgeschehen vor, denn »INSIGNIFICANCE takes place in what looks like a godless universe in which the permitted has become perverted.«2 Die Brüder Karamasoff sind damit vor allem mit dem Professor in Verbindung zu bringen,3 und so ist es wohl kein Zufall, daß die Schauspielerin diese Ausgabe in Richtung des Professors wirft, während sie den Brontë-Roman vor ihren eigenen Füßen niederfallen läßt (Abb. 98, oben). Eine Frau, die ihre Unabhängigkeit verteidigt, ist auch Milena in BAD TIMING, die nicht nur ebenso wie die Schauspielerin in INSIGNIFICANCE von Theresa Russell verkörpert, sondern die ebenfalls mit Büchern in Verbindung gebracht wird. Sie ist mit einer Erstausgabe von Paul Bowles’ Roman The Sheltering Sky (1949) in der Hand zu sehen (Abb. 99, oben), was nicht nur auf den gemeinsamen MarokkoUrlaub mit Alex vorausweist, sondern auch noch einmal das Thema der existentiellen Krise zweier Fremder in einem fremden Land hervorhebt. Bowles’ Roman handelt von dem entfremdeten amerikanischen Ehepaar Kit und Port Moresby, das sich auseinandergelebt hat. Begleitet von ihrem Bekannten Tunner begeben sie sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine Reise durch die nordafrikanische Wüste. Port hofft, daß die Reise ihn und seine Frau wieder einander näherbringen wird. Doch statt dessen geraten beide in eine ihnen fremd und feindlich gesonnene Welt. Während Kit die Wüste fürchtet und böse Omen zu erblicken meint, verkennt Port – darin John Baxter gleich – die Gefahren volkommen: er erkrankt, stirbt und läßt seine Frau allein auf sich gestellt zurück.4 Als metapoetischer Kommentar weist die im

1

»Ich sage dir«, spricht der Großinquisitor, »der Mensch kennt keine quälendere Sorge als die, einen zu finden, dem er möglichst schnell jenes Geschenk der Freiheit, mit dem er als unglückliches Geschöpf geboren wird, übergeben kann. Aber die Freiheit der Menschen beherrscht nur der, der ihr Gewissen beruhigt.« (Ebd., S. 414.)

2 3

Sinyard 1991, S. 99. Auch Judith Maus und Holger Wacker fassen den Dostojewski-Roman als eine Anspielung auf die Situation des Professors auf: »Dostojewski sagte einmal, man solle sein Werk verbrennen, wenn sich zeigen würde, daß es den Tod auch nur eines Kindes ursächlich bewirkt hätte. Der Professor steht vor dem gleichen Problem, flüstert der Schauspielerin zu, er wäre schuldig, weil die Bombe Kinder verbrannt hat.« (Maus/Wacker 1993, S. 8.) Der Professor vernichtet im Film dann tatsächlich einen Teil seines Werks: Er wirft seine Manuskripte aus dem Fenster des Hotelhochhauses hinaus.

4

Vgl. Paul Bowles: The Sheltering Sky. With an Introd. by Paul Theroux. London u.a.: Penguin [2009]. – Eine Verfilmung von The Sheltering Sky war ein Projekt von Roeg, das dann aber 1990 von Bernardo Bertolucci realisiert wurde, der, um die Worte Dominik

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Film zu sehende Buchausgabe somit nicht nur auf die Marokko-Reise von Alex und Milena voraus (von der sich Alex schließlich auch eine Vertiefung der Beziehung erhofft), sondern bindet BAD TIMING implizit auch an DON’T LOOK NOW zurück. Abbildung 99: Paul Bowles’ Roman und Harold Pinters Stücke

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980)

In einer anderen Szene des Films sehen wir Alex einen Blick auf Milenas Sachen auf dem Rücksitz seines Autos werfen, unter denen sich eine deutsche Ausgabe von Harold Pinters No Man’s Land (Niemandsland, 1975) befindet (Abb. 99, unten). »Still seeing that actor?«, fragt er sie vorwurfsvoll. Doch die Buchausgabe unterstreicht nicht nur Milenas Verbindung mit Theaterkreisen, sondern evoziert auch das Spiel mit Beziehungen und Identitäten sowie dem Status von Leben und Tod, wie sie in Pinters Stück verhandelt werden.1 Die Ausgabe enthält zudem Pinters The Caretaker (Der Hausmeister, 1959), was in Erinnerung ruft, daß Nicolas Roeg der Kameramann in der Verfilmung des Stücks durch Clive Donner war.

Grafs zu gebrauchen, daraus einen »zumindest sehr interessanten Groß-Film« machte (Graf 2006, S. 10). 1

Vgl. Harold Pinter: Niemandsland. Monolog. Die Geburtstagsfeier. Der Hausmeister. Die Heimkehr. Fünf Theaterstücke. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1976. – Es ist diese Ausgabe, die auch im Film zu sehen ist.

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Es ist nicht das erste Mal, daß eine deutsche Buchausgabe in einem Film Roegs ins Bild rückt. In DON’T LOOK NOW, während der ›Liebesszene‹, als John bereits angekleidet auf dem Bett sitzt, liegt auf dem Nachttisch neben ihm eine RowohltAusgabe von Rolf Hochhuths Der Stellvertreter (1963) – eine durchaus bewußte Wahl des Regisseurs, wie dieser Mark Sanderson gegenüber erklärt: »I went to a great deal of trouble to get The Representative in Italy, […] but I was told it was unacceptable. In the end I thought ›bollocks!‹ – John can read it in the original German instead.«1 Das Bildzitat (Abb. 100) wirkt dabei wie eine Vorwegnahme der bedrohlichen Situation, die sich für John in Venedig aufbaut und mit christlicher Symbolik durchsetzt ist. Zugleich mag der Hinweis auf Hochhuths Drama dazu führen, daß dem ohnehin schon zwielichtig erscheinenden Bischof Barbarrigo (Massimo Serato), in dessen Auftrag John die Kirche restauriert, eine implizite Schuld an Johns tragischem Tod zugewiesen wird: hätte Barbarrigo als Geistlicher die Zeichen, die auf Johns Schicksal vorausweisen, nicht deuten können und energischer handeln müssen?2 Abbildung 100: John Baxter liest Hochhuts ›Der Stellvertreter‹

DON’T LOOK NOW (Nicolas Roeg, 1973) Wie dem auch sei, mindestens erweist sich hier, was Tom Milne angesichts von BAD TIMING betont, was aber ebensogut für DON’T LOOK NOW Geltung beanspruchen kann: »Although some of the copious references which punctuate the film’s mosaic structure […] may seem a little obvious in themselves, they all add the un-

1 2

Sanderson 1996, S. 49. In Hochhuths Drama ist es Riccardo, der die Untätigkeit der Kirche, vertreten durch den Papst, angesichts der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten verurteilt (vgl. Rolf Hochuth: Der Stellvertreter. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1963, S. 137).

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deniable weight of analogy to the film’s darkly disillusioned view of human nature and understanding.«1 Jeremy Thomas, der Produzent von BAD TIMING, bestätigt im Gespräch mit Combs, daß die bildhaften Anspielungen insbesondere auf Bücher ein bewußtes Verfahren Roegs sind, womit der Regisseur die Filme nicht nur mit seiner ›Handschrift‹ versehe, sondern den Figuren Tiefe und Profil verleihe: »Nic loves putting book titles in his films. It gives texture to the characters, if they’re reading a book whose title you can see.«2 In BAD TIMING sind es nicht nur die Anspielungen auf Bücher, die ins Auge springen, sondern auch und besonders Gemälde, genauer: die Werke von Gustav Klimt und Egon Schiele. Schon in der Eröffnungssequenz, die mit einem Besuch Milenas und Alex’ im Wiener Belvedere beginnt, werden sie in den Blick gerückt. Die allererste Einstellung des Films zeigt einen Ausschnitt aus Klimts Gemälde Der Kuss (1908). Abbildung 101: Milena vor Klimts ›Der Kuss‹, Alex studiert Schiele

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980) Klimt wird damit eine exponierte Stellung in diesem Film Roegs zugewiesen. So argumeniert Salwolke: »Roeg’s use of Klimt’s work throughout the film has a two-

1

Milne 1987, S. 43f.

2

Combs 1983b, S. 118.

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fold purpose. Klimt is Vienna’s most famous artist, but he also has much in common with Roeg. Like Roeg, Klimt’s work was vilified in its time for its emphasis on nudity and its seeming disregard for the traditional rules of art.«1 Wie bereits Toni Ross herausgestellt hat, ist Klimts Kuss dabei wesentlich mit Milena verbunden, in deren Wohnung gar eine Poster-Reproduktion des Werks hängt.2 »Like them. They’re happy«, wendet sie sich an Alex, als sie vor dem Gemälde steht (Abb. 101, oben), doch er entgegnet: »That’s because they don’t know each other well enough yet.« Statt dessen spricht Alex, als er an Schieles Gemälde Tod und Mädchen (1915) vorbeiläuft, zu sich selbst: »Definitely happy. At least I hope so.« Später im Film blättert Alex, als er bei Milena auf dem Bett liegt, durch einen Schiele-Bildband, in welchem ihm Photos von Milenas Ehemann Stefan und von ihrem verstorbenen Bruder, den Alex für einen ihrer weiteren Liebhaber hält, in die Hände fallen (Abb. 101, unten). Ross zieht daraus den Schluß: »If Milena is identified with the Klimt paintings […], Alex is associated with certain paintings by Schiele […].«3 Bestätigung findet dies auch dadurch, daß Netusil beim Ortstermin in Milenas Wohnung einige Drucke mit Bildern von Schiele inspiziert. Die Einstellungen, die die Bilder in Nahaufnahme zeigen, wechseln mit Einstellungen eines halb entblößten Alex, der in Statur und Pose den expressionistisch verzerrten Männerdarstellungen ähnelt. Ist es Ähnlichkeit, die suggeriert wird, wenn in INSIGNIFICANCE die Schauspielerin neben Picassos Gemälde Femme et enfant au bord de la mer (1921) steht, das im Hotelzimmer des Professors hängt (Abb. 98, unten)? Immerhin wünscht sie sich sehnlich ein Kind, wie es die Frau im Bild in ihren Armen hält. Über inhaltliche Anspielungen hinaus ist das Bildzitat aber auch als ein metafiktionaler Kommentar auf die eigenen filmischen Verfahren Roegs anzusehen. Wenn man Suzanne Moore folgt, ist Roeg so etwas wie ein filmischer Kubist: »Roeg’s self-consciously ›modern‹ approach to film spatialises time into a series of visual images and fragments a single incident by multiple viewpoint – rather like a cubist painting […].«4 Sie bezieht sich hier indes nicht auf INSIGNIFICANCE, sondern auf TRACK 29. Dieser Film allerdings zitiert mit Balthus einen Maler, der sich einer Einordnung in Kubismus oder Surrealismus entzieht, und der vor allem für seine erotischen, ja voyeuristi-

1

Salwolke 1993, S. 75.

2

Vgl. Ross 1995, S. 191.

3

Ebd., S. 194. – Ross verweist auch darauf, daß Alex in der Szene im Belvedere einige Zeit vor Klimts Gemälde Judith I (1901) verweilt, betont aber: »While Alex is never metaphorically related to Klimt’s paintings, he is analogised with Schiele’s works.« (Ebd.)

4

Moore 1988, S. 40.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 371

schen und lolitahaften Darstellungen junger Frauen bekannt ist:1 im Schlafzimmer von Henry und Linda hängt das Bild Katia lisant (1974; Abb. 102). Soll damit die Infantilität Lindas, die sich mit Puppen umgibt, unterstrichen werden? Sie ist es, die deutlich mit Balthus in Verbindung gebracht wird; immerhin ist auch in der Szene, in der sie sich mit ihrer Freundin Arlanda unterhält, deutlich zu sehen, wie vor ihr ein Balthus-Bildband auf dem Tisch liegt. Abbildung 102: Balthus’ ›Katia lisant‹ in Lindas Schlafzimmer

TRACK 29 (Nicolas Roeg, 1988)

Gleichwohl sind es neben inhaltlichen auch und vielleicht sogar ganz besonders strukturelle Parallelen, die Balthus’ Gemälde nicht nur mit diesem, sondern auch mit den anderen Filmen Roegs verbinden. Wie Mieke Bal darlegt, ist Balthus einer abstrakten Malerei verpflichtet, andererseits sind seine eigenen Werke in ihrer Darstellung durchaus figurativ.2 Dennoch sieht Bal in seinen figurativen Darstellungsweisen keine realistische Tendenz. Vielmehr vermeint sie in seinen Werken eine programmatische Antitransparenz zu erkennen,3 die Teil einer Fiktionalisierungsstrategie sei: »I argue that, instead, the paintings draw the viewer into a world we know not to exist. This canny fictionality makes allegations of erotic visual appropriation, in any general sense, naïve and prudishly censoring. It also throws the

1

»The reputation of the artist as an erotic and even perverse painter who depicted adolescent girls in sexually inviting positions, is well known«, faßt Mieke Bal den Ruf, der Balthus anhaftet, zusammen (Mieke Bal: Balthus. Works and Interview. Barcelona: Ed. Polígrafa 2008, S. 14).

2

Vgl. ebd., S. 11.

3

Vgl. ebd.

372 | KINO DER UNORDNUNG

viewer inclined into such responses back to him- or herself.«1 Den Filmen Roegs gleich, verweigern Balthus’ Bilder dem Betrachter damit den Zugang zu ihrer diegetischen Welt:2 »[…] all Balthus’s skill, imagination and visual sophistication are deployed to push the viewer out of an assumed represented world […].«3 Die ›Realität‹, die Balthus in seinen Werken suggeriert, ist mindestens eine solch verzerrte wie diejenige in Roegs Filmen: »The spaces Balthus puts before us are wilful distortions of the reality we would see when looking at the spaces he depicts.«4 In der verzerrten Realität von TRACK 29 ist es vor allem Lindas Ehemann Henry Henry, der an den bekanntesten Lolita-Schöpfer erinnert: »[…] his name has overtones of Humbert Humbert.«5 Vladimir Nabokov war für Roeg schon in PERFORMANCE ein wichtiger Bezugspunkt (vgl. III 2) b)). Wenn am Ende von THE MAN WHO FELL TO EARTH Mary-Lou den eingesperrten Newton aufsucht und beide Tischtennis spielen, kann dies als eine Referenz auf das Ende von Stanley Kubricks LOLITA (1962) angesehen werden, als Humbert (James Mason) Clare Quilty (Peter Sellers) aufsucht, um ihn zu erschießen, und beide Männer ebenfalls Tischtennis spielen. Jenseits ihrer mögliche Bedeutungen im Kontext des Films sagen die zahlreichen Anspielungen bei Roeg vor allem zunächst eines aus: daß sie Anspielungen sind. Nicht mehr und nicht weniger. Den Titel von INSIGNIFICANCE wörtlich nehmend, könnte man zu dem Schluß gelangen, daß die Bedeutungslosigkeit bei Roeg Programm ist. Zu diesem Schluß jedenfalls gelangt Moira Walsh in ihrer Besprechung von DON’T LOOK NOW: »The verdict: a great deal of skillfully created atmosphere and professional acting competence has been expended on a finally meaningless plot, though I suspect that meaninglessness is director Roeg’s quite deliberate message.«6 Walsh steht mit ihrer Meinung nicht allein, wie Christopher Keats betont: »Form is paramount in a Nicolas Roeg film, so much so that critics have accused him of surrendering content and meaning to it.«7 In toto würde dann für die Filme Roegs gelten: »it is a tale./ Told by an idiot, full of sound and fury,/ Signifying nothing.«8

1

Ebd., S. 16.

2

Vgl. ebd, S. 20.

3

Ebd., S. 22.

4

Ebd., S. 18.

5

Sinyard 1991, S. 118. – Auch Mary Hurd spricht von Henry Henry als »a physician whose name hints at Nabokov’s Humbert Humbert in Lolita […]« (Hurd 1995, S. 293).

6

Walsh 1974, S. 134.

7

Keats 1982, S. 11.

8

Shakespeare: Macbeth V, 5, 26-28 (William Shakespeare: Macbeth. Ed. by Kenneth Muir. 8th rev. ed. London: Methuen 1957, S. 160).

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Ist also alles bei Roeg bloß ›Schall und Rauch‹? Wohl kaum. Zwar betont der Regisseur selbst, daß man die Bedeutung eines Films nicht immer im einzelnen aufschlüsseln könne: »Ein Film oder ein Buch müssen von sich aus funktionieren und bei uns einen bleibenden Eindruck hinterlassen, genauso wie angesichts eines Picasso: wenn man anfängt sich zu fragen, was das bedeute, stochert man im Nebel!«1 Aber andererseits weist Paul Mayersberg, der die Drehbücher zu THE MAN WHO FELL TO EARTH und EUREKA zu verantworten hat, darauf hin, daß die Anspielungen und Zitate in den Filmen Roegs durchaus eine Mittlerfunktion haben: »Nic and I have a shorthand form of communication – using books, paintings, bits of films as ciphers for ideas.«2 Hier macht sich einmal mehr – und nun auch verfahrenstechnisch – das Vorbild Borges’ für Roegs Filme bemerkbar. Auch Borges’ Erzählungen und Essays sind – im Sinne Kristevas – ein Mosaik aus Zitaten und Anspielungen, die zwar oft auf den ersten Blick über eine Namensnennung nicht hinausreichen, gleichwohl aber den Text an seine Vorbilder binden und durch den intertextuellen Verweis öffnen und erweitern.3 In dieser Hinsicht stellen sich Borges’ Texte wie auch Roegs Filme als intertextuelle Kompilationen dar, die diesen ihren Charakter offen ausstellen. Das Bild für diese Zusammenstellung, in der bereits alles Geschriebene enthalten ist, hat Borges in seiner Biblioteca de Babel (1941) ›verewigt‹. c) Das narrative Universum expandiert – Zur Konstitution möglicher Welten Borges Erzählung La Biblioteca de Babel beginnt mit einer Beschreibung der Bibliothek: »Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefaßt sind. Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne ein Ende. Die Anordnung der Galerien ist unwandelbar dieselbe.«4

1

Cohen 1976, S. 24 [Übers. KS].

2

Keats 1982, S. 11.

3

So betont etwa Mireya Camurati, daß der Essay El tiempo y J.W. Dunne Borges’ Technik ausstelle, sich Zitate und Äußerungen anderer Autoren als Grundlage oder Verweis seiner eigenen Texte zu bedienen (Camurati 1987, S. 928).

4

Vgl. Jorge Luis Borges: »Die Bibliothek von Babel«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/

374 | KINO DER UNORDNUNG

Das Bild der Bibliothek dient Borges als eine Metapher für das Universum, das ein unendliches und ein serielles ist.1 Der Begriff des Universums, wie er sich hier bei Borges findet, ruft aber auch in Erinnerung, daß der ursprünglichen Definition Étienne Souriaus gemäß die Diegese als ein Teil des ›filmischen Universums‹ jenen Bereich umfaßt, in welchem sich die im Film dargestellten Gegebenheiten und Geschehnisse vollziehen, und somit die fiktionale Wirklichkeit, die ein Film entwirft, bezeichnet (vgl. III) 1) b)). In der narratologischen Erweiterung des Begriffs bezeichnet Diegese dann allgemein die narrativ vermittelte, fiktionale Welt eines Textes oder eines Films. ›Welt‹ kann in diesem Sinne als Metapher für den von einem fiktionalen Text entworfenen semantischen Bereich verstanden werden, der eine fiktional wirkliche und gegenwärtige Welt entwirft.2 Solche Welten entwerfen auch die Filme Roegs, und wenngleich sie keine Bibliotheken sind, so sind sie doch, wie in den vorausgegangen Ausführungen dargelegt, mit Büchern und Artefakten besiedelt, die wesentlich zu ihrer Konstitution und ›Welthaltigkeit‹ beitragen. Sie erweitern die erzählte Welt, indem sie aufgrund ihres Verweischarakters Bedeutungen ins Spiel bringen, die auf Bereiche (und Bedeutungen) jenseits der allein durch die Gegebenheiten des (filmischen) Textes vermittelten Tatsachen verweisen. Dies wirft aber zwei Fragen auf: zunächst nach der Extension, dem Umfang der erzählten Welten. Und zweitens nach dem Status der Objekte, die zu ihrer Expansion beitragen: Wie werden Objekte der realen Welt zu fiktionalen und wie beeinflussen sie die Konstitution der Diegese? Beide Fragen werfen nicht nur eine narratologische,

Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 151-160; hier: S. 151. 1

Die Bibliothek als Universum ist für Borges eine totale, in ihr »gibt es nicht zwei identische Bücher«, sie ist angefüllt mit Büchern, die alle kombinatorischen Möglichkeiten des Alphabets umfassen (ebd., S. 155). Dies führt zu Fragen der Serialität und des infiniten Regresses, wie sie auch J.W. Dunne beschäftigen (vgl. III 3) 2)): »Jemand schlug eine regressive Methode vor: um das Buch A zu lokalisieren, muß man zuvor ein Buch B heranziehen, das den Ort von A angibt; um das Buch B zu lokalisieren, muß man zuvor ein Buch C konsultieren, und so ins Unendliche… Mit dergleichen Abenteuern habe ich meine Jahre verschleudert und verzehrt«, berichtet der Erzähler unter offensichtlicher Anspielung auf Borges’ Beschäftigung mit den Theorien Dunnes (ebd., S. 157).

2

Diese Welt ist für Marie-Laure Ryan dabei – ähnlich wie bei Souriau – ein, wenn man so will, ›Unterbereich‹ eines weitergefaßten textuellen Universums: »[…] I propose the term of textual universe to refer to that which is conjured by the text. What I have so far called ›fictional world‹ can now be paraphrased as the actual world of the textual universe projected by the fictional text.« (Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Indiana, IL: Univ. of Bloomington and Indianapolis Press 1991 [Ryan 1991b], S. 23.)

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 375

sondern auch eine ontologische und epistemologische Problemstellung über den Status von Welt und Welten auf. Als Raum der Geschichte, der den Figuren der Erzählung als ihr ›Zuhause‹ dient, bezeichnet die Diegese jenen Bereich, in welchem sich Handlungen vollziehen und Ereignisse geschehen. Für den Ort einer »Abfolge von Ereignissen«, die »als zeitlich geordnete Aufeinanderfolge von Ereignissen beschrieben werden« kann, schlägt Umberto Eco den Begriff »mögliche Welt« vor.1 Gemäß Ecos Konzeption sind ›mögliche Welten‹ daher narrative Welten, die, im Falle der Literatur, »durch eine Reihe sprachlicher Ausdrücke beschrieben [werden], die die Leser so interpretieren sollen, als ob sie sich auf einen möglichen Sachverhalt bezögen, bei dem, wenn p wahr ist, nicht-p falsch ist […].«2 Diese Aussage Ecos macht deutlich, daß er seinen Begriff der ›möglichen Welt‹ aus der Modallogik entnommen hat. Der Begriff hat seinen Ursprung aber zunächst in den metaphysischen Auseinandersetzungen von Gottfried Wilhelm Leibniz. In der Theodizee (I, 8) entwirft Leibniz das Modell möglicher Welten als nicht-realisierte Alternativen, von denen aber nur eine einzige real is, nämlich unsere Welt, die gottgegeben und somit die beste ist: »Ich nenne Welt die ganze Folge und Ansammlung aller bestehenden Dinge, damit man nicht sage, daß verschiedene Welten zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten bestehen konnten; denn diese müßten alle zusammen für eine Welt oder, wenn man will, für ein Universum gelten. Und wenn man auch alle Zeiten und alle Orte anfüllte, so bleibt es doch allemal wahr, daß man sie auf unendlich viele Arten hätte anfüllen können, und daß es unendlich viele mögliche Welten gibt, von denen Gott die beste gewählt haben muß, da er nichts tut, ohne der höchsten Vernunft gemäß zu handeln.«3

1

Umberto Eco: »Kleine Welten«, in: ders., Die Grenzen der Interpretation. München/Wien: Hanser 1992, S. 256-279; hier: S. 259. – Die zeitlich geordnete Aufeinanderfolge von Ereignissen bedeutet Eco zufolge dabei nicht gezwungenermaßen eine lineare Abfolge, denn die Anordnung der Ereignisse in der erzählten Welt muß nicht notwendig identisch sein mit jener ihrer Präsentation auf der textuellen Ebene (vgl. ebd., S. 259).

2

Ebd., S. 258. – Eco geht zwar von der Literatur und dem Roman aus, wenn er eingangs feststellt: »Eine mögliche Welt ist das, was von einem ganzen Roman beschrieben wird […].« (Ebd., S. 257.) Da Eco diese ›möglichen Welten‹ allerdings als narrative auffaßt, erscheint es unproblematisch, das Konzept auch auf andere narrative Gattungen und Medien, darunter den Film, zu übertragen. Zugleich wird hier die Nähe von Ecos Begriff der ›möglichen‹ Welt zu Souriaus Begriff der ›Diegese‹ deutlich: beide beschreiben, was ein Roman oder ein Film als Ganzer darstellen (vgl. ebd.).

3

Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. Vorwort, Abhandlung, erster und zweiter Teil.

376 | KINO DER UNORDNUNG

Eine Neubelebung erfuhr das Mögliche-Welten-Modell, als Saul A. Kripke es als Konzept in die Modallogik einführte.1 »Kripke proposed a ›model structure‹ for modal logic and interpreted it semantically in terms of possible worlds«, wie Lubomír Doležel zusammenfaßt und das Konzept erläuternd ausführt: »The universe of discourse is not restricted to the actual world, but spreads over uncountable possible, nonactualized worlds.«2 Als ein Sonderfall hiervon läßt sich Doležel zufolge der Begriff der möglichen Welt auch auf die fiktionalen Welten literarischer bzw. allgemein narrativer Texte übertragen: »Fictional worlds are possible worlds in that they are ensembles of nonactualized possible particulars – persons, states, events, and so on.«3 Doch während in der logischen Semantik ›mögliche Welten‹ total und unendlich in Größe, Anzahl und Art sind,4 sind fiktionale Welten »ontologisch unvollständig«, wie Oliver R. Scholz zu bedenken gibt.5 Auch Doležel sieht

Frz./Dt. Hg. u. übers. v. Herbert Herring. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996 (= Philosophische Schriften; Bd. 2.1), S. 218-220. 1

Um zu einer Semantik der Modallogik zu gelangen, führt Kripke das Konzept einer (normalen) Modellstruktur ein, die die Vorstellung ›möglicher Welten‹ beinhaltet: »A model structure (m.s.) is an ordered triple (G, K, R) where K is a set, R a reflexive relation on K, and G ε K. Intuitively, we look at matters this: K is a set of all ›possible worlds‹; G is the ›real world‹.« (Saul A. Kripke: »Semantical Considerations on Modal Logic. In: Farhang Zabeeh/E.D. Klemke/Arthur Jacobson [Hg.], Readings in Semantics. Urbana, IL u.a.: Univ. of Illinois Press 1974, S. 803-814 [zunächst in: Acta Philosophica Fennica 16 (1963), S. 83-94]; hier: S. 804; Herv. i.O.)

2

Lubomír Doležel: »Possible Worlds of Fiction and History«, in: New Literary History 29 (1998), Nr. 4, S. 785-809; hier: S. 786.

3

Ebd., S. 788. – Zu den Eigenschaften fiktionaler möglicher Welten führt Doležel näher aus: »Fictional worlds of literature are a specific kind of possible worlds. They are artifacts produced by textual poiesis and preserved and circulating in the medium of fictional texts. They constitute a subset in a broader class of fictional worlds construed by various kinds of creative activities – mythology and storytelling, painting and sculpting, dance and opera, cinema and television.« (Ebd., S. 787; Herv. i.O.)

4 5

Vgl. ebd. Oliver R. Scholz: »Fiktionale Welten, mögliche Welten und Wege der Referenz«, in: Peter Finke/Siegfried J. Schmidt (Hg.), Analytische Literaturwissenschaft. Braunschweig/ Wiesbaden: Vieweg 1984 (= Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie; 22), S. 70-89; hier: S. 77. – Aufgrund der ontologischen Unvollständigkeit von »fiktionale[n] Welten und fiktionale[n] Objekten« plädiert Scholz dafür, »daß ›fiktionale Welten‹ nicht mit möglichen Welten identifiziert werden können«, und führt im Sinne der logischen Semantik aus: »Mögliche Objekte sind bezüglich aller Eigenschaften vollständig determiniert; d.h. von zwei einander kontradiktorisch widersprechenden Bestimmungen

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 377

dies als die erste spezifische Eigenschaft fiktionaler (literarischer) Welten an: »Fictional worlds of literature are incomplete.«1 Einen Ausweg aus diesem Dilemma, das aus der Übertragung eines Konzepts der Modallogik auf fiktionale Texte resultiert, sieht Doležel in Ecos Modell der ›kleinen Welten‹. Die möglichen Welten im Sinne Ecos sind insofern immer kleine Welten, als sie eine relativ kurze Abfolge von Ereignissen aus einem kleinen Ausschnitt der realen Welt darstellen:2 »Das nämliche gilt für die narrativen Welten: Um seine Leser dazu zu veranlassen, daß sie eine mögliche narrative Welt konzipieren, muß der Text sie zu einer relativ leichten ›kosmologischen‹ Aufgabe auffordern […].«3 Konkret gesprochen heißt das: Sie sind durch eine begrenzte Anzahl von Parametern bestimmt und bestehen aus (fiktionalen) Individuen, die mit Eigenschaften ausgestattet sind.4 Aufgrund dieses Ausgestattetseins mit Figuren und anderen fiktionalen Elementen stellen Ecos ›kleine Welten‹ im Gegensatz zu den leeren Welten der theoretischen Konstrukte der Modallogik also stets möblierte Welten dar.5 Darüber hinaus scheinen sie ihm zufolge schon aufgrund ihrer Unvollständigkeit stets »parasitäre Welten zu sein, weil man, wenn ihre Eigenschaften nicht näher spezifiziert werden, davon ausgeht, daß sie mit denen der realen Welt übereinstimmen.«6 Dagegen betont Doležel die Souveränität fiktionaler Welten und verweist auf ihre ontologische Differenz zur realen Welt: »Possible-worlds semantics insist that fictional worlds are not imitations or representations of the actual world (realia) but sovereign worlds of possibilia; as such, they establish diverse relationships to the actual world, situate themselves at a closer or further distance from reality. They range from realistic worlds closely resembling the actual world to those violating its

kommt dem Objekt eine zu. Mögliche Welten sind in dem Sinne maximal, daß entweder der Satz oder seine Negation in der Welt wahr ist.« (Ebd., S. 77f.) 1

Lubomír Doležel: »Possible Worlds and Literary Fictions«, in: Sture Allén (Hg.), Possible Worlds in Humanities, Arts and Sciences. Proceedings of Nobel Symposium 65. Berlin/New York: de Gruyter 1989 (= Research in Text Theory/Untersuchungen zur Textheorie; 14), S. 221-242; hier: S. 233 (Herv. i.O.).

2 3

Vgl. Eco 1992, S. 260. Ebd. – In der Konsequenz bedeutet dies zugleich: »Ein narrativer Text hat eine eigene Ontologie, die respektiert werden muß.« (Ebd., S. 267.)

4

Vgl. Doležel 1998, S. 787.

5

Vgl. Eco 1992, S. 257.

6

Ebd., S. 270 – Es ist dies ein Umstand, den Eco auch andernorts hervorhebt: »Aber wie wir sagten, basiert jede fiktive Welt parasitär auf der wirklichen Welt, die ihr als Hintergrund dient.« (Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Übers. v. Burkhart Kroeber. 3. Aufl. München: dtv 2004, S. 124.)

378 | KINO DER UNORDNUNG laws – fantastic worlds. But all of them are of a different stuff than the actual world: they are constituted by possible entities.«1

Faßt man wie Eco fiktionale Welten, in denen Individuen auftreten, als Abfolge von Ereignissen auf, wird die Problematik dieser Differenz dann besonders deutlich, wenn die Figuren und Ereignisse – wie im Falle von Roegs INSIGNIFICANCE – (vermeintlich) reale historische Vorlagen haben. Doležel bedient sich zweier Beispiele, um diese Differenz herauszustellen: der Napoleon aus Leo Tolstois Roman Krieg und Frieden (Война и мир, 1869) sei ebensowenig identisch mit dem realen Bonaparte, wie das London aus Charles Dickens’ Romanen mit der realen Stadt identisch sei:2 »Possible-world semantics correctly insists that fictional individuals cannot be identified with actual individuals of the same name […].«3 Demgegenüber steht aber unsere Lesegewohnheit, im Falle der Nennung real existierender Orte und Personen bei aller ontologischen Differenz einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen der fiktionalen Welt und ihrer historischen bzw. außertextuellen Vorlage anzunehmen. Dieses Problem wird erst recht virulent im Falle des Films, dessen maßgeblich bildlich vermittelte Welt – mindestens im Fall von Aufnahmen an ›Originalschauplätzen‹ – sich aus durch die Kamera eingefangenen ›Wirklichkeitspartikeln‹ zusammensetzt.4 Damit wird deutlich: »fiktionale Texte

1 2

Doležel 1998, S. 788 (Herv. i.O.). Vgl. ebd. – Für Doležel ist diese Differenz letztlich ein Referenzproblem. Zwar sei die Nennung des Namens einer realen Person im fiktionalen Kontext keine leere Referenz, gleichwohl habe sie auch keinen privilegierten Status gegenüber Figuren, die nicht den Namen mit außerfiktionalen Gestalten teilen: »By expanding the universe of discourse, possible-worlds semantics gives legitimacy to the concept of fictional reference. The name ›Hamlet‹ is neither empty nor self-referential; it refers to an individual of a fictional world. As non-actualized possible, all fictional entities are of the same logical nature. Tolstoy’s Napoleon is no less fictional than his Pierre Bezuchov, and Dickens’s London no more actual than Carroll’s Wonderland.« (Ebd.) – Zum Problem einer vollständigen Rekonstruktion des historischen Napoleon und seiner ›Welt‹ in Stanley Kubricks nie realisiertem Filmprojekt vgl. Keyvan Sarkhosh: »Die Welt als Archiv – Stanley Kubricks ›Napoleon‹-Projekt«, in: Christian Moser/Linda Simonis (Hg.), Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: V&R unipress 2014 (= Global Poetics; 1), S. 657-669.

3 4

Doležel 1989, S. 230. Dies führt freilich zurück zur Debatte des Wirklichkeitsbezugs des Films, wie sie insbesondere von Siegfried Kracauer geführt wurde. Für Kracauer steht die Darstellung im Film, der die abbildungstechnische Fortsetzung der Photographie sei (vgl. Kracauer 1997, S. 60), in einem inhärenten Verhältnis zur außerfilmischen Wirklichkeit. Was die Photo-

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 379

nehmen […] – wenngleich oft auf komplizierte Weise – auf die reale Welt« Bezug.1 Dieser Bezug und damit verbunden das Problem, wie Elemente der Wirklichkeit in fiktionale mögliche Welten gelangen, ist letztlich eine Frage der Zugangsrelation.2 Doležel hält dazu fest: »Fictional worlds are accessible from the actual world.«3 Dieser Zusammenhang impliziert indes eine Grenzüberschreitung zwischen den Welten: »The access requires crossing of world boundaries, transit from the realm of actual existents into the realm of fictional possibles. Under this condition, physical access is impossible. Fictional worlds are accessible from the actual world only through semiotic channels by means of information processing.«4 Wenn sich diese Grenzüberschreitung auf mehr beziehen soll als auf einen gemeinsamen Namen zwischen den fiktionalen Entitäten und ihren realen, außertextuellen Vorlagen, dann setzt dies eine informationelle und mediale Transformation voraus (im Falle des Films etwa durch die Linse der Kamera und die Arbeit am Schneidetisch), in dessen Folge »the actual-world ›material‹ enters into the structuring of fictional worlds.«5

bzw. Filmkamera abbilde, sei zunächst die äußere Wirklichkeit, die »physical reality« (ebd., S. 4): »[…] photography has an outspoken affinity to unstaged reality.« (Ebd., S. 18.) 1 2

Scholz 1984, S. 83. Den Begriff der »Zugangsrelation« verwendet Carola Surkamp, die dazu ausführt: »Eine zur Realität alternative Welt wird in der Philosophie dann als mögliche Welt angesehen, wenn sie in einer bestimmten Zugangsrelation (accessibility relation) zur tatsächlichen Welt steht […]. […] Eine mögliche Welt ist von der actual world aus zugänglich, wenn sie in sich keine Widersprüche enthält […].« (Carola Surkamp: »Narratologie und ›possible-worlds theory‹. Narrative Texte als alternative Welten«, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning [Hg.], Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002 [= WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium; 4], S. 153-183; hier: S. 155; Herv. i.O.). – Zur Zugänglichkeit fiktionaler ›möglicher Welten‹ vgl. auch Marie-Laure Ryan: »Possible Worlds and Accessibility Relations. A Semantic Typology of Fiction«, in: Poetics Today 12 (1991), Nr. 3, S. 553-576 [Ryan 1991a].

3 4

Doležel 1989, S. 232 (Herv. i.O.). Ebd. (Herv. i.O.) – Doležel spricht daher von einer »transworld identity« zwischen den fiktionalen Figuren und ihren realen Vorlagen (Doležel 1998, S. 788; Herv. i.O.). Einmal mehr erläutert er dies am Beispiel Napoleons: »To be sure, a relationship between the historical Napoleon and all the possible fictional Napoleons has to be postulated; this relationship, however, reaches over world boundaries and requires cross-world identification.« (Doležel 1989, S. 230; Herv. i.O.)

5

Ebd., S. 232. – Er führt dazu aus: »Possible-worlds semantics makes us aware that the actual material has to undergo a substantial transformation at the world boundary: it has to

380 | KINO DER UNORDNUNG

In diesem Sinne erklärt auch Marie-Laure Ryan: »The textual world is epistemically accessible from the real world, insofar as everything we know about reality can be integrated into it.«1 Damit ist freilich noch nicht die Frage geklärt, wie sich diese Grenzüberschreitung vollzieht, wie unser Wissen von der Realität Eingang in den fiktionalen Text findet. Der Übergang unseres Wissens von der realen in die fiktional mögliche Welt setzt, wie bereits erwähnt, eine informationelle Transformation voraus. Folgt man allerdings Umberto Eco, so ist die ›reale Welt‹ immer schon eine medial vermittelte und informationell gespeicherte; sie ist »jene, die wir durch eine Vielzahl von Bildern der Welt oder von Beschreibungen von Sachverhalten kennen, und diese Bilder sind epistemische Welten, die sich oft wechselseitig ausschließen.«2 Unser Wissen von der Realität ist insofern immer schon ein informationell vermitteltes und medial gespeichertes. Für Eco ist der Ort der Speicherung die »potentiell maximale und vollständige Enzyklopädie […].«3 Dieses Konzept erläuternd führt er aus: »Mit ›Enzyklopädie‹ meine ich die Gesamtheit des Wissens, von der ich nur einen Teil besitze, aber zu der ich, wenn nötig, Zugang habe, da sie so etwas wie eine riesige Bibliothek darstellt, mit allen Büchern der Welt und allen gesammelten Zeitungen und handgeschriebenen Dokumenten aller Zeiten bis hin zu den altägyptischen Hieroglyphen und sumerischen Keilschrifttexten.«4

Ecos Begriff der Enzyklopädie ähnelt im Grunde einem Archiv.5 Die Konstruktion und der Zugang zu fiktionalen Welten erfolgt also vermittels ›Archivierung‹ als ei-

be converted into non-actual possibles, with all the ontological, logical and semantical consequences.« (Ebd., S. 232f.) 1

Ryan 1991b, S. 34.

2

Eco 1992, S. 259.

3

Ebd.

4

Eco 2004, S. 120.

5

Dieses ›Archiv‹, wie es Eco unter dem Begriff ›Bibliothek‹ erfaßt, ist seiner Beschreibung nach ein materielles. Es ist dies als eine Abgrenzung etwa zur Archiv-Konzeption im Sinne Michel Foucaults zu verstehen, in der, so Moritz Baßler, »die ortlose Möglichkeitsbedingung den Sieg über die Materialität und Positivität davon[trägt].« (Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie. Tübingen: Francke 2005 [= KULI – Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur; 1], S. 177.) ›Archiv‹ meint hier also nicht mit Foucault abstrakte »Aussagesysteme« im diskurstheoretischen Sinne (Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 186f.), sondern, darin Baßler und dem von ihm zitierten Boris Groys folgend, ein unter

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 381

nem medialen und informationellen Transformationsprozeß.1 Gerade Roegs Filme mit ihren Verweisen auf Bücher, Filme, Bilder und andere Artefakte stellen diesen Archivcharakter der narrativ vermittelten fiktionalen Welten aus. Dieser Transformationsprozeß läßt sich dabei als ein Verfahren der Fiktionalisierung auffassen.2 Marie-Laure Ryan führt dazu aus: »While fiction is a mode of travel into textual space, narrative is a travel within the confines of this space.«3 Die durch das Archiv vermittelte Welt ist eine narrative, insofern sie eine ›Raumzeit‹ darstellt, in der Ereignisse stattfinden, und die mit fiktionalen Entitäten besiedelt ist, die sich in ihr bewegen und interagieren. Daher scheint es zunächst naheliegend, das Archiv als den »spezifische[n] Ort der Produktion einer jeweiligen Geschichte« aufzufassen.4 Dagegen spricht allerdings der Einwand von Wolfgang Ernst: Das Archiv »erzählt

den Bedingungen der Wissensenzyklopädie »real existierendes« (Baßler 2005, S. 175 unter Bezug auf: Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 179). 1

Es stellt sich damit natürlich die Frage, ob es überhaupt eine primäre, nicht medial verarbeitete und informationell gespeicherte, unabhängige Wirklichkeit geben kann. So geht Boris Groys zwar grundsätzlich davon aus, daß es eine Wirklichkeit außerhalb des ›Archivs‹ als dem Ort der Speicherung geben kann, doch sei jene von diesem abhängig und diesem insofern nachgeordnet: »Und die sogenannte ›Wirklichkeit‹ ist im Grunde nichts anderes als bloß die Summe all dessen, was noch nicht gesammelt worden ist. Die Wirklichkeit ist somit nichts Primäres, das im sekundären Raum des Archivs repräsentiert werden soll, sondern die Wirklichkeit ist in Bezug auf das Archiv selbst sekundär – sie ist alles das, was außerhalb des Archivs übriggeblieben ist.« (Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München/Wien: Hanser 2000, S. 8f.)

2

Den informationellen Transformationsprozeß sieht auch Ludger Kaczmarek als Bedingung der Zugangsrelation zu den narrativen ›möglichen Welten‹ an: »Der Zugang zu ihnen erfolgt nicht durch Hineinspringen in eine solche Welt […], sondern konstruktional über epistemische Kontexte, die ganz wesentlich an den semiotischen Begriff der Enzyklopädie geknüpft sind: Vieles muß nicht gesagt oder gezeigt werden, weil es erschlossen werden kann aus dem, was wir über die Dinge und ihre Beziehungen wissen.« (Ludger Kaczmarek: »Allyfying Leibniz. Einige Aspekte von Kompossibilität und Diegese in filmischen Texten«, in: montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 16 [2007], H. 2, S. 131-145, S. 137.)

3 4

Ryan 1991b, S. 5. Knut Ebeling/Stephan Günzel: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos 2009 (= Kaleidogramme; 30), S. 7-26; hier: S. 9.

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nicht, es registriert.«1 Mit Moritz Baßler gesprochen, der unter Archiv »die Summe aller Texte einer Kultur, die einer Untersuchung zur Verfügung stehen«, versteht, sind die in einem Archiv versammelten Texte »einander gleich- bzw. nebengeordnet zugänglich«.2 Es verfügt also zunächst über keine Hierarchie oder strukturierte Ordnung. Vielmehr gilt Baßler zufolge: »Das Archiv versammelt die für die Kontextualisierung verfügbaren Texte, es enthält sämtliche Texte, zu denen der Einzeltext in Beziehung gesetzt werden kann, aber noch nicht diese Beziehungen selbst. Das heißt, daß es in sich noch nicht indexikalisiert oder strukturiert sein kann.«3 Gerade die Filme Roegs zeichnen sich in ihrer Versammlung kultureller Referenzen angesichts ihrer antilinearen, dislozierenden und – ein Stichwort aus der Einleitung aufgreifend – entropischen, d.h. scheinbar unordentlichen, Struktur als ein solches unstrukturiertes ›Archiv‹ aus. Damit dringen wir zugleich zur Frage durch, wie dieses unstrukturierte ›Archiv‹ narrativ werden kann, wenn man als Minimaldefinition für Narrativität eine – im konkreten wie auch immer geartete – zeitliche, räumliche und schließlich auch kausale Ordnung ansieht (vgl. II 3) a)). Denn das ›Archiv‹ stiftet bereits durch die örtliche Nähe eines Textes oder mehrerer Texte zu anderen einen Kontext. Und diesen kann man durchaus als eine »latente Provokation der Narration« auffassen.4 Der kontextuelle Rahmen verleitet (wohlgemerkt: verleitet) dazu, Verknüpfungen zwischen Texten oder einzelnen Teilen derer herzustellen, gleichsam »rote Fäden« zu legen,5 bzw. im Sinne Paul Ricœurs einer Spur zu folgen, an der sich die lineare »Erstreckung der Zeit« ablesen läßt.6 Aus dieser Verknüpfung gemäß narrativer Parameter (zeitliche, räumliche und/oder kausale Ordnung) erwächst die Narration mitsamt ihrer Diegese als einer ›möglichen Welt‹. Archiv und Welt stehen indes schon immer insofern in einem engen Zusammenhang, als, einer These Jürgen Fohrmanns folgend, »jede Systematizität des Archivs zugleich eine topologische Kartierung von Welt« und daher das »Archiv eine jener Kategorien ist, deren Extension dazu tendiert, die ›ganze Welt‹ zu implizieren«.7 Diese Welt ist jedoch gezwungenermaßen eine unvollständige, lückenhafte.

1

Wolfgang Ernst: »Das Archiv als Gedächtnisort«, in: Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos 2009 (= Kaleidogramme; 30), S. 177-200; hier: S. 185.

2

Baßler 2005, S. 196.

3

Ebd., 181f.

4

Ernst 2009, S. 189

5

Ebd., S. 188.

6

Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 3: Die erzählte Zeit. Übers. v. Rainer Rochlitz. München: Fink 1991 (= Übergänge; 18), S. 198.

7

Jürgen Fohrmann: »›Archivprozesse‹ oder über den Umgang mit der Erforschung von ›Archiv‹. Einleitung«, in: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hg.): Archivprozesse. Die

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Und dies gilt auch für die erzählte fiktionale Welt; hier liegt geradezu der Grund für ihre notwendige Unvollständigkeit. So hält Doležel fest: »If incompleteness is a logical ›deficiency‹ of fictional worlds, it is an important factor of their aesthetic efficiency. […] The distribution of filled and empty domains is governed by aesthetic principles […].«1 Die Unvollständigkeit und Lückenhaftigkeit der erzählten Welt resultiert letztlich stets aus dem Umstand, daß sie sich immer nur aus einer selektiven Verknüpfung archivierter Wirklichkeitsfragmente, d.h. Texte (im weiten Sinne), zusammensetzt. Die Lücken und Leerstellen können narrativ arrangiert und ausgestaltet werden, gleichwohl bleibt Doležel zufolge als Faktum bestehen: »Both fictional and historical worlds are by necessity incomplete. To construct a complete world would require writing a text of infinite length – a task that humans are not capable of accomplishing.«2 Die Bedenken, die Doležel hier artikuliert, sind zweifelsohne richtig. In der Konsequenz bedeutet dies, daß es nicht nur »keine vollständige Beschreibung« gibt, wie Achim Hölter betont,3 sondern eben auch kein vollständiges Erzählen und lückenloses Erschaffen fiktionaler Welten. Dies gilt für die Literatur ebenso wie für andere narrative oder beschreibende Medien, darunter auch den Film. Hierin liegt letztlich der Grund, warum »Maximalwelten« zum Scheitern verurteilt sind, wie Eco zu Recht betont.4 Oder, im Sinne einer narrativen Kosmologie, die ja gerade Roeg so zu liegen scheint, ausgedrückt: Die Expansion des narrativen Universums führt zwangsläufig zu dessen Implosion. Das wiederum bedeutet: Erzählen und die narrative Konstruktion fiktiver Welten setzen immer schon Selektion und Verknüpfung von transformierten und archivierten (Wirklichkeits-)Fragmenten

Kommunikation der Aufbewahrung. Köln: DuMont 2002 (= Mediologie; 5), S. 19-23; hier: S. 19 (Herv. i.O.). – Zugegebenermaßen sind Archive – realiter und materiell – endlich; und doch suggerieren sie einen »Effekt der Unendlichkeit« (Groys 2000, S. 13). Wenn schon die Darstellung eines Archivs, wie Moritz Baßler zu bedenken gibt, den »Globus im Maßstab der Welt«, von dem in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) die Rede ist (Rainer Maria Rilke: »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, in: ders., Prosa und Dramen. Hg. v. August Stahl. Frankfurt a.M.: Insel 1996 [= Rainer Maria Rilke: Werke. Komm. Ausg. in 4 Bdn.; Bd. 3], S. 453-635; hier: S. 609), erforderte (Baßler 2005, S. 200), so müßte eine vollständige Umsetzung des Archivs diesen Maßstab gar sprengen. 1

Doležel 1989, S. 234.

2

Doležel 1998, S. 794.

3

Achim Hölter: »Vollständige Beschreibung. Zu Borges und anderen Meta-Erzählern«, in: ders./Monika Schmitz-Emans (Hg.), Wortgeburten. Zu Ehren von Karl Maurer. Heidelberg: Synchron 2009, S. 157-171; hier: S. 157 (Herv. i.O.).

4

Eco 1992, S. 279.

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sowie das narrative Füllen von Lücken voraus. An die Stelle von Totalität tritt somit, der These Hölters folgend, ›Ganzheitlichkeit‹: »Wer also die ganze Welt aufzählt, sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Deshalb nehmen wir nicht nur ganzheitlich, d.h. eben nur elliptisch wahr, sondern erzählen auch so.«1 Wer den von Eco so bezeichneten »Wald der Fiktionen«2 ›ganzheitlich‹ wahrnehmen will, braucht also eine kritische Distanz. Damit sind wir wieder bei der Frage nach dem Beobachter angelangt, der uns schon bei den Ausführungen zu Dunnes Theorie der Serialität (III 3) 2)) und für Einsteins Grundlegung der Speziellen Relativitätstheorie III 3) 3)) beschäftigt hat – und dem eine entscheidende Rolle in der Quantentheorie zukommt.

3) »… EIN WACHSENDES , SCHWINDELERREGENDES N ETZ …« – N ARRATIVE B IFURKATIONEN Das Konzept ›möglicher Welten‹ stellt ein geeignetes Denkmodell dar, um das Verhältnis von realer und fiktiver Welt einschließlich der Übergänge zwischen beiden zu erklären. Gleichwohl gibt Carola Surkamp zu bedenken, daß die MöglicheWelten-Theorie (Possible Worlds Theory, PWT) vor allem dann einen »Gewinn für die Narratologie« darstelle, »wenn die Unterscheidung zwischen einer tatsächlichen Welt und ihren möglichen Alternativen nicht zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen der Welt außerhalb des Textes und der fiktionalen Wirklichkeit eingesetzt wird, sondern innerhalb des narrativen Textes selbst verankert wird.«3 Auch innerhalb eines Textes kann also die Möglichkeit mehrerer parallel nebeneinander existierender ›möglicher Welten‹ angelegt sein, d.h. »daß auch Ereignisse in Erzähltexten aus Verzweigungen bestehen, bei denen eine Handlung zur Verwirklichung kommt und mögliche Alternativen virtuell bleiben […].«4 Diese Vorstellung parallel existierender möglicher Welten desselben ontologischen Status impliziert der Begriff der ›Borges-Welt‹, wie er von Nicholas Rescher geprägt wurde: »A Borges world […] is one in which all of the distinct alternatively possible outcomes of a contingent situation are jointly realized – irrespectively of how incompatible they may be. There is one single internally complex world manifold, embracing distinct and discordant ac-

1

Hölter 2009, S. 161.

2

Vgl. den Titel von Eco 2004.

3

Surkamp 2002, S. 167.

4

Ebd., S. 168. – Carola Surkamp hebt in diesem Zusammenhang hervor, »daß die nichtaktualisierten Möglichkeiten sowohl für die Struktur des Plot als auch hinsichtlich der Erwartungen der Leser an den weiteren Verlauf der Handlung wichtig sind […].« (Ebd.)

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tualities not by spatial distribution […] but rather by a conjoint superposition. […] The ›reality‹ of such a world is intrinsically manifold and alternative-embracing, because all genuinely possible alternatives are conjointly actualized. […] And this leads to the concept of what I shall call the Borges hypothesis: the theory that this, that the actual world, is a superpositive Borges world of which our world, the world as we humans experience it, is simply one component element (alongside its innumerable alternatives).«1

Rescher formuliert seine These gleichzeitig aktualisierter Welten zwar mit Blick auf unsere vermeintliche ›reale‹ Welt, doch läßt sie sich auch auf das Verhältnis verschiedener möglicher fiktionaler Welten übertragen – zumal Rescher sich selbst explizit auf Borges’ El jardín de senderos que se bifurcan bezieht.2 Die Vorstellung mehrerer parallel existierender fiktionaler Möglichkeiten ist also durchaus in Borges’ Denken angelegt, und es wird hierauf im folgenden noch näher einzugehen sein.3 Überhaupt steht bei Borges, wie bereits erörtert, die Unterscheidung zwischen ›realen‹ und ›fiktiven‹ Welten immer wieder zur Disposition, so etwa, wenn er die Frage stellt, warum es uns beunruhige, »daß Don Quijote der Leser des Quijote ist und Hamlet der Zuschauer des Hamlet«, und daraus den Schluß zieht: »Solche Spiegelungen legen die Vermutung nahe, daß, sofern die Charaktere einer Fiktion auch Leser oder Zuschauer sein können, wir, ihre Leser oder Zuschauer, fiktiv sein können.«4 Für Floyd Merrell ist diese Unentscheidbarkeit zwischen Realität und Fiktion, wie sie Borges in seinem Essay über die Magias parciales del ›Quijote‹ ins Spiel führt, ein Problem, das an die Annahmen der Quantentheorie heranreicht: »The problem is that we find ourselves ultimately returned not only to the quantum theoretical observer-observed dilemma but also to the problem of consciousness of

1

Nicholas Rescher: »Leibniz on Possible Worlds«, in: Studia Leibnitiana 28 (1996), Nr. 2, S. 129-163; hier: S. 138f. (Herv. i.O.)

2

»In his short story, The Garden of Forking Paths, Jorge Luis Borges, that brilliant Argentinean writer of metaphysical science fiction, envisioned a fictional work (by an equally fictional author, Ts’ui Pen) that is the complex history of a world in which all alternative possibilities are concurrently realized«, leitet Rescher sein Argument ein (ebd., S. 138; Herv. i.O.).

3

Das Nebeneinander vieler möglicher Borges-Welten ließe sich unter dem Begriff des ›Borges-Universums‹ zusammenfassen. Dieses ist, wie Sharon Lynn Sieber betont, »one that is marked by a fascination with geometrical shapes and mathematical reasoning superimposed on seemingly random events in time and disassociated objects in space.« (Sieber 2004, S. 207.)

4

Jorge Luis Borges: »Magische Einschübe im ›Quijote‹«, in: ders., Inquisitionen. Vorworte. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2003 (= Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil), S. 52-55; hier: S. 55.

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oneself and of a world ›out there‹.«1 Es sind dies zwei Spuren, die es weiterzuverfolgen gilt. Bleiben wir zunächst bei der Rolle des Beobachters. a) »I prefer to label myself an observer« – Der Zuschauer als Voyeur und Spion In ihrem Aufsatz »Visual Pleasure and Narrative Cinema« (1975), der zu einem der zentralen Texte einer feministischen Filmtheorie avancierte, setzt sich Laura Mulvey mit der Bedeutung der Einschreibung eines genuin männlichen Blicks in den Film auseinander. Ungeachtet aller geschlechterpolitischen Implikationen und Intentionen erörtert Mulvey dabei auch grundlegende Fragen des Zuschauerblicks für die Strukturen des narrativen Films. Mulvey zufolge stellt die fiktionale Welt im Film eine hermetische Welt dar, die unter permanenter Beobachtung steht, die sich dieser Beobachtung aber nicht bewußt ist.2 Abbildung 103: ›The Watcher‹ – Newton unter Beobachtung

THE MAN WHO FELL TO EARTH (Nicolas Roeg, 1976)

Eine solche Situation von Beobachten und nicht bewußtem Beobachtet-werden findet sich auch zu Beginn von THE MAN WHO FELL TO EARTH, als Newton durch eine verlassene Mine läuft. Auch wenn er selbst dies nicht realisiert: sein Ankommen auf Erden ist nicht unbemerkt geblieben. Auf dem Hügel steht ein Mann, der jeden der Schritte des Neuankömmlings beobachtet (Abb. 103): »This character, who will briefly return later, is the most prominent example of what Roeg calls the ›watcher‹, a person who sits in attendance on the action, much as the audience does.

1 2

Merrell 1991, S. 166 (Herv. i.O.). Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 16 (1975), Nr. 3, S. 6-18; hier: S. 17.

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These watchers often influence the dynamics of the composition: two characters confront one another, while a third sits silently in the background, as if representing the audience.«1

Immer wieder begegnen uns in Roegs Filmen solche Beobachtergestalten. Und wie auch Scott Salwolke in seiner Aussage andeutet, verweisen sie stets darauf, daß hinter Beobachtetem und Beobachter in der Diegese immer noch ein Dritter, der Zuschauer des Films, steht. Die Beobachter in den Filmen haben damit eine metapoetische Funktion, sie machen eine Aussage über dem Film(ischen) inhärente Strukturen. Im Falle von THE MAN WHO FELL TO EARTH ist der Beobachter ein physisch erhöhter, gleichsam über den Dingen stehender Überblicksbeobachter; sein Blick ist ein allumfassender, ein panoramatischer.2 Gleicht er damit dem Kinozuschauer, der alles im Blick zu haben scheint? Der Film, dies impliziert bereits die angeführte Aussage Laura Mulveys, versetzt den Zuschauer in eine vermeintlich privilegierte Betrachterposition.3 Eine privilegierte Betrachterposition des Zuschauers gehört zu den Grundbedingungen des klassisch-realistischen Films und ergibt sich aus dem Gebot der Transparenz (vgl. II 3) c)). Den Begriff der Transparenz wörtlich nehmend, ließe sich dies als ein scheinbar unvermittelter, d.h. klarer und ungetrübter Blick auf die narrative Welt auffassen. Demgegenüber ist der Blick in Roegs Filmen oftmals ein verschleierter, in welchem sich die technischen Bedingungen seiner medialen Vermittlung visuell bemerkbar machen. In WALKABOUT sind es die häufig auftretenden Dispersionen – als ausgebildeter Kameramann wird Roeg gewußt haben, daß es diese normalerweise zu vermeiden gilt4 –, die das Gezeigte als ein immer schon durch die Kameralinse vermitteltes Bild auszeichnen. In BAD TIMING ist es der Einsatz selektiver Schärfe (›shallow focus‹), wodurch in etlichen Einstellungen über einen Großteil des Bildes eine Art Schleier gelegt wird (vgl. Abb. 104). Damit grenzt sich Roeg wieder

1

Salwolke 1993, S. 54. – Anläßlich von BAD TIMING hebt der Regisseur etwa hervor: »Yes, that is what we really are, watchers, we can only observe, we can’t explain much to each other.« (Roberts 1980, S. 9.) – Zu Roegs Faszination für Beobachter vgl. auch Roeg 2013, S. 186-188.

2

Zum panoramatischen Blick vgl. Heinz Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert. München: Fink 1970.

3

Man könnte sogar sagen, daß der Zuschauer nicht nur dem Überblicksbeobachter wie in THE MAN WHO FELL TO EARTH, der von einem Punkt aus panoramatisch das Geschehen erfaßt, sondern mehr noch dem Beobachter in Borges’ Aleph gleicht, über den Leopold Federmair schreibt: »Der Betrachter nämlich ist ein vielfaches Wesen: Es sieht die Dinge nicht von einem Standpunkt, sondern von allen Punkten des Universums aus.« (Federmair 2006, S. 691; Herv. i.O.)

4

Vgl. Izod 1992, S. 60.

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einmal deutlich von einer realistischen Tradition ab: Das Verfahren der selektiven Schärfe steht im Gegensatz zur sogenannten Deep Focus Photography. Letztere, die auf große Schärfentiefe setzt, gilt Bazin als Signum des Realismus, wie er von CITIZEN KANE verkörpert werde. Er lobt als Neuerung bei Welles die Arbeit mit einer vorher nicht üblichen Bildtiefe und konstatiert: »Dank der Schärfentiefe des Objektivs hat Orson Welles der Realität ihre wahrnehmbare Kontinuität wiedergegeben.«1 Bazin sieht dabei die Kontinuität der Schärfentiefe als ein Gegenstück zur diskontinuierlichen Montage an.2 Letztere habe vor allem die Unschärfe im Bild bedingt, die sich insbesondere aus dem Einsatz der Großaufnahme ergeben habe. »Die Unschärfe des Hintergrunds verstärkt also die Wirkung der Montage, sie gehört nur bedingt zum Kamerastil, aber wesentlich zum Erzählstil.«3 Abbildung 104: Wie ein Schleierüber dem Bild – selektive Schärfe

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980)

Der klassisch-realistische Erzählstil, wie er von Bazin propagiert wird, intendiert die Erschaffung einer Welt, die dem distanzlosen, unverstellten Blick des Zuschau-

1

Bazin 2004a, S. 310. – Die vermeintliche Realitätsnähe der Schärfentiefe ergibt sich für Bazin aus dem Umstand, daß sie »den Zuschauer in eine Beziehung zum Bild [versetzt], die derjenigen, die er zur Realität hat, viel näher ist« als andere Verfahren (Bazin 2004b, S. 103).

2

In Abgrenzung zur Montage hebt Bazin dabei hervor: »Richtig eingesetzt, ist die Schärfentiefe nicht nur eine ökonomischere, einfachere und subtilere Art, ein Geschehen zur Geltung zu bringen; mit den Strukturen der Filmsprache beeinflußt sie auch die intellektuelle Beziehung des Zuschauers und damit den Sinn des Schauspiels.« (Ebd.)

3

Ebd., S. 101. – Richard Maltby faßt diese Position Bazins noch einmal treffend zusammen: »What Bazin saw as important about deep-focus photography was that it allowed the viewer a continuous gaze over a continuous space, rather than fragmenting the viewer’s perception of that space through editing.« (Maltby 2003, S. 234.)

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ers als Beobachter des erzählten Geschehens ausgesetzt ist. Wie Mulvey darlegt, verbindet sich der Blick des Zuschauers mit jenem der Kamera, der so ausgelegt sein sollte, daß keinesfalls im Zuschauer der Eindruck einer Distanz zum dargestellten Geschehen aufkommt: »There are three different looks associated with cinema: that of the camera as it records the pro-filmic event, that of the audience as it watches the final product, and that of the characters at each other within the screen illusion. The conventions of narrative film deny the first two and subordinate them to the third, the conscious aim being always to eliminate intrusive camera presence and prevent a distancing awareness in the audience.«1

Auch gegen dieses Gebot einer distanzlosen Unmittelbarkeit verstoßen Roegs Filme, indem sie den Zuschauer zu spüren geben, daß er eben nur ein Betrachter ist. So stellt Neil Feineman mit Blick auf WALKABOUT fest: »[…] rather than becoming one with the film, we tend to be vicarious observers.«2 Dies ist nicht zuletzt eine Folge davon, daß wir als Zuschauer allen Figuren gegenüber in einem emotional distanzierten Verhältnis stehen, wie Feineman darlegt und darauf verweist, daß selbst der Aborigine – obgleich Retterfigur – keine Identifikationsmöglichkeit biete: »[…] we usually cannot identify with a character whose principal actions remain a mystery […].«3 Dagegen haftet der Zuschauer-Blick eher voyeuristisch auf dem Mädchen, wenn sie nackt im See schwimmt:4 »The camera lingers in voyeuristic fashion on Agutter’s nubile body, in the ›sex sells‹ fashion of popular music videos. […] The visual narrative in fact interrogates viewer expectations aroused by the music and a quasi-soft porn gaze of Agutter in a state of apparent (mostly underwater) bliss.«5 Bewußt spielt Roeg hier mit den Sehgewohnheiten des Zuschauers: der Blick, der das Mädchen als sexuelles Objekt behandelt, ist dabei bereits intra-

1

Mulvey 1975, S. 17.

2

Feineman 1978, S. 78.

3

Ebd., S. 76.

4

Diese Konstellation des Zuschauers als Voyeur ist Chuck Kleinhans zufolge auch für PERFORMANCE kennzeichnend: »In PERFORMANCE, for all the tricks of cutting, costumes, masks, roles, and fantasy sequences, we remain voyeurs, ironic voyeurs.« (Kleinhans 1974, S. 15.) Dabei schaffe Roeg eine deutliche Distanz zu den Figuren: »Roeg does not merely stand apart from his characters, but constantly above them, and has us share that position.« (Ebd.)

5

Stephens 2009, a.a.O.

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diegetisch vorbereitet, denn der Vater wirft auf der Fahrt zum Picknick einen Blick auf die Schenkel seiner Tochter, die ihren Schuluniformrock trägt.1 Indem Roeg immer wieder den Blick von Figuren ausstellt, verweist er implizit darauf, daß diesem für das filmische Erzählen eine herausragende Bedeutung zukommt. »The ›gaze‹ refers to the representation of looking«, erläutert Robyn Warhol das Konzept des Blicks im Film und ergänzt: »Grounded in the perspective of the consciousness through which a narrative’s point of view is focused, the gaze frames the object of narration.«2 Auch Noël Burch hebt die Bedeutung des Blicks insbesondere für die ›realistische‹ Erzählung hervor, wobei er dies auch auf die Literatur ausweitet: »Undeniably, identification with the gaze that tells is essential to the power of classical bourgeois narrative – both on the screen and in the novel.«3 Burch argumentiert dabei, daß sich im Fall des Films der Blick des Zuschauers mit dem der Kamera verbinde: »[…] the specific experience defined by the cinema institution involves […] a primal identification with the gaze that sees, the gaze that is-there, with the point of view of the camera.«4 Die Medialisierung des Blicks wird dabei zu einem Mittler, der das ›Eintauchen‹ des Zuschauers in die Welt ermöglicht; dies ist, mit Roger Odin gesprochen, die »erste Stufe des Fiktionseffekts, nämlich die Identifikation des Zuschauers mit der Kamera. […].«5 Um eine solche Eingang in die Fiktion vermittelnde vollständige Identifikation zu gewährleisten, haben sich im Laufe der Filmgeschichte bestimmte Konventionen herausgebildet, von denen die wichtigste die Vermeidung des direkten Blicks der Darsteller in die Kamera ist. Burch legt dazu dar: »Now, in order to increase the cine-spectator’s sense of being-there, it was necessary to eliminate the camera from the (apparent) consciousness of the actors; they had ostensibly to ignore it. For the spectator to receive as directed at him/her a gaze at the camera had become tantamount to the hidden voyeur’s shock when his/her gaze is unmasked and returned. As a

1

Es ist hier wohl John Izod zuzustimmen, wenn er konstatiert: »The image of a woman in schoolgirl’s clothing is a pornographic archetype.« (Izod 1980, S. 114.)

2

Robyn Warhol: »Gaze«, in: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York: Routledge 2005, S. 194.

3

Burch 1982, S. 21 (Herv. i.O.).

4

Ebd., S. 21f. (Herv. i.O.).

5

Roger Odin: »L’entrée du spectateur dans la fiction«, in: Jacques Aumont u.a., La théorie du film. Colloque de Lyon. Paris: Éd. Albatros 1980 (= Ça cinéma; 26), S. 198-213; hier: S. 209 (Herv. i.O.; Übers. KS). – Im Moment dieser Medialisierung wird der Zuschauer Burch zufolge zu einem gleichsam körperlosen Wesen: »Through this constant identification with the camera’s viewpoint, the experience of the classical film interpellates us solely as incorporeal individuals.« (Burch 1982, S. 22; Herv. i.O.)

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condition of being able to ›take off‹, to enter that ›other scene‹ of the film, to feel him/herself freely evolving within it, the spectator had to feel him/herself unobserved.«1

Mulvey, die auf den intrinsischen Zusammenhang von Blicken und lustvollem Vergnügen verweist,2 spricht ebenfalls dieses voyeuristische Moment des Filmschauens an: »The cinema offers a number of possible pleasures. One is scopophilia. There are circumstances in which looking itself is a source of pleasure, just as, in the reverse formation, there is pleasure in being looked at.«3 Auch in Roegs Werk erweist sich der Voyeur als der Beobachter schlechthin. Und wieder einmal verhandelt er in einem seiner Filme auf inhaltlicher Ebene, was für den Film an sich grundlegend ist: In einer zentralen Szene in BAD TIMING ist Alex Linden zu sehen, wie er an der Universität Wien eine Vorlesung über Voyeurismus hält (Abb. 105). »We are constantly in isolation, watching, spying on everyone and everything around us«, wendet sich Alex an seine Studenten und benennt das Thema der Stunde: »secrecy and spying, or call it what you will: watching.« Er projiziert ein Dia mit einer Nahaufnahme eines Kindergesichts und erläutert: »So I give you the first spy.« Und sogleich eine Aufnahme, die eine Frau und einen Mann beim Sex zeigt: »And the first to be spied on«, fügt er unter Anspielung auf Freuds ›Urszene‹ an.4 Darauf folgen Portraits von J. Edgar Hoover, Sigmund Freud und Jo-

1

Ebd. (Herv. i.O.). – Burch spricht dabei dem Schuß-Gegenschuß-Verfahren eine wesentliche Bedeutung für diese unaufdringliche Kameraführung zu: »Camera identification finds its firmest anchorage in that key figure, the shot-counter-shot, whereby the spectator becomes the invisible mediator between two gazes, two discourses which envelop him/her, positioned thus as the ideal, invisible voyeur.« (Ebd.)

2

Mulvey führt zu diesem Zusammenhang aus: »As an advanced representation system, the cinema poses questions of the ways the unconscious (formed by the dominant order) structures ways of seeing and pleasure in looking.« (Mulvey 1975, S. 7.)

3

Ebd., S. 8. – Für Mulvey bestätigt sich hier, daß sich eine dominante Form des männlichpatriarchalen Blicks in ein dominantes System filmischen Erzählens eingeschrieben hat: »The magic of the Hollywood style at its best (and of all the cinema within its sphere of influence) arose, not exclusively, but in one important aspect, from its skilled and satisfying manipulation of visual pleasure. Unchallenged, mainstream film coded the erotic into the language of the dominant patriarchal order.« (Ebd.)

4

In der Fallgeschichte des »Wolfsmanns«, von der Freud in seiner Geschichte einer infantilen Neurose (1914/18) berichtet, bezeichnet Freud mit »Urzene« das Erlebnis eines Patienten, der als Kind die Eltern beim Geschlechtsverkehr beobachtete (vgl. Sigmund Freud: »Geschichte einer infantilen Neurose«, in: ders., Werke aus den Jahren 19171920. Unter Mitw. v. Marie Bonaparte hg. v. Anna Freud. 6. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 1986 [= Gesammelte Werke Bd. 12], S. 27-157 [Freud 1986b]; hier: S. 65).

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sef Stalin, und Alex kommentiert: »Some famous spies. Two of whom might be called political voyeurs.« Dies fordert die Frage einer Studentin heraus: »Could you not as well put your picture up there? Or mine?« Unser Dozent bestätigt: »I could«, woraufhin die Studentin noch einmal nachhakt: »Then you are saying we are all spies?« Alex verneint dies nicht, schränkt aber ein: »Well, I prefer to label myself an observer.« Möchte er sich vielleicht nicht mit dem identifizieren, was er selbst doziert? »Now the guilt-ridden voyeur is usually a political conservative«, so seine Diagnose. Abbildung 105: »The first spy… and the first to be spied on.«

BAD TIMING (Nicolas Roeg, 1980)

Es ist zweifelsohne Teresa de Lauretis darin zuzustimmen, daß Alex’ Vorlesung über den Voyeurismus einen metapoetischen Kommentar über die Natur filmischen Erzählens darstellt: »This short sequence, on the very theme of voyeurism, is a condensed and perfect metaphor of the entire film’s work with and against narrative cinema: it frustrates the expected corre-

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spondence of look and identification, power and knowledge, while it emphasizes their historical, social and cinematic complicity.«1

Die Beobachterfiguren in Roegs Filmen können damit als Stellvertreter für den Zuschauer als Beobachter schlechthin aufgefaßt werden. Roeg präsentiert sie dabei in einer Weise, die sie oftmals als Voyeure oder Spione erscheinen läßt. Als Laura in DON’T LOOK NOW Wendy und Heather auf die Damentoilette begleitet, entschuldigen sich die beiden Schwestern mit den Worten: »I hope you don’t think us rude, staring at you out there. We’re active starers, the two of us. It comes from living in the country, you know. Country people always stare.« Voyeuristische Züge trägt auch das Verhalten einer anderen Frau vom Land, wenn in PUFFBALL Molly ihre Nachbarn Liffey und Richard beim Sex im Wald beobachtet (Abb. 106). Abbildung 106: Molly beobachtet Liffey und Richard beim Sex

PUFFBALL (Nicolas Roeg, 2007)

Ähnlichen Blicken ist schließlich die Schauspielerin bei den Dreharbeiten zu Beginn von INSIGNIFICANCE ausgesetzt, wenn sie über dem U-Bahn-Schacht steht und ihr Rock hochgeblasen wird. »What’d you see? Did you see anything?«, fragt einer der Arbeiter, die die Windmaschine bedienen, seinen Kollegen, der hochschaut: »I saw the face of God«, entgegnet dieser lächelnd. Und so schlußfolgert Neil Sinyard: »The actress is being watched in the opening scene: she is the object of everyone’s

1

de Lauretis, S. 36. – Gerade in BAD TIMING gehen für de Lauretis dabei die Struktur des Blicks und die Struktur der Narration Hand in Hand: »[…] the disruption of the apparatus of look and identification (which is produced and broken at the same time) is concurrent with a dispersal of narrative, temporal, visual and aural registers.« (Ebd.)

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gaze.«1 Dies gilt selbst für ihren Mann, der zu den Dreharbeiten erschienen ist: »Among the onlookers is the disgruntled figure of the Ballplayer«, so Vincent Canby.2 Eine solche Konstellation von Beobachten und der Beobachtung ausgesetzt sein durchzieht auch THE MAN WHO FELL TO EARTH: dies artikuliert sich einerseits in Newtons exzessivem Fernsehkonsum, andererseits in »the film’s gathering sense of paranoia«, wie Sinyard betont.3 Newton wird zunehmend zu einem Objekt der Überwachung und ähnelt darin John Baxter in DON’T LOOK NOW. Als dieser sich an die venezianische Polizei wendet, nachdem er Laura auf einem Vaporetto erblickt zu haben meint, obwohl sie in England sein sollte, läßt der Inspektor nicht die beiden von John verdächtigten Schwestern beschatten, sondern John selbst. Einem Spion gleicht auch Luke in THE WITCHES, wenn er die Hexen heimlich auf ihrem Kongreß beobachtet: »Caught spying, Luke escapes and tries to alert Helga«, faßt Tom Milne die Situation zusammen.4 Am deutlichsten tritt das Thema der Spionage allerdings in BAD TIMING zutage:5 Alex, der vom Militär angeheuert wird, um ein Profil über Stefan und Milena anzufertigen, wird selbst zum Objekt investigativer Nachforschungen. Neil Sinyard führt zu seiner Situation aus: »He thinks he is the agent of investigation into human behavior but, as the film progresses, he becomes the subject under review: the watcher becomes the watched.«6 Deutlich erscheint Netusil dabei als Voyeur: »He orbits the sexual couple«, wie Ian Penman betont.7 Und wenn der Kommissar gleichsam einen Doppelgänger des Verdächtigten darstellt (vgl. III 2) b)), dann nimmt diese voyeuristische Beobachtung narzißtische Züge an. Auf inhaltlicher Ebene realisieren Roegs Filme damit die Freudsche ›Urszene‹, die Mulvey zufolge für die dominante Form des Films und seiner Erzählverfahrensweisen bestimmend ist:

1 2

Sinyard 1991, S. 97. Vincent Canby: »›Insignificance‹, Mythic Tale of the 50’s«, in: The New York Times, 24.05.1996, http://movies.nytimes.com/movie/review?res=9A04E7DD1E38F932A2575B C0A963948260 [30.09.2013].

3 4

Sinyard 1991, S. 61f. Tom Milne: »The Witches«, in: Monthly Film Bulletin 57 (1990), Nr. 676, S. 146f.; hier: S. 146.

5

Für Neil Sinyard ist Spionage sogar eines der Leitmotive des Films (vgl. Sinyard 1991, S. 75).

6

Ebd., S. 74f.

7

Penman 1980, S. 109.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 395

»The cinema satisfies a primordial wish for pleasurable looking, but it also goes further, developing scopophilia in its narcissistic aspect. The conventions of mainstream film focus attention on the human form. Scale, space, stories are all anthropomorphic. Here, curiosity and the wish to look intermingle with a fascination with likeness and recognition: the human face, the human body, the relationship between the human form and its surroundings, the visible presence of the person in the world.«1

Die Rolle des Sehens für die Strukturen eines klassischen Erzählens hebt auch Edward Branigan hervor. Nach dem Ursprung (»origin«) als »that beginning point or source of the space from which the representation derives« ist der Blick (»vision«) das zweite von insgesamt sechs Elementen, die Branigan als definierend für die ›klassische‹ Repräsentation in den visuellen Künsten betrachtet: »Vision is a force: the activating instance or cause (the gaze) which brings representation into being from an origin.«2 Als weitere Elemente listet er auf: Zeit (»time«3), Rahmen (»frame«4), Objekt (»object«5) und Bewußtsein (»mind«). Insbesondere letzterem spricht Branigan eine wesentliche Rolle für die Stiftung von Kohärenz zu, die als Merkmal des ›Klassischen‹ aufzufassen ist: »Mind is that condition of consciousness – sentience – which is represented as (not is) the principle of coherence of the representation. That is, inscribed within the representation is the principle of its own intelligibility, the logic of its appearance before us. […].«6 Gleichwohl meint Branigan mit ›Bewußtsein‹ keines, das hinter der Narration steht und sich für diese verantwortlich zeichnet, wie dies Wayne C. Booth mit seiner Vorstellung eines impliziten Autors propagiert.7 In expliziter Abgrenzung zu diesem betont Branigan statt des-

1 2

Mulvey 1975, S. 9. Edward Branigan: Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film. Berlin/New York/Amsterdam: Mouton 1984 (= Approaches to Semiotics; 66), S. 57 (Herv. i.O.).

3

»Time is a process which links the units of representation into a whole – a continuity – or specifies where the units are not whole – a discontinuity. It is the measure and logic of a sequence, or succession, of framed parts.« (Ebd.)

4

»The frame is the perceptual limit or boundary which divides what is represented from what is not represented with respect to (from) an origin: Here it is (and not there). The frame is the measure and logic of the simultaneity of parts. To frame is to bracket an array using some principle […] of exclusion/inclusion.« (Ebd.; Herv. i.O.)

5

»The object is what is represented; that which is revealed (framed) as the object of vision.« (Ebd.; Herv. i.O.)

6 7

Ebd. (Herv. i.O.). Mit dem von ihm propagierten impliziten Autor nimmt Booth eine Mittelinstanz zwischen dem realen Autor, der den Text geschaffen hat, und dem Erzähler als ein vom im-

396 | KINO DER UNORDNUNG

sen: »Just as meaning does not depend on intention so there is no need to construct a consciousness behind the fiction to explain the production of that meaning (narration). […] Instead, what is at stake is the manipulation of symbols by the reader.«1 Branigan stärkt damit die Rolle des Rezipienten bei der ›Erschaffung‹ einer zusammenhängenden Erzählung: diese setzt sich erst in dessen Bewußtsein zusammen und ist eine Folge der Interpretation (Manipulation) der textuellen Elemente (Symbole). Bezogen auf den Film resultiert daraus, daß sich Narration in den visuellen Künsten überhaupt erst in Relation zum rezipierenden Zuschauersubjekt definieren läßt: »Thus we may define narration in the visual arts as a positioning of the viewer with respect to a production of space, and subjectivity as a production of space attributed to a character.«2 Auch der Film ist selbstverständlich zunächst einmal zu den visuellen Künsten zu zählen. Doch während in diesen sich das Erzählerische als eine räumliche Relation in Bezug auf den Betrachter artikuliert, stellt der Film insofern eine Erweiterung dar, als hier die Kategorie des Raums untrennbar mit jener der Zeit verbunden ist. Darin unterscheide sich der Film grundsätzlich von allen anderen Künsten, dies mache ihn, so Branigan, zu einer ›nicht-klassischen‹ Kunst: »This notion of interdependent time and space does not exist in the culture that generates classical artworks. For the classical work time and space are cultural facts necessary to the giving and receiving of narrative so long as it remains within the boundary of those cultural readings. Time and space in the classical system are separable and absolute.«3

Die unauflösliche Verbindung von Raum und Zeit ist für Branigan dabei notwendigerweise an die Vorstellung eines Beobachters geknüpft, in dessen Erfahrung sich diese erst ergebe: »Space does not exist because it is sprung-out in time, but only because it is referenced to the changes in space (velocity, acceleration) experienced by an observer and can never be separated from such changes.«4 Branigans Ausführungen rufen das Konzept einer relativitätstheoretischen Raumzeit in Erinnerung; der Film weicht damit ebenso von anderen ›klassischen‹ Künsten ab, wie die Einsteinsche Relativitätstheorie einen Bruch mit der ›klassischen‹, d.h. Newton-

pliziten Autor hervorgebrachtes Element an. Der implizite Autor zeichne für die Bedeutung wie auch die moralischen Normen des Textes verantwortlich (vgl. Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. 2nd ed. Chicago, IL/London: The Univ. of Chicago Press 1983, S. 71-73). 1

Branigan 1984, S. 59.

2

Ebd., S. 64 (Herv. i.O.).

3

Ebd., S. 60.

4

Ebd.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 397

schen Physik darstellt. Auch von dieser Perspektive her bezeugt sich also die Nähe des Films zu Annahmen und Prämissen der Relativitätstheorie. Zu diesen Prämissen zählt, wie bereits dargelegt, daß Raum und Zeit keine absoluten Größen mehr sind, sondern nur noch in Bezug auf einen Beobachterstandpunkt aufgefaßt werden können. Diese Rolle des Beobachters in der Einsteinschen Relativitätstheorie hebt auch Cappello hervor: »In the Newtoninan world, matter and energy appear to be two separate and fixed components; in the Einsteinian world, by changing the position of the observer, E=MC2. The observer and his or her point of view had never before been scientifically considered.«1 Die Relativitätstheorie bricht also mit der Annahme einer Welt, die unabhängig von einem Beobachter existiert, und die daher eindeutig bestimmbar und grenzenlos erfaßbar erschien.2 Die Abhängigkeit der Welt von einem Beobachter wird indes erst recht virulent in der Quantentheorie, wie N. Katherine Hayles betont: »Relativity theory established a connection between the observer and the observation; in quantum mechanics, they are wed into an indissoluble whole.«3 Es bietet sich daher an, auch auf diese Theorie einen etwas gründlicheren Blick zu werfen. b) Beobachtung schafft Wirklichkeit(en) – Quantenmechanische Annäherungen Kehren wir zunächst zu zwei Beobachtern zurück: Alex Linden und Friedrich Netusil. Das Verständnis der Filmhandlung von BAD TIMING hängt wesentlich von der Frage ab, welche Sichtweise auf die Dinge korrekt ist und der ›Wirklichkeit‹ entspricht: diejenige des Psychoanalytikers, der versichert, erst spät bei Milena eingetroffen zu sein und sofort um Hilfe gerufen zu haben, oder diejenige des Kommissars, der Alex vorwirft, deutlich früher bei Milena gewesen zu sein und sie in ihrem komatösen Zustand vergewaltigt zu haben? Eine Entscheidung für die eine oder für die andere Möglichkeit fällt nicht leicht. Klar ist jedoch, daß sich Alex’ Beteuerung und Netusils ›Rekonstruktion‹ der Ereignisse der Nacht gegenseitig ausschließen. Eine solche Situation sich gegenseitig widersprechender Aussagen läßt sich auch in Borges’ Geschichte El jardín de senderos que se bifurcan finden: Der Bericht

1

Cappello 1995, S. 465. – Wie William H. Bossart darlegt, hat diese Beobachterabhängigkeit von Raum und Zeit in der Relativitätstheorie auch ihren Niederschlag bei Borges gefunden (vgl. Bossart 2003, S. 99).

2

Diese Annahme einer eindeutig bestimmbaren Welt sieht N. Katherine Hayles als fundamental für die klassische Physik an: »And finally, because the physical world existed ›out there‹, independent of the observer, it was determinate and infinitely knowable.« (Hayles 1984, S. 43.)

3

Ebd., S. 50.

398 | KINO DER UNORDNUNG

Captain Liddell Harts über die militärischen Handlungen bzw. Nicht-Handlungen an der Serre-Montauban-Linie, mit denen die Erzählung einsetzt,1 stehen im Widerspruch zu den sich anschließenden Schilderungen Yu Tsuns, der als Spion für die Deutschen arbeitet. Eckard Höfner führt diesen Widerspruch auf das Modell der Relativitätstheorie zurück und löst ihn auf, indem er die Ereignisse auf zwei unterschiedlichen raumzeitlichen Linien ansetzt.2 Auch an anderen Stellen vermeint Höfner Referenzen an Einstein zu erkennen, insbesondere im Roman Ts’ui Pêns, des Urgroßvaters Yu Tsuns. Dieser sei ein »Labyrinth aus Labyrinthen […], das die Vergangenheit umfaßte und die Zukunft, und das auch die Sterne mit einbezog.«3 Im Sinne eines kosmologischen Entwurfes entspreche Ts’ui Pêns Roman der Topologie der Allgemeinen Relativitätstheorie, d.h. »eines gekrümmten, sich ausdehnenden (›Riemann‹/›Minkowski‹-)Raumes, auf dem sich eine Klasse von ndimensionalen Koordinaten (›Welten‹/›Atlanten‹) definieren ließe, so daß verschiedene Raumzeiten denkbar würden, wobei der Beobachter-Standpunkt eine relevante (›relativierende‹) Rolle spielte.«4 Die zunächst kontraintuitive Auffassung eines zeitlichen Labyrinths (vgl. III 2) c)), so wie Ts’ui Pêns Buch von Stephen Albert aufgefaßt wird, leuchtet um so mehr ein, als man sie aus dem Blickwinkel der in der Relativitätstheorie postulierten Vereinigung von Raum und Zeit zur Raumzeit und der Möglichkeit der Raumkontraktion betrachtet. Bestätigung findet dies insbesondere auch durch die Erklärung des Sinologen, daß das labyrinthische Buch ein »Bild des Universums« widerspiegele, das im Gegensatz zu Newtons (und Schopenhauers) Begriff einer gleichförmigen, absoluten Zeit stehe.5 Anstatt auf der Vorstellung eines linearen,

1 2

Vgl. Borges: Der Garten der Pfade, S. 161. Eckhard Höfner: »Les allusions aux modèles scientifiques et leur fonctions dans l’œuvre de J.L. Borges«, in: Alfonso de Toro/Fernando de Toro (Hg.), El siglo de Borges. Vol. I: Retrospectiva – Presente – Futuro. Frankfurt a.M.: Vervuert; Madrid: Iberoamericana 1999, S. 73-102; hier: S. 77.

3 4

Borges: Der Garten der Pfade, S. 165f. Eckard Höfner: »Borges und die Konstruktion von Welten, ›die nicht allzu inkompatibel wären mit der realen Welt‹«, in: Eva Kimminich (Hg.), Erfundene Wirklichkeiten. Literarische und wissenschaftliche Weltentwürfe – zwei Wege, ein Ziel? Ausgewählte Beiträge zum Deutschen Romanistentag Jena 1997. Rheinfelden/Berlin: Schäuble 1998 (= Reihe Romanistik; 71), S. 81-107; hier: S. 90. – Darüber hinaus wertet Höfner die Tatsache, daß der Sinologe in Borges’ Erzählung Stephen Albert heißt und damit »auf den Vornamen Einsteins hört«, als eine mögliche »Modellreferenz« (ebd., Anm. 12) und als etwaigen Beleg dafür, daß die Erläuterung des Labyrinths eine Anspielung auf Einstein darstellt (vgl. Höfner 1999, S. 78).

5

Ebd., S. 172.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 399

uniformen Zeitablaufs basiere das Buch-Labyrinth auf einer mehrschichtigen Textur »auseinander- und zueinander strebender und paralleler Zeiten«, die unendliche, sich verzweigende Zeiten und damit unendlich viele, je eigene und gleichermaßen mögliche Welten ausbilden. So erklärt der Sinologe: »Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren, umfaßt alle Möglichkeiten. In der Mehrzahl dieser existieren wir nicht; in einigen existieren Sie, nicht jedoch ich; in anderen ich, aber nicht Sie; in wieder anderen wir beide.«1

Diese Vorstellung der sich verzweigenden Zeiten und Welten läßt sich allerdings weniger mit der Relativitätstheorie, als vielmehr mit der Quantentheorie erklären – genauer: mit der sogenannten Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik,2 die auf Hugh Everett III. zurückgeht,3 und die unter diesem Begriff von Bryce DeWitt und Neill Graham geprägt wurde. Ungeachtet der Tatsache, daß Borges’ Erzählung nicht von diesem Modell beeinflußt sein kann – El jardín de senderos que se bifurcan wurde 1941 publiziert, Everetts These dagegen 19574 –, so sind die Ähnlichkeiten doch frappierend und haben nicht zuletzt dadurch Bestätigung gefunden, daß der von DeWitt und Graham 1973 herausgegebene Band zur VieleWelten-Interpretation mit einem Auszug aus Borges’ Erzählung als Motto beginnt.5 Neben der Relativitätstheorie und ihren Implikationen zur Raumzeit kann man auch die Quantenmechanik und vor allem die Viele-Welten-Interpretation als Modell verstehen, mit dem sich nicht nur Borges’ Erzählung und die strukturellen Eigenschaften der Filme Roegs, sondern grundsätzlich die Frage nach dem ›Wesen‹ von Erzählen beantworten, mindestens aber aus der Perspektive der neueren Physik und ihrer philosophischen Implikationen neu bewerten lassen.

1 2

Ebd. Eine Interpretation von Ts’ui Pêns Buch-Labyrinth unter quantentheoretischen Vorzeichen findet sich etwa bei Merrell 1991, S. 168-182, Höfner 1998, S. 101 und Höfner 1999, S. 80f. sowie Alberto Rojo: »El jardín de los mundos que se ramifican: Borges y la mecánica cuántica«, in: Ciberletras 1 (1999), http://www.lehman.cuny.edu/ciberletras/ v1n1/crit_06.htm (30.09.2013).

3

Hugh Everett III.: »›Relative State‹ Formulation of Quantum Mechanics«, in: Reviews of Modern Physics 29 (1957), Nr. 3, S. 454-462.

4 5

Vgl. auch Bossart 2003, S. 32. Bryce S. DeWitt/Neill Graham (Hg.): The Many-Worlds Interpretation of Quantum Mechanics. Princeton, NJ: Princeton Univ. Press 1973, S. vi. – Vgl. hierzu auch Merrell 1991, S. 179.

400 | KINO DER UNORDNUNG

Anders als die klassische Physik betrachtet die Quantenmechanik grundlegende, zeitabhängige Eigenschaften eines physikalischen Systems im atomaren und subatomaren Bereich nicht mehr als unabhängig voneinander. Dies betrifft insbesondere die Eigenschaften Ort, Impuls (also das Produkt von Masse mal Geschwindigkeit) sowie den Spin – eine Art Drehimpuls – eines Teilchens.1 Während die klassische Physik von der Annahme ausgeht, daß Ort und Impuls voneinander unabhängige Eigenschaften sind und »jeder Wert des Ortes mit jedem Wert des Impulses vereinbar« ist, betrachtet die Quantenmechanik diese als voneinander abhängig.2 Diese Abhängigkeit führt zu dem, was als Prinzip der Unbestimmtheit3 bzw. als Heisenbergsche Unschärferelation bekannt ist.4 Die Unschärferelation besagt, daß es nicht möglich ist, »beide Größen gleichzeitig mit einer beliebigen Genauigkeit« zu messen,5 was dazu führt, daß in einem Quantensystem weder Ort noch Impuls jemals einen definiten numerischen Wert haben können, denn: »Je mehr sich der Wert des Ortes einem definiten numerischen Wert annähert, desto größer ist die Unschärfe des Wertes des Impulses und umgekehrt.«6 Mit der Quantenmechanik hält daher die Wahrscheinlichkeit Einzug in die Physik.7 Dabei beschreibt die Wellenfunktion eben nur die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Elementarteilchens an einem bestimmten Ort in einem Quantensystem.8 Wesentlich für die Quantenmechanik ist dabei die Rolle des Beobachters (z.B. eines Meßgerätes). Im Moment der Beobachtung bzw. Messung scheinen die Ei-

1

Vgl. Esfeld 2002, S. 51.

2

Ebd.

3

Werner Heisenberg: »Geschichte der Quantentheorie«, in: ders., Quantentheorie und Philosophie. Vorlesungen und Aufsätze. Hg. v. Jürgen Busche. Stuttgart: Reclam 2008, S. 321 [Heisenberg 2008b]; hier: S. 20.

4

Vgl. Esfeld 2002, S. 52.

5

Heisenberg 2008b, S. 20.

6

Esfeld 2002, S. 51f. – Vgl. hierzu auch: Thomas Görnitz: Quanten sind anders. Die verborgene Einheit der Welt. Mit e. Vorw. v. Carl Friedrich von Weizsäcker. Heidelberg/ Berlin: Spektrum 1999, S. 158f.

7

Heisenberg 2008b, S. 17. – Auch Roeg stellt – wie bereits erwähnt – eine bestimmte Affinität zum Moment der Wahrscheinlichkeit unter Beweis, wenn WALKABOUT mit Anspielungen auf das Roulette-Spiel gerahmt wird (vgl. III 3) a)). Ob das nun reine Koinzidenz oder als metapoetischer Kommentar auf eine Verpflichtung quantenmechanischer Auffassungen zu interpretieren ist, sei dahingestellt.

8

Vgl. Brian Greene: The Elegant Universe. Superstrings, Hidden Dimensions, and the Quest for the Ultimate Theory. London: Cape 1999, S. 105-108 u. ders.: The Fabric of the Cosmos. Space, Time and the Texture of Relativity. London: Allen Lane 2004, S. 8992.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 401

genschaften eines Quantensystems einen einzigen definiten Meßwert anzunehmen. Da gemäß der Wellenfunktion vor der Messung die Wahrscheinlichkeit, d.h. die Möglichkeit unterschiedlicher Zustände angenommen werden muß, findet der »Übergang vom Möglichen zum Faktischen« erst im Moment der Beobachtung statt.1 Anschaulich wird dies im Gedankenexperiment von Schrödingers Katze verdeutlicht. Schrödinger beschreibt dieses wie folgt: »Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine […]: in einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keins; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man das ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sagen, daß die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die

-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die le-

bende und die tote Katze (s.v.v.) zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind.«2

Erst in dem Moment, in dem die Messung vorgenommen wird (in Schrödingers Beispiel ist dies der Moment, in dem ein Beobachter die Stahlkammer öffnet, um zu sehen, ob die Katze noch lebt oder nicht), entscheidet sich der Zustand des Systems. Solange dies nicht geschieht, sind beide Zustände im Zeitverlauf gleichermaßen wahrscheinlich,3 das System ist als eine Überlagerung (Superposition) unterschiedlicher, aber gleichwahrscheinlicher – und das heißt: gleichrealer4 – Zustände zu betrachten. Erst im Moment der Beobachtung wird diese Superposition auf einen Zustand reduziert. Formal findet dies entsprechend der sogenannten Kopenhagener In-

1

Werner Heisenberg: »Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie«, in: ders., Quantentheorie und Philosophie. Vorlesungen und Aufsätze. Hg. v. Jürgen Busche. Stuttgart: Reclam 2008, S. 42-61 [Heisenberg 2008a]; hier: S. 56.

2

Erwin Schrödinger: »Die gegenwärtige Situation der Quantenmechanik«, in: Die Naturwissenschaften 23 (1935), Nr. 48, S. 807-812; Nr. 49, S. 823-828; Nr. 50, S. 844-849; hier: S. 812 (Herv. i.O.). – Vgl. hierzu auch Görnitz 1999, S. 140f.

3

Heisenberg weist indes darauf hin, »daß die Wahrscheinlichkeitsfunktion nicht selbst einen Ablauf in der Zeit darstellt.« (Heisenberg 2008a, S. 44.)

4

Vgl. Bryce S. DeWitt: »Quantum Mechanics and Reality. Could the Solution to the Dilemma of Indeterminism be a Universe in which all Possible Outcomes of an Experiment Actually Occur?«, in: Physics Today 23 (1970), Nr. 9, S. 30-35 (Wiederabdr. in: ders./Neill Graham [Hg.], The Many-Worlds Interpretation of Quantum Mechanics. Princeton, NJ: Princeton Univ. Press 1973, S. 155-165); hier: S. 31.

402 | KINO DER UNORDNUNG

terpretation seinen Ausdruck im Kollaps der Wellenfunktion .1 Auf welchen Zustand das System reduziert wird, kann man vorher nicht bestimmen. Man kann lediglich eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die möglichen Ergebnisse angeben. Als epistemologischer Befund ergibt sich, »daß die Beobachtung eine entscheidende Rolle bei dem Vorgang spielt und daß die Wirklichkeit verschieden ist, je nachdem ob wir sie beobachten oder nicht.«2 Der Kollaps der Wellenfunktion ist indes nur eine mögliche Interpretation. Eine andere ist das bereits erwähnte Viele-Welten-Modell, das auf Hugh Everett III. zurückgeht. Auch Everett geht vom Aspekt der Beobachtung aus, überträgt dabei jedoch die konventionelle Formulierung der Quantenmechanik, die auf einen externen, außerhalb des beobachteten Systems stehenden Beobachter aufbaut, auf die Geometrie der Raumzeit: Die Annahme eines geschlossenen Universums lasse die Annahme eines externen Beobachters nicht zu.3 Unter Bezug auf Everett reinterpretiert John A. Wheeler daher die quantenmechanische Messung als eine Interaktion zwischen zwei Subsystemen (beobachtendes und beobachtetes System) innerhalb eines isolierten Gesamtsystems.4 Entsprechend der Unbestimmtheitsrelation besitzen die Subsysteme keine voneinander unabhängigen Eigenschaften. Die Eigenschaft des Gesamtsystems kann also nur als eine Korrelation der relativen Eigenschaften der Subsysteme verstanden werden. Everett konstatiert: »Thus we are faced with a fundamental relativity of states, which is implied by the formalism of composite systems. It is meaningless to ask the absolute state of a subsystem – one can only ask the state relative to a given state of the remainder of the subsystem.«5 Nach Everett muß also das Gesamtsystem inklusive der Beobachtung als eine Superposition unterschiedlicher, aber gleichwahrscheinlicher Zustände betrachtet werden. Wollte man für dieses Gesamtsystem einen finiten Wert bestimmen, müßte man einen zweiten Meßapparat außerhalb des Systems annehmen, welche jedoch zusammen wiederum nur als Subsystem eines übergeordneten Gesamtsystems anzusehen sind – und immer so weiter. Damit ergibt sich – ganz borgesianisch – ein infiniter Regreß.6 Beobachtung kann also nur als intrinsische Interaktion zwischen zwei Subsystemen und somit als Superposition verstanden werden.

1

Ebd., S. 32.

2

Heisenberg 2008a, S. 53.

3

Everett 1957, S. 454f.

4

Vgl. John A. Wheeler: »Assessment of Everett’s ›Relative State‹ Formulation of Quantum Theory«, in: Reviews of Modern Physics 29 (1957), Nr. 3. S. 463-465; hier: S. 464. – Die beiden Subsysteme können dabei zum Beispiel Partikel darstellen, bei denen ein Partikel mit einem zu untersuchenden anderen Partikel kollidiert.

5

Everett 1957, S. 456 (Herv. i.O.).

6

Vgl. DeWitt 1970, S. 32.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 403

Gemäß der Wellenfunktion sind, wenn wir eine Reihe von Beobachtungen annehmen, alle möglichen Ergebnisse gleichwahrscheinlich und gleichermaßen real. Everett faßt damit Beobachtung als eine Verzweigung vieler gleichberechtigter möglicher Ergebnisse auf: »Thus with each succeeding observation (or interaction), the observer state ›branches‹ into a number of different states. Each branch represents a different outcome of the measurement and the corresponding eigenstate for the object-system state. All branches exist simultaneously in the superposition after any given sequence of observations.«1

Aus dieser Konsequenz der gleichzeitigen möglichen Existenz unterschiedlicher Ergebnisse und Zustände, die sich in der Zeitentwicklung eines quantenmechanischen Systems zwischen den Beobachtungen ergeben, leitet er das Bild eines Universums ab, das sich kontinuierlich in eine Vielzahl von gegenseitig nicht beobachtbaren aber gleichermaßen realen Welten aufspaltet.2 Dieses »multiworld concept« habe auch Folgen für unsere eigene Welt, die sich ebenfalls in eine unendliche Anzahl möglicher Kopien aufteile: »This universe is constantly splitting into a stupendous number of branches, all resulting from the measurementlike interactions between its myriads of components. Moreover, every quantum transition taking place on every star, in every galaxy, in every remote corner of the universe is splitting our local world on earth into myriads of copies of itself.«3

Damit erinnert das quantenmechanische Viele-Welten-Modell in der Tat an Ts’ui Pêns Buch-Labyrinth, in dem sich die Zeit »beständig zahllosen Zukünften entgegen« verzweigt.4

1

Everett 1957, S. 459 (Herv. i.O.).

2

DeWitt 1970, S. 30. – Vgl. auch Görnitz 1999, S. 148 u. Greene 2004, S. 205-208.

3

DeWitt 1970, S. 33.

4

Borges: Der Garten der Pfade, S. 172f. – Auch David M. Baulch sieht in Ts’ui Pêns Buch-Labyrinth die ideale Erfüllung des quantenmechanischen Viele-Welten-Modells: »The Garden of Forking Paths is a many-world narrative insofar as it represents literary reality as multivalued: a multiplicity of plot universes, separate yet coexistent.« (Baulch 2003, S. 64.)

404 | KINO DER UNORDNUNG

c) »Pfade, die sich verzweigen…« – Narrative Multiversen und Polyvalenz des Erzählens »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, ist zwar ein unvollständiges, aber kein falsches Bild des Universums«, kommentiert in Borges gleichnamiger Geschichte der Sinologe Albert das Buch-Labyrinth Ts’ui Pêns.1 Dieses Bild eines »Webmuster[s] aus Zeiten, die sich einander nähern und verzweigen, sich scheiden oder jahrhundertelang ignorieren«,2 läßt aber ebenso wie das Viele-Welten-Modell der Quantenmechanik die Vorstellung eines einheitlichen, homogenen, d.h. eine einzige Wirklichkeit(sebene) umfassenden Universums obsolet erscheinen. Der Physiker David Deutsch hat daher den Begriff des ›Multiversums‹ vorgeschlagen, um die Gesamtheit der physischen Realität zu bezeichnen, die wiederum mehrere parallele Universen umfasse: »They are ›parallel‹ in the sense that within each universe particles interact with each other just as they do in the tangible universe, but each universe affects the others only weakly, through interference phenomena.«3 Der Begriff des ›Multiversums‹ paralleler Welten, wie ihn Deutsch versteht, läßt sich, so David M. Baulch, ebenso auf literarische Erzähltexte (und im Sinne einer transmedialen Narratologie auch auf Filme) und ihre Welt(en)konstitution übertragen und bietet sich als ein Erklärungsmodell für innerhalb eines einzelnen Textes angelegte mögliche parallele Welten an, die immer insofern in einer zumindest latenten Interaktion zueinander stehen, als sie stets an einem dominanten linearen Erzählverlauf ›gemessen‹ werden: »What makes Deutsch’s position distinct from other versions of the many-worlds interpretation is that his interpretation is predicated upon the interaction of these parallel universes. This possibility of interaction or interference between universes is also what makes Deutsch’s view particularly amenable to literary narrative, since it can only represent parallel universes as narrative strands that interfere with the progression of a single narrative chain of events in the text.«4

Gegen all das mag man freilich einwenden, daß die Anwendung naturwissenschaftlicher, insbesondere relativitätstheoretischer und quantenmechanischer Theoreme auf Probleme kultureller Erzeugnisse ein fragwürdiger Akt ist und die Vermengung streng wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Natur mit Fragen der Literaturwissenschaft, der Narratologie oder der Geisteswissenschaften eine hochstaplerische

1

Borges: Der Garten der Pfade, S. 172.

2

Ebd.

3

David Deutsch: The Fabric of Reality. London u.a.: Penguin 1997, S. 53.

4

Baulch 2003, S. 62.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 405

Anmaßung ist, wie dies Alan Sokal und Jean Bricmont anmahnen.1 Gleichwohl können Annahmen der ›harten‹ Wissenschaften durchaus als heuristische Metapher für Probleme jenseits ihres angestammten Bereichs dienen. Diese Position vertritt auch David M. Baulch, der sie mit Blick auf narratologische Fragestellungen überzeugend begründet: »While for physicists these probabilities are purely mathematical entities taking place at the sub-atomic level, rendering the unavailable to human cognition as events that can be directly perceived, they can be thought of as analogous to the various possibilities posed by a literary narrative. As a heuristic device, the metaphor of the wave function, the collapse of its multiple possibilities to one actuality, is thus analogous to a reader’s ability to entertain multiple expectations of various possible courses of action in a narrative. In narratives that conform to a single-valued notion of reality, these multiple possibilities vanish, leaving a single, real, or actual narrative for the reader to follow.«2

Auch der Linguist Robert de Beaugrande plädiert dafür, eher das Verbindende als das Trennende zwischen den Naturwissenschaften und den Künsten zu suchen, und er vermeint dieses im Aspekt ›Vielheit anstelle von Bestimmtheit‹ zu erkennen:

1

Sokal und Bricmont kritisieren die Pseudowissenschaftlichkeit vieler – von ihnen so bezeichneter – postmoderner Intellektueller, die sich eines naturwissenschaftlichen, oft auf Relativitätstheorie und Quantenmechanik rekurrierenden Jargons bedienen (insbesondere Gilles Deleuze und Félix Guattari, Jacques Derrida, Jacques Lacan, Bruno Latour, JeanFrançois Lyotard, Michel Serres und Paul Virilio), ohne die Theorien wirklich zu verstehen und logisch folgerichtig darzustellen: »At one end, one finds extrapolations of scientific concepts, beyond their domain of validity, that are erroneous but for subtle reasons. At the other end, one finds numerous texts that are full of scientific words but entirely devoid of meaning. And there is, of course, a continuum of discourses that can be situated somewhere between these two extremes.« (Alan Sokal/Jean Bricmont: Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals’ Abuse of Science. New York: Picador 1998, S. 6). – Dem Buch vorausgegangen war ein Hoax-Artikel Sokals in der soziologischen Zeitschrift Social Text, der Linguistik und Quantengravitation zusammenführt, aber voller naturwissenschaftlicher Mängel ist, die der Redaktion keinesfalls aufgefallen waren (vgl. Alan Sokal: »Transgressing the Boundaries. Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity«, in: Social Text 46/47 [1996], S. 217-252; vgl. hierzu Sokal/Bricmont 1998, S. 1f.). – Es sei daher an dieser Stelle nochmals betont, daß die Verweise auf naturwissenschaftliche Theorien und Begriffe, wie sie hier zur Anwendung gelangen, vor allem als heuristische (und teilweise metaphorische) Konzepte fungieren. Eine strenge physikalische Genauigkeit wird nicht angestrebt.

2

Baulch 2003, S. 60.

406 | KINO DER UNORDNUNG »If the interaction of art and science is to assume a really powerful significance, quantum theory offers a special opportunity, provided two challenges can be met. On the side of art we must recognize that the relationship between art and reality (or nature) is not one of mutation and closure but of dialectic interaction and alternatives. On the side of science, we must recognize that the relation between science and reality (or nature) is not one of classical determinacy but of multiplicity.«1

Das quantenmechanische Viele-Welten-Modell ist ein solches Beispiel, wie die Bestimmtheit einer einzigen definitiven Welt der Möglichkeit parallel existierender Welten weicht. Doch auch für Erzähltexte (ungeachtet des medialen Trägers) ist die Ausbildung paralleler möglicher Welten grundlegend, ja man kann, wie Lubomír Doležel, das Erschaffen imaginärer möglicher Welten als eine anthropologische Konstante betrachten, die einem menschlichen Grundbedürfnis nachkommt: »Possible worlds, alternative to the actual world, and, quite often, contradictory to it (counterfactual world) are constantly being constructed by human thought, imagination, verbal and other semiotic activity. The active force of semiosis lies in its ability to construct possible worlds related to the actual world in many different ways.«2

Das Hervorbringen paralleler möglicher Welten innerhalb eines Textes stellt damit den Regelfall dar, und dementsprechend wäre das Bemühen ›klassischer‹ Texte, die in der Tradition realistischer Erzählverfahren stehen, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, und die auf monokausale Linearität, Eineindeutigkeit und somit eine vermeintlich mimetische Abbildung der Verhältnisse der ›realen‹ Welt bedacht sind, eine Ausnahme, die konventionalisierten Zwängen unterliegt. So hebt etwa Thomas G. Pavel hervor: »Nineteenth-century realist novels may have aimed at constructing genuine possible alternatives to the actual world, as filtered through the modern scientific episteme; but this ambition did not last long, and in order to obtain novel aesthetic and cognitive effects, contemporary literature often posits worlds as impossible as the most archaic ones.«3

1

Robert de Beaugrande: »Quantum Aspects of Artistic Perception«, in: Poetics. International Review for the Theory of Literature 17 (1988), Nr. 4/5, S. 305-332; hier: S. 330. – Es ist dies eine Position, die Roeg durchaus teilt (vgl. Roeg 2013, S. 211).

2

Lubomír Doležel: »Truth and Authenticity in Narrative«, in: Poetics Today 1 (1980); Nr. 3, S. 7-25; hier: S. 10.

3

Thomas G. Pavel: Fictional Worlds. Cambridge, MA/London: Harvard Univ. Press 1986, S. 50.

WEGE DES ERZÄHLENS – UND IHRE VERZWEIGUNGEN | 407

Gegen ein solches Modell klassisch-realistischer Narration und monosemer Weltkonstitution führt Jan Alber an: »One of the most interesting things about fictional narratives is that they do not only mimetically reproduce the world as we know it. Many narratives confront us with bizarre storyworlds which are governed by principles that have very little to do with the real world around us.«1 Eine solche bizarre ›Storyworld‹ ist kennzeichnend für nahezu alle Filme Roegs. Als einschlägiges Beispiel kann TRACK 29 dienen, zumal hier besonders hervortritt, daß diese Welt keinen monosemen Block bildet, sondern einem ›Multiversum‹ paralleler möglicher Welten gleicht. Für Richard Combs spielen die auch in anderen Filmen Roegs typischen TV-Anspielungen als parallele fiktionale Welten innerhalb der erzählten Welt eine wesentliche Rolle: »[…] it is almost as if, by introducing a parallel fictional world, Roeg were emphasising the mysterious reality of this one.«2 Doch neben diesen mise-en-abyme-artig eingeführten Alternativwelten, die eine eher vertikal als horizontal parallele Anordnung zu implizieren scheinen, ist auch innerhalb der Diegese die Möglichkeit sich verzweigender Alternativen angelegt: »As time fragments into countless personal and parallel universes, subjective memory rather than objective reality becomes the only key to the truth«, so Suzanne Moore über TRACK 29.3 Indem Roegs Film mit dem Status von Subjektivität und Objektivität spielt und vor allem eine eindeutige Zuordnung der Bilder zwischen einer ›objektiven‹ Darstellung des Geschehens und einer ›subjektiven‹ Imagination der Figuren verweigert, spaltet sich das Dargestellte in parallele Möglichkeiten auf, die gleichermaßen ihr Recht einfordern können. In einer zentralen Szene des Films unterhält sich Linda mit Martin in einem Café. In Schuß-Gegenschuß-Manier konzentriert sich Roeg zunächst völlig auf die beiden Figuren, doch dann folgt ein Einstellungswechsel auf den Kellner, der sich am Tresen mit seinem Kollegen unterhält. Im Hintergrund ist Linda zu sehen, die allein am Tisch sitzt und sich offensichtlich mit sich selbst unterhält, womit Martin vermeintlich als ein Gespinst ihrer Einbildung entlarvt wird (Abb. 107).

1

Jan Alber: »Impossible Storyworlds – and What to Do with Them«, in: Storyworlds 1 (2009), S. 79-96; hier: S. 79.

2 3

Combs 1988, S. 192. Suzanne Moore: »Tricks on the Track«, in: New Statesman & Society 1 (1988), Nr. 10, S. 40.

408 | KINO DER UNORDNUNG

Abbildung 107: »I wasn’t talking to you.«

TRACK 29 (Nicolas Roeg, 1988)

Freilich ließe sich die beschriebene Szene als ein Beispiel ›unzuverlässigen Erzählens‹ im Film deuten, in welchem sich die zunächst einmal »behaupteten Tatbestände« als (faktisch) falsch erweisen1 und damit als visuelle Lüge aufgedeckt wer-

1

Thomas Koebner: »Was stimmt denn jetzt? ›Unzuverlässiges Erzählen‹ im Film«, in: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München: Edition Text+Kritik, S. 19-38; hier: S. 21 (Herv. i.O.). – Für Koebner resultiert diese Form der Unzuverlässigkeit – als andere Form benennt er die falsche Deutung von Geschehnissen durch einen Erzähler – daraus, daß »die Kenntnis aller Umstände den Lesern vorenthalten worden ist oder nur verspätetet nachgeliefert wird«. In solchen Fällen bleibe unklar, »was in der Erzählung tatsächlich geschehen ist. Man mag solchen Erzählkonstruktionen im weitesten Sinne Rätselcharakter zuweisen, da

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den.1 Doch so einfach sind die Dinge nicht, schließlich hat sich zu Beginn des Films auch Arlanda mit Martin unterhalten. Müssen wir also, wenn im weiteren Verlauf des Films Martin auftritt, diesen als Einbildung Lindas verstehen, oder ist er tatsächlich bei den Ereignissen in der erzählten Welt präsent? Tötet er am Ende des Films Lindas Mann Henry – oder nicht? Oder ist es Linda, die ihren Mann umbringt und dies auf die von ihr eingebildete Figur projiziert? Der Film liefert keine eindeutige Antwort, und so müssen alle Möglichkeiten in einem Zustand der Superposition gleichermaßen nebeneinander bestehenbleiben: jede von ihnen bringt ihre eigene Welt hervor. Wesentlich ist hier der Aspekt der Optionalität und Fakultativität, der in Roegs Filmen stets eine wesentliche Rolle spielt. Wie in den bereits vor dem Hintergrund einer möglichen relativitätstheoretischen Lesart angeführten Beispielen deutlich geworden ist, bleibt bei Roeg auf inhaltlicher wie auf struktureller Ebene oft unklar, in welches Verhältnis die einzelnen Teile zu setzen sind. Dabei scheint eine mögliche Lesart genauso berechtigt wie eine dem entgegengesetzte. Dies wird insbesondere in BAD TIMING an den sich widersprechenden Aussagen von Netusil und Alex Linden deutlich. Ob Alex, wie vom Kommissar behauptet, deutlich früher bei Milena eingetroffen ist, als er selbst zu Protokoll gibt, und sie in ihrem komatösen Zustand vergewaltigt hat, hängt nicht zuletzt davon ab, zu welcher Entscheidung über eine mögliche chronologische Rekonstruktion der Ereignisse auf der histoire-Ebene der jeweilige Zuschauer gelangt. Man kann von hier aus einen Schritt weitergehen und festhalten, daß Optionalität und Fakultativität für das Wesen von Narration grundsätzlich sind. In diesem Sinne kann man Borges’ Erzählung El jardín de sen-

es bei dem ersten Durchlauf, der die erzählte Welt herstellt, offensichtlich ›Leerstellen‹ gegeben hat, die wie beim Kreuzworträtsel nachträglich ausgefüllt werden […].« (Ebd.) 1

Zur visuellen Lüge vgl. z.B. Maurice Lahde: »Der unzuverlässige Erzähler in ›The Usual Suspects‹«, in: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München: Edition Text+Kritik, S. 293-306; hier: S. 297f. – Wie Lahde darlegt, führt unser Vertrauen in filmische Konventionen dazu, daß wir alles Gezeigte gemäß des »Gebot[s] der narrativen Ökonomie« zunächst als »für das Filmverständnis bedeutsam« akzeptieren (ebd., S. 297). Dies deckt sich mit der Feststellung Jörg Helbigs, daß wir als Zuschauer dazu neigen, den Wahrheitsgehalt der filmischen Bilder in der Regel nicht zu hinterfragen (Jörg Helbig: »›Follow the White Rabbit!‹ Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit im zeitgenössischen Spielfilm«, in: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München: Edition Text+Kritik, S. 131-146; hier: S. 132). Erzählerische Unzuverlässigkeit kann allerdings daraus resultieren, daß – wie womöglich in dieser Szene aus TRACK 29, auf die auch Helbig zu sprechen kommt (ebd., S. 135f.) – eine scheinbar ungebundene Fokalisierung tatsächlich figurengebunden ist (ebd., S. 134f.).

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deros que se bifurcan und die darin dargelegte Struktur des Romans von Ts’ui Pên als einen metafiktionalen Kommentar zum Problem und Wesen des Erzählens lesen. Es ist nicht zu übersehen, daß Borges’ metafiktionale Reflexion gerade auch die Position des Rezipienten im Narrationsprozeß herausstellt. Diesem kommt eine zentrale Rolle beim Generieren der Narration zu. »In allen Fiktionen entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und eliminiert die anderen […].«1 Ts’ui Pêns Werk stellt dabei lediglich eine radikalisierte Form dieses normalen Vorgangs dar: »[…] im Werk des schier unentwirrbaren Ts’ui Pên entscheidet er sich – gleichzeitig – für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen.«2 Mit Eco – der sich wiederum auf Borges bezieht – können wir jede Narration als einen Garten bzw. einen »Wald mit sich verzweigenden Pfaden« auffassen.3 Welchen Verlauf die Narration nimmt, hängt somit wesentlich von den Entscheidungen des Rezipienten ab: »Auch wenn es in einem Wald keine gut ausgetretenen Pfade gibt, kann jeder sich seinen Weg selber suchen, kann sich entscheiden, rechts oder links um einen bestimmten Baum herumzugehen, um die Entscheidung bei jedem weiteren Baum zu wiederholen.«4 Konkret gesprochen bedeutet das: narrative Texte allein – seien sie nun literarische, filmische oder andere – erzählen gar nicht.5 Die Narration benötigt neben dem Text immer auch das rezipierende Subjekt, wie sich dies etwa auch in Nicole Mahnes Ansatz einer transmedialen Definition des Erzählens spiegelt.6 Roeg selbst hebt die Rolle des Zuschauers, der notwendige Ergänzungsleistungen vornehme, für seine Filme hervor: »The film belongs to the spectator as much as to the director.«7 Und Neil Sinyard schließt daraus: »His films are open structures which make an audience work and think.«8 Die narrative Textur aus histoire und discours stellt dabei, wenn wir – in einem metaphorischen Sinn – auf das Begriffsinventar der Quantentheorie zurückgreifen, nur ein Subsystem innerhalb des übergeordneten narrativen Systems ›Erzählen‹ dar,

1

Borges: Der Garten der Pfade, S. 170.

2

Ebd. (Herv. i.O.).

3

Eco 2004, S. 15.

4

Ebd.

5

Vgl. Moritz Baßler: »Der Ort der Diegese und der Narration. Versuch einer Neubestimmung. Vortrag auf dem Workshop ›Text – Kontext – Narration. Probleme einer kontextorientierten Narratologie‹ (Wuppertal, Januar 2009)«, unveröffentlichtes Manuskript, Münster 2009, S. 1.

6

Vgl. Mahne 2007, S. 9.

7

Keats 1982, S. 11.

8

Sinyard 1991, S. 5.

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das immer auch einen Beobachter, d.h einen Rezipienten, einschließt. Zum einen heißt das, daß die Narration im Sinne eines ›Meßergebnisses‹ immer erst im Akt der Beobachtung, also der Rezeption, entsteht; zum anderen verdeutlicht es aber auch, daß es keine definite, eindeutige Narration im Sinne eines finiten Meßergebnisses geben kann. Das Verhältnis von Beobachter und Beobachtetem unterliegt – diese Vermengung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik sei an dieser Stelle verziehen1 – den Bedingungen relativ zueinander stehender Bezugssysteme, so daß die grundlegenden Faktoren Raum und Zeit als relativ anzusehen sind und je nach Beobachtungssituation unterschiedlich erscheinen. Und schließlich gilt es zu bedenken, daß wir als Rezipienten/Beobachter einen narrativen Text nie aus einer neutralen Außenbeobachtersituation wahrnehmen können, sondern immer Teil des beobachteten Systems sind. Um das Ganze an eine vertrautere literaturwissenschaftliche bzw. texttheoretische Terminologie zurückzuführen, können wir auch sagen, daß es eine Narration als Text ohne Kontext gar nicht gibt. Um mit Moritz Baßler zu sprechen: der Text bedarf des Kontextes, um überhaupt erst lesbar zu werden.2 Der Kontext wird dabei durch die Beobachtungssituation, d.h. im Rezeptionsvorgang eingeführt. Dieser Kontext ist im Sinne des New Historicism als Archiv aufzufassen, das die anderen Texte derselben Kultur3 (d.h. derselben Kultur wie der des Textes unter Beobachtung und/oder des beobachtenden Rezipienten) versammelt, bzw. in der Terminologie Ecos als Enzyklopädie im Sinne einer Gesamtheit des Wissens, zu der der Rezipient prinzipiell Zugang hat, aber in actu immer nur einen kleinen Teil besitzt.4 Das bedeutet, daß die Wissensenzyklopädie bzw. das Archiv je nach Beobachter (Rezipient) und/oder Beobachtungssituation (Rezeptionsvorgang) unterschiedlich ausfal-

1

Trotz aller Unterschiedlichkeit – schließlich betrifft die Relativitätstheorie zunächst physikalische Eigenschaften auf makroskopischer, die Quantentheorie auf mikroskopischer Ebene – findet sich durchaus Verbindendes zwischen diesen beiden Theorien, insbesondere wenn es um das Verhältnis von Raum und Zeit sowie die Rolle des Beobachters geht, wie Floyd Merrell darlegt: »Although quantum mechanics and relativity theory are incompatible on many points, in general they share the fundamental premises that (1) the universe is an interconnected whole; dichotomies of space and time, matter and energy, gravity and inertia, become nothing more than different aspects of the same phenomena and (2) there is no such thing as observing this interactive whole from a neutral frame of reference. Necessarily and irrevocably, we are inside the dynamic cosmic web.« (Merrell 1991, S. 183.)

2

Vgl. Baßler 2009, S. 1.

3

Vgl. ebd.

4

Vgl. Eco 2004, S. 120.

412 | KINO DER UNORDNUNG

len, was Auswirkung auf das Erzählen hat, das sich je nach Beobachtung-/Rezeptionsvorgang als ein anderes erweist. Wie Moritz Baßler herausstellt, impliziert Ecos Begriff der Enzyklopädie, »daß ein begrenzter und fest strukturierter Vorrat von Bedeutungen abgelöst wird durch ein virtuell unendliches Netz von Assoziationen.«1 Dies wird insbesondere bei Roegs Filmen augenscheinlich, die wesentlich auf dem Verfahren einer assoziativen Montage aufbauen (vgl. IV 1) c)), deren Einheiten im Sinne Jakobsons (und Baßlers) Äquivalenzen darstellen, die nur intertextuell analysierbar sind innerhalb ihrer »jeweiligen lokalen syntagmatischen Zusammenhänge«.2 Damit wird die Annahme einer eindeutigen Bedeutung des (Erzähl-)Textes (im weiten Sinne) obsolet. An ihre Stelle treten »vielmehr die unzähligen Texte des Archivs mit ihren zahlreichen, voneinander abweichenden Kontexten.«3 Damit kann es aber keine Gewißheit, sondern nur noch eine »Vielfalt möglicher Äquivalenzen« geben.4 Unter Rückgriff auf die Metaphorik Borges’ und Ecos bedeutet dies für das Erzählen – sei es in der Literatur, im Film oder in anderen Medien – grundsätzlich: Anstelle des linearen, univialen Weges ergibt sich ein zumindest potentiell multikursorischer Weg durch den ›Wald der Fiktionen‹. Denn je nach Art und Umfang des kulturellen Archivs bzw. der Wissensenzyklopädie des Rezipienten wird die Narration an bestimmten Punkten unterschiedliche Pfade einschlagen. Zu einem ganz ähnlichen Schluß gelangt der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn: »To possess a lexicon, a structured vocabulary, is to have access to the varied set of worlds which that lexicon can be used to describe. Different lexicons – those of different cultures or different historical periods, for example – give access to different sets of possible worlds, largely but never entirely overlapping.«5

1

Baßler 2005, S. 240.

2

Ebd., S. 240f.

3

Ebd., S. 241.

4

Ebd.

5

Thomas S. Kuhn: »Possible Worlds in History of Science«, in: Sture Allén (Hg.), Possible Worlds in Humanities, Arts and Sciences. Proceedings of Nobel Symposium 65. Berlin/New York: de Gruyter 1989 (= Research in Text Theory/Untersuchungen zur Textheorie; 14), S. 9-32; hier: S. 11. – Kuhns Begriff des ›Lexikon‹ als ein ›strukturiertes Vokabular‹ entspricht eher Ecos Begriff der Enzyklopädie als jenem des Wörterbuchs, da nämlich, wie Baßler betont, »Wörterbuch-Bedeutungen (im klassisch-paradigmatischen Sinne) stets dekontextualisiert, als isolierte Lexeme geführt werden, während die Fundstellen in einer Enzyklopädie immer schon syntagmatisch eingebunden sind, d.h. in Kontiguitäts-Zusammenhängen stehen.« (Baßler 2005, S. 240.)

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Faßt man den Begriff narrativer ›möglicher Welten‹ aus der Perspektive des VieleWelten-Modells der Quantenmechanik auf, dann bedeutet dies: Unter der Voraussetzung, daß kein Bezugssystem und kein Beobachter dem anderen gegenüber privilegiert ist, müssen alle möglichen Ausgänge, d.h. alle Optionen, als gleichwahrscheinlich und gleichberechtigt angesehen werden. Das Erzählen erweist sich in diesem Sinne in der Tat als eine Wanderung auf Pfaden, die sich verzweigen. Was hier als allgemeine Feststellung für das Erzählen gelten kann, die sich aber in vielen Texten nur subtil artikuliert, wird von Roeg in seinen Filmen ins Extreme gesteigert und metafiktional ausgestellt. Wenngleich er nicht primär quantenmechanischer Theorien verpflichtet ist, zeichnet sich doch unverkennbar der Einfluß Jorge Luis Borges’ ab, dessen Denken eine deutliche Affinität zu diesen (und anderen) physikalischen Theorien aufweist. Roegs Filme lassen sich daher als eine strukturelle Umsetzung borgesianischer Ideen auffassen, die in dessen eigenen Texten eher in Aussicht gestellt als tatsächlich realisiert werden. Diese implizieren zwar die Möglichkeit fragmentarischen, nicht-linearen Erzählens, erweisen sich aber sowohl im Erzählverlauf als auch in ihrer Oberflächenstruktur als durchaus konventionell, wie auch Paolo Bartolini betont: »In Borges we have complete stories whose endings, although opening a plurality of interpretations, are satisfactory and gratifying. As readers we close Borges’ books with a feeling of puzzlement but also with a sense of completion which is engendered by the assurance that we have read something to its end. […] Moreover, the end is reached by following […] a linear path which agrees with our experience as readers engaging with a story.«1

Roegs Filme dagegen setzten die Fragmentarität, Unabgeschlossenheit und NichtLinearität nicht nur inhaltlich um, sondern weisen sie auch exponiert auf der strukturellen Ebene aus und reflektieren ihre Bedingungen metafiktional auf inhaltlicher Ebene. Roegs Filme können damit, wie bereits an anderer Stelle angemerkt (IV 1) a)), als Vorreiter für Erzählverfahren aufgefaßt werden, wie sie dann für das postmoderne Kino kennzeichnend sind. Entsprechend konstatiert auch Hans Beller: »Nicolas Roeg war damit erzähltechnisch seiner Zeit voraus, denn bevor die Plotter, die Dramaturgen sich auf multiple plot lines, auf multiple narratives und multiple story lines als gängige Erzähl- und Montagemuster eingelassen haben, beinhalteten Roegs Filme diese von Anfang an.«2 Und bereits Jonathan Rosenbaum verweist anläßlich von THE MAN WHO FELL TO EARTH auf Roegs »kaleidoscopic

1 2

Bartolini 1997, S. 188f. Hans Beller: »Look Now! Anmerkungen zur Montagetechnik in ›Don’t Look Now‹«, in: Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann (Hg.), Nicolas Roeg. München: Edition Text+ Kritik 2006 (= Film-Konzepte; 3), S. 62-67; hier: S. 67 (Herv. i.O.).

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cross-cuttings between diverse narrative strands, which tend to make simple plots appear relatively complex and relatively complex plots seem downright intractable.«1 Dies könnte ebensogut als eine Beschreibung nahezu jeden Films des postmodernen Kinos à la David Lynch, Jim Jarmusch oder Christopher Nolan dienen. Insbesondere aber sind es die möglichen Welten, die ein bevorzugtes Thema der Postmoderne darstellen, wie Slavoj Žižek betont: »Postmodern relativism is precisely the idea of an irreducible multitude of worlds, each sustained by a specific language game, so each world is the narrative its members are telling themselves about themselves, with no shared terrain, no common language between them. And the problem of truth is precisely how to establish something that, to refer to terms popular in modal logic, remains the same in all possible worlds.«2

Um das Ganze auf einen Punkt zu bringen, ließe sich Roegs filmisches Erzählen als ein multikursorisches bezeichnen, dessen Verzweigungen zu alternativen Möglichkeiten, zu parallelen möglichen Welten führen. Für keine dieser Möglichkeiten ist eine Wahrscheinlichkeit höher als die andere: Ein Film wie BAD TIMING, in dem es nicht zuletzt um die Frage geht, ob Alex Milena vergewaltigt hat, illustriert dieses Erzählprinzip, das die aktive Teilnahme des Zuschauers an der Konstruktion der Möglichkeiten – und der eventuellen Entscheidung für eine – fordert. So hält Gerrit Oliver mit Blick auf BAD TIMING fest: »In order to grasp it as a ›story‹, the audience has to reconstruct creatively the scenes appearing on the screen as an apparently jumbled collection of events (differing in duration). These scenes seem to allow different reconstructions. Nevertheless, by means of the internal ›logic‹ of the film […] a pattern does emerge, albeit a mobile, shifting one which suggests various interpretations.«3

Dieses multikursorische Erzählen kennzeichnet, um nicht allein auf ein Beispiel zu vertrauen, auch DON’T LOOK NOW, über dessen Erzählkonstruktion James Palmer und Michael Riley urteilen: »The narration’s myriad possibilities accumulate and in their variety call into question our ability to integrate the discrete fragments into a

1

Jonathan Rosenbaum: »The Man Who Fell to Earth«, in: Monthly Film Bulletin 43 (1976), Nr. 504/515, S. 86f.; hier: S. 86.

2

Slavoj Žižek: »Schlagend, aber nicht Treffend!«, in: Critical Inquiry 33 (Autumn 2006), S. 185-211; hier: S. 196 (Herv. i.O.).

3

Olivier 1984, S. 27.

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whole we can define and interpret.«1 Kurz: anstelle eines monosemen ErzählUniversums schaffen Roegs Filme jeweils narrative Multiversen. Dies kann als die ultimative Form der desintegrativen Un-Ordnung angesehen werden.

1

Palmer/Riley 1995, S. 18.

V Roegs manieristisches Prämissenkino – Schlußbetrachtung The movies have embraced every art form and every way of telling a story, both in fiction and reality – whatever that is. – NICOLAS ROEG It’s not over until it’s over. – JACK MCCANN IN ›EUREKA‹

PERFORMANCE, WALKABOUT, DON’T LOOK NOW, THE MAN WHO FELL TO EARTH, BAD TIMING – es ist kein Zufall, daß die vorangegangenen Ausführungen schwerpunktmäßig auf die Filme Roegs aus den 1970er Jahren zurückgekommen sind und seine späteren Filme ab den 80er Jahren nur gestreift haben (mit INSIGNIFICANCE als Ausnahme). Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, daß sich der Stil und vor allem die Erzählweise seiner Filme in der Nachfolge von EUREKA deutlich gewandelt haben. Das fragmentarische, achronologische, alle Regeln kausaler Ordnung ignorierende und durch die Zeit springende Erzählen, das als das Markenzeichen Roegs gegolten hat – und nach wie vor gilt – ist zunehmend einem eher konventionellen Erzählen gewichen, das nicht allzuweit von den Regeln des klassischen Kinos entfernt ist. Joseph Lanza kann seine Enttäuschung nicht verhehlen, wenn er über INSIGNIFICANCE zu dem Schluß gelangt: »[…] Roeg leaps back and forth between past, present and possibly future, without really disorienting anyone.«1 Dem Zuschauer Orientierung zu bieten, ist eine der Grundlagen des klassischen, auf generischen Konventionen beruhenden Kinos. Genau dieses dürfte Neil Sinyard im Sinn haben, wenn er über INSIGNIFICANCE sagt: »It is his funniest film, but also, up to that point, his most conventional.«2

1

Lanza 1992, S. 107.

2

Sinyard 1991, S. 101.

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Die Zuwendung zu dominanten Formen filmischen Erzählens zeichnet sich auch in Roegs folgendem Film CASTAWAY deutlich ab. Schon die Eingangssequenz, die in Roegs früheren Filmen ein besonders exponierter Moment ist, in welchem Zeit und Handlung kondensiert sind und die damit den gesamten Film in nuce zu enthalten scheint, wirkt in dieser Hinsicht geradezu atypisch für den Regisseur. So kritisiert Scott Salwolke: »In his best films, Roeg uses the opening to delineate the themes of the film, but in CASTAWAY the opening disappoints us, offering little more than simple exposition.«1 Wenngleich Roeg beteuert: »Of course I could make a film in the realist or social tradition […]. It would not be me and I could only do it once«,2 so ist CASTAWAY genau das eine Mal, wo Roeg unter Beweis stellt, daß er durchaus in der Lage ist, einen Film in der sozialrealistischen Manier zu drehen, die gerade im britischen Kino eine starke Tradition hat und mit Namen wie Karel Reisz, Tony Richardson und John Schlesinger verbunden ist – und die in den 1980er Jahren eine Renaissance als Reaktion auf den Thatcherismus erlebte, zu dessen wichtigsten Kritikern im Film Ken Loach und Mike Leigh avancierten.3 Wenn also die Eröffnungssequenz von CASTAWAY so untypisch für Roeg erscheint, dann ist dies vor allem dem Umstand geschuldet, daß sie Roegs Zugeständnis an das sozialrealistische Kino darstellt.4 Eine Zuwendung zu einer weiteren populären Form des Films, die noch deutlicher die Züge filmischen Mainstreams trägt als der stark autorenbehaftete Sozialrealismus, stellt Roegs einziger ›Ausflug‹ in die Gefilde des Kinderfilms dar. THE WITCHES ist zugleich »the most linear of his narratives – in other words his most orthodox, conventional movie«, wie Sinyard betont.5 Doch selbst wenn es THE WITCHES an der Komplexität seiner früheren Filme fehlt, zählt ihn Salwolke zu Roegs besten und will ihn keinesfalls als bloßen Kinderfilm abgetan wissen.6 Vielmehr vermeint er in diesem wie auch im nächstem Film COLD HEAVEN einen Ausdruck der Reife des Regisseurs zu erkennen, die einhergehe mit »a concession on Roeg’s part to making a more accessible work«.7 Über die Gründe für diesen Wandel in Roegs Schaffen kann nur spekuliert werden; da er aber gerade in der Nachfolge von EUREKA – Roegs den Maßstäben nach ambitioniertester Film, der zu einem finanziellen (und kritischen) Fiasko geriet – einsetzte, liegt es nahe, in der Zuwendung zu eher konventionell-linearen Erzählweisen ein Zugeständnis an die

1

Salwolke 1993, S. 127.

2

Baxter 1985, S. 14.

3

Vgl. Armstrong 2005, S. 96.

4

Vgl. Sinyard 1991, S. 107.

5

Ebd., S. 126.

6

Salwolke 1993, S. 185.

7

Ebd., S. 196.

ROEGS MANIERISTISCHES PRÄMISSENKINO – SCHLUSSBETRACHTUNG

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Zwänge eines am kommerziellen Erfolg ausgerichteten Marktes zu sehen. Zu diesem Schluß gelangt auch Scott Salwolke: »The promise of Roeg’s career had long been met, but he remained mired in seeming obscurity. Thus it seemed as if Roeg would either have to adapt his style or disappear from the scene completely.«1 Der Wandel in Stil und Erzählweise der Filme Roegs stellt damit ein Entgegenkommen an die Sehgewohnheiten eines am filmischen Mainstream orientierten Publikums dar. Ungeachtet dessen ist sich Roeg inhaltlich immer treu geblieben, was darauf schließen läßt, daß es ihm letztlich weniger um den Stil und die Erzählweise seiner Filme geht als um bestimmte inhaltliche Konstanten. Er selbst sagt über sich: »But that’s the way I work: one continuing thought that hasn’t been resolved.«2 Seine Filme kreisen dabei immer wieder um die gleichen Fragestellungen und Probleme: das Problem der Fremdheit – mit sich selbst wie mit dem Gegenüber, vor allem dem jeweils anderen Geschlecht –; daraus resultierend das ständige Sich-verfehlen, auch auf sprachlicher Ebene, das Gefühl des Verlorenseins in der Welt und die Erfahrung des Verlusts, insbesondere des Kindes, auch des ungeborenen; die Konfrontation mit der eigenen Verantwortung und die Last der Vergangenheit, die sich als ein ›Brennen‹ in der Zeit artikuliert – insgesamt die Orientierungslosigkeit von Figuren in einer Welt, die keinen Halt und keine Orientierung zu bieten vermag, was sich auch auf der Oberfläche vieler seiner Filme im wahrsten Sinne des Wortes spiegelt, die für den Zuschauer ebenfalls keine Orientierung zu bieten vermögen. Um diese Gedanken auszudrücken und filmisch-narrativ zu vermitteln, bedient sich Roeg eines überschaubaren Inventars wiederkehrender Symbole, Metaphern und Anspielungen, Figuren und Formen: Grenzen und Grenzgänger, Spiegel und Doppelgänger, Labyrinthe. Diese fungieren als Reflexions- oder, treffender, Denkfiguren, ganz im Einklang mit der Auffassung des Regisseurs, daß der Film nicht nur eine Kunstform, sondern ein intellektuelles Medium darstellt, das sich zur Übertragung von Gedanken eignet.3 In metafiktionaler Weise deuten diese Denk- und Reflexionsfiguren dabei stets auf die Probleme des Filmerzählens selbst, ohne dabei zu einer einzigen und definitiven Lösung zu gelangen. An die Stelle des univialen narrativen Wegs tritt bei Roeg das multikursorische Erzählen, das parallele mögliche Welten schafft, von denen keine einen Vorrang vor der anderen hat, womit die Vorstellung einer einzigen und allgemeingültigen Antwort obsolet erscheint. Oder, wie

1 2

Ebd., S. 122. Jay Padroff: »The Effects of International Locations on the Films of Nicholas Roeg«, in: Millimeter 9 (1981), Nr. 3, S. 171-179 [Padroff 1981b]; hier: S. 175.

3

Vgl. Salwolke 1993, S. viii unter Bezug auf Kennedy 1980, S. 22.

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Thomas Koebner es formuliert: Roeg schafft »Filmerzählungen als Abbildungen methodischen Problemhandelns, dessen negativer Ausgang bewiesen werden soll.«1 Ein Problemhandeln, auch wenn es zu keiner Lösung gelangt, setzt erst einmal eine Ausgangsfrage voraus. Genau eine solche steht am Beginn der Filme Roegs, die weniger von einer Geschichte, d.h. einer Handlung, die es zu erzählen gilt, als vielmehr von einer Idee, einer Hypothese, einer Prämisse ausgehen. Auch Jonathan Hacker und David Price betonen: »In terms of content, Roeg starts, not with a plot but with a premiss – some aspect of the human condition. Again and again two fundamental themes crop up – the quest for self-identity, and the nature of love between man and woman.«2 Auch Neil Sinyard stellt mit Blick auf PERFORMANCE fest, daß Roeg »not so much a linear plot as a cluster of themes and structured juxtapositions« zum Ausgangspunkt seines Films wähle und führt als Beispiele an: »life/death; male/female; sanity/insanity; reality/performance; wholeness of personality/disintegration of identity.«3 Der Regisseur bestätigt diesen Ansatz, wenn er darlegt, daß er sich von einem Drehbuch angesprochen fühle, »if it’s got a premise that hooks me«.4 Und im selben Sinne stellt er mit Blick auf seinen bekanntesten Film fest: »A story is nothing without a premise, and the premise of DON’T LOOK NOW is nothing is what it seems.«5 Darin erweist Roeg einmal mehr seine Verpflichtung Jorge Luis Borges gegenüber, für dessen Erzählungen ein ähnlicher Ansatz reklamiert werden kann. Wie Beatriz Sarlo darlegt, sind es die (Ausgangs-) Ideen, die bei Borges an die Stelle der Handlung treten: »Borges created a type of fiction in which ideas are not discussed through the characters, nor presented to the reader for considerati over and above the enjoyment of an unfolding narrative plot. On the contrary, ideas are the very stuff of the plot, and they shape it from the inside. Ideas in Borges are not only necessary to the development of the plot [...], they are presented as the plot itself. His fiction is based on the examination of an intellectual possibility presented as a narrative hypothesis.«6

Doch während Borges im Medium der geschriebenen Literatur operiert, betont Roeg, daß die für seine filmischen Erzählungen den Anstoß gebenden Ideen, die er

1

Koebner 2006, S. 95.

2

Hacker/Price 1991, S. 355.

3

Sinyard 1991, S. 12.

4

Roeg 2013, S. 61.

5

Setchfield 1999, S. 49.

6

Beatriz Sarlo: Jorge Luis Borges: A Writer on the Edge. London/New York: Verso 2006, S. 54. – Auch Floyd Merrell hält fest: »[…] Borges’s stories generally contain neither character nor plot in the traditional sense.« (Merrell, S. xi.)

ROEGS MANIERISTISCHES PRÄMISSENKINO – SCHLUSSBETRACHTUNG

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mit Gedanken gleichsetzt, vor allem visueller Natur sind: »I’ve always wanted to get my thoughts over in film visually, without the intermediary of literature.«1 Nicolas Roeg ist der festen Überzeugung, daß sich Gedanken und Vorstellungen aufgrund ihrer bildhaften Natur eher durch den Film als visuelles Medium als durch das geschriebene Wort ausdrücken lassen. Er neigt damit eher zur Konkretion als zur Abstraktion. Auf den ersten Blick steht dies natürlich im Widerspruch zu den massiven Referenzen auf literarische Texte, die durch die zahlreichen bildhaften Anspielungen auf Buchausgaben eingeführt werden. Aber zum einen mag man hierin einen Beleg für die vielen Widersprüchlichkeiten in Roegs multikursorischen Erzählungen erkennen, die sich nicht auflösen lassen. Und zum anderen – und dies ist der entscheidende Punkt – sind diese Verweise selbst ein Beispiel für Konkretion, indem eine konkrete Buchausgabe ins Bild rückt. Mit einer kurzen Einstellung auf ein Buch läßt sich mehr ausdrücken als mit vielen Worten – sei es im übertragenen Sinne als Szenen oder Einstellungen, oder im wörtlichen als Figurendialog. Und schließlich sind es nicht nur Bildverweise auf Bücher, sondern auch auf Bilder und andere Artefakte, die weitere Bedeutungen in die Filmerzählung einführen – oder eben auch nicht.2 All dies spiegelt als Verfahren Roegs Auffassung wider, daß sich der auf Bilder basierende und angewiesene Film besser als das geschriebene Wort dazu eignet, Vorstellungen und Ideen erzählerisch zu vermitteln. Damit sei der Film, der anstelle vieler Worte oft nur eine einzige Einstellung braucht, näher am gesprochen Wort als die Literatur. In Roegs eigenen Worten: »Before the printing-press imposed its syntax and grammar on it, story-telling was a very different thing. A good raconteur can tell a story in a single phrase.«3 Es geht Roeg nicht um epische Breite, sondern eher um das aphoristische Zusammenfassen einer Idee. Dies erklärt wohl auch, warum Roeg, wenn er doch auf ein literarisches Vorbild rekurriert, sich am deutlichsten von Borges beeinflußt zeigt, der selbst eine Affinität zu kleinen Formen wie Kurzgeschichten und Biogrammen aufweist. Anstatt einen Roman zu schreiben, bietet Borges lieber die knappe Zusammenfassung eines solchen, und zwar ganz so, als ob er existiere, obgleich er doch nur Fiktion ist. Ein Beispiel hierfür bietet er in seinen Erzählungen Tlön, Uqbar, Orbis Tertius und Examen de la

1 2

Kennedy 1980, S. 23. So gesehen umfassen Roegs Filme tatsächlich alle Formen der Kunst und des Erzählens, wie es in der als Motto zu diesem Schlußkapitel dienenden Aussage des Regisseurs heißt (vgl. Roeg 2013, S. 5).

3

Crawley 1980, S. 394.

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obra de Herbert Quain1 (1941), auf die er sich im Vorwort zu den Ficciones bezieht, wenn er zu der Feststellung gelangt: »Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Résumé, einen Kommentar vorzulegen.«2

Dies gilt um so mehr, wenn dieser einzige Gedanke eher grundsätzlicher Natur, um nicht zu sagen: schlicht ist, wie es so oft bei Roeg der Fall ist: »The premise, the ›plot‹, of any Roeg film is simple, spare, even trite«, bringt es Kolker auf den Punkt.3 Und so wie Borges’ Werk immer wieder um die gleichen ›Gedanken‹ kreist und die gleichen Metaphern in variierender Wiederholung aufgreift, so sind es auch bei Roeg die immer selben Themen, Symbole, Motive und Figuren, auf die er zurückkommt, darunter die bereits so oft erwähnten: Doppelgänger und Hermaphroditen, Labyrinthe und Spiegel, Zeit und Uhren, Mystik und Erotik – nicht rein zufällig liest sich dies wie eine Sammlung von Schlagworten, die aus dem Inhaltsverzeichnis von Gustav René Hockes Studie zum Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur entnommen wurden, denn genau dies ist hier der Fall.4 Gemeinsam tragen sie zur für Roeg so kennzeichnenden opulenten Visualität bei, die seine Filme prätentiös, überladen, sinnlich und, in einem Wort zusammengefaßt, manieristisch erscheinen lassen. Die Welt als Labyrinth – dies ist nicht nur der Titel von Gustav René Hockes zu einem Klassiker der Kunstgeschichte und Komparatistik avancierten Studie, sondern es beschreibt auch die Konstitution der fiktionalen Welten in Roegs Filmen und ihrer narrativen Verfahren. Als Musterbeispiel manieristischer poetischer, d.h. sprachlicher ›Labyrinthe‹ dienen Hocke Palindrome und

1

Jorges Luis Borges: »Untersuchung des Werks von Herbert Quain«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 145-150.

2

Jorges Luis Borges: »Fiktionen (1944)«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 93-245; hier: S. 97.

3 4

Kolker 1977, S. 82. Vgl. Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manierismus und Manier in der europäischen Kunst und Literatur. Durchges. u. erw. Ausg. hg. v. Curt Grützmacher. Reinbek b. Hamburg Rowohlt 1987, S. 9-11.

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Anagramme.1 Letztere wiederum kennzeichnen auch das filmische narrative Verfahren bei Roeg: Mindestens bis in die 1980er Jahre hinein ist die Struktur seiner Filme durch eine mosaikhafte Kombinatorik gekennzeichnet, die an die Stelle linearer, d.h. chronologischer Sukzession eine auf dem Prinzip von Serialität und Permutation fußende (Un-)Ordnung setzt, die sich als ein anagrammatisches filmisches Erzählen bezeichnen ließe, bei dem es mehr als nur eine richtige Möglichkeit gibt. Hocke behandelt den Manierismus dabei nicht (ausschließlich) als einen Epochenbegriff – irgendwo zwischen Spätrenaissance und Barockzeit –, sondern als ein Prinzip, als eine Ausdrucksform, die eine bestimmte Geisteshaltung widerspiegelt, die periodisch wiederkehrt und die es ihm erlaubt, auch die Moderne als eine manieristische Epoche zu betrachten.2 Rüdiger Zymner definiert den Manierismus daher als »ein Verfahren mit der Funktion, demonstrative Artistik vorzuführen und eine Rezipientenreaktion auf eben diese Artistik herauszufordern.«3 Dies impliziert, daß manieristische Kunst immer ihre Gemachtheit ausstellt – ganz so, wie es auf Roegs Filme zutrifft, die in ihrer Überladenheit und mittels ihrer narrativen Verfahren immer auch metafiktional ihren eigenen Status als medial vermittelte Artefakte zur Schau stellen. Damit stehen sie in deutlichem Gegensatz zu einer dominanten realistischen, auf Konventionen der Transparenz als Verschleierung der Künstlichkeit beruhenden klassischen filmisch-narrativen Tradition. Kurz gesagt: Roegs Filme sind deutlich anti-realistisch und damit (im filmgeschichtlichen Sinne) antiklassisch – und statt dessen vielmehr manieristisch. Denn beim Manierismus handelt es sich Hocke zufolge um »bewußt anti-klassische Ausdruckformen«.4 Roegs manieristische, anti-realistische Ausdrucksform, die sich durch opulente Visualität und überbordende Sinnlichkeit auszeichnet – an kaum einer anderen Stelle manifestieren sich diese wohl deutlicher als in Turners dekadent anmutendem Haus –, steht indes nicht nur im Gegensatz zu klassisch-realistischen filmischnarrativen Verfahren, sondern hebt sich auch deutlich ab von einer sachlichrealistischen Tradition, die gerade für das literarische, aber auch das filmische

1

Vgl. ebd., S. 290-293.

2

Vgl. ebd., S. 13f.; vgl. hierzu auch: Horst Bredekamp: »Der Manierismus: Zur Problematik einer kunsthistorischen Erfindung«, in: Wolfgang Braungart (Hg.), Manier und Manierismus. Tübingen: Niemeyer 2000 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 106), S. 109-129; hier: S. 127.

3

Rüdiger Zymner: »Manierismus als Artistik. Systematische Aspekte einer ästhetischen Kategorie«, in: Wolfgang Braungart (Hg.), Manier und Manierismus. Tübingen: Niemeyer 2000 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 106), S. 1-14; hier: S. 11 (Herv. i.O.).

4

Hocke 1987, S. 13.

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Schaffen in England als eine dominante Strömung angesehen werden kann. So urteilt Neil Sinyard: »Like Blake and [D.H.] Lawrence, Roeg is a particular kind of artist whom the English have always found hard to assimilate. He is an English sensualist. He pits a poetic, rich-blooded romanticism against the usual British reserved realism, and a mythical modernism against the more common kitchen-sink naturalism.«1

Roeg selbst ist sich seiner Sonderstellung durchaus bewußt: »I suppose I’m outside the mainstream of British cinema.«2 Ob ›Sensualist‹ dabei diese Sonderstellung des Regisseurs treffend bezeichnet, sei dahingestellt. Roeg selbst zumindest tituliert sich in Abgrenzung zu einem als Sozialrealismus verstandenen ›Naturalismus‹ als ›Supernaturalist‹. Rüdiger Suchsland gegenüber betont er: »Aber ich bin natürlich kein Naturalist. Die reine Wirklichkeit hat mich nie interessiert. Eher schon bin ich ein Supernaturalist. Die einzige Wirklichkeit, für die ich mich interessiere, ist die des menschlichen Verhaltens. Der Mensch und die menschliche Natur sind außerordentlich.«3 Im Mittelpunkt von Roegs Filmen stehen also stets der Mensch, der in nahezu existentialistischer Manier auf sich selbst gestellt ist, und die Natur, in der er sich zurechtfinden muß. So wundert es nicht, daß Roeg auf die Frage, ob er an Gott glaube, entgegnet: »I believe in nature.«4 Ungeachtet aller religiöser Motive, die sich in seinen Filmen finden, propagiert er kein christliches Weltbild, sondern votiert statt dessen, wie es Joseph Gomez formuliert, »for a pagan, particularly animistic, view of the world.«5 Das, worauf all dieses hinausläuft, ist ein Pantheismus, auch wenn Roeg selbst ihn nicht als solchen bezeichnet: »All knowledge, all things are connected… That’s the way I see it.«6 Auch hierin erweist sich der Regisseur einmal mehr als Manierist: während eine ›klassische‹ Darstellung Gott als ein persönliches Wesen darzustellen pflegt, geht der ›magische‹ Manierismus von einem Pantheismus aus, von dem es nur einen Schritt entfernt ist zu einem ›mystischen‹ Panlogismus, und der »auf ein abgründiges Wirken oder auf eine gesichtslose Wirksamkeit« zielt.7 Apropos Abgründigkeit: wie Hocke betont, ist der (literarische) Manierismus »vor allem an seinen formalen Eigentümlichkeiten zu erkennen«, die »verzaubern

1

Sinyard 1991, S. 135.

2

Baxter 1985, S. 26.

3

Suchsland 2008, S. 45.

4

Norman 1983, S. 64.

5

Gomez 1981, S. 51.

6

Ebd.

7

Hocke, 1987, S. 254.

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und schockieren, […] erregen und verstimmen« können: »Die Wirkung jeder manieristischen Kunst liegt zwischen Schock und Langeweile«.1 Roeg schreckt nicht davor zurück, uns Zuschauer zu langweilen, etwa in dem sich über Minuten hinziehenden Schlußplädoyer Tracy McCanns am Ende von EUREKA, aber noch weniger schreckt er davor zurück, zu schockieren. Selbst diejenigen, denen der Name des Regisseurs unbekannt ist, kennen oftmals zumindest DON’T LOOK NOW und verweisen auf die schockierenden Momente des Films, darunter die Szene, in der John Baxter in mehrfach wiederholter, quälend langsamer Zeitlupe seine Tochter Christine aus dem Teich birgt und tot in den Armen hält.2 »The time is emotional time; she dies too quickly and he screams too long«, beschreibt Janet-Ann Baker den Effekt dieser Szene.3 Doch gerade in der Anwendung solcher Effekte ist Roeg nicht weit von unserer eigenen (Zeit-)Wahrnehmung, insbesondere in Extremsituationen, entfernt. So gelangt auch Neil Feineman zu dem Schluß: »Oddly enough, then, when DON’T LOOK NOW uses its time most fluidly and when it should look the least natural, Roeg has actually achieved a terrifyingly heightened sense of realism.«4 Indem sich Roeg formal von den starren Fesseln eines auf filmischen und narrativen Konventionen basierenden ›Realismus‹ befreit, kommt er einer Wahrnehmung der Realität, wie sie sich uns tatsächlich darbietet, gerade näher. Wie auch immer man zu Roegs Filmen steht mag: sie lassen uns im Guten wie im Schlechten nicht unberührt. Ganz im Gegenteil, sie hinterlassen unvergeßliche Eindrücke. Er hat Filme geschaffen, deren verstörende Bilder sich unauslöschlich ins Gedächtnis einbrennen.

1

Ebd., S. 271 (Herv. i.O.).

2

So konstatiert auch Vincent Canby mit Blick auf DON’T LOOK NOW: »The film opens with an agonizing sequence […].« (Vincent Canby: »›Don’t Look Now‹, a Horror-Tale«, in: The New York Times, 10.12.1973, S. 56.)

3

Baker 1977, S. 61.

4

Feineman 1978, S. 101.

Literatur- und Filmverzeichnis

1) L ITERATURVERZEICHNIS a) Primärliteratur Amis, Martin: Night Train. London: Cape 1997. —: Time’s Arrow: or The Nature of the Offence. London: Vintage 2003. Apollodor: »Epitome, I, 12-14«, in: Achim Aurnhammer/Dieter Martin (Hg.), Mythos Ikarus. Texte von Ovid bis Wolf Biermann. 2. Aufl. Leipzig: Reclam 2001, S. 33f. Auden, Wystan Hugh: »Musée des Beaux-Arts«, in: Achim Aurnhammer/Dieter Martin (Hg.), Mythos Ikarus. Texte von Ovid bis Wolf Biermann. 2. Aufl. Leipzig: Reclam 2001, S. 189. Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Übers. u. mit einer Einf. v. Wilhelm Timme. 10. Aufl. München: dtv 2003. Borges, Jorge Luis: »25. August 1983«, in: ders., David Brodies Bericht. Das Sandbuch. Shakespeares Gedächtnis. Übers. v. Curt Meyer-Clason/Dieter E. Zimmer/Gisbert Haefs. München/Wien 2001 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen zweiter Teil), S. 189-194. —: A Personal Anthology. Ed. with a foreword by Anthony Kerrigan. London: Cape 1968. —: »Das Aleph«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 369-386. —: »Das geheime Wunder«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 215222. —: »Das unerbittliche Gedächtnis«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 179-188.

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—: »Der Andere«, in: ders., David Brodies Bericht. Das Sandbuch. Shakespeares Gedächtnis. Übers. v. Curt Meyer-Clason/Dieter E. Zimmer/Gisbert Haefs. München/Wien 2001 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen zweiter Teil), S. 91-99. —: »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 161-173. —: »Der Süden«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 238-245. —: »Der Tod und der Kompaß«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 201-214. —: »Die Bibliothek von Babel«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 151-160. —: »Die kreisförmige Zeit«, in: ders., Geschichte der Ewigkeit. Von Büchern und Autoren. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2005 (= Gesammelte Werke. Der Essays zweiter Teil), S. 71-76. —: »Die kreisförmigen Ruinen«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 130-136. —: »Die Lehre von den Zyklen«, in: ders., Geschichte der Ewigkeit. Von Büchern und Autoren. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2005 (= Gesammelte Werke. Der Essays zweiter Teil), S. 59-70. —: »Die Zeit«, in: ders., Borges, mündlich. Sieben Nächte. Neun danteske Essays. Persönliche Bibliothek. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2004 (= Gesammelte Werke. Der Essays vierter Teil), S. 58-69. —: »Die Zeit und J.W. Dunne«, in: ders., Inquisitionen. Vorworte. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2003 (= Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil), S. 25-28. —: »Die zwei Könige und die zwei Labyrinthe«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 355f. —: »Edward Kasner and James Newman: ›Mathematics and the Imagination‹ (Schuster and Schuster)«, in: ders., Evaristo Carriego. Diskussionen. Übers. v.

LITERATUR- UND FILMVERZEICHNIS

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Karl August Horst/Kurt Meyer-Clason/Melanie Walz/Gisbert Haefs. München/Wien 1999 (= Gesammelte Werke. Der Essays erster Teil), S. 269f. —: »Fiktionen (1944)«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 93-245. —: »Geschichte der Ewigkeit«, in: ders., Geschichte der Ewigkeit. Von Büchern und Autoren. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2005 (= Gesammelte Werke. Der Essays zweiter Teil), S. 9-32. —: »Kafka und seine Vorläufer«, in: ders., Inquisitionen. Vorworte. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2003 (= Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil), S. 114-117. —: »Magische Einschübe im ›Quijote‹«, in: ders., Inquisitionen. Vorworte. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2003 (= Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil), S. 52-55. —: »Neue Widerlegung der Zeit«, in: ders., Inquisitionen. Vorworte. Übers. v. Karl August Horst/Gisbert Haefs. München/Wien 2003 (= Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil), S. 180-201. —: »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 99-118. —: »Untersuchung des Werks von Herbert Quain«, in: ders., Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph. Übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs. München 2000 (= Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil), S. 145-150. Bowles, Paul: The Sheltering Sky. With an Introd. by Paul Theroux. London u.a.: Penguin [2009]. Bradley, Francis Herbert: Appearance and Reality. A Metaphysical Essay. Oxford: Clarendon 1999 (= Collected Works of F.H. Bradley; Vol. 9). Brontë, Charlotte: Jane Eyre. Ed. with an Introd. by Margaret Smith. London: Oxford Univ. Press 1973. Calvino, Italo: Le città invisibili. Milano: Mondadori 1993. Dostojewski. Fjodor M.: Die Brüder Karamasoff. Roman in vier Teilen mit einem Epilog. Übers. v. E.K. Rahsin. München: Pieper 1968. Dunne, John William: An Experiment with Time. London u.a.: Macmillan 1981. —: Nothing Dies. London: Faber and Faber [1941]. —: The Serial Universe. London: Faber and Faber 1934. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Texte. Hg. v. Albrecht Schöne. 6., rev. Aufl. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994 (= Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hg. v. Friedmar Apel u.a. 1. Abteilung. Sämtliche Werke; Bd. 7/1).

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—: Italienische Reise. Teil 1. Hg. v. Christoph Michel/Hans Georg. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993 (= Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hg. v. Friedmar Apel u.a. 1. Abteilung. Sämtliche Werke; Bd. 15/1). Greene, Graham: »The Third Man«, in: ders., The Heart of the Matter, Stamboul Trail, A Burnt-Out Case, The Third Man, The Quiet American, Loser Takes All, The Power and the Glory. London: Book Club Associates 1980, S. 469528. Heine, Heinrich: »Lutezia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. Zweiter Theil«, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verb. m. d. Heinrich-Heine-Institut hg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 14/1: Lutezia II. Text. Apparat 43.-58. Artikel. Bearb. v. Volkmar Hansen. Hamburg: Hoffmann und Campe 1990. Hochuth, Rolf: Der Stellvertreter. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1963. Housman, Alfred Edward: A Shropshire Lad and Other Poems. Ed. by Archie Burnett with an Introd. by Nick Laird. London: Penguin 2010. Irvine, Lucy: Castaway. London: Gollancz 1983. Johnson, Terry: »Insignificance«, in: ders., Plays: 1. With an Introd. by Rob Ritchie. London: Methuen Drama 1997, S. 1-61. Kierkegaard, Sören: Der Begriff Angst. Übers. u. mit Glossar, Bibliographie sowie e. Essay »Zum Verständnis des Werkes« hg. v. Liselotte Richter. Hamburg: Rowohlt 1960. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodizee. Von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. Vorwort, Abhandlung, erster und zweiter Teil. Frz./Dt. Hg. u. übers. v. Herbert Herring. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996 (= Philosophische Schriften; Bd. 2.1). Mann, Thomas: »Der Tod in Venedig«, in: ders., Frühe Erzählungen. Hg. u. textkrit. durchges. v. Terrence J. Reed unter Mitarb. v. Malte Herwig. Frankfurt a.M.: Fischer 2004 (= Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. v. Heinrich Detering u.a.; Bd. 2.1), S. 501-592. Marshall, James Vance: Walkabout. London: Puffin 2009. Mintay, Wolfgang (Hg.): Die Eisenbahn. Gedichte – Prosa – Bilder. Frankfurt a.M.: Insel 1984. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Band 1. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1990. Nabokov, Vladimir: Despair. A Novel. New York: Vintage 1989. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra I-IV. Hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München: dtv; Berlin/New York: de Gruyter 1999 (= Kritische Studienausgabe; Bd. 4). Ovidius Naso, Publius: Metamorphoses. Hg. v. William S. Anderson. 5., unv. Aufl. Stuttgart: Teubner 1991.

LITERATUR- UND FILMVERZEICHNIS

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Pinter, Harold: Niemandsland. Monolog. Die Geburtstagsfeier. Der Hausmeister. Die Heimkehr. Fünf Theaterstücke. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1976. Platen, August von: Gedichte. Ausw. u. Nachw. v. Heinrich Hensel. Stuttgart: Reclam 1984. Platon: »Timaios«. Übers. v. Franz Susemihl, in: ders., Sämtliche Werke in drei Bänden. Hg. v. Erich Loewenthal. Bd. III. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, S. 91-191. Poe, Edgar Allan: Eureka. An Essay on the Material and Spiritual Universe. Foreword by Sir Patrick Moore. London: Hesperus 2002. Rilke, Rainer Maria: »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, in: ders., Prosa und Dramen. Hg. v. August Stahl. Frankfurt a.M.: Insel 1996 (= Rainer Maria Rilke: Werke. Komm. Ausg. in 4 Bdn.; Bd. 3), S. 453-635. Rimbaud, Arthur: Correspondance inédite (1870-1875). Précédée d’une introduction de Roger Gilbert-Lecomte. Paris: Cahiers Libres 1929. Robbe-Grillet, Alain: La Jalousie. Paris: Éd. de Minuit 1957. Sartre, Jean-Paul: »Huis Clos. Pièce en un acte«, in: ders., Théâtre. Les Mouches, Huis Clos, Mort sans sépulture, La Putain respectueuse. Paris: Gallimard 1966, S. 123-182. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält. Zürich: Haffmans 1988. Shakespeare, William: Macbeth. Ed. by Kenneth Muir. 8th, rev. ed. London: Methuen 1957. Schwartz, Delmore: Selected Poems. Summer Knowledge. New York: New Directions 1967. Thomas von Aquino: Summe der Theologie. Zusammengef., eingel. u. erl. v. Joseph Bernhardt. 1. Bd.: Gott u. Schöpfung. 3., durchges. u. verb. Aufl. Stuttgart: Kröner 1985. Vergilius Maro, Publius: Georgica. Vom Landbau. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1994. Wagner, Richard: Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Vorabend: Das Rheingold. Textbuch mit Varianten der Partitur. Hg. v. Egon Voss. Stuttgart: Reclam 1991. b) Literatur zu Nicolas Roegs und seinen Filmen Aitken, Will: »Icarus Drowned«, in: Take One 5 (1976), Nr. 4, S. 38f. Baker, Janet Ann: Alien Visions in the Films of Nicolas Roeg. Gainesville, FL: Univ. of Florida 1977 (Diss.). Barber, Susan: »Bad Timing/A Sensual Obsession«, in: Film Quarterly 35 (1981), Nr. 1, S. 46-50.

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Bartholomew, David: »The Man Who Fell to Earth«, in: Film Heritage 12 (1976), Nr. 1, S. 18-25. Baumbach, Jonathan: »Show-Offs«, in: Partisan Review 41 (1974), Nr. 2, S. 273278. Baumgarten, Oliver: »Nicht von dieser Welt. Nicolas Roegs Reflexion über Idealismus in ›The Man Who Fell to Earth‹«, in: Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann (Hg.), Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 (= FilmKonzepte; 3), S. 68-73. Baxter, Brian: »The Significance of Mr Roeg«, in: Films and Filming 370 (July 1985), S. 14-17. Beller, Hans: »Look Now! Anmerkungen zur Montagetechnik in ›Don’t Look Now‹«, in: Marcus Stiglegger/Carsten Bergemann (Hg.), Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 (= Film-Konzepte; 3), S. 62-67. Bergemann, Carsten: »›And death shall have no dominion‹. Eine Annäherung an Nicolas Roeg«, in: Marcus Stiglegger/ders. (Hg.), Nicolas Roeg. München: Edition Text+Kritik 2006 (= Film-Konzepte; 3), S. 15-22. —: »Der gefallene Engel. Nicolas Roegs ›The Man Who Fell to Earth‹«, in: Ikonen. Zeitschrift für Kunst, Kultur und Lebensart 0/1 (2002), S. 16-19. —: »Jongleure im Spiegelkabinett. Popstars in den Filmen von Nicolas Roeg«, in: Bernd Kiefer/Marcus Stiglegger (Hg.), Pop & Kino. Von Elvis zu Eminem. Mainz: Bender 2004, S. 96-103. Bernhard, Sandra: »Right on ›Track‹«, in: American Film (April 1988), S. 31 u. 5153. Blöhdorn, Andreas: »Verweissystem Farbe. Semiotisierung und Referatialisierung von ›Sehen‹ und ›Erkennen‹ am Beispiel von Nicolas Roegs ›Don’t Look Now‹ (1973)«, in: Zeitschrift für Semiotik 30 (2008), Nr. 3-4, S. 321-353. Blumenberg, Hans C.: »Ein Film der leisen Fallen. ›Wenn die Gondeln Trauer tragen‹ von Nicholas Roeg«, in: Die Zeit, Nr. 37, 06.09.1974, S. 24. Bockris, Victor: »I Would Have been a Soldier. An Interview with Nicloas Roeg«, in: ders., Beat Punks. [New York:] Da Capo Press 2000, S. 131-146. Boyle, Anthony: »Two Images of the Aboriginal: ›Walkabout‹, the Novel and Film«, in: Literature/Film Quarterly 7 (1979), Nr. 1, S. 67-76. Buck, Paul: Performance. A Biography of the Classic Sixties Film. London u.a.: Omnibus Press 2012. Buckley, Tom: »At the Movies: The Man Behind ›Bad Timing‹«, in: The New York Times, 19.09.1980, S. C6. Callenbach, Ernest: »Walkabout«, in: Film Quarterly 26 (1973), Nr. 4, S. 64. Cammell, Donald: Performance. Ed. by Colin MacCabe. London: Faber and Faber 2001. Canby, Vincent: »›Don’t Look Now‹, a Horror-Tale«, in: The New York Times, 10.12.1973, S. 56.

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458 | KINO DER UNORDNUNG

Frankfurt a.M.: Fischer 1986 (= Gesammelte Werke Bd. 12), S. 3-12 [Freud 1986a]. —: »Geschichte einer infantilen Neurose«, in: ders., Werke aus den Jahren 19171920. Unter Mitw. v. Marie Bonaparte hg. v. Anna Freud. 6. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 1986 (= Gesammelte Werke Bd. 12), S. 27-157 [Freud 1986b]. —: »Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität«, in: ders., Werke aus den Jahren 1917-1920. Unter Mitw. v. Marie Bonaparte hg. v. Anna Freud. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 1963 (= Gesammelte Werke Bd. 13), S. 193-207. —: »Zur Einführung des Narzißmus«, in: ders., Werke aus den Jahren 1913-1917. Unter Mitw. v. Marie Bonaparte hg. v. Anna Freud. 6. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 1973 (= Gesammelte Werke Bd. 10), S. 137-170. Galison, Peter: Einsteins Karten, Poincarés Uhren. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit. Übers. v. Hans Günter Holl. Frankfurt a.M.: Fischer 2006. Gehlen, Arnold: »Über kulturelle Kristallisation«, in: ders., Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften. Frankfurt a.M.: Klostermann 2004 (= Gesamtausgabe Bd. 6), S. 298-314. Głaz; Adam: »The Self in Time. Reversing the Irreversible in Martin Amis’s ›Time’s Arrow‹«, in: Journal of Literary Semantics 35 (2006), Nr. 2, S. 105122. Greber, Erika: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2002 (= Pictura et poesis; 9), S. 169-225. Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt a.M.: Fischer 1999. —: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München/Wien: Hanser 2000. Hallam, Clifford: »The Double as Incomplete Self. Definition of Doppelgänger«, in: Eugene J. Crook (Hg.), Fearful Symmetry. Doubles and Doubling in Literature and Film. Papers from the Fifth Annual Florida State University Conference on Literature and Film. Tallahassee, FL: Univ. Press of Florida 1981, S. 131. Hamon, Philippe: »Un discours contraint«, in: Poétique. Revue de théorie et d’analyse littéraires 16 (1973), S. 411-445. Hanke-Schaefer, Adelheid: Jorge Luis Borges zur Einführung. Hamburg: Junius 1999. Hayles, N. Katherine: The Cosmic Web. Scientific Field Models and Literary Strategies in the Twentieth Century. Ithaca, NY/London: Cornell Univ. Press 1984. Hildebrandt, Hans-Hagen: »Das geschriebene Ich oder: Wer ist wer im Spiegel?«, in: Ingrid Fichtner (Hg.), Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern u.a.: Haupt 1999 (= Facetten der Literatur; 7), S. 218-243.

LITERATUR- UND FILMVERZEICHNIS

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Hocke, Gustav René: Die Welt als Labyrinth. Manierismus und Manier in der europäischen Kunst und Literatur. Durchges. u. erw. Ausg. hg. v. Curt Grützmacher. Reinbek b. Hamburg Rowohlt 1987. Höfner, Eckard: »Borges und die Konstruktion von Welten, ›die nicht allzu inkompatibel wären mit der realen Welt‹«, in: Eva Kimminich (Hg.), Erfundene Wirklichkeiten. Literarische und wissenschaftliche Weltentwürfe – zwei Wege, ein Ziel? Ausgewählte Beiträge zum Deutschen Romanistentag Jena 1997. Rheinfelden/Berlin: Schäuble 1998 (= Reihe Romanistik; 71), S. 81-107. —: »Les allusions aux modèles scientifiques et leur fonctions dans l’œuvre de J.L. Borges«, in: Alfonso de Toro/Fernando de Toro (Hg.), El siglo de Borges. Vol. I: Retrospectiva – Presente – Futuro. Frankfurt a.M.: Vervuert; Madrid: Iberoamericana 1999, S. 73-102. Holländer, Hans: »Augenblick und Zeitpunkt«, in: Christian W. Thomsen/ders. (Hg.), Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 7-21. Hölter, Achim: »Denkfiguren der Komparatistik«, in: Rüdiger Zymner/ders. (Hg.), Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2013, S. 87-90. —: »›Doppelte Optik‹ and ›lange Ohren‹ – Notes on the Aesthetic Compromise«, in: Paul Ferstl/Keyvan Sarkhosh (Hg.), Quote, Double Quote. Aesthetics between High and Popular Culture. Amsterdam/New York: Rodopi 2014 (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft; 171), S. 43-63. —: »Vollständige Beschreibung. Zu Borges und anderen Meta-Erzählern«, in: ders./Monika Schmitz-Emans (Hg.), Wortgeburten. Zu Ehren von Karl Maurer. Heidelberg: Synchron 2009, S. 157-171. —/Rüdiger Zymner: »Einleitung. Konturen der Komparatistik«, in: Rüdiger Zymner/Achim Hölter (Hg.), Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 1-4. Homann, Hans-Jürgen: Praxishandbuch Filmrecht. Ein Leitfaden. 3., aktual. Aufl. Berlin/Heidelberg: Springer 2009. Hörisch Jochen: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Hutcheon, Linda/Mario J. Valdés: »Irony, Nostalgia, and the Postmodern: A Dialogue«, in: Poligrafías. Revista de Literatura Comparada 3 (1998-2000), S. 18-41. Inglis, Brian: »Introduction«, in: John William Dunne, An Experiment with Time. London u.a.: Macmillan 1981, S. v-xvii. Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik [1960]«, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1912-1971. Hg. v. Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert. [Frankfurt a.M.:] Suhrkamp 1979, S. 83-121.

460 | KINO DER UNORDNUNG

—: »Über den Realismus in der Kunst«, in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. 5. Aufl. München 1994, S. 373-191. Johnson, Julie M.: »The Theory of Relativity in Modern Literature. An Overview and ›The Sound of Fury‹«, in: Journal of Modern Literature 10 (1983), Nr. 2, S. 217-230. Kaempfer, Wolfgang: Die Zeit und die Uhren. Mit einem Beitr. v. Dietmar Kamper: »Umgang mit der Zeit. Paradoxe Wiederholungen«. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1991. Kaschuba, Wolfgang: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne. Frankfurt a.M.: Fischer 2004. Kerényi, Karl: Die Mythologie der Griechen. Bd. 2: Die Heroen-Geschichten. 19. Aufl. München: dtv 2001. Kern, Hermann: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. 2. durchges. u. erw. Aufl. München: Prestel 1983. Koerner Joseph Leo: Die Suche nach dem Labyrinth. Der Mythos von Dädalus und Ikarus. Übers. v. Lore Brüggemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Kohl, Stephan: Realismus. Theorie und Geschichte. München: Fink 1977. Konersmann, Ralf: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts. Frankfurt a.M.: Fischer 1991. Kopanski, Karlheinz W.: Der männliche Blick in den Spiegel. Eine motivgeschichtliche Untersuchung. Münster u.a.: Lit 1998. Kripke, Saul A.: »Semantical Considerations on Modal Logic«, in: Farhang Zabeeh/E.D. Klemke/Arthur Jacobson (Hg.), Readings in Semantics. Urbana, IL u.a.: Univ. of Illinois Press 1974, S. 803-814 (zunächst in: Acta Philosophica Fennica 16 [1963], S. 83-94). Kristeva, Julia: »Wort, Dialog und Roman bei Bachtin«, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl. Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Frankfurt a.M: Athenäum-Fischer 1972, S. 345-375. Kuhn, Thomas S.: »Possible Worlds in History of Science«, in: Sture Allén (Hg.), Possible Worlds in Humanities, Arts and Sciences. Proceedings of Nobel Symposium 65. Berlin/New York: de Gruyter 1989 (= Research in Text Theory/ Untersuchungen zur Textheorie; 14), S. 9-32. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 19490«, in: ders.: Schriften 1. Ausgew. u. hg. v. Norbert Haas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 61-70. Linke, Angelika/Markus Nussbaumer/Paul R. Portmann: Studienbuch Linguistik. Tübingen: Niemeyer 1991 (= Reihe Germanistische Linguistik; 121). Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Übers. v. Rolf-Dietrich Keil. München: Fink 1972.

LITERATUR- UND FILMVERZEICHNIS

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Matthews, William Henry: Mazes and Labyrinths. Their History and Development. New York: Dover 1970 (Repr. d. Ausg. London: Longmans, Green 1922). Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und Psychologie. 3. Aufl. Stuttgart/Berlin: Cotta Nachf. 1921. —: »Individualismus«, in: ders., Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band. Zürich: Diogenes 1980, S. 552f. Menke, Richard: »Narrative Reversals and the Thermodynamics of History in Martin Amis’s ›Time’s Arrow‹«, in: Modern Fiction Studies 44 (1998), Nr. 4, S. 959-980. Merrell, Floyd: Unthinking Thinking. Jorge Luis Borges, Mathematics, and the New Physics. West Lafayette, IN: Purdue Univ. Press 1991. Mosher, Mark: »Atemporal Labyrinths in Time. J.L. Borges and the New Physicists«, in: Symposium. A Quarterly Journal of Modern Literatures 48 (1994), Nr. 1, S. 51-61. Most, Otto J.: Zeitliches und Ewiges in der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers. Frankfurt a.M.: Klostermann 1977 (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts; 33). Niehaus, Michael: »Der Doppelgänger als Figur der Enthüllung«, in: Ingrid Fichtner (Hg.), Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern u.a.: Haupt 1999 (= Facetten der Literatur; 7), S. 59-76. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: C.H. Beck 2011. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. 5., erg. Aufl. Hamburg: Junius 2007. Philmus, Robert M.: »Wells and Borges and the Labyrinths of Time«, in: ScienceFiction Studies 1 (1974), Nr. 4, S. 237-248. Pilz, Kerstin: »Reconceptualising Thought and Space: Labyrinths and Cities in Calvino’s Fictions«, in: Italica 80 (2003), Nr. 2, S. 229-242. Plessner, Helmuth: »Zur Anthropologie des Schauspielers«, in: ders., Ausdruck und menschliche Natur. Hg. v. Günther Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982 (= Gesammelte Schriften; 7), S. 399-418. Ragan, Donal M.: Structural Geology. An Introduction to Geometrical Techniques. New York: Wiley 1968. Redekop, Ernest H.: »Labyrinths in Time and Space«, in: Mosaic. A Journal for the Interdisciplinary Study of Literature and Ideas 13 (1980), Nr. 3/4, S. 95-113. Renger, Almut-Barbara: »Androgynie«, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), Metzler-Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 1820. —: »Lektürehinweise«, in: dies. (Hg.), Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jacques Lacan. Leipzig: Reclam 1999, S. 259-292.

462 | KINO DER UNORDNUNG

—: »Vorwort«, in: dies. (Hg.), Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jacques Lacan. Leipzig: Reclam 1999, S. 14-20. Rescher, Nicholas: »Leibniz on Possible Worlds«, in: Studia Leibnitiana 28 (1996), Nr. 2, S. 129-163. Reuther, Claus-Dieter: Grundlagen der Tektonik. Kräften und Spannungen der Erde auf der Spur. Heidelberg: Spektrum 2012. Rojo, Alberto: »El jardín de los mundos que se ramifican: Borges y la mecánica cuántica«, in: Ciberletras 1 (1999), http://www.lehman.cuny.edu/ciberletras/ v1n1/crit_06.htm (30.09.2013). Santarcangeli, Paolo: Il libro dei labirinti. Milano: Sperling & Kupfer 2000. Sarkhosh, Keyvan: »›Sick, sick, sick‹? Pornography, Disgust, and the Limit Values of Aesthetics«, in: Paul Ferstl/ders. (Hg.), Quote, Double Quote. Aesthetics between High and Popular Culture. Amsterdam/New York: Rodopi 2014 (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft; 171), S. 99-120. Sarlo, Beatriz: Jorge Luis Borges: A Writer on the Edge. London/New York: Verso 2006. Schäfer, Rose Beate: »Anagramm«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moenninghof (Hg.), Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe u. Definitionen. Begr. v. Günther u. Irmgard Schweikle. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 20. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 2007. Schmeling, Manfred: Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987. Schmitz-Emans, Monika: »Die Intertextualität der Bilder. William Turner im Spiegel literarischer Interpretationen«, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2002/2003, S. 41-71. —: »Im Labyrinth der Erfahrungen und Diskurse. Alices schwindelerregende Erfahrungen mit dem Ich und der Welt«, in: Hans Richard Brittnacher/Rolf-Peter Janz (Hg.), Labyrinth und Spiel. Umdeutungen eines Mythos. Göttingen: Wallstein 2007, S. 138-169. —: »Labyrinthe. Zur Einführung«, in: Kurt Röttgers/dies. (Hg.), Labyrinthe. Philosophische und literarische Modelle. Essen: Die Blaue Eule 2000, S. 7-32 [Schmitz-Emans 2000a]. —: »Text-Labyrinthe. Das Labyrinth als Beschreibungsmodell für Texte«, in: Kurt Röttgers/dies. (Hg.), Labyrinthe. Philosophische und literarische Modelle. Essen: Die Blaue Eule 2000, S. 135-166 [Schmitz-Emans 2000b]. —: »Zwillinge/Doppelgänger«, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), MetzlerLexikon literarischer Symbole. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 441f.

LITERATUR- UND FILMVERZEICHNIS

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Schwarcz, Chava Eva: »Der Doppelgänger in der Literatur. Spiegelung, Gegensatz, Ergänzung«, in: Ingrid Fichtner (Hg.), Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern u.a.: Haupt 1999 (= Facetten der Literatur; 7), S. 1-14. Serres, Michel: Hermes III. Übersetzung. Übers. v. Michael Bischoff. Berlin: Merve 1992. —: »Paris 1800«, in: ders. (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 597-643. Sieber, Sharon Lynn: »Time, Simultaneity, and the Fantastic in the Narrative of Jorge Luis Borges«, in: Romance Quarterly 51 (2004), Nr. 3, S. 200-211. Snow, Charles Percy: The Two Cultures and A Second Look. An Expanded Version of the Two Cultures and the Scientific Revolution. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1964. Soiné, Michael: »Indiz«, in: Ingo Wirth (Hg.), Kriminalistik-Lexikon. 4., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Heidelberg u.a.: Kriminalistik 2011, S. 294. Sokal, Alan: »Transgressing the Boundaries. Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity«, in: Social Text 46/47 (1996), S. 217-252. —/Jean Bricmont: Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals’ Abuse of Science. New York: Picador 1998. Stiegler, Bernd: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München: Fink 2001. Stone, Jonathan: »Polyphony and the Atomic Age: Bakhtin’s Assimilation of an Einsteinian Universe«, in: PMLA 123 (2008), Nr. 2, S. 405-421. Sylvester, David (Hg.): René Magritte. Catalogue raisonné. Vol. II: Oil Paintings and Objects 1931-1948. Paris u.a: Flammarion u.a. 1993. Tarassow, Lew: Symmetrie, Symmetrie! Strukturprinzipien in Natur und Technik. Übers. v. Rolf Rudolph. Heidelberg: Spektrum 1999. Turner, Victor: »Betwixt and Between: The Liminal Period in ›Rites de Passage‹«, in: Arthur C. Lehman/James E. Myers (Hg.), Magic, Witchcraft, and Religion. An Anthropological Study of the Supernatural. 5th ed. Mountain View, CA: Mayfield 2001, S. 46-55 (zunächst in: Melford E. Spiro [Hg]: Symposium on New Approaches to the Study of Religion. Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society. Seattle: Univ. of Washington Press 1964, S. 4-20). —: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. New Brunswick, NJ: Aldine Transaction 2008. van Gennep, Arnold: Übergangsriten (Les rites de passages). Übers. v. Klaus Schomburg/Silvia M. Schomburg-Scherff. Mit e. Nachw. v. Silvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a.M.: Campus; Paris: Ed. de la Maison des Sciences de l’Homme 1999. Waugh, Patricia: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London/New York: Methuen 1984. Wetzel, Christoph: Reclams Sachlexikon der Kunst. Stuttgart: Reclam 2007, S. 291.

464 | KINO DER UNORDNUNG

Wöll, Alexander: »Phallus«, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), MetzlerLexikon literarischer Symbole. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 277f. Zeller, Rosmarie: »Realismusprobleme in semiotischer Sicht«, in: Richard Brinkmann (Hg.), Begriffsbestimmungen des literarischen Realismus. 3., erw. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987 (= Wege der Forschung; 212), S. 561-587. (zunächst in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 12 [1980], H. 1, S. 84-101). Žižek, Slavoj: »Schlagend, aber nicht Treffend!«, in: Critical Inquiry 33 (Autumn 2006), S. 185-211. Zymner, Rüdiger: »Manierismus als Artistik. Systematische Aspekte einer ästhetischen Kategorie«, in: Wolfgang Braungart (Hg.), Manier und Manierismus. Tübingen: Niemeyer 2000 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 106), S. 1-14.

2) F ILMVERZEICHNIS a) Filme von Nicolas Roeg (Regiearbeiten) PERFORMANCE (GB 1970) – gemeinsam mit Donald Cammell. WALKABOUT (›Walkabout – Ein Traum vom Leben‹; GB 1971). GLASTONBURY FAYRE (GB 1972) – gemeinsam mit Peter Neal. DON’T LOOK NOW (›Wenn die Gondeln Trauer tragen‹; GB 1973). THE MAN WHO FELL TO EARTH (›Der Mann, der vom Himmel fiel‹; GB 1975). BAD TIMING (›Blackout – Anatomie einer Leidenschaft‹; GB 1980). EUREKA (GB/USA 1984). INSIGNIFICANCE (›Insignificance – Die verflixte Nacht‹; GB 1985). CASTAWAY (›Castaway – Die Insel‹; GB 1986). ARIA (Segment ›Un ballo in machera‹; GB 1987). TRACK 29 (›Track 29 – Ein gefährliches Spiel‹, GB/USA 1988). SWEET BIRD OF YOUTH (›Süßer Vogel Jugend‹; USA 1989) [TV-Film]. THE WITCHES (›Hexen hexen‹; GB 1990). COLD HEAVEN (›Kalter Himmel‹; USA 1991). THE YOUNG INDIANA JONES CHRONICLES (Episode ›Paris, October 1916‹; USA 1993). HEART OF DARKNESS (›Herz in der Finsternis‹; USA 1994) [TV-Film]. HOTEL PARADISE (GB/D 1995) [TV-Kurzfilm]. TWO DEATHS (GB 1995). FULL BODY MASSAGE (USA 1995) [TV-Film]. SAMSON AND DELILAH (›Die Bibel – Samson und Delila‹; USA/D/I 1996) [TV-Film]. THE SOUND OF CLAUDIA SCHIFFER (GB 2000) [TV-Kurzfilm]. PUFFBALL (GB/IRL/CA 2007).

LITERATUR- UND FILMVERZEICHNIS

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b) Weitere angeführte Filme A FUNNY THING HAPPEND ON THE WAY TO THE FORUM (USA/GB 1966), Richard Lester. A PASSAGE TO INDIA (GB/USA 1984), David Lean. A PRIZE TO ARMS (GB 1962), Cliff Owen. AFTER MANY YEARS (USA 1908), D.W. Griffith. AND NOW FOR SOMETHING COMPLETELY DIFFERENT (GB 1971), Ian MacNaughton. BACK TO THE FUTURE PART III (USA 1990), Robert Zemeckis. BERLIN – DIE SINFONIE DER GROSSTADT (D 1927), Walther Ruttmann. BILLY BUDD (GB 1962), Peter Ustinov. BLOW-UP (GB/USA 1966), Michelangelo Antonioni. BONNY AND CLYDE (USA 1967), Arthur Penn. BRIEF ENCOUNTER (GB 1945), David Lean. BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID (USA 1969), George Roy Hill. C’ERA UNA VOLTA IL WEST (I/USA 1968), Sergio Leone. CAPE FEAR (USA 1962), J. Lee Thompson. CITIZEN KANE (USA 1941), Orson Welles. DOCTOR ZHIVAGO (USA/I 1965), David Lean. DONNIE DARKO (USA 2001), Richard Kelly. END OF THE ROAD (USA 1970), Aram Avakian. EVA (F/I 1962), Joseph Losey. FAHRENHEIT 451 (GB 1966), François Truffaut. FROM RUSSIA WITH LOVE (GB 1963), Terence Young. GET CARTER (GB 1971), Mike Hodges. HIGH NOON (USA 1952), Fred Zinnemann. HIROSHIMA, MON AMOUR (F/JP 1959), Alain Resnais. HIS NEW JOB (USA 1915), Charles Chaplin. HOW THE WEST WAS WON (USA 1962), John Ford. IDENTITY (USA 2003), James Mangold. JAMAICA INN (GB 1939), Alfred Hitchcock. L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (F/I 1961), Alain Resnais. L’ARRIVÉE D’UN TRAIN À LA CIOTAT (F 1895), Auguste Lumière/Louis Lumière. LA BÊTE HUMAINE (F 1938), Jean Renoir. LA SORTIE DES USINES (F 1895), Auguste Lumière/Louis Lumière. LAWRENCE OF ARABIA (GB/USA 1962), David Lean. LE MÉPRIS (F/I 1963), Jean-Luc-Godard. LE VOYAGE À TRAVERS L’IMPOSSIBLE (F 1904), Georges Méliès. LOLITA (GB/USA 1962), Stanley Kubrick. MEMENTO (USA 2000), Christopher Nolan. MURDER ON THE ORIENT EXPRESS (GB 1974), Sidney Lumet. NORTH BY NORTHWEST (USA 1959), Alfred Hitchcock.

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OMNIBUS, (Episode ›Cracked Actor‹; GB 1975), Alan Yentob. PACIFIC DESTINY (GB 1956), Wolf Rilla. PARIS NOUS APPARTIENT (F 1961), Jacques Rivette. PERSONA (S 1966), Ingmar Bergman. PETULIA (USA 1968), Richard Lester. PIERROT LE FOU (F/I 1965), Jean-Luc-Godard. PRIMER (USA 2004), Shane Carruth. PULP FICTION (USA 1994), Quentin Tarantino. REBECCA (GB 1940), Alfred Hitchcock. SILVER STREAK (USA 1976), Arthur Hiller. STRANGERS ON A TRAIN (USA 1951), Alfred Hitchcock. SUMMER MADNESS (GB/USA 1955), David Lean. THE 39 STEPS (GB 1935), Alfred Hitchcock. THE BUTTERFLY EFFECT (USA/CA 2004), Eric Bress/J. Mackye Gruber. THE CARETAKER (GB 1963), Clive Donner. THE FIRST GREAT TRAIN ROBBERY (GB 1978), Michael Crichton. THE GENERAL (USA 1926), Buster Keaton. THE GOLD RUSH (USA 1925/1942), Charles Chaplin. THE GREAT TRAIN ROBBERY (USA 1903), Edwin S. Porter. THE KISS IN THE TUNNEL (GB 1899), George Albert Smith. THE LIFE OF AN AMERICAN FIREMAN (USA 1903), Edwin S. Porter. THE MASQUE OF RED DEATH (USA/GB 1963), Roger Corman. THE NAKED GUN 2½: THE SMELL OF FEAR (USA 1991), David Zucker. THE PUMPKIN EATER (GB 1964), Jack Clayton. THE THIRD MAN (GB 1949), Carol Reed. THE SERVANT (GB 1963), Joseph Losey. THE SEVEN YEAR ITCH (USA 1955), Billy Wilder. The Sheltering Sky (GB/I 1990), Bernardo Bertolucci. THE STRAWBERRY BLONDE (USA 1941), Raoul Walsh. THE SUNDOWNERS (GB 1960), Fred Zinnemann. TÖRST (S 1949), Ingmar Bergman. UNE FEMME EST UNE FEMME (F/I 1961), Jean-Luc Godard. UNION PACIFIC (USA 1939), Cecil B. DeMille. UNO CONTRO TUTTI (USA 1961), Edwin G. O’Rein. WHAT HAPPENED IN THE TUNNEL (USA 1903), Edwin S. Porter. WILD WILD WEST (USA 1999), Barry Sonnenfeld. БРОНЕНОСЕЦ »ПОТЁМКИН« (›Panzerkreuzer Potemkin‹; UdSSR 1925), Sergej M. Eisenstein. СТАЧКА (›Streik‹; UdSSR 1925), Sergej M. Eisenstein. ЧЕЛОВЕК С КИНОАППАРАТОМ (›Der Mann mit der Kamera‹; UdSSR 1929), Dziga Vertov.

Anhang 1) ABBILDUNGSNACHWEISE Abb. 7: J.M. William Turner: Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway (1844), aus: 25.000 Meisterwerke. Gemälde, Zeichnungen, Grafiken. DVDROM. 2., verb. Ausg. Berlin: The Yorck Project 2005, S. 28.150. Abb. 11: Möglichkeiten zeitlicher Anordnung im Film, aus: André Gaudreault: Temporality and Narrativity in Early Cinema (1895-1908), in: Roger Holman (Hg.), Cinema 1900-1906. An Analytical Study by the National Film Archive (London) and the International Federation of Film Archives. Brüssel: fiaf 1982, S. 204. Alle anderen Abbildungen sind als Screenshots aus den in der Filmographie genannten Filmen entnommen.

2) Ü BERSETZTE Z ITATE

IM

O RIGINALWORTLAUT

Seite 26, Anm. 1 – »Bereits um die…«: »Au tournant du siècle déjà (!), les chroniqueurs isolèrent l’intouchable ARRIVÉE DU TRAIN des autres œuvres de Lumière.« Seite 38, Anm. 1 – »Die Unmöglichkeit, den…«: »L’impossibilité à reproduire l’impression évoquée par les observateurs réside dans la nouveauté de celle-ci, non dans son caractère irréalisable; une nouveauté est par définition singulière.« Seite 39, Anm. 4 – »in der kollektiven…«: »nella sensibilità e mentalità collettiva« Seite 42, Anm. 1 – »[…] daß die Eisenbahn…«: »[…] que le chemin de fer a apporté à l’homme la sensation et la notion de vitesse et, en conséquence, lui a permis de prendre une vision dynamique du monde.«

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Seite 42, Anm. 1 – »Was die Eisenbahn…«: »Ce que le train apporte de plus nouveau et de plus directement accessible à la fois, c’est le mouvement rapide, qui transforme la vision du monde extérieur, jusque-là à peu près statique.« Seite 112, Anm. 5 – »hierin besteht die…«:: »ce qui est proprement l’illusion réaliste« Seite 140, Anm. 1 – »der diegetische Raum…«: »[…] de diëgetische ruimte is niet dezelfde als de fysieke, werkelijke ruimte. Het is duidelijk dat de diëgetische ruimte hoofdzakelijk imaginair is en dat men de ruimtelijke relaties tussen shots die een scène constitueren, topologisch interpreteert, dat wil zegen met elkaar in verband brengt door en mentale constructie van een globale ruimte.« Seite 147, Anm. 1 – »Ihre Nacktheit…«: »Hun naaktheid is huiselijk, vertrouwd.« Seite 230, Anm. 2 – »›unikursalen‹ Labyrinth«: »labirinto […] ›unicursale‹« Seite 230, Anm. 4 – »Dies ist das…«: »Questo è il labirinto classico che non avrebbe bisogno di filo d’Arianna perché è il filo d’Arianna di se stesso. Per questo al centro ci dovrà essere il Minotauro, per rendere l’intera faccenda meno monotona. Il problema posto da questo labirinto non è ›da quale parte uscirò?‹ bensì ›uscirò?‹ ovvero ›uscirò vivo?‹ Questo labirinto è l’immagine di un cosmo difficile da vivere, ma tutto sommato ordinato (c’è una mente che lo ha concepito).« Seite 230, Anm. 5 – »[…] wenn man durch…«: »[…] se sfilate il labirinto classico unicursale vi trovate tra le mani un filo, ma se riuscite a dipanare il labirinto manieristico non vi trovate tra le mani un filo, bensì una struttura ad albero, con infinite ramificazioni, il novantanove per cento delle quali porta a un punto morto (solo un corno di un solo dilemma binario porta all’uscita).« Seite 231, Anm. 2 – »[…] das Rhizom oder…«: »[…] il rizoma, o la rete infinita, dove ogni punto può connettersi a ogni altro e la successione delle connessioni non ha termine teorico, perché non esiste più un esterno o un interno […]«

ANHANG

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Seite 232 – »Ein gewundener Pfad…«: »Percorso tortuoso, in cui talvolta è facile perdere il cammino senza una guida.« Seite 236 – »[…] den man einfach…«: »[…] nel quale è facile entrare ma difficile uscire […]« Seite 244 – »Wenn es nicht…«: »Se non era possibile immaginare un antilabirinto, ciò significava probabilmente che la mente umana è più adatta a pensare i labirinti che non il loro contrario, e quindi quella del labirinto è una struttura archetipa (qualunque senso si dia a questo termine), che riflette (o determina) il nostro modo di pensare il mondo […].« Seite 244, Anm. 3 – »Ein Buch über…«: »Un libro sui labirinti non può che essere labirintico […].« Seite 247, Anm. 1 – »Als L’ANNÉE DERNIÈRE…«: »Lorsque L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD est sorti pour la première fois, j’ai entendu des gens appartenant à la profession cinématographique dire que c’était ridicule: aujourd’hui les mêmes personnes, les mêmes producteurs ont assimilé la révolution des formes. Nous progressions constamment. Pour voir THE MAN WHO FELL TO EARTH, il faut également se débarrasser de toute catégorie temporelle. Le Temps est quelque chose que nous inventons.« Seite 281, Anm. 1 – »Da jeglicher linearer…«: »Tout aspect linéaire étant banni, la progression du récit joue constamment sur une discontinuité qui affecte l’espace et le temps, soit par le recours aux ellipses les plus abruptes, soit par le refus systématique des rapports logiques.« Seite 310 – »Ja, aber nicht…«: »Oui, mais pas nécessairement dans cet ordre.« Seite 310 – »Die Liebesszene in…«: »La scène d’amour de NE VOUS RETOURNEZ pas […] est construite selon cette esthétique de la cassure.« Seite 311 – »Der Cutter von…«: »De cutter van DON’T LOOK NOW, Graeme Clifford, hanteert hier een parallelmontage – normaal gesproken een middel om aan te geven dat twee handelingen gelijktijdig plaatsvinden [...].«

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Seite 311 – »Die suggerierte Gleichzeitigkeit…«: »De gesuggereerde gelijktijdigheid is in dit geval echter onmogelijk.« Seite 336, Anm. 2 – »Nicholas Roeg zerstückelt…«: »Nicholas Roeg morcèle la réalité perçue en la cassant par le montage. Les libres associations remplacent l’explication logique.« Seite 340, Anm. 1 – »Die Farbe Rot…«: »La couleur rouge joue d’ailleurs un rôle déterminant dans l’univers de Nicholas Roeg, aussi bien par sa valeur d’agressivité (dans PERFORMANCE: la peinture sur le mur, le sang) que par sa valeur de langage (notamment dans NE VOUS RETOURNEZ PAS).« Seite 340, Anm. 6 – »Auf diese Weise…«: »C’est ainsi que les objets […], les êtres de rencontre, les couleurs, les sons, les images mentales, créent un réseau de significations qu’il faut déchiffrer comme s’il s’agissait d’un langage ésotérique.« Seite 358 – »[…] das Fernsehen […] ist…«: »[…] la télévision […] c’est pour moi une forme d’expression qui n’a pas le sens des responsabilités. A la télé, chaque émission est éphémère et tombe immédiatement dans l’oubli […]« Seite 373 – »Ein Film oder…«: »Un film ou un livre doivent fonctionner en eux-mêmes et mettre leur empreinte en nous, de même que face à un Picasso, si on commence à se demander ce que cela signifie, on part dans le brouillard!« S. 390 – »[…] erste Stufe des…«: »[…] premier degré de l’effet fiction: celui de l’identification du spectateur à la camera […].«

Danksagung

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die aktualisierte und ergänzte Fassung meiner Dissertation, die unter dem Titel »›Cinema of Disintegration‹. Filmische Narration und Weltkonstitution bei Nicolas Roeg« im Juni 2013 von der Philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien als Doktorarbeit angenommen wurde. Mein herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Achim Hölter (Wien) für die Betreuung der Arbeit sowie Prof. Dr. Moritz Baßler (Münster), der das Zweitgutachten übernommen hat. Beide haben das Entstehen der Arbeit mit wertvollen und hilfreichen Anregungen begleitet und mir wiederholt die Möglichkeit geboten, Thesen und Ausschnitte des entstehenden Buches in ihren Oberseminaren und Kolloquien vorzustellen und zu diskutieren. Daneben danke ich meinen Eltern Armin und Saskia Sarkhosh, ohne die dieses Buch nie zustande gekommen wäre. Sie haben meinen wissenschaftlichen Weg stets und in jeglicher Hinsicht unterstützt und mein Interesse für und meine Liebe zu Film und Literatur von Anfang an gefördert. Meiner Frau Oksana Sarkhosh möchte ich nicht nur für die Inspiration und den Ansporn danken, sondern nicht zuletzt auch dafür, daß sie mir während der Entstehungsphase des Buches den Rücken von vielen Alltagsdingen freigehalten hat. Sarah und Nicolas Furchert (Hamburg) sowie Anna Knaup (Münster) haben sich als unermüdliche Korrekturleser verdient gemacht. Karsten Borgmann (Isen) war behilflich in Graphikfragen. Dem transcript-Team bin ich für die angenehme Zusammenarbeit und redaktionelle Unterstützung verbunden. Frankfurt a.M., im Januar 2014

Film Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung Migration im Film 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1472-5

Tobias Ebbrecht Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis Filmische Narrationen des Holocaust 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1671-2

Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch Februar 2014, 458 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-29 15-09-36 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c6373055609174|(S.

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3) ANZ2667.p 373055609182

Film Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.) Kulinarisches Kino Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film 2013, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2217-1

Niels Penke (Hg.) Der skandinavische Horrorfilm Kultur- und ästhetikgeschichtliche Perspektiven 2012, 320 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2001-6

Daniela Schulz Wenn die Musik spielt ... Der deutsche Schlagerfilm der 1950er bis 1970er Jahre 2012, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1882-2

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3) ANZ2667.p 373055609182

Film Micha Braun In Figuren erzählen Zu Geschichte und Erzählung bei Peter Greenaway 2012, 402 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2123-5

Nicole Colin, Franziska Schößler, Nike Thurn (Hg.) Prekäre Obsession Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder

Christiane Hille, Julia Stenzel (Hg.) CREMASTER ANATOMIES Beiträge zu Matthew Barneys Cremaster Cycle aus den Wissenschaften von Kunst, Theater und Literatur September 2014, 256 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2132-7

Katharina Müller Haneke Keine Biografie

2012, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1623-1

September 2014, 432 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2838-8

Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti (Hg.) Spuren eines Dritten Kinos Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Das Undenkbare filmen Atomkrieg im Kino

2013, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2061-0

Henrike Hahn Verfilmte Gefühle Von »Fräulein Else« bis »Eyes Wide Shut«. Arthur Schnitzlers Texte auf der Leinwand April 2014, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2481-6

Hauke Haselhorst Die ewige Nachtfahrt Mythologische Archetypen und ihre Repräsentationen im Film »Lost Highway« von David Lynch 2013, 352 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2079-5

2013, 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1995-9

Asokan Nirmalarajah Gangster Melodrama »The Sopranos« und die Tradition des amerikanischen Gangsterfilms 2011, 332 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1843-3

Christian Pischel Die Orchestrierung der Empfindungen Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der 1990er Jahre 2013, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2426-7

Peter Scheinpflug Formelkino Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo Februar 2014, 308 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2674-2

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3) ANZ2667.p 373055609182